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Nr. 8 | 25. September 2011

Friedrich Dürrenmatt Monografie von Peter Rüedi | Umberto Eco Friedhof in Prag | Briefe | Junge Literatur aus Island und über den Arabischen Frühling | Jean Ziegler Die Biografie | Generation Facebook Wichtige Neuerscheinungen | Weitere Rezensionen zu , Sue Townsend, Peter Bieri und vielen anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese buch.ch unddas Theater Winterthur präsentieren Ihnen dieneue Lesereihe Autoren auf dergrossen Bühne

26. September 2011, 19.30 Uhr im Theater Winterthur

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Gerron 10CFWMuw6EMBADv2gj7yvJsiWiQxSIPs3p6vv_6gIdhWWPNPK-pxc8Wbfj2s5kwJxYNKqnhxdpNbtIgbVEsAqYF2apar3ZyydwVIWO2yEEsY45xEh1WMeE-2GWOLT8Pt8_qEF8ZoAAAAA= Lesungmit Charles Lewinsky Er war einst ein umjubelter Star undist jetzt nurnoch ein Häftling unter Tausenden. 1940 wirdder Schauspieler Kurt Gerron insGhetto von Theresienstadtdeportiert, wo er seinekünstlerischen Fähigkeiten ein letztes Malbeweisen soll ...

Zum15-jährigen Jubiläum laden wir Sie im Anschluss an die Lesung ganz herzlich zum Apéroriche ein.

EAN 9783905951042

Moderation: Eva Wannenmacher |Eintritt: CHF 30.- (vergünstigter Preis: CHF 15.-*) *für Kinderund Jugendlichebis 16 Jahre, Legi bis 30 Jahre

„Lesereihe buch.ch“– lauschen Sieofflineunseren 15 Jahre Lesungen, bestellen Sieonlineganz bequem. Wir liefern schnell undzuverlässig. AufWunsch auch mit kostenlosem Geschenkservice. www.buch.ch Inhalt Friedrich Dürrenmatt wäre dieses Jahr 90 geworden. Als er vor knapp Wenn Schweizer 21 Jahren starb, war der Dramatiker, Hörspielautor und Romancier gleichzeitig frei, längst zum kulturellen Leuchtturm mit internationaler Ausstrahlung geworden. Seine letzte Rede, die er in kehligem Berner Hochdeutsch Gefangene drei Wochen vor seinem Tod hielt, zeichnete das sarkastische Bild einer «Schweiz als Gefängnis». Gerichtet war sie an seinen Freund, den und Wärter sind tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel, der am 22. November 1990 in Rüschlikon den Gottlieb Duttweiler Preis in Empfang nahm. Die Laudatio, ein glänzendes Zeugnis der sprühenden Gedankenkraft Friedrichs des Grossen, ist immer noch auf YouTube zu sehen. Manfred Papst bespricht die neue – bisher umfassendste – Dürrenmatt-Biografie von Peter Rüedi (Seite 4). Überdies stellen wir eine weitere Folge der legendären Tagebücher des Briten Adrian Mole, eines klassischen Loser-Typen, aus der Feder von Sue Townsend vor (S. 7). Und als Sachbuch die erste autorisierte – und dennoch erstaunlich kritische – Biografie über Jean Ziegler (S. 19). Weitere Schwerpunkte bilden die isländische Literatur, der Arabische Frühling und die sozialen Online-Netzwerke. Der breite Mix an Friedrich Dürrenmatt Themen, Büchern und Autoren soll für viele Geschmacksrichtungen (Seite 4). etwas, vielleicht sogar die eine oder andere Delikatesse bereitstellen. Illustration von André Carrilho Wir wünschen Ihnen guten Appetit! Urs Rauber

Belletristik Kolumne 4 Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die Ahnung 15 Charles Lewinsky vom Ganzen Das Zitat von Jean de La Bruyère Von Manfred Papst 6 Howard Jacobson: Die Finkler-Frage Kurzkritiken Sachbuch Von Simone von Büren Wells Tower: Alles zerstört, alles verbrannt 15 Karin Fuchs: Chur Von Sacha Verna Von Geneviève Lüscher 7 Sue Townsend: Die Tagebücher des Adrian Georg Ratzinger: Mein Bruder, der Papst Mole Von Urs Rauber Von Pia Horlacher Winfried Nerdinger: Die Weisheit baut sich ein

8 Umberto Eco: Der Friedhof in Prag Haus trezzini/keystone martial Von Stefana Sabin Von Kathrin Meier-Rust Jean Ziegler, umstrittener Autor, erhält eine Biografie. 9 A. S. Byatt: Das Buch der Kinder Albrecht Koschorke: Despoten dichten Von Klara Obermüller Von Kathrin Meier-Rust 23 Alaa al-Aswani: Im Land Ägypten The Power of Fantasy – Art From Poland Von Susanne Schanda Von Gerhard Mack Sachbuch Sabine Kubisch, Hilmar Klinkott: Kleopatra 10 Hermann Hesse, Conrad Haussmann: Von Von Geneviève Lüscher Poesie und Politik 16 Michael Lüders: Ta ge des Zorns 24 Christof Hamann, Alexander Honold: Hermann Hesse: «Der Klang der Trommeln» Frank Nordhausen, Thomas Schmid: Die Kilimandscharo Von Thomas Feitknecht arabische Revolution Von Thomas Köster 11 Maja Haderlap: Engel des Vergessens Julia Gerlach: Wir wollen Freiheit! Elisa Brune, Yves Ferroul: Das Geheimnis der Von Sandra Leis Roland Merk: Arabesken der Revolution Frauen Von Beat Stauffer Von Markus Schär Kurzkritiken Belletristik 18 Gerhard Paul: Bilder, die Geschichte 25 Hartmut Leppin: Justinian schrieben Thomas Pratsch: Theodora von Byzanz 11 Doris Dörrie: Alles inklusive Von Martin Walder Von Geneviève Lüscher Von Regula Freuler Elias Canetti, Marie-Louise von Motesiczky: 26 Martin Warnke: Handbuch der politischen André Müller: Sie sind ja wirklich eine Liebhaber ohne Adresse Ikonographie verdammte Krähe Von Manfred Koch Von Fritz Trümpi Von Regula Freuler 19 Jürg Wegelin: Jean Ziegler Das amerikanische Buch Dino Buzzati: Aus Richtung der unsichtbaren Von Urs Rauber Charles C. Mann: 1493. The World Columbus Wälder 20 Jost Auf der Maur: Söldner für Europa Created Von Manfred Papst Von Kathrin Meier-Rust Von Andreas Mink Claudia Piñeiro: Der Riss Peter Bieri: Wie wollen wir leben? Von Manfred Papst Von Kirsten Voigt Agenda 21 Manfred Nebelin: Ludendorff Essay Von Urs Bitterli 27 Sacha Goldberger: Mamika 22 Oliver Leistert, Theo Röhle: Generation Von Regula Freuler 12 Salzfisch, Alkohol und verzweifelte Liebe Facebook Bestseller September 2011 Verena Stössinger über Autorinnen Klaus Raab: Wir sind online – wo seid ihr? Belletristik und Sachbuch und Autoren aus Island, Gastland der Meredith Haaf: Heult doch Agenda Oktober 2011 diesjährigen Frankfurter Buchmesse Von Regula Freuler Veranstaltungshinweise

Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]

25. September 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik

Biografie Der Journalist Peter Rüedi legt nach jahrzehntelanger Arbeit eine gross angelegte, detailreiche Dürrenmatt-Monografie vor Eindrücklich, doch ein Torso

Anmerkungen, Bibliografie, Register: die Nöte der jungen Familie, die schwie- Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die Ahnung ein kapitales Werk. Man liest es rasch, rige Genese des Frühwerks bis zum Pau- vom Ganzen. Diogenes, Zürich 2011. 960 gespannt und ohne Widerstände, da es kenschlag der Uraufführung von «Es Seiten, 24 Seiten Abbildungen, Fr. 59.90. bei aller Faktenfülle auf ein freundliches steht geschrieben» (1947 im Schauspiel- Parlando gestimmt ist. Rüedi kann haus Zürich), den Erfolg der Komödie Von Manfred Papst schreiben. Er kommt ohne intellektuel- «Romulus der Grosse» (1949), aber auch len Jargon aus. Im Wesentlichen folgt er die Zusammenbrüche und schweren ge- Seit vierzig Jahren beschäftigt sich Peter dem Faden der Chronologie, doch er sundheitlichen Probleme. 1950 wird bei Rüedi mit dem Leben und Werk Fried- schiebt mit Geschick immer wieder Ex- Dürrenmatt Diabetes mellitus festge- rich Dürrenmatts. Der 1943 geborene kurse und thematisch geordnete Über- stellt. Damit muss er fortan leben. Auf Thurgauer Germanist, der als Literatur-, blickskapitel ein: zum Phänomen der die wirkungsmächtigen anfänglichen Jazz-, und Weinkenner zu den bewähr- erinnerten Kindheit und zu den allge- Skandale folgen Flops auf der Bühne. testen Journalisten des Landes zählt, hat genwärtigen Topoi von Labyrinth und Der junge Familienvater muss Geld ver- Dürrenmatt gut gekannt, etliche Ge- babylonischem Turm, zu Dürrenmatts dienen. Er publiziert – zunächst als Serie spräche mit dem weltberühmten Autor Verhältnis zur Schweiz, zur Dramatur- im «Beobachter» – den Kriminalroman geführt und 1998 dessen Briefwechsel gie, zu den Naturwissenschaften. «Der Richter und sein Henker», der mit dem Antipoden heraus- Ein kluger Einfall war es gewiss, Dür- ebenso zum Longseller wird wie der im gegeben. Für das vorliegende Buch hat renmatts dramatisches, episches und Folgejahr publizierte Krimi «Der Ver- er zudem Dürrenmatts umfangreichen malerisches Werk immer wieder von dacht». Den ganz grossen Durchbruch Nachlass im Schweizer Literaturarchiv den «Stoffen» (1981/1990) her zu sehen. bringt das Jahr 1957 mit der Urauffüh- in Bern ausgewertet und mit zahlrei- In diesen grossartigen beiden Prosabän- rung der Komödie «Der Besuch der chen Zeitzeugen gesprochen. den hat Dürrenmatt eine Mischform aus alten Dame». Das unverwüstliche Stück Dass Rüedi ein eminenter Dürren- Erzählung, Essay und Erinnerung gefun- um die Korrumpierbarkeit des Men- matt-Kenner ist, steht ausser Frage. Dass den, die seinem ruhelosen assoziativen schen wird zum Welterfolg. Dürrenmatt sein immer wieder angekündigtes Opus Denken am besten entsprach. ist plötzlich ein reicher Mann. Schon magnum so lange auf sich warten liess, 1952 hat er sich – hoch über Neuchâtel, Friedrich Dürrenmatt hat einerseits mit einem embarras de ri- Dürrenmatt wird lebendig weit von den Städten, die er stets arg- mit Kakadu, Aufnahme vom chesse an Informationen zu tun, ande- Was Rüedi über Dürrenmatts frühe wöhnisch betrachtet hat – ein Haus ge- 12. Oktober 1980. rerseits mit Selbstzweifeln des sensib- Jahre schreibt, überzeugt durch Gründ- kauft, das er in den folgenden Jahren zu len Biografen: So einen Stein stemmt lichkeit und Luzidität. Die Kindheit im seinem eigenen Reich aus- und umbaut. man nur einmal. Pfarrhaus in Konolfingen bei Bern, die Bis dahin folgt Rüedi seinem Helden Nun liegt der Brocken also vor uns: Jugend in der Landeshauptstadt, die Re- höchst aufmerksam. Doch dann zerfa- 730 Seiten Haupttext, dazu 230 Seiten bellion gegen den Vater, der frühe Ent- sert seine Darstellung. Statt konzent- schluss, freischaffender Künstler (Autor rierter Prosa begegnen wir zerstreuten oder Maler) und nichts anderes zu wer- Skizzen. Was ist da geschehen? Ver- Friedrich Dürrenmatt den, auf jede Gefahr hin, das abgebro- schämt, auf Seite 35 seines Vorworts, ge- chene Studium der Germanistik und steht Rüedi es selbst ein: Sein Buch ist Friedrich Dürrenmatt (5.1.1921– Philosophie, die Jahre der Studenten- die «Biografie eines Aufstiegs». Ein ers- 14.12.1990) zählt zu den bedeutendsten Bohème in wild ausgemalten Mansar- ter Band eines grösseren Projekts mit- Schweizer Schriftstellern des den, die leidenschaftliche Lektüre von hin? Das bleibt offen. Anders als im Fall 20. Jahrhunderts. Sein Werk erscheint Platon, Kant und Kierkegaard bis zu Les- der von Julian Schütt im Frühling dieses seit 1980 bei Diogenes und ist in einer sing, Wieland, Jean Paul, die erste Liebe Jahrs erschienenen Max-Frisch-Biogra- 38-bändigen Ausgabe sowie zahlreichen aus den Tiefen der Unsicherheit: Das fie, welche just die Bezeichnung «Bio- Einzelbänden lieferbar. Es umfasst alles steht lebendig vor uns. Wir lernen grafie eines Aufstiegs» im Untertitel Dramen, Romane, Erzählungen und im jungen Dürrenmatt einen späten Ex- führt, tritt Rüedis Buch nach aussen als Essays. Auch als Maler und Zeichner war pressionisten kennen, dessen denkeri- Gesamtdarstellung auf. Dürrenmatt aktiv. 1989 vermachte er sche Energie im Ringen um Gott, im Es beginnt mit einem Gespräch mit seinen gesamten literarischen Nachlass Hader mit und der Abkehr von ihm uns Dürrenmatt, das am 28.11.1990 stattfand, der Schweizerischen Eidgenossenschaft nicht loslässt. drei Wochen vor dessen Tod. Und der unter der Bedingung, dass diese ein Rüedi schildert die kurz entschlosse- Autor blendet immer wieder vor und nationales Literaturarchiv schuf. ne Heirat des mittellosen jungen Autors zurück. Er versucht durchaus, den An- mit der Schauspielerin Lotti Geissler, schein einer umfassenden Biografie zu

4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. September 2011 SASHA PORTMANN/RDB SASHA erwecken. Aber er löst seinen Anspruch Aber das Problem von Rüedis Buch zu erfahren, dass Dürrenmatt den ent- nicht ein. Die Jahre bis und mit 1957 be- ist nicht nur eines der mangelnden Wa- scheidenden Schlusssatz, «Gott liess handelt er gründlich, die späteren oft rendeklaration. Es ist nicht bloss eine uns fallen und so stürzen wir denn auf rhapsodisch und willkürlich. Zwar wid- halbe Werkbiografie, die sich als ganze ihn zu», in der Fassung der Werkausga- met er dem Kriminalroman «Das Ver- ausgibt und im Fall einer Fortsetzung be von 1980 ersatzlos gestrichen hat. sprechen» (1958), den er neben dem einfach um die Bezeichnung «Band 1» Auch Rüedis biografische Ausführun- «Besuch der alten Dame» für Dürren- ergänzt werden müsste. Auch in den gen sind nicht ohne Seltsamkeiten und matts Meisterwerk hält, und der Komö- ausgeführten Teilen gibt es einerseits Widersprüche. Dürrenmatts künstle- die «Die Physiker» (1962), die ihm zu zahllose Wiederholungen und Redun- risch höchst fruchtbare zweite Ehe mit glatt ist, eingehende Betrachtungen. danzen, andererseits empfindliche Lü- Charlotte Kerr (1984–1990) handelt er Doch dann wird es neblig. Schon «Frank cken. Einschläge Zitate tauchen zigmal auf einer knappen Seite ab. Auf Seite V.» (1959) erfährt keine angemessene auf und werden stereotyp kommentiert. 660 beschreibt er zuvor Friedrich und Würdigung. Das für Dürrenmatts Rang Hier macht der Text den Eindruck, als Lotti Dürrenmatt als ideales Ehepaar. entscheidende Prosawerk der späteren sei er aus vielen Bruchstücken zusam- Zwei bzw. vier Seiten später ist von Lot- Jahre ist weitgehend ausgeblendet. Kein mengesetzt und dann nicht mit der nöti- tis Depressionen, Alkohol- und Medika- Wort über den exemplarischen Text gen Umsicht kontrolliert worden. mentensucht, gar einem Selbstmordver- «Der Sturz» (1971), kein Wort über «Abu such sowie von Friedrichs Seitensprün- Chanifa und Anan ben David» (die Lücken und Widersprüche gen die Rede. Ja, was denn nun? Dürren- Meistererzählung im Israel-Buch «Zu- Anderes wiederum fehlt. Zwei Beispiele matts Weinkeller ist im übrigen ein sammenhänge», 1976/1980), kein Wort für viele: Im Zusammenhang der Krimi- ganzes Kapitel gewidmet, seiner Biblio- über «Das Sterben der Pythia», den nalromane ist keine Sekunde von Fried- thek leider kaum ein Satz. Schlüsseltext im «Mitmacher-Kom- rich Glauser, dem offensichtlichen Vor- Bleibt festzuhalten: Seinen Schwä- plex» (1976). Die Bedeutung des Spät- bild Dürrenmatts, die Rede. Dabei ist chen zum Trotz ist Rüedis Buch die bis- werks wird zwar immer wieder behaup- Bärlach ohne Wachtmeister Studer her umfassendste Dürrenmatt-Biogra- tet, aber nicht begründet. «Justiz», «Der nicht zu denken. Und bei der Diskussion fie. Sie hat grosse Qualitäten. Fertig ist Auftrag», «Midas», «Durcheinandertal» der auch theologisch hoch bedeutsamen sie nicht. Aber wir haben lieber einen werden nur gestreift. Erzählung «Der Tunnel» (1952) ist nicht halben Rüedi als gar keinen. G

25. September 2011 R NZZ am Sonntag R 5 Belletristik Roman Was ist typisch jüdisch, was nicht? Das fragt sich der britische Booker-Preisträger Howard Jacobson in seinem furiosen neuen Werk

