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Plenarprotokoll 15/160

Deutscher

Stenografischer Bericht

160. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Abgeordneten und der Fraktion der SPD neten Helmut Rauber ...... 14901 A sowie den Abgeordneten Rainder Steenblock, (Köln), Ulrike Benennung des Abgeordneten Dr. Norbert Höfken, weiteren Abgeordneten und der Röttgen als ordentliches Mitglied in den Ver- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- mittlungsausschuss ...... 14901 B NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- Wahl der Abgeordneten als zes über die Ausweitung und Stärkung Schriftführerin ...... 14901 B der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Wahl von Mitgliedern in das Gremium gemäß Europäischen Union § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgeset- (Drucksache 15/4925) ...... 14903 A zes ...... 14901 B d) Antrag der Fraktionen der SPD und des Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Stär- nung ...... 14901 C kung der Rolle des Deutschen Bundes- Absetzung der Tagesordnungspunkte 3 g und tages bei der Begleitung, Mitgestaltung 4 b sowie 22 a und b ...... 14902 A und Kontrolle europäischer Gesetzge- bung Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 14902 A (Drucksache 15/4936) ...... 14903 B e) Antrag der Abgeordneten Sabine Tagesordnungspunkt 3: Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Hoyer, Dr. Claudia Winterstein, weiterer rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: zes zu dem Vertrag vom 29. Oktober Für mehr Mitsprache des Deutschen 2004 über eine Verfassung für Europa Bundestages bei der Rechtsetzung der (Drucksachen 15/4900, 15/4939) ...... 14902 C Europäischen Union nach In-Kraft-Tre- ten des Verfassungsvertrages b) Erste Beratung des von den Abgeordneten (Drucksache 15/4937) ...... 14903 C , Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Gerd Müller, weiteren Abgeordneten und f) Beschlussempfehlung und Bericht des der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ausschusses für die Angelegenheiten der Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung Europäischen Union zu dem Antrag der der Mitwirkungsrechte des Deutschen Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Gerd Bundestages in Angelegenheiten der Müller, Michael Stübgen, weiterer Abge- Europäischen Union ordneter und der Fraktion der CDU/ (Drucksache 15/4716) ...... 14902 D CSUCSU: Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen c) Erste Beratung des von den Abgeordneten (Drucksachen 15/2970, 15/4206) ...... 14903 D Michael Roth (Heringen), Günter Gloser, Dr. Angelica Schwall-Düren, weiteren Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 14904 A II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. , Donnerstag, den 24. Februar 2005

Erwin Teufel, Ministerpräsident (CDU/CSU) ...... 14946 B (Baden-Württemberg) ...... 14906 C (CDU/CSU) ...... 14947 B Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 14909 D Dr. Heinz Köhler (SPD) ...... 14948 C Dr. (FDP) ...... 14912 B Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 14950 A Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa 14914 A Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) ...... 14951 C Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) ...... 14915 D Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 27: DIE GRÜNEN) ...... 14918 A a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . 14919 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 14920 D zes zur Reform des Reisekostenrechts (Drucksache 15/4919) ...... 14952 A (CDU/CSU) ...... 14923 A b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 14924 B brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 14925 C Erleichterung der Verwaltungsreform in den Ländern (… Zuständigkeitslocke- Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) ...... 14926 D rungsgesetz) Günter Gloser (SPD) ...... 14928 A (Drucksache 15/4114) ...... 14952 A (CDU/CSU) ...... 14930 C c) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Hochbaustatistikgesetzes Tagesordnungspunkt 4: (Drucksache 15/4738) ...... 14952 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- nanzausschusses brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD (Drucksache 15/4739) ...... 14952 B und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Stabilitäts- und Wachstumspo- e) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- litik fortsetzen – Den europäischen brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Stabilitäts- und Wachstumspakt stär- derung der Verwaltungsgerichtsord- ken nung (Drucksache 15/2417) ...... – zu dem Antrag der Abgeordneten 14952 B , Dr. , , weiterer Abge- Zusatztagesordnungspunkt 1: ordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Für eine stabile Wirtschafts- Antrag der Abgeordneten Annette Faße, Uwe und Währungsunion – europäi- Beckmeyer, , weiterer Abgeord- schen Stabilitäts- und Wachstums- neter und der Fraktion der SPD sowie der pakt nicht ändern Abgeordneten Rainder Steenblock, Albert Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), (Drucksachen 15/3957, 15/3719, 15/4915) . . . 14932 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Dr. Michael Meister (CDU/CSU) ...... 14932 B BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Verkehrs- sicherheit in der Seeschifffahrt verbessern – Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin Alkoholmissbrauch konsequent bekämpfen BMF ...... 14934 D (Drucksache 15/4942) ...... 14952 B Dr. (FDP) ...... 14937 A Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin Tagesordnungspunkt 28: BMF ...... 14938 C a) – Zweite Beratung und Schlussabstim- Dr. Andreas Pinkwart (FDP) ...... 14939 A mung des von der Bundesregierung Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ eingebrachten Entwurfs eines Geset- DIE GRÜNEN) ...... 14939 B zes zu dem Abkommen vom 14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepublik Dr. Andreas Pinkwart (FDP) ...... 14941 C Deutschland und der Republik In- (CDU/CSU) ...... 14942 D donesien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapi- (SPD) ...... 14944 C talanlagen Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 14945 B (Drucksachen 15/3882, 15/4824) . . . . 14952 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 III

– Zweite Beratung und Schlussabstim- Storjohann, , weiterer Ab- mung des von der Bundesregierung geordneter und der Fraktion der CDU/ eingebrachten Entwurfs eines Geset- CSU: Flexibilität für das Schausteller- zes zu dem Änderungsprotokoll vom gewerbe 26. August 2003 zu dem Vertrag (Drucksachen 15/3490, 15/4483) ...... 14953 D vom 28. Februar 1994 zwischen der d) Beschlussempfehlung und Bericht des Bundesrepublik Deutschland und Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- der Republik Moldau über die För- nungswesen zu dem Antrag der Fraktio- derung und den gegenseitigen nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Schutz von Kapitalanlagen DIE GRÜNEN: Stabilisierung und Wei- (Drucksachen 15/3883, 15/4824) . . . . 14952 D terentwicklung des genossenschaftli- – Zweite Beratung und Schlussabstim- chen Wohnens mung des von der Bundesregierung (Drucksachen 15/4043, 15/4693) ...... 14954 A eingebrachten Entwurfs eines Geset- e) Beschlussempfehlung und Bericht des zes zu dem Abkommen vom 10. Juli Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität 2000 zwischen der Regierung der und Geschäftsordnung: Änderung der Bundesrepublik Deutschland und Geschäftsordnung des Deutschen Bun- der Palästinensischen Befreiungsor- destages ganisation zugunsten der Palästi- hier: § 122 a (Elektronische Dokumente) nensischen Behörde über die Förde- (Drucksache 15/4798) ...... 14954 B rung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen f) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksachen 15/3884, 15/4824) . . . . 14953 A Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu der Verordnung der Bundesregierung: – Zweite und dritte Beratung des von der Einhundertfünfzigste Verordnung zur Bundesregierung eingebrachten Ent- Änderung der Einfuhrliste – Anlage wurfs eines Gesetzes zu dem Ände- zum Außenwirtschaftsgesetz – rungs- und Ergänzungsprotokoll vom (Drucksachen 15/4703, 15/4779 Nr. 2.1, 14. Mai 2003 zwischen der Bundes- 15/4877) ...... 14954 C republik Deutschland und der Re- publik Polen zu dem Vertrag vom g) – l) 10. November 1989 zwischen der Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Bundesrepublik Deutschland und schusses: Sammelübersichten 184, 185, der Volksrepublik Polen über die 186, 187, 188 und 189 zu Petitionen Förderung und den gegenseitigen (Drucksachen 15/4856, 15/4857, 15/4858, Schutz von Kapitalanlagen 15/4859, 15/4860, 15/4861) ...... 14954 C (Drucksachen 15/3885, 15/4824) . . . . 14953 B – Zweite Beratung und Schlussabstim- Zusatztagesordnungspunkt 2: mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- a) Zweite und dritte Beratung des vom Bun- zes zu dem Vertrag vom 27. März desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- 2003 zwischen der Bundesrepublik setzes zur Änderung des Gesetzes über Deutschland und der Republik Tad- das Wohnungseigentum und das Dauer- schikistan über die Förderung und wohnrecht den gegenseitigen Schutz von Kapi- (Drucksachen 15/3423, 15/4469) ...... 14955 A talanlagen b) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksachen 15/3886, 15/4824) . . . . 14953 C Rechtsausschusses: zu der Streitsache b) Beschlussempfehlung und Bericht des vor dem Bundesverfassungsgericht 2 Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und BvR 249/04 Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung (Drucksache 15/4944) ...... 14955 B durch die Bundesregierung: Arbeitsdoku- ment der Kommission; Einbeziehung von Umweltbelangen in andere politi- Zusatztagesordnungspunkt 3: sche Bereiche – eine Bestandsaufnahme Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des Cardiff-Prozesses der SPD: Klage des Landes Hessen gegen KOM (2004) 394 endg.; Ratsdok. 10251/04 Finanzzuweisungen des Bundes an das (Drucksachen 15/3696 Nr. 2.12, 15/4471) 14953 D „Kompetenzzentrum Bologna“ der Hoch- c) Beschlussempfehlung und Bericht des schulrektorenkonferenz – Konsequenzen Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- für die auf europäischer Ebene vereinbarte nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- Reform des Hochschulwesens in Deutsch- neten Dirk Fischer (), Gero land ...... 14955 C IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. (SPD) ...... 14955 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 14976 C Dr. (CDU/CSU) ...... 14956 D (Bayreuth) (FDP) ...... 14978 A Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 14957 D Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMVBW 14979 A (FDP) ...... 14959 A Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU) ...... 14980 A (SPD) ...... 14960 A Marion Seib (CDU/CSU) ...... 14961 A Tagesordnungspunkt 25: Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, DIE GRÜNEN) ...... 14962 B , Hermann Gröhe, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Andrea Wicklein (SPD) ...... 14963 B Folgerungen aus der Tsunami-Flutkata- (CDU/CSU) ...... 14964 C strophe vom 26. Dezember 2004 – Deutsche Entwicklungspolitik stärken und versteti- Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär gen BMBF ...... 14965 D (Drucksache 15/4657) ...... 14981 D Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU) . . . . 14982 A (CDU/CSU) ...... 14967 B Karin Kortmann (SPD) ...... 14983 A (Spandau) (SPD) ...... 14968 C Markus Löning (FDP) ...... 14985 A (CDU/CSU) ...... 14970 A Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... 14986 B Jörg Tauss (SPD) ...... 14971 B Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ . . 14986 C Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU) ...... 14987 D Tagesordnungspunkt 5: Dr. (SPD) ...... 14988 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- 14991 A sen – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Tagesordnungspunkt 7: Günter Bruckmann, , Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- Bericht der Bundesregierung zur aus- neten Winfried Hermann, Albert Schmidt wärtigen Kulturpolitik 2003 (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), weiterer (Drucksache 15/4591) ...... 14991 D Abgeordneter und der Fraktion des b) Beschlussempfehlung und Bericht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Luft- Ausschusses für Kultur und Medien verkehrsstandort Deutschland – Koor- dination und Kooperation verbessern – – zu dem Antrag der Abgeordneten Nachhaltigen Luftverkehr für die Zu- , Eckhardt Barthel kunft sichern (Berlin), Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der – zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk SPD sowie der Abgeordneten Dr. Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Dr. , (Augs- Klaus W. Lippold (Offenbach), weiterer burg), Ursula Sowa, weiterer Abgeord- Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ neter und der Fraktion des BÜNDNIS- CSU: Luftverkehrsstandort Deutsch- SES 90/DIE GRÜNEN: Auswärtige land sichern Kulturpolitik stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Horst – zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich (Bayreuth), Dr. , Günter Nooke, Dr. Friedbert Pflüger, (Münster), weiterer Abgeord- (Bremen), weiterer neter und der Fraktion der FDP: Flugha- Abgeordneter und der Fraktion der fenkonzept für Deutschland CDU/CSU: Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik stärken (Drucksachen 15/4518, 15/3312, 15/4517, 15/4876) ...... 14972 D (Drucksachen 15/2659, 15/2647, 15/3244) 14992 A Hans-Günter Bruckmann (SPD) ...... 14973 A Monika Griefahn (SPD) ...... 14992 B Norbert Königshofen (CDU/CSU) ...... 14974 D Dr. Klaus Rose (CDU/CSU) ...... 14994 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 V

Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 14996 C Christa Nickels (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15013 A Hans-Joachim Otto () (FDP) ...... 14998 A (FDP) ...... 15014 A Dr. (CDU/CSU) ...... 14999 A (fraktionslos) ...... 15014 C Jörg Tauss (SPD) ...... 14999 C Daniela Raab (CDU/CSU) ...... Günter Nooke (CDU/CSU) ...... 15001 B 15015 C

Tagesordnungspunkt 8: Tagesordnungspunkt 10: a) Erste Beratung des von den Abgeordne- Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, ten , Hartmut Gudrun Kopp, , weiterer Abge- Koschyk, (Heilbronn), ordneter und der Fraktion der FDP: Anti-Be- weiteren Abgeordneten und der Fraktion nachteiligungsgesetz für den deutschen der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs Mittelstand auf den Weg bringen eines Gesetzes zur Änderung des Bun- (Drucksache 15/4734) ...... 15016 D deswahlgesetzes zur Berücksichtigung Gudrun Kopp (FDP) ...... 15017 A von Zweitstimmen (Zweitstimmen- Berücksichtigungsgesetz) Christian Lange (Backnang) (SPD) ...... 15018 B (Drucksache 15/4717) ...... 15004 A Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 15020 B b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, BMWA ...... 15021 D Thomas Strobl (Heilbronn), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ Matthäus Strebl (CDU/CSU) ...... 15023 C CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundes- wahlgesetzes zur Korrektur der Grund- Tagesordnungspunkt 11: mandatsklausel (Grundmandatskor- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- rekturgesetz) desregierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksache 15/4718) ...... 15004 A Fünften Gesetzes zur Änderung des Geset- Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 15004 B zes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler Barbara Wittig (SPD) ...... 15006 B (Drucksachen 15/4486, 15/4950) ...... 15024 D Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . 15006 D , Parl. Staatssekretärin BMI ...... 15025 A Jörg van Essen (FDP) ...... 15008 B (Recklinghausen) (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 15026 A DIE GRÜNEN) ...... 15008 D Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15027 B Tagesordnungspunkt 9: Dr. (FDP) ...... 15028 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Hildegard Wester (SPD) ...... 15028 D schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Tagesordnungspunkt 12: – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Rainer a) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der (Hamburg), Eduard Oswald, Dr. Klaus W. Fraktion der FDP: Für eine zügige Zeich- Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordne- nung, Ratifizierung und Umsetzung des ter und der Fraktion der CDU/CSU: Grü- Zusatzprotokolls zur UN-Antifolter- nes Licht für gesetzlich normierte Fahr- konvention gastrechte (Drucksache 15/4504) ...... 15030 A – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- b) Beschlussempfehlung und Bericht des NEN: Für eine Bekräftigung des absolu- Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- ten Folterverbots nungswesen (Drucksachen 15/3507, 15/4396, 15/4826) . . 15009 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H. Carstensen (Nordstrand), Dirk Christoph Strässer (SPD) ...... 15010 A Fischer (Hamburg), Ursula Heinen, Hermann Gröhe (CDU/CSU) ...... 15012 A weiterer Abgeordneter und der VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Fraktion der CDU/CSU: Mehr Rechte aus den Regionen und zur Änderung woh- für Fahrgäste im öffentlichen Perso- nungsrechtlicher Vorschriften nenverkehr (Drucksachen 15/4231, 15/4673) ...... 15043 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, , weiterer Abgeordneter Tagesordnungspunkt 16: und der Fraktion der FDP: Haftung Antrag der Abgeordneten , der Deutschen Bahn AG für Verspä- Peter H. Carstensen (Nordstrand), Gerda tungen einführen Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der (Drucksachen 15/1236, 15/1711, 15/3233) 15030 A Fraktion der CDU/CSU: Das deutsche Bio- siegel erfolgreich umsetzen Achim Großmann, Parl. Staatssekretär (Drucksache 15/4840) ...... 15044 C BMVBW ...... 15030 B (CDU/CSU) ...... 15031 C Tagesordnungspunkt 17: Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15033 A Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gudrun Kopp (FDP) ...... 15033 D Gesetzes zur Regelung bestimmter Altfor- Karin Rehbock-Zureich (SPD) ...... 15034 B derungen (Altforderungsregelungsgesetz – AFRG) (CDU/CSU) ...... 15035 A (Drucksachen 15/4640, 15/4963) ...... 15044 C Stephan Hilsberg (SPD) ...... 15044 D Tagesordnungspunkt 13: Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 15045 D Antrag der Abgeordneten Swen Schulz Dr. (FDP) ...... 15047 B (Spandau), Heinz Schmitt (Landau), Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Frak- Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) ...... 15048 A tion der SPD sowie der Abgeordneten Ursula Dr. (CDU/CSU) ...... Sowa, (Bremen), Volker 15048 D Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Geistes-, Sozial- und Kulturwissen- Tagesordnungspunkt 18: schaften stärken Antrag der Abgeordneten Dr. Michael (Drucksache 15/4539) ...... 15036 B Meister, Heinz Seiffert, , Swen Schulz (Spandau) (SPD) ...... 15036 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Abziehbarkeit von Aufwendun- Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU) ...... 15037 D gen zur Altersvorsorge Ursula Sowa (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 15039 B (Drucksache 15/4843) ...... 15050 A Ulrike Flach (FDP) ...... 15040 B Heinz Schmitt (Landau) (SPD) ...... 15041 B Tagesordnungspunkt 19: Marion Seib (CDU/CSU) ...... 15042 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Änderung des Pflanzenschutzgeset- Tagesordnungspunkt 14: zes (Drucksache 15/4737) ...... 15050 C Beschlussempfehlung und Bericht des Sport- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten , Peter Letzgus, , Tagesordnungspunkt 20: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Internationale sportliche Groß- Erste Beratung des von der Bundesregierung veranstaltungen gleichermaßen fördern eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten (Drucksachen 15/544, 15/4088) ...... 15043 C Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelge- setzes (Drucksache 15/4736) ...... 15050 C Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Tagesordnungspunkt 21: desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von Vorschlägen Erste Beratung des von den Fraktionen der zu Bürokratieabbau und Deregulierung SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 VII

NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes regulierung aus den Regionen und zur Ände- zur Organisationsstruktur der Telematik rung wohnungsrechtlicher Vorschriften (Ta- im Gesundheitswesen gesordnungspunkt 15) (Drucksache 15/4924) ...... 15050 D (SPD) ...... 15059 D Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 15061 A Nächste Sitzung ...... 15051 C Birgit Homburger (FDP) ...... 15062 C Rezzo Schlauch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15063 B Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten...... 15053 A Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Anlage 2 des Antrags: Das deutsche Biosiegel erfolg- reich umsetzen (Tagesordnungspunkt 16) Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Klaus Brähmig und Ernst Hinsken (beide Reinhold Hemker (SPD) ...... 15064 B CDU/CSU) zur Abstimmung über den Ent- (SPD) ...... 15065 B wurf eines Gesetzes zur Umsetzung von Vor- schlägen zu Bürokratieabbau und Deregulie- Marlene Mortler (CDU/CSU) ...... 15066 A rung aus den Regionen und zur Änderung (BÜNDNIS 90/ wohnungsrechtlicher Vorschriften (Tagesord- DIE GRÜNEN) ...... 15067 B nungspunkt 15) ...... 15053 C Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 15068 A

Anlage 3 Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des (CDU/CSU) zur Abstimmung Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung be- über den Entwurf eines Gesetzes zur Umset- stimmter Altforderungen (Altforderungsrege- zung von Vorschlägen zu Bürokratieabbau lungsgesetz – AFRG) (Tagesordnungs- und Deregulierung aus den Regionen und zur punkt 17) Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/ (Tagesordnungspunkt 15) ...... 15054 A DIE GRÜNEN) ...... 15069 A

Anlage 4 Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Internationale sportliche Groß- des Antrags: Abziehbarkeit von Aufwendun- veranstaltungen gleichermaßen fördern (Ta- gen zur Altersvorsorge (Tagesordnungs- gesordnungspunkt 14) punkt 18) (SPD) ...... 15054 C Horst Schild (SPD) ...... 15070 A Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 15055 B Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 15070 C (CDU/CSU) ...... 15056 B Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 15071 C Klaus Riegert (CDU/CSU) ...... 15057 B Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ Anlage 9 DIE GRÜNEN) ...... 15058 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Detlef Parr (FDP) ...... 15059 B des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Pflanzenschutzgesetzes (Tages- ordnungspunkt 19) Gustav Herzog (SPD) ...... 15072 B Anlage 5 Dr. Peter Jahr (CDU/CSU) ...... 15073 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ von Vorschlägen zu Bürokratieabbau und De- DIE GRÜNEN) ...... 15074 B VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Christel Happach-Kasan Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 15080 A (FDP) ...... 15075 A Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim (SPD) ...... 15075 D BMVEL ...... 15080 D

Anlage 10 Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Organisa- des Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur tionsstruktur der Telematik im Gesundheits- Änderung des Arzneimittelgesetzes wesen (Tagesordnungspunkt 21) (Tagesordnungspunkt 20) Eike Hovermann (SPD) ...... 15081 C Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 15076 C Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 15082 C (CDU/CSU) ...... 15077 B Matthias Sehling (CDU/CSU) ...... 15083 B Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 15078 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15085 A Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15079 C Detlef Parr (FDP) ...... 15085 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14901

(A) (C) Redetext

160. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge- Sitzung ist eröffnet. führten Punkte zu erweitern: ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Der Kollege Helmut Rauber feiert heute seinen (Ergänzung zu TOP 27) 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich ihm Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, Uwe sehr herzlich. Beckmeyer, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Rainder (Beifall – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sekt für Steenblock, Albert Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), alle!) weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Verkehrssicherheit in der Seeschifffahrt Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der verbessern – Alkoholmissbrauch konsequent bekämpfen Kollege als ordentliches Mitglied aus – Drucksache 15/4942 – (B) dem Vermittlungsausschuss ausscheidet. Als Nachfol- Überweisungsvorschlag: (D) ger wird der Kollege Norbert Röttgen vorgeschlagen. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Innenausschuss Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider- Rechtsausschuss spruch. Dann ist der Kollege Norbert Röttgen als ordent- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liches Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt. Ausschuss für Tourismus ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Sodann teile ich mit, dass die Kollegin Undine Kurth (Ergänzung zu TOP 28) ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt hat. Die Frak- a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrach- tion Bündnis 90/Die Grünen benennt als Nachfolgerin ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes die Kollegin Monika Lazar. Sind Sie auch damit einver- über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die – Drucksache 15/3423 – Kollegin Lazar als Schriftführerin gewählt. (Erste Beratung 135. Sitzung) Durch eine Gesetzesänderung wurde das aus neun Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) Mitgliedern des Bundestages bestehende Gremium nach § 41 Abs. 5 des Außenwirtschaftsgesetzes aufgelöst. Da- – Drucksache 15/4469 – für muss gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienst- Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Minkel gesetzes ein neues Gremium – ebenfalls bestehend aus b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des neun Mitgliedern des Bundestages – gewählt werden. Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Streitsache vor Hierfür schlägt die Fraktion der SPD die Kollegen dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 249/04 , Christian Lange (Backnang), – Drucksache 15/4944 – Dr. und , die Fraktion der CDU/ Berichterstattung: CSU die Kollegen , Christian Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) Schmidt (Fürth) und Dr. , die ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Kollegen Hans- Klage des Landes Hessen gegen Finanzzuweisungen des Bun- Christian Ströbele sowie die Fraktion der FDP den des an das „Kompetenzzentrum Bologna“ der Hochschulrek- Kollegen Dr. Max Stadler vor. Sind Sie mit diesen Vor- torenkonferenz – Konsequenzen für die auf europäischer schlägen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Ebene vereinbarte Reform des Hochschulwesens in Deutsch- Dann sind die genannten Kollegen in das Gremium ge- land mäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgesetzes ge- Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- wählt. weit erforderlich – abgewichen werden. 14902 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ferner sollen die Punkte 3 g und 4 b, die jeweils Än- Rechtsausschuss (C) derungen des Grundgesetzes betreffen, sowie der Tages- Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ordnungspunkt 22 a und b – Versammlungsgesetz bzw. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Gesetz über befriedete Bezirke – abgesetzt werden. Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Punkte 6 und 25 sollen getauscht werden. Haushaltsausschuss Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisun- Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Ich gen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Der in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f auf: überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus (19. Ausschuss) zur Mit- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- beratung überwiesen werden. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfas- Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des sung für Europa BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention – Drucksachen 15/4900, 15/4939 – Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/4833 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Überweisungsvorschlag: Union (f) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Innenausschuss Geschäftsordnung Sportausschuss Petitionsausschuss Rechtsausschuss Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Sportausschuss Landwirtschaft Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Finanzausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Der in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages Landwirtschaft überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss (8. Ausschuss) zur Mitberatung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen werden. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Dieter Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (B) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (D) Thomae, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abge- Ausschuss für Bildung, Forschung und ordneter und der Fraktion der FDP: Prävention Technikfolgenabschätzung und Gesundheitsförderung als individuelle Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und und gesamtgesellschaftliche Aufgabe Entwicklung Ausschuss für Tourismus – Drucksache 15/4671 – Ausschuss für Kultur und Medien Überweisungsvorschlag: b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Hintze, Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Gerd Müller, Innenausschuss Sportausschuss weiteren Abgeordneten und der Fraktion der Rechtsausschuss CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zes zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und des Deutschen Bundestages in Angelegenhei- Landwirtschaft ten der Europäischen Union Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus – Drucksache 15/4716 – Der in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages Überweisungsvorschlag: überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Ausschuss für Tourismus (19. Ausschuss) zur Mitbera- Union (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und tung überwiesen werden. Geschäftsordnung Petitionsausschuss Antrag der Abgeordneten Annette Widmann- Auswärtiger Ausschuss Mauz, Verena Butalikakis, Monika Brüning, wei- Innenausschuss terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Sportausschuss CSU: Prävention als gesamtgesellschaftliche Rechtsausschuss Aufgabe umfassend, innovativ und unbüro- Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit kratisch gestalten Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft – Drucksache 15/4830 – Verteidigungsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Sportausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14903

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (C) Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Bildung, Forschung und Entwicklung Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Kultur und Medien Entwicklung Ausschuss für Tourismus c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ausschuss für Kultur und Medien Michael Roth (Heringen), Günter Gloser, Dr. Angelica Schwall-Düren, weiteren Abgeord- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine neten und der Fraktion der SPD sowie den Abge- Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, ordneten Rainder Steenblock, Volker Beck Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter (Köln), Ulrike Höfken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Für mehr Mitsprache des Deutschen Bundes- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- tages bei der Rechtsetzung der Europäischen zes über die Ausweitung und Stärkung der Union nach In-Kraft-Treten des Verfassungs- Rechte des Bundestages und des Bundesrates vertrages in Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 15/4937 – – Drucksache 15/4925 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Union (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Geschäftsordnung Petitionsausschuss Petitionsausschuss Auswärtiger Ausschuss Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Innenausschuss Sportausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (B) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (D) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss für Kultur und Medien f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD richts des Ausschusses für die Angelegenheiten und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN der Europäischen Union (20. Ausschuss) zu dem Stärkung der Rolle des Deutschen Bundes- Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Gerd tages bei der Begleitung, Mitgestaltung und Müller, Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter Kontrolle europäischer Gesetzgebung und der Fraktion der CDU/CSUCSU – Drucksache 15/4936 – Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg füh- ren Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen – Drucksachen 15/2970, 15/4206 – Union (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Berichterstattung: Geschäftsordnung Petitionsausschuss Abgeordnete Claudia Roth (Augsburg) Auswärtiger Ausschuss Peter Altmaier Innenausschuss Rainder Steenblock Sportausschuss Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Rechtsausschuss Finanzausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort. 14904 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Michael Roth (Heringen) (SPD): Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist (C) Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen besonders wichtig, dass das europäische Sozialmodell und Kollegen! Meine Damen, meine Herren! Wir legen zukunftsfest gemacht wird. Der Geist der Solidarität und heute den Grundstein für eine gute Zukunft Europas. Wir der sozialen Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden reden heute darüber, auf welchem Fundament wir Euro- durch die Verfassung. Daher sollten wir die Kommission päerinnen und Europäer leben und arbeiten wollen. Was und alle anderen, die in Europa Verantwortung tragen, eint uns? Was hält uns zusammen? Was stiftet Identität immer wieder daran erinnern, dass Europa nur dann eine in Europa? Normalerweise beschäftigen sich Politikerin- Zukunft hat, wenn es sich auf einem sozialen Fundament nen und Politiker mit diesen Fragen. Wir hatten aber im bewegt. Jahr 2003 erstmals seit langem wieder eine spannende (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Debatte von Intellektuellen sowie Wissenschaftlerinnen DIE GRÜNEN) und Wissenschaftlern darüber, was uns zusammenhält bzw. was uns eint. Wir haben es geschafft, die Europäische Union hand- lungsfähiger zu machen. Blockaden werden überwun- Der deutsche Philosoph Habermas hat sich mit den. In der Außen- und Sicherheitspolitik bekommt Jacques Derrida, dem großen französischen Intellektuel- Europa Gesicht und Stimme. Es besteht die Chance, dass len, zusammengetan. Beide haben gemeinsam ein Mut wir gemeinsam die großen, zentralen Herausforderungen machendes Plädoyer für das vorgelegt, was unser ge- dieser Welt lösen und dass wir nicht mehr über Gegen- meinsames Bewusstsein neben all dem Politisch-Tech- sätze reden, sondern Gemeinsamkeiten formulieren. nokratischen, was uns allzu oft auch hier beschäftigt, Auch haben wir die Chance, Globalisierung zu gestalten ausmachen könnte. Sie haben darüber gesprochen, dass und den Menschen die Angst vor der Globalisierung zu uns Europäerinnen und Europäer die Höhen und Tiefen nehmen. Globalisierung hat aus unserer Sicht nur dann einer gemeinsam durchlittenen Geschichte einen. Uns eine Zukunft, wenn sie ein menschliches Antlitz erhält. eint die Sensibilität der Bürgerinnen und Bürger für die Auch dies wird in der europäischen Verfassung deutlich. Widersprüche des Fortschritts. Uns eint das Ethos im Last, but not least stärken wir die Demokratie. Kampf um soziale Gerechtigkeit. Uns eint die Skepsis gegenüber staatlicher Allmacht. Uns eint der Kampf ge- All dies ist ein Erfolg sozialdemokratischer Politik. gen die Todesstrafe. Dafür haben Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra- ten jahrzehntelang gestritten: nicht nur und All dies sind Mut machende Beispiele. Heute fügen . wir ein weiteres Mut machendes Beispiel hinzu, denn wir können stolz erklären, dass die europäische Verfas- (Dr. [CDU/CSU]: Mir kommen die Tränen!) (B) sung, die uns heute Morgen hier zusammengeführt hat, (D) Identität stiftet. Der Grundstein für diesen Konvent, der der EU-Verfas- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sung zum Erfolg verholfen hat, ist unter deutscher Präsi- DIE GRÜNEN) dentschaft, unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, ge- legt worden. Dies ist mit unserem Namen verbunden und Sie lädt die Bürgerinnen und Bürger Europas ein, sich deswegen sollten wir darauf stolz sein. auf einem gemeinsamen Fundament zu vereinigen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass wir DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ hier auch sehr kritisch und kontrovers über den Inhalt CSU]: Und Sie sollten die Zeitgeschichte nicht der Verfassung gestritten haben. Wir sollten diesen In- verdrehen!) halt aber nicht an Wolkenkuckucksheimen messen und Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, uns nicht allein am Wünschenswerten, sondern am wir laden aber auch Sie dazu ein, ebenfalls stolz auf das Machbaren orientieren. Wären größere Reformschritte Ergebnis zu sein; darüber werden Sie nachher sicherlich nötig gewesen? – Ja. Waren größere Reformschritte noch reden. An dieser Stelle danke ich allen, die zu die- möglich? – Aus meiner Sicht nein. sem Erfolg beigetragen haben: unserem Konventsdele- Wenn wir über den Konvent und die sich daran an- gierten Jürgen Meyer und dem Kollegen Altmaier von schließende Regierungskonferenz reden, dann sollten der CDU/CSU. Auch Herr Teufel, der auf der Bundes- wir nicht Amsterdam und Nizza vergessen, Regierungs- ratsbank sitz, hat Anteil an diesem Erfolg. konferenzen, die ohne parlamentarische Mitwirkung (Dr. [FDP]: Jetzt wird er schlechtere Ergebnisse zustande gebracht haben. Ich bin gnädig! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: deshalb von dieser europäischen Verfassung so begeis- Wie großzügig! Arroganter Schnösel!) tert – mit meiner Begeisterung möchte ich Sie ein wenig anstecken – weil sie deutlich macht, dass Europa nicht Dies gilt auch für den Bundeskanzler, den Außenminis- allein eine Wirtschaftsgemeinschaft ist, sondern von ter und viele andere. Werten zusammengehalten wird. Die Grundrechte- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Charta wird rechtsverbindlicher Bestandteil dieser Ver- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fassung. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann seine Rechte einklagen. Diese Rechte und die hiermit verbun- Ich rufe dies nur in Erinnerung, weil eben nicht nur denen Pflichten sind Maßstab für alle europäischen Insti- Regierungsvertreter, sondern auch Parlamentarierinnen tutionen. und Parlamentarier daran beteiligt waren. Wenn wir mit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14905

Michael Roth (Heringen) (A) der europäischen Verfassung mehr Demokratie wagen, sehen. Solche Überlegungen sollten wir unterlassen; (C) dann sollten wir gemeinsam auch mehr Parlamentaris- denn das hat mit dieser EU-Verfassung nichts zu tun. mus wagen. Die europäische Verfassung stärkt nämlich Weil wir diese Prinzipien zugrunde gelegt haben, nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch die konzentriert sich der Inhalt unseres Begleitgesetzes auf nationalen Parlamente. Wir haben uns immer als Partner die Konsequenzen, die sich unmittelbar aus der europäi- des Europäischen Parlamentes verstanden. Wir haben schen Verfassung ergeben. Es sind dies im Wesentlichen aber gleichzeitig im innerstaatlichen Prozess die Auf- vier Punkte: gabe, Einfluss zu nehmen auf die Europapolitik. Es ist unser gemeinsamer Beitrag, für mehr Öffentlichkeit und Der erste Punkt, nämlich die Frage, wie wir im Bun- mehr Transparenz zu sorgen, indem wir auch hier im destag mit dem Prinzip der Subsidiarität umgehen, hat Bundestag über die Zukunft Europas diskutieren und uns sehr eng zusammengeführt, fraktionsübergreifend. Probleme beraten. Wir – meine Kollegin Angelica Schwall-Düren, mein Kollege Günter Gloser und ich – haben schon im vergan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) genen Jahr dem Bundestagspräsidenten ein Papier zuge- Das dürfen wir nicht allein dem Europäischen Parlament leitet und darüber auch mit allen Fraktionen gesprochen. überlassen. Wir haben in der interfraktionellen Arbeitsgruppe großes Einvernehmen darüber erzielt, dass wir die Fachaus- Natürlich ist da manches verbesserungswürdig und schüsse und den Europaausschuss noch enger zusam- auch verbesserungsfähig. Deswegen hat die rot-grüne menwirken lassen müssen, um die Frage der Subsidiari- Koalition ein Begleitgesetz vorgelegt, mit dem der Ver- tätsrüge vernünftig zu lösen. such unternommen werden soll, das, was uns die EU- Verfassung als Auftrag mit auf den Weg gibt, in konkrete Der zweite Punkt ist die Subsidiaritätsklage. Wenn Gesetzesmaterie zu gießen. wir mit einer Rüge keinen Erfolg haben, haben wir als Deutscher Bundestag die Möglichkeit zu klagen. Wir Wir haben uns dabei von einigen Prinzipien leiten las- sind der Auffassung, dass eine Klage nur dann erfolgver- sen: sprechend ist, wenn die Mehrheit des Deutschen Bun- Erstens. Der Bundestag hat schon jetzt weitreichende destages eine solche Klage ausspricht. Deswegen sind Mitwirkungsmöglichkeiten. Aus meiner Sicht nutzt er wir gespannt auf Ihre Argumente, mit denen Sie begrün- sie bislang nur begrenzt. Deswegen sollten wir, bevor den wollen, warum Sie dies als Minderheitenrecht aus- wir weitreichende neue Gesetze beschließen, die vorhan- zugestalten beabsichtigen. denen Möglichkeiten offensiver und selbstbewusster Ein dritter Punkt ist die Passerelle-Klausel. Das ist nutzen. ein fürchterliches Wort; man nennt es auch Brückenklau- (B) (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sel. Wir haben als Deutscher Bundestag sehr dafür des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gestritten, Blockaden zu überwinden und in möglichst vielen Politikfeldern von der Einstimmigkeit zur qualifi- Zweitens. Die Handlungsfähigkeit der Bundesrepu- zierten Mehrheit überzugehen. Wir haben uns leider blik Deutschland im Konzert von inzwischen 25 Mit- nicht in allen Bereichen durchsetzen können. Deswegen gliedstaaten darf nicht beschnitten, nicht geschwächt eröffnet die Passerelle eine Chance für uns; denn da- werden. Deutschland muss mit einer Stimme klar, selbst- durch kann der Europäische Rat einstimmig beschließen, bewusst und deutlich in Brüssel und in der Europäischen in Politikfeldern, die gegenwärtig der Einstimmigkeit Union wahrgenommen werden. unterliegen, zur qualifizierten Mehrheit überzugehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben – das unterstützen wir selbstverständlich – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Chance, ein Veto einzulegen. Dieses Veto sollte aber, wenn überhaupt, von Bundesrat und Bundestag gemein- Drittens. Bei all den Problemen im Verhältnis zwi- sam ausgesprochen werden. Wir sollten also nicht, liebe schen Bund und Ländern, die wir im Rahmen der Föde- Kolleginnen und Kollegen von der Union oder auch von ralismuskommission beraten haben – leider bislang ohne den Ländern, neue Blockaden aufbauen, sondern zu er- Erfolg –, können wir das, was uns bedrängt – das bezieht reichen versuchen, dass in noch mehr Politikfeldern sich nicht allein auf Art. 23 des Grundgesetzes –, nicht nicht mehr einstimmig, sondern mit Mehrheit entschie- im Rahmen der Ratifizierungsdebatte lösen. Wir sollten den wird, weil sonst eine Union der 25 oder 27, perspek- all das im Rahmen eines großen Paketes nochmals ange- tivisch der 30, nicht mehr führbar und steuerbar ist. hen, wenn die Föderalismuskommission ihre Arbeit – möglicherweise in Bälde – wieder aufnimmt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Viertens. Wir wehren uns – das vielleicht ein wenig in Richtung der Opposition – gegen diverse Politikmätz- Viertens haben wir – das mag der Bundesregierung chen, die auch in einigen Anträgen und Gesetzentwürfen nicht in Gänze schmecken – in unserem Begleitgesetz der Opposition Einzug gehalten haben. Mir ist nicht ein- auch dafür gesorgt, dass die Informationspflichten der sichtig, warum wir jetzt, nachdem sich die Praxis jahr- Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag zehntelang bewährt hat, noch einmal darüber reden sol- erweitert werden. Auch darin liegt ein Angebot an Sie. len, dass vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen Ein weiteres Angebot ist, dass wir – über die Regelungen der Bundestag zu befassen ist. Das ist doch nur vor dem des Begleitgesetzes hinaus –, wenn wir die Geschäftsord- Hintergrund der Kontroverse um den Türkeibeitritt zu nung ändern und eine gesonderte Vereinbarung zwischen 14906 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Michael Roth (Heringen) (A) Bundesregierung und Bundestag beschließen, den ge- der einmal so –, stehen wir Abgeordnete in einer beson- (C) wonnenen Spielraum konkret nutzen, um Probleme, die deren Pflicht. Wir müssen begeistern können. Wir sich möglicherweise im Verhältnis zwischen Bundestag müssen Bürgerinnen und Bürger überzeugen können. und Bundesregierung ergeben, konstruktiv zu lösen. Wir müssen um Zustimmung werben. Wir müssen für Gespräche offen sein. Wir müssen uns der Kritik stellen. Ich warne davor, neue Blockaden aufzubauen. Wir Nur dann haben wir eine Chance, dass diese europäische sollten versuchen, die Europäische Union handlungsfä- Verfassung in der Bevölkerung mehrheitsfähig ist. higer zu machen. Wir sollten aber nicht das, was wir auf europäischer Ebene hinter uns gelassen haben, sozusa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen durch die Hintertür im Deutschen Bundestag wieder DIE GRÜNEN) einführen. Lassen Sie uns diese Ratifizierung auch als Chance (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für uns begreifen! Ich bin sehr optimistisch – wir werden DIE GRÜNEN) darum kämpfen –, dass unser gemeinsames Projekt Europa eine gute Zukunft hat. Die Ratifizierung der europäischen Verfassung muss uns gelingen. Wir sind zum Optimismus verbannt. Vielen Dank. (Zurufe von der SPD: Verdammt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Vielen Dank für den Hinweis. Das habe ich nun davon, dass ich mir meine Rede nicht genau aufgeschrieben habe. – Wir sind zum Optimismus verdammt, weil eine Präsident Wolfgang Thierse: Europäische Union, die unter den Regeln von Nizza zu Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten von arbeiten hätte, aus meiner Sicht weder handlungsfähig Baden-Württemberg, Erwin Teufel. noch erweiterungsfähig oder zukunftsfähig wäre. Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sabine müssen wir uns immer wieder vor Augen halten. Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) Wir sollten gemeinsam einen Beitrag dazu leisten, dass in allen Mitgliedstaaten die Ratifizierung gelingt. Erwin Teufel, Ministerpräsident (Baden-Württem- Es ist nicht nur im deutschen Interesse, es ist auch im eu- berg): ropäischen Interesse. Lasst uns helfen, dass in den Nie- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und derlanden, in Frankreich und überall dort, wo Referen- Herren! Der Bundesrat hat sich am vergangenen Freitag den durchgeführt werden, die Bürgerinnen und Bürger mit dem europäischen Verfassungsvertrag beschäftigt. (B) davon überzeugt werden, dass dies eine Chance für uns Er hat seine Vorstellungen für das Ratifizierungsverfah- (D) ist! Da ist jede Hilfe, die wir den Partnern und Freunden ren an die Adresse der Bundesregierung klar definiert. in Europa gewähren, sofern sie gewünscht wird, sicher- lich geboten. Wir sind für diesen europäischen Verfassungsvertrag. Wir halten ihn für einen großen Schritt nach vorne. Er Ich will zum Schluss noch einen Punkt ansprechen, führt zu mehr Subsidiarität, zu mehr Bürgernähe, zu der mich immer wieder irritiert. Gelegentlich äußern mehr Transparenz, zu klar definierten Grund- und Men- sich Politikerinnen und Politiker sehr arrogant über die schenrechten für die Bürgerinnen und Bürger, zu mehr Bürger, indem sie davon sprechen, dass die Bürger skep- Demokratie, zu einem offeneren Verfahren in der euro- tisch seien, sich nicht für Europa interessieren würden päischen Gesetzgebung und zu einer klaren Kompetenz- und keinen Anteil an diesem großen Projekt nehmen ordnung. Das alles ist sehr positiv zu werten. Deswegen würden. Ich frage einmal ganz selbstkritisch: Können haben wir eine grundsätzlich positive Einstellung zu die- wir wirklich Begeisterungsfähigkeit von Bürgerinnen sem Vertrag. Wir werden ihn im Bundesrat ratifizieren. und Bürgern verlangen, wenn wir selbst nicht begeistert sind? Wir sind aber der Meinung, dass zum Besten in die- sem europäischen Verfassungsvertrag die Kontroll- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rechte der nationalen Parlamente gehören. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir müssen es endlich schaffen, dass wir den Wulst an neten der FDP) technokratischen Regelungen, die leider mit dieser wun- derbaren Idee von Europa verbunden sind, über Bord Das sind übrigens, Herr Kollege Roth, nicht Gemein- werfen und dass wir auf den Kern Europas zurückkom- schaftsrechte von Bundestag und Bundesrat. Wir haben men. Wirtschaftliche Prosperität, sozialer Zusammen- die Kontrollrechte im Verfassungsvertrag vielmehr als halt, Friedensmacht Europa, internationale Solidarität Rechte jeder Kammer in den nationalen Parlamenten de- und Zusammengehörigkeit sowie ökologische Nachhal- finiert. Das muss nun auf eine wirksame Weise umge- tigkeit sind die Punkte, um die es im Kern geht. Sie ver- setzt werden. Dafür hat der Bundesrat vier Länder zu bergen sich gelegentlich hinter technischen Details. Es Verhandlungen mit der Bundesregierung beauftragt. Ich lohnt der Blick in die EU-Verfassung. Sie ist eine Chance habe am letzten Freitag ganz klar zu diesem Antrag Stel- für uns und die Bürgerinnen und Bürger. lung genommen, der in vielen Teilen mit dem überein- stimmt, was dem Bundestag heute in Gesetzentwürfen Weil es sich in Deutschland um ein rein parlamenta- vorliegt. Ich möchte mich deshalb heute nicht wiederho- risches Ratifizierungsverfahren handelt – das ist nun lei- len, sondern einige grundsätzliche Bemerkungen da- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14907

Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg) (A) rüber machen, warum Europa in eine bessere Verfassung nationaler Ebene, auf Länderebene, ja sogar auf kommu- (C) kommen muss. naler Ebene erfolgen sollte. Gestern vor 60 Jahren ist ein Bombenhagel über die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Stadt Pforzheim niedergegangen – mit mehr als bei Abgeordneten der SPD) 15 000 Toten. Vor wenigen Tagen haben wir den 60. Jahrestag der schrecklichen Bombardierung Dres- Das ist der Grund, warum wir dringend eine europäi- dens mit Zehntausenden von Toten erlebt. Das war über sche Verfassung brauchten, die das Subsidiaritätsprin- Jahrhunderte die geschichtliche Realität in Europa. Alle zip achtet. Europa ist nicht stark, wenn es sich um tau- 20, 30 Jahre hat man in europäischen Bürgerkriegen, die send Aufgaben, wenn es sich um tausenderlei Aufgaben im 20. Jahrhundert zu Weltkriegen geworden sind, zu- kümmert, sondern dann, wenn es sich um die richtigen sammengeschlagen, was vorher mühselig aufgebaut Aufgaben kümmert. worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man sagt: Die Menschen lernen nicht aus der Ge- Die richtigen Aufgaben lassen sich genau definieren. schichte. Die Deutschen haben aus der Geschichte ge- Es sind diejenigen Aufgaben, deren Lösung über die lernt – spät genug. Wir sind nicht nur eine verspätete Na- Kraft des Nationalstaates hinausgeht. Kein Nationalstaat tion; wir sind auch eine verspätete Demokratie. kann sich heute mehr allein verteidigen. Deswegen sind hat dieses Land nach 1949 nach Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend Westen orientiert. Dies war nicht nur eine geographische europäische Aufgaben. Ich bin nicht der Meinung, dass Orientierung nach Westen; dies war eine Orientierung auf diesem Gebiet Aufgaben an die Länder zurückgege- hin zu den freiheitlichen Demokratien des Westens, ben werden sollten, sondern dass zusätzliche Aufgaben auf europäischer Ebene gelöst werden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Es ist ein Fortschritt, dass wir einen europäischen Au- NISSES 90/DIE GRÜNEN) ßenminister mit zusätzlichen Zuständigkeiten bekom- men. Es ist ein Fortschritt, dass wir die drei Säulen Euro- hin zur freiheitlichen, demokratischen Verfassungstra- pas zusammengefügt haben. Es ist ein Fortschritt, dass dition des Westens. Wir verdanken inzwischen 50 und wir in Europa mehr Mehrheitsentscheidungen treffen mehr Jahre des Friedens und der Freiheit dieser West- können. Es ist ein Fortschritt, dass wir in den Krisenher- orientierung der deutschen Politik, der Aussöhnung mit den der Welt nicht mehr mit drei Personen auftreten, Frankreich und den ehemaligen Kriegsgegnern von ges- nämlich mit demjenigen, der gerade für ein halbes Jahr (B) tern, der europäischen Einigung und – das sage ich am den Vorsitz innehat, mit demjenigen, der ihn im letzten (D) Tag nach dem Besuch von Präsident Bush in Mainz aus halben Jahr innehatte, und mit demjenigen, der ihn im ganzer Überzeugung – dem Bündnis mit den Vereinigten nächsten halben Jahr innehaben wird. Wir bringen nun Staaten von Amerika. Ohne all das hätten wir nicht die Kontinuität in dieses Amt. Das bisherige Vorgehen war längste Periode des Friedens und der Freiheit in nicht überzeugend. Deutschland erlebt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Man muss einen weiteren Grund hinzufügen, warum NISSES 90/DIE GRÜNEN) diese Verfassung notwendig war. Das bisherige Prinzip war außerordentlich erfolgreich. Die Europäische Union Deshalb ist jeder Deutsche, der bei Verstand ist, mit ist eine Erfolgsgeschichte. Das sollte man nicht verges- der Ratio und dem Herzen für Europa. Aber es muss sen, sondern aussprechen. Was aber für die Gemein- doch all denen, die politische Verantwortung tragen, zu schaft der sechs, der zehn und der zwölf Mitgliedstaaten denken geben, dass auch wir in den letzten zehn Jahren möglich war und mit 15 Mitgliedstaaten kaum noch in den monatlichen Umfragen, die die Europäische funktioniert hat, funktioniert mit 25 Mitgliedstaaten Union in allen Mitgliedstaaten über die Akzeptanz von nicht mehr. Ohne die Erfahrungen von Nizza – längster Europa durchführt, im Unterschied zu früheren Zeiten, Gipfel: fünf Tage, vier Nächte – wäre es nicht zu dem als wir in Deutschland bei einer Zustimmung von 70 und Auftrag von Laeken, zu einem Konvent für eine europäi- mehr Prozent lagen, bei den Werten der anderen Länder, sche Verfassung gekommen. bei 45 bzw. 47 Prozent, angekommen sind. Das muss uns doch zu denken geben. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) Ich glaube, es gibt dafür einen einzigen Grund. Der Betrachten wir das Ergebnis. Natürlich könnte jeder Bürger in Europa erlebt die Europäische Union als ein – das ist angedeutet worden –, der einen Verfassungsent- fernes, technokratisches Gebilde. Es gibt so gut wie wurf schreiben will, eine aus seiner Sicht bessere Verfas- keine europäische Öffentlichkeit. Es gibt ein Geflecht sung schreiben. von Zuständigkeiten. Der Bürger hat keine Übersicht. ( [SPD]: Oder eine an- Der Bauer, der Handwerksmeister, der Kommunalpoli- dere!) tiker erleben aber fast tagtäglich europäische Gesetzge- bung, von der sie der Überzeugung sind, dass sie bürger- Jeder hat Wünsche. Es wurden aber entscheidende fern und problemfern ist, dass sie sehr viel besser auf Schritte nach vorne getan. 14908 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg) (A) Erstens. Das Ergebnis des Grundrechtekonvents unter gleiche Bezeichnung wie im nationalen Recht; künftig (C) der Leitung von ist ohne Wenn und Aber handelt es sich um europäische Gesetze – zuständig ist, Teil der neuen europäischen Verfassung. Sie enthält alle eine entsprechende Initiative ergreift, dann muss sie Grund- und Menschenrechte, wie sie einer rechtsstaat- selbst vorher prüfen, ob der Grundsatz der Subsidiarität lichen, freiheitlichen Verfassung entsprechen. eingehalten ist und ob eine europäische Maßnahme über- haupt notwendig und adäquat ist. Das Ergebnis ihrer Zweitens. Wir haben eine klare Kompetenzordnung. Prüfung muss sie im Einzelnen begründen und dabei Was ist nicht alles dagegen gesagt worden? Europa ist ganz klare Kriterien, die ihr vorgegeben sind, erfüllen; ein dynamischer Prozess, der nicht an einem Tag in einer das halte ich für außerordentlich wichtig. Und dies un- Verfassung, in einer Kompetenzordnung eingefangen terliegt künftig einer Kontrolle durch alle nationalen Par- werden könne. Die europäische Verfassung enthält heute lamente. – ähnlich wie das Grundgesetz – einen Artikel über aus- schließliche Zuständigkeiten der Europäischen Union, Nun zum Europäischen Rat bzw. zum Ministerrat. einen Artikel über gemischte Zuständigkeiten, einen Ar- Sie sind mir sicherlich nicht böse, wenn ich sage, dass er tikel über ergänzende Zuständigkeiten, sogar einen Arti- das reformbedürftigste Gremium war. kel, in dem steht, worum sich die Europäische Union auf gar keinen Fall kümmern darf, nämlich beispielsweise (Heiterkeit bei der CDU/CSU) um die innere Ordnung der Mitgliedstaaten. Es wird das Kein demokratisches Parlament der Welt hat nicht öf- Selbstverwaltungsrecht der Städte und Gemeinden in fentlich getagt. diesem Artikel anerkannt. Erstmals kommen in einem europäischen Vertrag Städte vor, obwohl europäische (Peter Hintze [CDU/CSU]: Doch, in Korea!) Kultur und Geschichte weitgehend Stadtkultur und Aber der Ministerrat hat nicht öffentlich getagt. Jetzt ist Stadtgeschichte sind. Das war höchste Zeit. Öffentlichkeit hergestellt. Herr Außenminister Fischer, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei dieser Gelegenheit bedanke ich mich für die gute Zu- bei Abgeordneten der SPD) sammenarbeit im Konvent. Eines nehme ich den Außen- ministern allerdings ein bisschen übel: Als sie sich bei Man muss sich natürlich fragen, was die Einfallstore der ersten Befassung mit dem Verfassungsentwurf in dafür waren, dass immer mehr Zuständigkeiten, die man Rom noch auf gar nichts verständigen konnten, haben besser auf nationalstaatlicher, auf regionaler oder kom- sie die vorgesehene Schaffung eines Gesetzgebungsrates munaler Ebene erledigen sollte, nach Europa verlagert abgelehnt. In Zukunft wird es wiederum nicht einen Ge- wurden. setzgebungsrat, sondern sieben, acht, zehn oder zwölf Gesetzgebungsräte geben. (B) Das erste große Einfallstor war der Binnenmarktarti- (D) kel, Art. 308 EGV, der so allgemein gefasst war, dass Die Folge wird sein: Wenn sich – das ist ein beliebi- mir zwei Kommissare gesagt haben: Wenn wir in kei- ges Beispiel – ein Umweltminister mit einem Vorhaben nem europäischen Vertrag eine Begründung für eine in seinem nationalen Kabinett nicht durchsetzen kann, neue Kompetenz gefunden haben, dann haben wir uns weil es dort auch noch einen Finanzminister, einen Wirt- auf den Binnenmarktartikel bezogen; denn er schaffte schaftsminister und einen Regierungschef gibt, immer die Basis für eine neue Kompetenz. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Peter Hintze (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und [CDU/CSU]: Oh ja! Das hätten wir auch der FDP) gerne!) Das zweite große Einfallstor war, dass jeder europäi- was wird er dann tun? Er wird sein Vorhaben zwei Wo- sche Vertrag auf seinen ersten drei, vier Seiten und in chen später im Ministerrat in Brüssel zur Sprache brin- 20 Spiegelstrichen mit allgemeinen Zielsetzungen be- gen. Dort ist er ausschließlich unter seinesgleichen, nur gann. Das war Lyrik nach dem Motto: Edel sei der unter Umweltministern. Die Chance, dass er dort Zu- Mensch, hilfreich und gut. stimmung für sein Vorhaben, mit dem er im nationalen (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Parlament gescheitert ist, bekommt, ist sehr viel größer. Daher müssen die Mitgliedstaaten so unglaublich viele Auf dieser Basis konnte die Kommission immer eine Be- Vorgaben aus Brüssel in nationales Recht umsetzen, ob- gründung für eine neue Zuständigkeit finden. wohl ihre Kabinette entsprechende Pläne zuvor abge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie lehnt haben. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie NISSES 90/DIE GRÜNEN) bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Deshalb war es nötig, diese Einfallstore zu schließen. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist jetzt in Form einer klaren Kompetenzordnung Meine Damen und Herren, deswegen wäre nichts geschehen. Noch wichtiger ist, dass es darin klipp und wichtiger als die Schaffung eines einheitlichen Gesetz- klar heißt: Allgemeine Zielsetzungen sind künftig nicht gebungsrates gewesen, besetzt mit einem Vertreter des mehr kompetenzbegründend. Vielmehr benötigt man Auswärtigen Amtes oder des Kanzleramtes von nun an eine Einzelfallermächtigung. Wenn die Euro- päische Kommission, die auch in Zukunft für die Set- (Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Und mit zung europäischer Normen – sie haben nun übrigens die jedem Regierungschef!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14909

Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg) (A) – das hätten Sie unter sich ausmachen müssen –, der eine Eine Erweiterung nach Süden hat sich ergeben, es hat (C) Gesamtschau hat und, wie es auch ein nationales Parla- eine Erweiterung nach Westen gegeben und die nach ment tut, an das Ganze denken muss. Norden. Die große Zeitenwende des Jahres 1989 hat die Erweiterung nach Osten möglich gemacht. Ich vergesse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nicht, was mir der erste frei gewählte ungarische Minis- bei Abgeordneten der SPD) terpräsident, Jozsef Antall, in Budapest gesagt hat: „Wir Immerhin gibt es, was den Europäischen Rat bzw. den kehren zurück nach Europa. Wir haben uns nie von Eu- Ministerrat betrifft, auch Verbesserungen. Es wurde das ropa verabschiedet. Wir sind durch die sowjetische He- Prinzip der doppelten Mehrheit eingeführt; das ist ein gemonialmacht gewaltsam von Europa ferngehalten Vorteil. In vielen Bereichen fand der Übergang zu Mehr- worden.“ Das alles ist nun vollendet mit der Gemein- heitsentscheidungen statt. schaft der 25. Es ist nicht einfach, in Europa um Kom- promisse zu ringen, aber es ist notwendig: Wir haben Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen Satz keine Alternative und wir haben jetzt ein klares Funda- zu einer der wenigen verbliebenen Streitigkeiten, näm- ment. Über die Verträge hinaus, die bisher von Diploma- lich zur Passerelle-Regelung, sagen. Es ist doch unstrit- ten für Diplomaten geschrieben worden sind, haben wir tig, dass, wenn wir heute Punkte hätten, bei denen von jetzt eine echte europäische Verfassung. Europa wird der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung überge- durch diese Verfassung in eine bessere Verfassung kom- gangen werden sollte, diese Teil der Beratungen im Bun- men. Nicht alle Probleme sind gelöst, aber ein Meilen- destag und Bundesrat wären und einer Zweidrittelmehr- stein für eine gute Zukunftsentwicklung ist gesetzt. heit bedürften. Wenn wir nun künftig, weil Politik ein dynamischer Prozess ist, von Einheitsentscheidungen zu (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Mehrheitsentscheidungen übergehen wollen, wäre ei- der FDP – Beifall bei der SPD und dem gentlich eine Verfassungsänderung notwendig, so wie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das Grundgesetz normalerweise geändert werden müsste. Da eine Verfassungsänderung aber 25 Ratifizierungen Präsident Wolfgang Thierse: bedarf, hat man ein vereinfachtes Verfahren geschaffen. Ich erteile dem Bundesminister des Auswärtigen, Aber wenn klar ist, dass es faktisch um eine Verfassungs- , das Wort. änderung geht, dann muss man die nationalen Parla- mente befassen wie jetzt bei der Grundentscheidung über (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Verfassungsvertrag. Nach meiner Meinung sollte die DIE GRÜNEN) Regierung vorher wissen, wie ihre Parlamente dazu ste- hen. Das ist ganz einfach meine Meinung; diese Argu- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: (B) mente müssten zunächst einmal widerlegt werden. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Mi- (D) nisterpräsident Teufel, ich möchte mich dem Dank des Wir haben die Kommission nicht geschwächt. Leider Hauses ausdrücklich anschließen. Das war nicht der üb- haben sich bei der Verringerung der Zahl der Kommis- liche Dank für die gute Zusammenarbeit, die wir hatten, sare die Regierungschefs auf ein spätes Datum – erst sondern das war der Dank für eine, wie ich finde, große 2014 – verständigt; wir sind von 2009 ausgegangen. europäische Rede, die Sie heute hier gehalten haben. Aber ich weiß, wie schwierig es ist, wenn kleine Staaten, Über die Parteigrenzen hinweg möchte ich mich dafür wenn neue Staaten darauf bestehen, mit einem Kommis- bedanken. sar in der Kommission vertreten zu sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Die Rechte des Europäischen Parlaments wurden bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) entscheidend verbessert. Das halte ich für richtig. Seit über 20 Jahren wählen wir ein Europäisches Parlament. Der baden-württembergische Ministerpräsident hat zu Wenn man die Bürger auf der Straße fragen würde, wür- Recht mit der historischen Dimension begonnen. Ge- den 98 von 100 auf die Frage, wer das Gesetzgebungsor- rade in diesem Jahr, 60 Jahre nach dem Ende der Tragö- gan in Europa ist, sagen: das Europäische Parlament, das die des Zweiten Weltkrieges – der Jahrestag der Befrei- wir wählen. Tatsächlich ist es der Ministerrat. Das Euro- ung des Vernichtungslagers Auschwitz liegt erst wenige päische Parlament hat Befassungsrechte gehabt. Jetzt be- Tage zurück –, gedenken wir der Bombennächte, des kommt es haushaltsmäßig und gesetzgebungsmäßig fast ganzen Grauens der europäischen Zerstörung und auch die Rechte, die der Ministerrat hat. Mittelfristig, glaube der deutschen Selbstzerstörung. Zugleich diskutieren wir ich, müssen sich das Europäische Parlament zur Bürger- heute über einen ganz entscheidenden Baustein des euro- kammer und der Europäische Rat zur Staatenkammer päischen Einigungswerks, nämlich die europäische Ver- entwickeln, ganz ähnlich dem Modell Bundestag – Bun- fassung. Deutschland ist heute von Partnern und Freun- desrat. den in der Union der 25 und im Atlantischen Bündnis umgeben. Die Verbesserungen sind entscheidend, wenn auch keineswegs ideal. Aber ich betrachte Europa vor allem Ich kann nur unterstreichen, was der baden-württem- als eine Friedensgemeinschaft. Europa war das große bergische Ministerpräsident gesagt hat: Aus der Ge- Erfolgsmodell nach dem Zweiten Weltkrieg: Von denje- schichte wird in der Regel nicht gelernt, aber die Euro- nigen, die übrig gebliebenen sind, von Westeuropa, Rest- päer haben daraus gelernt. Es gab zwei wichtige europa, wurden die Römischen Verträge abgeschlossen, Umstände: Zum einen war es die Entscheidung der Ver- durch die die Europäische Gemeinschaft entstanden ist. einigten Staaten von Amerika, der Sicherheit und der 14910 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Bundesminister Joseph Fischer (A) Freiheit Westeuropas und damit auch des westlichen Teil ren Europäern war der entscheidende Beitrag von außen (C) Deutschlands und nach 1945 verpflichtet zu blei- dafür, dass den neuen Prinzipien, auf denen Europa ruht ben, zum anderen war es die Vision einer europäischen und sich weiterentwickeln wird, nämlich der Absage an Einigung, die Schuman und Monnet, die beiden großen Einflusszonen und hegemonialen Ansprüchen sowie der französischen Staatsmänner, entwickelt und gemeinsam Unterstreichung des Rechts auf Selbstbestimmung in mit Konrad Adenauer in den europäischen Verträgen freien und fairen Wahlen, zum Erfolg verholfen wurde. umgesetzt haben. Das hat für unsere zukünftige Sicherheit wie auch für die Zusammenarbeit mit Russland, die von strategischer Be- Herr Teufel, ich denke, Sie haben mit Ihrer Rede klar deutung ist, eminente Bedeutung. gemacht, dass es sich hier bei allem notwendigen partei- politischen Streit doch um ein gemeinsames Projekt han- Wir konnten auch sehen, was uns mit 15 Staaten nicht delt. Es geht nämlich darum, dieses Europa so zu schaf- gelungen ist. Ministerpräsident Teufel hat den Vertrag fen, dass dauerhaft Frieden auf diesem Kontinent von Nizza angeführt. Dieser war nach dem Vertrag von herrscht. Amsterdam nur eine weitere Stufe. Schon bei den Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN handlungen in Maastricht sind bestimmte Fragen nicht und bei der SPD) beantwortet worden. Deswegen gab es die Regierungs- konferenz in Amsterdam, bei der von „Überbleibseln“ Wenn Sie so wollen, ist es nicht nur der eigentliche gesprochen wurde. Aber diese Überbleibsel waren bei Gründungsgedanke, sondern auch die Aufgabe der Euro- diesen Verhandlungen die Hauptsache. In Nizza ging es päer, dass sie ihre Kontroversen nicht mehr auf den um weitere Überbleibsel. Wir haben es mit 15 Staaten Schlachtfeldern, sondern am Verhandlungstisch austra- nicht geschafft, hier eine Lösung zu finden. Aber ich gen. Viel Bürokratie ist daraus zu erklären, weil es unter- habe im Konvent die Erfahrung gemacht, dass sich die schiedliche Interessen gibt: Es gibt große und kleine neuen und jungen Mitgliedstaaten in die europäische Länder, wir haben ein föderales, Frankreich hat ein zen- Konsensfindung sehr schnell eingearbeitet haben. Des- tralistisches System, es gibt Staaten mit zwei Kammern wegen sehe ich es als eine große Leistung an, dass das, und andere mit einer Kammer und es gibt arme und rei- was die 15 Staaten, die alten Europäer, in drei Regie- che Länder, die auch auf materieller Ebene einen Interes- rungskonferenzen nicht geschafft haben, mit 25 Mit- senausgleich benötigen. gliedstaaten in der Europäischen Union in zwei Regie- Die Erweiterungspolitik der Europäischen Union rungskonferenzen in nur sechs Monaten erreicht wurde, ist eine große Erfolgsgeschichte. Hier im Raum sitzen nämlich den Verfassungsvertrag, den der Konvent erar- viele, die sich noch daran erinnern können, wie es in den beitet hat, letztendlich anzunehmen. Hieran zeigt sich 60er- und 70er-Jahren in Griechenland, Spanien, Portu- auch, dass die These, eine größere Union, die zwar (B) (D) gal und auch in Irland gewesen ist. Heute sind das Län- schwieriger, aber auch bedeutender sei, müsse weniger der mit hoch entwickelten Wirtschaften, mit stabilen De- handlungsfähig sein, einfach nicht stimmt; denn sie hat mokratien und mit starken Zivilgesellschaften; es sind sich als handlungsfähig erwiesen. Deswegen haben wir Rechtsstaaten. Die Vorstellung, dass es dort noch einmal heute die Chance, über diese Verfassung in erster Lesung zu einer Militärdiktatur kommen könnte, ist absurd und zu diskutieren. abwegig. Neben der großen Leistung der betroffenen Völker spielt der europäische Integrationsprozess dabei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine ganz entscheidende Rolle. Irland, dessen tragische und bei der SPD) Geschichte wir alle kennen, ist heute pro Kopf das Der erste Schritt war die Erweiterung. Diese Erweite- zweitreichste Land. Hieran kann man den großen Erfolg rung ist durch das Ende des Kalten Krieges und des Ost- erkennen. West-Konfliktes in einem positiven Sinne erzwungen Nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht und nach worden. Aber dieser Schritt bliebe Stückwerk, wenn wir der Überwindung der künstlichen Teilung Europas durch beim Nizza-Vertrag, der die geltende Grundlage ist, ste- den Kalten Krieg war klar – es galt nicht nur für die Ost- hen bleiben würden. Ministerpräsident Teufel hat aus deutschen, dass sie über den europäischen Einigungs- Sicht der Länder die wichtigen Punkte genannt. Es ist prozess der EU beitreten würden –, dass sich die euro- völlig klar: Wir brauchen eine gemeinsame Sicherheits- päische Einigungsidee selbst verraten würde, wenn die und Außenpolitik. Dabei kann nicht am Rotations- Ost-, Ost-Mittel- und Süd-Ost-Europäer von diesem modell der Präsidentschaft festgehalten werden. Jen- Einigungsprozess künstlich ausgeschlossen würden, ob- seits aller Parteipolitik erlebe ich als Außenminister im wohl sie daran teilhaben wollen und können. Deswegen europäischen Konzert, dass unsere Partner die Bedeu- hat es diese große Erweiterungsrunde gegeben. Ich tung der Europäischen Union im Grunde genommen denke, das war ein notwendiger historischer Schritt und ernster nehmen, als es die Struktur der Institutionen in er erweist sich zunehmend als großer Erfolg. diesem Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik heute zulässt. Sie wollen ein verlässliches europäisches Han- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deln, weil die Europäische Union in einem positiven und bei der SPD) Sinne mehr und mehr zum internationalen Machtfaktor Wir können die Bedeutung an der Rolle erkennen, die wird. Daran haben auch die Gründungsväter und -mütter die Europäische Union in der orangenen Revolution der Union geglaubt und dafür gearbeitet. Dies spiegelt gespielt hat. Das Zusammenspiel des polnischen und des sich ebenfalls in einem wesentlichen Teil des Verfas- litauischen Präsidenten mit Javier Solana und den ande- sungsvertrages wider. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14911

Bundesminister Joseph Fischer (A) Wir brauchen eine Abkehr von der rotierenden Präsi- politisch darauf einzulassen. Nur, eine Bindung der Bun- (C) dentschaft. Die Union muss eine beständige Repräsen- desregierung in den europäischen Verhandlungen, wie tanz haben. Das mag für die Bürgerinnen und Bürger sie etwa für die dänische Regierung gilt, halte ich unter weniger wichtig klingen. Aber die Rolle, die die Euro- allen Gesichtspunkten – angesichts der Bedeutung unse- päische Union im gemeinsamen Interesse der Mitglied- res Landes, des Gewichts, des föderalen Aufbaus und staaten und der Bürgerinnen und Bürger in der Welt der ganz anderen Größenordnung – für einen Schritt, der spielt, hängt davon ab. Wir brauchen einen Außenminis- meines Erachtens die Handlungsfähigkeit der Bundesre- ter, der die europäische Außen- und Sicherheitspolitik gierung auf europäischer Ebene begrenzen und damit mit einem auswärtigen Dienst auf europäischer Ebene in nicht in eine positive Richtung führen würde. Verbindung mit den Mitgliedstaaten tatsächlich reprä- sentiert. Diese Dinge sind für die Zukunftsfähigkeit von Die Subsidiaritätsklage wird innerstaatlich ausgestal- entscheidender Bedeutung. Gerade einen Tag nach dem tet werden. Das war das, was wir durchgesetzt haben. Es Besuch von Präsident Bush wird klar, dass seine Aus- wird meines Erachtens darauf ankommen, dass die bei- sage, Amerika habe Interesse an einem starken Europa, den Kammern die entsprechenden Regelungen vereinba- bedeutet, dass wir diese Verfassung brauchen, oder wir ren. Ich bin mir sicher, dass wir uns einigen können. Das bleiben bei dem zweiten Schritt, der auf die Erweiterung gilt auch für die Subsidiaritätsrüge. folgen muss, stehen. Zur Passerelle: Es war immer die deutsche Position, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weniger Einstimmigkeit zu wollen. Das war nicht nur und bei der SPD) die Position von Rot-Grün, sondern die gemeinsame Position. Wir wollen Mehrheitsentscheidungen. Auch im Dasselbe gilt meines Erachtens auch für die innere Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik war das Haus Ausgestaltung der Europäischen Union. Wenn gesagt unisono der Meinung, dass wir mehr Mehrheitsentschei- wird, die Bürgerinnen und Bürger interessierten sich we- dungen wollen, also weg vom Veto. nig für Europa, dann, glaube ich, liegt das auch daran, dass die Bürgerinnen und Bürger einen Sinn für die Jetzt komme ich zu der Frage der Bindung der Bun- Machtfrage haben. Dass das Europäische Parlament in desregierung in den Verhandlungen. Sie haben zu Recht Zukunft wesentliche Rechte bekommt, wird dazu führen, auf das Ratifikationsverfahren hingewiesen. Das findet dass es mehr Verantwortung erhält. Dass es nicht mehr hinterher statt, schon heute. Der Bundestag entscheidet für die allgemeinen Klauseln zuständig ist, sondern kon- nicht vorher, ob er das will, sondern er entscheidet heute krete Zuständigkeiten besitzt, werden die Bürgerinnen in einem Ratifikationsverfahren mit Zweidrittelmehr- und Bürgern verstehen, die zwischen Kommunen, Land heit, ob er das akzeptiert oder nicht. Ich finde den Vor- (B) und Bund differenzieren. Ich glaube, es ist keine Über- schlag in der Verfassung, die Parlamente und dann, wenn (D) forderung, allen klar zu machen, was in Zukunft in Eu- es Zweikammersysteme gibt, beide Kammern über eine ropa entschieden wird. Dies wird meines Erachtens zu Änderung entscheiden zu lassen, richtig. Das findet je- einer anderen Legitimationsgrundlage führen. doch im Nachhinein statt und eine Vorabbindung der Bundesregierung ist nicht gegeben. Ich bitte das Haus, Dass der Präsident der Europäischen Kommission noch einmal zu bedenken, welche Konsequenzen ein an- schon heute im Lichte der Mehrheitsentscheidungen auf deres Vorgehen hätte. Das ist völlig unabhängig von der Vorschlag vom Parlament gewählt wird, ist ein erster parteipolitischen Zusammensetzung der Bundesregie- Schritt in diese Richtung. Ich wage die Prophezeiung, rung. dass die Zeit, in der die Europawahlen eine geringere Bedeutung hatten, zu Ende gegangen ist. Schon bei der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN letzten Europawahl hat sich eine Verschiebung abge- und bei der SPD) zeichnet. Ich bin der Meinung, dass dann, wenn diese Verfassung Wirklichkeit wird und institutionell ausge- Das sind die Dinge, über die wir uns in Zukunft unter- schöpft wird, die demokratischen Prozesse, die für die halten müssen. Ich möchte noch bezüglich des Gesetz- Willensbildung und die Akzeptanz durch die Bürgerin- gebungsrates, den Sie, Herr Kollege Teufel, zu Recht nen und Bürger von entscheidender Bedeutung sind, von angesprochen haben, hinzufügen: Ich verhehle nicht, einer anderen Gewichtigkeit sein werden. Das geht dann dass ich ihn mir gewünscht hätte. Ich verletze nicht die aber auch in Richtung Europäisches Parlament. Das be- Loyalitäts- und Verschwiegenheitspflicht eines Mit- deutet, dann auch mehr Verantwortung zu übernehmen. glieds des Kabinetts, wenn ich sage, dass es manche Das ist die zweite Konsequenz. Kollegen gab, die aus Gründen, die Sie angeführt haben, durchaus ein Fragezeichen gesetzt haben. Klar war: Wir Damit komme ich auf die Ausgestaltung bei uns zu hatten da keine Mehrheit. sprechen. Ich bin der Meinung, dass das Parlament in Zukunft natürlich eine wichtigere Rolle spielen wird. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ross und Reiter Die Subsidiaritätsklausel muss ernst genommen wer- nennen!) den. Wenn es einen Dissens gibt – es fällt mir schwer, Herr Kollege Teufel, heute einen Dissens zu Ihnen zu Es waren zwei Mitgliedstaaten, die dafür gekämpft ha- finden –, dann liegt er vielleicht dort, jedoch nicht in der ben, alle anderen Mitgliedstaaten waren dagegen, so- praktischen Umsetzung. Jede Bundesregierung wird wohl in der Runde der 15 Mitgliedstaaten als auch später doch klug genug sein, von Anfang an das Subsidiaritäts- in der Runde der 25. Insofern gab es keine Chance, das problem nicht nur im Auge zu haben, sondern sich auch durchzusetzen. 14912 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Bundesminister Joseph Fischer (A) Ansonsten aber ist diese Verfassung gelungen: Wir Aber als der baden-württembergische Ministerpräsi- (C) haben eine Parallelität von Rechten der Mitgliedstaaten dent hier gesprochen hat, ist diese Enttäuschung – um und Subsidiaritätsprinzip, wir haben die Stärkung der nicht zu sagen: Empörung – über die Verschluderung Rechte des Europäischen Parlaments und der Kommis- parlamentarischer Sitten schnell gewichen. Herr Minis- sion und die klare Definition des Verhältnisses zum Rat. terpräsident Teufel, das war die große Rede eines großen Wir haben bei der Gesetzgebung ein klares Verfahren, Europäers. Ich danke Ihnen sehr herzlich dafür. das – das können wir mit einem gewissen Stolz sagen – (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) im Grunde genommen dem Dreisatz des Grundgesetzes abgeschaut ist, nämlich die ausschließliche Gesetzge- Ich danke Ihnen auch deshalb, Herr Ministerpräsident, bung für beide Seiten und den konkurrierenden Bereich. weil Sie mit der Begründung dieses guten Entwurfs ei- Es hat eine Klärung stattgefunden und es gibt keine all- nes Verfassungsvertrags eine Perspektive verbunden ha- gemeinen Ermächtigungsklauseln mehr. Wir haben jetzt ben. Denn er stellt einen Meilenstein dar. Wir haben aber europäische Grundrechte. Wer hätte gedacht, als Roman noch einen langen Weg vor uns; schließlich ist und bleibt Herzog damals den Auftrag übernommen hat, die es ein Vertrag. Es gibt noch keine Verfassung, die Grundrechte-Charta zu entwerfen – eine Initiative üb- – ähnlich den ersten Worten der amerikanischen Verfas- rigens, die von der Bundesregierung und insbesondere sung „We the people“ – mit „Wir, das Volk Europas“ be- von Bundeskanzler Schröder ausging; das gilt auch für ginnt. So weit sind wir noch nicht; es gibt noch kein die anderen Bereiche, die ich eben vorgetragen habe –, Staatsvolk. dass wir heute die Grundrechte-Charta mit verbrieften Grundrechten in der europäischen Verfassung haben, Uns liegt vielmehr ein Vertrag vor, der von den Re- und das trotz der Widerstände auf europäischer Ebene? gierungen erarbeitet wurde und mithilfe einer neuen Ein- Ich gehörte damals zu denen, die sich darüber gefreut richtung zustande gekommen ist, die sich sehr bewährt hätten, aber eine realistische Skepsis an den Tag gelegt hat, nämlich der Konvent. Wir werden aber noch einen haben. Die ist widerlegt worden und das ist gut so. weiten Weg gehen müssen, bis die Europäer eines Tages eine Verfassung bekommen werden, die den Zusatz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Vertrag“ nicht mehr benötigt. und bei Abgeordneten der SPD) Dennoch ist der Vertrag gut. Er ist – auch aus liberaler Angesichts dessen, was diese Verfassung für die euro- Sicht – ein Kompromiss, der aber tragfähig ist. Sehr we- päischen Bürgerinnen und Bürger, die Integration der al- sentliche liberale Elemente – von den Grundrechten über ten und neuen Mitgliedstaaten, die verbesserte institutio- die Vertragsfreiheit, das Verbot der Überregulierung, die nelle Arbeit auf europäischer Ebene und die verbesserte Subsidiaritätsforderung bis hin zur Verhältnismäßig- keitsregelung – sind darin enthalten. Weil diese sehr gu- (B) Integration der nationalen Parlamente – unabhängig da- (D) von, ob es sich um eine oder zwei Kammern handelt –, ten Errungenschaften in das europäische Recht Eingang aber auch für die Europäische Union in ihrer zunehmen- finden, werden wir Liberale dem Vertragswerk zustim- den außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung be- men. deutet, kann ich nur unterstreichen: Wir brauchen diesen Zu einem späteren Zeitpunkt wird es darum gehen, Verfassungsvertrag. Deswegen hoffe ich, dass das Haus wesentliche Lücken zu schließen, die bereits angespro- mit sehr großer Mehrheit möglichst schnell zu einer Ra- chen worden sind. Ich habe es außerordentlich bedauert, tifikation kommt. Denn als Bundesaußenminister und dass im Rahmen der Regierungskonferenz, die den Ent- Europäer wünsche ich mir, dass einer der wichtigen wurf des Konvents alles in allem nur unwesentlich ver- Staaten in der Europäischen Union eine klare, schnelle schlechtert hat, zumindest in einem Punkt eine wesentli- und richtige Entscheidung trifft. che Verschlechterung zustande gekommen ist, nämlich Ich danke Ihnen. beim Legislativrat. Damit sind große Gefahren verbun- den. Ich denke, wir müssen durch nationale Vorsorge si- (Lebhafter Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE cherstellen, dass die gute Absicht des Konvents nicht in GRÜNEN und bei der SPD) das Gegenteil verkehrt wird.

Präsident Wolfgang Thierse: Im Zusammenhang mit den zu schließenden Lücken ist dann, wenn wir eines Tages vom Verfassungsvertrag Ich erteile Kollegen Werner Hoyer, FDP-Fraktion, zu einer Verfassung übergehen, die den Zusatz „Vertrag“ das Wort. nicht mehr benötigt, die Frage zu berücksichtigen, wie die Legimitationslücke zu schließen ist, die sich daraus Dr. Werner Hoyer (FDP): ergibt, dass das Prinzip der Gleichgewichtigkeit der indi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als viduellen Wählerstimmen in der Europäischen Union diese Debatte heute Morgen begann, war ich zunächst auch in Zukunft noch nicht gelten wird. Zur Beruhigung außerordentlich überrascht. Ich habe noch keinen Ge- sei deshalb gesagt: Für die Europapolitiker wird noch setzentwurf der Bundesregierung erlebt, mit dem ein sehr viel zu tun bleiben, auch wenn der Verfassungsver- Vertragswerk vergleichbarer Qualität eingebracht wor- trag vorliegt. den ist, ohne dass die Bundesregierung das Vorhaben durch eine Einbringungsrede begründet hätte. Die Ratifizierung der Verfassung ist kein bürokra- tischer Akt. Es geht vielmehr darum, die Zustimmung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Bürgerinnen und Bürger zu erzielen. Diese wird der CDU/CSU) nicht dadurch erreicht, dass wir eine Expertendebatte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14913

Dr. Werner Hoyer (A) führen, sondern wir müssen die Debatte an die Bürgerin- tend sind und so schlecht informiert sind, hat natürlich (C) nen und Bürger herantragen. Es ist leicht, über die Büro- auch etwas damit zu tun, dass wir gerade in Deutschland kraten auf europäischer Ebene herzuziehen. In manchen als Politikerinnen und Politiker oft gar nicht die Notwen- Fällen ist das völlig unberechtigt, aber manchmal ist es digkeit sehen, die Bevölkerung in der Breite zu überzeu- leider auch berechtigt. Manchmal ist es unsinnige büro- gen und mitzunehmen. Europa ist häufig unpopulär und kratische Überregulierung oder sogar bevormundender schwer zu erklären. Unfug, der aus Brüssel kommt. Manchmal müssen wir einfach nur erklären, dass eine europäische Richtlinie (Zuruf des Abg. Günter Gloser [SPD]) oder Rechtsetzung – welcher Art auch immer – zum Bei- Deswegen bleibt mancher gerne – Herr Kollege Gloser, spiel dazu dient, fairen Wettbewerb zu organisieren, und Sie gehören nicht dazu – wie die Hasen mit angelegten dass daher europäisches Handeln häufig ein Segen ist, Löffeln in der Ackerfurche liegen, wenn es darum geht, gerade wenn es darum geht, unsere verkrusteten Struktu- Europa zu erklären, und der euroskeptische Wind über ren in der Bundesrepublik Deutschland zu knacken. uns hinwegweht. (Beifall bei der FDP) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nicht immer so tieri- sche Vergleiche!) Wesentlich ist, dass wir Politikerinnen und Politiker uns darum bemühen, mehr zu erklären und zu werben. Infor- Hätten wir die Notwendigkeit, in einer Referendums- mation ist der erste Schritt. kampagne das Volk mitzunehmen, müssten wir uns alle sehr viel mehr anstrengen. Sie haben zu Recht die historische Dimension des Verfassungsvertrages angesprochen. Wir unterschätzen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten völlig, welche große Bedeutung der Verfassungsvertrag der SPD) hat, welche Anerkennung die europäische Integration Ich beklage den mangelnden Mut, der zum Ausdruck bei den Menschen jenseits von Europa genießt und wie kommt, wenn die Mehrheit dieses Hauses einen Volks- sehr Europa mittlerweile zu einem Modellfall für Regio- entscheid über die europäische Verfassung ablehnt. Es nen der anderen Welt geworden ist. Das sollten wir nicht waren doch die Grünen, die noch 2004 in ihrem Wahl- länger tun. Diese Unterschätzung kommt übrigens auch programm ausdrücklich geschrieben haben: darin zum Ausdruck, dass wir – wie ich finde: völlig leichtfertig und unnötig – auf die Perspektive einer euro- In Deutschland soll der erste bundesweite Bürger- päischen Stimme in der Weltpolitik, also eines Sitzes im entscheid über die neue Verfassung durchgeführt Weltsicherheitsrat, verzichten. Eines Tages kommt es werden. noch so weit, dass der amerikanische Präsident Bush (B) nach seinem Besuch in Brüssel die Forderung nach ei- Dieses Haus hat niemals einen entsprechenden Gesetz- (D) nem europäischen Sitz erhebt und sie gegen den Willen entwurf der Grünen gesehen. Wir legen Ihnen aber einen der Bundesregierung durchsetzt. vor. (Heiterkeit bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Herr Bundesminister, man ist ja durch das beflügelt, was Von Ihnen wird zwar wolkig angekündigt, dass die Ein- in den letzten Tagen möglich geworden ist. führung eines Volksentscheides in größerem Rahmen auf den Tisch des Hauses kommen wird. Wir warten es Der erste Schritt ist natürlich Information. Es ist ab. Interessant ist aber, dass bis dahin der europäische schon ein ziemlicher Skandal, dass ein Lehrer – egal in Verfassungsvertrag mit der Brechstange durch das Rati- welchem Bundesland –, der die Bundeszentrale für poli- fizierungsverfahren gebracht werden soll. Ich finde das tische Bildung oder das Bundespresseamt anruft und nicht sehr überzeugend. Wir werden Ihnen in naher Zu- fragt, ob es möglich ist, ihm den Text des vom Europäi- kunft die Gelegenheit geben, in namentlicher Abstim- schen Rat verabschiedeten Verfassungsvertrags zuzu- mung über die Einführung eines Volksentscheids über schicken, die Antwort bekommen wird, dass der Verfas- den europäischen Verfassungsvertrag zu entscheiden. sungsvertrag leider noch nicht in gedruckter Form Ich sage dies für meine Fraktion nicht als Vertreter vorliegt, dass er ihn aber im Internet herunterladen kann. derjenigen, die ohnehin für die Einführung von mehr Der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- plebiszitären Elementen in unsere Verfassung eintreten, torsicherheit führt gerade eine millionenschwere Me- sondern als jemand, der als überzeugter Anhänger der dienkampagne mit der Überschrift „Sibirien bleibt kalt“ repräsentativen Demokratie der Auffassung ist, dass durch. Ich freue mich zwar ebenfalls über das In-Kraft- auch in einer solchen Demokratie die Repräsentanten der Treten des Kioto-Protokolls. Aber dass wir für den euro- Legitimation durch das Volk bedürfen. päischen Verfassungsvertrag in gedruckter Form kein Geld übrig haben, wohl aber für eine solche Kampagne, (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist ei- die eigentlich nicht mehr erforderlich ist, um politische gentlich unstrittig!) Überzeugungsarbeit zu leisten, ist schon ein ziemlich schlechter Scherz. Wir haben 1990 – Herr Kollege Röttgen, ich sage das sehr selbstkritisch – die Chance verpasst, dem Volk das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Grundgesetz für das vereinigte Deutschland zur Ratifi- zierung vorzulegen. Letzter Punkt. Dass die Europäerinnen und Europäer, insbesondere die Deutschen, so skeptisch und zurückhal- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 14914 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Werner Hoyer (A) Wir sollten uns nun nicht die Möglichkeit nehmen, die- Europa hat gelernt. Wie so oft war eine durchaus kri- (C) sen Fehler bei der europäischen Verfassung zu vermei- senhafte Entwicklung Voraussetzung für weitere Integra- den. Deswegen haben wir Ihnen eine Grundgesetzände- tionsfortschritte. Ich erinnere mich sehr gut an die De- rung vorgeschlagen. Wir werden bald im Deutschen batten im Konvent über die Gemeinsame Außen- und Bundestag in namentlicher Abstimmung darüber zu be- Sicherheitspolitik, als zur gleichen Zeit das Wort vom al- finden haben. Ich freue mich darauf, dass die Grünen ten und neuen Europa die Runde machte. Das ist über- dann die Chance haben, ihre beachtliche Lücke zwi- wunden. Die Konzeption einer Europäischen Sicher- schen Versprechen und Halten, zwischen Wort und Tat heits- und Verteidigungspolitik ist Ausdruck eines zu schließen. selbstbewussten Europas, das bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Haben Sie herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP) Wir nehmen Partnerschaft ernst und setzen auf die Stärkung des transatlantischen Bündnisses. Ich freue mich, dass auch der amerikanische Präsident in dieser Präsident Wolfgang Thierse: Woche in Brüssel zum Ausdruck gebracht hat, dass ein Ich erteile Staatsminister Hans Martin Bury das Wort. starkes Europa ein starker Partner der Vereinigten Staa- ten ist. Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gene- Die Verfassung wird Europa handlungsfähiger ma- ration meiner Großeltern hat Krieg gegeneinander ge- chen. Das ist notwendig, weil wir in der EU auch die führt. Heute ist Europa das erfolgreichste Friedensprojekt Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung aller Zeiten. Europäische Softpower ist so wirkungsvoll, sehen. Mit der Refokussierung der Lissabon-Strategie so attraktiv, dass sich viele Nachbarländer der EU auf den auf Wachstum und Beschäftigung, mit einer ökonomi- Weg der Freiheit und der Demokratie gemacht haben. schen Interpretation des Stabilitäts- und Wachstums- pakts tragen wir dazu bei, Europas Wettbewerbsfähigkeit Der Erfolg der Integration Europas ist zugleich die gegenüber Nordamerika, Südostasien, China, Indien größte Herausforderung für die Europäische Union. Er- oder dem Mercosur zu stärken. weiterung und Vertiefung gleichzeitig anzugehen war ohne Zweifel ein Wagnis, war aber zugleich die Voraus- Doch es geht nicht nur um die Handlungsfähigkeit der setzung für das Gelingen. Machen wir uns nichts vor: Europäischen Union, sondern wir diskutieren im Zusam- Bereits die EU der Fünfzehn stieß an die Grenzen ihrer menhang mit der Ratifizierung der europäischen Verfas- Handlungsfähigkeit. Doch erst gemeinsam mit den sung auch über die Handlungsfähigkeit Deutschlands in (B) neuen Mitgliedstaaten war der Handlungsdruck groß ge- Europa. Um deutsche Interessen – wer wollte ernsthaft (D) nug, um sich auf eine europäische Verfassung zu eini- bestreiten, dass es diese auch in Zukunft geben wird – gen. wirkungsvoll zu vertreten, brauchen wir einen hand- lungsfähigen Bundesstaat. Es ist bedauerlich, dass die Diese Verfassung ist, allen berechtigten Wünschen Föderalismuskommission nicht zu einem entsprechen- nach weiter gehenden Regelungen zum Trotz, ein Mei- den Ergebnis kam. Wir werden das Thema meines Er- lenstein. Ja, sie ist mehr als das. Ich meine, die europäi- achtens wieder aufgreifen müssen. Weder Bund noch sche Verfassung ist die Geburtsurkunde der Vereinigten Länder sollten aber jetzt den Versuch machen, die Ratifi- Staaten von Europa. zierung der Europäischen Verfassung, die wirklich von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) historischer Bedeutung ist, zum Anlass zu nehmen, die Schlachten der Föderalismuskommission noch einmal zu Ich weiß, dass das nicht jeder heute so sieht, dass das schlagen. manche heute nicht so sehen wollen. Aber ich bin zuver- sichtlich, dass das im Rückblick einmal so eingeordnet (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des werden wird. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jeremy Rifkin schreibt dazu: Lassen Sie uns die Fragen miteinander regeln, die mit Vor mehr als 200 Jahren erschufen die amerikani- der Ratifizierung unmittelbar zusammenhängen bzw. die schen Gründerväter einen neuen Traum für die sich aus der Stärkung der nationalen Parlamente, wie Menschheit, der die Welt veränderte. Heute entwirft sie die Verfassung vorsieht, ergeben. Herr Ministerpräsi- eine neue Generation von Europäern einen radikal dent Teufel, die Stärkung der nationalen Parlamente ist neuen Traum – einen, der ihrer Überzeugung nach nicht zuletzt – das gilt in Deutschland sowohl für den den Herausforderungen der zunehmend vernetzten Bundestag als auch für den Bundesrat – ein gemeinsa- und globalisierten Welt im 21. Jahrhundert besser mer Erfolg der deutschen Mitglieder im Konvent gewe- gerecht wird. Vielleicht können wir von unseren sen. Freunden in Europa etwas lernen. Ich bedanke mich bei den Europapolitikern der Koali- Es liegt auch an uns, diesen Traum Wirklichkeit wer- tionsfraktionen für den Entwurf eines Begleitgesetzes. den zu lassen. Die Verfassung ist nicht der Endpunkt der Ihr Entwurf ist der eines selbstbewussten Parlaments, Integration, sondern der Rahmen für eine, wie es in ihrer das seine Rechte wahrnimmt und zugleich im Blick be- Präambel heißt, Ever Closer Union, für eine immer en- hält, was Deutschland insgesamt in Europa und was die gere Integration Europas. Europäische Union voranbringt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14915

Staatsminister Hans Martin Bury (A) Wir wissen, dass es auch unter den Ländern und Verfassung ratifiziert hätte, kann nun nicht das verblie- (C) selbst in der Opposition viel Sympathie für die Vor- bene Flexibilitätsinstrument ad absurdum führen. Die schläge der Koalitionsfraktionen gibt – zumindest bei Passerelle ist als Brücke angelegt, nicht als Grenze. Las- denjenigen, die sich noch an eigene Regierungszeiten er- sen Sie uns diese Brücke miteinander beschreiten, Herr innern oder die Hoffnung darauf, irgendwann wieder Ministerpräsident Teufel. einmal Regierungsverantwortung im Bund zu überneh- men, noch nicht völlig aufgegeben haben. Wir haben ein gemeinsames Interesse, den Ratifika- tionsprozess zum Erfolg zu führen, nicht nur in Deutsch- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Überhaupt nicht land. Wir wissen, dass in einigen Mitgliedstaaten noch aufgegeben haben!) lebhafte Debatten anstehen. Ich bedanke mich für die Bereitschaft des Deutschen Bundestages, durch vielfälti- Lassen Sie uns in den anstehenden Beratungen des ges Engagement seiner Mitglieder und nicht zuletzt Begleitgesetzes zur europäischen Verfassung nicht dis- durch ein rasches, zeitlich abgestimmtes Verfahren zu ei- kutieren, was der Regierung oder der Opposition, dem ner positiven Ratifikationsdynamik in Europa beizutra- Bund oder den Ländern nützt, sondern was im Interesse gen. der Bundesrepublik Deutschland in Europa liegt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frankreich und Deutschland: Die Aussöhnung zwi- schen unseren Ländern, war die Basis für die Einigung An die Adresse einiger Bundesländer sage ich mit Blick Europas. Frankreich und Deutschland stehen auch heute auf die Beratungen im Bundesrat in der vergangenen für eine EU, die mehr ist als ein Markt: nämlich ein Eu- Woche deshalb: Wir beraten die Ratifizierung einer Ver- ropa der Freiheit und der Solidarität, ein Europa, das fassung für Europa und nicht eine Durchführungsverord- seine Verantwortung in der Welt wahrnimmt, ein Europa nung für den Föderalismus in Deutschland. Herr Minis- der Staaten und der Bürger. terpräsident Teufel, ich sage ausdrücklich: Ich bin dankbar, dass Sie diesen Akzent in der heutigen Debatte Die europäische Verfassung ist auch Ausdruck dieses im Deutschen Bundestag gesetzt haben. Verständnisses. Sie schreibt nicht nur die Werte und Ziele Europas fest. Sie gibt uns auch einen Rahmen, um Im Konvent und in der Regierungskonferenz hatte diese Ziele zu erreichen, in Europa und darüber hinaus. sich Deutschland dafür eingesetzt, von der bisher als Re- gel erforderlichen Einstimmigkeit grundsätzlich in die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit überzugehen. DIE GRÜNEN) Eine Europäische Union mit 25 und mehr Mitgliedern kann ihre Entwicklung nicht ständig vom jeweils lang- Präsident Wolfgang Thierse: samsten Mitglied abhängig machen. Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Schäuble, (B) (D) Es liegt im Übrigen auch und gerade im deutschen In- CDU/CSU-Fraktion. teresse, die schlechte Tradition zu beenden, dass sich (Beifall bei der CDU/CSU) mancher sein nationales Veto gerne abkaufen lässt. Die Verfassung sieht nun in zahlreichen Bereichen den Über- gang zur Mehrheitsentscheidung vor. Aber noch immer Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): – da sind wir uns einig – bleiben zu viele Ausnahmen Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- vom demokratischen Mehrheitsprinzip bestehen. ren! In der Politik brauchen wir Visionen und große Ziele, aber wir müssen auch immer darauf achten, dass Um nun nicht jeden zukünftigen Integrationsfort- wir den Bezug zur Realität nicht verlieren. Wir müssen schritt in diesem Bereich mit der hohen Hürde einer Ver- beides miteinander verbinden. Staatsminister Bury hat fassungsänderung zu behindern, wurde das Instrument gerade davon gesprochen, dass dieser Vertrag über eine der Passerelle, der Brückenklausel, geschaffen. Dem- europäische Verfassung vielleicht eines Tages als Grün- nach soll der Europäische Rat einstimmig entscheiden dungsurkunde für die Vereinigten Staaten von Europa können, in weiteren Bereichen von der Einstimmigkeit angesehen wird. Das mag so sein, auch wenn wir wahr- in die qualifizierte Mehrheit überzugehen. Doch das scheinlich ein anderes Modell vor Augen haben. Ich will Veto des Parlaments eines einzigen Mitgliedstaates in ei- gleich ein paar Bemerkungen zur Europäischen Union nem Zeitraum von sechs Monaten nach der ER-Ent- machen. scheidung kann diese Entscheidung aufheben. Wie auch immer, es hätte schon der Bedeutung dieses Nun, wie es einige hier und im Bundesrat fordern, Vertragswerks entsprochen, wenn es die Bundesregie- auch noch die Entscheidung der europäischen Staats- rung hier ordentlich eingebracht hätte. und Regierungschefs vorab an die Zustimmung des Par- laments zu knüpfen, entspricht eben nicht dem Geist der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) europäischen Verfassung und es entspricht nicht dem Aber die frohe Botschaft dieses Morgens ist, dass der Ziel, das wir gemeinsam in den Verhandlungen über die Föderalismus wirklich eine gute Ordnung ist und funk- Verfassung vertreten haben. tioniert. Wenn die Bundesregierung versagt, dann gibt es (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einen Ministerpräsidenten, der das in vorbildlicher Weise macht. Herzlichen Dank, Erwin Teufel! Wer für ein demokratischeres Europa eintritt, wer grundsätzlich den Übergang zur Mehrheitsentscheidung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gefordert hat – Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben Klaus Uwe Benneter [SPD]: Nicht kleinlich das hier wiederholt getan – und wer eine entsprechende werden!) 14916 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Herr Kollege Hoyer, in Ihrer Argumentation – vom Der nächste Schritt ist übrigens, dass für mehr Ver- (C) Anfang zum Ende hin – war ein gewisser Widerspruch; lässlichkeit in der europäischen Politik gesorgt wird. den will ich an dieser Stelle doch kurz erwähnen. Am Deswegen sage ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, bei die- Anfang haben Sie richtigerweise gesagt: Es ist ein Ver- sem wichtigen Anlass mit aller Eindringlichkeit: Unter- trag über eine Verfassung. Es ist auch nicht das Ende des schätzen Sie nicht, wie sehr Sie das europäische Projekt Verfassunggebungsprozesses in Europa. Es ist ein dadurch gefährden, dass Sie das Stabilitätsversprechen Schritt auf dem Weg der europäischen Integration. Des- für die europäische Währung, das wir gemeinsam einge- wegen ist die Frage einer Volksabstimmung möglicher- gangen sind, durch Ihren laxen Umgang mit dem euro- weise anders zu betrachten, als wenn wir eine Verfas- päischen Stabilitäts- und Wachstumspakt gefährden. sung hätten, wie Sie gesagt haben, mit der Formulierung „We the people“. Das ist aber nicht so. Das wollen die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Menschen in Europa jedenfalls zum derzeitigen Zeit- Michael Roth [Heringen] [SPD]: Sie können punkt auch nicht. Was die Menschen wollen, ist genau es einfach nicht lassen!) diese neue Form politischer Integration. Wenn die Bürger den auf dem Weg zur europäischen Es war übrigens eine Idee, die wir in der Union entwi- Einheit gegebenen Zusagen und Versprechungen nicht ckelt haben, nämlich einen Vertrag über eine europäi- vertrauen können, wird ihre Zustimmung für Europa sche Verfassung zu schließen, weil das die beiden Ge- nicht wachsen. Das ist der entscheidende Punkt. Den sichtspunkte, Vision und Realität, richtig miteinander sollten wir nicht zu kleiner Münze verkommen lassen, kombiniert. Es ist ein Modell, in dem wir schrittweise sondern müssen das immer wieder sagen: Verlässlichkeit Teile von staatlicher Souveränität auf eine entstehende ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Menschen dem neue politische Einheit übertragen. Das ist das Einzigar- europäischen Einigungswerk anvertrauen. Anders wird tige, das Neue, das Modellhafte der europäischen Inte- das nicht gelingen. gration. Es ist wichtig, dass der amerikanische Präsident, (Franz Müntefering [SPD]: Das ist der Unter- wenn ich es richtig verstanden habe, bei seinem Besuch schied zwischen Schäuble und Teufel! Den er- in Brüssel in dieser Woche diesen Prozess zum ersten leben wir jetzt seit zehn Minuten! Machen Sie Mal richtig verstanden und akzeptiert hat. Auch das nicht alles kaputt, was Erwin Teufel heute bringt uns ein ganzes Stück voran. Morgen gesagt hat! – Beifall bei der SPD) Aber wir müssen die Balance halten. Wir müssen die – Herr Kollege Müntefering, ich sagte, damit das ge- Menschen in Europa auf diesem Weg mitnehmen und lingt, was wir gemeinsam wollen und bereits hier entwi- überzeugen. Das ist schwieriger und eine größere Auf- ckelt haben, ist es wichtig, dass man gegebene Verspre- gabe, als wir uns das gelegentlich bewusst machen. Wir (B) chen nicht nur in allgemein gehaltenen Reden, sondern (D) dürfen das nicht zu einer Debatte von Technokraten und auch im Alltag beherzigt. Die Bürger achten nämlich Experten verkommen lassen. nicht nur darauf, was wir heute sagen, sondern auch da- Deswegen scheint mir wichtig zu sein, dass wir zu- rauf, was wir morgen für eine Politik machen. nächst Folgendes klar machen: Der Bereich der Außen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Sicherheitspolitik wird in den kommenden Jahren der wichtigste der europäischen Integration sein. Alles, Es ist ja auch gut, wenn wir darüber streiten. Das ge- was dazu gesagt worden ist, ist richtig. Es kann nicht hört zur Demokratie. Deshalb will ich gleich hinzufügen besser gesagt werden, als es von Erwin Teufel heute Vor- – das hätte ich Ihnen sonst heute Vormittag erspart; aber mittag gesagt worden ist. Daran müssen wir weiter ar- nun haben Sie mich dazu gebracht –, beiten. Damit verträgt sich nicht eine Politik der Bundes- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) regierung, bei der sie vom deutschen Weg und von einer Renationalisierung der Außenpolitik spricht. Damit ver- dass Sie, wenn Sie eine Politik der offenen Grenzen und trägt sich nicht eine Politik von Achsenbildung in Eu- der Integration wollen, nicht Schindluder mit der Visa- ropa. Vielmehr muss eine Politik betrieben werden, die erteilung betreiben dürfen. Das passt nämlich nicht zu- ganz Europa, große und kleine Mitgliedstaaten, zu einer sammen. gemeinsamen Position bringt. Das sollten wir lernen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP) Ein weiterer Punkt. Wenn dieses Europa gelingen Wenn es in Europa aufgrund des Schengen-Abkommens soll, braucht es klare Wurzeln. Deswegen haben wir so offene Grenzen gibt, müssen wir uns auch an dieses Ab- darum gerungen und sind nicht so ganz glücklich damit, kommen halten. Die Vorwürfe unserer Partner zeigen, dass es nicht, noch nicht gelungen ist, die geistigen, dass wir das Schengen-Abkommen verletzt haben. Mei- geistlichen, kulturellen und zivilisatorischen Grundla- ner Meinung nach handelt es sich um einen schweren gen, ohne die Europa nicht werden wird und nicht wer- Verstoß, wodurch europäische Verlässlichkeit gefährdet den kann, was es werden muss, in diesem Verfassungs- wird. vertrag stärker zu beschreiben. (Franz Müntefering [SPD]: Das ist eine histo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rische Rede, die Sie halten!) Das ist nicht rückwärts gewandt, sondern Voraussetzung – Ach, Herr Müntefering, Ihre Methoden kenne ich. Im- für Zukunftsgestaltung. Das ist wichtig. mer wenn Ihnen etwas nicht gefällt, versuchen Sie, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14917

Dr. Wolfgang Schäuble (A) durch Zwischenrufe zu stören. Sie werden unsicher; Sie rechtzeitig beteiligt und befasst werden. Anderenfalls (C) haben auch allen Grund dazu. geht es schief. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]) Wir sollten uns übrigens auch vor zu vielen Verspre- chungen hüten. So habe ich in den letzten Jahren von Bei vielen aktuellen Entscheidungen, von den Antidis- Rednern in europapolitischen Debatten zur Lissabon- kriminierungsrichtlinien bis hin zur Dienstleistungsricht- Strategie gehört, dass Europa bis zum Jahre 2010 zur dy- linie, erleben wir, was geschieht, wenn die Öffentlichkeit namischsten und wachstumsstärksten Region in der Welt zu spät von Entscheidungsprozessen in Kenntnis gesetzt gemacht werden soll. Das ist ein wunderschönes Ziel. wird, die in Europa ablaufen. Jedoch wissen alle Beteiligten, dass sie dieses Verspre- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chen so nicht einhalten können. Wenn wir Quartal für Quartal die ohnehin schon geringen Wachstumspro- Unsere Vorschläge, wie dafür gesorgt werden kann, gnosen wieder nach unten korrigieren müssen, sollten dass durch Beratungen in unserem nationalen Parlament wir den Mund nicht zu voll nehmen, um nicht morgen rechtzeitig europäische Entscheidungen transparent und bei der Bevölkerung Enttäuschungen hervorzurufen, de- öffentlich gemacht werden können und damit die Legiti- ren Zustimmung und Vertrauen wir brauchen. mität dieser Entscheidungen sichergestellt werden kann, sind nicht gegen Europa gerichtet, sondern stärken den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) europäischen Einigungsprozess. Im Zusammenhang mit dem Thema europäische Sou- Wir wollen mit unseren Vorschlägen auch nicht die veränität möchte ich noch ganz am Rande einen Punkt Handlungsfähigkeit der Regierung beeinträchtigen – da- erwähnen, der, wie ich glaube, wichtiger wird: Die De- rum geht es überhaupt nicht –, sondern wir wollen dafür batte, die zwischen dem Bundesverfassungsgericht und sorgen, dass Entscheidungen, die die europäischen Insti- den europäischen Gerichten über die Grenzen von Ver- tutionen treffen, hinterher von der Bevölkerung auch als bindlichkeiten der Entscheidungen auf den verschiede- verbindlich und parlamentarisch-demokratisch legiti- nen Ebenen geführt wird, wird zunehmend zu einer De- miert akzeptiert werden können. Wer sich dafür einsetzt, batte über die Frage, wie sich nationale Souveränität der stärkt den europäischen Einigungsprozess und will und europäischer Einigungsprozess miteinander ver- ihn nicht verhindern. binden lassen. Wir müssen dieses Thema ernst nehmen und uns darum kümmern, damit hierdurch nicht neue Sie als Koalitionsfraktionen haben Ihre Initiative so (B) Stolpersteine auf den Weg zur europäischen Einigung kurzfristig eingebracht, dass man auf der Tagesordnung (D) gelegt werden. dieser Sitzung noch nicht einmal eine Drucksachennum- mer finden kann; dies zeigt schon die ganze Sorgfalt, mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Sie beraten haben. Das bringt mich zu dem nächsten Thema: Ein wichti- (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Wenn Ihnen ger Punkt im Verfassungsvertrag, dessen Ratifizierung die Nummer fehlt, können wir sie Ihnen gerne wir zustimmen werden, ist, dass die Rolle des Europäi- liefern!) schen Parlamentes gestärkt wird. Es ist aber genauso wahr, dass in der Wahrnehmung der meisten Menschen – So ähnlich haben Sie auch den Verfassungsvertrag in unserem Land und in anderen europäischen Ländern heute Morgen eingebracht. das Europäische Parlament nicht oder noch nicht in der An der Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfrak- Lage ist, die alleinige Legitimation politisch-parlamen- tion zu dem Ratifizierungsgesetz zum Vertrag über eine tarischer Entscheidungen sicherzustellen. Dazu werden europäische Verfassung besteht kein Zweifel. Aber die auch in Zukunft die nationalen Parlamente gebraucht. Frage, wie wir die parlamentarische Beteiligung ausge- Das ist nicht gegen Europa gerichtet, sondern dient dazu, stalten, gehört nicht zu den Quisquilien. Deswegen wer- die europäische Einigung zu stärken und abzusichern. den wir den Gesetzentwurf nicht einfach durchwinken, Das wird ohne den Beitrag der nationalen Parlamente sondern ihn sorgfältig beraten. Dabei werden wir das nicht gehen. Ziel verfolgen, gemeinsam mit Ihnen Lösungen zu fin- den, die über eine stärkere Mitwirkung des nationalen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Parlaments an der Legitimation europäischer Entschei- neten der FDP) dungen das europäische Einigungswerk für die Zukunft Deswegen müssen auch die nationalen Parlamente stärken. Dazu bitte ich Sie um Ihre Unterstützung. ihre Verantwortung in diesem Punkt stärker wahrneh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – men. Wie das geschehen könnte, dazu haben wir Vor- Michael Roth [Heringen] [SPD]: Eine ziem- schläge vorgelegt. Ich weiß, dass Regierungen – das lich unpassende Rede! Ziemlich kleinlich!) habe ich auch schon bei der Vorgängerregierung erlebt – es gar nicht so gerne haben, wenn sich Parlamente daran beteiligen. Es ist aber auch eine Wahrheit, dass die not- Präsident Wolfgang Thierse: wendige Öffentlichkeit von Entscheidungen nur herge- Ich erteile das Wort Kollegin Marianne Tritz, Fraktion stellt werden kann, wenn die nationalen Parlamente Bündnis 90/Die Grünen. 14918 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sowie des Abg. Michael Roth [Heringen] wollte eigentlich einen anderen Einstieg für meinen Bei- [SPD]) trag zur europäischen Verfassung wählen; Man kann in diesem Zusammenhang sicherlich fra- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Dann nehmen Sie gen, ob die Einrichtung einer europäischen Verteidi- den lieber! Das ist besser!) gungsagentur zwingend notwendig in der Verfassung stehen muss. Ich meine, nein; denn die Verteidigungs- aber da Herr Schäuble noch einen kleinen Schlenker zur agentur ist ohnehin schon im Aufbau, und zwar auf der Visageschichte gemacht hat, möchte ich darauf erwi- Grundlage der jetzigen Verträge. Aber dass wir eine sol- dern. che Verteidigungsagentur brauchen, steht meiner An- (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ja, das tut sicht nach außer Frage. Jeder der 25 Mitgliedstaaten un- auch Not!) terhält nach wie vor seine eigenen Streitkräfte und seine eigenen Rüstungskapazitäten. Arbeitsteilungen und das Herr Schäuble, die Europaabgeordneten von CDU/ Zusammenlegen von Fähigkeiten sind selten. Vielfach CSU und FDP haben noch im Januar 2005 Visaerleich- sind diese Streitkräfte schon aufgrund unterschiedlicher terungen für die gefordert. In einem Ände- technischer Standards nicht in der Lage zusammenzuar- rungsantrag zu einer Resolution zu den ukrainischen beiten. Das bedeutet konkret: Die europäischen Staaten Wahlen geben mehr Geld für Verteidigung aus als nötig. Mit der (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Für die europäischen Verteidigungsagentur werden militärische legale Einreise!) Überkapazitäten abgebaut und – gesamteuropäisch be- trachtet – Verteidigungsausgaben eingespart. hat die EVP-Fraktion den Rat und die Kommission auf- gefordert, sich für die erleichterte Visavergabe an Außerdem ist die europäische Verfassung die erste Ukrainer einzusetzen. Alle Abgeordneten der CDU/CSU Verfassung, die im Rahmen ihrer sicherheitspolitischen und der FDP haben am 13. Januar 2005 in namentlicher Bestimmungen gleichberechtigt von zivilen und militäri- Abstimmung für diese Resolution gestimmt. – Vielen schen Mitteln spricht. Wenn man sich Art. I-3 anschaut, Dank. stellt man fest, dass es endlich auch aus friedenspoli- tischer Perspektive eine positive andere Gewichtung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN außenpolitischen Zielbestimmungen gibt. Dieser Bedeu- und bei der SPD) tungszuwachs der europäischen Außen- und Sicherheits- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die europäische politik sollte sich dementsprechend auch in der Verfas- (B) Verfassung braucht eine breite Unterstützung im ganzen sung niederschlagen. (D) Land. Dazu wollen wir hier und heute unseren Beitrag Zur Liberalisierung der Wirtschaftsordnung lassen leisten. Diese Verfassung wird die Europäische Union Sie mich Folgendes sagen. Es ist schon eine skurrile Si- demokratischer, transparenter und effizienter machen tuation: Während zum Beispiel von Attac kritisiert wird, und den Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger dass die europäische Verfassung eine neoliberale Wirt- verbessern. schaftsordnung festschreibt und das soziale Europa be- Alle Umfragen besagen, dass die übergroße Mehrheit erdigt wird, beschweren sich in Großbritannien Wirt- der Deutschen der EU-Verfassung positiv gegenüber- schaftsverbände und die konservative Opposition über steht. Zugleich sagen die Befragten jedoch, dass sie über zu viel europäische Sozialpolitik und die damit verbun- den Inhalt der Verfassung zu wenig wüssten. Es muss dene Bürokratie. unsere Aufgabe als Parlamentarier sein, diese Wissens- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Jeder nimmt lücken gemeinsam mit der Bundesregierung und den wahr, was er wahrnehmen will!) Medien in den nächsten Monaten zu füllen. Sie sorgen sich um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaft. sowie bei Abgeordneten der SPD) Für diese Verfassung musste ein Kompromiss gefun- Dazu gehört, dass wir konkrete Ängste in der kritischen den werden und der ist nicht der schlechteste. Er wurde Öffentlichkeit klar ansprechen und ausräumen müssen. folgendermaßen formuliert: Zum Beispiel gibt es die Sorge, dass die Gemein- Die Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung same Außen- und Sicherheitspolitik zu militärisch Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen werden könnte. Lassen Sie mich darauf etwas genauer Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine eingehen: Die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Markt- Sicherheitspolitik sowie der Europäischen Sicherheits- wirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen und Verteidigungspolitik ist ein Prozess, der nicht mit Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Um- der europäischen Verfassung begonnen hat, sondern sich weltschutz und Verbesserung der Umweltqualität vom Vertrag von Maastricht über Amsterdam und Nizza hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und techni- bis zum heutigen Tage immer weiter entwickelt hat. Die- schen Fortschritt. sen Prozess halte ich für unverzichtbar. Nur ein gemein- sames und starkes Europa hat wirklichen Einfluss im Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskrimi- Rahmen der internationalen Gemeinschaft. nierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und so- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14919

Marianne Tritz (A) zialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mich (C) Männern, die Solidarität zwischen den Generatio- freuen, wenn wir es schaffen könnten, die Schlussab- nen und den Schutz der Rechte des Kindes. stimmung über die Verfassung am Europatag, also am 9. Mai, durchzuführen. Dies wäre ein richtig starkes Si- Meine Damen und Herren, eine Verfassung, die das Ziel der Vollbeschäftigung formuliert – was, nebenbei be- gnal für Deutschland und Europa: Am 8. Mai feiern wir merkt, in unserem Grundgesetz nicht zu finden ist –, dem 60 Jahre Kriegsende und am Tag darauf beschließen wir Vorwurf des Neoliberalismus auszusetzen, ist sicherlich in einer Sondersitzung die europäische Verfassung. nicht zu rechtfertigen. Vielen Dank. Kommen wir schließlich zum Vorwurf der „imperia- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len Machtpolitik“, wie ich es in einigen Papieren gegen und bei der SPD) die Verfassung lesen durfte. Das ist natürlich totaler Quatsch. Das bisherige Abstimmungssystem im Minis- Präsident Wolfgang Thierse: terrat war weder transparent noch gerecht. Bei jedem neuen Beitritt gab es ein Geschacher über die Stimmge- Ich erteile das Wort Kollegin Sabine Leutheusser- wichtung. Die Verfassung macht endlich Schluss mit Schnarrenberger, FDP-Fraktion. diesem System, das keine Bürgerin und kein Bürger je- mals verstanden hat. Die doppelte Mehrheit ist ein kla- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): res und zukunftsfestes Abstimmungssystem und wird Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- dem Doppelcharakter der Union der Bürgerinnen und gen! Frau Tritz, ich stimme Ihnen in dem Punkt zu, dass Bürger und der Union der Staaten bestmöglich gerecht. die europäische Verfassung in Form dieses Vertrages ein Durch das Bevölkerungskriterium heißt es in Zukunft Meilenstein und ein Quantensprung ist. Man stärkt das „one man – one vote“. Durch das Staatenkriterium wird Gewicht der Europäischen Union, indem man ihr eine sichergestellt, dass nicht wenige große Mitgliedstaaten eigene Rechtspersönlichkeit verleiht und indem man ihr die kleineren und mittleren Staaten dominieren können. neue Instrumente zur Wahrnehmung einer europäischen Somit wird den berechtigten Interessen aller Seiten Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik gibt. Weil Rechnung getragen. das so ist, sind wir Liberale der Meinung, dass es in die- Natürlich hat die Verfassung auch Schattenseiten; das sem Stadium der Entwicklung richtig ist, auch die Bür- will ich gar nicht verhehlen. Aber sie wird sich in den gerinnen und Bürger zu beteiligen. nächsten Jahren und Jahrzehnten weiterentwickeln. Na- (Beifall bei der FDP) türlich hätte jeder diese Verfassung ein wenig anders ge- schrieben. Aber als eine Verfassung, die von Politikern Von verschiedenen Rednern wurde zu Recht immer (B) verschiedenster Couleur aus 28 Staaten erarbeitet wurde, wieder angesprochen, dass die europäische Öffentlich- (D) ist sie ein ausgewogener Kompromiss zwischen den vie- keit nicht in dem notwendigen Maße hergestellt wurde. len unterschiedlichen Vorstellungen. Die europäische Europäische Identität und das Gefühl, sich in diesem Eu- Verfassung ist ein Meilenstein der europäischen Integra- ropa, das man nicht als technokratisches Monstrum be- tionsgeschichte. Mit der neuen Verfassung wird man trachtet, zu Hause zu fühlen, werden erreicht, wenn wissen, wer am Ruder steht und wer was entscheidet: kommuniziert und diskutiert wird und wenn die Bürge- Rat, Kommission oder Europäisches Parlament. rinnen und Bürger spüren, dass man ihnen offen sagt, wie die Situation ist, und dass ihnen ein Mitspracherecht Wenn in einigen Jahren die erste Revision der Verfas- eingeräumt wird. Diese Position ist bisher leider nicht sung auf der Tagesordnung stehen wird, dann werden auf Zustimmung in diesem Hause gestoßen. Aber ich wir weiter für die Dinge kämpfen, die in diesem ersten Anlauf leider nicht durchsetzbar waren. Dazu gehören denke, all diejenigen, die sich der Stärkung der Demo- zuallererst die Abschaffung der verbliebenen Einstim- kratie verpflichtet fühlen und die diese Haltung zum migkeitserfordernisse im Ministerrat und die volle Credo ihrer Politik gemacht haben, können aus guten Gleichberechtigung des Europäischen Parlaments, natür- Gründen unseren Vorschlag nicht ablehnen. lich nicht zu vergessen die Abschaffung des unsäglichen Wir sind froh, dass Rechtsstaatlichkeit, Menschen- Euratom-Vertrags. rechte, aber auch Wettbewerbsfähigkeit und Marktwirt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaft als Ziele in dem europäischen Verfassungsvertrag sowie bei Abgeordneten der SPD) verankert sind. Es ist gut, dass viele mit uns gemeinsam die Kritik, wir würden für einen Neoliberalismus eintre- Die Ratifizierung in Deutschland wird auch im Rest ten, zurückweisen. Diese Gemeinsamkeit hat es in der Europas genau beobachtet. Wir sollten die parlamenta- Vergangenheit in ähnlichen Situationen nicht häufig ge- rische Beratung deshalb sorgfältig, aber ohne unnötige geben. Verzögerung durchführen. Ein deutliches Ratifizierungs- signal aus Deutschland kann auch auf Abstimmungen in Wir sind dafür, dass die Europäische Union ein Raum anderen Staaten eine positive Auswirkung haben. Des- der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist. Wir wol- halb sagen wir heute Ja zur Verfassung als ersten Schritt len keine abgeschottete Europäische Union, die nieman- zu mehr Handlungsfähigkeit. Wir sagen Ja zur Weiter- den mehr hereinlässt – auch nicht nach Deutschland. führung des Dialogs mit dem Ziel, eine wirkliche poli- Deshalb sind ordnungsgemäße Visumerteilungsverfah- tische Union zu entwickeln. Es ist unsere Aufgabe, die- ren wichtig und notwendig. Wenn es in anderen Staaten ses gemeinsame Europa den Bürgerinnen und Bürgern Notlagen gibt, werden wir uns für die Erteilung von Visa nahe zu bringen. immer einsetzen. Daher finde ich es gut, dass im Januar 14920 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) 2005 im Europäischen Parlament in diesem Sinne ge- sich nicht vorher festlegen, aber hinterher zustimmen. (C) handelt wurde. Warum sollen wir uns denn nur versammeln, um ein Nein, ein Veto zu formulieren? Es ist doch viel besser, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) wenn man eine positive Beschlussfassung herbeiführt Was wir aber nicht wollen, ist eine Visumspraxis, die und zustimmt, wozu es normalerweise immer der Mehr- zum Missbrauch einlädt und die möglicherweise gegen heit im Hause bedarf. Das ist wichtig. Wir sind aber Gesetze verstößt. nicht der Meinung, dass hierfür eine Zweidrittelmehrheit nötig sein sollte. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) In einem einzigen Punkt, Herr Teufel, möchte ich Ih- nen widersprechen. Die Kompetenzübertragung erfolgt Der gegenwärtige Sachverhalt muss aufgeklärt werden. mit dem europäischen Verfassungsvertrag in den Berei- Ihre Linie, diese Auseinandersetzung zu bestehen, indem chen, in denen es darum geht, von der Einstimmigkeit zu Sie uns Vorwürfe machen, wird nicht tragen. Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Dies würde eine (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Absurd!) Zweidrittelmehrheit des Bundestages nicht mehr recht- fertigen. Für die Liberalen sage ich ganz deutlich: Wir wollen, dass auch künftig Menschen in die Europäische Union Ganz entscheidend ist, das Subsidiaritätsprinzip kommen können. Wir stehen für ein plurales, offenes durchzusetzen und die Rechte der nationalen Parlamente und aufgeschlossenes Deutschland. Genau das ist der zu verteidigen, die wir haben und die man uns nehmen Geist, der in dieser europäischen Verfassung zu finden möchte, indem man gegen das Subsidiaritätsprinzip ver- ist. stößt. Ganz entscheidend ist, wie die Begriffe „Bürgernähe“ Ich denke, dass wir uns zu einem späteren Zeitpunkt und „Handlungsfähigkeit der Europäischen Union“ um- hier im Hause sehr intensiv mit dem am Ende stehenden gesetzt werden. Damit sind wir bei dem Punkt, dem Herr Klagerecht auseinander setzen sollten. Ich bin sehr wohl Schäuble zu Recht eine große Bedeutung beigemessen der Meinung, dass es ein Minderheitenklagerecht einer hat. Es ist keine Kleinigkeit, sich mit der Rolle des Bun- Fraktion geben sollte. destages bzw. der nationalen Parlamente in der Ord- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr richtig!) nung, wie sie der europäische Verfassungsvertrag schaf- fen soll, auseinander zu setzen. Denn sollen nur diejenigen, die die Regierung bilden, Wir waren immer dafür, dass eine Bundesregierung in entscheiden, ob eine Verletzung des Subsidiaritätsprin- außenpolitischen Fragen handlungsfähig sein muss. Da- zips vorliegt oder nicht? Juristische und andere Bewer- (B) (D) bei ist es wichtig, das Parlament frühzeitig zu unterrich- tungsfragen gehen hier Hand in Hand. ten und zu informieren. Das funktioniert nie so hundert- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) prozentig, wie sich das ein Parlament vorstellt. Auch als noch Frau Kollegin Wieczorek-Zeul im Europaaus- Kontrolle effektiv auszuüben wird nur dann möglich schuss die Opposition anführte und ständig bindende sein, wenn es ein Minderheitenrecht gibt. Aufträge an die Bundesregierung formulierte, die Herr (Beifall bei der FDP) Hoyer dann sofort mit nach Brüssel nehmen sollte, Das wird nicht jedes Jahr zigmal wahrgenommen wer- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja!) den, sondern sich auf wichtige Punkte konzentrieren. waren wir der Meinung, dass es nicht sein kann, dass Hier haben wir eine andere Position, als es SPD und eine Bundesregierung in ihren Handlungsspielräumen so Grüne in ihrem Vorschlag vorsehen. eingeengt wird, dass ihre Vertreter in Verhandlungen nur Vielen Dank. noch zum Telefon laufen und im Bundestag nachfragen, ob sie das eine noch sagen dürfen, bei einem anderen Pa- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ket schon eine Meinung äußern dürfen oder sich erst der CDU/CSU) rückversichern müssen. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP) Ich erteile das Wort Kollegen Axel Schäfer, SPD- Deshalb haben wir Bedenken gegen die vorgesehene Fraktion. Form der Festlegung in einem sehr frühen Stadium und gegen die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Bundesregierung. Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Wir sind aber der Meinung, dass der Bundestag bei Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu- Mehrheitsentscheidungen hinterher zustimmen sollte. ropa schreibt heute Geschichte. Die Verfassung ist Aus- Hier gibt es entscheidende Weichenstellungen weg von druck des Selbstbewusstseins, der Selbstbehauptung und der Einstimmigkeit hin zu mehr Mehrheitsentscheidun- der Selbstachtung Europas. gen; dafür waren wir immer. Wir sind froh, dass jetzt in mehr Bereichen Mehrheitsentscheidungen möglich sein Wir, die deutsche Sozialdemokratie, bringen dabei ei- sollen. Wir hoffen, dass das mit den bestehenden Instru- nen unverwechselbaren Teil unserer Identität ein. Zur mentarien weiter durchgeführt werden kann. Er sollte Erinnerung: Unsere junge Partei hat unter dem Namen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14921

