Die Glocken Von Berzona Lebenskunst Im Tessin Von Ariane Eichenberg Und Michael Marek BR/SWR/NDR/HR 2006
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
1 COPYRIGHT: COPYRIGHT DiesesDieses Manuskript Manuskript ist urheberrechtlich ist urheberrechtlich geschützt. geschützt. Es darf E ohnes darf Genehmigung ohne Genehmigung nicht verwertet nicht werden.verwertet Insbesondere werden. darf Insbesondere es nicht ganz darf oder es teilwe nicht iseganz oder oder in Auszügen teilweise oderabgeschrieben in Auszügen oder in sonstigerabgeschrieben Weise vervielfältigtoder in sonstiger werden. Weise Für vervielfältigRundfunkzwecket werden. darf dasFür Manuskript Rundfunkzwecke nur mit Genehmigungdarf das Manuskript von DeutschlandRadio nur mit Genehmigung / Funkhaus Berlin von Deutsch benutzt landradiowerden. Kultur benutzt werden. Menschen und Landschaften 26.12.2006 Die Glocken von Berzona Lebenskunst im Tessin Von Ariane Eichenberg und Michael Marek BR/SWR/NDR/HR 2006 EINBLENDUNG Hans-Jürg Sommer „Moos-Ruef“ 10 EINBLENDUNG Glockenläuten EINBLENDUNG Viktor Hermann „Ja, ich finde das den schönsten Ort der Welt natürlich. Wenn ich irgendwohin gehe, ans Meer, die Wellen sind wunderschön. Dann komme ich hierher, dann sage ich: ‚Hier ist es doch am schönsten!’“ EINBLENDUNG Max Frisch „Das Tal Val Onsernone hat keine Sohle. Seine Hänge sind waldig, darüber felsig und mit den Jahren wahrscheinlich langweilig. Die einheimische Bevölkerung lebte früher von Strohflechterei, bis zu dem Markt von Mailand plötzlich die japanischen Hüte und Körbe und Taschen erschie- 20 nen. Seither ein verarmendes Tal...“ EINBLENDUNG Lou Nüscheler „Wenn ich ganz ehrlich bin, sicher war ich immer auch ein wenig stolz, dass ich immer dazu ge- höre. Der Kirchenturm, der Glockenturm, wo die Kinder läuten gehen, und die schmale Gasse zu Marta, ihre Blumen auf der Treppe...“ EINBLENDUNG Autoverkehr mit Schweizer Postauto-Horn SPRECHERIN Das Valle Onsernone, sieben Uhr morgens. Der erste Postbus fährt das Tal hinauf. Es ist diesig und kalt. Der Nebel hängt noch am Berg fest. Verkehrsgewühl wie anderswo. 30 Auf der einzigen, schmalen Hauptstraße drängeln sich Autos, Lastwagen und der Post- bus. SPRECHER Wir sind am Schweizer Südrand der Alpen. 20 Kilometer nördlich vom Lago Maggiore. 2 Hier liegt das lang gestreckte Onsernonetal, neun Dörfer wie auf einer Perlenkette, 900 Einwohner. Links und rechts wildes, steiles Gebirge. Eine verborgene Schönheit. Ein sonnenblühendes Paradies Mit Primeln, Veilchen und Kamelien im Frühjahr, Nelken und Almrausch im Sommer. Dazwischen massive Steinhäuser und Maiensässen. Und die nötige Dosis Himmelsbläue. Am Horizont: die grauen Riesen aus Granit und Gneis. EINBLENDUNG Naturgeräusch 40 SPRECHERIN Vielleicht seiner Ursprünglichkeit und Abgeschiedenheit wegen hat diese karge Berg- landschaft immer wieder Fremde angelockt. Romanciers und Revolutionäre, Aussteiger und Asylsuchende. Anfang des vorigen Jahrhunderts waren es vor allem Künstler, die das Tal für sich entdeckten - als unberührten Ort. Um den Erholungsurlaub zu verbrin- gen, zu studieren oder schöpferisch tätig zu sein. EINBLENDUNG Stimmhorn „Südlas“ SPRECHER 50 Kurt Tucholsky und Hans Marchwitza waren hier, Ernst Toller und Elias Canetti. Dimitri, der