In Erwartung der Trauer

nem schillernden Kaleidoskop unter- Howard Jacobson: Die Finkler-Frage. schiedlicher Haltungen – von Zionisten Aus dem Englischen von Bernhard über Holocaustleugner zu Paranoiden, Robben. Deutsche Verlags-Anstalt, die «Horden von Antisemiten marodie- München 2011. 448 Seiten, Fr. 35.90. rend durch West End» ziehen sehen – blitzen heikle Fragen auf: Ist es Von Simone von Büren rassistisch, der Scham der Juden einen höheren Stellenwert beizumessen als Julian Treslove ist «für Katastrophen der Scham anderer Menschen? Implizie- und Trauer wie geschaffen». Der 49-Jäh- ren Juden einen moralischen Sonder- rige sieht seine Geliebten wie Opernfi- status, wenn sie für sich strengere Mass- guren «in einem perfektionierten Traum stäbe setzen als für den Rest der Welt? tragischer Liebe dahinscheiden», ohne Gedenkt man der Toten von Buchen- dass im richtigen Leben eine einzige wald nur, «wenn sich die Lebenden in Frau gestorben wäre, die er liebte. Er lebt Tel Aviv anständig benehmen»? in präventivem Selbstmitleid und antizi- Mutig, frech und mit trockenem GETTY IMAGES GETTY piertem Leid bis zu dem Tag, an dem er Humor wagt sich der 69-jährige Autor überfallen und – so meint er gehört zu Frau, alles sinnlos. Sam Finkler – mit Howard Jacobson an die gerne mit Samthandschuhen be- haben – als «Jude» beschimpft wird. seiner «Überholspur-Kompetenz» für schreibt über handelte Finkler-Frage heran und stösst Identitätsprobleme Der Überfall erfüllt den Protagonis- Treslove der Inbegriff alles Jüdischen, eines englischen dabei auf Themen wie die Bedeutung ten von Howard Jacobsons neuem weshalb er auch von «Finklern» statt Juden. von Zugehörigkeit, die Gefahr stereoty- Roman «Die Finkler-Frage» mit «dem von «Juden» spricht – gründet aus Är ger per Zuschreibungen, Ausschreitungen ihm so fremden Gefühl einer Art von über Israel und das «Theater jüdischer gegen Minderheiten und das Identitäts- Fröhlichkeit». Erregbarkeit» den Verein «A-SCHan d- vakuum des urbanen Durchschnitts- Durch den antisemitischen Vorfall jiddn». Einen Boykott israelischer Pro- europäers, die in der westlichen Gesell- findet er erstmals seine Rolle als Opfer dukte verurteilt er jedoch, denn: «Wer schaft weit über das Judentum hinaus und auch ein Gefühl der Zugehörigkeit boykottiert schon die eigene Familie?» relevant sind. zu einer Gruppe, «die über mehr tief sit- Ausserdem betont er gern, das Juden- Immer wieder ist das Jüdisch- oder zenden Trübsinn verfügte, als er mit sei- tum sei «kein Club, dem man einfach Nichtjüdisch-Sein in diesem amüsanten nem Genpool aufzubringen vermoch- beitreten kann», wenn man nicht wisse, Roman nur ein Vorwand oder ein Erklä- te». Er macht sich eifrig daran, wie ein was man sonst sei. rungsversuch für die Rivalitäten, Unter- Jude zu denken, zu reden und zu lieben, «Fieberhaft über das Judentum zu schiede und Selbstzweifel, die Affären, muss seine Vorstellungen jedoch stän- reden, das gerade war ja so jüdisch», Erfolgsgeschichten und Missgeschicke dig revidieren, da die wenigsten Juden heisst es im Roman. Der in Manchester von Howard Jacobsons nicht besonders im des 21. Jahrhunderts seinem aufgewachsene Howard Jacobson redet liebenswerten Figuren. Denn, wie Libor Stereotyp entsprechen. in den meisten seiner zahlreichen Ro- sagt, «die Juden sind nicht die einzigen Tresloves jüdische Freunde Libor und mane fieberhaft über das Leben der Menschen auf der Welt, die an gebro- Sam, beide seit kurzem verwitwet, ha- (englischen) Juden. In «Die Finkler- chenem Herzen leiden können». Julian dern mit dem Judentum, das der Goi Frage», mit dem er endlich den Booker- Treslove wartet am Ende allerdings sich anzueignen bemüht. Der betagte Preis gewonnen hat, erforscht er einmal immer noch auf die grosse Trauer, die Libor glaubt, dass die Juden immer mehr witzig und scharfsinnig, was es ihm das Herz bricht. Als Möchte-gern- Opfer bleiben werden, und findet nach heisst, jüdisch zu sein – politisch, gesell- Finkler darf er nicht einmal den Kad- «seiner Kristallnacht», dem Tod seiner schaftlich, emotional, kulturell. In sei- disch sprechen. G

Erzählungen Das ländliche Amerika als Schauplatz einer Sammlung lakonischer Kurzgeschichten

Grotesken des Alltags

freudlosen Affäre seine Ehe ruiniert hat. ka der Gegenwart für Szenen, die oft Wells Tower: Alles zerstört, alles In der Titelgeschichte, «Alles zerstört, wie Proben aus dem absurden Theater verbrannt. Aus dem Amerikanischen alles verbrannt», hacken Wikinger alles wirken. Es herrscht Prozac-Bedarf und von Malte Krutzsch und Britta Waldorf. kurz und klein, was sie bei ihrem letzten -stimmung in diesem Debüt. Doch To- S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011. Besuch auf einer Insel in der Nordsee wers Gespür für die Grotesken des All- 270 Seiten, Fr. 28.90. nicht bereits kurz und klein gehackt tags und sein Ohr für hochkomische Dia- haben – nur, um ihren Winterblues zu loge verleiten ihn nie zur Überdosierung. Von Sacha Verna dämpfen. In den USA wurde der 38-jährige Wells Towers Protagonisten sind Autor als Mischung aus Sam Shepard, Seegurken sind gefährlich. Besonders, meistens männlich und meistens nicht Frederick Barthelme und David Foster wenn man sie nichtsahnend zu anderen zufrieden mit sich und der Welt. Ein Wallace gefeiert. Mit diesen Vergleichen Wasserwesen in ein Aquarium verfrach- Junge hadert mit seinem perfiden Stief- ist Wells Towers literarisches Univer- tet. Das Ergebnis ist ein Massaker. Für vater und fürchtet sich vor einem Leo- sum allerdings noch lange nicht abge- die Gemetzel, emotionale und existen- parden, der aus einem Privatzoo in der steckt. Wer schafft es schon, Geistheiler zielle, blutige und unblutige, sind in Nachbarschaft ausgebrochen sein soll. und gegrillte Käsesandwichs kausal zu Wells Towers neun Erzählungen nicht Zwei Brüder huldigen auf der Elchjagd verknüpfen? immer Seegurken verantwortlich wie in ihrem Hass aufeinander. In diesen Geschichten werden innere «Die braune Küste». Da verschlägt es Tower spielt elegant mit Realismus Landschaften nach aussen gekehrt. Man einen Mann in ein heruntergekomme- und metaphorischer Überhöhung und verläuft sich darin auf eigene Gefahr, nes Strandhaus, nachdem er mit einer nutzt mit Vorliebe das ländliche Ameri- aber mit Gewinn. G

6 R NZZ am Sonntag R 25. September 2011 Entwicklungsroman Mit den tragikomischen «Tagebüchern des Adrian Mole» hat die britische Bestsellerautorin Sue Townsend einen nationalen Nerv getroffen. Das Genre findet auch in anderen Ländern Nachahmer Ein englischer «Geri Weibel»

typ dieses literarischen Formats der Sue Townsend: Die Tagebücher des Me-Generation (von denen wir in der Adrian Mole. Die schweren Jahre nach Schweiz mit Martin Suters Geri Weibel 39. Aus dem Englischen von Astrid sogar eine einheimische Variante ken- Finke. Edition Tiamat, 2011. nen). Und allen Patin gestanden hat be- 382 Seiten, Fr. 25.90. kanntlich Jane Austen mit ihrem grossen Thema der tiefen Kluft zwischen Schein Von Pia Horlacher und Sein, in die sich die spiessige Life- style-Generation heute so freiwillig Wie konnte man ihn nur aus den Augen stürzt, wie die rigide Gesellschaft im verlieren? Wie konnte man fast verges- 18. Jahrhundert gnadenlos ihre armen sen, was für eine hinreissend komische alten Jungfern hineinschubste. und kluge Lektüre er uns mit seinen ge- Irgendwann um die Jahrtausendwen- heimen Tagebüchern schon so lange be- de ist mir Adrian Mole, trotz früher und schert hat? Adrian Mole, der picklige treuer Anhänglichkeit, abhandenge- Halbwüchsige aus dem Arbeitermilieu, kom men. Doch wie mit einem alten der unbedingt ein Intellektueller wer- Freund, mit dem man seine Jugendge- den wollte und mit 13 Jahren begann, Ta- schichte teilt, fühlt man sich beim Wie- gebuch zu schreiben. Doch schon An- dersehen sofort wieder zu Hause. Und fang der achtziger Jahre lag er mit sei- ja, dann werden die Nachrichten aus nen Ambitionen völlig falsch in der Zeit. einem alternden Leben meistens nicht besser. Adrian Moles neueste Tagebü- Jugendlicher Bücherwurm cher sind tatsächlich nicht einfach nur Denn die achtziger Jahre waren auch der leichte Kost. Unter der vertrauten lie- Beginn jener neuen Steinzeit unter der benswürdigen Komik, dem schönen Eisernen Lady, als die liberalen Werte in Sprachwitz und der lustvollen Ironie hat Grossbritannien neu, oder eben neolibe- sich die komische Koketterie mit den ral, definiert wurden: «Shopping, fucking täglichen Katastrophen verdüstert zu and earning big money» war die Losung. einer schmerzlichen Melancholie. Die Zum Essex-Man (der Begriff stand für «Prostrate Years» sind nämlich die den erfolgreichen hirnlosen Höhlenmen- Jahre, die Wortähnlichkeit tönt es an, in schen mit dem grossen Vierradantrieb denen einen das Leben manchmal be- aus der neureichen Countryside) zeigte reits «daniederzustrecken» droht. In der kleine Adrian, ernster Sohn «total Moles Fall ist es die Prostata, die zuerst verantwortungsloser» Eltern, nie Talent. für die übliche Komik sorgt. Und dann Sein erster Eintrag, mit denen die Tage- für den echten Schock: Er hat Krebs. bücher beginnen, ist ein Pfadfindervor- satz: Ich werde blinden Menschen immer Lachen und Weinen über die Strasse helfen. Dabei läuft sonst schon alles schief in Rücksichtslosigkeit und Gier waren seinem Leben. Von der Weltlage nicht dem autodidaktischen Bücherwurm so zu reden, die seinen ältesten Sohn als fremd wie die minimale Lebenstüchtig- Soldaten nach Afghanistan geführt hat. keit, die er gebraucht hätte, um sich als Adrian selbst wohnt wieder zu Hause in Poet und Schriftsteller durchs Leben zu der sumpfigen Provinz, im umgebauten schlagen. Und natürlich hatte er auch Schweinestall seiner immer noch ver- bei den Mädchen und später bei den rückten Eltern. Seine Frau Daisy hasst

Frauen keinen Stich – das weibliche CALTON/EYEVINE/DUKAS GARY das Landleben und betrügt ihn mit Pendant zum neuen Neandertaler, Es- einem affigen Landadeligen. Adrian ar- sex-Girl, war im Kopf so schmalbrüstig Sue Townsend ries 1999–2001» bis in die Gegenwart der beitet immer noch in einem Buchanti- wie Adrians magerer Schulbuben-Torso. kreierte die Figur des «Prostrate Years» (jetzt auf Deutsch er- quariat, das stets kurz vor dem Bankrott Doch auch mit den Ausnahmen haperte Tagebuchschreibers schienen unter dem Titel «Die schwe- steht und das noch immer die mittel- Adrian Mole, den in es: Nach Pandora, seiner grossen Ju- England alle kennen. ren Jahre nach 39») ist ein Entwick- losen Exzentriker von einst anzieht: gendliebe, schmachtet er noch, als sie lungsroman entstanden, der auch ein rotbärtige Dampflok-Enthusiasten, die längst eine glanzvolle Politkarriere ge- erhellendes Stück Zeitgeschichte ist. einen Fahrplan der Transsibirischen Ei- macht und eine von Tony Blairs «smart Adrian Mole und seine Autorin, die ehe- senbahn aus dem Jahr 1954 suchen, und babes» geworden ist. Während er, mit malige Journalistin Sue Townsend, wer- Frauen mit Bürstenschnitt, die zerfled- drei Kindern von unterschiedlichen den in England als «nationaler Schatz» derte Kopien von Germaine Greers Müttern, ständig am Rande des Exis- verehrt. Alle kennen Adrian Mole, er ist Buch «Der weibliche Eunuch» zum tenzminimums und im Zentrum einer der literarische Everyman der Postmo- Kauf anbieten. schreiend dysfunktionalen Patchwork- derne. Und Sue Townsend, durch eine Manchmal möchte man ob Adrians Familie strampelt. Diabetes vor einiger Zeit selbst erblin- verpfuschtem Leben also nicht nur Trä- So wuchs Adrian zum stillen Verlie- det, tragische Ironie des Schicksals, gilt nen lachen, sondern auch weinen. Aber rer heran, der allerdings mit grossem als Urmutter all der erfolgreichen vorläufig brauchen wir noch nicht wirk- Gewinn eine Chronik seiner Abwege Nachahmerprodukte, die seither in fikti- lich um sein Leben zu fürchten. Eigent- und Verluste führte, die weit über das ver Kolumnen- und Tagebuchform den lich wollte Sue Townsend ihn und die Individuelle hinausweist: Von «Growing Markt überschwemmt haben. Serie eingehen lassen, als sich ihre Ge- Pains» über «The True Confessions», Das berühmteste ausserhalb Eng- sundheit stark verschlechterte. Doch «The Wilderness Years» und «The Cap- lands war natürlich dasjenige von heute sagt sie, ihre einzige Möglichkeit, puccino-Years» zu «The Weapons of Bridget Jones. Adrian Mole aber ist ihr Adrian umzubringen, liege in ihrem ei- Mass Destruction» und «The Lost Dia- grosser Bruder, so etwas wie der Arche- genen Sterben. Gott bewahre. G

25. September 2011 R NZZ am Sonntag R 7 Belletristik Roman In seinem neuen Buch beschreibt Umberto Eco eine paneuropäische Verschwörung und hinterfragt die Wirkungsmacht der Fiktion

Bekenntnisse des Fälschers Simone Simonini

Friedhof in Prag» heisst, ist nicht nach- Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. zuvollziehen.) Aus dem Italienischen von Burkhart Diese vier Grossprojekte bilden das Kroeber. Hanser, München 2011. Raster der Romanhandlung und werden 528 Seiten, Abbildungen. Fr. 38.90. von dem alternden Simonini in Rück- blenden rekonstruiert. Denn nachdem Von Stefana Sabin er während einer Schwarzen Messe das Gedächtnis verloren hat, rät ihm der Immer wieder kommen in den Romanen österreichische Arzt Froïde, den er in von Umberto Eco Verschwörungstheo- einer Kneipe kennengelernt hat, Tage- retiker und Verschwörungsphantasien buch zu führen, um sich seiner selbst vor, so bereits in «Das Foucaultsche wieder zu vergewissern. Simoninis Ta- Pendel» (1988) und in «Baudolino» gebucheintragungen werden durch eine (2000). In dem neuen Roman, Anfang Art Doppelgänger, der Parallelerlebnis- dieses Jahres in Italien und jetzt auch se beisteuert, ergänzt. Der Erzähler auf Deutsch erschienen, ist das Aushe- kommentiert die Einträge beider Tage- cken von Verschwörungen das Movens buchschreiber und setzt sie zueinander der Hauptfigur. in Beziehung. Simone Simonini ist ein grossspuri- ger Fälscher, ein ebenso talentierter wie Reale und fiktive Figuren manischer Betrüger, der keine morali- Der Erzähler, der sich zurückhaltend all- sche Rücksicht kennt und von einer ra- wissend gibt, sich mit dem Leser ver- biaten Abneigung gegen Jesuiten und bündet und ihn immer wieder direkt Wenn die Welt monini miteinander verwoben und Juden getrieben ist. Nachdem er bei anspricht, und der Protagonist Simonini kopfsteht und Fiktion nach Art eines Unterhaltungsromans und Wirklichkeit einem Notar in Turin das Fälscherhand- (und sein Doppelgänger) sind fiktionale verwechselt werden. aus dem 19. Jahrhundert erzählt und be- werk gelernt hat, betätigt Simonini sich Figuren. Alle anderen Figuren im Roman Illustration aus dem bildert. Eco hat sich dafür seiner eige- als agent provocateur, als Doppel- und sind historische Gestalten: Die Schrift- Bildarchiv von Eco. nen umfangreichen ikonographischen Dreifachspion, als Attentäter und Auf- steller Alexandre Dumas und Victor Sammlung bedient. tragsmörder zuerst in Turin, dann in Pa- Hugo, Doktor Froïde (Freud!) und Gari- Der Unterhaltungsroman, der in lermo und schliesslich in , wo er baldi, der russische Agent Golowinki Fortsetzungen erschien, das Feuilleton, sich niedergelassen hat und der ungarische Major Esterházy, der war ein Lieblingsthema des Semiotikers Hochstapler Taxil und die Salonière Ju- Eco, und als Romancier hat er dessen Verschwörung im Friedhof liette Adam, Abbé Barruel und der Akti- narrative Tricks wie Quellenfiktion und In seiner dunklen Pariser Wohnung vist Maurice Joly haben alle tatsächlich Historisierung benutzt und zugleich fälscht Simonini nicht nur private Papie- existiert und haben das getan, was sie in vor der Wirklichkeitsfalle gewarnt – so re, sondern auch brisante kirchen- und diesem Roman tun. Auch die kleinen auch in diesem Roman, in dem das staatsrelevante Dokumente und insze- und grossen Handlungsepisoden geben abenteuerliche Geschehen sich stets niert politische Attentate. Er ist der un- reale Ereignisse der europäischen Ge- um die unheilvolle Verwechslung von bekannte Drahtzieher hinter dem Un- schichte wieder und haben tatsächlich Fiktion und Wirklichkeit dreht. Mit fall, bei dem Garibaldis Adjutant Ippoli- so stattgefunden, wie sie im Roman grossem narrativem und stilistischem to Nievo ums Leben kommt, ebenso wie stattfinden. Es sind allesamt Ereignisse, Raffinement verwandelt Eco histori- hinter der spektakulären Karriere des deren Hintergründe bis heute ungeklärt sche Ereignisse in fiktive Abenteuer zum Katholizismus konvertierten Frei- geblieben sind, so dass sie sich für Ver- und führt vor, wie Fälschungen, also maurers Léo Taxil und der öffentlich- schwörungstheorien eignen. Fiktionen, die Wirklichkeit nachhaltig keitswirksamen Blossstellung antikleri- Es ist ja bis heute nicht geklärt, unter beeinflussen. kaler Machenschaften; Simonini ist der welchen Umständen der Dichter und Er habe, sagte Eco in einem Gespräch Autor einer geheimen militärischen De- Garibaldianer Ippolito Nievo gestorben mit Claudio Magris, die Romanform be- pesche, mit deren Hilfe der Offizier Al- ist oder wer hinter der unerklärlichen nutzt, um eine «wahre Geschichte» zu fred Dreyfus des Landesverrats über- Konversion des Hochstaplers Taxil erzählen, nämlich die Geschichte der führt wird, und der «Protokolle der Wei- stand; die Verurteilung des jüdischen «Protokolle der Weisen von Zion», jenes sen von Zion», eines Berichts über ein Offiziers Dreyfus auf der Basis eines ge- antisemitischen Pamphlets, das für wahr Geheimtreffen jüdischer Rabbiner auf fälschten Dokuments führte tatsächlich gehalten wird, obwohl es erwiesener- dem Friedhof von Prag, um eine Welt- zu jener Affäre von 1895, deren Folgen massen eine Fälschung ist. Eco faszi- verschwörung zu planen. europaweit spürbar wurden; die «Proto- niert nicht nur die Durchsetzungskraft Der Friedhof von Prag als ein un- kolle der Weisen von Zion» schliesslich der Fiktion über die Fakten, sondern heimlicher Ort, an dem Verschwörun- sind eine breit kursierende antisemiti- auch die Wirkungsmacht der literari- gen gesponnen werden, gibt dem Roman sche Fiktion unklarer Autorschaft, deren schen Montage. den Titel. (Warum allerdings der deut- Wirkung unermesslich war. Just diese Wirkungsmacht würde sein sche Titel von «Il cimitero di Praga» Diese wahren Episoden werden so klug unterhaltender Roman aber ver- statt «Der Friedhof von Prag» nun «Der durch die fiktive Figur des Fälschers Si- dienen. G

8 R NZZ am Sonntag R 25. September 2011 Roman A. S. Byatt entwirft ein Panorama der englischen Gesellschaft und ihrer Utopien um 1900