Axel Schäfer (Bochum) (A) ADAV schon im ersten Programm zur Reichstagswahl Diese Verfassung verpflichtet uns zugleich, zwischen (C) des Norddeutschen Bundes 1866 formuliert: den Zuständigkeiten, also zwischen den ausschließ- lichen, den geteilten und den ergänzenden Kompeten- Unter deutscher Einheit versteht die Arbeiterpartei zen, klarer zu unterscheiden. Weil wir ein föderales … einen Anfang eines solidarisch europäischen Europa wollen, müssen wir zugleich dort begrenzen, wo Staates. ein Zentralstaat entstehen könnte. Für die SPD verbindet sich mit Europa eine Grund- Ich gehe noch ein Stück weiter. Weil die Europäische überzeugung über Generationen hinweg, Union allen Staaten Europas offen steht, welche die in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Verfassung definierten Werte und Ziele achten, müs- sen wir auch beginnen, über die Finalität des Eini- beginnend mit Ferdinand Lassalle und August Bebel, gungsprozesses zu sprechen. Das heißt, wir müssen über Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto ganz klar sagen: Weitere Beitritte von Staaten des Euro- Wels bis zu Kurt Schumacher, Willy Brandt, Helmut parates sind nur möglich, wenn sich diese Länder in ei- Schmidt und Gerhard Schröder. nem längeren Integrationsprozess so wandeln, dass sie in Unser Bundeskanzler macht auf europäischer Ebene die EU aufgenommen werden können, und wir die EU eine Politik, die die Interessen unseres Landes mit dem gleichzeitig so entwickeln, dass sie handlungsfähig Selbstbewusstsein, mit der Selbstbehauptung und mit bleibt. der Selbstachtung Europas verbindet. Das hat sich in den (Beifall bei Abgeordneten der SPD) letzten beiden Jahren überdeutlich gezeigt. Das heißt auch, weder die Staaten des nördlichen Afri- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kas noch des Nahen Ostens werden der EU beitreten DIE GRÜNEN) können. Hier dürfen wir keine Illusionen und Zweideu- tigkeiten verbreiten. Es gilt vielmehr, mit den Ländern Die Kernbotschaft dieser Verfassung ist die „… Ge- dieser Großregionen besondere Verbindungen weiter wissheit, dass die Völker Europas … entschlossen sind, auszubauen – Stichwort Euromed – und eine spezifische, … immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu ge- vertrauensvolle, enge Kooperation zu schaffen. stalten“. Das ist nur auf der Grundlage einer länderüber- greifenden Idee möglich. Auf ihrer Grundlage wurde Diese Verfassung, liebe Kolleginnen und Kollegen al- durch praktisches Handeln Schritt für Schritt eine neue ler Parteien und Fraktionen hier im Haus, verpflichtet Wirklichkeit geschaffen und eine neue Staatsräson von uns auch selbst. Wir sind in der Sozialdemokratischen heute 25 Mitgliedsländern begründet. Partei Europas, in der Europäischen Volkspartei, bei den europäischen Liberaldemokraten und bei den Grünen. (B) Ferner ist das nur durch einen parteiübergreifenden Wir müssen uns selbst europäisieren. Das bedeutet, wir (D) Verfassungsbogen möglich, der von Konservativen und müssen die europäische Einigung bei unserer innerpar- Christdemokraten über Liberale, Grüne bis hin zu den teilichen Arbeit als die Besonderheit des Alltags anneh- Sozialdemokraten – manchmal auch ein Stück darüber men. Wir müssen sie in jede politische Dimension ein- hinaus – reicht. Deshalb gilt neben all jenen, denen bringen und nicht von einer speziellen Europapolitik schon Dank ausgesprochen wurde – Joschka Fischer und neben Kommunal-, Landes- und Bundespolitik spre- Erwin Teufel –, mein ganz persönlicher Dank den deut- chen. schen Mitgliedern des Europäischen Parlaments Klaus Hänsch genauso wie von der CDU und ein Bei der nächsten Europawahl müssen wir den Mut ha- Stück weit Sylvia-Yvonne Kaufmann, eine einsame ben, gemeinsame Spitzenkandidaten der Parteifami- Streiterin für die Verfassung in der PDS. lien aufzustellen, damit man weiß – das ist der Auftrag dieser Verfassung –, wer zum Beispiel als Sozialdemo- Diese Verfassung bringt die Europäische Union auf kratin oder Sozialdemokrat in Europa für diese Union dem Weg vom Staatenverbund hin zu den vereinigten Anspruch erhebt, Kommissionspräsident zu werden. Staaten von Europa ein deutliches Stück voran. Sie bein- haltet die Selbstverpflichtung der Länder, ihre Souverä- Das Gleiche gilt auch für Sie von der CDU/CSU. Hierzu nität nicht mehr im klassischen Sinn, als Abgrenzung ge- haben die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen bei gen die Nachbarn, zu verstehen, sondern wichtige Teile der letzten Wahl einen wichtigen Ansatzpunkt geliefert. der Macht zusammen auszuüben und große Bereiche der Dazu gehört auch, dass wir jetzt in anderen Ländern Politik miteinander zu gestalten. Wir sind auf dem Weg und in unseren Mitgliederparteien für die Verfassung zu einer Union von Bürgerinnen und Bürgern, die sich werben müssen. Ich sage sehr stolz: Nur ein Sozialde- gemeinsam in ihrer unterschiedlichen Nationalität als mokrat hat im Europäischen Parlament gegen die EU- Europäerinnen und Europäer fühlen. Verfassung gestimmt; das ist die beste Quote aller Frak- tionen. Es bleibt insbesondere für die Kolleginnen und Deshalb muss sich auch unsere Begrifflichkeit än- Kollegen von der EVP noch eine Menge zu tun – die dern. „Die in Brüssel“ gibt es nicht. „Die in Brüssel“, Länder, in denen dies der Fall ist, will ich nicht nen- das sind immer auch wir, unsere Abgeordneten, unsere nen –, weil wir nicht nur in Deutschland, sondern in je- Minister, unsere Beamten und unsere Vertreter im Verein dem einzelnen Land eine Mehrheit brauchen. mit den anderen, die auch so sind wie wir, die mit uns eine Gemeinschaft bilden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) So weit zur Position der SPD-Fraktion. 14922 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Axel Schäfer (Bochum) (A) Erlauben Sie mir jetzt eine persönliche Anmerkung. wollen, haben die Tradition unseres Landes und die jet- (C) Dieser wichtige Tag, an dem wir Mut zu Europa bewei- zigen Bestimmungen des Grundgesetzes auf ihrer Seite; sen, wird durch Kleinmut bei der Ratifizierung leider et- das wiegt ohne Zweifel schwer. In der gegenwärtigen Si- was getrübt. SPD, Grüne, FDP und CSU haben sich im tuation, in der sich Europa dynamisch entwickelt, ver- vergangenen Jahr dafür ausgesprochen, ein Referendum harren wir dadurch allerdings in einer Struktur, die in zu ermöglichen. Diese Parteien stellen 409 von 601 Ab- den Jahren 1948 und 1949 geschaffen wurde, als die Vä- geordneten. Das entspricht exakt zwei Dritteln der Mit- ter und Mütter unseres Grundgesetzes von einer europäi- glieder des Bundestages. Trotz einer solch großen Mehr- schen Einigung nur träumen konnten. heit war es nicht möglich, die CDU von ihrer Ablehnung Eine Ratifizierung der EU-Verfassung, die mit breiter abzubringen, sie in unsere Mitte zu nehmen und davon öffentlicher, kritischer und informativer Diskussion zu überzeugen, dass der Weg einer Volksabstimmung in – auch auf supranationaler Ebene –, mit Veranstaltun- Deutschland richtig ist; das bedaure ich sehr. gen, auch mit Papierbergen, Festivitäten, Sachaufklä- An die Kolleginnen und Kollegen von der FDP ge- rung und Medienrummel begleitet worden wäre, hätte wandt möchte ich deutlich machen: Hätten Sie im die europäische Idee besser in den Köpfen und Herzen Jahre 2002 dem Vorschlag von Rot-Grün, Volksent- der Menschen verankert und die auch in schwierigen scheide in das Grundgesetz aufzunehmen, zugestimmt, Zeiten notwendige Zustimmung zum erreichten Stand statt ihn mit 16 zu 18 Stimmen abzulehnen, hätten wir es der europäischen Integration verbessert. in der heutigen Debatte leichter. Apropos Information, lieber Kollege Hoyer: Vom (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundespresseamt wurden 25 000 Broschüren zur euro- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – päischen Verfassung herausgegeben, Dr. Werner Hoyer [FDP]: Damals ging es um (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Von der Kommis- etwas anderes, Herr Kollege!) sion, Herr Kollege, nicht vom Presseamt!) Wenn es um Entscheidungen in grundlegenden euro- von denen ich Ihnen eine bereits überreicht habe. päischen Angelegenheiten geht, sind in 24 von 25 EU- Staaten Elemente direkter Demokratie vorgesehen – bei Das gewählte Verfahren geht an den zukunftsweisen- uns nicht. Warum das so ist, kann ich Ihnen zwar poli- den Intentionen des Grundgesetzes vorbei. Buchstabe tisch erklären; ich will es aber persönlich nicht rechtfer- und Geist unserer Verfassung besagen, die Bürgerinnen tigen. 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in unse- und Bürger durch Wahlen und Abstimmungen an Ent- rem Land wollen über die EU-Verfassung abstimmen; scheidungen zu beteiligen, bis schließlich vom deutschen damit haben sie Recht. Alle Vorbehalte, die die Referen- Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschlossen (B) dumsgegner gegenüber der EU-Verfassung haben, sind wird. Das war bei Gründung der Bundesrepublik be- (D) überholt. Diejenigen, die aus strategischen bzw. takti- kanntlich noch nicht möglich. schen Gründen gezögert haben, sind leider auch von der Direkte Demokratie – auch das ist ein Ergebnis der Realität widerlegt worden. friedlichen Revolution in der DDR – hätte bei Voll- (Beifall bei der FDP) endung der deutschen Einheit sehr wohl praktiziert wer- den können, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/ Trotz der parlamentarischen Ratifizierung, die in CSU und FDP. Dann wäre ein Volksentscheid über die Deutschland durch Bundestag und Bundesrat stattfindet, europäische Verfassung heute pure Selbstverständlich- wird die problematische Volksabstimmung in Großbri- keit. tannien leider nicht, wie erhofft, unterbleiben, werden Ich weiß – damit komme ich zum Ende –, der Deut- wir ein mögliches Referendum leider nicht, wie geplant, sche Bundestag hat in grundlegenden, faktisch nicht kor- eher durchführen können, als es in Frankreich geschehen rigierbaren Entscheidungen – eine solche steht auch wird, vermeiden wir leider auch nicht das Risiko eines heute an – fast immer eine glückliche Hand bewiesen: zu geringen Interesses oder gar, wenn das Referendum in mit der Westintegration, bei der Ostpolitik und auch in Form eines Plebiszits durchgeführt wird, einer Ableh- der Hauptstadtfrage. Nur ein einziges Mal, soweit ich nung durch die Bevölkerung; das sollte deutlich gesagt das in Erinnerung habe, hat sich ein unabänderlicher Be- werden. schluss unseres Hauses vor der Geschichte als Torheit Das Ergebnis des Votums in Spanien ist eine großar- erwiesen: der Boykott der Olympischen Spiele in Mos- tige Zustimmung. Die Beteiligung an der Abstimmung kau 1980. Wenn wir in Kürze hier – so hoffe ich –, mit erreichte fast das Niveau der letzten Europawahl. An fast 598 von 601 Abgeordneten für die EU-Verfassung dieser Stelle danke ich Gerhard Schröder persönlich und stimmen, ist das eine außergewöhnliche Leistung in im Namen meiner Fraktion dafür, wie er sich dort enga- Deutschland und ein großer Erfolg für Europa. giert hat. Das war ein gutes Beispiel für die Europapoli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tik eines sozialdemokratischen deutschen Bundeskanz- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lers. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Präsident Wolfgang Thierse: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Wort hat nun der Kollege Peter Altmaier, CDU/ CSU-Fraktion. Ich weiß sehr wohl: All diejenigen, die nur in Bundes- tag und Bundesrat über die EU-Verfassung abstimmen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14923

(A) Peter Altmaier (CDU/CSU): Bürger, bedeutet, dass dieser Verfassung aber viele Men- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden schen mit Skepsis begegnen? Ich glaube, in den letzten heute über die europäische Verfassung, wenige Wochen Jahren ist ein Bewusstseinswandel eingetreten. 40 Jahre nachdem die bundesdeutsche Föderalismuskommission lang gingen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass ohne ein einziges greifbares Ergebnis im Streit auseinan- das, was im europäischen Interesse wichtig ist, auch im der gegangen ist. Demgegenüber haben es immerhin nationalen, deutschen Interesse liegt. Heute glauben im- mehr als 220 Vertreterinnen und Vertreter aus 28 Staaten mer mehr Menschen – auch in vielen Fällen, wo es gar mit völlig unterschiedlichen Interessen, Auffassungen nicht so ist –, dass es einen Gegensatz zwischen dem eu- und Erfahrungen geschafft, sich in einem vergleichbaren ropäischen Interesse auf der einen Seite und dem deut- Zeitraum auf eine europäische Verfassung zu verständi- schen, nationalen Interesse auf der anderen Seite gibt. gen, die nach dem Urteil aller Beteiligten eine entschei- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto dende Verbesserung und einen großen – manche sagen: Solms) historischen – Fortschritt bedeutet. Für diese Entwicklung gibt es viele Gründe. Ich meine, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) es ist auch die Schuld – nicht allein – einer Bundesregie- Worin liegt diese Diskrepanz? Ich glaube – sehr geehrter rung, die ständig von nationalen Interessen spricht und Herr Müntefering, Sie werden mir innerlich wahrschein- die europäischen Institutionen in vielen Fällen mit die- lich beipflichten –, die Föderalismuskommission ist sem Argument angreift, in der Praxis aber relativ wenig nicht zu einem Ergebnis gekommen, weil es einige Be- von den Interessen, die sie definiert hat, durchsetzt. teiligte gab – wir wissen auch, wo sie sitzen –, (Beifall bei der CDU/CSU) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Auf der Bundes- Noch nie hat eine Bundesregierung derart gegenüber ratsbank!) Brüssel getönt und in der Praxis dann so wenig erreicht. die aus Sorge, ein Wahlkampfthema zu verlieren, den Erfolg dieser Jahrhundertreform gefährdet haben. Herr Bundesaußenminister, das hat einen Grund; er liegt nicht in Brüssel. Ich bin überzeugt, dass das Funk- Die europäische Verfassung ist dagegen zustande ge- tionieren der Europäischen Union nach wie vor im vita- kommen, weil alle Beteiligten – die Länder, die poli- len deutschen Interesse liegt, weil kein anderes Land so tischen Familien, die Delegierten im Konvent – bereit stark wie Deutschland auf funktionierende Strukturen waren, zum entscheidenden Zeitpunkt über ihren eige- angewiesen ist und weil kein anderes Land durch eine nen Schatten zu springen und Lösungen zu akzeptieren, funktionierende Europäische Union einen derart großen die sie jahrelang erbittert bekämpft haben. Es war für die Gestaltungsspielraum erhält. Es gibt aber ein anderes (B) Briten noch vor zwei Jahren völlig undenkbar, einen eu- Problem, nämlich die Frage, wie wir mit der europäi- (D) ropäischen Außenminister zu akzeptieren, die Verbind- schen Politik innenpolitisch umgehen. Wir können na- lichkeit der Grundrechte-Charta zu akzeptieren oder sich türlich nicht wissen, welche Interessen wir in Brüssel vorzustellen, dass der Präsident der Europäischen Kom- durchsetzen wollen, wenn wir uns nicht rechtzeitig Ge- mission vom Europäischen Parlament gewählt wird. Es danken darüber machen, worin unsere Interessen beste- war für unsere französischen Nachbarn nicht der Punkt hen und welche wir in Brüssel durchsetzen möchten. Ge- eins auf der Agenda, das Europäische Parlament zu stär- nau das ist der Punkt, über den wir im Zusammenhang ken und das Gewicht der Europäischen Kommission mit der Ratifizierung diskutieren müssen. deutlicher hervorzuheben. Es war für die Polen und die Spanier ein ganz schwieriger Prozess, das, was sie in Ich will ausdrücklich anerkennend sagen, dass Rot- Nizza an Stimmengewicht im Ministerrat erkämpft hat- Grün einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, in dem eine ten, zugunsten der doppelten Mehrheit, die uns am Her- Reihe von wichtigen und vernünftigen Aspekten für den zen lag, wieder herzugeben. innerstaatlichen Umgang mit der europäischen Poli- tik angesprochen wird. Dieser Gesetzentwurf bleibt aber Meine Damen und Herren, auch wir hätten in dieser weit hinter dem zurück, was wir benötigen, um unseren europäischen Verfassung natürlich gerne mehr Mehr- Umgang mit der europäischen Politik so neu zu organi- heitsentscheidungen gehabt, vor allem im Bereich der sieren, dass wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bür- Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir hät- gern zurückgewinnen können. ten uns eine noch deutlichere Kompetenzabgrenzung ge- wünscht, weniger Bürokratie und einfachere Strukturen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Darüber Aber gerade der Umstand, dass diese europäische Ver- reden wir noch einmal!) fassung eben nicht zu 100 Prozent die Wünsche und die Lieber Michael Roth, es geht bei dieser Frage nicht Vorstellungen eines einzigen Landes widerspiegelt, hat um einen Konflikt zwischen dem nationalen Parlament dazu beigetragen, dass Europa insgesamt gewonnen hat auf der einen und der Regierung auf der anderen Seite. und damit alle Bürgerinnen und Bürger. Es geht um die Frage, wie wir die innerstaatliche De- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- batte so organisieren können, dass wir rechtzeitig wis- neten der FDP) sen, welche politischen Positionen wir im Ministerrat und im Europäischen Parlament vertreten wollen. Es ist Woran liegt es denn nun, dass wir zwar eine Verfas- eben so, dass es zu Projekten wie REACH oder zur sung haben, die nach der Einschätzung aller Experten ei- Dienstleistungsrichtlinie auf der einen Seite des Hauses nen großen Fortschritt, auch für die Bürgerinnen und andere Vorstellungen gibt als auf der anderen Seite des 14924 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Peter Altmaier (A) Hauses. Warum fangen wir in vielen Fällen erst dann an, Meine Damen und Herren, diese Verfassung, über die (C) uns über die Auswirkungen europäischer Richtlinien Ge- wir diskutieren, ist die Verfassung des freiheitlichen, des danken zu machen, wenn sie in Brüssel bereits beschlos- bürgerlichen und des demokratischen Europas. Die Eu- sen und im Gesetzblatt veröffentlicht sind? ropäische Union mit dieser Verfassung ist kein zahnloser Tiger, sondern ein Akteur, der in der Weltpolitik Ge- (Zuruf von der SPD: Völlig richtig!) wicht haben wird. Nun haben wir die Europäische Union Das ist das Problem. Der Lösung dieses Problems dient mit dieser Verfassung nicht neu erfunden. Nach dem unser Gesetzentwurf. Dank an die Verfassungsväter, an Erwin Teufel und viele andere, die für diese Verfassung gearbeitet haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich denke, wir täten gut daran, zwei klare Signale zu ist es auch wichtig, zu sagen: Wir vollenden mit dieser geben, nämlich auf der einen Seite das Signal, dass wir Verfassung das, was die Gründungsväter der Europäi- diese europäische Verfassung mit einer großen partei- schen Union und der europäischen Integration seit übergreifenden Mehrheit in diesem Haus wollen, und Konrad Adenauer quer über alle Parteien und Fraktionen auf der anderen Seite das Signal, dass wir uns gemein- hinweg für Europa erreicht haben. sam der Herausforderung stellen, die innerstaatlichen Strukturen an die notwendigen Veränderungen anzupas- Wir haben in der Verfassung den freiheitlichen sen. Aspekt der europäischen Integration betont. Wir ha- ben uns zur sozialen Marktwirtschaft bekannt, aber klargestellt, dass dazu eben auch der Markt gehört und Vizepräsident Dr. : dass die Europäische Union nur mit Freiheit und Wettbe- Herr Kollege Altmaier, erlauben Sie eine Zwischen- werb ihren Platz in einer globalisierten Welt verteidigen frage des Kollegen Roth? und ausbauen kann. Wir haben den Stabilitätspakt in der europäischen Peter Altmaier (CDU/CSU): Verfassung nicht geändert, weil wir glauben, dass dies Gerne, ja. der falsche Weg ist. Es ist schon erstaunlich: Die Bun- desregierung und Rot-Grün haben in den letzten beiden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jahren die amerikanischen Freunde bei jeder Gelegen- Bitte schön. heit kritisiert. Man kann darüber diskutieren, wie man das im Einzelnen bewertet. Aber ich stelle in einem Punkt ein herzliches Einvernehmen zwischen der Bush- (B) Michael Roth (Heringen) (SPD): Regierung auf der einen Seite und der Fischer/Schröder- (D) Lieber Herr Kollege Altmaier, ich würde Ihnen gerne Regierung auf der anderen Seite fest, nämlich im Glau- eine Frage stellen. ben daran, mit ausufernden Staatsdefiziten die Wachs- tumsprobleme in den jeweiligen Ländern lösen zu kön- (Dr. [CDU/CSU]: Das haben nen. Das ist ein Irrweg. wir erwartet!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Stimmen Sie mit mir darin überein, dass es für den Bun- der FDP) destag schon jetzt – verbrieft in Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes – die Möglichkeit gibt, Stellungnahmen Nachdem Sie bei jeder Gelegenheit an Bill Clinton und abzugeben, die die Bundesregierung berücksichtigen Madeleine Albright erinnern, sollten Sie einmal auch be- muss? Wenn dem so ist, würden Sie dann auch zur denken, dass die höchsten Wachstumszahlen in den Ver- Kenntnis nehmen, dass der Deutsche Bundestag bislang einigten Staaten erreicht worden sind, als das öffentliche in geschätzten 3 bis 5 Prozent aller Rechtsetzungsakte Defizit am niedrigsten war. Deshalb ist die Frage, wie Gebrauch davon gemacht hat? wir mit dem europäischen Stabilitätspakt umgehen, eine ganz entscheidende Frage des Vertrauens in die Europäi- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Weil Sie sche Union. immer dagegen waren!) Die Europäische Union ist auch bürgerlich in dem Sinne, dass wir die Sicherheitsbedürfnisse der Peter Altmaier (CDU/CSU): Menschen ernst nehmen. Es ist oft gesagt worden: Die Lieber Herr Kollege Roth, stimmen Sie mit mir darin Öffnung der Grenzen führt zu Kriminalität, Visamiss- überein, dass diese Bestimmung unter der Verantwor- brauch und vielem anderen. Deshalb finde ich es schon tung einer CDU-geführten Bundesregierung ins Grund- beachtlich, dass sich jetzt in der Europäischen Union gesetz aufgenommen wurde und dass der Umstand, dass herausstellt, dass der sozialistische Einwanderungs- und in den letzten Jahren davon so wenig Gebrauch gemacht Justizkommissar Vitorino möglicherweise strengere und worden ist, möglicherweise auch mit dem Desinteresse seriösere Einreisevorschriften verantwortet hat, als sie zu tun hat, das man diesen Fragen in den Reihen der jet- von dem deutschen Bundesinnenminister Schily und zigen rot-grünen Mehrheit entgegenbringt? dem deutschen Bundesaußenminister Fischer national praktiziert worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist doch eure Sache, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die der Opposition!) neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14925

Peter Altmaier (A) [SPD]: Das musste einmal untergebracht wer- über die Grenzen der Europäischen Union hinaus sein (C) den!) wird. Wir können nicht alle Probleme der Welt dadurch lösen, dass wir die Europäische Union ständig erweitern, Erlauben Sie mir, noch zwei Punkte anzusprechen. wir können aber ein klares Signal an alle demokratischen Die Europäische Union wird mit dieser Verfassung de- und alle demokratiebereiten Länder geben. Die Verab- mokratischer werden. Das wollen wir über alle Par- schiedung dieser Verfassung wird dieses Signal nicht nur teigrenzen hinweg und dafür haben wir im Konvent ge- in Europa, sondern weit darüber hinaus sein können. meinsam gekämpft. Das muss man dann aber auch in der Praxis akzeptieren und praktizieren. Ich habe nie ver- Vielen Dank. standen, wie jemand nach dem Ausgang der Europawahl (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. mit der Europäischen Volkspartei als der mit Abstand Dr. Werner Hoyer [FDP]) stärksten Fraktion im Europäischen Parlament auf die Idee kommen konnte, den – von uns allen als Person ge- schätzten – Herrn Verhofstadt aus Belgien als neuen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommissionspräsidenten zu installieren. Auch meine Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. Fraktion schätzt Herrn Verheugen als guten Europäer und versierten Kommissar. Dass aber die Partei, die in Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): der Europawahl das niedrigste Stimmergebnis erzielt Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- hat, das sie in ihrer ganzen Geschichte in nationalen ren! Herr Ministerpräsident Teufel, Ihre Rede ist hier Wahlen erreichen konnte, den Anspruch erhebt, in die hoch gelobt worden. Europäische Kommission einen Vertreter ihrer Partei zu (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Zu entsenden, ist eben kein Beispiel dafür, wie man die Recht!) Demokratisierung Europas voranbringt. Darum will ich klar ansprechen, was mir nicht gefallen (Beifall bei der CDU/CSU) hat. Sie sprachen vom Bombenhagel auf deutsche Städte Die europäische Verfassung bringt nicht nur die euro- und Sie sprachen von ehemaligen Kriegsgegnern, die päische Integration voran, sondern greift auch berech- sich jetzt wieder versöhnt hätten. Sie vergaßen aller- tigte Interessen der Mitgliedstaaten auf und schützt dings, zu erwähnen, dass Nazideutschland einen Welten- sie. Ich will zum Thema Kompetenzabgrenzung sagen: brand gelegt und andere Länder überfallen hat. Darstel- Lieber Herr Teufel, Sie haben sehr viel dazu beigetragen, lungen wie diese tragen zu einer Geschichtsumdeutung dass es zu einer besseren Kompetenzabgrenzung kommt. bei, der wir uns entgegenstellen. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – (B) (Peter Hintze [CDU/CSU]: Jawohl!) (D) Widerspruch bei der CDU/CSU) Wenn wir im Jahre 1949 vergleichbare Regelungen im deutschen Grundgesetz gehabt hätten, dann stünden Wir als PDS sind klar bei Richard von Weizsäcker, der heute die Länder bei der Verteilung der Kompetenzen in vom 8. Mai 1945 als vom Tag der Befreiung sprach. vielen Bereichen besser da, und wir hätten die Föderalis- (Zuruf von der CDU/CSU: Nichts dazu- muskommission vielleicht gar nicht gebraucht. Insofern gelernt!) haben wir hier Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich auch das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten in der Vertrauen beruht immer auf Gegenseitigkeit. SPD, nächsten Zeit entspannen kann. CDU/CSU und Grüne trauen nicht den Bürgern unseres Landes und die Bürger trauen immer weniger den Es ist heute noch nicht gesagt worden, aber ich halte etablierten Parteien. Sie, meine Damen und Herren, ha- es für wichtig: Die Europäische Union ist auch eine ben noch nicht verstanden, dass Sie Vertrauen nicht ein- Werteunion. Wir haben es nicht geschafft, einen Got- klagen können. Sie müssen den Bürgern auch Vertrauen tesbezug zu verankern. Das war von Anfang an schwie- schenken. Das tun Sie nicht. Sie verweigern sich einem rig, weil nur ein Drittel aller Staaten in Europa einen der- Volksentscheid zur EU-Verfassung artigen Gottesbezug in ihren Verfassungen hat. Ich hätte mir allerdings schon gewünscht, Herr Bundesaußen- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Lesen Sie minister, dass, nachdem Hunderttausende und Millionen einmal den „Stern“!) von Menschen sich hierfür mit ihren Unterschriften aus- und wollten doch einmal mehr Demokratie wagen. Die gesprochen haben, die deutsche Bundesregierung we- PDS fordert, wie auch die FDP, einen Volksentscheid nigstens den Versuch gemacht hätte, dieses Anliegen in zum EU-Verfassungsentwurf. Damit sind wir hier im den entscheidenden Beratungen der Regierungskonfe- Parlament zwar eine Minderheit, aber in Europa gehören renz durchzusetzen. wir damit zur Mehrheit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Aber Sie sind Wir haben aber, auch ohne dass Sie dies getan haben, gegen die Verfassung!) vieles erreicht. Wir haben das religiöse Erbe in die Ver- fassung aufgenommen und wir haben die Würde des Warum dürfen Spanier, Franzosen, Briten und Europäer Menschen im ersten Artikel der Grundrechte-Charta aus insgesamt zehn Ländern über die EU-Verfassung ganz prominent geschützt. Ich glaube, dass diese Verfas- entscheiden, aber nicht die Bundesdeutschen? Das kön- sung mit ihrem Wertebezug ein wichtiges Signal auch nen Sie keinem Menschen erklären. Auch Sie, Herr 14926 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Gesine Lötzsch (A) Schäfer, haben das hier in Ihrer persönlichen Erklärung landes unterliegen. Auflagen und Kontrollen des Tätig- (C) bedauert. keitslandes würden gänzlich untersagt. Örtliche Tarifver- träge, Qualifikationsanforderungen und Standards beim Wir als PDS können erklären, warum wir gegen diese Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz könnten auf Verfassung sind. Dafür gibt es zwei gute Gründe: Ers- einfache und billige Weise unterlaufen werden. Das Re- tens. Die Verfassung setzt auf militärische Stärke, auf sultat wären ein weiterer Sozialabbau und weiteres Aufrüstung und weltweite militärische Konfliktlösun- Wachstum der Armut innerhalb Europas. Derzeit können gen. wir täglich in den Medien verfolgen, wie sich diese Ent- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völlig wicklung im Fleischereigewerbe vollzieht. unsinnig!) So stellen wir uns das Zusammenleben in Europa Zweitens. Die Verfassung setzt auf freien Markt – nicht nicht vor. Im Verfassungsentwurf gibt es zwar in der Tat auf soziale Marktwirtschaft –, freien Geldverkehr und Aussagen und Textpassagen, lieber Kollege Schäfer, die freie Konkurrenz. wir unterstützen, die sinnvoll sind und die eine wirkliche Verbesserung darstellen würden, doch die Ablehnungs- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- gründe wiegen um ein Vielfaches schwerer. ben nichts gelesen und nichts verstanden!) Eine Verfassung, die in den beiden entscheidenden Wir wissen, dass Wettrüsten und militärische Kon- Punkten Rüstung und soziale Marktwirtschaft hinter den fliktlösungen in Europa nie funktioniert haben. Unsere Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger zurückbleibt, Erfahrungen zeigen im Gegenteil, dass Europa unter die- kann keine Grundlage eines zukunftsgerichteten Europas ser Logik in den letzten 100 Jahren nur gelitten hat. Wir sein. Wir sagen Nein zu diesem Verfassungsvertrag, weil wollen dieser Logik nicht länger folgen. Diese Logik ist wir Ja zu Europa sagen und daran festhalten, dass ein weder für Europa noch für einen anderen Kontinent oder besseres Europa möglich ist. ein anderes Land gut. Vielen Dank. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Es ist auch ein gefährlicher Irrglaube, dass wir Europa militärisch aufrüsten müssen, um unsere Unabhängigkeit gegenüber den USA zu sichern oder herzustellen. Ein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: solches Unterfangen wäre nicht nur ökonomischer Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerd Müller von Wahnsinn, es würde auch ein lebensgefährliches Wett- der CDU/CSU-Fraktion. rüsten einleiten. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (D) Aber einige Lobbyisten scheinen bereit zu sein, jedes Risiko einzugehen, damit die Rendite stimmt. Wir haben Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): es erst kürzlich hier im Bundestag mit dem Eurofighter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/ erlebt: Wir geben wissentlich für ein schlechtes Flug- CSU ist die gestaltende Kraft in Europa. zeug Unsummen aus, weil wir nicht aus geschlossenen Verträgen mit unseren europäischen Partnern aussteigen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) können. Schon jetzt tricksen die europäischen Rüstungs- Wir wollen kein zentralistisches, sondern ein föderales unternehmen die nationalen Parlamente aus und freuen Europa. Ministerpräsident Teufel hat dies bereits deut- sich auf die in der Verfassung festgeschriebene Europäi- lich gemacht. sche Verteidigungsagentur, die bisher Rüstungsagentur hieß, was aus meiner Sicht weitaus ehrlicher war. Die Wir wollen ein Europa der Parlamente und nicht der Kontrolle dieser Rüstungsagentur wird – ich darf den Bürokratien. Wir wollen ein Europa, das sich auf das Artikel zitieren – wie folgt beschrieben: christlich-abendländische Erbe beruft und zu einem Got- tesbezug bekennt. Der vorliegende Verfassungsentwurf (8) Das Europäische Parlament wird zu den wich- wäre klarer, föderaler, christlicher und hätte diesen Got- tigsten Aspekten und den grundlegenden Weichen- tesbezug, hätte nicht Gottvater der Grünen, der größte stellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Ver- anzunehmende Außenminister, über diesen Verfassungs- teidigungspolitik regelmäßig gehört. Es wird über vertrag verhandelt. ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten. Ich möchte mich zunächst auf die Frage konzentrie- Das hört sich wirklich nicht nach einer knallharten Kon- ren, welche Rolle der Bundestag und die nationalen trolle an. Damit wird Korruption und Selbstbedienung Parlamente in Zukunft in einer Europäischen Union Tür und Tor geöffnet. spielen werden, in der schon heute 70 Prozent der (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Gesetzgebung auf europäischer Ebene erfolgt. Mit dem Verfassungsvertrag wird – das ist unstreitig – die Es geht aber nicht nur um den äußeren Frieden, son- Abwanderung der Kompetenzen nach Brüssel erheb- dern auch um den inneren. Der Verfassungsentwurf setzt lich verstärkt werden. Die EU weitet den Rechtsetzungs- auf „offene Marktwirtschaft mit freiem Wett- rahmen auf fast alle nationalen Politikbereiche und dabei bewerb“. Wir erleben doch gerade, was das praktisch auch auf klassische Felder der bisherigen Innenpolitik heißen soll. Dienstleistungsunternehmen sollen in aus. Auch in der Justiz, in der Innenpolitik, in der Da- Zukunft nur noch den Anforderungen ihres Herkunfts- seinsvorsorge und in der Energiepolitik – bis hin zu den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14927

Dr. Gerd Müller (A) Kommunen – wird die Gesetzgebung künftig noch stär- ger zurückholen und den Bundestag zu einem europäi- (C) ker als bisher über Brüssel erfolgen. schen Mitwirkungsparlament machen. Damit verlieren die Landtage und der Bundestag wei- (Beifall bei der CDU/CSU) tere substanzielle Gestaltungs-, Mitwirkungs- und Kon- trollrechte wie auch an politischer Legitimation. Die Die Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Demokratie legitimiert sich über das Volk und durch Bundestages in der EU-Gesetzgebung ist essenziell not- Wahlen. Der Wähler legitimiert uns, die Parlamente. Wir wendig. Um zwei Beispiele zu nennen: Die Bundes- haben eine Legitimation auf Zeit. regierung hebelt heute den Stabilitäts- und Wachstums- pakt aus, ohne dass wir mitentscheiden können. Hier In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer vollzieht sich eine Veränderung von Primärrecht. Wir die europäische Gesetzgebung legitimiert. Wer legiti- diskutieren, aber wir entscheiden nicht mehr. Ein weite- miert 80 Prozent der Rechtssetzung in Brüsseler Büro- res Beispiel: Die Bundesregierung beschließt die Auf- kratenstuben in der EU-Kommission? Auf diese Frage nahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Wir gibt der Verfassungsentwurf bisher nicht die entschei- können zwar darüber diskutieren, aber faktisch nicht ent- dende Antwort. Wir müssen auf nationaler Ebene eine scheiden. Das muss sich ändern! Antwort darauf finden. CDU und CSU machen – das ist ein qualitativer Wir haben es zurzeit mit einer Entparlamentarisie- Sprung, den wir machen müssen; in Österreich wird die- rung der Demokratie zu tun. Professor Hans Hugo ser Weg gegangen; in Dänemark ist es Praxis; in Italien Klein, der ehemalige Bundesverfassungsrichter, spricht wird darüber diskutiert – in ihrem Gesetzentwurf vier gar von der Entmachtung der Parlamente. Der Staats- zentrale Vorschläge und fordern alle anderen Fraktionen rechtler Carl Schmitt hat eine düstere Prognose zur Zu- auf, in einen konstruktiven Dialog einzutreten und diese kunft des Parlamentarismus gegeben: „Die Diskussion Vorschläge bei der Ratifizierung zu berücksichtigen: entfällt, die Öffentlichkeit entfällt, der repräsentative Charakter des Parlaments und der Abgeordneten ent- Erstens. Wir fordern die Verwirklichung eines Parla- fällt.“ mentsvorbehalts, das heißt einer Bindewirkung der Zustimmung der nationalen Parlamente zu zentralen Das ist keine Demokratie, wie wir sie uns vorstellen. Gesetzgebungsakten der EU. Bevor beispielsweise In dieser Aussage liegt wahrscheinlich auch der tiefere Wirtschaftsminister Clement als deutscher Minister im Kern der Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern, europäischen Ministerrat in Brüssel die für unsere Hand- zwischen der Politik und dem Volk. Wir müssen wieder werker und Dienstleistungsberufe so wichtige Dienst- zurück. Wir müssen Politik und Entscheidungsvorgänge leistungsrichtlinie mit beschließt, soll und muss er sich transparent machen und das Volk einbeziehen. Wir be- (B) zukünftig der deutschen Öffentlichkeit und dem deut- (D) ziehen unsere Kraft nur vom Volk. Wir müssen in der schen Parlament stellen und sagen, wofür oder wogegen Demokratie diese gestaltenden Grundlagen wieder ver- er ist, und sich hier das entsprechende Votum abholen. wirklichen. Damit hätten wir Öffentlichkeit und Transparenz her- (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck gestellt sowie die Entscheidungen ein Stück weit zum [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Heißt Bürger zurückgeholt. Das ist das Wesentliche, was wir das, Sie wollen einen Volksentscheid?) unter Demokratie verstehen. Ich möchte Ihnen zwei aktuelle Beispiele nennen, die (Beifall bei der CDU/CSU) zeigen, dass der Bundestag in der europäischen Recht- Zweitens. Wir wollen die Zustimmung des Bundesta- setzung außen vor ist. Wir diskutieren, aber wir ent- ges mit Zweidrittelmehrheit bei neuen Zuständigkeits- scheiden nicht mehr. Damit legitimieren wir die Recht- übertragungen und beim Übergang vom Prinzip der setzung in Brüssel nicht mehr. Die Frage ist: Wer kann Einstimmigkeit zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung. legitimieren? Das Europäische Parlament kann nur Ich brauche das nicht näher zu verdeutlichen; denn Herr ergänzend eine Legitimation geben. Das Bundesverfas- Ministerpräsident Teufel hat das bereits ausgeführt. Die sungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil sehr deut- Mitgliedstaaten müssen Herren der Verträge bleiben. lich dargelegt: Demokratische Legitimation europäi- Wenn es im Rahmen des neuen, autonomen Verfahrens scher Politik erfolgt zuvörderst über die nationalen zu Vertragsänderungen kommt, dann darf das nicht am Parlamente – wir sind schließlich am nahesten am Bür- Parlament und am Willen des Volkes vorbei geschehen. ger –, unsere Wahl und die Kontrolle des Ministerrates Dies käme einer Entmachtung der Parlamente gleich. sowie ergänzend durch das Europäische Parlament. Dies Deshalb fordern wir eine Zustimmung mit Zweidrittel- wird auch in Zukunft so sein. Das Bundesverfassungs- mehrheit, wie sie im Übrigen bisher verfassungsmäßig gericht stellt ebenfalls fest: notwendig ist. Dem Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse Drittens. Die Subsidiaritätsklage muss als Minder- von substanziellem Gewicht verbleiben. heitenrecht umgesetzt werden. Die Bundesregierung hat Es bleibt offen, ob der Verfassungsvertrag diesen Vorga- diese Möglichkeit schon heute. Wir machen keinen qua- ben gerecht wird. litativen Sprung, wenn wir sie der Mehrheitsfraktion ein- räumen. Eines ist allerdings klar – hier wird die gestaltende Kraft der Union deutlich –: Wir wollen Demokratie und Viertens. Ich möchte hervorheben, dass zukünftig Entscheidungsstrukturen zum Bundestag und zum Bür- Beitrittsverhandlungen – beispielsweise mit der Türkei 14928 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Gerd Müller (A) oder der Ukraine – nur mit Zustimmung des Parlaments ren Staaten und der Türkei einen Verfassungsprozess zu (C) erfolgen dürfen. Warum soll der Bundestag, die Vertre- organisieren. tung des Volkes, zukünftig bei solchen Entscheidungen nicht beteiligt werden, ausgeschlossen werden? (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Und den Visaerlass!) Wenn wir diese vier qualitativen Punkte umsetzen, Wenn gelegentlich auch in der Öffentlichkeit gefragt dann wird die Ratifizierung kein Problem sein. Unab- wird, ob wir Parlamentarier in diesem politischen Be- hängig davon, wie viele dem letztendlich zustimmen, trieb überhaupt etwas erreichen könnten, dann kann ich geht es hierbei aber auch um die Frage, wie wir unter auch anhand des Beispiels der Methode der Erarbeitung den genannten veränderten europäischen Rahmenbedin- des Entwurfs einer europäischen Verfassung und seiner gungen Demokratie gestalten. Diese Frage geht nicht nur Inhalte darauf nur antworten: Ja, das Parlament kann et- an die eine Seite dieses Hauses, sondern dies ist eine was erreichen. Frage, die sich das gesamte deutsche Parlament und die Parlamente aller übrigen 24 Mitgliedstaaten stellen müs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sen. Ich sage in diesem Zusammenhang ganz offen: Wir Wir wollen Macht zum Wähler, zum Bürger, Kon- sind uns einig darin, dass Nizza in der Tat kein Erfolgs- trolle in die Parlamente und Europa zum Volk zurück- erlebnis war. Es musste etwas geändert werden. Ver- holen. schiedene Regierungen haben erklärt, man müsse die Zi- vilgesellschaft beteiligen. Das Parlament kam bei Herzlichen Dank. entsprechenden Aussagen nicht vor. Es wären dann aber (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die gesagt ha- neten der FDP) ben: Lasst uns eine andere Methode finden, lasst uns mit den Kolleginnen und Kollegen vom Europäischen Parla- ment und auch mit den Kolleginnen und Kollegen aus Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den nationalen Parlamenten diese Verfassung entwerfen. Das Wort erhält jetzt der Kollege Günter Gloser von der SPD-Fraktion. Ich halte es im Übrigen nicht nur für einen Akt der Höflichkeit, sondern auch für einen demokratischen (Beifall bei der SPD) Uransatz, dass wir gesagt haben: Wenn wir schon wis- sen, dass wir in den nächsten Jahren weitere Länder in Günter Gloser (SPD): die Europäische Union aufnehmen, dann lasst uns die Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Beitrittsländer bei dieser Aufgabe mitwirken. Ich meine, (D) (B) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin bei es war klug, dass wir das – und zwar parteiübergrei- dem jetzigen Stand der Debatte etwas irritiert. Ange- fend – gemacht haben. sichts des Beitrags des Kollegen Dr. Müller soeben hier (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einerseits und der Rede von Ministerpräsident Teufel zu DIE GRÜNEN) Beginn unserer heutigen Debatte andererseits weiß ich gar nicht mehr, was die Union in bestimmten Bereichen Ich möchte dabei auf etwas zurückkommen, was der eigentlich will. Kollege Dr. Schäuble in dieser Debatte im Widerspruch zu dem gesagt hat, was Herr Teufel hier dargelegt hat. In (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, so ist der Vorbereitung auf diese Debatte habe ich auch ältere es!) Protokolle gelesen. Dabei habe ich festgestellt, dass Sie Ich sage klar und deutlich: Wir, die rot-grüne Koalition, immer wieder dieselbe Platte – heute müsste man viel- SPD und Bündnis 90/Die Grünen, wollen die Verfas- leicht besser „CD“ oder „Diskette“ sagen – auflegen, in- sung. Wir wollen diese Verfassung rechtzeitig ratifizie- dem Sie sagen, diese Bundesregierung beeinträchtige ren und wir wollen sie nicht mit Themen befrachten, die das Verhältnis zwischen Großen und Kleinen und zer- in andere Bereiche dieses Parlaments gehören, beispiels- störe dieses und jenes. Das stimmt einfach nicht. weise, wie hier schon erwähnt worden ist, in die Födera- (Zurufe von der CDU/CSU) lismuskommission. Herr Schäuble, davon sollten Sie sich verabschieden; (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ denn wenn Sie die verschiedenen Prozesse in der Euro- DIE GRÜNEN) päischen Union verfolgen, ob es sich nun um die Außen- Vor wenigen Wochen schrieb ein bekannter Publizist und Sicherheitspolitik, die Währungspolitik oder die und Wissenschaftler, Professor Weidenfeld: Europa ist Finanzpolitik handelt, werden Sie immer wieder erken- erschöpft. nen, dass jeweils Große und Kleine dabei sind. Sie soll- ten also nicht einen Gegensatz dahin gehend konstruie- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die Bundes- ren, dass es jeweils nur die Bundesrepublik Deutschland regierung ist erschöpft!) und Frankreich seien und viele kleine Länder sich nicht entsprechend verhielten. Dem kann ich nicht zustimmen. Genau dieses Projekt, das auch dieser Bundestag sehr aktiv begleitet hat, unter- Man sollte endlich einmal zur Kenntnis nehmen, dass streicht dies. Europa ist eben nicht erschöpft. Europa hat in der Europäischen Union natürlich unterschiedliche In- es geschafft, mit 15 Mitgliedstaaten sowie zwölf weite- teressen vorhanden sind, die zusammengeführt werden Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14929

Günter Gloser (A) müssen. Deshalb kann ich auch nicht verstehen – das gilt auch im Parlament zu finden. Ich glaube, die Vorschläge, (C) auch für die Ausführungen meines ansonsten geschätz- die wir gemacht haben, sind von großer Bedeutung. ten Kollegen Peter Altmaier –, dass die Union immer wieder sagt, das und das sei gefordert worden, sei in Herr Kollege Dr. Müller, das Selbstbewusstsein des Brüssel aber nicht durchgesetzt worden. Wir haben ein Deutschen Bundestages ist anders, als es in Ihrem Ge- Grundverständnis und natürlich haben wir Interessen. setzentwurf zum Ausdruck kommt. In diesem Gesetzent- Dabei müssen wir aber davon ausgehen, dass es in der wurf fordern Sie, dass der Deutsche Bundestag das Europäischen Union neben uns 24 Partnerländer gibt, Recht erhält, ein Büro bei der Ständigen Vertretung in die ebenfalls ihre jeweiligen Interessen und Anliegen ha- Brüssel einzurichten. ben, welche sich von unseren unterscheiden können. Deshalb ist es sicherlich schwierig, zu vermitteln, wa- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ja!) rum die Europäische Union gelegentlich zu lange Ich habe kein Problem mit der Ständigen Vertretung. Im braucht, bis sie eine Entscheidung trifft. Gegenteil: Ich fühle mich dort ständig gut vertreten. Zur Erläuterung ein Beispiel – ich mache mich da- rüber nicht lustig; Kollege Silberhorn und andere kom- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ich gehe im- men wie ich aus der fränkischen Region; sie kennen den mer in die bayerische Vertretung! Da fühle ich Hintergrund –: Die drei Städte Nürnberg, Fürth und mich gut aufgehoben!) Erlangen – sie sind politisch unterschiedlich geprägt – Um einen Frühwarnmechanismus zu stärken, ist ein überlegen sich, ob sie aus Sparsamkeitsgründen ein ge- Büro, das beim Europäischen Parlament angesiedelt ist, meinsames Statistikamt einrichten. Diese Städte schaf- besser als ein Büro bei der Exekutive. Möglicherweise fen es nicht, sich über 32 Stellen zu verständigen. Früher haben das andere in der Politik jedoch nicht so gesehen. konnten sie sich nicht auf die Schaffung einer gemeinsa- men Müllverbrennungsanlage verständigen. Dennoch gilt Wir haben rechtzeitig gesagt – das möchte ich deut- dort vom Grundsatz her: eine Sprache, eine Mentalität, lich machen –: Der Deutsche Bundestag muss sich auf auch in Bezug auf die Art und Weise, wie man Politik die neue Konstellation einstellen. Die Verabschiedung betreibt. Angesichts dessen darf es die Öffentlichkeit des von Rot-Grün eingebrachten Gesetzentwurfs schafft doch nicht verwundern, dass auf der europäischen Ebene die Möglichkeit, die Rechte des Deutschen Bundestages manche Prozesse etwas länger dauern. Ich finde, in be- auszubauen. stimmten Punkten kommt man durchaus zu einem Er- folg. Nun zu Ihnen, Frau Dr. Lötzsch. Ich kann es fast schon nicht mehr hören, dass Sie von der Europäischen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Union immer als einer Militärunion und Ähnlichem (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sprechen. Neben der PDS gibt es viele andere Gruppie- Nun zum Wehklagen im Hinblick auf die Rechte des rungen, die so denken; insofern sollte man dieses Thema Deutschen Bundestages ganz offen ansprechen: Die Europäische Union ist – das ist heute von vielen Rednern gesagt worden – ein Modell (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Zu für andere Regionen in der Welt, was die Organisation welchem Thema sprechen Sie?) eines friedlichen Prozesses des Zusammenwachsens an- – ich will hier keine Selbstbezichtigung vornehmen; aber geht. Nach der Spaltung durch den Irakkonflikt hat man man muss schon selbstkritisch analysieren –: Herr in der Europäischen Union eine Sicherheitsstrategie ent- Altmaier, Kollege Hoyer, wir, der Deutsche Bundestag, wickelt. Was hat das mit Militärunion zu tun? Auch die haben doch schon jetzt bestimmte Rechte. Das ist das PDS sollte die Verfassung einmal von A bis Z durchle- Ergebnis eines Prozesses seit der Ratifizierung des sen und nicht ganz bestimmte Punkte herausgreifen, die Maastrichter Vertrages. Wenn man das selbstkritisch be- dann auch noch falsch interpretiert werden. leuchtet, stellt man jedoch fest, dass wir von diesen Die Europäische Union hat es darüber hinaus ge- Rechten häufig gar keinen Gebrauch gemacht haben. schafft – auch das ist an die Öffentlichkeit gerichtet –, (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist wohl wahr! dafür zu sorgen, dass es im früheren Jugoslawien bzw. in Wem sagen Sie das?) Mazedonien zu keinem Bürgerkrieg gekommen ist, son- dern dass sich dort eine friedliche Initiative entwickelt Herr Schäuble hat hier die Dienstleistungsrichtlinie hat. Warum kommt es immer wieder zu dem Geschrei, angesprochen. Dazu kann ich nur sagen: Hier im Deut- die Europäische Union wende Waffengewalt an, um schen Bundestag hat jeder das Recht, diese Thematik auf kriegerisch oder möglicherweise sogar imperialistisch die Tagesordnung zu setzen, entsprechend zu beleuchten aktiv zu werden? Wir sollten ehrlich darüber diskutieren, und sich mit der Bundesregierung auseinander zu setzen. ob manche Passage richtig ist; aber man sollte in der Das ist doch nicht das Problem. deutschen Bevölkerung vor allem keine neuen Ängste (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die Bundes- schüren. Ich bitte auch die Kolleginnen und Kollegen, regierung ist nicht mal bei der Europadebatte letztendlich aktiv dafür einzutreten, dass diese Verdre- da! Es ist kein einziger Minister hier!) hung nicht im Raum stehen bleibt. In der Vergangenheit hatten wir sicherlich das Problem, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des rechtzeitig unterrichtet zu werden, um unsere Position BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 14930 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Günter Gloser (A) Die Opposition hat durch unterschiedliche Vorlagen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) versucht, verschiedene Bereiche in den Fokus zu rücken. Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn Ich habe dazu noch einmal eine Frage, Frau von der CDU/CSU-Fraktion. Leutheusser-Schnarrenberger. Wir waren im Deutschen (Beifall bei der CDU/CSU) Bundestag bei der Begleitung des Konvents doch über- wiegend der Auffassung, dass wir von der Mehrheits- Thomas Silberhorn (CDU/CSU): entscheidung und nicht vom Einstimmigkeitsprinzip als Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der euro- Regel ausgehen sollten. Auf dem Weg sind wir sicher- päische Verfassungsvertrag ist uns mit dem Anspruch lich noch nicht am Ende angelangt. Die Frage ist nun, vorgelegt worden, mehr Demokratie, mehr Bürgernähe warum Sie eine vorgeschaltete Abstimmung haben wol- und mehr Transparenz zu schaffen. Wenn wir diesem len, wenn vom Prinzip der Einstimmigkeit auf das Prin- Verfassungsvertrag im Ergebnis zustimmen, dann des- zip der Mehrheitsentscheidung übergegangen wird. halb, weil insbesondere diesem Anspruch Rechnung ge- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das steht bei uns tragen wird, etwa durch die Stärkung des Europäi- nicht drin!) schen Parlaments, was ein ganz wesentlicher Baustein dieses Verfassungsvertrages ist. Nur sage ich: Wenn wir – Dazu gibt es bei Ihnen widersprüchliche Äußerungen. mehr Demokratie, mehr Transparenz und mehr Bürger- nähe schaffen wollen, dann reicht es nicht aus, nur das (Widerspruch der Abg. Sabine Leutheusser- Europäische Parlament zu stärken. Wir müssen zur Schnarrenberger [FDP]) Kenntnis nehmen, dass Rechtsetzung immer weniger in Berlin und immer mehr in Brüssel stattfindet. Deswegen Auf der einen Seite sprechen Sie sich für die Ausweitung würden auch der Ministerrat und insbesondere die natio- der Mehrheitsentscheidung aus und auf der anderen nalen Regierungen deutlich mehr an Transparenz und Seite wollen Sie das wieder etwas zurücknehmen und Bürgernähe vertragen. die Handlungsfähigkeit so wieder eingrenzen. Ich habe Ihren Antrag jedenfalls so verstanden und ich denke, Die Situation, vor der wir stehen, ist offenbar die, dass ich ihn richtig gelesen habe. dass bereits etwa 60 bis 70 Prozent dessen, was wir im Deutschen Bundestag beraten, durch Vorgaben der Euro- Wer an dieser Stelle hätte vor einigen Jahren gedacht päischen Union veranlasst ist. Wenn es richtig ist, dass – die Kollegen Axel Schäfer und Michael Roth haben die Bundesregierung immer weniger in Berlin mit dem das in Ihren Beiträgen auch schon deutlich gemacht –, Bundestag entscheiden muss, sondern ohne Bundestag dass uns ein solches Projekt wie die europäische Ver- mit einzelnen Ministern in Brüssel im Ministerrat ent- (B) fassung einmal zur Abstimmung vorgelegt werden scheiden kann, dann ist es dringend notwendig, dass wir (D) würde? Wer hätte daran gedacht, dass wir als Parlamen- die Debatten, die die Bundesregierung in Brüssel führt, tarier aktiv daran würden mitwirken können? Ich sage zum Gegenstand unserer öffentlichen Auseinanderset- das auch mit einem gewissen Stolz. Ich erinnere mich zung im Deutschen Bundestag machen. Herr Gloser, Sie noch an unsere Oppositionszeiten in , als die SPD- haben gesagt, das sei ein Thema, das nicht hierher ge- Bundestagsfraktion erste Workshops – das war damals höre. Es gehört hierher, dass wir die Kontrollfunktion, noch ein schönes neues Wort – zu der Frage veranstaltet die wir als Parlament haben, ernst nehmen und der Bun- hat: Brauchen wir in Europa nicht eine Grundrechte- desregierung bei dem, was sie in Brüssel tut, auf die Fin- Charta? Das hat der Kollege Professor Dr. Jürgen Meyer ger schauen. Wir müssen in Deutschland Öffentlichkeit damals initiiert. Dies ist nun daraus erwachsen. darüber herstellen. Vor diesem Hintergrund sollten wir wirklich beden- (Beifall bei der CDU/CSU) ken, welche Entscheidung wir im Juni bei der abschlie- Der europäische Verfassungsvertrag führt dabei ßenden Beratung treffen. Ich bin froh darüber, dass es in durchaus zu Fortschritten, etwa mit der Subsidiaritäts- den letzten Tagen auch in der Union viele Stimmen ge- rüge, die ich begrüße, die ich aber für weitgehend sub- geben hat, die gesagt haben: Ja, wir sind an einer zügi- stanzlos halte, weil das Ergebnis dieser Rüge nur ist, gen Ratifizierung interessiert. – Sehr überrascht hat dass die Kommission verpflichtet wird, eine Stellung- mich, dass auch der CSU-Landesgruppenchef Michael nahme, die noch dazu von mehreren nationalen Parla- Glos das erst gestern wieder gesagt hat. Durch Ihren Bei- menten abgegeben worden sein muss, zu prüfen. Mehr trag, Herr Ministerpräsident Teufel, ist, glaube ich, deut- als eine Prüfung ist es nicht. lich geworden, dass wir alle in diesem Haus – trotz man- cher Unterschiede zwischen den Fraktionen; das gilt Die Subsidiaritätsklage ist da schon etwas mehr. Wir vielleicht auch für das Verhältnis zum Bundesrat – ein würden uns wünschen, dass insbesondere die kleinen Interesse daran haben sollten, im Juni diese Verfassung Fraktionen dieses Hauses erkennen, dass es hierbei um zu ratifizieren, um so auch ein Zeichen nach Frankreich eine Normenkontrolle geht, nämlich um die Frage, ob zu geben. das, was die Minister in Brüssel beschließen, auch tat- sächlich mit der Grundlage des Verfassungsvertrages Vielen Dank. vereinbar ist. Deshalb macht es Sinn, diese Subsidiari- tätsklage ebenso wie die nationale Normenkontrolle als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ein Minderheitenrecht auszugestalten. Es handelt sich DIE GRÜNEN) hierbei also nicht um eine Mehrheitsfrage, sondern um Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14931

Thomas Silberhorn (A) eine reine Rechtsfrage, die der Europäische Gerichtshof (Zuruf des Abg. Michael Roth [Heringen] (C) zu klären hat. Deshalb sind wir für das Minderheiten- [SPD]) recht. wenn Sie nicht bereit sind, den Deutschen Bundestag mit (Beifall bei der CDU/CSU) der Frage zu befassen, ob Verhandlungen etwa über neue Verträge oder über Beitritte aufgenommen werden sol- Meine Damen und Herren, die zusätzlichen Rechte, len. die der europäische Verfassungsvertrag den nationalen (Beifall bei der CDU/CSU) Parlamenten einräumt, begrüße ich. Ich halte sie aber in- soweit für eingeschränkt, als sie nur auf die Organe der Europäischen Union gerichtet sind und gerichtet sein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: können. Zusätzlich müssen wir die Rechte des Deut- Kollege Silberhorn, kommen Sie bitte zum Schluss. schen Bundestages im Verhältnis zur Bundesregie- rung stärken. Wir brauchen mehr Kontrolle der Bundes- regierung und mehr Öffentlichkeit bei den Dingen, die Thomas Silberhorn (CDU/CSU): die Bundesregierung für Deutschland in Brüssel berät Ich komme zum Schluss und sage abschließend: und beschließt. Meine Damen und Herren, wir müssen dafür sorgen, dass wir die Europadebatte aus den akademischen Hin- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller terzimmern herausbringen und an das Licht der Öffent- [CDU/CSU]: Und eine bessere Bundesregie- lichkeit führen. rung brauchen wir!) (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Genau! Da Wir fordern erstens mehr Information. Es kann doch machen wir mit!) nicht sein, dass selbst die Koalitionsfraktionen noch Das geschieht, wenn sie hier im Deutschen Bundestag nicht einmal darüber unterrichtet werden, wenn die ei- geführt wird. Wir müssen die Mauer einreißen, die zwi- gene Bundesregierung eine Initiative in Brüssel ergreift. schen Bürgern und Bürokraten besteht. Es kann doch nicht sein, dass Sie mit großer Nachsicht der rigiden Informationspolitik des Auswärtigen Amtes (Zuruf von der SPD: Wer hat sie denn aufge- begegnen, die uns völlig im Unklaren darüber lässt, was richtet?) die Ständigen Vertreter in Brüssel beraten und beschlie- Deswegen fordern wir mehr öffentliche Debatten und ßen. Es ist völlig unakzeptabel, dass wir noch nicht ein- eine Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deutschen mal das an Informationen bekommen, was der Bundesrat Bundestages. (B) bekommt. Wir fordern nicht mehr und nicht weniger, als (D) dass wir in Bezug auf die Informationspolitik mit dem Vielen Dank. Bundesrat gleichgestellt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der FDP – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist doch ein versöhnlicher Ab- Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen: Herr schluss!) Kollege Roth hat vorhin kritisiert, bei unseren Vorschlä- gen handele es sich teilweise nur um Mätzchen, so etwa, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wenn wir einfordern, dass der Deutsche Bundestag ein zustimmendes Votum abgibt, bevor die Bundesregierung Ich schließe die Aussprache. Verhandlungen beispielsweise über Beitritte oder Ver- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf tragsänderungen aufnimmt. Meine Damen und Herren, den Drucksachen 15/4900, 15/4939, 15/4716, 15/4925, wir reden über Verträge, die wir hier in diesem Hause 15/4936 und 15/4937 an die in der Tagesordnung aufge- mit einer Zweidrittelmehrheit ratifizieren müssen. Da führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen sollen macht es doch Sinn, dass wir nicht erst am Ende des Ver- – abweichend von der Tagesordnung – nicht an den handlungsprozesses ein Votum abgeben, sondern schon Haushaltsausschuss, weder mitberatend noch nach § 96 im Vorhinein der Regierung einen Verhandlungsauf- der Geschäftsordnung, überwiesen werden. Sind Sie da- trag mitgeben, etwa in Form einer Zustimmung, dass sie mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Verhandlungen aufnehmen kann. Hierfür ist dann keine Überweisungen so beschlossen. Zweidrittelmehrheit wie für die endgültige Zustimmung vorgesehen, sondern eine einfache Mehrheit. Das heißt, Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- die Koalitionsfraktionen haben es in der Hand. Uns geht schusses für die Angelegenheiten der Europäischen es nur darum, dass wir darüber eine öffentliche Debatte Union auf Drucksache 15/4206 zu dem Antrag der Frak- führen. tion der CDU/CSU mit dem Titel „Den EU-Verfassungs- prozess zum Erfolg führen“. Der Ausschuss empfiehlt, (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Die können den Antrag auf Drucksache 15/2970 abzulehnen. Wer wir auch so führen! Wir können jederzeit eine stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- Debatte im Bundestag führen!) men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP- Ich frage mich da schon, welchen Kleinmut bzw. wel- Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion an- ches Selbstverständnis Sie als Parlamentarier haben, genommen. 14932 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a auf: Ich wundere mich: Der Bundeskanzler schreibt in einer (C) Zeitung Namensartikel, ist aber bei keiner Debatte, die Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wir zu diesem Thema geführt haben, hier im Parlament richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) ans Rednerpult getreten, um seine Position vorzutragen. – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Peter Hintze [CDU/CSU]: Bei keiner einzi- Stabilitäts- und Wachstumspolitik fortset- gen!) zen – Den europäischen Stabilitäts- und Hier wäre der Platz des Bundeskanzlers, um zu erklären, Wachstumspakt stärken was er am Pakt ändern will, warum er es ändern will und welche Konsequenzen und Ziele er damit verbindet. Der – zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Kanzler steht hier nicht am Rednerpult, er ist noch nicht Merz, Dr. Michael Meister, Dietrich einmal auf seinem Platz. Wir vermissen ihn; dies ist ein Austermann, weiterer Abgeordneter und der schlechter Stil im Umgang mit dem demokratisch ge- Fraktion der CDU/CSU wählten Parlament in Deutschland. Für eine stabile Wirtschafts- und Wäh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – rungsunion – europäischen Stabilitäts- und Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Wachstumspakt nicht ändern das erste Mal, dass Sie den Kanzler vermis- – Drucksachen 15/3957, 15/3719, 15/4915 – sen! – Peter Hintze [CDU/CSU]: Der Finanz- minister fehlt auch!) Berichterstattung: Abgeordnete Ortwin Runde Meine Damen und Herren, die Vorschläge des Bun- Georg Fahrenschon deskanzlers sind ökonomisch unsinnig und langfristig für unser Land gefährlich. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Beifall bei der CDU/CSU) die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so be- Würden sie realisiert, würde die Transparenz des Stabili- schlossen. täts- und Wachstumspakts außer Kraft gesetzt. Jegliche Staatsverschuldung ließe sich in Zukunft rechtfertigen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass der Stabilitätspakt ner dem Kollegen Dr. Michael Meister von der CDU/ zu Grabe getragen würde, wenn die Vorschläge des Bun- CSU-Fraktion das Wort. deskanzlers zum Tragen kämen. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) Dies haben auch die Medien aufgegriffen: „Deutsch- Dr. Michael Meister (CDU/CSU): land hebelt Defizitverfahren aus“, hieß es in der „Finan- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und cial Times Deutschland“ vom 16. Februar 2005, Herren! Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt „Schröder hat den Stabilitätspakt erledigt“, hieß es in der wurde 1997 auf Drängen der Bundesrepublik Deutsch- „Berliner Zeitung“ vom 18. Februar 2005. Alle großen land verabschiedet. Er sollte die Gemeinschaft vor einer Zeitungen unseres Landes haben das Vorhaben des Bun- expansiven Staatsverschuldung der Nationalstaaten deskanzlers beim Namen genannt: Aufweichung des schützen und die Geschäftsgrundlage für die Einführung Stabilitäts- und Wachstumspakts. des Euros darstellen. Ohne diesen Stabilitätspakt gäbe es heute den Euro nicht. Allein die Ausnahmen, die der Bundeskanzler fordert, erlauben de facto ein Staatsdefizit von 8 Prozent des (Beifall bei der CDU/CSU) Bruttoinlandsprodukts. Gleichzeitig verkündet die Bun- desregierung nach außen, die 3-Prozent-Grenze gelte un- Es war unser Anliegen, dass die künftige europäische vermindert. Die Aufweichung des Stabilitätspakts nicht Währung so stabil wie die D-Mark werden sollte. Dieses zuzugeben, sondern sie als eine Stärkung des Pakts zu Versprechen haben wir gemeinsam – der Deutsche Bun- verkaufen, ist pure Heuchelei. Damit zerstören Sie natio- destag, der Bundesrat und die Bundesregierung – gegen- nal und international das Vertrauen in die Verlässlichkeit über den Menschen in unserem Land abgegeben. und Berechenbarkeit deutscher Politik. Heute will unser Bundeskanzler von diesem Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sprechen nichts mehr wissen. Er will den Stabilitäts- neten der FDP) pakt außer Kraft setzen. Mit diesem Kurs isoliert sich Deutschland innerhalb der (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Der Euro ist die sta- Europäischen Union. bilste Währung der Welt!) (Ortwin Runde [SPD]: Na, das stimmt ja wohl – Herr Spiller, dies hat er in einem Namensartikel in der nicht!) „Financial Times Deutschland“ vom 17. Januar erklärt. Deutschland fällt im internationalen Wohlstandsver- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Der macht sich gleich immer weiter zurück. Dafür ist jedoch nicht der zum Eurobetrüger!) Stabilitätspakt verantwortlich, sondern die rot-grüne Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14933

Dr. Michael Meister (A) Politik. Die rot-grüne Regierung hat nicht den Mut, die sage Ihnen voraus: Der Plan funktioniert nicht. Das ein- (C) für unser Land notwendigen Strukturanpassungen vor- zige Ergebnis wird ein Strohfeuereffekt sein, der die zunehmen. Dass heute Morgen kein verantwortlicher deutsche Volkswirtschaft und die Menschen teuer zu ste- Minister auf der Regierungsbank sitzt, ist ein schlagen- hen kommen wird. Denn die Schulden von heute werden der Beweis dafür, dass dieser Mut, Kraft und Entschei- sie in Zukunft über höhere Steuern und Abgaben bezah- dungskompetenz fehlen. len müssen; das ist die einfache Wahrheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb werden Sie mit einem solchen Programm nicht das Vertrauen der Menschen erreichen, sondern Sie Deswegen brauchen wir endlich wieder Minister, die auf werden Vertrauen zerstören. Das haben wir bereits in der Regierungsbank Platz nehmen, die dem Parlament den 70er-Jahren erlebt. sagen, was sie vorhaben, und die die Kraft haben, dies hier im Parlament mit Mehrheit durchzusetzen und dann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch den Menschen in unserem Land zu erklären. Aber im Gegensatz zu den 70er-Jahren ist die internatio- Meine Damen und Herren, das wirtschaftliche nale Wirtschaft heute viel stärker verzahnt. Wir haben Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland dümpelt viel stärkere Globalisierungseffekte. Deshalb werden die vor sich hin, während alle Länder um uns herum schnel- Absickerverluste Ihrer Programme über unsere Grenzen ler wachsen und sich besser entwickeln. Deshalb sage hinaus viel größer sein. Es wird Anbieter und Arbeitneh- ich eines ganz deutlich: Den von Ihnen konstruierten Ge- mer aus anderen Ländern geben, die mit deutschen Steu- gensatz zwischen der Konsolidierung der Staatsfinanzen ergeldern und Konjunkturprogrammen Arbeitsplätze fi- und dem Wirtschaftswachstum gibt es nicht. Es ist nicht nanziert bekommen, und die Menschen in diesem Lande zutreffend, was der Bundeskanzler öffentlich konstruiert werden die Schulden in Zukunft über Steuern und Abga- und was sein Finanzminister immer wieder vorträgt: ben bezahlen müssen. Das heißt, Sie beseitigen Arbeits- dass solide Staatsfinanzen einem Wirtschaftswachstum plätze und schaffen Schulden in diesem Land. Das ist die entgegenstünden. Das Umgekehrte ist richtig: falsche Politik, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Konsolidierte Haushalte sind eine zwingende Vorausset- Was unsere Volkswirtschaft dringend brauchen zung für dauerhaftes, nachhaltiges, inflationsfreies würde, wären mehr Freiheit, weniger Regulierung, mehr Wachstum. Deshalb wird derjenige, der den Stabilitäts- Wettbewerb in Deutschland, ein im internationalen Kon- pakt mutwillig zerstört, das Fundament zertrümmern, text wettbewerbsfähiges Steuersystem, eine Entkopp- auf dem unser Land wieder zu Wohlstand, Wachstum (B) lung der Arbeitskosten von der Finanzierung der Sozial- (D) und Arbeitsplätzen kommt, meine Damen und Herren. systeme und mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt. Darüber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) würde unsere Wirtschaft wieder in Gang kommen, wür- den Wachstum und Arbeitsplätze generiert und Wohl- Weil Ihre zögerliche und halbherzige Politik bislang stand in Deutschland gesichert. erfolglos geblieben ist – Sie haben 5 Millionen Arbeits- lose, die höchste Staatsverschuldung in der Geschichte (Jörg Tauss [SPD]: Wieder einmal Textbau- unseres Landes, steine!) (Florian Pronold [SPD]: Das stimmt nicht! Sie Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, lügen, dass sich die Balken biegen!) es ist ja geradezu merkwürdig, dass die Union zu all die- sen Themen hier Vorschläge eingebracht hat, dass wir geringe Wachstumsraten und einen ständig zunehmen- deutlich gemacht haben, wie der Wachstumsmotor der den Abgang von Menschen aus der Erwerbsarbeit zu deutschen Volkswirtschaft wieder angeschoben werden verantworten –, kann. Wir haben Vorschläge zur Vereinfachung des Steu- ersystems, zur Unternehmensbesteuerung – übrigens mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) großer Zustimmung in der Öffentlichkeit –, zur Verein- bereiten Sie jetzt einen Paradigmenwechsel in der deut- fachung des Steuerrechts, um endlich unser komplexes schen Finanz- und Haushaltspolitik vor. Sie wollen er- System zu überwinden, und zur Flexibilisierung des Ar- neut mit den alten Zöpfen kreditfinanzierter Konjunk- beitsmarkts gemacht; der Kollege Pofalla hat den Pakt turprogramme antreten. Dabei sind Ihnen die Kriterien für Deutschland vorgestellt. Zu allen Themen liegen des Stabilitäts- und Wachstumspakts hinderlich. Deshalb Vorschläge der Union vor, die dazu dienen sollen, unser wollen Sie diesen Pakt aushebeln und ihn beseitigen. Land strukturell für die Zukunft besser aufzustellen. Und was haben wir auf der Regierungsbank? Eine nicht hand- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lungsfähige Regierung, die sich nicht traut, Entscheidun- Nun habe ich eben kritisiert, dass der Bundesfinanz- gen zu treffen und die notwendigen Strukturprozesse in minister nicht anwesend ist. Es ist aber genauso bedauer- Deutschland durchzusetzen. lich, dass auch der Minister, der die Finanzpolitik in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Deutschland momentan maßgeblich bestimmt, nicht an- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sagen wesend ist, nämlich der Bundeswirtschaftsminister, der Sie doch einmal konkret, was Sie wollen!) mit seinem konjunkturpolitischen Aktionismus das Land weiterhin in eine höhere Staatsverschuldung treibt. Ich – Wir haben das konkret vorgelegt, Herr Schmidt. 14934 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Michael Meister (A) (Ortwin Runde [SPD]: Wo? – Christine Scheel gesichts der Meinung, dass dieser Rahmen zu eng sei, (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind muss ich fragen: Wie viel Flexibilität braucht diese Bun- doch alles nur Luftblasen!) desregierung noch? Wie viele Schulden pro Jahr wollen Sie oberhalb der 60-Milliarden-Euro-Grenze zukünftig Wenn Sie das nicht kennen, liegt das nur daran, dass Sie machen? Wo bleibt Ihre Verantwortung für künftige Ge- nicht lesen können. Lesen Sie die Vorschläge, machen nerationen? Die Antwort ist relativ einfach – auch die Sie sie sich klar und seien Sie dann bereit, mit uns zu re- Europäische Kommission und die OECD sind dieser den und sie umzusetzen, statt hier mit Polemik zu argu- Meinung –: Sie haben in guten Zeiten zu wenig konsoli- mentieren. Polemik schafft keine Arbeitsplätze und hilft diert. Deshalb läuft das Ganze nun aus dem Ruder. nicht weiter. Kommen Sie endlich zu sachlichen Ent- scheidungen! (Jörg Tauss [SPD]: Sie, nicht wir!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie hätten lernen müssen, Herr Tauss, dass man in guten Zeiten Geld beiseite legt. Meine Damen und Herren, es wird ja oft so darge- stellt, als liege der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht (Widerspruch des Abg. Jörg Tauss [SPD]) im deutschen Interesse. Ich sage ausdrücklich: Er liegt Die Aussage, Rot und Grün könnten nicht mit Geld um- im ureigenen Interesse der Menschen in unserem Land. gehen, trifft also den Nagel auf den Kopf. (Florian Pronold [SPD]: Nur Plattitüden! Pein- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lich!) neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist kein Selbstzweck [SPD]: Immer noch nichts Konkretes, Herr und keine nutzlose Selbstverpflichtung, die sich einfach Meister!) aufkündigen lässt. Er soll vielmehr solide Staatsfinan- Lassen Sie mich zum Schluss feststellen. Die Wirt- zen, niedrige Zinsen und niedrige Inflationsraten bewir- schafts-, Finanz- und Haushaltspolitik dieser rot-grünen ken. Bundesregierung ist gescheitert. Der Finanzminister ist An dieser Stelle will ich deutlich sagen: Die Zinsen gescheitert und traut sich nicht mehr in den Deutschen und die Preissteigerungsraten sind in ganz Europa auf- Bundestag. Die Bundesregierung hat nicht die Kraft, zu grund des Paktes und der Vorbereitung der Länder auf konsolidieren und eine zukunftsfähige Politik für die den Vertrag und auf den Beitritt zur Eurozone niedrig. Menschen umzusetzen. Der europäische Stabilitäts- und Deshalb war der Stabilitäts- und Wachstumspakt nach Wachstumspakt muss unverändert beibehalten werden. meiner Einschätzung bisher ein Erfolg. Er liegt im Interesse der Menschen; denn er schützt sie (B) vor einer falschen Politik von Rot-Grün. (D) ( [CDU/CSU]: So ist es!) Vielen herzlichen Dank. Nicht der Pakt ist das Problem, sondern die prinzipien- lose Verschuldungspolitik dieser rot-grünen Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gierung. Damit wurden die Dämme eingerissen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Für die Bundesregierung spricht jetzt die Parlamen- tarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks. Nicht der Pakt hat versagt, sondern die Finanz- und Haushaltspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung. (Beifall bei der SPD)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim neten der FDP) Bundesminister der Finanzen: Wo stehen wir denn heute? Wir hatten am Ende des Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- vergangenen Jahres eine Gesamtverschuldung in Höhe gen! Zur Erläuterung will ich sagen, dass Bundesfinanz- von 1 400 Milliarden Euro. Jedes in Deutschland neu ge- minister Eichel die Absicht hatte, heute hier zu sprechen. borene Kind hat 17 000 Euro Schulden. Sie haben es zu Aber er ist krank und hat mich gebeten, statt seiner hier verantworten, dass im letzten Jahr pro Kopf 1 000 Euro zu sein. Ich bin zwar nicht völlig gesund, neue Schulden hinzugekommen sind. Die Grünen treten (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Wie das ganze zwar für eine nachhaltige Politik ein, sind aber mit dafür Land!) verantwortlich, dass jedem Menschen im Laufe eines Jahres 1 000 Euro neue Schulden aufgebürdet wurden. aber immer noch gesünder als Herr Eichel; denn er liegt Diese Politik hat nichts mit Nachhaltigkeit und einer so- sozusagen flach und ich kann noch aufrecht stehen. liden Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik zu tun. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Jetzt wird behauptet, der Pakt dürfe nicht mechanisch, SPD) sondern müsse flexibel angewendet werden. Ausgehend Herr Kollege Meister, Sie haben einen Popanz aufge- von einem ausgeglichenen Staatshaushalt können wir in baut. konjunkturell schwachen Zeiten 60 Milliarden Euro Schulden pro Jahr machen und würden uns trotzdem (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des noch innerhalb der Grenzen dieses Paktes bewegen. An- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14935

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Sie behaupten nämlich, die Bundesregierung plane, ein führen. Dies ist also eine bewusste Politik, eine Politik, (C) kreditfinanziertes Konjunkturprogramm aufzulegen. die wir so induziert haben. Nachdem Sie diese Behauptung aufgestellt hatten, haben Der Einbruch bei den Einnahmen hat es nicht erlaubt, Sie die Bundesregierung minutenlang für diese vorgeb- das Maastricht-Kriterium einzuhalten. Wir wären näm- liche Absicht geprügelt. Keine Sorge: Die Bundesregie- lich sonst, vor dem Hintergrund dieser wirklich restrik- rung beabsichtigt nicht, ein kreditfinanziertes Konjunk- tiven Ausgabenlinie, bei 2,5 Prozent gelandet. Damit turprogramm aufzulegen. Diesen Teil der Rede hätten wären wir noch immer nicht richtig glücklich, hätten Sie sich schenken können. Sinnvollerweise lassen Sie aber immerhin unter dem 3-Prozent-Kriterium gelegen. ihn aus dem Protokoll streichen, weil er mit der Realität An der Ausgabenseite hat es also nicht gelegen. nichts zu tun hat. Sie behaupten immer, die Sozis könnten nicht mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Geld umgehen. Damit ist induziert – das wollen Sie da- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit zum Ausdruck bringen –: Die schmeißen das Geld Sie sagen ferner – diese Aussage war bei den Konser- mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Nein, wir haben vativen schon immer beliebt –, Sozialdemokraten könn- eine äußerst restriktive Ausgabenpolitik gemacht. Die ten nicht mit Geld umgehen. Einnahmen sind in der Tat nicht zufriedenstellend gewe- sen; das will ich nicht bestreiten. (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Das war schon immer richtig!) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Diese Auffas- sung teilt niemand!) – Das war schon immer falsch, Herr Kollege Willsch. Herr Kollege Meister, dieser Popanz, den Sie hier auf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gebaut haben, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Aber Sie treten den (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Na, na! Das Beweis immer neu an!) waren Fakten!) Sie wissen ja, dass das Statistische Bundesamt in die- soll nach meinem Dafürhalten von Ihrem Antrag ablen- ser Woche die Zahl revidiert hat, die für das kürzlich zu ken, der heute zur Abstimmung steht. Denn in diesem Ende gegangene Jahr 2004 die Überschreitung des Antrag steht nichts anderes, als dass die Bundesregie- Maastricht-Kriteriums darstellt. Das Statistische Bun- rung nicht in Brüssel verhandeln soll. Die soll dort toter desamt war noch im Januar der Auffassung, dass wir bei Mann spielen. 3,9 Prozent landen würden; zu Beginn dieser Woche hat (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die soll den (B) es gesagt, wir lägen bei 3,7 Prozent. Stabilitätspakt einhalten!) (D) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Darauf kann Die soll da gar nicht reden. Das ist der Gegenstand Ihres man ja stolz sein!) Antrags. Sie haben heute schamhaft verschwiegen, dass Das ist natürlich nicht zufriedenstellend. Dies ist weiter das der Gegenstand Ihres Antrages ist. eine Überschreitung des 3-Prozent-Kriteriums. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wer will denn Ich darf dazu noch Folgendes anführen: Die Staats- aufweichen? – Klaus-Peter Willsch [CDU/ quote ist im vergangenen Jahr, im Jahr 2004, im Verhält- CSU]: Sie haben das alles doch angezettelt!) nis zu 2003 um 1,3 Prozentpunkte zurückgegangen. Man kann natürlich Nebenkriegsschauplätze aufbauen, Wäre das jemals zu Ihrer Regierungszeit geschehen, hät- ten Sie Fackelzüge veranstaltet. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Stabilität ist kein Nebenkriegsschauplatz!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans weil man sich dann doch ein bisschen dafür schämt, was Michelbach [CDU/CSU]: Das Problem ist man vor wenigen Monaten zu Papier gebracht hat. Des- doch, dass die Arbeitslosen keine Steuern zah- wegen haben Sie hier über ganz andere Dinge gespro- len!) chen und nicht über Ihren Antrag. – Nein, das liegt nicht daran. Das hat vielmehr damit zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tun, dass es beim Bund, bei den meisten Ländern – wenn DIE GRÜNEN) auch nicht bei allen – und bei vielen Kommunen eine äu- Ganz vorsichtig will ich noch auf die Behauptung ein- ßerst restriktive Konsolidierungslinie gibt, während die gehen, die Union habe ein Steuervereinfachungskonzept Einnahmen leider nicht konstant waren, und ein Konzept zur Senkung der Unternehmensteuern vorgelegt. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Denken Sie an die Verschuldung von Nordrhein-West- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- falen!) NEN]: Das möchte ich mal sehen! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist frech von was aber übrigens nicht nur mit konjunkturellen Be- der Union!) dingungen zu tun hatte, sondern auch mit der entspre- chenden Steuerreformstufe. 0,5 Punkte der genannten Das finde ich nun wirklich interessant. Ich glaube, für 1,3 Prozentpunkte sind auf die Steuersenkung zurückzu- beides gibt es nur ein leeres Blatt. 14936 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sondern mit unwahren Behauptungen potemkinsche (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dörfer aufgebaut, damit er sie anschließend wieder kurz und klein schlagen kann. Das kann ich doch nicht ein- Denn Sie haben noch überhaupt nichts zu Papier ge- fach so stehen lassen. bracht. (Beifall bei der SPD – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben das Es ist unfassbar, Frau Staatssekretärin!) Konzept 21 noch nicht gelesen!) Für die Bundesregierung ist und bleibt klar – das sage – Das Konzept 21 stand vor wenigen Wochen hier im ich, damit Sie zufrieden sind –: Wir brauchen den Stabi- Deutschen Bundestag in einer Anhörung des Finanzaus- litäts- und Wachstumspakt. schusses zur Debatte und ist von allen Sachverständigen (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Warum weichen (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es ist gelobt Sie ihn dann auf? – Dr. Andreas Pinkwart worden! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ [FDP]: Dann tun Sie es doch!) DIE GRÜNEN]: Von allen verrissen worden!) – Darf ich jetzt vielleicht zu Ende reden? Sie haben mich ob seiner Unzulänglichkeit – um es vorsichtig auszudrü- doch gerade danach gefragt. – Wir werden uns in Europa cken; man könnte auch ganz andere Worte wählen – zu- auch weiterhin dafür einsetzen, dass er den jeweiligen rückgewiesen worden. Gegebenheiten gerecht werden kann, indem er in den Einzelstaaten und in der Gesamtheit der europäischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Staaten eine sinnvolle Finanzpolitik ermöglicht, und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans dass er auch in Zukunft angewandt wird. Michelbach [CDU/CSU]: Das ist die Unwahr- heit! – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Da ist der (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sehr salbungs- Wunsch Vater des Gedankens, sonst nichts!) voll!) Die Sachverständigen haben darauf hingewiesen, dass „3,0 ist 3,0“ – diese Formulierung von Herrn Waigel war schon immer etwas zu schlicht. Wie Sie wissen, hat Sie die Fragen zur Unternehmensbesteuerung völlig aus- der zuständige Kommissar Almunia gesagt, geblendet haben. Genau das war der Gegenstand dieser Anhörung. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Auch ein Sozialist!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Lesen Sie mal das die bisherige Handhabung des Paktes habe einige Mit- Protokoll!) gliedsländer geradezu in die Rezession getrieben. (B) Dann kommen Sie mit Worten wie „Pakt für Deutsch- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist doch un- (D) land“, wovon Sie seit zwei Wochen reden. Das einzige glaublich! – Widerspruch bei der CDU/CSU Konkrete daran ist der weitere Abbau der Arbeitnehmer- und der FDP) schutzrechte. Das sind alte Hüte, von denen Ihr früherer – Natürlich nicht alle Länder, aber so ist das Zitat von Kollege Norbert Blüm sagt, er warte noch immer auf die Almunia. – Dies kann natürlich nicht Gegenstand oder Wirksamkeit dieser Maßnahmen, die er schon damals er- sinnvolles Ergebnis eines europäischen Stabilitäts- und griffen habe. Wachstumspaktes sein. Vor diesem Hintergrund bekennt sich die Bundesregierung weiterhin zu ihm. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Außer Polemik fällt dir nichts ein!) Wir werden alles tun, – Lieber Heinz, ich bin doch ganz ruhig. (Zuruf von der CDU/CSU: Weitere Schulden zu machen!) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Nur Polemik!) und zwar nicht nur wegen unserer europäischen Ver- – Nein, das finde ich gar nicht. pflichtungen, sondern auch aufgrund der Verpflichtun- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch gen, die sich aus unserer eigenen Verfassung ergeben, keine Stabilitätsrede!) bei der Konsolidierung der Haushalte weiter voranzu- schreiten. Wir werden weiterhin eine sehr restriktive – Hat denn Herr Meister irgendetwas zum Stabilitätspakt Ausgabenpolitik fahren. gesagt? Ich könnte hier natürlich meine Rede auch vorle- (Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt sen; aber ich gehe jetzt auf Herrn Meister ein. „weiterhin“?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir werden das Geld natürlich nicht mit vollen Hän- DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ den ausgeben und auch keine Strohfeuer zünden, wie CSU]: Ihnen fällt nichts zum Thema ein!) Sie, Herr Meister, es befürchtet haben. Wir müssen da- – Ich bitte Sie! Ich kann Ihnen diese Rede meinetwegen rauf achten, dass die finanzpolitischen Maßnahmen der sofort zu Protokoll geben, damit Sie sie nachlesen kön- jeweiligen Situation angemessen sein dürfen und kön- nen. – Herr Meister hat keinen Ton zum Stabilitätspakt nen. Dies sollte im Interesse des ganzen Hauses liegen. gesagt, Herzlichen Dank. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist ja nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu glauben!) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14937

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ersten Wochen dieses Jahres faktisch verbraucht. Aus (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Andreas den aktuellen Zahlen zum ALG II ergibt sich eine zu- Pinkwart von der FDP-Fraktion. sätzliche Haushaltsbelastung von 6 bis 7 Milliarden Euro. Der Bundesbankgewinn ist viel zu hoch angesetzt. Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Die Haushaltsrisiken im steuerlichen Bereich betragen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und insgesamt 10 Milliarden Euro. All das bedeutet, dass Sie Herren! Zum dritten Mal in Serie führen wir eine De- den Risikopuffer in den ersten Wochen dieses Jahres batte zu diesem Thema ohne den Finanzminister; heute schon mehrfach verspielt haben. In Wahrheit erwarten krankheitsbedingt – meine Fraktion übermittelt Gene- Sie für das laufende Jahr eine Neuverschuldung von sungswünsche an den Finanzminister –, zweimal zuvor mindestens 3,4 Prozent. Das ist die Wahrheit, die Sie aber aus anderen Gründen. Zum dritten Mal in Serie hö- hier vortragen müssten. ren wir von den Vertretern des Finanzministeriums zum (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – eigentlichen Anliegen des Stabilitäts- und Wachstums- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warten paktes überhaupt nichts. Das Parlament wird für dumm Sie doch erst einmal ab! Das ist doch alles Un- verkauft. sinn!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Weil Sie befürchten, dass in Brüssel im Das Stichwort Unternehmensteuerreform, Frau Wahljahr 2006 die Quittung für diese verfehlte Politik Staatssekretärin, ist in der Tat bemerkenswert: Sie ver- ausgestellt wird und dass eine Strafzahlung auf Sie zu- künden in Ihren großen Reden hier, Sie hätten zum kommen wird, versuchen Sie jetzt, die Regeln auszuhe- 1. Januar 2005 die tollste Steuerreform aller Zeiten um- beln. gesetzt, und drei Wochen nach Inkrafttreten dieser so tol- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist es!) len Steuerreform erzählt Ihr Bundeswirtschaftsminister dem deutschen Volk, dass das alles nichts tauge und Das ist doch die Wahrheit. Um Ihre Politik der Beliebig- dringend eine Unternehmensteuerreform in Deutschland keit fortzusetzen, verfahren Sie frei nach dem Motto: umgesetzt werden müsse. Sie sind dafür federführend Wenn die Regeln nicht passen, werden sie passend ge- zuständig und legen diesem Haus überhaupt nichts dazu macht. vor. Der Bundeskanzler persönlich setzt dem Ganzen die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Carl- Krone auf. Ich zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“: Ludwig Thiele [FDP]: Blockade!) Der Bundeskanzler (B) Nun zum Stabilitäts- und Wachstumspakt. Es ist doch will eine Einigung über den Stabilitätspakt erkau- (D) nicht so, dass das 3-Prozent-Kriterium Sie gehindert fen, indem er die deutschen Milliardenbeträge an hätte, das Richtige für Deutschland zu tun. Sie haben es die EU-Kasse aufstockt. drei Jahre hintereinander mehr als überzogen: 2002 3,6 Prozent, 2003 3,9 Prozent und im vergangenen Jahr Der Kanzler und der Finanzminister wollen also 3,7 Prozent. Sie haben die Obergrenze weit überschritten zweierlei: erstens den Stabilitätspakt zulasten des Wohl- und trotzdem nicht mehr Beschäftigung und Wachstum standes dieser und der nachfolgenden Generation auf- geschaffen, wie Sie es der Öffentlichkeit suggerieren weichen und die Schleusen für die Staatsverschuldung wollen, sondern mehr Arbeitslosigkeit, mehr Schulden weiter öffnen, zweitens die anderen Staaten damit lo- und weniger Wachstum hervorgebracht. Das ist das Er- cken, dass Deutschland ab dem Jahr 2007 die ohnehin gebnis Ihrer Politik, die wir hier zu kritisieren haben. sehr hohen Beiträge an die EU um weitere 5 bis 7 Mil- liarden Euro erhöht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist die Quit- Trotz alledem melden Sie nach Brüssel für dieses Jahr tung!) 2,9 Prozent. Sie wollen einen doppelten Preis für Ihre verfehlte Poli- (Ortwin Runde [SPD]: Ja!) tik bezahlen. Das ist die Wahrheit. Um auf diese Zahl zu kommen, haben Sie am Haushalt viele Reparaturen vornehmen müssen. Die EU-Kommis- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sion hat Ihre Maßnahmen als weder nachhaltig noch Jetzt komme ich auf einen sehr bemerkenswerten strukturverbessernd kommentiert. Sie haben eine Neu- Punkt – ich habe ihn gestern Nachmittag bereits im verschuldung von 2,9 Prozent gemeldet, um Strafzahlun- Haushaltsausschuss vorgetragen –: Der Haushaltsaus- gen abzuwenden. Wären Sie sich sicher, das 3-Prozent- schuss des Deutschen Bundestages hat die Regierung in Kriterium wenigstens in diesem Jahr erfüllen zu können, einem einstimmigen Beschluss, würden Sie sich nicht seit Monaten maßgeblich darum kümmern, die Sanktionsmechanismen des Stabilitäts- (Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es! und Wachstumspaktes auszuhebeln. Einstimmig!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genau so ist es!) der erst vor wenigen Wochen gefasst worden war, aufge- fordert, bei der 1-Prozent-Linie zu bleiben. In Wahrheit haben Sie Ihren kleinen Risikopuffer in Höhe von etwas mehr als 2 Milliarden Euro schon in den (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Ja, genau!) 14938 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Andreas Pinkwart (A) Die Diskussion endete damit, dass der Vertreter Ihres Ratssitzung fährt. Wir können doch keine solche Politik (C) Hauses, Ihr Staatssekretär, dieserlei Zusammenhang der Beliebigkeit zulassen, die gegen die Interessen unse- oder Junktim – man könnte auch sagen: Kuhhandel – res Landes gerichtet ist. Wir jedenfalls werden Ihnen das nicht dementiert hat. Es hieß dann lediglich: Dazu werde nicht durchgehen lassen. der Finanzminister heute Stellung nehmen und mögliche (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bedenken ausräumen.

(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Ja!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Er ist heute krankheitsbedingt nicht anwesend – Sie, Zu einer Kurzintervention erteile ich der Staatssekre- Frau Staatssekretärin, haben dazu nichts, aber auch gar tärin Dr. Hendricks das Wort. nichts gesagt – (Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es!) Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen: und der Bundeskanzler, der diesen Kuhhandel offen- Herr Kollege Pinkwart, ich will das gerne aufnehmen. sichtlich einfädelt, fehlt ebenfalls. Mir ist zwar gesagt worden, dass mein Kollege beamte- ter Staatssekretär Ehlers gestern gesagt hat, er wolle zu Herr Carstens, der Ausschussvorsitzende, hat treffend Ihrer Frage zum Beitrag in der „Süddeutschen Zeitung“ festgestellt: Natürlich kann eine Regierung am Ende von nicht Stellung nehmen. Aber mir ist nicht übermittelt Verhandlungen von der Vorgabe des Parlaments ab- worden, dass zugesagt worden ist, weichen; aber sie darf, wenn es keine entsprechende Rückkopplung mit dem Parlament gegeben hat, nicht bei (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Aber sicher! Aufnahme von Verhandlungen von Vorgaben des Parla- Definitiv!) ments abweichen. dass der Minister das heute – bzw. in seiner Vertretung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ich – das erledigen sollte. Das will ich gerne nachholen: Deshalb sage ich: Hier wird eine Politik betrieben, die Selbstverständlich ist es das Ziel der Bundesregie- das Parlament – auch Sie, meine Damen und Herren von rung, am 1-Prozent-Ziel für den europäischen Haushalt, den Regierungsfraktionen – nicht mehr ernst nimmt. bezogen auf das Bruttonationaleinkommen, festzuhalten. Sie wissen, die Initiative dazu ist nicht zuletzt von (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die erhöhen Bundeskanzler Gerhard Schröder zusammen mit fünf ja demnächst die Mehrwertsteuer! – Weitere anderen Regierungschefs, insbesondere aus Ländern Zurufe von der CDU/CSU: Eine arme Trup- Nordwesteuropas, ausgegangen. Selbstverständlich ver- (B) pe! – Wie die sieben Zwerge!) handelt die Bundesregierung auf dieser Basis. Dass das (D) Entweder lassen Sie sich von der Regierung am Na- schwierig ist, dass die Interessenlage andernorts anders senring führen oder es handelt sich um eine gezielte Ver- ist, ist klar. Unter der Hand sagt die Bayerische Staatsre- nebelungstaktik der Regierung und der sie tragenden gierung in Brüssel sogar: „Machen wir doch lieber Fraktionen. Ich jedenfalls sage: Wir werden uns weder 1,27 Prozent, damit wir ein bisschen mehr in den Struk- von der Regierung am Nasenring führen lassen noch uns turfonds haben.“ von Ihrer Vernebelungsaktion beeinflussen lassen. Des- (Ortwin Runde [SPD]: Hört! Hört! – Wilhelm wegen sage ich für meine Fraktion ganz klar: Gestern Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Patriotisch! – wurde zugesagt, dass der Bundesfinanzminister heute Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- definitiv Auskunft gebe. Das ist nicht geschehen. NEN]: Diese Doppelzüngigkeit Bayerns ist ty- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- pisch!) NEN]: Ja, weil er krank ist!) Das ist wirklich eine kluge Rechnung: Wir geben zwei – Er ist krank. Das habe ich eingangs gesagt, Frau Euro nach Europa, damit wir einen Euro nach Bayern Scheel. Ich wünsche ihm beste Genesung! Das nehmen zurückbekommen! wir sehr ernst. Ich sage Ihnen: Wir verhandeln auf der Basis des 1-Pro- (Zuruf von der SPD: Warum zitieren Sie das zent-Ziels. Das bedeutet, dass der Bruttobeitrag der Bun- dann?) desrepublik Deutschland am EU-Haushalt allein wegen der Entwicklung, die für 2007 bis 2013 zu erwarten ist, Aber die Frau Staatssekretärin hat ihn vertreten und ih- bei einem 1-Prozent-Beitrag von derzeit rund 22 Milliar- ren Auftrag nicht erfüllt. den Euro auf etwa 33 Milliarden Euro steigen würde. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!) Dies finden wir als Perspektive für den europäischen Haushalt völlig ausreichend. Wir sehen nicht, dass natio- Auch der Bundeskanzler ist nicht anwesend. nale Haushalte, sei es im Bund oder in den Ländern, auf Ich erwarte eine endgültige Klarstellung, dass die Re- absehbare Zeit eine solche Perspektive haben. gierung weiterhin auf Basis des Beschlusses des Haus- Herzlichen Dank. haltsausschusses handelt. Solange dies nicht klargestellt ist, erwarten wir vom Bundesfinanzminister – das kün- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dige ich hiermit an – in einer Sondersitzung des Haus- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans haltsausschusses persönlich Auskunft, bevor er, hoffent- Michelbach [CDU/CSU]: Warum verhandeln lich dann wieder genesen, zur nächsten Ecofin- Sie dann anders?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14939

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) – Wir verhandeln nicht anders! Es muss ja nicht die (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sie haben gar (C) Wahrheit sein, was in der „Süddeutschen Zeitung“ steht; keine Vorstellung! Deshalb können Sie das deswegen weise ich das noch einmal ausdrücklich zu- Verhältnis zu uns auch nicht beurteilen!) rück. Es ergäben sich nämlich Einnahmelücken, die die ganze (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf Problematik, in der wir stecken, verstärken und ver- von der CDU/CSU: Die Nebelwerfer werden schärfen würden, statt die Situation zu verbessern. angeworfen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: CSU]: Haben wir nun Vorschläge oder haben Zur Erwiderung Professor Pinkwart. wir keine?)

Dr. Andreas Pinkwart (FDP): – Sie haben sehr widersprüchliche Vorschläge. Frau Staatssekretärin, Sie haben aus Ihrer Sicht eine Ich möchte Ihnen von dieser Stelle aus einmal sagen: Verhandlungslinie aufgezeigt und sie gleichzeitig relati- Sie legen immer nur Papiere vor – Zehnpunktepro- viert. Sie haben für die Regierung aber nicht die Feststel- gramme, Fünfpunkteprogramme, Siebenpunktepro- lung des Bundeskanzlers zu dieser Linie dementiert. gramme – und sagen, das sei die Lösung des Problems (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Machen für den Standort Deutschland und führe zu mehr Be- Sie doch keinen Unsinn daraus!) schäftigung. Wenn wir uns dann aber über einzelne Punkte mit Ihnen unterhalten und genauer nachhaken, Ich erwarte hier ein klares Dementi für die Regierung, dann stellen wir jedes Mal fest, dass Sie sich ständig in (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Widersprüchlichkeiten verstricken, dass Sie bei keinem Quatsch!) Punkt wissen, wie er mit den anderen Punkten zusam- menpasst, und dass Sie nur Luftblasen aufsteigen lassen, da bisher kein öffentliches Dementi der Regierung in die bei einer Konkretisierung platzen. So kann man dieser Sache erfolgt ist. Es muss ein klares Dementi keine Politik für dieses Land machen. kommen, dass Sie in Ihren Verhandlungen keinen Zu- sammenhang zwischen den Kriterien für die Auslösung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Sanktionsmechanismen des Stabilitätspaktes und der und bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/ 1-Prozent-Linie herstellen. Ein solches Dementi haben CSU]: Machen Sie jetzt eine Selbstreflexion in Sie eben nicht vorgetragen. Bezug auf Ihre eigenen Vorstellungen?) (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie wissen auch ganz genau, dass wir eine wesentlich (D) der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] geringere Nettokreditaufnahme und eine andere Haus- [SPD]: Quatsch!) haltssituation in diesem Land hätten, wenn Sie alle Vor- schläge zum Subventionsabbau in den letzten Jahren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht mit Ihrer schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel von blockiert hätten. Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Andreas Pinkwart Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): [FDP]: Warum haben Sie bei der Steinkohle Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Frau mitgestimmt? Sie haben die Steinkohlesubven- Staatssekretärin hat gerade sehr klar und eindeutig auf tionen verlängert, Frau Scheel!) die Nebelkerzen geantwortet, die die FDP hier geworfen hat. Deswegen liegt hier ein Stück Verantwortung sehr wohl natürlich auch bei Ihnen; das wissen Sie auch. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie werfen Nebelkerzen nur unter Wasser!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Rot-Grün macht arm!) Ich möchte jetzt ganz kurz auf das eingehen, was Herr Dr. Meister gesagt hat. Er hat hier wieder den Anspruch Bevor ich zum Wachstums- und Stabilitätspakt formuliert – das macht die CDU/CSU bei fast jeder Ge- komme, möchte ich noch Folgendes sagen: Die Pro- legenheit –, man solle in diesem Land doch bitte schön bleme, die wir in diesem Land zu bewältigen haben, dür- Strukturreformen durchführen, und zwar vor allen Din- fen keinesfalls schöngeredet werden. Mehr als 5 Mil- gen Steuersenkungen im Unternehmensbereich. Er lionen arbeitslose Menschen sind etwas sehr sagte, die Union habe ein Konzept dafür. Dieses Konzept Bedrückendes; jeder arbeitslose Mensch, der arbeiten hat aber noch niemand gesehen. Es gibt zwar eine Über- will und keine Arbeit findet, ist einer zu viel. schrift, die immer wieder nach vorne getragen und über- all verkündet wird, was das aber inhaltlich bedeutet, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dann tun Sie weiß niemand. Jedenfalls wissen wir, dass alle Vor- mal was! – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Auf schläge, die bislang von der Union und übrigens auch diese Krokodilstränen können wir verzichten!) von der FDP gekommen sind, das völlige Gegenteil des- Aber wenn Sie die Lage permanent nur schwarzreden, sen bewirken würden, was wir unter der Einhaltung des Wachstums- und Stabilitätspaktes verstehen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Quatsch!) 14940 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Christine Scheel (A) dann schaden Sie diesem Land mehr, als Sie ihm nutzen. Im Zentrum der Reform stehen deshalb Überlegun- (C) Wie schaut denn das Ausland auf Deutschland? Das ver- gen, den Stabilitäts- und Wachstumspakt in seiner An- steht doch die Welt nicht mehr. Wir sind international wendung den realen Konjunkturverläufen anzupassen, wirtschaftspolitisch relativ gut aufgestellt und hören im- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Faktisch mer nur Ihre Ansagen, es sei alles furchtbar. Wie wollen auszuhebeln!) Sie ausländische Investoren mit diesen Ansagen nach Deutschland bringen? ohne die Sanktionsmechanismen der EU-Kommission gegenüber den Nationalstaaten aufzugeben. Ich betone: (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie müssen Die beiden wesentlichen Kriterien für die Messung der eine bessere Politik machen! – Weitere Zurufe fiskalischen Lage einer Volkswirtschaft bleiben unange- von der CDU/CSU) tastet. Sowohl das 3-Prozent-Defizitkriterium als auch das 60-Prozent-Kriterium der Gesamtverschuldung blei- Diese Politik nutzt unserem Land nicht, sondern schadet ben unangetastet. ihm. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das geht ja (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch nicht anders! – Leo Dautzenberg [CDU/ und bei der SPD – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ CSU]: Reine Semantik!) CSU]: Sie schaden dem Land!) Das ist der erklärte Wille des Bundeskanzlers und des Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt zwei Bundesfinanzministers. erfreuliche Nachrichten seitens des Statistischen Bun- Nach dem Willen der EU-Kommission soll dem desamtes: Schuldenstand und damit der Nachhaltigkeit Erstens. Im Jahre 2004 hatten wir ein um 0,2 Prozent (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das Wort niedrigeres gesamtstaatliches Defizit als vorher berech- würde ich überhaupt nicht mehr in den Mund net. Es beträgt nunmehr 3,7 Prozent des Bruttoinlands- nehmen!) produkts. bei der haushaltspolitischen Überwachung mehr Ge- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist ja wicht gegeben werden. Diesen Willen unterstützen wir, sensationell!) weil der Gesamtschuldenstand in manchen Ländern sehr hoch ist und mehr oder weniger alle europäischen Län- Zweitens. Neben dem Bundesfinanzminister erwartet der wegen der demographischen Entwicklung erhebliche nun auch die Bundesbank, dass die Bundesrepublik Probleme mit der impliziten Staatsverschuldung im Rah- (B) Deutschland das 3-Prozent-Defizitkriterium des Stabili- men der sozialen Sicherungssysteme haben oder bekom- (D) tätspaktes in diesem Jahr einhalten kann. men werden. Das wissen wir und das wissen auch Sie. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie sich diesem (Ortwin Runde [SPD]: Das habe ich auch Prozess derartig verweigern, wie Sie es derzeit tun. gelesen!) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das ist Das ist also keine Ansage vonseiten der Bundesregie- Unsinn!) rung oder des Bundesfinanzministeriums. Diese Erwar- tung trägt die Bundesbank mit. Wir sind sehr froh, dass Leider hat Deutschland mit einer Gesamtverschul- wir mit unseren Analysen richtig liegen und sich andere dung von 66 Prozent gegen das 60-Prozent-Kriterium unseren Bewertungen anschließen. verstoßen. Das braucht man nicht schönzureden. (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Das haben (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ihre Prognosen Sie mit Ihrer Politik herbeigeführt! – Hans sind bisher ja immer voll aufgegangen!) Michelbach [CDU/CSU]: Das haben Sie doch Ich hoffe sehr, dass diese Prognose Realität wird. zu verantworten!) Das ist ein Problem. Alle Maßnahmen im Rahmen der Nach mehreren Jahren der Stagnation und der Über- Agenda 2010 sollen dazu beitragen, die Gesamtver- schreitung des 3-Prozent-Defizitkriteriums befinden sich schuldung zurückzuführen und das 3-Prozent-Defizit- neben Deutschland und Frankreich noch mehrere euro- kriterium wieder einzuhalten. päische Länder im Defizitverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Vor dem Hintergrund der realen kon- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Wann führen junkturellen Entwicklung und der bereits eingeleiteten Sie das denn wieder zurück?) Defizitverfahren wird eine Reform des Stabilitäts- und Strukturpolitische Maßnahmen wie die Renten- Wachstumspaktes im EU-Ministerrat verhandelt – nicht reform, die Gesundheitsreform oder die Arbeitsmarkt- mehr und nicht weniger. Der Pakt ist im Realitätstest des reformen Konjunkturverlaufs in sehr schweres Fahrwasser gera- ten. Dem Pakt liegen theoretische Annahmen zugrunde, (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo ist denn die sich in der Realität als nur sehr begrenzt tauglich er- die Gesundheitsreform? – Dr. Andreas wiesen haben. Pinkwart [FDP]: Wo ist denn die Nachhaltig- keit bei der Gesundheitsreform? Sie machen (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Am Willen das Gesundheitssystem doch nicht demogra- fehlt es!) phiefest!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14941

Christine Scheel (A) entwickeln ihre Wirkungen mit zeitlichen Verzögerun- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) gen. Deswegen ist es richtig, dass bei der Reform des Frau Kollegin Scheel, erlauben Sie eine Zwischen- EU-Stabilitäts- und Wachstumspaktes verwirklichte frage des Kollegen Professor Pinkwart? Strukturreformen berücksichtigt werden sollen, die nachweislich – das betone ich – nachhaltige Wirkungen Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): haben; denn damit dokumentiert man, dass man für eine Gerne. nachhaltige Struktur- und Finanzpolitik steht. (Beifall der Abg. Anna Lührmann [BÜND- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: NIS 90/DIE GRÜNEN]) Bitte schön, Herr Pinkwart.

Richtig ist auch, dass Investitionen in die Zukunft, Dr. Andreas Pinkwart (FDP): also in Forschung und Bildung, berücksichtigt werden. Frau Scheel, Sie sagen, dass man in rezessiven Pha- Das sind wir den kommenden Generationen schuldig. sen über die 3-Prozent-Grenze hinausgehen könne. Wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bewerten Sie konjunkturpolitisch das vergangene Jahr, dessen statistische Werte uns jetzt vorliegen? Wir hatten Wir sind jedoch der Meinung, dass es eine lange Liste ein Wachstum von 1,6 Prozent. Sie haben das von Ausnahmeregelungen bei der Beurteilung des Defi- Maastricht-Kriterium mit 3,7 Prozent deutlich verfehlt. zits eines Landes nicht geben sollte. Im laufenden Jahr stoßen Sie an die Grenze von 3 Prozent, die nach Ihrer Interpretation die maximale (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha!) Obergrenze darstellt. Die Kriterien sollen in ihrer Anwendung vergleichbar (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eine sein. Ausnahme!) Rückblickend ist festzustellen, dass dem Stabilitäts- Andere sehen uns deutlich über 3 Prozent. Die Bundes- und Wachstumspakt ein eher mechanistisches Bild von regierung geht von einem Wachstum von 1,6 Prozent Konjunkturverläufen zugrunde lag. aus. Trotzdem wird die Obergrenze komplett ausgereizt. Wie hoch soll denn dann noch die Neuverschuldung ge- (Widerspruch bei der CDU/CSU) messen am BIP sein, wenn Sie in die nächste Rezession hineinkommen sollten? Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass die Definition einer scharfen Rezession – Wachstumsraten von minus (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es muss (B) 2 Prozent – zugunsten der Klarstellung aufgegeben wird, geringer als 3 Prozent sein!) (D) dass ein befristetes Überschreiten der Defizitobergrenze von 3 Prozent künftig generell bei negativen Wachs- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tumsraten zulässig sein kann. Herr Professor Pinkwart, die strukturelle Schwierig- keit, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das heißt: mehr Schulden! – Dr. Andreas Pinkwart (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Heißt Rot- [FDP]: Frau Scheel, Sie geben den Pakt auf! Grün!) Sagen Sie das doch! Geben Sie es doch zu, ist die, dass die Beschäftigungsschwelle bei einem Frau Scheel!) Wachstum von etwa 1,9 Prozent liegt. Damit wird der Erfahrung Rechnung getragen, Herr Pro- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Er hat von fessor Pinkwart, dass bereits eine Stagnationsphase im Rezession gesprochen!) Konjunkturverlauf ein Überschreiten der Defizitkriterien nach sich ziehen kann. Das heißt, wenn das Wachstum unter 1,9 Prozent liegt, haben wir weniger Steuereinnahmen, höhere Arbeitslo- Die Kritik von CDU/CSU und FDP an der Reform sigkeit und damit höhere Ausgaben für den Staat. des Paktes ist ohnehin völlig realitätsfremd. Denn ob das Defizit am Ende eines Jahres bei 3,1 Prozent oder bei (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Vielleicht soll- 2,9 Prozent – ein Wert, mit dem man das Kriterium ein- ten Sie was am Arbeitsmarkt machen!) gehalten hätte – Wir haben, um genau diese Problematik anzugehen, strukturelle Reformen gemacht. (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Null ist das Ziel!) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch keine Antwort!) liegt, das gibt überhaupt keine Auskunft über die wirt- schaftliche Lage der jeweiligen Volkswirtschaft. Es sind Ich habe die Rentenreform und andere Reformen, die be- andere Kriterien, die über die wirtschaftliche Lage einer reits gemacht worden sind, angesprochen. Volkswirtschaft Auskunft geben. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist ein anderes Thema!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie machen wirklich alles kaputt, selbst den Stabilitäts- Diese führen im Ergebnis dazu, dass die Beschäftigungs- pakt!) schwelle ein Stückchen sinkt. 14942 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Christine Scheel (A) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Eigentlich ursprüngliche Ziel, eine Währung im gesamten Euro- (C) war das eine klare Frage!) raum mit dieser wunderbaren Stabilität zu schaffen, ist erreicht. Dieses Ziel wird auch in der Zukunft weiterhin Deswegen kann es passieren, dass man in Zeiten, in umgesetzt. denen es wirtschaftlich zwar etwas nach vorne geht, die Strukturreformen aber noch nicht so wirken, über (Beifall bei Abgeordneten der SPD – die 3-Prozent-Grenze schwappt, obwohl man vernünftig Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Man muss nur aufgestellt ist. Das ist der Punkt, auf den ich eigentlich daran arbeiten, dass man das Ziel dauerhaft er- verweisen wollte. Die Tatsache, dass das Defizit knapp reicht!) über oder knapp unter 3 Prozent liegt, sagt nichts da- Darauf muss man immer wieder verweisen. Die Frage, rüber aus, ob unsere Volkswirtschaft dazu in der Lage ob das Kriterium von 3 Prozent überschritten wird oder ist, eine nachhaltige Finanzpolitik im Sinne des Wachs- nicht, ist zwar eine wichtige Frage – das will ich nicht in tums- und Stabilitätspakts zu erreichen. Es sind vielmehr den Hintergrund drängen –, aber wir wollen auch alles die strukturellen Fragen, die entscheidend sind. Es ist tun, um den konjunkturellen Aufschwung zu stärken. eine qualitative Bewertung notwendig. Wir wollen alles tun, um die Binnennachfrage anzukur- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Thema beln – verfehlt!) Die qualitative Bewertung soll über die Reformdiskus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sion, die auf europäischer Ebene derzeit geführt wird, er- Frau Kollegin Scheel, Ihre Redezeit ist schon lange folgen. abgelaufen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin Scheel, die Fragen und Antworten soll- – und im Rahmen dessen den Konsolidierungspfad ten kurz und präzise sein. Wir sind hier nicht im Semi- weiter zu beschreiten. nar. Es wäre zwar notwendig, aber es ist leider nicht so. Danke schön. (Heiterkeit – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [SPD]: Herr Präsident, das ist richtig! Bei und bei der SPD) Herrn Pinkwart wäre das nötig!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Wort hat der Kollege Georg Fahrenschon von der (B) Ich bin über Ihre Einschätzung froh, dass ich einen CDU/CSU-Fraktion. (D) großen Beitrag zur Aufklärung geleistet und dazu beige- (Beifall bei der CDU/CSU) tragen habe, dass die Union und die FDP die wirtschafts- politischen, finanzpolitischen und gesamtstaatlichen Vorgehensweisen verstehen. Es freut mich sehr, dass mir Georg Fahrenschon (CDU/CSU): das gelungen ist. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass Rot- Grün in allen Fragen der Wirtschafts- und Währungs- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Gelungen ist es politik und der Haushalts- und Finanzpolitik nach der nicht!) Methode „Haltet den Dieb!“ vorgeht, ist keine Überra- Ich komme zum Ende, Herr Präsident. Die Redezeit schung. Aber dass Sie, Frau Staatssekretärin, in der ist gleich vorbei. Das, was überhaupt nicht mehr disku- Frage der finanziellen Perspektive der Europäischen tiert wird, ist die Frage, warum eigentlich der Wachs- Union Äußerungen der Bayerischen Staatsregierung he- tums- und Stabilitätspakt eingeführt worden ist. Er ist ranziehen, ohne Ross und Reiter zu nennen, schlägt dem deswegen eingeführt worden, weil wir eine stabile Wäh- Fass den Boden aus. rung wollten, (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sehr richtig!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Weil er nötig Insofern fordere ich Sie auf: Entweder Sie nennen war! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hat Ross und Reiter oder Sie nehmen diese Aussage zurück! Herr Meister doch eben erklärt!) Es gibt keine Zielrichtung der CDU und der CSU und der von ihnen getragenen Landesregierungen in auch im Hinblick auf Leistungsbilanzdefizite und Haus- Deutschland, einer Erhöhung des europäischen Haus- haltsdefizite in den USA. Der Wert des Euro hat sich ge- halts zuzustimmen. genüber dem Dollar erhöht. Der Euro wird verstärkt als Reservewährung gehalten. Europa hat sich eine stabile, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wertbeständige Währung gegeben. Das muss man sehen. neten der FDP) Das war der Grund, warum der Stabilitäts- und Wachs- Ich will in Erinnerung rufen, dass es bei diesem Ta- tumspakt eingeführt worden ist: Man wollte eine stabile gesordnungspunkt um ein zentrales Thema geht. Währung in Europa. (Ortwin Runde [SPD]: Das ist wahr!) Die Debatte, die wir jetzt über das Defizitkriterium und darüber führen, ob man die Defizitkriterien reali- Der Deutsche Bundestag hat am 2. Dezember 1992, also tätstauglicher gestalten soll, hat damit zu tun. Aber das vor etwas mehr als zwölf Jahren, nahezu einstimmig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14943

Georg Fahrenschon (A) – 543 von 568 abgegebenen Stimmen waren dafür; auch Das Gegenteil ist der Fall: Durch Ihre Forderungen (C) die Abgeordneten der SPD- und der grünen Fraktion ha- wird der Pakt nicht gestärkt, sondern massiv ge- ben zugestimmt; nur die Kommunisten waren dagegen – schwächt. Sie machen den Bock zum Gärtner und schi- folgenden Beschluss gefasst: cken uns dann auch noch einen wirtschaftspolitischen Geisterfahrer in die Anhörung, der behauptet, der Pakt Der Deutsche Bundestag nimmt die Besorgnis in sei tot. Gleichzeitig stimmt die Bundesregierung auf der der Bevölkerung über die Einführung einer gemein- Grundlage des Pakts dem Defizitverfahren gegen Grie- samen europäischen Währung ernst. … Der Deut- chenland zu. In Deutschland herrscht in der Tat eine ga- sche Bundestag wird sich jedem Versuch widerset- loppierende Schizophrenie. zen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, die in Maastricht vereinbart worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Andreas Pinkwart [FDP] – Hans (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Hört! Hört! – Michelbach [CDU/CSU]: Politische Charak- Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Frau Scheel, terlosigkeit!) zuhören! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir haben doch nicht nur einen Satz Man muss sich auch einmal im Detail mit den Forde- beschlossen! Das ist doch dummes Zeug! – rungen, die der Bundesfinanzminister schriftlich an den Florian Pronold [SPD]: Wie ist die Inflations- EU-Ratspräsidenten gerichtet hat, auseinander setzen. rate?) Erstens wird die Einrechnung von Sonderlasten wie der deutschen Einheit gefordert. Die Wiedervereinigung ist Deshalb müssen wir diese Debatte im Parlament führen. 15 Jahre her. Sie kommen wirklich früh darauf, die Ein- Der heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in rechnung der Sonderlasten der deutschen Einheit beim einem „Spiegel“-Interview vom 24. Februar 1997 ver- europäischen Stabilitätspakt zu fordern. kündet: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir tra- Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen, die den gen auch die falsche Finanzierung der Regie- Maastricht-Vertrag noch ernst nehmen. … Ich will, rung Kohl heute noch mit uns herum!) dass die Stabilitätskriterien strikt eingehalten wer- Zweitens fordern Sie die Anrechnung der Nettozah- den. … Die Europäische Kommission soll darüber lungen an die EU. Lieber Herr Parlamentarischer Ge- wachen, dass die Fiskalpolitik der Einzelstaaten schäftsführer, wo bleiben denn dann die Nettoerträge? nicht aus dem Ruder läuft. Bei einer ordentlichen Buchhaltung ist es doch das Min- deste, dass nicht nur die Einnahmen, sondern auch die Wir haben es doch hier mit einer galoppierenden Schizo- Ausgaben mit eingerechnet werden. (B) phrenie zu tun! (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Andreas Pinkwart [FDP] – Wilhelm Dr. Andreas Pinkwart [FDP] – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lassen Sie sich Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Starke Worte! Ha- doch die richtige Rechnung vorlegen!) ben Sie eine Profilneurose?) Drittens verlangen Sie, dass Strukturreformen im So- Wenn es keine Schizophrenie ist, dann ist es zumindest zial-, Arbeits- und Steuerbereich ebenso anerkannt wer- Gedächtnisverlust. den sollen wie viertens Ausgaben für Innovation, For- Die Wahrheit liegt doch ganz woanders: Der Kanzler schung und Entwicklung oder fünftens Investitionen in und sein Erfüllungsgehilfe haben sich nach Humankapital. Da wird doch der Hund in der Pfanne sechs Jahren Regierungsverantwortung in Sachen Haus- verrückt; denn Sie wollen die Kosten für den Beamten- halts- und Fiskalpolitik als unfähig erwiesen apparat, den Sie zusätzlich erweitern wollen, herausrech- nen und so die Last des europäischen Stabilitäts- und (Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es!) Wachstumspakts verringern. Das können wir nicht mit- und wollen nun dem einzigen noch verbliebenen Kon- machen. trollinstrument solider Haushaltspolitik, dem Stabilitäts- (Beifall bei der CDU/CSU) und Wachstumspakt, den Garaus machen. Sie wollen sechstens die konjunkturelle Entwicklung Im internationalen Umfeld liest es sich wie Kabarett: und siebtens den Beitrag eines Mitgliedstaates zur Stabi- Erst initiiert Deutschland den Stabilitätspakt zum Schutz lität des Währungsraums berücksichtigt wissen. der gemeinsamen Währung. Dann möchte eben dieses Land die Regeln des Euros mit aller Gewalt wieder strei- Sie haben die gestrige Debatte nach dem Motto ge- chen und zum krönenden Abschluss behaupten die Be- führt: Der Stabilitätsanker Deutschland gilt noch, weil teiligten auch noch allen Ernstes, dass der Pakt durch die unsere Inflation im Vergleich zum europäischen Durch- Änderungen gestärkt wird. Über diese politische Dar- schnitt so gering ist. Meine Damen und Herren von der stellung lacht ganz Europa. Regierungskoalition, das lernt man in der Volkswirt- schaftslehre schon im ersten Semester: Wenn man einen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. einheitlichen Währungsraum mit starken und schwachen Dr. Andreas Pinkwart [FDP] – Wilhelm Volkswirtschaften hat, dann ist es automatisch so – Sie Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warten Sie mal können das nachlesen; das ist der so genannte Balassa- auf das Ergebnis!) Samuelson-Effekt –, dass insbesondere die Preise für 14944 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Georg Fahrenschon (A) nicht handelbare Güter und Dienstleistungen schneller nicht das Fundament der Europäischen Wirtschafts- und (C) steigen als die Preise für handelbare Güter. Vor diesem Währungsunion! Wer den Stabilitätspakt kaputtmacht, Hintergrund ist es ganz logisch, dass wir – genauso wie spielt mit der Zukunft unseres Landes. Sie sollten sich vor zehn Jahren in Spanien, Griechenland und Portugal das sehr genau überlegen. sowie heute in den osteuropäischen Ländern – eine hö- here Inflation haben. Daraus ergibt sich denklogisch, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass die Inflationsrate Deutschlands unter dem Durch- schnitt der Europäischen Union liegt. Das kann also kein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Argument für Ihre Position sein. Das ist vielmehr eine Das Wort hat jetzt der Kollege Ortwin Runde von der ganz einfache Wahrheit in der klassischen Wirtschafts- SPD-Fraktion. und Währungspolitik. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ortwin Runde (SPD): neten der FDP) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fahrenschon, ich weiß zwar nicht, ob Sie an der Achtens. Zu guter Letzt wollen Sie die Eröffnung ei- Debatte über die europäische Verfassung teilgenommen nes Defizitverfahrens nur noch beim Nachweis eines haben. Aber es wäre gut gewesen, wenn der Geist dieser schwerwiegenden Fehlers eines Mitgliedstaats ermögli- Debatte den Inhalt Ihrer Rede ein Stück geprägt hätte. chen. Das ist der Gipfel; denn damit setzen Sie die For- derungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts schlicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und einfach außer Kraft. Das ist die Strategie von Rot- DIE GRÜNEN) Grün. Sie wollen nämlich alles andere als den Pakt stär- ken. Sie wollen vielmehr durch die Aufweichung der Das ist ja wirklich ein Unterschied wie Tag und Nacht. Stabilitätskriterien lediglich den Bankrott Ihrer Politik Meine Damen und Herren von der Union, wir erleben verschleiern. die heutige Debatte über den Stabilitäts- und Wachstums- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) pakt als dritte oder vierte Wiederholung im Parlament. Inzwischen kennen wir fast alle Argumente. Weil Ihnen finanz- und haushaltspolitisch nichts mehr einfällt, wollen Sie die Lizenz zum ungehemmten Schul- Die Bürger, die Zuhörer müssen sich doch fragen: denmachen. Dagegen wehren wir uns mit aller Kraft. Was ist an der Stabilität denn nicht in Ordnung? Vor diesem Hintergrund muss ich Ihnen sagen: Sie (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der Lern- haben es schlicht und einfach nicht verstanden. Ihnen erfolg ist gering!) (B) fehlt offensichtlich die intellektuelle Kraft, um die Fra- Wie sehen die Fakten aus? Bei der Beantwortung die- (D) gestellungen von Wirtschafts- und Währungspolitik im ser Fragen stellt man fest, dass der Euro sehr stabil ist, Zusammenhang zu sehen. Es ist festzuhalten: Wir geben was die Preissteigerungen, das Preisniveau, den Binnen- mittlerweile jeden fünften Euro, den wir durch Steuern wert angeht. Der Binnenwert des Euro ist absolut stabil. einnehmen, für Schuldzinsen wieder aus. Dieses Geld fehlt uns an anderer Stelle, um Infrastruktur, Bildung (Hans Michelbach [CDU/CSU]: In Deutsch- und Innovation zu unterstützen. land!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Fahrenschon hat eben schon eine Begründung dafür NEN]: Genau das ist das Problem!) geliefert, warum das Preissteigerungsniveau in Deutsch- land sehr viel geringer ist als in den anderen europäi- Zusätzlich wird durch Ihre Fiskalpolitik der Spielraum schen Ländern. Der Außenwert des Euro ist mit für dringend notwendige Entlastungen auf der Steuer- 1,32 Dollar so hoch, Herr Fahrenschon, dass man da in und Abgabenseite erheblich eingeschränkt. der Tat schon Bedenken haben muss. Sie müssen einfach verstehen: Solange die Möglich- keit besteht, Kredite aufzunehmen, wird das Geld durch (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist wegen Ihre Regierung mit vollen Händen aus dem Fenster ge- der Schwäche der anderen Währungen!) worfen. Rot-Grün verfährt seit Jahren nach den Grund- Jeder, der Zeitung liest, stellt fest, dass in dieser Tatsache sätzen: Erstens. Sind die Staatsfinanzen erst ruiniert, auch eine Bedrohung für unsere weitere wirtschaftliche dann lebt sich’s gänzlich ungeniert. Zweitens. Nach uns Entwicklung liegt. die Sintflut. Wenn man Ihrer Argumentation folgte, müsste man Kredite aufnehmen, um in die Zukunft in- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Also wollen Sie vestieren zu können. Das ist heuchlerisch und stimmt den Euro weicher machen?) nicht. Schulden sind nämlich keine Investitionen in die Wenn wir über die Frage der Stabilität reden, dann füh- Zukunft. Schulden sind vielmehr die Steuern von mor- ren wir also eine Phantomdebatte. Mit der Stabilität ha- gen. Da haben Sie uns hineingeritten. Durch Ihre Politik ben wir in Europa, haben wir in Deutschland kein Pro- verkaufen Sie die Zukunft unserer Kinder und Kindes- blem. kinder. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich kann Sie daher nur auffordern: Hören Sie auf! DIE GRÜNEN) Nutzen Sie die Regeln des Stabilitäts- und Wachstums- pakts, um Ihren Haushalt zu sanieren! Zerstören Sie Das ist also nicht die Frage. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14945

Ortwin Runde (A) Worum geht es denn dann darüber hinaus? Herr Ortwin Runde (SPD): (C) Fahrenschon redet hier so, als wären wir Deutschen die Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt hat Einzigen in Europa, die über eine Weiterentwicklung des das Ziel Stabilität erreicht. Andere Ziele wie Wachstum Stabilitäts- und Wachstumspakts nachdenken und daran und Beschäftigungssicherung sind dadurch nicht erreicht arbeiten. worden, Herr Schauerte. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Änderung (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Also weitere Schul- oder Weiterentwicklung?) den, Herr Runde; das ist doch die Frage!) Ich stelle dazu fest: Es gibt einen Bericht bzw. Vorschlag Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat nach den Er- der Europäischen Kommission zur Weiterentwicklung kenntnissen der Europäischen Kommission – Almunia, des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Prodi und andere haben dies bewertet – dazu geführt, dass die Länder nicht aus der Rezession herauskommen, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Schönrede- sondern dass eine prozyklische Entwicklung eintritt, rei!) dass die Konjunktur durch die entsprechenden Maßnah- men also abgewürgt wird. Insoweit war der Stabilitäts- – Das ist keine Schönrederei. und Wachstumspakt nicht erfolgreich. (Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich! – Ge- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: In Deutschland!) genruf des Abg. Florian Pronold [SPD]: Ruhe auf den billigen Plätzen!) – Nein, das gilt nicht nur für Deutschland, sondern das gilt, so Almunia, insbesondere auch für Portugal. Hier sehe ich auch eine Analogie zu der Diskussion, die Schauen Sie sich auch einmal die Situation der Portugie- wir vorhin geführt haben. In jener Diskussion hat Herr sen oder der Niederländer an; dort ist es genauso. Teufel gesagt, warum die europäische Verfassung auf- grund der Erfahrungen, die in der Vergangenheit ge- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Und Grie- macht worden sind, weiterentwickelt werden muss. Be- chenland!) reits vorher wurde schon gesagt, ein entscheidender Wenn die Kommission darangeht, den Pakt neu zu in- Punkt für die europäische Verfassung sei gewesen, dass terpretieren und weiterzuentwickeln, dann stellt sich die sich Europa dadurch verändert hat, dass die Europäische Frage, welche Interessen wir als Deutsche in diese Wei- Union nicht mehr aus 15, sondern aus 25 Ländern be- terentwicklung des Pakts einbringen müssen. Herr steht. Fahrenschon, da fallen mir natürlich sofort die Lasten der Einheit ein. Die Bewältigung der deutschen Einheit (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: war wie eine Vorstufe dessen, was wir heute mit der Er- (D) Herr Kollege Runde, erlauben Sie eine Zwischenfrage weiterung der Europäischen Union nach Osten erleben. des Kollegen Schauerte? Die gesamte Europäische Union muss dafür viel Geld aufbringen. Eine Leistung dieser Art haben wir als ein- zelnes Land erbracht, indem wir entsprechende Lasten Ortwin Runde (SPD): geschultert haben. Dass man das im Stabilitäts- und Natürlich. Wachstumspakt im Hinblick auf die Beurteilung heran- zieht, ist doch selbstverständlich. Dem liegt deutsches Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interesse zugrunde. In Frankreich käme kein oppositio- Bitte schön, Herr Schauerte. neller Politiker auf die Idee, eine gegenteilige Auffas- sung zu vertreten.