weltberühmte Theaterclown, und Mario Botta, der Tessiner Stararchitekt, leben heute in Nachbartälern. Aber es kamen auch Menschen, beeinflusst von denen, die sich auf dem nahen Monte Vérita in Ascona versammelten: Anthroposophen, Anarchisten, Esote- riker, Naturisten, Theosophen und Vegetarier. EINBLENDUNG Max Frisch „Berzona, das Dorf wenige Kilometer von der Grenze entfernt, hat 82 Einwohner, die italienisch sprechen, kein Restaurante, nicht einmal eine Bar, da es nicht an der Talstraße liegt, sondern abseits.“ SPRECHERIN 60 Max Frisch, der Schweizer Schriftsteller, hat hier im Valle, in Berzona zeitweise gelebt. Am Friedhof findet sich eine kleine Gedenktafel, die an den Ehrenbürger erinnert. Man- ches hat Frisch über das Tal in seinem Tagebuch notiert und über sein Haus am Rand des Ortes. Manches über das Dichterdorf findet sich wieder in seiner Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“. Den Beinamen hat Berzona übrigens nicht von berühm- ten Autoren erhalten, die hier geboren wurden, sondern weil sich einige von ihnen im Ort niederließen. Darunter Alfred Andersch, Golo Mann und eben auch Frisch. EINBLENDUNG Max Frisch „Jeder Gast aus den Städten sagt sofort: ‚Diese Luft!’ und dann etwas bänglich: ‚Und diese Stil- le!’ Als Alfred Andersch, schon seit Jahren hier wohnhaft, auf das kleine Anwesen aufmerksam 70 machte, war das Gebäude verlottert, ein altes Bauernhaus, mit dicken Mauern und einem turmar- tigen Stall, der jetzt Studio heißt. Alles mit Granit bedeckt.“ 3 SPRECHERIN Alfred und Gisela Andersch siedelten sich mitten im Dorf an, neben der Casa Comunale, in einer alten Seifenfabrik, die sie in ein Bauhaus-Gebäude verwandelten. Oder, wie es bis heute hinter vorgehaltener Hand heißt, verschandelten. EINBLENDUNG Alfred Andersch „Dagegen ist nichts zu machen. Wir haben uns damit abgefunden, dass wir unter Begriffe wie Ascona, Millionäre und Steuervorteile subsumiert werden. Von solchen Dingen abgesehen leben wir in diesem alten, neuen Haus in einem abgelegenen Tal, das in den italienischen Bergen en- 80 det und noch immer etwas Verwunschenes hat. Die Häuser von Künstlern ähneln sich heutzuta- ge untereinander. Man bevorzugt weiß gekalkte Wände, Holz im Zusammenspiel mit Stein, aber es darf nicht rustikal wirken. So wenig Möbel wie möglich, viel Platz für Bücher, die Bilder sollen sich auf den Wänden entfalten können. Wir sind irgendwie funktionell gesinnt, mögen keinen Chi Chi. Manche Leute finden unser Haus zu ordentlich. Tatsächlich ist das Schreiben eines Romans eine derart irre Arbeit, dass ich dabei Ordnung um mich haben muss.“ EINBLENDUNG Stimmhorn „Wududu“ SPRECHER Der Taleingang: Die schmale Straße windet sich empor zum ersten Dorf, Auressio. Ab 90 hier besteht das Onsernone Tal aus zwei scheinbar zusammenstoßenden Bergwänden. Nur die sonnige Seite ist bewohnt. Loco, Hauptort des Tals. Und die winkligen Gassen. Mittendrin die Kirche von Sankt Remigio, etwas abseits das Heimatmuseum. Ein paar Straßenkehren weiter liegt Berzona, in dem auch Golo Mann, der Wallenstein- Bewunderer und passionierte Wanderer, ein Haus kaufte. EINBLENDUNG Golo Mann „Das war zuerst im Jahre 1954. Ich war damals noch Lehrer in Kalifornien und verbrachte meine Ferien zusammen mit amerikanischen Freunden