Alle träumen vom besseren Leben

20. Jahrhundert ergriffen hatte. Mehr liebtheit kennen keine Grenzen. Nichts A. S. Byatt: Das Buch der Kinder. Aus dem Aufbruch, mehr Hoffnung war nie, so wird ausgespart, nichts bleibt ungesagt, Englischen von Melanie Walz. S. Fischer, will es scheinen. Aber auch der Fall auf nichts wird verzichtet. Und so dau- Frankfurt a. M. 2011. 896 Seiten, Fr. 38.90. dürfte kaum je tiefer gewesen sein als ert es lange, zu lange, bis man sich in der damals am Ende des Ersten Weltkriegs, verschlungenen Handlung und den Von Klara Obermüller als deutlich wurde, wie gründlich alle komplizierten Familienverhältnissen Weltverbesserungsbestrebungen ge- auch nur einigermassen zurechtgefun- Vor Jahren hat sie uns mit ihrem Roman scheitert waren. den hat. Schade, denn der Autorin gelin- «Besessen» verzaubert: der hinreissen- Ein wichtiges und noch immer aktu- gen immer wieder höchst anschauliche den Geschichte einer fiktiven viktoria- elles Thema, wenn man bedenkt, wie Szenen und unverwechselbare Einzel- nischen Dichterin und derer, die über verhängnisvoll sich Utopien und die mit porträts. Sie kann Zeitumstände und Le- sie forschten. Sie machte es so gut, dass ihnen verbundenen Versuche, Men- bensräume, aber auch Landschaften und man sich bis heute manchmal fragt, ob schen zu ihrem Glück zu zwingen, im Kunstwerke so farbig schildern, dass sie nicht doch vielleicht gelebt hätten, 20. Jahrhundert auswirkten. Leider aber man meint, sie persönlich zu kennen. diese Christabel LaMotte und ihr Ge- geht dieses zentrale Anliegen in der Aber sie verzettelt sich und lässt es an liebter Randolph Henry Ash, und man Überfülle an Material unter. Antonia jener Geschlossenheit fehlen, die ihren bisher in der Literaturgeschichte ein- Byatt weiss zu viel, und sie will zu viel. Roman «Besessen» seinerzeit zum rei- fach etwas übersehen habe. Ihr Einfallsreichtum und ihre Detailver- nen Lesevergnügen machte. G Und nun also «Das Buch der Kinder»: Wieder geht die englische Autorin A. S. Byatt zurück in die Vergangenheit ihres Landes, zurück in jene Zeit, als die poli- tischen und sozialen Utopien blühten Geschichtsbewusst Junge Kunst aus Polen und die Kurve des Fortschritts immer nur nach oben zu zeigen schien. Der fast 900 Seiten starke Roman setzt ein im Jahr 1895 und führt in einem weiten Bogen hin zu jener Katastrophe des Ers- ten Weltkriegs, der Europa 1919 zerstört und ohne Hoffnung zurückliess. Seine Protagonisten sind Sozialreformer, Dichterinnen, Kunsthandwerker, Erzie- herinnen, Freidenker und Anarchisten, und sie haben Kinder, viele Kinder, denen die Ideen der Eltern zu einem besseren, freieren Leben verhelfen sol- len. Ob sie dabei glücklicher werden, ist eine andere Frage. A. S. Byatt packt alles in diesen Roman hinein, was es in jener Zeit an politi- schen, sozialen und künstlerischen Ex- perimenten gegeben hat: die Arts-and- Crafts-Bewegung, den Sozialismus der Fabian Society, den russischen Anar- chismus, den deutschen Kommunismus, den englischen Feminismus und was der Reformbemühungen mehr waren. Ent- sprechend zahlreich ist denn auch das Personal. Sechs Familien und eine ganze Reihe weiterer Figuren bevölkern die Szene. Im Roman sind sie alle auf ver- schlungene Weise miteinander verbun- den, befreundet, verschwägert, ver- wandt, und gäbe es ganz hinten im Buch nicht ein Register, man verlöre wohl bald einmal die Übersicht über das bunte Völklein, das sich da auf Landsit- zen, in Töpferwerkstätten, Museumskel- lern und politischen Hinterzimmern Was machen die Velofahrer mit dem Schlagbaum? Realität kennzeichnet Werke einer ganzen Reihe von über die Rettung der Welt Gedanken Auf welche Mannschaft verweisen die vielen polnischen Künstlern. Piotr Uklanski, Monika macht. verschiedenen Trikots? Und wo gibt es noch so ein Sosnowska, Wilhelm Sasnal und Artur Zmijewski Die erzählerische Kunst der Autorin unzeitgemässes Signal, das man durchbrechen zählen zu den bekanntesten. Sie stehen für eine besteht, wie schon in ihren früheren Bü- müsste, um eine Grenze zu passieren? Polen gehört Generation, die von den Eltern her mit den chern, auch hier wieder darin, dass sie doch längst zur EU! Zbigniew Libera stellt mit den Kriegstraumen noch vertraut ist, den Horizont des reales und fiktives Material geschickt zu Sportlern nach, wie Soldaten der deutschen eigenen Leben aber nicht mehr davon bestimmen verknüpfen und so dem lexikalischen Wehrmacht 1939 die Grenze zu Polen durchbrachen lassen will. Die alte Floskel vom Phantastischen in Wissen Leben einzuhauchen weiss. His- und damit den Zweiten Weltkrieg auslösten. Die der polnischen Kunst und Kultur erhält eine neue torische Daten und Personen geben historische Szene ist auf einem Foto überliefert. Der Bedeutung. Der Band stellt eine Reihe von Positionen gewissermassen das Gerüst ab, das die 1959 geborene Künstler spielt sie nach und übersetzt in Bild und Text vor und rückt sie erstmals in einen Romanhandlung strukturiert und die er- sie dabei in ein amüsantes Ereignis unserer Tage. Die grösseren Zusammenhang. Gerhard Mack fundenen Figuren in der Realität veror- Ironie und die Freiheit gegenüber der eigenen The Power of Fantasy – Modern and Contemporary tet. Dabei gelingt es ihr, den ungeheuren Geschichte erlauben es, diese erinnernd zu Art From Poland. Hrsg. David Crowley, Zofia Elan spürbar werden zu lassen, der die bewahren, ohne ihre Schicksalsschwere mitschleppen Machnicka und Andrzej Szczerski. Prestel, München Menschen um die Wende vom 19. zum zu müssen. Der leicht absurde Blick auf die eigene 2011. 180 Seiten, 170 Farbabbildungen, Fr. 53.90.

25. September 2011 R NZZ am Sonntag R 9 Belletristik Briefwechsel Hermann Hesses Korrespondenzen mit dem Politiker Conrad Haussmann und dem Bildhauer Hermann Hubacher zeigen neue Facetten in Leben und Werk des Autors Unpolitisch war er nicht

Hermann Hesse, Conrad Haussmann: Von Poesie und Politik. Briefwechsel 1907–1922. Hrsg. Helga Abret. Suhrkamp, Berlin 2011. 407 Seiten, Fr. 40.90. Hermann Hesse: «Der Klang der Trommeln». Briefwechsel mit Hermann Hubacher. Hrsg. Philipp Gut. NZZ Libro, Zürich 2011. 272 Seiten, Fr. 45.–.

Von Thomas Feitknecht

In den vergangenen drei Jahrzehnten sind weit über ein Dutzend Briefwechsel publiziert worden, die Hermann Hesse geführt hat: mit Autoren von über Stefan Zweig, Hugo und Emmy Ball bis , mit den Künstlern Hans Sturzenegger und Alf- red Kubin, mit seiner zweiten Frau Ruth Wenger, mit seinem Verleger Peter Suhr- kamp, mit seinem Psychotherapeuten Josef Bernhard Lang. Und immer wieder kommen neue Facetten von Hesses Leben und Werk zum Vorschein. Das zeigen die soeben in Buchform erschie- nenen Briefwechsel mit dem linkslibera- len deutschen Politiker Conrad Hauss- mann (1857–1922) und dem Zürcher Bild- HESSE/BPK MARTIN hauer Hermann Hubacher (1885–1976). Gewiss, auch in diesen Bänden finden Hermann Hesse und vor einer militärischen Einberufung bewusster Bescheidenheit tiefstapelt». sich die Konstanten von Hesses Korres- (1877–1962) in einer sicher fühlte. In der Beurteilung der Kunstkritik sind Aufnahme von 1937. pondenzen: Klagen über die schlechte Obschon die Freundschaft zwischen sich Bildhauer und Schriftsteller einig. Gesundheit, finanzielle Sorgen, Unmut Haussmann und Hesse auf die gemein- Zweimal, 1945 und 1952, wird Hubachers über ausgebliebene Reaktionen der same Tätigkeit für die kulturpolitische Schaffen in der «Weltwoche» zerzaust, Briefempfänger. Ganz sicher wird aber Zeitschrift «März» zurückging und einmal vom Feuilletonchef Manuel Gas- im Briefwechsel mit Conrad Haussmann Haussmann selber literarische Ambitio- ser persönlich, dann durch Stellung- der Ausspruch Hesses relativiert, ihm nen hegte, liegt der Schwerpunkt des nahmen einer «Reihe bekannter Persön- liege «alles Politische nicht, sonst wäre Briefwechsels beim politischen Weltge- lichkeiten». Hesse hält das für eine ich längst Revolutionär». Wie die Her- schehen. Stärker in künstlerische Berei- «Schmähkampagne» und fügt be- ausgeberin, die in Frankreich lebende che führt hingegen die Korrespondenz schwichtigend hinzu: «Doch dürfen und deutsche Germanistin Helga Abret, mit Hermann Hubacher, einem der pro- wollen wir diese Früchte des Zorn und nachweist, war Hesse während des Ers- minentesten Schweizer Bildhauer seiner der Dummheit nicht ernst nehmen.» ten Weltkriegs in Bern nicht nur offiziell Zeit, Schöpfer u. a. der «Ganymed»- für die Kriegsgefangenenfürsorge tätig, Skulptur auf der Zürcher Bürkli-Terras- Einsam in der Nachkriegszeit sondern übte mit Unterstützung der se und der «Sitzenden» beim Zürich- Die Probleme des Ersten Weltkriegs, die Deutschen Gesandtschaft «eine Ge- horn. Die vom Historiker, Germanisten im Briefwechsel mit Conrad Haussmann heimmission aus, die er selbst als ‹poli- und «Weltwoche»-Redaktor Philipp Gut zur Sprache kamen, holten Hesse ein, als tisch› einstufte». Hesse war kein grosser besorgte Edition ist ein Künstlerbuch, Hitler in Deutschland die Macht an sich Agent, aber ein Verbindungsmann zwi- reich illustriert mit Fotos von Huba- riss und den 2. Weltkrieg auslöste. «Wir schen dem Reichstagsabgeordneten chers Plastiken und mit Farbreproduk- leben wieder mitten in einer grossen Conrad Haussmann, der auf deutscher tionen von Hesses Briefen und Aquarel- Zeit», schrieb er 1936 zynisch an Huba- Seite eine Friedenslösung anstrebte, und len, ergänzt mit Gedichten Hesses, die cher: «Für alte Leute eine grosse und französischen Mittelsmännern, insbe- den Sendungen beilagen. Verglichen mit schätzenswerte Erleichterung des Ster- sondere Emile Haguenin, dem Leiter manchen früheren, eher spröde wirken- bens. Und die Jungen hören ja, die meis- des französischen Pressebüros in Bern. den Hesse-Briefwechseln ist «Der Klang ten, den Klang der Trommeln gern.» In der Trommeln» ein sehr farbiges und der Nachkriegszeit wurde es «einsam Hesse als Agent einladendes Buch geworden. um uns her», wie Hubacher im Frühling Hesse erwähnt verschlüsselt «jenen Pa- Das trifft auch auf den Text zu. Immer 1957 nach dem Tod des Komponisten riser Herrn» und lässt keinen Zweifel wieder klingt der freundschaftlich-lo- Othmar Schoeck und dem Selbstmord am konspirativen Charakter seines ckere Umgangston an, mit dem die Kor- des Bildhauerkollegen Karl Geiser be- Tuns: «Alles mit Wissen und Billigung respondenz nach dem gemeinsamen Be- merkte. Der letzte Brief dieser Korres- der deutschen Regierung, aber völlig in- such des Zürcher Künstlermaskenballs pondenz, ein Jahr vor Hesses Tod, ging offiziell.» Für die Tätigkeit als «agent de 1926 eröffnet wird. Beide diskutierten an Hubachers Frau Annie und schliesst liaison» war Hesses Einsatz für die deut- «auf Augenhöhe», betont Philipp Gut in mit den Worten: «Die Schmerzen kann schen Soldaten in französischer Kriegs- der Einleitung, und doch lasse sich «als der Arzt ziemlich gut lindern, die grosse gefangenschaft eine gute Tarnung. Und wiederkehrendes Muster eine Rollen- Müdigkeit nicht.» G Hesse ging nicht nur darauf ein, weil er verteilung erkennen, wonach der ‹erd- Thomas Feitknecht leitete 1990–2005 das eine Beendigung des Krieges wünschte, gebundene› Bildhauer gegenüber dem Schweizerische Literaturarchiv und ist sondern auch, weil er sich auf diese wortgewandten und vergeistigten Lite- Herausgeber von Hesses Briefwechsel mit Weise politisch unentbehrlich machte raten systematisch in einer Art selbst- seinem Psychiater Josef Bernhard Lang.

10 R NZZ am Sonntag R 25. September 2011 Debüt Die diesjährige Bachmann- Kurzkritiken Belletristik Preisträgerin Maja Haderlap leuchtet die Doris Dörrie: Alles inklusive. André Müller: Sie sind ja wirklich eine eigene Kindheit aus Roman. Diogenes, Zürich 2011. 248 Seiten, verdammte Krähe. Interviews. Langen Fr. 36.90. Müller, München 2011. 368 Seiten, Fr. 29.90. Schicksal der slowenischen Kärntner

Maja Haderlap: Engel des Vergessens. Wallstein, Göttingen 2011. 288 Seiten, Abrechnungen mit Hippie-Eltern haben André Müllers Interviews waren legen- Fr. 27.50. Hochsaison. Erst Charlotte Roches där. Nicht etwa wegen der Prominenz «Schossgebete» mit einer ultrafeminis- seiner Gesprächspartner (zu denen auch Von Sandra Leis tischen Mutter darin, dann die Kultu- seine Mutter gehörte). Sondern weil er ren-Clash-Kinokomödie «Sommer in dem Gegenüber genauso wie sich selbst «Sie wissen, dass ihre Vergangenheit in Orange» über Bhagwan-Anhänger in stets alles abverlangte. Er verstand das den österreichischen Geschichtsbüchern Oberbayern. Den Reigen eröffnet hat al- «Interview als (Selbst-)Entblössung». nicht vorkommt, noch weniger in den lerdings die Münchner Regisseurin Doch nicht alle liessen sich entblössen, Kärntner Geschichtsbüchern», schreibt («Männer») und Autorin Doris Dörrie nicht einmal Pornostar Dolly Buster: Sie Maja Haderlap in ihrem Roman «Engel mit «Alles inklusive». Der Titel riecht lief ihm davon. Modedesigner Karl La- des Vergessens». Gemeint ist die slowe- nach Pauschalurlaub und meint das Ge- gerfeld strich ihm viele Passagen heraus, nische Bevölkerung in Kärnten. Bis heute genteil: Ingrid schleppt Tochter Apple Feministin Alice Schwarzer untersagte sind die Deportation in Konzentrations- in den Siebzigern sommers nach Spani- gar die Publikation (nachzulesen ist das lager, der Partisanenkrieg gegen die deut- en und lebt den Traum vom freien Gespräch, aus dem der Verlag irrefüh- sche Wehrmacht und die Stigmatisierung Leben. Doch die Liebe macht ihr einen rend den Buchtitel fabrizierte, in voller dieses Kampfes nach 1945 Tatsachen, Strich durch die Rechnung. Die Tochter Länge auf Müllers Website). Müllers über die Österreich lieber schweigt. auch, als sie älter und zur Soziopathin Eitelkeit, Arroganz und Todessehnsucht Maja Haderlap, 1961 als Bauerntoch- wird. Aus der Rückblende und verschie- stossen an Grenzen des Ertragbaren, ter ganz im Süden Kärntens zur Welt denen Perspektiven erzählt, rollt Dörrie Man blickt ganz tief in Seelen. Manch- gekommen, hat am eigenen Leib erlebt, auf amüsante Weise eine traurige Ge- mal tiefer, als einem lieb ist. Ob das Mül- was es heisst, wenn die Geister der Ver- schichte auf. Die sprachlichen Ambitio- ler, der im April 2011 65-jährig gestorben gangenheit die Familie fest im Griff nen der Autorin sind leider gering. ist, manchmal auch so empfunden hat? haben. Die Grossmutter war im KZ Ra- Regula Freuler Regula Freuler vensbrück; der Vater gehörte bereits mit zwölf Jahren zu den Partisanen und hat Dino Buzzati: Aus Richtung der Claudia Piñeiro: Der Riss. Roman. Aus sich zeitlebens nie mehr von der Gewalt unsichtbaren Wälder. Erzählungen. dem Spanischen von Peter Kultzen. und der Todesangst erholt. Wagenbach, Berlin 2011. 144 Seiten, Fr. 22.90. Unionsverlag, Zürich 2011. 253 S., Fr. 28.90. Grossmutter und Vater, das sind neben der Ich-Erzählerin die Hauptper- sonen in «Engel des Vergessens». Maja Haderlap, die bisher Lyrik auf Slowe- nisch und Deutsch veröffentlicht hat und 15 Jahre lang Chefdramaturgin am Stadt- theater Klagenfurt war, leuchtet in ihrem ersten Roman die eigene Kindheit aus und die Geschichte der slowenischen Minderheit in Österreich. Ihr Thema ist brisant, und sie schreibt aus innerer Not- wendigkeit: Mit einem klug gewählten Romanausschnitt gewann sie den dies- jährigen Ingeborg-Bachmann-Preis. Der italienische Erzähler, Maler, Repor- Im deutschen Sprachraum machte die Liest man das Werk als Ganzes, wer- ter und Feuilletonist Dino Buzzati wurde argentinische Autorin Claudio Piñeiro den jedoch Schwächen in der Machart 1906 in San Pellegrino bei Belluno gebo- im Jahr 2008 erstmals auf sich aufmerk- deutlich: Die Ich-Erzählerin – sie ist zu- ren und starb 1972 in Mailand. Sein sam: mit dem raffinierten Krimi «Ganz nächst Kind, dann Frau – nimmt oft eine Leben lang arbeitete er für den «Corrie- die Deine». Danach ging es Schlag auf dem Alter nicht angemessene Perspekti- re della Sera». Sein Bestes gab er in Er- Schlag. 2009 folgte der meisterhafte ve ein. Zudem spricht sie konse- zählungen, die mitunter an Franz Kafka Roman «Elena weiss Bescheid», der in- quent im Präsens, was einer erinnern: Sie berichten vom Einbruch nere Monolog einer gebrechlichen Frau, historischen Verortung in des Unheimlichen ins Normale. Dabei die sich durch Buenos Aires quält, 2010 die Quere kommt. Viele agiert Dino Buzzati zugleich als vorgeb- die unheimliche Geschichte «Die Don- Metaphern wollen lyrisch lich nüchterner Chronist und als Satiri- nerstagswitwen». Nun legt der Zürcher sein, sind aber nur ange- ker. Klaus Wagenbach hat für den vorlie- Unionsverlag noch einmal nach: In der strengt. Es gibt Figuren, genden Band zwölf Erzählungen des Übersetzung des bewährten Fachmanns die wenig Kontur erhalten, Autors, der in den 1950er und 1960er Peter Kultzen präsentiert er den Roman und schliesslich verliert Jahren recht fleissig ins Deutsche über- «Der Riss». Diesmal geht es um die kri- der Roman nach dem Be- setzt wurde, seither aber etwas in Ver- selnde Ehe eines Mannes von 45 Jahren, gräbnis der Grossmutter an gessenheit geraten ist, ausgewählt. der seit zwanzig Jahren im gleichen Ar- Kraft. Essayistische Passagen las- Herzstück seiner Sammlung ist die Ge- chitekturbüro in Buenos Aires arbeitet sen das Werk verfransen. Neben schichte «Angst in der Scala» (früher: und dem plötzlich der Boden unter den einzelnen poetischen Glanz- «Panik in der Scala»), in welcher sich Füssen entgleitet. Für Spannung ist er- lichtern ist es vor allem die die feine Mailänder Gesellschaft aus neut gesorgt, denn wenn Claudia Piñei- Thematik, die das Buch Furcht vor den Kommunisten in ihrem ro erzählt, wird jede Geschichte zum gleichwohl respektabel Opernhaus verbarrikadiert. abgründigen Krimi. und lesenswert macht. G Manfred Papst Manfred Papst