Hartmut Schauerte (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Kollege Runde, Sie haben jetzt erläutert, wie der Schauen Sie sich einmal an, wie hoch der Anteil der Binnen- und Außenwert der europäischen Währung sein Kosten und der Lasten der deutschen Einheit an der Ver- soll. Welche Ursachen das haben mag, will ich jetzt da- schuldungsgrenze von 60 Prozent ist. Das ist ein ganz er- hingestellt sein lassen. Der Stabilitätspakt stellt aber heblicher Umfang. doch insbesondere auf eine grundsätzlich notwendige Begrenzung der Verschuldung ab. Entsprechend sind (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das galt aber Obergrenzen für die Staaten bei der Verschuldung fest- vor 1998 auch, Herr Kollege!) gelegt worden. Dazu haben Sie sich in der Vergangenheit ab und an ein- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mal bekannt. Das müssen Sie doch mit berücksichtigen. NEN]: Die Länder bei uns gehören auch (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Wieder- dazu!) vereinigung war doch 1990!) Muss ich Ihren jetzigen Ausführungen entnehmen, dass Aus meiner Sicht ist es absolut vernünftig, dafür zu Sie die Verschuldungsgrenze gar nicht ansprechen wol- sein, die Nettozahlerposition bei der Interpretation zu len, weil Sie glauben, dass wegen der Stabilität des Eu- beachten. Das entspricht doch unserem Interesse. Sie ha- ros mehr Schulden möglich, vielleicht sogar sinnvoll ben hier von Kuhhandel gesprochen. Der Zusammen- sein könnten, um einen zu hohen Wert des Euros wieder hang zwischen der Anerkennung von Sonderlasten und zu reduzieren? den Ausgaben für Europa ist gegeben. Sie müssten daher 14946 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Ortwin Runde (A) eigentlich die Position der Bundesregierung unterstüt- heruntergestiegen, weil die Realität sie eingeholt hat. Sie (C) zen. haben mittlerweile gemerkt, dass sie davon abhängig sind, dass die Wirtschaft in Deutschland wächst. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nein!) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Also wollen Sie Wenn man sich die europäische Ebene anschaut, dann doch mit mehr Schulden wachsen?) muss man sehen, dass der Pakt sinnvollerweise Zu- kunftsprobleme lösen sollte. Deutschland und andere Daher haben sie ein Interesse daran, dass der Stabilitäts- Länder haben Probleme mit der demographischen Ent- und Wachstumspakt so ausgelegt wird, dass er wirt- wicklung. Überall dort müssen der Arbeitsmarkt und die schaftliches Wachstum nicht abwürgt. Diese Erkenntnis sozialen Sicherungssysteme reformiert werden. Eine haben inzwischen auch unsere Nachbarländer. klare wirtschaftspolitische Erkenntnis ist: Zur Lösung dieser Probleme ist es notwendig, vorübergehend mehr (Beifall bei Abgeordneten der SPD – auszugeben. Anders sind diese Reformen nicht umsetz- Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist abenteu- bar und nicht durchsetzbar. Das bei der Bewertung zu erlich!) berücksichtigen ist im europäischen Interesse. Anreize Herr Meister, Sie haben das Thema Unternehmen- für Bildung und Forschung zu setzen muss doch unsere steuern angesprochen, aber das Desaster unerwähnt ge- Zielsetzung sein. lassen, das Ihre Steuersenkungsvorstellungen im Rah- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Aber nicht men der allgemeinen Steuerreform in der Anhörung mit Verschuldung finanzieren, Herr Runde!) erlebt haben, Dass Sie sich aus der gesamten Diskussion über die (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das stimmt doch Weiterentwicklung des Stabilitäts- und Wachstumspak- gar nicht! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: tes mit Ihrer fundamentalistischen Haltung – es gibt sie Fangen Sie nicht zu lügen an! Das ist doch gar sonst nirgendwo in Europa – ausklinken, führt Sie in die nicht notwendig!) totale Isolation und nimmt Ihnen jedes Recht, hier mit- in der alle gesagt haben: Angesichts der gegenwärtigen zudiskutieren. Situation der Staatsfinanzen sind weitere Steuersenkun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gen nicht machbar. – Das war das eindeutige Ergebnis. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dann müssen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie eine selektive Wahrnehmung gehabt ha- Herr Kollege Runde, erlauben Sie noch eine Zwi- ben!) schenfrage des Kollegen Michelbach? (B) Geht erst einmal daran – so war die Empfehlung der (D) Sachverständigen –, die Steuerschlupflöcher zu schlie- Ortwin Runde (SPD): ßen; Gerne. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Zitieren Sie einmal den Herrn Kirchhof!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Michelbach, bitte schön. wenn ihr dann gesehen habt, welche Auswirkungen das hat, könnt ihr euch über Steuersätze unterhalten! Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Meister – – Herr Kollege Runde, aus meiner Sicht tragen Sie hier eine sehr abenteuerliche Theorie vor. Ist es nicht eine (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist der Herr Tatsache, dass die Länder der Eurozone, die in den ver- Michelbach hier!) gangenen Jahren aufgrund von Reformen die Defizit- – Herr Michelbach. Herr Meister hat aber vorher gespro- quote eingehalten und damit den Pakt nicht gebrochen chen. haben, bei weitem nicht die Probleme Deutschlands ha- ben? Diese Länder haben mehr Wachstum und mehr Be- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Michelmeister! – schäftigung. Die Situation ist doch so, dass Deutschland Hans Michelbach [CDU/CSU]: Meister den Pakt nicht eingehalten und mehr Schulden gemacht Michelbach!) hat, wodurch genau diese Probleme entstanden sind. Ist Es waren Herr Michelbach und Herr Meister, die ein Un- es nicht so? ternehmensteuerkonzept angemahnt haben. Schauen Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sich einmal an, was Herr Merz seinerzeit geliefert hat! der FDP) ( [Heidelberg] [SPD]: Pein- lich!) Ortwin Runde (SPD): Die Ansage war: auf dem Bierdeckel, synthetische Ein- Herr Michelbach, ich muss sagen: Hier irren Sie sich. kommensteuer, keine duale Besteuerung. Sie sind inzwi- Die Holländer haben zeitweise, als sie noch in einer bes- schen in tiefe Nachdenklichkeit verfallen, seren Position gewesen sind, so argumentiert wie Sie. Schauen Sie sich einmal an, wie viele europäische Län- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das würde euch der sich in Schwierigkeiten befinden. Wenn Sie das tun, auch nicht schaden! – Dr. Uwe Küster [SPD]: dann werden Sie feststellen: Viele sind vom hohen Ross Ins Koma verfallen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14947

Ortwin Runde (A) haben deswegen auch noch eine Schreibhemmung. Zu Schande. Diese Regierung versündigt sich an zukünf- (C) der Frage, was Ihre steuerpolitischen Vorstellungen sind, tigen Generationen in Europa. haben Sie bisher nur weiße Blätter produziert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Georg Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir sind ja nicht auf Fahrenschon [CDU/CSU]: Herr Runde, was der Bundesbühne!) sagt denn der Bundeswirtschaftsminister dazu? Wie sieht der Bundeswirtschaftsminister 1996 haben die europäischen Finanzminister auf dem das?) EU-Gipfel in Dublin beschlossen, vor allem auf Druck von Deutschland, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu Eines noch zu der Funktion, die die Debatte über den gründen: Das jährliche Loch in der Staatskasse darf nicht Stabilitäts- und Wachstumspakt für Sie hat. Ich habe hier tiefer klaffen, als es 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts den Eindruck, dass Sie diese Debatte nur nutzen, um den entspricht, und der gesamte Schuldenberg des Staates Stabilitäts- und Wachstumspakt als Peitsche einzuset- darf sich nicht höher auftürmen als bis zu 60 Prozent der zen – in Richtung Flexibilisierung und Abbau in den Be- jährlichen Wirtschaftsleistung. reichen Tarifrecht, Mitbestimmung und Kündigungs- schutz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist ja Bisher gilt die Grenze von 3 Prozent. Wer die Grenze unfassbar!) von 3 Prozent überschreitet, verstößt gegen den Pakt. Da machen Sie sozusagen einen umgekehrten Helmut (Zuruf von der SPD: Das gilt noch nicht ein- Schmidt, mal bisher! England zum Beispiel!) (Zuruf von der CDU/CSU: Unfug!) Das hat jeder verstanden. Dass es jeder versteht, ist wichtig. Dies war vor allem für uns Deutsche ein ganz aber ohne ökonomischen Sachverstand. wichtiges Signal. (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Sie wollen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Er treibt noch den Letzten also lieber 5 Prozent Inflation! Sie wollen lie- mit seiner Traurigkeit aus dem Saal!) ber den echten Helmut Schmidt! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Zur Abwechslung Die dauerhafte Stabilität der Deutschen Mark war von können Sie einmal eine vernünftige Politik Anbeginn der Bundesrepublik Deutschland für die Men- machen!) schen in unserem Land Ausdruck wirtschaftlicher Stärke und Kontinuität. Diese Interpretation des Stabilitäts- und Wachstums- (B) (D) paktes werden wir natürlich nicht mitmachen, (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: So ist es!) (Beifall bei der SPD) Die deutsche Währung galt im Gegensatz zu vielen an- deren europäischen Währungen immer als Garant für weil das – jetzt komme ich wieder zu der Debatte heute Stabilität. Wir Deutsche hingen an unserer Mark. früh zurück – keine Konzeption für ein solidarisches Europa ist und keine Zukunftsvision für Europa sein Um die mit der Einführung des Euro verbundenen kann. Es ist eine ganz andere Vision, die Sie verfolgen. Sorgen und Ängste in der Bevölkerung, die es durchaus Sie wird unsere Unterstützung nicht finden. Wenn Sie gab, zu zerstreuen, setzte die damalige Bundesregierung sich der Realität annähern wollen, dann müssen Sie tat- bei der Einführung des Euro auf Aufstellung und strikte sächlich anders über den Stabilitäts- und Wachstumspakt Einhaltung strenger Stabilitätskriterien. Es war 1992 reden und dürfen nicht ständig nur die Zahl drei betonen; auch einmal gemeinsamer Wille dieses Hohen Hauses das ist nicht hinreichend. – wir haben es vorhin gehört –, sich jedem Versuch zu widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, die (Beifall bei der SPD – Dr. Andreas Pinkwart in Maastricht vereinbart worden sind. Was die Bundesre- [FDP]: An der wollen Sie doch auch festhal- gierung jetzt mit der Aufweichung des Stabilitäts- und ten! Das ist nicht zu glauben!) Wachstumspaktes plant, nennt man „Wegfall der Ge- schäftsgrundlage“. Es ist die Zerstörung der Basis, auf Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der das Vertrauen der Menschen in Deutschland in die Als nächster Redner hat der Kollege Olav Gutting neue Währung beruht. von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Andreas Pinkwart [FDP]) Die Forderung des Finanzministers und dieser Regie- rung, das Schuldenmachen nun zu erleichtern, bedeutet das Ende dieses Paktes. Olav Gutting (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Sie wollen die Kosten der Einheit, Sie wollen die Herren! Der Stabilitäts- und Wachstumspakt gefällt Zahlungen an Brüssel, Sie wollen Kosten für Bildung Herrn Eichel nicht. Dafür habe ich Verständnis; denn und anderes bei der Berechnung berücksichtigt wissen. Sünder mögen keine Gesetze. Aber was Sie von der Re- Wie wollen Sie bitte dann Ihren Fluchthelfern aus dem gierung auf europäischer Ebene mit der Aufweichung Stabilitäts- und Wachstumspakt Frankreich und Italien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes planen, ist eine verbieten, beispielsweise die Kosten für Militärausgaben 14948 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Olav Gutting (A) zu berücksichtigen? Wie wollten Sie Ihren Fluchthelfern Dr. Heinz Köhler (SPD): (C) dann erklären, dass das nicht geht? Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über zwei Anträge zum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Beiden Das wird Ihnen nicht gelingen, aber das stört Sie auch Anträgen ist gemeinsam, dass sie den Stabilitäts- und nicht. Diese Regierung weiß nämlich ganz genau um die Wachstumspakt erhalten wollen, um ein Funktionieren der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion si- verheerenden Auswirkungen ihres Handelns. cherzustellen. Dies drücken wir in unserem Antrag wie (Florian Pronold [SPD]: Wie lange haben Sie folgt aus: die Rede geübt?) Zur Sicherung der Stabilität der Europäischen Wirt- An ernsten und konkreten Warnungen hat es ja nicht ge- schafts- und Währungsunion (EWWU) sind solide fehlt, sei es von der Bundesbank oder anderen Experten. öffentliche Finanzen unabdingbar, die Währungs- union braucht auch in Zukunft ein funktionsfähiges Das haben wir ja alles schon gehört. und glaubwürdiges Instrument der finanzpoliti- Es geht dieser Regierung einfach nur noch darum, die schen Koordinierung. Macht zu sichern. Sie wollen im Wahljahr 2006 auf kei- Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat sich nach un- nen Fall ein Defizitverfahren haben. Genauso wie sich serer Auffassung in seiner Grundkonzeption bewährt. In SPD und Grüne derzeit in Schleswig-Holstein über den unserem Antrag heißt es daher weiter: Willen der Wähler hinwegsetzen, genauso setzt sich diese Regierung über alle Warnungen und Mahnungen Der Stabilitäts- und Wachstumspakt mit seinen we- beim Pakt hinweg. sentlichen Bestandteilen – der 3-Prozent-Defizit- grenze und der 60-Prozent-Schuldengrenze – hat in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – den letzten Jahren auch unter schwierigen wirt- Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Schlimm!) schaftlichen Rahmenbedingungen eine positive Wirkung auf die Finanzpolitiken in den Mitglied- Der Schaden, der dadurch entsteht, und die Lasten, die staaten der Währungsunion ausgeübt. Sie dadurch zukünftigen Generationen aufladen, schei- nen Sie dabei nicht zu interessieren. Wer allerdings, wie es verschiedentlich versucht wird und leider auch heute wieder versucht wurde, das dazu Die exzessive Verschuldungspolitik dieser Regierung notwendige Ringen als „Aufweichungsversuche“ diffa- ist ja auch gerade deshalb so schlimm, weil es die künfti- miert, schadet der Glaubwürdigkeit des Paktes. gen Generationen, die diese Rechnung bezahlen sollen, (B) gar nicht geben wird. Europa ist ja der Kontinent mit den (Beifall bei der SPD) (D) wenigsten Kindern. Europa hat nicht nur die wenigsten Durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt ist der Eu- Kinder, sondern weltweit auch das geringste Wirt- roraum heute finanzpolitisch besser aufgestellt als die schaftswachstum. USA und Japan. Während das Defizit im Euroraum im Jahre 2004 2,9 Prozent betrug, betrug es in den USA Ich bin froh, Frau Staatssekretärin Hendricks, dass Sie 4,2 Prozent und in Japan sogar 7,1 Prozent. vorhin gesagt haben, dass Sie kein kreditfinanziertes In- vestitionsprogramm planen. Ich hoffe, die ganze Regie- (Ortwin Runde [SPD]: Hört! Hört!) rung hat sich zwischenzeitlich von der Vorstellung ver- Auch die Inflation hat sich in engen Grenzen gehalten: abschiedet, Die Steigerungsraten der Verbrauchspreise lagen zwi- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Deren Glaub- schen 2000 und 2003 im Euroraum bei rund 2 Prozent, würdigkeit ist nicht sehr hoch!) in Deutschland sogar nur bei 1 Prozent. Das heißt, der Euro ist nach innen und außen stabil. der Staat könnte die Wirtschaft mit mehr Krediten hoch (Beifall bei der SPD) hieven. Wünschenswert wäre ein erhöhter Konsum, wünschenswert wäre eine erhöhte Investitionsbereit- Bei allen Erfolgen des Stabilitäts- und Wachstums- schaft. Hierzu brauchen wir aber verlässliche finanzpoli- pakts können wir die Augen aber nicht vor den Erfahrun- tische Rahmenbedingungen. Verlässliches Wachstum gen verschließen, die wir mit der Anwendung des Paktes wird es nur mit Stabilität geben und niemals ohne Stabi- in den vergangenen Jahren gemacht haben. Ein zentraler lität. Auslöser für die Reformdebatte war die Kontroverse über die Nutzung der im Vertrag und im Pakt enthaltenen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ermessensspielräume. Die bisherige Anwendung ließ eine Diskussion durch Kommission und Ecofin-Rat über Wer Hand an diesen Pakt legt, zerstört das Vertrauen der eine ökonomisch angemessene und richtige Finanzpoli- Menschen in diese Stabilität. tik völlig in den Hintergrund treten. Deswegen sind wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für eine Reform des Paktes. Eine solche Reform ist keine deutsche Erfindung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Auch sind wir deswegen in Europa nicht isoliert. Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Köhler von der (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Sie lesen SPD-Fraktion. die Zeitung wohl auch nicht mehr?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14949

Dr. Heinz Köhler (A) Schon vor längerer Zeit hat der damalige Präsident der Neben diesen ökonomischen Argumenten gibt es auch (C) EU-Kommission Romano Prodi den Pakt als „dumm“ politisch-institutionelle Gründe, weshalb eine Überar- bezeichnet. Zwischenzeitlich ist die Mehrheit der Mit- beitung des Stabilitäts- und Wachstumspakts nötig ist. gliedstaaten für eine Reform des Paktes. Selbst die Kom- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) mission als Hüterin der Verträge hat in ihrer Mitteilung vom 13. September 2004 eine Reihe von Reformvor- Das ist auch das Ziel unseres Antrages. Im Lichte die- schlägen gemacht. Insoweit ist die Zeit über den Antrag ser Überlegungen erscheint es nach unserer Ansicht an- der Union hinweggegangen. Er steht nicht mehr auf der gebracht, das wirtschaftspolitische Regelwerk zu stärken Agenda der europäischen Institutionen. und seine Anwendung zu verbessern. Verbesserung heißt in diesem Fall, den ökonomischen Gehalt der Regeln zu Warum will nun die Kommission eine Reform des erhöhen, um den größer gewordenen Unterschiedlich- Paktes? Bei der Umsetzung des Stabilitäts- und Wachs- keiten zwischen den Mitgliedstaaten einer EU der 25 tumspakts sind eben nicht nur Erfolge zu verbuchen. In besser Rechnung tragen zu können. einigen Ländern ist der Fortschritt in Richtung Schul- denabbau völlig unzureichend. Nach der Konzeption des EG-Vertrages dient das In- strumentarium der Haushaltsüberwachung zur Vermei- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Deutsch- dung schwerwiegender Fehler in der Haushalts- und Fi- land vorneweg!) nanzpolitik der Mitgliedstaaten. Der Vertrag selbst sagt: In diesem Jahr erfüllen lediglich fünf der zwölf Mitglie- Es ist keineswegs Ziel und Aufgabe der finanzpoliti- der des Euroraums die Hauptregel des Paktes. Mindes- schen Koordinierung, den Mitgliedstaaten in ihre tägli- tens drei Länder werden Defizite von über 3 Prozent des chen Geschäfte hineinzuregieren. Das ist Sache der ein- Bruttoinlandsprodukts haben, weitere drei wahrschein- zelnen Mitgliedstaaten und muss es auch bleiben. lich. (Beifall bei der SPD) (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Das sind die Um es an der 3-Prozent-Defizitgrenze festzuma- Zahlen vom letzten Jahr, Herr Kollege!) chen: Eine Finanzpolitik ist doch nicht immer gut, so- lange das Defizit noch bei 2,9 Prozent liegt, und sie ist – Das sind die Zahlen von diesem Jahr. auch nicht notwendigerweise schlecht, wenn das Defizit (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Nein, vom auf 3,1 Prozent steigt. Die Sicht der Union ist hier völlig letzten Jahr!) unökonomisch. (Beifall bei der SPD) Eine Reihe von ökonomischen Überlegungen steht (B) neben politischen und institutionellen Gesichtspunkten Es geht vielmehr darum, eine stabilitäts- und wachs- (D) hinter diesen Vorschlägen für ein ausgewogenes Anpas- tumsgerechte Ausrichtung der Finanzpolitik zu gewähr- sungspaket: leisten. Einzelne Zahlen können dies nicht aufzeigen, sondern nur eine fundierte Analyse; eine Gesamtschau Erstens. In Anbetracht der Unterschiede zwischen den ist also nötig. Mitgliedstaaten, was etwa wirtschaftliche Entwicklung oder Schuldenstand angeht, brauchen wir mehr Spiel- Oder wenn ein Land Strukturreformen umsetzt, die raum und ökonomisches Augenmaß bei der Beurteilung für mehr Wachstum und nachhaltige Finanzen entschei- der Budgetentwicklung in den einzelnen Mitgliedstaa- dend sind, aber zu einem Defizitanstieg über 3 Prozent ten. führen – sollte dann ein Verfahren eröffnet werden? Wir sagen, in diesen Fällen nicht. (Beifall bei der SPD) Ein zentrales Kriterium ist für uns die Konjunktur. Dieser Gesichtspunkt gewinnt vor dem Hintergrund der Neben starken Wirtschaftsabschwüngen sollten auch Pe- Erweiterung deutlich an Gewicht. Auf der Grundlage der rioden der Stagnation Berücksichtigung finden. Zudem bestehenden Vertragswerke sollen bestimmte Länderspe- ist zu bedenken, dass die Mitgliedstaaten zum Teil Son- zifika stärker in Rechnung gestellt werden, als es bisher derlasten zu schultern haben, die nicht primär Ausdruck geschehen ist. einer finanzpolitischen Entscheidung sind. Ich darf hier für Deutschland die hohe finanzielle Belastung durch die Zweitens mangelt es dem gegenwärtigen Regelwerk deutsche Einheit nennen. Eine weitere Sonderbelastung, an ausreichenden Anreizen, in wirtschaftlichen Auf- die von nationalen finanzpolitischen Erwägungen losge- schwungphasen haushaltspolitisch für schlechte Zeiten löst ist, sind die hohen Transfers an den EU-Haushalt. vorzusorgen. Wenn aber in guten Zeiten kein Haushalts- Auch solche Zahlungen sollten im Rahmen finanzpoliti- überschuss erwirtschaftet wird, wie soll dies dann in scher Analysen Berücksichtigung finden. schlechten Zeiten gelingen? Ich möchte noch einmal betonen: Es geht nicht um Drittens erwächst angesichts der demographischen ein „Rausrechnen“, sondern es geht um die Philosophie Entwicklung in Europa die Einsicht, dass langfristigen der Einzelfallbeurteilungen. Eine sinnvolle Anwendung Nachhaltigkeitsaspekten mehr Bedeutung beigemessen des Stabilitätspakts ist nur auf der Basis einer umfassen- werden muss, als es noch Mitte der 90er-Jahre der Fall den ökonomischen Analyse des jeweiligen Einzelfalls war. möglich. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) 14950 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Heinz Köhler (A) Insoweit sehen wir dem Europäischen Rat am 22. und bezahlten PR-Berater die Geschichten in Umlauf brin- (C) 23. März hoffnungsvoll entgegen und fordern Sie auf, gen lassen, dass er beim Putzen der Wohnung von der dem Antrag der Koalitionsparteien zuzustimmen. Leiter gefallen ist und seine Döner in der Imbissstube an der Ecke selbst kauft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heinz Der Finanzminister hat immer von einem ausgegli- Seiffert [CDU/CSU]: Um Gottes willen!) chenen Haushalt gesprochen. Dann hat er aber auf einmal gemerkt, dass es nicht leicht sein wird, einen sol- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: chen zu erreichen. Danach war von „nahezu ausgegli- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Peter chen“, also „close to balance“, die Rede. Von „close to Willsch. balance“ ist jetzt ebenfalls keine Rede mehr. Inzwischen geht es nur noch um das 3-Prozent-Kriterium. Aber (Beifall bei der CDU/CSU) selbst das kann er nicht einhalten. Haushalts- und finanz- politisch ist die Bilanz der Regierung katastrophal. Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und neten der FDP) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Staats- sekretärin, es hat Ihnen nicht gefallen, dass wir gesagt Statt aus der aktuellen Situation die richtigen haben, Sie wollten den Pakt eigentlich nicht mehr. Aber Schlüsse zu ziehen, macht Eichel genau das Falsche. Wir die Debatte hat es der deutschen Öffentlichkeit gezeigt: befinden uns in der Fastenzeit. Während dieser Zeit ver- Sie haben nur formal gesagt, Sie wollten den Pakt wei- suchen einige, ihre überflüssigen Pfunde, die sie im terhin; aber alles, was Sie inhaltlich gesagt haben, hat Winter angesammelt haben, loszuwerden. genau belegt, dass Sie mit einem Stabilitätsziel nichts (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das trifft aber auch anfangen können. Sie haben über die 3-Prozent-Grenze auf geistige Ergebnisse zu!) gesprochen, Frau Scheel. Aber Sie müssen sich einmal vor Augen führen, was eigentlich das Ziel ist, nämlich Wenn ich mir Herrn Eichels öffentliches Reden und ein ausgeglichener Haushalt. Eine Neuverschuldung von Handeln anschaue, dann kann ich Parallelen feststellen: 3 Prozent markiert dabei die Obergrenze. Er redet zwar die ganze Zeit vom Abnehmen, futtert aber sozusagen heimlich Pralinen, wenn er glaubt, keiner (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- würde ihm zuschauen. Wenn er auf der Waage feststellen neten der FDP) muss, dass sich nichts an dem Gewicht geändert hat, Ziel der Haushaltspolitik sollen ausgeglichene Staats- wirft er die Waage weg, anstatt die Pralinen wegzulas- (B) haushalte sein. sen. Das ist sein Konzept. (D) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Bei der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – CDU war das nicht oder wie?) Walter Schöler [SPD]: Das ist das Rezept „Kohl“!) Aber Sie reden nur noch über die Obergrenze der Neu- verschuldung von 3 Prozent und die halten Sie nicht ein- Sie legen in der Tat die Axt an den Stabilitätspakt. Sie mal ein, sondern überschreiten sie sogar um ein Viertel. wollen Forschungsausgaben, Bildungsausgaben und Und dafür sollen wir Sie noch loben? Das kann doch Nettozahlungen an die EU abziehen. Sie wollen die Kos- wohl nicht wahr sein! ten für Strukturreformen in den Sozialsystemen abzie- hen. Ich kann Ihnen noch weitere Anregungen geben: (Beifall bei der CDU/CSU – Christine Scheel Sie bekommen die Franzosen mit ins Boot, wenn Sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich vorschlagen, die Kosten für Überseedepartements und nicht verlangt!) für die Force de Frappe abzuziehen. Die Griechen be- Frau Hendricks, Sie hören es nicht gerne, wenn wir kommen Sie mit ins Boot, wenn Sie vorschlagen, die die Regierung kritisieren. Deshalb zitiere ich einmal Kosten für die Olympischen Spiele abzuziehen. Man einen Beobachter der politischen Szene. Hendrik könnte auch schon einmal an die Kosten für die Fußball- Munsberg kommentierte in der „Berliner Zeitung“ vom weltmeisterschaft im nächsten Jahr denken. Sie können 18. Februar dieses Jahres: sich eine Reihe von Ausweichkriterien ausdenken. Aber damit höhlen Sie den Pakt aus. Sie wollen diesen Pakt Der Euro-Stabilitätspakt ist erledigt, mausetot. nicht, weil Sie nie den Zusammenhang zwischen Stabili- Hauptverantwortlich dafür sind Kanzler Gerhard tät und Wachstum in der Volkswirtschaft verstanden ha- Schröder und sein Erfüllungsgehilfe Hans Eichel. ben. Das ist das Problem. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das Der Kanzler und der Finanzminister tragen die Mei- sind zwei Namen für die Katastrophe!) nung vor, dass zu viel Gewicht auf Stabilität und zu we- nig auf Wachstum liege, es heiße aber doch „Stabilitäts- Man muss sich in diesem Zusammenhang einmal da- und Wachstumspakt“. Wenn das richtig wäre, dann ran erinnern, wie sich der Finanzminister in der Öffent- müsste jetzt irgendwann einmal, nachdem Sie dieses lichkeit dargestellt hat: Er hat sich bevorzugt mit Spar- Jahr das 3-Prozent-Kriterium zum vierten Mal in Folge schweinen ablichten lassen und er hat durch seinen hoch reißen, eine positive Entwicklung auf der Wachstums- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14951

Klaus-Peter Willsch (A) seite eintreten. Aber das Gegenteil ist richtig: Die Welt- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) wirtschaft wächst mit 5 Prozent, die Wirtschaft in Den mag es geben; aber den werde ich nicht erfül- Europa mit 2,3 Prozent und Deutschlands Wirtschaft mit len. – Bitte. 1,5 Prozent. Das ist Ihre magere Bilanz. Außerdem be- findet sich der Arbeitsmarkt im freien Fall. Man spricht Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): schon von offiziell 5,2 Millionen Arbeitslosen. Jeden Tag gehen in Deutschland über 1 000 reguläre Beschäfti- Bitte, die Zwischenfrage. gungsverhältnisse verloren. Diese Arbeitsplätze sind futsch. Dafür sind Sie verantwortlich. Und Sie wollen ein- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): fach das Regelwerk ändern, nur weil Sie es nicht einhalten Herr Kollege Willsch, ist Ihnen bekannt, dass in die- können! Was ist denn das für eine miserable Politik? sem Haus, aber auch weit darüber hinaus die Bereit- schaft besteht – Sie wissen das sicherlich als Mitglied (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des Unterausschusses zu Fragen der Europäischen Sie müssen sich einmal deutlich vor Augen führen, Union –, die Bundesregierung dabei, die Kriterien einzu- was Sie mit Ihrer Politik in Europa anrichten. Beim Fall halten, in der Weise zu unterstützen, dass wir uns darauf des Eisernen Vorhangs und bei der Öffnung der EU ha- verständigen, dass die Ausgaben für den künftigen ben wir uns vorgenommen, ein Europa der Stabilität zu Finanzplanungszeitraum der EU auf 1 Prozent des Brut- schaffen. Wir haben die Maastricht-Kriterien in den tonationaleinkommens begrenzt werden sollen? Ich habe Acquis communautaire aufgenommen. Dieses Regel- gerade recherchiert, dass es einen gleich lautenden Kabi- werk galt für Länder, die beitreten wollten und jetzt bei- nettsbeschluss der Bayerischen Staatsregierung gibt. getreten sind. Es gilt auch für die Transformationsländer, Sind Sie mit mir darin einig, dass damit die Aussagen die dazukommen wollen, die also Kandidatenstatus ha- der Frau Staatssekretärin, die sie vorhin gemacht hat, wi- ben. Diesen Ländern wird gesagt, sie müssten eine or- derlegt sind? dentliche Haushaltspolitik vorweisen, um Mitglied in der Europäischen Union zu werden. Wie soll jemand an der Spitze eines solchen Landes seiner Bevölkerung er- Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): klären, dass Anstrengungen notwendig sind und dass Herr Kollege Kalb, ich kenne kein CDU/CSU-regier- man harte Schnitte machen muss, um die Strukturen zu tes Land, das für eine Ausweitung der Finanzierungsba- ändern, wenn wir, die wir diesen Pakt durchgesetzt ha- sis der EU in dem Sinne ist, ben, diejenigen sind, die mit diesem Pakt plötzlich nichts (Elke Ferner [SPD]: Handeln alle auch so? – mehr zu tun haben wollen? Damit versündigen Sie sich [SPD]: In Thüringen ist es an Europa. Wir waren auf einem guten Wege, ein Europa aber so!) (B) der Stabilität zu schaffen. (D) wie das hier vorgetragen wurde. Ich glaube wohl, dass es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – in der Bayerischen Staatsregierung einen einschlägigen Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ihr habt ihn aber prophylaktisch ruiniert durch Ver- Beschluss dazu gibt. Wie gesagt, das gilt darüber hinaus schuldung! Ihr habt ihn ruiniert!) aber auch für andere unionsgeführte Länder. Inzwischen werden von Ihren Büchsenspannern im Einen Appell richte ich zum Abschluss an den Kanz- Finanzministerium – Frau Hendricks, Sie haben dies ler, der sich anlässlich des Bush-Besuches bemüßigt zwar vorhin dementiert, aber es gibt offenbar entspre- fühlte, an den Vergleich zu erinnern, wer Koch und wer chende Überlegungen – Konjunkturprogramme ange- Kellner ist. Gerade an dem Beispiel des Ausbaus des kündigt. Einige Tagesordnungspunkte später können Sie Flughafens in Frankfurt kann der Kanzler zeigen, ob er heute ein Konjunkturprogramm ohne einen Steuereuro den Kellner zum Laufen bringt und die Grünen endlich beschließen. Da reden wir über die Zukunft des Luftver- bereit sind, Notwendigkeiten im Hinblick auf Zukunfts- kehrsstandortes Deutschland. Sie sind nicht in der Lage, märkte zu berücksichtigen, anzuerkennen, und er kann dazu Ja zu sagen. Da geht es um eine Investition von dafür sorgen, dass investiert wird und Arbeitsplätze in 3,5 Milliarden Euro und um zusätzliche Arbeitsplätze. diesem Land entstehen und nicht das Gegenteil ge- schieht. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Herr Kollege, es besteht die Bitte nach einer Zwi- schenfrage. Ihre Redezeit ist aber schon abgelaufen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erlaube Ihnen, diese Zwischenfrage zu beantworten. Ich schließe damit die Aussprache. Aber dann können Sie nicht mehr in Ihrer Rede fortfah- ren. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzaus- schusses auf Drucksache 15/4915. Der Ausschuss emp- fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Es gibt vonseiten der SPD den dringenden Wunsch, Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3957 mit dass ich fortfahren darf. dem Titel „Stabilitäts- und Wachstumspolitik fortset- (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zurufe von zen – Den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt der SPD: Nein!) stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des 14952 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ausschusses? – Gegenprobe! – Gibt es Enthaltungen? – Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie (C) Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der der Abgeordneten Rainder Steenblock, Albert Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der beiden Op- Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), weite- positionsparteien angenommen. rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Verkehrssicherheit in der Seeschifffahrt ver- Drucksache 15/3719 mit dem Titel „Für eine stabile bessern – Alkoholmissbrauch konsequent be- Wirtschafts- und Währungsunion – europäischen Stabili- kämpfen täts- und Wachstumspakt nicht ändern“. Wer stimmt für – Drucksache 15/4942 – diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Innenausschuss gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP ange- Rechtsausschuss nommen worden. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 e sowie Zusatzpunkt 1 auf: Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. 27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an des Reisekostenrechts die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4114 soll – Drucksache 15/4919 – zusätzlich an den Ausschuss für Familie, Senioren, Überweisungsvorschlag: Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Gesund- Innenausschuss heit und Soziale Sicherung überwiesen werden. Sind Sie b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Entwurfs eines … Gesetzes zur Erleichterung Überweisungen so beschlossen. der Verwaltungsreform in den Ländern (… Zuständigkeitslockerungsgesetz) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 l sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf. Es handelt sich um die – Drucksache 15/4114 – Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- Überweisungsvorschlag: che vorgesehen ist. Innenausschuss (f) (B) Rechtsausschuss Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 28 a. Ich rufe (D) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Landwirtschaft von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des 14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepublik Hochbaustatistikgesetzes Deutschland und der Republik Indonesien über die Förderung und den gegenseitigen – Drucksache 15/4738 – Schutz von Kapitalanlagen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) – Drucksache 15/3882 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes – Drucksache 15/4824 – – Drucksache 15/4739 – Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Abgeordneter Christian Müller (Zittau) Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt Haushaltsausschuss unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzent- wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Stimmt Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Ver- jemand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz- waltungsgerichtsordnung entwurf ist damit einstimmig angenommen worden. – Drucksache 15/2417 – Ich rufe auf: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Innenausschuss von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll Faße, , Gerd Andres, weiterer vom 26. August 2003 zu dem Vertrag vom Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14953

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) 28. Februar 1994 zwischen der Bundesrepu- Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt (C) blik Deutschland und der Republik Moldau unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzent- über die Förderung und den gegenseitigen wurf anzunehmen. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Schutz von Kapitalanlagen Sie zustimmen wollen. Gibt es Gegenstimmen? – Ent- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- – Drucksache 15/3883 – nommen worden. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) Ich rufe auf: – Drucksache 15/4824 – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Berichterstattung: eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. März Abgeordneter Christian Müller (Zittau) 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt land und der Republik Tadschikistan über die unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzent- Förderung und den gegenseitigen Schutz von wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- Kapitalanlagen entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. – Drucksache 15/3886 – Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen (Erste Beratung 135. Sitzung) worden. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Ich rufe auf: ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des – Drucksache 15/4824 – von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Juli Berichterstattung: 2000 zwischen der Regierung der Bundesrepu- Abgeordneter Christian Müller (Zittau) blik Deutschland und der Palästinensischen Befreiungsorganisation zugunsten der Palästi- Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt nensischen Behörde über die Förderung und unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen sache 15/4824, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- – Drucksache 15/3884 – len, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? – Gibt es (B) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- (D) ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) nommen worden. – Drucksache 15/4824 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 b auf: Berichterstattung: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Abgeordneter Christian Müller (Zittau) richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt un- und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der Un- ter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf terrichtung durch die Bundesregierung anzunehmen. Ich bitte Sie wiederum, sich zu erheben, Arbeitsdokument der Kommission wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer Einbeziehung von Umweltbelangen in andere stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz- entwurf ist einstimmig angenommen worden. politische Bereiche – eine Bestandsaufnahme des Cardiff-Prozesses Ich rufe auf: KOM (2004) 394 endg.; Ratsdok. 10251/04 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksachen 15/3696 Nr. 2.12, 15/4471 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Änderungs- und Ergänzungsprotokoll Berichterstattung: vom 14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepu- Abgeordnete blik Deutschland und der Republik Polen zu Josef Göppel dem Vertrag vom 10. November 1989 zwischen Winfried Hermann der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für – Drucksache 15/3885 – diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Gibt es Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) fehlung ist einstimmig angenommen worden. – Drucksache 15/4824 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 c auf: Berichterstattung: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Abgeordneter Christian Müller (Zittau) richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und 14954 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag Tagesordnungspunkt 28 f: (C) der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), , Eduard Oswald, weiterer Abgeordne- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ter und der Fraktion der CDU/CSU richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesre- Flexibilität für das Schaustellergewerbe gierung Einhundertfünfzigste Verordnung zur Ände- – Drucksachen 15/3490, 15/4483 – rung der Einfuhrliste – Anlage zum Außen- Berichterstattung: wirtschaftsgesetz – Abgeordnete Heidi Wright – Drucksachen 15/4703, 15/4779 Nr. 2.1, 15/4877 – Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- sache 15/3490 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Berichterstattung: schlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstim- Abgeordnete Gudrun Kopp men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord- mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen nung der Bundesregierung auf Drucksache 15/4703 gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenom- nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- men. fehlung? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 d auf: worden. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Petitionsausschusses. Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag Tagesordnungspunkt 28 g: der Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Stabilisierung und Weiterentwicklung des ge- nossenschaftlichen Wohnens Sammelübersicht 184 zu Petitionen – Drucksache 15/4856 – – Drucksachen 15/4043, 15/4693 – (B) Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Ent- (D) Berichterstattung: haltungen? – Sammelübersicht 184 ist einstimmig ange- Abgeordneter Klaus Minkel nommen worden.

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- Tagesordnungspunkt 28 h: sache 15/4043 in der Ausschussfassung anzunehmen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- ausschusses (2. Ausschuss) stimmen? – Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Sammelübersicht 185 zu Petitionen CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. – Drucksache 15/4857 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 e auf: Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Sammelübersicht 185 wurde ebenfalls einstim- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- mig angenommen. richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu- Tagesordnungspunkt 28 i: nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Änderung der Geschäftsordnung des Deut- ausschusses (2. Ausschuss) schen Bundestages Sammelübersicht 186 zu Petitionen hier: § 122 a (Elektronische Dokumente) – Drucksache 15/4858 – – Drucksache 15/4798 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Berichterstattung: gen? – Sammelübersicht 186 ist ebenfalls einstimmig Abgeordnete Dr. Uwe Küster angenommen worden. Dr. Ole Schröder Tagesordnungspunkt 28 j: Volker Beck (Köln) Jörg van Essen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Sammelübersicht 187 zu Petitionen genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- lung ist einstimmig angenommen worden. – Drucksache 15/4859 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14955

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Ent- Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP (C) haltungen? – Sammelübersicht 187 ist einstimmig ange- abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Ge- nommen worden. schäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 28 k: Nun kommen wir zur Abstimmung über Zusatz- punkt 2 b, die Beschlussempfehlung des Rechtsaus- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- schusses zu einer Streitsache vor dem Bundesverfas- ausschusses (2. Ausschuss) sungsgericht, Drucksache 15/4944. Der Rechtsausschuss Sammelübersicht 188 zu Petitionen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu – Drucksache 15/4860 – bitten, einen Prozessvertreter für den Deutschen Bundes- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tag zu bestellen. Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegen- tungen? – Sammelübersicht 188 ist mit den Stimmen stimmen oder Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim- lung ist einstimmig angenommen worden. men von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf: Tagesordnungspunkt 28 l: Aktuelle Stunde Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- auf Verlangen der Fraktion der SPD ausschusses (2. Ausschuss) Klage des Landes Hessen gegen Finanzzuwei- Sammelübersicht 189 zu Petitionen sungen des Bundes an das „Kompetenzzent- rum Bologna“ der Hochschulrektorenkonfe- – Drucksache 15/4861 – renz – Konsequenzen für die auf europäischer Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Ebene vereinbarte Reform des Hochschulwe- tungen? – Sammelübersicht 189 ist mit den Stimmen sens in Deutschland von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat der Abge- Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. ordnete Ernst Dieter Rossmann das Wort. Zusatzpunkt 2 a und 2 b: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): derung des Gesetzes über das Wohnungseigen- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) tum und das Dauerwohnrecht (D) Der hessische Ministerpräsident hat – Drucksache 15/3423 – nun doch Verfassungsklage gegen das HRK-För- (Erste Beratung 135. Sitzung) derprogramm … eingereicht. Koch gefährdet damit einen bundesweiten Reformprozess, den auch das Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Land Hessen bislang voll mitgetragen hat. ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Drucksache 15/4469 – So lautete der entsprechende Kommentar des Präsiden- Berichterstattung: ten der Hochschulrektorenkonferenz, Herrn Professor Abgeordneter Klaus Minkel Gaehtgens. Er hat dazu noch klarer ausgeführt: b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Koch torpediert ein sinnvolles Programm aus Grün- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) den, die mit den Hochschulen nichts zu tun haben. zu der Streitsache vor dem Bundesverfas- Wir erwarten von der CDU/CSU, dass sie heute Stel- sungsgericht 2 BvR 249/04 lung dazu nimmt, ob sie gegen das Vorgehen Kochs ist – Drucksache 15/4944 – oder mit dem Torpedo Koch die Hochschulpolitik in Deutschland blockieren will, hintertreiben will, kaputt- Berichterstattung: machen will. Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir kommen zunächst zur Abstimmung über Zusatz- der FDP) punkt 2 a, den Gesetzentwurf des Bundesrats zur Ände- rung des Gesetzes über das Wohneigentum und das Dau- Wenn es um das grundlegende Ziel ging, dass mit erwohnrecht, Drucksache 15/3423. Der Ausschuss für dem 1997/1999 eingeleiteten so genannten Bologna-Pro- Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf zess ein europäischer Hochschulraum zu schaffen ist, ha- Drucksache 15/4469, den Gesetzentwurf abzulehnen. ben wir ja immer Einigkeit gehabt. Wir haben es ge- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen meinsam für ausgesprochen sinnvoll gehalten. wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – 40 europäische Staaten sind jetzt dabei. Wir sind stolz Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- darauf, dass in Deutschland in allen Hochschulgesetzen ter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/ – vom Bund bis zu den Ländern – das Fundament für 14956 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) diesen Bologna-Prozess mit gelegt worden ist. Die Bil- die Exzellenz an Hochschulen, in einer sehr gut ausgear- (C) dungsministerin des Bundes und die Vertreterin der Län- beiteten programmatischen Form. der, Frau Erdsiek-Rave aus Schleswig-Holstein, konnten Da ist es natürlich die Spitze, wenn sich ein Minister- neulich erst mitteilen, dass über 26 Prozent der Studien- präsident, der offensichtlich kein Verhältnis zu seinen gänge schon umgestellt worden sind. Hochschulen gewinnt – weil er sie weder in seinem Land Es gibt ein breites Bündnis dafür, diesen sinnvollen fördert Prozess in Europa und in Deutschland konstruktiv aus- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Bildungsfeindlich zubauen. Ich nenne als Mitwirkende der Arbeitsgruppe ist er!) „Fortführung des Bologna-Prozesses“ das Bundesbil- dungsministerium, die Kultusministerkonferenz, die noch ihnen über die Hochschulrektorenkonferenz den Hochschulrektorenkonferenz, den Deutschen Akademi- Freiraum lässt, sich selbst zu entwickeln –, hier jetzt schen Austauschdienst, die Vereinigung der Studieren- auch noch als „Torpedo“ – so Gaehtgens; Sie wissen, den; sie alle arbeiten daran. Die Studierenden klären auf was das bedeutet – betätigt. An der Stelle gibt es eine und werben, Gewerkschaften und Arbeitgeber sorgen kleine Hoffnung: Herr Koch ist der einzige solche Mi- dafür, dass Abschlüsse anerkannt werden und Gewicht nisterpräsident. bekommen, der DAAD führt ein mit EU- und Bundes- (Jörg Tauss [SPD]: Schlimm genug!) geldern finanziertes Programm durch und die Hoch- schulrektorenkonferenz tut das, was ihre Pflicht ist: Sie Wir haben in dieser Debatte einen Wunsch: Wir wün- will diesen Prozess vorantreiben und besser organisie- schen uns, dass die CDU/CSU eine klare Antwort gegen ren. Sie hat dazu eine breite Palette an Initiativen. Sie hat Herrn Koch findet, damit Herr Koch in der deutschen zum Beispiel einen Wettbewerb ausgelobt, an dem sich Öffentlichkeit der Einzige bleibt. Hochschulen beteiligen können – von den 365 deutschen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hochschulen haben sich 129 dafür interessiert –, in ei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nem Auswahlprozess Mittel für sich zu gewinnen, um beispielhaft an 20 Hochschulen verteilt über Deutsch- Vor den Rektoren, vor den Studenten, vor den Hoch- land ein Netzwerk mit personeller Unterstützung und schulen, vor der deutschen Öffentlichkeit muss heute Kompetenz so aufzubauen, dass dieser europäische Bil- hier klar werden: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dungsprozess beispielhaft für alle Hochschulen steht und sucht keine Ausflüchte, sie ergeht sich nicht in juristi- von ihm gelernt werden kann. Die Projektmittel, die da- schen Kleinigkeiten, sie findet eine klare Linie zum Bo- für notwendig sind, sind von der Hochschulrektorenkon- logna-Prozess und zur Projektinitiative der Hochschul- ferenz eingeworben worden. 4,4 Millionen Euro sollen rektorenkonferenz – gegen Herrn Koch. Das ist Ihre (B) aufgeteilt werden; es hat erste Konferenzen dazu gege- Gelegenheit; nutzen Sie sie! Oder Sie machen sich mit- (D) ben. Zum 1. April dieses Jahres soll das Projekt begin- schuldig. nen. So weit die Sachlage. Danke schön. In dieser Situation strengt Herr Koch eine Verfas- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sungsklage an! Dass das von der Hochschulrektorenkon- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ferenz als empörende Blockade, Torpedierung, Unter- bindung von etwas, was im Interesse aller sinnvoll ist, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wahrgenommen wird, darf niemanden wundern. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bergner. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Über diese Empörung muss man sich umso weniger Kollege Rossmann, wenn Sie mit Ihren Ausführungen wundern, als das Ganze eine Vorgeschichte hat: Die unterstreichen wollten, dass sich die deutsche Wissen- Fachminister, alle Gutwilligen, die etwas für Bildung schaftspolitik – und ich betone: Politik; gottlob! nicht und Forschung und Wissenschaft in Deutschland tun die deutsche Wissenschaft – in einer Krise befindet, so wollen, haben sich schon einmal von den CDU/CSU- können wir das gerne gemeinsam feststellen. Ministerpräsidenten bös hintergangen fühlen müssen: als der Pakt für Forschung – für viele Jahre 3 Prozent Mit- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wird’s telzuwachs für die großen Wissenschaftsorganisationen jetzt pastoral?) zu garantieren – aus nicht sachlichen Gründen hintertrie- – Nein, nein, es wird gar nicht pastoral; ich fürchte, Sie ben worden ist, blockiert worden ist. werden am Ende der Rede einen ganz anderen Eindruck (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie drohen ja!) Man muss sich auch nicht wundern, dass sich die Re- Wir sollten uns zunächst einmal klar machen, worum präsentanten von 365 Hochschulen in Deutschland von es geht. Es geht zuerst darum, dass zwischen den Erwar- der CDU/CSU hintergangen fühlen, wenn das Exzel- tungen und Ansprüchen der Politik und der öffentlichen lenzprogramm blockiert wird: 1,9 Milliarden Euro für Finanzierung der Wissenschaft eine Lücke klafft. In die- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14957

Dr. Christoph Bergner (A) ser Lücke bewegen sich der Bund und das Bundesminis- Kasparick gefragt habe, wie er die Länder in das Förder- (C) terium, die nur Zuwendungstitel zu verantworten und es programm „Kompetenzzentrum Bologna“ einbezogen damit sehr viel leichter als die Länder haben, die sich mit hat, hat er mit dem ihm eigenen Charme des Überlege- sehr viel verbindlicheren Personalausgaben herumschla- nen gesagt, das sei kein Förderprogramm. gen müssen. Wenn Sie das vorurteilsfrei analysieren, (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Marion dann müssen Sie sagen, dass der Bund in dieser Frage Seib [CDU/CSU]: Hört! Hört!) mit den Ländern in einer Weise umgeht, die zu einer Diskussion geführt hat, in der man sachliche Einwände Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass gar nicht mehr von Finanzierungsvorbehalten unter- Herr Rossmann den Begriff „Förderprogramm“ in sei- scheiden kann. In diesem Finanzpoker werden nun auch nem Beitrag heute hier genannt hat. Über den Begriff noch gezinkte Karten eingeführt, „Förderprogramm“ oder „Nichtförderprogramm“ will ich gar nicht streiten, es geht mir um die schlichte Frage, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Na, na, na!) ob der Bund mit seinen Zuwendungsmitteln weil man auf Einnahmetitel ohne rechtliche Vorausset- (Peter Dreßen [SPD]: Er macht eine sinnvolle zungen verweist, beispielsweise die Eigenheimzulage. Politik damit!) Bei all diesen Vorschlägen geht es Ihnen also nicht laufend Programme durchführen und gewissermaßen um eine Lösung für unser Wissenschaftssystem, sondern eine Rosinenpickerei anstatt einer mit den Ländern ein- um die Außenwirkung. Beim Hören Ihres Debattenbei- vernehmlichen Politik betreiben kann, ohne sich mit den trages habe ich den Eindruck gewonnen, dass es Ihnen Ländern abzustimmen; diese Abstimmung hat nämlich auch bei dieser Debatte mehr um die Außenwirkung als nicht stattgefunden. um die Lösung eines wirklich vorhandenen Problems geht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Ich verstehe den Antrag, den die Landesregierung SPD: Das ist doch ein Armutszeugnis und Hessen beim Bundesverfassungsgericht gestellt hat, so armselig! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Gehen Sie (Jörg Tauss [SPD]: Prozesshanselei!) mal auf das Thema ein!) – auch die anderen Anträge haben Sie so genannt –, dass Diese Propagandaschlacht verdeckt den prekärsten aller man sich in Verhältnissen, die wirklich als zerrüttet gel- Befunde: Noch nie in der Geschichte des Bundesminis- ten müssen, zunächst einmal um die Klärung der rechtli- teriums für Bildung und Forschung bzw. der Bundesmi- chen Fragen bemühen muss, durch die das Bundesbil- nisterien für Bildung und für Forschung hat es ein so dungsministerium endlich dazu gezwungen wird, sich (B) zerrüttetes Verhältnis zwischen dem Bund und den Ver- (D) gegenüber den Ländern rechtstreu zu verhalten und die antwortlichen in den Ländern gegeben. Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir zu einer (Jörg Tauss [SPD]: Dank Koch!) Bildungs- und Forschungspolitik aus einem Guss kom- men können. – Entschuldigung, wer sitzt denn im Bundesbildungsmi- nisterium und wer erstellt Novellen des Hochschulrah- (Beifall bei der CDU/CSU) mengesetzes, die vor dem Verfassungsgericht scheitern? Ich sage noch einmal: Die Wissenschaftspolitik in (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie verteidigen das Ver- Deutschland befindet sich in einer Krise, die wir ernst halten doch! Sie sind der Chefverteidiger!) nehmen sollten. Wenn wir so weitermachen, wie Frau Bulmahn in den letzten Jahren vorgegangen ist, dann Sie können doch keinen Vergleich mit früheren Verant- wird aus der Krise der Wissenschaftspolitik eine Krise wortungsträgern im Bundesbildungsministerium ziehen der Wissenschaft. und dabei Ihre Verantwortung für die völlig zerrütteten Verhältnisse von sich weisen. ( [SPD]: Eiertanz!) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da laviert Dies können wir nicht wollen. Wir sollten alle Anstren- einer!) gungen unternehmen, dies zu verhindern. Nein, Frau Bulmahn hat ihre Politik mehr auf Außenwir- Herzlichen Dank. kung denn auf Problemlösung und Moderation unter- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter schiedlicher Länderinteressen ausgerichtet. Das ist un- Rossmann [SPD]: Das war eine Nullrede!) sere Kritik. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: SPD: Zum Thema!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske. – Das gehört zum Thema. Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. [SPD]: Ein Koch ver- NEN): dirbt den Brei!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Zusammenhang gehört auch eine Initiative, Herr Bergner, ich stelle fest: Sie haben die Chance, sich die ich bereits in einer Fragestunde im November hinter- in angemessener Weise von den Obstruktionsplänen des fragt habe. Als ich den Parlamentarischen Staatssekretär Herrn Koch zu distanzieren, nicht wahrgenommen. 14958 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Reinhard Loske (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Offenbar soll die Situation an unseren Universitäten (C) und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Die erste noch schlechter werden, um ihren Zustand hinterher als Chance vertan!) miserabel kritisieren und daraus ein politisches Süpp- chen kochen zu können. Auch das nenne ich verantwor- Es herrscht politisches Einvernehmen darüber, dass tungslos. unser Wissenschafts- und Hochschulsystem an einem kritischen Punkt angelangt ist. Da bin ich relativ sicher. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Vier Re- den habt ihr noch!) Den Vogel schießt jetzt aber Ministerpräsident Koch ab – das muss ich schon sagen –, der dem Bund verbieten Die Frage, um die es heute geht, muss lauten: Wie kön- will, den Bologna-Prozess, also die zügige Einführung nen wir unsere Hochschul- und Forschungseinrichtun- von Bachelor- und Masterstudiengängen in Deutschland, gen international weiter nach vorne bringen und sie bes- modellhaft an einigen Hochschulen zu unterstützen. Da ser machen? Darüber müssen wir uns unterhalten. Die kann man sich nur an den Kopf fassen. Ich frage mich: Frage, die uns bewegen sollte, ist, was zur Erreichung Warum macht der Herr das? Will er den Universitäten dieser Ziele notwendig ist. Einerseits sind jede Menge gezielt Mittel vorenthalten? Welche Strategie steckt da- Strukturreformen notwendig, etwa mehr Finanz- und hinter? Ich kann beim besten Willen nichts anderes als Personalautonomie für die Hochschulen, mehr Möglich- Obstruktion und bewusste Schädigung der Hochschulen keiten, inhaltliche Akzente und Profile herauszubilden, erkennen. und ein modernes Wissenschaftstarifvertragsrecht. Alles in allem brauchen wir Strukturreformen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: All das, was Sie versucht haben, zu verhindern!) Das Ganze wäre eventuell halb so schlimm, Herr Bergner, wenn Stoiber, Koch und Teufel erklärten, dass Andererseits brauchen wir mehr Geld und mehr Zu- sie das Geld vom Bund nicht annehmen, sondern die sammenarbeit. Hochschulen selber unterstützen wollen. Was aber (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kommt? Es kommt gar nichts. Dieser Einsicht verweigern sich im Moment vor allen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dingen drei Ministerpräsidenten, nämlich die Herren und bei der SPD) Teufel, Stoiber und Koch. Das ist verantwortungslos. Es kommen nur schöne Worte, aber kein zusätzliches Geld. Das passt doch vorne und hinten nicht zusammen. (B) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Jörg Man kann doch nicht das Geld des Bundes, der sich en- Tauss [SPD]: Schlimm genug!) gagiert, ablehnen, weil er als nicht zuständig angesehen wird, aber selber keinen Euro beisteuern wollen. Ich Aus fadenscheinigen Kompetenzgründen blockieren Sie frage Sie ernsthaft, wie Sie das kommunizieren wollen. mehr Mittel für Hochschulen und Forschungseinrichtun- Damit werden Sie große Schwierigkeiten haben. gen. Aber am schlimmsten ist, dass Stoiber, Teufel und Koch Wissenschaftler und Studierende quasi in Geisel- Es kommt sogar noch schlimmer. Die Leute, die den haft nehmen, weil sie eitel auf ihre Alleinzuständigkeit Universitäten das Geld verweigern, blockieren im Bun- in Sachen Bildung und Hochschule pochen und jede Ko- desrat die Abschaffung der Eigenheimzulage und geben operation verweigern. Das muss man einmal feststellen. lieber Geld für Beton aus, anstatt Geld in die Köpfe zu investieren. Das passt doch alles nicht zusammen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Das Diese Herren blockieren den Pakt für Forschung und tut weh!) Innovation, der den großen Forschungseinrichtungen ei- nen jährlichen Mittelzuwachs von 3 Prozent für die Herr Kollege Rossmann hat das wunderbar beschrie- nächsten Jahre garantieren würde. Dazu kann ich nur sa- ben. Deswegen will ich das gar nicht im Detail machen. gen: Das ist verantwortungslos. Diese Herren blockieren Sie sollten ernsthaft über Folgendes nachdenken: Wenn die Exzellenzinitiative zur Förderung unserer Universi- sämtliche Wissenschaftsorganisationen, vertreten durch täten. Die Universitäten wollen das Programm, weil es die Deutsche Forschungsgemeinschaft, den Wissen- ihnen in den nächsten Jahren 1,9 Milliarden Euro zusätz- schaftsrat und die Hochschulrektorenkonferenz, die liche Mittel bringen würde. International findet dieses CDU/CSU-geführten Länder bitten, sie aus der Geisel- Programm große Anerkennung. Wer aber will es nicht? haft zu entlassen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Neh- Wiederum die Herren Koch, Stoiber und Teufel. men Sie das ernst! (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Unerhört!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Ich komme nicht umhin, dieses Verhalten als „bildungs- Oh!) politische Sonthofenstrategie“ zu bezeichnen. Stoppen Sie die hochschul- und forschungspolitische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Geisterfahrt der Herren Koch, Stoiber und Teufel! Stop- und bei der SPD) pen Sie ihre Blockadepolitik im Bundesrat und helfen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14959

Dr. Reinhard Loske (A) Sie mit, Deutschland forschungs- und hochschulpoli- Das würde von uns auch vehement abgelehnt. Aber ge- (C) tisch wieder weiter nach vorne zu bringen. Darum geht nau darum geht es eigentlich nicht. es. Nur das interessiert die Leute, nicht das Hin und Her und das Pingpong, das teilweise hier gespielt wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Danke schön. Die Universität Konstanz schreibt zu Recht: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Der Vorwurf Kochs, mit der finanziellen Hilfe für einzelne Hochschulen … greife der Bund verfas- sungswidrig in Länderrechte ein, ist geradezu ab- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wegig. Die Umstellung herkömmlicher Diplom- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper. und Magisterstudiengänge auf Bachelor und Master ist ein von Bund und Ländern gleichermaßen getra- Cornelia Pieper (FDP): gener Beschluss … Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem bedauerlichen Scheitern der Föderalismuskommis- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sion eine Politik der verbrannten Erde auf Kosten der der SPD) Hochschulen zu betreiben, halte ich für verantwortungs- Die Umstellung … kann gerade angesichts der fö- los. Sie schadet dem Forschungsstandort Deutschland. deralen Struktur in Deutschland erfolgreich nur ge- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem lingen, wenn die Hochschulen auf das Angebot der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit dem HRK-Programm intendierten bundeswei- ten Vernetzung und Abstimmung zurückgreifen Wir alle waren und sind uns darüber einig, dass wir an- können. gesichts der Globalisierung und angesichts der Tatsache, dass Europa zum dynamischsten wissensbasierten Wirt- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem schaftsraum bis 2010 entwickelt werden soll, vor großen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herausforderungen stehen. Das bedeutet eben auch, dass Ich kann das nur unterstützen. Man weiß, wie die Wis- wir bei diesen Herausforderungen berücksichtigen müs- senschaft darauf reagiert hat. Die hessischen Hochschul- sen, dass vieles, was bisher anders gemacht worden ist, präsidenten sind von der Klage der Landesregierung im neu gedacht werden muss. Man muss auch Bildung neu Bildungsstreit mit dem Bund wenig begeistert. denken. Wir werden eine Strategie entwickeln müssen, in deren Rahmen Bund und Länder gemeinsam für Bil- (Jörg Tauss [SPD]: Entsetzt sind sie!) (B) dung und Forschung in Europa eintreten. Da nützt kein (D) kleinkariertes Denken, Sie sind entsetzt. Der Wiesbadener Fachhochschulpräsi- dent Clemens Klockner zeigte sich, wie viele andere (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Ernst Präsidenten auch, über die Klage entrüstet. Koch sei Dieter Rossmann [SPD]) doch selbst für die Einführung der Studiengänge gewe- sen. Mit dem Gang nach Karlsruhe handele er gegen die auch nicht von Landesregierungen, die meinen, sie wür- Interessen der Hochschulen. Genauso sehen wir das. den sich für die Hochschulen ihres Landes verwenden; denn es geht hier um die Frage, wie viel Autonomie wir (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Starker den Hochschulen in unserem Lande zugestehen. Das ist Vorwurf!) nämlich der Kern. Ich als Liberale sage ganz klar – wir haben das auch in die Föderalismusdebatte einge- Wir brauchen eine innovative Bildungs-, Hochschul- bracht –: Es ist sinnvoll, den Hochschulen grund- und Wissenschaftspolitik. Sonst werden wir den interna- gesetzlich ihre Autonomie zu geben. Das heißt auch, tionalen Wettbewerb um den Spitzenstandort nicht ge- Autonomie der Organisation und Autonomie in der Or- winnen können. Ich sage ganz klar an die Union und ganisation der benötigten Mittel zu gewähren. Wenn sie Herrn Dr. Bergner gerichtet: Sie tun sich keinen Gefallen diese volle Autonomie haben, dann werden das Ein- damit, dass Sie dieses Beispiel politisch gegen die Bun- mischen und die Inkompetenz, die sich in manchen Ent- desregierung hochschaukeln. Es ist fast schon beschä- scheidungen der Politik zeigt, nicht mehr möglich sein. mend, dass ich das sagen muss. Deswegen drängen wir weiterhin darauf, dass es diese (Beifall bei der FDP, der SPD und dem grundgesetzliche Verankerung gibt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will darauf hinweisen, dass die Klage des hessi- Denn es kann hier nicht um parteipolitisches Kalkül ge- schen Ministerpräsidenten wie folgt begründet worden hen. Vielmehr muss es allen in diesem Hause, die wol- ist: len, dass Deutschland wieder Spitzenstandort wird, um Wir wollen mit der Klage verhindern, dass der die Sache gehen. Bund ohne Zustimmung des Landes den Hochschu- len … seine Vorstellungen … aufzwingt. In diesem Zusammenhang kann ich Sie nur auffor- dern: Wirken Sie auf Ministerpräsident Koch ein, dass er (Jörg Tauss [SPD]: Unglaublich! – die Klage zurückzieht! Sie war ein Fehlschritt und hilft Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland nicht. Mit seiner Strategie, die dem Denken NEN]: Nicht zu fassen!) eines Landesfürsten des 17. Jahrhunderts entspricht, 14960 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Cornelia Pieper (A) setzt er die Zukunft des Wissenschaftsstandorts Deutsch- trum genannt wird; es geht um die Sache, Herr (C) land aufs Spiel. Dr. Bergner. Den Hochschulen werden Expertinnen und Experten zur Seite gestellt, die sie bei der konkreten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Umsetzung der Bologna-Ziele organisatorisch und kon- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- zeptionell unterstützen. Das Bundesbildungsministerium NEN) möchte, wie Sie wissen, dieses Projekt mit 4,4 Millionen Euro unterstützen. Das aber will Roland Koch verhin- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dern. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ute Berg. Wirklich überrascht waren wir von diesem Vorgehen allerdings nicht. Denn Ihre Kolleginnen und Kollegen Ute Berg (SPD): aus den Ländern blockieren die Exzellenzinitiative und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den Pakt für Forschung und Innovation. Jetzt blockieren Frau Pieper, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Rede. Ich Sie auch noch die Studienreform. glaube, wir waren selten so völlig einer Meinung, wie bei diesem Punkt. (Jörg Tauss [SPD]: Unglaublich!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Verlässlichkeit ist für die CDU/CSU mittlerweile zum Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ Fremdwort geworden. Es ist zu Ihrer Lieblingsstrategie DIE GRÜNEN]) geworden, erst einmal Ja und kurze Zeit später doch lie- ber Nein zu sagen. Das, was sich seit Monaten in der Hochschulpolitik abspielt, trägt nämlich mittlerweile groteske Züge. Das (Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS jüngste Beispiel dafür ist – es wurde schon mehrfach er- 90/DIE GRÜNEN]) wähnt – Roland Kochs Klage, die Anlass zu dieser Aktu- Beispiel Exzellenzinitiative: Hierzu liegt ein unter- ellen Stunde gab. Er will verhindern, dass die Hochschu- schriftsreifer Vorschlag vor. Die Wissenschaftsminister len bei der Studiengangreform unterstützt werden. von Bund und Ländern waren sich noch im Novem- Vergangenen Freitag haben sich deshalb auch die füh- ber 2004 einig, dass er umgesetzt werden sollte. Gradu- renden Wissenschaftsorganisationen mit einem Hilferuf iertenschulen, Exzellenzcluster und Spitzenuniversitä- an die Öffentlichkeit gewandt. Professor Gaehtgens, Prä- ten sollten danach mit 1,9 Milliarden Euro gefördert sident der Hochschulrektorenkonferenz, hat wörtlich werden. festgestellt: Die Exzellenzinitiative wird im Ausland mit großen Erwartungen als Zeichen der Reformfähigkeit Deutsch- (B) Die Hochschulen warten auf diese Initialzündung. (D) Eine mögliche Blockade bedeutete einen enormen lands wahrgenommen. Das haben der Wissenschaftsrat, Schaden für das deutsche Hochschulwesen. die DFG und die HRK letzte Woche betont. Aber die Ministerpräsidenten der CDU/CSU-geführten Länder (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef verhindern die Umsetzung. Genau dasselbe Verfahren Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wird beim Pakt für Forschung und Innovation ange- Ministerpräsident Koch sollte überlegen, ob er die- wandt. Mit diesem Pakt bekämen die außeruniversitären sen verantworten kann … Es gibt keine sachlichen Forschungseinrichtungen die finanzielle Planungssicher- Gründe für die Verweigerungshaltung des Minister- heit, die sie immer wieder von uns einfordern. präsidenten. Der Bund würde die jährlichen finanziellen Zuwen- (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann dungen bis 2010 um mindestens 3 Prozent pro Jahr stei- [SPD]) gern. Im Gegenzug müssten die Forschungs- und Wissen- schaftsorganisationen zusätzliche Maßnahmen ergreifen, Ich verstehe deshalb nicht, warum Sie sich so dahinter um Qualität, Effizienz und Leistungsfähigkeit zu stei- stellen, Herr Dr. Bergner. gern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bund und Länder haben sich 1999 verpflichtet, bis Der Pakt brächte also mehr Geld für die Forschung, aber zum Jahr 2010 europaweit vergleichbare Studiengänge auch mehr Forschung für das Geld. Auch hier hatten sich – die Bachelor- und Masterstudiengänge – an den Hoch- Bund und Länder bereits geeinigt. Aber nun wird das schulen einzuführen. Von diesem Ziel ist das deutsche Vorhaben durch die B-Länder ebenfalls blockiert. Wäh- Hochschulsystem noch weit entfernt. Es liegt auch im rend sich Ihre Kollegen aus den Bundesländern mit Hän- europäischen Vergleich eher zurück. den und Füßen gegen die Unterstützung des Bundes für die Hochschulen wehren, haben Sie, verehrte Kollegin- Bisher machen Bachelor- und Masterabschlüsse nen und Kollegen von der CDU/CSU, letzte Woche eine 26,3 Prozent des gesamten Studienangebots aus. Vollkostenfinanzierung der Forschung an Hochschulen 716 dieser knapp 3 000 Studiengänge sind akkreditiert. durch den Bund gefordert. Eine klare Linie ist bei Ihnen Um den Reformprozess zu forcieren, hat die HRK beim besten Willen nicht mehr zu erkennen. – wohl gemerkt: nicht die Bundesregierung – ein Förder- programm entwickelt. Mir ist es letztlich völlig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schnuppe, ob es Förderprogramm oder Kompetenzzen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14961

Ute Berg (A) Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist die klare Linie (Dr. Uwe Küster [SPD]: Arm, aber ehrenvoll (C) eines Besoffenen! Bildungsbesoffenheit!) sterben!) Im Ergebnis läuft Ihre Politik – das ist das Schlimme – Ihre Methode hat System. Seit 1998 versuchen Sie un- eigentlich immer auf das Gleiche hinaus: Am Ende be- entwegt, mit einer Politik des goldenen Zügels Abhän- wegt sich nichts mehr. gigkeiten durch Einmalzahlungen zu schaffen und die (Jörg Tauss [SPD]: Das wollen die!) Bundesländer dabei zu hintergehen. Daher bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Was ist von der CDU/CSU, noch einmal ganz eindringlich: Be- hier eine Einmalzahlung?) enden Sie Ihre Angriffe auf die deutsche Wissenschaft Ihr Vorgehen in Sachen Bologna-Förderung ist nur eine und sorgen Sie dafür, dass die erforderlichen Programme neue Variante dieser alten Masche. unverzüglich in die Tat umgesetzt werden! Das erwartet – zu Recht – die deutsche Wissenschaft von uns allen (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Die HRK und wir sind es der deutschen Wissenschaft auch schul- hat sich um das Geld bemüht!) dig. Kompetenzgrundlagen für ein alleiniges Handeln des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Bundes sind weit und breit nicht ersichtlich. GRÜNEN sowie der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das sehen die Hochschulrektoren anders!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marion Seib. Damit fallen die Durchführung des Programms zur För- derung des Bologna-Prozesses und seine Finanzierung (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter eindeutig in den Kompetenzbereich der Bundesländer. Rossmann [SPD]: Jetzt kommt das bayerische Element: Das eine angreifen und das andere (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE nicht machen!) GRÜNEN]: Reinster Formalismus!) Um diese Sachlage zu verschleiern, fließen die Gelder Marion Seib (CDU/CSU): nun an die Hochschulrektorenkonferenz. Somit umgeht Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und der Bund bewusst und gewollt die Verfassung. Sie miss- Herren! Wir greifen nicht Wissenschaft und Forschung achten die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- an, richtes. (B) (D) (Zurufe von der SPD: Doch!) Pressekonferenzen, auf denen neue Förderprogramme sondern nur schlechte Politik. Ich möchte ausdrücklich wie weiße Kaninchen aus dem Hut gezaubert werden, klarstellen: Die Union unterstützt den Bologna-Prozess stehen für einen schlechten politischen Stil. Bevor sich mit Nachdruck und Entschlossenheit. die Frau Ministerin wieder als Zauberin betätigt, spre- chen Sie doch lieber mit den Bundesländern (Jörg Tauss [SPD]: Mit Worten!) (Ute Berg [SPD]: Sprechen Sie mit der HRK!) Die unionsgeführten Bundesländer gehören zu den Schrittmachern des Bologna-Prozesses. und stimmen Sie Ihr Vorgehen mit den entsprechenden Gremien ab. In den Rahmenvereinbarungen der Bund/ (Jörg Tauss [SPD]: Oh! Oh!) Länder-Kommission ist klar und deutlich geregelt, wie Gerade Hessen hat in den letzten Monaten enorme der Entscheidungsprozess bei gemeinsamen Projekten Schritte unternommen, um seine Hochschulen an die Be- laufen muss. Maßen Sie sich also nicht mehr Rechte an, dürfnisse des europäischen Hochschulraums anzupas- als Ihnen zustehen. sen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Formalismus!) Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wie bitte? – Jörg Tauss [SPD]: Herr, hilf!) Wenn Landesminister aus der Presse von Ihrem Bolo- gna-Programm Kenntnis erlangen, dann ist das Kind Unser Eintreten für die Ziele des Bologna-Prozesses schon in den Brunnen gefallen. Dann dürfen Sie sich darf aber nicht dazu führen, dass wir einen weiteren Ver- nicht über Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht fassungsbruch gutheißen. Bei aller Begeisterung für den wundern. Sie zerstören damit dauerhaft Vertrauen. Bologna-Prozess müssen wir die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes beachten. Eine Neuordnung der (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wie bitte?) Kompetenzen durch die Hintertür ist mit uns nicht zu Gegenseitiges Vertrauen ist aber notwendig, um die He- machen. rausforderungen des Bologna-Prozesses gemeinsam (Beifall bei der CDU/CSU) meistern zu können. Ihr jetziges Vorgehen ist dagegen kontraproduktiv und hemmt geradezu das effektive Er- Wir sind nicht bereit, nach dem Motto „Wo kein Kläger, reichen der Bologna-Ziele. da kein Richter“ stillzuhalten und den Geldfluss an die HRK contra legem zu dulden. (Jörg Tauss [SPD]: 4 Millionen!) 14962 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Marion Seib (A) Durch Ihr Bologna-Programm werden die Hochschulen Grundlagen für eine Verbesserung der Bildung zu schaf- (C) gezwungen, die alten Studiengänge ohne Rücksicht auf fen. Verluste in Bachelor- und Masterstudiengänge umzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wandeln. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Ute Berg [SPD]: Das Ganze ist freiwillig!) FDP) Aus Vertrauensschutzgründen müssen die alten Studien- Wir haben Erfahrung darin, was es bedeutet, wenn gänge aber weiterlaufen. Mit Ihrem Vorgehen provozie- alleinige Länderhoheit im Bildungsbereich wirkt. Im ren Sie teure Parallelstrukturen an den Hochschulen. Für Bereich der schulischen Bildung haben die vielen PISA- Mehrkosten müssen die Bundesländer aufkommen. Ergebnisse gezeigt, dass Länderhoheit kein Garant für ein hohes Bildungsniveau ist. Genau diese Zuckergusspolitik ist es, die die Länder auf die Barrikaden treibt. (Norbert Königshofen [CDU/CSU]: Wo die SPD regiert!) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Welche Länder denn?) Diese Erkenntnis müsste Herrn Koch und übrigens auch Herrn Stoiber, der aus den gleichen machtpolitischen Ob Ganztagsschule, Juniorprofessur, Eliteuniversität – Gründen heraus sogar die Föderalismuskommission überall will der Bund einmalig Euros spendieren und den scheitern ließ, zu der Erkenntnis führen, dass wir ge- Applaus der Öffentlichkeit kassieren, meinsam mit Bundesunterstützung die Qualität und Fi- nanzausstattung der Schulen und Hochschulen verbes- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sern sollten. NEN]: Nein, die Bildung verbessern!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derweil die Länder auf den Folge- und Mehrkosten sit- und bei der SPD) zen bleiben. Diese ruinöse Schaufensterpolitik zulasten der Länder muss ein Ende haben. Allein darum geht es. Es ist richtig, dass wir mit besserer Finanzausstattung der Hochschulen und Schulen Bildung verbessern kön- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter nen. Aus den genannten machtpolitischen Gründen ha- Rossmann [SPD]: Sie handeln zulasten der ben die unionsregierten Länder die Finanzmittel des Hochschulen!) Bundes für Gesamtschulen in Höhe von 4 Milliarden Euro aber ursprünglich abgelehnt. Inzwischen entfalten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: diese Bundesmittel selbst in den südlichen Bundeslän- dern ihre positive bildungspolitische Wirkung. (B) Das Wort hat der Abgeordnete Hans-Josef Fell. (D) (Beifall bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist die klare Linie!) sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Des Weiteren lehnen sie die 285 Millionen Euro pro Jahr ab, die der Bund für die Förderung der Universitä- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten im Wettbewerb um die Exzellenz an den Hochschu- len geben will. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Klage des Landes Hessen gegen das Sie blockieren bei der Eigenheimzulage 60 Millionen Kompetenzzentrum Bologna ist der vorläufige Höhe- Euro in diesem Jahr für den dringend notwendigen punkt des Angriffs der unionsregierten Länder auf den Hochschulbau und sparen damit sogar ihren eigenen Bildungsstandort Deutschland. Beitrag von 60 Millionen Euro. Das ist ein 120-Millio- nen-Euro-Schaden für die Hochschulen allein in diesem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahr durch Ihre verfehlte Politik. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ministerpräsident Koch geht es hierbei nicht um die und bei der SPD) Stärkung der Hochschulen, nicht um die notwendige Umsetzung von Beschlüssen der europäischen Staaten Gleichzeitig blockieren Sie zig Millionen Euro For- 1999 in Bologna zur Stärkung und Angleichung von schungsmittel, die von den Hochschulen ebenfalls abge- Hochschulabschlüssen. Nein, es geht Ministerpräsident rufen werden könnten, und verhindern dadurch, dass ein Koch und übrigens mit ihm zusammen den Ministerprä- Vielfaches des Betrages dieser Forschungsmittel aus der sidenten Teufel und Stoiber ausschließlich um die privaten Wirtschaft mit fließen kann. machtpolitische Verhinderung jeglichen Einflusses des Nun klagt das Land Hessen sogar noch wegen der Bundes auf die Bildung. 4,4 Millionen Euro Bundesmittel für die notwendige Be- ratung durch Kompetenzzentren im Bologna-Prozess. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Man sollte nun meinen, dass die unionsregierten Län- Natürlich stehen wir zur verfassungsgemäßen Bil- der eigene Anstrengungen unternähmen, um das von ih- dungshoheit der Länder. Diese steht nicht zur Debatte. nen selber in der letzten Woche beklagte Finanzloch der Vielmehr geht es um die Frage, ob der Bund dort mithel- Hochschulen auszugleichen. fen und Kooperationsangebote machen darf, wo die Län- der offensichtlich nicht in der Lage sind, ausreichende (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt wird es spannend!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14963

Hans-Josef Fell (A) Aber auch hier Fehlanzeige. Nicht einmal die uns Politikern, dass wir die Verantwortung gemeinsam (C) 85 Millionen Euro, die von den Ländern im letzten De- übernehmen und uns nicht im machtpolitischen Hick- zember für die Exzellenzinitiative in Aussicht gestellt hack verfangen. wurden, fließen an die Hochschulen, geschweige denn die vielen Hundert Millionen Euro Bildungs- und For- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schungsmittel, die der Bund zugesagt hat, die Sie aber DIE GRÜNEN – [CDU/ blockieren. CSU]: Ich denke, ihr braucht die Opposition nicht! Das hat Müntefering vor zwei Jahren Offensichtlich liegt Ihnen nichts an einer wirklichen gesagt!) Verbesserung von Bildung und Forschung an Schulen und Hochschulen in Deutschland. Aus machtpolitischen Sie erwarten von uns Politikern, dass wir ihnen Perspek- Gründen nehmen Sie, meine Damen und Herren von der tiven aufzeigen und dass wir unserer Verantwortung für Union, unter dem Deckmantel der Länderhoheit eine den Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutsch- gravierende Schwächung der Bildung in Deutschland in land gerecht werden. Kauf. Verantwortung übernehmen heißt, Lösungen aufzu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zeigen und zu handeln. Das heißt nicht, schlechtzureden und auf der anderen Seite zu verhindern und zu blockie- Doch das, meine Damen und Herren von der Union, ren, wenn Lösungsansätze auf dem Tisch liegen. Das Po- wird Ihnen die Gesellschaft nicht mehr länger abneh- kern um Macht bringt uns nicht weiter; die Menschen men. Zu Recht finden im Moment zunehmend Studen- haben das auch satt. Heute ist Handeln gefragt. tenproteste statt. Ich persönlich weiß genau, wie die ver- fehlte Schulpolitik in Bayern die Eltern auf die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Barrikaden treibt. Endlich wachen auch die Hochschul- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rektoren auf. Die dpa berichtet, dass die hessischen Hochschulpräsidenten von der Klage ihres Ministerprä- Wir haben dadurch, dass wir unsere bundespoliti- sidenten wenig begeistert sind. Ihnen sei es egal, woher schen Prioritäten auf Bildung, Wissenschaft und For- das notwendige Geld kommt. Wenn die Länder schon schung gesetzt haben, schon viel erreicht. Laut einer Stu- nicht zahlen, dann sind sie froh, wenn wenigstens der die des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung Bund einspringt. So viel zu Ihrer Behauptung, Frau Seib, investieren Unternehmen wieder stärker in Innovatio- dass in Hessen vieles getan werde. nen. Junge Forscherinnen und Forscher kehren nach Deutschland zurück. Die Studierendenzahlen bezogen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf einen Jahrgang sind von 1998 bis heute um 8 Prozent und bei der SPD) (B) auf 36 Prozent angestiegen. (D) Auch die Sprecher der Allianz der Wissenschaftsor- Dennoch kann uns diese Situation nicht zufrieden ganisationen und der Hochschulrektorenkonferenz ha- stellen: überfüllte Hörsäle an unseren Hochschulen, zu ben dieses bildungs- und wissenschaftsfeindliche Ver- lange Studienzeiten, nach wie vor zu hohe Abbrecher- halten der Union in klarer und scharfer Form kritisiert. zahlen, zu wenig Vernetzung von Forschung und Wirt- Der einhellige Protest von Eltern, Studenten, Hochschu- schaft. Unsere Ziele sind deshalb klar: Bund und Länder len und Wissenschaftseinrichtungen muss Sie, meine haben sich auf die Realisierung des gemeinsamen euro- Damen und Herren der Union, doch endlich zur Vernunft päischen Hochschulraumes im Bologna-Abkommen ver- bringen. ständigt. Wir wollen gemeinsam das Ziel von Lissabon (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- erreichen, unsere Ausgaben für Forschung und Entwick- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) lung bis 2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Wir fordern Sie auf: Kehren Sie zurück zu einer ver- nünftigen Bildungs- und Wissenschaftspolitik in Zusam- (Helge Braun [CDU/CSU]: Was Sie nicht menarbeit mit Bund und Ländern! Die bildungspoliti- schaffen werden!) schen Herausforderungen in Deutschland sind viel zu groß, als dass sie den machtpolitischen Spielen der Die Zeit zum Handeln wird immer knapper. Jeder muss Union geopfert werden dürfen. wissen, dass wir dies nur miteinander erreichen können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ein wichtiger Schritt auf diesem Wege wäre die Um- DIE GRÜNEN) setzung der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern. Von den 1,9 Milliarden Euro würde der Bund allein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 1,5 Milliarden Euro übernehmen. Damit eng verbunden Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Wicklein. ist der Pakt für Forschung und Innovation, mit dem die großen Forschungsorganisationen jährlich rund 100 Mil- lionen Euro mehr bekommen würden. Die Wissen- Andrea Wicklein (SPD): schaftsorganisationen warten darauf. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss sich doch einfach einmal die Frage Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Hoch- stellen: Was erwarten die Menschen von uns Politikern? schulrektorenkonferenz und der Wissenschaftsrat for- Ich sage Ihnen, was sie erwarten – wenn man unterwegs dern in einer gemeinsamen Erklärung die Umsetzung ist, kann man das auch überall hören –: Sie erwarten von von Pakt und Exzellenzinitiative. 14964 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Andrea Wicklein (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stellen wir uns ein Kind vor, dessen Eltern gerade (C) DIE GRÜNEN) geschieden wurden. Das Gericht hat das Sorgerecht dem Vater zugesprochen, nicht der Mutter. Doch es Das Gleiche trifft auch auf die Förderung des Kompe- ist die Mutter, die dem frierenden Kind Schuhe kau- tenzzentrums Bologna durch den Bund zu. Es ist Zeit, fen möchte. Das will der Vater nicht zulassen. Die Farbe zu bekennen, sehr geehrte Damen und Herren von Mutter soll endlich aufhören, sich in fremde Ange- der Opposition. legenheiten einzumischen! – Dann kauft doch be- (Jörg Tauss [SPD]: Von der Union, nur die! – stimmt der Vater dem Kind die Schuhe? – Irrtum. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Von der Der Mann kann und will das nicht. CDU! Nur die Schwarzen! Die anderen sind Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. anders gestrickt, ausnahmsweise!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Richtig, nur die von der Union; das habe ich heute mit DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Rabenva- Freude gehört. ter! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Bergner, Unsere Studierenden an den Hochschulen, unsere haben Sie jetzt kalte Füße? Herr Bergner Forscherinnen und Forscher können nicht länger warten. friert!) Wir legen jetzt das Fundament für die Zukunft. Deshalb appelliere ich an die Union in Bund und Ländern, sich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dieser Verantwortung bewusst zu werden und ihr macht- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helge Braun. politisches Poker zu beenden. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jetzt mal die Schuhe kaufen!) DIE GRÜNEN) Was sagen uns denn die Pläne zur Kürzung um Helge Braun (CDU/CSU): 20 Millionen Euro an den Unis in Bayern? Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Jetzt geht diese Leier schon wieder los! Solche Schuld- (Jörg Tauss [SPD]: Sie wissen als Mediziner, zuweisungen helfen doch überhaupt nicht wei- wie das mit den kalten Füßen ist!) ter! Das ist doch das, was das Klima verdirbt! – Die Redner von Rot-Grün heute in dieser Debatte haben Lachen bei der SPD) für mich ein erschreckendes Bild gezeichnet, was ihr (B) Was sagt uns denn der Hilferuf der hessischen Universi- Verständnis von der deutschen Verfassung angeht. (D) täten nach besserer finanzieller Unterstützung durch das (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Land? SPD: Peinlich! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Ver- fassung in die undichten Schuhe einlegen!) (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Sie kön- nen das genauso Berlin vorhalten! Was soll Wer bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit davon denn das? – Ute Berg [SPD]: Was soll das von spricht, dass es dabei um juristische Kleinigkeiten, Pro- Herrn Koch, Herr Dr. Bergner?) zesshanselei, unkonventionelle Hilfe, Formalismus, Machtpolitik oder Hickhack geht, – Ich sage, Herr Dr. Bergner: Kein Bundesland kann diese Aufgaben allein bewältigen. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Nicolette Kressl [SPD]: Sie haben die richtigen Begriffe (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gefunden!) DIE GRÜNEN) der hat wirklich kein Recht, zu sagen, dass er auf dem Notwendig ist vielmehr eine gemeinsame Kraftanstren- Boden der Verfassung Politik macht. gung von Bund und Ländern. Wir brauchen einen sachli- chen, konstruktiven Dialog auf allen Ebenen, der nicht (Beifall bei der CDU/CSU) Selbstzweck ist, sondern den wir im Interesse der Stu- Es geht hier überhaupt nicht um die Frage, ob die dierenden sowie der Forscherinnen und Forscher in un- Hochschulen gut Geld gebrauchen können, serem Land führen müssen. (Ulrike Flach [FDP]: Doch, sehr wohl!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den Menschen in unserem Land die Frage beantworten, was sondern es geht hier um die Frage: Ist denn, wenn es wir konkret tun, um hier Arbeitsplätze zu schaffen. Wir Geld gibt, am Ende die Verfassung egal? alle wissen, dass dies nicht solche an Fließbändern sein (Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD]) werden. Unser Plus sind die kreativen Köpfe und Ideen. Daran müssen wir unser Bildungs- und Wissenschafts- Das, meine Damen und Herren, ist nicht der Fall. system ausrichten. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster Enden möchte ich mit einem passenden Zitat aus dem [SPD]: Aber bei der Schule waren Sie nicht so „Tagesspiegel“ vom 19. Februar, das ich Ihnen, liebe pingelig! Da haben Sie die Finger aufge- Kolleginnen und Kollegen, nicht vorenthalten möchte: macht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14965

Helge Braun (A) In der Debatte heute haben Sie immer wieder den Prä- dass Sie fest damit rechnen, dass die Klage vor dem (C) sidenten der Hochschulrektorenkonferenz als Kronzeu- Bundesverfassungsgericht Bestand haben wird. gen angeführt und die gestrige Pressekonferenz von Hochschulrektorenkonferenz, Wissenschaftsrat und Deut- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: scher Forschungsgemeinschaft erwähnt. Rechthaber!) (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der hier zum Teil erweckte Eindruck, Hessen wolle NEN]: Die hat Ihnen wehgetan!) damit den Bologna-Prozess torpedieren – diese etwas militaristische Sprache haben Sie ja in diesem Zusam- Es gibt noch andere Zitate von dem gleichen Präsidenten menhang gebraucht –, Peter Gaehtgens. Er hat der Bundesregierung auch emp- fohlen – ich zitiere aus der „Welt“ vom 19. Februar 2005 –, (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Gaehtgens: künftig die von der Verfassung gegebenen und durch das „Koch torpediert“!) Karlsruher Urteil zu den Studiengebühren unterstriche- nen Kompetenzgrenzen zwischen Bund und Ländern zu ist falsch. Es geht nicht um die Beeinflussung des Bolo- akzeptieren und auf Dialog zu setzen. Auch das gehört gna-Prozesses. Hessen ist ja sogar Vorreiter beim Bolo- zur Wahrheit! gna-Prozess. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der (Jörg Tauss [SPD]: Ja, ja!) CDU/CSU: Hört! Hört! – Dr. Reinhard Loske Die hohe Zahl bereits akkreditierter Studiengänge macht [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb ist das deutlich. der auch im Kompetenzzentrum! – Jörg Tauss [SPD]: Für einen Dialog braucht man zwei! In (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Warum diesem Fall 17!) kritisieren Sie den HRK-Präsidenten? Ich habe Die Bundesregierung versucht konsequent – einmal Gaehtgens zitiert: „Koch torpediert“!) durch die Juniorprofessur und zum anderen durch das Hessen wird seiner Rolle beim Bologna-Prozess in eige- Verbot der Studiengebühren –, durch Rechtsetzung in ner, souveräner Verantwortung durchaus gerecht und die Kompetenzen der Länder einzugreifen. Bei der braucht an dieser Stelle keine Handlungsanweisungen Ganztagsschule oder jetzt im Falle des Bologna-Prozes- des Bundes. ses wird versucht – mit der Rechtsetzung ist man vor dem Verfassungsgericht ja gescheitert –, mit dem golde- Nun zur Föderalismuskommission und ihrer Arbeit: nen Zügel des Geldes zu bestimmen. Sie wissen genau: Eine Föderalismusreform in Deutschland ist notwendig Bildungspolitik – das ist meine tiefe Überzeugung – darf und wünschenswert. Aber dem Versuch des Bundes, in (B) (D) nicht dadurch gestaltet werden, dass gesagt wird: Na ja, den Bildungswettbewerb der Länder einzugreifen, erteilt es gibt Gelder vom Bund; dann müssen wir sie abrufen. die Union eine klare Absage. Die Diskussion um den Fö- Sollen wir das vielleicht sein lassen? – Bildungspoliti- deralismus auf dem Rücken der Bildung ist unerträglich. sche Entscheidungen müssen politisch getroffen werden. Die Tatsache, dass Sie heute in einer solchen Art und Der politischen Entscheidung folgt das Geld und nicht Weise versucht haben, die Klage des Landes Hessen für umgekehrt. sich zu instrumentalisieren, macht den schon entstande- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter nen Schaden nur noch größer. Rossmann [SPD]: Die HRK hat etwas Verfas- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Reinhard sungswidriges beantragt: Ist das Ihre Bot- Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schaft?) glauben Sie doch wohl selber nicht!) – Die Botschaft der Aktuellen Stunde heute, Herr Kol- lege Rossmann, ist eine ganz andere. Schon allein im Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Thema der Aktuellen Stunde, die Sie für heute beantragt Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parla- haben, nämlich Folgen der Klage für den Bologna-Pro- mentarische Staatssekretär Kasparick. zess, ist im Grunde genommen ein Schuldeingeständnis enthalten. Sie rechnen also damit, dass die Klage Erfolg (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat. Wenn die Klage nämlich abgewiesen würde, wäre des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Antwort auf die Frage nach den Folgen relativ leicht: keine Folgen. Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE desministerin für Bildung und Forschung: GRÜNEN]: Es geht um das Klima, lieber Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Mann! – Nicolette Kressl [SPD]: Es geht um Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer heute Dialog!) Vormittag der Debatte in diesem Hohen Hause gefolgt Wenn aber vor dem Verfassungsgericht auch diese Klage ist, hat eine der Sternstunden europäischer Politik erle- Bestand hat, dann hat das Folgen. Die Tatsache, dass Sie ben können. Ministerpräsident Erwin Teufel hat eine, sich um die Folgen Sorgen machen, ist letzten Endes wie ich fand, großartige europäische Rede gehalten und schon das Schuldeingeständnis, ist dafür vom Außenminister dieser Republik auch aus- drücklich gelobt worden. Der Kanzler war persönlich bei (Nicolette Kressl [SPD]: Blödsinn!) ihm, um sich für diese Rede zu bedanken. 14966 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick (A) Das, was wir jetzt hier erleben, steht im Gegensatz zu helfen, aber verweigern diese Unterstützung. Ich bin (C) dieser großen europäischen Stunde und ist einfach eine sehr neugierig, wie Sie das Herrn Professor Grecksch in Schande. Halle erklären wollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Machen Sie DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: An Pein- sich da mal keine Sorgen, Herr Kasparick!) lichkeit nicht zu überbieten!) Ihre hier gezeigte europapolitische Kompetenz ist Es ist eine Schande angesichts der Tatsache, dass wir nicht überzeugend. Weil Sie mich vorhin darauf persön- über einen der wichtigsten europäischen Reformpro- lich angesprochen haben, wiederhole ich es: Es handelt zesse reden, nämlich über die Frage, was die Hochschu- sich nicht um ein Förderprogramm des Bundes, sondern len und Universitäten dazu beitragen können, um den um ein Projekt der Hochschulrektorenkonferenz. Raum Europa zu gestalten. 40 Länder Europas haben (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Das be- sich auf einen Prozess verständigt, bei dem die Hoch- freit Sie doch nicht davon, mit den Ländern zu schulen vorangehen sollen. Man nennt diesen Prozess reden!) dem Ort nach, wo er verabredet worden ist, den Bolo- gna-Prozess. 40 Staaten bilden damit eine neue Gemein- Nun wird immer gesagt, wir hätten nicht mit den Län- schaft in Europa. dern geredet. Dies ist definitiv falsch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dann gibt es so großartige Europäer wie Herrn DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Dr. Bergner aus Halle, FDP) (Cornelia Pieper [FDP]: Nichts gegen Halle!) Der Bologna-Prozess ist gemeinsam zwischen Bund und dessen Universität sich im Wettbewerb der Hochschul- Ländern verabredet worden. rektorenkonferenz bewährt hat und die eine der wenigen (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig, auch mit Universitäten ist, Herrn Koch!) (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Das weiß Deswegen hat der Bund, vertreten durch die Bundesmi- ich, Herr Staatssekretär!) nisterin, den Zwischenbericht zum Bologna-Prozess die an dem von der Hochschulrektorenkonferenz ausge- auch gemeinsam mit der Vertreterin der Länder präsen- lobten Wettbewerb teilnehmen darf und entsprechende tiert. Unterstützung erhalten soll. Herr Dr. Bergner, ich als Da es sich hierbei um eine gemeinsam verabredete Mitglied dieser Bundesregierung fordere Sie von diesem Anstrengung auf dem Weg nach Europa handelt, fordere (B) Platz auf, diese Frage, die heute Gegenstand der Plenar- ich Sie von dieser Stelle aus auf: Hören Sie auf mit der (D) debatte ist, noch einmal am Hochschulstandort Halle in Falschaussage, der Prozess sei mit den Ländern nicht ab- Gegenwart des Rektors der Universität Halle öffentlich gestimmt. Das Gegenteil ist richtig. zu diskutieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN) FDP) Dann können Sie dem Rektor der Hochschule Halle ein- Die Ministerpräsidenten haben gesagt: Wir wollen die- mal Ihre Position erklären. sen Prozess. (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Das habe Wenn Sie sagen, der Bund wolle sich Kompetenzen ich bereits am Telefon gemacht!) im Hochschulbereich anmaßen, dann erlaube ich mir, damit es da überhaupt kein Vertun gibt, noch einmal den Die Konsequenz aus Ihrem heutigen Verhalten ist, zarten Hinweis: Auf Bitten der Hochschulen hat die dass der Universität Halle eine dringend notwendige Un- Hochschulrektorenkonferenz zu einem Wettbewerb auf- terstützung gerufen, in dem sich 20 Universitäten und andere Hoch- schulen durchgesetzt haben. Die Universitäten bitten (Jörg Tauss [SPD]: Pfui!) dringend um Unterstützung im Bologna-Prozess. Ich verweigert wird. Dabei bitten uns die Universitäten da- will nur noch einmal deutlich machen, um welche Di- rum. mension es sich dabei handelt. Die Verpflichtung – eine Verpflichtung der Ministerpräsidenten und des Bundes – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lautet, dieses Ziel bis 2010 zu erreichen. Das heißt, wir DIE GRÜNEN) haben noch fünf Jahre Zeit, aber erst knapp 26 Prozent Es haben sich 129 Universitäten gemeldet, um an dem der deutschen Hochschulen beteiligen sich daran. Wettbewerb teilzunehmen. Nach den strengen Kriterien, (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Das muss die nicht vom Bund, sondern von der Hochschulrekto- die Kultusministerkonferenz umsetzen!) renkonferenz aufgestellt worden sind, dürfen davon nur 20 daran teilnehmen. Wenn wir nicht deutlich an Tempo zulegen, dann wer- den wir das, worauf wir uns zwischen Bund und Ländern Ich bin sehr neugierig, wie Sie Ihre Haltung insbeson- gemeinsam verständigt haben, nicht erreichen. Deswe- dere den ostdeutschen Universitäten erklären wollen. Sie gen bin ich der festen Überzeugung: Das, was wir jetzt sagen zwar, Sie wollten ihnen auf dem Weg nach Europa gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14967

Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick (A) Wunsch der Hochschulen machen, ist nur ein kleiner sen habe, dass vonseiten der SPD diese Aktuelle Stunde (C) Beitrag. Eigentlich wäre sehr viel mehr erforderlich; so- beantragt wird, fern Sie mit den Hochschulen reden, wissen Sie das auch. (Jörg Tauss [SPD]: Sind Sie erschrocken gewesen!) Deshalb mahne ich zur Vorsicht, wenn Sie das Argu- ment Verfassung bemühen. Diesen Prozess haben wir habe ich mich gewundert. Ich habe mich gefragt, warum gemeinsam verabredet. Im Übrigen haben sich die die SPD darüber sprechen will, dass ein Land eine Klage Hochschulen nach den politischen Vorgaben ihrer Lan- vor dem Verfassungsgericht einreicht, um herauszufin- desregierungen zu richten. Worum es im Kern geht, will den, ob das, was die Bundesforschungsministerin ich Ihnen aus einer öffentlichen Pressemitteilung zitie- möchte, verfassungsmäßig ist oder nicht. ren, auch wenn mir diese Sprache zu zitieren schwer (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE fällt; aber ich zitiere einfach einmal das hessische Kul- GRÜNEN]: Sie haben nicht mitgekriegt, um tusministerium: was es geht!) Wir müssen uns erneut gegen einen Versuch von Eigentlich hätte ich erwartet, dass Sie sich zurücklehnen, Frau Bundesministerin Bulmahn zur Wehr setzen, weil Sie der Auffassung sind, dass das Gesetz gut über- sich hinter dem Rücken der Länder Zuständigkeiten prüft ist und Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. zu erschleichen. Die Aufregung, die Sie an den Tag legen, scheint mir (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist genau die aber zu zeigen, dass Sie Sorgen haben, dass Sie nicht Realität! – Gegenruf von der SPD: Was?) verfassungsmäßig gehandelt haben. – Es ist falsch. Wir haben den Bologna-Prozess mit den (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl Ländern verabredet. Sie gehen hier von objektiv fal- [SPD]: Wer ist denn aufgeregt? Sie sind aufge- schen Tatsachen aus. Das ist Ihr Problem. regt! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir sehen das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ganz locker!) DIE GRÜNEN sowie der Abg. Cornelia Wir reden nämlich heute nicht über die Frage des Pieper [FDP]) Bologna-Prozesses; da sind wir uns ja in den meisten Dazu gibt es eine gemeinsame Verabredung. Im Übrigen Punkten einig. Wir reden darüber, inwieweit sich die geht es hier überhaupt nicht darum, sich etwas zu er- Bundesregierung an Recht und Gesetz hält, unser schleichen, sondern um die Frage, was uns nach vorn Grundgesetz beachtet und sich darum kümmert, wie die bringt, hin zum europäischen Forschungsraum. Ich kann Aufgaben dort verteilt sind. Das ist heute das Thema, (B) Sie nur dringend bitten, uns dabei zu unterstützen. Die meine Damen und Herren. (D) Kollegen der Koalitionsfraktionen haben das Angebot (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Reinhard des Bundes schon einmal verdeutlicht: 1,9 Milliarden Euro Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, für die Exzellenzinitiative – Sie lehnen ab; zusätzliches es geht um Bildung, nicht um Formalismus! Geld im Umfang von 10 Milliarden Euro aus der Eigen- Das ist der Unterschied!) heimzulage ins System für Bildung und Forschung – Sie lehnen ab. Wir reden auch über das Verständnis von Demokratie (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Das ist und Föderalismus. Welche Aufgaben haben die Bundes- doch alles Propaganda!) länder, welche Aufgaben hat der Bund? Rot-Grün hat zum wiederholten Male – jetzt wird es besonders interes- Der Bund bietet zusätzlich den Pakt für Forschung an, sant – Recht und Gesetz eben nicht eingehalten. Schauen damit die Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche For- wir uns doch einmal an, wie das damals bei der Abstim- schungsgemeinschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft oder mung über das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat war. die WGL zusätzliches Geld bekommen – Sie lehnen ab. Jetzt wollen wir den Hochschulen auf deren Anforde- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie machen einen leicht rung helfen, damit wir in Europa endlich ankommen – verwirrten Eindruck, Herr Fischer!) Sie lehnen ab. Wenn ich mich recht erinnere, hat damals der Bundes- Von dieser Stelle aus fordere ich Sie ausdrücklich auf: ratspräsident, Herr Wowereit, eine Stimme, die nicht Hören Sie auf, die deutsche Wissenschaft auf diese gültig war, als Jastimme gezählt. Vor dem Bundesverfas- Weise so schwer zu beschädigen! sungsgericht musste dieses Zuwanderungsgesetz einge- sammelt werden, weil sich die SPD nicht um das Grund- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesetz gekümmert hat. Das ist die Wahrheit, meine DIE GRÜNEN) Damen und Herren.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl Das Wort hat jetzt der Abgeordnete . [SPD]: Thema! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Das Thema liegt ihm etwas schwer im Magen!) Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Oder schauen wir uns unseren Finanzminister an. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Male wird im Deutschen Bundestag Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss Ihnen ein Haushalt eingebracht, der nicht verfassungskonform ganz ehrlich sagen: Als ich auf der Tagesordnung gele- ist. Mir ist klar, dass Sie das nicht gerne hören, aber das 14968 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) sind Tatsachen; in diesen Fällen beachten Sie das Grund- Meine Damen und Herren, es ist, wenn man es sich (C) gesetz nicht. betrachtet, eigentlich verhältnismäßig einfach: Die Bun- desregierung ist im Forschungsbereich nicht in der Lage, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Bleiben Sie doch mal ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Forschungsministerin in der Nähe des Themas!) kümmert sich um Dinge, die sie nichts angehen – ob das Oder denken wir an den Außenminister, der heute die Bildungspolitik oder Sonstiges ist –, um von ihrem fehlt, an die Geschichte des Fischer-Erlasses, der jetzt im Versagen in anderen Bereichen abzulenken. Deshalb un- Untersuchungsausschuss überprüft wird. sere Aufforderung: Kümmern Sie sich wieder um das, wofür Sie gewählt sind! Kümmern Sie sich um Ihre Auf- (Nicolette Kressl [SPD]: Thema!) gaben! Auch dabei ist doch die Frage: Inwieweit hat sich diese (Ute Berg [SPD]: Deshalb kümmern wir uns Bundesregierung an Recht und Gesetz gehalten? um die Hochschulen!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster Machen Sie eine vernünftige Forschungspolitik und ach- [SPD]: Oh Gott, wer hat Ihnen das aufge- ten Sie dabei Recht und Gesetz; denn jeder Bundeskanz- schrieben?) ler und jeder Minister hat hier vor diesem Hohen Hause Ich möchte jetzt gar nicht all die Dinge ansprechen, geschworen, das Grundgesetz und die Gesetze des Bun- über die noch diskutiert wird. Allein im Forschungsbe- des zu achten. Das ist die Aufgabe und daran sollten Sie reich haben wir doch, Herr Staatssekretär, genügend Bei- sich halten, damit Sie nicht erneut vor dem Verfassungs- spiele dafür, dass Sie vor dem Bundesverfassungsgericht gericht unterliegen. gescheitert sind. Die Urteile des Bundesverfassungsge- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster richts zur Juniorprofessur und zum Verbot der Studien- [SPD]: Herr Fischer hat den Vogel abgeschos- gebühren haben gezeigt, dass sich die Bundesregierung sen! Schützenkönig Fischer!) in diesen Fällen Kompetenzen angemaßt hat, die ihr nicht zustehen. Das ist heute das Thema. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Swen Schulz. Nein, das ist nicht das Thema! Das Thema ist die Beschädigung der Hochschulen durch Swen Schulz (Spandau) (SPD): euch!) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Problem ist: Sie von Rot-Grün scheren sich nicht Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden unter ande- (B) um Recht und Gesetz, Sie interessiert es überhaupt nicht, rem über die Verfassung. Ich möchte zunächst einmal (D) was im Grundgesetz steht. Beim Durchsetzen Ihrer ideo- festhalten, wie traurig die Verfassung ist, in der sich die logischen Ziele interessieren Sie sich nicht für das, wo- CDU/CSU-Bundestagsfraktion befindet. für Sie zuständig sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl DIE GRÜNEN) [SPD]: Das ist ja nicht zu fassen! – Ute Berg Keine Ausschusssitzung und keine Plenardebatte ver- [SPD]: Glauben Sie das, was Sie sagen?) gehen, in der Sie nicht die Bundesregierung und die Re- Meine Damen und Herren, vielleicht erinnern Sie sich gierungskoalition zu Verbesserungen in der Bildungs- noch an den Kanzlersong, der Ende 2002 sehr populär und Forschungspolitik auffordern. Das ist für eine Oppo- war. sition völlig in Ordnung. Das Problem ist nur: Gleichzei- tig klatschen Sie Beifall, wenn unionsgeführte Länder (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auf dem Klageweg die Möglichkeiten des Bundes, eben- NEN]: Das ist das Niveau der Union!) diese von Ihnen geforderten Verbesserungen durchzuset- Da hieß es zum Beispiel: „Ich erhöhe euch die Steuern“. zen, beschneiden wollen. Es ging um die verschiedenen Steuern, die Sie erfunden (Beifall bei der SPD – Axel E. Fischer [Karls- haben könnten, bis hin zur Haarfärbesteuer. Dazu gab es ruhe-Land] [CDU/CSU]: Beschneiden? Kon- ein Video, in dem eine Puppe zu sehen war, die dem trollieren, ob der Bund die Kompetenz hat! Bundeskanzler sehr ähnlich war und die das Grundge- Das ist doch das Thema!) setz die Toilette hinuntergespült hat. Sie haben sich da- mals über dieses Video empört. Ich frage Sie – Ihr Auch heute erleben wir das. Niveau: Tendenz fallend, nächster Redner kann das ja ansprechen –: Was halten wie man angesichts der Rednerliste sagen muss. Sie vom Grundgesetz? Wie halten Sie sich an Recht und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gesetz? Wie steht es mit Ihrer Verfassungskonformität? Das ist heute die Frage. Sie unterwerfen sich der zerstörerischen Logik von Machttaktikern. Sie befinden sich – was noch schlimmer (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster ist – am Gängelband der Unionsministerpräsidenten. [SPD]: Ihre Rede werden wir an die Hoch- schulen schicken, die ist Klasse! Die zahlen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keinen Pfennig für so einen Quatsch, den Sie DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach erzählen!) [FDP]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14969

Swen Schulz (Spandau) (A) Der Ministerpräsident von Hessen ist der skrupello- Was für eine Ohrfeige! (C) seste von denen. Er strengt jetzt eine weitere Klage ge- gen eine sinnvolle Initiative an und setzt damit seine (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Blockadestrategie fort. Es geht ihm dabei nicht um Bil- [SPD]) dung und Wissenschaft. Es geht ihm dabei noch nicht Es ist ein verheerendes Echo und Koch steht auf weiter einmal so sehr, wie er immer behauptet, um die Kompe- Flur alleine da, mit Ausnahme der CDU/CSU-Bundes- tenz der Länder. Er will einfach blockieren. tagsfraktion. Grandios! (Jörg Tauss [SPD]: Eindeutig! – Axel E. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: DIE GRÜNEN) Quatsch!) Er will die Lage verschlechtern, um hinterher der Bun- Der Staatssekretär hat es schon angesprochen: Die desregierung die Schuld dafür in die Schuhe zu schie- Kultusministerkonferenz und das Bundesministerium für ben. Bildung und Forschung haben jüngst gemeinsam im na- tionalen Bericht 2004 für Deutschland festgehalten, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Realisierung der Ziele des Bologna-Prozesses in DIE GRÜNEN) Deutschland in der Verantwortung der Hochschulen, der Länder und des Bundes liegt. Dieser Feststellung schlie- Bei den Beratungen der Föderalismuskommission ßen sich Ausführungen über die nationale Bologna- wurde das sehr deutlich. Es ist eine Legende, dass die Struktur und über die gemeinsame Arbeitsgruppe „Fort- Föderalismusreform am Thema Bildung gescheitert ist. führung des Bologna-Prozesses“ an, an der sich natür- Sie ist von Machtegoisten kaputtgemacht worden. Der lich die Bundesregierung beteiligt. Es wird außerdem bayerische Ministerpräsident war ja durchaus bereit, die auf die Zusammenarbeit von Hochschulrektorenkonfe- bereits vereinbarten Teile der Föderalismusreform unter renz und Bundesregierung verwiesen. Dach und Fach zu bringen und den Rest zu vertagen. Doch er konnte sich im eigenen Lager gegen Koch nicht Ganz offenkundig sehen die Kultusminister dieses durchsetzen. Problem durchaus etwas differenzierter als Ministerprä- (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Jetzt sident Koch. werden aber Legenden gestrickt!) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Hans- Koch wollte keine Einigung. Er hat Stoiber die Pistole Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und auf die Brust gesetzt. Ulrike Flach [FDP]) (B) (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Waren Hier scheint durch, was wir schon an vielen anderen (D) Sie dabei? So ein Quatsch!) Stellen erlebt haben: Die Fachminister können trotz aller Meinungsverschiedenheiten, die es gelegentlich gibt, in Dieses Verhalten kann man durchaus mit dem Verhalten der Sache ganz gut mit der Bundesregierung zusammen- von jemandem vergleichen, der erst die Eier klaut und arbeiten. Aber Ministerpräsident Koch blockiert aus pu- hinterher „Haltet den Dieb!“ ruft. rer Machttaktik vernünftige Politik. Jetzt soll nach vielen anderen Prozessen auch der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bologna-Reformprozess blockiert werden. Es haben sich über 100 Hochschulen für die 20 Kompetenzzentren be- Es gibt dafür wirklich keinen besseren Zeugen als die worben, einige aus Hessen. Eine hessische Hochschule Landesregierung Hessen selbst. ist ausgewählt worden, nämlich die Fachhochschule Frankfurt am Main. Das Interesse an dem Programm hat Die Fachhochschule Frankfurt am Main, die sich an die- deutlich gemacht, wie groß der Bedarf dafür ist und wie sem Programm beteiligen möchte und einen Zuschlag richtig HRK und Bundesregierung damit liegen. bekommen hat, hat beim Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst angefragt, was denn nun ange- Ich könnte meine gesamte Redezeit locker mit Zitaten sichts der Verfassungsklage Hessens aus dem Kompe- von unabhängigen Stellen und von Betroffenen füllen tenzzentrum wird. Die Antwort des Ministeriums an die – darunter HRK-Präsident Gaehtgens –, die sich bestürzt Hochschule lautete: Weitermachen, gründen Sie ruhig zu dieser Neuauflage der Blockadepolitik des Minister- das Kompetenzzentrum! präsidenten Koch äußern. Die Universität der Künste Berlin reagiert mit Entsetzen und in der Fachhochschule (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Verfas- Trier herrscht Betroffenheit. sungswidrig weitermachen! Gesetzesbruch be- gehen!) Frau Seib, ich möchte noch ein Wort zu der hessi- schen Wissenschaftspolitik sagen. Die hessischen Uni- Lieber Kollege Fischer, wenn das so gegen die Ver- versitäten weisen darauf hin, dass Bund und Länder fassung, gegen Recht und Gesetz verstößt, warum unter- durch ihre Unterschrift 1999 in Bologna für diesen Pro- sagt dann nicht die Hessische Landesregierung die Be- zess „gemeinsam Verantwortung tragen, der das Land teiligung ihrer Hochschule an diesem Programm? Hessen bisher nur unzureichend gerecht wird“. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie der DIE GRÜNEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann Abg. Ulrike Flach [FDP]) [SPD]: Das ist doch verfassungswidrig!) 14970 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Swen Schulz (Spandau) (A) Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass wir es mit (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) (C) einem höchst unehrlichen und üblen Machtspiel des Mi- nisterpräsidenten auf Kosten der Hochschulen und der Es geht nicht darum, dass die Bundesländer den Bolo- Studierenden zu tun haben. gna-Prozess verhindern oder boykottieren wollen. Es geht darum, dass sie die permanente Einmischung des Ich fordere die CDU/CSU-Fraktion auf, sich dem Bundes in die Länderkompetenzen unterbinden wollen, endlich einmal entgegenzustellen. Stoppen Sie Koch! was vollkommen richtig ist. Unternehmen Sie zumindest den Versuch! (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Das Ganze machen sie an einem Programm fest, das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Bundesbildungsministerin Bulmahn vorgeschlagen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hat und mit dem sie in die BLK gegangen ist. Auf der BLK wurde ihr gesagt: Natürlich wollen wir die Akkre- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ditierung unterstützen; aber wir halten ein besonderes Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Programm für nicht erforderlich. Den Vorsitz in dieser Kretschmer. Kommission am 5. Juli letzten Jahres in Bonn hat die Bundesbildungsministerin persönlich geführt. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Letzte Chance!) Nur, sie hat aus diesem klaren Nein keine Konse- quenz gezogen, sondern dieses Programm trotzdem ein- Michael Kretschmer (CDU/CSU): geführt. Sie will – koste es, was es wolle – mit dem Kopf Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich durch die Wand. Jetzt klagt natürlich ein Bundesland fange mit einfachen Dingen an: In Art. 62 unserer Ver- (Jörg Tauss [SPD]: Natürlich!) fassung steht: „Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern.“ Nicht und sagt: Nicht mit uns! Wir können alles besprechen – einmal dafür reicht es bei dem Herrn Staatssekretär, der aber eben nur besprechen und nicht hintenherum vorge- sich hier vor wenigen Minuten als Mitglied der Bundes- hen, Herr Tauss. regierung bezeichnet hat. Wie soll das dann bei solch komplizierten Dingen wie der Zusammenarbeit von (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Bund und Ländern, beim so genannten Föderalismus, Natürlich!) funktionieren? Deswegen ist es vollkommen richtig, wie der Minis- (B) Die Bundesministerin macht in bundespolitischen terpräsident des Landes Hessen vorgeht. (D) Fragen eine Geisterfahrt durch Deutschland und landet (Jörg Tauss [SPD]: Er macht alles kaputt! Das jedes Mal an einem Prellbock, beim Bundesverfassungs- ist alles natürlich, klar!) gericht, holt sich eine Beule Dies ist übrigens eines der Länder, das im deutschen (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ Wettbewerb hervorragend dasteht. Dieses Land hat Herr CSU]: Traurig, aber wahr!) Koch von Ministerpräsident Eichel übernommen. Es war und nimmt neue Fahrt auf, um die nächste Wand zu er- völlig desolat und finanziell ruiniert. Jetzt wird eine Sa- wischen, hinter der dann wieder eine neue kommt. che nach der anderen abgearbeitet, um dieses Land nach vorne zu bringen. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist besonders bedauerlich; denn von der Bildungs- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei ministerin könnte man eigentlich erwarten, dass sie klü- der SPD) ger wird und aus ihren Fehlern lernt. Aber das Gegenteil Das ist die Realität. Man muss sich an Recht und Gesetz ist der Fall. und an die Verfassung halten; dann kommt man auch Die Diskussion in der letzten knappen Stunde ist nicht voran. sonderlich von Inhalt geprägt gewesen. Wir lassen es nicht mit uns machen, dass Sie die Mit- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Ute Berg tel für den Hochschulbau von 1,1 Milliarden auf [SPD]: Herr Fischer hat kein einziges Wort 925 Millionen Euro kürzen und dann vergiftete Köder zum Thema gesagt!) auslegen und sagen: Jetzt macht irgendwelche Pro- gramme! Nicht mit uns, meine Damen und Herren! Die Bundesländer und die CDU/CSU-Bundestagsfrak- tion stehen zum Bologna-Prozess. Sie haben ihn immer (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der gewollt und ihn gemeinsam vereinbart. Die Bundeslän- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – der haben den Bologna-Prozess in ihren Landeshoch- Dr. Uwe Küster [SPD]: So viel Nassforschheit, schulgesetzen verankert. Sie haben die Einführung der unglaublich!) Bachelor- und Masterabschlüsse vereinbart. Ein Viertel Diese unredliche Politik muss aufgedeckt werden, da- aller Studiengänge ist bereits umgestellt. mit die Menschen draußen auf der Straße, die Professo- Worum geht es also? Es geht nicht darum, dass wir ren und die Studenten in den Hochschulen sehen, dass den Bologna-Prozess nicht wollen. man Politik so nicht machen kann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14971

Michael Kretschmer (A) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Unheimlich viel Spaß hier gesagt worden ist. Wenn Sie aber schon den Präsi- (C) macht das!) denten der Hochschulrektorenkonferenz zitieren, dann bitte in der Vollständigkeit, die zum Thema gehört. Herr Ich habe in den vergangenen Minuten gehört, dass der Gaehtgens hat ausdrücklich gesagt: „Die deutschen Bund den Hochschulen zusätzliches Geld in Milliarden- Hochschulen appellieren nachdrücklich an die Länder, höhe zur Verfügung stellen will. Im vergangenen Jahr ein Zusammenwirken mit dem Bund zu unterstützen.“ lag das staatliche Defizit dieses Landes bei 3,7 Prozent. Die Neuverschuldung betrug 37 Milliarden Euro. Was (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ erzählen Sie denn den Leuten auf der Straße? Sie haben DIE GRÜNEN) dieses Land finanziell gegen die Wand gefahren, Sie ha- Das erwarten die Hochschulen von den Ländern. Sie ha- ben es ruiniert. Dieses Land kann gar nichts mehr. ben heute die Chance vertan, sich dieser Position anzu- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Bleiben Sie doch ein- schließen. mal beim Thema! – Ute Berg [SPD]: Von Ih- Liebe Frau Seib – leider ist sie nicht mehr anwesend. nen übernommen! – Weiterer Zuruf von der Ich finde es komisch, wenn man hier eine Rede hält, SPD: Klugscheißer!) Sprüche schwingt und anschließend den Plenarsaal ver- lässt. Ich finde das nicht in Ordnung. Richten Sie ihr das Wenn Sie sich die Haushaltszahlen genau anschauen, aus, mit einem schönen Gruß. Sich hier hinzustellen und stellen Sie fest, dass der Haushalt nur dann auszuglei- zu behaupten, dass Hessen bei der Umsetzung des Bolo- chen ist, wenn Sie irgendwelche Tricks vornehmen oder gna-Prozesses vorn liegt, ist angesichts der Tatsache er- Postpensionen auflösen und in den Haushalt einstellen. staunlich – Kollege Schulz hat berechtigterweise bereits (Dr. Uwe Küster [SPD]: Erzählen Sie doch darauf hingewiesen –, dass sich die Fachhochschule einmal etwas über Forschung, wenn Sie schon Frankfurt zusammen mit anderen hessischen Universitä- da vorne stehen!) ten für dieses Programm beworben hat. Warum hat sie das getan, wenn in Hessen alles so wunderbar ist, wie sie Sie können überhaupt nichts mehr. Sie haben die Ar- es hier zu suggerieren versuchte? beitslosigkeit und die Staatsverschuldung zu verantwor- Warum – auch das muss man fragen – unterstützt das ten. Sie brauchen hier nicht den Eindruck zu erwecken, hessische Wissenschaftsministerium diese Bewerbung als ob Sie noch Geld hätten, das Sie in Forschung und der hessischen Fachhochschule? Ich kann es Ihnen ge- Bildung investieren könnten. Machen Sie erst einmal nau sagen: Weil das, was sie hier dargestellt hat, nicht Ihre Hausaufgaben, kommen Sie in die Gänge und dann der Richtigkeit entspricht. Die Hessische Landesregie- können wir über weitere Programme reden! rung lässt wie die anderen Landesregierungen die Uni- versitäten in Deutschland an vielen Stellen im Stich. Es (B) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Oberlehrer! (D) Ein ganz forscher Typ!) gibt nur wenige Ausnahmen. Schauen Sie über den Rhein nach Rheinland-Pfalz. Dieses Land ist die Aus- Ihre Politik ist in größtem Maße unredlich und unseriös. nahme. Sie versagen – um das ganz deutlich zu sagen – an dieser Stelle kläglich. (Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Scheffler [SPD]: Eine sehr dumme Rede!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Themen für eine Aktuelle Stunde werden gemein- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg Tauss. sam vereinbart. Kollege Fischer, ich hätte mir ein ande- res Thema für diese Debatte vorstellen können. Leider Jörg Tauss (SPD): ist meinem Vorschlag nicht gefolgt worden. Mein Vor- schlag wäre gewesen: Die fortgesetzte Sabotage drin- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Man kann wirklich nur gend notwendiger Reformen im Bildungs- und Innova- hoffen, dass das, was von Ihnen, Herr Kretschmer, ge- tionssystem der Bundesregierung durch Herrn Stoiber, rade vorgetragen worden ist, von vielen Menschen im Herrn Koch, Herrn Teufel und Co. Das ist das eigentli- Lande gehört worden ist. Man kann es wirklich nur hof- che Thema, um das es heute geht. fen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Probleme, die wir haben, in dieser Form darzulegen, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihre eigene Verantwortung für die Massenarbeitslosig- keit, die Verschuldung und die Handlungsunfähigkeit Die zweite Frage, um die es heute geht, ist, ob diese des Bundes zu leugnen und von Ihren Versäumnissen im Herren für ihre Politik die Unterstützung Ihrer Bundes- Bereich Bildung und Wissenschaft abzulenken, das ist tagsfraktion erhalten. Mit Entsetzen sehe ich, sehen die Chuzpe. Etwas anderes ist das nicht mehr. deutschen Studierenden und die Verantwortlichen der deutschen Hochschulen, dass Sie sich sozusagen ausver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des kauft haben an ihre Ministerpräsidenten. Als Bildungs- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) politiker sind Sie zu keiner eigenen Meinung fähig, son- dern schließen sich diesem Katastrophenkurs an. Das ist Herr Braun, normalerweise kenne ich Sie als seriösen ein klägliches Versagen der Bildungs- und Forschungs- Kollegen. Ich gestehe zu, dass Sie während der ganzen politiker der Union im Deutschen Bundestag. Debatte bedröppelt aussahen. Ich nehme an, dass es Ih- nen ebenso wie dem Großteil Ihrer Kollegen peinlich ist, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ was von Herrn Koch und den Rednerinnen und Rednern DIE GRÜNEN) 14972 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Jörg Tauss (A) Die Spur der Verwüstung, die die Union in der deut- Ich sage Ihnen: Das ist ein einzigartiger Vorgang. Ich (C) schen Hochschul- und Wissenschaftslandschaft langsam kann mich nicht erinnern, dass in den zehn Jahren, in de- hinterlässt, ist leider sehr viel breiter. Stichworte sind nen ich Bildungs- und Forschungspolitik mache, schon gefallen. Seit Monaten blockieren die Minister- präsidenten der Union das Programm zur Förderung von (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Zehn Jahre Spitzenuniversitäten – gegen den Rat der Wissenschafts- zu viel!) minister. Seit Monaten verweigern sie – demnächst ver- schon einmal solch ein Protestschrei aus der Bildungs- handeln wir darüber wieder im Vermittlungsausschuss – und Wissenschaftsszene gekommen ist. Wenn Sie das die Freigabe dringend notwendiger Finanzmittel für Bil- nicht zum Nachdenken bewegt, kann ich Ihnen nur sa- dung und Forschung durch die Abschaffung der Eigen- gen: Ihnen geht es nicht um Bildung und Forschung, heimzulage. sondern Sie verfahren nach dem Motto „Augen zu und (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ durch“ zulasten des Wissenschaftsstandortes Deutsch- CSU]: Steinkohle! Windkraft! Das sind die land. Milliarden!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Der Umfang der Eigenheimzulage beträgt ein Mehrfa- ches der Steinkohlesubventionen. Kollege Fischer, wenn In einem kürzlich auf www.spiegel-online.de erschie- Sie etwas davon verstünden, wüssten Sie, dass die Mittel nen Artikel hieß es über Koch: „Ein Mann sieht rot.“ Die für die Steinkohle vertraglich gebunden sind. Im Gegen- Überschrift eines Artikels im „Tagesspiegel“ lautete satz dazu könnten wir die Mittel, die wir für die Eigen- „Rabenvater“, womit Landesvater Koch gemeint war. heimzulage bereitstellen, bereits morgen für Bildung Dort wurde geschrieben: und Forschung heranziehen. Es geht um die Zukunft Deutschlands im weltwei- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ ten Wettbewerb. Sind die Länder wirklich reif für CSU]: Die Steinkohleförderung und die Wind- diese große Verantwortung? Sie leisten gerade ei- kraftförderung, wo sind eigentlich diese Mil- nen Offenbarungseid. liarden?) Da auch Sie gerade diesen Offenbarungseid leisten, Durch Ihre Klage gegen die Juniorprofessur haben kann ich Sie nur auffordern: Stoppen Sie Ihren Minister- Sie Zehntausende junger Nachwuchswissenschaftler dis- präsidenten und Ihren Kurs und kehren Sie zum Dialog kriminiert und verunsichert. Gemeinsam mit den Län- zurück! Bund und Länder haben in diesem Land gemein- dern konnten wir den Schaden im letzten Moment ab- sam die nationale Verantwortung für Wissenschaft und (B) wenden. Die Föderalismuskommission hat Herr Koch Forschung. Das erwarten die Menschen zu Recht. Sie (D) mit seinen absolut inakzeptablen Forderungen an die hingegen zerstören diesen Prozess. Wenn Sie das Gegen- Wand fahren lassen. teil behaupten, wollen Sie davon ablenken. Nein, das, was Sie machen, ist nicht in Ordnung. Das Ich bedanke mich. ist Prozesshanselei und ein vordergründiges, formalisti- sches Debattieren über Rechtspositionen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ [FDP]) CSU]: Das sagen Sie zu unserer Verfassung? Das ist ja super!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: auf denen Sie beharren. Das tun Sie zulasten der Wissen- Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. schaftslandschaft. Das ist das eigentliche Problem. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Wenn die Tatsache, dass bei der Hochschulrektoren- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- konferenz 120 Bewerbungen eingegangen sind, um den richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Bologna-Prozess voranzubringen, von Ihnen als nicht Wohnungswesen (14. Ausschuss) am Bedarf orientiert angesehen wird, kann ich Ihnen nur sagen: Sie sind entweder uninformiert, blind oder bös- – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Günter willig. Bruckmann, Ludwig Stiegler, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (Dr. Uwe Küster [SPD]: Letzteres!) SPD sowie der Abgeordneten Winfried An dieser Stelle kann man Ihnen eigentlich alles zusam- Hermann, Albert Schmidt (Ingolstadt), Volker men unterstellen. 20 Universitäten haben jetzt diese Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Möglichkeit. Sie wollen das verhindern. Die Deutsche Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Forschungsgemeinschaft, der Wissenschaftsrat und die Luftverkehrsstandort Deutschland – Koor- Hochschulrektorenkonferenz haben sich gemeinsam ge- dination und Kooperation verbessern – gen die Fortsetzung der von Herrn Koch, Ihrer Partei Nachhaltigen Luftverkehr für die Zukunft und Ihren Leuten betriebenen Blockade des Programms sichern zur Förderung von Spitzenuniversitäten und des Paktes für Forschung und Innovation beschwert und dagegen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer protestiert. (Hamburg), Eduard Oswald, Dr. Klaus W. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14973