in Cavigliano, also weiter unten. Von da mach- ten wir Wanderungen, und da sah ich Berzona wohl zum ersten Mal. Man muss sich eine solche fremde Landschaft erobern. Das geht nur, indem man in sich hineingeht, indem man steigt, in- 100 dem man schleppt und schwitzt. Es gibt in dieser Gegend wahrhaft beglückende Tage, wenn das Licht strahlend ist und die Luft frisch ist, und es kann auch graue und bedrückende Tage geben. Aber wenn ich so bei Mondenschein abends etwa vor meinem Häuschen stehe und in den Raum hineinsehe, und wenn ich das Feuer des Kamins sehe und dann draußen die völlige Ruhe und ein glorreicher Sternenhimmel und der Vollmond, dann ist es so schön, dass ich es kaum glau- ben kann. Dann fühle ich mich sehr wohl.“ EINBLENDUNG Stimmhorn „Ausland“ SPRECHERIN Golo Mann arbeitete in Berzona an seinem Wallenstein. Hoch oben auf dem Berg. Über 110 allen anderen. Fern jeder Weltenbrandnachrichten. Thronend, mit Blick weit in das Tal hinein, saß er abseits auf seinem Adlerhorst, dem Mataruk. Die Enge der Steinhäuser, ihre Gedrängtheit und Dichte, die Gespräche der Nachbarn, das Geschrei der Kinder auf der kleinen Piazza – all das wollte der Schriftsteller und Autor nicht hören. Ein Fremder 4 in einer fremden Welt. EINBLENDUNG Golo Mann „Ich ging nicht nach Berzona, weil andere Schriftsteller dort waren. Mein sehr lieber Freund Alf- red Andersch war schon dort, aber den habe ich erst dort eigentlich kennengelernt. Max Frisch kam später. Und auch heute ist für mich Berzona nicht ein Ort, an dem sich Schriftsteller oder Philosophen oder Literaten treffen. Das ist äußerlich, das ist zufällig, und das ist für mich nicht 120 der Sinn meiner eigenen Ansiedlung dort.“ ZITATOR Max Frisch „Holozän“ „Steigt man in die Höhe, so trifft man keinen Zeitgenossen mehr; man findet Ruinen von steinernen Ställen, das Gebälk eingestürzt, die Mauern stehen noch im Geviert, im In- nern wuchern Brenneseln unter dem freien Himmel, und es rührt sich nichts.“ SPRECHER 1979 veröffentlicht Max Frisch die Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“. Darin verarbeitet er eine Naturkatastrophe, die er ein Jahr zuvor in Berzona selbst erlebt hatte. Damals war das Tal nach tagelangen Regenfällen von der Außenwelt abgeschnitten. Brücken, Häuser und die einzige Straße versanken unter Erdrutschen. Aus seinen Beo- 130 bachtungen entwirft Frisch eine Apokalypse en miniature, einen Abgesang auf das Le- ben - und ganz nebenbei eine präzise Ortsbeschreibung des Tales. Heute noch wandern manche Touristen durch Berzona mit dem „Holozän“ in der Hand. EINBLENDUNG Vent Negru „La sisina“ ZITATOR Max Frisch „Holozän“ „Das Tal hat eine einzige Straße, die kurvenreich ist, aber fast überall versehen mit ei- nem eisernen Geländer; eine schmale, aber ordentliche Straße, die nur Ausländern Angst macht. Unfälle mit tödlichem Ausgang sind seltener als man beim ersten Anblick dieser Straße erwartet.“ 140 SPRECHERIN 300 Kurven auf 28 Kilometern. Noch immer ist die Straße schmal, wenn auch inzwischen ausgebaut. Noch immer ist sie kurvenreich und das Geländer nur ein schwacher Halt für die Augen. Tief unten schimmert von Zeit zu Zeit smaragdgrün der Fluss. Unzugänglich und wild. ZITATOR Max Frisch „Holozän“ „Es bellt kein Hund. Die Aussicht ist