25. September 2011 R NZZ am Sonntag R 11 Essay Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse vom 12. bis 16. Oktober ist Island. Der Inselstaat verfügt über einen reichen Sagenschatz und eine lebendige Gegenwartsliteratur.Verena Stössinger hat die Bücher jüngerer Autorinnen und Autoren gelesen Salzfisch, Alkohol und verzweifelte Liebe

Jens, der Landbriefträger, kämpft sich durch liert sich die Spur der beiden und das Erzählen Glausers Satz steht im Nachwort zur auf- Schnee und Sturm. Kommt endlich in den Ort, erstirbt. schlussreichen Anthologie «Niemandstal», die wo schon das Gasthaus «Weltende» heisst, Jón Kalman Stéfanssons Roman «Der junge Literatur aus Island präsentiert. Darin kann sich das Eis aus dem Bart kratzen und die Schmerz der Engel» beschreibt in parabelhaf- gibt es eine skurrile Erzählung von Kristín Knochen wärmen, bis er weiter muss: mit «Ex- ter Dichte einen existenziellen Kampf. Der Eiríksdóttir (*1981), die «Löcher in Menschen» trapost zur sogenannten Winterküste», und der Mensch ist klein, und was ihn umgibt, ist gross. heisst; und dieser Titel könnte auch über den Junge, der keine Familie mehr hat, soll ihn dabei Nicht nur die Natur, sondern auch die Sprache: neuen Publikationen von Einar Már Guð- begleiten. mundsson, Guðrún Eva Minervudóttir und Es ist Ende April und wohl vor gut hundert Steinar Bragi stehen. Jahren: Bald wird das Leben auch in den West- Die Landschaft ist eines der Der Bericht «Vorübergehend nicht erreich- fjorden leichter werden, aber die letzten Stre- bar» von Einar Már Guðmundsson ist «eine cken sind immer die härtesten. Die beiden literarischen Hauptthemen Liebesgeschichte» und dokumentiert die Be- Weggefährten tappen tagelang über Berge und in Island, weil die Insel- ziehung zwischen Einár Þór und Eva. Beide durch Täler; der Junge hält sich an Strophen sind um die dreissig und süchtig; sie kennen fest, die er im Kopf hat, Jens denkt an die Frau, bewohner seit je der Natur sich noch nicht lange, sind aber entschlossen, die er liebt, aber «der Überlebenskampf und die aneinander Halt und zusammen einen Neu- Träume passen nicht zusammen, Poesie und ihres Landes unmittelbar anfang zu finden. Jetzt ist Einár Þór jedoch Salzfisch sind Gegensätze, keiner kann seine ausgesetzt sind. beim Dealen erwischt worden und sitzt in Lítla- Träume essen». Sie sind hohl vor Hunger, Hraun ein, dem Gefängnis auf dem Land. Er haben Frostbeulen und Halluzinationen. Dann schreibt an Eva und sie an ihn, und sichtbar wird den Wanderern auch noch ein Sarg zum Zitate, lyrische Strukturen, ein hoher Ton und werden zwei zunehmend abschüssige Leben, Transport aufgeladen – es wäre grotesk, wenn schwere Bilder («Geirþruður stand vor ihm, die schliesslich in eine traumhaft starke, offen- es nicht so grausam wäre. Denn bald darauf ver- die Augen voll ertrunkener Männer»); der Text bar unerschütterliche Liebe münden. lässt damit an Thor Vilhjálmsson denken, den Die eloquenten, selbstkritischen Briefe, die Altmeister, der im Frühjahr verstarb und von Guðmundsson vom realen Einár Þór und seiner Gastland Island dem postum noch der Roman «Morgengebet» Eva zur Verfügung gestellt bekommen hat, sind zu uns kommt. Gerüst und Körper des Buches. «Dass Natur in der Geschichte der isländi- Dazwischen erzählt der grosse Autor ein Die kleine Inselnation im Atlantik hat eine grosse schen Literatur eine feste Bezugsgrösse ist und wenig von sich. Von seiner Alkoholsucht, dem literarische Tradition, und die Isländer sind ein – damit direkt zusammenhängend – Landschaft langen Überspielen und Nicht-Wahrhaben- lese- und schreibfreudiges Volk. Das Interesse eines der literarischen Hauptthemen Islands Wollen, bis ein Entzug schliesslich unumgäng- an ihrer Literatur und Sprache ist in den darstellt, ja während langer Zeit ein Pfeiler der lich wurde. Er tut es beinahe verschämt und mit deutschsprachigen Ländern seit je gross. Von kulturellen Selbstvergewisserung war, erstaunt sachlicher Distanz – ganz anders als etwa Per den archaischen Sagen bis zu den Werken des nicht: Zu unmittelbar sind die Isländer seit je Olov Enquist vor zwei Jahren in seiner erschüt- Nobelpreisträgers Halldór Kiljan Laxness (1902– der Natur ihres Landes ausgesetzt», hat Jürg ternden Autobiografie «Ein anderes Leben». 1998) wurden immer wieder Bücher aus dem Glauser geschrieben. Stéfanssons Roman er- Das lässt sein neues Buch eine tröstliche Doku- Isländischen übersetzt. Anlässlich des scheint als spätes Echo dieser Tradition, denn mentation bleiben, die den Leser oder die Lese- Gastauftritts an der Buchmesse Frankfurt, wo seit den 1970er Jahren dominieren städtische rin nur im Kopf berührt. Island einen eigenen Pavillon hat, kommen nicht Räume und deren zunehmend desillusionierte Anders die Romane von Guðrún Eva Miner- weniger als 200 Neuerscheinungen hinzu. Bewohner die Literatur der «glücklichsten Na- vudóttir und Steinar Bragi. Sie fesseln und irri- tion unter der Sonne» (Þorarinn Eldjárn). tieren – Minervudóttirs «Schöpfer» durch die

12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. September 2011 max galli/laif max Die Natur und das Wetter prägen die «glücklichste Nation unter der Sonne»: Abendstimmung in einer Strasse in Reykjavík (Februar 2009).

25. September 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay hordur asbjornsson hordur ingolfsson falur einar valdimarsson pall johann valdimarsson pall johann Einar Már Guðmundsson: Schreibt über Jón Kalman Stéfansson: Widmet sich Steinar Bragi: Verstört nachhaltig mit Guðrún Eva Minervudóttir: Liefert trotz eine starke Liebe unter Drogensüchtigen. parabelhaft dem existenziellen Kampf. seinem Roman «Frauen». Jugend ein verblüffend reifes Werk.

Haken, die er schlägt, wogegen Bragis «Frauen» che pubertierende Tochter, eine Brücke zur Fernsehers, und wird hart bestraft, wenn sie nachhaltig verstört. Welt. Sveinn jedoch vermutet hinter dem Dieb- diese nicht befolgt. So unfassbar die Leute – die Beide Texte handeln von Zeitgenossen auf stahl einen gezielten Racheakt. Er bekommt an- Mächte – sind, denen sie ausgeliefert ist, zeigt der Grenze zwischen Intelligenz und Wahn. onyme Todesdrohungen, seit Hans, ein Kunde, sich, dass deren System teuflisch gut funktio- Der «Schöpfer» ist der 40-jährige Sveinn, ein seine Sexpuppe zerstückelte und sich umbrach- niert und nicht zu unterlaufen ist. ehemaliger Kunststudent, der sich auf dem te. Hat Lóa ihm nicht ratlos erregt von ihrem Hinter der Aktion steckt Joseph Novak, ein Land eine Werkstatt für Plastikpuppen aufge- vor kurzem verstorbenen Vater erzählt? Emigrant aus Ex-Jugoslawien, und seine «Grup- baut hat. Er fertigt lebensgrosse weibliche Sex- Das Geschehen zieht sich über eine Woche pe Zerstörung». Eva ist nicht das erste Opfer puppen, die er übers Internet vertreibt. Lóa, hin. Lóas und Sveinns Geschichten werden pa- und nicht das einzige, was sie bald ahnt – doch eine etwas überforderte alleinerziehende Mut- rallel erzählt. Misstrauen, Missverständnisse ter mit Alkoholproblemen, landet eines Abends und der Übereifer eines Jungen, der Polizist vor seiner Tür, weil ihr Auto einen platten Rei- spielen will, treiben sie in skurrile Wendungen Die naive Protagonistin läuft fen hat; Sveinn hilft ihr widerwillig bei der hinein, doch die Autorin lässt den Konflikt zwi- Reparatur, sie übernachtet in seinem Wohnzim- schen Lóa und Sveinn schliesslich deeskalieren. in einem Krimi in die Falle. mer, entdeckt morgens die Werkstatt und ent- Es bleiben genug Wunden und Narben, und der Sie soll als totes Objekt einer wendet kurzentschlossen eine fertige Figur. Leser staunt über das verblüffend reife Werk Vielleicht, denkt sie, ist sie für Margrét, ihre der 1976 geborenen Autorin, die bisher noch künstlerischen Installation anorektische und inzwischen fast unzugängli- nicht auf Deutsch zu lesen war. Auch Steinar Bragis (*1975) Roman «Frauen» dienen – die Rache eines erzählt von einem Künstler, der seine dunklen Kriegstraumatisierten. Neuerscheinungen Visionen real auslebt, ist aber ungleich härter; ein Text, der gesellschaftliche Tabugrenzen auslotet und streckenweise schwer zu ertragen auch die Informationen über ihre Situation, die – Jón Kalman Stéfansson: Der Schmerz der ist (auch, weil er nicht in einem letztlich tröst- sie «zufällig» findet, sind Teil der physischen Engel. Roman. Piper. 342 Seiten, Fr. 28.90. lichen Krimi-Setting daherkommt). Protagonis- und psychischen Folter. Ziel ist, sie zum (toten) – Einar Már Guðmundsson: Vorübergehend tin ist Eva, eine etwas naive und selbstbezoge- Objekt einer künstlerischen Installation zu ma- nicht erreichbar. Eine Liebesgeschichte. ne Frau, die – sowohl als Künstlerin wie als chen, die wohl auch die Rache eines Kriegs- Hanser. 332 Seiten, Fr. 27.90. Ehefrau gescheitert – aus New York nach Reyk- traumatisierten an der satten «Friedensgesell- – Guðrún Eva Minervudóttir: Der Schöpfer, javík zurückkehrt und sich da auf das Angebot schaft» des Westens ist. Und so futuristisch Roman. btb. 303 Seiten, 28.50. einlässt, mietfrei eine schicke Wohnung zu be- surreal und kulturpessimistisch konstruiert – Steinar Bragi: Frauen. Roman. Kunstmann. ziehen, wenn sie die Pflanzen giesst und die dieser Plot wirken mag: Er zwingt einen, über 254 Seiten, Fr. 28.50. Katze füttert. die Freiheit der Kunst und ihre Grenzen nach- – Niemandstal. Junge Literatur aus Island, Es erweist sich als Falle; es gibt kaum Pflan- zudenken, über medialen und gesellschaftli- Hrsg. Ursula Giger und Jürg Glauser. Geleitwort: zen, die Katze lässt sich selten sehen und die chen Zynismus, Sexismus, Grausamkeit und Hallgrímur Helgason. Wohnung wird bald zum Gefängnis. Eva wird seelische Kälte – sobald man, dem unheimli- dtv. 192 Seiten, Fr. 14.90. überwacht und mit Drogen manipuliert, sie be- chen Text-Sog entronnen, überhaupt wieder kommt Befehle, etwa über den Hauskanal des richtig nachdenken kann. l

Wolfgang Rother Verbrechen, Folter, Todesstrafe Philosophische Argumente der Aufklärung

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Wissenschaft in Fernsehen, Klassikerder humoristischen Lyrik – «Wenn wiralso sagen, die Lust 10CFWMIQ7DMBAEX3TWru21cz1YhUUFVfiRqLj_R63LCgasNDvHESr4cd8f5_4MAl3GLt8YcpU6R9BrmRoBByvIGwVpbpN_voE-Gloux-DfnZShm1oCSHIVcr1Ry_t6fQDogdBhgAAAAA== «Eserscheint mir alsAbsurdität, Vertiefte und neue Einblicke in Die zwei schönsten Erzählungen Quiz und Feuilleton –Popula- auf kongeniale Weiseins Englische sei das Ziel, meinen wir damit dass dieGesetze, die die Tötung NietzschesGedanken, namentlich des grossen Europäers – risierungvon Expertenwissen. übertragen vonMax Knight […]: weder SchmerzimKörper als verabscheuenswert erachten zumÜbermenschen, zum Willen jetztals Neuausgabe. nochErschütterunginder Seele und bestrafen, sie selbst voll- zur Macht und zur ewigen Wieder- 93 S., br. F 13.80 /sFr. 19.50 176 S., br. F 13.80 /sFr. 19.50 194S., 7Abb., br. F 13.80 /sFr. 19.50 zu empfinden.»(Epikur) ziehen.»(Beccaria) kunft desGleichen, fürFachleute ISBN 978-3-7965-2608-4 ISBN 978-3-7965-2607-7 ISBN 978-3-7965-2693-0 und Interessierte. 152 S., br. F 13.80 /sFr. 19.50 141 S., br. F 13.80 /sFr. 19.50 ISBN 978-3-7965-2691-6 ISBN 978-3-7965-2661-9 415S., br. F 19.90 /sFr. 28.50 ISBN 978-3-7965-2682-4 Die neue geisteswissenschaftliche Reihe im Schwabe Verlag Basel

14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. September 2011 Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese Kurzkritiken Sachbuch

Karin Fuchs: Chur. Historischer Städteatlas Georg Ratzinger: Mein Bruder, der Papst. der Schweiz. Chronos, Zürich 2011. Aufgezeichnet von Michael Hesemann. Manche Leute tragen drei 120 Seiten, Bilder, Karten und Pläne, Fr. 58.–. Herbig, München 2011. 272 Seiten, Fr. 29.90. Namen, als fürchteten sie sich, keinen zu besitzen. Jean de La Bruyère

Wenn Emil Staiger – es ist schon bald

GAËTAN BALLY / KEYSTONE KEYSTONE / BALLY GAËTAN ein halbes Jahrhundert her – uns Ger- Charles Lewinsky ist manistikstudenten vom Katheder herab Schriftsteller und seinen Lieblingssatz einbleute: arbeitet in den «Nicht Goethe muss sich an uns be- Das 1960 gestartete Projekt «Histori- Der vier Jahre ältere Bruder des Papstes, verschiedensten Sparten. Sein neuer währen, wir müssen uns an Goethe be- scher Städteatlas» ist international. Aus Georg Ratzinger (geb. 1923), langjähri- Roman «Gerron» ist währen», dann sagte er nicht «Johann verschiedenen europäischen Ländern ger Domkapellmeister zu Regensburg, soeben bei Nagel & Wolfgang von Goethe», er sagte auch liegen bereits Atlanten vor, die Schweiz erzählt über das Elternhaus – der Vater Kimche erschienen. nicht «der Geheimrat Goethe» und ist mit drei Ausgaben, Frauenfeld, Neun- war Gendarm –, die gemeinsame Jugend schon gar nicht «der Dichter Goethe». kirch, Weesen, dabei. Nun hat die Histo- in der Region Altötting (Oberbayern) Er sagte einfach «Goethe». rikerin Karin Fuchs einen weiteren Band und den Entschluss, mit seinem Bruder Das ist das Höchste, was man als über Chur beigesteuert. Chur, eine römi- Joseph (geb. 1927) die Priesterlaufbahn Künstler erreichen kann: dass man sche Gründung am Fuss der Bündner einzuschlagen, was damals auch ein Akt weder einen Vornamen noch eine Be- Passübergänge, entwickelte sich schon des Widerstandes gegen den antichrist- rufsbezeichnung braucht, um als der er- bald vom Bischofssitz zur Kleinstadt und lichen Zeitgeist des Nationalsozialismus kannt zu werden, der man ist. Goethe. im 19. Jahrhundert zur Hauptstadt des war. Die beiden pflegen bis heute ein Shakespeare. Mozart. Kantons. Verschiedene, zeitlich gestaf- enges Verhältnis zueinander, verbringen Der kluge israelische Autor felte Karten zeigen diese Entwicklung gemeinsam die Ferien, schauen zusam- Jehoschua Sobol hat mir die Geschichte anschaulich. Im Kommentarteil illustrie- men Fernsehen, und noch heute rufe der vom Bildhauer Markowitz erzählt, ren historische Bilder, archäologische Papst ihn mehrmals pro Woche an. Die dessen Ausstellung im Feuilleton hoch Pläne und alte Fotos den Text. Gedacht Schwester Maria (1921–1991) führte 34 gelobt wird. als Arbeitsmittel für Historiker, Archäo- Jahre den Haushalt des damals «jüngs- Er zeigt die Besprechung stolz seiner logen und Denkmalpfleger, wird die ten Theologieprofessors der Welt» und Mutter, und sie sagt: «Viel Erfolg hast schön gestaltete Publikation im schwar- späteren Kardinals in Rom. Ein sehr pri- du ja nicht.» zen Schuber auch bei Heimweh-Churern vater Blick in die Welt und Herkunft des «Wieso nicht?», fragt er. «Hier steht und anderen an Stadtentwicklungen In- katholischen Oberhaupts, reich bebil- doch: ‹Der Bildhauer Markowitz hat teressierten Anerkennung finden. dert, ein erstaunliches Dokument. grosse Kunst geschaffen.›» Geneviève Lüscher Urs Rauber «Eben», sagt sie. «Sie schreiben im- mer noch ‹Der Bildhauer Markowitz›. Winfried Nerdinger (Hrsg.): Die Weisheit Albrecht Koschorke, Konstantin Es käme nie jemand auf den Gedanken baut sich ein Haus. Prestel, München 2011. Kaminskij: Despoten dichten. University ‹Der Maler van Gogh› zu schreiben.» 415 Seiten, Fr. 66.90. Press, Konstanz 2011. 364 Seiten, Fr. 35.50. Sobol erzählte das bei einem Mittag- essen in Wien, und ganz zufällig kam ich am Nachmittag desselben Tages am Burgtheater vorbei. Dort sind die Heroen der österreichi- schen Literatur in die Fassade gemeis- selt, und unter ihrem Porträt steht je- weils der Name. «Hebbel» steht da oder «Grillpar- zer». Und gleich daneben «Friedrich Halm». Der einzige Fassadenheld, der einen Vornamen braucht. Weil der Name, den er sich gemacht hat, zu klein Wer Bücher liebt, liebt meist auch ihre Saddam Hussein hat vier Romane ge- ist, um für sich allein zu stehen. Häuser. Der über 3000-jährigen Ge- schrieben, Ghadhafi dutzende Erzählun- Wissen Sie, wer Friedrich Halm ist? schichte, der geistigen Planung und der gen und Gedichte, Mussolinis gesammel- Ich hatte keine Ahnung und musste erst Architektur der Bibliothek widmet sich te Werke füllen 44 Bände. Neben einer einmal im Lexikon nachschlagen. (Was ein schöner Katalogband zu einer Aus- obskuren Herkunft, geringer, oft autodi- eine verdammte Lüge ist. Ich habe ihn stellung im Architekturmuseum der daktischer Bildung und frühen kriminel- einfach gegoogelt.) Technischen Universität München. Und len Handlungen zeigen die Gewaltherr- Im neunzehnten Jahrhundert war er zwar nicht nur den verschiedenen Kate- scher des 20. Jahrhunderts eine weitere ein beliebter Dramatiker, mit damals gorien realer Bibliotheken, als da sind: bemerkenswerte Gemeinsamkeit: ihre erfolgreichen, aber heute so endgültig Kloster-, Universitäts-, Hof-, Staats-, literarische Ambition als Dichter, vergessenen Werken wie «Griseldis», Stadt-, Volks- und Nationalbibliotheken, Schriftsteller und Kritiker. «Despoten «Der Fechter von Ravenna» und sondern auch den zahlreichen imagi- dichten» versammelt sprachkritische «Maria da Molina». nierten Bibliotheken in Literatur und Studien zur literarischen Tätigkeit von Als man 1888 das Burgtheater eröff- Film. Die Texte sind zum Teil anspruchs- Mussolini, Stalin, Hitler, Kim Il Sung, nete, hatte sein Ruhm schon so nachge- voll zu lesen – immerhin werden die Ghadhafi, Saddam Hussein und Radovan lassen, dass die Fassadentexter sicher- lateinischen Zitate übersetzt. Dafür wer- Karadzic. Die Fallhöhe ist gross zwi- heitshalber auch noch den Vornamen den sie grosszügig mit vielen wunder- schen dem hohen wissenschaftlichen Ni- unter sein Porträt setzten. Es hat nicht samen Skizzen, Plänen und Bildern veau dieser Analysen und dem niedrigen geholfen. ergänzt: von uralten Systemen der literarischen ihres Gegenstandes. Doch Vielleicht hätten sie «Dichter Fried- Bücheranordnung bis zu modernsten sind es gerade die dürftigen dichteri- rich Halm» schreiben Bibliotheksbauten, von Montaignes run- schen Erzeugnisse, die auf den Kern der müssen. Oder «Hofrat dem Bibliothekszimmer im Turm bis despotischen Persönlichkeit verweisen: Dichter Friedrich Halm». zur 1992 zerstörten Nationalbibliothek die grandiose, pathologische Selbstüber- Es kann nicht jeder ein von Sarajevo. schätzung und messianische Obsession. Goethe sein. Kathrin Meier-Rust Kathrin Meier-Rust