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter dem Zufall –, haben wir in der nächsten Zeit eine (C) und der Fraktion der CDU/CSU Verdoppelung des Weltluftverkehrs zu erwarten; man geht davon aus, dass es im Jahr 2020 so weit sein wird. Luftverkehrsstandort Deutschland sichern Die vier größten europäischen Volkswirtschaften hat- – zu dem Antrag der Abgeordneten Horst ten im Jahr 2001 ein Passagieraufkommen von 520 Mil- Friedrich (Bayreuth), Dr. Karl Addicks, Daniel lionen Fluggästen. Wir erwarten für 2020 ein Volumen Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der von über 1 Milliarde Fluggästen. Dabei stehen die euro- Fraktion der FDP päischen Metropolen mit ihren Hubs in London, Paris Flughafenkonzept für Deutschland und Amsterdam im Wettbewerb zu den deutschen Flug- häfen, unseren Hubs in Frankfurt und München wie auch – Drucksachen 15/4518, 15/3312, 15/4517, unseren sonstigen internationalen Flughäfen. Da kann 15/4876 – man sagen, dass die Weiterentwicklung von großer, ja Berichterstattung: von nationaler Bedeutung ist. Abgeordnete Hans-Günter Bruckmann Auf der anderen Seite müssen wir eins erkennen: Wir Norbert Königshofen müssen das eine tun, ohne das andere zu lassen. Was Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die meine ich damit? Wir müssen nicht nur ökonomische, Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider- sondern auch ökologische Interessen berücksichtigen spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. und die Bürger bei unseren Planungen mitnehmen. Bei den Beratungen der Fraktionen in den Ausschüssen hat Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst sich gezeigt, dass wir uns im Ansatz der Instrumente un- der Abgeordnete Hans-Günter Bruckmann. terscheiden. Einig sind wir uns, dass wir die Bedingun- gen für den Luftverkehrsstandort Deutschland zu opti- Hans-Günter Bruckmann (SPD): mieren haben, damit er weiter international Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und wettbewerbsfähig ist. Was wir dabei aber nicht verges- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Beratun- sen dürfen: Auch der Luftverkehr muss sich nicht nur gen, die wir in den Ausschüssen des Deutschen Bundes- den Wünschen der Kunden nach Sicherheit, Pünktlich- tags zum Luftverkehrsstandort Deutschland durchge- keit, Passagierkomfort und Wirtschaftlichkeit anpassen, führt haben, zeigten erstens eindeutig, dass die sondern er muss selbstverständlich auch dem Gesichts- Fraktionen die nachhaltige Weiterentwicklung des Luft- punkt eines modernen Umweltschutzes und den Krite- verkehrsstandortes Deutschland im Grundsatz wollen. rien der Nachhaltigkeit gerecht werden. (B) Allerdings haben sich unsere Auffassungen zu bestimm- Wir werden das Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm (D) ten Fragen in Nuancen sehr deutlich unterschieden. novellieren, wie es unser Bundeskanzler im letzten Jahr Zweitens zeigten die Beratungen, dass der nationale auf dem Luftverkehrskongress gesagt hat. Zwar haben und der internationale Luftverkehr seinen Beitrag zur die deutschen Verkehrsflughäfen bis zum Ende des wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes und zur Jahres 2002 insgesamt rund 550 Millionen Euro ausge- Verbesserung der Mobilität leistet. geben – 420 Millionen Euro mehr, als nach dem Flug- lärmgesetz des Jahres 1971 notwendig waren –, aber Drittens zeigten sie, dass die Luftfahrtindustrie in trotz dieser anerkennenswerten Leistungen der Luft- Deutschland und Europa gut aufgestellt ist. fahrtindustrie und der Flughäfen zur Reduzierung des Fluglärms wird ein Teil der erreichten Verbesserungen Fakt ist: Die Bundesregierung hat mit ihren Entschei- dadurch zunichte gemacht, dass wir mehr Flugbewegun- dungen zur Förderung der zivilen Luftfahrt die Weichen gen im deutschen Luftraum zu verzeichnen haben. für die Zukunft richtig gestellt. Das Beispiel Airbus mit dem Roll-out des A380 in Toulouse im Januar und die Wir müssen also den Schutz der Menschen vor der strategische Entscheidung, die Entwicklung des A350 Belastung durch Fluglärm deutlich verbessern, den Be- mit Darlehen zu fördern, waren richtig und notwendig. treibern der Flughäfen aber zugleich Planungssicherheit Wenn man sich ansieht, wie sich der Markt für neue geben. Wir erwarten, dass wir Mitte dieses Jahres einen Flugzeuge in den nächsten 20 Jahren entwickelt, wird zwischen den Ressorts abgestimmten Gesetzentwurf im man feststellen können, dass es um ein Volumen von Parlament beraten können. Dann werden wir entschei- 1 300 Milliarden US-Dollar geht. den, wie das neue Fluglärmgesetz aussehen wird. Die europäische und auch die deutsche Luftfahrtin- Wir werden uns auch dafür einsetzen, die EU-Richt- dustrie haben sich in der Vergangenheit einen großen linien zu Betriebsbeschränkungen und Umgebungslärm Anteil an der Wertschöpfung in dieser Wachstumsbran- in nationales Recht zu überführen. Dabei ist es ganz che gesichert. Das wird auch in Zukunft so sein. Mit der wichtig, dass wir bei der Forschungsförderung die Ent- Airbus-Industrie hat Europa die USA im zivilen Bereich wicklung lärmarmer, umwelt- und klimafreundlicher zum ersten Mal bei der Anzahl neu ausgelieferter Flug- Flugzeuge und alternativer Treibstoffe stärker berück- zeuge geschlagen. Gleichzeitig haben sich die deutsche sichtigen. Die Erfolge der Triebwerksindustrie in der und europäische Luftfahrtindustrie mit ihrer Modellpa- Vergangenheit zeigen ganz eindeutig einen Weg auf, der lette gut aufgestellt. Wenn man die Prognosen ernst für die Zukunft weitergegangen werden muss. Wir nimmt – wir wissen ja: Planung ersetzt den Irrtum durch wollen den Treibstoffverbrauch und damit auch den den Zufall, und gute Planer wie wir überlassen nichts CO2-Ausstoß um weitere 50 Prozent reduzieren und wir 14974 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Hans-Günter Bruckmann (A) wollen den Ausstoß von Stickoxiden um 80 Prozent re- wenn das dann in europäisches und nationales Recht um- (C) duzieren. Wir wollen den Lärmpegel beim subjektiven gesetzt wird. Höreindruck um weitere 50 Prozent senken. Wir unterstützen die Initiative Luftverkehr und die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesregierung bei der Bearbeitung eines abgestimm- DIE GRÜNEN) ten Masterplanes für eine bundesweit effiziente Flugha- fenplanung. Wir wollen eine bessere Koordination und Jetzt zeigt sich, dass weitere Erfolge im Umwelt- Kooperation sowie eine engere Verknüpfung mit dem schutz durch die Luftfahrtforschung möglich sind. gesamten Infrastrukturnetz des Bundes. Deshalb sollte Weitere Optimierungen im Triebwerksbau, Zellen- geprüft werden, ob und inwieweit eine Verlagerung der design und Flightmanagement sind erfüllbare Herausfor- Planungskompetenz zugunsten des Bundes möglich ist derungen, durch die auch der Luftverkehr einen Beitrag und ob nicht eine Bündelung von Kompetenzen und zum Klimaschutz leisten soll. Ansprechpartnern an einer zentralen Stelle die Position Die Generalversammlung der ICAO lässt die Vorrei- des Luftverkehrsstandortes Deutschland nachhaltig stär- terrolle der EU beim Klimaschutz weiter zu. Die verab- ken würde. schiedete Umweltresolution zeigt, dass die EU eine Ich sage auch: Eine europäische Abstimmung und Richtlinie über die Besteuerung von Kerosin bzw. eine Koordination ist ein Gebot der Stunde. Unstreitig ist, streckenbezogene Emissionsabgabe innerhalb der EU dass wir eine Harmonisierung der europäischen Rah- vorbereiten und verabschieden kann. Eine solche Richt- menbedingungen brauchen, dass wir gleiche Standards linie kann aber erst nach der Vollversammlung der ICAO im Bereich der Luftsicherheit zu organisieren haben und im Jahre 2007 zum Tragen kommen. dass wir dabei Technologien einsetzen müssen, die ge- genseitig anerkannt werden und zukunftsfähig sind. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) Ich sehe gerade auf meiner Uhr, dass ich langsam Als positiv empfinde ich auch die Aussagen der Luft- zum Schluss kommen muss. verkehrswirtschaft, die den Vorstoß der britischen Regie- rung unterstützen wollen, wonach der Luftverkehr in den (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist europäischen Emissionshandel aufgenommen werden nicht deine Uhr! – Eduard Oswald [CDU/ soll. Ich meine, wenn die Luftverkehrswirtschaft dies CSU]: Sie gehört immer noch dem Bundes- selbst sagt, dann ist das ein Beitrag von nationaler und tag!) internationaler Bedeutung. Wir unterstützen die Bundesregierung und die Initiative (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des der Luftverkehrswirtschaft. Wir wollen, dass sich der (B) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Luftverkehrsstandort Deutschland nachhaltig und wett- (D) bewerbsfähig weiterentwickeln kann. Es muss aber auch Vor einem Jahr habe ich noch nicht erwartet, dass dieser sehr deutlich sein, dass Ökonomie auf der einen und Weg, der dort aufgezeigt wird, möglich ist. Das zeigt Ökologie auf der anderen Seite zwei Seiten der gleichen aber, dass im Dialog eine Weiterentwicklung von Posi- Medaille sind. tionen möglich ist. Herzlichen Dank. Auf der anderen Seite müssen wir auch darüber nach- denken, wie wir die Koordination und Kooperation ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bessern können. Es kann doch nicht sein, dass derzeit öf- DIE GRÜNEN – Albert Schmidt [Ingolstadt] fentliche Mittel in Regionalflughäfen investiert werden, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gute Rede!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Rausgeschmissenes Geld!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: die auf Dauer offensichtlich wirtschaftlich nicht tragfä- Nächster Redner ist der Kollege Norbert hig sind. Königshofen, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] (Beifall bei der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Norbert Königshofen (CDU/CSU): Man muss nur die Tagespresse aufmerksam verfolgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe um zu sehen, dass manche der dort ansässigen Billigflie- Kolleginnen und Kollegen! Zum dritten Mal innerhalb ger in ihrer Flugplangestaltung nicht gerade stetig sind. kurzer Zeit diskutiert der Deutsche Bundestag über den Von Stetigkeit kann schon gar keine Rede sein, wenn das Luftverkehrsstandort Deutschland. Das zeigt, wie wich- Unternehmen so schnell wieder vom Markt verschwin- tig das Thema ist. det, wie es dort aufgetreten ist, sich also sozusagen in Luft auflöst. Jüngste Beispiele sind die Insolvenzen der Der Luftverkehr wird für die moderne Volkswirt- Billigflieger V-Bird und Air Polonia Ende letzten Jahres. schaft in der Tat ein immer wichtigeres Segment – das Nach dem Charleroi-Urteil des letzten Jahres muss man gilt für Deutschland, für Europa, ja, für die ganze Welt. davon ausgehen, dass es bei den Beihilfen eine Verände- Er wächst doppelt so schnell wie die Weltwirtschaft. Die rung geben wird. Sie wissen, dass sie in der Höhe und Wachstumsraten im Passagierverkehr liegen bei 5 Pro- zeitlich begrenzt sein müssen. Es ist der richtige Weg, zent und bei der Luftfracht sogar bei 7 Prozent. Der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14975

Norbert Königshofen (A) Luftverkehr hat pro Jahr rund 1,7 Milliarden Flug- Ein weiterer Punkt, bei dem man über Details spre- (C) gäste. In Deutschland sind es 140 Millionen, die auf chen muss, ist die Kerosinsteuer. Wir, die CDU/CSU- rund 2 Millionen Flügen befördert werden. Rund Fraktion, haben uns immer gegen einen deutschen Al- 750 000 Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt vom leingang ausgesprochen, wie ihn noch vor wenigen Wo- Luftverkehr ab; Tendenz weiter steigend. Hinzu kom- chen der Kollege Loske von den Grünen gefordert hat. men noch die Arbeitsplätze in der Tourismusbranche. Nun geht es um eine europäische Initiative des deut- Deshalb wiederhole ich, was ich in der ersten Debatte schen Finanzministers Eichel. Er will die Kerosinsteuer am 23. September vergangenen Jahres an dieser Stelle einführen, um die nationalen Haushalte zu entlasten. Sie gesagt habe: Die Luftfahrtbranche ist heute eine der we- soll auch, so lesen wir, zur Finanzierung der Entwick- nigen Jobmaschinen in Deutschland. Dabei gilt folgende lungshilfe herangezogen werden. Faustformel: 1 Million zusätzliche Fluggäste schaffen rund 1 000 und 100 000 Tonnen zusätzliche Fracht rund Darüber hinaus hofft Finanzminister Eichel, die Bil- 2 600 neue Jobs. ligflieger zu treffen. Ob man die Billigflieger mit einer Erhöhung der Kerosinsteuer wirklich trifft, bezweifle (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ich; denn diese Steuer fällt ja bei allen Fluglinien an, Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]) nicht nur bei den Low-Cost-Carriern. Man muss sich na- türlich fragen: Warum sind die Billigflieger so günstig? Die positive Wirkung der Luftverkehrswirtschaft auf Einerseits liegt das sicherlich an ihrer unbestrittenen Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung ist also unbe- ökonomischen Effizienz. Andererseits – das hat auch der stritten. Darüber sind wir uns über die Fraktionsgrenzen Kollege Bruckmann angesprochen – werden sie häufig hinweg einig. Wir bemühen uns seit Jahren gemeinsam, von interessierten und meist kleineren Flughäfen mit den Luftverkehrsstandort Deutschland nach vorne zu Subventionen, also Steuergeldern, angelockt. Das ver- bringen. Mein Vorredner, der Kollege Bruckmann, hat zerrt den Wettbewerb und muss ein rasches Ende finden. das gerade ebenfalls betont. Bevor man sich über eine Kerosinsteuer Gedanken (Siegfried Scheffler [SPD]: Ja, das war auch macht, um die Billigflieger zu treffen, sollte man hier eine sehr gute Rede!) den Hebel ansetzen. Man sollte verhindern, dass öffent- liches Geld fließt, wo es wenig Sinn macht. Auch die Anträge, die heute vorliegen, dienen diesem Ziel. Sie kennzeichnet deshalb ein hohes Maß an grund- Nun müssen wir ein Weiteres bedenken. Die Kerosin- sätzlicher Übereinstimmung. Aber wie so häufig steckt steuer auf EU-Ebene einzuführen heißt ja nicht, dass sie der Teufel im Detail. überall in Europa erhoben wird. Es wird auch danach Flughäfen in Europa geben, wo die Steuer nicht erhoben (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nein, in (B) wird. Als Beispiel nenne ich nur den Flughafen Zürich- (D) Baden-Württemberg!) Kloten. Darüber hinaus zeigt der Widerstand Großbri- Im Unterschied zu den Anträgen der anderen Fraktio- tanniens, dass man den Wettbewerb im Luftverkehr nen bekennt sich der Antrag der CDU/CSU-Fraktion global sehen muss. Europa ist kein abgeschotteter Markt, zum Ausbau des internationalen Drehkreuzes Frank- auf dem man sich ohne Konsequenzen seine eigenen furt. Wettbewerbsbedingungen schaffen kann. Wir stehen in einem knallharten weltweiten Wettbewerb, den wir jeden (Beifall bei der CDU/CSU) Tag neu bestehen müssen. Wir wissen, dass dieser Ausbau in der Region umstritten Länder wie Großbritannien, Griechenland und Spa- ist. Daher wollen wir hier Flagge zeigen. Es reicht nicht, nien wissen das und lehnen daher die Kerosinsteuer ab. wenn Sprecher der Regierungsfraktionen wie bei den Da in solchen Fragen in der EU das Einstimmigkeits- letzten Debatten feststellen, dass eine Stärkung der prinzip gilt, wird die Kerosinsteuer vorerst auch nicht Drehkreuze Frankfurt und München eine Aufgabe von kommen. So wurde dann auch, wie das in Europa üblich nationaler Bedeutung sei. Auch der Hinweis auf den zu- ist, zunächst die Europäische Kommission beauftragt, nehmenden Konkurrenzkampf mit Flughäfen in anderen eine Studie über die Folgen der Kerosinsteuer erstellen europäischen Metropolen wie London, Paris und Ams- zu lassen. Es wird also noch einige Zeit dauern, bis das terdam ist wichtig und richtig. Aber man muss konkret erste Geld in Eichels Kasse kommt. Ich glaube, dass es sagen, wie man Frankfurt und München unterstützen bei diesem Vorstoß nur um ein Beruhigungsmanöver für will. In Frankfurt brauchen wir zum Beispiel den Bau die Grünen und die extremen Linken in der SPD geht. der neuen Landebahn und der neuen Wartungshalle für Die sollen beruhigt werden, damit man weiter seine Poli- den A380. tik machen kann. Wir wollen – das steht auch so in unserem Antrag –, (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Mal die Hand dass der gesamte Deutsche Bundestag durch ein klares hoch, wer da gemeint ist!) Bekenntnis zum Ausbau des Frankfurter Flughafens ein Signal setzt. Die Basis unserer Parteien und die Bürger Nun komme ich zum dritten Streitpunkt, zur Novelle im Frankfurter Raum sollen wissen: Wir im Deutschen zum Fluglärmgesetz. Längst ist die Rechtsprechung der Bundestag sind dafür. Wenn ich „wir“ sage, hoffe ich, deutschen Gerichte über die nach wie vor geltende Rege- dass das alle einschließt: CDU/CSU, FDP, SPD und lung von 1971 hinweggegangen. Grüne. Das muss die Botschaft des heutigen Tages sein. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) 14976 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Norbert Königshofen (A) Die damals festgelegten Grenzwerte werden dem verän- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) derten Verkehrsaufkommen und dem gestiegenen Lärm- Ich erteile dem Kollegen Winfried Hermann, Bünd- bewusstsein der Menschen nicht mehr gerecht. nis 90/Die Grünen, das Wort. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Stimmt auch!) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deswegen wollen wir, dass dieses veraltete Gesetz auf Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind der Grundlage eines fairen Ausgleichs zwischen Öko- mit dieser Debatte in der vierten Runde. Alle sind kun- nomie und Ökologie endlich novelliert wird. dig und wir können ein Stück weit ein Resümee ziehen: Was sind die wichtigen Punkte unserer Debatte, wo gibt (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ es Gemeinsamkeiten und wo gibt es deutliche Unter- DIE GRÜNEN]: Das wollen wir auch!) schiede? – Ja, Sie wollen das auch. Seit 1998 haben Sie dazu fast Ich glaube, es wird schon aus den Anträgen und auch wöchentlich Ihren Willen bekundet, aber gehandelt ha- aus den Debatten deutlich: Alle – ich sage bewusst: alle – ben Sie seit der Zeit nicht. betonen die Wichtigkeit des Flugverkehrs für Arbeits- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ plätze, für die Wirtschaft, den Tourismus und die Gesell- DIE GRÜNEN]: Sie haben vor 1998 Ihren schaft insgesamt. Willen bekundet!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist doch Seit 1998 haben Sie dazu nichts gesagt. schon etwas!) (Siegfried Scheffler [SPD]: So ein Quatsch!) – Das ist schon etwas. – Das ist gar kein Quatsch, Herr Scheffler. Das Kabinett Unterschiedliche Auffassungen gibt es aber in der kann sich vielmehr seit fast sieben Jahren nicht auf einen Frage, was dies bedeutet und wie wir hinsichtlich des gemeinsamen Entwurf einigen. Das ist die Wahrheit. stetig zunehmenden Flugverkehrs zu verfahren haben. (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt Ich will an dieser Stelle einige größere Unterschiede an- [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sprechen. Sie hatten 16 Jahre lang Zeit!) Alle Anträge beschäftigen sich mit der Frage, wie die Jetzt geistert wieder ein Vorschlag durch die Gegend, der Standorte in Deutschland zu sichern sind und wo Flug- die einseitige und ideologische Handschrift des Herrn häfen notwendig sind. Ich habe eine Deutschlandkarte Trittin trägt. der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen (B) (D) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ mitgebracht, auf der Flughäfen sowie internationale und DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!) nationale Fluglandeplätze verzeichnet sind. Es ist er- staunlich, wie viele Orte in Deutschland einen Flughafen – Genauso ist das. haben. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, unglaublicher DIE GRÜNEN]: Oder haben wollen!) Quatsch!) Ein Thema, das uns in diesem Zusammenhang beschäfti- Der eigene Verkehrsminister und der eigene Wirtschafts- gen muss und das uns inzwischen auch vielfach ärgert, minister stimmen dem noch nicht einmal zu. Es gibt kein ist, dass sich an Orten, an denen es noch keinen zivilen abgestimmtes Konzept. Trittins Vorschlag geistert durch Flughafen gibt, aber an denen ein Militärflughafen ge- die Welt, aber es passiert letzten Endes nichts. Ich will schlossen werden könnte, Kommunalpolitiker für die Ihnen offen sagen: Wir werden diesem Entwurf von Trittin nicht zustimmen; denn da ist von einem fairen Nutzung des Flughafens als Billigflughafen oder Char- Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie nicht die terflughafen aussprechen. Rede. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE leider sehr wahr!) GRÜNEN]: Es geht um die Gesundheit!) Der Kollege Schmidt hat mir gesagt, dass in Bayern Dann könnten Sie sehr wahrscheinlich den Luftverkehr gleich mehrere Flughäfen geplant sind. in Deutschland dichtmachen und an jede weitere Erwei- terung brauchte man nicht mehr zu denken. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Memmingen und Lagerlech- Mit unserem Antrag wollen wir den Luftverkehrs- feld!) standort Deutschland sichern und ausbauen. Nur so kann unsere Luftverkehrswirtschaft ihre Rolle als Wohl- Unter dem Gesichtspunkt einer effizienten und bezahl- stands- und Jobmaschine weiterhin wahrnehmen. Daher baren Infrastruktur halte ich es für absoluten Blödsinn, bitte ich Sie: Springen Sie mal über Ihren Schatten! überall in der Provinz neue Regionalflughäfen zu bauen. Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit hier heute ein or- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ dentlicher Antrag verabschiedet wird! DIE GRÜNEN]: Genau! Das ist herausge- (Beifall bei der CDU/CSU) schmissenes Geld!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14977

Winfried Hermann (A) Das kann sich niemand leisten und es ist auch nicht sinn- Königshofen [CDU/CSU]: Da muss erst ein- (C) voll. mal die Mehrheit aus dem Busch kommen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Inzwischen liegt eine seriöse Berechnung der sich aus dem Trittin-Entwurf ergebenden Grenzwerte und Kosten Übrigens sind solche Regionalflughäfen auch keine vor. Lange Zeit wurde das Gesetz damit bekämpft, dass Jobmaschinen. Wenn überhaupt, dann können sie nur astronomische Summen genannt wurden. Im Gespräch dann funktionieren, wenn Kommunal- und Regionalpo- waren 1 Milliarde, 2 Milliarden oder sogar 20 Milliarden. litiker Subventionsmittel beschaffen und die Billigcar- Der vorliegenden seriösen Berechnung zufolge ist bei ei- rier mit besonders günstigen Angeboten angelockt wer- nigermaßen ambitionierten Grenzwerten, die dem ent- den. Das sind, wie ich meine, keine sinnvollen sprechen, was deutsche Gerichte in ihrer Rechtspre- Maßnahmen. Notwendig ist stattdessen auch im Bereich chung längst als sinnvoll beurteilen, mit Kosten in Höhe der Infrastruktur eine Konzentration der Mittel. Es muss von 600 Millionen bis 700 Millionen Euro zu rechnen. schließlich nicht in jedem Fall geflogen werden. Das Auf zehn Jahre bezogen macht das jährlich 60 Millionen Flugzeug muss vielmehr mit anderen Verkehrsmitteln oder 70 Millionen Euro aus, die alle Flughäfen zusam- verknüpft werden. Zwischen den Metropolen und den men – sicherlich in jeweils unterschiedlicher Höhe – Flughäfen muss es gute Bahnverbindungen geben. Das zahlen müssten. Ich meine, dass das zumutbar ist. Das ist aber nicht finanzierbar, wenn es überall Kleinflughä- brauchen wir; das ist dringend notwendig. fen gibt. Wir können uns das allenfalls für die acht Groß- flughäfen vorstellen. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: 38 Cent pro Ticket mehr!) Insofern stelle ich zusammenfassend fest – ich glaube, einige meiner Kollegen teilen diese Auffassung –: Erstens Mein letzter Punkt ist der Klimaschutz, der bereits ist ein Masterplan notwendig, der eine sorgfältige Koor- von meinen Vorrednern angesprochen wurde. Ich bin dinierung und Systematisierung vorsieht. Ich meine, wir nach wie vor der Überzeugung, dass wir Maßnahmen er- sind als Bundespolitiker in der Pflicht, darauf hinzuwei- greifen müssen, wenn wir erkennen, dass der Flugver- sen, dass es nicht sinnvoll wäre, wenn jede Region einen kehr wächst; man rechnet mit Wachstumsraten zwi- Regionalflughafen hätte. schen 50 und 100 Prozent in den nächsten 20 Jahren. Wir wissen, dass inzwischen schon 9 Prozent der Treib- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hausgase auf den Flugverkehr zurückzuführen sind und sowie bei Abgeordneten der SPD) dass der Flugverkehr in circa 25 Jahren wahrscheinlich Zweitens. Flugverkehr produziert viel Fluglärm. der größte klimaschädigende Faktor im Verkehrssektor Deswegen wird auch in allen Anträgen ein neues Flug- sein wird. Dem Flugverkehr müssen daher die externen lärmgesetz gefordert. Kosten angerechnet werden. Dafür gibt es zwei Ver- (B) fahren: Erstens. Wir brauchen dringend eine Kerosin- (D) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aber nicht, besteuerung, und zwar möglichst auf europäischer um Lärm zu vermeiden, sondern um Rechts- Ebene. Aber wir müssen sie nicht mehr europaweit sicherheit zu schaffen!) einheitlich durchsetzen; denn nach der neuen Energie- steuerrichtlinie müssen sich nicht mehr alle, sondern nur In diesem Zusammenhang muss ich darauf zu sprechen die wichtigsten Länder verständigen. Das muss natürlich kommen, Kollege Königshofen, aus welchem Grund wir sein; denn in ökonomischer und ökologischer Hinsicht uns nicht einigen können. Es sei Ihnen zugestanden, dass ist es kontraproduktiv, wenn wir es alleine machen. Aber wir uns seit sechs Jahren in der Bundesregierung schwer zumindest die Hauptflugverkehrsländer mit den wichti- tun, einen gemeinsamen Gesetzentwurf zu erarbeiten. gen Drehkreuzen sollten zusammen vorangehen. Das ist Lange Zeit war die Streitfrage, welche Grenzwerte rich- unser Vorschlag. tig und mit welchen Kosten die Durchsetzung der Grenzwerte und die Lärmschutzmaßnahmen verbunden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sind. Unter den Befürwortern des Gesetzes gibt es dann Norbert Königshofen [CDU/CSU]: Sprecht sofort zwei Meinungen. Einige befürworten das Gesetz mal mit Tony Blair!) unter der Voraussetzung, dass die Grenzwerte wie auch Zweitens. Langfristig muss der Flugverkehr in das die Kosten möglichst niedrig ausfallen. Andere setzen Kioto-Regime einbezogen werden. sich für ambitionierte Grenzwerte ein und nehmen die damit verbundenen Kosten in Kauf; diese sind ihrer An- sicht nach von den Flugpassagieren zu tragen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss. Sie haben heute ein schönes Beispiel geliefert, Herr Königshofen. Sie haben zwar allgemein zugestanden, Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass ein entsprechendes Gesetz notwendig ist, aber die CDU/CSU-Fraktion hat bis zum heutigen Tag kein einzi- Ich komme zum Schluss. – Von 2012 an muss der ges Eckpunktepapier vorgelegt, aus dem konkret hervor- Flugverkehr in das internationale Klimaschutz-Regime auf- gehen würde, welche Grenzwerte Sie mittragen und wie genommen werden. Der Flugverkehr darf nicht als einzi- hoch die entstehenden Kosten sein dürfen. Ohne solche ger Bereich weitermachen wie bisher. Alle müssen zum konkreten Angaben bleiben Ihre Äußerungen nur wohl- Klimaschutz beitragen, auch der Flugverkehr. feile Bekenntnisse. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Norbert sowie bei Abgeordneten der SPD) 14978 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Hürdenlauf wird, der gigantische Aufwendungen erfor- (C) Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich, FDP- dert. Frankfurt ist doch ein Beispiel dafür, was Bürokra- Fraktion. tie in Deutschland alles bewältigen muss. Das kann es doch nicht sein, wenn wir der Meinung sind, dass eine Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Erweiterung der Flughafeninfrastruktur für den Standort Deutschland wichtig ist. Wenn das die Antwort darauf Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- ist, dann haben wir wirklich Probleme in Deutschland. ber Kollege Hermann, was Sie zum Schluss gesagt ha- ben, ist das typische Nebelkerzenwerfen der Grünen. (Beifall bei der FDP) (Ute Kumpf [SPD]: Jetzt kommt die Retour- Erschwerend kommt hinzu: Wir werden es auf keinen kutsche der FDP!) Fall schaffen, alle aufgrund der Konversion frei gewor- Die Bundesregierung hat auf Anfrage der FDP-Frak- denen Militärflughäfen – ob nun von Kanadiern, Fran- tion in Person der Kollegin Hendricks deutlich gemacht, zosen, Engländern, Amerikanern oder von der deutschen dass sie derzeit gar nicht daran denkt, bilaterale Gesprä- Luftwaffe – als zivile Flughäfen weiterzuführen. Der che aufzunehmen. Also sollten Sie uns nicht vorwerfen, Kollege Schmidt hat hier bereits zwei Beispiele einge- dass wir keine Vorschläge zu etwas gemacht haben, das führt. Ich kann andere Beispiele nennen: Wir haben ei- Sie selber noch gar nicht auf den Weg gebracht haben. nen von der Infrastruktur her wunderbaren Flughafen in Bevor Sie sich öffentlich äußern, sollten Sie erst einmal Lahr in Baden-Würtemberg, der uns von den Kanadiern klären, was tatsächlich Ziel der Bundesregierung ist. übergeben worden ist. Des Weiteren haben wir den Ba- den-Baden Airport, der hoch subventioniert ist. Außer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dem haben wir den Flughafen Basel/Mulhouse und wir Genauso verfahren Sie mit den Flughafenkonzepten. haben ein Flughäfchen in Straßburg. Obwohl keiner die- Wir brauchen keinen neuen Masterplan. Es liegt ja ser Flughäfen in der Lage ist, auf entsprechende Be- bereits einer der Initiative Luftfahrt vor und er ist von darfssituationen konsequent zu reagieren, kostet jeder Ihnen begrüßt worden. Was wir bräuchten, ist die konse- von ihnen Geld und fühlt sich jeder einzelne dieser Flug- quente Überarbeitung des von Ihnen vorgelegten Flug- häfen benachteiligt, wenn ein anderer etwas hat, was er hafenkonzeptes aus dem Jahre 2000; denn das passt selbst nicht hat. nicht mehr in die Zeit. Die Antwort der Politik müsste doch die Festlegung (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sein, dass es von der Potenzialanalyse her dieser oder je- NEN]: Sie haben vom Masterplan gespro- ner Flughafen sein soll; dieser oder jener erhält eine chen!) Schienen- und Straßenanbindung. Es kann doch nicht (B) sein, dass eine Kommune beschließt, einen Flughafen (D) – Einen Masterplan gibt es ja bereits. Alle Daten liegen auszubauen, und den Bund bittet, dort auch eine Auto- vor. bahn- und ICE-Anbindung zu schaffen, und zwar am besten noch mit entsprechenden Subventionen. Das dür- Warum passt Ihr Flughafenkonzept nicht mehr in die fen wir uns auf Dauer nicht leisten. Das ist kein Kon- Zeit? 90 Prozent des kompletten Luftverkehrs in zept. Die EU hat ja vorgemacht, wie es sein kann. Char- Deutschland werden an acht Flughäfen abgewickelt. Von leroi ist schon genannt worden. diesen 90 Prozent läuft rund die Hälfte über Frankfurt und München. Die restlichen 10 Prozent verteilen sich je Es ist klar, dass es bestenfalls noch Ausgleichsmaß- nach Sichtweise – es kommt an, ob man alle Verkehrs- nahmen für Fluglinien geben darf, die etwas weniger landeplätze mit regelmäßiger Linienbedienung und alles entwickelte Flughäfen anfliegen, und zwar in Höhe von andere, was da kreucht und fleucht, einbezieht – auf 30 bis 50 Prozent und für maximal fünf Jahre; das alles Kleinigkeiten. Man muss also zuerst in der Planung steht im Endeffekt schon in den entsprechenden Richtli- Schwerpunkte setzen und Infrastrukturverknüpfungen nien. Danach muss sich das eigenwirtschaftlich rechnen. vornehmen und kann dann über ein Flughafenkonzept Bei allem anderen, was in dieser Form erkennbar nicht nachdenken. Das erfordert auch die Überprüfung, wel- funktioniert, muss man sich Gedanken machen dahin ge- che Flughafenkapazitäten überhaupt noch notwendig hend, ob es angesichts der vorhandenen Probleme noch sind. Das würde aber gleichzeitig bedeuten, dass Sie sich Sinn macht, das auszubauen. Allein die Aussage, Luft- zu vier, fünf oder sechs Startbahnen, die wir an bestehen- verkehr schaffe Arbeitsplätze, die ja im Prinzip nicht den Flughäfen noch brauchen, positiv äußern müssten. falsch ist, löst doch in der Region kein einziges Problem. Das sieht man an Frankfurt. Wenn die Nachfrage nicht vorhanden ist und wenn das, was eigentlich positiv sein könnte, nicht zum Tragen ge- Lieber Kollege Königshofen, es geht gar nicht darum, bracht werden kann, dann schafft das keine neuen Ar- ob man den Ausbau des Flughafens Frankfurt will beitsplätze, sondern kostet Subventionen, Geld, das wir oder nicht. Das, was Sie verlangen, fällt nicht in die eh nicht haben, und hat unter Umständen noch zur Kon- Bundeszuständigkeit. Was in diese Zuständigkeit fällt, sequenz, dass an anderen Flughäfen Probleme entstehen ist ein neues Fluglärmgesetz. Das ist notwendig und und diese anderen Flughäfen darunter leiden. sollte endlich eingefordert werden, um Rechtssicherheit zu schaffen, und zwar für beide Seiten. Es kann doch Es gibt einen Ausbaubedarf; das ist völlig klar. Wir nicht sein, dass auf der Grundlage eines Gesetzes von brauchen für diesen Ausbau Rechtssicherheit in Form 1971 – mit dem entsprechenden Richterrecht als Konse- eines neuen Fluglärmgesetzes. Außerdem brauchen wir quenz – jede Erweiterung eines Flughafens zu einem eine abgestimmte Besteuerung im Bereich der Luftfahrt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14979

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Es darf also keine nationalen Alleingänge, auch keine bi- behandelt werden. Das wäre auch ganz falsch; denn es (C) lateralen Abenteuer geben, sondern das muss in abge- gilt, den Gesamtstandort mit seiner flächendeckenden stimmter Form europaweit mit dem Ziel gemacht wer- Flughafeninfrastruktur zu erhalten und wettbewerbsfä- den, das dann auch weltweit umzusetzen. Alles andere hig zu gestalten. wäre tödlich. Dies alles steht in unserem Antrag und des- halb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. In diesem Sinne wird die Bundesregierung unter an- derem aufgefordert, die Verlagerung von Planungskom- Danke sehr. petenzen zugunsten des Bundes zu überprüfen, um dem Bund eine stärker koordinierende Rolle im Interesse der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gesamtstandortpolitik zuzuweisen. Durch die Novellie- der CDU/CSU) rung des Fluglärmgesetzes sollen auch die Belastungen durch Fluglärm deutlich verringert und den Betreibern Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Planungssicherheit verschafft werden. Für die Bundesregierung erhält die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke das Wort. Einige der geforderten Maßnahmen sind bereits ein- geleitet. Dazu zählen die Bewertung eines von der In- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dustrie vorgelegten Masterplans für die Entwicklung der des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Flughafeninfrastruktur, die Novellierung des Fluglärm- gesetzes und die Umsetzung der EG-Richtlinie zu lärm- Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- bedingten Betriebsbeschränkungen. nister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Wir treten konsequent für einen starken Luftverkehrs- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! standort Deutschland ein. Die Bundesregierung arbeitet Deutschland war auch im Jahre 2004 Exportweltmeister. aktiv in der Initiative „Luftverkehr für Deutschland“ Dieser Titel ist nicht zuletzt der Verkehrswirtschaft zu mit, die von Vertretern der Luftverkehrswirtschaft ge- verdanken, die es ja erst ermöglicht, dass Waren expor- startet wurde und die von unserem Bundesminister tiert werden. Dr. Manfred Stolpe moderiert wird. Dabei spielt das Flugzeug als Verkehrsmittel eine be- (Hans-Günter Bruckmann [SPD]: Macht er achtliche Rolle, was den Wert der Exporte angeht. Die gut!) per Flugzeug exportierten Warenmengen und -werte steigen kontinuierlich. Auch die Entwicklung der Passa- Eines ist mir ganz besonders wichtig: Mit dem Antrag gierzahlen bei den Airlines ist dynamisch. Nach den Kri- der Koalitionsfraktionen wird ausgehend von der sen der vergangenen Jahre wurden im Jahre 2004 wieder Wachstumsprognose für eine höhere Akzeptanz des (B) mehr Passagiere befördert, als das im Jahre 2000 der Fall Luftverkehrs plädiert. Auch deshalb ist es gut, dass die (D) war. Novellierung des Fluglärmgesetzes auf dem Weg ist. Ich bin zuversichtlich, dass ein fairer und guter Ausgleich Dieses Wachstum bringt auch mehr Arbeitsplätze zwischen den berechtigten Interessen der Bürgerinnen rund um die Flughäfen mit sich. Man spricht in diesem und Bürger und den berechtigten Interessen der Luftver- Zusammenhang gern, wie auch in der heutigen Debatte kehrswirtschaft gefunden wird. wieder, von der Jobmaschine. Es ist keine Frage: Die Bedeutung der Luftverkehrswirtschaft für den Wirt- Aber auch in der Forschung – der Kollege schaftsstandort Deutschland ist groß. Wir müssen dafür Bruckmann hat es schon angesprochen – muss weiter an sorgen, dass es weiterhin gut vorangeht. Ich bedanke lärmarmen und umweltfreundlichen Flugzeugen gear- mich für die große Einigkeit hier im Hause in dieser beitet werden. Es ist deshalb sinnvoll, alternative Treib- Frage. stoffe bei der Forschung stärker zu berücksichtigen. Deutschland liegt in der Mitte Europas und der erwei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ terten EU und ist als zentrale Drehscheibe für den inter- DIE GRÜNEN) nationalen Luftverkehr in einer guten Ausgangsposition. Die Bundesregierung erhält mit dem Antrag von SPD Aber auch unsere Nachbarn verfügen über moderne und Bündnis 90/Die Grünen einen zukunftsorientierten Flughäfen. Wir stehen im Wettbewerb und stellen uns Wegweiser und das ist auch gut so. Ich bedanke mich an diesem europäischen und internationalen Wettbewerb. dieser Stelle ausdrücklich. Der Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Grünen ist da äußerst hilfreich; denn damit wird das DIE GRÜNEN) Ziel verfolgt, die Rahmenbedindungen für den Luftver- kehrsstandort Deutschland und seine Wettbewerbsfähig- Wie alle Mobilitätsbereiche ist auch der Luftverkehr auf keit weiter zu verbessern. Es ist schade, dass sich die eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz zwingend ange- Opposition diesem Antrag nicht anschließen mochte; wiesen. Diese Akzeptanz gilt es zu bewahren und auszu- schließlich enthalten die nun vorliegenden Anträge eine bauen. Das liegt in unser aller Interesse. Dieser Aufgabe Vielzahl von Gemeinsamkeiten. Aber auch dann, wenn haben wir uns gemeinsam zu widmen. sich die Opposition im Moment noch verweigert, ent- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. steht kein Schaden; denn der Antrag der Koalitionsfrak- tionen ist ausgewogen und umfassend. Besonders wich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tig ist, dass hier nicht einzelne Flughäfen bevorzugt DIE GRÜNEN) 14980 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: auch die regionalen Flughäfen, denke ich, haben in un- (C) Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat der serem Land eine hohe Bedeutung. Kollege Wilhelm Josef Sebastian, CDU/CSU-Fraktion, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das Wort. Im Zuge der allgemeinen Harmonisierungsbemühun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen dürfen neue Regelungen und Belastungen mit Rück- sicht auf die Wahrung der Wettbewerbsgleichheit nicht Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): in einem nationalen Alleingang vorgenommen werden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Ruf nach mehr Steuern und Belastungen als der In allen Wortbeiträgen, also fraktionsübergreifend, ist Weisheit letzter Schluss ist im Übrigen völlig falsch. deutlich geworden, welche Bedeutung der Luftverkehrs- Eine immer wieder geforderte Besteuerung von Kerosin standort Deutschland hat. Es ist aber höchste Zeit, dass ist daher für uns kein Thema. Ebenso wie die Ökosteuer, wir unser Augenmerk auf die Förderung des Luftver- die wir als umweltpolitisch weitgehend wirkungslos er- kehrs richten und dass wir dafür ein positives Klima leben, schaffen; denn der Luftverkehr nimmt – ich sage das mit (Uwe Beckmeyer [SPD]: Na, na, na!) Blick auf die wirtschaftliche Situation in Deutschland – eine immer wichtigere Position ein. wird eine solche Besteuerung nur zu einer Verteuerung, aber nie zu einer Verbesserung führen. In der heutigen Zeit muss man froh sein, dass es noch eine Branche gibt, die deutliche Wachstumsraten auf- Wir von der Union vertrauen auf die Kräfte der Marktwirtschaft und für uns ist es besonders wichtig, im weist und vor allem zahlreiche Arbeitsplätze bereit- Sinne von Wirtschaftlichkeit, Energieverbrauch, Immis- stellt, ja, die Chance bietet, zusätzliche Arbeitsplätze zu sions- und Lärmschutz die technische Entwicklung schaffen. Ich sage dies auch als Mitglied des Tourismus- weiter zu fördern. Eine ökonomische Grundwahrheit ist, ausschusses; denn dieser Aspekt ist mir in der ganzen dass nur technischer Fortschritt nachhaltiges Wachstum Diskussion der letzten Monate etwas zu kurz gekom- begründen kann. Wer die „FAZ“ vom 22. Februar gele- men. sen hat, konnte dort unter der Überschrift – ich zitiere – Nur mit leistungsfähigen Flughäfen in Deutschland „Der Fluglärm kann noch einmal halbiert werden“ inte- und mit begleitender Infrastruktur bewältigen wir die ressante technische Ansätze nachvollziehen. Aufgabe, das Reiseziel Deutschland für Menschen, die Interessant ist, im Antrag von SPD und Grünen zu le- nicht direkt aus Nachbarländern kommen, attraktiv zu sen, dass die Bündelung von Kompetenzen und An- machen und den Menschen in Deutschland die Chance sprechpartnern an einer Stelle offenbar als wirksamer (B) zu geben, Reiseziele im Ausland zu vertretbaren Kondi- Schritt zur Förderung des Luftverkehrsstandortes gese- (D) tionen zu erreichen. Es ist eine staatliche Aufgabe, hier- hen wird. Aber wie üblich bleibt es nebulös: Es sei zu für die Rahmenbedingungen zu setzen. Ich bewerte es prüfen, ob und inwieweit so etwas geschehen kann. positiv, dass dies jetzt fraktionsübergreifend erkannt wurde. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Weil das eine Verfassungsfrage ist!) Die Voraussetzungen für die Mobilität von Menschen Durch die luftverkehrsübergreifende Bündelung von zu schaffen ist eine der vordringlichsten Aufgaben. In ei- Kompetenzen und Know-how werden Experten aus ner globalisierten Welt sind wir nicht nur auf moderne Wirtschaft, Forschung und öffentlicher Hand gemeinsam Kommunikationstechniken, sondern auch maßgeblich zukunftsfähige Strategien für den Luftverkehrsstandort auf leistungsfähige Flugverkehrsnetze angewiesen. Deutschland entwickeln. Globalisierung ist das Stichwort, das uns auch im Hin- blick auf die Stellung Deutschlands im internationalen Der Antrag von Rot-Grün weist aber durchaus in die Luftverkehr bewegen sollte. Wer will ernsthaft bezwei- richtige Richtung und greift viele Punkte des Antrags der feln, dass nur eine leistungsfähige Flughafenstruktur in CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf. An einer maßgebli- Deutschland den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit mit chen Stelle weist er jedoch erneut einen erheblichen anderen Staaten bewirken kann? Die naturgegebene geo- Hang zur Hasenfüßigkeit aus. Man traut sich regierungs- graphische Lage im Herzen Europas sollte uns ermun- seitig nicht, sich klar und eindeutig für den Ausbau des tern, im Passagier- und Güterverkehr eine zentrale Be- Flughafens Frankfurt auszusprechen. deutung zu erlangen. Für die Ansiedlung internationaler (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Unternehmen in Deutschland ist ein wettbewerbsfähiges NEN]: Das ist auch nicht unsere Aufgabe!) Flughafennetz von entscheidender Bedeutung. Das ist der Grund dafür, dass wir bei aller Übereinstim- (Beifall bei der CDU/CSU) mung in Einzelpunkten Ihrem Antrag heute nicht zu- stimmen können. Wir alle sind uns sicherlich darüber einig, dass in ei- nem koordinierten Vorgehen ein wichtiger Schlüssel für Symptomatisch für die Politik aus Halbheiten und fau- den Erfolg der Bemühungen liegt. Dies bedeutet, dass len Kompromissen ist vor allem das Thema Fluglärm; es sich Bund und Länder in ihren Planungen hinsichtlich hat in der Debatte hier schon breiten Raum eingenom- der Flughafeninfrastruktur austauschen und abstimmen. men. Leider muss man an dieser Stelle darauf hinweisen Es darf aber nicht so sein, dass durch bundesweite Vor- – das ist auch schon geschehen –, dass im rot-grünen Ge- gaben die Entwicklung neuer regionaler Standorte für setzgebungsverfahren eine ganze Menge Sand im Ge- den Flugverkehr grundsätzlich unmöglich wird; denn triebe ist. Nachdem bereits Ende 2003 viele SPD-Bun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14981

Wilhelm Josef Sebastian (A) destagsabgeordnete in ihren von Fluglärm betroffenen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) Wahlkreisen aus vordergründigen Motiven vollmundig Ich schließe die Aussprache. die kurzfristige Vorlage eines Gesetzentwurfs ankündig- ten, warten wir heute, Anfang 2005, immer noch darauf. Wir kommen zu den Abstimmungen über die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- (Beifall bei der CDU/CSU) und Wohnungswesen auf Drucksache 15/4876. Ruchbar wurde dann aber im letzten Jahr ein Referen- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- tenentwurf aus dem Hause Trittin, der offenbar das Pa- schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- pier nicht wert war, auf dem er geschrieben stand. tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- (Siegfried Scheffler [SPD]: Das kann man so sache 15/4518 mit dem Titel „Luftverkehrsstandort nicht sagen!) Deutschland – Koordination und Kooperation verbes- sern – Nachhaltigen Luftverkehr für die Zukunft si- Die Anhörung von Verbänden im letzten September hat chern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – offenbar einen solchen Verriss zur Folge gehabt, dass der Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Entwurf augenscheinlich wieder einkassiert wurde. Wie Damit ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit ange- anders wäre es zu erklären, dass heute immer noch nommen. nichts auf dem Tisch liegt? Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der CDU/ NEN]: Der war nicht scharf genug!) CSU-Fraktion auf Drucksache 15/3312 mit dem Titel Auch in der heutigen Debatte ist ja wohl deutlich gewor- „Luftverkehrsstandort Deutschland sichern“. Wer den, welcher Meinungsstreit zwischen Trittin, Stolpe stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt und Minister Clement in diesen Fragen besteht. dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Auch diese Die Formulierung in Ihrem heute zur Abstimmung Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. stehenden Antrag zeigt, dass auch Ihnen selbst die Re- Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt gierung untätig vorkommt. Sie fordern nämlich die Bun- der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion desregierung auf, endlich einen Gesetzentwurf zur No- der FDP auf Drucksache 15/4517 mit dem Titel „Flugha- vellierung des Fluglärmgesetzes vorzulegen. fenkonzept für Deutschland“. (Hans-Günter Bruckmann [SPD]: Wir sind frei (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ gewählte Abgeordnete!) DIE GRÜNEN]: Flughafen, nicht Fluchha- Man muss es sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: fen!) (B) (D) Die beiden Koalitionsfraktionen fordern ihre eigene Re- – Flughafen! Ich bin im Übrigen ziemlich sicher, Herr gierung auf, etwas zu tun. Sie dokumentieren damit, dass Kollege, dass mit und ohne Zweifel über die Intonation sie bisher untätig war. das Abstimmungsverhalten ziemlich präzise das gleiche (Hans-Günter Bruckmann [SPD]: Wir nehmen sein wird. das Parlament sehr ernst!) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Machen Sie Minister Stolpe und Minister Trittin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dampf, damit endlich etwas passiert. Alle Betroffenen haben nämlich ein Recht, zu wissen, welche Richtlinien Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer zukünftig im Bereich Fluglärm gelten: die von Fluglärm stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Meine Vermu- betroffenen Menschen, die Betreiber von Flughäfen, die tung war nicht gänzlich falsch: Die Beschlussempfeh- Fluggesellschaften und alle, die dort Arbeit finden. Nicht lung ist mehrheitlich angenommen. wir von der CDU/CSU sind aufgefordert, diese Kriterien Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 25 auf: vorzulegen, wie das eben schon einmal gefordert wurde. Legen Sie einmal Kriterien vor. Wir werden Ihnen dann Beratung des Antrags der Abgeordneten sagen, ob wir sie für richtig halten. Dr. Christian Ruck, Arnold Vaatz, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Siegfried Scheffler [SPD]: Ich dachte, ihr folgt uns dann!) der CDU/CSU Wir fordern Sie nachdrücklich auf, zu handeln. Sie ha- Folgerungen aus der Tsunami-Flutkatastrophe ben noch anderthalb Jahre Zeit, um zu handeln. vom 26. Dezember 2004 – Deutsche Entwick- lungspolitik stärken und verstetigen (Hans-Günter Bruckmann [SPD]: Die Zeit werden wir nutzen, Herr Kollege!) – Drucksache 15/4657 – Überweisungsvorschlag: Danach werden wir Ihnen zeigen, wie man es richtig Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und macht. Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Vielen Dank. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP] – Eduard Ausschuss für Tourismus Oswald [CDU/CSU]: Aber wie!) Haushaltsausschuss 14982 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Die von vielen erwartete zweite Katastrophe in Form (C) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu von Seuchen und Krankheiten konnte verhindert wer- höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- den. Doch jetzt erreichen wir die kritische Phase des sen. Übergangs von der Nothilfe zum Wiederaufbau. In Zu- sammenarbeit mit den regional und lokal Verantwortli- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst chen müssen jetzt die richtigen Weichen gestellt werden, die Kollegin Christa Reichard, CDU/CSU-Fraktion. um einen wirklich nachhaltigen Wiederaufbau zu errei- chen. Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): Das Ausmaß der Zerstörung ist unvorstellbar: Allein Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ver- in der indonesischen Provinz Aceh sind über 1 150 Schu- heerende Flut vom 26. Dezember 2004 gehört zu den len, 6 000 Kilometer Straße und 490 Brücken zerstört. schlimmsten Naturkatastrophen der jüngeren Ge- Priorität beim Wiederaufbau haben vor allem die Ge- schichte. Über zwölf Länder in Süd- und Südostasien so- sundheitsversorgung, die Wasserver- und -entsorgung, wie in Afrika sind betroffen, rund 300 000 Menschen ha- Wohnunterkünfte, die materielle und soziale Infrastruk- ben ihr Leben verloren, darunter auch Hunderte tur und natürlich der Schutz und die Betreuung der vie- Deutsche. len betroffenen Kinder. Der Schock über das Unfassbare, aber auch Mitgefühl Neben dem unermesslichen Leid der Menschen und und Anteilnahme mit allen Betroffenen haben Menschen den großen materiellen Schäden wird deutlich, dass auch in aller Welt in unglaublichem Ausmaß aktiviert. die Umwelt in der Krisenregion stark in Mitleidenschaft Großes Lob gebührt den nationalen und internationa- gezogen wurde. Korallenriffe, Mangrovenwälder und len Hilfsorganisationen, die in kürzester Zeit reagiert Fischbestände sind vielerorts ernsthaft bedroht. Zudem haben, um die Notversorgung der 5 Millionen zumeist hat das Salzwasser die natürliche Vegetation und land- obdachlosen Überlebenden bestmöglich sicherzustellen. wirtschaftliche Flächen bis zu 3 Kilometer landeinwärts zerstört. Eine intakte Umwelt – dazu zähle ich auch die Die Tsunamikatastrophe stellt allein wegen der vielen Tropenwälder Indonesiens – ist Voraussetzung für die betroffenen Länder hinsichtlich Koordination und Logis- nachhaltige Entwicklung der Region. Wir müssen daher tik eine riesige Herausforderung für das nationale und die Appelle der Umweltorganisationen ernst nehmen internationale Krisenmanagement dar. Die Bundesre- und uns dafür einsetzen, dass der Wiederaufbau nicht zu gierung hat schnell reagiert und deutsche Hilfe richtiger- einer Abholzung der für das globale Weltklima so wich- weise auf die am schwersten betroffenen Regionen in tigen Tropenwälder führt. Aceh und Sri Lanka konzentriert. Auch der schnelle Ein- (B) satz der war eine gute und richtige Ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) scheidung. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall im ganzen Hause) Die Unionsfraktion fordert in ihrem Antrag: Im Namen der Unionsfraktion richtet sich mein Dank Die deutsche Unterstützung muss langfristig, se- an alle, die an den Hilfsmaßnahmen beteiligt waren, ob riös, solide finanziert, transparent und maßge- Ministerialbeamte, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, schneidert konzipiert werden. Soldaten oder private Helfer. Ebenso danke ich den vie- len Mitbürgern, die durch ihre Spenden deutlich ge- Hierzu erwarten wir von der Bundesregierung zu gege- macht haben, dass ihnen das Schicksal und das Leid der bener Zeit konkrete Aussagen. Noch ist uns nicht klar, Menschen in der Unglücksregion nicht gleichgültig sind. wie die Summe von 500 Millionen Euro finanziert wer- den und welche Projektschwerpunkte es geben soll. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So ist es!) Die überwältigende internationale Anteilnahme und Unterstützung für die Flutopfer sowie die Erfahrung, Jetzt kommt es darauf an, durch die Koordinierung dass schnelle internationale Hilfe in diesem Umfang mit den betroffenen Ländern, anderen Gebern und priva- überhaupt möglich ist, werfen auch ein bemerkenswert ten Hilfsorganisationen die bestmögliche und effizien- positives Licht auf die Globalisierung; dies möchte ich teste Verwendung der Mittel sicherzustellen und die besonders den Globalisierungskritikern mit auf den Weg Wiederaufbauhilfe in ein nachhaltiges entwicklungspoli- geben. Die deutsche humanitäre Soforthilfe, ob staatlich, tisches Konzept einzubetten. Wenn über 200 Hilfsorga- privat oder über Nichtregierungsorganisationen, hat ins- nisationen an einem Ort arbeiten, kommt es zwangsläu- gesamt gut funktioniert. fig zu Überlappungen und Doppelstrukturen, die durch eine verbesserte Koordination vermieden werden soll- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Zusammenhang mit der großen Spendenbereit- Natürlich gibt es auch Verbesserungsvorschläge. Des- schaft der Deutschen teile ich mit Bundespräsident halb appelliere ich, auch die Manöverkritik sehr ernst zu Köhler die Hoffnung, dass die Hilfe für Süd- und Süd- nehmen, damit wir für mögliche zukünftige Katastro- ostasien einen Bedeutungszuwachs der Entwicklungs- phen noch besser gewappnet sind. politik insgesamt mit sich bringt. Wir dürfen auf keinen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14983

Christa Reichard (Dresden) (A) Fall zulassen, dass nur die Krisen- und Katastrophenre- Solidarität hat damit einen Namen bekommen. Mehr als (C) gionen berücksichtigt werden, die besondere mediale 1 000 Schulen, Kommunen und Unternehmen haben Aufmerksamkeit genießen. mittlerweile ihr Interesse an einer mittel- und langfristi- gen Unterstützung bei der „Kommunalen Servicestelle – Sehr wichtig erscheint mir auch Folgendes: Sowohl in Partnerschaftsinitiative“ des BMZ in Bonn angemeldet, Aceh als auch in Sri Lanka toben seit Jahrzehnten anhal- Menschen, die wissen, dass, wenn die Soforthilfe been- tende Bürgerkriege. Es besteht die Gefahr, dass durch det ist, die Aufbauarbeit im Sinne eines nachhaltigen diese Bürgerkriege viele der Projekte und Hilfsmaßnah- Entwicklungsprozesses verlässlich fortgeführt werden men wieder zerstört werden oder nicht ihre volle Wirkung muss. entfalten können. Daher halte ich die Beilegung der Bür- gerkriege für die größte Herausforderung und zugleich Die Meldungen der Servicestelle in Bonn zeigen, dass wichtigste Voraussetzung für einen wirklich nachhaltigen die meisten Bewerbungen aus dem Bundesland Nord- Wiederaufbau und begrüße besonders die hoffnungsvol- rhein-Westfalen kommen, aus dem Bundesland, das len Verhandlungen, die die indonesische Regierung mit unter Ministerpräsident Johannes Rau damals die kom- den Rebellen führt und über die uns heute der Botschafter munale Entwicklungszusammenarbeit aufgebaut hat, von Indonesien berichtet hat, sie seien auf einem guten in der kommunale Eine-Welt-Beauftragte die Kommu- Wege. Wir wünschen Erfolg bei diesen Verhandlungen, nen, Nichtregierungsorganisationen und kirchlichen damit dann auch die Hilfsmaßnahmen zu einem guten Gruppen in ihrem Engagement unterstützen, sie vernet- Wiederaufbau führen können. zen und kooperative Formen der Zusammenarbeit auf- Ich danke Ihnen. bauen. Wir erkennen daran: Hilfe ist nicht einfach zu verordnen, sondern sie braucht, wie wir am Beispiel von (Beifall im ganzen Hause) Nordrhein-Westfalen sehen, auch ein gewachsenes Ver- ständnis von globaler Partnerschaft. Bonn war damit Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: auch die erste Stadt, die gemeinsam mit der Deutschen Ich erteile das Wort der Kollegin Karin Kortmann, Welthungerhilfe und dem Bonner „General-Anzeiger“ SPD-Fraktion. am 3. Januar ein solches Bündnis für die Menschen im Distrikt Cuddalore im Bundesstaat Tamil Nadu initiiert Karin Kortmann (SPD): hat. Wir haben festgestellt, dass dort an der Südküste In- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und diens die Deutsche Welthungerhilfe 1 992 Opferfamilien Kollegen! Frau Reichard hat darauf hingewiesen: Die – das sind rund 12 000 Personen; viele von ihnen sind Tsunamikatastrophe hat der Welt vor Augen geführt, Fischer – unterstützt und ihnen eine neue Existenzgrund- lage gibt. Daran sehen wir: Das Rad muss nicht neu er- (B) dass wir alle auf einem verwundbaren Planeten leben. (D) Die Gewalt der Wassermassen, deren Schreckensbilder funden werden. Gerade die Verbindung von Kommunen, uns Weihnachten via Fernsehen in unseren Wohnzim- Schulen und Entwicklungsorganisationen ist außeror- mern erreichten und aufschreckten, hat unermessliches dentlich hilfreich. Leid über so viele Menschen und Familien gebracht, wie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir es uns nie vorstellen konnten. Wir beklagen auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) heute noch die Toten und Verletzten, die Leidenden und vor allem die Angehörigen der Vermissten, die in ihren Diese Region ist wie viele andere Krisengebiete auf Herzen sicherlich noch immer große Hoffnung haben, internationale Hilfe angewiesen. Gestern konnte man in aber auch wissen, dass die Zeit Wunden heilen muss. „Spiegel online“ nachlesen, dass bisher rund 7 Milliar- Ich möchte deswegen ebenfalls zu Beginn meiner den US-Dollar für die Not- und Katastrophenhilfe, aber Rede sehr aufrichtig all jenen danken, die den Wettlauf auch für langfristige Entwicklungsprojekte weltweit zur mit der Zeit aufgenommen haben und schnell, unbüro- Verfügung gestellt wurden. kratisch, oft auch unter Einsatz und Gefährdung ihres ei- Ich habe bereits gesagt, dass die große Spenden- genen Lebens tatkräftig mit angepackt haben, um Hilfe summe eine große Hypothek für diejenigen ist, die für zu leisten. die Mittelverwendung zuständig sind. Denn die vielen (Beifall im ganzen Hause) Spender wollen wissen, an wen ihr Geld geht. Sie wollen wissen, ob damit den armen Menschen geholfen wird Die große Anteilnahme und auch die Spendenbe- oder ob das Geld in korrupten Strukturen versickert. Sie reitschaft in Deutschland sowie in vielen anderen Län- fragen sich außerdem: Dient das Geld allein dem Aufbau dern der Welt sind beispiellos. Sie sind auch heute noch, der Tourismusindustrie oder profitiert auch die ländliche zwei Monate nach der Katastrophe, sichtbar. Vielerorts Bevölkerung davon? Werden neue Ungleichheiten zwi- finden noch immer Sammelaktionen und Benefizveran- schen Tsunamigebieten und anderen vergessenen Kri- staltungen statt und die Kreativität bei der Vermittlung senregionen der Welt geschaffen? Werden die öffentlich von Hilfe ist unbegrenzt. zugesagten Mittel in Höhe von 500 Millionen Euro aus Sicherlich hat auch die schnelle Hilfe der Bundesre- dem laufenden BMZ-Haushalt finanziert oder handelt es gierung mit dazu beigetragen, dass diese Solidaritäts- sich um eine zusätzlich notwendige Hilfeleistung, die welle in Gang gesetzt wurde. Der Bundeskanzler hat mit nicht zulasten anderer Regionen geht? Frau Reichard hat seiner Idee der kommunalen Partnerschaften einen zu Recht darauf hingewiesen. Ich kann sie in ihrer Auf- ganz wichtigen Impuls gegeben. Die Globalisierung der fassung nur unterstützen. 14984 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Karin Kortmann (A) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ich habe gedacht, dies sei eine Verschlusssache. Walter (C) Kann die Regierung den Fraktionen darauf Riester sagte mir vorhin, dass die Rentenformel im Ver- antworten?) gleich zu dieser Forderung einfach zu erklären sei. – Herr Weiß, hören Sie doch bitte zu! (Markus Löning [FDP]: Das kann nur er sa- gen!) Ich wünsche mir deshalb, dass das öffentliche Inte- resse nicht nachlässt, sondern dass der Wunsch nach ob- Wir wissen nicht, was Sie darunter verstehen. Sie müs- jektiver Berichterstattung bei der Bevölkerung und bei sen besser ausdrücken, was Sie tatsächlich wollen. den Medien weiter besteht. Diese Berichterstattung hat Von grundsätzlicher und entscheidender Bedeutung um die Jahreswende entscheidend dazu beigetragen, wird sein, dass die Gebergemeinschaft zu einer weiteren dass die Tsunamikatastrophe dieses große Echo fand und Koordinierung ihrer Hilfeleistungen kommt. Die Viel- dass es diese Mobilisierung gab. Ich sage an die Adresse zahl von Hilfsorganisationen – es gibt allein in Sri Lanka der Medien: Tragen Sie jetzt dazu bei, dass auch dem 8 000 – ist unter quantitativen Gesichtspunkten sicher- weniger spektakulären Wiederaufbau Aufmerksamkeit lich beeindruckend. Diese Organisationen gleichen aber zuteil wird. hinsichtlich Effektivität, Transparenz und der Fähigkeit, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des die Eigenverantwortung der in den betroffenen Ländern BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lebenden Menschen zu stärken, eher einem uneffektiven, multilateral tätigen Hilfetrupp. Wir müssen in der Tat Andere „Tsunamis“ – beispielsweise die Vertreibung Sorge dafür tragen, dass nicht bei jeder multilateral er- und das Morden im Sudan, die HIV/Aids-Pandemien in forderlichen Hilfe eine Wanderungsbewegung von Orga- Südfrika – haben nicht diese mediale Aufmerksamkeit. nisationen, die es gut meinen, die aber nicht immer gut Das bedeutet weniger öffentliches Interesse und weniger arbeiten, stattfindet. Auf die Arbeit der Bundesregierung Unterstützung. Die Macht, aber auch die Kraft der Me- habe ich wohlwollend hingewiesen. dienberichterstattung entscheidet gerade in der Entwick- lungszusammenarbeit über die Stärke und den Umfang Wir müssen aber auch darauf hinweisen – ich denke, der öffentlichen und privaten Hilfe. das ist der entscheidende Punkt –, dass die Regierungen der betroffenen Länder die Hilfeleistungen nach den Kri- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ terien der Bedürftigkeit vergeben und sie nicht aufgrund DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der parteipolitischen Machtkalküls missbrauchen. Damit CDU/CSU) bietet sich hoffentlich die Chance, Bürgerkriegsparteien Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, Sie ha- zu versöhnen und nach dieser fürchterlichen Katastrophe ben in Ihrem Antrag einen umfassenden Forderungskata- zu einem wirklichen Friedensprozess zu kommen. Denn (B) wir alle wissen: Ohne Frieden ist eine Zukunft nach dem (D) log vorgelegt, den die Bundesregierung bearbeiten soll. Wiederaufbau nicht tragfähig. Unsere Möglichkeiten da- Ich darf in diesem Zusammenhang aber darauf hinwei- bei sind begrenzt. Bei aller gut gemeinten Unterstützung sen, dass die Bundesregierung schneller gehandelt hat, von außen bleibt entscheidend, ob in den jeweiligen als Sie in der Lage waren, Ihren Antrag zu schreiben. Staatsführungen und bei den Verantwortlichen in diesen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ländern der Wille zu einer vernünftigen Entwicklung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – des eigenen Landes vorhanden ist. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Na, na! Sie Bei der Wiedererlangung von Existenzen wird zurzeit haben zwei Monate später noch keinen Antrag der Schwerpunkt auf die Fischerei, auf die Ausstattung vorgelegt!) mit Booten, Netzen und Kühlanlagen, gelegt. Damit – Warum sollen wir ein Sammelsurium an Hilfeleistun- wird der Schaffung einer Existenzgrundlage in umfang- gen zusammenstellen, wenn doch die Bundesregierung reichem Maße Rechnung getragen. Aber wir sollten seit dem zweiten Weihnachtstag in einer konzertierten auch darauf achten, dass es nicht nur darum geht, die Aktion des Auswärtigen Amtes, des BMZ und des Ver- Männer auszustatten. Wir sollten dafür sorgen, dass auch teidigungsministeriums genau diese Leistungen er- junge Frauen Existenzgrundlagen bekommen. Die bringt? jüngsten Fernsehberichterstattungen machen mich da sehr nachdenklich. Unter dem Stichwort „Zurück zur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Normalität“ habe ich in der vergangenen Woche einen DIE GRÜNEN) Beitrag darüber gesehen, dass der so genannte Sextouris- Frau Reichard, Sie haben eben mit Recht darauf hin- mus wieder floriert und Männer sagen: Schön, dass wir gewiesen, dass es Klarheit in dem, was wir tun, geben da wieder ein Schnäppchen machen können! – Das ist muss. Darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. Verzei- ein wichtiger Punkt, den wir in der Entwicklungszusam- hen Sie mir, dass ich trotzdem auf den letzten Punkt Ih- menarbeit und in der Menschenrechtsarbeit berücksichti- res Antrags hinweisen muss. Darin fordern Sie die Bun- gen müssen. desregierung auf, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: die Modalitäten der deutschen Zusammenarbeit den Frau Kollegin, Ihnen ist sicher entgangen, dass Sie modernen Erfordernissen anzupassen und ein Kon- schon seit einer Minute von der Großzügigkeit des Präsi- zept zur maßgeschneiderten Zusammenarbeit orien- denten leben. tiert an der Leistungsfähigkeit der Partner vorzule- gen. (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14985

(A) Karin Kortmann (SPD): tig, dort zu helfen, wo vielleicht mit weit weniger Geld (C) Herr Präsident, ich danke für dieses nordrhein-westfä- und weit weniger spektakulär geholfen werden kann. lische Verständnis. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich glaube, dass wir im Ausschuss – wenn ich diesen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- Gedanken noch zu Ende führen darf –, was die Hilfeleis- SES 90/DIE GRÜNEN) tungen und die Bemühungen angeht, einer Meinung Ich möchte an dieser Stelle auf eines deutlich hinwei- sind. Wir sagen allerdings: Die Bundesregierung hat ge- sen: Zwei Länder, die betroffen sind, nämlich Indien und handelt und handelt weiterhin. Deswegen danke für die Thailand, haben gesagt, sie seien von sich aus, aus eige- Anregungen! Aber sie werden bereits umgesetzt. ner Stärke, in der Lage, diese Katastrophe zu bewältigen. Herzlichen Dank, Herr Präsident. Die Inder reden von einem Schaden in der Größenord- nung von immerhin 450 Millionen bis 500 Millionen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dollar. Es geht dabei also nicht um Peanuts. Die Inder DIE GRÜNEN) haben gesagt, sie seien in der Lage, das selbst zu bewäl- tigen. Ich finde, auch die Anstrengungen, die dort unter- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nommen werden, bedürfen unserer Anerkennung. Bevor ich nun dem Kollegen Markus Löning das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wort erteile, weise ich die Vermutung zurück, es gebe ei- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nen Nordrhein-Westfalen-Bonus bei der Bemessung von Redezeiten. In einem anderen Punkt – er wurde hier schon ange- sprochen – möchte ich Ihnen widersprechen bzw. Sie (Heiterkeit bei der SPD – Dr. Christian Ruck bitten, den Antrag noch ein bisschen nachzubessern: die [CDU/CSU]: Das werden wir ja sehen!) Frage der Bürgerkriege. Ich glaube, es ist nicht richtig, dass dieser Punkt in Ihrem Antrag nur einer von vielen Bitte schön. ist. Die Situation in den Ländern steht und fällt mit der Frage, ob die Bürgerkriege beendet werden. Es macht Markus Löning (FDP): doch überhaupt keinen Sinn, dass unsere Schulen für den Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für diesen Aufbau einer Schule in Banda Aceh Geld sammeln, Hinweis, Herr Präsident, bin ich natürlich sehr dankbar. wenn als nächstes die GAM hingeht und die Schule wie- Ich werde mich bemühen, mich strikt an die Redezeit zu der abbrennt, weil dort aus ihrer Sicht weiterhin zentrale halten. Inhalte, die in Jakarta bestimmt werden – die GAM be- kämpft das –, unterrichtet werden. Wir müssen sehr viel (B) Ich glaube, es ist selbstverständlich, dass wir in dieser mehr dafür tun, dass die Bürgerkriege beigelegt werden. (D) Debatte – das ist meines Wissens die erste Debatte, die wir zu der Tsunamikatastrophe führen – zunächst einmal Das gilt im Übrigen genauso für Sri Lanka, dessen deutlich machen, mit wie viel Dankbarkeit wir auf das Entwicklung seit vielen Jahren durch den Bürgerkrieg schauen, was die vielen Helfer dort geleistet haben. Ich blockiert wird. Sri Lanka könnte längst eine wesentlich selbst bin vorletzte Woche in Banda Aceh gewesen und höhere Stufe in seiner Entwicklung erreicht haben, wenn habe gesehen, wie die Situation vor Ort ist. Vor Ort zu dieser Bürgerkrieg nicht jegliche Investition verhinderte. sein führt noch einmal zu einer ganz anderen Erfahrung Die Frage der Bürgerkriege muss aus meiner Sicht viel als die Bilder, die schon im Fernsehen furchtbar wirken. stärker in den Fokus dessen rücken, was wir hier bespre- Die unmittelbare Wirkung vor Ort ist noch einmal ganz chen. anders. (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ Wenn man die Lage vor Ort gesehen hat, kann man CSU) noch viel deutlicher empfinden, welche große menschli- Herr Ruck, lassen Sie mich zum Schluss noch eine che Leistung unsere Helfer und die vielen Freiwilligen Anmerkung zur ODA-Quote von 0,33 Prozent – Sie ha- erbringen, die beispielsweise gesagt haben: Natürlich ben sie angesprochen – machen. Die Bundesregierung gehe ich mit dem THW für sechs Wochen nach Indone- braucht keinen Plan mehr vorzulegen, wie sie die Quote sien und helfe dort. – Ich habe einen Mann kennen ge- von 0,33 Prozent erreichen will; denn sie hat dem Irak lernt, der seinen Installateurbetrieb seinen Mitarbeitern 4 Milliarden Euro geschenkt und erreicht damit in die- überlassen und gesagt hat: Ich gehe da hin, um zu helfen. sem Jahr auf jeden Fall die ODA-Quote von Ich denke, dass das unserer ganz besonderen Anerken- 0,33 Prozent. Man kann darüber diskutieren, ob solch nung bedarf. eine Entschuldung überhaupt sinnvoll und richtig ist und ob sie für die ODA-Quote angerechnet werden soll. Es (Beifall im ganzen Hause) bleibt aber festzuhalten: Die Bundesregierung wird die Lassen Sie mich generell zu diesem Thema ein paar ODA-Quote von 0,33 Prozent durch diese Entschuldung Punkte anmerken. Die Bundesregierung hat gesagt, sie erreichen. konzentriere sich auf Indonesien und Ceylon. Auch die (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: CDU/CDU hat das in ihrem Antrag gefordert. Ich finde Einmalig!) es schade, dass wieder einmal Afrika herausfällt. Ich rege an, Somalia und das Horn von Afrika nicht zu ver- An dieser Debatte stört mich, dass man jetzt aufgrund gessen, wo es auch Betroffene gab. Es ist gut, dort zu der Hilfsbereitschaft der Menschen sagt: Entwick- helfen, wo die Not am größten ist. Es ist aber auch wich- lungspolitik hat Konjunktur, also lasst uns doch einmal 14986 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Markus Löning (A) darüber reden, wie wir mehr Geld für die Entwicklungs- sind, halten auch wir es für richtig, zu dem zu stehen, (C) politik einsetzen können, sei es durch Steuererhöhungen was die Bundesrepublik bzw. die Bundesregierung ver- oder sei es durch eine höhere Verschuldung. Das ist eine sprochen hat, nämlich bis 2006 eine ODA-Quote von Debatte, die ich nicht verstehe. Warum gehen wir nicht 0,33 Prozent zu erreichen. den Weg, zunächst einmal die schwierigeren Themen an- zugehen? Warum führen wir nicht eine Debatte darüber, Damit bin ich bei einem zweiten Punkt, über den wir wo wir Entwicklungshilfe sinnvoll konzentrieren können neulich schon im Ausschuss diskutiert haben, nämlich und wo es Länder gibt, die keine Entwicklungshilfe der Frage des Schuldenerlasses zugunsten von Irak: Frau mehr brauchen, bevor wir den Weg in eine weitere Ver- Kortmann, ich erwarte, dass es in diesem Hause einen schuldung gehen? breiten Konsens darüber gibt, dass die Mittel, die für einen Schuldenerlass des Iraks eingesetzt wurden, nicht Ich schaue bei diesem Thema immer besonders gern auf die ODA-Quote von 0,33 Prozent angerechnet wer- die Grünen an, weil sie 1998 hier angetreten sind und ge- den dürfen. sagt haben: Wir wollen Generationengerechtigkeit in der Finanzpolitik; wir wollen eine nachhaltige Finanzpolitik. (Ute Kumpf [SPD]: Ist das mittlerweile noch eine Kurzintervention?) ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Genau!) Darüber, ob ein Schuldenerlass für Irak sinnvoll ist, kann man sicher streiten. Jedenfalls darf das nicht zu einem Diese Ziele werden leichtfertig über Bord geworfen; sie Trick werden, sodass man sagt: Gut, die ODA-Quote ha- spielen nicht einmal mehr eine Rolle. ben wir erfüllt. – Ein solches Vorgehen würden wir nicht mittragen. (Beifall bei der FDP – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rede (Beifall bei der CDU/CSU) fing gut an, endet aber albern!) Ich finde, wir sollten zunächst die schwierigen Debatten Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: darüber führen, wie wir das Geld sinnvoll konzentrieren Für die Bundesregierung spricht nun die Parlamenta- können, bevor wir einfach mehr Geld verlangen. rische Staatssekretärin Uschi Eid.

Vielen Dank. Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- (Beifall bei der FDP) ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- (B) ren! Ich würde vorschlagen, dass wir über das Thema, (D) Nachdem ich jetzt den Nachweis geführt habe, dass es um das es gerade ging, in den dafür geeigneten Gremien, nicht nur für nordrhein-westfälische Kollegen Zuschläge im zuständigen Ausschuss und in den Fraktionen, disku- gibt, erhält der Kollege Ruck die Möglichkeit zu einer tieren. Ich glaube, hier können wir uns verständigen. Kurzintervention. Aber heute, zwei Monate nach der verheerenden Flutka- tastrophe in Südostasien, will ich über den aktuellen Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Stand der Dinge berichten und Sie darüber informieren. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Obwohl die Flutkatastrophe bereits zwei Monate her ist, von Herrn Löning direkt angesprochen worden und stehen wir immer noch völlig fassungslos vor dieser Tra- möchte deshalb zwei Bemerkungen machen. gödie. Die Hunderttausenden Toten lassen uns nicht los, noch immer vermissen Familien Angehörige und täglich Erstens. Ich glaube schon, dass auch wir, die Opposi- werden, selbst nach so langer Zeit, weitere Tote gebor- tion, aufgefordert sind, die Versprechen, die die Bundes- gen. regierung den Entwicklungsländern in Monterrey gege- ben hat, gemeinsam umzusetzen. Wir jedenfalls stehen Die Bundesregierung und die deutsche Bevölkerung zu dem Versprechen, das die Bundesregierung gegeben sind nicht zur Tagesordnung übergegangen. Damit straf- hat, nämlich eine ODA-Quote von 0,33 Prozent zu er- ten sie in der Öffentlichkeit geäußerte Befürchtungen reichen. Man muss sich natürlich fragen – da gebe ich Lüge. Indonesien, Sri Lanka, Indien, die Malediven, Ihnen Recht –, wie die Erfüllung der Quote von Thailand und Somalia wurden nicht vergessen oder von 0,33 Prozent erreicht werden soll. Auch wir sind strikt der Tagesordnung verdrängt. Im Gegenteil: Der Bundes- dafür, dass wir nicht in eine weitere Schuldenfalle tap- außenminister und die Bundesentwicklungsministerin pen, sondern dass wir uns über die Qualität der Ent- haben die betroffene Region besucht. Frau Ministerin wicklungshilfe und die Schwerpunkte der zukünftigen Wieczorek-Zeul kam erst gestern aus Sri Lanka zurück, Entwicklungshilfe, über die Länderauswahl, die Sekto- wo sie sich über die gegenwärtige Situation und den renauswahl und auch über eine bessere internationale Fortschritt beim Wiederaufbau informiert hat. Arbeitsteilung unterhalten. Das wird zu einem Schwer- punkt auch der Diskussionen in diesem Hause zur Ent- Die noch immer andauernde Spendenbereitschaft wicklungspolitik. der Bevölkerung sowie die überaus positive Resonanz auf die Partnerschaftsinitiative des Bundeskanzlers sind Dessen ungeachtet und vor dem Hintergrund der dra- ermutigend. Bisher wurden über 500 Millionen Euro ge- matischen Situation, dass in vielen Ländern dieser Welt spendet. 80 Partnerschaften wurden bereits vermittelt. Erfolge bei der Armutsbekämpfung bisher ausgeblieben Das Interesse von Schulen, Kommunen und Verbänden, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14987

Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid (A) Partnerschaften einzugehen, ist so groß, dass die „Ser- rin hat umfassende Transparenz hinsichtlich der Verwen- (C) vicestelle Kommunen in der Einen Welt“ in Bonn seit dung dieser Gelder zugesagt, so wie es die beste Tradi- Januar mit zehn zusätzlichen Halbtagskräften besetzt tion unseres Hauses ist. bleiben muss, die von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends Anfragen aus der Bevölkerung bearbeiten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Christian Ruck [CDU/ Die Beauftragte des Bundeskanzlers für die Partner- CSU]: Na ja! – Markus Löning [FDP]: Hört! schaftsinitiative der deutschen Fluthilfe, Frau Christina Hört!) Rau, ist die Garantin für eine gute Zusammenarbeit zwi- schen Ministerien, Ländern und Kommunen auf der ei- Die Wiederaufbauhilfe folgt dem entwicklungspoliti- nen Seite und den Partnern in den betroffenen Gebieten schen Ziel, das Selbsthilfepotenzial der Überlebenden auf der anderen Seite. zu stärken. Der Wohnungsbau, die kommunale und so- ziale Infrastruktur, Wasser- und Stromversorgung, Hand- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) werk und Kleinbetriebe stehen hierbei im Vordergrund. Sie ist aber auch die Garantin für eine Kooperation, die Den Betroffenen ist am meisten geholfen, wenn die respektvoll mit den Partnern umgeht und auch ein Auge Wirtschaftskraft in den Ländern wieder gestärkt wird darauf haben wird, dass das Recht auf Selbstbestim- und wenn die Menschen wieder in die Lage versetzt wer- mung der Partner von der anrückenden Hilfswelle nicht den, für sich und ihre Familie selber zu sorgen. untergraben wird. Umweltaspekte müssen zukünftig stärker in den Mit- Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen: Wenn telpunkt rücken. Erste Untersuchungen haben gezeigt, in einem Land wie Sri Lanka plötzlich über 1 000 Nicht- dass intakte Mangrovenwälder und Korallenriffe die Be- regierungsorganisationen tätig sind, kann dies dazu füh- völkerung vor der Wucht der Welle geschützt haben. ren, dass die Menschen vor Ort nicht mehr Herr im eige- Umweltschutz ist Katastrophenschutz und muss bei nen Haus sind, sondern die Helfer – wie gut auch immer Wiederaufbaumaßnahmen integraler Bestandteil sein. sie es meinen – das Geschehen bestimmen. Hier muss Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass der Wiederauf- man daher sehr koordiniert vorgehen. bau gelingt, ist allerdings – das haben viele Vorredner schon gesagt – der Frieden. Deswegen fordere ich von Sehr geehrte Damen und Herren, die Bundesregie- hier aus alle beteiligten Gruppierungen auf, zusammen- rung hat sofort nach dem Seebeben auf der ersten Geber- zuarbeiten. In Sri Lanka müssen die Tamilenrebellen der konferenz der Vereinten Nationen 50 Millionen Euro für LTTE und die Regierung ihre Friedensgespräche wieder die Nothilfe zur Verfügung gestellt. Dieses Geld diente aufnehmen. Unverzichtbar ist der so genannte gemein- der dringend notwendigen Versorgung mit Medikamen- same Mechanismus, damit beide Konfliktparteien ge- (B) ten, Decken und Nahrung. Wir dürfen nicht übersehen, meinsam dafür Sorge tragen, dass die Hilfe in alle Ge- (D) welch großartige Leistungen seit dieser Zeit erbracht biete kommt. worden sind. Allein die Tatsache, dass es zum Beispiel nicht zum befürchteten Ausbruch von Seuchen gekom- Liebe Kolleginnen und Kollegen, sowohl in Sri Lanka men ist, ist ein Wunder. Dieses Wunder verdanken wir als auch in Indonesien liegt in der Katastrophe auch die der guten Hilfe vor Ort. Großen Respekt zolle ich den Chance, dass ihre Bewältigung produktiv genutzt wer- Regierungen der betroffenen Länder, den nationalen und den kann und durch gemeinsame Wiederaufbauaktivitä- regionalen Behörden sowie den Helferinnen und Hel- ten ein Versöhnungsprozess erwächst. Wir wünschen fern, die selbstlos und aufopfernd bis zur Erschöpfung den betroffenen Menschen, dass diese Chance zum Frie- zugepackt haben. den genutzt wird; auf diesem Weg haben beide Länder unsere Unterstützung. (Beifall im ganzen Hause) Unser großer Dank – da schließe ich mich allen mei- Danke schön. nen Vorrednern an – gilt den Durchführungsorganisatio- (Beifall im ganzen Hause) nen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sowie der Bundeswehr, dem THW, den Hilfswerken und den Nichtregierungsorganisationen. Viele Menschen haben Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sich engagiert; das ist ein großartiges Vorbild. Das Wort hat nun der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU) Bundeskanzler Schröder hat angesichts der Heraus- forderungen des Wiederaufbaus der zerstörten Gebiete 500 Millionen Euro zugesagt. Diese werden über die Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): nächsten drei bis fünf Jahre ausgezahlt, und zwar sowohl Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen für Maßnahmen in Asien als auch für Maßnahmen in den und Kollegen! Ich möchte den letzten Punkt aufgreifen, betroffenen ostafrikanischen Ländern; auch diese brau- den die Staatssekretärin angesprochen hat und auf den chen Frühwarnsysteme und entsprechende Katastro- auch Markus Löning schon verwiesen hat: Wie immer phenschutzpläne und -übungen. Dieses Geld, das zusätz- liegt in Katastrophen wie dieser auch eine Chance, eine lich zur Verfügung gestellt wird, ist für den mittel- und Herausforderung. Deshalb sollte man sich noch einmal langfristigen Wiederaufbau nötig. Gestern haben wir im die vier oder fünf Krisengebiete in der Region vor Au- Ausschuss über diesen Punkt diskutiert und die Ministe- gen führen: 14988 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Klaus-Jürgen Hedrich (A) Da ist natürlich Aceh. Wir begrüßen es außerordent- Betroffenen in der Region selbst gelöst werden. Dabei (C) lich, dass gestern die zweite Runde der Verhandlungen können wir sie aber unterstützen. zwischen der indonesischen Regierung und den Rebel- lengruppen zu Ende gegangen ist. Die GAM scheint ei- In diesem Zusammenhang sollten wir uns durchaus nen autonomen Status für Aceh zu akzeptieren und auf noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen – das ist auch völlige Selbstständigkeit zu verzichten; da hat sich auch schon zwei- oder dreimal angesprochen worden –, dass Martti Ahtisaari, der frühere finnische Präsident, Ver- es Länder wie Indien und Thailand gibt, die sich bewusst dienste erworben. Diese Entwicklung stimmt hoffnungs- dafür entschieden haben, die Folgen der Katastrophe mit voll. ihren eigenen finanziellen und personellen Ressourcen anzugehen. Natürlich haben diese Länder die notwendi- In Sri Lanka ist es noch nicht ganz so günstig, aber gen finanziellen Ressourcen. Trotz allem sollten wir aber auch hier, Frau Ministerin, möchten wir uns bei Ihnen nicht vergessen, dass große Teile der indischen Bevölke- bedanken, dass Sie diese Frage bei Ihrem Besuch dort rung bitterarm sind. Die Ungleichverteilung der natür- angesprochen haben; für das Land liegt in der Katastro- lichen und auch der finanziellen Ressourcen in diesem phe eine große Chance. Lande wirft andere Fragen auf, die natürlich auch mit der EZ zu tun haben. Wir müssen übrigens überall in den von der Katastro- phe betroffenen Gebieten darauf achten, dass keine Seite Markus Löning, ich vermute, dass wir uns bei der – welche auch immer – die Not der Menschen in klin- Definition von Entwicklungspolitik ein wenig missver- gende Münze umzusetzen versucht; was die tamilischen standen haben. Übrigens vermeide ich den Begriff „Ent- Rebellen manchmal anstellen, ist auch nicht besonders wicklungshilfe“. Ich glaube, darüber sind wir inzwi- erfreulich. schen schon hinweg. Man sollte aber auch die anderen Krisengebiete be- (Ute Kumpf [SPD]: Über dieses Stadium sind achten: Auch Papua im Osten Indonesiens ist eine wir hinaus! Es ist eine Zusammenarbeit!) Frage, die immer noch nicht gelöst ist. Da die Insel Neu- Ich plädiere immer dafür, dass wir uns die Bereiche, in guinea des Öfteren von Tsunamis betroffen ist, hoffe ich, denen wir mit den Ländern zusammenarbeiten, immer dass es nicht auch dort erst einer Tsunamiwelle bedarf, sehr sorgfältig anschauen können. Wenn Sie sich die pri- bis man sich zu einer vernünftigen Autonomieregelung vate Ebene und die Kirchen in Indien anschauen, dann für dieses Gebiet durchringt. erkennen Sie, dass ein großer Bestandteil der Arbeit dort Wir sollten in diesem Zusammenhang übrigens auch natürlich die unmittelbare Armutsbekämpfung ist. Zum die Situation in Südthailand nicht vergessen. Der mit Beispiel in der Wissenschaftskooperation ist Indien aber (B) großer Mehrheit wiedergewählte Ministerpräsident von natürlich ein sehr interessanter Partner. (D) Thailand, Thaksin, könnte sich hier große Verdienste er- (Ute Kumpf [SPD]: Oh ja! Sie sind teilweise werben, wenn er auf die muslimische Bevölkerung im gescheiter als die Schwaben! Das gibt es sel- Süden seines Landes zugehen würde, um auch dort Frie- ten!) den zu stiften. Frau Ministerin, ich würde es übrigens begrüßen, wenn Ein weiterer Punkt, der uns in den nächsten Wochen die Zuständigkeit für die internationale Wissen- intensiver beschäftigen wird, ist, wie es mit dem Krisen- schaftskooperation mehr bei Ihnen als woanders konzen- herd Burma aussieht. Wir hatten heute eine Diskussion triert wäre. Das Problem hatten wir aber schon einmal. mit dem malaysischen und mit dem indonesischen Bot- Insofern denke ich, dass auch dort große Chancen liegen. schafter. Malaysia wird den Vorsitz in der ASEAN-Ge- Das erkennt man, wenn man sich das anschaut. meinschaft ab Mitte dieses Jahres innehaben. Im Laufe des nächsten Jahres wird dann Burma – Myanmar – den Ich fasse zusammen: Die Krise – jetzt geht es um den Vorsitz übernehmen. Wir müssen uns natürlich bereits Wiederaufbau – bedeutet für die Länder eine große heute fragen – einige der Kollegen waren anwesend; ich Chance und Herausforderung. Deutschland und die sehe hier Renate Jäger und Alex Bonde –, wie die EU Europäische Union sollten jede Chance nutzen, den Pro- reagiert, wenn sich die Situation in Burma nicht verbes- zess für Frieden und Versöhnung sowie zum Wiederauf- sert. Sie hat Auswirkungen auf die gesamte Lage. Glück- bau in dieser Region zu unterstützen. licherweise ist das Land von der Katastrophe weitestge- Herzlichen Dank. hend verschont geblieben. Aber auch hier zeigt sich wieder, dass sich das Regime letzten Endes weigert, die (Beifall im ganzen Hause) Karten offen auf den Tisch zu legen. Der Appell lautet also, diesen gesamten Prozess zu Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nutzen, um die Verantwortlichen darauf hinzuweisen, Ich erteile das Wort dem Kollegen Raabe, SPD-Frak- dass sie jetzt die große Chance haben, in ihren Ländern tion. Versöhnung zu stiften. Überall dort, wo wir das von außen unterstützen können, sollten wir das auch tun. Ich Dr. Sascha Raabe (SPD): komme noch einmal auf das Beispiel von Myanmar bzw. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Burma zurück: Die schwierigen Probleme dort können ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundespräsident natürlich weder in Berlin noch in Washington, London Horst Köhler hat nach der Flutkatastrophe ein richtiges oder Brüssel gelöst werden. Sie müssen schon von den Bild gebraucht: Wenn man Menschen dauerhaft aus Ar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14989

Dr. Sascha Raabe (A) mut befreien will, dann reicht es nicht, ihnen jeden Tag gen, dass eine friedliche Koexistenz zwischen den Reli- (C) Fisch als Mahlzeit zu spendieren, sondern dann muss gionen möglich ist. Entwicklungspolitik ist immer auch man ihnen auch ein Fischerboot kaufen, damit sie sich Friedenspolitik. ihren Fisch selbst fangen können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Wir können mit Selbstbewusstsein feststellen: Unsere So weit, so gut. In Zeiten der Globalisierung reicht das internationale Zusammenarbeit ist vorbildlich und wird aber noch nicht aus; denn wir müssen den Fischern mit bei unseren Partnern geschätzt und anerkannt. Anfang fairen Handelsbedingungen auch die Möglichkeit geben, dieser Woche war Ministerin Heidemarie Wieczorek- den Fisch zu einem guten Preis zu verkaufen. Zeul in Sri Lanka. Neben dem Erleben von viel Leid und Hoffnung brachte sie für Deutschland auch gute Nach- Das Beispiel der Fischerei ist nicht zufällig gewählt. richten aus der Krisenregion mit; denn Sri Lanka schätzt Wir alle kennen die Opferzahlen der Katastrophe, die Deutschland als verlässlichen und willkommenen Part- mehr als einer Viertelmillion Menschen das Leben ge- ner. Überdies wird dort die Arbeit der deutschen Ent- kostet hat. Aber die wirtschaftlichen Schäden durch wicklungsorganisationen von allen Seiten hoch geachtet. Zerstörung der Infrastruktur hätten eine Katastrophe nach der Katastrophe zur Folge, wenn wir nicht schnell Aber auch viele regionale Initiativen verdienen Lob. und entschlossen handeln würden. In Sri Lanka sind Es wurde schon von Kollegin Kortmann gesagt, dass 70 Prozent der Fischerboote und zehn von zwölf Häfen dem Aufruf des Kanzlers, nachhaltige Partnerschaften zerstört. Dazu kommen natürlich die verheerenden Aus- zu gründen, erfreulich viele Kommunen gefolgt sind. Da wirkungen auf den Tourismussektor und auf fast alle heute schon so viel von Nordrhein-Westfalen die Rede Wirtschaftszweige durch Zerstörung der Straßen, Brü- war, lassen Sie mich als Hesse eine besondere Aktion cken und anderer wichtiger Einrichtungen. aus meiner Heimat, dem Main-Kinzig-Kreis, hervor- heben. Hier wurde eine Partnerschaft mit dem Ort Der Tsunami hat von der Welt eine besondere Solida- Beruwala in Sri Lanka ins Leben gerufen. Rund rität verlangt und die Welt hat besondere Solidarität ge- 150 000 Euro wurden allein bei diesem kommunalen geben. Die Hilfsbereitschaft in Deutschland ist bei- Projekt von Unternehmen, Bürgern, Kommunen und spielhaft. Die privaten Haushalte haben bisher über Institutionen im Kreis gesammelt. Zielgenau wurden 400 Millionen Euro gespendet und auch heute, zwei Mo- mithilfe einheimischer Experten bisher etwa 14 Schulen, nate nach der Flutkatastrophe, ist die Spendenbereit- elf Fischerboote und mehrere Häuser instand gesetzt. schaft ungebrochen. Auch die Bundesregierung hat schnell und solidarisch gehandelt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Elf Schulen aus dem Kreis wollen sich in Form von Schulpatenschaften dauerhaft engagieren. Diese Initia- Die feste Hilfszusage in Höhe von 500 Millionen Euro tive hat bereits spürbar gewirkt. In Beruwala kann mitt- an die betroffenen Länder ist im internationalen Ver- lerweile wieder gefischt werden. Das erste Boot ist auf gleich unerreicht. den Namen „Main-Kinzig-Kreis“ getauft worden. (Markus Löning [FDP]: Bisher ist es nur eine (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten Zusage!) der SPD) Mehr noch: Zu dieser Summe wird, wo es sinnvoll er- Ich möchte dieses Boot als Symbol dafür nehmen, dass scheint, Schuldenerlass gewährt. wir Menschen dieser Welt alle im gleichen Boot sitzen, Manche in Deutschland sind stolz darauf, dass wir ganz egal ob es im Main-Kinzig-Kreis, in Nordrhein- Exportweltmeister sind. Manche sind stolz, deutsch zu Westfalen oder in Sri Lanka ist. sein, aus Gründen, die ich nicht weiter ausführen Unsere Hilfe darf nicht enden, wenn die Katastrophe möchte. Andere, wie ich, sind stolz darauf, dass wir in aus den Köpfen der Menschen verschwunden ist. Jeden Bezug auf Solidarität und Hilfsbereitschaft Weltmeister Tag sterben weltweit 24 000 Menschen an den Folgen sind. Ich denke, das ist etwas, worauf wir im Interesse von Hunger und Armut. Deswegen müssen wir unser der Menschen wirklich stolz sein können. Bewusstsein dafür weiterentwickeln, dass unsere Verant- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wortung global ist, in Südostasien genauso wie in DIE GRÜNEN) Afrika. Es gilt das Motto der nachfrageorientierten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Entwicklungszusammenarbeit. Es ist schon angespro- Die Katastrophe in Südasien hat uns auch Denkanstöße chen worden: Natürlich braucht ein Land wie Thailand für die zukünftige Ausrichtung der Entwicklungszusam- keinen Schuldenerlass. Die Hilfsmaßnahmen der Bun- menarbeit gegeben. Es wurde deutlich, dass Entwick- desregierung in Indonesien und Sri Lanka müssen in lungszusammenarbeit kohärent sein muss. Sie kann nur Friedensinitiativen in die von Bürgerkriegen zerrütteten dann kohärent sein, wenn sie mit einer stimmigen Wirt- Regionen eingebettet werden. Selbstverständlich wollen schafts- und Handelspolitik einhergeht. wir auch die Chance nutzen, Indonesien als dem bevöl- kerungsreichsten muslimischen Land der Erde zu zei- (Beifall des Abg. Markus Löning [FDP]) 14990 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Sascha Raabe (A) Schauen wir uns die Wirtschaftssektoren in den be- aktionsteuer, die so genannte Tobintax, würde eine sol- (C) troffenen Ländern an. Wenn wir an Thailand denken, che Möglichkeit bieten. Deshalb freue ich mich, dass, denken wir vor allem an die reichen Tourismusregionen nachdem Heidi Wieczorek-Zeul das schon länger for- an den Küsten. In den ländlichen Gebieten herrscht aber dert, auch Bundeskanzler Schröder dies jüngst erstmals oft noch bittere Armut und die Menschen sind auf die ausdrücklich befürwortet hat; denn unkontrollierte Fi- Landwirtschaft angewiesen. Thailand hat als Zuckerpro- nanzspekulationen gehen schließlich oft zulasten der duzent enorme Wettbewerbsvorteile. Es kann seinen Zu- Entwicklungsländer. cker aber nicht auf dem Weltmarkt absetzen, weil dort (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des EU-subventionierte Exporte die Weltmarktpreise drü- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) cken und gleichzeitig durch Zölle und Protektionismus der Markt bei uns abgeschottet wird. Sie erwähnen in Ihrem Antrag die Asienkrise von 1997. Deswegen erwarte ich von Ihnen aus der Union, dass Sie Deshalb müssen wir für eine andere Handelspolitik nicht immer gegen die Tobinsteuer anreden, sondern ihre sorgen. Denn hätte Thailand mehr Geld gehabt und wäre Einführung unterstützen. es besser entwickelt gewesen, dann hätte vielleicht mehr Geld für ein Frühwarnsystem zur Verfügung gestanden (Markus Löning [FDP]: Da haben sie mal und dann wären viele Häuser stabiler gebaut gewesen. Recht, wenn sie dagegen sind!) Wir als SPD-Fraktion haben dies in all unseren Be- Sie, Herr Löning, haben gefragt, wie man die ODA- schlüssen zur Welthandelsrunde und zum Zuckermarkt Quote erhöhen kann, ohne sich weiter zu verschulden. immer deutlich gemacht. Von Ihnen, meine Damen und Einerseits kann man bei den Agrarsubventionen, die in Herren von der Opposition, hat es dazu im Bundestag Europa die Hälfte des EU-Haushaltes ausmachen und immer nur Gegenstimmen gegeben. weltweit bei über 300 Milliarden Euro liegen, etwas ma- chen. Das ist das Sechsfache der Mittel für die Entwick- (Markus Löning [FDP]: Na, na!) lungszusammenarbeit. Herr Dr. Ruck, Sie haben vorhin – Richtig, es war die CDU. – In dem Antrag, den Sie den Irak angesprochen. Es gehen pro Jahr 956 Milliar- heute im Bundestag eingebracht haben, gibt es sicherlich den Euro in die Rüstung und das Militär. Das ist ein An- viele Punkte, denen ich zustimmen kann. Aber niemand stieg von 18 Prozent seit 2002. Wenn wir, wie die Union von Ihnen hat bei diesem Antrag an die Handelspolitik es gewollt hat, unsere Soldaten auch in den Irak ge- gedacht. Ich sage Ihnen: Ohne kohärente Handelspolitik schickt hätten, dann hätten wir noch weniger Geld für Entwicklungszusammenarbeit. macht das alles keinen Sinn. Um beim Bild zu bleiben: Es reicht nicht aus, Fischerboote zu kaufen, sondern der (Zuruf des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/ (B) Fischer muss seinen Fang auch zu fairen Preisen verkau- CSU]) (D) fen können. Wenn wir auch nur einen Bruchteil der Gelder für Rüs- Der Fischereisektor ist ein bedeutender Wirtschafts- tung für die Entwicklungszusammenarbeit ausgäben, zweig für die Entwicklungsländer. Zwei Drittel der Welt- dann hätten wir für die Armutsbekämpfung mehr Geld, bevölkerung deckt über 40 Prozent des Proteinbedarfs ohne uns weiter verschulden zu müssen. mit Fischereiprodukten. Allein in Ost- und Südasien gilt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fisch als wichtigste Eiweißquelle für 1 Milliarde Men- DIE GRÜNEN) schen. Die Existenz von 300 bis 500 Millionen Men- schen hängt von der Fischerei ab. Auch hier wird die Existenz durch die Industrieländer gefährdet, die mit Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: subventionierten Fangflotten vor den Küsten Afrikas Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. und Asiens die Fischbestände räubern. Zum Teil ge- schieht dies legal durch Zahlung von Lizenzgebühren an Dr. Sascha Raabe (SPD): oft korrupte Behörden, zum Teil auch illegal unter fal- Ich kann damit abschließen. – Wir müssen den Ent- scher Beflaggung. Gleichzeitig wird der Marktzugang wicklungsländern die Chance geben, ihre Stärken zu ent- von den USA durch unzulässige Antidumpingmaßnah- falten. Deswegen müssen wir eine faire Handelspolitik men oder von Europa durch Zölle erschwert. Wir müs- betreiben. Aus diesem Grunde können wir Ihrem Antrag sen endlich damit aufhören, den Entwicklungsländern nicht zustimmen. Ich glaube aber, wir werden uns an an- die Märkte für ihre Produkte zu versperren. Das gilt für derer Stelle über eine gerechte Globalisierung weiter alle Agrarprodukte, die für Entwicklungsländer bedeu- konstruktiv streiten. tend sind. In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerk- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE samkeit. GRÜNEN und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Jahr 2005 soll nicht erst seit der schrecklichen DIE GRÜNEN) Flutkatastrophe in Südostasien das Jahr der Armutsbe- kämpfung werden. Wir sind auch im fünften Jahr nach Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: der Festsetzung der Milleniumsentwicklungsziele und Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat das im entscheidenden Jahr der WTO-Entwicklungsrunde. Wort der Kollege Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion. Wir haben heute schon darüber diskutiert, wie man Ar- mutsbekämpfung finanzieren kann. Eine Devisentrans- (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14991

(A) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Menschen, die bereit sind, sich dort zu engagieren und (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Geld zu spenden – egal, ob es 5 Euro, 500 Euro oder Raabe, ich bin etwas enttäuscht über die Krittelei an un- mehrere Tausend Euro sind –, haben einen Anspruch serem Antrag. Natürlich beansprucht ein Antrag im darauf, dass zwischen den Rebellen und der jeweiligen Deutschen Bundestag nicht grundsätzlich Vollständig- Regierung ernsthaft verhandelt wird. keit in jedem einzelnen Detail, aber wir haben mit unse- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- rem Antrag die Möglichkeit geschaffen, dass sich das wie des Abg. Markus Löning [FDP]) Parlament mit dem Thema Tsunami befasst und dass wir beleuchten können, was sich in den vergangenen acht Ich erwarte, dass diejenigen, die politische Verantwor- Wochen auch auf politischer Ebene abgespielt hat. Sie tung tragen, den Friedensprozess, der dort ermöglicht wissen, dass es sehr viel Unterstützung für viele Maß- wird, begleiten. nahmen der Bundesregierung gegeben hat und dass ein Ein Punkt macht mich im Zusammenhang mit der gemeinsamer Dank an die Hilfsorganisationen erfolgt Flutkatastrophe sehr nachdenklich. Wir können glück- ist. Es hat eine unglaubliche Spendenbereitschaft und lich darüber sein, dass die Bevölkerung insgesamt eine Anteilnahme der Bürgerinnen und Bürger gegeben. solche Spendenbereitschaft an den Tag legt. Aber ich Das Positive an der Katastrophe bestand darin, dass glaube, dass wir im Parlament, aber insbesondere auch die Welt zusammengerückt und bereit gewesen ist, über die Medien aus der Katastrophe eine neue Verantwor- Grenzen und politische Gegensätze hinweg zu handeln. tung abzuleiten haben. Dabei handelt es sich um die Ver- Ich will aber auch betonen, dass die Realität und die im antwortung hinsichtlich der Frage, ob es ausreicht, den Fernsehen übertragenen Bilder grausam sind. Frau Fokus immer nur über einen bestimmten Zeitraum auf Dr. Ober, Herr Löning und ich haben die Situation in bestimmte Bilder zu lenken. Banda Aceh erlebt und wissen von daher, dass eine rote Wer sich mit der Situation in Darfur, im Kongo oder Fahne auf einem Steinhaufen bedeutet, dass noch immer in Simbabwe befasst, wird feststellen, dass uns manch- Tote darunter liegen, und dass eine weiße Fahne bedeu- mal über zwei oder drei Wochen eine Katastrophensitua- tet, dass diese Fläche abgesucht worden ist. tion vorgestellt wird, dass wir einige Zeit helfen und Wir haben erlebt, wie sich die Helfer dort mit der Un- dass die jeweilige Region dann wieder aus unserem terstützung der verschiedenen Regierungen eingesetzt Blickwinkel verschwindet. Ich glaube, dass wir im Par- haben. Wir haben aber auch feststellen müssen, dass es lament eine Verantwortung dafür haben, dass nicht nur noch unversorgte und unterversorgte Bereiche gibt. Wo in Katastrophenfällen über nachhaltige Entwicklung die Kameras fokussiert sind, passiert eine ganze Menge. und die Bereitschaft zu teilen diskutiert wird. Vielmehr Aber in anderen Küstenstreifen 200 oder 300 Kilometer ist eine breite Diskussion innerhalb der Bevölkerung und (B) entfernt läuft die Hilfe erst noch an. mit den Medien notwendig. Denn ohne die Medien kom- (D) men wir nicht weiter. Ich habe den Eindruck, dass durch Die NGOs haben viel geleistet. Ich habe selbst miter- diese Katastrophe das Bewusstsein für das Elend in die- lebt, wie Luftfahrt ohne Grenzen innerhalb von drei Ta- ser Welt geschärft worden ist und dass wir aufgrund die- gen in der Lage war, eine Hilfsgüterlieferung nach Co- ser Katastrophe die Chance haben, mehr Gemeinsamkeit lombo zu bringen, die sie auch mit dem Auswärtigen im Hinblick auf andere Gebiete zu erreichen. Wenn das Amt genau abgestimmt hatte. eine Lehre aus dieser Katastrophe ist, dann kann uns das Wir erleben, dass Partnerschaftsinitiativen in allen viel weiter bringen. Bundesländern, in vielen Kommunen und auch in Verei- Vielen Dank. nen entstanden sind und dass selbst dort eine Koordina- tion stattfindet, wo früher politische Gegensätze zwi- (Beifall im ganzen Hause) schen den Ländern bestanden, die aber im Interesse der Sache beiseite geschoben werden. Die Partnerschaftsini- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tiativen können dazu beitragen, dass auch die Menschen Ich schließe die Aussprache. näher zusammenrücken, wenn zum Beispiel Schulen, Kirchen oder andere in diesen Initiativen dauerhaft und Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf nachhaltig zusammenarbeiten. Drucksache 15/4657 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht darüber Ein- Wir müssen allerdings darauf achten, dass im Hinter- vernehmen? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die land mancher Länder nicht der Eindruck entsteht, dass es Überweisung so beschlossen. bei der Versorgung und dem Neuaufbau vernachlässigt wird, wie wir es bereits in Gesprächen festgestellt haben. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: (Ute Kumpf [SPD]: Loben Sie doch mal die a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Regierung!) gierung Alle Maßnahmen können nur gemeinsam mit den Ver- Bericht der Bundesregierung zur auswärtigen antwortlichen vor Ort durchgeführt werden. Kulturpolitik 2003 Es besteht kein Zweifel daran – dieser Punkt wurde – Drucksache 15/4591 – bereits angesprochen –, dass in der Flutkatastrophe auch Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) eine Chance besteht, nämlich die Chance auf Frieden in Auswärtiger Ausschuss Sumatra, in Indonesien und auf Sri Lanka. Es ist aber Sportausschuss nicht nur eine Chance, sondern auch eine Forderung. Die Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 14992 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Ausschuss für Bildung, Forschung und vention beitragen, dass wir die deutsche Sprache in der (C) Technikfolgenabschätzung kulturellen Vielfalt erhalten und dass wir mit dem Dialog Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union mit dem Islam Demokratieimpulse in der islamischen Welt unterstützen und verstärken. Das alles sind wich- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- tige Punkte, die aufgegriffen worden sind. richts des Ausschusses für Kultur und Medien (21. Ausschuss) Bei der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ste- hen die Menschen im Ausland im Vordergrund. Das – zu dem Antrag der Abgeordneten Monika heißt, es geht hier nicht um die Arbeit zwischen den Re- Griefahn, Eckhardt Barthel (Berlin), Siegmund gierungen, sondern um den Dialog Deutschlands, der Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Mittlerorganisationen und der Menschen, die vor Ort tä- tion der SPD sowie der Abgeordneten tig sind, mit anderen Kulturen und damit um die Zivilge- Dr. Antje Vollmer, Claudia Roth (Augsburg), sellschaft und deren Multiplikatoren, ob das nun ein Ursula Sowa, weiterer Abgeordneter und der Deutschkursangebot in Budapest, eine Ausstellung der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN bildenden Kunst in Beirut, eine Lesung und viele Begeg- Auswärtige Kulturpolitik stärken nungen von Günter Grass in Kalkutta, das Afrikafestival in Würzburg oder die Initiative „Bücher für den Irak“ ist. – zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Das alles sind ganz wichtige, praktische Beispiele. Nooke, Dr. Friedbert Pflüger, Bernd Neumann (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tion der CDU/CSU DIE GRÜNEN) Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik In der vorliegenden Bilanz wird deutlich, dass das stärken Auswärtige Amt in seiner Kulturpolitik verstärkt Schwerpunkte gesetzt hat, auf die sich die Arbeit kon- – Drucksachen 15/2659, 15/2647, 15/3244 – zentriert. Einerseits bietet das die Möglichkeit, die kon- Berichterstattung: krete Arbeit an wichtigen Stellen zu intensivieren. Ande- Abgeordnete Monika Griefahn rerseits zeigt sich auch hier sehr deutlich die Folge der Günter Nooke schwierigen finanziellen Situation. Seit fast zehn Jah- Dr. Antje Vollmer ren werden die Mittel immer weiter gekürzt. 2003 stan- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) den bei einem Gesamtetat von 552,4 Millionen Euro wiederum 8,1 Millionen Euro weniger als im Vorjahr zur Die Fraktionen haben sich auf eine Debattenzeit von Verfügung. Also ist der Anteil am Bundeshaushalt auf (B) 45 Minuten verständigt. – Ich höre keinen Widerspruch. 0,2 Prozent geschrumpft. Glücklicherweise konnten wir, (D) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste die das Parlament, aber erreichen, dass die Mittel für die Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion. auswärtige Kultur- und Bildungspolitik nicht als Subventionen eingestuft werden, wie es im Koch/ Monika Griefahn (SPD): Steinbrück-Papier gefordert wird. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herren! Heute liegt uns der achte Bericht der Bundesre- DIE GRÜNEN) gierung zur auswärtigen Kulturpolitik vor. Ich bin froh, dass wir aus diesem Anlass endlich wieder eine Debatte Außenkulturpolitik darf nicht unter den Subventionsbe- über dieses wichtige Thema führen. Der Bericht ist wirk- griff fallen. Das muss auch so bleiben; denn es geht um lich gut gelungen. Anhand zahlreicher konkreter Bei- nichts Geringeres als die Bedeutung unseres Landes für spiele bietet er einen Überblick über die aktuellen andere Länder, die Völkerverständigung sowie die Un- Schwerpunkte und die langfristigen Ziele der deutschen terstützung von kultureller Vielfalt und demokratischer Kultur- und Bildungspolitik im Ausland. Er hat bereits Entwicklung. die Forderung aus unserem Antrag aufgenommen, auch (Beifall bei der SPD) aus anderen Ressorts zu berichten; das freut mich sehr. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir im gesamten Kultur- Welches sind die zentralen Ziele? Eines ist zum Bei- und Bildungsbereich viel stärker zusammenarbeiten. spiel, Deutschland als Bildungs- und Forschungsstandort weiter voranzubringen. In den 117 Auslandsschulen, Die Debatte in den letzten Jahren – auch auf der par- die wir haben, sind immerhin 70 000 Schüler, von denen lamentarischen Ebene – hat Früchte getragen. Viele un- 53 000 nicht aus Deutschland stammen. Es gibt zahlrei- serer Anregungen sind tatsächlich eingeflossen. Die che Programme zur Entsendung von Lehrern an insge- Ziele der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, von samt 370 Schulen. Das sind zusammen rund 500 Schu- denen die einzelnen Maßnahmen abgeleitet sind, stehen len, die intensiv das Fach Deutsch anbieten. Sie sind im Vordergrund, nämlich die Wahrnehmung der kultur- wichtige Instrumente dafür, Kindern und ihren Eltern und bildungspolitischen Interessen Deutschlands, aber außerhalb von Deutschland die Möglichkeit zu geben, auch die zahlreichen langfristig angelegten Maßnahmen. eine besondere Beziehung zu Deutschland und seiner Das bedeutet zum Beispiel die Vermittlung eines zeitge- Kultur aufzubauen. mäßen Bildes von Deutschland als Teil eines integrierten Europas und auch, dass wir einen Wertedialog führen, Wir wissen: Wer als Kind begonnen hat, sich mit un- dass wir mit dem Dialog der Kulturen zur Konfliktprä- serem Land und unserer Kultur zu beschäftigen, wird Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14993

Monika Griefahn (A) auch zum Studieren hierher kommen, wird geschäftliche Eine wichtige und erfolgreiche Arbeit leisten die (C) Beziehungen zu Deutschland haben, wird deshalb eine 438 Goethe-Institute, die es überall im Ausland gibt. starke Anbindung haben und Botschafter Deutschlands Im letzten Jahr kamen mehr als 4,5 Millionen Besuche- in seinem Land sein. rinnen und Besucher zu den 16 000 von diesen Instituten angebotenen Veranstaltungen. Das ist zusammen mit den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschkursen, die es dort gibt, ein umfassendes Ange- DIE GRÜNEN) bot. Die starke Nachfrage zeigt, wie groß das Interesse Allerdings müssen wir angesichts des Rückgangs der an unserer Kultur im Ausland ist. Entsendungen deutscher Firmen – und auch unserer ei- Jetzt soll, wie es in dem Bericht heißt, das Ganze stär- genen Institutionen – ins Ausland das Auslandsschulwe- ker angebotsorientiert gemacht werden, sprich: die Ge- sen insgesamt reformieren. Dafür wird es ein gemeinsa- bühren sollen kostendeckend sein. Damit stoßen wir an mes Konzept von Parlament, Auswärtigem Amt und Grenzen der Budgetbelastung. Die Elternbeiträge an den Kultusministerkonferenz geben. Ich bin sehr froh darü- deutschen Schulen, in denen heutzutage bis zu ber, dass wir jetzt daran arbeiten. 70 Prozent Gastlandschüler sind, und die Gebühren bei Der Hochschulstandort Deutschland ist weiter ver- den Goethe-Instituten sind nicht in jedem Fall steigerbar. besserungsbedürftig und -fähig. Wir haben durch ver- Man kann das auch nicht mit der englischen Sprache stärktes Hochschulmarketing und durch neue englisch- vergleichen. Insofern müssen wir auch politisch überle- sprachige Studiengänge an deutschen Hochschulen gen, was uns die Arbeit dieser Einrichtungen in be- einiges erreicht. Der Kollege Tauss wird sicherlich stimmten Ländern wert ist und ob wir die Anbindung gleich etwas dazu sagen. Der Deutsche Akademische von Menschen aus diesen Ländern an Deutschland tat- Auslandsdienst und die Alexander-von-Humboldt-Stif- sächlich wollen. Wir können nicht einfach sagen, dass tung sind dabei wertvolle Partner, durch die die Bil- wir das mit der englischen Sprache bzw. mit den engli- dungs- und Forschungsarbeit und der Standort Deutsch- schen Schulen vergleichen müssen. land wirklich gestärkt werden und deren Alumnen später (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in ihrem jeweiligen Land als Botschafter für Deutsch- DIE GRÜNEN) land wirken. Den Kürzungen darf auch nicht die Kulturarbeit in Wir haben aber auch ein Problem, und zwar hier im kleineren Ländern wie Vietnam, den baltischen Staaten Inland. Das besteht darin, dass die Geistes-, Sozial und oder der Mongolei zum Opfer fallen, die traditionell ein Kulturwissenschaften zurzeit in vielen Bundesländern sehr starkes Interesse an deutscher Kultur haben. Dem von starken Kürzungen bedroht sind. sollten wir Rechnung tragen. Wir sollten keine Lücke (B) (D) (Jörg Tauss [SPD]: In Hamburg!) entstehen lassen zwischen denen, die eine Anbindung an unser Land bereits haben, und denen, die wir nicht so – Nicht nur da, sondern auch an anderen Stellen. – Da- stark fördern, weil wir das jetzt gerade nicht so wichtig durch kommen wir in die Situation, dass uns die Fach- finden. Ich meine, hier muss Kontinuität gewahrt blei- leute verloren gehen, die wir für die intensive Dialog- ben. Andere Länder, gerade aus dem anglo-amerikani- arbeit brauchen. Als wir das Programm „Dialog mit dem schen Bereich, werben sehr aggressiv um Studenten und Islam“ begonnen haben – daran möchte ich in diesem Sprachschüler. Ich meine, hier müssen wir einen politi- Zusammenhang erinnern – haben wir 27 junge Wissen- schen Schwerpunkt setzen. schaftler überwiegend aus den Islam-, Politik- und So- zialwissenschaften eingestellt. Diese haben hervorra- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das müssen wir gende Arbeit geleistet, zum Beispiel in Kabul, in der machen!) Türkei und in anderen islamischen Ländern. Für uns ist In diesem Punkt müssen wir auch überlegen, ob es es sehr wichtig, gerade die positiven, offenen Tendenzen noch länger gerechtfertigt ist, dass die finanziellen Mit- in den islamischen Ländern zu unterstützen. Dafür brau- tel für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zu chen wir qualifizierte Mitarbeiter. Wenn diese hier nicht einem Viertel in der Europäischen Union der 15 verblei- mehr ausgebildet werden können, dann können wir die ben. Das müssen wir im Zusammenhang mit der euro- Dialogprogramme nicht weiter durchführen. päischen Integration wirklich überlegen. Wir haben ja (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schon heute Morgen eine längere Debatte über die euro- DIE GRÜNEN) päische Verfassung geführt. Die deutsch-französische Freundschaft ist wirklich sehr intensiv. Gleichzeitig gibt Ich appelliere an Sie alle, in Ihren Hochschulen bzw. es zum Beispiel ein Goethe-Institut in Bordeaux. Ich in Ihren Bundesländern dafür einzutreten, dass die be- stelle mir die Frage: Wäre es nicht besser, ein Goethe- treffenden Mittel nicht gekürzt werden, dass nicht alles Zentrum einzurichten, das von der Stadt, von der Uni- auf die technischen und die Naturwissenschaften kon- versität und von uns – wir könnten zum Beispiel Mittel zentriert wird. Als Mathematikerin finde ich es natürlich für ein paar Programme bereitstellen – getragen wird? In wichtig, dass es die letztgenannten Wissenschaftszweige anderen Bereichen ist es ähnlich. gibt. Aber wir müssen auch die anderen Wissenschafts- zweige entsprechend stark fördern. Wir müssen über einen weiteren Punkt diskutieren, der in diesem Bericht angesprochen worden ist: die Bud- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ getierung der Mittlerorganisationen. Wir kämpfen da- DIE GRÜNEN) rum bereits seit vielen Jahren. Ich persönlich finde es 14994 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Monika Griefahn (A) gut, dass es in Italien seit Anfang dieses Jahres ein Pilot- gung des deutschen und des französischen Kulturinsti- (C) projekt zur Budgetierung des Goethe-Instituts gibt. Ich tuts in Moskau in einem gemeinsamen Gebäude muss aber auch sagen: Ich finde diesen Ansatz noch ein sicherlich ein gutes Signal. Ich verweise auch auf die bisschen zu zaghaft. Ich wünsche mir die Budgetierung vielen Lesesäle gerade in Russland, die gemeinsam von für alle Goethe-Institute und für alle deutschen Schulen, Deutschland und Frankreich eingerichtet worden sind. und das mit einem Komplettbudget, das die Handlungs- Wenn wir uns Europa anschauen, dann erkennen wir, fähigkeit vor Ort wirklich ermöglicht, sodass die Mittel, dass wir noch sehr viel auf den Weg bringen müssen. die erwirtschaftet werden, tatsächlich vor Ort ausgege- Die Diskussion im Rahmen der Gemeinsamen Außen- ben werden können. und Sicherheitspolitik wird immer noch zu gering ge- In dem Bericht der Bundesregierung wird betont, dass schätzt. Die auswärtige Kulturpolitik der Europäischen ein Schwerpunkt auf der Krisenprävention und dem Union muss ein eigenes Standbein bekommen. Auch un- euro-islamischen Dialog liegt. Dorthin ist auch Geld sere Verteidigungs- und Sicherheitspolitiker müssen dies geflossen. Wir haben auf diesem Gebiet viel erreicht. zu ihrer Aufgabe machen, damit klar wird: Das ist ein Seit Mai 2000 bietet das Goethe-Institut Ankara in Zu- wichtiges Mittel, um Krisenprävention zu betreiben. Es sammenarbeit mit der deutschen Botschaft und dem tür- geht nicht nur darum, Polizeikräfte auszubilden, sondern kischen Außenministerium Kurse für Imame an. Diesen auch darum, den Dialog vor Ort durch gemeinsame An- islamischen Geistlichen die deutsche Sprache und Kultur strengungen der Europäer zu organisieren. zu vermitteln, bevor sie bei uns in muslimischen Ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meinden predigen, ist wirklich eine erstklassige und DIE GRÜNEN) sinnvolle Sache. Ich glaube, es lohnt sich wirklich, dort Energie zu investieren. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das neue Goethe-Institut Kabul in Afghanistan hat es Das war ein wunderschöner Schlusssatz, Frau Kolle- tatsächlich geschafft, Begegnungen zustande zu bringen gin. und damit zur Demokratieentwicklung beizutragen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Monika Griefahn (SPD): DIE GRÜNEN) Ja. Ich erinnere auch daran, dass die Deutsche Welle vor Ort Ich wünsche mir nur noch, dass die Herrschaften in Alphabetisierungsprogramme durchführt und Journalis- diesem Saal unseren Antrag, der vieles dessen, was ich ten ausbildet. Das alles sind nur wenige Beispiele, die hier angesprochen habe, beinhaltet, unterstützen und dass wir die auswärtige Kulturpolitik, wie wir es bislang (B) zeigen, wie man mit wenig Geld ganz viel erreichen (D) kann. Auf diese Art und Weise können wir sozusagen ei- getan haben, sehr einvernehmlich vorantreiben. nen Fuß in diese Länder setzen. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wir sollten den bes- Auch die Arbeit in der Breite ist wichtig. In den seren Antrag unterstützen, nämlich unseren!) letzten Jahren ist verstärkt der Ansatz verfolgt worden, – Herr Nooke, ich sage Ihnen: Ihr Antrag geht sicherlich Lesesäle einzurichten. Inzwischen sind fast 60 in in eine andere Richtung, auch wenn er viele unserer An- 25 Ländern eingerichtet worden. Letztes Jahr hatte ich sätze unterstreicht. Deswegen können Sie uns unterstüt- die Gelegenheit, mit Frau Limbach den Lesesaal in zen. Pjöngjang zu eröffnen. Wie wichtig es gerade in dieser Zeit für Studenten und Bürger in Nordkorea ist, einen Herzlichen Dank. Anlaufpunkt zu haben, um mit anderen Gedanken, mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ anderen Ideen konfrontiert zu werden und um andere In- DIE GRÜNEN) formationen zu bekommen, ist jedem offensichtlich. Das ist wirklich ein zukunftsfähiges Modell. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich begrüße auch sehr, dass die Bundesregierung über Ich erteile dem Kollegen Dr. Klaus Rose, CDU/CSU- 20 Buchmessen gefördert hat, so auch in China. Leider Fraktion, das Wort. ist die Buchmesse in Kuba letztes Jahr abgesagt worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube, wir müssen uns mehr dort engagieren, wo die Bürger sind. Die Bürger sind auf den Buchmessen. Dort können wir sie erreichen. Da können wir einen Dialog Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): führen, als Anlaufpunkt dienen, Ideen verbreiten und zur Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Demokratieentwicklung sowie zur Konfliktprävention Herren! Es ist nicht einmal ein ganzes Jahr her, dass wir beitragen. Ich hoffe, wir werden diese Arbeit fortsetzen. den letzten Bericht diskutiert haben. Das ist auf den ers- ten Blick sehr erfreulich. Es scheint so zu sein, als wäre (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die auswärtige Kulturpolitik im Zentrum der Diskussion DIE GRÜNEN) im Parlament. Die europäische Ebene spielt eine wichtige Rolle. Be- Wir haben vor einem Jahr eine große mediale Be- sonders in der Kooperation mit unseren europäischen gleitung gehabt, weil es damals wegen der Koch/ Partnern können wir die Arbeit in vielen Ländern inten- Steinbrück-Initiative, nach der man manches aus die- sivieren. Zum Beispiel ist die Planung der Unterbrin- sem Bericht als Subvention betrachten sollte, Ärger gab. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14995