25. September 2011 R NZZ am Sonntag R 15 Sachbuch

Arabische Revolution Rund ein Dutzend Neuerscheinungen widmet sich dem Phänomen des Arabischen Frühlings. Nordafrika-Spezialist Beat Stauffer stellt die wichtigsten Bücher vor Protokolle einer Zeitenwende

und für Prognosen bezüglich kommen- Michael Lüders: Tage des Zorns. Die der Entwicklungen. arabische Revolution verändert die Für Leser, welche die Geschehnisse in Welt. C. H. Beck, München 2011. der arabischen Welt in den Medien ver- 207 Seiten, Fr. 30.50. folgt haben und nun eine vertiefte Ana- Frank Nordhausen, Thomas Schmid lyse sowie eine Einordnung des Gesche- (Hrsg.): Die arabische Revolution. hens erwarten, empfehlen sich in erster Demokratischer Aufbruch von Tunesien Linie zwei Publikationen: «Tage des bis zum Golf. Links, Berlin 2011. Zorns» von Michael Lüders sowie der 216 Seiten, Fr. 24.50. von Frank Nordhausen und Thomas Julia Gerlach: Wir wollen Freiheit! Der Schmid herausgegebene Sammelband Aufstand der arabischen Jugend. Herder, «Die arabische Revolution». Beide Pub- Freiburg i. Br. 2011. 200 Seiten, Fr. 24.50. likationen erschöpfen sich nicht in vor- Roland Merk (Hrsg.): Arabesken der dergründiger Berichterstattung, son- Revolution. edition 8, Zürich 2011. dern versuchen, in dem Geschehen die 143 Seiten, Fr. 26.–. grossen Linien und Tendenzen zu er- kennen, welche die maghrebinischen Von Beat Stauffer und nahöstlichen Gesellschaften zurzeit prägen. Beide Bücher zeichnen sich Der «Arabische Frühling» findet seinen zudem durch eine grosse Zurückhaltung Niederschlag auch in den Neuerschei- gegenüber Spekulationen und Progno- nungen dieses Herbstes. Allein in deut- sen aus und machen stets klar, wo die scher Sprache ist dazu rund ein Dutzend Trennlinie zwischen Fakten und ungesi- Publikationen erschienen. Sie nehmen chertem Wissen liegt. sich dem brisanten Thema aus unter- schiedlichen Blickwinkeln an: Aus der Rolle der Islamisten Optik des Fernsehkorrespondenten, der Der Nahostexperte Michael Lüders an allen Schauplätzen live vor Ort war schafft es ausgezeichnet, auf jeweils we- oder aus derjenigen des renommierten nigen Seiten alles Notwendige zum Ver- Nahostexperten; aus der Perspektive ständnis der politischen und sozialen arabischer Autoren oder aus derjenigen Verhältnisse darzulegen, die vor Aus- junger Aktivisten vom Tahrir-Platz. bruch der Aufstände in den einzelnen dieser Hinsicht wohl etwas mehr Zu- Ländern geherrscht hatten. Er spannt rückhaltung angebracht. Das grösste Po- Aktivisten und Experten einen «essayistischen Bogen von den tenzial für einen demokratischen Wan- Alle diese verschiedenen Sichtweisen Anfängen in Tunesien über saudische del ortet Lüders – kaum überraschend – haben ihre Berechtigung, und sie be- Greise bis zu unserem, dem westlichen in Tunesien und Ägypten. Wenn in die- leuchten je andere Aspekte. Ein interna- Blick auf die arabische Revolution». sen beiden Ländern eine echte Demo- tional anerkannter Nahostexperte dürf- Seine Ausführungen sind überdies in kratisierung Fuss fassen könne, dann te nur sehr beschränkten Zugang zur einer eleganten Sprache verfasst, was werde die arabische Revolution auch auf Lebenswirklichkeit junger Menschen sich nicht von allen Publikationen be- andere Länder ausstrahlen, welche die im arabischen Raum haben. Augenzeu- haupten lässt. Gelegentlich bleibt Lü- Bevölkerung bis anhin mit Repression gen und junge Aufständische sind hinge- ders aber etwas zu allgemein und holt zu und mit Geldgeschenken von Aufstän- gen nicht per se kompetent, um die grossen Exkursen aus – etwa über die den abgehalten hatten. Für Libyen (das revolu tionären Ereignisse interpretie- Geschichte des Islamismus. Zudem unter Ghadhafi zur «Kleptokratie» und ren und einordnen zu können. Das Phä- rechnet er in seinem Buch mehrfach mit zur neben dem Irak Saddam Husseins nomen des «Arabischen Frühlings» ist Islamkritikern ab, die es nicht für mög- «furchtbarsten arabischen Diktatur» zudem äusserst vielschichtig und hat in lich gehalten hätten, dass sich aus isla- verkommen war), stellt der Autor eher jedem Land eine etwas andere Ausprä- mischen Ländern heraus Demokratiebe- düstere Prognosen: «Mit grosser Wahr- gung. wegungen entwickeln könnten. scheinlichkeit», so Lüders, «werden Alle Autoren standen allerdings vor Angesichts der vollkommen offenen Rückschläge und Gewaltausbrüche die demselben Problem: Ein Buch zu schrei- Frage, welche Rolle Islamisten in den libysche Demokratisierung begleiten.» ben, «während die Dinge noch im Fluss postrevolutionären Gesellschaften spie- Sehr lesenswert ist aber auch die Pu- sind» (Lüders). Dies gilt insbesondere len werden und welche Werte sich tat- blikation «Die arabische Revolution», in für die Bewertung des bisher Erreichten sächlich durchsetzen können, wäre in der insgesamt zehn Autoren kompetent

16 R NZZ am Sonntag R 25. September 2011 khalil hamra/ap khalil die Geschehnisse in je einem Land er- Eine Ägypterin weiss, wann es sich wieder schliesst.» vom Tahrir-Platz in Kairo und von den klären. Der Vorteil dieses Konzepts ist verteilt weisse Beide Publikationen weisen auch darauf Tagen und Wochen nach dem Sturz Mu- Blumen der Hoffnung augenfällig: Ein einzelner Autor dürfte an Soldaten auf dem hin, dass zum jetzigen Zeitpunkt voll- baraks, in dem die Stimmungen oft es kaum schaffen, derart profund und Tahrir-Platz in Kairo kommen offen ist, wohin die arabischen wechselten «wie auf einer Achterbahn», detailliert über das je spezifische «Ge- (12. Februar 2011). Revolutionen führen werden. Konterre- wirken authentisch und sind lebendig sicht» der erfolgten oder verhinderten volutionen sind nach wie vor denkbar, geschrieben. Die Nähe der Autorin zu Aufstände im betreffenden Land zu und möglich ist auch, dass Populisten den jungen Aufständischen ermöglicht schreiben. Der Preis für diese Form der die Unzufriedenheit der jungen Auf- ihr präzise Schilderungen und Stim- Darlegung ist eine gewisse Mehrstim- ständischen, die sich von der Revolution mungsberichte. Weniger überzeugen migkeit; hier ist kein «Chefexperte» da, mehr erwartet hatten, ausnutzen wer- hingegen ihre Analysen sowie die Kapi- welcher all die Ereignisse aus einer den. Der Arabische Frühling wäre in tel über die Revolutionen in den ande- übergeordneten Perspektive genauer dem Fall eine kurze Episode gewesen, in ren Ländern. einordnen kann. der ungeheure Hoffnungen geweckt Packend sind schliesslich die sehr wurden, die in der Folge nicht oder nur persönlichen Erfahrungsberichte im Kurzer Frühling in sehr kleinem Umfang eingelöst wer- Buch «Arabesken der Revolution», wel- In beiden Publikationen wird den Grün- den konnten. che grösstenteils von arabischen Auto- den für den Ausbruch der Revolution Neben diesen beiden Publikationen rinnen und Autoren verfasst wurden. nachgegangen, ohne allerdings den irra- setzen zwei Werke je eigene Schwer- Als direkt Betroffene setzen sie immer tionalen, nicht vorhersehbaren Aspekt punkte. Die als Korrespondentin in wieder andere Akzente als westliche des revolutionären Geschehens auszu- Kairo wirkende deutsche Autorin Julia Autoren und Experten. Diese Stimmen blenden. «Es hat sich ein historisches Gerlach, berichtet in ihrem Buch «Wir zur Kenntnis zu nehmen, sollte Pflicht Fenster geöffnet», schreiben Nordhau- wollen Freiheit!» schwerpunktmässig sein für alle, die sich für den arabischen sen und Schmid, «von dem niemand aus Ägypten. Ihre Erfahrungsberichte Aufbruch interessieren. l

25. September 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Fotografien Ikonen der kollektiven Erinnerung Wenn sich Bilder ins Gedächtnis graben

hier dargestellte Perversion der Macht, Gerhard Paul (Hrsg.): Bilder, die ausgelebt an einem namenlosen Kind, Geschichte schrieben. 1900 bis heute. ist der ungebrochen empörende Kern Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen der Fotografie, die ästhetisch alle Ingre- 2011. 296 Seiten, Fr. 35.50. dienzien der Ikone vereint. Ikonen sind Bilder, die Epochales Von Martin Walder auch formal auf den Punkt bringen und über sich hinausweisen, über ihren his- Der dünnbeinige Junge mit der zu gros- torischen Kontext hinaus, und in neuen sen Schirmmütze, im Mäntelchen, die Zusammenhängen ihr mediales Eigenle- Hände erhoben, dahinter bieder und roh, ben entwickeln. Ikonen sind mehr als das Gewehr schussbereit, der SS- Mann: Abbilder, sie sind Sinnbilder voller Wir- Warum muss man dieses Bild immer und kungsmacht. Gerhard Paul, Professor für immer wieder anschauen? Warum ver- Geschichte und ihre Didaktik in Flens- braucht es sich nicht, verliert es seine burg, präsentiert aus seinem zweibändi- Energie nicht, auch nach bald 70 Jahren? gen Werk «Das Jahrhundert der Bilder» Die Flut täglich produzierter Bilder 33 Ikonen seit 1900 und lässt sie von ver- zeugt meistens nur von einem: dass je- schiedenen Autorinnen und Autoren

mand auf den Auslöser gedrückt hat. kommentieren. Das Ergebnis ist eine 1990) (JUNI FACE THE MAGAZIN BRITISCHEN IM ERSTVERÖFFENTLICHUNG 1990. MADONNA, MONDINO, JEAN-BAPTISTE Einige Fotos bleiben im kollektiven Ge- spannende Reise durch das Jahrhundert dächtnis als Schlüsselbilder einer Zeit und ins Innenleben von Bildern, das wir Faszination von ling Soldier», dessen Authentizität nach haften und entwickeln ein Eigenleben. gar nicht gekannt oder auch vergessen Jahrhundertfotos: wie vor ungeklärt ist, neben der Mond- Madonna in einer Der namenlose kleine Junge ist so ein haben, eben weil die Bilder allein längst Aufnahme von Jean- landung, Dorothea Langes «Migrant Bild. Die Fotografie aus dem Stroop-Be- ikonographisch geworden sind. Ihrer Baptiste Mondino. Mother» neben Madonna, die virtuelle richt zur Liquidierung des Warschauer Entstehung wird ebenso Aufmerksam- Ikone Lara Croft und das vietnamesi- Ghettos im Frühling 1943 ist vielleicht keit gezollt wie dem Kontext jener ande- sche «Napalm-Mädchen» Kim Phúc, die das Holocaust-Bild schlechthin. ren Bilder, aus dem heraus sie es zur «Mushroom Clouds» der Atombombe Es ist ein Bild voll historischer Au- Ikone geschafft haben, sowie dem Kon- neben dem Plattencover von «Sgt. Pep- thentizität, das ein hektisches Drama – text der Bildergeschichte überhaupt (mit per & Co.». Marilyn auf dem Lüftungs- die aus einem Hauseingang getriebenen den immer wieder durchscheinenden schacht und Zapruders Bildsequenz Ghettobewohner – vor der Kamera res- christlichen Konnotationen). Die Iko- vom Kennedymord, Alberto Kordas pektive vor unseren Augen zum Still- nenbildung hat natürlich viel mit der äs- «Che» und der «Kapuzenmann» von stand zu bringen scheint und so unsere thetischen Qualität zu tun, die dann auch Abu Ghraib – eine jener heutigen Iko- ganze Aufmerksamkeit auf zwei Perso- die Wirkungsgeschichte in Gang setzt, nen, die bewusst und schockierend für nen lenkt: den von der Gruppe isolier- inklusive die Umdeutungen. die Kamera inszeniert sind. Für sie alle ten, paralysierten Jungen mit seiner Und so passieren sie denn in chrono- spricht, dass sie auch durch die «Ent- alles sagenden Gebärdefigur der erho- logischer Abfolge Revue: Josephine zauberung» beim kommentierten Lesen benen Hände und den SS-Mann namens Baker, die Sexikone der Zwischenkriegs- von ihrer Bildmächtigkeit und Faszina- Joseph Blösche. Und man hört es förm- zeit, und Kaiser Wilhelm II., der Mann tion nichts eingebüsst haben, schaut lich, das bellende «Hände hoch!» Die mit dem Adlerhelm, Robert Capas «Fal- man sie sich danach von neuem an. G

Briefwechsel Canettis Geliebte Marie-Louise von Motesiczky erhält eine verdiente Würdigung

«Glücklicher Besitzer von drei Frauen»

Freundschaft eine Liebesbeziehung Kleinste Vorwürfe von ihrer Seite sind Elias Canetti, Marie-Louise von wurde. Spätestens ab 1943 war «Mulo», ihm eine tödliche Kränkung: «Briefe Motesiczky: Liebhaber ohne Adresse. wie er sie nannte, aber die wichtigste haben, auf einen Dichter besonders, Briefwechsel 1942–1992. Hrsg. Ines Nebenfrau Canettis, der, obschon klein- eine geradezu katastrophale Wirkung.» Schlenker, Kristian Wachinger. Hanser, wüchsig und etwas dicklich, eine seltsa- So terroristisch Canetti sich als Lieb- München 2011. 384 Seiten, Fr. 34.90. me Faszination auf Frauen ausübte. Die haber gebärden konnte, so solidarisch wohlhabende Motesiczky unterstützte war er als Fürsprecher ihrer Kunst. Mo- Von Manfred Koch ihn finanziell und hielt ihm eine Schreib- tesiczkys Bildern zollt er höchsten Res- klause in ihrer Wohnung frei. Ab den pekt, und er schafft es sogar, ihre Briefe, Er sei «der glückliche Besitzer von drei sechziger Jahren liess Canettis Interesse die an Witz und Einfallsreichtum die ganz verschiedenen Frauen», hält Elias deutlich nach, der Kontakt blieb den- seinen oft in den Schatten stellen, fast Canetti 1945 in seinen Aufzeichnungen noch bis zu seinem Tod 1994 bestehen. ohne Hintersinn zu loben: «Mein lieber, fest. «Eine klagt, die andere torkelt und Ein Gespräch auf Augenhöhe ist der lieber Maler Mulo, was für ein begabter die Dritte atmet durch die Kiemen.» Briefwechsel des Künstlerpaars gewiss Bursche Du doch bist! So ein Maler, und Die Klagende war seine Ehefrau Veza, nicht. Während sie dem «wunderbaren, dann erst noch eine femme de lettres!» die Torkelnde die Schriftstellerin Friedl beinahe allwissenden Mann» bedin- Mit der Edition des Briefwechsels hat Benedikt, die Kiemenatmende die Male- gungslos huldigt, quält er sie, ungeach- Marie-Louise Motesiczky das verdiente rin Marie-Louise von Motesiczky, die er tet seiner Vielweiberei, mit grundlosen Denkmal erhalten, das Canetti ihr ver- 1940 im Londoner Exil kennengelernt Eifersuchtsattacken und verlangt wie- weigert hat: In seinen späten Erinnerun- hatte. Es dauerte – zumindest für Canet- derholt noch mehr Verehrung für sein gen an die englischen Exiljahre erwähnt tis Verhältnisse – lange, bis aus der «Werk», das «streng und herrlich» sei. er sie mit keinem Wort. G

18 R NZZ am Sonntag R 25. September 2011 Politik Jürg Wegelin porträtiert mit Jean Ziegler einen der umstrittensten Intellektuellen der Schweiz – in einer autorisierten und moderat kritischen Biografie Visionär mit Fehlstellen

Die erste autorisierte, gut recher- Zieglers politische Karriere im Natio- Jürg Wegelin: Jean Ziegler. Das Leben chierte und flüssig geschriebene Biogra- nalrat von 1967 bis 1999 (mit einem Un- eines Rebellen. Nagel & Kimche, fie zeichnet den Weg des 1934 in einem terbruch von vier Jahren) hinterliess München 2011. 192 Seiten, Fr. 25.90. bürgerlichen Haus geborenen Hans Z. kaum bleibende Spuren, auch wenn We- vom ehemaligen Kommandanten der gelin Zieglers Kritik an Geldwäscherei Von Urs Rauber Thuner Jungkadetten über das Rechts- und Bankgeheimnis «visionär» nennt. und Soziologiestudium in Bern, Genf Als er 1970 dieses Anliegen aufbrachte, Heiligt der gute Zweck die Mittel? Die und Paris nach, wo er Abbé Pierre, Jean- unterstützten ihn nur wenige Genossen, Frage stellt sich bei Jean Ziegler, 77, seit Paul Sartre («Sartre hat mir die Augen wohl aber der Rechtskonservative James bald 50 Jahren. Im Ausland der neben geöffnet») und Simone de Beauvoir be- Schwarzenbach. Roger Federer zurzeit wohl bekannteste gegnet. In New York wird er Untermie- Schweizer, im Inland neben Christoph ter von Elie Wiesel und trifft erstmals Erfolgreich als Autor Blocher die wohl umstrittenste politi- Che Guevara. Als dieser 1964 an der Bedeutender waren Zieglers Erfolge als sche Figur. Dabei haben Blocher und Unctad-Konferenz in Genf weilt, chauf- Buchautor; das 1976 erschienene Werk Ziegler mehr gemein, als man auf den fiert ihn Ziegler in seinem Morris Mini «Eine Schweiz über jeden Verdacht er- ersten Blick vermuten könnte. Rastlose in der Stadt herum und bittet, mit ihm haben» wurde in der französischen Auf- Kämpfer im Dienst ihrer – gegensätzli- nach Kuba reisen zu dürfen. Da habe ihn lage über eine halbe Million Mal ver- chen – Vision, üben sie eine enorme Che im Hotel Intercontinental, wo die kauft. Für das Buch hatte Ziegler auch Strahlkraft auf ihre Anhänger aus, pola- kubanische Delegation untergebracht Texte seiner ehemaligen Studenten Ru- risieren bei ihren Gegnern, sind glän- war, kopfschüttelnd zum Fenster ge- dolf Strahm und Beat Kappeler verwen- zende politische Analytiker, aber auch führt, auf die Stadt Genf gezeigt und eis- det und zu deren grossem Ärger «verra- Agitatoren, gehören zu den besten, oft kalt erklärt: «Hier bist Du geboren, da dikalisiert». Ein weiterer Bestseller vor demagogischen Rednern des Landes. ist das Gehirn des Monsters. Hier musst allem in Deutschland wurde seine Und beide mögen sich: als Gegner. Du kämpfen!» Eines von Zieglers Streitschrift «Die Schweiz wäscht wei- Niemand bezweifelt die ehrenwerten Schlüsselerlebnissen. Se non e vero … sser» (1990). Die publizistischen Rund- Motive des vehementen Bankenkritikers Zieglers Renommee ist vor allem in umschläge bescherten dem Autor bis und Kämpfers gegen Hunger und Elend Afrika gross. Régis Debray nannte Zieg- 1999 neun Prozesse mit einer Klagesum- auf der Welt. Keiner prangert so leiden- ler einen «weissen Neger», der den jun- me von über 6 Millionen Franken. Die schaftlich und unbeirrt, bei jeder mögli- gen afrikanischen Intellektuellen Grün- meisten Verfahren verlor er, so auch den chen und unmöglichen Gelegenheit, den de für ihre wirtschaftliche Rückständig- Ehrverletzungsprozess gegen Hans W. Skandal an, der Jean Ziegler längst zum keit lieferte, die er vorzugsweise im Kopp. Ruhiger wurde es um Ziegler erst, Ceterum censeo geworden ist: «Alle weissen Kolonialismus sah. Zu den als er von 2002 bis 2008 als Uno-Sonder- fünf Sekunden verhungert in der Welt zweifelhaften Kontakten Zieglers gehör- berichterstatter für das Recht auf Nah- ein Kind unter zehn Jahren.» te jener zum libyschen Diktator Ghad- rung wirkte. hafi, den er Anfang der 80er Jahre in die Jürg Wegelins nüchterne und faire Dramatisiert und beschönigt Schweiz einladen wollte und in dessen Biografie wird zum Schluss etwas be- Doch Ziegler schnitzert auch, nicht Stiftungsrat für einen «Menschen- weihräuchernd, wenn er konstatiert, allzu knapp. Argumentiert plakativ statt Signierstunde rechtspreis» er bis vor kurzem sass. Ins- dass die Schweiz sperrige und aufmüpfi- differenziert, übertreibt, verwendet fal- von Jean Ziegler gesamt sieben Mal sei er nach Libyen ge Intellektuelle wie Jean Ziegler brau- sche Zahlen. Seine Kritiker nennt er in der Zürcher eingeladen worden, wo er mit dem Wüs- che, «auch wenn sie zuweilen zu Mass- «altmodische Buchhalter» und «Krämer Buchhandlung tensohn stundenlang im Beduinenzelt losigkeit neigen oder sich in die Utopie Krauthammer, im des Details». Als 1993 sein Buch «Wie Beisein von Ursula oder im Untergeschoss der Aziza-Ka- verirren». Wer wollte da schon wider- herrlich, Schweizer zu sein» herauskam, Koch (6. Mai 1976). serne diskutierte. sprechen? G behauptete er gegenüber dem «Spie- gel», dass er in der Rekrutenschule Flugblätter verteilt und dafür drei Mo- nate in Haft gesessen habe, danach sei er aus der Armee entlassen worden. Frei erfunden – in Wirklichkeit war er sanita- risch ausgemustert worden! Er hatte seine Vergangenheit mit jener seines Sohnes verwechselt. Oder seine sonn- täglichen Besuche bei der deutschen Schriftstellerin Ricarda Huch am Thu- nersee: «Entspringen Jeans blühender Phantasie», sagt seine Schwester Barba- ra. Schon vor 30 Jahren hatte sein politi- scher Antipode, Nationalrat Felix Auer, Zieglers Story von einem angeblichen Zugsunglück in Thun 1941, bei dem von den Nazis heimlich transportierte Kano- nen auf die Gleise gefallen seien, als Fik- tion entlarvt. So sind manche Stellen in Zieglers zahlreichen Büchern, Pamphle- ten, Reden und Statements leicht ver- dreht, dramatisiert oder beschönigt. Der Journalist Jürg Wegelin, der Zieg- ler Ende der 60er Jahre als Dozent an der Uni Bern kennengelernt hatte, weist dem von ihm bewunderten Soziologie- professor denn auch zahlreiche Unge-

reimtheiten nach. KEYSTONE

25. September 2011 R NZZ am Sonntag R 19 Sachbuch Kriegshandwerk Nicht nur der Hunger, sondern auch Abenteuerlust trieb viele Eidgenossen jahrhundertelang in fremde Dienste Söldner lernten französische Sitten

von stockreaktionären Haudegen, die Jost Auf der Maur: Söldner für Europa. noch lange nach der Gründung des libe- Mehr als eine Schwyzer Familien- ralen Schweizer Bundesstaates in Italien geschichte. Echtzeit, Basel 2011. gegen die Republik und fürs Ancien Re- 112 Seiten, Fr. 29.–. gime kämpften. Im Hauptteil geht es dann um die all- Von Kathrin Meier-Rust gemeine Geschichte des Schweizer Soldwesens. Rund 1,5 Millionen Schwei- Kaum ein Handwerk dürfte heute so zer, so schätzen Historiker, haben von verachtet sein wie das Kriegshandwerk 1500 bis 1848 als Söldner in fremden des Söldners, der sein Leben für Geld Diensten gestanden, die Hälfte davon in und Ghadhafi verkauft. Das Löwendenk- Frankreich. Einzig Irland kannte eine mal in Luzern vermag uns als Requisit prozentual vergleichbare Exportrate der des 19. Jahrhunderts gerade noch anzu- eigenen Söhne. Es war keineswegs nur rühren, ansonsten scheint die jahrhun- der Hunger, der junge Schweizer in die dertelange Geschichte der fremden Fremde trieb, im Gegenteil, oft fehlten Dienste aus dem Schweizer Geschichts- auf den Innerschweizer Bauernhöfen Schweizer Söldner nell in ganz Europa anwesend, alle Ver- bewusstsein nahezu gänzlich getilgt. die Arbeitskräfte. Vielmehr lockte der ziehen für Frankreichs träge mit den europäischen Monarchien Zu Unrecht, meint Jost Auf der Maur, bessere Verdienst oder auch ganz ein- König Karl VIII. im enthielten die Klausel, dass die Schwei- Jahr 1494 in Rom ein. Spross einer alten regimentsfähigen Fa- fach das Abenteuer – die «Feldlust». zer Regimenter sofort freizugeben seien, milie aus Schwyz, dessen Vorfahren Zurückgekommen sind weniger als wenn Eigenbedarf, das heisst Gefahr für über Jahrhunderte als Offiziere in Frank- die Hälfte, viele verwahrlost, invalid, die Eidgenossenschaft, bestehe. Dass reich und Spanien, in Neapel und in den entwurzelt. Gleichzeitig brachten aber dies nicht eintrat und das Land im Zent- Niederlanden dienten und auf Kosten gerade die Söldner viel Wissen und rum Europas unversehrt und unabhän- der Schwyzer Bauernsöhne zu politi- Können aus der weiten Welt in die enge gig blieb, lag damit im direkten Interesse scher Macht und grossem Reichtum Heimat, von Kochrezepten bis zu fran- aller europäischen Mächte. kamen. zösischen Manieren und Lehnwörtern: Auf der Maur schreibt, wie er selbst Und so beginnt Auf der Maur seinen «Die fremden Dienste schreiben Kultur- betont, nicht als Historiker, sondern als Essay zur Geschichte des Solddienstes geschichte», schreibt Auf der Maur zu Journalist; nichts liegt ihm ferner, als mit einem höchst amüsant zu lesenden Recht. eine romantische Verklärung des bruta- Kapitel zur eigenen Familiengeschichte: Dass sie auch Staatsgeschichte schrie- len Kriegshandwerks und seiner Ethik Von Barockgärten mit Springbrunnen ben, versteht sich fast von selbst. Nicht von Treue und Ehre. Er erhebt auch kei- ist da die Rede, von lukrativen Ehen und nur war die Eidgenossenschaft perso- nen Anspruch auf Vollständigkeit, der

Philosophie Peter Bieri verdichtet Gedanken der Selbsterkenntnis zu einer schönen Poetologie

Sich bilden ist wie aufwachen

soph, der unter dem Pseudonym Pascal haft und wach nach den Quellen unseres Peter Bieri: Wie wollen wir leben? Mercier auch erfolgreich Romane veröf- Wissens und Meinens forschen. Sprach- Residenz, St. Pölten 2011. 96 Seiten, fentlicht, hielt sie im Frühjahr 2011 in der liches Unterscheidungsvermögen tut Fr. 24.50. Akademie Graz. Vor vier Jahren gab er not, wenn wir aus einem Gefühlschaos vorzeitig seine Professur an der Freien heraus zu einer präziseren Wahrneh- Von Kirsten Voigt Universität Berlin auf. Grund war seine mung unserer Affekte finden wollen. Überzeugung, dass die Universität Literatur sieht Bieri dabei als «mächtige Wer selbstbestimmt leben will, muss ler- heute durch ein profitorientiertes Ein- Verbündete». Sie erweitert Erfahrungs- nen, sich in sich selbst auszukennen. schwenken auf Prinzipien der Unter- und Einfühlungsspielräume. Und so Selbstbestimmung heisse, Selbstentwurf nehmensberatung ruiniert werde. Er hat nehmen seine wertvollen philosophi- und Leben zur Deckung zu bringen. Der also vorgelebt, wofür er hier plädiert: schen Überlegungen zuweilen die schö- Erhalt unserer Selbstachtung, unsere die Anpassung der konkreten Lebens- ne Gestalt einer Poetologie an. Würde, unser Glück hängen davon ab. führung an die jeweils echten eigenen Das Interesse an Selbsterkenntnis Dieses Leben im Einklang behindern je- Bedürfnisse und Empfindungen. entspringt für Peter Bieri einem Grund- doch Störfaktoren: Einerseits täuschen Die zu ergründen heisst freilich nicht bedürfnis nach Wahrheit und Redlich- wir uns oft selbst über unsere Fähigkei- weniger, als Selbsterkenntnis anstreben. keit. Wer sich diesem Wissen um sich ten und Motive. Andererseits tragen wir Bieri versteht sie als wesentlich abhän- selbst nähert, befreit sich von Bedrü- versklavende Prägungen mit uns herum. gig vom Ausdrucksvermögen. (Selbst-) ckungen, Aggressionen und Missgunst, Und schliesslich orientieren wir uns Bewusstseinsbildung umfasst zunächst die aus innerer Abhängigkeit und Zer- fortgesetzt an den Urteilen anderer, die die Formung einer eigenen gedankli- rissenheit resultieren. Und da wir mora- uns sogar zu manipulieren versuchen. chen Identität. Diese prägt sich aus, lische und soziale Wesen sind, ergeben Peter Bieris kleines Buch «Wie wol- wenn wir uns über Tatsachen gut infor- sich aus Selbsterkenntnis sorgsamere len wir leben?» ist aus drei Vorlesungen mieren, kritisch gegenüber Anschauun- und lebendigere Beziehungen zu ande- hervorgegangen. Der Schweizer Philo- gen und ihrer Herkunft werden, ernst- ren. Menschen, die sich selbst kennen,

20 R NZZ am Sonntag R 25. September 2011 Erster Weltkrieg Eine Biografie präsentiert den deutschen General Erich Ludendorff als Wegbereiter Hitlers Vom Kriegshelden z u m F e i g l i n g

tungsvermögen, sein Selbstbewusstsein Manfred Nebelin: Ludendorff. Diktator im und die skrupellose Rücksichtslosigkeit Ersten Weltkrieg. Siedler, München 2011. seines Handelns anbetraf, eine geradezu 749 Seiten, Fr. 53.90. erschreckende Effizienz. Auch wusste er sich und seine Taten ins rechte Licht Von Urs Bitterli zu rücken und erwarb sich beim breiten Volk das Ansehen eines unbesiegbaren «Ein stolzer Tag im März 1918» sei es ge- Kriegshelden. Neben Ludendorffs wesen, erinnerte sich der Hauptmann machtvoller Präsenz wirken der faktisch und Schriftsteller Ernst Jünger, «an dem entmachtete Kaiser Wilhelm II. und der Donnerschlag von zwanzigtausend dessen Kanzler Bethmann Hollweg mit Geschützen uns noch einmal das Signal seinen willfährigen Nachfolgern wie zum Angriff gab, und an dem wieder Schattengestalten. Als Schriftsteller Hunderttausende bewiesen, dass dies nicht unbegabt, schuf Ludendorff auch Leben nichts und die Idee alles ist.» ein umfangreiches publizistisches Werk, Ernst Jünger sprach von der Frühlings- und eines seiner Bücher mit dem Titel

BURKHART MANGOLD BURKHART offensive der deutschen Wehrmacht im «Der totale Krieg» weist bereits voraus Westen, mit welcher der Chefstratege auf die Sportpalastrede von Goebbels jahrhundertelange protestantische Wi- des Ersten Weltkriegs, General Erich vom Februar 1943. derstand gegen den «Fleischhandel» Ludendorff, nochmals die Initiative an Wie andere Figuren der Geschichte etwa kommt nur am Rande zur Sprache. sich zu reissen und die kriegsentschei- wandelte sich Ludendorff, nachdem sein Doch die Geschichte der fremden dende Wendung herbeizuführen suchte. Wirken beendet war und er sich mit der Dienste scheint ihm schlicht zu wichtig, Der Zeitpunkt schien günstig; denn das Verantwortung für seine Taten konfron- zu interessant, zu vielfältig, um sie den Deutsche Reich hatte mit dem revolu- tiert sah, rasch vom Helden zum Feig- Militärhistorikern und Schlachten-Nos- tionären Russland den Sonderfrieden ling. Im November 1918 verliess er talgikern zu überlassen. Mit seinem von Brest Litowsk abgeschlossen, und Deutschland fluchtartig und fand bei Essay möchte der Autor vielmehr dazu man hoffte, Truppenverbände freistel- einem schwedischen Herrenreiter gast- einladen, sich dem Thema zu nähern – len und an die Westfront werfen zu kön- freundliche Aufnahme. Nach Deutsch- möchte gleichsam einen Appetizer bie- nen. Doch die Frühlingsoffensive von land zurückgekehrt, publizierte er seine ten. Mit einem Anhang, der die prächti- 1918 erwies sich als der Anfang vom Memoiren und vertrat darin die soge- gen (verschollenen) Schlachtenbilder Ende; der alliierten Gegenoffensive nannte «Dolchstoss legende», die irre- von Burkhart Mangold versammelt, waren die deutschen Streitkräfte nicht führende These nämlich, die deutsche dazu ein Söldnervokabular, Museums- mehr gewachsen. Anfang Oktober ging Wehrmacht sei «im Felde unbesiegt» tipps und Literaturhinweise bietet, ge- das Waffenstillstandsangebot der neuen geblieben und Schuld an der Niederla- lingt dies auf hervorragende Weise. G Reichsregierung unter Max von Baden ge trügen das Versagen der Innen- an den amerikanischen Präsidenten politiker und die sozialistische Wilson ab, und Ende Oktober wurde Lu- Agitation im Innern. Dies war dendorff entlassen. wohl des Kriegführers fatalste Tat: Dem Leben und Wirken des deut- Die «Dolchstosslegende» polari- schen Chefstrategen Erich Ludendorff sierte, nährte Ressentiments und hat Manfred Nebelin eine flüssig erzähl- wurde schliesslich zur wirkungs- te und spannend zu lesende Biografie vollen Waffe von Hitlers Propa- gewidmet. Im Zentrum der Darstellung ganda. steht die Persönlichkeit eines Heerfüh- Schade, dass Nebelins Biografie rers, dessen Begabungen rasch erkannt mit dem Ende des Weltkriegs im begegnen einander nicht als «Potemkin- und energisch gefördert wurden. Mit wesentlichen abschliesst sche Fassaden». der handstreichartigen Eroberung Lüt- und Ludendorffs spä- Sprache implantiert Verstehen, Be- tichs eröffnete Ludendorff im Ersten teres völkisch-natio- gründen und Vernunft in die Welt und Weltkrieg die Westoffensive, und an den nalistisches Engage- bildet das Fundament der Kultur. Diese Siegen gegen die Russen bei Tannen- ment nur noch wiederum offeriert Instrumente zur Be- berg und an den Masurischen Seen streift. Dem Manne wältigung von Konflikten, Lebensent- war er stärker beteiligt als Hinden- war nicht zu hel- würfe, Ideale, Werte in Gestalt von burg. Nebelin legt keine militärwis- fen. G Kunstwerken aller Art. Sie sind Inhalte senschaftliche Untersuchung im Urs Bitterli ist von Bildung, die eine Person verändert, engeren Sinne vor. Seine Biogra- emeritierter sie aufklärt. «Sich bilden – das ist wie fie zeichnet vielmehr das Psy- Professor aufwachen», schreibt Bieri. chogramm einer Persönlich- für neuere Das Buch ist kein Ratgeber und den- keit, die sich nach den deut- Geschichte noch fühlt man sich nach seiner Lektüre schen Erfolgen an der Ost- an der gut beraten, sich einige der Denkmanö- front nicht nur militärisch, Universität ver gelegentlich zu vergegenwärtigen, sondern auch politisch eine Zürich. die einen auf die Suche nach sich selbst beispiellose Machtstellung zu General schicken. Sympathisch träumt Bieri schaffen wusste. Erich Ludendorff dabei von einer «leiseren Kultur», die Golo Mann hat Ludendorff (1865–1937), nicht von der «lauten Rhetorik von Er- einen «Kriegsmanager» ge- hier um 1910, folg und Misserfolg» dominiert wäre, nannt, und Nebelin nennt ihn wusste sich im Ersten Weltkrieg sondern in der «jedem geholfen würde, einen «Diktator» – fraglos be- eine beispiellose zu seiner eigenen Stimme zu finden». wies der Mann, was seine mili- Machtstellung

Der seinen lauscht man mit Gewinn. G tärische Kompetenz, sein Leis- zu schaffen. IMAGNO

25. September 2011 R NZZ am Sonntag R 21 Sachbuch Online-Netzwerke Wie prägt das Internet jene Menschen, die damit aufgewachsen sind? Drei Bücher geben Auskunft über «digital natives» und die Tücken der gelobten Technologie Lob und Tadel für die Generation Facebook

Oliver Leistert, Theo Röhle (Hrsg.): Generation Facebook. Transcript, Bielefeld 2011. 283 Seiten, Fr. 31.50. Klaus Raab: Wir sind online – wo seid ihr? Blanvalet, München 2011. 333 Seiten, Fr. 18.90. Meredith Haaf: Heult doch. Piper, München 2011. 236 Seiten, Fr. 13.90.