Dr. Klaus Rose (A) So haben manche Zeitungen geschrieben, dass das Ende besucht. Was mich ärgert, ist – das sage ich heute (C) der auswärtigen Kulturpolitik ansteht. Das alles ist Gott wieder –: Es findet nirgendwo Nachhaltigkeit statt. sei Dank nicht eingetreten. Man hatte damals einen Schuldigen: Die linke Seite des Hauses hatte mehr Koch (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Richtig!) gelesen. Wir hatten mehr Steinbrück gelesen. Die Stiftungen haben keine Planungssicherheit. Das fängt bei der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an, auch (Horst Kubatschka [SPD]: Aber das Ergebnis wenn sie vor kurzem ein schönes Jubiläum gefeiert hat, war immer das gleiche! – Heiterkeit) und geht bis hin zu den politischen Stiftungen. Wenn Man konnte sich dann aussuchen, wer denn an der Mi- man mit denen redet, erfährt man, dass sie im Grunde sere der auswärtigen Kulturpolitik eigentlich schuld ist. genommen keine Chance haben, sich für einige Jahre im Voraus etwas vorzunehmen, weil immer das Damokles- (Jörg Tauss [SPD]: Die Addition war das schwert des Sparens und der globalen Minderausgabe Schlimme! – Heiterkeit) über ihnen schwebt. Das ist doch keine zukunftsgerich- Inzwischen ist dieses Thema vom Tisch. Aber ist die tete Kulturpolitik. auswärtige Kulturpolitik in bessere Bahnen gekommen? (Jörg Tauss [SPD]: Eigenheimzulage, Herr Kol- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Nein!) lege! Ganz schnell! – Gegenruf des Abg. Hans- Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jäger 90!) Gibt es mehr Geld? – Auf einen kulturell so hoch stehenden Zwischenruf (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Nein!) von Ihnen, Herr Tauss, habe ich gewartet. Sie verglei- chen wirklich Äpfel mit Birnen. Wir reden von der Kul- Hat man ein neues Konzept? Kann man feststellen, dass turpolitik. wirklich intensiv nachgedacht wurde, um großartige neue Konzepte auf die Welt zu bringen, wie das früher (Jörg Tauss [SPD]: Wir reden von Bildung!) üblich war, als Sie noch in der Opposition waren und ge- Das ist genau der Punkt, den ich jetzt wieder aufgreife. sagt haben, der Geist stehe links? Null ist vorhanden! Fehlanzeige! Meine Damen und Herren von der heutigen Zu einem Punkt möchte ich die Bundesregierung et- Regierungskoalition, Sie haben auch auf diesem Feld was fragen. Es wird in der UNESCO im Zusammenhang nichts Besonderes bewerkstelligt. mit der WTO auch diskutiert, in welchem Maß interna- tionales Kulturgut weltweites Handelsgut werden soll. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es gibt europäische Regierungen, die der Meinung sind, dass das unter keinen Umständen sein darf. Mich würde (B) Die Kollegin Griefahn hat natürlich ein paar schöne (D) Dinge aufgezählt. Sie hat im Grunde genommen den Be- schon interessieren, wie die Bundesregierung dazu steht, richt vorgetragen. Ich möchte ein paar Punkte heraus- wie man nach ihrer Auffassung nationales Kulturgut greifen. möglicherweise schützen, möglicherweise besonders un- terstützen kann, um die nationale Eigenart wirklich bei- Mich ärgert da etwas. Man redet bei der auswärtigen zubehalten. Bisher habe ich dazu wenig gehört. Aber das Kulturpolitik ja so schön von der Kultur. Es sind zwei ist eine wichtige Frage unserer auswärtigen Kulturpoli- Anträge vorgelegt worden, die im Grunde genommen tik. das Gleiche wollen. Dass die beiden Anträge schon vor einem Jahr gestellt wurden Wie die Kollegin Griefahn habe auch ich das Schrei- ben des Weltverbandes der deutschen Auslandsschulen (Monika Griefahn [SPD]: Unserer war eher bekommen. Sie haben Alarm geschlagen. Da kann man da! – Gegenruf des Abg. Günter Nooke [CDU/ nicht sagen, es gebe viele Schulen und es sei alles wun- CSU]: Unserer!) derbar. und erst jetzt diskutiert werden, zeugt schon von einem (Monika Griefahn [SPD]: Das habe ich nicht seltsamen Demokratieverständnis hier im Parlament. gesagt!) Auch dass es in den Ausschüssen so typisch lief – die Koalition hat für ihren Antrag gestimmt und den unseren Sie haben Alarm geschlagen, weil sie sich in ihrer Zu- abgebügelt; wir konnten dann natürlich nichts anderes kunftsfreudigkeit von der deutschen Seite eigentlich tun, als unseren Antrag aufrechtzuerhalten –, zeugt nicht mehr erwartet haben, weil sie eine wichtige Aufgabe von einer besonderen Kultur. Sie sagen nun, dass wir ge- draußen in der Welt erledigen. Stattdessen hatten wir vor meinsam etwas tun wollen, dass Parlament, Regierung kurzem noch 1 044 Lehrer. Die Zahl sinkt, im nächsten und sonst wer gemeinsam arbeiten sollen. Ich bin sehr Jahr um 69. Es wird also immer weniger gemacht. Sie gespannt, wie das in der Zukunft besser werden soll, haben es zwar so dargestellt, dass man in Westeuropa nachdem Sie in der Vergangenheit ja anderes bewiesen weniger tue und dafür Verschiebungen woandershin vor- haben. nehme. Das mag ja sein. Insgesamt ist aber festzuhalten, dass auch die Konferenz des Weltverbandes Deutscher Es gäbe eine Reihe von Positionen innerhalb dieses Auslandsschulen sehr besorgt ist, dass es nicht mehr ver- Berichts der Bundesregierung zur auswärtigen Kulturpo- nünftig weitergeht. Ich kann nur darum bitten, dass wir litik anzusprechen. Ich kenne die Materie aus vielen Jah- in den zuständigen Ausschüssen im Parlament gemein- ren intensiver Arbeit. Ich habe viele Auslandsbesuche sam diesbezügliche Überlegungen anstellen; denn auch gemacht, auch Auslandsschulen, Goethe-Institute usw. die Auslandsschulen brauchen Planungssicherheit. 14996 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Dr. Klaus Rose (A) Ebenso muss es hier mehr Flexibilität geben und es darf ja heute zahlenmäßig einigermaßen vertreten –, schrei- (C) nicht etwas angerechnet werden, was nicht dazugehört. ben Sie sich auch diese Kritik hinter Ihre So wurde die Europäische Schule, die in Frankfurt steht, (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: finanziell mit einbezogen. Dabei handelt es sich aber Ohren!) doch um keine Auslandsschule. Aktendeckel und schauen Sie, dass Sie hier mehr brin- Ich habe insgesamt das Gefühl, das ich hier und heute gen, als Sie in der letzten Zeit geleistet haben. zum Ausdruck bringen möchte, dass man von Ihrer Seite aus, weder in der Fraktion noch in der Führung des Hau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ses, der Kulturpolitik keine besonders große Aufmerk- samkeit widmet. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort die Staats- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ministerin Kerstin Müller. der FDP) Ich möchte deshalb – Sie wissen ja, dass ich sonst frei Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen spreche – Artikel aus zwei Zeitungen zitieren, in denen Amt: das meiner Meinung nach sehr gut belegt wird. Klassi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! scher und drastischer als die „Süddeutsche Zeitung“ Herr Kollege Rose, den Vorwurf, dass die auswärtige kann man die Misere in der auswärtigen Kulturpolitik Kulturpolitik für uns keinen besonderen Stellenwert gar nicht beschreiben. Am 23. Dezember letzten Jahres habe, will ich hier direkt zu Beginn ganz entschieden zu- wurde das Auf und Ab beim Goethe-Institut kommen- rückweisen. tiert. Bekanntlich gab es drei Generalsekretäre in vier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahren, nicht mitgerechnet die provisorischen Generalse- und bei der SPD – Günter Nooke [CDU/CSU]: kretäre. Da scheint etwas nicht ganz gut gelaufen zu Das hilft aber nichts!) sein. Man hat zwar ein paar gute Programme mit der ara- bischen Welt aufgelegt und vielleicht auch das eine oder Für uns – das haben wir auch ganz konkret in unserer andere Gute gemacht. Aber ansonsten ist das Haupt- Politik der letzten Jahren gezeigt – ist die auswärtige merkmal der ganzen Arbeit fehlendes Geld. Der Kom- Kulturpolitik ein unverzichtbarer, ein konstitutiver Teil mentator in der „Süddeutschen Zeitung“ zieht daraus unserer Außenpolitik. den Schluss: Sowohl dem Auswärtigen Amt wie seinem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Chef ist „das Kulturelle im Grunde fremd“. Es wird nur die Kulturvermittlung bürokratisch abgewickelt. Frau Griefahn hat hierzu schon einiges gesagt. Ich werde (B) dazu jetzt auch noch ausführen. (D) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: So ist es!) Wenn wir Krisen verhindern oder ausgebrochene Konflikte bewältigen wollen, müssen wir auf den Kul- Es ist leider wahr: Wenn sich ein Chef nicht um sein turdialog setzen. Dass das Motto „Kultur gegen Krisen“ Amt kümmert, dann kann man auch nicht erwarten, dass eine Erfolgsgeschichte sein kann, hat diese Bundesregie- er sich um die auswärtige Kulturpolitik kümmert. Nach- rung immer wieder unter Beweis gestellt. Ein Beispiel dem sich gezeigt hat, wie fremd ihm alles ist, wundert dafür ist etwa der Stabilitätspakt Südosteuropa. Er setzt mich auch dieses Ergebnis nicht mehr. mit großem Erfolg gerade auch auf Kultur- und Bil- dungsarbeit, etwa wenn der Deutsche Akademische Die Grünen haben zwar versucht, eine neue Auslän- Austauschdienst auf dem Balkan Hochschulpartner- derpolitik zu machen. Das Ergebnis war ein Scherben- schaften zwischen ehemaligen Kriegsgegnern vermittelt. haufen. Aber dem wichtigen Instrument „auswärtige Kulturpolitik“ haben sie bisher keinerlei Impulse gege- Auch in anderen Regionen, von deren Stabilität un- ben. Deshalb konnte auch die „Frankfurter Allgemeine sere eigene Sicherheit maßgeblich abhängt, leistet die Zeitung“ am 15. Februar dieses Jahres schreiben: deutsche auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ganz wichtige Beiträge. Ich greife als Beispiel den Brenn- Wir beginnen zu begreifen, daß die Grünen und ihr punkt Afghanistan heraus. Gerade im kulturpolitischen Außenminister durch Visapolitik Kulturpolitik im Bereich haben wir hier viel gemacht. Ich möchte nur ein großen Stil betreiben, obwohl sie im eigenen Hause Beispiel anführen. In Afghanistan hat das Goethe-Insti- die Mittel für auswärtige Kulturpolitik unbarmher- tut im September 2003 als erstes westliches Kulturinsti- zig immer weiter kürzen… Man kann nur von einer tut nach dem Sturz des Talibanregimes seine Arbeit wie- Politik des Hasards reden. der aufgenommen. Das war für uns ein ganz wichtiger Punkt. Außerdem haben wir in Kabul in den letzten Jah- Recht hat die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: Hasar- ren unter anderem zwei Schulen wieder aufgebaut, die deure sind in der Politik nirgendwo gut, Hunderten von Jungen und Mädchen eine neue Lebens- perspektive geben. Mit solchen Initiativen leisten die (Jörg Tauss [SPD]: Oh, Herr Rose! – Eckhardt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Am- Barthel [Berlin] [SPD]: Auch nicht am Red- tes und der Kulturmittler Pionierarbeit, und das oft unter nerpult!) den schwersten Bedingungen. in der auswärtigen Kulturpolitik sowieso nicht. Meine (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Damen und Herren speziell von der Regierung – Sie sind SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14997

Staatsministerin Kerstin Müller (A) Eine andere Herausforderung an die Kulturpolitik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) stellt die Globalisierung dar. Sie beschränkt sich längst und bei der SPD) nicht mehr nur auf das Wirtschaftsleben. Gerade Ideen und Lebensstile verbreiten sich heutzutage mit großem Ich möchte in diesem Zusammenhang ganz ausdrück- Tempo. Von manchen als Bedrohung der Vielfalt lich die Anstrengungen der Mittlerorganisationen, menschlicher Lebensformen gefürchtet, wird kulturelle etwa des Goethe-Instituts, würdigen, die in den letzten Globalisierung oft aber auch als Bereicherung erfahren, Jahren große Kreativität und Anstrengungen bei der Um- die zu neuen, bisweilen überraschenden Einsichten ver- setzung der Sparbeschlüsse gezeigt haben. Für die dabei leitet. Das hat – ich will auch in diesem Zusammenhang erreichten Effizienzgewinne in Verbindung mit neuer ein Beispiel nennen – zuletzt die eindrucksvolle Ausstel- Schwerpunktsetzung, gebührt ihnen große Anerken- lung „Identity versus Globalisation“ der Heinrich-Böll- nung. Stiftung gezeigt, die ich im letzten Herbst in Berlin er- (Beifall dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN öffnet habe. und bei der SPD) Herr Rose, die auswärtige Kulturpolitik macht sich Dazu rechne ich auch die neuen Programme, mit denen gerade im Rahmen der UNESCO für ein zukunftswei- nach dem Herbst 2001 der Dialog der Kulturen als Mittel sendes Übereinkommen zum Schutz der kulturellen zur Krisenprävention gefördert wurde. Vielfalt stark. Eines ist klar: Angesichts knapper Mittel im Bundes- (Beifall dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haushalt bleibt die auswärtige Kultur- und Bildungspoli- und bei der SPD) tik nur dann zukunftsfähig, wenn wir sie zielstrebig mo- dernisieren und wirtschaftlicher machen. Auf diesem Ich kann das hier im Einzelnen nicht ausführen, weil da- Weg sind wir bisher gut vorangekommen. für die Zeit nicht reicht. Gerade in der letzten Woche ha- ben wir im Auswärtigen Amt im Rahmen des Forums Selbstverständlich haben wir auch ein Konzept, wie „Globale Fragen“ eine große, sehr gut besuchte Debatte es weitergehen soll. Für die nächste Zeit sind drei wich- durchgeführt, in der wir den Stand der Verhandlungen tige Neuerungen vorgesehen. Ich möchte sie kurz erwäh- dargestellt haben. Sie sind zu diesen Diskussionen herz- nen: lich eingeladen. Für uns ist das ein ganz wichtiges Anlie- Erstens. Wir wollen die regionalen Schwerpunkte der gen. Kulturarbeit anpassen. Wir wollen uns also noch stärker als bisher in Regionen engagieren, die von besonderem (Beifall dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN außenpolitischen Interesse sind. Dazu zählen die zukünf- und bei der SPD) tigen Staaten der Europäischen Union genau so wie Ost- (B) Unter dem Vorzeichen der Globalisierung stellt sich asien und der Nahe und Mittlere Osten. (D) die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik auch einer Zweitens. Um trotz knapper Mittel weiterhin neue anderen Aufgabe: In der modernen Informationsgesell- Ideen anpacken zu können, gehen wir auch bei der Fi- schaft ist Wissen zum entscheidenden Produktionsfaktor nanzierung der Kulturarbeit neue Wege. Wir suchen stär- geworden. Heute besteht im Wettbewerb nur, wer am ker als bisher die Zusammenarbeit mit Privaten. weltweiten Ideenaustausch teilnimmt und die besten Köpfe erreicht. Wir tragen entscheidend zur Stärkung Drittens entwickelt das Auswärtige Amt die Steu- des Standorts Deutschland bei, wenn wir durch deutsche erungsinstrumente der auswärtigen Kulturpolitik konse- Auslandsschulen, Sprachkurse oder Stipendien den in- quent weiter. Vor wenigen Tagen hat das Auswärtige ternationalen Wissenstransfer stärken. Amt beispielsweise zum zweiten Mal eine Zielvereinba- rung mit der deutschen UNESCO-Kommission ge- Auf diesem Gebiet haben wir in den letzten Jahren schlossen. Beachtliches erreicht. Auch das gehört zu der Bilanz. Nach den USA und Großbritannien ist Deutschland (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) heute weltweit einer der beliebtesten Studienstandorte. Ich bin davon überzeugt, dass diese Neuerungen die An diesem Erfolg hat auch die auswärtige Kultur- und deutsche auswärtige Kultur- und Bildungsarbeit dauer- Bildungspolitik einen ganz entscheidenden Anteil. haft stärken werden. Wir handeln als Bundesregierung (Beifall dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darum ganz im Sinne der Beschlussempfehlung des Aus- und bei der SPD) schusses für Kultur und Medien vom Mai letzten Jahres, die ich ausdrücklich unterstütze. Ich denke, in diesem Vor diesem Hintergrund freue ich mich besonders, entscheidenden Punkt sind wir uns doch über die Frak- dass es uns gelungen ist, die auswärtige Kultur- und tionsgrenzen hinweg einig: Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik im Jahr 2005 weitgehend von Mittelkür- Bildungspolitik ist und bleibt ein konstitutiver Bestand- zungen auszunehmen, und das trotz großer Ein- teil deutscher Außenpolitik, dessen Zukunft wir sichern sparungen im Bundeshaushalt. Ich danke in diesem Zu- müssen und wollen. In diesem Zusammenhang ist ge- sammenhang Ihnen allen, über alle Fraktionsgrenzen rade eine lebendige und kreative Kulturpolitik eine wirk- hinweg, für die Unterstützung und das Engagement. Ob lich nachhaltige und vernünftige Investition in die Zu- Steinbrück oder Koch – es bleibt dabei: Auswärtige Kul- kunft. tur- und Bildungspolitik ist keine Subvention – diese Vielen Dank. Idee war wirklich absurd –, sie ist eine Investition in un- sere Zukunft. Deshalb werden wir auch weiter in diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zukunft investieren. und bei der SPD) 14998 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen (C) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim von SPD und Grünen, in Ihrem Antrag fordern Sie an Otto. zentraler Stelle, die Haushaltsmittel für die auswärtige Kultur- und (Jörg Tauss [SPD]: Aber bitte versöhnlich! – Bildungspolitik nachhaltig zu gestalten … Gegenruf des Abg. Günter Nooke [CDU/ CSU]: Na, na, na!) – Sie nicken, Frau Griefahn. Ich kann Ihnen nur sagen: Diese Nachhaltigkeit möchte ich gerne einmal sehen. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Anje Vollmer) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich lau- Weil „Nachhaltigkeit“ inzwischen zu einem rot-grü- sche immer wieder ganz angetan den Reden von Frau nen Modewort geworden ist, habe ich mich einmal im Griefahn und Frau Staatsministerin Müller. Duden informiert, was Nachhaltigkeit eigentlich heißt. Es bedeutet: sich auf längere Zeit stark auswirkend. Ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des also Ihr „nachhaltig“ so zu verstehen, dass die seit Jah- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ren sinkenden Haushaltsmittel auf längere Zeit noch Sie sind wirklich voll von schönen Begriffen. Wir sind weiter sinken sollen? beglückt, wenn wir das alles hören. Vor diesem Hintergrund hat die FDP-Fraktion im zu- ständigen Ausschuss beantragt, die schöne Worthülse (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Monika wie folgt zu konkretisieren: Griefahn [SPD]: Wir wollten Sie beglücken, Herr Otto! – Jörg Tauss [SPD]: Stören Sie die Eine nachhaltige Gestaltung der Haushaltsmittel für Harmonie nicht!) die auswärtige Kulturpolitik ist so zu verstehen, dass mit dem Haushalt 2005 der Ansatz der Haus- Meine Aufgabe ist es, diese schönen Worte mit der haltsmittel für die auswärtige Kulturpolitik auf das nüchternen Realität etwas zu kontrastieren. Niveau vor dem Vermittlungsergebnis Der erste Satz Ihres Antrages lautet: – Koch/Steinbrück – In den letzten Jahren, spätestens seit der „Konzep- zurückgeführt wird und für die Folgejahre zumin- tion 2000“, gewinnt die auswärtige Kulturpolitik … dest eine Verstetigung dieses Mittelansatzes statt- zunehmend an Bedeutung. findet. (B) Wir sind Kummer gewohnt, jeder Antrag der FDP wird (D) Dieser hoffnungsfrohe Befund steht leider in einem dia- von Ihnen zurückgewiesen. metralen Gegensatz zu den nüchternen Zahlen der Reali- tät, insbesondere des Haushaltes. Interessant ist die Begründung, mit der Sie unseren Antrag zurückgewiesen haben. Im Ausschussprotokoll Bereits der heute zu diskutierende Bericht der Bun- heißt es: desregierung weist nach, dass sich die Mittel des Bundes für auswärtige Kultur- und Bildungspolitik Der Punkt des Änderungsantrags der Fraktion der keineswegs vergrößert, sondern nachweislich und konti- FDP, der die nachhaltige Gestaltung des Haushalts nuierlich verringert haben. Ich will Ihnen die Zahlen betreffe, könne nicht mitgetragen werden, da es be- noch einmal vor Augen rufen: 1997 – da war noch eine reits um eine Festlegung für die Zukunft gehe. andere Regierung dran – betrugen die Ausgaben für Anschaulicher lässt sich der Beweis nicht führen, dass es AKP – auswärtige Kultur- und Bildungspolitik – Ihnen nur um unverbindliche, blumige Worthülsen geht 607,4 Millionen Euro; 2004 sind diese Mittel auf statt um eine belastbare und – jetzt verwende ich das 543,6 Millionen Euro heruntergefahren worden. Das ist Wort – nachhaltige Zukunftsentscheidung. eine Kürzung um 63,8 Millionen Euro, also um rund 15 Prozent. Von einem „zunehmend an Bedeutung ge- (Beifall bei der FDP) winnen“ kann man da leider nicht sprechen. Wenn Sie bereits die Forderung nach einer Versteti- (Beifall bei der FDP) gung der Mittel als eine unerträgliche Festlegung ableh- nen, dann können wir all Ihre hehren Beteuerungen von Noch bedenklicher ist – das müssen wir uns immer der wachsenden Bedeutung der auswärtigen Kulturpoli- vor Augen halten, wenn Sie von der großen dritten Säule tik schlicht und einfach vergessen. und der konstitutiven Bedeutung sprechen –, dass im (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zeitraum von 1993 bis 2003 der Anteil der Ausgaben für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik am Gesamt- haushalt des Auswärtigen Amtes von 32,8 Prozent auf Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: unter 25 Prozent gesunken ist. Es geht hier also nicht um Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen relative oder gleich bleibende Kürzungen im Rahmen Lammert? der übrigen Kürzungen des Auswärtigen Amts, sondern es geht hier eindeutig um überdurchschnittliche Kürzun- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): gen. Sehr gerne. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 14999

(A) Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): sein. Der Drang hin zu Diktaturen sollte auf jeden Fall (C) Herr Kollege Otto, könnten Sie mir helfen, einen Zu- kritisch beleuchtet werden. sammenhang herzustellen zwischen der Zurückweisung Meine Kollegen von SPD und Grünen, ich denke, des FDP-Antrages wegen der Bindewirkung für die Zu- dass der Erfolg unserer auswärtigen Kultur- und Bil- kunft und dem Hinweis der Staatsministerin in dieser dungspolitik ganz entscheidend davon abhängt, ob wir in Debatte, dass es sich bei Kulturausgaben nicht um Sub- der Lage sind, im Parlament über die Fraktionsgrenzen ventionen, sondern um Investitionen in die Zukunft han- hinweg einen Konsens herzustellen. Ich sage Ihnen noch dele? einmal: Ich kann nicht verstehen, wenn wir ganz im Sinne der Grünen Nachhaltigkeit in diesem Bereich for- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): dern, Sie aber jede Präzisierung ablehnen. Ich bitte Sie, Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Lammert. Es ist inte- bei den Haushaltsberatungen dafür Sorge zu tragen, dass ressant, dass die Kolleginnen und Kollegen von den dieser Bereich nicht weiter als Steinbruch dient, sondern Koalitionsfraktionen die Mittel für die auswärtige Kul- dass wir eine Verstetigung der Mittel für die auswärtige tur- und Bildungspolitik zu Recht als eine Investition be- Kulturpolitik erreichen. trachten, aber gleichzeitig nicht mit allen Fraktionen Vielen Dank. dazu beitragen wollen, diese Ausgaben zu verstetigen. Wenn wir ihr Argument von der Nachhaltigkeit – die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün mögen dieses Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Wort – ernst nehmen würden, dann müssten sie zumin- GRÜNEN]: Wie verträgt sich das mit Ihren dest einer minimalen Verstetigung, nämlich dem Halten Steuersenkungen? Erst nimmt er uns das Geld des derzeitigen Niveaus, zustimmen. und dann sagt er, wir müssen mehr ausgeben!)

Frau Staatsministerin und die für den Ausschuss für Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Kultur und Medien zuständigen Kolleginnen und Kolle- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg Tauss. gen der SPD und der Grünen, ich kann nicht verstehen, dass Sie einer solchen Konkretisierung des Nachhaltig- keitsbegriffs nicht zustimmen wollen. Herr Kollege Jörg Tauss (SPD): Lammert, Sie haben völlig Recht: Wer von Investitionen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! in die Zukunft spricht, der muss wenigstens eine Verste- Lieber Kollege Otto, ich denke, dass Ihre Bemerkung tigung akzeptieren. Das ist die Minimalforderung, die hinsichtlich Algier und Peking einen falschen Zungen- wir an Rot-Grün stellen. schlag in die Debatte gebracht hat. Verfolgen Sie im (B) Übrigen einmal, was andere Staaten in diesen Ländern (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten unternehmen! Dann werden Sie erkennen, dass es gute der CDU/CSU) Gründe gibt, hier etwas zu tun. Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung Es ist im Moment ein wenig schick, das eine oder an- zu einem anderen Punkt machen. Frau Griefahn und dere Reizwort in der politischen Debatte zu benutzen. Frau Müller, Sie haben immer davon gesprochen, dass Herr Kollege Rose hat vorhin das Reizwort Visum er- die regionale Schwerpunktsetzung wichtig sei. Eine wähnt. Ein Zusammenhang erschließt sich mir nicht. Ich Ihrer Forderungen ist, die Mittel für Westeuropa auszu- kann mich aber gut an meine Oppositionszeit erinnern, dünnen und stattdessen auf andere Regionen der Welt zu als es für viele auswärtige Künstlerinnen und Künstler verteilen. Frau Müller spricht in diesem Zusammenhang nur sehr schwer möglich war, Visa zu bekommen. Ich von außenpolitisch interessanten Regionen. Es drängt habe mich damals dafür eingesetzt, dass insbesondere sich uns der Eindruck auf, dass je diktatorischer und viele Künstler aus dem osteuropäischen Raum einreisen amerikafeindlicher ein Land ist, desto größer seine konnten. Dazu stehe ich nach wie vor. Chancen sind, dass dort ein Goethe-Institut eröffnet Oder denken wir an die Steuerpolitik. Sie haben aus- wird. Ich nenne als Beispiele Pjöngjang – dieses Beispiel ländische Künstlerinnen und Künstler mit Ihrer Steuer- haben auch Sie erwähnt –, Algier, Peking und Havanna. politik ein Stück weit abgeschreckt. Wir haben das durch Stattdessen werden viel besuchte und etablierte Institute Änderungen der Steuergesetzgebung beseitigt. in unseren europäischen Partnerländern und in den USA reihenweise geschlossen. (Monika Griefahn [SPD]: Ausländersteuern!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Wider- Diejenigen, die immer die Steuern senken wollen, wol- spruch des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Eckhardt len auch in diesem Bereich immer mehr Staatsausgaben. Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist ein falscher Das ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Wider- Zungenschlag, Herr Kollege!) spruch. Herr Kollege Otto und alle anderen Kolleginnen und Diese regionale Schwerpunktsetzung werden wir sehr Kollegen, wir sind uns einig, dass wir für die auswärtige nachhaltig prüfen. Denn es geht nicht an, dass wir unsere Kulturpolitik gerne mehr Geld hätten. Ich glaube, es ist europäischen Partner, mit denen wir eine gemeinsame unbestritten, dass dem so ist. europäische Identität begründen wollen, vor den Kopf stoßen und stattdessen in Algier, Havanna und Pjöngjang (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Stim- viel Geld ausgeben. Wir sollten damit etwas vorsichtiger men Sie doch unserem Antrag zu!) 15000 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Jörg Tauss (A) – So gut sind Ihre Anträge dann auch wieder nicht, dass isch-islamischen Dialog eingesetzt. Das war zusätzliches (C) man ihnen zustimmen könnte; denn sie sind, lieber Kol- Geld. Wir haben im Rahmen des Stabilitätspaktes für lege Otto, zum Teil nur mit Polemik gespickt. Afghanistan 9,2 Millionen Euro aufgebracht. Davon ha- ben in erheblichem Maße – das hat die Staatsministerin (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Was? angedeutet – gerade Bildungseinrichtungen profitiert, Ich habe Ihnen daraus vorgelesen! Wo ist da zum Beispiel Hochschulen und das Sekundarschulwe- Polemik? Ganz nüchtern!) sen. Es gab in diesem Zusammenhang eine Förderung – Ihr Vortrag hat es bewiesen. der Kulturinstitute, Medienkooperationen, als ganz be- sondere Priorität die Förderung von Frauen im Bildungs- Spätestens seit der „Konzeption 2000“ haben wir die bereich, den Wiederaufbau und die Förderung einer auswärtige Kulturpolitik als integralen Bestandteil der Mädchen- und Jungenschule in Afghanistan, die Aus- Außenpolitik entscheidend gestärkt. Dass vieles noch stattung von Bibliotheken, die Übersetzung deutscher nicht wünschenswert umgesetzt werden konnte, ist ein Kinderliteratur und eine Kooperation der Deutschen anderer Punkt. Dass wir nach der Verschuldungspolitik, Welle. die Sie betrieben haben, Haushaltszwänge haben, ist ebenfalls richtig. Bei aller Kritik, die man erheben kann, ist es meine herzliche Bitte, dass man nicht so tun sollte, als wäre Wir haben aber einiges bewirkt. Wir haben gerade nichts geschehen. Es ist sehr viel Geld dorthin geflossen. wegen verschiedener ökonomischer Zwänge Verbesse- Das war gut angelegtes Geld. Das sollten wir auch künf- rungen durchgeführt. Ich erinnere an die Goethe-Insti- tig in diesen Bereichen so machen. tute, den DAAD und an andere Einrichtungen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Kollege Rose, Sie haben auf meinen Zuruf zur des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eigenheimzulage wieder hektisch reagiert. Vor einiger Zeit gab es die Versteigerung der UMTS-Lizenzen. Die Ein weiterer Punkt, den Sie angesprochen haben, ist Zinseinsparungen – wir haben mit diesen Erlösen unsere die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die sich dem in- Schulden reduziert – haben wir gezielt in Bildung, For- ternationalen Austausch qualifizierter Wissenschaftler schung und Wissenschaft investiert. widmet. In diesem Jahr wurde in den „VDI-Nachrich- ten“ geschrieben, dass das deutsche Weltniveau wieder (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des asiatische Forscher lockt. Zu Ihren Regierungszeiten gab BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) es solche Überschriften zu meinem Bedauern nicht. Da Das war eine hervorragende Geschichte. Der Deutsche haben wir die ein Stück weit vergrault. In den „VDI- Akademische Austauschdienst hat davon in hohem Nachrichten“ stand ferner: (B) Maße profitiert. Jetzt wäre es doch eigentlich nahe lie- (D) Der Forschungsstandort Deutschland hat internatio- gend, zu sagen: Dieses Geld steht nicht mehr zur Verfü- nal einen besseren Ruf, als wir das hier zu Lande gung. Lassen Sie uns deshalb nach neuen Finanzierun- wahrhaben wollen. gen suchen! Ich sage Ihnen: Ich bin bereit, wenn wir die Eigen- Wir haben hier also etwas verändert. heimzulage abschaffen, eine Verpflichtungsermächti- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gung in den Haushalt zu schreiben – da macht der Finanzminister mit –, damit speziell für den Deutschen Wir haben den Sofia-Kovalevskaja-Preis für ausländi- Akademischen Austauschdienst und andere Bereiche der sche Wissenschaftler eingeführt. Das ist ein hervorra- Bildungspolitik im Ausland etwas getan wird. gendes Instrumentarium, Nachwuchswissenschaftler nach Deutschland zu holen. All dies ist ein Beitrag, um (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zu Verbesserungen zu kommen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum Deutschen Akademischen Austauschdienst habe Sie jammern im Übrigen ständig über Geld. Auch ich ich schon etwas gesagt. Immerhin gab es fast 32 000 ge- jammere über Geld, insbesondere im Bildungsbereich, förderte Ausländer, davon 7 666 Wissenschaftler und obwohl wir hier zugelegt haben. Sie kürzen in Ihren Künstler und zusätzlich 22 000 Stipendiaten im Rahmen Ländern und haben während Ihrer Regierungszeit auf des Sokrates/Erasmus- und des Leonardo-da-Vinci-Pro- Bundesebene in Permanenz gekürzt. Diese Krokodilsträ- gramms. nen sollten wir uns – das wäre meine herzliche Bitte – schenken. Sie merken, ich rede relativ schnell, weil mir ein paar Minuten Redezeit vom Präsidium geklaut worden sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der (Heiterkeit bei der SPD) Abg. Monika Griefahn [SPD]) Frau Präsidentin, das war keine Kritik. – Mit Zwischenfragen könnte man meine Redezeit ver- Ich will es deutlich sagen: Bei allen Problemen, über längern. die wir hier diskutieren, sollten wir die Kirche im Dorf (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben nach dem (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aus- 11. September 2001 5 Millionen Euro für den europä- wärtige Kulturpolitik ist im Dorf!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15001

Jörg Tauss (A) Wir brauchen mehr Geld; ich stimme Ihnen zu. Bekannt- gleich ein paar Details – zu formulieren. Den daraus re- (C) lich ist Zufriedenheit der Feind allen Fortschritts. Des- sultierenden Kompetenzverlust mag man aus Sicht der wegen wollen wir noch mehr tun. Das können wir und Opposition vielleicht sogar begrüßen. Da wir uns aber wollen wir auch. Geben Sie uns die dazu erforderlichen einig darüber sind, wie wichtig dieses Thema ist, sage finanziellen Mittel! Die werden frei, wenn wir die Ei- ich: Der Kompetenzverlust ist für die Mittlerorganisatio- genheimzulage abschaffen. nen fatal. Im Übrigen kann ich Ihnen sagen: Wir werden mit- Der Außenminister hat im Ausschuss für Kultur und einander – da bin ich mir sicher – sinnvolle Aufgabenfel- Medien vor einem Jahr tränentreibend erklärt, es würden der in allen Bereichen der auswärtigen Bildungs- und weitere Einschnitte „ins Mark“ der auswärtigen Kultur- Kulturpolitik finden. Ihre Anträge lehnen wir zu meinem und Bildungspolitik folgen. Er sagte, dass er leider Bedauern ab. nichts dagegen tun könne. Man könnte denken, er fühlte sich schon damals als Außenminister entmachtet; aber (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ich glaube, er hat es anders gemeint. Wir alle kennen Bedauern ist schon sehr groß!) – darüber ist schon geredet worden – die finanzielle Si- Herr Nooke, Sie hätten gemeinsam mit uns einen Antrag tuation. Hier ist aber nicht das große Bedauern ange- erstellen können. Wenn Sie das gemacht hätten, wären zeigt, sondern es sind Ideen gefragt. Im Antrag der wir vielleicht schon ein Stück weiter. Sie sind ja noch Koalition findet sich keine einzige Idee, auch nicht im jung – nicht ganz, aber ziemlich –, Bericht für das Jahr 2003, den wir hier vorgelegt bekom- men haben. (Heiterkeit) (Jörg Tauss [SPD]: Haben Sie ihn gelesen? – also bestehen noch Chancen, dass wir es das nächste Mal Monika Griefahn [SPD]: Das ist schlicht gemeinsam machen. Wir sind dabei im Sinne der Kultur- falsch!) politik zu jeder Kooperation bereit. Herr Rose hat die „FAZ“ zitiert, wo die Visapolitik als Ich bedanke mich. „Kulturpolitik im großen Stil“ bezeichnet wurde. Es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wäre gut, wenn das Auswärtige Amt im großen Stil Kul- DIE GRÜNEN – Christian Freiherr von turpolitik betreiben würde – genau das wünschen wir Stetten [CDU/CSU]: Der Tauss muss in den uns –, jedoch nicht mit ungesetzlichen Visaerlassen, son- Zirkus Krone!) dern entsprechend dem gesetzlichen Auftrag des Aus- wärtigen Amtes für die Kulturpolitik. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Dem Präsidium fehlt nichts. Wir brauchen also nie- manden zu beklauen. Bei der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik geht es um Kultur aus Deutschland, um deutsche Kultur und (Heiterkeit – Jörg Tauss [SPD]: Zeit hat euch um Deutschland als Kulturnation. Es geht um Interesse gefehlt!) an Deutschland und um deutsches Interesse. Es tut uns – Ja, für die gesamte Debatte fehlt manchmal Zeit. allen gut, wenn wir uns in den Beziehungen zu unseren Partnern in der Welt um Vertrauen bemühen. Das Han- Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Günter Nooke das deln des Außenministers und zusätzlich der vorliegende Wort. Antrag machen es aber enorm schwierig, dies Vertrauen (Beifall bei der CDU/CSU) bei den Mittlerorganisationen der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik und vor allem auch bei den Partnern zu gewinnen. Günter Nooke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte auf den vorgelegten Bericht über das Jahr Ich will versuchen, ganz unaufgeregt zusammenzufas- 2003 eingehen, der übrigens erst sieben Tage vor Weih- sen, worum es hier heute ging und eigentlich immer nachten 2004 – deshalb reden wir erst heute über unsere noch geht. Anträge – vorgelegt wurde. Bei der Debatte zur Einbringung unserer Anträge (Monika Griefahn [SPD]: Es ist ein guter Be- habe ich Vorbemerkungen gemacht, von denen ich zwei richt! Das müssen Sie zugeben!) in Kurzform wiederholen möchte. Im Bericht lernen wir als Erstes, dass der Anteil der aus- Erstens. In keinem Bereich der Politik haben die An- wärtigen Kultur- und Bildungspolitik am Gesamthaus- sprüche so Schwindel erregende Höhen erreicht wie in halt kontinuierlich gesunken ist. Wir lernen auch, dass der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. ein Potenzial, diese Kürzungen durch „Optimierung“ – so heißt es in dem Bericht – aufzufangen, nicht mehr Zweitens. Kein Bereich der auswärtigen Politik ist so vorhanden ist. beschämend vernachlässigt worden wie die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aha!) Ich füge heute eine weitere Bemerkung hinzu: Die Man muss das nicht dramatisieren; denn im Kulturaus- Koalition ist nicht fähig, die Grundlagen und Ziele der tausch macht sich das nicht notwendig stärker bemerk- auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik – ich nenne bar als in anderen Bereichen der Kulturpolitik und den 15002 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Günter Nooke (A) Kulturinstitutionen. Es besteht jedoch ein gravierender dann darf ich länger reden –, der – das sage ich, weil Sie (C) Unterschied: Die Auswirkungen werden überall auf der auch das vorhin nicht wussten – später als unser Antrag Welt sichtbar. Sie werden uns von den Mittlern im Aus- vorgelegt wurde; schauen Sie auf das Datum. land immer wieder vor Augen geführt. Die Äußerung von Unverständnis für das, was wir im Bereich der aus- (Monika Griefahn [SPD]: Weil Sie Ihren An- wärtigen Kultur- und Bildungspolitik machen, ist dabei trag eingereicht haben, als Sie unseren abge- noch die freundlichste Form des Gesprächs. Wir dürfen lehnt haben!) nicht aus den Augen verlieren, was im Ausland von der Ihr Text steht total im Gegensatz zu dem Eindruck, den deutschen Kultur- und Bildungspolitik erwartet wird. Sie durch die vonseiten der Koalition gehaltenen Reden Der Bericht zeigt weiter, dass die größte Teilsumme zu erwecken versucht haben. der Mittel – das ist schon gesagt worden – im „Europa (Monika Griefahn [SPD]: Das ist unfair, was der 15“ ausgegeben wird. Man hat den Eindruck, als sei Sie jetzt betreiben!) die EU-Osterweiterung für das Auswärtige Amt zufällig gekommen. Angesichts der wachsenden Bedeutung auch Bezeichnend ist, dass die Koalition das Wort „Bildungs- asiatischer Länder müssen wir darauf achten, dass die politik“ nicht einmal in den Titel ihres Antrags aufge- Entwicklung, die wir als Deutschlands auswärtige Kul- nommen hat. Dieser Begriff ist schlichtweg vergessen tur- und Bildungspolitik formulieren, der weltweiten Po- worden. litik in diesem Bereich nicht gleich zwei Schritte hin- Vor diesem Hintergrund erstaunt es dann nicht mehr, terherhinkt. Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik dass Sie in Ihrem Antrag auch die Auslandsschulen ver- muss dort vor Ort sein, wo es um deutsche Interessen gessen haben, obwohl Sie jetzt über sie gesprochen ha- geht; auch das muss sie leisten. ben. Sind Sie doch mal ehrlich! So gesehen ist das nur Ich wiederhole gern folgenden Satz, der im Bericht konsequent. Aber so kann man keine auswärtige Kultur- steht: Die deutsche auswärtige Kultur- und Bildungspo- und Bildungspolitik machen. Das ist geschludert und litik – so heißt es dort – dient der „Förderung deutscher grob fahrlässig. Ich hoffe – das will ich allerdings nicht kultur- und bildungspolitischer Interessen“. Das ist im- behaupten –, dass das nicht auch bedingt vorsätzlich ge- merhin gut gemeint. Im Antrag der Koalition findet sich schehen ist. dieser Satz bezeichnenderweise nicht. Auch im Rück- (Beifall bei der CDU/CSU – Monika Griefahn blick auf das Jahr 2003 findet sich hinsichtlich der Um- [SPD]: Zu den Schulen habe ich gesagt, dass setzung dieses Ziels nicht viel. wir gemeinsam etwas erarbeiten!) (Monika Griefahn [SPD]: Da sind doch so viele Die Lehrenden und Lernenden an fast 120 deutschen (B) praktische Beispiele drin, Herr Nooke!) (D) Auslandsschulen jedenfalls werden Ihnen das nicht Das hat damit zu tun, dass dieser Satz der jetzigen Hal- nachsehen. tung des Auswärtigen Amtes widerspricht. Beim Lesen des Berichts wird deutlich, dass es nicht darum geht, die Die in Ihrem Antrag formulierten Ziele bleiben weit deutsche Kultur zum Exportschlager zu machen und das hinter dem zurück, was selbst auf der Homepage des Angebot, die deutsche Sprache zu lernen, auszubauen. Auswärtigen Amtes für jedermann nachzulesen ist. Hät- Vielmehr wird in zunehmendem Maße unter dem Mantel ten Sie Ihren Antrag dort doch wenigstens abgeschrie- des Dialogs der Kulturen gut gemeinte Vermittlungsar- ben. beit angeboten. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nicht mal (Monika Griefahn [SPD]: Gucken Sie sich das!) doch mal die schönen Beispiele an, die da drin Es ist grotesk, dass Sie mit Ihrem Antrag Ihre eigene Re- stehen! Das ist doch wunderbar!) gierung, die – zumindest verbal – schon weiter ist, als Aber das ist nicht ausreichend und erst recht nicht gut: Sie es sind, auffordern wollen, mehr zu tun. weder für unser Land noch für andere Länder. Was sollen zum Beispiel die Mittler von Ihrer Forde- Abschließend noch eine Bemerkung zum Bericht. In rung halten – ich zitiere –, „die Haushaltsmittel für die der Rubrik „… andere Einrichtungen der AKBP“ – so auswärtige Kultur- und Bildungspolitik nachhaltig zu heißt es dort in unschöner Sprache – wird nun auch die gestalten“? Kulturstiftung des Bundes genannt. Sie leiste einen (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ja, „wichtigen und wertvollen Beitrag“ zum kulturellen eben!) Austausch. Im Ergebnis ist das sicherlich richtig und nicht zu beanstanden. Nachhaltig in Erinnerung geblieben ist mir die Tatsache, dass sich die Mittel in ungebremstem Sturzflug befin- Als Einrichtung der auswärtigen Kultur- und Bil- den. dungspolitik haben wir sie allerdings nicht gegründet, Frau Griefahn. Als Kulturpolitiker sollten wir diese (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: So ist freundliche Übernahme durch das Auswärtige Amt da- es! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Im nach- her auch nicht mitmachen. haltigen Sturzflug!) Nun komme ich zum Antrag der Koalition – Frau Die Mittlerorganisationen wissen, dass sie jetzt völlig Griefahn, Sie können ja eine Zwischenfrage stellen; im Stich gelassen werden: nicht nur vom Außenminister Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15003

Günter Nooke (A) – das war schon bekannt –, sondern auch – das ist neu – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) von der Koalition. neten der FDP) (Monika Griefahn [SPD]: Das glauben Sie Der Katalog unserer Forderungen ist lang, aber alle rich- doch wohl selbst nicht!) ten sich an das Auswärtige Amt, das für die Rahmenbe- dingungen zuständig ist, Bisher waren die Mittler – wie auch ich – der Auffas- sung, die Kolleginnen und Kollegen würden für die Stär- (Monika Griefahn [SPD]: Sie richten sich an kung der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik kämp- die Bundesregierung!) fen, Frau Griefahn. mit denen erfolgreiche Politik gemacht werden könnte. (Monika Griefahn [SPD]: Seien Sie doch ein- Sie zeigen, dass wir mit der auswärtigen Kultur- und Bil- mal friedlich!) dungspolitik im besten Sinne noch viel vorhaben. Wenn wir es mit der Investition in Köpfe ernst meinen, sollten – Es geht leider nicht friedlich. – wir baldmöglichst eine andere Debatte über dieses (Monika Griefahn [SPD]: Sie haben eine an- Thema führen dere Wahrnehmung als ich!) (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) Von einer Stärkung gibt es aber keine Spur. Sie fordern und im deutschen Parlament etwas wirklich Substanziel- die Regierung allen Ernstes auf – auch das ist ein Zitat –, les dazu sagen; mit Ihrem Antrag haben Sie das jeden- „die Funktions- und Arbeitsfähigkeit der Mittlerorgani- falls nicht getan. sationen zu erhalten“. Ich betone: zu erhalten. Das ist wirklich blanker Hohn und gleichbedeutend mit Untätig- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE keit. GRÜNEN]: Sie mit Ihrer Rede auch nicht!) Wie groß Ihre Zweifel an der Arbeit des Auswärtigen Deshalb werden wir ihn wieder ablehnen. Amtes wirklich sind, zeigt Ihre dritte Forderung auf ein- Danke. drucksvolle Weise: Man möge bitte arbeiten – Zitat – „ohne dabei den umfassenden Ansatz der AKP zu ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fährden“. Ich wiederhole: ohne zu gefährden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr Den schönen Ausdruck „Sind Sie doch mal ehrlich“ defensiv!) verbuchen wir unter Dialektdeutsch, nicht? (B) Das lässt ja noch schlimmere Ahnungen zu: (Günter Nooke [CDU/CSU]: Ja!) (D) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Defi- Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell nitiv!) wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4591 Offenbar müssen Sie davon ausgehen, dass das, was das an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Auswärtige Amt in die Wege leitet, schon per se eine po- vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist tenzielle Gefährdung darstellt. der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Monika Griefahn [SPD]: Das bezweifle ich!) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/3244. Der Zu dieser Lagebeschreibung haben nicht einmal wir von Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- der Opposition uns in unserem Antrag – der nicht nur empfehlung, den Antrag der Fraktionen der SPD und des gut gemeint, sondern auch wirklich gut ist – verleiten Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/2659 mit lassen. Mit Rücksicht auf die Mittler und die Rezeption dem Titel „Auswärtige Kulturpolitik stärken“ in der im Ausland hielten wir es für wenig hilfreich, hier ge- Ausschussfassung anzunehmen. meinsam zu schimpfen. Ich möchte gar nicht wissen, wie Ihr Antrag im Ausland wahrgenommen wird. Ich kann (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Der ist Ihnen nur raten, die Finger von diesem Text zu lassen; er ärmlich!) hilft keinem. Im Gegenteil: Ihr Antrag enthält keine ein- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- zige konkrete, in die Zukunft weisende Idee. Ich ver- genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- mute, dass den Mittlern das Lesen Ihres offenkundig lung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die hilflosen Textes eher Angst einjagt. Deshalb, Frau Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP an- Griefahn und liebe Kolleginnen und Kollegen von der genommen. Koalition, konnten wir Ihrem Antrag wirklich nicht zu- stimmen. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Glaubt’s mir: Der ist wirklich ärmlich!) (Monika Griefahn [SPD]: Sie haben Ihren ei- genen, seien Sie doch einmal ehrlich!) Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Da unserer eher vorgelegen hat, wäre es vernünftig ge- CDU/CSU auf Drucksache 15/2647 mit dem Titel „Aus- wesen, sich an einem guten Text verbessernd zu betäti- wärtige Kultur- und Bildungspolitik stärken“. Wer gen, als über Nacht etwas hinzuschreiben, was nur pein- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- lich ist. men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist 15004 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen dann in den Deutschen Bundestag, wenn sie entweder (C) gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenom- mindestens 5 Prozent der Stimmen erhält oder wenn sie men. drei Direktmandate erzielt; so das geltende Recht. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: Diese Sperrklauseln haben sich ganz grundsätzlich bewährt, weil sie einer Zersplitterung der Parteienland- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten schaft entgegenwirken. Die Väter und Mütter des Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Grundgesetzes haben aus den Unzulänglichkeiten voran- Strobl (Heilbronn), weiteren Abgeordneten und gegangener Verfassungen die richtigen Schlüsse gezo- der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- gen. Mit der Wiedererlangung der Einheit Deutsch- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des lands ist nach unserer Auffassung allerdings eine Bundeswahlgesetzes zur Berücksichtigung verfassungsrechtlich bedenkliche Diskrepanz zwi- von Zweitstimmen (Zweitstimmen-Berücksich- schen dem Stimmenaufkommen, das notwendig ist, um tigungsgesetz) die 5-Prozent-Hürde zu überwinden, und dem Stimmen- – Drucksache 15/4717 – aufkommen, mit dem drei Wahlkreise direkt gewonnen Überweisungsvorschlag: werden können, entstanden. Innenausschuss (f) Bei der Wahl 1998 konnten mit 180 000 Stimmen drei Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Wahlkreise gewonnen und damit für eine Partei der Ein- Rechtsausschuss zug in den Bundestag erreicht werden. Dagegen waren 2 355 288 Stimmen erforderlich, um die 5-Prozent- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hürde zu überspringen. 0,6 Prozent der Stimmen reich- Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas ten also aus, um drei Grundmandate und somit für eine Strobl (Heilbronn), weiteren Abgeordneten und Partei den Einzug in den Bundestag zu erreichen. Dem der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- standen 5 Prozent gegenüber, die eben für die 5-Prozent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundes- Hürde erforderlich waren. Anders gesagt: Für das Über- wahlgesetzes zur Korrektur der Grundman- springen der 5-Prozent-Hürde waren 2,3 Millionen Stim- datsklausel (Grundmandatskorrekturgesetz) men erforderlich, wohingegen weniger als ein Zehntel – Drucksache 15/4718 – dieser Stimmen, nämlich 180 000 Stimmen, ausreichten, Überweisungsvorschlag: um als Partei über die Grundmandatsklausel in den Innenausschuss (f) Deutschen Bundestag zu ziehen. Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Der Grund liegt darin, dass die Proportionierung der (B) Rechtsausschuss Grundmandatsklausel natürlich vor der deutschen Ein- (D) heit geschrieben worden ist. Mit der Wiedervereinigung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die hat sich die Anzahl der Wahlberechtigten allerdings um Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei- 29 Prozent erhöht. Ebenso stieg die Zahl der Wahlkreise nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. an. In der alten Bundesrepublik gab es 248 Wahlkreise. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Diese Zahl stieg nach der Wiedervereinigung auf 328 der Abgeordnete Thomas Strobl. und wurde durch die Verkleinerung des Deutschen Bun- destages zur letzten Bundestagswahl auf 299 gesenkt. Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sind damit aber immer noch 51 Wahlkreise mehr als vor der deutschen Einheit. Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Also: Es gibt ein Drittel mehr Wahlberechtigte und Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ein Fünftel mehr Abgeordnete als vor der deutschen Ein- Herren! Wir beraten zwei Gesetzentwürfe, die wir von heit. Die Zahl der Grundmandate – drei – blieb jedoch der Unionsfraktion eingebracht haben, weil wir der Auf- gleich und ist für eine Partei ausreichend, um in den fassung sind, dass unser Wahlrecht, das Wahlrecht der Bundestag einzuziehen. Damit fallen die Grundmandats- Bundesrepublik Deutschland, in mehreren Punkten einer klausel und die 5-Prozent-Hürde unverhältnismäßig weit Neujustierung bedarf. Zwei Dinge wollen wir damit al- auseinander. Anders gesagt: Die 5-Prozent-Klausel kann lerdings nicht erreichen: Erstens wollen wir unser be- durch die Grundmandatsklausel – drei Direktmandate – währtes Wahlrecht gar nicht grundsätzlich verändern. sehr leicht unterlaufen werden. Zweitens geht es uns auch nicht darum – dies möchte ich ausdrücklich betonen –, dieses Thema in irgendeiner Art Das Problem ist ein Stück weit auch aktuell. Nehmen und Weise zum Gegenstand einer überzogenen parteipo- Sie den SSW in Schleswig-Holstein. Dass er in den litischen Auseinandersetzung zu machen. Deswegen schleswig-holsteinischen Landtag einziehen kann, ist möchte ich alle Kolleginnen und Kollegen des Hohen eine Ausnahme von der 5-Prozent-Klausel. Hauses bitten, unsere Vorschläge in den kommenden Ausschussberatungen ganz offen zu prüfen. (Zuruf von der SPD: Wieso kommen Sie nach der Wahl damit?) (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir doch immer!) Wenn Sie bedenken, dass diese Ausnahme darüber ent- scheidet, wer in Schleswig-Holstein eine Landesregie- Zunächst zu den Grundmandaten: Unser Wahlrecht rung bilden kann, und sich das für den Deutschen Bun- enthält zwei Sperrklauseln: Eine Partei kommt nur destag vorstellen, dann erkennen Sie, so denke ich, dass Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15005

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) wir Anlass haben, uns ganz ernsthaft gemeinsam darüber Es ist höchste Zeit, das nachzuholen, zumal eben 2002 (C) zu unterhalten, ob wir wollen, dass eine Partei aufgrund dieser vom Bundesverfassungsgericht 1988 zunächst von drei Direktmandaten eventuell mit 30 oder 40 Abge- einmal theoretisch gesehene Fall Realität geworden ist, ordneten in den Bundestag einziehen kann. sodass wir, Frau Stokar, zumindest seit 2002 doch einen zusätzlichen Anlass haben, diese Thematik anzugehen, (Zuruf von der SPD: Vor der Wahl wäre das da sie in der Tat eingetreten ist. vernünftiger gewesen! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nach der Wahl ist vor der Wahl!) Aus Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes folgt, dass der Erfolgswert aller Stimmen bei allen Wählerinnen und Wir meinen, eine Anpassung der Zahl der Grund- Wählern gleich sein muss. Es geht also um den gleichen mandate an die vor der Einheit geltenden Verhältnisse Wahlrechtsgrundsatz. Kein Wähler darf mit Erst- und ist notwendig. Deswegen beantragen wir, die Anzahl Zweitstimme sozusagen einen unterschiedlichen Er- der Grundmandate auf fünf zu erhöhen. Damit wäre folgswert haben oder gar zwei Treffer erzielen. Das ist wieder eine verfassungsrechtlich angemessene Propor- beispielsweise dann der Fall, wenn ein parteiloser Di- tion zur 5-Prozent-Klausel hergestellt. rektkandidat in einem Wahlkreis gewählt wird und dann ins Parlament einzieht. Dieses Mandat wird aber nicht (Beifall bei der CDU/CSU) auf eine bestimmte Partei angerechnet, weil er keiner Partei angehört. Wohlgemerkt – ich sage es noch einmal –: Es geht uns nicht darum, dass wir unser Wahlrecht und die Mit den Zweitstimmen der Stimmzettel, auf denen Sperrklauseln grundsätzlich ändern wollen. Wir halten dieser parteilose, direkt gewählte Erstkandidat ange- die Regelungen – insbesondere die 5-Prozent-Klausel – kreuzt ist, wird allerdings ein doppelter Stimmerfolg er- für grundsätzlich richtig. Es geht uns um eine Anpas- zielt; denn die Wähler haben erfolgreich einen parteilo- sung an die Verhältnisse im größer gewordenen wieder- sen Direktkandidaten gewählt und zusätzlich mit ihrer vereinigten Deutschland, also um eine verhältnismäßige Zweitstimme an der politischen Zusammensetzung des Annäherung der Grundmandatsklausel an die 5-Prozent- Deutschen Bundestages mitgewirkt. Nach geltendem Klausel. Nicht mehr und nicht weniger ist der Inhalt die- Recht des § 6 des Bundeswahlgesetzes werden diese ses Gesetzentwurfes. Zweitstimmen nicht mitgezählt. Das ist auch so in Ord- nung. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE dass diese Regelung rechtmäßig, ja sogar notwendig ist. GRÜNEN]: Das fällt Ihnen 15 Jahre später ein!) Ähnlich stellt sich die Lage im Falle der so genannten Berliner Zweitstimmen dar. Übrigens noch einmal: Dies ist exakt der Fall, den das Bundesverfassungsgericht (B) Etwas komplizierter liegen die Fälle bei den so ge- (D) nannten Berliner Zweitstimmen. Dieses Problem ist 1988 theoretisch gesehen und daraufhin den Bundesge- bei der Bundestagswahl 2002 in der Praxis zum ersten setzgeber aufgefordert hat, diese Lücke im Wahlrecht zu Mal aufgetreten. Es fußt auf einer Regelungslücke im schließen. Bundeswahlgesetz. Diese Regelungslücke sollten wir (Barbara Wittig [SPD]: Zur Erwägung!) endlich schließen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelungslücke bereits in einer Entscheidung im – Zu schließen, Frau Kollegin. Sagen Sie mir, wann sich Jahre 1988 ausdrücklich festgestellt. Aber nicht nur das: der Bundesgesetzgeber mit dieser Thematik beschäftigt Es hat auch den Bundesgesetzgeber ausdrücklich aufge- hat, bevor die CDU/CSU diesen Antrag eingebracht hat. fordert, Genau das ist das Problem. Nicht nur im Wahlrecht gibt es eine Menge Baustellen, aber Rot-Grün mit seiner (Barbara Wittig [SPD]: Zur Erwägung, nicht Mehrheit im Bundestag unternimmt leider nichts, um aufgefordert!) diese Baustellen abzuarbeiten. Deswegen müssen wir entsprechende Anträge einbringen. diese Lücke zu schließen. Seither ist nichts geschehen. Das heißt, der Gesetzgeber hat es seit 1988 unterlassen, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE einen klaren Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu GRÜNEN]: Der Geschäftsordnungsausschuss erfüllen. hat sich damit befasst!) (Zuruf der Abg. Silke Stokar von Neuforn Besonders bitter ist in diesem Fall, dass das Bundes- verfassungsgericht den Bundestag aufgefordert hat, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Wenn wir den – Verehrte Frau Kollegin Stokar von Neuforn, wir soll- Antrag nicht eingebracht hätten, dann hätte er sich bis ten das nicht zu einer Frage der Parteipolitik machen. zum heutigen Tag nicht damit befasst, weil Sie offen- Das ist keine Frage der Mehrheitsverhältnisse hier im sichtlich nicht in der Lage sind, einen solchen Antrag zu Deutschen Bundestag und schon gar nicht die Frage, wer formulieren. die Bundesregierung stellt. Dies betrifft uns als Parla- (Beifall bei der CDU/CSU) ment und unser Wahlrecht. Wir sollten gemeinsam bera- ten und diskutieren und dies nicht zu einer Frage einer Der Fall der Berliner Zweitstimmen ist im Gesetz parteipolitischen Auseinandersetzung machen. Das halte nicht geregelt. Die Stimmen wurden bei der ich für falsch. Bundestagswahl 2002 einfach mitgezählt. Dies ist nach unserer Auffassung ein klarer Verstoß gegen den Wahl- (Beifall bei der CDU/CSU) rechtsgrundsatz des gleichen Erfolgswertes der Stimmen 15006 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) und damit mit Verfassungsrecht nicht zu vereinbaren. In beiden Ausschüssen war es streitig, ob im Hinblick (C) Richtig wäre gewesen, § 6 des Bundeswahlgesetzes ana- auf die Vorschrift des § 6 des Bundeswahlgesetzes und log anzuwenden. Jedenfalls ist es hohe Zeit, diese Lücke eine hierzu ergangene Wahlprüfungsentscheidung des zu schließen. Konsequenterweise müsste der Zweitstim- Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1988 – Herr menausschluss bei den gewählten Erststimmenvertre- Strobl hat sie angeführt – die so genannten Berliner tern, die einer Partei angehören, die an der 5-Prozent- Zweitstimmen berücksichtigt werden sollten. Klausel gescheitert ist, genauso gelten. Diese Gesetzes- In diesem Zusammenhang – das hat Herr Strobl nicht lücke – ich sage es noch einmal –, die wir seit 1988 hät- erwähnt – möchte ich darauf hinweisen, dass das Bun- ten schließen müssen, wollen wir mit diesem Gesetzent- desverfassungsgericht noch in diesem Jahr über eine wurf schließen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns hierzu anhängige Wahlprüfungsbeschwerde entscheiden im Übrigen damals nicht nur wegen des Grundsatzes des wird. Nicht erwähnt hat Herr Strobl auch, dass das Bun- gleichen Erfolgswertes der Stimmen angemahnt, son- desverfassungsgericht in diesem Zusammenhang eine dern auch durch seine Aussage, dass es gerade bei den nochmalige Auszählung der so genannten Berliner Wahlrechtsgrundsätzen vonnöten ist, dass wir Rechts- Zweitstimmen veranlasst hat. Das müsste Ihnen, Herr klarheit haben. Diese Rechtsklarheit besteht in diesem Strobl, eigentlich bekannt sein. Das stand sogar in den Punkt eben nicht. Das wird im Übrigen – das möchte ich Medien und war für jedermann nachlesbar. Das Ergebnis den Kollegen der SPD sagen – am sehr knappen Wahler- müsste Ihnen erst recht bekannt sein. Es sieht so aus: gebnis des Jahres 2002 deutlich. Wenn nämlich der § 6 Auch ohne diese Zweitstimmen wäre es zu keiner ande- analog angewendet worden wäre oder man die Gesetzes- ren Sitzverteilung nach der Bundestagswahl 2002 ge- lücke entsprechend dem Auftrag des Bundesverfas- kommen. Haben Sie das nicht gewusst, Herr Kollege? sungsgerichts bereits vor 2002 geschlossen hätte, dann Vielleicht haben Sie das nur unterschlagen. hätte die Union mehr Stimmen als die SPD erhalten. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Das Grundgesetz schreibt uns insbesondere beim CDU/CSU: Die Entscheidung des Bundesverfassungs- Wahlrecht vor, klare Regeln aufzustellen und den glei- gerichts steht in diesem Jahr an. Unseres Erachtens be- chen Erfolgswert der Stimmen zu gewährleisten. An steht deshalb derzeit kein Bedarf für die Einleitung eines beide Aufgaben sollten wir herangehen. Wir sollten uns Gesetzgebungsverfahrens. insbesondere daranmachen, dem Auftrag des Bundes- verfassungsgerichts nachzukommen. Wir wollen mit un- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: serem Gesetzentwurf diese Gesetzeslücke schließen. Wir Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen wollen dem lang angemahnten Auftrag des Bundesver- Strobl? fassungsgerichtes nachkommen. Wir sollten diese Lücke (B) endlich schließen und dafür sorgen, dass alle Wählerin- (D) nen und Wähler in der Bundesrepublik Deutschland bei Barbara Wittig (SPD): ihrer Stimmabgabe bei einer Bundestagswahl den glei- Ja. chen Erfolgswert mit ihren Stimmen haben. Ich würde mich freuen, wenn das im ganzen Hause so gesehen Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): würde. Ich freue mich auf die weiteren parlamentari- Frau Kollegin, es ist mir sehr wohl bekannt, dass sich schen Beratungen hier im Plenum und dann in den Aus- an der Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag schüssen. nichts geändert hätte. Aber Sie können nicht die Tatsa- che in Abrede stellen, dass die Union mehr Stimmen er- Besten Dank. halten hätte als die SPD. An der Mandatsverteilung hätte (Beifall bei der CDU/CSU) sich deswegen nichts geändert, weil die SPD-Fraktion Überhangmandate hat. Das ist aber ein anderer Sachver- halt. Sie sollten das fairerweise nicht miteinander ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: mengen. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Wittig. Des Weiteren meine ich, dass uns die Tatsache, dass Bürger gegen die Feststellung des Wahlergebnisses der Barbara Wittig (SPD): Bundestagswahl 2002 in genau diesem Punkt vor dem Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesverfassungsgericht Klage erheben, nicht davon CDU/CSU hat einen Gesetzentwurf zur Änderung des entlasten kann, dass wir bis zum heutigen Tag einem Bundeswahlgesetzes vorgelegt, mit dem geregelt werden Auftrag des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr soll, dass die Zweitstimmen derjenigen Wähler nicht be- 1988 nicht nachgekommen sind. Es wäre schließlich ge- rücksichtigt werden sollen, die mit ihrer Erststimme ei- nug Zeit dafür gewesen. Besonders peinlich fände ich, nem Wahlkreisbewerber zum Erfolg verholfen haben, wenn das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren dessen Partei aber an der 5-Prozent-Klausel gescheitert die Untätigkeit des Bundesgesetzgebers noch einmal ist und auch keine drei Direktmandate erreichen konnte. aufgreifen und sie ihm sozusagen um die Ohren hauen würde und wir bis zu diesem Zeitpunkt wirklich nichts Wir wissen, dass sich dieser Fall bei der Bundestags- getan hätten. Halten Sie es insofern vor dem Hintergrund wahl 2002 ergeben hat. Die PDS erreichte in den Berli- der laufenden Verfahren nicht doch für nützlich, dass wir ner Wahlkreisen 86 und 87 jeweils ein Direktmandat. uns aufgrund unserer Initiative im Deutschen Bundestag Sowohl der Bundeswahlausschuss als auch der Wahlprü- mit dem Thema beschäftigen? fungsausschuss des Deutschen Bundestages haben sich mit dieser Angelegenheit befasst, und zwar sehr intensiv. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15007

(A) Barbara Wittig (SPD): Es ist höchst interessant, was das Bundesverfassungs- (C) Lieber Herr Strobl, das steht doch gar nicht in Ab- gericht zur Grundmandatsklausel feststellt: Die Grund- rede. Wir beschäftigen uns doch bereits seit 20 Minuten mandatsklausel dient dem von der Verfassung legitimier- damit und werden uns auch in den Ausschüssen weiter ten Zweck des Ausgleichs zum Teil sogar gegenläufiger damit beschäftigen. Ziele, nämlich erstens ein funktionsfähiges Parlament zu schaffen und zweitens eine effektive Integration des (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Staatsvolkes zu bewirken. Zudem – das ist, zumindest GRÜNEN]: Wir beschäftigen uns ständig mit meiner Ansicht nach, das Allerwichtigste – ergeben sich Ihnen!) für die Zahl der Grundmandate keine verfassungsrechtli- Das steht insofern außer Zweifel. chen Vorgaben. Das Bundesverfassungsgericht führt weiter aus: (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben diese Debatte als überflüssig bezeichnet!) Im Übrigen ist es der Beurteilung des Gesetzgebers anheim gegeben, auf wie viele Wahlkreiserfolge er Sie haben das Jahr 1988 angesprochen und bieten mir als Ausdruck eines besonderen politischen Ge- damit die Gelegenheit, festzustellen, dass Sie zehn Jahre wichts abhebt. … Schon deshalb kann es von Ver- Zeit gehabt hätten, zu handeln. Sie haben dies aber nicht fassungs wegen nicht beanstandet werden, dass der für nötig erachtet. Gesetzgeber nach Vergrößerung des Wahlgebietes (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE durch die Wiedervereinigung Deutschlands die An- GRÜNEN]: Sehr richtig!) zahl der Grundmandate nicht erhöht hat. Auch wir hätten seit 1998 durchaus handeln können. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Aber er kann!) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sie hätten schon damals als Opposition etwas ma- So weit das Bundesverfassungsgericht. Das betrifft so- chen können!) wohl Ihre als auch unsere Regierung. Ich möchte nur noch hinzufügen, dass diese Regelung seit Jahrzehnten Wir haben es aber nicht für notwendig erachtet. auf diese Weise angewendet wird. Ihr Gesetzentwurf trägt den Titel „Zweitstimmen-Be- Der Gesetzentwurf der CDU/CSU stellt aber gerade rücksichtigungsgesetz“. Ich will nicht alle anderen Pro- darauf ab – das ist für mich schon ein bisschen merkwür- bleme, die Sie angesprochen haben, damit vermengen, dig –, dass sich die Zahl der Wahlberechtigten durch die aber ich bin der Meinung, dass Ihr Gesetzentwurf eher Wiedervereinigung um rund 29 Prozent, also um knapp „Zweitstimmen-Nichtberücksichtigungsgesetz“ heißen ein Drittel, vergrößert habe und dass nun endlich gehan- (B) sollte. Denn es ist eindeutig, gegen wen er sich richtet. (D) delt werden müsse. Lieber Herr Strobl, in diesem Zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sammenhang müssen Sie meines Erachtens zwei Fragen DIE GRÜNEN) beantworten. Erstens. Warum verlangen Sie erst jetzt, im Jahr 2005 – oder gerade jetzt? –, Konsequenzen, obwohl Lassen Sie mich nun zu dem zweiten Gesetzentwurf Ihnen seit 1990 – seit 1990! – bekannt ist, dass sich die der CDU/CSU kommen, mit dem die Korrektur der so Zahl der Wahlberechtigten um knapp ein Drittel vergrö- genannten Grundmandatsklausel verlangt wird. Die ßert hat? Diese Frage müssen Sie mir beantworten; denn Grundmandate sollen von drei auf fünf angehoben wer- ich kann es selber nicht. Zweitens. Aus welchen Grün- den. Auch hierbei möchte ich darstellen, worum es aus den soll eigentlich bei einer Vergrößerung der Zahl der meiner Sicht geht. Wahlberechtigten um knapp ein Drittel die Zahl der Bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten wer- Grundmandate um mehr als ein Drittel angehoben wer- den nur die Parteien berücksichtigt, die mindestens den? 5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Festzustellen ist: Die in der Begründung des Gesetz- Zweitstimmen erhielten oder die in mindestens drei entwurfs hergestellte Beziehung zwischen der Stimmen- Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Sofern eine Par- zahl, die aufzubringen ist, um die 5-Prozent-Sperrklau- tei zwar die 5-Prozent-Grenze verfehlt, aber in mindes- sel zu überwinden, und derjenigen, mit der drei tens drei Wahlkreisen einen Sitz erringt, nimmt sie mit Wahlkreise direkt errungen werden können, würde sich allen Zweitstimmen unterhalb der 5-Prozent-Grenze an durch die Erhöhung auf insgesamt fünf Direktmandate, der Sitzverteilung teil. wie Sie begehren, nur unwesentlich verändern. Die Dif- Ein Blick in die Vergangenheit macht deutlich, wem ferenz zwischen den erforderlichen Erststimmen und die Grundmandatsklausel bisher genutzt hat. 1953 hat Zweitstimmen ist – ich möchte nicht alles wiederholen – die Grundmandatsklausel der Deutschen Partei und dem in Wirklichkeit sehr geringfügig. Zentrum genützt. Damals gab es – auch das möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen – sogar nur ein Sie haben vorhin sehr viele Rechenbeispiele genannt. Grundmandat. Ich schlage vor, dass wir uns im Ausschuss intensiv mit Zahlen- und Rechenbeispielen beschäftigen. Sie behaup- 1957 hat wiederum die Deutsche Partei davon profi- ten aber, es gebe eine verfassungsrechtlich bedenkliche tiert. 1994 war es – das ist bereits angesprochen wor- Differenz zwischen der Stimmenzahl, die aufzubringen den – die PDS. Sie erreichte nur 4,4 Prozent der Zweit- ist, um die 5-Prozent-Sperrklausel zu überwinden, und stimmen, gewann aber vier Wahlkreise in Berlin. der Stimmenzahl, mit der man drei Wahlkreise direkt 15008 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Barbara Wittig (A) erringen kann. Gestatten Sie mir deshalb, noch einmal und anschließend vom Bundesverfassungsgericht mögli- (C) auf das Bundesverfassungsgericht zu verweisen. Es hat cherweise zu vernehmen, dass dabei dies oder jenes zu- keine verfassungsrechtlichen Bedenken geäußert, wenn sätzlich zu berücksichtigen gewesen wäre. Deshalb soll weiterhin eine Differenz im bisherigen Umfang oder muss das zwar auf die Agenda kommen, meiner zwischen der Stimmenzahl, die aufzubringen ist, um die Auffassung nach aber erst für die Zeit nach der Entschei- 5-Prozent-Sperrklausel zu überwinden, und derjenigen dung des Bundesverfassungsgerichts. Ich habe Sie auch besteht, mit der man drei Wahlkreise direkt erringen so verstanden, dass Sie dazu bereit sind. kann. So weit das Bundesverfassungsgericht. Ich musste darauf bereits zum zweiten oder dritten Mal verweisen. Eines muss jedenfalls klar sein: Das Stimmenge- wicht muss gleich sein. Deshalb muss hier eine Ände- Ich möchte abschließend feststellen: Verfassungs- rung erfolgen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns rechtlich und wahlrechtlich lässt sich Ihr Anliegen kaum das aber nur zu erwägen gegeben; es war kein Auftrag, begründen. Außerdem ist im Sinne der Ausführungen wie Sie gesagt haben. Jedenfalls führt ein Nachdenken des Bundesverfassungsgerichtes zu fragen, ob eine ef- über diese Frage zu der Entscheidung, dass wir da tat- fektive Integration des Staatsvolkes bei einer Erhöhung sächlich etwas ändern müssen. auf fünf Grundmandate noch gewährleistet ist. Vielmehr ist wohl davon auszugehen, dass Ihr Anliegen politisch Der zweite Punkt: Grundmandatsklausel. Die kleine- motiviert ist. Der Bitte von Herrn Strobl, darüber im ren Fraktionen im Bundestag, meine eigene, aber auch Ausschuss intensiv zu sprechen, kommen wir natürlich Bündnis 90/Die Grünen, wissen, wie schwierig es ist, gerne nach. Wir befassen uns ja bereits damit. Wir wer- ein Direktmandat zu erringen. – Der Kollege Ströbele den dort ausreichend Zeit und Gelegenheit haben, Ihre lächelt gerade, weil er ein solches Mandat errungen hat, politischen Anliegen zu prüfen und die Gegebenheiten, allerdings unter großen Anstrengungen. – Also, das Er- die sich unter verfassungs- und wahlrechtlichen Ge- ringen eines Direktmandats für kleinere Parteien ist sichtspunkten ergeben, dagegen abzuwägen. Auf die außerordentlich schwierig. Die Tatsache, dass drei Di- Diskussion freue ich mich. rektmandate errungen worden sein müssen, bevor die Grundmandatsklausel zur Anwendung kommt, macht Ich danke Ihnen. darüber hinaus deutlich, dass es sich um eine politische (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bewegung handeln muss, die offensichtlich Gewicht hat, DIE GRÜNEN) etwa ein regionales Gewicht, oder die aus anderen Grün- den bei einer Bundestagswahl einen entsprechenden Er- folg hat. Ich rate uns davon ab, hier eine Änderung vor- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zunehmen. Die Hürde ist hoch, aber sie ist auch ein (B) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen. Minderheitenschutz. Hierdurch besteht für politische (D) Gruppierungen, die sich neu gebildet haben, die Mög- Jörg van Essen (FDP): lichkeit, gegebenenfalls auf diesem Wege in das politi- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sche Geschehen einzugreifen. Wir behandeln heute zwei unterschiedliche Themen, die Ich sehe die Notwendigkeit für eine Änderung hier nur eines gemeinsam haben, nämlich dass sie etwas mit also nicht. Ihre Berechnungen habe ich verstanden. Aber dem Wahlrecht zu tun haben. Ich möchte in den drei Mi- auch in diesem Punkt muss ich der Kollegin Wittig nuten, die mir zur Verfügung stehen, zu beiden kurz Stel- Recht geben. Das Bundesverfassungsgericht hat uns in- lung nehmen. Ich muss die Sachverhalte nicht wiederho- soweit keine Aufgaben gestellt. Wir haben hier eine len, da sie schon vorgetragen wurden. Ich möchte zuerst große Möglichkeit zu variieren. Wenn wir politisch klug mit den Berliner Zweitstimmen beginnen. Ich teile die sind, dann sollten wir daran nichts ändern. Mit dieser Auffassung des Kollegen Strobl, dass wir diesen Sach- Auffassung wird die FDP-Bundestagsfraktion in die Be- verhalt regeln sollten. Ich habe mich – genauso wie SPD ratungen gehen. Ich freue mich darauf und ich denke, und Grüne – gegen das Ansinnen der CDU/CSU ge- dass wir dabei zu vernünftigen Entscheidungen kommen wandt, die Bestimmung in § 6 des BWG analog anzu- können, und zwar quer durchs ganze Haus. wenden; denn ich glaube, dass gerade das Wahlrecht sehr strikt sein muss und dass sich deshalb eine analoge Vielen Dank. Anwendung verbietet. Wenn wir aber dort strikt sind, dann sollten wir auch eine gesetzliche Regelung vorneh- (Beifall bei der FDP und der SPD) men. Von daher meine klare Aussage, dass auch ich hier Regelungsbedarf in der Richtung sehe, die Sie darge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: stellt haben. Das Wort hat die Abgeordnete Silke Stokar. (Beifall bei der FDP) Ich glaube aber, dass auch das, was die Kollegin Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wittig in dieser Debatte vorgetragen hat, wirklich über- NEN): legenswert ist. In diesem Jahr wird es die Entscheidung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der des Bundesverfassungsgerichts geben und das Bundes- Ausgang der Bundestagswahl 2002 war sehr knapp. Ich verfassungsgericht wird mit Sicherheit Ausführungen kann mich noch gut an die kurze Sequenz erinnern, in dazu machen, die wir berücksichtigen müssen. Es macht welcher der Herr meinte, er sei Bundes- keinen Sinn, ein Gesetz gerade verabschiedet zu haben kanzler. Das war aber nicht so, wie zumindest wir hier Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15009

Silke Stokar von Neuforn (A) alle heute wissen. Rot-Grün hat die Bundestagwahl 2002 Wir können mit der bisherigen Regelung gut leben; (C) gewonnen. sie ist eine Minderheitenschutzklausel. Drei Direktman- date sind mit einem gewissen Stimmengewicht verbun- Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich den. Wenn eine Partei bei einer Bundestagswahl drei habe manchmal das Gefühl, dass Sie mit dieser Wahlnie- Direktmandate errungen hat, dann können die Mandats- derlage bis heute nicht angemessen umgehen können. träger die Wählerinnen und Wähler als Abgeordnete ih- (Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Das Ende von rer Partei hier im Bundestag vertreten. Ich finde das rich- Rot-Grün ist absehbar!) tig. Ich sehe überhaupt keinen Anlass, hier erneut – das ist ja nicht das erste Mal – eine Debatte über Grundman- Wir haben jetzt, im Jahre 2005, erneut nachgezählt, und date zu führen. zwar in zwei Wahlbezirken in Berlin, 86: Berlin-Mar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zahn, 87: Berlin-Lichtenberg. Diese hoffentlich letzte sowie bei Abgeordneten der SPD) Nachzählung hat wohl auch für Sie ergeben, dass sich an der Mandatsverteilung nichts ändert. Rot-Grün ist der Es gibt eine vernünftige Regelung und wir sollten an die- Sieger der Bundestagswahl 2002. ser Regelung festhalten. Wir sollten die Größe haben, zu sagen: Minderheitenpositionen haben in der Demokratie Ich erwähne das hier deshalb noch einmal, weil ich und damit auch im Parlament ihren Platz. das gleiche merkwürdige Erlebnis bei dem letzten Wahl- abend in Schleswig-Holstein hatte. Ich bedauere, dass Danke schön. jetzt noch einmal so ein Ton hineingekommen ist, indem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es hieß: der SSW. Seit Tagen wird die Minderheiten- sowie bei Abgeordneten der SPD) gruppierung des SSWs, die gerade vom Bundesverfas- sungsgericht bestätigt worden ist, beschimpft und es werden Neuwahlen gefordert. Für wenige Minuten gab Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: es an dem Wahlabend einen Ministerpräsidenten Ich schließe damit die Aussprache. Carstensen, der ebenfalls nicht kapiert hat, dass das Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- Wahlergebnis erst mit der Auszählung der Stimmen fest- würfe auf den Drucksachen 15/4717 und 15/4718 an die steht. in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das Ich weise hier extra darauf hin, weil Ihre beiden Vor- ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- lagen etwas mit Machterhalt und der Akzeptanz von schlossen. Wahlergebnissen zu tun haben. (B) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: (D) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist ganz billig, Frau Stokar!) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Menschenrechte und Hier ist zur Genüge dargestellt worden, dass das Urteil Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) des Bundesverfassungsgerichts von 1988 nicht auf die von Ihnen problematisierte Zweitstimmenregelung an- – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer wendbar ist. Funke, Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler FDP [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung Hier wurde zu Recht gesagt: Eine Entscheidung des und Umsetzung des Zusatzprotokolls zur Bundesverfassungsgerichts steht aus. Wir werden diese UN-Antifolterkonvention Entscheidung in Ruhe abwarten und dann prüfen, ob es – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des überhaupt Handlungsbedarf gibt. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für eine Bekräftigung des absoluten Folter- verbots Ich möchte auch etwas zu der immer wiederkehren- den Diskussion über die Grundmandatsklausel sagen. – Drucksachen 15/3507, 15/4396, 15/4826 – Ich bitte wirklich darum, dass wir in diesem Hause etwas mehr Gelassenheit zeigen. Ich finde, es zeugt einfach Berichterstattung: von der Vielfalt der Demokratie in unserem Lande, dass Abgeordnete Christoph Strässer zwei Frauen von der PDS in diesem Hause sitzen. Ich Hermann Gröhe hätte noch nicht einmal etwas dagegen, wenn sie hier Thilo Hoppe vorne einen vernünftigen Tisch hätten. Rainer Funke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wir alle tun uns doch hier überhaupt keinen Gefallen, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre wenn wir erneut darüber diskutieren, ob es sinnvoll ist, keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. die Anzahl der Grundmandate auf fünf zu erhöhen. In der Realität wäre das eine Ausschlussklausel. Sie versu- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst chen, die Hürden für kleine Parteien zu erhöhen. der Abgeordnete Christoph Strässer. 15010 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Christoph Strässer (SPD): Diese unmissverständliche Wahrheit scheint nicht über- (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und all einzuleuchten. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns allen, die Dabei sind auch die kodifizierten straf-, verfassungs- wir hier noch sitzen, wäre, glaube ich, wohler, wenn wir und völkerrechtlichen Grundlagen des Folterverbots ein- diese Debatte nicht führen müssten. 60 Jahre nach Ver- deutig, und zwar ebenso buchstäblich wie der Wider- abschiedung der Charta der Vereinten Nationen, 57 Jahre spruch von absolut und relativ. Die verfahrensrechtliche nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Geltung des Folterverbots im Strafermittlungsverfahren Menschenrechte hier im Deutschen Bundestag über das ist durch § 136 a der Strafprozessordnung gesichert. Da- Verbot der Folter diskutieren zu müssen ist ein bedrü- rin heißt es unmissverständlich: ckender, aber, wie ich finde, notwendiger Umstand. Die Freiheit der Willensentschließung und der Uns liegen zwei Anträge zur Beratung vor, die beide Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht be- in die richtige Richtung gehen. Wir werden natürlich un- einträchtigt werden durch Mißhandlung, durch Er- seren eigenen Antrag verfolgen, weil er nach unserer müdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verab- Auffassung den politischen Rahmen für die Diskussion reichung von Mitteln … deutlicher bestimmt und hinsichtlich der Umsetzung des Zusatzprotokolls zur UN-Antifolterkonvention auch In der aktuellen Diskussion werden das Recht auf deutlich aktueller ist. Nothilfe nach § 32 StGB und der Notstand nach § 34 StGB herangezogen. Es wird behauptet, in solchen Seit einigen Tagen liegen die schriftlichen Urteils- Fällen müsse eine Güterabwägung zwischen dem Recht gründe des Landgerichts Frankfurt in einer Angele- des Verdächtigen, nicht gefoltert zu werden, und dem genheit vor, die die nationale Debatte über die Legitimi- Recht auf Leben des Bedrohten zulässig sein. Unter be- tät von Folter in Ausnahmesituationen über einen ganz stimmten Umständen soll das Foltern des Verdächtigen langen Zeitraum bestimmt hat. Das Urteil enthält auf der legitim sein, wobei sich die Protagonisten dieser Gedan- einen Seite in wünschenswerter Klarheit eine Absage an ken schwer tun, eine andere Umschreibung für das zu jegliche Form der Folter, gerade auch im strafrechtlichen finden, was real Folter ist. Einige gehen sogar so weit, Ermittlungsverfahren, und auf der anderen Seite bei der festzustellen, dass sich der Staat durch den Schutz der Strafzumessung Augenmaß wegen der furchtbaren Kon- Würde des Täters in diesem Fall zum Mittäter macht. Es fliktsituation der ermittelnden Beamten von Polizei und wird auch nicht besser dadurch, glaube ich, dass diese Staatsanwaltschaft. Es ist ein bemerkenswertes Urteil, Gedanken in einem renommierten Grundgesetzkommen- wie ich finde, das unser aller Respekt verdient. tar veröffentlicht sind, der bis zu diesem Zeitpunkt eine Das Verbot von Folter ist ein elementarer menschen- völlig andere Position hatte. (B) (D) rechtlicher Bestandteil eines jeden Rechtsstaats. Trotz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem wird die Zulässigkeit von Folter national und inter- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rainer Funke national immer wieder diskutiert. Auf nationaler Ebene [FDP]) wird an verschiedenen Stellen versucht, eine sehr emo- tionale Situation zu einer Relativierung des absolut gel- Wer das in dieser Form ernsthaft vertritt, der verab- tenden Folterverbots zu benutzen. Betrachtet man allein schiedet sich von der naturrechtlichen Begründung des den Sinngehalt der Worte „absolut“ und „relativ“, so Rechts durch Immanuel Kant als Freiheit des einen vor wird eines sofort deutlich: Etwas absolut zu setzen und der Willkür des anderen. es sofort wieder zu relativieren ist nach meiner Auffas- Das Verbot der Folter in der Bundesrepublik ist unter sung logisch nicht möglich. anderem durch Art. 104 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes Das Absolute an diesem Verbot begründet sich aus sichergestellt, der wie folgt lautet: der Würde des Menschen, seinem freien Willen und sei- Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch nem angeborenen Menschenrecht auf Freiheit vor der körperlich mißhandelt werden. Willkür anderer. Art. 1 unseres Grundgesetzes steht eben gerade nicht unter einem Gesetzesvorbehalt und ist inso- Wer das Folterverbot aufweichen will, widerspricht ge- weit einer Güterabwägung auch nicht zugänglich. Wer wollt oder ungewollt den Grundsätzen unserer Verfas- diese humanitären und rechtlichen Grundprinzipien in- sung. Die Mütter und Väter unserer Staatsordnung haben frage stellt, untergräbt das Wertesystem rechtsstaatlicher das absolute Verbot von Folter also an die Existenz des Gesellschaften. Grundgesetzes gekoppelt. Und sie taten gut daran. Ich gehe darüber hinaus. Eine Aufweichung des Folter- Zahlreiche internationale Verträge wie die Allge- verbots ignoriert die Lehren der europäischen Aufklärung, meine Erklärung der Menschenrechte, der Internationale die die Grundlagen für Freiheit und Demokratie, für Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die europäi- Rechtsstaat und Menschenwürde aller vorbereitet hat sche Menschenrechtskonvention und die Europäische und auf die wir Europäer zu Recht auch deshalb so stolz Grundrechte-Charta fordern ebenfalls das absolute Fol- sind, weil deren Umsetzung durch lange Auseinander- terverbot und diese Regeln gelten gemäß Art. 25 des setzungen erkämpft werden musste. Grundgesetzes als unmittelbares Bundesrecht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Besonders deutlich ist Art. 2 Abs. 2 der UN-Konven- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rainer Funke tion gegen Folter. Dieser bestimmt, dass auch außerge- [FDP]) wöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15011

Christoph Strässer (A) oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) sonstiger öffentlicher Notstand, nicht als Argument für DIE GRÜNEN – Rainer Funke [FDP]: Wir Folter geltend gemacht werden dürfen. Die nationale wie waren nur schneller! Deswegen ziehen wir die internationale Rechtslage ist somit eindeutig: Die nicht zurück!) Anwendung oder Androhung von Gewalt zur Abgabe ei- – Es ist aber kontraproduktiv, wenn sich das irgendwie ner Erklärung eines gefangenen Menschen unterliegt ei- rollierend überholt. nem absoluten Verbot ohne irgendeine Ausnahme. Immer wieder wird das Verbot von Folter im Kontext Wir, die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die der Bekämpfung des Terrorismus auf internationaler Grünen, wollen deshalb mit unserem Antrag „Für eine Ebene von Rechtsstaaten, auch von Rechtsstaaten west- Bekräftigung des absoluten Folterverbots“ die Absolut- licher Prägung, infrage gestellt. Vielfach geht es dabei heit dieses Folterverbots national sowie international um Maßnahmen zu präventiven Zwecken der Terroris- noch stärker einfordern. musbekämpfung, also zur Verhinderung bevorstehender Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist es für uns, terroristischer Anschläge. Alle internationalen Verträge sich für die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur UN- sprechen, wie bereits erwähnt, eine deutliche Sprache. Antifolterkonvention einzusetzen, international, aber Die Realität sieht indes anders aus. In Guantanamo wird selbstverständlich auch vor unserer eigenen Haustür. Da- seit 2002 nach Berichten nicht nur von Amnesty Interna- mit Deutschland das Zusatzprotokoll ratifizieren kann, tional die Menschenwürde durch grausame, entwürdi- bedarf es der Mitwirkung der Länder. Ich sage das Stich- gende Methoden außer Kraft gesetzt. Wir erleben dies in wort: Lindauer Abkommen. Leider fehlt immer noch Afghanistan und in vielen anderen Ländern; zum Teil die endgültige Zustimmung von vier Bundesländern, al- bedient man sich auch – ich nenne es einmal so – des Er- lesamt CDU-regiert. Ich weiß nicht, warum Hamburg, fahrungsschatzes von Staaten außerhalb der westlichen Thüringen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen der Rati- Demokratien, um auf bestimmte Ereignisse zu reagieren fizierung noch nicht endgültig zugestimmt haben. In un- und entsprechende Ergebnisse zu erzielen. serem Ausschuss im Deutschen Bundestag besteht je- Begründet wird diese Vorgehensweise mit der rechtli- denfalls Übereinstimmung, dass dieses Abkommen chen Einstufung der Gefangenen als ungesetzliche feind- nunmehr schnell umgesetzt werden muss. Wir begrüßen liche Kämpfer. Ich sage es an dieser Stelle ganz deutlich: es deshalb außerordentlich, dass seit dem 1. Juli 2004 Dieses Vorgehen ist nach allen internationalen Verträgen endlich Bewegung in die Diskussion gekommen ist und nicht nur rechtswidrig, sondern unmenschlich und für ei- nur noch die vier genannten Länder – ich nenne es ein- nen echten Demokraten unerträglich. mal so – Bedenkfrist beanspruchen. Die Kolleginnen (B) und Kollegen der CDU/CSU sollten einmal nachfragen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) was denn da eigentlich so lange dauert. Es gilt auf jeden DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Fall festzuhalten, dass eine schnelle Ratifizierung im CDU/CSU und der FDP und der Abg. Petra Moment in der Hand dieser Länder liegt. Pau [fraktionslos]) Ich füge hinzu: Die Bundesregierung ist diesen Län- Der Schutz und die Sicherheit des Einzelnen, meine Da- dern schon weit entgegengekommen, indem sie die Aus- men und Herren, ist die Existenzbegründung für jeden stattung des nationalen Präventionsmechanismus, der Rechtsstaat. Dieser Schutz des Menschen ist immer auch ja gefordert wird, so heruntergefahren hat, dass die ent- der Schutz vor der Willkür durch den Staat. sprechende Länderkommission nur noch aus vier ehren- Deshalb fordern wir – ich sage dies zum Schluss noch amtlichen Sachverständigen und einem kleinen Sekreta- einmal nachdrücklich –, das absolute Folterverbot im In- riat besteht. Mit dieser Ausstattung kann sie allerdings und Ausland, auch im Kampf gegen den internationalen wohl kaum den vielfältigen Aufgaben nachgehen, die ihr Terrorismus, zu verteidigen, und lehnen außerdem kon- zu übertragen sind. Wir kritisieren dies ausdrücklich und sequent jegliche Form des so genannten Feindstrafrechts sagen, an die Adresse des Bundesministeriums der Justiz ab. Ein Rechtsstaat darf keinen rechtsfreien Raum dul- gerichtet: Wir werden an dieser Stelle auf Nachbesserun- den, geschweige denn schaffen. Denn rechtsfrei bedeutet gen drängen, damit die Aufgaben vernünftig erfüllt wer- rechtlos. Und rechtlos bedeutet – es sei mir gestattet, den können. Es stößt aber gerade unter diesem Umstand Thomas Hobbes zu zitieren –: homo homini lupus. Für auf absolutes Unverständnis, wenn selbst angesichts des alle die, die des Lateinischen nicht mächtig sind, gibt es gewählten Modells eines schlanken Präventionsmecha- die schöne deutsche Übersetzung: Der Mensch ist dem nismus die genannten vier Bundesländer ihre Bedenken Menschen ein Wolf. Über diesen Zustand sollten wir in immer noch nicht zurückgestellt haben und eine schnelle unseren freiheitlichen Demokratien hinweg sein. Ich Zeichnung verhindern. bitte Sie deshalb um Zustimmung zu unserem Antrag. Sehr geehrter Herr Kollege Funke, angesichts dieses Herzlichen Dank. Standes der Debatte sollten Sie sich nach meiner Über- zeugung ernsthaft überlegen, den Antrag Ihrer Fraktion (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zurückzuziehen und Ihre Arbeitskraft zum Beispiel in DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Pau Niedersachsen, wo Ihre Partei an der Regierung beteiligt [fraktionslos]) ist, einzubringen und sich dort für eine schnellstmögli- che Zustimmung einzusetzen. Das würde uns, wie ich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: glaube, weiterbringen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe. 15012 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Hermann Gröhe (CDU/CSU): (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Kastner) Herren! Es ist jetzt genau eine Woche her, dass ich ein Mit dem Ziel, Präventionsmechanismen zur Verhin- sehr ausführliches Gespräch mit einem Arzt im Behand- derung von Folter und Misshandlung in Gewahrsamsein- lungszentrum für Folteropfer in Berlin führte. Ein- richtungen zu schaffen, wurde das Zusatzprotokoll zur drucksvoll schilderte er mir die verschiedenen Thera- UN-Antifolterkonvention im Dezember 2002 von der pieformen, deren Ziel es ist, gefolterten Menschen zu Generalversammlung der Vereinten Nationen verab- helfen. Doch er schilderte nicht nur die vielfältigen The- schiedet. Bereits am 14. März 2002 hatte sich der Bun- rapiebemühungen, die darauf gerichtet sind, das Leid der destag in einer einstimmigen Beschlussfassung für ein oft nach vielen Jahren noch traumatisierten Kinder, solches Fakultativprotokoll ausgesprochen. Nun zeich- Frauen und Männer zu lindern. Er schilderte mir auch net sich eine baldige Einigung des Bundes mit den Län- die Methoden der Folterknechte. Er sprach von den Be- dern über diese Zeichnung des Zusatzprotokolls ab. Als mühungen, einem Kurden zu helfen, den seine Peiniger Unionsfraktion begrüßen wir dies ausdrücklich. Im Hin- in einen Raum warfen, dessen Boden mit Glasscherben blick auf entsprechende Bemerkungen des Kollegen übersät war. Dann hetzten sie Hunde auf den nahezu un- Strässer füge ich hinzu, dass deutliche Appelle unserer bekleideten Mann, deren Pfoten mit einer Art Schuh vor Bundestagsfraktion, namentlich unseres stellvertreten- den Scherben geschützt waren. Diese schreckliche Quä- den Fraktionsvorsitzenden Bosbach, an die Landesregie- lerei fand ihre Fortsetzung in einem Raum, auf dessen rungen zu dieser sich abzeichnenden Einigung beigetra- Boden Salz angehäuft war, das beim Eindringen in die gen haben. Deswegen werden wir gern dem FDP-Antrag offenen Wunden zu unvorstellbaren Schmerzen führte. zustimmen, dessen Annahme geeignet ist, dabei zu hel- Entsetzt steht man vor der grausamen Fantasie derje- fen, dass dieser Prozess zügig zu einem guten Ergebnis nigen, die sich solche Quälereien von Menschen einfal- geführt wird. len lassen. Doch ich stelle in dieser Debatte auch dank- Was den Antrag der Regierungsfraktionen angeht, so bar fest, dass es Menschen gibt, die nicht beim Entsetzen gebe ich gern zu, dass das Bemühen verdienstvoll ist, stehen bleiben und sich beispielsweise in dem Behand- eine Bekräftigung des absoluten Folterverbots in den Zu- lungszentrum für Folteropfer engagieren, das von Kolle- sammenhang der verschiedenen Debatten zu diesem ginnen und Kollegen aus allen Bundestagsfraktionen un- Thema zu stellen. Leider führt diese Bemühung jedoch terstützt wird. zur fragwürdigen Vermischung höchst unterschiedlicher Sachverhalte. Ungenauigkeiten führen zudem zu unfai- Nach Angaben von Amnesty International wurden in ren Beurteilungen. So heißt es in dem rot-grünen Antrag den vergangenen Monaten in über 130 Ländern Men- (B) nach Ausführungen zum in Guantanamo Bay angewand- (D) schen gefoltert und misshandelt. Opfer werden zum Bei- ten Feindstrafrecht: spiel engagierte Personen ethnischer Minderheiten, op- positionelle Politiker, Studentenführer, kritische Die rechtswissenschaftlichen Überlegungen in Journalisten, Angehörige religiöser Minderheiten, Men- Deutschland sind ähnlich. schenrechtsverteidiger und Menschen, die gegen unge- rechte soziale Verhältnisse protestieren. Opfer von Folter Dies ist in dieser Allgemeinheit völlig falsch; denn die sind aber auch Menschen, die verdächtigt werden, Straf- ganz überwältigende Mehrheit der juristischen Äußerun- taten begangen zu haben und von denen Geständnisse er- gen in der Bundesrepublik Deutschland hat sich klar ge- presst werden sollen. Sogar Kinder werden gefoltert, gen derartige Vorstellungen von einem Feindstrafrecht etwa bei der Verhaftung ihrer Eltern oder wenn sie selbst gewandt und steht selbstverständlich zur Absolutheit des ins Gefängnis geworfen werden. Kinder werden zudem Folterverbots. Gewiss meinen Sie Ihre Formulierung gefoltert und misshandelt, um sie in Kriegen, vor allem nicht als Generalvorwurf. Aber die Ernsthaftigkeit des in Bürgerkriegen, als Kindersoldaten missbrauchen zu Themas erfordert eben präzisere Formulierungen. können. Erwähnt sei schließlich das zwischenzeitlich erfolgte Wir wissen um die politischen Rahmenbedingungen, Gerichtsurteil im Fall des ehemaligen Vizepräsidenten die die Gefahr der Folter verstärken: Haft ohne jeden der Frankfurter Polizei, dessen Klarheit in der Bekräf- Kontakt zur Außenwelt – so genannte Incommunicado- tigung der Absolutheit des Folterverbots Sie, Kollege Haft –, unfaire Prozesse, in denen unter Folter erpresste Strässer, selbst ansprachen. Dieses Urteil hat die entspre- Geständnisse als Beweismittel Anerkennung finden, chenden Passagen Ihres Antrags zu überholten Aussagen Straflosigkeit bis hin zum offiziellen Gewähren der Im- gemacht. munität für Folterer, mangelnde Ausbildung der Sicher- heitskräfte oder gar Ausbildung zur Folter, Erziehung Da auch ich zugleich nicht verhehlen will, dass Ihr Antrag eine Reihe von sehr wichtigen Feststellungen und Ausbildung zu absolutem Gehorsam sowie Presse- und begrüßenswerten Forderungen enthält, werden wir zensur, gerade wenn es um das Fehlverhalten von Si- uns bei diesem Antrag der Stimme enthalten. cherheitsorganen geht. Die Änderung dieser Rahmenbe- dingungen muss unser Ziel sein. 139 Staaten sind Ich danke Ihnen. inzwischen Vertragsstaaten der Antifolterkonvention. Zahlreiche Vertragsstaaten sehen sich jedoch selbst mas- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der siven Foltervorwürfen ausgesetzt. FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15013

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: cheren rechtsstaatlichen Verhältnissen leben. Auch vor (C) Das Wort hat die Kollegin Christa Nickels, Bünd- dem Hintergrund, dass wir im Rahmen der Reform der nis 90/Die Grünen. Vereinten Nationen vonseiten der Demokratien mehr Verantwortung anstreben, muss die innerstaatliche men- Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schenrechtliche Situation nicht nur gut sein, sondern bei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! spielhaft. Im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus müssen Ich bin der Justizministerin sehr dankbar, dass in ihrem wir als Menschenrechtler nach wie vor einige Ausprä- Haus ein Konzept für die praktische Umsetzung des Zu- gungen der Art, wie dieser Kampf geführt wird, massiv satzprotokolls erarbeitet worden ist, das auch endlich einen und deutlich kritisieren. Es ist traurig, dass etliche Jahre Durchbruch gebracht hat, weil es vielen Bundesländern er- nach dem 11. September 2001 das Thema Folter immer möglicht hat, die Bedenken gegen die Ratifizierung auf- noch auf der Agenda steht und dass wir diese Praktik zugeben. Herr Staatssekretär, Sie wissen ja, dass wir auch innerhalb der demokratischen Staaten nach wie vor vonseiten unseres Ausschusses diese Bemühungen sehr anklagen und bekämpfen müssen. Das ist einer der nachdrücklich und intensiv unterstützt haben. Die Koali- Gründe, warum wir gut daran tun, hier im Parlament re- tionsfraktionen haben ihrerseits Bemühungen unternom- gelmäßig und ohne nachzulassen die universelle Geltung men, auf der Länderschiene Rückenwind zu geben. Wir der unveräußerlichen Menschenrechte einzufordern, ge- haben gemeinsam mit der SPD unsere Fraktionen in den rade auch im Kampf gegen den Terrorismus. Landtagen angeschrieben mit der Bitte, der Ratifizierung Die Erosion des Folterverbots – man glaubt, Men- des Zusatzprotokolls nicht länger im Wege zu stehen. schenrechte suspendieren zu müssen, um Menschen- rechte zu verteidigen – bekommen wir leider auch im ei- Es gab ein Fachgespräch im Herbst, in dem wir inten- genen Land zu spüren. Hermann Gröhe, das ist siv darum geworben haben, dass das arbeitsfähige Kon- tatsächlich eine Tendenz, die es hierzulande so vor eini- zept, das aus dem Justizministerium vorgelegt worden gen Jahren noch nicht gab und die uns beunruhigen ist, auch bei den Menschen- und Bürgerrechtsorganisa- muss. Wir müssen auch seitens des Menschenrechtsaus- tionen Zustimmung finden konnte. Das Konzept sah eine schusses intensiv und kontinuierlich daran arbeiten, sie gemeinsame Länderkommission vor, in die jedes Bun- zu stoppen. desland einen ehrenamtlich tätigen Sachverständigen entsenden sollte. Die Reisekosten für die Sachverständi- Die Bilder aus Abu Ghureib haben zwar einhelliges gen und die Kosten für das Kommissionssekretariat mit Entsetzen hervorgerufen; trotzdem gerät die Gewissheit, damals vier Mitarbeitern sollten von den Ländern ge- dass Folter ein Anschlag auf die Menschenwürde ist, meinsam getragen werden. (B) auch in manchen Debatten in Deutschland ins Rutschen. (D) Das zeigt die öffentliche Debatte um den mittlerweile Ich habe allerdings volles Verständnis dafür, dass re- verurteilten Polizeipräsidenten Herrn Daschner ebenso nommierte Nichtregierungsorganisationen nicht bereit wie die Berichte aus einigen Kasernen, in denen im Rah- sind, dass Magersuchtmodell mitzutragen, zu dem das men militärischer Übungen unmenschliche, erniedri- bisher schon sehr schlanke Konzept inzwischen zusam- gende und grausame Methoden simuliert worden sind. mengestrichen worden ist. Es ist eine Illusion zu glauben, dass ein solches Magersuchtmodell mit gerade einmal vier Regierung und Parlament – und zwar im Parlament Experten und einem einzigen Sekretariatsmitarbeiter, über einmütig über alle Fraktionsgrenzen hinweg – haben das zurzeit verhandelt wird, all die Aufgaben erfüllen nach diesen Vorfällen eindeutig klargestellt, dass das kann, die eine solche Kommission laut Fakultativproto- Folterverbot keine Ausnahme duldet. Darüber bin ich koll zu leisten hat. wirklich außerordentlich froh. Die Kommission soll regelmäßig Kontrollbesuche in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strafvollzugseinrichtungen, psychiatrischen Anstalten, und bei der SPD) im Polizeigewahrsam sowie in den geschlossenen Abtei- Trotzdem bekommt vor diesem Hintergrund die anste- lungen von Alten- und Pflegeheimen sämtlicher Bundes- hende Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Antifolter- länder machen. Anschließend soll sie den zuständigen konvention der Vereinten Nationen eine zusätzliche, Behörden Empfehlungen geben, einen Jahresbericht er- ganz andere Gewichtung, als sie bisher schon hatte. stellen und schließlich mit dem VN-Unterausschuss für die Prävention gegen Folter zusammenarbeiten. Gerade rechtsstaatliche Demokratien sind gefordert, eine Erosion des Folterverbots zu verhindern, und zwar Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wo das Problem ist. vor allen Dingen dadurch, dass auch innerstaatlich alle An den Kosten kann es eigentlich nicht liegen. Denn bei menschenrechtlichen Konventionen und Instrumente dem ursprünglichen Modell wären nach Expertenschät- rechtlich und praktisch verankert werden. Dabei geht es zungen für kleine Bundesländer jährlich Kosten im vier-, nicht zuletzt – das ist sehr wichtig – um unsere eigene allerhöchstens im fünfstelligen Bereich zu veranschla- Glaubwürdigkeit. Wenn wir andere Menschen und Staa- gen gewesen. Das fällt in einem Landeshaushalt nun ten auffordern wollen, die Menschenrechte zu achten wirklich unter die Rubrik Kleinigkeiten. und zu stärken, dann müssen wir sie im eigenen Land in beispielhafter Weise umsetzen, wohl wissend – das sage Wir unterstützen die Bundesregierung, vor allem auch ich ganz ausdrücklich –, dass wir natürlich im Vergleich das Justizministerium, ausdrücklich darin, die ursprüng- zu vielen anderen Ländern dieser Erde in guten und si- liche Version zu realisieren. Ich appelliere an die 15014 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Christa Nickels (A) Bundesländer, den guten Reden jetzt gute Taten folgen zess mit den Ländern zu befinden. Die Innenminister- (C) zu lassen. konferenz der Länder hat bereits im letzten Sommer Prüfung zugesagt. Passiert ist aber bislang nichts, außer Danke schön. dass weiter gestritten wird und angeblich erste mündli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN che Einigungen vorliegen. Dieses Zögern tut der und bei der SPD – Rainer Funke [FDP]: Die Vorbildfunktion Deutschlands nicht gut; es schwächt sind heute doch gar nicht da! Kein Interesse!) unsere Glaubwürdigkeit beim weltweiten Kampf gegen Folter. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Frak- SPD) tion. Ich sage Ihnen zu, Herr Kollege Strässer, dass ich mich bei den Ländern, in denen wir an der Regierung be- Rainer Funke (FDP): teiligt sind, dafür einsetzen werde, dass diese Länder als- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In ei- bald ebenfalls zeichnen werden. nem stimmen wir alle überein: Es darf in Deutschland für Folter keinen Raum geben – unter keinen Bedingun- (Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU gen, auch nicht in absoluten Ausnahmefällen und auch und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht in Ansätzen oder nur als Androhung. Wir haben im Sommer die Initiative ergriffen. Rot- (Beifall im ganzen Hause) Grün hat daraufhin im Dezember mit einem eigenen An- trag nachgezogen. Im Antrag von Rot-Grün ist verklau- Das ist eine der Lehren unserer Geschichte, eine der suliert und in einer Fülle von allgemeinen Beobachtun- Grundlagen unserer freiheitlichen Rechtsordnung, eines gen und Forderungen – der Grundprinzipien, auf denen unser Gemeinwesen auf- gebaut ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Diskussion um den erschütternden Mordfall von Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Metzler im vergangenen Jahr hat gezeigt, wie schnell der gesellschaftspolitische Konsens aufgrund von tagespoli- tischen Stimmungen in dieser wichtigen Frage brüchig Rainer Funke (FDP): geworden ist. Umso wichtiger ist es, dass die Verant- – ich weiß – der Appell an die Bundesregierung ver- wortlichen in der Politik, also wir, hier an einem Strang steckt, das Zusatzprotokoll zu unterzeichnen. Dazu sage (B) ziehen. ich: Vielen Dank, dass Sie das so nett verpackt haben. (D) Deutschland hat aufgrund seiner historischen Verant- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der wortung, seiner Verfassung und seiner menschenrechts- CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE politischen Ansprüche darüber hinaus aber auch die Ver- GRÜNEN) pflichtung, Vorreiter im Kampf gegen die Folter auf der Sie sind Verpackungskünstler. ganzen Welt zu sein. Wie notwendig das ist, zeigen die erschütternden Berichte von Amnesty International und Ich möchte es klar und deutlich sagen: Ratifikation von anderen Nichtregierungsorganisationen fast täglich jetzt, und zwar so schnell wie möglich! aufs Neue. Vielen Dank. Wir können uns als Politiker, sei es als Regierungs- vertreter oder als Abgeordnete, in Gesprächen vor Ort (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gegen Folter stark machen. Wir können mit NGOs zu- der SPD) sammenarbeiten und wir können den Weg über die Me- dien gehen. Aber uns steht ein weiterer Weg zur Verfü- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gung, nämlich das internationale Recht, das die Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. Grundlage für ein weltweites Folterverbot schaffen muss. Petra Pau (fraktionslos): Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb bereits Ende Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Juni letzten Jahres einen Antrag im Deutschen Bundes- Wir diskutieren heute über zwei Anträge. Der eine tag eingebracht, in dem wir uns für eine zügige Zeich- kommt von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen. nung, Ratifizierung und Umsetzung des Zusatzproto- In ihm wird bekräftigt, dass das Folterverbot absolut und kolls zur UN-Antifolterkonvention aussprechen. Es geht ausnahmslos gilt. Die PDS im Bundestag teilt diese Auf- uns dabei um den Inhalt dieses Zusatzprotokolls, den wir fassung. Das Folterverbot leitet sich direkt aus Art. 1 des für umsetzbar und für umsetzenswert erachten. Grundgesetzes ab: „Die Würde des Menschen ist unan- tastbar.“ Das heißt die Würde jedes Menschen, auch sol- Es geht uns aber durchaus auch darum, dass Deutsch- cher Menschen, die scheinbar oder tatsächlich unter Ver- land eine Vorreiterrolle bei der Ratifikation internationa- dacht stehen. ler Abkommen in diesem wichtigen und hochsensiblen Bereich einnimmt. Ich weiß, die Bundesregierung kün- Wer indes Folter rechtfertigt, wer die Würde eines digt seit längerem an, sich in einem Abstimmungspro- Menschen gegen die Würde eines anderen abwägt, der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15015

Petra Pau (A) gibt einen fundamentalen und historischen Anspruch Daniela Raab (CDU/CSU): (C) dem Ermessen preis. Die PDS will das nicht. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Folter ist menschenverachtend, abscheu- Allerdings diskutieren wir heute nicht nur abstrakt. lich und in keiner Weise hinnehmbar. Eigentlich braucht Wir hatten eine sehr konkrete Debatte rund um die Fol- man es gar nicht eigens zu betonen, dass wir alle hier im terdrohungen des Vizepräsidenten der Frankfurter Poli- Saal – die Debatte hat dies wenig überraschend gezeigt – zei. Wir kennen die Äußerungen von Professor Folter in jeglicher Form und zu welchem Zweck auch Wolffsohn, der Folter unter bestimmten Bedingungen für immer aufs Schärfste verurteilen und ablehnen. legitim hält. Ähnlich äußerten sich übrigens – damals in einer ganz eigenartigen Koalition – Wolfgang Bosbach, Uns liegen nun zwei Anträge zur Folterthematik vor: CDU, und , SPD. Umso erfreuter war einer von der FDP und einer von der Regierungskoali- ich heute, zu hören, dass Wolfgang Bosbach gegenüber tion. Wir werden uns dem Antrag der FDP anschließen. Landesregierungen aktiv geworden ist. Bei der Abstimmung über den Antrag der Regierungsko- alition werden wir uns enthalten. Wir erleben außerdem, wie in Kriegs- und Krisenge- bieten gefoltert und Folter trainiert wird. Wir wissen, Der Forderung eines generellen Folterverbotes, wie in dass der Präsident der USA Folter zulässt – und das beiden Anträgen enthalten, schließen wir uns selbstver- nicht nur in Guantanamo. Auch deshalb sollte der Bun- ständlich voll und ganz an; darüber besteht Einigkeit. destag ein ganz klares Zeichen gegen jedwede Folterpra- Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha- xis und gegen jeden Legitimationsversuch setzen. ben in Ihrem Antrag einiges miteinander verbunden, was nicht miteinander verbunden werden darf. Deswegen Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und können wir Ihren Antrag leider – wirklich leider – nicht den Grünen, daher finde ich es unverständlich, dass Sie bedingungslos mittragen. heute den Antrag der FDP, über den wir auch beraten, ablehnen. Die FDP will, dass die Bundesrepublik Zum Hintergrund unserer heutigen Debatte ist zu sa- Deutschland die Antifolterkonvention der UNO zeichnet gen, dass 1984 die UN-Antifolterkonvention verabschie- und ratifiziert. Ich finde das richtig, zumal die Konven- det wurde und dass sie danach durch die UN-Mitglied- tion eine Folterdefinition enthält, die keine der bemühten staaten bedauerlicherweise zögerlich umgesetzt wurde. Ausnahmen vom Folterverbot zulässt. Mittlerweile haben allerdings mehr als 145 Staaten der 191 Mitgliedstaaten die Antifolterkonvention angenom- Rot-Grün hat auch heute wieder auf Abstimmungs- men. Das Protokoll trat nach der Ratifizierung durch die probleme mit den Bundesländern verwiesen, die sich ersten 20 Vertragsstaaten am 26. Juni 1987 in Kraft und aus den unterschiedlichen Kompetenzen von Bund und gilt in der Bundesrepublik seit dem 31. Oktober 1990. (B) Ländern ergeben. Außerdem sei man in der Praxis schon (D) weiter als im Antrag der FDP unterstellt. Das ist völlig Nach jüngsten Angaben von Amnesty International klar; Kollege Funke hat auf den zeitlichen Ablauf ver- – das ist bereits mehrfach angesprochen worden – wird wiesen. jedoch immer noch in 132 Staaten von Polizei und staat- lichen Stellen gefoltert, sodass es die Vereinten Nationen Mich überzeugen beide Bedenken überhaupt nicht, für nötig befanden, ein Zusatzprotokoll zu erstellen. Die- zumal die UNO-Konvention erst dann an Kraft gewinnt, sem „Zusatzprotokoll zum Übereinkommen gegen Fol- wenn sie von genügend Staaten ratifiziert wird. ter und andere grausame, unmenschliche oder erniedri- gende Behandlung und Strafe“ stimmte dann die UN- ( [SPD]: Der Bund kann es nicht Generalversammlung im Dezember 2002 zu. Darin wer- ohne die Länder! Die Länder müssen ran! Das den neben der Folter auch andere grausame, unmenschli- ist das Problem!) che und entwürdigende Behandlungen oder Bestrafun- – Ja, aber Sie könnten ein wenig aktiver werden, indem gen verboten. Sie mit der Annahme des Antrages der FDP Ihren Willen Das Zusatzprotokoll sieht zum einen – das unterstüt- unterstreichen und bekunden. zen wir sehr – die Einrichtung eines internationalen Gre- (Rudolf Bindig [SPD]: Seit einem Jahr schrei- miums, eines Unterausschusses, vor, das dem Komitee ben wir Briefe an die Länder!) zur Bekämpfung der Folter untersteht und Untersuchun- gen in Gefängnissen oder an anderen Orten, an denen Insofern bleibt der schlechte Geschmack, dass der sich Gefangene befinden, durchführen kann. Außerdem Antrag einfach nur von der falschen Seite kommt. Ich sollen die Mitgliedstaaten – auch das unterstützen wir finde, wenn es um den Schutz der Grund- und Men- natürlich – zum selben Zweck innerstaatliche unabhän- schenrechte geht, dann sollte es keine richtige und keine gige Gremien einrichten. Vorbeugung steht also im Vor- falsche Seite geben, wenn beide dasselbe wollen. dergrund. Folter muss von vornherein verhindert werden und darf nicht erst dann beklagt werden, wenn sie schon Deshalb wird die PDS im Bundestag heute schlicht vollzogen worden ist. beiden Anträgen zustimmen. Bisher wurde das Zusatzprotokoll von 27 Staaten ge- zeichnet, aber nur von drei Staaten ratifiziert. Es ist of- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fensichtlich, dass die Ratifizierung des Zusatzprotokolls Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin durch Deutschland auf bestem Wege ist. Sie ist aber lei- Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion. der immer noch nicht vollzogen worden. Es hapert – wir 15016 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Daniela Raab (A) alle haben das schon beklagt; ich denke, darüber sind wir aber, wir müssen ganz deutlich herausstellen, dass diese (C) uns wirklich einig – an der Umsetzung durch die Län- Meinungen Minderheitenmeinungen sind. Es ist auch der. Deshalb ist die Forderung der FDP, dass möglichst klar, dass wir alle nicht dieser Meinung sind. Wir können zügig vonseiten der Bundesregierung die notwendigen es definitiv nicht unterstützen, dass Sie einen solch pau- Voraussetzungen für eine Lösung mit den Ländern ge- schalen Zusammenhang herstellen. schaffen werden, mehr als berechtigt. Ich glaube, es ist auch klar, dass wir die Bundesregierung dabei unterstüt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zen. Der Antrag der FDP enthält die notwendigen Fakten. (Rudolf Bindig [SPD]: Die Länder müssen Ich habe bereits gesagt, dass wir Sie bei der Umset- jetzt mal zustimmen!) zung in den Ländern unterstützen werden, wo wir kön- – Ich habe Ihnen gerade gesagt, dass wir die Bundesre- nen. Beide Seiten, der Bund und die Länder, sind nun in gierung dabei unterstützen werden. Wir wollen uns doch der Pflicht. Das ist so; da haben Sie völlig Recht. Wo wir nicht bei diesem Thema streiten. mit Ihnen zusammenarbeiten können, möchten wir das gern tun. Erst dann können wir zufrieden sein und erst Wir werden – da bin ich zuversichtlich – die entspre- dann haben wir ein ausreichendes Zeichen gegen Folter chenden Hürden nehmen; schließlich haben wir ein ge- gesetzt. Aus diesem Grunde schließen wir uns, weil uns meinsames, parteiübergreifendes Ziel. Es wäre daher ein dieser Antrag näher ist, dem Antrag der FDP an. gutes Zeichen, wenn wir im Bundestag – durch unsere Beschlussfassung – und auch die Akteure in den Län- Ich danke Ihnen. dern diese Bemühungen unterstützten und damit ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Signal setzten. So weit, so gut. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache. Ich möchte aber, wenn Sie erlauben, noch begründen, warum wir uns bei Ihrem Antrag enthalten und dem An- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- trag der FDP voll und ganz zustimmen werden. Sie ge- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf hen in Ihrem Antrag auf den Fall Daschner ein. Dabei Drucksache 15/4826 und beginnen mit der Abstimmung geht leider eines unter: Es ging bei diesem Fall nicht um zu Buchstabe b der Beschlussempfehlung. Unter vollzogene Folter – das wäre katastrophal –, sondern um Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des den brutalen Notstand einer Kindesentführung, bei dem Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3507 wahrscheinlich von polizeilicher Seite schlicht und er- mit dem Titel „Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung (B) greifend nicht überblickt werden konnte, was man ei- und Umsetzung des Zusatzprotokolls zur UN-Anti-Fol- (D) gentlich tat, als man anordnete, man möge den Entführer ter-Konvention“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- mit Folter bedrohen. Das zuständige Gericht hat das ent- fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- sprechend erkannt – Herr Strässer hat es vollkommen empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die richtig gesagt – und hat es auch in seiner Urteilsfindung Stimmen der CDU/CSU und der FDP sowie der Kolle- berücksichtigt. In Ihrem Antrag – das kann man leider gin Petra Pau angenommen. herauslesen – unterstellen Sie, in der öffentlichen Mei- nung gebe es die Tendenz, das absolute Folterverbot aus- Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp- zuhebeln. Diese Tendenz – das muss ich ganz klar fiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Frak- sagen – kann ich in der öffentlichen Debatte nicht mehr tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf erkennen. Deswegen gefällt uns Ihr Antrag vom Wort- Drucksache 15/4396 mit dem Titel „Für eine Bekräfti- laut her nicht so gut. Wir halten die Formulierung für et- gung des absoluten Folterverbots“. Wer stimmt für diese was unglücklich. Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Seien Sie heute der Koalition und der Kollegin Petra Pau bei Enthaltung Abend nicht so streitsüchtig!) der CDU/CSU und der FDP angenommen. Im gleichen Atemzug nennen Sie Guantanamo Bay, Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: wo es anerkanntermaßen zu einer Aushebelung der ame- rikanischen Bürgerrechte und – das ist noch viel schlim- Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer mer – der Rechte aus der III. Genfer Konvention zum Brüderle, Gudrun Kopp, Dirk Niebel, weiterer Schutz von Kriegsgefangenen gekommen ist. Der Zu- Abgeordneter und der Fraktion der FDP stand dort ist unbestritten unhaltbar, grausam und men- Anti-Benachteiligungsgesetz für den deut- schenunwürdig; wir alle können dafür nur tiefste Ab- schen Mittelstand auf den Weg bringen scheu empfinden. Das Problem ist nur, dass Sie in Ihrem Antrag die Behauptung aufstellen, die rechtswissen- – Drucksache 15/4734 – schaftlichen Überlegungen in Deutschland gingen zu- Überweisungsvorschlag: mindest zum Teil in eine ähnliche Richtung. Allein, hier Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) einen Zusammenhang herstellen zu wollen, halte ich für Rechtsausschuss unglücklich. Es bleibt natürlich nicht aus, dass es in der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Rechtswissenschaft einige verquere Meinungen, ganz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die bewusst vorgetragen, zu diesem Thema gibt. Ich denke Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15017

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- schaffen! Wir müssen die Situation jetzt müh- (C) derspruch. Dann ist das so beschlossen. selig verbessern!) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- – Es ist doch schon spät. Regen Sie sich doch nicht über gin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion. etwas auf, was Sie selbst verursacht haben und nun an- deren in die Schuhe schieben wollen! Gudrun Kopp (FDP): (Dr. Uwe Küster [SPD]: Seien Sie doch nicht Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! so zänkisch!) Wir legen Ihnen heute Abend ein Anti-Benachteili- gungsgesetz für den Mittelstand vor. Dies tun wir aus Wir wollen eine Steuerreform für alle. 80 Prozent dem einfachen Grund, weil wir unbedingt möchten, dass der Unternehmen in Deutschland sind personengeführte in Anbetracht der schwierigen Wirtschaftslage, in der Gesellschaften wir uns gegenwärtig befinden – die Wachstumsraten (Zuruf von der SPD: Das wissen wir!) sind gering, die Arbeitslosenzahlen exorbitant hoch –, der Fokus auf den deutschen Mittelstand gerichtet wird. und zahlen Einkommensteuer. Wir möchten, dass diese Daher bitten wir Sie um besonders große Aufmerksam- Unternehmen von einer echten Steuerreform profitieren keit. können. Im Jahr 2004 hat es 110 000 Insolvenzen gegeben. (Zuruf von der SPD: Machen wir doch!) 40 000 davon waren Firmeninsolvenzen. Das ist notwendig, um vielen das Überleben und die (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist Wahnsinn!) weitere Beschäftigung von Menschen überhaupt mög- lich zu machen. Da Sie sich immer wieder weigern, weitere Reformen durchzuführen, nenne ich Ihnen ein Beispiel: Wir halten Wir fordern eine Änderung des Betriebsverfas- es für unabdingbar, dass der Kündigungsschutz gelo- sungsgesetzes. ckert wird. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Natürlich!) (Zuruf von der SPD: Nicht schon wieder!) Wir möchten, dass die Schwelle, ab der ein Betriebsrat Wir möchten den Kündigungsschutz lockern, um mehr freigestellt wird, 500 Beschäftigte beträgt und nicht, wie Beschäftigung zu ermöglichen. Sie immer propagieren, 200. (Rudolf Bindig [SPD]: Es wird doch keine Be- (Beifall bei der FDP – Dr. Werner Hoyer (B) schäftigung geben! Das ist eine ausgelutschte [FDP]: Man muss hier einmal die Wahrheit sa- (D) Platte!) gen dürfen!) Große Unternehmen, die Gewinne erwirtschaften, Wir möchten die künstliche Konkurrenz ansprechen, Maßnahmen zur Effizienzsteigerung durchführen und in die Sie von Rot-Grün gerade den mittelständischen Un- deren Folge Personal abbauen müssen, können sich das ternehmen bringen. Ich nenne als Beispiel die Ich-AGs. leisten. Kleine oder mittelständische Unternehmen hin- 360 000 Existenzgründungen hat es im vergangenen gegen, die ihre Beschäftigten aufgrund ihrer schlechten Jahr gegeben. Davon hatten 330 000 staatliche Unter- Auftragslage nicht mehr behalten und zum Beispiel stützung, keine Abfindungen mehr zahlen können, müssen allein aus Kostengründen in die Insolvenz gehen. Dann gehen (Zuruf von der SPD: Na und?) Arbeitsplätze unwiederbringlich verloren. das heißt, wir wissen gar nicht, wie lange diese Existenz- (Rudolf Bindig [SPD]: So ein Blödsinn! Für gründungen am Markt bestehen werden, ob sie sich über 52-Jährige gibt es doch gar keinen Kündi- überhaupt halten können. Langzeitarbeitslose Personen gungsschutz mehr! Stellen Sie die doch alle stehen häufig günstiger da, wenn sie eine Ich-AG grün- ein!) den, weil sie dann im ersten Jahr zumindest 600 Euro netto an staatlicher Unterstützung einnehmen. – Ich kann verstehen, dass Sie das nicht nachvollziehen können. Aber es ist absolut notwendig, diesen Unterneh- (Rudolf Bindig [SPD]: Das sollen sie auch! – men die nötige Luft zum Atmen zu geben, um so Be- Weiterer Zuruf von der SPD: Sollen sie ar- schäftigung zu ermöglichen. beitslos bleiben?) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Außer heißer Luft – Es ist ja okay, man gönnt es ihnen ja, nur löst es das kommt da nichts! – Rudolf Bindig [SPD]: Mir Problem nicht. Wir unterstützen staatlicherseits eine bleibt die Luft weg vor solcher Einfalt! – Ge- künstliche Konkurrenz und machen den mittelständi- genruf des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das schen Unternehmen das Leben zusätzlich schwer. kapiert der Küster nie!) (Beifall bei der FDP) – Die Arbeitslosenquote ist so hoch, weil Sie nicht ver- stehen, um was es geht. Das gleiche Desaster bei den 1-Euro-Jobs. Sie wer- den sehen, diese 1-Euro-Jobs werden gerade in den (Widerspruch bei der SPD – Rudolf Bindig Kommunen dazu führen, dass reguläre Arbeit in großem [SPD]: Die Arbeitslosigkeit haben Sie ge- Umfang wegfallen wird. 15018 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Gudrun Kopp (A) (Zuruf von der SPD: Das müssen Sie erst ein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Otto (C) mal nachweisen!) Fricke [FDP]: Machen Sie es doch!) Das ist ein Riesenproblem. Denn mittlerweile haben wir eine Spirale, ausgelöst durch Ihre Unwahrheiten und Halbwahrheiten, die sich (Rudolf Bindig [SPD]: Es geht um zusätzliche in der Tat negativ auf die Entwicklung der deutschen gemeinnützige Tätigkeiten! So einen Wirr- Konjunktur auswirkt. warr, den man hier hört! Dabei kann man doch nicht ruhig sitzen bleiben! – Dr. Uwe Küster Sie hätten zum Beispiel sagen können, dass wir im [SPD]: An dieser Stelle darf jeder so viel Un- Jahr 2004 rund 137 000 neue Unternehmen in Deutsch- fug reden, wie er möchte! Das ist auch gut! land hatten. Das ist Meinungsfreiheit!) (Zuruf von der SPD: Hört! Hört! – Joachim – Schreien Sie doch nicht so laut! Es wird dadurch nicht Günther [Plauen] [FDP]: Wie viele?) besser. Das ist der größte Gründungssaldo seit 1993. Ich nenne als Weiteres das ERP-Sondervermögen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie lassen es zu, dass 2 Milliarden Euro aus dem ERP- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sondervermögen abgezogen werden und nicht mehr zur Verfügung stehen, Das kann man doch auch einmal erwähnen, wenn man über den Mittelstand in Deutschland spricht; das gehört (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist doch sich doch. unglaublich!) Das Statistische Bundesamt bezifferte die Zahl der um mittelständischen Unternehmen nachgefragte Exis- Selbstständigen im Jahr 2002 mit 3,64 Millionen Men- tenzgründungskredite zu geben. Dafür haben Sie die schen. Heute dagegen sind es 4,31 Millionen Menschen. Hand gehoben. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das muss Sie verantworten auch, dass die Energiepreise für Un- man doch loben!) ternehmen und für Privatverbraucher durch eine unver- antwortliche Energiepolitik in enorme Höhen gestiegen Auch das kann man an dieser Stelle einmal sagen. sind. Stattdessen stellen Sie unter anderem wider besseres (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wollen Sie nicht noch Wissen auf die 1-Euro-Jobs ab. etwas hineinmixen?) (B) (Zuruf von der SPD: Genau!) (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Denn Sie wissen genau – das ist der erste Punkt –, dass Frau Kollegin, Sie hatten schon fünf Minuten. Sie wir im SGB II zu den Arbeitsgelegenheiten festgelegt müssen zum Schluss kommen. haben, dass öffentlich geförderte Beschäftigung gegen- über anderen Eingliederungsleistungen immer nachran- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Kollegin ist am gig anzustreben ist. Ende!) Zweiter Punkt. Sie wissen genau, dass sie zusätzlich und gemeinnützig zu sein haben. Gudrun Kopp (FDP): Letzter Satz: Schreien Sie weniger, werden Sie tätig Dritter Punkt. Sie wissen genau, dass im Gesetz eine und machen Sie eine Politik, die dem Mittelstand nützt regional ausgerichtete so genannte Monitoringstelle und ihm nicht die Beine wegschlägt! empfohlen ist, die genau das verhindern soll, was Sie be- haupten, dass nämlich Arbeitsplätze verdrängt werden. Vielen Dank. (Barbara Wittig [SPD]: Jetzt wissen sie es end- (Beifall bei der FDP – Rudolf Bindig [SPD]: lich!) Wirrkopf!) Wir haben dafür Sorge getragen, dass der Mittelstand trotz der 1-Euro-Jobs leben kann. Ich bitte Sie, dafür zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werben und sich dafür einzusetzen, dass diese Monito- Nächster Redner ist der Kollege Christian Lange, ringgruppen zum Beispiel auch in Ihrem Wahlkreis tat- SPD-Fraktion. sächlich arbeiten. Das wäre ein Beitrag für den Mittel- stand und das Handwerk in Deutschland und ganz Christian Lange (Backnang) (SPD): nebenbei auch in Ihrem Wahlkreis. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herren! Liebe Frau Kopp, verehrte Kollegen der FDP, DIE GRÜNEN) ich glaube, der beste Beitrag zur Antibenachteiligung des deutschen Mittelstandes wäre es gewesen, wenn Sie Schließlich haben Sie wieder einmal auf die Ich-AGs einmal positiv über Handwerk und Mittelstand in abgestellt. Das ist eine Ihrer berühmten Leiern. Die FDP Deutschland gesprochen hätten – heute Abend hier, vor ist – zumindest lese ich das immer wieder einmal – die allen Dingen aber draußen bei den Leuten. Partei des Mittelstandes. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15019

Christian Lange (Backnang) (A) (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das stimmt! Wo er Lage benötigt der Handwerker bzw. das kleine Unter- (C) Recht hat, hat er Recht!) nehmen diese Mitarbeiter nämlich. Wir haben dafür ge- sorgt, dass diese trotz der Sozialauswahl weiterhin im Ich frage mich wirklich, warum Sie eigentlich die Men- Betrieb bleiben können. Das ist eine Flexibilisierung des schen diskreditieren, die während ihrer Langzeitarbeits- Kündigungsschutzes im Sinne von Existenzgründern losigkeit ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und und im Sinne von Handwerk und Mittelstand. es wagen wollen. Statt auf Dauer Transferleistungen zu erhalten, wollen sie die Ich-AG nutzen, um eine eigene Das Ziel, das Sie mit Ihrem Antrag verfolgen, ist Selbstständigkeit auszuprobieren. Wir helfen ihnen da- nicht eine Flexibilisierung, sondern eine Abschaffung bei. Sie müssten eigentlich jubeln und sagen, dass Sie des Kündigungsschutzes. Wer Ihren Antrag genau genau das wollen. Wir wollen mehr Selbstständige in durchliest, kann das erkennen. Sie fordern zum Beispiel Deutschland. Das kann ein Weg dahin sein. eine vierjährige Wartezeit bis zum Einsetzen des Kündi- gungsschutzes und den Ausschluss der Betriebe mit bis (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zu 50 Arbeitnehmern vom gesamten Kündigungsschutz. Aber nein, Sie sagen, das könne keiner sein. (Gudrun Kopp [FDP]: Genau!) (Gudrun Kopp [FDP]: Das trägt nicht Das bedeutet, dass 96 Prozent der Betriebe in Deutsch- wirklich!) land in Zukunft nicht mehr unter den Kündigungsschutz Ob es einer sein wird, wird sich in der Tat erst in den fallen würden. nächsten ungefähr zwölf Monaten herausstellen. Wir ha- (Zuruf von der SPD: Unglaublich!) ben Sorge dafür getragen, dass die entsprechenden Über- prüfungen stattfinden können. Das wäre keine Flexibilisierung, sondern eine faktische Abschaffung. Das ist etwas anderes. Sagen Sie das bitte Bis jetzt ist unklar, ob die Abbruchquote von 16 bis auch so, damit die Menschen das verstehen können. 20 Prozent, auf die Sie in Ihrem Antrag abstellen, darauf zurückzuführen ist, dass diese Menschen als Selbststän- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dige gescheitert sind oder dass sie ihre Förderanträge DIE GRÜNEN) nicht gestellt haben. Die Regionaldirektion Nordrhein- Bei Ihren üblichen Auseinandersetzungen um den Westfalen etwa hat der Bundesagentur für Arbeit mitge- Rechtsanspruch auf Teilzeit ist es genau so. Sie hatten teilt, dass sie beispielsweise im April 2004 rund ein vergessen, dieses Thema, das auch in Ihrem Antrag Fünftel der Abgänge darauf zurückführt, dass die Betrei- steht, zu erwähnen. ber der Ich-AGs im zweiten Geschäftsjahr schlicht und einfach vergessen haben, einen neuen Antrag zu stellen. (B) (Gudrun Kopp [FDP]: Da steht noch viel mehr (D) drin!) Ich bitte Sie, das zumindest einmal zur Kenntnis zu nehmen und vor allen Dingen zu sehen: Selbst wenn die Dieser Rechtsanspruch ist gerade für die Arbeitnehmer Abbruchquote bei den neu gegründeten Ich-AGs in kleinen und mittleren Unternehmen eine ausgespro- 20 Prozent betragen würde, wäre das nicht außerge- chene Erfolgsgeschichte. Seit In-Kraft-Treten dieses Ge- wöhnlich hoch, sondern läge im ganz normalen Bereich. setzes ist die Zahl der Teilzeitbeschäftigten um Bei Selbstständigen, die neu auf den Markt kommen, be- 700 000 auf circa 7,2 Millionen Menschen gestiegen. trägt die Abbruchquote im Schnitt nämlich 20 Prozent. Die Teilzeitquote ist damit trotz der rückläufigen Ent- Wenn eine falsche Geschäftsidee gewählt wird, kommt wicklung der Zahl der Erwerbstätigen um 2,6 Prozent es zum Abbruch. Die Quote wäre also noch nicht einmal auf 22,4 Prozent im Jahre 2003 gestiegen. Das bedeutet, überdurchschnittlich hoch. Sie nehmen die durchschnitt- das ist kein Einstellungshindernis. Im Gegenteil: Teil- liche Abbruchquote bei den nicht geförderten Selbststän- zeitarbeit wird vereinbart, wenn der Arbeitnehmer eine digen nicht zur Kenntnis und behaupten schlicht, dass Reduzierung der Arbeitszeit wünscht und der Wunsch das alles Subventionitis sei und in den Ofen ginge. So im Unternehmen realisierbar ist. Das heißt, der Arbeitge- unterstützen Sie die Kultur der Selbstständigkeit in ber kann den Teilzeitantrag aus betrieblichen Gründen Deutschland sicher nicht. ablehnen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist mittelstandsfreundlich. Deshalb ist es eine Er- DIE GRÜNEN) folgsgeschichte. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie gesagt hätten: Sie sind auf dem richtigen Wege; denn das ist Ich komme nun zu Ihrer immer wieder vorgetragenen Mittelstandspolitik, wie wir sie uns vorstellen. – Diese Polemik in Sachen Kündigungsschutz. Ich will Ihnen Mittelstandspolitik würde tatsächlich auch einer FDP gut sagen: Diese Bundesregierung und diese Koalitionsfrak- anstehen. tionen haben dazu beigetragen, dass der Kündigungs- schutz angemessen gelockert wurde, indem wir den Ganz zum Schluss komme ich zum Thema Mitbe- Kündigungsschutz für Betriebe mit zehn oder weniger stimmung. Da ich aus Baden-Württemberg stamme, Beschäftigten – das sind kleine und mittlere Unterneh- will ich Ihnen die Geschichte von Daimler-Chrysler er- men – ab dem 1. Januar 2004 aufgehoben haben. Wir ha- zählen. Wenn wir von Mitbestimmung sprechen, spre- ben die Kriterien der Sozialauswahl gelockert, sodass chen wir nicht vom Handwerk oder von kleinen und zum Beispiel Menschen mit besonderen Kenntnissen mittleren Unternehmen. Bei mir im Schwäbischen wird und Fähigkeiten bei der Sozialauswahl nicht als Erste zwar manchmal der Daimler auch als Mittelständler be- herausfallen. Gerade in einer kritischen wirtschaftlichen zeichnet, aber das ist mehr humoristisch gemeint. 15020 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Christian Lange (Backnang) (A) Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, was bei Daimler- reicht haben, ausreichend? Wenn das nicht ausreicht, (C) Chrysler vereinbart worden ist: Nach intensiven Ver- stellt sich die Frage: Was können wir noch tun? Ich will handlungen im Sommer 2004 – das ist noch nicht sehr Ihre einzelnen Maßnahmen wirklich nicht kritisieren. lange her – ist es gelungen, ein Reformpaket zu beschlie- Man kann der Ich-AG eine Menge Positives abgewin- ßen, das dem Unternehmen jährlich Einsparungen von nen; darüber, ob der hohe Aufwand, der dafür betrieben 500 Millionen Euro bringen wird und gleichzeitig ein wird, im richtigen Kosten-Nutzen-Verhältnis steht, klares Bekenntnis des Unternehmens zum Standort werden wir nach dem Monitoring nachzudenken haben. Deutschland beinhaltet. Beschäftigungssicherung und Sie haben die Entscheidungen mit Ihrer Mehrheit getrof- keine betriebsbedingten Kündigungen bis zum 31. De- fen. Ich sage Ihnen für die Union sogar: Ich würde mir zember 2011 gehen mit mehr Arbeitsflexibilität, gerin- wünschen, Sie hätten mit diesen Methoden Erfolg, damit geren Zuwachsraten bei den Entgelten und dem Aus- wir weiterkommen. Das ist nämlich wichtiger, als diesen schöpfen weiterer Effizienzpotenziale bei Neuanläufen Streit zu vertiefen und zu verlängern. von Produkten einher. Das zeigt die Flexibilität bei der (Beifall bei der CDU/CSU) Mitbestimmung, die heute in Betrieben möglich ist. Da- für brauchen wir weder ein Nein zur Mitbestimmung Wir können aber mit der Position, die wir erreicht ha- noch eine Veränderung. ben, in keiner Weise zufrieden sein. Die Bertelsmann- ( [FDP]: Noch ein Gesetz!) Stiftung hat in einem Standortranking festgestellt: Unter den 21 Industrienationen, mit denen wir uns zu verglei- Die Mitbestimmung hat sich bewährt. Das hat zwar chen haben, nehmen wir den 21. Platz ein. Unsere Ten- nichts mit dem Mittelstand zu tun – das will ich denz ist eher schlechter geworden. Wir können auch zugestehen –, steht aber in Ihrem Antrag. Es muss je- nicht evaluieren, wie viel an neuer Wettbewerbsfähigkeit doch erwähnt werden, dass das eine gute Sache ist. Des- wir gewonnen haben, wie wir uns besser aufstellen kön- wegen wollte ich es zum Schluss angeführt haben. In nen, welche Wachstumsimpulse das für Beschäftigung diesem Sinne: Bitte ziehen Sie Ihren Antrag zurück! Ich und Binnenkonjunktur bringt und welche Zukunfts- glaube, das wäre für Handwerk und Mittelstand in chancen darin stecken. Wir finden nichts, auch wenn Deutschland der beste Beitrag. wir genau hinschauen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deswegen kritisiere ich jetzt nicht alle einzelnen DIE GRÜNEN) Maßnahmen. Aber selbst die Summe aller Maßnahmen, die im Wesentlichen Sie ergriffen haben, reicht bei wei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tem nicht aus, um uns einen nennenswerten Vorteil in Das Wort hat der Kollege Hartmut Schauerte, CDU/ dem härter werdenden Wettbewerb in der Welt zu eröff- (B) CSU-Fraktion. nen. Das muss uns doch umtreiben! Ich sehe allerdings (D) nicht, dass Sie etwas Neues suchen, sondern im Moment (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Von Hartmut erkenne ich eigentlich nur, dass – das ist meine größte kommt immer etwas Gutes!) Sorge – die Regierung anderthalb Jahre vor der Wahl sagt: Das war es eigentlich. Richtiges, Wichtiges, Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Schwieriges werden wir jetzt nicht mehr machen. – Ich Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und muss deswegen dem Mittelstand in Deutschland sagen: Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Lange, wir haben Stellt euch darauf ein, dass ihr vor Ablauf von drei Jah- gerade wieder festgestellt, wie die Rituale in der Debatte ren keine bessere Situation bekommt, als ihr sie jetzt ablaufen. Wenn die Opposition einen Antrag stellt, habt, weil nichts Neues, Weltbewegendes, Verbesse- schimpfen Regierung und Koalition darüber, ohne auch rungsfähiges mehr in der Pipeline ist. nur im Ansatz aufzuzeigen, was sie als eigentlicher Ver- Es gibt nur noch Verteidigungsgefechte für das We- antwortungsträger tun wollen. Umgekehrt ist es häufig nige, das wir miteinander auf den Weg gebracht haben. auch so. Bei dem Ernst der Lage ist das aber nicht ange- In der Zeit, in der wir das Wenige auf den Weg gebracht messen und diese Rituale können wir den Menschen haben, sind unsere Wettbewerber schneller als wir gewe- auch nicht mehr vermitteln. sen. Das heißt, der Abstand hat sich tendenziell eher ver- Der Antrag der FDP enthält eine Menge positiver größert als verkleinert. Das ist die Lage und das ist das, Punkte. Einige halten wir nicht für richtig. Die entspre- was die Mittelständler wissen, die auf der internationa- chenden Punkte werden wir in den Ausschussberatungen len Bühne arbeiten und sich ihre Wettbewerbspreise je- vertiefen. Aber dieser Antrag wird den gleichen Weg wie den Tag auf die Bildschirme holen. Deswegen kommt unser Antrag vor zwei Jahren nehmen, in dem wir ein kein neues Vertrauen auf. 15-Punkte-Programm zu dem, was der Mittelstand da- Wir könnten einiges tun, zum Beispiel im Bereich des mals brauchte, vorgelegt haben. Ich vermute, dass die Energierechts. Wir kommen aber nicht voran. In der Abfasser des FDP-Antrags in unserem Antrag nachge- Konzentrationsbewegung und der Preisgestaltung zum schaut haben, was die Union gefordert hat. Unser Antrag Beispiel könnten wir etwas tun. In den letzten Jahren ist mit viel Verve beraten und dann kaputtgemacht wor- hatten wir in Deutschland eine Steigerung der Energie- den. Aber über diese Dinge will ich gar nicht reden. kosten um 30 bis 40 Prozent. Als ob es uns zu gut ginge! Ich möchte gerne mit Ihnen gemeinsam darüber nach- Wenn wir hohe Löhne haben wollen, können wir nicht denken: Wo stehen wir eigentlich? Ist das, was wir jetzt auch noch hohe Energiepreise haben. Es ist zu viel, was an neuer Wettbewerbsfähigkeit und neuem Potenzial er- die Volkswirtschaft zu tragen hat. Aber es gibt keine Be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15021

Hartmut Schauerte (A) wegung. Noch nicht einmal das Energiewirtschaftsrecht Hartmut Schauerte (CDU/CSU): (C) kommt. Beim Bürokratieabbau ist nichts passiert. Den könn- ten wir erreichen und der würde uns nicht viel kosten. In Das Antidiskriminierungsgesetz ist nun leider beim Sachen Arbeitsmarktentriegelung ist zu wenig passiert. Familienministerium gelandet. Dieses Gesetz – der Ar- Es reicht noch nicht. Ich warne vor dem Stillstand, der beitgeberverband hat heute eine Fachtagung dazu abge- sich jetzt abzeichnet. halten – belastet den Arbeitsmarkt und verschlechtert die Bedingungen für die Immobilienwirtschaft. Es stellt sich (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Immer die Frage, welche Probleme auf die Leute zukommen, die gleichen Floskeln!) die Wohnungen vermieten. Das sind die beiden Haupt- Der ist meine größte Sorge. felder. Wir brauchen uns doch nicht darüber zu streiten, dass wir Behinderte und Benachteiligte nicht diskrimi- nieren wollen. Bei der deutschen Gründlichkeit müssen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wir aber damit rechnen, dass wir dann, wenn wir das ma- Herr Kollege, Sie wollten und Sie müssen zum chen, was Sie vorhaben, 27 000 bis 40 000 zusätzliche Schluss kommen. Klagen in Deutschland haben werden. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Rudolf Bindig Ich bin dabei. – Ich bitte Sie: Gehen Sie noch einmal [SPD]: Das ist doch ein neuer Popanz!) in sich und überlegen Sie, was wir noch zusätzlich tun In England gab es bei einer Bevölkerung von müssten, damit wirklich neue Hoffnung keimen kann. 57 Millionen im Jahr 2003 27 000 Klagen. Dort gibt es Sonst haben wir drei dunkle bewegungslose Jahre vor ein ähnlich schlechtes Antidiskriminierungsgesetz. Es ist uns. übrigens der Vater oder die Mutter des deutschen Anti- (Rudolf Bindig [SPD]: Wieso denn drei? – diskriminierungsgesetzes. Damals, als die Engländer es Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wenn, beschlossen hatten, haben sie es für so gefährlich für ih- dann sechs! Aber drei?) ren Standort gehalten, dass sie empfohlen haben, es eu- ropaweit zu verbreiten. Sie sind darauf hereingefallen. Das hält der deutsche Mittelstand nicht mehr aus. Diese große Zahl von Klagen stellt ein Beschäftigungs- Herzlichen Dank. programm für Rechtsanwälte dar, von denen ich einer bin. Wenn Sie so weitermachen, dann wird mein Beruf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) so lukrativ, dass ich wieder in ihn hineinwechsele. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) (Anton Schaaf [SPD]: Das würde weiter- Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär (D) helfen!) beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Rezzo Es ist also wirklich interessant, welche Chancen Sie Schlauch. aufzeigen. Da kommen wir nicht weiter. Das ADG ist eine ganz schlimme Geschichte. Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Wirtschaft und Arbeit: (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kommen wir zur Unternehmensteuerreform. Kollege Schauerte, Sie haben die Aufmerksamkeit des Clement sagt, sie müsse sein, Rezzo Schlauch äußert Plenums dadurch geweckt, dass Sie eingangs angekün- sich gar nicht dazu. Übrigens, was hatten die Menschen digt haben, sich nicht an den üblichen Ritualen beteili- Hoffnung, als Sie Mittelstandsbeauftragter wurden! gen zu wollen. (Ute Vogt, Parl. Staatssekretärin: Nur kein ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Neid!) NEN]: Und dann war es nichts!) In der ersten Hälfte Ihrer Rede habe ich gedacht, dass Ich habe Ihre warnende Stimme bei der Durchsetzung Sie das möglicherweise durchhalten würden, zum von Mittelstands- und Wirtschaftsinteressen in der Bun- Schluss ist sie aber doch wieder wie die Eingangsrede desregierung bis heute nicht ein einziges Mal vernom- Teil dieser Rituale geworden. men; Es ist zwar richtig, dass der Mittelstand zurzeit aus (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da sind verschiedenen Gründen dem Druck von vielen verschie- wir wieder beim üblichen Ritual!) denen Seiten ausgesetzt ist. Das bestreitet niemand. Aber blanke Fehlanzeige. so zu tun, als ob nichts geschehen sei, wie es Frau Kolle- gin Kopp getan hat, die mit riesigem Gestus riesige For- Ich muss zum Schluss kommen. derungen stellt, bringt uns nicht weiter. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das (Gudrun Kopp [FDP]: Damit sind Sie aufge- wird auch Zeit!) fordert!) Wenn Sie eine Steuerreform für alle fordern, Frau Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Kopp, dann möchte ich Sie daran erinnern – auch wenn Ja, Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören –, dass wir für 15022 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauch (A) den Mittelstand eine relevante Steuersenkung durchge- Sie führen in der Begründung Ihres Antrags an, das (C) führt haben, und zwar haben wir den Spitzensteuersatz KfW-Ifo-Mittelstandsbarometer beweise, dass wir den von 53 Prozent auf 42 Prozent und den Eingangssteuer- Mittelstand links liegen gelassen hätten. Frau Kopp, ich satz von 25 Prozent auf 15 Prozent gesenkt. Das bedeu- weiß nicht, ob Sie das Mittelstandsbarometer von letzter tet in absoluten Zahlen eine Entlastung des deutschen Woche richtig gelesen haben, aber dort steht klar: Mittelstands in Höhe von 17 Milliarden Euro. Sie hätten sich doch darüber gefreut, wenn Sie in Ihrer Regierungs- Damit bleibt festzuhalten, dass die Verbesserung zeit zumindest dazu in der Lage gewesen wären, bei- des Ifo-Geschäftsklimas für die gesamte gewerbli- spielsweise beim Spitzensteuersatz die Steuerbelastung che Wirtschaft inklusive seiner beiden Teilkompo- unter 50 Prozent zu drücken. nenten einzig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – einzig! – und bei der SPD) auf die positive Entwicklung des Mittelstandes zu- rückzuführen ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Das bestärkt und ermutigt uns, den im Rahmen der Kollegen Schauerte? Agenda 2010 eingeschlagenen Kurs konsequent fortzu- setzen. Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär beim Bundes- (Gudrun Kopp [FDP]: Weiter so!) minister für Wirtschaft und Arbeit: Nein, danke. Ich habe vorhin aufmerksam zugehört Herr Schauerte, natürlich muss man darüber diskutie- und will jetzt meine Rede im Ganzen vortragen. – Frau ren, mit welchen Maßnahmen man diesen Kurs fortsetzt. Kollegin Kopp, in diesem Punkt vermisse ich jegliche Aber Sie können dabei nicht so vorgehen, wie Sie es tun. Differenzierung. Da wird lediglich mit großem Gestus Ich habe heute hier den ganzen Tag gesessen und habe eine Steuerreform für alle gefordert. erlebt, wie Sie in der Diskussion über den Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie über die Maastricht-Kriterien (Gudrun Kopp [FDP]: Herr Clement hat doch eine Philippika nach der anderen geritten haben. Deshalb selber eine weitere Steuerreform gefordert!) finde ich es äußerst unseriös, wenn Sie nun wirtschafts- Es trifft nicht zu, dass ich mich in der Frage einer Un- politische Forderungen stellen, die zwar für meine Be- ternehmensteuerreform drücke, Herr Schauerte. Wenn griffe durchaus diskutabel sind, aber im Haushalt nega- wir aber über die Fortsetzung einer Unternehmensteuer- tiv zu Buche schlagen. Dabei wissen Sie ganz genau – nehmen Sie einmal Regierungshandeln vorweg! –, (B) reform diskutieren – beispielsweise durch das Modell ei- (D) nes dualen Systems, das im Sachverständigenrat zur Dis- dass wir in einer äußerst schwierigen Haushaltssituation kussion steht – und sich alle dafür aussprechen, dann sind. Wenn es nach mir ginge, würde die Ist- und Sollbe- müssen wir höllisch aufpassen, dass wir die Entlastung steuerung sofort verändert. Das wäre für den Mittelstand des Mittelstands, die wir mit der Einkommensteuerre- mit Sicherheit ein weiterer vernünftiger Schritt. Darüber form und den gesenkten Tarifen erzielt haben, nicht in diskutieren wir auch. einem Schritt wieder aufheben. Denn entgegen der im- (Gudrun Kopp [FDP]: Dann los!) mer wieder erhobenen Forderung einer großen Steuerre- form für den Mittelstand haben wir für den Mittelstand Aber Sie wissen ganz genau, dass Sie in der ersten Dis- bereits eine erhebliche Entlastung und sehr viel niedri- kussion nach einer solchen Änderung sofort fragen wür- gere Steuertarife als bei den Körperschaften erreicht. den, ob die 1,5 Milliarden Euro – das wäre in etwa das Das muss bei der wohlfeilen Forderung einer neuen Entlastungsvolumen – negativ zu Buche schlagen und ob Steuerreform berücksichtigt werden, damit man nicht das Einhalten der im Maastricht-Vertrag sowie im Stabi- dem Mittelstand sozusagen wieder einmal vor das litäts- und Wachstumspakt festgelegten 3-Prozent-Ver- Schienbein tritt. schuldungsgrenze gefährdet ist. Ich erwarte von einer se- riösen Mittelstandsdiskussion eine differenziertere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herangehensweise. sowie bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kollegin Kopp, die Umsetzung Ihrer Forderung Die Steuerreform stellt den zentralen Punkt der Ent- nach Abbau des Kündigungsschutzes, so wie Sie ihn lastung dar. Auf die weiteren Punkte will ich gar nicht ausgestaltet haben – Sie sehen eine betriebliche Anwen- eingehen. Wer hat denn beispielsweise aus der Notwen- dungsschwelle von 50 Arbeitnehmern vor –, würde das digkeit der Finanzierung des Mittelstands heraus, die ein Kündigungsschutzgesetz in 96 Prozent aller Betriebe ob- dringendes und großes Problem darstellt, damit angefan- solet machen. Eine solche Flurbereinigung unseres So- gen, eine leistungsfähige, professionelle und effektive zialstaatsprinzips können Sie vielleicht vertreten. Aber Mittelstandsbank aus KfW und DtA zu schmieden, was vor dem Hintergrund, dass – das habe ich heute gelesen – jahrelang versäumt worden war? Wer hat denn neue Pro- Herr Kubicki etwas mehr Warmherzigkeit von der FDP gramme für die Finanzierung aufgelegt, um die vorhan- gefordert hat, kann ich nur sagen, dass das Ausdruck dene Zurückhaltung der großen Banken, insbesondere ökonomischer Kälte ist. Wenn es das alleine wäre, würde der Geschäftsbanken, bei der Kreditierung zumindest ei- ich noch sagen: Okay, darüber können wir reden. Aber nigermaßen auszugleichen? vielleicht sollten Sie einmal bedenken, dass eine solche (Gudrun Kopp [FDP]: 2 Milliarden!) Maßnahme in wirtschaftspolitischer Hinsicht natürlich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15023

Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauch (A) zur Verunsicherung, zur Angst beitragen und das Bin- Matthäus Strebl (CDU/CSU): (C) nenklima noch mehr kaputtmachen würde. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Schlauch, von der Rente zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rück zum Mittelstand. Man kann nicht oft genug beto- und bei der SPD) nen, welche tragende Rolle der Mittelstand bei uns in Insofern glaube ich, dass das, was Sie fordern, in kei- Deutschland eigentlich spielt. Obwohl das von vielen ner Weise geeignet ist, die Situation des Mittelstandes zu immer wieder gesagt wird, auch in der heutigen Debatte verbessern. Was ich gar nicht begreifen kann, ist – hier hier, hat man angesichts der rot-grünen Politik nicht den komme ich auf den Kollegen Lange zurück –: Wie kann Eindruck, dass diese Erkenntnis bei der Regierungsbank eine Partei, die sich die Selbstständigkeit auf die Fahnen angekommen ist. schreibt, sozusagen die Hilfestellung für eine Verbreite- Dabei sprechen die Fakten für sich. Die rund 3,3 Mil- rung der Kultur der Selbstständigkeit auf diese Art und lionen mittelständischen Unternehmen in Deutschland er- Weise diskreditieren? bringen fast 50 Prozent der Bruttoinvestitionen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 60 Prozent der Bruttowertschöpfung. Damit stellt der und bei der SPD) Mittelstand 70 Prozent der Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutschland. In den mittelstän- Da haben Sie Ihre uralten Grundsätze, die Sie immer vor dischen Unternehmen in Deutschland wird oftmals über sich hergetragen haben, völlig außer Acht gelassen. Der Bedarf ausgebildet. Der Mittelstand ist somit das Rück- Selbstständige, der aus einer Ich-AG oder aus dem Über- grat einer starken Wirtschaft und muss entsprechend ge- brückungsgeld kommt, hat genau das gleiche Recht wie fördert und darf nicht gehemmt werden. alle anderen Selbstständigen, unsere Achtung dafür zu bekommen, dass er in das Risiko gegangen ist. Die Umso alarmierender sind die Zahlen, die uns bezüg- Selbstständigen, die zu der Klientel der FDP gehören, lich Wirtschaft und Arbeit seit Monaten erreichen. Die sind da also keinen Deut besser. Ich finde es gut, dass Zahl der Firmenpleiten ist dramatisch. Wie die Kollegin wir damit angefangen haben, auch vonseiten des Staates Kopp schon gesagt hat, gab es im vergangenen Jahr zu einer Kultur der Selbstständigkeit zu ermutigen. 40 000 Insolvenzen. Das bedeutet, dass in Deutschland etwa alle zwölf Minuten eine Firma Pleite geht. Dabei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gibt es sozusagen kein freies Wochenende, sondern das und bei der SPD – Gudrun Kopp [FDP]: Das geht von 0 Uhr am Sonntag bis 24 Uhr am Samstag. ist eine wunderbare Warmherzigkeit gegen- über den Arbeitslosen!) Alarmierend ist auch, dass die psychologisch bedeu- tende Marke von 5 Millionen Arbeitslosen überschritten (B) Auch in Ihrem Antrag tun Sie so, als ob wir in den so- worden ist. Ich befürchte, dass das so weitergehen wird. (D) zialen Sicherungssystemen gar nichts gemacht hätten. Dies liegt nicht allein an Hartz IV mit dem ALG II. Mit Ihnen ist offenbar entgangen, dass wir hier etwas getan der neuen Zählweise sind lediglich 200 000 arbeitsfä- haben, was Sie versäumt haben. Die FDP ist 16 Jahre hige Sozialhilfeempfänger in die Arbeitslosenstatistik lang dem Slogan „Die Rente ist sicher“ nachgelaufen, aufgenommen worden, die früher dort gefehlt haben. ohne dass sie auch nur einen Muckser getan hätte. Das geht darauf zurück, dass die makroökonomischen (Zurufe von der FDP) Bedingungen nicht stimmen. Dafür trägt Rot-Grün die Verantwortung. Die Einführung der privaten Kapitaldeckungsvorsorge, die wir vorgenommen haben, hätte Ihnen gut angestan- (Beifall bei der CDU/CSU) den. Sie haben das aber nicht getan. Die Prognosen für die Zukunft sind nicht optimisti- (Gudrun Kopp [FDP]: Was wollen Sie denn?) scher. Das Schweizer Forschungsinstitut Prognos erwar- tet erst ab 2008 eine Besserung auf dem Arbeitsmarkt, Wir haben diesen Weg eingeschlagen und werden ihn weil, so im „Handelsblatt“ vom 22. Februar 2005 nach- fortsetzen. Ich kann Sie völlig beruhigen, Herr Kollege zulesen, die Reformansätze falsch sind und nicht richtig Schauerte, indem ich Ihnen sage, dass wir den Mittel- greifen. stand mit weiteren Maßnahmen entlasten werden. Eigentlich müsste jeder vernünftige Mensch nun zu Für konstruktive Vorschläge der Opposition, die den dem Schluss kommen, dass der Mittelstand sehr stark Wirtschaftsstandort Deutschland und den Mittelstand in gefördert werden muss. Doch weit gefehlt: Statt starker Deutschland voranbringen, sind wir offen. Der vorlie- Förderung erfährt der Mittelstand immer stärkere Ein- gende Antrag leistet allerdings keinen Beitrag dazu. schränkungen. Der politische Maßnahmenkatalog dieser Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Bundesregierung liest sich wie ein Strafgesetzbuch für Ich bedanke mich. den Mittelstand: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – und bei der SPD) Lachen bei der SPD – Christian Lange [Back- nang] [SPD]: Da klatschen aber nur drei ganz Müde!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Matthäus Strebl, CDU/ Während große Kapitalgesellschaften steuerlich entlastet CSU-Fraktion. werden, werden Personengesellschaften mit einem viel 15024 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Matthäus Strebl (A) zu komplizierten Steuerrecht – unseres ist eines der die Unternehmen von staatlichen und gesellschaftlichen (C) kompliziertesten – belastet. Die Bürokratielasten für Aufgaben zu entlasten. mittelständische Unternehmen – auch das wurde heute schon gesagt – steigen immer weiter. So verursachen (Weitere Zurufe des Abg. Rudolf Bindig zum Beispiel die staatlichen Bürokratiepflichten bei [SPD]) Großunternehmen etwa 5,5 Stunden Arbeit pro Jahr, – Herr Kollege Bindig, passen Sie auf, damit Sie etwas während bei den Kleinunternehmen pro Jahr 64 Stunden mitbekommen! – Die Tarifparteien sollten unter ande- anfallen. rem aufgefordert werden, Öffnungsklauseln in Tarifver- (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das meiste trägen zur Beschäftigungssicherung zu verankern. am Wochenende!) Ich komme zum Schluss. Ein Wort an Herrn Staatssekretär Schlauch und an (Rudolf Bindig [SPD]: Kein Vorschlag bis- seine Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank her! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nur einschließlich des Bundeskanzlers Gerhard Schröder Sprechblasen!) sage ich: Die Bundesregierung ist wirklich fleißig – her- vorragend! Allein in der vergangenen, also in der Der Mittelstand steht seit Jahrzehnten für eine hervorra- 14. Wahlperiode wurden rekordverdächtige 489 neue gende Ausbildung, Arbeitsplätze und Innovationen in Gesetze verkündet. Deutschland. Lassen Sie uns zusammenstehen und alles dafür tun, dass der Mittelstand gestärkt wird! Es müssen (Rudolf Bindig [SPD]: Einige Hundert, die Sie dringend Maßnahmen ergriffen werden, um den Mittel- gemacht haben, abgelehnt! Gott sei Dank!) stand zu erhalten. Da sprechen Sie von Bürokratieabbau und vielem ande- ren mehr. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Durch vielfältige Mehrbelastungen, zum Beispiel Herr Kollege, jetzt müssen Sie zum Schluss kommen. durch immer höhere Energiepreise, wird die ohnehin schwache Eigenkapitaldecke des Mittelstandes weiter Matthäus Strebl (CDU/CSU): geschwächt. Außerdem wurden dem ERP-Sondervermö- Das ist der Schlüssel für mehr Arbeitsplätze in gen für Mittelstandsförderung auf Beschluss der Bun- Deutschland. desregierung 2 Milliarden Euro entzogen, um Haushalts- löcher zu stopfen. Herzlichen Dank. (B) Hinzu kommen die nicht unwesentlichen Herausfor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) derungen – ich möchte sie ebenfalls nennen – durch die neten der FDP) Billigarbeitskräfte aus dem Osten – ein Resultat der EU- Osterweiterung –, die dem Handwerk und kleineren Be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: trieben erheblich zu schaffen machen werden. Es darf Ich schließe die Aussprache. nicht passieren, dass unsere deutschen Arbeitskräfte we- gen Einwanderung von Arbeitskräften aus dem Osten Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf mit untertariflicher Bezahlung auf der Straße stehen. Das Drucksache 15/4734 an die in der Tagesordnung aufge- macht den Mittelstand kaputt. Dies ist, schlicht gesagt, führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- das Ausbeuten von Menschen auf Kosten deutscher Mit- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung bürger. Wir müssen gemeinsam die richtige Lösung die- so beschlossen. ses Problems finden. Die hohen Lohnnebenkosten sind ein weiteres Problem. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Die Summe dessen ist: Dem Mittelstand geht allmäh- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- lich die Puste aus. Es liegt auf der Hand, dass der Kanz- gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften ler der Bosse seine ruhige Hand nicht nur für die großen Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Unternehmen bewegen darf, sondern auch für den Mit- Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für telstand. Spätaussiedler (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Drucksache 15/4486 – neten der FDP – Christian Lange [Backnang] (Erste Beratung 151. Sitzung) [SPD]: Wofür sind Sie eigentlich? Das würde uns jetzt interessieren! – Rudolf Bindig [SPD]: Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Machen Sie mal Vorschläge!) schusses (4. Ausschuss) Wir brauchen daher eine groß angelegte Mittelstandsof- – Drucksache 15/4950 – fensive, die den Mittelstand in den verschiedenen Berei- chen entlastet und einen fairen Wettbewerb garantiert. Berichterstattung: Abgeordnete Hildegard Wester Wichtig ist vor allen Dingen: Wir brauchen eine mit- Erwin Marschewski (Recklinghausen) telstandsfreundliche Wirtschaftspolitik, Unternehmens- Josef Philip Winkler gründungen, Vereinfachungen und Deregulierung, um Dr. Max Stadler Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15025

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rum, dass Ehegatten oder Lebenspartner oder Eltern und (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre ihre minderjährigen Kinder aufgrund von Verteilungs- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. und Zuweisungsentscheidungen an verschiedenen Orten leben müssen oder dass die Zuweisung einer Erwerbstä- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla- tigkeit entgegensteht. Die Änderung wird am Grundsatz mentarische Staatssekretärin Ute Vogt. der Regelung aber nichts ändern. Der gerechte Aus- gleich zwischen den Ländern bleibt erhalten. Aber sie Ute Vogt, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister wird dazu führen, dass Härtefälle, die einzelne Familien des Innern: getroffen haben, in Zukunft besser berücksichtigt wer- den können. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Änderungen des Wohnortzuweisungsgesetzes wur- Wir wollen die Gelegenheit nutzen, auch einige den im Deutschen Bundestag schon immer, jedenfalls redaktionelle Änderungen vorzunehmen. Die redaktio- solange ich mich erinnern kann, mit großer Einigkeit be- nellen Änderungen betreffen die Angleichung des schlossen. Vielleicht kommt das daher, dass dieses Ge- Wohnortzuweisungsgesetzes an Neuregelungen zum Ar- setz in den Medien eine eher geringe Aufmerksamkeit beitslosengeld II. Das Wohnortzuweisungsgesetz betrifft genossen hat und noch genießt, dafür allerdings umso bislang nur die Sozialhilfe. Da sich durch Hartz IV auch größere Aufmerksamkeit bei den betroffenen Spätaus- in diesem Bereich etwas geändert hat, wollen wir mit siedlern und auch bei denjenigen, die in den Ländern die dem vorliegenden Gesetzentwurf klarstellen, dass auch Verantwortung für die finanzielle Unterstützung tragen, das Arbeitslosengeld II entsprechend einbezogen wird. für die das also eine große Wirkung hat. Es erschien uns wichtig, noch einen letzten Punkt auf- Das zweite Änderungsgesetz zum Wohnortzuwei- zunehmen. Auf Bitten der Länder schaffen wir eine Vor- sungsgesetz, das aus dem Jahr 1996 stammt, wurde da- schrift ab, die ursprünglich für die gerechtere Verteilung mals beschlossen, um zu regeln, dass diejenigen, die als der Kosten gedacht war, nämlich die Kostenerstattung Spätaussiedler einem bestimmten Land zugewiesen wer- zwischen den Ländern. Auf Bitten der Länder legen den, in diesem Land auch ihren Wohnsitz nehmen und wir fest, dass diese Erstattung künftig wegfällt, weil sich nur dort die regulären Sozialhilfeleistungen erhalten in der Praxis gezeigt hat, dass der bürokratische Auf- können. Sinn war, eine damals sehr starke Ungleichheit wand, um die Verteilung vorzunehmen, weit größer ist bei der Verteilung der Spätaussiedler auf die Länder ab- als die Verteilungswirkung, also die finanzielle Entlas- zubauen und ein Stück mehr Gerechtigkeit zu erreichen, tung der einzelnen Haushalte. was die Kostenbelastung für die einzelnen Bundesländer (B) angeht. Man hat daher geregelt, dass bei einem Umzug In diesem Sinne wird das Gesetz, denke ich, verbes- (D) an einen neuen Ort die betroffenen Spätaussiedler So- sert. Wir nehmen die Erfahrungen auf, die in den letzten zialhilfe nur noch in einem sehr begrenzten Umfang Jahren mit dem Gesetz gemacht wurden. Wir sind froh – Übernahme der Verpflegungskosten – erhalten. Es war darüber, dass wir uns in diesem Hause über Folgendes gut und richtig, denke ich, dass dieses Gesetz schon da- einig sind: Im Grundsatz ist ein solches Wohnortzuwei- mals, unter anderer Regierung, auf den Weg gebracht sungsgesetz nach wie vor notwendig. Damit erreichen wurde, und es war auch gut und richtig, dass wir das ge- wir, dass die Integration der Spätaussiedler, die in diesen meinsam mit den Ländern so getragen haben. Tagen unsere vorrangigste Aufgabe ist, besser organi- siert wird und in den betroffenen Städten eine höhere Wir haben damit nicht zuletzt erreicht, dass die Akzeptanz findet. Akzeptanz der Spätaussiedlerinnen und Spätaussied- ler in den einzelnen Kommunen verbessert wurde, weil In diesem Sinne freue ich mich zum einen, dass wir es nicht ein Ort einen Zuzug in großem Maße zu verkraften möglich gemacht haben, dass in Zukunft für einige Här- hatte, sondern der Zuzug innerhalb Deutschlands breiter tefälle Abhilfe geschaffen werden kann, zum anderen verteilt werden konnte. Insofern kam dieses Gesetz auch aber darüber, dass wir uns einig sind in der Auffassung, den Betroffenen unmittelbar zugute. Die Verteilung auf dass dieses Gesetz weiterhin anzuwenden ist. Ich hoffe, mehrere Schultern hat natürlich wesentlich bessere Inte- dass es noch mehr Fälle gibt, insbesondere in der Innen- grationsmöglichkeiten zur Folge. politik, wo wir die Beschlüsse in solch einer Einmütig- Kern der heute zur Beratung stehenden Änderung ist keit fassen, wie es bezüglich dieses Wohnortzuweisungs- folgender: Wir wollen auf einige besondere Fälle einge- gesetzes abzusehen ist. hen. Diese Änderung ist uns vonseiten des Bundesver- Danke schön. fassungsgerichts aufgegeben worden. Das Bundesver- fassungsgericht hat deutlich gemacht – darüber sind wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ froh und darüber können wir uns gemeinsam erfreut zei- DIE GRÜNEN) gen –, dass der Kern der Regelung, nämlich die Wohn- ortzuweisung, verfassungsmäßig ist und auch in Zukunft bestehen bleiben kann. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Erwin Marschewski, Neu geregelt werden sollen besondere Härtefälle. Sie CDU/CSU-Fraktion. sollen anders behandelt werden, als das in der Vergan- genheit geschehen ist. Bei den Härtefällen geht es da- (Beifall bei der CDU/CSU) 15026 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Chance auf dem Arbeitsmarkt und keine Chance in der (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Gesellschaft. Das ist das Problem, das wir alle, Frau Herren! Die Union wird der Änderung des Wohnortzu- Kollegin, aus unseren Wahlkreisen kennen. Deswegen weisungsgesetzes zustimmen. Dies deshalb, weil es der ist es meiner Meinung nach dringend vonnöten, sich die- Forderung des Bundesverfassungsgerichtes entspricht, ser Aufgabe besonders anzunehmen. unbillige Härten bei der Verteilungs- und Zuweisungs- (Beifall bei der CDU/CSU) entscheidung zu vermeiden. Ich finde, es ist gut, dass diese Gesetzesänderung erfolgt. Sie greift dann, wenn In diesem Zusammenhang möchte ich etwas Kritik an Ehegatten, Eltern oder Kinder verschiedenen Wohnorten dem, was hier tatsächlich geschehen ist, üben. Leider hat zugewiesen werden oder wenn die Zuweisungsentschei- die Bundesregierung dies in der unmittelbaren Vergan- dung der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit entge- genheit nicht getan; dies sage ich mit großer Besorgnis. gensteht. Ich denke, dass diese Änderung die Integration fördert, dass sie für den Arbeitsmarkt gut ist und last, not (Widerspruch bei der SPD) least dem Schutz der Familie Rechnung trägt, obwohl – Wenn Sie dies nicht glauben, Frau Kollegin, nenne ich natürlich den Spätaussiedlern durch die erhebliche Be- Ihnen einmal ein paar Fakten. Sie haben die Gelder für einträchtigung der Freizügigkeit eine ganze Menge zu- die Projekte zur Integration und Eingliederung um gemutet wird. Aber diese Änderung war und ist notwen- 25 Prozent gekürzt. Sie haben die Gelder für Integra- dig. tionsmaßnahmen für junge Spätaussiedler gestrichen. Durch das Wohnortzuweisungsgesetz, das wir damals Dies ist nicht gut. Wir wollen, dass die jungen Leute in- beschlossen haben – die Frau Staatssekretärin hat es vor- tegriert werden. hin gesagt –, werden die Lasten für die zu erbringenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Leistungen gerechter aufgeteilt und die Integration er- heblich verbessert. Auch bei den Sprachfördermaßnahmen sind von Ihnen Begrenzungen eingeführt worden. Meine Damen und Herren, von 1988 bis heute sind fast 3 Millionen Spätaussiedler und ihre Angehörigen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE nach Deutschland gekommen: aus den Staaten Mittel-, GRÜNEN]: Tunnelblick!) Ost- und Südosteuropas, vor allen Dingen aus den Nach- Deswegen haben die jungen Spätaussiedler oftmals folgestaaten der früheren Sowjetunion. Diese Menschen keine Chance auf Ausbildung. Es ist sogar zu befürch- mussten – das wissen wir – über Jahrzehnte schlimmes ten, dass sie auf Dauer auf die Sozialsysteme angewie- Leid erdulden. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjet- sen sein werden. union 1941 wurden sie pauschal der Kollaboration mit (B) (D) den Nazis verdächtigt, ihre Siedlungsstrukturen wurden Warum Sie außerdem bei den Unterstützungsmaß- zerschlagen, sie wurden umgebracht, vergewaltigt oder nahmen in den Herkunftsgebieten den Rotstift ange- verschleppt: nach Sibirien, in den Ural, nach Usbekistan setzt haben, ist mir unverständlich. Unser Ziel muss es oder nach Kasachstan – oft nur allein die Kinder, ohne doch sein, den Bleibewillen dieser Menschen in Russ- ihre Eltern. Wir haben versucht, dieses Leid zu mildern: land und den anderen Staaten der ehemaligen Sowjet- durch Hilfen im Ausland, aber auch durch die Rückkehr- union zu fördern. möglichkeit nach Deutschland gemäß Art. 116 des (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Richtig! Grundgesetzes. Aber nicht so wie Waffenschmidt!) Ich finde, die Eingliederung in unsere Gesellschaft – Warum Sie diese Mittel gestrichen haben, verstehe ich ist insbesondere in den Jahren des starken Zuzugs erfolg- nicht. reich verlaufen. Die Spätaussiedler fanden eine neue Heimat. Sie waren und sind eine Bereicherung für un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sere Gesellschaft, Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es werden aber doch auch weni- (Beifall im ganzen Hause) ger!) wobei der Zuzug vieler kinderreicher Familien insbeson- Deswegen appelliere ich an Sie, dass wir dies gemein- dere zu einer Verjüngung der Gesellschaft beigetragen sam revidieren. hat. Meine Damen und Herren, Aussiedlerpolitik ist die Aber für eine gute und schnelle Integration sind wei- Aufgabe des gesamten Parlaments, es ist gemeinsame tere Anstrengungen notwendig. In den Zeiten der uni- Aufgabe aller Fraktionen. Dies haben wir, Max Stadler, onsgeführten Bundesregierung haben wir zusammen mit bei der Diskussion über das Zuwanderungsgesetz im den Damen und Herren der FDP den Besuch von Vermittlungsverfahren positiv bewiesen. Ich halte es für Sprachkursen gefördert, Bildungs- und Ausbildungshil- gut, dass wir in diesem Verfahren beschlossen haben, fen gewährt und vor allen Dingen Angebote zur sozialen dass es bei der Anerkennung des allgemeinen Kriegsfol- Beratung und Betreuung gemacht. genschicksals bleibt. Ich halte es auch für gut, dass die Wir wissen aus unseren Erfahrungen, dass sich die In- Regelung für das Führen des Abstammungsnachweises tegrationsanforderungen in den letzten Jahren erheblich unverändert geblieben ist. Es ist doch bekannt, dass erhöht haben; denn junge Leute ohne Sprachkenntnisse Eltern in den 40er- und 50er-Jahren aus Angst vor Re- haben keine Chance, sich zu integrieren, haben keine pression ihre deutsche Abstammung verbargen. Des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15027

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) Weiteren war es notwendig, den Ehegatten und Kindern ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. März (C) aufzugeben, Grundkenntnisse der deutschen Sprache 2004. mitzubringen, um so bessere Voraussetzungen für Beruf und Integration zu haben. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil nicht nur die Verfassungskonformität der mit dem (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Das Wohnortzuweisungsgesetz einhergehenden Einschrän- machen wir doch!) kung des Grundrechts auf Freizügigkeit bestätigt. Karls- ruhe kommt in seinem Urteil auch zu dem Schluss, dass – Das haben wir gemeinsam beschlossen; ich halte dies die im Gesetz vorgesehene Sanktion, also der Aus- ja für gut. schluss vom Sozialhilfebezug, sofern ein Spätaussiedler Vereinbart wurde in den Verhandlungen zum Zuwan- an einem anderen als dem ihm zugewiesenen Ort Auf- derungsgesetz – auch dies kann Herr Kollege Stadler enthalt nimmt, erforderlich, verhältnismäßig und zumut- bezeugen –, den Beirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- bar und damit im Ergebnis auch verfassungsgemäß sei. und Aussiedlerfragen weiterzuführen. Die dort betei- Trotzdem hat uns das Bundesverfassungsgericht auf- ligten Vertreter gesellschaftlich relevanter Gruppen aus getragen, durch Änderung der gesetzlichen Grundlagen Bund und Ländern sowie aus Städten und Gemeinden, unbillige Härten für Spätaussiedler bei der vorläufigen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden können Wohnortzuweisung zu vermeiden. Der Kollege konkrete Anregungen aus ihren praktischen Erfahrungen Marschewski hat das bereits angesprochen. Der Umset- vor Ort dem Bundesinnenminister unterbreiten. Deswe- zung dieses Auftrages des Bundesverfassungsgerichts gen sollte er, Frau Staatssekretärin, diesen Beirat bald dient der vorliegende Gesetzentwurf. Ich werde zwei wieder einberufen. Bitte, auch eine nahezu unfehlbare Aspekte dieses Entwurfs kurz ansprechen. Bürokratie wie die des Herrn Bundesinnenministers sollte bereit sein, entsprechende Ratschläge aufzuneh- Zum Ersten finde ich es sehr erfreulich, dass wir jetzt men. eine Härtefallregelung geschaffen haben. Eine solche Härtefallregelung sollte im Übrigen nicht nur bei Spät- ( [CDU/CSU]: Dieses aussiedlern greifen, sondern auch bei anderen Zuwande- Image ändern wir gerade mit dem Untersu- rern. chungsausschuss! – Heiterkeit bei der CDU/ CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Erwin Marschewski [Reck- Meine sehr verehrten Damen und Herren, Art. 116 linghausen] [CDU/CSU]: Dafür haben wir die des Grundgesetzes gilt und dies soll auch so bleiben. Die Härtefallkommission!) Union steht nach wie vor zu einer Aufnahme von Spät- (B) aussiedlern in Deutschland, auch wenn es Probleme gibt – Ich weiß, wir haben das im Zuwanderungsgesetz gere- (D) – ich sage dies ausdrücklich –, vor denen wir die Augen gelt; es gibt aber noch zwei unionsregierte Bundeslän- nicht verschließen dürfen. Trotzdem kommt eine Ände- der, in denen es noch keine Härtefallkommission gibt, rung oder Abschaffung des Art. 116 Grundgesetz für uns Niedersachsen und Baden-Württemberg. nicht in Frage. Das Schicksal dieser Menschen verbietet dies. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nieder- sachsen hat es immer noch nicht kapiert!) (Beifall bei der CDU/CSU) Das passt zwar nicht ganz zum Thema; trotzdem ergeht Vielleicht nützt hier der Satz unseres ehemaligen der Appell an die Union, sich auch hier dafür einzuset- Außenministers Genscher: Ich bin doch nicht zu den zen, dass die Möglichkeiten des Gesetzes vollständig Diktatoren gefahren und habe mit ihnen darüber verhan- ausgenutzt werden. delt, die Tür einen Spalt aufzubekommen, um jetzt, wo sie offen ist, sie wieder zu schließen. (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Herzlichen Dank. Die Härtefallregelung in diesem Gesetz soll es er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Max möglichen, dass Ehegatten bzw. solche Personen, die Stadler [FDP]: Sehr guter Schluss!) eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen sind, dann nachträglich einem anderen Wohnort zuge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wiesen werden können, wenn die zunächst erfolgte Das Wort hat der Kollege Josef Winkler, BÜND- Wohnortzuweisung dazu geführt hätte, dass die Ehe- NIS 90/DIE GRÜNEN. bzw. Lebenspartner an getrennten Wohnorten hätten le- ben müssen. Man sollte von der Logik her eigentlich meinen, dass das schon vorher so gewesen wäre. Es ist Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aber gut, dass das Verfassungsgericht uns noch einmal NEN): mit der Nase darauf gestoßen hat. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Auch der Änderungsantrag der Regierungskoalition, Bundesregierung soll das Gesetz geändert werden – es die Lebenspartnerschaften nicht unter „Sonstiges“ abzu- wurde bereits gesagt –, mit dem Spätaussiedlern für ei- handeln, sondern als eigenständigen Rechtsbegriff in das nen vorübergehenden Zeitraum ein spezieller Wohnort Gesetz aufzunehmen, ist durchaus verständlich und hilf- zugewiesen wird. Dieser Gesetzentwurf geht zurück auf reich gewesen. 15028 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Josef Philip Winkler (A) Zum Zweiten haben wir die Kostenerstattung zwi- ständliche Grundsatz der freien Wohnsitzwahl nicht gilt, (C) schen den Ländern bei der Gewährung von Sozialhilfe war schon immer ein Fremdkörper in unserem Rechts- aufgehoben; denn mit dem In-Kraft-Treten des SGB XII system. Pro forma haben zwar auch diese das Recht, ih- zum 1. Januar 2005 ist die Kostenerstattungsvorschrift ren Wohnsitz selbst zu wählen. Faktisch aber besteht für des alten § 107 Bundessozialhilfegesetz ersatzlos gestri- sie der Zwang, den Wohnsitz zu wählen, der ihnen zuge- chen worden. wiesen worden ist, weil ansonsten staatliche Leistungen, auf die sie in der Anfangszeit angewiesen sind, nicht ge- Ich bin froh, dass wir diesen Gesetzentwurf heute mit zahlt werden würden. der Zustimmung der Opposition beschließen können. Das kommt im innenpolitischen Bereich wirklich selten Die FDP hatte immer Bedenken, einem solchen vor. Dadurch, dass wir im Zuge der Ausschussberatun- grundrechtseinschränkenden Gesetz zuzustimmen. Wir gen den beiden Empfehlungen des Bundesrates gefolgt haben dies in der alten Koalition mit der CDU/CSU nur sind, können wir uns hoffentlich auch der Zustimmung auf ausdrücklichen Wunsch vieler Kommunen getan der Länderkammer sicher sein. Ich freue mich auch, dass – die SPD hat ebenfalls zugestimmt –, die der Meinung die Union, vertreten durch Herrn Marschewski – wo ist waren, für eine Übergangszeit müsse man aus bestimm- er denn? – ten Gründen eine solche Notlösung akzeptieren. (Jochen–Konrad Fromme [CDU/CSU]: Er Nachdem Rot-Grün an die Regierung gekommen war, kommt sofort wieder!) ist die Übergangszeit abgelaufen. Trotzdem hat der – es ist gut, dass er nicht da ist, weil ich ihn zitiere –, Bundestag dieses fragwürdige Gesetz noch einmal ver- längert. Die FDP konnte da nicht mehr mitmachen, weil (Heiterkeit) es keine Gründe für eine Verlängerung gab. in der gestrigen Sitzung des Innenausschusses die (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Aber die Grünen!) Grundrechtsanliegen von gleichgeschlechtlichen Le- benspartnerschaften, hier betreffend das Zusammenle- Wir sind deswegen froh, dass uns das Bundesverfas- ben dieser Lebenspartner, ausdrücklich unterstützt hat. sungsgericht jetzt aufgegeben hat, einige Korrekturen vorzunehmen, damit wenigstens Härtefälle beseitigt (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Da ist werden können. In der Vergangenheit war es so, dass er wieder!) aufgrund dieses Eingriffsgesetzes Familien und Ehepart- – Leider zu spät, um zu widersprechen. ner auseinander gerissen werden konnten. Kinder konn- ten nicht an dem Wohnort ihrer Eltern leben. Ich frage (Heiterkeit) mich daher, ob es wirklich ein Ruhmesblatt für den (B) Ich bedanke mich ausdrücklich für diesen Sinneswan- Deutschen Bundestag ist, dass Karlsruhe uns aufgeben (D) del der Union und bedanke mich herzlich für Ihre Auf- muss, diesen Zustand zu beseitigen. Hätten wir nicht sel- merksamkeit. ber darauf kommen können? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Josef und bei der SPD sowie des Abg. Jochen- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Konrad Fromme [CDU/CSU]) NEN]) Da nun aber aufgrund der Vorgabe des Bundesverfas- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sungsgerichts diese Härten mit dem heutigen Gesetz be- Das Wort hat der Kollege Max Stadler, FDP-Fraktion. seitigt werden, stimmt die FDP dem selbstverständlich zu. Denn es bewirkt eine Verbesserung der Situation der Dr. Max Stadler (FDP): Betroffenen. Ich mache aber noch einmal deutlich: In ei- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und nem freiheitlichen Land sollte wirklich jeder die Mög- Herren! Es wäre sehr reizvoll gewesen, wenn wir vor der lichkeit haben, seinen Wohnsitz selber zu wählen. heutigen Debatte eine kurze Pause hätten machen kön- (Beifall bei der FDP) nen, um ein kleines Experiment durchzuführen. Man hätte die Zuhörer, auch wenn es zu dieser Abendstunde nicht mehr allzu viele sind, fragen können, ob sie der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Meinung sind, dass jeder Bürger in Deutschland frei ent- Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin scheiden darf, in welcher Stadt bzw. in welcher Kom- Hildegard Wester, SPD-Fraktion. mune er wohnen möchte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Antwort in allen Fällen Ja gewesen wäre. Auch Hildegard Wester (SPD): wenn man nicht das Grundrecht auf Freizügigkeit, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für verbrieft in Art. 11 des Grundgesetzes, kennt, entspricht meine Fraktion kann ich heute Abend nur meine Zufrie- dies doch dem allgemeinen Rechtsbewusstsein. Es er- denheit darüber ausdrücken, dass es nach relativ kurzer scheint eher ein Merkmal eines anderen Staatswesens als Zeit gelungen ist, den Empfehlungen des Bundesverfas- das einer freiheitlichen Demokratie, wenn der Staat be- sungsgerichts nachzukommen und heute dieses Gesetz fiehlt, wo man seine Wohnung zu nehmen hat. vorzulegen, das vielen Menschen in unserem Land Die Regelung, dass für eine bestimmte Bevölkerungs- – nicht nur den Zuwanderern, sondern auch uns – Er- gruppe, nämlich für die Spätaussiedler, dieser selbstver- leichterungen bringt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15029

Hildegard Wester (A) Die Menschen, die als Spätaussiedler hierher kom- Dass es nicht die angestrebte gesellschaftliche, beruf- (C) men, müssen sich in einer Aufnahmestation, einem so liche und schulische Integration fördert, wenn diese genannten Grenzdurchgangslager, registrieren lassen. Menschen in ihrem zugewiesenen Wohnort nur darauf Von hier aus werden sie auf die Länder verteilt. Nun warten, dass sie von dort wegkommen, liegt auf der müssen sie – wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht aus Hand. Schlimmstenfalls handelt es sich bei diesen drei eigenen Mitteln bestreiten können – eine neuerliche Zu- Jahren um eine verlorene Zeit; denn sie werden, wie ich weisung hinnehmen, und zwar zu ihrem dann jedenfalls eben schon ausführte, sicherlich nicht bereit sein, sich in für drei Jahre festgelegten Wohnort. Dieser Wohnort diesen drei Jahren in ihren neuen Wohnort zu integrie- wird nicht etwa nach den Wünschen der Betroffenen ren. ausgesucht. Die Zuweisung erfolgt aus Kostenvertei- Natürlich werden wir dieses abwartende Verhalten lungsgründen und soll verhindern, dass es zu einer zu durch die neue Härtefallregelung nicht vollends abstel- starken Konzentration zugewanderter Personen kommt. len können; das liegt auf der Hand. Denn dieser Härte- Die Auffassung, dass eine solche Konzentration ne- grund bezieht sich nur auf die enge Familie und die Part- ben den hohen Kosten für die betroffenen Kommunen nerschaft. So wird es leider weiter Menschen geben, die auch eine geringere Integrationsbereitschaft seitens der darauf warten, sich nach diesen drei Jahren frei in unse- betroffenen Spätaussiedler bedeuten könnte, hat mit rem Land bewegen zu können. Die Notwendigkeit, die bisherige Situation zu ändern, ist hinlänglich beschrie- dazu beigetragen, dass es seinerzeit bei Erlass des Geset- ben worden. Letzten Endes stehen wir natürlich dazu. zes eine breite Zustimmung zu den wesentlichen Punk- ten dieses Wohnortzuweisungsgesetzes gegeben hat. Integrationswillen und Integrationsfähigkeit dieser Menschen zu erreichen liegt natürlich nicht im Rege- Versetzt man sich aber einmal in die Lage dieser lungsbereich dieses Gesetzes. Das ist Aufgabe der Kom- Menschen, die dieser Prozedur unterliegen – das wurde munen und der Träger vor Ort. Hier geht es, wie ich eben schon angesprochen –, kann man sich allerdings schon ausführte, hauptsächlich um die Kostenverteilung leicht vorstellen, dass diese mit anderen Hoffnungen und zwischen Kommunen und Trägern. Vorstellungen in die Bundesrepublik gekommen sind. Sehr häufig leben Verwandte schon in Deutschland. Sie Deswegen ist es besonders gut, dass wir einen weite- wollen natürlich gerne in deren Nähe ziehen. Sogar bei ren Härtegrund einführen werden, nämlich den der sehr nahen Verwandten – etwa Kindern oder Eltern, aber Erleichterung der Arbeitsaufnahme. Ich halte es für auch bei Eheleuten oder Lebenspartnern – kann es sein, besonders wichtig, dass wir den Menschen die Möglich- dass diese nicht unbedingt an denselben Ort gewiesen keit geben, eine Arbeit an einem anderen Ort auch dann werden. Gott sei Dank sind diese Fälle nicht massenhaft; annehmen zu können, wenn diese ihren Lebensunterhalt (B) aber sie kommen leider vor. noch nicht voll abdeckt. (D)

Unser Grundgesetz, das die Familie in Art. 6 unter Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den besonderen Schutz der staatlichen Gemeinschaft Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern? stellt, gilt aber grundsätzlich für alle Bürgerinnen und Bürger. Deshalb ist es für mich besonders wichtig, dass Hildegard Wester (SPD): in Zukunft Menschen einen Härtegrund geltend machen können, wenn sie in der Situation sind, dass sie von ih- – Ja, noch einen Aspekt. – Es ist von zentraler Bedeu- tung – das weiß jeder hier im Hause –, dass man durch ren Kindern oder ihrem Lebens- bzw. Ehepartner ge- Arbeit die Möglichkeit der Integration in unsere Gesell- trennt sind. schaft hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich freue mich besonders, dass wir gemeinsam diese des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Änderungen an diesem Gesetz vornehmen werden. Die Einführung dieser Härtefallregelung wird mei- Vielen Dank. ner Meinung nach auch die Möglichkeiten der Integra- tion deutlich verbessern und letzten Endes Kosten spa- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren. Denn es ist davon auszugehen, dass diese des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Menschen, die dann wieder in häuslicher Gemeinschaft mit ihren Angehörigen leben, schneller Anstrengungen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: unternehmen werden, in Arbeit zu kommen. Anders als Ich schließe die Aussprache. vorher können sie zum Beispiel unverzüglich darange- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- hen, sich eine gemeinsame Perspektive aufzubauen, und desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- müssen nicht darauf warten, dass die Frist der Bindung rung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen an den Wohnort – sie beträgt drei Jahre – abgelaufen ist. Wohnortes für Spätaussiedler, Drucksache 15/4486. Der Sie können dadurch, dass sie schon früher an den Wohn- Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- ort ihrer Verwandten ziehen, Anstrengungen im Hinblick lung auf Drucksache 15/4950, den Gesetzentwurf in der darauf unternehmen, einen Arbeitsplatz zu finden, und Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die sitzen nicht, wie das vielfach der Fall ist, auf gepackten dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Koffern, um ihren zugewiesenen Wohnort verlassen zu wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – können. Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter 15030 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- – Ich hoffe, dass es weiter so bleibt und dass in den letz- (C) men. ten Minuten nichts mehr anbrennt. Dritte Beratung (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem DIE GRÜNEN]: Hoffentlich ist das Spiel Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – nicht verpfiffen!) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Dem Deutschen Bundestag liegen drei Anträge zu wurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stim- den Fahrgastrechten im öffentlichen Personenverkehr men des ganzen Hauses angenommen. vor. Es ist klar: Der Verbraucherschutz ist ein wesentli- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: ches Anliegen dieser Bundesregierung, gerade auch im Bereich der Eisenbahn und des gesamten öffentlichen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Personenverkehrs. Die Bundesregierung unterstützt da- Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Dr. Klaus bei jede vernünftige Lösung, die auf gesicherten Kennt- W. Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter nissen beruht und den Interessen aller Beteiligten zugute und der Fraktion der CDU/CSU kommt. Zu den Beteiligten gehören zunächst die Reisen- Grünes Licht für gesetzlich normierte Fahr- den, die einen Anspruch auf ein modernes Fahrgastrecht gastrechte haben und sicher, bequem und preiswert fahren wollen. Dazu gehören aber auch die Verkehrsunternehmen, die – Drucksache 15/4504 wissen müssen, welche Qualität sie bieten müssen, und Überweisungsvorschlag: die uns dann sagen, was die Umsetzung eines entspre- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) chenden Fahrgastrechts kostet. Um hierbei zu gesicher- Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und ten Erkenntnissen zu kommen, hat dieses Haus den An- Landwirtschaft trag der Koalition „Qualitätsoffensive im öffentlichen Ausschuss für Tourismus Personenverkehr – Verbraucherschutz und Kundenrechte Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union stärken“ angenommen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Um eine umfassende neutrale Prüfung zu ermögli- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und chen, hat die Bundesregierung in Umsetzung dieses Be- Wohnungswesen (14. Ausschuss) schlusses ein Gutachten in Auftrag gegeben. Darin – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H. wird, wie es eine ordentliche Recherche erfordert, zu- Carstensen (Nordstrand), Dirk Fischer (Ham- nächst einmal eine Bestandsaufnahme gemacht. Das burg), Ursula Heinen, weiterer Abgeordneter Gutachten soll Antwort auf die folgenden Fragen geben: (B) und der Fraktion der CDU/CSU Welche Rechte gibt es bislang bei den einzelnen Ver- (D) kehrsträgern? Kann man bessere Standards, zum Bei- Mehr Rechte für Fahrgäste im öffentlichen spiel aus dem Luftverkehr, einfach übertragen oder sind Personenverkehr die Verhältnisse so unterschiedlich, dass man unter- – zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun schiedliche Regelungen braucht? Welches Bild ergibt Kopp, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, wei- sich im europäischen Vergleich? Was wird die Umset- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zung von Fahrgastrechten kosten? Wie wirken sich gege- Haftung der Deutschen Bahn AG für Ver- benenfalls verbesserte Haftungsregelungen auf die Fahr- spätungen einführen preise aus? – Drucksachen 15/1236, 15/1711, 15/3233 – Wir erwarten das Gutachten für den Sommer dieses Jahres. Die Forschung wird, wie Sie vielleicht wissen, Berichterstattung: von einem Ausschuss begleitet, in dem die Unternehmen Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich und die Verbraucherschützer, aber auch die so genannte Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die neutrale Bank zusammenkommen und der die Forscher Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre bei der Erarbeitung dieses Gutachtens unterstützt. Es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. geht uns dabei um eine breite, solide, seriöse Basis. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- Die Tatsache, dass ein Gutachten erstellt wird, führt mentarische Staatssekretär Achim Großmann. aber nicht dazu, dass wir die Hände in den Schoß legen. Ich will Ihnen das an einigen Beispielen zeigen. Wir er- Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- warten, dass in Kürze das Vertragsgesetz zur Änderung desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: des Übereinkommens über den internationalen Eisen- bahnverkehr in Kraft tritt. Dann wird es international Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und und national eine Haftung für Verspätungen und für Kollegen! Dass ich ausgerechnet dann sprechen muss, Ausfälle von Zügen geben. Das heißt, es gibt dann nach wenn sich Alemannia Aachen im Schlussspurt befindet, § 17 der Eisenbahn-Verkehrsordnung einen Anspruch um im UEFA-Pokal eine Runde weiterzukommen, trifft auf Erstattung von Übernachtungs- und Benachrichti- mich sehr hart. gungskosten. Ein großes Ärgernis jedes gestrandeten (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Es sieht ja sehr gut Reisenden, nämlich den völligen Haftungsausschluss bei aus! – Hans-Peter Kemper [SPD]: Wie steht es Ausfall und Verspätung von Zügen, gibt es dann nicht denn?) mehr. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15031

Parl. Staatssekretär Achim Großmann (A) Ein Weiteres: Auf Betreiben der Bundesregierung Verbraucherschutz. Deshalb sage ich noch einmal: War- (C) gibt es nun bei der Deutschen Bahn AG eine Kunden- ten wir, bevor wir mit weiteren Aktivitäten beginnen, charta Fernverkehr mit einem doppelten verbraucher- das Gutachten und den anschließenden Bericht der Bun- schutzrechtlichen Gewinn: Zum einen gibt es dadurch desregierung ab. seit Oktober letzten Jahres Beförderungsbedingungen, die einen einklagbaren Anspruch auf Entschädigung bei (Eduard Lintner [CDU/CSU]: Warten können einer Verspätung von mehr als 60 Minuten einführen. Sie ja gut!) Zum anderen ist die in der Kundencharta Fernverkehr Erst auf dieser Grundlage kann entschieden werden, ob vereinbarte Schlichtungsstelle Mobilität ins Leben geru- und welche Änderungen des geltenden Personenbeförde- fen worden und hat ihre Arbeit aufgenommen. rungsrechts vorgeschlagen werden können. Ich bin si- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ cher, dass Regelungen gefunden werden, die den Ver- DIE GRÜNEN]: Und zwar erfolgreich!) braucherschutz ausreichend berücksichtigen, ohne dass die wirtschaftliche Betätigung der Verkehrsunternehmen Die DB AG hat sich zur Unterstützung dieser von der mit all den aufgezeigten negativen Folgen unangemes- Bundesregierung initiierten neutralen und verkehrsträ- sen beeinträchtigt oder die öffentliche Hand über Gebühr gerübergreifenden Einrichtung verpflichtet. Diese belastet wird. Die Komplexität der Materie gebietet eine Schlichtungsstelle wird zunächst durch das Verbraucher- seriöse und in allen Konsequenzen durchdachte Reform. schutzministerium als Projekt für drei Jahre gefördert Ich denke, darüber sind wir uns alle einig. und erhält für seine Arbeit 1,5 Millionen Euro. Danach soll sie sich durch Beiträge der Verkehrsunternehmen Vielen Dank. tragen, die sich der Schlichtungsstelle freiwillig an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schließen können. Sie fördert die außergerichtliche Bei- DIE GRÜNEN) legung von Streitigkeiten. Der Schlichtungsvorschlag lässt aber den Rechtsweg offen, sodass niemandem, der sich hier beteiligt, Rechte verloren gehen. Zurzeit bietet Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: diese Schlichtungsstelle ihre Hilfe bei Problemen im Nächster Redner ist der Kollege Eduard Lintner, Bahn- und Flugverkehr an; später soll noch der Schiffs- CDU/CSU-Fraktion. verkehr hinzukommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Dinge im Fluss neten der FDP) sind, ist Folgendes: Die Europäische Kommission hat im Rahmen des dritten Eisenbahnpaketes einen Vorschlag Eduard Lintner (CDU/CSU): (B) für eine Verordnung vorgelegt, in der die Fahrgastrechte Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (D) im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr geregelt Kollegen! Herr Staatssekretär Großmann, ich reibe mir werden. Die Bundesregierung beteiligt sich intensiv an etwas verwundert die Augen; denn normalerweise über- diesen Diskussionen. Auch in diesem Paket müssen wir schlagen sich vor allem die Grünen, wenn es darum geht, sowohl die Chancen als auch die Risiken – darüber habe Haftungsregelungen zu schaffen, die der jeweiligen ich eben schon gesprochen – berücksichtigen. Kundschaft – notfalls wider jede Praktikabilität und Beim Luftverkehr sind wir schon einen Schritt wei- ohne Rücksicht auf die Kosten – maximalen Schutz ver- ter. Mit dem In-Kraft-Treten der Denied-Boarding-Ver- leihen sollen. Wenn es aber um die Deutsche Bahn geht, ordnung vom 17. Februar 2005 ist eine weitere Stärkung wollen die Damen und Herren von der Koalition von ih- der Fluggastrechte erreicht worden. Die Beträge für rer sonst an den Tag gelegten Strenge überhaupt nichts Entschädigungen, die die Fluggesellschaften ihren Pas- mehr wissen. sagieren bei Nichtbeförderung zahlen müssen, sind an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gehoben worden. Außerdem werden Ansprüche auf Ent- schädigungen und die Unterstützung bei der Streichung Von Ihnen werden – die Rede, die Sie gerade gehalten von Flügen und großen Verspätungen garantiert. Die zu- haben, war dafür ein gutes Beispiel – angebliche Verbes- ständige Beschwerde- und Durchsetzungsstelle für serungen gerühmt, obwohl sich materiell-rechtlich ei- Deutschland ist das Luftfahrt-Bundesamt in Braun- gentlich nur sehr wenig geändert hat. schweig. Es wertet die Beschwerden der Passagiere da- Meine Damen und Herren, zwar hat die Bahn zum raufhin aus, ob die Luftfahrtunternehmen die Bestim- 1. Oktober die ihren Fahrgästen ihrer Meinung nach mungen der Verordnung korrekt umgesetzt haben, und zustehenden Rechte schriftlich in einer ein wenig groß- ergreift im Falle von Verstößen geeignete Maßnahmen spurig als Kundencharta bezeichneten Regelung fixiert. gegenüber den Unternehmen. Dabei handelt es sich allerdings lediglich um Geschäfts- Meine Damen und Herren, Sie sehen: Die Bundes- bedingungen, die die Bahn jederzeit einseitig ändern regierung schreibt den Verbraucherschutz auch im Ver- kann. kehrsbereich groß. (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Oh ja! Mehr Die Maxime lautet offenbar: Der Kunde soll nur so viele Schein als Sein!) Rechte haben, wie es die Bahn in Einschätzung der Ge- Aber, liebe Opposition – auch das sage ich ganz fechtslage für absolut unvermeidbar hält. Herausgekom- deutlich –, ein Mehr an Anträgen bringt kein Mehr an men sind dabei alles andere als ausgewogene und die 15032 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Eduard Lintner (A) Interessen der Kunden angemessen berücksichtigende Die Regelungen gelten im Übrigen nur für die Fernzüge (C) Schadenersatzregelungen. und nicht für Regionalzüge. Deshalb kann man das Ur- teil der Stiftung Warentest nur uneingeschränkt nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – vollziehen. Gudrun Kopp [FDP]: Traurig!) Das Beispiel der Deutschen Bahn zeigt, wie berech- So ist zum Beispiel auch das Urteil der Stiftung Wa- tigt die Einschätzung der EU-Kommission ist – und rentest entsprechend drastisch und negativ. Ihr Fazit lau- dem haben wir uns ja angeschlossen –, dass die Kunden- tet wörtlich: „Die Kunden haben keine Rechte und kön- rechte im Schienenpersonenverkehr vom Gesetzgeber nen bestenfalls auf Kulanz hoffen.“ selbst geregelt werden müssen und nicht nur über Allge- meine Geschäftsbedingungen der Unternehmen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau rich- tig! Skandal!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch im Vorschlag der Europäischen Kommission, auf Eine solche Regelung hätte im Übrigen den Vorteil, dass den Sie abgestellt haben, wird die Notwendigkeit gese- sie für alle Schienenpersonenverkehr betreibenden Ge- hen, die Kundenrechte gesetzlich zu normieren, statt sie sellschaften gelten würde und nicht nur, wie hier, für die nur in AGBs, also einseitig, zu regeln. Deutsche Bahn AG allein. Jetzt muss sich der Kunde – ich stelle mir das plastisch vor –, wenn er Züge von In Art. 10 des einschlägigen Ratsdokuments schlägt verschiedenen Eisenbahnunternehmen benutzt, durch die Kommission für den Fall von Verspätungen und Aus- voneinander abweichende Allgemeine Geschäftsbedin- fällen eine Regelung vor, die weitaus großzügiger und gungen wühlen, wenn er zu seiner Entschädigung kom- kundenfreundlicher als die Regelung ist, die in der Kun- men will. dencharta der Deutschen Bahn vorgesehen ist. Es geht nicht darum, von der Bahn Unzumutbares zu Die Bahn will mit ihren Formulierungen zugleich verlangen; dies zeigt bereits die Tatsache, dass eine sicherstellen, dass § 17 der Eisenbahn-Verkehrsordnung ganze Reihe anderer Unternehmen – im Ausland wie im weiterhin Gültigkeit hat, der bis heute jegliche Ansprü- Inland, auch beim Schienenpersonennahverkehr – weit- che von Bahnkunden bei Verspätung und Zugausfall aus- aus großzügigere Regelungen vorgesehen haben. Das schließt. Das heißt im Klartext: Über die von der Bahn beweist wiederum, dass das Betreiben von Schienenper- gewährten Entschädigungsansprüche hinaus wird es sonenverkehr auch unter kundenfreundlicheren Haf- auch künftig keine weiteren Verpflichtungen gegenüber tungsbedingungen durchaus möglich ist. den Kunden geben. Besonders problematisch für die (B) Kunden – ich bitte Sie, sich das noch einmal zu über- ( [Zingst] [CDU/CSU]: Das sind (D) legen – ist, dass die Bahn nur bei eigenem Verschulden Tatsachen!) haften will. Was zunächst recht plausibel klingt, führt in der Praxis in vielen Fällen zu einem Haftungsaus- Dass die Bahn bei der von ihr selbst gestalteten Kun- schluss. Denn der Kunde muss der Bahn ihr eigenes Ver- dencharta vor allem ihre eigenen Interessen im Auge schulden nachweisen. Einen solchen Beweis kann der hat, kann man ihr nicht vorwerfen: Der Vorstand hat die Kunde ohne die aktive Mitwirkung der Bahn aber meist Aufgabe, die Interessen des Unternehmens bestmöglich nicht führen. Der Kunde ist also überhaupt nicht in der zu vertreten; dazu gehört sicher auch die Abwehr von Lage, einen entsprechenden Einwand der Bahn zu wi- Schadenersatzforderungen. Zu beklagen ist aber, dass derlegen. Dies ist umso gravierender, als wir mittler- die Parteien der Regierungskoalition nicht für den im weile wissen, dass der größte Teil der Verspätungen eben Sinne des Bahnkunden nötigen Interessenausgleich sor- nicht, wie von der Bahn in der Vergangenheit oft be- gen. Politische Interessenvertretung ist hier gefragt und hauptet, auf irgendwelche dem Einfluss der Bahn entzo- nicht Verharmlosung und Wegschauen, wie Sie, Herr gene Ursachen zurückzuführen ist. Vielmehr liegt er im Staatssekretär, es leider gerade praktiziert haben. Verantwortungsbereich der Bahn selbst; nur kann der Meine Damen und Herren, die Chance, für einen opti- Kunde den Beweis dafür normalerweise nicht führen. malen Schutz der Bahnkunden zu sorgen, besteht immer Auch die Höhe der vorgesehenen Entschädigung ist noch; es ist noch nicht zu spät. Ich darf Sie herzlich ein- eigentlich blamabel: Selbst bei mehreren Stunden Ver- laden, sich noch eines Besseren zu besinnen und mit uns spätung werden nur 20 Prozent des Fahrkartenwertes er- zusammen ein gerechtes und ausgewogenes Haftungs- setzt – und auch das nicht in bar, sondern als Reisegut- recht für den Schienenpersonenverkehr zu schaffen, schein, der wiederum nur beim Erwerb einer neuen auch damit Sie Ihrem eigenen Anspruch, den Sie so gern Fahrkarte eingesetzt werden kann. Nur am Rande plakativ vor sich hertragen, gerecht werden: eine kun- möchte ich hier bemerken: Gerade die für die Bahn be- denfreundliche Regierung zu sein. sonders attraktiven Kunden, nämlich die Netzkartenin- Vielen Dank. haber, gehen völlig leer aus: Sie haben nichts von einem Reisegutschein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Uwe Beckmeyer [SPD]: So wie Sie! – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: GRÜNEN]: Seien Sie doch froh, dass Sie eine Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken, Netzkarte haben!) Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15033

(A) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich möchte noch sagen, was mich an dem Beitrag der (C) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau CDU/CSU ganz besonders gefreut hat Präsidentin! Sie hätten es fast angesprochen: Ein großes (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Don- Lob gebührt NRW, nämlich den Ministern Frau Höhn nerwetter, Lob von der falschen Seite!) und Herr Horstmann, – und ich nehme an, dass dieser Gedanke auch in dem (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Und dem Beitrag der FDP zum Ausdruck kommen wird –: Sie tre- Herrn Lintner für seine Rede!) ten in einem weit gefächerten Wirtschaftsbereich mit die im Gegensatz zur Opposition einen sehr guten und sehr vielen Arbeitsplätzen für überaus weitgehende Haf- konkreten Vorschlag zur Verbesserung der Fahrgast- tungsregelungen im Sinne des Verbraucherschutzes ein. rechte vor allem im Nahverkehr vorgelegt haben. Auch Ich finde, das steht in einem erstaunlichen Gegensatz zu die Pauschalierung und Deckelung wurden übrigens be- Ihrem Agieren zum Beispiel im Bereich der Gentechnik. rücksichtigt. Ich denke, Sie können nichts anderes tun, Dort verteufeln Sie genau die Haftungsregelungen, die als zur Wahl dieser Regierung in NRW aufzurufen. Sie hier vehement einfordern. Das ist eine bemerkens- werte Angelegenheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Gitta Connemann [CDU/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU]: Unser Antrag liegt eineinhalb Jahre län- und bei der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/ ger vor! Peinliches Thema!) CSU]: Super Vergleich!) Rot-Grün bearbeitet dieses Thema mit einer auch in Ich höre jetzt mit Freude, dass Sie die verschuldens- der Praxis wirksamen Doppelstrategie. Vieles ist gerade unabhängige Haftung analog dem BGB hier eifrig ver- auch Dank des Engagements unserer Verbraucherminis- treten. Ich erwarte, dass Sie das auch in allen anderen terin, Frau Künast, erreicht worden. Bereichen tun. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das viele Herzlichen Dank. Loben wird jetzt aber langsam langweilig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es gibt in der Praxis tatsächlich konkrete Verbesse- und bei der SPD) rungen – neben dem, was Herr Großmann schon vorge- stellt hat –: kundenfreundliche Änderung der Bahntarife; Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Erhalt der Speisewagen; Wiedereinführung der Bahn- Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp, card 50. Sie haben im Übrigen Recht: Die Bahn könnte FDP-Fraktion. natürlich auch noch ihr Image „aufhübschen“. Sie sucht (B) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Jetzt (D) ja gerade nach einem neuen Namen und sollte versu- kommt was Vernünftiges!) chen, ihr Image durch einen besseren Kundenservice zu verbessern. Gudrun Kopp (FDP): Es gibt die bereits vorgestellte DB-Kundencharta und Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und die Schlichtungsstelle Mobilität, die, das möchte ich hier Damen! Die Deutsche Bahn AG kann es sich aussuchen: einmal sagen, ihre Arbeit sehr erfolgreich aufgenommen Möchte sie ein normales Unternehmen sein oder möchte hat. Ich denke, unsere Überlegung war richtig, hier auch sie ein gemeinwohlorientierter Staatsbetrieb sein? den Flugverkehr einbeziehen zu wollen. Bei einem Großteil der Anfragen bei der Schlichtungsstelle Mobi- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist genau lität geht es um den Flugverkehr. Eine Zusammenfüh- die Frage!) rung in diesem Bereich wäre sicher auch für die Zukunft Diese Bundesregierung gibt der Deutschen Bahn AG die gut. Möglichkeit, eine Sonderstellung einzunehmen und Son- Wir warten nun auf die Entscheidungsgrundlagen, derrechte als Monopolist für sich in Anspruch zu neh- also auf das bereits erwähnte Gutachten und die noch men. Wir reiben uns die Augen: Die rot-grüne Bundesre- eingehenden EU-Vorschläge. Ich bin davon überzeugt, gierung stellt den Verbraucherschutz hier plötzlich sehr dass das eine gute Grundlage sein wird, auf der eine sys- weit hinten an. Ich nenne Ihnen drei Tatsachen, die dies tematische Auswertung und Bewertung dessen, was not- untermauern: wendig ist, erfolgen kann. Erste Bevorzugung. Gemessen an der Verkehrsleis- Noch zu Ihrem Antrag: Das, was Sie einfordern, ist tung wird die Infrastruktur der Deutschen Bahn AG, schon längst erfüllt. also das Schienennetz, vom Staat in etwa viermal so hoch bezuschusst wie alle anderen Verkehrsträger. (Gudrun Kopp [FDP]: Was? Das gibt es doch nicht!) (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Das ist sehr interessant, Frau Kollegin!) Ich nenne beispielsweise die Punkte betreffend die Schlichtungsstelle und die Fahrplanauskunft. Ich denke, Die zweite Bevorzugung der Deutschen Bahn AG be- dass wir auf der Grundlage der Gutachten, die uns vor- zieht sich auf die Finanzierung des Schienennetzes. Dort liegen werden, weitere Maßnahmen diskutieren werden. gewährt die Bundesregierung der Deutschen Bahn AG verlorene Zuschüsse, also Zuschüsse, die nicht zurück- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr peinlich!) bezahlt werden müssen. 15034 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Gudrun Kopp (A) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden heute über die Verbesserung der Fahrgast- (C) Haben Sie etwas gegen Wirtschaft?) rechte. Das ist im Verkehrsbereich ein wichtiges Thema. Jede neue Regelung, die wir einführen wollen, muss den Damit soll die Bahn von Abschreibungen entlastet und Gesamtmarkt des öffentlichen Verkehrs regeln. Das ihr wirtschaftlich geholfen werden. Das ist Staatswirt- heißt, es geht um die gleichen Rechte für Bus, Straßen- schaft und hat mit Marktwirtschaft nichts zu tun. bahn, U-Bahn und S-Bahn; denn Regionalverkehr und (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Fernverkehr müssen gleichgestellt werden. Wenn wir DIE GRÜNEN]: Das ist Investitionstätigkeit! – Gesetze erlassen, brauchen wir einen einheitlichen Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wol- Rahmen. Selbstverständlich muss dies für alle Unter- len doch, dass wir investieren!) nehmen gelten. Dritte Bevorzugung. Im Nahverkehr werden der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschen Bahn AG aus dem Mineralölsteueraufkom- DIE GRÜNEN) men pro Jahr 7 Milliarden Euro an Zuschüssen für die Sie suggerieren einfache und unkomplizierte Lösun- Bereitstellung von Zügen gezahlt. Die Aufträge für diese gen. Herr Kollege Lintner, ich bin enttäuscht: Sie for- 7 Milliarden Euro werden sogar zu 90 Prozent ohne jeg- dern die Aufhebung des Haftungsausschlusses nach § 17 liche Ausschreibung vergeben. der EVO, der Eisenbahn-Verkehrsverordnung. Ich erin- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ nere an die Vereinbarungen im COTIF-Abkommen. DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!) Wenn dies von allen ratifiziert wird, wird der aktuell gel- tende § 17 EVO geändert. Die Bundesrepublik hat die- Die Verhandlungen sind meist geheim und die Mittel ses Abkommen schon längst unterschrieben. Das heißt, werden entsprechend durchgereicht. Dies ist eine über- es gilt fortan die Haftung bei Ausfall, Verspätung und mäßige Bevorzugung der Deutschen Bahn AG. Anschlussversäumnis auch für die Kunden der DB AG. Wir als FDP-Bundestagsfraktion fordern eine Gleich- Dies ist richtig so. stellung der Deutschen Bahn AG bei den Haftungsrege- Die Kollegin Höfken hat schon auf die Kundencharta lungen, wie sie für alle anderen Unternehmen auch gel- hingewiesen, die seit dem 1. Oktober des vergangenen ten. Jahres auf der Tagesordnung ist. Sie ist ein richtiger und (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE wichtiger Schritt. Aber mit dem Einstieg in die Verbes- GRÜNEN]: Zum Beispiel im Luftverkehr!) serung der Kundenrechte bei der DB AG sind wir sicher nicht am Ende der Diskussion angelangt. Mit der neu Wir möchten, dass die Verbraucher ein Recht auf Ent- eingerichteten Schlichtungsstelle werden die Sorgen und (B) schädigung haben. Sie sollen nicht wie jemand auftreten Nöte der Kunden aufgegriffen. (D) müssen, der von der Kulanz der Bahn AG abhängig ist. Wir fordern die rot-grüne Bundesregierung auf, ihren Wir müssen vor dem Hintergrund des Verkehrsmark- hehren Worten endlich Taten folgen zu lassen und diesen tes immer Folgenutzen und -risiken abschätzen. Da Sonderstatus der Deutschen Bahn AG zum Wohle des muss ich Ihnen vorwerfen, dass Sie das in Ihren Anträ- Verbraucherschutzes zu beenden. Mehr Rechte für Ver- gen überhaupt nicht berücksichtigen. Selbstverständlich braucher – Sie sollten beweisen, dass es Ihnen damit ist die Verbesserung des Schutzes der Verbraucher. Darin ernst ist. liegt der Nutzen für die Verbraucher. Vielen Dank. Wir haben aber auch folgende Situation: Wenn das öf- fentliche Unternehmen versucht, das Haftungsrisiko zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) minimieren und dies nicht ausschließlich über Qualitäts- steigerungen erreicht werden kann, dann kann das be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: deuten, dass Taktverkehre gestrichen werden. Dann Das Wort hat die Kollegin Karin Rehbock-Zureich, stellt sich die Frage: Werden wir möglicherweise das SPD-Fraktion. Kind mit dem Bade ausschütten? Wollen wir, dass der Verbraucher aufgrund der starken Haftungsregelungen zwar eine Ausfallentschädigung bekommt, der Zug aber Karin Rehbock-Zureich (SPD): nicht mehr fährt, weil der Taktverkehr, der bisher in en- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und gem zeitlichem Abstand stattgefunden hat, nicht mehr Herren! Liebe Frau Kopp, ich möchte darauf hinweisen, vorhanden ist? Das kann nicht im Interesse der Verkehrs- dass Investitionen sicherlich im Sinne der FDP sind, politik sein. (Gudrun Kopp [FDP]: Auf Staatskosten?) Wichtig ist, wie wir dieses für die Verbraucher wich- weil wir durch Investitionen ins Schienennetz – so wie tige Thema handhaben. Der richtige Schritt ist, dass wir durch Investitionen in Straßennetze – Arbeitsplätze er- uns im Sommer das Gutachten anschauen, das von der halten und sichern. Aber das ist nicht Ihr Thema. Man Bundesregierung in Auftrag gegeben wurde. Daraus hat Ihnen angemerkt, dass Sie sich damit nicht beschäf- müssen wir Schlussfolgerungen ziehen und dann müssen tigt haben. wir entscheiden, wo wir noch Handlungsbedarf haben und welche Folgen Veränderungen zeitigen. Dann haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir eine Entscheidung auf den Weg gebracht, die im DIE GRÜNEN) Sinne der Verbraucher ist, aber auch im Sinne des Ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15035

Karin Rehbock-Zureich (A) kehrsmarktes. Das bedeutet: weiterhin bezahlbare Preise Nicht ohne Grund urteilt auch die Präsidentin des Ver- (C) und gute Verbindungen. braucherzentrale Bundesverbandes, Professor Edda Müller, in einer Pressemitteilung vom 1. Dezember Vielen Dank. 2004: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Für Teile der Bundesregierung scheint es die Ver- braucher als Fahrgäste … einfach nicht zu geben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sehr richtig. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion. So sieht es auch die Europäische Kommission. Sie fordert in ihrem Verordnungsvorschlag vom 3. März (Beifall bei der CDU/CSU) 2004 – ich zitiere –:

Gitta Connemann (CDU/CSU): … Fragen, beispielsweise zur Haftung des Eisen- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Berlin, bahnunternehmens, zu Ausgleichszahlungen bei 3. Februar 2004. Auf dem Spielplan steht großes Staats- Verspätungen und Zugausfällen … müssen jedoch theater. Der Titel des Stücks: „Der entrechtete Fahrgast“ gesetzgeberisch statt durch freiwillige Vereinbarun- oder „Die Kundencharta der Bahn“. Spielort: die Bun- gen … geregelt werden, um die Durchsetzbarkeit despressekonferenz. Hauptdarsteller: Ministerin Künast, der Fahrgastrechte zu gewährleisten. Minister Stolpe und der Vorstandsvorsitzende der Deut- Die Bundesregierung hat nicht reagiert. Abwarten statt schen Bahn AG, Hartmut Mehdorn. Stimmung: traute Anpacken heißt einmal mehr die Devise, und zwar zu- Eintracht. Alle drei sind sich einig, ein großes Werk zu lasten der Fahrgäste. Das ist eine unendliche Geschichte. präsentieren. Denken Sie nur an das Kapitel mit der Überschrift (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Ist das „Trennung von Netz und Betrieb“. Es geht um mehr ein Drama?) Wettbewerb auf der Schiene, und zwar zugunsten der Fahrgäste. Die Kritiker urteilen allerdings später „Drama“ bzw. „Posse“. Ich zitiere insoweit den Fahrgastverband „Pro (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sagen Sie dazu mal Bahn“: etwas Genaueres!) Das Getöse, mit dem diese Charta der Presse vorge- Die Geschichte stockt. Es wird eine Taskforce eingesetzt. stellt wurde, steht wieder einmal in umgekehrtem Der Kanzler beruft dafür nur einen einzigen Eisenbahnun- (B) Verhältnis zur wirklichen Leistung. ternehmer: Hartmut Mehdorn. Die Taskforce sprach sich (D) (Beifall bei der CDU/CSU) später – oh Wunder – für den Verbleib des Schienennetzes unter dem Dach der Deutschen Bahn AG aus. Eine Posse! Der Inhalt des Stücks: Die Bahn verpflichtet sich, ihren Kunden eine Entschädigung von 20 Prozent bei Verspä- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Ist das ein Beschluss tungen oder Zugausfällen zu zahlen, allerdings nur im des CDU-Parteitags?) Fernverkehr, nicht bei verspäteten Anschlusszügen usw. Oder denken Sie an das Kapitel mit der Überschrift Die Liste der Fälle, in denen der Kunde nach wie vor mit „Den Bock zum Gärtner gemacht“. 2003 forderten wir, leeren Händen dasteht, ist außerordentlich lang. die Mitglieder des Bundestages, die Bundesregierung Was sagt jetzt die selbst ernannte oberste Verbrau- auf, endlich einen Gesetzentwurf für eine verbindliche cherschützerin dieses Landes? Regelung der Rechte von Fahrgästen vorzulegen. Die Bundesregierung tat, was sie gerne tut: Sie schrieb ein (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Gutachten aus, und zwar zu dem Thema: Wie können die DIE GRÜNEN]: Ernannt wurde sie vom Bun- Kundenrechte gestärkt werden? deskanzler, nicht von sich selbst!) Ich zitiere Ministerin Künast aus einer Pressemitteilung Wer aber erhielt den Auftrag? – Der ehemalige Chef- vom 3. Februar 2004: jurist der Bahn, jetzt Geschäftsführer einer Bahntochter. Damit wurde der Bock zum Gärtner gemacht. Die Kundencharta der Bahn hat für den Verbrau- cherschutz Vorbildcharakter … Gesetzliche Rege- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- lungen für die Bahn erscheinen deshalb nicht not- wie der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) wendig … Diese Posse war so offensichtlich, dass das Gutachten (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das wollen neu ausgeschrieben werden musste. Das war übrigens Sie doch sonst immer!) auch für Bundesminister Stolpe eine peinliche Situation. Passiert ist in Sachen Stärkung der Fahrgastrechte seit- Das ist Hohn in den Ohren jedes Fahrgastes. Frau Minis- her nichts. terin Künast weiß doch selbst: Die Bahn kann das We- nige, das sie zugesteht, jederzeit ändern; denn es sind nur Das wird mittlerweile sogar den eigenen Parteifreun- Allgemeine Geschäftsbedingungen. Nach wie vor gilt den zuviel. So fordert die nordrhein-westfälische Ver- die Eisenbahn-Verkehrsordnung aus dem Jahre 1938, die braucherschutzministerin Bärbel Höhn in einer Presse- sämtliche Haftungen für den Reisenden ausschließt. mitteilung vom 10. November 2004, dass „die veralteten 15036 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Gitta Connemann (A) Haftungsprivilegien … in der Eisenbahn-Verkehrsord- Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), (C) nung für die Anbieter von öffentlichen Verkehrsmitteln weiterer Abgeordneter und der Fraktion des gestrichen werden“ müssten. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Mit Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften oder ohne Visum?) stärken Ich gratuliere zu dieser Erkenntnis. Genau das steht in – Drucksache 15/4539 – unseren Anträgen. Offensichtlich beginnt auch Rot-Grün Überweisungsvorschlag: – jedenfalls auf Landesebene – langsam zu erkennen, Ausschuss für Bildung, Forschung und dass die Rechte der Fahrgäste verbessert werden müs- Technikfolgenabschätzung (f) sen. Wir fordern dies schon lange. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Unsere Anträge für eine Stärkung der Rechte von Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Fahrgästen liegen seit 2003 vor. Sie, meine Damen und Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Herren von der Koalition, haben alle abgelehnt – und keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zwar ohne Zögern –, unter anderem mit der dünnen Be- gründung, ein Gesetzgebungsverfahren dauere zu lang. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Swen Schulz, SPD-Fraktion. Meine Damen und Herren von der Koalition, das kön- nen Sie heute ändern. Stimmen Sie unseren Anträgen zu! (Beifall bei der SPD) Sie haben ohnehin schon zuviel Zeit vertan. Es ist die Aufgabe einer Bundesregierung, die Rechte der Verbrau- Swen Schulz (Spandau) (SPD): cher zu schützen – nicht mit schönen Worten, sondern Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und mit Taten. Kommen Sie endlich Ihrer Pflicht nach, da- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutie- mit, wenn im nächsten Jahr der Vorhang für Sie fällt, we- ren heute die Stärkung der Geistes-, Sozial- und Kultur- nigstens einer klatscht: der Fahrgast! wissenschaften – endlich, möchte ich sagen. Denn wenn (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wir im Parlament wie auch in der sonstigen politischen neten der FDP) Debatte über Wissenschaft und Forschung sprechen, dann geht es oftmals in erster Linie um die Ingenieur- und Naturwissenschaften und die Steigerung der techno- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: logischen Leistungsfähigkeit. Das ist ohne Zweifel von Ich schließe die Aussprache. zentraler Bedeutung. (B) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Aber ich glaube, dass wir die Finanzierung der Wis- (D) Drucksache 15/4504 an die in der Tagesordnung aufge- senschaft gelegentlich zu einseitig mit ihrer volkswirt- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- schaftlichen Bedeutung begründen. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Tagesordnungspunkt 12 b: Wir kommen zur Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- Ohne Frage ist das ein Trend der Politik, ja der Gesell- und Wohnungswesen auf Drucksache 15/3233. Der Aus- schaft: Alles muss effizient und effektiv sein. schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh- Wir Bildungs- und Forschungspolitiker haben, woll- lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/ ten bzw. mussten uns auf diese Sprache und diese Krite- CSU auf Drucksache 15/1236 mit dem Titel „Mehr rien einlassen. Wer Unterstützung für sein Politikfeld or- Rechte für Fahrgäste im öffentlichen Personenverkehr“. ganisieren will und sogar mehr Geld dafür haben Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- möchte, muss deutlich machen, wofür es gut ist, besser probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gesagt: welchen Gewinn es bringt. mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Wenn wir aber Wissenschaft mit diesem Maßstab messen, kommen Leute schnell auf die Idee, zwischen Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt ertragreichen und weniger lukrativen Wissenschaften zu der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion unterscheiden. Wissenschaftspolitik wird zum Invest- der FDP auf Drucksache 15/1711 mit dem Titel „Haf- ment der öffentlichen Hand, gemessen an Gewinnkate- tung der Deutschen Bahn AG für Verspätungen einfüh- gorien der Privatwirtschaft. Der Wissenschaftsminister ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Hamburgs streicht dann eben ein Drittel der Geistes- und genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Sozialwissenschaften und der Berliner Finanzsenator ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen fragt sich, wozu denn diese vielen Germanisten gut sein der FDP und der CDU/CSU angenommen. sollen. Diese Klage könnte ich ausführlicher gestalten, Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: aber die Aufforderung ist klar: Wir dürfen keine kurz- sichtige Ökonomisierung der Bildungs- sowie der Wis- Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen senschafts- und Forschungspolitik zulassen. Schulz (Spandau), Heinz Schmitt (Landau), Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der SPD sowie der Abgeordneten Ursula Sowa, DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15037

Swen Schulz (Spandau) (A) Wir müssen ebenfalls realisieren, dass die Wissen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) schaft kein leicht steuerbares System ist. Wir können DIE GRÜNEN) nicht einfach oben Geld hineinstecken und glauben, dass unten Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze heraus- Wenn ich zu Beginn meiner Rede einen Dualismus kommen. Wissenschaft ist ein komplexes System. Nicht zwischen Ökonomie und Geist, zwischen Nützlichkeit immer können wir vorher wissen, was hinterher nützlich und Wissenschaftsfreiheit angedeutet habe, dann möchte sein wird. Wir wissen aber im Grundsatz – das haben wir ich nun darauf hinweisen, dass dieser, wenn wir das Wis- auch in unserem Antrag festgehalten –, dass Geistes-, senschaftssystem gut organisieren, überwindbar ist. Die Sozial- und Kulturwissenschaften einen spezifischen spannendsten Entwicklungen entstehen an den Berüh- und unverzichtbaren Beitrag zur Förderung von gesell- rungspunkten von Disziplinen und in Teamarbeit. In- schaftlichen Innovationen leisten, wobei das beschrie- genieure und Naturwissenschaftler treffen Geistes-, So- bene Steuerungsproblem ebenfalls besteht. Auch die zial- und Kulturwissenschaftler, solche Projekte Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sind nicht benötigen wir dringend. Eine Stärkung der Geistes-, So- einfach nach Nützlichkeitskriterien zu lenken. Man kann zial- und Kulturwissenschaften führt somit letztlich doch nicht oben Geld hineinstecken und unten kommen Frie- zur Stärkung der Leistungsfähigkeit Deutschlands, und den, Integration und Gerechtigkeit heraus. Vielleicht zwar sowohl in technologischer als auch in gesellschaft- muss auch nicht alles auf den ersten Blick nützlich sein. licher Hinsicht. Reduzieren wir also dieses Gerede und beginnen wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wieder, Bildung und Wissenschaft um ihrer selbst willen DIE GRÜNEN) mit Freude und ohne Hintergedanken zu fördern, zumin- dest ein bisschen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition – von der CDU/CSU sind leider nur zwei Kollegen an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wesend –, ich denke, dies ist ein Feld, auf dem wir DIE GRÜNEN) durchaus zusammenarbeiten können. – Nun ist Herr von Wenn man sich die Wissenschaftsgeschichte an- Klaeden, die Nummer drei, erschienen. Schönen Dank! schaut, dann ist ganz deutlich, dass Innovationen Ich biete Ihnen für die Regierungskoalition ausdrücklich schwerlich geplant werden können, sondern dass sie ent- das Gespräch an. Wir wollen eine Anhörung zu dem stehen, wenn der Wissenschaft Raum, Zeit und Mittel Thema Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften dafür gelassen werden. Es ist ebenfalls fraglich, inwie- durchführen. Es wäre gut, wenn wir die Vorlage von weit eine Steuerung vorgenommen werden sollte. Poli- SPD und Grüne gemeinsam fortentwickeln könnten. Das tik agiert tendenziell kurzatmig, bei den einen mehr, bei wäre bei allem Streit, den wir an anderen Stellen haben, den anderen weniger. Wer hat sich schon für die Bil- auch ein positives Signal für die politische Kultur. (B) (D) dungsforschung interessiert, bevor es die PISA-Studie Herzlichen Dank. gab? Ich behaupte: Wenn es nach der Mehrheit der Poli- tik und der Bevölkerung gegangen wäre, hätten wir die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bildungsforschung möglicherweise eingestellt und das DIE GRÜNEN) Geld für andere Zwecke genutzt. Es gibt viele weitere Beispiele dafür, von der Friedensforschung bis zu den Is- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lamwissenschaften. Letztere haben heute Nachmittag in Das Wort hat der Kollege Bernward Müller von der der Debatte über die auswärtige Kulturpolitik eine Rolle CDU/CSU-Fraktion. gespielt. Gleichwohl kann mein Petitum hier kaum darauf ab- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt zielen, einfach nur den Wissenschaftlern mehr Geld zu [Salzgitter] [SPD]: Er hat hier leider nicht geben und uns auf das Warten und Hoffen zu beschrän- viele Mitstreiter bei diesem Thema!) ken. Die Freiheit der Wissenschaft darf nicht zum Alibi für die Selbstverwirklichung von Wissenschaftlern wer- Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): den. Die Öffentlichkeit hat das Recht, zu erfahren und zu Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und kontrollieren, was mit den eingesetzten staatlichen Mit- Herren! Herr Schulz, lassen Sie mich zunächst eine Vor- teln geschieht. Die Politik muss sehr wohl Schwerpunkte bemerkung machen. Bei der Darstellung Ihres Antrags im öffentlichen Interesse setzen dürfen. Aber Politik ist deutlich geworden, dass man Ihnen in dem zustim- muss der Wissenschaft auch einen freien Raum lassen, in men kann, was Sie über die Rolle, die Wichtigkeit der dem nicht die Nützlichkeit von Forschung überprüft Geisteswissenschaften sagen, wird, wohl aber ihre wissenschaftliche Exzellenz. Wir haben das in dem Antrag von SPD und Grünen festge- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: halten. Qualitätskontrolle und ausgeprägter Wille zur Das ist doch erfreulich!) Veränderung sind für alle Wissenschaften wichtig, auch dass es aber noch einen erheblichen Diskussionsbedarf für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Da- bezüglich des konkreten Inhalts Ihres Antrags gibt. Da- bei sind Evaluierungen und der Wettbewerb als Steue- rauf werde ich noch zu sprechen kommen. rungsinstrumente hilfreich. Das ist aber etwas anderes als eine kurzsichtige Ökonomisierung. Wir dürfen die Genauso wie Sie freue ich mich darüber, dass wir uns Wissenschaft nicht dem freien Spiel der Marktkräfte un- heute mit dem Thema Geisteswissenschaften befassen. terwerfen. Ich bin allerdings nicht mit dem einverstanden, was in 15038 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Bernward Müller (Gera) (A) Ihrem Antrag geschrieben steht. Dazu habe ich einige delei, die Sie bezüglich der Politik der Bundesregierung (C) kritische Anmerkungen zu machen. betreiben, als substanziellen Beitrag zur Förderung der Geisteswissenschaften bezeichnen? Das reicht nicht. Die Es ist wichtig, dass wir über die Situation der Geistes- Geisteswissenschaften brauchen mehr als eine Beweih- wissenschaften sprechen; denn von vielen Wissenschaft- räucherung der Bundesregierung und Ihre Sonntagsre- lern wird festgestellt, dass es seit etwa 15 Jahren einen den. stetigen Abbau der Kapazitäten und der Mittel im Be- reich der geisteswissenschaftlichen Forschung und Kommen wir also zum Herz des Antrags, zum Forde- Lehre gibt. Scherzhafterweise könnte man sagen: Den rungskatalog im Abschnitt III. Im Grundsatz kann ich Universitäten geht der Geist aus. Ihren Vorschlägen hinsichtlich der Forschungskollegs und der Förderung des Akademieprogramms zur Grund- (Zurufe von der SPD) lagenforschung zustimmen. – Ich habe betont: scherzhafterweise. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist Kritisch zu erwähnen ist auch die Lage in den so doch schon mal was!) genannten kleinen Fächern wie Archäologie oder klassi- – Jawohl, das kann ja auch eine Basis sein. – Das sind sche Philosophie. Diese Fächer kämpfen um ihre Legiti- wirksame Instrumente zur Stärkung der Geisteswissen- mation im Wettstreit mit einer zunehmend naturwissen- schaften in Deutschland. schaftlich orientierten Gesellschaft. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehen Sie! Doch wer nun hofft – sicherlich gibt es viele Men- schen, die darauf hoffen, meine sehr verehrten Damen Donnerwetter!) und Herren insbesondere von der Koalition –, dass Ihr Hier sollten wir in der weiteren Diskussion ansetzen und Antrag dazu geeignet ist, zur Verbesserung der Lage der deutlich herausarbeiten, wie diese Instrumente konkret Geisteswissenschaften beizutragen, der wird angesichts aussehen und produktiv eingesetzt werden können. der Fassung Ihres Antrags, die uns heute vorliegt, ent- täuscht sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das glaube ich nicht!) Doch dann enthalten Ihre Forderungen auch Aspekte, die nicht nur mich, sondern auch andere in Staunen ver- Ihr so genannter Antrag geht allenfalls als Willensbe- setzen. Bitte erklären Sie mir: Wie kommen Sie gerade kundung durch. Um es klar zu sagen: Der Antrag ist eine in diesem Zusammenhang dazu, ein besonderes Gewicht (B) Ansammlung vager, unbestimmter, globaler Aussagen. auf die Förderung in Ostdeutschland zu legen? Um Ost- (D) Er enthält nichts, was von den Wissenschaftlern konkret deutschland zu helfen, gibt es eine ganze Reihe anderer eingefordert werden könnte. Felder, auf denen Sie sich betätigen können. Haben Sie Schauen wir uns das noch genauer an. Wir beginnen fundierte Hinweise darauf, dass es besondere Defizite in mit dem Titel. Darin heißt es: Geistes-, Sozial- und Kul- den Geisteswissenschaften in den neuen Bundesländern turwissenschaften stärken. – Es ist schon ein Zeichen da- gibt? Ich komme aus einem neuen Bundesland und das für, wie wenig Sie sich mit der Thematik befasst haben würde mich sehr interessieren. Mir ist kein spezifischer müssen, wenn Sie gerade die Geistes-, Sozial- und Kul- Bedarf bekannt. turwissenschaften einfach in einen Topf werfen. Die So- Ist es nicht eher so, dass in den Geisteswissenschaften zialwissenschaften, die sich meist einer empirischen Me- an den Universitäten und Hochschulen der neuen Länder thodik bedienen und somit den Naturwissenschaften gerade seit der Wende ein frischer Wind mit jungen, ehr- nahe sind, stehen zum Beispiel in einem ganz anderen geizigen Professoren weht? Ich habe den Eindruck, dass Kontext als die Geisteswissenschaften. Ihre Forderungen in dieser Hinsicht schematisch in je- Ihre Initiative differenziert nicht ausreichend und dem Antrag auftauchen müssen. führt zu einer unscharfen Benennung aller drei Wissen- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nein, so schaftszweige und damit im Ergebnis zu einer diffusen was machen wir nicht!) Zielsetzung des gesamten Antrags. Damit ist niemandem geholfen, zuletzt den Geisteswissenschaften, die, anders Ich möchte mich noch kurz der Finanzierungsfrage als die in unsere Gesellschaftskultur gut integrierten So- zuwenden. Wichtig ist: Wir brauchen eine solide Finan- zialwissenschaften, unter erheblichen Legitimationspro- zierung, natürlich auf der Basis des Haushalts. Aber blemen leiden. Ich plädiere daher für eine klare und wenn man so etwas in Ihrem Antrag konkret sucht: Fehl- deutliche Definition dessen, was gemeint ist und was anzeige! Fehlanzeige gilt auch, was die Finanzierung der besser als bisher gefördert werden soll. Umsetzung der Vorschläge angeht. Somit leidet Ihre begrüßenswerte Initiative schon an (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Machen wir der Grundkonzeption. Ihrem Antrag fehlen Klarheit und das zusammen! Machen wir das!) konkrete Zielsetzung. Es fehlt noch mehr. Man fragt sich: Wo findet sich in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Abschnitt II die Substanz? Oder wollen Sie etwa – ich Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen. gebrauche dieses Wort jetzt einfach einmal – die Lobhu- Schauen Sie bitte auf die Uhr! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15039

(A) Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): der Sinn- und Identitätsfrage der Menschen (Philo- (C) Fehlanzeige gilt darüber hinaus in Bezug auf Um- sophie, Theologie, Psychologie). Sie sind damit schichtungsmöglichkeiten. Sie haben den Antrag ver- Grundlage für das Verständnis der Welt, … fasst. Das hätte da sicherlich hineingehört. Wenn man Mit einem Wort: Besonders wir hier im Bundestag soll- sich die einzelnen Punkte dieses Antrags etwas genauer ten von der wichtigen Funktion der Geistes-, Sozial- und anschaut, dann sieht man: Sie wollen auch hier hineinre- Kulturwissenschaften für unsere Gesellschaft überzeugt gieren. Sie sprechen von „Autonomie“. sein.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir sind heute mit komplexen Prozessen wie der Er- Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen. weiterung und dem Zusammenwachsen des europäi- schen Raums oder der Globalisierung konfrontiert und müssen deren Folgen bewältigen. Die Geistes-, Sozial- Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): und Kulturwissenschaften stellen Methoden bereit, um Danke, Frau Präsidentin. – Aber in Wahrheit geht es diese politischen und kulturellen Entwicklungen und Ihnen um das Hineinregieren. Sie bestellen die Musik; Prozesse zu reflektieren und zu analysieren. Sie wollen sie aber nicht bezahlen. Das kann so nicht weitergehen. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms) Ich komme zum Schluss. Sie haben die Anhörung an- gesprochen. Wir als Union werden Ihnen geeignete Vor- Vielleicht brauchen wir sie auch des Öfteren in der Poli- schläge unterbreiten, die zur Weiterentwicklung dieser tik. Frage beitragen. Ich kann Sie nur auffordern, mit uns zu- Was heißt das nun konkret für einzelne Fächer, zum sammenzuarbeiten. Beispiel die Islamwissenschaft? Vor den Ereignissen Herzlichen Dank. des 11. September 2001 galt sie als ein klassisches Bei- spiel für ein so genanntes exotisches oder Orchideen- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: fach. Die Islamwissenschaft beschäftigt sich mit histori- Bringen Sie Geld mit!) schen und gegenwärtigen islamischen Gesellschaften. Eine ihre Aufgaben besteht meines Erachtens darin, fun- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dierte Kenntnisse über eine Weltkultur und wichtige Das Wort hat die Kollegin Ursula Sowa, Bündnis 90/ Nachbarkultur Europas zu erarbeiten und an uns zu ver- Die Grünen. mitteln. Im besten Falle stellt besseres gegenseitiges Verstehen einen entscheidenden Beitrag zur Konfliktprä- (B) (Beifall bei der SPD) vention dar. (D)

Ursula Sowa (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kurzum: Die Geistes-, Sozial- und Kulturwissen- schaften stehen wie die Kunst schnell unter dem Gene- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ralverdacht des L’art pour l’art und des Luxus, den sich Als Nichtgeisteswissenschaftlerin stehe ich voll und eine Gesellschaft gleichsam leisten können muss. Ange- ganz hinter diesem Antrag. Ich habe recherchieren las- sichts der aktuell schwierigen ökonomischen Situation sen, welche Berufsgruppen hier im Bundestag vertreten geraten, wie auch meine Vorredner gesagt haben, gerade sind. Abgesehen von der überraschenden Erkenntnis die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in Be- – ich habe keine Aufsplitterung nach Fraktionen vorneh- drängnis. Um den Fokus der Innovationsinitiative der men lassen –, dass gut 75 Prozent über eine abgeschlos- Bundesregierung, die ich für richtig und wichtig halte, sene Hochschulbildung verfügen, war ich auch über die auch auf die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften Fächeraufteilung erstaunt, die sich – bei allen Unschär- zu richten, haben wir aus den Regierungsfraktionen die- fen – abgezeichnet hat. Der Anteil der Geistes-, Sozial- sen Antrag eingebracht. und Kulturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen unter ihnen überflügelt sogar den der Juristen, die fast (Beifall bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salz- genauso stark sind wie die Naturwissenschaftler und die gitter] [SPD]: Wir klatschen für die Grünen Ingenieure; das ist doch erstaunlich. So gesehen, müsste mit!) in diesem Hause eigentlich eine sehr starke Lobby für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften vorhan- – Ich danke Ihnen. Der Geist ist manchmal unsichtbar. den sein. Der Punkt, der mir darin am allerwichtigsten ist, ist die Beförderung eines neuen strukturellen Förderkon- Um mit Professor Böckenförde aus Freiburg zu spre- zepts für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften chen: in Form von themenzentrierten interdisziplinär arbeiten- Was betreiben und vermitteln denn die Geisteswis- den Forschungskollegs. Sie bieten die Chance, die Stär- senschaften? Sie bewahren, erweitern und vermit- ken der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu teln je von Neuem das Wissen über die eigene Spra- befördern, die beispielsweise in transdisziplinären und che, Geschichte, Literatur und Kunst; über die auch interkulturellen Perspektiven bestehen. Wie ich Bedingungen und Möglichkeiten des Zusammenle- hoffe, bietet der aufgrund der Blockadehaltung der bens und Zusammenwirkens von Menschen in einer CDU-geführten Bundesländer bisher leider auf Eis Gesellschaft (Recht, Ökonomie, Soziologie); über liegende Exzellenzwettbewerb – 500 Millionen Euro die Selbstvergewisserung und die Beantwortung liegen hier auf Eis, lieber Herr Müller; ich bin davon 15040 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Ursula Sowa (A) überzeugt, dass man sich eines Besseren belehren lässt – Herr Schulz, wir sind gern bereit – Sie wissen das –, im (C) die Gelegenheit zur Errichtung solcher Forschungs- Ausschuss Anträge zu unterstützen; wir tun das auch kollegs. häufiger. Aber der Antrag, den Sie uns vorgelegt haben, spiegelt so ungefähr alles wider, was sich nach unserem (Beifall bei der SPD) Dafürhalten eine rot-grüne Mannschaft so an Gutem in Wir unterstreichen die Bedeutung der Geistes-, So- dieser Welt vorstellen kann. Das ist uns entschieden zu zial- und Kulturwissenschaften allerdings nicht nur mit wenig. wohlfeilen Worten, sondern haben gleichzeitig dafür ge- (Lachen bei der SPD – Bernward Müller sorgt, dass im Haushalt 2005 für die Geisteswissen- [Gera] [CDU/CSU]: Wohl wahr! Wir wollen schaften sage und schreibe 1,5 Millionen Euro mehr zur Taten sehen!) Verfügung stehen, Überlegen Sie einmal, was alles darin ist! Es ist die (Beifall bei der SPD) Geschlechterforschung darin. Es ist die Friedens- und Konfliktforschung darin. Es sind die Migrations- und die während die CDU/CSU in den Haushaltsverhandlungen Integrationsforschung darin. Es sind natürlich der gesell- um 1,9 Millionen Euro kürzen wollte. schaftliche Diskurs, die Humanisierung der Arbeitswelt, das kontextbezogene Studium und die interkulturelle (Beifall bei der SPD – Zurufe von der SPD: Bildung darin. Es ist sozusagen ein Stakkato all der Vo- Hört! Hört! – Bernward Müller [Gera] [CDU/ kabeln, die man bei Ihnen natürlich auch sofort vermu- CSU]: Wir wollen ein Mehr an Aufwuchs! tet. Wir werden im Laufe dieser Debatte einen eigenen Förderung, nicht Status quo!) Antrag einbringen. Dann können wir vergleichen, wer in Ich möchte mit Folgendem schließen: Die Geistes-, diesem Lande mehr für die Geisteswissenschaften tut: Sozial- und Kulturwissenschaften sind nicht das Aschen- Sie oder wir. puttel der Wissenschaft, das in Dreck und in Lumpen ge- (Beifall bei der FDP – Ursula Sowa [BÜND- hüllt sein Leben fristen und sich seiner Existenz schä- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Wettbewerb der men muss. Allerdings lässt sich das grimmsche Märchen Exzellenzen! Wunderbar!) nicht nur als Überwindung von sozialen Grenzen durch Bescheidenheit, Fleiß und Unterwürfigkeit lesen. Nun lassen Sie uns etwas zur Realität zurückkehren. Aschenputtel war in der Lage, die sozialen und kulturel- Erstens. Sie haben gerade gesagt, im Haushalt spie- len Differenzen zum Königshof und vor allem zum Kö- gele sich die von Ihnen geforderte Schwerpunktsetzung nigssohn zu überwinden. Oder denken Sie etwa, dass sie wider. Einen Schwerpunkt legen Sie in Ihrem Antrag auf an drei Abenden schweigend mit ihm getanzt hat und er Ostdeutschland. Angesichts dessen frage ich mich natür- (B) allein dadurch von ihr so hingerissen war? Mit einer Por- lich, warum Sie die geistes- und bildungswissenschaftli- (D) tion Ungehorsam, Klugheit und kulturwissenschaftli- chen Einrichtungen der Blauen Liste seit Jahren so chem Wissen lässt sich sogar ein Prinz gewinnen. merkwürdig behandeln. Im Jahre 2003 begann die Un- terstützung mit einem Etat in Höhe von 21,4 Millionen, In diesem Sinne danke ich Ihnen. inzwischen liegt er bei 18,1 Millionen. Das ist die Reali- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Bernward tät. Sie steht im Gegensatz zu dem Antrag, in dem so ge- Müller [Gera] [CDU/CSU] – Eckart von tan wird, als ob Geistes- und Sozialwissenschaften vor Klaeden [CDU/CSU]: Endlich mal eine Mo- allen Dingen im ostdeutschen Raum besonders gestärkt narchistin im Parlament! – Bernward Müller würden. [Gera] [CDU/CSU]: Und das von den Grü- (Otto Fricke [FDP]: Pfui!) nen!) Zweitens. Ihr Hätschelkind, die Deutsche Stiftung Friedensforschung: Sie haben Mittel in Höhe von der- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zeit 1 Million Euro eingestellt, um das Stiftungskapital Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach von der FDP- zu erhöhen. Unabhängig von der Tatsache, ob diese Stif- Fraktion. tung es wert ist, dem Volk weitere Schulden aufzubür- den, frage ich mich natürlich, ob Sie sich wirklich ein- mal ernsthaft überlegt haben, ob diese Stiftung auch das Ulrike Flach (FDP): bringt, was wir uns alle erhoffen. Die paar Männeken, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die dort arbeiten, sollen jetzt erneut mehr Mittel bekom- Herr Schulz, Frau Sowa, dass die FDP die Bedeutung men, um sie dann weiterzugeben. der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sehr hoch einschätzt, dürfte Ihnen genauso bekannt sein wie (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Na, na, uns. ziemlich despektierlich!) (Ursula Sowa [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ziehen damit eine Zwischenebene ein, während andere Da bin ich erleichtert!) Stiftungen in diesem Land, die sich seit vielen Jahren in- tensiv mit Friedens- und Konfliktforschung befassen, so- Trotzdem, so muss ich sagen, haben wir große Probleme zusagen draußen im Regen stehen. Diesen Einsatz von mit dem Antrag, den Sie uns vorgelegt haben. Geld kann die FDP so mit Sicherheit nicht unterstützen. (Beifall des Abg. Bernward Müller [Gera] (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das [CDU/CSU]) wissen wir!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15041

Ulrike Flach (A) Nun wissen wir natürlich, dass bei so kurzen Debat- uns in den nächsten Wochen daran arbeiten! Vielleicht (C) tenpunkten der FDP nur drei Minuten zustehen. So bekommen wir da etwas hin. möchte ich zum Schluss noch auf einen Punkt hinwei- Wir machen uns also heute stark für Geistes-, Sozial- sen: Nach der Debatte, die wir heute Mittag alle zusam- und Kulturwissenschaften, also für Wissenschaften, die men gegen die Kollegen von CDU/CSU geführt haben, eigentlich nicht so – wir haben es ja schon mehrfach ge- finde ich es sehr grotesk, dass Sie uns heute Abend einen hört – im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, insbe- Antrag vorlegen, in dem Sie so tun, als ob Sie gemein- sondere im Vergleich zu den Naturwissenschaften. Wir sam mit den Ländern etwas stemmen könnten. verfolgen jährlich die Verleihung der Nobelpreise, die (Marion Seib [CDU/CSU]: Richtig! – Swen insbesondere für wissenschaftliche Höchstleistungen in Schulz [Spandau] [SPD]: Wir sollten es versu- den Naturwissenschaften vergeben werden. Mit Natur- chen!) wissenschaften verbinden wir Innovation, technischen Fortschritt, neue Märkte, wirtschaftliches Wachstum, Dies ist angesichts der derzeitigen Situation – so könnte Arbeitsplätze und vor allen Dingen Gewinne. Es braucht man fast sagen – eine Verdummdeubelung dieses The- daher umso mehr Überzeugungskraft, um Investitionen mas. Sie haben so viele Kühe auf dem Eis, die Sie nicht in Gesellschaftswissenschaften zu begründen. Wir sind herunterbekommen, weil die Länder blockieren. zwar als Entscheidungsträger tagtäglich mit den Ergeb- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist ja frauen- nissen – Frau Flach, das ist wichtig – der Geistes- und feindlich! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sozialwissenschaften befasst, die Beurteilung dieser Doch, mit Ihrer Hilfe, Frau Flach!) Forschungen und deren Stellenwert hängen aber oft von der politischen Einstellung ab. Jetzt aber stellen Sie eine neue Kuh dazu. Das wird nichts werden, Herr Schulz. Warten wir also lieber, bis Wir erinnern uns doch – Sie haben es gerade bestä- unser Antrag kommt. Der wird besser sein. tigt –, wie schwer sich manche bei der Friedens- und Konfliktforschung tun. Weil diese einer politischen (Beifall bei der FDP) Bewertung unterliegt, ist nicht selten die Neigung zu beobachten, gesellschaftswissenschaftliche Forschung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: geringer als die so genannten exakten Naturwissenschaf- Das Wort hat der Kollege Heinz Schmitt von der ten zu schätzen. SPD-Fraktion. (Ulrike Flach [FDP]: Das tun wir ja nicht, Herr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schmitt!) DIE GRÜNEN) Die Gesellschaftswissenschaften sind dennoch von (B) (D) herausragender Bedeutung, auch wenn ihre Beurteilung Heinz Schmitt (Landau) (SPD): durchaus unterschiedlich ausfällt. Sie sind Korrektiv, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ideengeber und Wegweiser für künftige Entwicklungen Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Flach, und versetzen uns in die Lage, den technischen und na- leider kommt von der FDP nichts Neues außer den übli- turwissenschaftlichen Fortschritt mit humanen Gesichts- chen Standardvorurteilen, dass Friedensforschung nichts punkten, mit sozialen Werten und mit Orientierung zu tauge, 1 Million dafür zu viel sei usw. Sie hätten gestern verbinden und zu begleiten. Ohne diese Orientierung Nachmittag mit mir zu einer Veranstaltung gehen sollen, wäre der technische Fortschritt blind und damit frag- an der Friedensforscherinnen und Friedensforscher aus würdig. Außerdem werfen Geistes-, Sozial- und Kultur- der ganzen Republik teilgenommen haben. Da ging es wissenschaften interdisziplinäre und interkulturelle nicht um Geld, sondern um Inhalte. Fragestellungen auf und bringen fachübergreifende For- (Otto Fricke [FDP]: Also brauchen Sie das schungsprojekte in Gang. Geld nicht!) Gerade den politischen Entscheidungen müssen künf- Schade, dass Sie nicht dabei waren, denn dann würden tig vermehrt ganzheitliche Betrachtungen zugrunde Sie sich heute nicht so unqualifiziert äußern. liegen. Als ein Beispiel nenne ich die demographische Entwicklung: Warum kommen in unserem Land mit sei- (Beifall bei der SPD) nem nach wie vor sehr hohen Wohlstand immer weniger Kinder zur Welt? Warum entscheiden sich gerade junge Das war gestern eine sehr wichtige Erfahrung. Das Geld Akademikerinnen nicht für Kinder und Familie? ist dort sehr wohl gut angelegt. (Ute Kumpf [SPD]: Weil die Männer schwä- Natürlich müssen wir als Politiker auch die richtigen cheln! Das ist ein Problem der Männer, nicht Schlüsse aus den Forschungsergebnissen ziehen, also für der Frauen! – Ulrike Flach [FDP]: Weil die eine bessere Verzahnung der Erkenntnisse mit unserer Männer fehlen!) Arbeit sorgen. Das Geld ist dort viel besser investiert als in Rüstungsprojekten. Darüber sollten wir uns einig sein. – Wenn Sie das so schnell beurteilen können, dann be- wundere ich Ihre Weitsicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Heiterkeit) Herr Müller, Sie haben erfreulicherweise das Signal gegeben, dass wir gemeinsam etwas machen können. Zwei weitere Beispiele: Was bedeuten die Verände- Das haben wir wohlwollend aufgenommen. Lassen Sie rungen in der modernen Arbeitswelt oder die rasante 15042 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Heinz Schmitt (Landau) (A) Entwicklung der IuK-Technologien für die Menschen im Die Geisteswissenschaften spielen eine zu wichtige (C) Allgemeinen und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Rolle, als dass sie an den Rand gedrängt werden dürften. nehmer im Speziellen? Gibt es Zusammenhänge zwi- Die geisteswissenschaftlichen Fächer sind in ihrer Breite schen bestimmten Krankheiten und Lebensereignissen und Vielfalt absolut notwendig, um in der Gesellschaft der Menschen? Es gibt Zusammenhänge; diese müssen verantwortungsvolle Debatten über ethische Fragen aber noch aufbereitet werden. führen zu können. Der Streit um das therapeutische Klo- nen hat eindrucksvoll gezeigt, dass Geisteswissenschaf- Ich trete mit Überzeugung für starke Gesellschafts- ten dort Antworten geben können, wo die Naturwissen- wissenschaften ein, weil, wie wir eben schon gehört ha- schaften schweigen müssen. ben, gegenwärtig tief greifende Umstrukturierungen in der Wissenschaftslandschaft und an den Universitäten (Ulrike Flach [FDP]: Jetzt hätte ich so gerne stattfinden. geklatscht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Geisteswissenschaften hinterfragen den techni- DIE GRÜNEN) schen Fortschritt, bieten Lösungen abseits ausgetretener Pfade an und entwickeln Visionen, von denen auch die Auch die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften Naturwissenschaften profitieren. Die Geisteswissen- stehen damit vor neuen Herausforderungen. Es ist uns schaften sind aber wie die Naturwissenschaften gefor- deshalb besonders wichtig, diese Disziplinen im Wand- dert, mit den gewaltigen Veränderungen in Wissenschaft lungsprozess zu unterstützen und ihnen auch in Zukunft und Forschung Schritt zu halten. Den gegenwärtigen einen gebührenden Platz in der Wissenschaftslandschaft Prozess der Umgestaltung müssen sie als eine besondere zu sichern. Chance zum Herausstreichen ihres Stellenwertes begrei- Die Veränderungen in der Wissenschafts- und For- fen. schungslandschaft dürfen nicht zulasten der Gesell- schaftswissenschaften insgesamt gehen. Geistes- und Momentan sind die Geisteswissenschaften durch eine Sozialwissenschaften brauchen auch in Zukunft unsere breite Vielfalt eng definierter wissenschaftlicher Spezial- besondere Wertschätzung und müssen weiterhin bei po- disziplinen geprägt. Die Zersplitterung der Fächer hat litischen Entscheidungen Berücksichtigung finden. dabei ein oftmals nicht mehr sinnvolles Maß erreicht. Ein wichtiger Beitrag der Geistes-, Sozial- und Kultur- Mit unserem Antrag haben wir Vorschläge gemacht, wissenschaftler zur Stärkung ihrer eigenen Disziplinen wie dies zu erreichen ist. Frau Flach, Sie haben die muss darin liegen, sich zu vernetzen, interdisziplinär zu Schwerpunkte aufgezeigt. Ich danke Ihnen herzlich, dass arbeiten und Schwerpunkte zu bilden. Sie unseren Antrag so schön wiedergegeben und seine (B) Schwerpunkte betont haben. Ich bitte Sie alle um Zu- Aufgabe der Politik ist es, darauf zu achten, dass (D) stimmung zu unserem wichtigen und richtungweisenden diese Neuordnung nicht zu einer Schwächung, sondern Antrag. Es wäre gut – Zeichen dafür gibt es –, wenn wir zu einer Stärkung der Ressourcen führt. Damit diese bei diesem Thema parteienübergreifend zusammenkom- Aufgabe erfolgreich bewältigt werden kann, müssen men könnten. Schwerpunkte gesetzt werden. Ein erster Schwerpunkt liegt in der Betonung des Elitebewusstseins auch und ge- Herzlichen Dank. rade in den Geisteswissenschaften. Hier agieren die be- troffenen Wissenschaftler oftmals noch viel zu zaghaft. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Naturwissenschaften haben es geschafft, sich in der Öffentlichkeit als Schrittmacher, als Elite zu positio- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nieren. Gleiches müssen wir bei den Geisteswissen- Das Wort hat jetzt die Kollegin Marion Seib von der schaften erreichen. CDU/CSU-Fraktion. (Zuruf von der SPD: Haben wir doch!)