Von Regula Freuler

Wachstumsraten verdeutlichen unsere digitale Ära besonders schön: Das erste iPhone kam 2007 auf den Markt. Seither wurden fast 130 Millio- nen Geräte verkauft, 39 Millionen allein im ersten Halbjahr 2011. Ende 1991 hat- ten rund 700 000 Computer einen Inter- netzugang, Ende Juli 2011 waren es 850 Millionen. Facebook ist seit 2004 zu- gänglich, inzwischen sind 710 Millionen Menschen im sozialen Netzwerk dabei. Solche Zahlen machen Eindruck und wecken das Bedürfnis nach Interpretati-

on. Was sind das für Menschen, die eine MORRIS/PRISMA KEITH so rasante wie tiefgreifende Umwälzung der Verhältnisse in Bewegung setzen?, Soziale Netzwerke: Online-Diensten wie Twitter etwa in schentuch), «Schlaubi-Schlumpf der lautet die Generationenfrage. Im Fokus Verbunden mit der den arabischen Ländern betrifft. alten Griechen» (Sokrates) usw. Damit stehen die in den achtziger Jahren Gebo- ganzen Welt, aber Gewinnbringend sind auch jene Bei- überzeugt er wohl kaum das Lager auf renen, die bereits Generation Doof, Ge- allein zu Hause. träge, welche die mangelhafte Transpa- der anderen Seite des Generationengra- neration Porno, Generation Praktikum renz des Netzwerkes und dessen Strate- bens. Vielmehr gewinnt man den Ein- tituliert worden sind. gien wider Anonymität und Datenschutz druck, er wolle die Gläubigen bekehren. Sie haben noch weitere, treffendere betrachten und hinter die euphorische Namen. Generation iPod. Generation Feier des Internets als Demokratisie- Hört auf zu jammern YouTube. Generation Smartphone. rungs- und Autoritäten-Entmachtungs- Ganz anders Meredith Haaf. Die Journa- Denn was sie eint, ist eine Technologie: maschine, in der wir alle Chefs sind, ein listin (Jahrgang 1983), die in ihrem frü- Web 2.0. Das heisst die Möglichkeit, das fettes Fragezeichen setzen. heren Buch «Wir Alphamädchen» für Internet interaktiv zu nutzen. Die Ein- Solche Einwände sind für den Journa- einen jungen Feminismus plädiert, teilt führung des Begriffs ist die Geburts- listen Klaus Raab (mit Jahrgang 1978 ge- die Kritik an ihrer Generation. Politik- stunde der sozialen Netzwerke – neu- rade noch kein «digital native») gegen- verdrossen? Ja. Selbstbezogen? Ja. Über- deutsch Social Media – und damit der über dem Nutzen, den Internet und So- fordert? Ja. «Wut ist nicht unser Ding», Generation Facebook. Mit dieser befas- cial Media bringen, zu vernachlässigen. stellt sie fest. Statt mit Demokratie iden- sen sich gleich mehrere Neuerscheinun- Er holt zum Schlag gegen all die in sei- tifiziert sich die Generation Facebook gen. In Zugriff, Tonalität und Urteil sind nen Augen gestrigen Netzkritiker aus, in mit Konsum und Kommunikation. Die die Bücher jedoch ganz unterschiedlich. manchen Aspekten (Stichwort «Killer- Autorin räumt auch gleich mit dem My- games») allein aus Prinzip. Sein Motiv: thos der Facebook- und Twitter-Revolu- Kritische Stimmen die Verteidigung seiner Generation, die tion auf: «Man richtet es sich gemütlich Oft etwas akademisch-komplex formu- sich seit Jahren Invektiven wie «unent- ein in einer virtuellen Welt, in der poli- liert, dafür ausgesprochen informativ schlossen, unpolitisch, konsumbeses- tisches Handeln damit gleichgesetzt sind die elf Aufsätze und vier Kommen- sen, medienverblödet» anhören muss. wird, einen Link zu posten.» Im Netz- tare im Sammelband «Generation Face- Wir sind parteienverdrossen, aber doch werken sind wir gut. Aber es geht nicht book». Die Herausgeber Oliver Leistert nicht politikverdrossen, lautet sein Ur- um ein gemeinsames , sondern ums und Theo Röhle lassen eng auf das so zi- teil. Das liegt an der Fragmentierung. Geschäft. «Die hohe Bedeutung von ver- ale Netzwerk Facebook fokussieren. Ins- Die Generation Facebook, so Raab, ist netzten Beziehungen ist ein zentrales besondere wird dessen kommerzielle eine Bewegung ohne führende Köpfe, Motiv im Katechismus des gesellschaft- Nutzung mit grosser Skepsis betrachtet. ihre Rebellion bleibt diffus, obwohl lichen Erfolgs, den meine Generation Man ist den Autoren – zu denen neben klare Forderungen formuliert werden. auswendig gelernt hat.» Bis zur Entsoli- Forschern wie der Soziologin Saskia «Das Internet verleiht Netzwerken Au- darisierung ist es nur ein kleiner Schritt. Sassen auch Künstler, Blogger und ande- torität», bemerkt er, vergisst aber zu fra- Hier lauert die Frauenfalle, wie in einem re Netzaktivisten zählen – dankbar, dass gen: Reicht gegenseitige Kontrolle, da- luziden Kapitel gezeigt wird. sie die geheimen Strategien des Netz- mit keiner zu viel Autorität kumuliert? Doch Meredith Haaf ist keine, die werkes fern jedes Alarmismus kritisch Offenbar nicht, siehe Facebook. über (angebliche) Perspektivenlosigkeit durchleuchten. Wohltuend sind die Ein- Raab argumentiert im locker-flo- heult. Stattdessen fordert sie auf, das wände gegenüber vorschnellem media- ckigen Ton des Berufsjugendlichen, Heft selbst in die Hand zu nehmen. Und lem Applaus, gerade was die mehr als benutzt Ausdrücke wie «brüllaffig», meint damit auch, es nicht Monopolis- fragwürdige politische Wirksamkeit von «Scheiss», «Schnaubelappen» (Ta- ten wie Facebook zu überlassen. G

22 R NZZ am Sonntag R 25. September 2011 Ägypten Der Romancier Alaa al-Aswani rief schon früh zur Revolte auf Politisierender Zahnarzt in Kairo

So überraschend der Zeitpunkt der unterstützte und dann zur grössten Bür- Alaa al-Aswani: Im Land Ägypten. Revolution vom 25. Januar 2011 selbst für gerrechtsbewegung heranwuchs: Diese Demokratie ist die Lösung. Am die Beteiligten war, die Texte von Aswa- und zahlreiche kleinere Initiativen for- Vorabend der Revolution. Fischer ni zeigen, wie zahlreiche Gruppen und derten das Regime immer wieder her- Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2011. Einzelne seit Jahren darauf hingearbei- aus, bis durch den Aufstand in Tunesien 295 Seiten, Fr. 14.90. tet haben. der Funke übersprang und auch die Angefangen bei der 2004 entstande- ägyptische Wut explodieren liess. Von Susanne Schanda nen Bewegung «Kefaya» (Genug), die Als studierter und nach wie vor prak- sich gegen Mubaraks Bestrebungen tizierender Zahnarzt ist Alaa al-Aswani «Wenn eine Million Ägypter demons- richtete, seinen Sohn zum einzig wähl- gewohnt, Rezepte auszustellen. Dies tut trierend hinaus auf die Strasse gingen baren Nachfolger aufzustellen, über die er auch in seinen politischen Kommen- oder einen Generalstreik ausriefen, Präsidentschaftskandidatur des Juristen taren. In Abwandlung eines Wahl- wenn das auch nur ein einziges Mal ge- Ayman Nour, der seine Kühnheit mit spruchs der Muslimbrüder – «Der Islam schähe, würde das Regime sofort auf die Gefängnis bezahlte, bis zur Bewegung ist die Lösung» – beschliesst er seine Forderungen des Volkes eingehen.» Was des 6. April 2008, die ursprünglich den Texte jeweils mit dem Satz: «Demokra- Alaa al-Aswani im Februar 2010 in der Streik von Fabrikarbeitern im Nildelta tie ist die Lösung.» G unabhängigen liberalen Tageszeitung «Al- Shuruk» schrieb, ist nichts weniger als eine Aufforderung zur Revolte. Genau ein Jahr später war die Zeit reif Kleopatra Zwei Jahrtausende Femme fatale dafür. Wie lange es allerdings schon gärte in Ägypten, wie Elend, Frustration und Wut in der Bevölkerung stetig wuchsen, lässt sich in den zwischen 2005 und 2010 publizierten Kolumnen und Essays des Bestsellerautors nachle- sen, die jetzt als Buch auf Deutsch er- schienen sind. Sie berichten von Macht- missbrauch und Korruption, von Folter in den Gefängnissen, aber auch von der Zivilcourage einzelner Frauen und Män- ner gegen die Staatsgewalt. Polemisch kritisiert der Autor die Absicht des Prä- sidenten, sein Amt an seinen Sohn zu übertragen, «als wäre Ägypten irgend- eine Hühnerfarm». Oder er erinnert an den talentierten Journalisten Ibrahim Issa, der die un- abhängige ägyptische Zeitung «Al-Dus- tur» gründete, dort hartnäckig und fundiert Kritik an Mubarak und den Missständen im Land übte, bis ein re- gimetreuer Geschäftsmann die Zeitung kaufte und Issa entliess. Aber es gab nicht nur «Al-Dustur». Bereits seit 2004 bot die Tageszeitung «Al-Masri-al-Youm» ein kritisches Ge- gengewicht zu den Staatsmedien. Inzwi- schen ist das unabhängige Blatt mit einer Auflage von einer halben Million Exemplare die zweitgrösste Zeitung im Land. Al-Aswani ist nicht der Einzige, der seit Jahren die Zustände in Ägypten an- prangerte, aber einer der ganz wenigen, die auch vor dem Tabuthema Mubarak nicht zurückschreckten. Die Tatsache, dass seine kritischen und oft polemi- schen Texte als wöchentliche Kolumnen in zwei grossen, unabhängigen Tages- zeitungen erscheinen konnten, zeigt, dass das Regime zumindest die Medien nicht mehr vollständig im Griff hatte. BRIDGEMAN Alaa al-Aswani ist seit dem internatio- «So viel Mut gab jene erste Nacht, welche im Bett die Antike gezeichnete Bild der Femme fatale wurde sie nalen Erfolg seines Romans «Der Jaku- unzüchtige Ptolemäerin mit unseren Heerführern nie los (siehe oben). Der Text im vorliegenden bijan-Bau» (auf Deutsch 2007 erschie- verstrickte. Wer könnte nicht die in dir rasende Bildband versucht nun aber, Kleopatra vom Ballast nen) der populärste Schriftsteller seines Leidenschaft verstehen, Antonius, wenn die Flamme dieser wertenden Anekdoten und Bilder zu befreien Landes. Ebenso wichtig wie die Litera- selbst Caesars harte Brust verzehrte?» Damit hat und zeigt sie als gebildete, erfolgreiche Politikerin. Im tur ist ihm allerdings seit Jahren die po- der römische Dichter Lukan eigentlich schon alles Fokus ist nicht mehr die römische Sicht, sondern die litische Debatte. Diese führt er nicht nur gesagt, was es zu Kleopatra (69–30 vor Christus), der altägyptische Kultur, was neue Blickwinkel in den unabhängigen Medien, sondern letzten ägyptischen Königin der Ptolemäerdynastie, ermöglicht. Geneviève Lüscher auch in einem wöchentlichen Diskussi- angeblich zu sagen gibt: Sie war schön, skrupellos, Sabine Kubisch, Hilmar Klinkott: Kleopatra. onszirkel in Kairo, der allen Interessier- lasterhaft und eine Gefahr sogar für die stand- Pharaonin – Göttin – Visionärin. Theiss, Stuttgart ten offensteht. haftesten Helden unter den Römern. Dieses in der 2011. 160 Seiten, 120 farbige Abbildungen, Fr. 40.90.

25. September 2011 R NZZ am Sonntag R 23 Sachbuch Kolonialismus Historische Annäherungen an den Kilimandscharo Der höchste deutsche Berg lag in Afrika

tung des Kilimandscharo in aktuellen «Der Kilimandscharo ist längst kein Christof Hamann, Alexander Honold: Werbekampagnen. unbeschriebenes Blatt mehr», schreiben Kilimandscharo. Die deutsche Und natürlich erfährt auch Ernest He- die Autoren in ihrem wunderschön ge- Geschichte eines afrikanischen Berges. mingways Schnee auf dem Kilimand- stalteten Buch. «Die Geschichte dieses Wagenbach, Berlin 2011. 192 S., Fr. 34.90. scharo in dieser erhebenden Kulturge- Berges ist mindestens ebenso abenteu- schichte eines Berges, die, anders als im erlich und vielgestaltig, wie es die Mög- Von Thomas Köster Untertitel suggeriert, eben nicht nur lichkeiten sind, sich dem Bergmassiv eine «deutsche Geschichte» ist, ihre anzunähern.» Und tatsächlich ist die Schnee auf dem Kilimandscharo? Das Würdigung: Auch durch die psychologi- Art und Weise, wie Hamann und Ho- konnte es für den englischen Geografen schen Tiefen dieser berühmten Erzäh- nold die «wechselvolle Biografie» des William Desborough Cooley trotz den lung erweisen sich die Literaturwissen- Kilimandscharo erklimmen, für Leser Reiseberichten des deutschen Missio- schafter Hamann und Honold als kundi- ein bisweilen Schwindel erregendes, nars Johannes Rebmann nicht geben. ge Führer. überaus lehrreiches Vergnügen. G Johannes Rebmann hatte im Mai 1848 den «mit einer auffallend weissen Wolke bedeckten» Gipfel des höchsten afrika- nischen Bergmassivs erblickt: «Es wurde mir ebenso klar als gewiss, dass das nichts anderes sein könne als Schnee.» William D. Cooley, der lieber vom heimischen Sessel aus forschte, zweifelte daraufhin am Verstand des Augenzeugen. Für Rebmanns phantasti- sche Erzählung müsse wohl dessen Kurzsichtigkeit verantwortlich sein. Die deutsche Politik hingegen stilisierte den Missionar in der Folge zum weitsichti- gen Helden. Wie der Blick durch die Kolonialis- tenbrille die nüchterne Betrachtung des Berges immer wieder trübte, führen Christof Hamann und Alexander Ho- nold in ihrem Buch anekdotenreich und locker geschrieben aus. Zunächst aber verorten sie den Kili- mandscharo im europäischen Kultur- kontext seit der Antike – um dann von der Erstbesteigung des «höchsten Ber- ges Deutschlands» 1889 durch den mit einer Reichsflagge bewaffneten Hans Meyer – Erfinder der Bezeichnung «Kai-

ser-Wilhelm-Spitze» – einen bunten PRINSLOO/AP KAREL Bogen zu spannen bis hin zur Vermark- Kaiser-Wilhelm-Spitze hiess der Kilimandscharo, als Ostafrika noch eine deutsche Kolonie war.

Sexualität Was Frauen und Männer schon immer gerne wissen wollten

Über die Geheimnisse weiblicher Lust

handlung eines Nagelgeschwürs als es sich aufdrängt. Etwa die Geschichte Elisa Brune, Yves Ferroul: Das Geheimnis über den Weg zum weiblichen Höhe- des Schweizer Ingenieurs Philippe der Frauen. Alles über den weiblichen punkt, lästert die Autorin. Aber sie trägt Woog, der die elektrische Zahnbürste Orgasmus. Mosaik, München 2011. in ihrem Kompendium aus Evolutions- erfand und angesichts von Zweckent- 416 Seiten, Fr. 28.50. biologie, Anthropologie, Historiografie fremdungen später auch Vibratoren ent- und Medizin viel Interessantes zusam- wickelte. Von Markus Schär men: von der ungelösten Frage, weshalb Im zweiten Teil des Buches werten die Frauen überhaupt zum Orgasmus Brune und Ferroul aus, was sie bei einer Es gebe zwei Kategorien von Männern, kommen, obwohl er der Menschheit kei- Umfrage im Internet von 314 Französin- meint Elisa Brune: «Die einen glauben, nen evolutionären Vorteil brachte, bis nen erfuhren. In einem umfangreichen sie wüssten, wie es geht, und die ande- hin zur «verheerenden Freud’schen Ka- Fragebogen gaben die Frauen Auskunft, ren wissen, dass sie es nicht wissen.» tastrophe». wie oft, auf welche Art und mit welchem Und eigentlich, glaubt die belgische Au- Der Begründer der Psychoanalyse Partner sie zum Höhepunkt kommen, torin und Journalistin, weiss kein Mann nämlich hatte nach eineinhalb Jahrtau- wie sie ihn erleben und warum sie ihn wirklich, wie die Frau zum Orgasmus senden Lustfeindlichkeit im Christen- manchmal vortäuschen. kommt – weil es die Frauen selber kaum tum die männliche Vorstellung bestä- Die häufigste Antwort: «Damit es wissen. Zusammen mit dem französi- tigt, wonach «normale» Frauen die endlich vorbei ist.» Nach dieser Lektüre schen Sexologen Yves Ferroul versucht grösste sexuelle Lust empfänden, wenn können Frauen wie Männer zumindest Elisa Brune deshalb, «das launische der Penis in die Vagina eindringe. Dies wissen: Für jede Frau gibt es den eige- Wesen weiblicher Lust zu verstehen». alles erzählt die Autorin so sachlich wie nen Weg zum Höhepunkt – sie erreicht In der Weltbibliothek fänden sich geboten, aber auch witzig, mit humori- ihn am ehesten, wenn sie ihrem Mann weit mehr Informationen über die Be- gen bis sarkastischen Anmerkungen, wo sagt, wie es geht. G

24 R NZZ am Sonntag R 25. September 2011 Byzanz Justinian I. als bedeutendster römischer Herrscher der Spätantike führte das Reich noch einmal zur Blüte. Nur in seiner rigiden Religionspolitik scheiterte er Frommer Kaiser mit Kurtisane

Hartmut Leppin: Justinian. Das christliche Experiment. Klett-Cotta, Stuttgart 2011. 448 Seiten, Fr. 40.50. Thomas Pratsch: Theodora von Byzanz. Kohlhammer, Stuttgart 2011. 153 Seiten, Fr. 25.90.