Marion Seib (CDU/CSU): In Bayern sind die ersten Schritte in diese Richtung be- reits mit der Gründung des Elitenetzwerks getan worden. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Hier sind Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften Damen und Herren! Die Wissenschaftslandschaft in gleichberechtigt mit Natur- und Ingenieurwissenschaften Deutschland befindet sich im Umbruch; dies wissen wir in einen optimalen Förderrahmen eingebunden. Hier alle. Forschungsprojekte, die hohe Drittmittel und eine kann interdisziplinär und überuniversitär geforscht wer- schnelle Verwertung versprechen, haben in solchen Zei- den. ten oftmals sehr viel bessere Karten als die langfristigen Projekte der Geisteswissenschaften. Deshalb stehen die In Ihrem Antrag haben Sie die Bedeutung des For- Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften unter einem schungskollegs für die Profilierung der geisteswissen- enormen Rechtfertigungsdruck. schaftlichen Forschung hervorgehoben. Gerne werden (Ute Kumpf [SPD]: Und das im Jahr wir diesen Ball aufnehmen. Denn Geistes-, Sozial- und Schillers!) Kulturwissenschaftler benötigen derzeit zwei Dinge in ganz besonderem Maße: Zeit für die Forschung, das Diese Entwicklung kann nicht kommentarlos hingenom- heißt Entlastung von zeitintensiven Prüfungs- und Lehr- men werden. Hier sind wir mit Ihnen allen einer Mei- verpflichtungen, sowie Orte für das grenzüberschrei- nung. tende, interdisziplinäre Gespräch. Derartige Orte können Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15043

Marion Seib (A) wichtige Impulse für weitere Forschungsprojekte geben. die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften fit zu (C) Institute in den Vereinigten Staaten haben dies erfolg- machen für den globalen Wissenschaftswettbewerb. reich vorgemacht. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Wir müssen daneben einen öffentlichen Prozess der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Verständigung über die Rolle und die Funktion der Heinz Schmitt [Landau] [SPD]) Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften anstoßen. Das Interesse junger Menschen, ein geisteswissenschaft- liches Fach zu studieren, ist erfreulich groß. Leider spie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gelt sich dieses große Interesse nicht auf dem Arbeits- Ich schließe die Aussprache. markt aufseiten der Arbeitgeber wider. Für die Mehrheit Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Geisteswissenschaftler gibt es jenseits der Universi- Drucksache 15/4539 an die in der Tagesordnung aufge- täten und Forschungseinrichtungen kaum adäquate Ar- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- beitsmöglichkeiten. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Wenn wir die Geistes-, Sozial- und Kulturwissen- so beschlossen. schaften stärken wollen, so kommt es gerade jetzt darauf Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: an, dass die Politologen, Soziologen und Islamwissen- schaftler in der Wirtschaft nicht nur als Exoten wahrge- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nommen werden. Geisteswissenschaftler, die den rauen richts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu Wind der Wirtschaft gespürt haben, dem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert, Peter Letzgus, Norbert Barthle, weiterer Abge- (Ute Rumpf [SPD]: Die bringen Managern in- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU terkulturelle Kompetenz bei!) Internationale sportliche Großveranstaltun- können dazu beitragen, neue Perspektiven in die Wissen- gen gleichermaßen fördern schaft einzubringen. Sie bringen während dieser Zeit aber auch neue Impulse und Sichtweisen in die Wirt- – Drucksachen 15/544, 15/4088 – schaft ein. Berichterstattung: Die Chancen, dass die Firmen und Wirtschaftsver- Abgeordnete Dagmar Freitag Klaus Riegert bände diesem Anliegen Gehör schenken, stehen zurzeit Winfried Hermann nicht schlecht. Der Mangel an jungen, gut ausgebildeten Detlef Parr Arbeitnehmern wird in den nächsten Jahren zunehmen. (B) Die deutsche Wirtschaft wird nicht mehr ausreichend Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu (D) Betriebswirte und Ingenieure in Deutschland finden. Die Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re- Firmen werden gezwungen sein, in Bereichen wie Mar- den der Kollegin Dagmar Freitag und des Kollegen Axel keting, Kommunikationsmanagement und Personalfüh- Schäfer von der SPD sowie der Kollegen Klaus Riegert rung stärker als bisher auf die vermeintlichen Exoten und Eberhard Gienger von der CDU/CSU, des Kollegen zurückzugreifen, zumal die Geisteswissenschaftler in Winfried Hermann vom Bündnis 90/Die Grünen und des besonderem Maße über Fähigkeiten verfügen, auf die es Kollegen Detlef Parr von der FDP.1) in Zukunft ganz besonders ankommt, zum Beispiel die Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- interkulturelle Kommunikationsfähigkeit. fehlung des Sportausschusses auf Drucksache 15/4088 zu Wenn wir über die Rolle der Geisteswissenschaften dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel diskutieren, müssen wir aber aufpassen, dass wir nicht in „Internationale sportliche Großveranstaltungen gleicher- die Ideologiefalle hineingehen. Ihr Antrag macht dies maßen fördern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag deutlich. Zitat: auf Drucksache 15/544 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Gestärkt werden müssen insbesondere die Frauen- Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den und Geschlechterforschung, die Friedens- und Kon- Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen fliktforschung, die Migrations- und Integrationsfor- von CDU/CSU und FDP angenommen. schung sowie die Bildungsforschung … Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: (Ursula Sowa [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Ideologieforschung vergessen!) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes So wichtig einzelne Aspekte der genannten Gebiete auch zur Umsetzung von Vorschlägen zu Bürokra- sein mögen, eine einseitige Betonung dieser Bereiche tieabbau und Deregulierung aus den Regionen führt uns bei der Förderung der Geisteswissenschaften und zur Änderung wohnungsrechtlicher Vor- eher in eine Sackgasse als auf eine Autobahn. Hier muss schriften auch bei Ihnen, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, – Drucksache 15/4231 – noch ein Umdenkungsprozess einsetzen. (Erste Beratung 145. Sitzung) Meine sehr geehrten Damen und Herren, 2007 feiern wir ein Jahr der Geisteswissenschaften. Bis dahin kön- nen wir entscheidende Schritte in die Wege leiten, um 1) Anlage 4 15044 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Frak- (C) ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) tion der CDU/CSU – Drucksache 15/4673 – Das deutsche Biosiegel erfolgreich umsetzen Berichterstattung: – Drucksache 15/4840 – Abgeordneter Walter Hoffmann (Darmstadt) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD Landwirtschaft (f) und des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol- Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen die Reden von Hubertus Heil, SPD, Dr. Michael Fuchs, Reinhold Hemker und Gustav Herzog von der SPD, der CDU/CSU, Birgit Homburger, FDP, Kollegin Marlene Mortler, CDU/CSU, sowie der Kolle- (Beifall bei der SPD) gen Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, und Hans-Michael Goldmann, FDP.3) und Rezzo Schlauch für die Bundesregierung.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Zu diesem Tagesordnungspunkt sind einige Erklärun- Drucksache 15/4840 an die in der Tagesordnung aufge- gen nach § 31 der Geschäftsordnung abgegeben wor- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- den.2) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: von Vorschlägen zu Bürokratieabbau und Deregulierung Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- aus den Regionen und zur Änderung wohnungsrechtlicher gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Vorschriften auf Drucksache 15/4231. Der Ausschuss für zur Regelung bestimmter Altforderungen Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussemp- (Altforderungsregelungsgesetz – AFRG) fehlung auf Drucksache 15/4673, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Än- – Drucksache 15/4640 – derungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis- ses 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. (Erste Beratung 151. Sitzung) (B) Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- (D) sache 15/4938? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält schusses (7. Ausschuss) sich? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen – Drucksache 15/4963 – die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Berichterstattung: Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in Abgeordnete Stephan Hilsberg der Ausschussfassung mit der soeben beschlossenen Än- Manfred Kolbe derung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre damit in zweiter Beratung mit dem gleichen Stimmen- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. verhältnis wie zuvor angenommen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Interfraktionell ist vereinbart, trotz Annahme eines ner dem Kollegen Stephan Hilsberg von der SPD-Frak- Änderungsantrags in der zweiten Beratung unmittelbar tion das Wort. in die dritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einver- standen? – Das ist der Fall. Stephan Hilsberg (SPD): Dritte Beratung Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich sehe gerade, dass viele von Ihnen fluchtartig den Saal und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem verlassen. Ich hoffe, das hängt nicht mit mir, sondern Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – eher mit der Materie zusammen. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis (Otto Fricke [FDP]: Die Regierung sieht das angenommen. auch so!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Das kann ich verstehen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir heute Abend nicht zu reden brauchen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene Dass wir das jetzt tun, hängt mit der in einer Demokratie Mortler, Peter H. Carstensen (Nordstrand), Gerda immer wieder vorkommenden mangelnden Übereinstim- mung zwischen Opposition und Regierung zusammen, 1) Anlage 5 2) Anlage 2 und 3 3) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15045

Stephan Hilsberg (A) was ich aber in diesem spezifischen Fall des Altforde- Unternehmen entschädigt, das nicht mehr existiert. (C) rungsregelungsgesetzes nicht verstehe. Wenn jetzt der Wert des Grundstückes eine deutliche Wertsteigerung erfahren hat, dann ist es völlig legitim, Es gibt bestimmte Vorwürfe gegen das Altforderungs- dass diese Wertsteigerung mit der Entschädigung ver- regelungsgesetz; ich will daher zwei Vorbemerkungen rechnet wird. Denn warum soll der Betreffende zum machen. Ihm wird zum einen vorgeworfen, es befördere Schluss Nutznießer des Entschädigungsprozesses sein? Bürokratie. Das Gegenteil ist der Fall. Durch dieses Ge- Das zahlt dann nämlich der Steuerzahler, das heißt die setz wird die durch das Ausufern langwieriger Rechts- Allgemeinheit. Wenn das eintritt, dann spricht man von streite entstehende Bürokratie verhindert. Es wird dem fehlgeschlagener Entschädigung. Gesetz zum anderen vorgeworfen, es bringe zu wenig Geld in die Kassen des Entschädigungsfonds. Das Ge- Jetzt gibt es dabei noch einen weiteren Punkt; das genteil ist der Fall. Durch dieses Gesetz werden Rück- macht die spezifische Fallgruppe aus. Die Fachleute ha- forderungen in zweistelliger Millionenhöhe geradezu ben uns gesagt: Es sind vielleicht 20 Leute, die das ins- verhindert. Beide Sachverhalte sind vernünftig und sehr gesamt betrifft. Mehr sind das gar nicht. Deshalb reden richtig. wir heute darüber; das muss aber sein. Es handelt sich um eine komplizierte Materie. Wir ha- (Manfred Kolbe [CDU/CSU]: Deshalb ben im Ausschuss lange darüber geredet. Nur diejenigen, machen wir ein Gesetz!) die sich intensiv damit beschäftigen, haben den Genuss, – Ja, das muss sein. Ich habe es am Anfang gesagt, Herr richtig in die Thematik hineinzukommen. Das hängt mit Kolbe: Wenn wir das nicht machen würden, würden im der Materie an sich zusammen. Umkehrschluss Forderungen auf Entschädigungen ent- Wir befinden uns im Entschädigungsrecht auf einem stehen, die bereits nach dem gleichen Prinzip getätigt Rechtsgebiet, in dem der Deutsche Bundestag bereits wurden. Da geht es um eine Forderungssumme in zwei- 1990/1991, als darüber entschieden wurde, aber auch stelliger Millionenhöhe. Das können wir uns nicht leis- Anfang der 50er-Jahre bei Entschädigungen in Vermö- ten. Das hat auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun. gensfragen infolge von NS-Unrecht einen Weg beschrit- Es geht also auch noch um die fehlgeschlagenen Ent- ten hat, auf dem er versuchte, so viel Vermögen wie schädigungen für den Fall, dass gleichzeitig Altkredit- möglich zurückzugeben, so viel wie möglich zu entschä- forderungen zu Buche schlagen. Ich will das an dieser digen, ohne gleichzeitig die Rechte Dritter zu tangieren. Stelle beenden. Das führt zu ausgesprochen komplizierten Rechtsfragen und Rechtsentscheidungen. Wir schaffen Rechtsklarheit und weniger Bürokratie. (B) Wenn man diesen Weg einmal eingeschlagen hat, (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und (D) dann muss man ihn zu Ende gehen. Das ist auch hier der der FDP – Manfred Kolbe [CDU/CSU]: Ein Fall. Dann hat man immer wieder einmal – auch Beschäftigungsprogramm für Rechtsanwälte!) 60 Jahre nach den entsprechenden Fällen, die da zu re- Wir verhindern mit diesem Gesetz – ich sage das ganz geln sind – Regelungsbedarf, damit das, was ursprüng- klar und deutlich –, dass es zu unendlichen Prozessen lich intendiert war, auch tatsächlich umgesetzt werden kommt. Wir müssen diesen Weg gehen. Dies ist gerecht. kann. Um nichts anderes geht es. Das mag kompliziert Es wird keiner begünstigt. Vielmehr muss jeder, der eine sein. Aber dann redet man eben nachts um 21.30 Uhr entsprechende Entschädigung bekommt, alte Kredite da- noch einmal darüber; ich bin gerne bereit dazu. Man gegen aufrechnen. Das ist nur recht und billig so. lernt ja auch durch dieses Gesetz hinzu. Das ist vielleicht nicht schlecht. Dann kommt man etwas häufiger in der Meine Damen und Herren, ich bitte um Zustimmung. Redeliste des Bundestages vor; manche brauchen das. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Worum geht es im Einzelnen? Zwei Punkte sind zu DIE GRÜNEN) regeln. Das Gesetz beinhaltet drei Artikel. Art. 1 be- schäftigt sich mit der Behandlung von alten Krediten, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bei denen der Kreditgeber in den 50er-Jahren seinen Sitz Das Wort hat der Kollege Manfred Kolbe von der in der alten Bundesrepublik hatte. Die entsprechenden CDU/CSU-Fraktion. Vermögenswerte, um die es da geht, haben in der dama- ligen sowjetischen Besatzungszone bzw. in der ehemali- (Ute Kumpf [SPD]: Bitte auch so schnell, Herr gen DDR gelegen. Darum gab es eine Auseinanderset- Kollege Kolbe!) zung vor Gericht. Die hat dazu geführt, dass berechtigte Entschädigungsforderungen nicht eingeholt werden kön- Manfred Kolbe (CDU/CSU): nen. Das regeln wir heute. Das hat im Fachgespräch völ- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch lige Übereinstimmung gefunden; da gab es keine Pro- nach Auffassung meiner Fraktion hätte diese Debatte un- bleme. terbleiben können. Wir wollen dieses Gesetz nicht. Wir werden dieses Gesetz ablehnen. Herr Kollege Hilsberg, Der zweite Fall betrifft das Gebiet der so genannten wir werden sehen, wer zustimmt. Sie werden diesem Ge- fehlgeschlagenen Entschädigungen. Worum geht es setz zustimmen. Von uns aus hätte das Ganze unterblei- bei fehlgeschlagenen Entschädigungen? Folgender Fall: ben können; denn dieses Gesetz ist überflüssig. Jemand erhält ein altes Grundstück zurück, das er einmal besessen hat. Gleichzeitig wird er für ein ehemaliges (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 15046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Manfred Kolbe (A) Herr Kollege Hilsberg, es ist nicht in Ordnung, dass Sie mittlungsverfahren abgeschlossen hatten. Wer damals (C) klammheimlich so etwas beschließen wollen. Wenn Sie dabei war, weiß, dass es eines der schwierigsten Gesetz- schon solch ein Machwerk einbringen, dann müssen Sie gebungsverfahren war. Mit Ihrem Gesetzentwurf möch- auch in öffentlicher Debatte dazu stehen. ten Sie jetzt einen Anspruch gegenüber dem Grund- stückseigentümer bei so genannten fehlgeschlagenen (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Gelbe Anrechnungen begründen, den es bisher bei der Unter- Karte! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- nehmensrestitution nicht gab. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die 20 Betroffenen schauen jetzt zu!) Sie wissen, es gibt die Singularrestitution nach § 3 Worum geht es? Es geht um mehr als 100 Jahre alte Vermögensgesetz. Dort wurde die Grundschuld über den Darlehensforderungen, die hypothekarisch gesichert Ablösebetrag berücksichtigt. Es gibt die Unternehmens- sind, also um Darlehensforderungen aus der Kaiserzeit. restitution nach § 6 Vermögensgesetz. Bei der Unterneh- Nachdem in diesem Zusammenhang zehn Jahre lang mensrestitution und ebenso bei der Restitution einzelner nichts passiert ist, fällt dem Bundesfinanzminister Eichel Betriebsteile nach § 6 Abs. 6 a Vermögensgesetz kam es jetzt auf einmal ein, dass hier vielleicht noch einige Hun- nie zur Eintragung des Ablösebetrages. Vielmehr wurde derttausend, vielleicht auch ein paar Millionen Euro zu die Grundschuld immer nur im Wege der Anrechnung holen sind. Das ist ein Stück aus dem Tollhaus, ein berücksichtigt. Der Unternehmer bekam einen Entschä- Schildbürgerstreich, den wir nicht mitmachen, zumal er digungsbetrag für die Unternehmensteile, die er nicht Leute trifft, die im Osten investiert haben und keinesfalls zurückbekam, zugesprochen. Den Wert der Grund- von Grundstückswertsteigerungen profitieren. Herr stücke, die er zurückbekam, musste er sich auf die Ent- Hilsberg, ich weiß nicht, wo Sie leben. Unsere Wahl- schädigung anrechnen lassen. Da der Wert der Grund- kreise liegen recht nah beieinander. In meinem Wahl- stücke in den Jahren 1991 bis 1993 angerechnet wurde kreis gibt es einen Verfall des Immobilienmarktes und in – damals war er hoch –, ist der Entschädigungsfonds Ihrem Wahlkreis, in der brandenburgischen Provinz, nicht schlecht gefahren. Im Regelfall sind diejenigen sieht es auch nicht besser aus. schlecht gefahren, die sich diese Werte anrechnen lassen mussten. Zusätzlich wurden ehemalige Belastungen an- Art. 1 dieses Gesetzes soll die Rechtsinhaberschaft gerechnet. hinsichtlich dieser Forderungen regeln. Es sind Altdarle- hensforderungen, die aus der Kaiserzeit stammen und Das Modell ist – so weit, so gut – in Ordnung; nur die Kreditinstitute in den westlichen Besatzungszonen kam es teilweise zu so genannten fehlgeschlagenen An- gegenüber Unternehmen aus der sowjetischen Besat- rechnungen, wenn nämlich der Wert der anzurechnenden zungszone hatten. Die Unternehmen im Osten wurden Grundstücke und die Belastungen höher waren als die (B) enteignet. Deshalb gingen die Forderungen ins Leere. Entschädigungssumme. Der Gesetzgeber war sich 1994 (D) Die Institute haben deswegen im Zuge der Währungsre- einig darüber, dass dann der zu zahlende Betrag bei null form von 1948 Ausgleichszahlungen erhalten: Der Bund bleibt: Derjenige, der die Unternehmensteile zurückbe- hat die entsprechenden Ausgleichsforderungen getilgt kam, der dort investierte – wir alle wollten, dass 1992, und ist deshalb jetzt Berechtigter. So ist es bisher gewe- 1993 und 1994 investiert wurde –, musste nichts zahlen, sen und es hätte auch so weitergehen können. Keiner sondern erhielt einen so genannten Nullbescheid. Darauf hätte etwas dagegen. vertraute er. Zehn Jahre lang ist nichts passiert. Auch Ih- nen ist 1998 nicht eingefallen, hier etwas zu ändern. (Stephan Hilsberg [SPD]: Doch! Die Verwal- tungsgeschichte!) Wir haben diese Gesetze 1994 gemeinsam beschlos- sen. Jetzt wollen Sie bei den fehlgeschlagenen Die KfW hat jetzt einen Prozess verloren, bei dem Anrechnungen überall dort, wo Sie wegen so genannter wegen einer Sonderkonstellation – Unternehmenssitz im fehlgeschlagener Anrechnungen noch Luft sehen, neue Westsektor Berlins, besichertes Grundstück in Berlin- Ansprüche gegen die Grundstückseigentümer begrün- Mitte, also im sowjetischen Besatzungssektor – damals den. Das halte ich für verfehlt; denn damit treffen wir Ausgleichsforderungen fehlerhaft zugewiesen worden genau die falsche Gruppe: diejenigen – es gibt in Ost sind, obwohl die Enteignung fehlging. In diesem einen und West Betroffene –, die ihre Grundstücke 1994 nicht Sonderfall hat der Bund, der Entschädigungsfonds, nun verkauft haben, sondern teilweise unter schwierigsten verloren. Was machen Sie? Sie legen ein Gesetz vor, um Bedingungen investiert haben. Ich sage Ihnen: Wenn wir diesen Sonderfall zu regeln. Ich halte das für ein Muster- pro Bundesland nur einen treffen beispiel dafür, wie wir als Gesetzgeber nicht handeln sollten. Wir sind als Gesetzgeber nicht dafür zuständig, (Dr. Volker Wissing [FDP]: Dann ist das einer Einzelfallurteile zu korrigieren. So etwas zu tun, hat im- zu viel!) mer ein Geschmäckle. Ich halte es ferner für überflüssig. Wir alle beklagen die Gesetzesflut; aber wenn es einmal – Sie sagen ja, es handele sich insgesamt um nur 20 bis konkret wird, handeln wir nicht entsprechend. 25 Fälle –, wenn pro Fall nur zehn Arbeitsplätze verlo- ren gehen, dann war das Ganze ein Schuss in den Ofen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der von Ihnen eingebrachte Gesetzentwurf greift in Art. 2 ins Entschädigungsrecht ein, und das mehr als Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktio- zehn Jahre, nachdem wir 1994 ein sehr schwieriges Ge- nen, Sie müssen nicht alles mitmachen, was Ihnen das setzgebungsverfahren in diesem Bereich nach zwei Ver- Bundesfinanzministerium vorlegt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15047

Manfred Kolbe (A) (Otto Fricke [FDP]: Sehr gut! Es ist ja noch beispiel für Ihre Liebe zur deutschen Bürokratie. Was (C) nicht einmal ein Vertreter des Ministeriums diesen Gesetzentwurf betrifft, steht sein Vollzugsauf- anwesend!) wand in keinem Verhältnis zu den Einnahmen, die wir daraus erzielen würden. Im Fachgespräch, das wir in der Sie sind als Parlamentarier frei. Denken Sie bitte darüber vergangenen Woche geführt haben, wurde das eindeutig nach, ob dieser Gesetzentwurf sinnvoll oder investoren- bestätigt. und mittelstandsfeindlich ist. Wenn pro Land nur ein Unternehmen betroffen ist, war das Gesetz ein Fehl- (Zuruf von der SPD: Die Vorschläge haben Sie schlag. Das Ganze wird Prozesse, Widersprüche und doch gemacht, Herr Wissing!) rechtliche Gutachten nach sich ziehen. Ich möchte nicht veranschlagen, was allein die For- (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) mulierung des Gesetzentwurfes, die Durchführung der Anhörung und die Arbeitszeit der damit beschäftigten Die Umsetzung dieses Gesetzentwurfs wäre bestenfalls Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gekostet haben. in einem Sinne wirtschaftsfördernd: als Wirtschaftsför- derungsprogramm für Juristen. (Zuruf von der SPD: Jetzt werden Krokodils- (Ute Kumpf [SPD]: Sie machen jetzt also eine tränen vergossen! Das glauben wir ja gar Seminareinheit für Nichtjuristen!) nicht!) Das ist aber nicht das, was wir im Osten am Notwen- Der Präsident des Sächsischen Landesamtes zur Rege- digsten brauchen. lung offener Vermögensfragen hat Ihnen klar beschei- nigt: Unter dem Strich kostet dieses Gesetz mehr, als es (Ute Kumpf [SPD]: Das war sehr lehrreich!) einbringt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und appel- (Zuruf von der CDU/CSU: Und es schafft liere an die Vernunft der Mitglieder dieses Hauses. keine Arbeitsplätze!) Danke. Ich sage Ihnen voraus: Mit diesem Gesetz schaffen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie in Ostdeutschland ohne Not Unfrieden und Unsi- cherheit. Sie werden damit nichts Positives erreichen. Allerdings gehen Sie bewusst das Risiko ein, mittelstän- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dische Unternehmen in einer schwierigen Zeit hart zu Die Rede der Kollegin Jutta Krüger-Jacob, treffen und dadurch Arbeitsplätze zu gefährden. Dieses Bündnis 90/Die Grünen, wird zu Protokoll genommen.1) Risiko können Sie nicht mit dem lapidaren Hinweis bei- (B) Damit kommen wir zur Rede des Kollegen Dr. Volker seite schieben, dass das Ministerium, wie uns in der An- (D) Wissing von der FDP-Fraktion. hörung gesagt wurde, in Härtefällen ein Stundungsange- bot machen wird. Darauf lässt sich die FDP nicht ein. Wir machen dieses Spiel nicht mit, bei dem ostdeutsche Dr. Volker Wissing (FDP): Mittelständler mit uralten Forderungen überzogen wer- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im den und am Ende auf die Großzügigkeit der rot-grünen Finanzministerium muss wirklich Endzeitstimmung Bundesregierung angewiesen sind. herrschen: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Ute Kumpf [SPD]: Was haben Sie eigentlich für einen beruflichen Hintergrund, Herr Der Mittelstand hat es mit Ihnen, meine Damen und Wissing?) Herren von Rot-Grün, schwer genug. Hören Sie endlich auf, den Menschen, die in unserem Land anpacken wol- Die Telekom-Aktien sind verkauft, die Post-Aktien sind len, immer neue Steine in den Weg zu legen. Sie haben weg und sogar die Sparschweine auf Hans Eichels Tisch das Ziel einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik längst sind geschlachtet. Sie treibt offenbar nur noch eine Frage verfehlt. Was Sie uns vorlegen, sind kleinkarierte Ge- um: Wie kommt man an den letzten Cent? Schließlich ist setzentwürfe. Das ist Bürokratieaufbau in Reinkultur. jemand fündig geworden. Es wurden ein paar offene Forderungen gefunden, die zum Teil schon über Sie müssen die finanziellen Probleme, die Sie gegen- 100 Jahre alt sind. Aber was interessiert das eine Bun- wärtig haben, lösen. Bringen Sie endlich Ihren Schul- desregierung, die auf jeden Cent angewiesen ist? denhaushalt in Ordnung. Ein entschlossener Sparwille und eine solide Haushaltspolitik würden zur Lösung der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rot-grünen Finanzmisere beitragen. Wenn Sie in Zukunft Meine Damen und Herren, halten Sie es wirklich für eine solide Finanzsituation erreichen wollen, müssen Sie angemessen, diese alten Forderungen aus dem Schreib- Ihre Schuldenpolitik beenden. Mit der Geltendmachung tisch zu kramen und uns ernsthaft zuzumuten, einen spe- historischer Forderungen kommen Sie nicht weiter. Ver- ziellen Gesetzentwurf zu verabschieden, um sie geltend schonen Sie uns in Zukunft bitte mit solchen Gesetzent- machen zu können? Sie von Rot-Grün haben es mit dem würfen. Bürokratieabbau nie wirklich ernst genommen. Was Sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- aber jetzt vorhaben, ist bis ins kleinste Detail ein Parade- ruf von der SPD: Die FDP ist doch die Partei, die dieses Land am längsten regiert hat und 1) Anlage 7 den größten Schuldenberg hinterlassen hat!) 15048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Manfred Kolbe (A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: würde einen erheblichen Rechercheaufwand und einen (C) Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger von unnötigen Verwaltungsaufwand, unnötige Bürokratie be- der SPD-Fraktion. deuten. Dem betroffenen Schuldner, der die Verbindlich- keiten einmal eingegangen ist und sie nach wie vor erfül- Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): len muss, letztendlich egal, wer nun sein Gläubiger ist. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Die Regelung, wie wir sie jetzt vorschlagen, ist sach- Kollegen! Hier ist eben mehrfach die Frage gestellt wor- gerecht und systematisch notwendig. Das gilt auch für den, ob der Bundesgesetzgeber für jeden Einzelfall ein Art. 2 des Gesetzentwurfs. Auch hier wird für eine be- Gesetz zur Verabschiedung bringen müsse, ob ein Ge- stimmte Fallgruppe klargestellt, dass ursprüngliche Be- setz also notwendig ist. Für einen Einzelfall sicherlich lastungen, also die heute bestehenden Forderungen, noch nicht, Herr Kollege Kolbe. Aber wenn sich beim Vollzug zu erfüllen sind. Es geht um die sachgerechte Entschädi- bestehender gesetzlicher Regelungen herausstellt, dass gung entzogener landwirtschaftlicher Betriebe, die heute etwas nicht funktioniert, dass für bestimmte Fallgruppen als solche nicht mehr bestehen und daher nicht mehr zu- Ungerechtigkeiten entstehen, dann besteht nicht nur die rückgegeben werden können, bei denen aber oft die Möglichkeit, dann ist es die Pflicht des Gesetzgebers, Grundstücke zurückgegeben werden können. Dabei wer- entsprechend tätig zu werden. den die alten Verbindlichkeiten grundsätzlich nicht wie in den übrigen Fällen der Einzelrestitution schon bei der (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Rückgabe der Grundstücke berücksichtigt, sondern erst Dann macht das mal bei Hartz IV!) bei der Entschädigung. Genau das ist beim vorliegenden Gesetzentwurf der Fall. Die vorgeschlagene Regelung entspricht daher der Worum geht es? Der Entwurf, der Ihnen vorliegt, soll seit jeher im Entschädigungsgesetz niedergelegten Kon- – bei einer in der Tat komplexen Materie – die Geltend- zeption. Dort ist eine Anrechnung der Verbindlichkei- machung von Altforderungen aus der Zeit vor 1945 im ten auf die Entschädigung vorgesehen. Diese Anrech- Interesse der Rechtssicherheit einfach, klar und gerecht nung schlägt aber wegen des übersteigenden Wertes der regeln. Es geht um vor der Enteignung von Grundstü- zurückgegebenen Grundstücke in vielen Fällen fehl. Die cken im Beitrittsgebiet gesicherte Forderungen von Berechtigten erhielten also einerseits – das wird von Ih- Kreditinstituten. Die Kreditinstitute wurden wie auch nen infrage gestellt, aber es ist so – wertvolle Grundstü- die landwirtschaftlichen Betriebe, zu denen die Grund- cke zurück und andererseits zusätzlich eine Schuldenbe- stücke gehörten, enteignet. Heute, nach Rückgabe der freiung. Diese Personen wären also im Vergleich zu Grundstücke, ist unklar, wem die alten, seinerzeit be- denjenigen, die nur eine Entschädigung erhielten, bevor- (B) gründeten Forderungen zustehen. Durch diesen Gesetz- teilt. (D) entwurf wird für bestimmte Fälle klargestellt, dass auch Daher haben wir die Pflicht wahrgenommen und mit Forderungen von Kreditinstituten, die in der sowjeti- der Regelung für eine ausgewogene und gerechte Be- schen Besatzungszone als enteignet galten, tatsächlich handlung all dieser Fälle „hoher Grundstückswert – aber nicht enteignet werden konnten, heute dem Ent- niedrige Entschädigung“ gesorgt. Wir haben die erfor- schädigungsfonds zustehen. Der Entschädigungsfonds derliche Klarstellung vorgenommen und auch dafür ge- leistet die Entschädigung für Vermögenswerte, die zwi- sorgt, dass bei der Abwicklung der einzelnen Fälle – es schen der Zeit des Nationalsozialismus und der Wende geht durchschnittlich lediglich um 6 000 Euro – niemand im Beitrittsgebiet entzogen wurden und nicht zurückge- befürchten muss, dass der von Ihnen so häufig beschrie- geben werden können. bene Mittelstand substanziell gefährdet wird. Diese Aktivlegitimation des Entschädigungsfonds Die Länder sind der Meinung, dass dieses Verfahren ist im Übrigen auch dadurch gerechtfertigt, dass die Kre- zutreffend und in Ordnung ist. Dies haben auch die ditinstitute in der Bundesrepublik bereits früher durch Sachverständigen im Fachgespräch so gesehen. Ich bitte Gewährung von Ausgleichszahlungen für ihre Forderun- Sie daher: Schließen Sie sich diesem fachgerechten Vo- gen entschädigt worden sind. tum der Länder und der Sachverständigen an. (Otto Fricke [FDP]: Aber das war doch immer Schadensersatz!) Schönen Dank. Diese Institute hatten sich seinerzeit im Zusammenhang (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ damit verpflichtet, ihre diesbezüglichen Forderungen an DIE GRÜNEN) den Fiskus abzutreten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Träfen wir diese Regelung nicht, müsste in einer un- Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat bestimmten Zahl von Fällen aufwendig recherchiert wer- der Kollege Dr. Peter Jahr von der CDU/CSU-Fraktion den, ob die besondere Fallkonstellation, wie sie auch der das Wort. höchstrichterlichen Rechtsprechung vorgelegt worden ist – nämlich Belegenheit der Forderung im Westen –, vorliegt. Bereits geleistete Zahlungen müssten rückabge- Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): wickelt, die Forderungen von den Kreditinstituten erneut Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und geltend gemacht und entsprechende Eingänge dann wie- Herren! Mein Wortbeitrag zum so genannten Altforde- der an die öffentliche Hand abgeführt werden. Dies rungsregelungsgesetz wird sich mit den Wirkungen auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15049

Manfred Kolbe (A) restituierte landwirtschaftliche Unternehmen in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) neuen Bundesländern beschäftigen. Das einzige, was entsteht, sind gut bezahlte Arbeits- Dass auch landwirtschaftliche Betriebe von diesem plätze in warmen Amtsstuben. Das kann aber nicht unser Gesetz betroffen sind, ist nicht weiter verwunderlich. Ziel sein. Ich weiß auch nicht, ob das dann bereits Hier geht es ja im Wesentlichen auch um landwirtschaft- Hartz V ist. liche Schuldverschreibungen. Grund und Boden waren bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine (Ute Kumpf [SPD]: Soll das witzig gewesen bankübliche Sicherheit. Im Übrigen bin ich immer wie- sein?) der erstaunt darüber, wie exakt und detailliert verfügbar Zur zweiten Frage, dem Vertrauensschutz. Für die diese alten Schuldverschreibungen heute noch in Papier- Betroffenen wird die Zahlungsaufforderung, für einen form vorhanden sind. Eine nicht ganz ernst gemeinte Kredit zum Beispiel aus dem Jahre 1901 zu zahlen, wie Schlussfolgerung könnte deshalb sein: Gib alle Akten ein schlechter Witz klingen. Gerade für landwirtschaftli- deiner Bank, da geht nichts verloren, vor allen Dingen che Betriebe gilt: Nach der Wende wurde die Hofstelle nicht, wenn es sich um das Geld der Bank handelt. in einem erbärmlichen Zustand übernommen. Der ehe- malige Vierseitenhof war nur noch in Ansätzen erkenn- Wenn man etwas genauer hinschaut, wollen Sie mit bar. Gerade deshalb lag in den meisten Fällen eine so dem vorliegenden Gesetzentwurf zwei Probleme lösen. genannte fehlgeschlagene Anrechnung vor. Meine Vor- Zum einen wird noch einmal eindeutig geklärt, wer nun redner sind darauf schon eingegangen. eigentlich Eigentümer dieser alten Schuldverschreibun- gen ist. Eigentlich ist es ganz logisch: Die Banken er- Weil der restituierte Verkehrswert einschließlich der hielten in den langen Jahren des Bestehens der Bundes- Hypothek die Entschädigungssumme überstieg, hat der republik für die enteigneten Kredite von der Gesetzgeber im Jahre 1994 mit dem Hinweis auf die an- Bundesrepublik Deutschland eine Entschädigung. Damit stehenden Investitionen für Unternehmen auf eine Nach- gehören die Altforderungen jetzt dem Bund. Gerade weil zahlung verzichtet. Ich denke, das war richtig so. Was es noch Banken geben soll, die das nicht einsehen wol- damals Recht war, ist heute billig. Ich denke, es wäre len, ist eine Klarstellung richtig und notwendig. In wel- einfach unanständig, die neu gegründeten Unternehmen cher Form dies geschieht und ob hier eine Verwaltungs- heute, nach über zehn Jahren, mit finanziellen Forderun- vorschrift ausreicht, ist strittig. Wir sind der Meinung, gen zu belasten, obwohl man früher zumindest den Ein- die bestehende gesetzliche Lage hätte ausgereicht. Diese druck erweckt hat, alle Verbindlichkeiten seien begli- Frage hätte man im Ausschuss diskutieren müssen, sie chen. allein begründet keinen eigenen Gesetzentwurf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Wie schlecht muss es dieser Regierung eigentlich ge- Der zweite Punkt, um den es geht, ist natürlich auch hen, dass sie heute noch Hypotheken von vor dem Ersten logisch und schließt sich an. Was wird nun mit diesen Weltkrieg eintreiben muss? Aus dieser Sicht ist es nicht Schuldverschreibungen? Der Bund ist wild entschlossen, ganz unwahrscheinlich, wenn das Eichel-Ministerium dieses Geld einzutreiben. Daraus ergeben sich weitere noch weiter recherchiert und vielleicht noch Schuldver- Fragen: Lohnt der gesetzgeberische Aufwand und was schreibungen aus dem Dreißigjährigen Krieg überprüft. ist mit dem Vertrauensschutz für die Betroffenen? (Otto Fricke [FDP]: Was meinen Sie, wo die Zur ersten Frage. Hier gibt es unterschiedliche Zah- gerade sind?) len. Die KfW erwartet Einnahmen in Höhe von etwa 6 Millionen Euro, während andere bereits von – Wahrscheinlich sind sie dabei, nachzugucken; denn es 12 Millionen Euro gesprochen haben. Die KfW geht von sind sicherlich noch Schuldverschreibungen aus dem 1 000 Einzelfällen aus, während Sie von wenigen Ein- Dreißigjährigen Krieg vorhanden. Das wäre noch eine zelfällen gesprochen haben. Finanzierungsquelle. Zusammenfassend stelle ich fest: Die CDU/CSU- (Stephan Hilsberg [SPD]: Waren Sie in der Fraktion wird dieses Gesetz aus drei Gründen ablehnen: Anhörung dabei?) Erstens: im Sinne der Klarstellung. Dass die Altverbind- Auch wenn es nur wenige Betroffene sind, wollen Sie lichkeiten dem Bund gehören, ist als Klarstellung regel- ein neues Gesetz erlassen. Ich erwarte natürlich, dass bar und somit ist kein Gesetz notwendig. Zweitens: im Schuldverschreibungen aus der Kaiserzeit dreimal um- Sinne des Verwaltungsaufwandes. Wegen einer mögli- gerubelt und noch einmal verändert wurden. Hier dürf- cherweise einzunehmenden Summe von vielleicht 6 Mil- ten keine großen Einzelzahlen zu erwarten sein. lionen Euro und wegen des unangemessenen Verwal- tungsaufwandes ist dieses Gesetz volkswirtschaftlicher (Stephan Hilsberg [SPD]: Sind ja auch nicht!) Unsinn. – Sehen Sie. – Wenn das Gesetz erlassen wird, muss da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für ein flächendeckendes Verwaltungsverfahren mit Wi- derspruchsrecht in Gang gesetzt werden. Es drohen Drittens: im Sinne des Vertrauensschutzes. mehrjährige Prozesse. Das zu erwartende finanzielle Er- Ich danke Ihnen, dass Sie zugehört haben. gebnis rechtfertigt damit in keiner Weise den notwendi- gen Aufwand. (Beifall bei der CDU/CSU) 15050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

Manfred Kolbe (A) Ich sage Ihnen: Uns regt so ein Gesetzentwurf noch auf. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: (C) Im Gegensatz zu Ihnen sind wir noch erregbar, was nicht nur Freude bereitet. Das spricht auch für uns Menschen Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- in den neuen Bundesländern. gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes Danke schön. – Drucksache 15/4737 – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ich schließe die Aussprache. Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen Wir kommen zur Abstimmung über den von der werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Altfor- Gustav Herzog, SPD, Dr. Peter Jahr, CDU/CSU, derungsregelungsgesetzes, Drucksache 15/4640. Der Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Christel Happach-Kasan, FDP, und des Parlamenta- Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- 3) lung auf Drucksache 15/4963, den Gesetzentwurf in der rischen Staatssekretärs Dr. Gerald Thalheim. Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wurfs auf Drucksache 15/4737 an die in der Tagesord- wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die ist die Überweisung so beschlossen. Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Dritte Beratung Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- gebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Geset- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – zes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen – Drucksache 15/4736 – Stimmenverhältnis angenommen. Überweisungsvorschlag: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) (B) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (D) Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Leo Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen. Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der Es handelt sich um die Reden der Kollegen Dr. Wilhelm Fraktion der CDU/CSU Priesmeier, SPD, Julia Klöckner und Peter Bleser, CDU/ Abziehbarkeit von Aufwendungen zur Alters- CSU, Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, vorsorge Hans-Michael Goldmann, FDP, und wiederum des Parla- mentarischen Staatssekretärs Dr. Gerald Thalheim.4) – Drucksache 15/4843 – Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Überweisungsvorschlag: wurfs auf Drucksache 15/4736 an die in der Tagesord- Finanzausschuss (f) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und ist die Überweisung so beschlossen. Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen wer- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Organisa- den. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Horst tionsstruktur der Telematik im Gesundheits- Schild von der SPD, Klaus-Peter Flosbach von der wesen CDU/CSU, Christine Scheel1) vom Bündnis 90/Die Grü- nen und Carl-Ludwig Thiele von der FDP. 2) – Drucksache 15/4924 – Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Drucksache 15/4843 an die in der Tagesordnung auf- Innenausschuss geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlos- Ausschuss für Bildung, Forschung und sen. Technikfolgenabschätzung

1) Redebeitrag wird zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt 3) Anlage 9 2) Anlage 8 4) Anlage 10 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15051

Manfred Kolbe (A) Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie (C) werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Eike damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Hovermann und Dr. Carola Reimann von der SPD, Überweisung so beschlossen. Matthias Sehling, CDU/CSU, Birgitt Bender vom Bünd- nis 90/Die Grünen und Detlef Parr von der FDP-Frak- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- tion.1) ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. Februar 2005, Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- 9 Uhr, ein. wurfs auf Drucksache 15/4924 an die in der Tagesord- Die Sitzung ist geschlossen. 1) Anlage 11 (Schluss: 21.51 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15053

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bahr (Neuruppin), Ernst SPD 24.02.2005 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 24.02.2005*

Barnett, Doris SPD 24.02.2005* Zapf, Uta SPD 24.02.2005*

Bettin, Grietje BÜNDNIS 90/ 24.02.2005 DIE GRÜNEN * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 24.02.2005 Peter H. Anlage 2 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 24.02.2005 Erklärung nach § 31 GO Göppel, Josef CDU/CSU 24.02.2005 der Abgeordneten Klaus Brähming und Ernst Hinsken (beide CDU/CSU) zur Abstimmung Kossendey, Thomas CDU/CSU 24.02.2005* über den Entwurf eines Gesetzes zur Umset- zung von Vorschlägen zu Bürokratieabbau und Dr. Krings, Günter CDU/CSU 24.02.2005 Deregulierung aus den Regionen und zur Ände- rung wohnungsrechtlicher Vorschriften (Tages- Lengsfeld, Vera CDU/CSU 24.02.2005 ordnungspunkt 15) Lips, Patricia CDU/CSU 24.02.2005 Ernst Hinsken (CDU/CSU): Zu der heutigen Ab- Nolte, Claudia CDU/CSU 24.02.2005* stimmung über das Gesetz zur Umsetzung von Vorschlä- gen zu Bürokratieabbau und Deregulierung aus den Re- (B) Probst, Simone BÜNDNIS 90/ 24.02.2005 gionen und zur Änderung wohnungsrechtlicher (D) DIE GRÜNEN Vorschriften möchte ich zum Ausdruck bringen, dass ich die vorgesehenen Änderungen in Art. 8 – Änderung des Raidel, Hans CDU/CSU 24.02.2005* Gaststättengesetzes – Nr. l a und b ausdrücklich und nachhaltig ablehne. Reiche, Katherina CDU/CSU 24.02.2005 Begründung: Im Gaststättengesetz soll die Erlaubnis- pflicht für anderweitige gewerbliche oder freiberufliche Riemann-Hanewinckel, SPD 24.02.2005 Dienstleistungserbringer und den Handel entfallen, wenn Christel diese eine entgeltliche Abgabe von alkoholfreien Geträn- ken und Speisen im Zusammenhang mit der Erbringung Ronsöhr, Heinrich- CDU/CSU 24.02.2005 der Dienstleistung oder dem Handel anbieten. Die wäre Wilhelm ein nicht nachvollziehbarer Wettbewerbsnachteil für

* gastgewerbliche Unternehmen, die die weiter gehenden Rossmanith, Kurt J. CDU/CSU 24.02.2005 Anforderungen des Gaststättengesetzes mit einer Viel- zahl von Vorschriften und Auflagen, zum Beispiel in Be- Schily, Otto SPD 24.02.2005 zug auf die Lebensmittelhygiene zu beachten haben. Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/ 24.02.2005 Weiterhin würde der vorgesehene Entfall der Erlaub- DIE GRÜNEN nispflicht für die Betreibung eines Gaststättengewerbes, wenn dieses nur für einen Tag und ohne die Bereitstel- Dr. Thomae, Dieter FDP 24.02.2005 lung von Sitzplätzen betrieben wird, die klassische Gas- tronomie ebenfalls massiv benachteiligen. Damit wären Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 24.02.2005 auch größere Veranstaltungen für einen Tag ohne Beach- DIE GRÜNEN tung von Vorschriften des Jugendschutzes, des Brand- schutzes und der sicherheitsrelevanten Bestimmungen Türk, Jürgen FDP 24.02.2005 sowie lebensmittelhygienischer Grundsätze möglich. Wegener, Hedi SPD 24.02.2005* In dieser Begründung wird deutlich, dass mit dem Vorhaben des Bürokratieabbaus eine erhebliche Benach- Weisskirchen SPD 24.02.2005* teilung etablierter Betriebe verbunden sein kann. Des- (Wiesloch), Gert halb ist eine dringende Überprüfung notwendig, inwie- weit diese entstandenen und mögliche weitere 15054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Wettbewerbsnachteile des etablierten Hotel- und Gast- Dagmar Freitag (SPD): Wir diskutieren heute den (C) stättengewerbes sowie anderer mittelständischer Unter- Unions-Antrag mit dem schönen Titel „Internationale nehmen abgebaut werden können. sportliche Sportveranstaltungen gleichermaßen fördern“. Die Zielrichtung bleibt leider auch nach mehrmaligem Um die übrigen richtigen Vorschläge zu Bürokratie- konzentrierten Lesen unklar. Auf den ersten Blick wird abbau und Deregulierung nicht zu gefährden, stimme ich allerdings klar, dass unbestrittene Ärgernisse bei der dem Gesetzentwurf als Ganzem zu. Vergabe internationaler Sportveranstaltungen der Bun- desregierung angelastet werden sollen. Das kann nur verwundern. Anlage 3 Gleiches gilt auch für die Forderungen, die konkret an Erklärung nach § 31 GO die Bundesregierung gestellt werden. Nehmen wir mal der Abgeordneten Maria Michalk (CDU/CSU) ein Beispiel heraus: Sie fordern die Bundesregierung zur Abstimmung über den Entwurf eines Ge- auf, sich auf internationaler Ebene für andere Modalitä- setzes zur Umsetzung von Vorschlägen zu ten bei der Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen Bürokratieabbau und Deregulierung aus den einzusetzen. Ich erinnere mich gut daran, dass wir 1999 Regionen zur Änderung wohnungsrechtlicher diesen Aspekt bei der Diskussion um die steuerliche Be- Vorschriften (Tagesordnungspunkt 15) handlung der Fußball-WM in unserem Land behandelt haben. Und wir waren uns einig, dass es wünschenswert Zu der heutigen Abstimmung über das Gesetz zur wäre, wenn Regierungen Einfluss nehmen könnten. Umsetzung von Vorschlägen zu Bürokratieabbau und Aber die Lebenswirklichkeit ist eine andere: Kein Welt- Deregulierung aus den Regionen und zur Änderung verband wird Eingriffe in seine wirtschaftlichen Planun- wohnungsrechtlicher Vorschriften gebe ich folgende Be- gen hinnehmen; im Gegenteil: man wird sich entspre- denken zu Protokoll: Im Gaststättengesetz soll mit Än- chende Einmischungen und Ratschläge von welcher derungen in Art. 8 Nr. 1 a und b die Erlaubnispflicht für Regierung auch immer verbitten. Auch auf internationa- anderweitige gewerbliche oder freiberufliche Dienstleis- ler Ebene gilt die Autonomie des Sports. tungserbringer und den Handel entfallen, wenn diese Aber auch wenn es sich utopisch anhört, letztlich eine entgeltliche Abgabe von alkoholfreien Getränken kann sich nur der Sport selbst solchen Forderungen wi- und Speisen im Zusammenhang mit der Erbringung der dersetzen. Gelingt dies nicht, wird sich die Schraube im- Dienstleistung oder dem Handel anbieten. Dies ist ein mer weiter drehen, letztlich mit unabsehbaren Folgen für Wettbewerbsnachteil für gastgewerbliche Unternehmen, den Sport. die die weiter gehenden Anforderungen des Gaststätten- (B) gesetzes mit einer Vielzahl von Vorschriften und Aufla- Nun zum nationalen Part Ihres Antrages. Highlight (D) gen zum Beispiel in Bezug auf die Lebensmittelhygiene Ihrer Forderungen ist hier folgender Passus: „Der deut- zu beachten haben. sche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, … in- Ein weiterer Nachteil entsteht durch den vorgesehe- ternationale Sportveranstaltungen in Deutschland gemäß nen Entfall der Erlaubnispflicht für die Betreibung eines ihrer Bedeutung gleichermaßen angemessen zu fördern.“ Gaststättengewerbes, wenn dieses nur für einen Tag und Diesen Satz muss man sich auf der Zunge zergehen las- ohne die Bereitstellung von Sitzplätzen betrieben wird. sen. Entweder man fördert „entsprechend der Bedeu- Damit sind auch größere Veranstaltungen für einen Tag tung“ oder aber man fördert „gleichermaßen“. Und was ohne Beachtung von Vorschriften des Brandschutzes und ist nach Ihrer Ansicht „angemessen“? Die Diskussionen der sicherheitsrelevanten Bestimmungen sowie lebens- möchte ich erleben. mittelhygienischer Grundsätze möglich. Ich zitiere weiter: Leider ist mit dem berechtigten Vorhaben des Büro- Dies reicht von der Unterstützung bei der Errich- kratieabbaus im Gesetz eine erhebliche Benachteilung tung bzw. Ausgestaltung von Sportstätten bis hin etablierter Betriebe verbunden. Deshalb ist aus meiner zur Hilfe zur Organisation der Veranstaltung und Sicht eine Überprüfung notwendig, inwieweit diese ent- dem kulturellen Rahmenprogramm. standenen und möglichen weiteren Wettbewerbsnach- teile des etablierten Hotel- und Gaststättengewerbes so- Im Feststellungsteil beklagen Sie noch die Tatsache, wie anderer mittelständischer Unternehmen abgebaut dass die öffentliche Hand zunehmend mit hohen Sum- werden können. men in internationale Topevents mit eingebunden ist, und wenige Zeilen später fordern Sie die Bundesregie- Um die übrigen richtigen Vorschläge zu Bürokratie- rung auf, die Veranstaltungen mehr oder weniger kom- abbau und Deregulierung nicht zu gefährden, stimme ich plett zu übernehmen: Sportstättenbau, Organisation, dem Gesetzentwurf als Ganzem zu. Rahmenprogramm. Widersprüchlich ist eine wirklich milde Bewertung für diese Forderungen. Und was den Sportstättenbau angeht, muss sich diese Bundesregie- Anlage 4 rung nun wirklich nicht verstecken. Zu Protokoll gegebene Reden Sie behaupten weiter, dass „Bund und Länder wegen zur Beratung des Antrags: Internationale sport- ihrer angespannten Haushaltslage die Investitionen beim liche Großveranstaltungen gleichermaßen för- Spitzen- und Breitensport massiv gekürzt“ hätten. Wahr- dern (Tagesordnungspunkt 14) scheinlich haben Sie da an Baden-Württemberg gedacht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15055

(A) Dieses unionsgeführte Bundesland kehrt im Bereich der den gegebenen nationalen und internationalen Rahmen- (C) Sportförderung in der Tat gerade mit dem eisernen Be- bedingungen in der Einwerbung von sportlichen Groß- sen. Und nur der meines Wissens erste Streik von unzäh- veranstaltungen bereits geleistet hat. ligen Breitensportlern hat ein begrenztes Einlenken Ihrer Landesregierung zur Folge gehabt. Der Bund hat dage- Diese Bundesregierung hat in den vergangenen Jah- gen seine Sportförderung trotz globaler Kürzungen auf ren entscheidend dazu beigetragen, zahlreiche hochkarä- einem stabilen hohen Niveau gehalten. tige Veranstaltungen nach Deutschland zu holen. Von 2004 bis zum Ende des Jahrzehntes finden die Champio- Sie stellen in Ihrem Antrag fest, dass „Deutschland in nate in fast allen olympischen Top-Sportarten in den vergangenen Jahrzehnten herausragender Gastgeber Deutschland statt. Über 25 Weltmeisterschaften – darun- unter anderem bei Olympischen Spielen und zahlreichen ter so herausragende wie Fußball, Hallenhandball, Rei- Welt- und Europameisterschaften war“. Richtig, und das ten, Tischtennis, Hockey und zahlreiche Wintersport- trotz der angeblich so unzulänglichen Bedingungen. arten – stehen bis 2010 auf dem Programm. Das ist nicht nur unsere Sportagenda 2010, sondern das beschreibt Natürlich kennen wir wie Sie die Diskussionen im auch schon heute die Sportwirklichkeit. Eine vergleich- deutschen Sport und die Unzufriedenheit einzelner bare Zusammenballung von sportlichen Höhepunkten Spitzenverbände mit bestimmten Rahmenbedingungen. hat es in der gesamten deutschen Geschichte nur von Kritik wird immer wieder am mittlerweile zu medialer 1972 bis 1978 gegeben – in der Zeit der SPD-Bundes- Berühmtheit gelangten § 50 Abs. 7 Einkommensteuerge- kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt. setz geübt. Es gibt derzeit Bestrebungen im Sport, an- dere als die bislang im Gesetz stehenden Kriterien für Ich will das aktuell nur an den in Deutschland stattfin- eine Steuerbefreiung oder -minderung festzulegen. Ich denden Weltmeisterschaften illustrieren. In diesen Tagen glaube nicht, dass das zur Problemlösung beiträgt. In der streiten die Athleten bei der Nordischen Ski-WM in überwiegenden Zahl der Bewerbungen spielt die Frage Oberstdorf um die Titel. Im Juni finden der Confedera- der Besteuerung eine eher untergeordnete Rolle. Anders tions Cup und die Beachvolleyball-WM statt. ist die hohe Zahl von erfolgreichen deutschen Bewer- bungen – jüngstes Beispiel ist die Leichtathletik-WM Im Sommer folgt ein weiteres Highlight: In diesem 2009 in Berlin – nicht zu erklären. Jahr wird Deutschland mit der Stadt Duisburg Gastgeber sein für die World Games 2005. Dazu kommen weitere Ein Blick ins Ausland bestätigt im Übrigen diese Ein- Weltmeisterschaften: Fechten in Leipzig, Rad-Querfeld- schätzung: Australien zum Beispiel ist ebenfalls regel- ein in St. Wendel, Röhnrad in Aachen, Hallenradsport in mäßig Gastgeber für eine große Anzahl hochkarätiger Freiburg, Taek-Wan-Do in und Drachenboot internationaler Sportveranstaltungen, in diesem Jahr der und 505er-Klasse. (B) Deaflympic Games, 2006 der Commonwealth Games (D) und 2007 der Schwimm-WM. Wie sieht die Steuer- Dass wir im Jahr 2006 Ausrichter für die Fußball- gesetzgebung dort aus? Ähnlich wie in Deutschland. WM und die Weltreiterspiele in Aachen sein werden, Ausländische Sportler müssen, als steuerpflichtige Aus- wissen Sie alle. Aber auch die Tischtennis-WM im Mai länder das gesamte in Australien erzielte Einkommen in Bremen und die Hockey-WM im September in Mön- versteuern. Auch Preisgelder und andere geldwerte Vor- chengladbach werfen ihre Schatten voraus. teile unterliegen in Australien grundsätzlich der Steuer- 2007 schließlich wird Deutschland unter anderem pflicht. Steuerliche Fragen spielen auch nach Einschät- Gastgeber der Handball-WM sein, wo aufgrund der zung des Sportministers von Victoria, Justin Madden für Größe unserer Sportstätten schon jetzt klar ist, das wir Erfolg oder Misserfolg der Bewerbung keine entschei- auch einen Besucherweltrekord zu verzeichnen haben dende Rolle. werden. Fazit: Deutschland war und ist ein guter Standort für den Sport und wird es mit dieser Regierung auch blei- Der Winter 2008 wird vom Bob- und Skeletonfahren ben. in Altenberg, Rodeln in Oberhof und Eisstockschießen im Berchtesgadener Land dominiert sein.

Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Die CDU/CSU- Im Sommer 2009 folgt mit der Leichtathletik-WM in Fraktion hat heute einen Antrag mit dem Titel „Interna- Berlin ein weiteres absolutes Top-Event. tionale sportliche Großveranstaltungen gleichermaßen Die einzige Bewerbung, die in all den Jahren an steu- fördern“ vorgelegt. Darin stellen sie fest, dass „Deutsch- erlichen Gesichtpunkten gescheitert ist, war die Bewer- land in den vergangenen Jahrzehnten herausragender bung um die Eishockey-WM – und die wurde ja bekann- Gastgeber unter anderem bei Olympischen Spielen so- termaßen von einem unionsgeführten Land geblockt. wie zahlreichen Welt- und Europameisterschaften“ war. Heute ist der Presse zu entnehmen, dass sich der Deut- Das stimmt. Mehr noch: Diese Aussage ist heute aktuel- sche Eishockey-Bund um die WM 2010 beworben hat – ler denn je. hoffentlich stößt er diesmal in Bayern auf sportfreund- Was allerdings an Sinnlosigkeiten in diesem Antrag lichere Ohren. gefordert wird und an Dingen, die nicht in den Aufga- benbereich der BR fallen, ist erstaunlich. Die rot-grüne Bundesregierung hat einen wesent- lichen Beitrag zum heutigen Stellenwert des Sportstand- Die CDU/CSU stellt nur Forderungen, ohne anzuer- ortes Deutschland in der internationalen Sportpolitik ge- kennen, welche Leistungen diese Bundesregierung unter leistet. Die aktive Rolle und die große persönliche 15056 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Unterstützung von Bundeskanzler Gerhard Schröder ha- Die Implementierung eines Präventionsgesetzes zeigt, (C) ben die Zielrichtung vorgegeben. dass wir Anreize schaffen müssen, um die Bevölkerung wieder zum aktiven Sporttreiben zu motivieren. Sport- Das Engagement und die kontinuierliche Präsenz des großveranstaltungen lösen positive soziale Wirkungen Bundesinnen- und Bundessportministers auf die Menschen aus. Beispielsweise können sie zu ei- – übrigens „der stärkste Sportminister, den Deutschland nem wachsenden Sportinteresse führen, das wiederum je hatte“ – so Prof. Helmut Digel, Vizepräsident des die Menschen anregt, sich im Breitensport zu betätigen. IAAF – und „ein Glücksfall für den deutschen Sport“ – Damit wäre unser Ziel, den Menschen das aktive Sport- so Theo Zwanziger, Co-Präsident des DFB und CDU- treiben näher zu bringen, tendenziell erreicht. Natürlich Funktionär – in den Bewerbungsverfahren haben aus ist der Nachfrageboom insbesondere durch die erzielten Deutschland wieder ein Land gemacht, in dem interna- Erfolge unserer Athleten, bedingt. So war es in den Zei- tionale Spitzenverbände des Sports sich sicher sein ten von Franz Beckenbauer, Steffi Graf, Jan Ullrich, können, ihre Sportevents bestmöglich durchführen zu Timo Boll, Martin Schmitt, Franzi und noch vielen mehr. können. Daher genießt die Bundesregierung auf natio- naler und internationaler Ebene hohe Wertschätzung für Kommen wir zu den ökonomischen Auswirkungen, ihr sportpolitisches Engagement. die von einer internationalen Sportgroßveranstaltung ausgehen. Haben wir erst einmal eine Bewerbung erfolg- Dieses Engagement beschränkt sich aber nicht nur auf reich abgeschlossen, löst diese Veranstaltung Nachfrage- „aktive Sportveranstaltungen“: Nach schwierigen Ver- prozesse, speziell in der Tourismusbranche, aus. Zusätz- handlungen und gegen starke Mitbewerber, unter ande- liche Hotelbetten werden benötigt, Restaurants erfreuen rem Dubai und Melbourne, ist es gelungen, einen der sich eines erhöhten Zulaufs, der Transport zahlreicher bedeutensten Sportkongresse nach Deutschland zu ho- Personen muss organisiert werden und auch der Verkauf len: von Tickets und Merchandisingprodukten bringt zusätz- Vom 16. bis 20. April treffen unter der Führung der liche Gelder ein. Zudem führen die zusätzlichen Kon- General Association of International Sport-Federations sum- und Investitionsausgaben zu positiven Beschäfti- (GAISF) Sportrepräsentanten aus allen Sportbereichen gungseffekten. und Kontinenten in Berlin zusammen, darunter unter an- derem der Weltverband der Spitzenverbände der Olym- Nun kommen wir zum eigentlichen Problem: Welche pischen Sommersportarten (ASOIF), der der Olympi- Sportveranstaltung als eine Sportgroßveranstaltung defi- schen Wintersportarten (AIOWF) und Vertreter des niert wird und deshalb steuerlich begünstigt wird, liegt Internationalen Olympischen Komitees (IOC). In diesem im Ermessen der zuständigen Finanzreferenten der Län- Rahmen wird auch das IOC-Exekutivkomitee eine Sit- der. Durch den gesetzlichen Rahmen, § 50 Abs. 7 und (B) zung abhalten. Unsere Bundesregierung, die dieses § 50 a Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes, wurde der (D) Event aus Mitteln des Innenministeriums unterstützen FIFA und dem IOC Steuerbefreiung gewährt. Das war wird, hat damit einmal mehr bewiesen, dass sie den und ist durch die weite Auslegung dieser Paragraphen Sportstandort Deutschland mehr fördert, als es je eine möglich und das hat die Bundesregierung zu verantwor- Regierung vorher getan hat. Das werden wir auch in Zu- ten. Dort heißt es: Steuererleichterungen werden in kunft tun und uns auch weiterhin als zuverlässiger Part- „sinnvollen Ausnahmefällen“ und nach politischer, öko- ner des nationalen und internationalen Sports erweisen. nomischer und steuerrechtlicher Überprüfung gewährt. Das sind doch keine Kriterien, mit denen man arbeiten kann. Eberhard Gienger (CDU/CSU): Großereignisse im Sport mit Medienpräsenz spielen eine zunehmende Rolle Damit sind die Verbände von der Willkür ihrer zu- in unserer Gesellschaft. Das beweisen die Übertragun- ständigen Finanzreferenten auf Landesebene abhängig. gen der Fußball-Champions-League, der Formel 1, der Diese können somit nach Gutsherrenart handeln und ge- jährlich stattfindenden, mehrtätigen Tennis-Turniere, der ben die Bewerbung erst gar nicht an den Bundesfinanz- Radrundfahrten, der Leichtathletik-Meetings, der Mega- minister weiter. Damit gehen, durch die eben genannten Events Olympische Spiele oder der Fußball-Europa- und positiven Effekte, Steuergelder verloren. Das kann und Weltmeisterschaften. Die staatliche Unterstützung sol- darf sich Herr Eichel nicht leisten. Die FIFA aber, der cher Großereignisse im Sport ist immer wieder Gegen- größte internationale Sportverband, der vor Kraft kaum stand öffentlicher Diskussion. Die Autonomie des laufen kann, wird steuerlich befreit und transferiert die Sports, die Subsidiarität der Sportförderung sowie die eingenommenen Gelder in die Schweiz, während der partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Sport und deutsche Steuerzahler in einer Größenordnung von ins- Politik bilden die Grundsätze staatlicher Förderung in gesamt 2 bis 5 Milliarden Euro für die Sicherheit, die der Bundesrepublik. Der Staat will Hilfe zur Selbsthilfe Infrastruktur und die Sportstätten der Fußball-WM 2006 leisten. aufkommen muss. Ich möchte in meinen Ausführungen sowohl die so- Es ist aber nicht einzusehen, warum nur die FIFA und ziale, die ökonomische als auch die repräsentative Funk- das IOC volkswirtschaftlichen Nutzen erbringen kön- tion herausstellen, die von einer Sportgroßveranstaltung nen. Auch andere Spitzenverbände ziehen die Men- ausgeht, um der Regierung zu verdeutlichen, wie wichtig schenmassen an und würden somit Steuereinnahmen es ist, alle Sportgroßveranstaltungen gleichermaßen zu bringen. Sie sind jedoch durch das in Deutschland herr- fördern und nicht nur die gewinnträchtigsten Verbände, schende unklare Regelwerk benachteiligt und laufen Ge- wie die FIFA und das IOC. fahr durch die Tatenlosigkeit der rot-grünen Koalition Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15057

(A) bei der Bewerbung um eine sportliche Großveranstal- geschätzt“, dass eine Steuerbefreiung gerechtfertigt (C) tung zweiter Sieger zu werden. Die erfolgreiche Aus- wäre. Was heißt derart bedeutsam? Entscheidet die richtung einer Sportgroßveranstaltung erzeugt einen Sichtweise eines Steuerreferenten auf Landesebene, ob Prestigewert. Schon allein dadurch ist eine staatliche eine Steuerbefreiung gewährt wird oder nicht? Es wird Intervention in Form einer Steuervergünstigung ge- geschätzt, nicht berechnet, nicht gewertet. Was sind rechtfertigt; aber bitte auch für internationale Sportorga- volkswirtschaftliche Vorteile? Übernachtungszahlen, nisationen, wie den Eishockey-, den Leichtathletikver- Anzahl der Touristen, das Bruttosozialprodukt, das Geld, band oder alle olympischen Verbände. Lösen etwa die das wegen der Veranstaltung nach Deutschland fließt, Europa- oder Weltmeisterschaften dieser Verbände keine und die damit verbundenen Steuereinnahmen? Die Ent- Synergieeffekte aus? scheidungsgrundlage wird nicht offen gelegt. Wir fordern deshalb von der Bundesregierung, sich Unsere Sportverbände brauchen klare, nachvollzieh- für die Gleichbehandlung der Sportverbände einzusetzen bare und überprüfbare Kriterien und nicht Beliebigkeit. und ihnen sowohl Rechts- als auch Planungssicherheit Der volkswirtschaftliche Vorteil einer sportlichen zu geben. Dazu gehört vor allem, klare Kriterien für Großveranstaltung ist gleichermaßen im nicht monetären Steuervergünstigungen zu schaffen, an denen sich so- Bereich zu sehen. Zahlreiche Untersuchungen belegen: wohl die Verbände als auch die zuständigen Landesfi- Jede sportliche Großveranstaltung stärkt die Breiten- nanzreferenten orientieren können und müssen. sportbewegung, regt vor allem junge Menschen zum Kollege Reinhold Hemker hat schon in seiner Rede Sporttreiben an. Sport fördert einen gesunden Lebensstil. am 11. April 2003 diesbezüglich mitgeteilt, dass das Zusammen mit der sozialen und integrierenden Funktion Bundesfinanzministerium und das Bundesministerium des Sports führt dies dauerhaft zu einem höheren volks- für Inneres eine Arbeitsgruppe einrichten, und mit Vehe- wirtschaftlichen Vorteil als die eingeengte fiskalische menz versprochen, dass Ergebnisse in Kürze vorliegen und wirtschaftliche Betrachtung eines Steuerreferenten. werden. Welche Ergebnisse? Zwar hat die Sportminister- Es kann nicht nach dem Motto gehen: Je größer der konferenz die Einrichtung einer solchen Arbeitsgruppe Verband, je größer die Popularität der Sportart, je höher befürwortet, die Finanzreferenten der Länder haben je- die Zuwendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- doch eine Mitarbeit verweigert bzw. lehnen eine solche anstalten, je überdimensionierter die Zuwendungen der Arbeitsgruppe ab. So geht es nicht. Es wird Zeit, dass Sponsoren und deren steuerlichen Abschreibungen, je hier etwas geschieht. Nach annähernd zwei Jahren sollte höher die staatlichen Subventionen, desto größer ist die man doch mit einem Ergebnis der Arbeitsgruppe rech- Chance, in den Genuss einer Steuerbefreiung zu kom- nen dürfen. Wir stehen aber immer noch auf dem Stand men. (B) von 2003 und fordern die Bundesregierung auf, endlich (D) zu handeln. Aber anstatt einen eigenen Entwurf vorzu- Wenn staatliche Investitionen in Milliardenhöhe flie- legen, fordern Sie die Opposition auf, Ihre Arbeit zu er- ßen – circa 5 Milliarden bei der Fußballweltmeister- ledigen. Legen Sie uns einen Entwurf vor. Sie werden in schaft 2006 –, dann darf man durchaus positive Effekte uns Mitstreiter für die Gleichbehandlung der Verbände erwarten. Sie sind aber nicht ausschließlich dem Ereig- finden. nis zuzurechnen. Diese Milliarden hätten auch in Bil- dung und Forschung, in Familienpolitik gesteckt werden Die Bundesregierung gibt Mittel für Fairplay-Kampa- können mit sicherlich ebenfalls hohen dauerhaften Vor- gnen aus. Ich vermisse ihr Handeln bei der Förderung teilen für die Volkswirtschaft. von Sportgroßveranstaltungen und ihr Fairplay gegen- über den nationalen Sportverbänden. Die Möglichkeit der großzügigen Billigkeitsregelun- gen des § 50 Abs. 7, wie sie von einigen Finanzministern hervorgehoben wird, kann ich nicht erkennen. Bisher ha- Klaus Riegert (CDU/CSU): Bürgerinnen und Bürger ben nur die FIFA und die Olympischen Spiele von der haben für steuerliche Gleich- oder Ungleichbehandlung Steuerbefreiung profitiert. Sonst, so die Auskunft der eine hohe Sensibilität entwickelt. Immer mehr Bürgerin- Bundesregierung, kein weiterer Sportverband. nen und Bürger fühlen sich durch die Vielzahl von Steuergesetzen überfordert und übervorteilt. Dies emp- Der Ausrichter der Weltreiterspiele in Aachen rechnet finden auch unsere Spitzensportverbände. Und dies zu mit einer Wirtschaftskraft von 240 Millionen Euro und Recht. kann in begrenztem Umfang mit einer Steuermäßigung rechnen. Die Höhe ist bekannt. Der deutsche Leichtath- Die Auslegung des § 50 Abs. 7 EStG unterliegt der letikverband fordert Steuerbefreiung für die Leichtathle- Beliebigkeit und der Beurteilung nach Gutsherrenart. tik-WM 2009. 4 Millionen Euro würde dies ausmachen. Für eine Steuerbefreiung muss der volkswirtschaftliche Kommt die Steuerbefreiung nicht, müssten mehr Spon- Vorteil erkennbar sein. Der alleine aber scheint nicht sorengelder aquiriert werden oder das Land Berlin über- auszureichen. nimmt eine Ausfallbürgschaft. In ihrer Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Die Steuerbefreiung für die FIFA wird von der Bun- CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Auslegung des § 50 desregierung nicht genannt. Auch hier herrscht Beliebig- Abs. 7 Einkommensteuergesetz teilt die Parlamentari- keit. Wir wollen eine größere Chance bei der Bewerbung sche Staatssekretärin Hendriks am 21. September 2004 aller nationalen Spitzensportverbände, unabhängig von mit: „die volkswirtschaftlichen Vorteile der Eishockey- der Größe. Sie können nicht mit staatlichen Subventio- weltmeisterschaft werden als nicht derart bedeutsam ein- nen in Milliardenhöhe rechnen wie zum Beispiel der 15058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Deutsche Fußball-Bund oder die Bewerber um die Aus- gens auch keine Initiative des Bundesrates, in dem ja (C) richtung Olympischer Spiele. Sie sollten zumindest im bekanntlich die CDU/CSU die Mehrheit hat steuerlichen Bereich nicht nach Belieben behandelt wer- den. Aber wir können uns ja auch hier im Deutschen Bun- destag umsehen: Eine Regelung für eine generelle Wir freuen uns mit Millionen Menschen in Deutsch- Steuerbefreiung für Sportveranstaltungen haben Sie land und in der ganzen Welt auf die Fußballweltmeister- nicht in Ihren eigenen Steuerkonzepten unterbringen schaft 2006 in Deutschland. Wir hätten uns auch über können. Mit ihrem heutigen Vorstoß findet die CDU/ eine erfolgreiche Bewerbung Leipzigs um die Ausrich- CSU also keine Mehrheit bei den eigenen Finanzpoliti- tung der Olympischen Sommerspiele 2012 gefreut. Wir kern, Deshalb wurde auch kein Gesetzentwurf durch die wenden uns nicht gegen die ausgesprochene Steuerbe- CDU/CSU vorgelegt, weil diese Steuerbefreiung freiung. Wir wollen aber eine Gleichbehandlung. Sport- schlichtweg den eigenen Steuervorschlägen widerspre- liche Großveranstaltungen aller Spitzensportverbände chen würde, erbringen volkswirtschaftliche Vorteile. Dies ist unbe- stritten. Die vorgebrachte Kritik am Steuersystem halte ich nicht für gerechtfertigt. In den Ausschussberatungen ist Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für Rege- lediglich ein Fall bekannt geworden, in dem eine Bewer- lungen einzusetzen, die eine Gleichbehandlung gewähr- bung – ich rede von der Eishockey-WM 2009 in leisten. Wir brauchen mehr Transparenz, nachvollzieh- Deutschland und dem Antrag auf Steuerbefreiung durch bare Kriterien und eine Offenlegung der Entscheidung. den Deutschen Eishockey-Bund – gescheitert ist und da- Die Bundesregierung sollte ihre Untätigkeit endlich auf- für die Steuergesetze verantwortlich gemacht wurden. geben. Sie soll auf nationaler und internationaler Ebene Ich glaube, man sollte hier klarstellen: Problematisch die Initiative ergreifen. sind nicht die Steuergesetze, sondern es war die Ent- scheidung im Einzelfall, die kritikwürdig ist. Die Ableh- Klar aber ist: Eine internationale Sportgroßveranstal- nung des Antrags durch die Finanzbehörden kann jedoch tung, die wegen unserer Steuergesetzgebung erst gar nicht dem Bund angelastet werden, sondern es war auf nicht nach Deutschland vergeben wird, bringt ebenfalls Ebene der Bundesländer eine einstimmige Entschei- keine Steuereinnahmen. Jeder Euro Umsatzsteuer, Ein- dung. Zeigen Sie daher nicht mit einem Finger auf den nahmen für Verpflegung und Übernachtung der Gäste Bund, sondern nehmen Sie 16 Finger und zeigen damit etc. geht dann als Steuereinnahme ins Plus! Auch diesen in Richtung der Bundesländer! Gesichtspunkt sollten die Finanzpolitiker bedenken. Dagegen ist die Liste der erfolgreichen Bewerbungen (B) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): viel länger. Ich möchte ihnen einige schöne Veranstal- (D) Die Sportinteressierten wissen, dass zurzeit die Nordi- tungen in Deutschland nennen, die neben den Mega- sche Ski-WM in Oberstdorf stattfindet. Über die Region Events wie Fußball-WM 2006, Welt-Reiterspiele 2006 hinaus wird dort Werbung für guten Sport gemacht. Die oder Handball-WM 2007 leider nicht so häufig genannt Wettbewerbe sind hervorragend organisiert, das Publi- werden: die Fecht-WM 2005 in Leipzig, die WM 2007 kum leistet seinen Beitrag zur tollen Atmosphäre. Bei im Bogenschießen in Leipzig, die Turn-WM 2007 in der Nordischen Ski-WM hat die Frage der Steuerbefrei- Stuttgart, die Triathlon-WM 2007 in Hamburg oder die ung keine Rolle gespielt. Dies trifft auch auf viele wei- Rodel-WM 2008 in Oberhof. tere Sportveranstaltungen zu, die in den kommenden Das sind viele Veranstaltungen, auf die wir uns freuen Monaten und Jahren in Deutschland stattfinden werden. können. Außerdem haben wir damit auch viele Belege, Daher auch mein Unverständnis über den vorliegen- dass das Steuersystem in Deutschland nun wirklich kein den Antrag der Opposition, in dem faktisch eine Blanko- unüberwindbares Hindernis im internationalen Bewer- Steuerbefreiung für alle internationalen Sportveranstal- bungsparcours darstellt. Es kommt doch sehr viel mehr tungen in Deutschland gefordert wird. Meiner Meinung auf die Sportstätten, ein überzeugendes Gastgeberkon- nach ist das nicht erforderlich, es ist nicht sachgemäß zept und die Begeisterung der Fans an. und es ist mit den geltenden Steuergesetzen nicht verein- bar. Eine zukunftsgerichtete Sportpolitik sollte sich daher nicht auf das Thema Steuerbefreiung fokussieren. Statt- Die jetzige Regelung im § 50 Abs. 7 des Einkommen- dessen sollten die Erfahrungen aus den erfolgreichen Be- steuergesetzes ist ausreichend. Dort dreht sich alles um werbungen gezogen werden. Das bedeutet, auf eine das alleinige Kriterium des volkswirtschaftlichen Nut- überzeugende nationale wie internationale Strategie zu zens der Sportveranstaltung. Erst wenn dieser volkswirt- setzen. Sport, Politik und Wirtschaft sowie Kulturein- schaftliche Nutzen nachgewiesen ist, kann der veranstal- richtungen müssen an einem Strang ziehen. tende internationale Sportverband von der Zahlung der Steuer befreit werden. Erfahrungsgemäß werden mehrere Anläufe eines na- tionalen Bewerbers benötigt, um den Zuschlag zur Aus- Die Prüfung der Steuerbefreiung obliegt den Länder- richtung zu erhalten. Es macht daher politisch keinen finanzministern. Leider konnte sich eine Arbeitsgruppe Sinn, schon den ersten Anlauf einer Bewerbung mit ei- der Länder bis heute nicht auf transparente Auslegungs- ner Steuerbefreiung zu versehen und somit eine Steuer- kriterien verständigen. Der Ball liegt meiner Meinung befreiung bei notwendigen Folgebewerbungen vorweg- nach also weiter bei den Bundesländern. Es gibt übri- zunehmen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15059

(A) Eine Bewerbung auf internationaler Ebene wird Eine Bürgschaft sichert bislang etwaige Verluste ab. (C) zunehmend von der Überzeugungskraft bei folgenden Dieser Mechanismus ist mitunter eine Folge des födera- Themen und Faktoren abhängig sein: Sicherheit, Infra- listischen Systems der Bundesrepublik. struktur, Umwelt und Verkehr, Medienpräsenz. Alle Sportexperten sagen, dass Deutschland bei diesen Fakto- Eine Voraussetzung, um von dieser Steuer befreit zu ren sehr gut aufgestellt ist. Wir haben eine gute Infra- werden, beruht auf dem volkswirtschaftlichen Nutzen. struktur mit konkurrenzfähigen und modernen Wett- Diesen zu definieren ist keine leichte Aufgabe. Hinzu kampfstätten. kommt die Ungerechtigkeit, die ein solches Verfahren mit sich bringt. Der volkswirtschaftliche Nutzen sollte Es muss für andere Nationen deutlich werden, dass den Steuerausfall kompensieren, so die gängige Argu- auch der internationale Sportbeitrag Deutschlands ver- mentation. Wo bleibt dabei die steuerliche Gerechtig- stärkt wird. Wer eine Sportveranstaltung bekommen keit? Dieses Kriterium führt häufig dazu, dass die größe- will, muss sich immer auch um Partnerschaften mit an- ren Verbände – in vielen Fällen bereits durch andere deren Staaten bemühen. Infrastrukturmaßnahmen im Vorteil – enorm bevorzugt werden. Der Deutsche Eishockeybund zog beispiels- Ich möchte übrigens noch auf eine Entwicklung hin- weise seine Bewerbung um die WM 2009 erneut zurück, weisen, die von den großen Sportorganisationen wie weil das bayerische Finanzministerium trotz einer anders dem Internationalen Olympischen Komitee, IOC, und lautenden Studie des DEB einen volkswirtschaftlichen dem Weltfußballverband, FIFA, ausgeht. Zunehmend Nutzen verneinte und somit die Steuerbefreiung nicht wird das so genannte „Kontinentalprinzip“ bei der Ver- zuließ. Dabei ist gerade eine Eishockey-WM eine Veran- gabe angewendet werden. Das heißt, dass große Sport- staltung, die komplett privat finanziert wird und somit veranstaltungen alle vier Jahre immer auf einem anderen keine weiteren öffentlichen Mittel in Anspruch nimmt. Kontinent stattfinden werden. Dies wird viele andere Vergabefaktoren überlagern. Auch deshalb tun wir gut Auch die Spitzen in anderen Sportarten weisen immer daran, die Frage der Steuerbefreiung nicht in den Vorder- wieder auf die Grenzen des jetzigen Systems hin. Der grund zu stellen. geschäftsführende DFB-Präsident Zwanziger warb sogar in einem Brief an Sportminister Schily für die Abschaf- Internationale Sportgroßveranstaltungen sind auch in fung der Quellensteuer. Für die Fußball-WM hat der Zukunft in Deutschland willkommen. Sorgen wir weiter DFB eine Befreiung für die FIFA durchsetzen können. dafür, gute Gastgeber für die internationale Sportfamilie Es ist aber zu befürchten, dass beispielsweise die UEFA und die zahlreichen Besucherinnen und Besucher unse- kein Finale mehr nach Deutschland vergeben wird, so- res Landes zu sein. Und freuen wir uns gemeinsam auf lange diese Besteuerung bestehen bleibt. Wir müssen gute und faire Sportwettkämpfe in unserem Land. (B) also weiterdenken. (D)

Detlev Parr (FDP): Sportgroßveranstaltungen schaf- Zurzeit ist die Vergabe von Sportgroßveranstaltungen fen einen enormen Mehrwert. Sie bringen nicht nur die von der Entscheidung einzelner Finanzreferenten der Sportlerinnen und Sportler der Welt zusammen, sie ha- Länder abhängig. Es ist die Zeit gekommen, einen Krite- ben dazu eine starke wirtschaftliche Bedeutung. Darüber rienkatalog zu erarbeiten, der unabhängig und für alle hinaus haben wir durch solche Veranstaltungen die beste Sportarten auf die gleiche Art und Weise anwendbar ist. Möglichkeit, unser Land in aller Welt zu präsentieren. Die Quellensteuer sollte kein Wettbewerbsnachteil für Durch die Präsenz dieser Sportveranstaltungen in den den Standort Deutschland sein, sondern sollte, wenn Medien können wir weltweit die Menschen erreichen, überhaupt, in einzelnen Fällen angewendet werden. Es die unser Land weniger kennen, und sie für Deutschland ist immer noch so, dass eine WM ohne Quellensteuer begeistern. besser als gar keine WM im eigenen Lande ist. In den letzten Jahren hatten wir das Glück, und das Der Antrag der Union geht in die richtige Richtung. Geschick, viele sportliche Großveranstaltungen nach Sie hat das Problem erkannt und darum wird die FDP Deutschland zu holen. Man denke in diesem Jahr an die ihrem Antrag zustimmen. World Games und an den Confederations Cup. Im kom- menden Jahr finden dann die Hockey-WM, die Welt- meisterschaften im Reiten und die Fußball-WM statt. In Anlage 5 den nächsten Jahren folgen Triathlon-WM, Leichtathle- Zu Protokoll gegebene Reden tik-WM und andere Veranstaltungen. Alles bestens, mag man also denken. Leider lastet vor zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung jeder Vergabe einer Sportgroßveranstaltung nach Deutsch- von Vorschlägen zu Bürokratieabbau und De- land die Bürde der so genannten Quellensteuer auf uns regulierung aus den Regionen und zur Ände- – mit einer Taxierung von 25 Prozent auf Prämien, Start- rung wohnungsrechtlicher Vorschriften (Tages- geldern und anderen geldwerten Vorteilen. Bei jeder Be- ordnungspunkt 15) werbung um internationale Großveranstaltungen wird sie wieder zum Diskussionsthema. Im letzten Dezember hat Hubertus Heil (SPD): Deutschland leidet – darüber Berlin den Zuschlag für die Leichtathletik-WM 2009 gibt es keinen Zweifel – unter der Dichte seiner Regulie- bekommen. Aber die beantragte Steuerbefreiung beim rungen. Für alles und jedes gibt es mehr oder weniger Finanzamt Hessen ist noch nicht unter Dach und Fach. sinnvolle, mehr oder minder strenge Vorschriften. Die 15060 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) wirtschaftliche Betätigung leidet darunter ebenso wie Die Gewerbeordnung und das Gaststättengesetz wer- (C) das normale bürgerliche Leben. den Experimentierklauseln erhalten: Sie ermöglichen es, Berufsausübungsregelungen befristet außer Kraft zu set- Für dieses fein gespannte Regulierungsnetz in zen, um deren Auswirkung auf die Praxis zu untersu- Deutschland gibt es ein ganzes Bündel von Ursachen. chen. Bei positiven Erfahrungsberichten ließe sich später Eine davon ist, dass wir mit unserem ausgeprägten sogar eine vollständige Aufhebung begründen. Drang nach Perfektion und Einzelfallgerechtigkeit dazu neigen, lieber ein ganzes Meer an Vorschriften hinzuneh- Diese Fülle an wichtigen Verbesserungen – nicht nur men, als Verantwortung für eine Entscheidung auf uns für die konkret Betroffenen – fügt sich damit ein in die zu nehmen. klare Strategie der „Initiative Bürokratieabbau“ der Bun- desregierung, die wir nachhaltig fördern und unterstüt- Um nur ein Beispiel zu geben: das Vergaberecht hat zen. sich seit den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu einem über 500 Seiten umfassenden Rechtskonglo- Gemeinsam konzentrieren wir uns auf die fünf Hand- merat entwickelt, das nur noch Fachleute überblicken. lungsfelder, die für die Wettbewerbsfähigkeit des Stand- Auftraggeber laufen ständig Gefahr, Verfahrensfehler zu ortes und die Entlastung der Bürger zentral sind, nämlich machen. Verbreiteter Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Arbeitsmarkt und Selbstständigkeit, Wirtschaft und Mit- Abläufe führt zu vielen Prozessen, die drängende öffent- telstand, Forschung und Technologie, Zivilgesellschaft liche Aufträge und Projekte möglicherweise jahrelang und Ehrenamt und, nicht zuletzt, Dienstleistungen und blockieren. Auf der anderen Seite leidet insbesondere Bürgerservice. der Mittelstand unter diesem Zustand. Wegen der Kom- Bisher haben wir im Rahmen dieser Initiative 74 ganz plexität und Unübersichtlichkeit der Vorschriften ist die konkrete Projekte auf den Weg gebracht. Darunter fallen Beteiligung an öffentlichen Ausschreibungen personal- die Reform der Handwerksordnung, die Reduktion von intensiv und teuer. statistischen Berichtspflichten, die Modernisierung des Mit der Initiative für Bürokratieabbau fragen wir uns: Geräte- und Produktsicherheitsgesetzes und der Arbeits- Brauchen wir wirklich Rechtsverordnungen, die das Rei- stätten-Verordnung, die Neuordnung der beruflichen Bil- ten im Wald ausführlich regeln? Das mag zwar ein span- dung oder auch die Flexibilisierung der Honorarordnung nender Musterfall für Verfassungsrechtslehrbücher sein, für Architekten. wir müssen uns aber fragen: Sind solche Rechtsvor- Die „Initiative Bürokratieabbau“ befindet sich im schriften wirklich notwendig? Zeitplan: Knapp die Hälfte der Projekte sind bereits zum Oder ein anderes Beispiel: Es kann doch nicht sein, Abschluss gebracht worden. Bis zum Jahr 2006 werden dass wir den Gebrauch des traditionellen Funks bei der alle abgeschlossen sein. (B) (D) Personenbeförderung vorschreiben, wenn moderner, in- Der heute zu beschließende Gesetzentwurf ist auch novativer Mobilfunk diese Aufgabe in gleicher Weise ein Ergebnis der vielen Ideen, die die Modellregionen oder noch besser erledigt. präsentiert haben. Zehn dieser Vorschläge sind in das Dort, wo die Regeln eher einengen und eher Wachs- Gesetz eingeflossen und sollen als bundesweite Rege- tumsbremsen für die Wirtschaft darstellen als vernünf- lungen umgesetzt werden. tige Regulierung, muss Befreiung das vorrangige Ziel Den Regionen möchte ich an dieser Stelle ein großes sein. Betroffen sind alle staatlichen Ebenen – die EU, der Lob aussprechen. Sie haben mit ihrem Engagement, ih- Bundesgesetzgeber, die Bundesländer und die Kommu- rem Ideenreichtum in einem erstmals durchgeführten nen. Verfahren die Grundlage für die Gesetze geschaffen, die Mit dem heute abschließend zu beratenden Gesetz re- wir im Deutschen Bundestag heute verabschieden, noch formieren wir nicht nur den wichtigen Bereich des verabschieden werden oder sogar schon verabschiedet Wohngeldrechts. Es fasst in eindrucksvoller Weise viele haben. zielgenaue Verbesserungen im Gewerbe- und Immis- Ohne Risikobereitschaft ist dieser Erneuerungspro- sionsrecht zusammen: zess, der für unsere Wirtschaft, vor allen Dingen für un- Die Gerichtsverfahren können in Zukunft durch die seren Mittelstand, und unsere Wettbewerbsfähigkeit un- Länder durch spezielle Abteilungen für Handelssachen erlässlich ist, nicht zu schaffen. Wer Regeln abbauen bei den Amtsgerichten beschleunigt werden. Es werden will, stößt zuallererst auf die „Bedenken“ derer, die frü- übermäßige Dokumentationspflichten im Abfallrecht her einmal ihre Wünsche durchsetzen konnten, auf eta- und Immobilienhandel auf ein angemessenes Maß zu- blierte Interessen. Interessant ist, dass gerade die, die rückgeführt. Innovative Techniken für die Abfallverwer- sonst am lautesten nach „Deregulierung“ rufen, genau tung werden durch das Gesetz gefördert. Immissions- dann alles beim Alten belassen wollen, wenn es um die rechtliche Genehmigungen sind zukünftig auf einem Wahrung eigener Besitzstände geht. einfacheren und schnelleren Weg möglich. Dadurch, Deregulierung ist für uns kein ideologischer Selbst- dass neben herkömmlichen Funkanlagen auch künftig zweck. Wir wollen keinen rechtsfreien Raum, in dem der Mobiltelefone verwendet werden dürfen, passen wir die Stärkste sich rücksichtslos auf Kosten der Allgemeinheit Regeln an die Bedürfnisse der Personenförderungsunter- durchsetzen kann. nehmen an. Im Gaststättenrecht ermöglichen wir, für Unternehmenskunden in größerem Maße Getränke und Wir werden unseren Weg entschlossen weiter verfol- kleine Speisen anzubieten. gen: Wir werden den wirksamen, handlungsfähigen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15061

(A) Staat bewahren, der für fairen Wettbewerb, Chancen- sich nun melden, nach den enttäuschenden Erfahrungen (C) gleichheit und nötigen sozialen Ausgleich sorgen kann. der letzten drei Regionen? Wir werden auch weiterhin ernsthafte Bedenken ernst nehmen und Bewahrenswertes bewahren. Aber wir wer- Insgesamt betrachtet ist die Initiative Bürokratieab- den mit weiteren Gesetzen, wie dem hier vorliegenden, bau gescheitert. Mittlerweile gibt es 103 Projekte, von die Innovationsfähigkeit unseres Landes beweisen – und denen in knapp zwei Jahren 26 abgeschlossen wurden. die Bürgerinnen und Bürger auf diesem Weg mitneh- Die Bundesregierung hat kein Konzept. Was fehlt, ist men. das planvolle und zielgerichtete Vorgehen, welches sich nicht auf Einzelmaßnahmen beschränken darf.

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Der uns heute Bürokratieabbau darf einen bestimmten thematischen vorliegende Gesetzentwurf trägt den Titel „Entwurf ei- Fahrplan nicht vermissen. Die Bundsregierung benennt nes Gesetzes zur Umsetzung von Vorschlägen zu Büro- zwar auf ihrer Homepage ihre fünf strategischen Hand- kratieabbau und Deregulierung aus den Regionen“. Die- lungsfelder zum Bürokratieabbau; wo diese aber in ih- ses kleine Gesetz ist das Ergebnis einer der wenigen rem ersten Artikelgesetz wiederzufinden sind, bleibt ihr guten Ideen der Bundesregierung. Das Ergebnis ist lei- Geheimnis. Bürokratieabbau muss aber bei den dring- der so dürftig, dass es schon beschämend ist. Darum ist lichsten Bereichen anfangen. die Debatte für eine so späte Stunde auf die Tagesord- nung gesetzt worden. Die Regierung traut sich nicht, Die Union hat der Regierung ausgereifte Vorarbeiten diesen blamablen Entwurf zu normalen Tageszeiten zu präsentiert. Wir haben zwei Anträge, einen systemati- präsentieren. Sie hofft, dass die Journalisten schon schen Antrag mit einem dauerhaft geltenden Grundkon- schlafen. zept und einen Antrag, in dem wir die wichtigsten Berei- che benennen, die es als Erstes anzugehen gilt. Dass sie es unterlassen hat, auf die Kritik des Bundes- Unsere Forderungen lauten – ich habe sie bereits des rates an ihrem Entwurf einzugehen, dass sie die Debatte Öfteren an dieser Stelle erwähnt, aber ich werde nicht zweimal verschoben hat – dies sind nun wirklich eindeu- müde, gute Vorschläge immer wieder zu benennen –: tige Indizien, wie sehr sie sich innerlich von diesem Ent- Abschaffung des Verbandsklagerechts, denn die kata- wurf distanziert hat. Es ist unverschämt, anderthalb Tage strophale Verzögerung wichtiger Infrastrukturprojekte vor der Debatte einen ressortübergreifenden Änderungs- durch Verbandsklagen darf Deutschland nicht länger antrag in Form eines komplizierten Artikelgesetzes vor- lahm legen. Das grauenhafteste Beispiel ist hier der zulegen. Frankfurter Flughafen: Die Planungsunterlagen für den In seiner Eindruck erweckenden Anfangsphase ver- Bau der neuen Landebahn sind aneinander gereiht länger (B) kündete der Wirtschaftsminister uns die Idee von als die neue Bahn mit ihren geplanten 2 800 Metern (D) Modell-, Test- bzw. Innovationsregionen. Wolfgang selbst. 650 Sätze von je 60 Aktenordnern mit gut 17 500 Clement griff damit auf Vorschläge des Altbundeskanz- Textseiten, 790 Plänen und Karten sowie 34 Gutachten lers Helmut Schmidt zurück, der sich hierzu bereits in ei- sind ein Beitrag zur Beschäftigung der Papierindustrie; nem eindrucksvollen Artikel in der „Zeit“ vom 4. Okto- sie schaden aber unserem Standort im internationalen ber 2001 geäußert hat. Wettbewerb. Und von der Idee bis zur Umsetzung wer- den schätzungsweise zwölf Jahre verstreichen. Bei ei- Über ein halbes Jahr dauerte es dann, bis die drei Mo- nem 3 Milliarden Euro teueren Investitionsprojekt mit dellregionen Ostwestfalen-Lippe, Bremen und West- 100 000 neuen Arbeitsplätzen ist diese Bürokratielast mecklenburg ins Rennen gingen. Ihnen zur Seite stellte unverzeihlich. das BMWA die Unternehmensberatung Roland Berger sowie die Bertelsmann-Stiftung. Die Union will die Azubis aus der Schwellenwertbe- rechnung herausnehmen und den Pro-rata-temporis- 1 000 Vorschläge, daraus 34 Vorschläge als Kabinett- Grundsatz bei der Berücksichtigung von Teilzeitbeschäf- vorlage, 29 Vorschläge als Kabinettsbeschluss, daraus tigten in den Schwellenwerten festschreiben. Deutsch- neun im vorliegenden Artikelgesetz. lands annähernd 160 bestehenden sozialpolitischen Schwellenwerte sind radikal zu vereinfachen. Auch die Verbände, die Wirtschaft sowie der Bundes- rat sehen dieses Gesetz nur als allerersten zaghaften An- Ein Grundübel und die Hauptursache der leeren Ver- satz. Die Unionsfraktion ist sehr enttäuscht von den er- sprechungen beim Bürokratieabbau aber ist das Men- folglosen Bemühungen der rot-grünen Bundesregierung schenbild der Bundesregierung. Das Problem ist näm- auf diesem Gebiet. Die Idee der Testregionen ist still und lich, dass sie den Bürgerinnen und Bürgern in diesem leise begraben worden. Denn direkte bundesweite Um- Staat nichts mehr zutraut. Sie schreibt ihnen alles per setzung von Entbürokratisierungsvorschlägen bedeutet Gesetz vor, da sie nur an den regelnden Arm des Gesetz- immer nur eine Einigung auf kleinstem Nenner. gebers glaubt. An die Kreativität und den Mut der Bür- ger hat sie noch nie geglaubt. Doch der Wirtschaftsminister hat Anfang Februar un- ermüdlich die zweite Phase der Testregionen ausgerufen. Wie kann es dann sein, dass eine Staatssekretärin von Die Hoffnung auf „Vor-Ort-Testen“ wurde diesmal we- Bundesminister Otto Schily, dem das Thema Bürokratie- nigstens gleich zu Anfang genommen. Es stellt sich die abbau unterstellt ist, erst jüngst folgende Äußerung von Frage, wozu dann das Ganze – bloße Einrichtung regio- sich gibt: „Ein schlanker Staat, der dünn ist und keine naler Kummerkästen? Und welche Testregionen werden Kraft hat, ist nicht das, was wir uns wünschen“? 15062 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Jüngster Beweis der Einstellung der Bundesregierung Die Bundesregierung sollte die jüngste Allensbach- (C) zu ihren Wählerinnen und Wählern ist das ADG. Wenn Umfrage in der „FAZ“ als tiefrotes Warnsignal nehmen. eine Bundesregierung in Zeiten schwächster Konjunktur, Auf die Frage „Was schadet der deutschen Wirtschaft wachsender Arbeitslosenzahlen und überhandnehmen- vor allem, was beeinträchtigt die Zukunftschancen der der Bürokratie ein solches Gesetz verabschiedet, dann deutschen Wirtschaft besonders?“ geben 83 Prozent der kann man nur noch die Hände vors Gesicht schlagen. Befragten die Antwort „Zu viel Bürokratie, zu viele Ge- Der Weg zu Neueinstellungen wäre damit bei uns end- setze und Verordnungen“. Erst als Zweites werden hohe gültig versperrt. Der einzige Bereich, in dem neue Be- Steuern und Abgaben genannt. schäftigung geschaffen würde, wären Anwälte, Gerichte und Archivare. Wie lange will die Bundesregierung also noch untätig herumsitzen? Sie sollte mehr auf die Bürger vertrauen Dieses Gesetz ist eine unheilvolle Gemengelage aus und staatliche Überregulierung zurückdrängen. komplizierten Regelungen zu Negativ- und Unschulds- beweisen, aus Haftung für Diskriminierung durch Dritte Birgit Homburger (FDP): Bundeswirtschaftsminis- und aus Haftung bei bloßer Gefahr der Diskriminierung. ter Wolfgang Clement war angetreten, überflüssige Bü- Außerdem enthält es ein Klagerecht der Gewerkschaften rokratie abzubauen. Sein großspurig als Masterplan Bü- nach Forderungsabtretung. Dabei verlangt Brüssel dies rokratieabbau bezeichnetes Vorhaben ist längst zu den gar nicht. Es gibt ein gutes Zitat von Herrn Verheugen zu Akten gelegt. Der heute vorliegende Gesetzentwurf dem Problem: stand schon mehrfach auf der Plenartagesordnung. Er Die deutsche Umsetzung der EU-Gesetzgebung wurde mehrfach kurzfristig abgesetzt, da man unbedingt gleicht einem Pferd, dem nach Durchlaufen des noch Änderungsanträge des Bundesrates einarbeiten deutschen Gesetzgebungsverfahrens so viel drauf- wollte. Wer nun aber erwartet hätte, dass zwischenzeit- gesattelt wird, dass es danach als Kamel mit zwei lich nachgebessert wurde, um so substanziell und quali- Höckern im Bundesgesetzblatt steht.“ tativ beim Bürokratieabbau einen Fortschritt zu errei- chen, sieht sich getäuscht. Die wohnungsrechtlichen Die Bundesregierung sollte ihre gesetzgeberische Vorschriften wurden aus dem Gesetzentwurf herausge- Energie darauf ausrichten, in die andere Richtung zu nommen, die Überschrift wurde neu gefasst und die Ar- marschieren, also Gesetze zu entschlacken. Aber sie will tikel neu durchnummeriert. ja keinen schlanken Staat! Von den 28 Punkten Änderungsvorschläge des Bun- Der Arbeitgeber verliert die Freiheit, in seinem Be- desrates werden mit dem seit gestern reichlich spät, aber trieb diejenigen zu beschäftigen, die er beschäftigen endlich vorliegenden Änderungsantrag, gerade einmal (B) möchte. Der Mensch mit seiner ganzen Persönlichkeit drei übernommen. Daneben wird mit dem Änderungsan- (D) bleibt so auf der Strecke. Menschen mit schlechteren trag wieder einmal der eigene Gesetzentwurf von Rot- Noten werden schlechte Karten haben. Diskriminieren Grün an etlichen Stellen verschlechtert. bedeutet übrigens „unterscheiden“, es ist somit ein neu- Warum gibt Minister Clement nicht endlich den Weg tral besetzter Begriff. Will die Bundesregierung im Ernst zu liberaleren Ladenschlussregelungen der Länder frei? alltägliches Unterscheiden sanktionieren? Warum schafft er nicht die Pflichtrestmülltonne von Ich hatte kürzlich ein Gespräch mit dem Chef von Gewerbeabfällen ab? Warum setzt er sich nicht intensi- Fraport. Er hat mir erklärt, was es bedeutet, bei jährlich ver für die generelle Umstellung der Umsatzsteuervor- 16 000 Einstellungen für jeden, den man nicht nimmt, auszahlung auf die Ist-Besteuerung ein? Alles das hat genau zu dokumentieren, warum man ihn nicht nimmt. der Wirtschaftsminister schon vorgeschlagen. Alles das Hier wird ein gigantisches bürokratisches Monster ge- würde wenigstens zu spürbaren Kostenentlastungen schaffen. Die Dummen sind natürlich wieder ganz be- führen. Mit all dem ist er aber stets im Kabinett ge- sonders die mittelständischen Unternehmen, die keine scheitert. Übrig bleiben solche Gesetzentwürfe, wie der üppig ausgestattete Rechtsabteilung haben. vorliegende. Damit können einige wenige Vereinfa- chungen erreicht werden, die allerdings nicht wirklich Dieses Bevormundungsgesetz zeigt deutlich den Un- kostenrelevant sind. Die enormen Kosten komplizierter terschied zwischen unserem Menschenbild und dem der Steuer- und Abgaberegelungen, des zu starren Arbeits- Regierung. Wir sind für die eigenverantwortliche Frei- rechts, umfangreicher statistischer Meldepflichten oder heit des Einzelnen. Dies umfasst auch die Freiheit, Ver- eines hoch komplizierten Umweltrechts hemmen Wirt- träge zu schließen, mit wem man will. Die Regierungs- schaftswachstum und Beschäftigung und behindern den fraktion aber hat keinerlei Vertrauen in die Bürger und bitter nötigen Aufschwung. Im Bereich dieser zentralen regelt daher alles, was man – noch – tun darf, in Geset- Kostenblöcke tut sich mit diesem Gesetzentwurf weiter- zen. Sie schafft die Vertragsfreiheit ab, die die Grund- hin nichts, obwohl eine vom Bundeswirtschaftsminister lage für Privateigentum und unsere soziale Marktwirt- in Auftrag gegebene Studie des Instituts für Mittel- schaft ist. standsforschung die jährliche Belastung der Unterneh- men zwischenzeitlich bei 46 Milliarden Euro taxiert. Es geht um den Wahnsinn Bürokratie. Wir leben im- mer noch in Zeiten, in denen Kommunen die Standfes- Angesichts der Tatsache, dass dieser Gesetzentwurf tigkeit von Grabsteinen durch amtlich geprüfte Grab- die Vorschläge der von Bundeswirtschaftsminister steinrüttler überprüfen, weil einmal ein umgefallener Clement eingerichteten so genannten „Testregionen für Grabstein eine Friedhofsbesucherin verletzt hat. Innovationsregionen“ umsetzen soll, ist der Gesetzent- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15063

(A) wurf eine Blamage. Von den mit großem Aufwand in arbeitet wurden. Die Bundesregierung hatte sich im (C) drei Testregionen erarbeiteten tausend Vorschlägen wer- April 2004 zu einer sofortigen bundesweiten Umsetzung den jetzt nur wenige, vergleichsweise unwesentliche um- dieser Vorschläge entschlossen. Durch den Verzicht auf gesetzt. Der Gesetzentwurf offenbart erneut, dass sich eine Erprobung sollen die vorgesehenen Erleichterungen Herr Clement in der Bundesregierung nicht durchsetzen sofort allen zugute kommen. kann. Dabei ist der Abbau von Bürokratie ein wichtiger Baustein für den Aufschwung. Der Bundesrat hatte dem Gesetzentwurf insgesamt grundsätzlich zugestimmt, aber gleichzeitig klargestellt, Die FDP steht konsequent für Bürokratieabbau. Der dass er ihn nur als einen ersten Schritt der Bundesregie- Änderungsantrag enthält, ebenso wie der ursprüngliche rung in Richtung Bürokratieabbau betrachtet. Auch ei- Gesetzentwurf, einige Kleinigkeiten, die in Richtung nige Abgeordnete mögen diese zehn Änderungen nicht Bürokratieabbau gehen. Gleichzeitig enthält er zum Bei- gerade für die wichtigsten in Sachen Bürokratieabbau spiel im Gaststättenrecht Verschlechterungen, die mit halten. Wer sich aber einen Überblick über die einzelnen Punkt 3.1. des Änderungsantrags noch weiter verschärft Regelungen verschafft, dürfte schnell erkennen, dass werden. Hier wird mehr, nicht weniger Bürokratie ge- insbesondere die Vorschläge zum Umweltbereich oder schaffen. Dieser Punkt wurde im Übrigen vom Bundes- zum Gewerbe- und Gaststättenrecht und auch zur Be- rat nicht gefordert, sondern von den Koalitionsfraktio- schleunigung des Gerichtsverfahrens der Wirtschaft eine nen reingemogelt. ganze Reihe von Erleichterungen bringen werden. Einer allgemeinen Forderung nach einer „Trockenlegung des Vorschläge des Bundesrates zur Entbürokratisierung bürokratischen Sumpfes“ kann eben nur durch konkrete im Gaststättenrecht, zum Beispiel betreffend Art. 8 Nr. 01, Einzelmaßnahmen entsprochen werden. Wer realistisch die wenigstens eine gewisse kostenentlastende Wirkung ist, weiß, dass der „große Wurf“ beim Bürokratieabbau hätten entfalten können, werden hingegen nicht aufge- kaum gelingen kann. nommen. Die Länder haben während des ersten Durchgangs im Im Übrigen stellt sich die Frage, ob die unter Punkt 4 Bundesrat gezeigt, dass ihre Auffassungen zu einzelnen des Änderungsantrages aus dem Vorschlag des Bundes- Bürokratieabbaumaßnahmen teilweise erheblich diffe- rates übernommene Änderung wirklich Sinn macht. Dort rieren. Beispielsweise sieht das Gesetz in der Gewerbe- wird die Bußgeldobergrenze erhöht für Betriebe, die ordnung und im Gaststättengesetz eine „Erprobungs- nach der Gewerbeordnung einen jährlichen Prüfbericht klausel“ vor, die den Ländern ein befristetes Abweichen vorlegen müssen. Zur Begründung wird ausgeführt, dass von Berufsausübungsregelungen ermöglichen soll. Der- Gewerbetreibende diesen Prüfbericht „häufig nicht, artige Experimentier- oder Öffnungsklauseln werden an nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig vor- anderer Stelle oft von den Ländern gefordert. Im Bun- (B) legen“. Deshalb solle die Erhöhung des Bußgeldes die (D) desrat wurde sie jedoch jeweils mehrheitlich vom Unter- Motivation der Gewerbetreibenden zur Abgabe der Un- ausschuss Wirtschaft abgelehnt, vom Wirtschaftsaus- terlagen erhöhen. Dies ist nicht wirklich ein Vorschlag schuss dann aber wieder angenommen, im Plenum zum Bürokratieabbau, eher ein Vorschlag zur Einnahme- wiederum abgelehnt – die reinste Achterbahnfahrt! verbesserung beim Staat. Bundesrat und Koalition hät- ten sich besser damit beschäftigt, wie die komplizierten Bei den Vorschlägen zur Liberalisierung des Gaststät- Anforderungen so vereinfacht werden können, dass be- tenrechts reichten die Stellungnahmen der Länder von troffene Gewerbetreibende die Anforderungen schnell der Ablehnung jeglicher Änderungen bis hin zur fast und ohne großen Aufwand erfüllen und damit problem- vollständigen Aufhebung der Gaststättenerlaubnis. los fristgerecht abgeben können. Diese wenigen Beispiele zeigen: Auch beim Bürokra- Als Fazit bleibt festzuhalten: Der Gesetzentwurf ent- tieabbau, bei dessen Zielrichtung wir uns doch alle so hält ebenso wie der Änderungsantrag Elemente, die in schön einig sind, ist es nicht immer einfach, einen an- die richtige Richtung gehen. Sie enthalten beide aber nehmbaren Kompromiss für alle Beteiligten zu finden. auch Elemente zusätzlicher Bürokratisierung. Ansonsten Hier erinnere ich mich an Bertolt Brechts Ausspruch: bleibt das Ganze eine Ansammlung kaum kostenrelevan- „Ein gutes Argument wirkt wundervoll – nur nicht auf ter Petitessen. Aus diesen Gründen lehnt die FDP-Bun- den, der etwas hergeben soll!“ destagsfraktion sowohl den Änderungsantrag als auch den Gesetzentwurf ab und stellt fest, dass Bundeswirt- Nochmals zurück zu der vom Bundeskabinett im Mai schaftsminister Clement beim Bürokratieabbau vollstän- 2004 verabschiedeten Liste von 29 Vorschlägen aus den dig gescheitert ist. Regionen: Neben den mit diesem Gesetz umzusetzenden Vorschlägen sind weitere sechs Vorschläge zwischen- zeitlich bereits umgesetzt. Zwei Vorschläge sind in eben- Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär beim Bundes- falls im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Gesetzen minister für Wirtschaft und Arbeit: Ihnen liegt heute der enthalten. In Anhörungsverfahren mit den Ländern und Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung von Verbänden befinden sich nochmals sechs Vorschläge. Vorschlägen zu Bürokratieabbau und Deregulierung aus den Regionen zur Beschlussfassung vor. Wie Ihnen be- Die Umsetzung einiger Vorschläge ist von der Ent- kannt ist, wird damit ein Großteil der Vorschläge zur Än- scheidung der Länder abhängig. Beispielsweise wird der derung von Bundesrecht umgesetzt, die von den drei am Vorschlag „Erweiterter Zugriff auf Abteilung I des Projekt „Innovationsregionen“ beteiligten Regionen Grundbuches“ durch den Verzicht auf den Nachweis des Bremen, Ostwestfalen-Lippe und Westmecklenburg er- berechtigten Interesses von den Ländern abgelehnt. Ein 15064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) weiterer – sehr bedeutsamer – Vorschlag ist direkt durch bekommen. Sehr oft sind die Anbaubedingungen quali- (C) Vereinbarung der Länder mit den Berufsgenossenschaf- tativ noch besser, als sie bei der Verleihung des Biosie- ten umzusetzen. Es handelt sich um die „Zusammenfüh- gels verlangt werden. Das bedeutet, dass zum Beispiel rung des staatlichen und berufsgenossenschaftlichen die Gesellschaft zur Förderung der Dritten Welt, kurz Vollzugs im Arbeitsschutz“. Die Umsetzung dieses Vor- gepa, und andere Handelsgesellschaften, die fairen Han- schlags wird zu wesentlichen Erleichterungen im Be- del betreiben, sich nicht nur mit der Frage der sozialen reich des Arbeitsschutzes führen. Gerechtigkeit beschäftigen, sondern auch besonders den ökologisch-nachhaltigen Aspekt berücksichtigen. Auch wenn mancher Vertreter der Opposition die im Gesetzentwurf enthaltenen Änderungen nur als Klein- Auf diesem Hintergrund stellen Sie sich bitte eine Ta- kram und als unwesentlich abtun will, bin ich zuver- fel Schokolade vor, die ein Produkt aus fairem Handel sichtlich, dass wir mit dem Artikelgesetz und der Umset- ist. Die Rohstoff- bzw. Zutatenlieferanten dieser Scho- zung der weiteren Vorschläge aus den Regionen beim kolade sind Partner aus Bolivien, der Dominikanischen Bürokratieabbau ein ganzes Stück vorankommen wer- Republik, Paraguay und den Philippinen. In diesen Ent- den. Hierdurch bestärkt wird die Bundesregierung eine wicklungsländern und noch vielen mehr wird in vielen weitere Runde zur Sammlung und Umsetzung von Vor- Projekten des fairen Handels ökologische Landwirt- schlägen zum Bundesrecht unter Einbeziehung von Re- schaft betrieben. Die Schokoladen werden von einer un- gionen einleiten. Für die Unterstützung durch die Regio- abhängigen Kontrollstelle überprüft. Das gilt für weitere nen und aus den Reihen des Parlaments bin ich dankbar Produkte wie getrocknete Früchte, für Nüsse, für Kaffee und bitte Sie um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf der und für Tee. Bundesregierung zur Umsetzung der Vorschläge aus den Natürlich, und das ist richtig, setzt die EU-Richtlinie Regionen. keine Höchststandards an. Das ist aber auch nicht das Ziel: Das Biosiegel ist eine Orientierungshilfe für die Verbraucher. Es geht international um eine möglichst Anlage 6 einheitliche und glaubwürdige Zertifizierung im Bereich Zu Protokoll gegebene Reden der ökologischen Landwirtschaft. Seit der Einführung des Biosiegels ist die Zahl der Bioprodukte gewachsen. zur Beratung des Antrags: Das deutsche Bio- siegel erfolgreich umsetzen (Tagesordnungs- Die Richtlinie sagt aber nicht, dass die verschiedenen punkt 16) Hersteller nicht über die Kriterien des Biosiegels hinaus- gehen dürfen. So haben zum Beispiel Produkte des fai- ren Handels aus Nordindien, aber auch aus Sri Lanka ein Reinhold Hemker (SPD): Ich beginne mit einer po- (B) zusätzliches Siegel des Ökoverbandes Naturland. Ich (D) sitiven Nachricht: Mit der Einführung des Biosiegels freue mich darüber, dass zum Beispiel der Verein Natur- 2001 wurde ein Zertifizierungsinstrument geschaffen für land e. V. sein Siegel nur an Produzenten vergibt, die Produkte aus ökologischer Landwirtschaft. Das gilt nicht Auflagen hinsichtlich des ökologischen Landbaus erfül- nur für einzelne Produkte, sondern auch für die Kombi- len, die noch um ein Vielfaches strenger als die Anforde- nation von Produkten, die auch aus verschiedenen Län- rungen für das Biosiegel sind dern kommen können und teilweise auch kommen müs- sen. Mit dieser Standardfestlegung sind wir national und Ich selbst begleite mit vielen Freundinnen und Freun- international auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Land- den der internationalen Solidaritätsarbeit die Arbeit der wirtschaft einen großen Schritt weiter gekommen. Ich schon genannten gepa und anderer Organisationen, die freue mich darüber, dass sich unsere Kolleginnen und sich für die Anliegen des fairen Handels und der ökolo- Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion kritisch mit dem gischen Produktion einsetzen. Ich freue mich darüber, Thema beschäftigt haben. Denn nur die Verbreitung der dass die Themen, die mit dem Biosiegel, dem fairen hinter dem Biosiegel stehenden Gedanken kann für die Handel und der ökologischen Produktion zusammenhän- Verbraucher zu immer weiteren möglichst hohen Quali- gen, eine immer stärkere Verankerung in der Gesell- tätssicherungen führen. Schade ist allerdings, dass der schaft und seit einigen Jahren auch in der Politik gefun- Antrag der CDU/CSU-Fraktion vorwiegend die natio- den haben. Seit einigen Jahren ist ein deutlicher nale Ebene im Blick hat. Die internationale Komplexität Bewusstseinswandel in der Bevölkerung zu beobachten. wird dabei nicht berücksichtigt. Viele Menschen haben verstanden, was sie bewirken können, wenn sie nur ein paar Cent mehr für ihren Kaf- Die internationalen Aspekte dürfen aber nicht unter fee ausgeben und Kaffee kaufen, der mit dem Biosiegel den Tisch fallen, denn es muss besonders betont werden: und mit dem „TransFair“-Siegel ausgezeichnet ist. Im- Viele ausländische Produkte haben einen Qualitätsstan- mer mehr Menschen kaufen mittlerweile einen Teil ihrer dard, der die Bedingungen für das Biosiegel mehr als er- Lebensmittel in Biosupermärkten, Eine-Welt-Läden oder füllt. Besonders hervorzuheben sind an dieser Stelle die sie finden die Produkte in den zahlreichen Regalen mit Produkte aus den ärmeren und ärmsten Regionen der Biosiegel-Produkten im Discounter. Welt, Produkte also aus den Entwicklungsländern oder besser gesagt aus den sich entwickelnden Ländern. Zu Die Bundesregierung fördert seit einigen Jahren – zu nennen sind nahezu alle Produkte aus dem fairen Han- nennen sind die zuständigen Ministerinnen Renate del, durch den die Produzenten – meistens Kleinbauern Künast und Heidemarie Wieczorek-Zeul – im Rahmen und Genossenschaften – eine angemessene Bezahlung ihrer Öffentlichkeitsarbeit den Gedanken des fairen Han- und einen Mindestpreis bei niedrigem Weltmarktpreis dels und die ökologische Produktion. Zwei Initiativen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15065

(A) nenne ich beispielhaft: erstens die Initiative „Echt ge- Umsatzsteigerungen wie im Ökolandbausegment su- (C) recht – Clever Kaufen“, zweitens die so genannte „fair- chen ihresgleichen, täglich kommen Produkte und Un- feels-good“-Kampagne. Beide Kampagnen haben mit ternehmen dazu, der Ökolandbau geht in die Breite, auch unterschiedlichen Schwerpunkten die Verantwortung für wenn Sie ihn noch als Nischenproduktion kleinreden eine gerechtere Welt und die Verantwortung für die wollen. Schöpfung besonders betont. Damit werden die ehrgeizi- Meinen Sie wirklich, die großen Unternehmen der gen Ziele in den Bereichen Armutsbekämpfung, soziale globalen Ernährungsbranche würden so um Beteiligun- Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit hervorgehoben. gen kämpfen, wenn da nicht ein entsprechendes Markt- Im Übrigen: Es gab im November 2000 einen ein- potenzial dahinter stehen würde? Sie reden von Her- stimmig vom Bundestag verabschiedeten Antrag „Frei- kunftsnachweisen und meinen: Das Biosiegel wird zu willige Agrar-Umwelt/Sozial-Zertifizierung für Ent- stark und es muss gestutzt werden. Auf welchem Scho- wicklungsländer“. Mit diesem Antrag haben wir koriegel steht, aus welchem Land der Kakao stammt, der gemeinsam internationale Zertifizierungssysteme und verarbeitet wurde? Wo steht, dass verbackener Weizen die damit verbundene Einführung von Qualitätssiegeln Ihres Frühstücksbrötchens auf deutschem Boden ge- gefordert. Das dann später eingeführte Biosiegel ist ein wachsen sein muss? herausragender Baustein für die Entwicklung, die wir Was schlagen Sie hier eigentlich vor? Woher wissen damals im Auge hatten. Wir sind national; und interna- Sie, ob der Demeterreis aus Thailand oder Brasilien tional auf dem richtigen Weg. Es gibt erste Erfolge. Die kommt? Angebaut wird er nach den strengen, wie Sie sa- Konzentration auf die Verstärkung eines nationalen An- gen „höheren Produktionsstandards deutscher Ökover- satzes wäre bei allem Verständnis für die Förderung von bände“. Oder nehmen Sie den Naturlandverband, er ist regionalen und nationalen Produkten im Zuge einer re- zwischen Ägypten und Vietnam weltweit tätig, welt- gionalen und nationalen Vermarktung ein Rückschritt. größter Zertifizierer für Ökokaffee, bildet Kleinbauern- organisationen aus und setzt sich für fairen Handel und Eine persönliche Anmerkung zum Schluss: In den Weiterbildung im ländlichen Raum ein, sozusagen ein meisten Gemeinden meines Wahlkreises finde ich in den Global-Fair-Player und das alles mit Stammsitz im baye- Hofläden Produkte aus fairem Handel; das Gleiche gilt rischen Gräfelfing und nach unseren strengen deutschen für die Bioläden in den Städten und Gemeinden. Gerade Verbandsrichtlinien. Wollen Sie das auch alles auf die ist ein Produkt auf den Markt gekommen, ein Saft aus Etiketten pappen? Ich würde sagen: Sozialstandards sind Äpfeln der Region und Mangos aus Entwicklungslän- auch unverzichtbare Verbraucherinformationen. Wuss- dern, natürlich aus ökologischer Produktion. Das ist ein ten Sie, dass Naturland Sozialrichtlinien erlassen hat? positives Beispiel. So kann es weitergehen. Wenn wir (B) alle in diesem Sinne am gleichen Strang ziehen, viel- Natürlich sind viele Verbraucherinformationen wün- (D) leicht können wir dann ja ein Markenkennzeichen finden schenswert, doch erstens ist das Biosiegel hier der fal- – zunächst blau mit goldenen Sternen für Europa und sche Ort und zweitens müssen diese Vorgaben auf alle dann die Symbole für die Vereinten Nationen – sodass Lebensmittel übertragen werden. Hätten Sie die Aus- die nationalen Kennzeichnungen überflüssig werden. schussunterlagen dieser Woche gelesen, wüssten Sie, dass Deutschland – unsere Ministerin Künast – beim Das passt zum Eine-Welt-Gedanken im Zeitalter der nächsten Agrarrat die Kommission auffordern will, Globalisierung. „Vorschläge für eine umfassende Herkunftskennzeich- nung für alle Lebensmittel vorzulegen“. Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute mit der Ihre Argumentation zum Schutz des deutschen Öko- Drucksache 15/4840 den Antrag der Fraktion der CDU/ landbaus ist scheinheilig, da Sie keine Gelegenheit aus- CSU mit Namen: „Das deutsche Biosiegel erfolgreich lassen, den Einsatz der Grünen Gentechnik – im Wider- umsetzen.“ Die Überschrift hat leider nichts mit dem fol- spruch zu allen Ökolandbauverbänden – zu fordern. genden Inhalt gemein. Die CDU/CSU war gegen das Biosiegel und nun will sie das erfolgreiche Wirken unse- Der Ökolandbau ist ein Marktsegment wie viele und rer Politik torpedieren. er ist genauso dem Wettbewerb ausgesetzt wie alle ande- ren Marktteilnehmer auch. Das Biosiegel ist nicht dazu Lassen Sie mich kurz zusammenfassen. Das Biosiegel geschaffen, deutschen Betrieben einen protektionisti- ist ein Garant dafür, dass das ausgezeichnete Produkt schen Marktvorteil zu verschaffen. Die Beurteilungsba- nach den strengen Richtlinien der Gemeinschaft für den sis ist ausschließlich das Gemeinschaftsrecht, dessen ökologischen Landbau erzeugt wurde. Nicht mehr, aber Anforderungen alle Produkte gleich zu erfüllen haben. auch nicht weniger. Das Biosiegel ist weder ein patrioti- Sind hier Standards zu niedrig, so gebe ich Ihnen sches Bekenntnis – welches mit den Landesfarben zu gerne die Adresse für Änderungsforderungen in Brüssel. hinterlegen ist – noch ein Markenzeichen oder ein Doch geben Sie sich keine Mühe: Auf dieser Baustelle Schutzwall für die Verbände des ökologischen Land- sind wir schon längst aktiv. baus. Das Biosiegel ist vielmehr eine eindeutige und un- missverständliche Orientierung für den Verbraucher, der Bereits im November 2001 hat die Bundesministerin auf einen Blick weiß, was er von diesem Produkt zu hal- in einem Memorandum die europäische Weiterentwick- ten hat. Sie reden von unverzichtbaren Verbraucherinfor- lung der Ökostandards eingefordert: Ausweitung des mationen – das Biosiegel ist fast ein Musterbeispiel für Kontrollsystems, Gesamtumstellung, Futter überwie- Verbraucherinformation. Und es wirkt! gend aus eigenem Betrieb, Verbot von konventionellem 15066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Hühnermist und Gülle und anderes mehr. Das Dioxin im duktionsstandards deutscher Ökoverbände. Nach Mei- (C) Ei aus Käfig- und Freilandhaltung haben Sie zur Grünen nung der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Woche entdeckt, das Biosiegel zur Biofach. Was soll muss dies auch mit dem deutschen Biosiegel kenntlich dieser billige Aktionismus? Sie schaden nur der deut- gemacht werden, erstens, weil die Verbraucherinforma- schen Landwirtschaft. tion unzureichend ist, und zweitens, weil eine nachhal- tige Ausdehnung des Ökolandbaus in Deutschland be- Marlene Mortler (CDU/CSU): In der Diskussion im hindert wird. Denn Ministerin Künast betreibt Deutschen Bundestag zur großen Anfrage der CDU/ Ökopolitik durch die Hintertüre. Wir wollen, dass sich CSU-Fraktion über die Situation des ökologischen Land- der Verbraucher bewusst für Produkte entscheiden kann, baus in Deutschland am 1. Juli 2004 habe ich gefordert, die vor seiner Haustüre wachsen. Ökologie und Regio- dass das Biosiegel für die deutschen Ökobauern zur nalität gehören für mich sehr stark zusammen. Erfolgsstory werden muss. In der Zwischenzeit ist die Vor diesem Hintergrund hat die CDU/CSU-Fraktion Entwicklung nicht stehen geblieben. ein schlüssiges Konzept zur Weiterentwicklung des Die Messe Nürnberg, der Veranstaltungsort, an dem deutschen Biosiegels entworfen. Neben der Konformität heute die Biofach 2005 beginnt, hat im November 2004 nach EG-Öko-Verordnung 2092/91 müssen weitere Pro- in einer Pressemitteilung diese Entwicklung eindeutig duktionskriterien verankert werden. Diese zusätzlichen beschrieben. Dort steht, dass die Biobranche weltweit Kriterien umfassen die Gesamtbetriebsumstellung, den deutlich zulegt. Ausschluss konventioneller Wirtschaftsdünger sowie die Verpflichtung der Fütterung von Grünfutter an Pflan- Bei manchen Produkten, so die Pressemeldung, san- zenfresser im Sommer und damit das Verbot der Ganz- ken die Erzeugerpreise, was zu heftigen Protesten der jahressilagefütterung. Nur Ökolandbau, der diese zusätz- Bauern führte und einige Betriebe der Biolandwirtschaft lichen Anforderungen erfüllt, wird nach Meinung der sogar zur Aufgabe zwang. Der Bund Ökologische Le- CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Grundgedanken des bensmittelwirtschaft berichtet anlässlich der Biofach, ökologischen Landbaus gerecht. Alles andere ist ein Ver- dass erstmals die Zahl der Betriebe, die aus der ökologi- rat an unseren Ökobauern! schen Landbewirtschaftung ausscheiden, die Zahl der Neu-Umsteller leicht übertroffen habe. Dies ist nicht Ge- Darüber hinaus ist nach unserer Auffassung vorzu- genstand einer Erfolgsstory, sondern Ergebnis unzurei- schreiben, dass die Angabe der Herkunft als eigenstän- chender Politik für den Ökolandbau. dige Information in Kombination mit dem Biosiegel ver- pflichtend sein muss. Bei Eiern und bei Rindfleisch Ich werde heute aber nicht nur meine Kritik deutlich – konventionell – schreibt es die EU schon verpflichtend artikulieren, sondern auch aufzeigen, wie man die Politik vor. Dabei sollte die Landesfarbe des Herkunftsgebietes (B) für den Ökolandbau aus Sicht der Union verbessern dem Biosiegel unterlegt werden. Pflanzliche Erzeug- (D) kann. nisse müssen demnach auf der Anbaufläche in dem je- Ein wesentlicher Knackpunkt der von der Bundesre- weiligen Herkunftsgebiet gewachsen sein. Bei Fleisch gierung falsch gestellten Weiche ist das deutsche Biosie- müssen die Tiere im jeweiligen Herkunftsgebiet geboren gel. Es hat eine hohe Marktdurchdringung. Es hat sich und in einem landwirtschaftlichen Betrieb dieses jewei- etabliert. Aber es ist mit entscheidenden Mängeln für Er- ligen Herkunftsgebietes gehalten worden sein. Ein Ver- zeuger und besonders auch für die Verbraucher verbun- arbeitungserzeugnis darf demnach das Biosiegel nur den. Die Kriterien für das Biosiegel richten sich nach dann tragen, wenn mindestens 80 Prozent der Zutaten den aktuellen Bestimmungen der EG-Öko-Verordnung. aus dem jeweiligen Herkunftsgebiet stammen. Mit dem deutschen Biosiegel können also Erzeugnisse Wir alle wissen, dass wir in einer zunehmend globa- gekennzeichnet werden, die entsprechend der EG-Öko- lisierten Welt leben. Deshalb geht es bei der Nachbes- Verordnung produziert und kontrolliert werden. Es bein- serung des Biosiegels nicht darum, ausländische Ware haltet aber keine Informationen über die konkreten auszugrenzen. Das heißt, die Verwendung des nachge- Produktionsstandards und über die Herkunft des Öko- besserten Biosiegels für Produkte aus anderen Mitglied- produktes. Mit den aktuell geltenden gesetzlichen staaten muss wie bisher ohne Einschränkung möglich Grundlagen ist es also möglich, sowohl im Ausland er- sein. Vielfalt beim Essen ist auch Lebensqualität zeugte Ökoprodukte mit dem deutschen Biosiegel zu kennzeichnen, als auch im Ausland erzeugte ökologi- In einem Artikel der „Welt“ vom 20. Januar 2005 hat sche Nahrungsmittelrohstoffe nach Deutschland einzu- die Vorsitzende der Verbraucherzentrale Bundesverband, führen, in Deutschland zu verarbeiten und die Endpro- Frau Edda Müller, zur missverständlichen und unklaren dukte mit dem deutschen Biosiegel zu versehen. Der Lebensmittelkennzeichnung klar Stellung bezogen. Ich Verbraucher erfährt nichts über die Herkunft des Öko- zitiere: „Schönfärbende Worte vermitteln das gewisse produktes und über die darin enthaltenen Nahrungsmit- Extra, halten aber oft nicht, was sie versprechen“. Genau telrohstoffe. Außerdem ist der Verbraucher in dem „gu- das ist der Punkt! Der Verbraucher braucht eindeutige ten“ Glauben, unter dem deutschen Biosiegel ein und zusätzliche Informationen, damit er wirklich eine deutsches Bioprodukt zu kaufen. Wahlfreiheit hat. Der Verbraucher hat ein Recht darauf! Wie bereits erwähnt, basiert das deutsche Bio-Siegel Natürlich ist es unabdingbar, diese Nachbesserung auf Grundlage der EG-Öko-Verordnung. Die deutschen des Biosiegels im Einvernehmen mit der Wirtschaft an- Ökobauern produzieren aber im Gegensatz zu vielen zupacken. Deshalb habe ich gestern im Rahmen eines ausländischen Ökobauern zumeist mit den höheren Pro- Pressegesprächs mit wichtigen Wirtschaftsvertretern die- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15067