Von Geneviève Lüscher

Typisch! werden Feministinnen sagen: Für den Mann darf es eine umfangrei- che, hervorragend recherchierte Biogra- fie sein, für die Frau reicht ein dünnes, rasch hingeworfenes Taschenbuch. Fachleute werden sagen: Es liegt an den Quellen. Über Justinian ist, wie der Frankfurter Althistoriker Hartmut Lep- pin in seiner Einleitung schreibt, sehr viel Material vorhanden. Das Wissen um die Kaiserin hingegen schöpft fast nur aus einem Werk, das allein das Ziel hatte, sie zu diffamieren. Wie dem auch sei: Wir verfügen nun über eine neue, sehr dichte Biografie des spätantiken Kaisers Justinian, wäh- rend wir auf das entsprechende Werk

für die Kaiserin weiter warten müssen. GIERTH/INTERFOTO FRIEDEL Hartmut Leppin ist nicht der erste Biograf Justinians, aber er hat ihn konse- Die Hagia Sofia in Justinian, geboren um 482 in der Nähe Innern und gegen aussen gefestigt. Blei- quent vor den Hintergrund der religiö- Istanbul gehört zu des heutigen Skopje, stammte aus ein- benden Ruhm verschaffte sich Justinian den wichtigsten von sen Entwicklung seiner Zeit gestellt – im Justinian errichteten fachsten Verhältnissen und fand dank mit seinem Codex Iustinianus, einem Gegensatz zu früheren Lebensbeschrei- Bauwerken. Sie seinem kinderlosen Onkel, Kaiser Justin Gesetzeswerk, das auf der Tradition der bungen, die hauptsächlich seine Macht- wurde später zu einer I., Eingang in die byzantinische Gesell- römischen Jurisprudenz aufbaute, nun politik im Auge hatten. Das «Experi- Moschee umgebaut schaft. Als dieser 527 starb, wurde der aber ganz im Zeichen des Christentums und ist heute ment» im Untertitel des Buches bezieht Museum. Neffe sein Nachfolger. stand. Theodoras Einfluss vermutet sich auf die strikt christliche Neuord- Justinian war damals bereits mit man in der Stärkung der Stellung der nung der byzantinischen Gesellschaft. Theodora verheiratet, einer Frau, wel- Frau im Ehe- und Erbrecht, im Kampf Justinians Herrschaft war «eine Probe che die Fantasie der Historiker unge- gegen Prostitution, Mädchenhandel und darauf, was es bedeutet, das Christen- mein angeheizt hat. Sie war rund 15 Jahre Korruption, im verbesserten Schutz der tum (...) im Krieg und im Frieden, auf jünger als Justinian und hatte, als er sie Armen und Schwachen. Keinen Anteil dem Land und in der Stadt, im Reich und kennenlernte, bereits eine ziemlich be- hatte Justinian an der unter ihm ent- jenseits der Grenzen bestimmend wer- wegte Vergangenheit hinter sich. Tho- wickelten neuen Jahreszählung nach den zu lassen.» Geglückt ist das Experi- mas Pratsch referiert in seinem Ta- Christi Geburt, die sich bis heute gehal- ment nicht, wie Leppin zeigt. schenbuch die wenigen Fakten ihres ten hat. turbulenten Lebens als Tochter eines Christentum im Aufwind Bärenwärters am Zirkus in Konstan- Aufsplitterung der Kirchen Die Quellen zu Justinian sprudeln. Er tinopel, als junge Schauspielerin und Die folgenden Jahre waren geprägt von selber verfasste umfangreiche Gesetzes- schliesslich als Prostituierte. Vermut- militärischen Niederlagen und Natur- texte sowie theologische Schriften und lich hatte sich Theodora, die als sehr katstrophen. Erst wütete die Pest, dann liess unzählige Bauwerke errichten; das attraktiv beschrieben wird, durch die suchten schlimme Erdbeben, Flutwel- bekannteste ist die Hagia Sofia in Kons- Betten hochgeschlafen, bis sie Justinian len, Missernten das Land heim. Es tantinopel (heute: Istanbul). Auch viele über den Weg lief. Justinian nahm sie schien, als zöge Justinian den Zorn Got- zeitgenössische Chronisten haben über zur Frau, ungeachtet ihrer Vorgeschich- tes auf sich. Busse und Demut rückten den Kaiser geschrieben. Der schillernd- te, was gemäss Pratsch ein eindeutiger immer mehr in den Vordergrund, der ste war ein gewisser Prokop, der zwei Hinweis darauf sei, dass er sie wirklich Kaiser fing an, das Leben eines Asketen äusserst lobende Werke über den Herr- geliebt habe. Er machte sie zur Kaiserin, zu führen. Im Jahr 558 stürzte – hoch- scher und eine extrem diffamierende und von diesem Moment an war ihr Be- symbolisch – die Kuppel der Hagia Sofia Schrift über das Kaiserpaar verfasste. nehmen tadellos. Fromm, wie sie nun ein. Gott schien sich vom Kaiser abge- Aber trotz dieser Quellen bleiben beide war, wurde sie sogar zur Heiligen. Sie wandt zu haben. Protagonisten, wie Leppin beklagt, als habe aber keineswegs, so die wenig be- Seine Versuche, im ganzen Reich eine Individuen unzugänglich. Und so ver- gründete Meinung des Berliner Histori- dogmatische christliche Einheit zu harrt der Biograf bei den seriös-trocke- kers, «wie dies mitunter behauptet wird, schaffen, scheiterten. Etliche damals nen, mitunter komplizierten Fakten. die Politik ihres Mannes mitbestimmt». entstandene Splitterkirchen, so die kop- Eine unterhaltsame Erzählung, blutiges Die ersten Regierungsjahre des neuen tische in Ägypten oder die syrisch-or- Schlachtengetümmel oder amüsante Kaisers waren erfolgreich. Justinian er- thodoxe in Syrien, existieren noch heute. Anekdoten im angelsächsischen Stil rang militärische Siege gegen die Perser Die letzten Jahre Justinians standen im eines Tom Holland, Thomas Asbridge im Osten, die Vandalen in Nordafrika Zeichen des Machtzerfalls. 565 starb der oder Robin Lane Fox wird man bei ihm und die Goten in Italien; er schlug einen greise Herrscher in Konstantinopel, das nicht finden. Die Lektüre setzt histori- Aufstand in Konstantinopel nieder und er zeitlebens kaum je verlassen hatte. sches wie religionsgeschichtliches Inte- berief ein Konzil ein, das die Einheit der Seine geliebte Theodora hatte er um 17 resse voraus, kurzweilig ist sie nicht. Kirche verkündete. Das Reich war im Jahre überlebt. G

25. September 2011 R NZZ am Sonntag R 25 Sachbuch Bildsprachen Darstellungen politischer Inhalte werden zum Gegenstand der Kunstgeschichte

Symbole, Mythen und Motive

Gegenstand kunsthistorischer For- nicht recht einleuchten. Ausserdem Martin Warnke u. a. (Hrsg.): Handbuch der schungen zu machen, ist das erklärte könnte man unken, die Bilder seien bis- politischen Ikonographie. 2 Bände. Ziel des Handbuchs der politischen Iko- weilen zu klein und nur zweifarbig ab- C. H. Beck, München 2011. 1137 Seiten, nographie», so die Herausgeber Uwe gebildet. 1336 Abbildungen, Fr. 178.–. Fleckner, Martin Warnke und Hendrik Doch in Anbetracht der weit über Ziegler über ihr doppelbändiges Nach- 1000 Abbildungen, die das Handbuch Von Fritz Trümpi schlagewerk. parat hält, hätte eine aufwendigere Bild- Am Handbuch mitgewirkt haben eine präsentation den Doppelband wohl de- Es ist eine paradoxe Sache: Die überra- Vielzahl von Kunsthistorikern und –his- finitiv unerschwinglich gemacht. gende politische Wirkung von Bildern torikerinnen, deren Beiträge sich fach- Nicht weniger als 150 Beiträge, die lässt sich tagtäglich beobachten, die Er- übergreifend auch durch einen stupen- von «Abdankung» bis «Zwerg» reichen, forschung von politischen Bildsprachen den geschichts- und politikwissen- beschäftigen sich mit diesem üppigen hingegen fristet nach wie vor ein Schat- schaftlichen Informationsgehalt aus- Bildmaterial. Dabei nehmen sie auch tendasein. zeichnen. vordergründig unpolitische Begriffe wie Das «Handbuch der politischen Iko- Vereinzelt verirrten sich Autoren «Brücke», «Garten», «Jagd» oder eben nographie» wirkt diesem Missstand nun zwar etwas im ikonographischen «Zwerg» ins Blickfeld, was das Hand- entgegen und präsentiert eine Fülle von Dickicht: Warum man etwa unter dem buch zu einer umso attraktiveren Lektü- historisch fundierten und obendrein Stichwort «Nationalsozialismus» eine re macht – eine, in der man sich gründ- äusserst angenehm zu lesenden Analy- Abhandlung über NS-Kunstpolitik statt lich verlieren kann: Das Werk ist eine sen von politischen Bildgeschichten. einer Erörterung zu Darstellungen des wahre Fundgrube für alle, die sich für «Die Faszination politischer Bildstrate- Begriffs (seien das Selbstdarstellungen historisch-politische Deutungen von gien zu untersuchen, dieser Faszination des Regimes, Nachkriegsdarstellungen bildlichen Darstellungen interessieren dennoch nicht zu erliegen, sondern sie oder Fremdbeschreibungen von zeitge- – sie reichen von der Antike bis ins – ganz im Gegenteil – zum nüchternen nössischen Kriegsgegnern) antrifft, will 21. Jahrhundert. G

Das amerikanische Buch Wie Columbus ein neues Zeitalter eingeläutet hat

- Im Sommer 1623 hatten die Indianer an seien dagegen die Auswirkungen des der Chesapeake Bay die britischen Sklavenhandels, der in Nord- und Süd- Siedler in Jamestown mit beharrlichen amerika bis weit ins 19. Jahrhundert Attacken an den Rand des Untergangs hinein afrikanische Bevölkerungsmehr- gebracht. Aber ihr entscheidender heiten und damit die Entwicklung kul- Schlag blieb aus. Historiker streiten bis tureller «Mischformen» gezeitigt hat, heute über das Zögern der Ureinwoh- die heute als ganz natürlich erscheinen. ner, das die Expansion der Europäer und damit die Gründung des Glied- Der Autor geht in seinen Darlegungen staates Virginia ermöglicht hat. Nun systematisch nach Epochen und Konti- bietet der Wissenschaftsjournalist nenten, aber auch mit einem Schwung Charles C. Mann in 1493. The World Co- vor, der «1493» zu einem mitreissenden lumbus Created (Alfred A. Knopf, Lesevergnügen macht. Zudem demons- 535 Seiten) eine glaubwürdige Antwort triert Charles C. Mann hier erneut ein auf dieses Rätsel. Die Europäer waren ausserordentliches Talent in der Zu- zwar erst 1607 an die Chesapeake Bay sammenführung unterschiedlichster gekommen. Aber binnen weniger Jahre Forschungsergebnisse. Dabei spielt er hatten sie die dortige Landschaft so mit offenen Karten und zollt den von

weitgehend verändert, dass den streit- HICKS/AP TYLER ihm rezipierten und häufig auch inter- baren Indianern ihre Lebensgrund- viewten Naturwissenschaftern und lagen und damit ihre Angriffslust ver- Der von Europäern A. Knopf, 2005, 462 Seiten) anknüpft. Historikern Respekt. Und wenn er loren gingen, so Mann. Er macht dafür eingeführte und von Dort hatte der Autor den amerikani- gelegentlich spekuliert – so will er die nicht nur den Tabakanbau der Weissen Schwarzen geerntete schen Doppelkontinent als dicht besie- Unabhängigkeit der USA auf Malaria- Tabak zerstörte im verantwortlich, sondern vielmehr noch 17. Jahrhundert die delte Heimat zahlreicher Hochkulturen Epidemien unter britischen Expedi- die von ihnen eingeführten Tiere: ne- Lebensgrundlage der geschildert, denen aus Europa einge- tions-Truppen zurückführen –, dann ben Schweinen vor allem Regen- Indianer. schleppte Seuchen bis zu 90 Prozent macht Mann auch dies explizit deutlich. würmer und Bienen. Autor Charles C. ihrer Bevölkerung geraubt haben. Nun Für diese Leistungen wird er ausdrück- Mann (unten). beschreibt Mann die Auswirkungen der lich von der amerikanischen Kritik In derartigen, durch die Entdeckung Ankunft europäischer Menschen, Tiere, gelobt, die «1493» derzeit begeistert Amerikas unter Christoph Kolumbus Pflanzen und Mikroorganismen in der aufnimmt. ausgelösten Prozessen erkennt Mann Neuen Welt auf die Erde insgesamt. Er den Beginn des heutigen Erdzeitalters, entwickelt weltumspannende Kausal- Die stärksten Anregungen hat der das er «Homogenocene» nennt. Im Ketten und zeigt etwa, wie spanische Autor erklärtermassen aus Gesprächen Deutschen ist dafür seit 2000 der Be- Exporteure die chinesische Volkswirt- mit Alfred Crosby gezogen, mit «The griff Anthropozän gebräuchlich: Damit schaft mit Silber aus dem peruanischen Columbian Exchange» (1972) der Be- haben gewollte und unerwünschte Ein- Potosi erst belebt und dann ruiniert ha- gründer der ökologischen Geschichts- wirkungen des Menschen auf die Um- ben. Gleichzeitig haben amerikanische schreibung. So darf der Leser dem welt eine mit anderen Naturkräften Süsskartoffeln und Mais dem Reich der heute 80-jährigen Crosby für die Er- vergleichbare Wirkung erreicht. Diesen Mitte eine Bevölkerungsexplosion, aber mutigung seines jüngeren Kollegen Leitbegriff vor Augen, breitet Mann ein auch ökologische Katastrophen be- danken, den von Kolumbus unabsicht- reichhaltiges Panorama aus, das an sei- schert. Diese Vorgänge prägen Mann lich initiierten «Austausch» weiter zu nen Bestseller 1491. New Revelations of zufolge bis heute die internationalen erforschen. G the Americas before Columbus (Alfred Beziehungen. Schwerer zu erkennen Von Andreas Mink

26 R NZZ am Sonntag R 25. September 2011 Agenda Generation Gold Grossmama packt an Agenda Oktober 2011

Basel Donnerstag, 6. Oktober, 19 Uhr : Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem Ideen- Magazin. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüsser-

gasse 3, Tel. o61 261 29 50. BEUTLER CHRISTIAN

Mittwoch, 19. Oktober, 19.30 Uhr Kathy Zarnegin liest in der Reihe: Zur Sprache gehen. Fr. 15.–. Allgemeine Lesegesellschaft, Münstergasse 8. Reservation: Tel. 061 261 43 49.

Donnerstag, 27. Oktober, 19 Uhr Sayed Kashua: Zweite Person Singular. Lesung mit Sitcom-Ausschnitten, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben). Bern Dienstag, 18. Oktober, 20 Uhr Tinu Heiniger: Mueterland. Lesung und Lieder, Fr. 15.–. Stauffacher Buchhand- lung, Neuengasse 25/37, Tel. 031 313 63 63.

Mittwoch, 26. Oktober, 19 Uhr Altersdepression ist ein verbreitetes und bekanntes fand sie, während der Enkel sich für sie ulkige Posen Jeroen van Rooijen: Hat das Stil? Eine Phänomen in der immer älter werdenden westlichen ausdachte, wieder. Ob als Fifi-Büglerin, Treppenhaus- Live-Zerlegung und Ad-hoc-Beratung. Welt. Was dagegen vorkehren? Statt Psychopharmaka Skifahrerin oder Superheldin – Mamika ist die Haupt Buchhandlung, Falkenplatz 14, am besten: einfach etwas tun. Das hat sich der Grösste. Und wieder glücklich. Der Bild-Blog mit der Tel. 031 309 09 09. französische Fotograf Sacha Goldberger gesagt, als Mamika-Serie wurde ein umwerfender Erfolg. seine Grossmutter, nachdem sie bis zum Alter von Das jetzt auch auf Deutsch erschienene Buch dazu Donnerstag, 27. Oktober, 18 Uhr 80 Jahren gearbeitet hatte, depressiv wurde. Nun hat dürfte es beim nächsten Grosi-Besuch auch werden. Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die die 1919 geborene ungarische Jüdin, die während der Regula Freuler Ahnung vom Ganzen. Lesung, sozialistischen Diktatur in den fünfziger Jahren nach Sacha Goldberger: Mamika. Grosse kleine Gross- Fr. 10.–. Vorverkauf. Schweizerische Frankreich emigrierte, eigentlich viel Humor. Diesen mama. Hans Huber, Bern 2011. 176 Seiten, Fr. 35.50. Nationalbibliothek, Hallwylstrasse 15. Zürich Bestseller September 2011 Montag, 3. Oktober, 20 Uhr Hallgrímur Helgason: Eine Frau bei 1000. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Vor der Le- sung (18.30): Filmprojektion «Islands Belletristik Sachbuch Künstler und die Sagas». Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Charlotte Roche: Schossgebete. Barney Stinson: Der Bro Code. 1 Piper. 282 Seiten, Fr. 19.90. 1 Riva. 200 Seiten, Fr. 14.90. Mittwoch, 5. Oktober, 19.30 Uhr Joanna Lisiak, Rolf Dorner: Klee com- Charles Lewinsky: Gerron. Barney Stinson: Das Playbook. posé und Der Weg zum ersten Schritt. 2Nagel & Kimche. 539 Seiten, Fr. 29.90. 2 Riva. 176 Seiten, Fr. 15.90. Lesung. Kulturhaus Gartensaal, Cramer- strasse 7. Tel. 044 312 15 52. Martin Suter: Allmen und der rosa Diamant. Remo H. Largo: Jugendjahre. 3Diogenes. 218 Seiten, Fr. 24.90. 3Piper. 400 Seiten, Fr. 35.90. Montag, 10. Oktober, 20 Uhr Endo Anaconda: Walterfahren. Lesung, Jussi Adler-Olsen: Erlösung. Thorsten Havener: Denk doch, was du willst. Fr. 28.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikan- 4dtv. 588 Seiten, Fr. 19.40. 4 Wunderlich. 253 Seiten, Fr. 24.90. platz 1, Tel. 044 225 33 77.

John Grisham: Das Geständnis. Corinne Hofmann: Afrika, meine Passion. Montag, 24. Oktober, 20 Uhr 5Heyne. 528 Seiten, Fr. 26.90. 5A 1. 288 Seiten, Fr. 34.90. Antje Rávic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Franz Hohler: Der Stein. Viktor Parma, Oswald Sigg: Die käufliche Literaturhaus (s. oben). 6Luchterhand. 139 Seiten, Fr. 28.–. 6 Schweiz. Nagel & Kimche. 205 S., Fr. 25.90. Freitag, 28. Oktober, 20 Uhr Jussi Adler-Olsen: Schändung. Rhonda Byrne: The Power. Michèle Roten: Neuer Femi- 7dtv. 458 Seiten, Fr. 19.70. 7Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 25.90. nismus. Lesung und Buch- vernissage, Fr. 15.–.

Håkan Nesser: Die Einsamen. Katja Schneidt: Gefangen in Deutschland. Kaufleuten (s. oben). HALLER TOM 8btb. 604 Seiten, Fr. 26.90. 8 mgv. 285 Seiten, Fr. 25.90. Bücher am Sonntag Nr. 9 Alex Capus: Léon und Louise. Heribert Schwan: Die Frau an seiner Seite. 9Hanser. 320 Seiten, Fr. 24.60. 9 Heyne. 320 Seiten, Fr. 28.50. erscheint am 30. 10. 2011 Paulo Coelho: Schutzengel. Niels Walter: Der Blindgänger. Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am 1Diogenes. 0 208 Seiten, Fr. 33.90. 1Wörterseh. 0 223 Seiten, Fr. 29.90. Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 13. 9.2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch. 8001 Zürich, erhältlich.

25. September 2011 R NZZ am Sonntag R 27 Verkannte Visionäre, gescheiterte Genies, erfolgreiche Spinnerinnen

Helmut Stalder Verkannte Visionäre 24 Schweizer Lebensgeschichten

Dass der Eiffelturm von einem Zürcher kreiert, der Kreml von einem Tessiner erbaut, Mme Tussaud aus Bernstammte oder dass ein Toggenburger Schlosser die Sekunde erfand, wissen heute die Wenigsten. Faktenreich und packend erzählt dieses Buch 24 ausgefallene Lebensgeschichten von verkannten Visionären, gescheiterten Genies und erfolgreichen Spinnerinnen, die es nicht in die Ahnengalerie der grossen Schweizerinnen und Schweizer geschafft haben.

240 Seiten, 120 farbige und s/w Abbildungen, Halbleinen ISBN 978-3-03823-715-0 Fr.48.– / €42.–

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www.nzz-libro.ch