(A) ses Konzept der Öffentlichkeit vorgestellt. Mit großem nahme an der Biofach, damit sie sich diesen Markt er- (C) Erfolg! Unser Konzept stellt dem Verbraucher mehr In- schließen können. formationen über die Herkunft der Ökoprodukte zur Ver- fügung und es sorgt für Standards, die der Ökolandbau Da ist richtig Musik drin. So etwas muss man doch beachten muss, wenn man es mit dem Ökolandbau ernst unterstützen, anstatt zu sagen: Weil die Künast dafür ist, meint. bin ich dagegen – schon aus Prinzip. Wo sind eigentlich Ihre Prinzipien geblieben? Nach- Katastrophal ist das Signal von Brandenburg, Sachsen haltiges Denken und Handeln sind für Sie inzwischen und Baden-Württemberg, ausgerechnet in solch einer Si- Fremdwörter. Mit Ihrer Politik führen Sie den Grund- tuation als Land aus der Umstellungsförderung für die gedanken der Agenda 21, den Grundgedanken des öko- landwirtschaftlichen Betriebe auszusteigen. logischen Landbaus, ad absurdum. Wo bleibt Ihre Ge- Ich weiß nicht, ob allen klar ist, wie viele Arbeits- samtbilanz? Wo bleibt Ihr ganzheitlicher Ansatz? Sie plätze mittlerweile am Ökolandbau hängen. Der Bund schauen schon längst nicht mehr durch die Brille unserer für Ökologische Lebensmittelwirtschaft stellte kürzlich Ökobauern, Sie schauen durch die Brille des Macht- eine interessante Rechnung vor: Die Agrogentechnik- erhalts! Branche beschäftigt in Deutschland nach einer Studie Ich denke an Ihre Worte in der Süddeutschen Zeitung des Wirtschaftsanalyseunternehmens Ernst & Young im vom 24. Februar 2005: „Im Handel gibt es einen richti- Jahr 2003 weniger als 2 000 Personen bei einem Umsatz gen Schub bei Bioprodukten, der Markt brennt!“ Unsere von nur 150 Millionen Euro. Dagegen ist die ökologi- Biobauern und unsere Verbraucher brennen auch! Und sche Landwirtschaft ein boomender Wirtschaftssektor: sie brennen noch mehr, wenn sie hören, dass Ihr Ministe- Mit 3,5 Milliarden Euro jährlich liegt er um ein Vielfa- rium gegen Haushaltsrecht verstoßen hat, weil Sie Geld ches über dem der Agrogentechnik-lndustrie. Die Zahl aus dem Bundesprogramm Ökologischer Landbau für der Beschäftigten hat sich in den letzten zehn Jahren auf Ihre Selbstdarstellung, für Ihre politische Grundausrich- 150 000 Personen verdoppelt. Ich freue mich, dass Frau tung zweckwidrig missbraucht haben; so der Bundes- Mortler den Erfolg des Biosiegels ausdrücklich betont. rechnungshof zweimal, weil Sie es das erste Mal nicht Die von ihr genannte Zahl von mehr als 20 000 gekenn- glauben wollten. zeichneten Produkten ist in der Tat eindrucksvoll. Ihre Politik ist in ein gefährliches Fahrwasser geraten. Dieser Antrag zeigt, dass Frau Mortler durchaus viel Ihre Glaubwürdigkeit leidet immer mehr, wie auch die von der Praxis des ökologischen Landbaus versteht. Reaktionen auf den Fischer-Erlass zeigen. Sie werfen Meine Frau und ich stehen seit 1983 bei Bioland unter uns vor, den Standort Deutschland schlecht zu reden. Vertrag und ich weiß daher um die Probleme, die die un- (B) Aber Sie machen und Sie regieren ihn schlecht! Ent- terschiedlichen Standards mit sich bringen. Es ist für uns (D) scheiden Sie sich also schnell, ob Sie eine Agrarwende nicht immer leicht, uns als Premiummarke gegen No- mit den Biobauern und mit den Verbrauchern wollen Name-Bioprodukte durchzusetzen. oder gegen sie. Unser Antrag zeigt den richtigen Weg Ich erinnere mich sehr gut an die Entstehungsge- dorthin. Er ist glaubwürdig und er ist zukunftsweisend. schichte des Biosiegels: Damals haben alle mit am Tisch gesessen im Ministerium: die Arbeitsgemeinschaft bäu- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erliche Landwirtschaft, der Deutsche Bauernverband, NEN): Ich freue mich, dass wir heute endlich einmal ei- die Bioanbauverbände, die Verbraucherverbände und der nen Antrag der CDU/CSU diskutieren können, der die Handel. Zwei Linien wurden dabei diskutiert: erstens ein ökologisch wirtschaftenden Betriebe ernst nimmt, an- starkes nationales Zeichen auf Grundlage der Arbeitsge- statt ihnen aus parteipolitischem Kalkül mutwillig Steine meinschaft Ökologischer Landbau, was vor allem der in den Weg zu werfen, wie es die Opposition leider zu Bauernverband unterstützte, oder zweitens ein starkes jeder sich bietenden Gelegenheit tut – nicht wahr Frau europäisches Zeichen auf Grundlage der EU-Bio-Ver- Klöckner und Herr Goldmann? ordnung. Die Mehrheit der Verbände, insbesondere die Verbände mit den höchsten Standards, hat damals für „Die Union entdeckt die Biobauern“ titelte die „Süd- den zweiten Weg gestimmt. Darüber kann man geteilter deutsche Zeitung“ gestern. Der Deutsche Bauernverband Meinung sein. Aber die Entscheidung ist so gefallen. teilt heute mit: Die gestiegene Verbraucherakzeptanz für Letztlich ermöglichen wir damit auch weiterhin einen Bioprodukte sei auch dem Biosiegel zu verdanken, das Qualitätswettbewerb im Ökosektor. für Markttransparenz sorge. Ich finde es gut, wenn Sie endlich anerkennen, dass wir es hier mit einer ernst zu Wenn ich sehe, wie international sich dieser Markt nehmenden Branche mit riesigem Potenzial zu tun ha- auf der Biofach präsentiert, so glaube ich, dass es richtig ben. 3,5 Milliarden Euro Umsatz, mehr als 10 Prozent war, sich für ein Zeichen auf Basis der einheitlichen EU- Zuwachs im letzten Jahr trotz genereller Kaufzurückhal- Bioverordnung zu entscheiden, deren Standards übrigens tung. Rewe ist dabei, eine eigene Biokette aufzubauen. für jeden nachlesbar sind. Separatismus, den Bayern ja Jeden Monat machen bundesweit neue Biomärkte auf. nicht fremd, wäre die falsche Antwort auf diese dynami- sche Marktentwicklung. Heute begann in Nürnberg die weltgrößte Biomesse, die Biofach. Zwei Drittel der Aussteller sind internatio- Was die Herkunft angeht, so haben wir in der Tat das nale Händler. Der brasilianische Minister Rodrigues ist Problem, dass wir bisher außerhalb der EU die Her- Hauptgast der Messe und Brasilien Partnerland. Viele kunftskennzeichnung nur in sehr wenigen Ausnahmesi- Länder unterstützen ihre Produzenten aktiv bei der Teil- tuationen zwingend vorschreiben können. Das verbietet 15068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) uns eine EU-Verordnung mit dem klangvollen Namen Natürlich wird daneben die Auszeichnung nach EU- (C) „Lebensmitteletikettierungsrichtlinie“. Standards bestehen bleiben müssen, weil das EU-Recht dies gebietet. Produkte, die nach der EG-Öko-Verord- Ministerin Renate Künast verhandelt in Brüssel eine nung produziert werden, müssen in Deutschland weiter- entsprechende Änderung dieser Richtlinie – und insge- hin entsprechend gekennzeichnet vertrieben werden heim weiß ja auch die Opposition, auch wenn sie das können. Doch durch Einführung besonderer Qualitäts- jetzt gleich mit lauter Empörung zurückweisen wird, kriterien für das deutsche Biosiegel wird dem Verbrau- dass niemand von uns allen in Brüssel mehr durchsetzen cher deutlich vor Augen geführt, dass mit diesem ausge- kann als Renate Künast. zeichnete Produkte ein Plus an Qualität und Kontrolle aufweisen. Selbstverständlich müssen auch ausländische Im Übrigen, Frau Kollegin Mortler, ist es heute schon Produkte, insbesondere aus anderen EU-Mitgliedstaaten, jedem Hersteller möglich, freiwillig neben dem Biosie- das deutsche Biosiegel verwenden dürfen, sofern die gel zum Beispiel die deutsche Fahne als Herkunftssym- strengen Auflagen ausnahmslos erfüllt werden. bol anzubringen. Die Herkunft eines Lebensmittels ist für die Verbrau- Wenn wir, wie Sie fordern, die EU-Standards für Bio- cher ein wichtiges Kriterium. Wir haben das gerade in produkte weiter anheben wollen, dann müssen wir das in einer Kleinen Anfrage, die wir diese Woche eingebracht Brüssel tun, nicht in Berlin. Insofern machen Ihre Forde- haben, nochmals ausdrücklich betont. Die Herkunfts- rungen hier keinen Sinn. kennzeichnung ist aber nicht Sache des Biosiegels. Die Sie sehen, wir sind jederzeit gern bereit, über die Verbraucher brauchen klare und eindeutige Kennzei- – wie Sie schreiben – „nachhaltige Ausdehnung des öko- chen, keine Multifunktionskennzeichen, die nur neue logischen Landbaus in Deutschland“ zu sprechen. Verwirrung stiften. Das Biosiegel gibt Auskunft über eine bestimmte Produktionsform – und hoffentlich als- Ich mache das seit 20 Jahren und ich freue mich, bald über die Eigenschaft als Premium-Ökoprodukt nach wenn wir das in Zukunft gemeinsam tun! strengen deutschen Standards. Die Herkunftskennzeich- nung aber muss eigens erfolgen. Auch hierin liegt ein wichtiges Marketinginstrument für die Landwirtschaft, Hans-Michael Goldmann (FDP): Bio ist nicht die mit regionalen Produkten und Spezialitäten werben gleich Bio. Ökoprodukte nach der EG-Öko-Verordnung kann. – und damit auch nach dem deutschen Biosiegel – müs- sen weniger strengen Kriterien genügen als solche, die Nach der Vorstellung der Liberalen wird sich der Le- von deutschen Landwirten produziert werden. Dies spie- bensmittelmarkt in alle Richtungen diversifizieren. Da- (B) gelt sich jedoch in dem deutschen Biosiegel nicht wider. mit in der großen Vielzahl unterschiedlicher Produkte (D) Damit können alle Produkte ausgezeichnet und bewor- der Verbraucher eine Leitlinie finden kann, sind klare ben werden, die „nur“ den europäischen Standards genü- Vorgaben für Kennzeichnungen notwendig. Kennzei- gen. Damit geraten deutsche Landwirte ins Hintertref- chen müssen Auskunft über die Art der Produktion fen. Sie müssen mit Produkten aus aller Welt – zum Beispiel nach ökologischen Standards –, die be- konkurrieren, die mit dem deutschen Biosiegel ausge- sondere Qualität eines Produkts – zum Beispiel durch zeichnet sind, obwohl sie mehr Aufwand betreiben müs- ein verbessertes deutsches Biosiegel als Premiumpro- sen, um ihre Produkte als „Bio“ oder „Öko“ in Deutsch- dukt – und die Herkunft – zum Beispiel durch konse- land herstellen und vertreiben zu können. quente Anwendung der europäischen Herkunftskenn- zeichnungsmöglichkeiten – geben. Mehr Transparenz Die FDP hat Frau Künast, von Anfang an gewarnt, schafft Vertrauen und gibt den Verbrauchern notwendige mit dem deutschen Biosiegel die für die deutschen Öko- Informationen für eine aufgeklärte und mündige Ent- bauern traditionell strengen Anbaurichtlinien zu unter- scheidung über ihre Lebensmittel. laufen. Sie haben mit dem Öko-Kennzeichengesetz die deutschen Landwirte vor große Probleme gestellt. Es ist an der Zeit, einmal gründlich über diese Kenn- zeichnungsregelungen zu diskutieren und an Lösungen Bioprodukte, die nach den deutschen Standards pro- zu arbeiten, um der heimischen Landwirtschaft Chancen duziert und veredelt werden, sind Premiumprodukte. zu eröffnen und das Informationsinteresse der Verbrau- Diesen Standortvorteil müssen wir nutzen. Das deutsche cher zu bedienen. Biosiegel weckt beim Verbraucher deshalb den Ein- druck, es handelte sich um Waren mit besonderer Quali- In diesem Sinne ist die FDP-Fraktion gerne bereit, in tät. Doch durch das Öko-Kennzeichengesetz können den anstehenden Beratungen des vorliegenden Antrags auch Waren mit dem deutschen Biosiegel ausgezeichnet der Unionsfraktion sich des Themas einmal grundsätz- werden, die eben „nur“ nach EU-Standards produziert lich anzunehmen. und hergestellt werden. Viel sinnvoller wäre es doch, das deutsche Biosiegel Anlage 7 nur an solche Produkte zu vergeben, die auch nach den deutschen Biostandards hergestellt werden. Damit kann Zu Protokoll gegebene Rede das deutsche Biosiegel zu einem echten Marketing- instrument gerade für die heimische Landwirtschaft wer- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur den. Regelung bestimmter Altforderungen (Altfor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15069

(A) derungsregelungsgesetz – AFRG) (Tagesord- wird ein Ausgleich für die Länder aus Vereinfachungs- (C) nungspunkt 17) gründen außerhalb dieses Gesetzes stattfinden. Bis zur zitierten Rechtsprechung des BGHs wurden Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Forderungen als Finanzvermögen angesehen und Heute beschäftigen wir uns mit dem Altforderungsrege- auch geltend gemacht; offen stehen noch Forderungen in lungsgesetz, einem Gesetz, bei dem nicht gleich auf den Höhe von etwa 5 Millionen Euro, die zumindest wirt- ersten Blick ersichtlich ist, was sich dahinter verbirgt, ei- schaftlich dem Bund zustehen. nem Gesetz, welches aus lediglich drei Artikeln besteht, wobei der letzte das In-Kraft-Treten regelt. Da die Existenz der Forderungen als solche nicht strittig ist, lediglich Unsicherheit hinsichtlich des Forde- Die Kürze des Gesetzes legt die Vermutung nahe, rungsinhabers besteht, muss nicht zuletzt auch im Inte- dass es sich um eine einfache, übersichtliche Norm han- resse der betroffenen Schuldner Klarheit hinsichtlich des delt. Ebenso drängt sich zunächst einmal die Frage auf, Gläubigers geschaffen werden. Damit werden künftig ob es sich überhaupt lohnt, ein Gesetz mit nur drei Arti- nicht nur Zahlungsverweigerungen, sondern auch Rück- keln zu verabschieden. Und spätestens an diesem Punkt forderungen vermieden werden. scheiden sich die Geister. Art. 2 des AFRG bezieht sich auf die Behandlung der Wir Grüne befürworten den vorliegenden Gesetzes- Altforderungen im Zusammenhang mit der Rückübertra- entwurf; denn er wird bei einer hochkomplexen Materie gung ursprünglich belasteter ehemaliger Unternehmens- im Bereich der Alteigentumsfragen für Rechtssicherheit grundstücke und stellt klar, dass trotz Untergang der sorgen. Grundpfandrechte die Forderungen – das Gesamtvolu- men wird mit etwa 6,5 Millionen Euro veranschlagt – Was verbirgt sich hinter dem AFRG? Grundlage ist heute noch bestehen und auch dann zu begleichen sind, zunächst einmal die Tatsache, dass der Bund nach wenn die an sich vorgesehene Anrechnung im Entschä- Art. 22 Abs. 1 des Einigungsvertrages den gesetzlichen digungsverfahren fehlschlägt. Auftrag hat, die Forderungen des ehemaligen DDR- Staatshaushaltes für das Finanzvermögen geltend zu ma- Ungleichbehandlungen bestehen derzeit, da Verbind- chen. Hierzu gehören auch Forderungen von Kreditinsti- lichkeiten im Falle der Unternehmensschädigung nicht tuten und Versicherungen, die durch besatzungsrechtli- bei der Restitution der Vermögenswerte, sondern als Ab- che und -hoheitliche Maßnahmen in der damaligen zugsposten bei der Bemessung der Entschädigung be- sowjetischen Besatzungszone enteignet wurden. rücksichtigt werden. Diese Anrechnung (Entschädigung = Einheitswert des Unternehmens x 1,5–Grundstücks- (B) (D) Art. 1 des AFRG regelt, dass die Forderungen dem wert zum Zeitpunkt der Rückübertragung–Verbindlich- Bund, genauer gesagt: dem Entschädigungsfonds, zuste- keiten) schlägt aber regelmäßig wegen des hohen Grund- hen. Dieser Klarstellung bedarf es, nachdem der BGH stückswertes fehl. Dies hat zur Konsequenz, dass die darauf hingewiesen hat, dass Enteignungsmaßnahmen Restitutionsberechtigten im Vergleich zu denjenigen, die eines Staates nur Vermögenswerte erfassen können, die nur auf eine Entschädigung verwiesen sind, unverhält- auf seinem Staatsgebiet belegen sind. Rechtsunsicherheit nismäßig bevorteilt werden. Sie erhalten nicht nur ein entstand dadurch in den Fällen, in welchen Kreditinstitut Grundstück oder einen Teil davon zurück, sondern auch und Eigentümer zum Zeitpunkt der Enteignung im Wes- noch lastenfrei. ten wohnten, das dinglich gesicherte Grundstück hinge- Indem durch Art. 2 ein Leistungsanspruch zugunsten gen im Osten belegen war, denn unter Umständen kann der Gläubiger von Forderungen, deren Anrechnung fehl- bei schuldrechtlichen Forderungen eine von der Bele- schlägt, in Höhe dieses Fehlschlagens geschaffen wird, genheit des Grundstückes abweichende Belegenheit der werden Ungleichbehandlungen ausgeschlossen, das vom Forderung gegeben sein, so zum Beispiel, wenn auf den Gesetzgeber Gewollte durchgesetzt. Es werden auch Wohnsitz des Eigentümers als Schuldner abgestellt wird. nicht etwa neue Benachteiligungen eingeführt. Zum ei- Wenn aber von Forderungen im Westen auszugehen nen sind Doppelleistungen durch Anrechnung sowie wäre, hätte eine Enteignung nicht erfolgen können. Da- durch Zahlung ausgeschlossen. Zum anderen wird, da mit wären die ursprünglichen Gläubiger noch immer die ursprüngliche Forderung nach wie vor besteht, insbe- Forderungsinhaber, gehörten die Forderungen nicht zum sondere der Wegfall der dinglichen Sicherung den Be- Finanzvermögen gemäß Art. 22 Abs. 1 Einigungsver- stand der Forderung nicht berührt hat, keineswegs ein trag – würden wir nicht mit diesem Gesetz die Forderun- zusätzlicher Zahlungsanspruch geschaffen, sondern eine gen für die Zukunft dem Entschädigungsfonds zuweisen. bereits vorhandene Zahlungsverpflichtung neu geregelt. Auf diese Regelungsmöglichkeit hat der BGH aus- Auch wenn dieses AFRG für den Entschädigungs- drücklich hingewiesen. Eine solche Regelung ist auch fonds lediglich die rechtliche Grundlage schafft, Forde- sachgerecht, da die Kreditinstitute für jene Forderungen rungen in relativ geringem Umfang geltend zu machen, bereits entschädigt worden sind, Ausgleichsforderungen so darf dies kein Grund sein, den Gesetzentwurf abzu- von den alten Bundesländern erhalten und ihre ursprüng- lehnen, zumal auch die Beseitigung von Ungleichbe- lichen Forderungen an das Schuldnerland der Aus- handlungen und die Schaffung von Rechtssicherheit gleichsforderung abgetreten haben. Der Bund hat die hohe Werte darstellen, die als solche Gesetze rechtferti- Ausgleichsforderung überwiegend getilgt; soweit nicht, gen. 15070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Anlage 8 Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Mit der Ver- (C) abschiedung des Alterseinkünftegesetzes wurde im Zu Protokoll gegebene Reden vergangenen Jahr die einkommensteuerrechtliche Be- zur Beratung des Antrags: Abziehbarkeit von handlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Alters- Aufwendungen zur Altersvorsorge (Tagesor- bezügen neu geordnet. Die CDU/CSU-Bundestagsfrak- dungspunkt 18) tion hat dem schrittweisen Übergang zu einer nachgelagerten Besteuerung von Renteneinkünften zu- gestimmt, da die Einzahlungen und Sparbeiträge für die Horst Schild (SPD): Die Unionsfraktionen beab- spätere Rente ebenfalls in Stufen steuerfrei gestellt wur- sichtigen mit ihrem Antrag, die Abziehbarkeit von Auf- den. Allerdings haben wir dem Gesetz in seiner Gesamt- wendungen für die so genannte Rürup-Rente über den heit nicht zugestimmt, weil insbesondere die private und im AltEinkG gesteckten Rahmen auszuweiten. die betriebliche Altersvorsorge erhebliche Defizite auf- wiesen. Sie fordern den § 10 Abs, 2 EStG so zu modifizieren, dass Beiträge zum Aufbau einer Rürup-Rente unabhän- Heute geht es erneut um die Fragen, die auch im ver- gig davon abziehbar sind, an welchen Anbieter des Al- gangenen Jahr während der Debatte eine große Rolle tersvorsorgeproduktes sie geleistet werden. spielten: Welche Altersvorsorgeprodukte können ge- wählt werden? Welche Beiträge für diese Altersvorsorge Die SPD-Fraktion signalisiert ihre Diskussionsbereit- können steuerfrei eingezahlt werden? schaft gegenüber diesem Anliegen. Die jetzige Regelung sieht so aus, dass nach der Ver- Wir sagen aber deutlich, an den im Gesetz genannten abschiedung des Alterseinkünftegesetzes auf der einen Kriterien für die Rürup-Rente halten wir fest. Sie darf Seite Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherun- weiterhin nicht vererbbar, nicht übertragbar, nicht be- gen, den landwirtschaftlichen Alterskassen sowie den leihbar, nicht veräußerbar und nicht kapitalisierbar sein berufsständischen Versorgungseinrichtungen und auf der und keinen Anspruch auf Auszahlungen begründen. anderen Seite Beiträge zum Aufbau einer kapitalgedeck- ten Altersversorgung – so genannte Rürup-Rente oder Wir sollten in der weiteren Beratung klären, ob aus Basisrente – als Sonderausgaben abgezogen werden Gründen der Wettbewerbsneutralität zwischen Versiche- können. rungs- und Investmentfondsanbietern die Auflage von Produkten zur Alterssicherung möglich ist, wenn der In der parlamentarischen Beratung haben wir uns da- Ausschluss der Vererbbarkeit und die anderen in § 10 mals geeinigt. Während in dem ursprünglichen Gesetz- Abs. 1 Nr. 2 b EStG genannten Voraussetzungen vorlie- entwurf nur Versicherungsprodukte als Altersvorsorge- (B) gen, Durch diesen Wettbewerb könnte Produktvielfalt produkte zugelassen waren, wurde auf diese (D) und Preiswettbewerb für den Anlieger sichergestellt Einschränkung entsprechend einer Forderung der CDU/ werden. CSU-Bundestagsfraktion verzichtet. Der Ausdruck „Versicherungsunternehmen“ wurde deshalb aus dem Die Union stellt in ihrem Antrag fest: Text herausgenommen und durch die neutrale Bezeich- Der kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge nung „Verträge“ ersetzt. Der Wille des Gesetzgebers, die kommt angesichts der demographischen Entwick- Vorschrift wettbewerbsneutral zu fassen, wurde damit lung in Deutschland eine immer größere Bedeutung umgesetzt. Damit sollte ein Wettbewerb um die leis- zu. Mit dem Übergang zur nachgelagerten Besteue- tungsfähigsten Finanzprodukte eröffnet werden. Voraus- rung im Rahmen des Alterseinkünftegesetzes sind setzung war die Garantie einer lebenslangen Rente. erste Schritte in die richtige Richtung unternom- Nach Abschluss der Beratungen wurde ein handwerk- men, um die Attraktivität kapitalgedeckter privater licher bzw. redaktioneller Fehler festgestellt. Denn be- Altersvorsorge zu erhöhen. züglich der steuerlichen Absetzbarkeit der Beiträge wird in § 10 Abs. 2 Einkommensteuergesetz festgehalten, Trotz dieser Feststellung haben sich CDU/CSU im dass nur die Beiträge als begünstigt bezeichnet werden, Deutschen Bundestag bislang jeder politischen Mitver- die an Versicherungsunternehmen geleistet werden. antwortung bei den Entscheidungen dieses Hauses zur Einführung der kapitalgedeckten privaten Altersvor- Mit dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sorge und zur Verbesserung der betrieblichen Altersvor- zur Abziehbarkeit von Aufwendungen zur Altersvor- sorge entzogen. sorge fordern wir nun, dass die Vorschrift des § 10 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes so angepasst wird, Nicht genug damit, haben sie in der Vergangenheit dass die Beiträge zum Aufbau einer Rürup-Rente unab- insbesondere gegen die neu geschaffenen Möglichkeiten hängig davon abziehbar sind, an welchen Anbieter sie der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge polemisiert geleistet werden. und die Menschen verunsichert. Nach einer Anfang des Jahres veröffentlichten Umfrage des Instituts für Demo- Angesichts der demographischen Entwicklung in skopie Allensbach haben 80 Prozent der Befragten bis- Deutschland kommt der kapitalgedeckten privaten Al- lang keine Kenntnis von der Rürup-Rente. Das muss tersvorsorge eine immer größere Bedeutung zu. Deshalb sich ändern. Lassen Sie uns zukünftig gemeinsam dafür muss um die Zustimmung der Verbraucher geworben werben, dass sich die Situation im Interesse der Alters- werden und den Wünschen Rechnung getragen werden. vorsorge der Bürgerinnen und Bürger verbessert. Nicht alle Verbraucher wollen ihre private Altersvor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15071

(A) sorge ausschließlich auf Versicherungsprodukte konzen- Rente garantieren und müssen deshalb entsprechend (C) trieren. Erst die Streuung auf eine Vielzahl unterschiedli- gleich behandelt werden. Alle Vorsorgeprodukte unter- cher Produkte ermöglicht ein Altersvorsorgevermögen liegen den Bedingungen, dass der Anbieter eine Garantie mit gänzlich unterschiedlichem Risiko/Rendite-Profil. für das eingezahlte Kapital sowie eine lebenslange Rente gewährleistet. Die Finanzdienstleister müssen in einen Wettbewerb untereinander eintreten, in dem alle Qualitätsaspekte der Die jetzige Gesetzeslage entspricht nicht dem ur- Anlageprodukte auf dem Markt einander transparent ge- sprünglichen Willen des Gesetzgebers. Der Steuerpflich- genübergestellt werden können. Dazu benötigen wir eine tige wählt nicht das passende Produkt, sondern entschei- produktneutrale Definition der Altersvorsorgeinstru- det, welches Produkt steuerlich vorteilhafter ist. Dies mente und somit eine wettbewerbsneutrale Fassung des führt erneut zu Wettbewerbsverzerrungen. § 10 des Einkommensteuergesetzes. Die Begründung der nachgelagerten Besteuerung mit Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass die Konzentration auf Leibrenten kann nicht nachvollzogen Steuervorteile für die Kapitallebensversicherung aufge- werden. Die damit verbundene Einschränkung der Sou- hoben wurden. In der Begründung betonte die Bundesre- veränität der Bürger ist weder aus sozialen noch aus gierung ausdrücklich, dass durch steuerliche Förderun- wirtschaftlichen oder haushaltspolitischen Gründen ver- gen gegen das vom Gesetzgeber explizit genannte Ziel, tretbar. Wettbewerbsbeschränkungen abzubauen, verstoßen werde. Carl-Ludwig Thiele (FDP): Mit diesem Antrag zur Eine Emnid-Umfrage für den Allgemeinen Wirt- Abziehbarkeit von Aufwendungen zur Altersvorsorge schaftsdienst – AWD – vom Februar 2005 hat gezeigt, zielt die Fraktion der Union darauf, die Vorschrift des dass von 1 000 Befragten nur 20,7 Prozent der jetzigen § 10 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes so anzupas- Form der Rürup-Rente zustimmen. Insbesondere die sen, dass Beiträge zum Aufbau einer Rürup-Rente unab- mangelnde Vererbbarkeit und Beleihbarkeit und das Ver- hängig davon abziehbar sind, an welchen Anbieter sie bot der Kapitalisierbarkeit werden als Gründe genannt. geleistet werden. Es ist deshalb wichtig, dass die Attraktivität einer priva- Hierzu möchte ich zunächst für die Fraktion der FDP ten Altersvorsorge nicht zusätzlich durch Konzentration festhalten, dass wir es nach wie vor für einen fundamen- auf ein Versicherungsprodukt bzw. auf einen engen talen Fehler halten, dass die so genannte Rürup-Rente Leibrentenbegriff beschränkt wird. nicht vererblich, nicht übertragbar, nicht beleihbar, nicht Das Ziel ist daher – so war es auch bei der Verab- veräußerbar und nicht kapitalisierbar gestaltet ist. Frak- schiedung des Alterseinkünftegesetzes formuliert –, eine tionsübergreifend sind wir der Meinung, dass wir den (B) (D) steuerrechtliche Gleichbehandlung aller Altersvorsorge- Bürgern die Empfehlung geben sollen, sich nicht nur auf produkte zu erreichen. Hierzu gehören zum Beispiel die Rente als einzige Einnahmequelle im Alter zu verlas- auch Fondssparpläne und Banksparpläne, welche eine sen. Wir müssen die Bürger auffordern, zusätzliche Al- Auszahlung des Kapitals gemäß den Vorgaben frühes- tersvorsorge zu betreiben. Dies fällt derzeit naturgemäß tens ab dem 60. Lebensjahr in Form von lebenslangen besonders schwer, weil durch die Politik von Rot-Grün Auszahlplänen bzw. lebenslangen Renten vorsehen. Der das verfügbare Einkommen der Menschen in den ver- mündige Verbraucher sollte gerade hier ermutigt wer- gangenen Jahren nicht nennenswert gestiegen ist. den, verschiedene Möglichkeiten der kapitalgedeckten In der Praxis erleben wir insbesondere von Rot-Grün, Altersvorsorge abzuwägen, um die für seine persönliche dass dazu aufgefordert wird, private Altersvorsorge zu Situation passende Form zu wählen. Die jetzige Be- betreiben. In Wirklichkeit werden aber alle Instrumente, schränkung der nachgelagerten Besteuerung auf einen mit denen dieses geschehen kann, erheblich einge- engen Leibrentenbegriff ist nichts anderes als eine Be- schränkt und in ihrer Attraktivität so weit reduziert, dass vormundung der Bürgerinnen und Bürger. sie kaum noch Anreiz bieten, zusätzliche private Alters- Es stehen dem auch keine haushaltspolitischen vorsorge zu betreiben. Gründe entgegen, da sich der persönliche Sonderausga- Dieses gilt zum Beispiel für neu abgeschlossene Le- benabzug nicht erhöhen würde, sondern lediglich auf bensversicherungsverträge ab 2005. Bislang waren die mehrere Anlageformen verteilt werden könnte. Erträge aus den Lebensversicherungen steuerfrei. Für Zudem ist nicht einzusehen, dass bei der Riester- Verträge ab dem 1. Januar 2005 werden wesentliche Rente, die ja gerade die reduzierten Renten aus der ge- Teile davon steuerpflichtig. Zudem hat die rot-grüne setzlichen Rentenversicherung kompensieren soll, auf Koalition gemeinsam mit der Union beschlossen, dass ein breites Anlagespektrum zurückgegriffen werden auf Lebensversicherungen und Betriebsrenten mit der kann, während die Rürup-Rente den starken Einschrän- Auszahlung ab dem 1. Januar 2005 der volle Kranken- kungen auf Versicherungsprodukte unterliegen würde. versicherungsbeitrag gezahlt werden muss. Das heißt, die angesparten Beträge werden einer zusätzlichen Be- Es ist auch nicht einsehbar, dass eine fondsgebundene lastung unterzogen. Dieses schmälert die Attraktivität Rentenversicherung, also ein Fondssparplan im Mantel der Direktversicherungen und Betriebsrenten. eines Versicherungsvertrages, als Vorsorgeplan akzep- tiert wird, während einem Banksparplan oder In- Die auch von der Bundesregierung angesetzte Zahl an vestmentsparplan die Anerkennung als Vorsorgeprodukt Verträgen für zusätzliche Altersvorsorge durch die verwehrt wird. Alle Produkte müssen die lebenslange Rürup-Rente wird bei weitem nicht erreicht. Dieses 15072 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) müsste für alle Fraktionen des Deutschen Bundestages mal andere möchten die kommunale Anwendung einbe- (C) Anlass dafür sein, dass das Konzept der zusätzlich priva- ziehen in die Aufzeichnungspflicht – was durchaus eine ten kapitalgedeckten Altersvorsorge grundsätzlich über- Überlegung wert ist. arbeitet und mit weiteren Anreizen versehen werden In der Summe muss aber festgehalten werden, dass in sollte. diesem Punkt Einigkeit besteht. Mit diesem Antrag greift die Union eine Facette die- Wo besteht noch Einigkeit? Zum einen in der Gebüh- ses Komplexes heraus. Hiernach ist im § 10 Abs. 2 renregelung. In der vorläufigen Zulassung nach § 15c – Nr. 2 a Einkommensteuergesetz festgelegt, dass Voraus- auch hier Einigkeit. setzung für den Abzug der Beträge für Vorsorgeaufwen- dungen ist, dass sie „an Versicherungsunternehmen“ ge- Was bleibt, ist natürlich die Uneinigkeit. Doch was leistet werden. Schon im Vorgriff auf die Beratungen im wäre das auch für ein Bild, wenn wir keine strittigen Finanzausschuss des Deutschen Bundestages bitte ich Punkte hätten. Sonst wären Sie als Opposition im die Regierung um eine Stellungnahme, ob es sich bei Grunde ja vollkommen überflüssig. dieser Regelung lediglich um ein redaktionelles Verse- hen handelt. Denn für diesen Fall haben wir die Mög- Uneinigkeit besteht vor allem in zwei Punkten: Einer- lichkeit, diese Regelung kurzfristig zu ändern. seits in der Verlängerung von Übergangsfristen für wi- derrufene Pflanzenschutzmittel. Das halte ich aus Grün- Für die FDP möchte ich vor der entsprechenden Bera- den der Gefahrenvorbeugung im Sinne des tung im Finanzausschuss schon feststellen, dass wir eine Vorsorgeprinzips für wenig sinnvoll. Förderung der privaten Altersvorsorge für zwingend not- Andererseits steht die Einvernehmensregelung des wendig erachten. Unter diesem Gesichtspunkt werden Umweltbundesamtes mal wieder in der Diskussion. Hier wir auch die Beratungen im Finanzausschuss konstruktiv muss ich feststellen, dass trotz einiger Verbesserungen begleiten. tatsächlich nicht alles reibungslos läuft. Wir werden die Zusammenarbeit und die Arbeitsabläufe bei der Zulas- sung von Pflanzenschutzmitteln weiterhin aufmerksam Anlage 9 und kritisch beobachten. Zu Protokoll gegebene Reden Ich bin sehr erfreut darüber, dass in den wichtigen zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- Punkten Einvernehmen besteht, denn in der Sache betten setzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes wir uns ein in eine Gesamtstrategie, die wir in unserem (Tagesordnungspunkt 19) Land und in Europa weiter nach vorne treiben. Nur um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: In Europa wur- (B) (D) Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute den Ge- den im Jahr 2003 knapp 300 000 Tonnen aktive Wirk- setzentwurf der Bundesregierung zur zweiten Änderung substanz in Pflanzenschutzmitteln abgesetzt, in Deutsch- des Pflanzenschutzgesetzes. Die wichtigsten Punkte, die land 29 000 Tonnen. Das sind im Schnitt 1,7 Kilogramm wir ändern werden, lassen sich schnell auf den Punkt Wirkstoff, die auf jeden Hektar deutscher landwirt- bringen: schaftlicher Nutzfläche verteilt werden. Wir alle wissen, über welche Substanzen wir sprechen, und daher muss Es geht um eine vernünftige Regelung im Umgang ich auch nicht betonen, dass der Umgang mit Substanzen mit parallelimportierten Pflanzenschutzmitteln – hier dieser Art zu Recht reglementiert sein muss und Forde- herrscht weitgehend Einvernehmen. rungen nach Lockerungen unverantwortlich sind. Es geht um die Aufzeichnungspflicht bei der Anwen- Vielmehr stellen wir nach wie vor fest, dass es immer dung von Pflanzenschutzmitteln – auch hier ein erstaun- wieder Verstöße gegen geltendes Pflanzenschutzrecht lich weit reichendes Einvernehmen. gibt, denn sonst dürften wir weder Rückstände im Pro- dukt noch in Gewässern oder Saumbiotopen finden. Sie Gut, die einen möchten den Forst ausklammern, da alle wissen, diese Analysewerte sind unbestechliche der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln dort verschwin- Zeugen, und es ist an uns, diese Missstände auszuräu- dend gering sein soll – doch seien wir mal ganz eifrig men. und sagen: Wenn dem tatsächlich so ist, dann ist doch auch der Aufzeichnungsaufwand verschwindend gering! Das breit abgestimmte und von der Praxis bereits an- Sollte es jedoch mal zu einer Anwendung kommen, dann genommene Reduktionsprogramm der Bundesregierung handelt es sich beim Forst doch um ein ökologisch deut- greift diesen Faden auf und wir müssen ihn in unseren lich sensibleres Gut als das Ackerland. Hier muss mit Wahlkreisen weiterspinnen. Das Prinzip „so viel wie nö- großer Sorgfalt herangegangen werden und eine zeitnahe tig, so wenig wie möglich“ muss immer wieder an die Aufzeichnung kann den Handelnden durchaus helfen, Anwenderbasis herangetragen und in den kommenden sich die problematischen Zusammenhänge deutlicher Jahren weiterentwickelt werden. Eine künstliche Fron- vor Augen zu führen und auf diese Weise ihr Problembe- tenbildung ist hier vollkommen fehl am Platze, denn es wusstsein weiter zu schärfen. geht schließlich um unser aller Umwelt. Andere rufen nach Vereinfachungen für Kleinbe- Schlagworte wie „Zwangsökologisierung“ schüren triebe, die jedoch oft aufgrund der ihnen möglichen tech- überflüssige Ressentiments, und, meine Damen und Her- nischen Ausstattung und wegen ihrer bloßen Vielzahl ren der Opposition, falls Sie es noch nicht bemerkt ha- fast problematischer sind als Großbetriebe, und noch ben: Umweltsünder zu decken und die Schäden, soweit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15073

(A) überhaupt möglich, auf Kosten der Gemeinschaft zu be- Programm Ihre ideologischen Scheuklappen entfernen. (C) heben, führt uns nicht weiter. Pflanzenschutz-Reduktionsprogramm, das heißt für mich, die Wirkungen und Chancen der Grünen Gentech- Wir setzen darauf, die Ökologisierung der Landwirt- nik auch hinsichtlich der Reduzierung von Pflanzen- schaft in die Horizontale zu bringen. schutzmitteln zu erforschen und zu erproben und nicht Ihre ewige Schwarz-Weiß-Malerei bringt uns da kei- ständig die Verbotskeule zu schwenken. Zum dritten nen Zoll weiter. Ob bei Dioxin in Freilandeiern oder in mein Appell an die Ministerin Künast und an den Minis- der Grünen Gentechnik: Stets packen Sie die Wadenbei- ter Trittin: Hören Sie endlich auf, die deutschen Land- ßer aus, die noch nicht gemerkt haben, dass die Zeit sie wirte zu kriminalisieren und stampfen Sie Ihr Projekt der längst überholt hat. so genannten verdeckten Feldbeobachtung endlich ein! Suchen Sie wieder die vertrauensvolle Zusammenarbeit Minimierung von Schadstoffen ist keine Opferbrin- mit den Landwirten, die ausdrücklich dazu bereit sind gung der Landwirtschaft mehr, sondern selbstverständ- und das mehrfach angeboten haben! lich und dauerhaft in den Berufsgeist integriert. Der überwiegende Großteil der Berufsständler weiß, dass ein Beim Einsatz und der Produktion von Pflanzen- Raubbau am eigenen Land und Gewässer zum eigenen schutzmitteln haben wir in Deutschland ein anerkannt Schaden beiträgt. Alle übrigen müssen mit Fortbildungs- hohes Niveau. Mit der Vollendung des gemeinsamen programmen und gezielten Wissenstransfers von der Binnenmarktes ist die Harmonisierung der Zulassung Forschung in die Praxis noch überzeugt werden. Zur von Pflanzenschutzmitteln eingeleitet worden. Für die Orientierung und zumindest in den Mindeststandards der Pflanzenschutzmittel ist dabei konkret festgelegt, dass Gleichbehandlung wegen brauchen alle einen klaren ge- die Wirkstoffe von Pflanzenschutzmitteln auf Gemein- setzlichen Rahmen. Dieser soll natürlich auch europä- schaftsebene geprüft werden, die Zulassung der Pflan- isch einheitlich sein. Das ist selbstredend und diese Bau- zenschutzmittel jedoch nach wie vor national erfolgt. stellen werden stetig beschickt, um der europäischen Somit wurde der freie Warenverkehr bei Pflanzenschutz- Harmonisierung Schritt für Schritt näher zu kommen. mitteln nur eingeschränkt verwirklicht. Allerdings benö- tigen importierte Pflanzenschutzmittel keine Zulassung, Im Pflanzenschutzbereich haben wir mit der europäi- wenn sie mit einem in diesem Mitgliederstaat zugelasse- schen Vereinheitlichung der Rückstandshöchstmengen nen Mittel übereinstimmen. Aus dem einschlägigen Ur- und der Marktbereinigung bei Wirkstoffen bereits viel teil des EuGH geht gleichzeitig hervor, dass ein verein- erreicht. Wir sind auf dem richtigen Weg für die Land- fachtes Verfahren zur Feststellung der Übereinstimmung wirtschaft, Verbraucher und unsere Umwelt. Begleiten zulässig ist. Sie uns doch zur Abwechslung ein Stück, statt sich hin- (B) ter Wadenbeißern und deren Scheinargumenten zu ver- Diese Probleme beim Import von Pflanzenschutzmit- (D) stecken! teln werden vom vorliegenden Gesetzentwurf aufgegrif- fen. Es werden Lösungsvorschläge formuliert. Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Gestatten Sie mir eine Die in diesem Bereich noch vorhandene Rechts- Vorbemerkung. Ich freue mich immer wieder, wenn der unsicherheit wegen des Fehlens von gesetzlichen Terminus „Pflanzenschutzmittel“ verwendet wird, ge- Regelungen muss behoben werden. Ansonsten wird das rade weil er den eigentlichen Verwendungszweck besser allgemein anerkannte deutsche Spitzenniveau bei der verdeutlicht. In Abwandlung eines bekannten Werbe- Zulassung von Pflanzenschutzmitteln wegen der derzeit spruches könnte man sagen: Für den einen ist es Teufels- vorhandenen Umgehungstatbestände konterkariert. zeug, für den anderen eine wichtige Medizin. Und beides ist richtig. Meine Fraktion bestätig ausdrücklich den grundsätzli- chen Handlungsbedarf, der mit dem vorliegenden Ge- Denn eines wird in der hektischen Debatte schnell setzentwurf aufgegriffen werden soll. Andererseits sieht vergessen: Pflanzenschutzmittel wurden in erster Linie die CDU/CSU-Fraktion erheblichen Nachbesserungsbe- eingesetzt und entwickelt, um Pflanzen zu schützen und darf, der im zuständigen Ausschuss noch diskutiert wer- damit gesunde, reichhaltige Nahrungsmittel zu produzie- den muss. Dazu einige Beispiele. ren. Gleichzeitig müssen wir unerwünschte Nebenwir- kungen bekämpfen, wie zum Beispiel Einträge ins Erstens. Bei der Pflicht des Landwirtes, Aufzeichnungen Grundwasser und die Problematik von Rückständen im über eingesetzte Pflanzenschutzmittel zu führen – § 6 – Boden bzw. in Nahrungsmitteln. Beide Seiten muss man müssen wir endlich Ordnung in das gesamte System beachten. bringen. Beispielsweise sollte die Dokumentationsart passfähig sein mit den Anforderungen, die sich aus den Gerade aus diesen Gründen unterstützt die CDU/ so genannten Cross-Compliance-Regelungen ergeben. CSU-Bundestagsfraktion das Pflanzenschutz-Reduk- Daneben muss sichergestellt werden, dass sich diese Do- tionsprogramm, weil es vom Ansatz her richtig ist. kumentationspflichten zwingend am europäischen Stan- Gleichzeitig weist meine Fraktion aber auch auf mindes- dard orientieren und nicht neue Wettbewerbsnachteile tens drei entscheidende Mängel hin. Da wäre erstens das für deutsche Landwirte schaffen. Problem der ausufernden Bürokratie, ein Monster, das ständig neue Kinder bekommt. Zweitens. In § 7 wird geregelt, dass Pflanzenschutz- mittel, deren Anwendung durch Verordnung verboten Zum zweiten sollten Sie, meine Damen und Herren ist, nach dem Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz zu von der SPD und von den Grünen, besonders bei diesem entsorgen sind. Zu prüfen wäre, ob nicht eine generelle 15074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Rücknahmepflicht des Herstellers bzw. des Importeurs Gifte. Herr Jahr, ich weiß nicht, ob wir uns hier wirklich (C) der bessere und sinnvollere Lösungsansatz wäre. Gleich- auf einen Kenntnisstand von vor 30 Jahren zurückverset- zeitig würden dann so genannte Stoßgeschäfte seitens zen sollten. Pestizide, wie die wissenschaftlich korrekte des Herstellers bei Ablauf der Genehmigungsfrist ver- Bezeichnung für Pflanzenschutzmittel lautet, sind in den mieden. allermeisten Fällen hochgiftige Substanzen. Wir haben weltweit jährlich Tausende Fälle von Pestizidvergiftun- Drittens. In letzter Zeit ist die so genannte Einfuhr gen. Sämtliche Fachleute sind sich heute einig, dass Pes- zum Eigenverbrauch durch gewerbliche Vermittler so tizide im Wasser und in der Nahrung nichts zu suchen professionalisiert, dass dadurch ein gesetzlich sanktio- haben, weil sie giftig sind. Wollen Sie das ernsthaft be- nierter Umgehungstatbestand geschaffen wird. Durch streiten, Herr Kollege Jahr? die so genannten Abholfälle können deutsche Anwender einen bedeutenden Teil der zum Eigenverbrauch vorge- Absolut indiskutabel sind aber auch die andauernden sehenen Pflanzenschutzmittel direkt vom Hersteller be- Äußerungen vom Kollegen Peter Bleser. ziehen, ohne dass diese Mittel auf ihre Verkehrsfähigkeit überprüft werden müssen. § 16 des Gesetzentwurfes Wir haben ein „Reduktionsprogramm chemischer sollte in diesem Sinne eindeutiger formuliert werden. Pflanzenschutz“ aufgelegt, das sich sehen lassen kann. Dieses Programm ist hervorgegangen aus einem vorbild- Viertens. § 16 scheint ohnehin der Gesetzesteil zu lichen Dialog aller betroffenen Gruppen: Landwirtschaft, sein, mit dem wir uns im Ausschuss noch intensiv be- Umweltschutz, Verbraucherschutz, Wissenschaft, Ver- schäftigen müssen, und das mit folgenden Fragen: Was bedeutet eigentlich chemische Übereinstimmung der waltung und Politik. Über 60 Gruppen! Gemeinsam ha- Beistoffe und des Formulierungstyps? Wie zwingend ben sie die Grundlagen für das Reduktionsprogramm ge- muss diese Übereinstimmung nachgewiesen werden? Ist legt. Bei diesem Reduktionsprogramm geht es darum, an die Formulierung hinsichtlich der Herstelleridentität aus- allen Stellschrauben zu drehen, um unter den gegebenen reichend oder wird hier das geistige Eigentum des Bedingungen das Bestmögliche zu erreichen. Problem- Herstellers gefährdet? Warum wurde, im Gegensatz zu bereiche identifizieren, Prozesse optimieren, Anwen- deutschen Herstellern, für Importprodukte eine Ausver- dungsfehler abstellen und die Anwendung von Pestizi- kaufsfrist bei Widerruf der Zulassung im Gesetzestext den auf das notwendige Mindestmaß reduzieren – darum verankert? Auf welchen Verpackungseinheiten muss die geht es im Reduktionsprogramm. Ich halte dieses Reduk- sich wie die Kennzeichnungspflicht niederschlagen? tionsprogramm für einmalig und ich rechne es den Betei- Welche Geldbußen drohen bei Kennzeichnungsverstö- ligten hoch an, dass sie trotz aller Differenzen am Tisch ßen? geblieben sind und weiter zusammen am Tisch sitzen. (B) Insgesamt, so meine ich, sollte über die Genehmi- Und dann kommen Sie, Herr Kollege Bleser, nach- (D) gungspraxis in der EU grundsätzlich diskutiert werden. dem Sie diese Entwicklung zweieinhalb Jahre lang ver- Die Vorgaben zur Prüfung der Identität von parallel im- schlafen haben, daher, erklären reflexartig, das Pro- portierten Pflanzenschutzmitteln verdeutlicht einmal gramm sei überflüssig und fordern die Bundesregierung mehr die Notwendigkeit einer europäischen Zulassung, auf – so wörtlich –: „Stoppt diesen Unsinn!“ Sie wollen nicht nur für Pflanzenschutzwirkstoffe, sondern auch für das Reduktionsprogramm kaputtmachen, Herr Bleser, Pflanzenschutzmittel. ohne es überhaupt zu kennen! Damit machen Sie aber nicht, wie Sie vielleicht meinen, ein Projekt der Grünen Beim Umgang mit Pflanzenschutzmitteln sollten wir kaputt, sondern ein einmaliges gemeinsames Projekt der stets auch folgendes Zitat des amerikanischen Dichters Landwirtschaft, der Industrie und des Umweltschutzes und Philosophen Ralph Waldo Emerson im Sinn haben, in Deutschland! der uns schon im 19. Jahrhundert in die Stammbücher schrieb: Ein Wort noch zur so genannten verdeckten Feldbe- Unkraut nennt man die Pflanzen, deren Vorzüge obachtung. Was die Sache betrifft, so haben wir uns zu noch nicht erkannt worden sind. dem Verfahren von Anfang an eindeutig positioniert, dem ist nichts hinzuzufügen. Es stellt sich allerdings In diesem Sinne freue ich mich auf eine konstruktive schon die Frage, woher wir die notwendigen Daten be- Ausschussberatung. kommen sollen, wenn die Länder sie nicht liefern. Denn diese Daten werden benötigt und die Länder müssen lie- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fern. Bisher ist aber offenbar von den Ländern nicht sehr NEN): Die Debatte, die wir gestern im Ausschuss zum viel vorgelegt worden. Ich fordere daher die Opposition Thema Pflanzenschutzmittel geführt haben, hat mich auf, hier und heute Vorschläge zu machen, woher die schockiert! Die CDU/CSU hat offenbar die einfachsten Daten kommen sollen. Grundlagen noch immer nicht verstanden. Sie werfen al- Im Übrigen hoffe ich, dass Herr Bleser nicht öffent- les durcheinander, weil Sie bei keiner Vorlage mehr als lich wiederholen wird, was er im Ausschuss zum Einsatz die Überschrift lesen, und wenn sie so weiter machen, werden Sie uns in einer vernünftigen Pflanzenschutzpo- von Jagdhunden gesagt hat, weil man das als Ermunte- litik um Jahre zurückwerfen. rung zur körperlichen Gewalt gegenüber Kontrolleuren verstehen könnte. Vielmehr erwarte ich, dass er sich von Da erklärte zum Beispiel der Kollege Peter Jahr ges- diesen Äußerungen klar distanziert. Darüber werden wir tern allen Ernstes, Pflanzenschutzmittel seien keine noch zu sprechen haben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15075

(A) Das Zweite Gesetz zur Änderung des Pflanzenschutz- grund von ideologischen Blockaden die Chancen der (C) gesetzes, das wir heute erstmals beraten und über das wir Grünen Gentechnik nicht zum Einsatz kommen, um alle dann im Ausschuss im Detail diskutieren können, ist ein Möglichkeiten zur Verringerung der Anwendung von weiterer Baustein in unserer Strategie für mehr Sicher- Pflanzenschutzmitteln zu nutzen. heit bei der Anwendung von Pestiziden. Wir regeln da- mit unter anderem den Umgang mit parallel importierten Das vom Umweltministerium betriebene Projekt der Bauernspione lehnt die FDP dagegen ab. Mit einem sol- Pflanzenschutzmitteln und führen eine schlagbezogene chen Konfrontationskurs wird nichts für den Umwelt- Aufzeichnungspflicht ein. Beides dient der Verbesserung und Verbraucherschutz gewonnen, aber jede Menge Por- der Sicherheit im Umgang mit Pflanzenschutzmitteln. zellan zerschlagen. Insgesamt ist die Politik der Bundes- Die schlagbezogene Aufzeichnungspflicht wird uns regierung scheinheilig. Auf der einen Seite fordert sie in Zukunft bessere Auskunft über den Einsatz von Pflan- von den Betrieben, dass sie um Vertrauen der Verbrau- zenschutzmitteln geben. cherinnen und Verbraucher werben sollen, und auf der anderen Seite trägt sie selbst dazu bei, das Vertrauen der Sie von der Opposition haben das Pestizidproblem Verbraucherinnen und Verbraucher in die landwirtschaft- jahrelang liegen lassen. Wir von Rot-Grün versuchen, liche Produktion zu zerstören. uns mit allen Betroffenen vernünftigen, selbstverant- wortlichen Lösungen zu nähern. Das ist moderne rot- Der vorliegende Gesetzentwurf muss an mehreren grüne Agrar- und Verbraucherpolitik, um das Thema Stellen nachgebessert werden. Pflanzenschutz aus der Schmuddelecke zu holen. Aber Der Gesetzentwurf macht einmal mehr deutlich, wie Sie machen weiterhin nichts als destruktive Bremserpo- dringend eine europäische Zulassung nicht nur der litik. Pflanzenwirkstoffe, sondern auch der Pflanzenschutz- Wenn Politik ein Autorennen wäre, würden Sie von mittel ist. Gäbe es diese, könnten wir uns verschiedene der CDU sich nur darauf konzentrieren, den Mitbewer- weitere komplizierte gesetzliche Regelwerke ersparen, bern die Reifen zu zerstechen, anstatt schneller zu fah- würden wir die Wettbewerbsbedingungen für unsere Be- triebe verbessern. Beim Import von Pflanzenschutzmit- ren! teln muss sichergestellt sein, dass auch importierte Pflanzenschutzmittel die hohen Qualitätsanforderungen Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Chemischer in Deutschland erfüllen. Dafür ist ein Identitätsprüfver- Pflanzenschutz ist unverzichtbar. In den letzten Jahren fahren erforderlich, aber auch der Nachweis der Formu- ist ein sehr hohes Qualitätsniveau erreicht worden: Die lierungsidentität. Da auch die Schutzgüter Natur und Beeinträchtigung von Natur und Umwelt durch chemi- Umwelt betroffen sind, darf es keine Sonderregelungen (B) sche Pflanzenschutzmittel konnte kontinuierlich verrin- für den Eigenverbrauch geben. Es ist bemerkenswert (D) gert werden, in den Lebensmitteln sind zumeist keinerlei und nicht begründbar, dass die Bundesregierung auf die Rückstände nachweisbar. Der von der Senatsarbeits- Androhung eines Bußgeldes verzichtet hat. gruppe „Qualitative Bewertung von Lebensmitteln aus alternativer und konventioneller Produktion“ vorgelegte Unbefriedigend gelöst ist ebenfalls die Entsorgung Statusbericht 2003 hebt hervor: „Dass für die Gesund- von Pflanzenschutzmitteln, für die ein Anwendungsver- bot besteht. heit des Menschen in erster Linie eine ausgewogene Er- nährung wichtig ist, also insgesamt eine geringere Ver- Die im Gesetzentwurf geforderten vermehrten Doku- zehrsmenge und dabei weniger Fett und Fleisch, jedoch mentationspflichten lehnt die FDP ab. Das sich in dieser viel Gemüse und Obst“. Eine Schweizer Studie stellt Forderung ausdrückende Misstrauen gegen Land- und fest: „Die Annahme, biologische Lebensmittel seien si- Forstwirte, gegen Gärtner und Winzer ist unbegründet. cherer und gesünder als herkömmlich hergestellte oder Wir können im Gegenteil feststellen, dass entsprechend gentechnisch veränderte, konnte bisher wissenschaftlich dem Wasserwirtschaftsbericht der Bundesregierung im nicht belegt werden.“ Damit wird deutlich, dass die Ver- Grundwasser nur noch punktuell Pflanzenschutzmittel fahren für die Zulassung chemischer Pflanzenschutzmit- gefunden werden und in der Tendenz rückläufig sind. tel sehr effektiv sind, die Landwirte sehr verantwortlich mit dem Einsatz dieser Mittel umgehen. Dr. Gerald Thalheim (SPD): Die Bundesregierung Dennoch macht der Einsatz von Pflanzenschutzmit- legt heute das Zweite Gesetz zur Änderung des Pflan- teln Schlagzeilen, weil Verbände ihn zu problematisieren zenschutzgesetzes vor. versuchen, ohne dafür sachlich nachvollziehbare Schwerpunkt des Gesetzes ist eine Regelung zum Begründungen zu haben. Die Bundesregierung hat ein Umgang mit parallel importierten Pflanzenschutzmit- Pflanzenschutz-Minimierungsprogramm im Konsens teln, das heißt solchen Mitteln, die mit einem in mit allen beteiligten Verbänden auf den Weg gebracht. Deutschland zugelassenen Mittel übereinstimmen, ohne Dies ist auch aus Sicht der FDP eine gute Grundlage und hier über eine eigene Zulassung zu verfügen. der richtige Weg. Klar muss aber sein, dass nicht nach- träglich auf Druck von einzelnen Verbänden dieses Mit- Bis jetzt enthält das deutsche Pflanzenschutzgesetz einander zerstört wird. Extrempositionen wie die Fest- keine entsprechende Regelung, vielmehr stützt sich das schreibung von Steuern auf Pflanzenschutzmittel oder deutsche Verfahren auf die Rechtsprechung der Ge- das Festschreiben von Mengenzielen würden diesen ge- richte. Danach waren Parallelimporte ohne vorherige meinsamen Weg beenden. Ein entscheidendes Defizit Prüfung frei verkehrsfähig. Dies erschwerte die Kontrol- des Reduktionsprogramms ist in jedem Fall, dass auf- len und führte in der Praxis zur Rechtsunsicherheit. 15076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Allerdings sind Parallelimporte entsprechend dem Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): „Was lange währt“, (C) Grundsatz der Warenverkehrsfreiheit innerhalb der EU so beginnt ein nicht nur in der Politik geläufiges Sprich- und der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich zuläs- wort. Nicht jeder langwierige Prozess endet zwangsläu- sig. fig mit einem guten Ergebnis. Ich denke jedoch, dass wir heute in erster Lesung über einen Entwurf beraten, der Die neue Regelung sieht nun vor, dass der Importeur zu einem sehr guten Teil den Erfordernissen der Land- vor dem In-Verkehr-Bringen seines Produktes einen An- wirtschaft, der Tierärzte und nicht zuletzt des Verbrau- trag beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Le- cherschutzes gerecht wird. bensmittelsicherheit auf Feststellung der Verkehrsfähig- keit seines Produktes stellen muss. Lassen Sie mich kurz zurückblicken auf einen langen und nicht immer einfachen Diskussionsprozess: Von Bestätigt das Bundesamt aufgrund der vorgelegten Unterlagen und gegebenenfalls eigener Untersuchungen meinem ersten Tag im Parlament an, also seit mittler- die Verkehrsfähigkeit, kann das Produkt vermarktet wer- weile fast zweieinhalb Jahren, habe ich mich dafür ein- den. Auf diese Weise wird einerseits Markttransparenz gesetzt, dass die gesetzlichen Bestimmungen über den hergestellt und die Kontrollierbarkeit verbessert, ande- Verkehr mit Tierarzneimitteln praxisorientiert überarbei- rerseits aber auch der Grundsatz der Warenverkehrsfrei- tet werden. Nach anfänglichen sehr ermutigenden Dis- heit innerhalb der Europäischen Union beachtet. kussionen kam die ganze Angelegenheit ins Stocken. Doch jetzt sieht es wieder danach aus, dass wir schließ- Des Weiteren wird jetzt die Aufzeichnungspflicht bei lich doch noch zu einem guten und tragfähigen Ergebnis der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in einem Be- kommen. trieb der Landwirtschaft, des Gartenbaus und der Forst- wirtschaft – die bisher schon in den Grundsätzen der gu- Als einer von nur zwei praktizierenden Tierärzten in ten fachlichen Praxis vorgesehen war – im Gesetzestext diesem Hause kenne ich aus eigener Erfahrung – als un- selbst verankert. Damit wird ein Beitrag geleistet zur mittelbar Rechtsunterworfener – die Schwächen des gel- sachgerechten Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, tenden Rechts. Diese wurden in der bisherigen Diskus- die Kontrollmöglichkeiten durch die zuständigen Behör- sion lang und breit erörtert. Daher will ich nur die den werden verbessert. Stichworte „Rechtsunsicherheit bei den Fristen“ und „Umwidmungskaskade“ herausgreifen. Auslegungsfra- Vorgesehen ist außerdem eine Entsorgungspflicht für gen bei der Sieben-Tage-Frist wurden angemessen klar- Pflanzenschutzmittel, deren Anwendung durch die gestellt, die Umwidmungsregelungen wurden an EU- Pflanzenschutzmittel-Anwendungsverordnung vollstän- Recht angepasst. Als Praktiker begrüße ich besonders dig verboten wurde. Durch solche Mittel können Schä- (B) die Aufhebung des unsinnigen Umpackverbots wie auch (D) den entstehen, insbesondere wenn sie längere Zeit die Erleichterung des Bezugs von Medikamenten aus unsachgemäß gelagert werden. Dem soll mit der Veran- dem Ausland und die neu geschaffene Möglichkeit, eine kerung der Entsorgungspflicht vorgebeugt werden. tierärztliche Hausapotheke an den Nachfolger oder die Als weitere Änderung ist die Regelung so genannter Nachfolgerin zu übergeben. Auch glaube ich, dass die Vertriebsvereinbarungen vorgesehen. Das sind Verträge Verbesserung der Überwachung von Fütterungsarznei- zwischen dem Zulassungsinhaber eines Pflanzenschutz- mitteln dringend notwendig war. mittels und einem Lizenznehmer. Hier hatte es in der Praxis Unklarheiten über die richtige Kennzeichnung Wir sind also auf etlichen Problemfeldern zu vernünf- dieser Produkte und die Information der Zulassungsbe- tigen und praktikablen Lösungen gekommen. Wenn ich hörde gegeben, die nun gesetzlich geregelt werden. „wir“ sage, dann meine ich ausdrücklich alle am bisheri- gen Gesetzgebungsprozess Beteiligten: Bundesregie- Außerdem wird der § 37 in Anpassung an das EU- rung, Bundesrat und wir Fachpolitiker aller Fraktionen. Recht erweitert. Dieser Paragraph legt einerseits fest, für Wenn man dieser Tage so viele Klagen über Blockaden welche Handlungen das Bundesamt für Verbraucher- in der Politik hört, so kann die Debatte über die 13. No- schutz und Lebensmittelsicherheit Gebühren erhebt. An- velle des Arzneimittelgesetzes als gutes Gegenbeispiel dererseits ist er die Ermächtigungsgrundlage für eine dienen: Die Bundesregierung hat einen guten Entwurf Verordnung über den Umgang mit so genannten Nutzun- vorgelegt, von Seiten des Bundesrates kam eine sach- gen, die im integrierten Pflanzenschutz eine wichtige kundige und zielführende Stellungnahme. Die darin ent- Rolle spielen. haltenen Vorschläge und Ergänzungswünsche stießen zum allergrößten Teil auf Anerkennung, und jetzt ist erst Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung zu dem Gesetzent- einmal der Bundestag an der Reihe, um dem Gesetz den wurf. letzten Schliff zu geben. Es ist gut, dass beide Seiten, Bundesregierung und Länder, sehr weit aufeinander zu- gegangen sind. Dafür möchte ich schon jetzt von Herzen Anlage 10 danken. Ich kann nicht verhehlen, dass ich mich etwas Zu Protokoll gegebene Reden darüber gewundert habe, wie schnell man seitens des Bundesrates davon abgerückt ist, die Sieben-Tage-Frist zur Beratung des Entwurfs eines Dreizehnten für die systemisch wirkenden Antibiotika komplett strei- Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgeset- chen zu wollen, aber ich begrüße diesen Sinneswandel zes ausdrücklich. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15077

(A) Es wäre freilich verfrüht, zu vermelden, dass alle Pro- Sinne des Tier- und Verbraucherschutzes. Damit hat die (C) bleme gelöst, alle offenen Fragen geklärt sind. Zunächst Bundesregierung ihre Fehlleistung beim jetzt geltenden einmal sei hier von der noch zu errichtenden Sachver- Arzneimittelgesetz von 2002 zumindest in einigen Punk- ständigenkommission zu sprechen, die Leitlinien für die ten eingestanden. Nur der Druck der Tierärzteschaft, der Anwendung von Antibiotika entwickeln und diese per- Landwirtschaft vertreten durch den Bauernverband, aber manent nach dem neuesten Stand der tiermedizinischen vor allem der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat Bewe- Wissenschaft weiterentwickeln soll. Dieser Ansatz ist im gung in diese, an der Praxis vorbei gehenden Regelun- Prinzip zweifelsohne zu begrüßen – dynamische Leitli- gen gebracht. nien sind in meinen Augen ein guter Ersatz für statische, nur in langwierigen Verfahren veränderbare Indikatio- Es gehört aber auch zu den angenehmen Erfahrungen nenlisten. Wir alle kennen den Verordnungsweg. Zwi- in diesem Parlament, dass sich die zuständigen Bericht- schen Erkenntnis und Verordnung könnten etliche Tiere, erstatter aller Fraktionen übereinstimmend für eine Re- die man ohne weiteres hätte behandeln können, ein trau- form das Arzneimittelgesetzes ausgesprochen haben. riges Ende gefunden haben. Leider ist die Dokumentation dieses einstimmigen Än- derungswunsches in Form eines Briefes an die Bundes- Wie dieses Gremium mit dem sperrigen Namen regierung auf Druck derselben auf die Berichterstatter Tierarzneimittelanwendungskommission am Ende aus- von Rot-Grün nicht zustande gekommen. Der Entwurf sehen wird, wie sich seine praktische Arbeit darstellen des Briefes, in dem die Änderungswünsche aufgeführt wird, ist noch nicht abschließend geklärt. Dem entspre- waren, war aber bei allen Beteiligten unstrittig. chenden Verordnungsentwurf, der meiner Meinung nach vor der zweiten und dritten Lesung vorliegen muss, sehe Teile dieser Wünsche sind in dem neuen Gesetzent- ich mit großer Spannung entgegen. Ich gehe davon aus, wurf dankenswerter Weise umgesetzt worden. Hierzu dass die Seite der Praktiker bei der Zusammensetzung zählen: die Möglichkeit, im Therapienotstand auch für angemessen berücksichtigt wird. Die bisher veran- Lebensmittel liefernde Tiere Arzneimittel in öffentlichen schlagten Haushaltsmittel von 7 000 Euro halte ich je- Apotheken herstellen zu lassen; die Aufhebung des Ab- doch – bei aller Ausgabendisziplin – für sehr knapp be- gabeverbots für umgewidmete Arzneimittel; die Um- messen. wandlung der Genehmigungs- in eine Anzeigepflicht bei der Einfuhr von Arzneimitteln; die leichte Flexibilisie- Ein Thema, das in der Diskussion lange Zeit eine rung von nicht antimikrobiell wirksamen Stoffen auf bis große Rolle spielte, ist die Frage der Definition der tier- zu 31 Tage. ärztlichen Bestandsbetreuung. Diese findet sich im vor- liegenden Entwurf ebenso wenig wieder wie in der Stel- Den Kern der Kritik an der bestehenden Gesetzeslage (B) lungnahme des Bundesrates, und das aus gutem Grund. greift jedoch auch der jetzt vorliegende Gesetzentwurf (D) Meiner Meinung nach kann das Arzneimittelgesetz diese nicht auf. Frau Künast hat die Aufbewahrungsfrist von Frage auch gar nicht regeln. Eine gesetzliche Regelung antibiotisch wirkenden Arzneimitteln zum Dogma er- ist jedoch immer noch dringend und zwingend erforder- klärt. Damit ignoriert sie hartnäckig die Praxiserfahrun- lich. gen sowohl der Tierärzte, als auch der landwirtschaftli- chen Betriebe. Zwar erkennt sie in ihrem Gesetzentwurf Nach wie vor unbefriedigend ist, dass es an einer Un- in dem Bereich Handlungsbedarf an – sie hat deshalb die terscheidung zwischen Lebensmittel liefernden Tieren Abgabefrist auf bis zu 31 Tage ausgedehnt –, diese soll und reinen Gesellschafts- und Sporttieren mangelt. Eine jedoch nur unter den Leitlinien die durch eine Tierarznei- klare Abgrenzung nach Gattungen ist nicht möglich. Ich mittelanwendungskommission definiert werden sollen, verweise nur auf Kaninchen und Pferde. Für letztere gibt möglich werden. Kurz: Sie misstraut der tierärztlichen es in Deutschland den Equidenpass, der jedoch jenseits unserer Grenzen – bei der Schlachtung in Frankreich Fachkompetenz und verhindert damit, dass die neuesten oder Belgien – keinerlei Bedeutung hat. Hier ist die Bun- wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse schnell in der desregierung aufgefordert, sich auf Europäischer Ebene Praxis eingeführt werden können. im Sinne des internationalen Verbraucherschutzes für Hauptkritikpunkt unsererseits ist jedoch, dass mit die- eine Kennzeichnungsverordnung einzusetzen. ser Fristenregelung der Medikamenteneinsatz keines- Ein guter Teil des langen Weges hin zu praxistaugli- wegs verringert wird, sondern im Gegenteil das wirt- chen nationalen gesetzlichen Bestimmungen über den schaftliche Interesse zur Abgabe von Medikamenten Verkehr mit Tierarzneimitteln liegt hinter uns, über das durch Tierärzte eher dominiert. weitere Vorgehen wird im Ausschuss zu beraten sein. Ich In den letzten Jahren hat sich herausgestellt, dass es persönlich stehe dem Gedanken einer Länderanhörung im Interesse der Verbesserung der Tiergesundheit, ge- aufgeschlossen gegenüber, um den bisher so gedeihli- rade in landwirtschaftlichen Tierbeständen, sinnvoller chen und konstruktiven Dialog bis zum Schluss auf- ist, stärker die Beratungsleistung von Tierärzten zur Ver- rechtzuerhalten. In jedem Falle bin ich sicher, dass wir besserung der Bestandsgesundheit zu nutzen. Somit schon bald dem eingangs gesagten „was lange währt“ dient die Bindung von Medikamentenabgaben an land- seinen wohlverdienten Schlussteil anfügen. wirtschaftliche Betriebe unter der Voraussetzung der Aufstellung eines Behandlungsplanes oder dem Ab- Peter Bleser (CDU/CSU): Der jetzt vorgelegte Ge- schluss einer Betreuungsvereinbarung, gleich mehreren setzentwurf ist wenigstens ein kleiner Fortschritt im gewünschten, politische Zielsetzungen: 15078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Erstens. Eine zeitnahe und damit für das Tier Wir haben in der CDU/CSU-Fraktion schon vor zwei (C) schmerzmindernde Behandlung ist unter diesen Bedin- Jahren die Erarbeitung einer sachgerechten und prakti- gungen auch in kleinen Betrieben zeitnah möglich. kablen Lösung im Sinne des Verbraucher- und Tierschut- zes angemahnt. Leider hat es sehr lange gedauert, bis die Zweitens. Durch den Abschluss einer Betreuungsver- Regierung tätig wurde. Als wir uns im Plenum bei der einbarung oder die Erstellung eines Behandlungsplanes vergangenen Debatte mit diesem Thema befasst haben, ist der Tierarzt bei der Abgabe von Medikamenten und habe ich bereits eine schlimme Vorahnung geäußert: deren Verwendung mit verantwortlich. Abgesehen von redaktionellen Änderungen würde der Drittens. Die jetzt schon in landwirtschaftlichen Be- Regierungsentwurf wohl eher an den Symptomen herum- trieben sinnvolle und notwendige Dokumentation so- doktern, als eine tatsächliche und umfassende Novellie- wohl des Bezuges als auch des Einsatzes von Medika- rung des Tierarzneimittelrechtes anzupacken. menten gewinnt erheblich an Glaubwürdigkeit. Fest steht: Die vorrangigen Ziele, denen wir uns auch Viertens. Die Nachteile insbesondere der Landwirt- heute noch verpflichtet sehen – ein verbesserter Verbrau- schaft in den westlichen Bundesländern, wo der Tierarzt- cher- und Tierschutz –, sind mit dem Tierarzneimittelge- besuch in der Regel nicht im Sieben-Tage-Rhythmus setz in seiner jetzigen Form nicht wirklich zu erreichen. stattfindet, würden gegenüber der großstrukturierten Die Folgen: Rechtsunsicherheit, kaum zumutbare Mehr- Landwirtschaft in den neuen Bundesländern, wo in vie- belastungen für Tierärzte und -halter und allem voran len Fällen ein eigener Tierarzt beschäftigt wird, ausge- mangelnder Tierschutz. Also muss das Gesetz verändert glichen. werden, und zwar richtig und umfassend. Aus dem letzten Grund appelliere ich gerade an die Nun werfen wir einen Blick in den aktuellen Regie- neuen Bundesländer, auch an die CDU-geführten, sich in rungsentwurf und müssen mit Erstaunen feststellen: Das, dieser Frage mit den Bundesländern mit einer kleiner worüber wir die ganze Zeit geredet haben, der einzige strukturierten Landwirtschaft solidarisch zu erklären. wirkliche Knackpunkt und Auslöser der ganzen Novel- Darüber hinaus kündigen wir Ihnen schon jetzt an, dass lierungsdebatte, nämlich die Sieben-Tage-Regelung, ist wir zum Arzneimittelgesetz eine weitere öffentliche An- beinahe unverändert übernommen worden. Ist es das, hörung beantragen werden. Wir geben die Hoffnung was Sie unter einer Novellierung verstehen? nicht auf, dass Sie sich der Meinung der Fachleute nicht Die Sieben-Tage-Regelung stellt aber das zentrale länger verschließen können. Ich appelliere an die Bun- Problem der bestehenden Rechtslage dar. Welche Krank- desregierung und die sie tragende Koalition, den Argu- heit hält sich an eine willkürliche Vorgabe von menten des Verbraucher- und Tierschutzes, des Bauern- sieben Tagen? Bei der Abgabe eines Arzneimittels für (B) verbandes und der Tierärzte zu folgen, und bei den jetzt mehr als sieben Tage verstößt der Tierarzt derzeit gegen (D) anstehenden Ausschussberatungen auch dem letzten geltendes Recht. Um dies zu verhindern, müsste der noch strittigen Punkt, nämlich der Abschaffung der Sie- Tierarzt jedem kranken Tier einen persönlichen Kran- ben-Tage-Regelung, zu entsprechen. kenbesuch abstatten und eine Diagnose mit Behand- Nur wenn dieses Ziel erreicht ist, werden CDU und lungsanweisung aussprechen, bevor der Tierhalter die CSU diesem Gesetz die Zustimmung geben können. nötige Behandlung durchführen darf. Ich betone nochmals ausdrücklich: Es geht nicht um Julia Klöckner (CDU): Wir befassen uns heute zum eine ersatzlose Streichung der Sieben-Tage-Regelung, vierten Mal in diesem Plenum mit der Novelle des Tier- sondern um ein praxisnahes alternatives Modell: Fle- arzneimittelrechtes. Intensive Beratungen sind im Zu- xible tierärztliche Behandlungspläne oder die Aufnahme sammenhang mit dieser wichtigen Materie auch tun- von Behandlungsplänen sind beispielsweise geeignete lichst angeraten; denn ich kann mich der Annahme nicht Instrumente. Eine reine Veränderung der zeitlichen An- verwehren, dass der eine oder andere Beteiligte den forderungen wäre sicherlich nicht akzeptabel, da eine Sachzusammenhang noch nicht ganz verstanden hat. Zu- starre Frist, von welcher Länge auch immer, der Vielfalt gegeben, die infrage stehenden Normen sind durchaus der Tiererkrankungen und deren Verläufen nicht gerecht komplex und bewegen sich auf der Schnittstelle zwi- werden kann. Ich darf in diesem Zusammenhang an schen veterinärmedizinischem Sachverstand, juristischer unseren Antrag erinnern. Dieser steht für ein Tierarznei- Finesse und ganz handfester Praxisarbeit im landwirt- mittelgesetz, das mehr Verbraucherschutz bringt, ohne schaftlichen Alltag. Lassen Sie mich deshalb noch ein- Tierquälerei zu verursachen und ohne Landwirten und mal auf die Notwendigkeit eingehen, das geltende Tier- Tierärzten ein bürokratisches Überwachungsmonstrum arzneimittelgesetz zu überarbeiten. Bislang nämlich sind aufzuhalsen, und das die Beteiligten aus der rechtlichen wir im Sinne der Tierärzte, der Tierhalter, der Verbrau- Grauzone herausholt. cher und der Tiere selbst noch keinen wirklich großen Schritt weitergekommen. Da wir gerade von bürokratischen Ungetümen spre- chen. Eine der wesentlichen Leistungen des jetzt vorge- Nach langem Zögern hat es die Bundesregierung mitt- legten Regierungsentwurfes ist die geplante Schaffung lerweile endlich geschafft, einen Gesetzentwurf vorzule- einer Tierarzneimittelanwendungskommission. Ganz gen. Zu diesem Etappenerfolg darf ich die Bundesregie- nach Belieben der Regierung zusammengesetzt und rung erst einmal recht herzlich beglückwünschen. Leider ohne Beteiligung der Länder – ein Meisterstück dreister ist ihr Entwurf eher das Ergebnis zögerlicher Flickschus- Kompetenzverschiebung. Denn die Kommission wird terei. durch Rechtsverordnung ohne Beteiligung des Bundes- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15079

(A) rates eingesetzt. Da hilft es wenig, dass bei der Arbeit legte Gesetzentwurf ist so noch nicht tragbar und wird (C) der Kommission der Bundesrat dann doch wieder ins den Problemen in der Praxis nicht umfassend gerecht. Boot soll. Ziel der Kommission kann nur die Fortschrei- Noch haben wir Gelegenheit, eine wirkliche Novelle auf bung der Antibiotikaleitlinien sein. Dazu ist dieses Gre- den Weg zu bringen, die uns in der Anwendungspraxis mium aber nicht das geeignete Instrument. Schon gar weiterbringt und einen gesteigerten Verbraucherschutz nicht, wenn es mit den von der Bundesregierung vorge- und Tierschutz garantiert. sehenen Finanzmitteln ausgestattet ist. Von 7 000 Euro lässt sich die Arbeit von Experten jedenfalls nicht bezah- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len. Ich bin mir ganz sicher, dass die Ministerialbeamten NEN): Worum geht es bei dieser 13. Novelle des Arznei- da nicht anders denken. Man muss sich vergegenwärti- mittelgesetzes, die wir heute beraten? Mit dem im Jahr gen, dass die Kommission etliche Mitglieder haben wird, 2002 in Kraft getretenen 11. Gesetz zur Änderung des die zu den regelmäßigen Sitzungen reisen müssten. Der Arzneimittelgesetzes wurden neue Regeln für den Um- von der Bundesregierung vorgesehene Betrag würde gang mit Tierarzneimitteln aufgestellt. Ziel war es, im nicht einmal annähernd die Reisekosten decken, ge- Sinne des Gesundheits- und Verbraucherschutzes den schweige denn eine sachgerechte inhaltliche Arbeit von Einsatz von Tierarzneimittein auf ein therapeutisch not- hoch dotierten Experten ermöglichen. wendiges Mindestmaß zu reduzieren und dadurch die Doch ich will mich nicht in Kritik allein versteigen, Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen zu vermeiden, schließlich geht es uns um die Sache. Lassen Sie uns mit die Qualität von Tierarzneimitteln zu verbessern und die vereinten Kräften nach Gemeinsamkeiten und wirklich Sicherheit im Tierarzneimittelverkehr zu erhöhen. Erfah- praktikablen Lösungsansätzen suchen. Lob verdient der rungen mit der Anwendung und dem Vollzug der Vor- von uns seit Anbeginn und im CDU/CSU-Antrag aus- schriften dieses Gesetzes haben inzwischen gezeigt, dass bei einigen Regelungen offenbar Anpassungsbedarf im drücklich formulierte Vorstoß, den Tierärzten das Um- Hinblick auf die Anwendbarkeit in der Praxis besteht. füllen von Arzneimitteln aus fertigen Gebinden und Wir haben uns im Verbraucherausschuss frühzeitig die- fachgerechte Neuverpacken zu ermöglichen, um eine be- ser Probleme angenommen und ich glaube für uns alle darfsgerechte Abgabe von Tierarzneimitteln zu gewähr- sagen zu können, dass wir einen langen und intensiven leisten. Es kann nicht sein, dass riesige angebrochene Diskussionsprozess hinter uns haben. Packungen zu einem ökonomischen und ökologischen Problem der Tierhalter werden. Positiv anzumerken ist Wir sind auf die Kritik des Bundesrates und der Tier- auch der zu Beginn noch in den Verhandlungen immer ärzte eingegangen, wir haben Anhörungen durchgeführt, wieder propagierte Vorschlag einer Indikationenliste. wir haben eine interfraktionelle Arbeitsgruppe einge- Dass die Regierung auch hier auf eine der vielen For- richtet. Wir mussten allerdings auch feststellen, dass sich (B) derungen von unserer Seite eingegangen ist, verdient die Tierärzteschaft als besonders betroffene gesellschaft- (D) Anerkennung. Auch die Anpassung der Umwidmungs- liche Gruppe offenbar in der Bewertung des Gesetzes al- kaskade an europäisches Recht und die Abschaffung des les andere als einig ist. Und auch der Bundesrat vertritt Abgabeverbotes für umgewidmete Arzneimittel halten heute eine etwas andere Meinung als vor einem Jahr. Wir wir für den richtigen Weg. begrüßen das. Insbesondere die ursprünglich von vielen Seiten als praxisfremd kritisierte Sieben-Tage-Regelung Derart konstruktive Vorschläge gilt es aufzugreifen hat sich offenbar inzwischen als wesentlich unproblema- und in einen neuen Gesetzentwurf einzuarbeiten. Die tischer erwiesen, als zunächst behauptet. So schreibt der Beteiligten, allen voran die Tierärzte und Landwirte, ste- Bundesrat in seiner Stellungnahme zum vorliegenden hen für die Umgestaltung nach wie vor zur Verfügung. Gesetzentwurf: „Bei der Umsetzung der Sieben-Tage- Daher regen wir – gemeinsam mit unseren Oppositions- Regelung für Antibiotika wurden keine konkret nach- kollegen von der FDP – an, die Novelle im Rahmen ei- weisbaren Probleme in der tierärztlichen Praxis festge- ner Expertenanhörung im Ausschuss noch einmal der stellt …“ Beratung der tatsächlich Betroffenen zuzuführen. Ich bin zuversichtlich, dass meine Kollegen im Ausschuss eine Ich denke, dass damit die dickste Kuh vom Eis ist und erneute Anhörung der Verbände fraktionsübergreifend wir zu einer zügigen Verabschiedung der 13. AMG-No- mittragen werden. velle kommen können. Wir haben ansonsten eine Reihe von Änderungen vorgenommen, die der Praxis Erleich- Das Thema ist einfach zu wichtig, um es parteipoliti- terungen bringen, etwa bei der Abgabe von Teilmengen, schem Kalkül zu opfern. Dankenswerterweise hatte sich der Anpassung der so genannten Umwidmungskaskade ein gemeinsamer Wille ja unter den Kollegen im Aus- an die EU-Richtlinie 2004/28/EG oder der Aufhebung schuss bereits im vergangenen Jahr gezeigt, als sich die des Abgabeverbotes umgewidmeter Arzneimittel. Berichterstatter aller Fraktionen auf ein gemeinsames Schreiben an Ministerin Künast geeinigt hatten und um Was die zu bildende Sachverständigenkommission Hilfe bei der Formulierung eines fraktionsübergreifen- angeht, so brauchen wir uns an dieser Stelle über deren Zusammensetzung den Kopf nicht zu zerbrechen, da den Gesetzesantrages aus der Mitte des Parlaments ba- diese ohnehin erst durch eine nachfolgende Rechtsver- ten. Dass dies von Ministerin Künast damals nicht ge- ordnung festgesetzt werden wird. wollt war und den Grünen die Mitarbeit untersagt wurde, ist hinlänglich bekannt. Lassen Sie uns nun gemeinsam Ich denke, die lange und schwierige Diskussion, die diese Chance wieder aufgreifen und auf eine wirklich wir um diese 13. AMG-Novelle geführt haben, sollte uns sachgerechte und praktikable Lösung im Sinne des Ver- allen eine Warnung sein, die jetzt gefundene weitge- braucher- und Tierschutzes hinarbeiten. Der jetzt vorge- hende Einigkeit mit den Ländern nicht wieder infrage zu 15080 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) stellen. Ich glaube, wir haben jetzt den Punkt erreicht, terinärmedizin die Deutsche Veterinärmedizinische Ge- (C) wo wir sagen sollten: Jetzt machen wir den Sack zu! Die sellschaft (DVG). In dieser Fachgesellschaft ist in allen Praxis braucht vor allem eines: Rechtssicherheit. Daher: einzelnen Fachgruppen der notwendige Sachverstand Die praxisuntauglichste aller Regelungen ist die, die hervorragend versammelt, um die Leitlinien sinnvoll nicht beschlossen wird! weiterzuentwickeln.

Hans-Michael Goldmann (FDP): Der Entwurf ei- Solche Leitlinien können einen wichtigen Beitrag nes 13. Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes leisten, Antibiotika noch zielgerichteter einzusetzen. Da- weist sicherlich eine ganze Reihe von Verbesserungen mit würden sie der fachlichen Fort- und Weiterbildung auf. Nach wie vor ist er aber geprägt von Misstrauen ge- der Anwender dienen. Sie brauchen aber ganz sicherlich genüber den gute fachliche Praxis anwendenden Tierärz- keinen Gesetzesrahmen. ten und auch den Bauern. Wie wenig ernst selbst die Bundesregierung diese Die 13. AMG-Novelle legt denn Fachmann, dem Tierarzneimittelanwendungskommision nimmt, kann Tierarzt, nach wie vor unnötige Fesseln an, wenn es da- man schon aus den Mittelbereitstellungen für diese rum geht, Krankheiten zu vermeiden oder die Gesund- Kommission ersehen: 7 000 Euro pro Jahr sind ein Witz. heit eines Tieres wiederherzustellen. Die 13. Änderung Denn diese Summe könnte bestenfalls einen Teil der des Arzneimittelgesetzes hat viel zu wenig den Grundge- Reisekosten für möglicherweise zwei Sitzungen pro Jahr danken verinnerlicht, dass die stärkste Triebfeder für je- abdecken. Eine personelle Betreuung durch das zustän- den Tierarzt die Gesunderhaltung und Wiederherstellung dige Ministerium oder eine Bundesoberbehörde kann bei der Gesundheit der Tiere ist. Dieser Grundsatz gilt beim dieser Kalkulation keine Berücksichtigung gefunden ha- Erlernen und der fachgerechten Ausübung des Berufes. ben. Diese grundsätzliche Kritik wird auch nicht durch Um die von uns kritisierten Sachverhalte, Sieben- eine Reihe von verbessernden Neuregelungen korrigiert, Tage-Regelung und Tierarzneimittelanwendungskom- die in der 13. AMG-Novelle zum Tragen kommen: Weg- mission, gründlich zu erörtern und um zu einer besseren fall der Indikationsliste, Erleichterung der Abgabe von Lösung zu kommen, die in der Praxis das Wohl der Teilmengen, sofern eine Qualitätsminderung nicht zu be- Tiere, der Verbraucher und der Bauern im Auge hat und fürchten ist, Anpassung der Umwidmungskaskade an sich nicht an der speziellen Interessenlage von Verwal- europäisches Gesetz – obwohl auch hier noch weitere tungsbeamten orientiert, wird die FDP bei den Aus- Schritte hätten gegangen werden können –, Abschaffung schussberatungen eine Anhörung beantragen. des Abgabeverbotes für geöffnete Arzneimittel.

(B) Aus Sicht der FDP sind zwei Punkte dringend ände- Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär im Bun- (D) rungsbedürftig. Erstens die Sieben-Tage-Regelung: Hier desministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und wurden durch die Begrenzung der Sieben-Tage-Frist auf Landwirtschaft: Die 13. AMG-Novelle ist ein wichtiges die Abgabe von Antibiotika und der Klarstellung, dass Thema für den Verbraucherschutz, den Tierschutz und eine persönliche Untersuchung der Tiere durch den Tier- die Landwirtschaft. Die Behandlung von erkrankten Tie- arzt im Falle einer Weiterbehandlung nicht immer not- ren mit Arzneimitteln ist ein Gebot des Tierschutzes. Ein wendig ist, zwar Fortschritte erzielt. Die FDP hält aber Gebot des Verbraucherschutzes ist die gesundheitliche die vom Bundesverband praktizierender Tierärzte vorge- Unbedenklichkeit von Lebensmitteln, die von behandel- schlagene Regelung zur Bindung der verlängerten Ab- ten Tieren stammen. Beides, die Verfügbarkeit wirksa- gabe von Antibiotika an die Erstellung eines Behand- mer Arzneimittel und die gesundheitliche Unbedenklich- lungsplanes nach wie vor für sachgerechter. Ein solcher keit von Lebensmitteln tierischer Herkunft, muss Behandlungsplan könnte durch Einbindung der Tierärzte Berücksichtigung finden, wenn über tierarzneimittel- und Landwirte sowie durch eine fachliche Überwachung rechtliche Vorschriften diskutiert wird. einen erheblichen Beitrag zur Transparenz des Tierarz- neimittelverkehrs leisten. Eine besondere Problematik kommt bei den Antibio- Zweitens die Tierarzneimittelanwendungskommis- tika hinzu: Antibiotika sind besonders wichtig für die sion: Die FDP schlägt vor, aus fachlicher Sicht dieses Therapie von Menschen und Tieren und sie sind beson- Wort zum Unwort des Jahres zu erklären. Im derzeitigen ders gefährdet in ihrer Wirksamkeit durch unkritischen Entwurf soll die Kommission nämlich im Wesentlichen Einsatz. Jede Anwendung von Antibiotika kann zur Ent- mit der Aufgabe betraut werden, die Antibiotika-Leitli- wicklung von Resistenzen führen und damit zum Verlust nien fortzuschreiben. Wir sind davon überzeugt, dass des Stoffes für die Therapie von Mensch und Tier beitra- eine Sachverständigenkommission, die per Gesetz oder gen. Antibiotika bedürfen daher unseres besonderen Au- Verordnung alle am Tierarzneimittelverkehr Beteiligten genmerks und Schutzes. paritätisch berücksichtigen muss, eine solch wichtige Die Bekämpfung der Ausbreitung von Antibiotikare- Fragestellung nicht zielführend wird lösen können. Die sistenzen ist der Bundesregierung daher auch ein beson- FDP hält diese Kommission für absolut entbehrlich. deres Anliegen. Zu der Strategie zur Bekämpfung der Die Fortschreibung der Antibiotika-Leitlinien ist eine Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen gehört auch die wissenschaftliche Aufgabe. Sie muss nach Auffassung so genannte Sieben-Tage-Regel im Arzneimittelgesetz. der FDP durch die entsprechenden wissenschaftlichen Wir sind daher nicht bereit – wie von verschiedenen Sei- Fachgesellschaften erfolgen. Dies wäre im Falle der Ve- ten mehr oder weniger deutlich betrieben –, diese Sie- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15081

(A) ben-Tage-Regel für Antibiotika aufzugeben oder so weit Praxis und ein großer Teil dieser Änderungen wird die (C) auszuhöhlen, dass sie nur noch auf dem Papier steht. Handhabung für Tierärzte und Tierhalter erleichtern. Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung zur Ich bin überzeugt, dass wir hier ein rundes Paket ge- Änderung des Arzneimittelgesetzes trägt der besonderen schnürt haben, mit dem alle am Verkehr mit Tierarznei- Bedeutung der Antibiotika Rechnung und zeigt gleich- mitteln Beteiligten zufrieden sein können und das glei- zeitig eine Möglichkeit der Flexibilisierung der Sieben- chermaßen die Belange des Tierschutzes und des Tage-Regel für bestimmte Anwendungsgebiete auf. Verbraucherschutzes berücksichtigt. Diese vorgesehene Flexibilisierung hätte insbesondere klare und für jeden nachvollziehbare Grenzen. Anlage 11 Der Bundesrat ist selbst diesem wohlabgewogenem Ansatz mit Verweis auf den gesundheitlichen Verbrau- Zu Protokoll gegebene Reden cherschutz und die Strategie zur Bekämpfung der Aus- breitung von Antibiotikaresistenzen nicht gefolgt, ob- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur wohl er selbst vor nicht allzu langer Zeit einen Organisationsstruktur der Telematik im Ge- Gesetzentwurf zur Flexibilisierung eingebracht hat. Das sundheitswesen (Tagesordnungspunkt 21) zeigt, wie sensibel und wie schwierig die Thematik ist. Eike Hovermann (SPD): Eins vorweg: Der Gesetz- Verständlich wird die Haltung des Bundesrates, wenn entwurf ist zustimmungspflichtig im Bundesrat. Doch man die Entwicklung seit der Vorlage des Referentenent- die Gesundheitskarte ist ein Projekt, das von allen ge- wurfes betrachtet. Wie es häufig der Fall ist, hat der Ent- wollt ist und gewollt werden muss, die es ernst meinen wurf intensive Diskussionen zwischen allen Beteiligten mit der Steigerung von Effizienz und Qualität in unse- ausgelöst, die durchaus nicht fruchtlos waren, sondern rem Gesundheitswesen. Sie kennen vielleicht die aktu- zu einer Weiterentwicklung der Sichtweisen geführt und elle Umfrage der TK, wonach 75 Prozent der Bürgerin- insbesondere auch einige Missverständnisse über die nen und Bürger die Gesundheitskarte und ihre geltende Rechtslage ausgeräumt haben. Es ist nämlich Möglichkeiten begrüßen. nicht so, dass die Sieben-Tage-Regel zwangsläufig be- deutet, dass der Tierarzt alle sieben Tage in den Bestand Damit diese Karte nach langen Jahren des Diskutie- gehen muss. Was der Tierarzt alles machen muss, damit rens nun endlich Realität wird, müssen wir dafür sorgen, er in Übereinstimmung mit den arzneimittelrechtlichen dass der Prozess der Umsetzung, der bereits begonnen Vorschriften Arzneimittel abgeben darf, ist ganz woan- hat, nun weitergeführt wird, zugunsten einer besseren ders, nämlich in der auf dem Arzneimittelgesetz basie- medizinischen Versorgung der Patientinnen und Patien- (B) renden tierärztlichen Hausapothekenverordnung geregelt ten. Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist ein richtiger (D) und diese Regelungen gelten unabhängig voneinander. Schritt auf dem Weg dahin. Er beinhaltet die notwendige Konkretisierung der gesetzlichen Aufgaben der „Gema- Wenn es also so ist, dass die Diskussion des Entwur- tik“, welche die Selbstverwaltung bewusst übernommen fes zu dem Ergebnis geführt hat, dass eine Flexibilisie- hat, um an der Gestaltung der Gesundheitskarte mitzu- rung der Sieben-Tage-Regel für Antibiotika unter Be- wirken. rücksichtigung dieser geltenden Rechtslage gar nicht erforderlich ist und – wie der Bundesrat ebenfalls aus- Daher soll nun eine bundesweit gesetzliche Regelung führt – sich inzwischen zeigt, dass das mit der Regelung dafür sorgen, dass im Einklang mit den Bundesländern verfolgte Ziel erreicht wird, dann kann man ja nur die und maßgeblichen Spitzenorganisationen ein Bauplan Konsequenz ziehen, die der Bundesrat gezogen hat, entsteht, mit dem entsprechend § 291 a, Abs. 7 SGB V nämlich dass die Sieben-Tage-Regelung für Antibiotika eine interoperable und kompatible Informations-, Kom- so bestehen bleiben sollte, wie sie ist. Dementsprechend munikations- und Sicherheitsstruktur gewährleistet wird, hat sich die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme ge- auch um Medienbrüche – respektive Insellösungen – äußert. auszuschließen und für alle Beteiligten Planungssicher- heit und Investitionsbereitschaft zu erhöhen. Die Archi- Das macht natürlich den Gesetzentwurf nicht überflüs- tektur wird zugleich so offen gestaltet, dass etwa gesetz- sig. Der Entwurf enthält ja noch viel mehr als die Sieben- liche Änderungen ohne Schwierigkeit online Tage-Regel für Antibiotika. So soll der Abgabezeitraum eingearbeitet werden können. für alle übrigen betroffenen Arzneimittel auf 31 Tage aus- geweitet werden, die Abgabe von Arzneimittelteilmengen Die PKV ist in diesen Prozess eingebunden. Leis- durch den Tierarzt erleichtert werden, die Herstellung von tungserbringer, die jetzt noch nicht integriert worden Arzneimitteln für Lebensmittel liefernde Tiere in Apothe- sind, wie zum Beispiel Psychotherapeuten, werden Zug ken ermöglicht werden, das Abgabeverbot umgewidmeter um Zug in das wachsende System eingebaut, innerhalb Arzneimittel für Lebensmittel liefernde Tiere aufgehoben dessen auch die Frage der Datenspeicherung, das heißt, werden, eine Tierarzneimittelanwendungskommission zur die Serverfrage gelöst werden muss. Weiterentwicklung der Antibiotika-Leitlinien geschaffen werden und der Import von Tierarzneimitteln neu geregelt Wir wissen, wie lange es gedauert hat, bis aus dem werden. theoretischen Ansatz, „wir wollen die intelligente Chip- karte“ ein praktisches Verfahren wurde. Auf Podiums- Der Entwurf enthält also eine Fülle von Anpassungen diskussionen, in Arbeitskreisen und Gesellschaften geltender Regelungen aufgrund der Erfahrungen in der wurde vielfach diskutiert und darüber das Handeln 15082 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) vergessen. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die dargestellt wird ist dieser Vorschlag nicht: Nach § 291a (C) Interessen von Kassen, Ärzten, Apothekern etc. an die- Abs. 1 sind die Krankenkassen verpflichtet, die bishe- sem Projekt sehr unterschiedlich gelagert sind. rige Krankenversichertenkarte bis spätestens 1. Januar 2006 zu einer elektronischen Gesundheitskarte zu erwei- In Kenntnis der bisherigen Abstimmungsprozeduren tern. Es ist bekannt; dass die Selbstverwaltung die Frist ist deshalb der Vorschlag, das Einstimmigkeitsprinzip zur Vorlage der Lösungsarchitektur zum 30. September durch eine qualifizierte Mehrheit zu ersetzen, nur zu be- 2004 nicht einhalten konnte. Das Ergebnis ist das nun grüßen. Um weitere denkbare, zeitintensive Blockaden laufende Forschungs- und Entwicklungsprojekt, das in abzuwenden, sind in das Gesetz Interventionsmöglich- Absprache mit der Selbstverwaltung im Oktober 2004 keiten für das BMGS eingebaut. Das ist nicht nur auf- vereinbart wurde und für welches das BMGS formal den grund gemachter Erfahrungen geboten, sondern auch Auftrag erteilt hat. Aus dieser Konstruktion eine Kosten- deshalb, weil ein weiteres Gelingen hinsichtlich der Ein- übernahme durch das Ministerium herzuleiten, ist zu- führung der Gesundheitskarte in 2006 nicht verzögert mindest gewagt. werden darf. Ungeachtet dieser Diskussion ist eins unbestreitbar: Wir wissen: Die Gesundheitskarte ist eine wesentli- Die Einführung der Gesundheitskarte muss weiter vo- che Voraussetzung für das Funktionieren der integrierten rangetrieben werden, damit die gesetzlich vorhandenen Versorgung; ohne sie geht nichts. Umso wichtiger wird Möglichkeiten der integrierten Versorgung auch prak- es sein, die Menschen davon zu überzeugen, dass die tisch nutzbar werden. Es schadet nichts, sich vor Augen Gesundheitskarte ihnen Vorteile bringt: dass mehr Trans- zu führen, dass letztlich alle Beteiligten davon profitie- parenz zu besserer Versorgung führt, von der Prävention ren werden. über die ambulante und stationäre Versorgung bis hin zur Nachsorge und den Einsatz von Heil- und Hilfsmitteln; Die Umsetzung der Rahmenarchitektur in eine Lö- dass eine bessere Evaluation der Daten hilfreich ist, sungsarchitektur ist deshalb eine Aufgabe, die im Kon- organisatorische und qualitative Brüche auszuräumen. sens mit Selbstverwaltung, Wissenschaft und Industrie Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die schwer- durchgeführt werden muss. An dieser Aufgabe müssen wiegenden Folgen von Fehlmedikamentierungen, die wir gemeinsam festhalten. jährlich nicht nur zu 10 000 Todesfällen führen, sondern auch zu zahllosen vermeidbaren und teuren Folgebe- Dr. Carola Reimann (SPD): Mit dem GKV-Moder- handlungen. nisierungsgesetz wurde die Einführung der elektroni- Auf Dauer werden mit der Gesundheitskarte – hier in schen Gesundheitskarte beschlossen. Sie wird die Pro- Sonderheit über den Einstieg mit dem elektronischen zessabläufe im Gesundheitswesen grundlegend (B) Rezept – auch Einsparungen realisiert werden können. verändern. Das ist ein notwendiger Schritt für ein mo- (D) Erinnert sei an die hohen Kosten im Zusammenhang mit dernes und effizientes Gesundheitssystem. Man schätzt, den rund 700 Millionen papiergebundenen Rezepten pro dass circa 20 bis 40 Prozent der Leistungen im Gesund- Jahr. Durch das elektronische Rezept können Einsparun- heitswesen auf Kommunikation und Information entfal- gen von 100 bis 150 Millionen Euro pro Jahr realisiert len. Diese Zahlen verdeutlichen das verfügbare Poten- werden. zial für die Verbesserungen der Qualität und Wirtschaftlichkeit in unserem Gesundheitssystem. Hinsichtlich des Finanzplans bleibt festzuhalten, dass bisher 0,7 Milliarden Euro angesetzt waren. Andere Ein- Mit der Gesundheitsreform wurden die Krankenkas- schätzungen beruhen unter anderem darauf, dass unter- sen dazu verpflichtet, die bisherige Krankenversicher- schiedliche Ansätze zum Beispiel für die Speicherkapa- tenkarte zu einer elektronischen Gesundheitskarte zu er- zität der Karte im Raum stehen. Rechnerische weitern sowie die dafür notwendige Infrastruktur zu Differenzen entstehen hier durch Preisschätzungen von schaffen. Die bisherige Entscheidungsstruktur, die ein 6bis 10 Euro. Einstimmigkeitsprinzip vorsah, hat sich hierbei als unzu- reichend erwiesen. Deshalb haben sich die beteiligten Gleichwohl gilt, dass die KBV das anstehende Finan- Spitzenorganisationen auf die Gründung einer neuen Be- zierungstableau erstens kannte und zweitens unterschrie- triebsorganisation geeinigt. Der vorliegende Entwurf ben hat. Dies hat zu unterschiedlichen Reaktionen bei verankert die Betrieborganisation auch gesetzlich. Da- den KVen auf Länderebene geführt. Hier steht zu vermu- durch werden Entscheidungsprozesse optimiert und be- ten, dass die Kommunikationsstränge nicht effektiv ge- schleunigt, denn die Beschlüsse werden jetzt mit einer nutzt worden sind. Denn es wird nicht hinreichend kom- qualifizierten Mehrheit getroffen werden können. Die muniziert, dass die Ärzte Entgelte für die Implantation Organisation erhält mit dem Gesetzentwurf den Sicher- und den Gebrauch der Gesundheitskarte via Zuschläge stellungsauftrag und muss für die notwendige Interope- bekommen. Dieses zusätzliche Geld führen sie an die rabilität der zu entwickelnden Komponenten sorgen. KVen ab. Über den genauen Anteil von Ärzten und Krankenhäusern verhandeln die Kassen mit den selbi- Die Selbstverwaltung hat mit dem Aufbau einer Be- gen. triebsorganisation gezeigt, dass sie in der Lage ist, die für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte Es ist verständlich, dass die in den Entwurf eingear- erforderlichen Rahmenbedingungen zu planen und prak- beitete Konstruktion der Finanzierung des Forschungs- tisch umzusetzen. Der Gesetzentwurf enthält jedoch und Entwicklungsvorhabens durch die Selbstverwaltung auch Konfliktlösungswege für den Fall, dass die Akteure auf wenig Gegenliebe stößt. Doch so abwegig, wie es zu keiner Entscheidung kommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15083

(A) Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte gen Anwendung von Arzneimitteldokumentation oder (C) ist nur ein Teil des Projektes „Telematikinfrastruktur“. dem Notfallausweis. Außerdem erhoffen sich die Versi- Eingebunden werden 80 Millionen Patienten, 350 000 cherten mittelfristig niedrigere Beitragssätze, weil über- Ärzte und Zahnärzte, 2 000 Krankenhäuser, 22 000 Apo- flüssige Mehrfachuntersuchungen und Verwaltungsauf- theken und 300 Krankenkassen. Diese Zahlen machen es wände vermieden werden sollen. Die Union hat in dem deutlich: Wir sprechen von einem der größten IT-Pro- Gesetzgebungsverfahren der Einführung „spätestens jekte Europas. Es wird nicht nur wirtschaftliche Reser- zum 1. Januar 2006“ zugestimmt, wie das Gesetz wört- ven erschließen, sondern die Behandlungsqualität der lich festhält. Patientinnen und Patienten verbessern. Unsere Aus- Die tatsächliche Umsetzung des Gesetzes in diesem gangslage ist gut. Wir verfügen über eine ausgezeichnete Punkt durch die Bundesregierung – sie bleibt trotz der Infrastruktur für Informations- und Kommunikations- Aufgaben der Selbstverwaltung für die rechtzeitige und technologien. Jetzt geht es darum, diese auch für die Ge- sachgerechte Einführung der elektronischen Gesund- sundheitsversorgung besser zu nutzen. Eine erfolgreiche heitskarte verantwortlich – lässt allerdings zu wünschen Realisierung des Telematikprojektes wird den For- übrig. Es hapert. Selbst Bundesgesundheitsministerin schungs- und Entwicklungsstandort Deutschland stär- glaubt nicht mehr daran, dass der ur- ken. sprüngliche Zeitplan einzuhalten sein wird. Droht nach Eine erste verpflichtende Anwendung wird die elek- der LKW-Maut ein neues Fiasko eines IT-Großprojektes tronische Übermittlung von Verordnungsdaten – also das der Bundesregierung – diesmal nicht aus technischen elektronische Rezept – sein. Es wird das herkömmliche Gründen, sondern wegen vertaner Diskussionszeit? Papierrezept ersetzen. Die Vorteile des elektronischen Schon der Titel des jetzt von den Regierungsfraktio- Rezeptes liegen auf der Hand. Dabei geht es nicht nur nen vorgelegten Entwurfs eines Gesetzes zur Organisa- um die Vermeidung von Medienbrüchen und Doppelar- tionsstruktur der Telematik im Gesundheitswesen ist nur beiten, also letztlich um organisatorische und wirtschaft- die halbe Wahrheit. Es geht in dem Gesetz mindestens liche Fragen, sondern um die Verbesserung des Schutzes zur Hälfte auch um die Finanzierung der Gesundheits- und der Sicherheit der Patientinnen und Patienten. Nach karte, und dies sogar an zwei unterschiedlichen Ecken. den vorliegenden Studien fordern falsch verordnete Me- Das Hintanstellen – um nicht zu sagen: Verstecken – die- dikamente in Deutschland jährlich mehr Todesopfer als ser Anliegen soll wohl den Goodwill der Beteiligten und der Straßenverkehr. Hier bietet das elektronische Rezept Betroffenen rund um die Gesundheitskarte fördern. Ob die Möglichkeit, Falsch- und Doppelmedikation wirk- das mit diesem Gesetz gelingen kann, ist indes sehr sam zu verhindern, und hilft so, Leben zu retten. zweifelhaft. Die Union hat deshalb jedenfalls eine Anhö- rung der Betroffenen beantragt. (B) Das elektronische Rezept ist nur der erste Baustein (D) der Telematikinfrastruktur. Viele Fragen werden auf dem Das Ziel, die zögerliche Behandlung der nötigen Ver- Weg noch geklärt werden müssen. Dazu gehört auch der träge über die „erforderliche Informations-, Kommuni- Aspekt der Abfrage der Zuzahlungsbefreiung. Diese An- kations- und Sicherheitsinfrastruktur“ durch die im wendung muss es ermöglichen, in der Apotheke den Sta- GMG genannten Spitzenorganisationen der Selbstver- tus der Zuzahlungsbefreiung, also „befreit“ oder nicht waltung – möglichst unter Einbeziehung der privaten „befreit“, abzufragen. Ich denke, das ist ein wichtiger Krankenversicherung, der Patientenvertreter, der Daten- Gesichtspunkt des elektronischen Rezeptes. schützer und der IT-lndustrie – deutlich anzuschieben, ist löblich und wird auch von der CDU/CSU-Fraktion aus- Der Einsatz moderner Informations- und Kommuni- drücklich unterstützt. Der vorliegende Gesetzentwurf er- kationstechnologien wird dazu beitragen, zentrale Pro- scheint aber dazu als typisches überbürokratisiertes bleme unseres Gesundheitswesens zu lösen und die Si- Monstrum mit einer Vielzahl von Fristsetzungen, Ersatz- cherheit und Qualität der Behandlung der Patientinnen vornahmeandrohungen aller Art sowie einer bis ins De- und Patienten zu verbessern. Wir müssen jetzt, zusam- tail gehenden Fremdbestimmung der Selbstverwaltung men mit allen Beteiligten, dafür sorgen, dass die elektro- wenig geeignet. Er nimmt Abschied von der ursprüng- nische Gesundheitskarte ein Erfolg wird. Die Etablie- lich vorgesehenen eigenverantwortlichen Entscheidung rung der Betriebsorganisation der Selbstverwaltung ist durch die Selbstverantwortung mit möglichst breiter ein wichtiger Schritt zur Einführung der elektronischen Konsensbildung im Gesundheitswesen. Gesundheitskarte. Im Januar dieses Jahres hat die Selbstverwaltung mit Geburtshilfe des Ministeriums die Gesellschaft für Tele- Matthias Sehling (CDU/CSU): Im GKV-Moderni- matik „Gematik“ gegründet, die jetzt mit qualifizierter sierungsgesetz von 2003 haben sich die Fraktionen von Mehrheit von 67 Prozent die im GMG vorgesehenen SPD und Bündnis 90/Die Grünen und von CDU/CSU zu Aufgaben erfüllen kann. einem wichtigen Schritt in die gesundheitspolitische Zu- kunft bekannt: zur Einführung der elektronischen Ge- Der im Gesetzentwurf vorgesehene Übergang zur sundheitskarte. Mit ihrer Einführung sind große Erwar- Mehrheitsentscheidung unter den Partnern der Selbstver- tungen aller am Gesundheitswesen Beteiligten, waltung vollzieht konsequenterweise diesen vertragli- insbesondere aber auch der Patientinnen und Patienten chen Übergang vom Einstimmigkeits- zum Mehrheits- verbunden. prinzip gesetzgeberisch nach. Keineswegs erscheint es aber geboten, die Inhalte des Gesellschaftsvertrags bis in Für die Patienten geht es um mehr Qualität in der me- jede Einzelheit vorzuschreiben, wie das im Gesetzent- dizinischen Versorgung, zum Beispiel bei der freiwilli- wurf vorgesehen ist. Warum muss selbst der beratende 15084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) Fachbeirat in seiner Zusammensetzung bis ins Detail ge- soll den Kostenvereinbarungen keine Kosten-Nutzen- (C) regelt werden? Warum wird dies nicht der Gesellschaf- Analyse zugrunde gelegt werden? terversammlung überlassen? Schon die Aufnahme wei- terer Gesellschafter bedarf nicht nur des Benehmens mit Ein dreistes Bubenstück erlaubt sich das Bundesge- dem Ministerium, sondern sogar dessen ausdrücklicher sundheitsministerium mit gesetzlichen Blankoabbu- Zustimmung. Aber selbst die Aufnahme weiterer Mit- chungserlaubnissen für selbst verursachte Telematikkos- glieder in den ohnehin nur beratenden Fachbeirat ist aus- ten ganz am Ende der Vorschrift zur Gesellschaft für schließlich im Einvernehmen mit dem Ministerium, also Telematik. In der Selbstbedienungsvorschrift mit blo- mit dessen ausdrücklicher Zustimmung möglich. ßem Rechtsfolgenverweis ist vorgesehen, dass das Mi- nisterium ohne jede Einschränkung oder vorherige Kon- Die Regelungen zur Gesellschaft für Telematik sind sultation der Gesellschaft für Telematik Kosten für nach dem Motto gestrickt: „Ministerium ist überall.“ eigene Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten für die Warum entscheiden die Ministerin und ihr Haus dann Telematikstruktur der Gesellschaft zur Bezahlung wei- nicht gleich selbst? Faktisch führt der Gesetzentwurf terreichen kann, sobald sie die Forschungsergebnisse der eine bislang unübliche Fachaufsicht in einem Bereich Gesellschaft „zur Verfügung gestellt“ hat. Also: Das Mi- der Sozialversicherung ein. Es drängt sich der Eindruck nisterium bestellt – die Selbstverwaltung bezahlt. Es auf, als säße da dem Hause der Bundeskanzler im Na- fehlt eigentlich nur die Abbuchungserlaubnis für Frau cken, der seiner Bundesgesundheitsministerin den Auf- Ministerin Ulla Schmidt! Den Juristen in der Anhörung trag gegeben hat, keine zweite Großpanne bei einem IT- wird sicher vieles an interessanten Rechtsfiguren einfal- Projekt der Bundesregierung zu riskieren. len, von unzulässiger aufgedrängter Bereicherung über nicht GKV-gerechte Verwendung von Beitragsmitteln Der Bundesregierung muss dabei klar sein: Sie über- aus der Sozialversicherung bis hin zum verletzten Haus- nimmt umso größere Verantwortung für die rechtzeitige haltsrecht des Parlaments. Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, je stär- ker sie die Aufgaben der Selbstverwaltung an sich zieht. Was hier für alle Zukunft gelten soll – die Gesell- schaft für Telematik soll ja dauerhaft auch den Betrieb Auch Finanzierungsregelungen sieht der Gesetzent- der elektronischen Gesundheitskarte organisieren –, wird wurf vor, die im Bereich der Schaffung der Telematik- gleich danach auch für die jüngste Vergangenheit vorge- struktur immerhin als Restkompetenz bei den bisherigen sehen: Gemäß einer weiteren Passage sollen zusätzliche Selbstverwaltungspartnern verbleiben. Die Spitzenorga- Rechnungen des Gesundheitsministeriums an die Kran- nisationen aus den Bereichen Leistungserbringer und kenkassen möglich sein, wenn sie nur bis zum Tag der Kostenträger haben auf drei Feldern Kostenvereinbarun- Gesetzesverkündung „finanziert wurden“. Die Begrün- dung spricht von Kosten, die das Ministerium im Jahr (B) gen zu treffen: für die Kosten der Gesellschaft selbst, für (D) die erstmaligen Ausstattungskosten und für den laufen- 2004 ungefragt für Telematikzwecke gedeckt hat, ohne den Betrieb. im Übrigen die genaue Höhe oder auch nur die Größen- ordnung anzugeben. Gab es hierzu nicht einschlägige Diese Konkretisierung schon bestehender Aufgaben Haushaltstitel? ist grundsätzlich zu begrüßen, haben doch zahlreiche Studien der Vergangenheit auf Defizite bei der Kosten- Parallel zum bisherigen gesetzlichen Auftrag der Nutzen-Verteilung durch die Einführung der elektroni- Selbstverwaltung zur Vereinbarung der Telematikinfra- schen Gesundheitskarte hingewiesen. Immerhin geht es struktur hatte das Ministerium mindestens ein For- schungsprojekt in Eigenregie in Auftrag gegeben, dessen um mindestens 1,8 Milliarden Euro Einführungskosten Kosten sich das Ministerium offenbar von den Kranken- insgesamt. Rund 1,4 Milliarden Euro davon entfallen auf kassen über die Gematik zurückholen möchte. Es gilt die Kartenherstellung und -verteilung, 400 Millionen aber noch immer der Grundsatz: Wer zahlt, schafft an; Euro auf den Verwaltungsaufwand der Krankenkassen. aber wer anschafft, muss auch zahlen! Unbeziffert sind weitere Investitionskosten der Gesund- heitsberufe und anderer. Offen bleiben dagegen in dem Gesetzentwurf zahlrei- che andere wichtige Fragen, wie denn der aktuelle Zeit- Aber auch hier wieder diese Orgie von Dirigismus und plan zur Einführung der Gesundheitskarte aussieht, ob er Ersatzvornahmeandrohungen: Fünf zusätzliche Absätze – gerade wegen häufig vorgesehener Beanstandungsfris- allein einer Vorschrift regeln detailliert Regelungsart, ten des Ministeriums – nicht noch weiter ins Wanken ge- Telematikzuschläge, Finanzierungsbeiträge, gesetzliche rät, wie die Europäische Krankenversichertenkarte zeit- oder behördliche Fristen sowie Schiedsstellenfähigkeit gerecht eingeführt werden kann, wie denn die – also Befugnis zur Ersetzung durch Schiedsspruch – mittelständische Industrie beteiligt werden und die Be- oder ministerielle Ersatzvornahmemöglichkeiten. Das vorzugung der Großindustrie vermieden werden kann, Ministerium zeigt nicht einmal mehr Zuckerbrot, zeigt wie die Interessen des Datenschutzes der Versicherten gleich die Peitsche. mit den öffentlichen Interessen an sozialversicherungs- rechtlich interessierenden Statistiken in Einklang ge- Wo bleibt da noch Entscheidungsraum für die Selbst- bracht werden kann. verwaltung? Warum greift das Gesundheitsministerium nicht auf die bereits getroffene Finanzierungsvereinba- Auf diese auf der Hand liegenden Fragen gibt der Ge- rung der Selbstverwaltung, gegebenenfalls mit Ände- setzentwurf noch keine Antwort. Ein hartes Stück Arbeit rungsauflagen, zurück? Warum wird keine Kostenrege- liegt bei der Anhörung und in den Ausschussberatungen lung entlang dem jeweiligen Nutzen gefordert? Warum vor den Parlamentariern. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005 15085

(A) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich und kann auf einzelne Anwendungen beschränkt wer- (C) bin keine Hellseherin. Trotzdem traue ich mich, vorher- den. Vorgeschrieben ist auch, dass die Versicherten das zusagen, dass künftige Akteure die Einführung der elek- Recht erhalten, auf alle Rezept- und medizinischen Da- tronischen Gesundheitskarte einmal als einen der ganz ten zuzugreifen. großen Modernisierungsschritte in unserem Gesund- heitswesen bewerten werden. Der Aufbau eines umfas- An diesen informationellen Selbstbestimmungsrech- senden elektronischen Kommunikationsnetzes wird dia- ten der Patientinnen und Patienten hat sich die konkrete gnostische und therapeutische Prozesse gründlich Ausgestaltung der Gesundheitskarte und der mit ihr ver- verändern. Die Zusammenarbeit zwischen den verschie- bundenen Infrastruktur zu orientieren. In diesem Sinne denen Leistungserbringern, die in den beiden letzten Ge- werden wir den weiteren Prozess zur Einführung der sundheitsreformen ganz oben auf der Agenda stand, er- elektronischen Gesundheitskarte begleiten. hält endlich die notwendige informationstechnische Grundlage. Die Integrationsversorgung und ein elektro- Detlef Parr (FDP): Das Gesetz zur Bildung einer nisch vernetztes Gesundheitswesen gehören zusammen. neuen Organisationsstruktur der Telematik im Gesund- Ein Medizinjournalist hat es kürzlich in einem Artikel heitswesen, das uns die Regierungsfraktionen hier vorle- auf den prägnanten Satz gebracht: gen, ist symptomatisch für die Politik der Bundesregie- rung – denn eigentlich kommt der Entwurf, wie wir alle Eine Vernetzung der medizinischen Leistungser- wissen, von ihr –, ein klassisches Beispiel für eine Miss- bringer zusammen mit einer intelligenten Nutzung achtung des Parlaments. von Datenverarbeitungsprogrammen wird neue Versorgungsstrukturen entstehen lassen, die mit der Symptomatisch für diese Politik ist zum einen, dass klassisch-dualen Versorgung … so viel zu tun ha- hier im Nachhinein legitimiert werden soll, was schon ben werden wie eine moderne Zahnklinik mit Dok- längst geschaffen wurde und dass der entsprechende Ge- tor Eisenbart. setzentwurf erst einen Tag vor der ersten Lesung zur Meinungsbildung zugeleitet wird. Angesichts dieser Dimensionen wirken die Auseinan- dersetzungen innerhalb der Selbstverwaltung um die Symptomatisch ist der Gesetzentwurf zum anderen elektronische Gesundheitskarte manchmal etwas klein- aber auch für das Grundverständnis der Bundesregierung kariert. Ängste, angestammte Einkommensquellen und gegenüber dem Prinzip der Selbstverwaltung. Ihre Orga- Einflusssphären zu verlieren, haben auch bei diesem Re- nisationen werden zu Auftragserfüllern degradiert, de- formvorhaben im letzten Jahr zu erheblichen Zeitverzö- nen – wie schon im GKV-Modernisierungsgesetz – gerungen geführt. Es ist dem energischen Eingreifen der gleich mit Ersatzvornahmen gedroht wird, wenn sie Bundesgesundheitsministerin und ihrer Mitarbeiter zu nicht tun, was das Ministerium wünscht. (B) (D) verdanken, dass diese Selbstblockade innerhalb der Bei der Einführung der elektronischen Gesundheits- Selbstverwaltung aufgelöst werden konnte. karte treibt die Bundesregierung sich selbst und sucht Durch die neu gegründete Betriebsgesellschaft wird sich die Selbstverwaltung als Sündenbock aus, wenn sie das Projektmanagement gestrafft und professionalisiert feststellen muss, dass der völlig überzogene Zeitplan aus werden. Die Ablösung des Einstimmigkeitsprinzips guten Gründen nicht einzuhalten ist. Als ob sie aus den stellt die Handlungsfähigkeit der Selbstverwaltungspart- Erfahrungen mit Toll Collect nichts gelernt hätte, begibt ner wieder her. Damit können wir uns endlich wieder sie sich überstürzt in das nächste Highttechabenteuer. den wirklich wichtigen Fragen zuwenden, die sich mit „Besser schnell als sicher“ scheint auch hier die Devise der Einführung der Gesundheitskarte stellen. zu sein. Die elektronische Gesundheitskarte steigert nicht nur Gott sei Dank hat sich die Regierung Anfang des die Qualität der Gesundheitsversorgung und hilft Kosten Jahres von der Illusion gelöst, zum Januar 2006 alle Ver- sparen. Darüber hinaus bietet sie als eines der größten sicherten mit der Karte ausgestattet zu haben und mit IT-Projekte der Welt erhebliche Geschäftschancen für dem ersten Schritt der Einführung der Gesundheitskarte Technologieberater und Dienstleister. Vor allem aber – dem elektronischen Rezept – flächendeckend zu begin- bietet sie die Chance, die Rolle der Patientinnen und Pa- nen. Zu dieser Einsicht musste sie aber erst einmal getra- tienten deutlich zu stärken. Patienten wollen heute gen werden. selbstständig und aktiv an Behandlungsprozessen teil- Größere Effizienz bei Entscheidungsstrukturen auch nehmen. Dazu müssen sie verstehen und gelegentlich auf der Seite derjenigen, die für die Einführung der Ge- auch überprüfen können, was die Medizin mit ihnen und sundheitskarte maßgeblich sind, ist wünschenswert und ihren Körpern tut. Die elektronische Gesundheitskarte lobenswert. Daher war die Umwandlung von protego.net kann ihnen diese Möglichkeit eröffnen. Dies setzt vo- zu Gematik mit dem Wechsel vom Einstimmigkeits- zum raus, dass sie die gespeicherten Daten ohne allzu großen Mehrheitsprinzip sicherlich ein richtiger Schritt. Das Aufwand einsehen können. Außerdem müssen sie die wohl weltweit größte Telematikprojekt im Gesundheits- Möglichkeit haben, zu regeln, wer Zugriff auf ihre Daten wesen ist zu groß angelegt und zu sensibel, als dass es mit haben soll und wer nicht. Hektik und faulen Kompromissen durchgeführt werden Mit der Gesundheitsreform haben wir hierfür bereits sollte. 80 Millionen Krankenversicherte mit den entspre- wichtige Vorgaben gemacht. Der Zugang zu den medizi- chenden Karten auszustatten, alle Leistungserbringer an nischen Daten über die Gesundheitskarte setzt die Ein- die Technik anzuschließen und dafür Sorge zu tragen, willigung des Versicherten voraus. Sie ist widerruflich dass in diesem Feld der hochsensiblen Daten die Technik 15086 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 160. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005

(A) reibungslos und absolut sicher vor unerwünschten Zu- Blick auch so zu sein. Doch die Kritik der Krankenkas- (C) griffen funktioniert, dafür sind professionelle Strukturen sen, dass mit diesem Gesetz nicht nur im Nachhinein und eine sorgfältige Vorbereitung unerlässlich. legitimiert wurde, was schon längst geschaffen wurde, sondern die Kassen auch noch im Nachhinein dazu Nicht zu verstehen ist, dass die Selbstverwaltung dazu verpflichtet werden, Kosten für den Forschungs- und getrieben wurde, die neue Betriebsstruktur zu schaffen, um diese dann erst im Nachhinein gesetzlich zu legiti- Entwicklungsauftrag, den das Bundesministerium für mieren. Das hat wenig mit demokratischem Grundver- Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) an die ständnis zu tun. Ein solches Verfahren zeugt vor allem Fraunhofer-Gesellschaft vergeben hat, zu übernehmen, von geringem Respekt dem Parlament gegenüber, das ist mehr als berechtigt. Wie schon beim Entwurf zum scheinbar – so wie gerade bei so vielen mit unnötigem Präventionsgesetz scheint Frau Ministerin Schmidt die Zeitdruck durchgeboxten Gesetzesinitiativen – nur noch Mitgliedsbeiträge der gesetzlich Versicherten als zweites wahrnehmen soll. Haushaltsbudget ihres Ministeriums misszuverstehen, um dann die Kassen umso lauter zu tadeln, dass sie ihre Man hätte bei diesem ungewöhnlichen Verfahren Beitragssätze nicht genug absenken würden. dann wenigstens damit rechnen können, dass es mit den betroffenen Einrichtungen der Selbstverwaltung und der Wir werden die weiteren Ausschussberatungen nut- Verbände abgesprochen ist. Dies scheint auf den ersten zen, um hier weitere Klärung zu schaffen.

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