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Menschen und Landschaften 26.12.2006 Die Glocken von Berzona Lebenskunst im Tessin Von Ariane Eichenberg und Michael Marek BR/SWR/NDR/HR 2006

EINBLENDUNG Hans-Jürg Sommer „Moos-Ruef“

10 EINBLENDUNG Glockenläuten

EINBLENDUNG Viktor Hermann „Ja, ich finde das den schönsten Ort der Welt natürlich. Wenn ich irgendwohin gehe, ans Meer, die Wellen sind wunderschön. Dann komme ich hierher, dann sage ich: ‚Hier ist es doch am schönsten!’“ EINBLENDUNG „Das Tal Val hat keine Sohle. Seine Hänge sind waldig, darüber felsig und mit den Jahren wahrscheinlich langweilig. Die einheimische Bevölkerung lebte früher von Strohflechterei, bis zu dem Markt von Mailand plötzlich die japanischen Hüte und Körbe und Taschen erschie- 20 nen. Seither ein verarmendes Tal...“ EINBLENDUNG Lou Nüscheler „Wenn ich ganz ehrlich bin, sicher war ich immer auch ein wenig stolz, dass ich immer dazu ge- höre. Der Kirchenturm, der Glockenturm, wo die Kinder läuten gehen, und die schmale Gasse zu Marta, ihre Blumen auf der Treppe...“

EINBLENDUNG Autoverkehr mit Schweizer Postauto-Horn

SPRECHERIN Das Valle Onsernone, sieben Uhr morgens. Der erste Postbus fährt das Tal hinauf. Es ist diesig und kalt. Der Nebel hängt noch am Berg fest. Verkehrsgewühl wie anderswo. 30 Auf der einzigen, schmalen Hauptstraße drängeln sich Autos, Lastwagen und der Post- bus.

SPRECHER Wir sind am Schweizer Südrand der Alpen. 20 Kilometer nördlich vom Lago Maggiore. 2

Hier liegt das lang gestreckte Onsernonetal, neun Dörfer wie auf einer Perlenkette, 900 Einwohner. Links und rechts wildes, steiles Gebirge. Eine verborgene Schönheit. Ein sonnenblühendes Paradies Mit Primeln, Veilchen und Kamelien im Frühjahr, Nelken und Almrausch im Sommer. Dazwischen massive Steinhäuser und Maiensässen. Und die nötige Dosis Himmelsbläue. Am Horizont: die grauen Riesen aus Granit und Gneis.

EINBLENDUNG Naturgeräusch 40 SPRECHERIN Vielleicht seiner Ursprünglichkeit und Abgeschiedenheit wegen hat diese karge Berg- landschaft immer wieder Fremde angelockt. Romanciers und Revolutionäre, Aussteiger und Asylsuchende. Anfang des vorigen Jahrhunderts waren es vor allem Künstler, die das Tal für sich entdeckten - als unberührten Ort. Um den Erholungsurlaub zu verbrin- gen, zu studieren oder schöpferisch tätig zu sein.

EINBLENDUNG Stimmhorn „Südlas“

SPRECHER 50 Kurt Tucholsky und Hans Marchwitza waren hier, Ernst Toller und . Dimitri, der weltberühmte Theaterclown, und Mario Botta, der Tessiner Stararchitekt, leben heute in Nachbartälern. Aber es kamen auch Menschen, beeinflusst von denen, die sich auf dem nahen Monte Vérita in Ascona versammelten: Anthroposophen, Anarchisten, Esote- riker, Naturisten, Theosophen und Vegetarier.

EINBLENDUNG Max Frisch „Berzona, das Dorf wenige Kilometer von der Grenze entfernt, hat 82 Einwohner, die italienisch sprechen, kein Restaurante, nicht einmal eine Bar, da es nicht an der Talstraße liegt, sondern abseits.“

SPRECHERIN 60 Max Frisch, der Schweizer Schriftsteller, hat hier im Valle, in Berzona zeitweise gelebt. Am Friedhof findet sich eine kleine Gedenktafel, die an den Ehrenbürger erinnert. Man- ches hat Frisch über das Tal in seinem Tagebuch notiert und über sein Haus am Rand des Ortes. Manches über das Dichterdorf findet sich wieder in seiner Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“. Den Beinamen hat Berzona übrigens nicht von berühm- ten Autoren erhalten, die hier geboren wurden, sondern weil sich einige von ihnen im Ort niederließen. Darunter Alfred Andersch, Golo Mann und eben auch Frisch.

EINBLENDUNG Max Frisch „Jeder Gast aus den Städten sagt sofort: ‚Diese Luft!’ und dann etwas bänglich: ‚Und diese Stil- le!’ Als Alfred Andersch, schon seit Jahren hier wohnhaft, auf das kleine Anwesen aufmerksam 70 machte, war das Gebäude verlottert, ein altes Bauernhaus, mit dicken Mauern und einem turmar- tigen Stall, der jetzt Studio heißt. Alles mit Granit bedeckt.“ 3

SPRECHERIN Alfred und Gisela Andersch siedelten sich mitten im Dorf an, neben der Casa Comunale, in einer alten Seifenfabrik, die sie in ein Bauhaus-Gebäude verwandelten. Oder, wie es bis heute hinter vorgehaltener Hand heißt, verschandelten.

EINBLENDUNG Alfred Andersch „Dagegen ist nichts zu machen. Wir haben uns damit abgefunden, dass wir unter Begriffe wie Ascona, Millionäre und Steuervorteile subsumiert werden. Von solchen Dingen abgesehen leben wir in diesem alten, neuen Haus in einem abgelegenen Tal, das in den italienischen Bergen en- 80 det und noch immer etwas Verwunschenes hat. Die Häuser von Künstlern ähneln sich heutzuta- ge untereinander. Man bevorzugt weiß gekalkte Wände, Holz im Zusammenspiel mit Stein, aber es darf nicht rustikal wirken. So wenig Möbel wie möglich, viel Platz für Bücher, die Bilder sollen sich auf den Wänden entfalten können. Wir sind irgendwie funktionell gesinnt, mögen keinen Chi Chi. Manche Leute finden unser Haus zu ordentlich. Tatsächlich ist das Schreiben eines Romans eine derart irre Arbeit, dass ich dabei Ordnung um mich haben muss.“

EINBLENDUNG Stimmhorn „Wududu“

SPRECHER Der Taleingang: Die schmale Straße windet sich empor zum ersten Dorf, Auressio. Ab 90 hier besteht das Onsernone Tal aus zwei scheinbar zusammenstoßenden Bergwänden. Nur die sonnige Seite ist bewohnt. Loco, Hauptort des Tals. Und die winkligen Gassen. Mittendrin die Kirche von Sankt Remigio, etwas abseits das Heimatmuseum. Ein paar Straßenkehren weiter liegt Berzona, in dem auch Golo Mann, der Wallenstein- Bewunderer und passionierte Wanderer, ein Haus kaufte.

EINBLENDUNG Golo Mann „Das war zuerst im Jahre 1954. Ich war damals noch Lehrer in Kalifornien und verbrachte meine Ferien zusammen mit amerikanischen Freunden in Cavigliano, also weiter unten. Von da mach- ten wir Wanderungen, und da sah ich Berzona wohl zum ersten Mal. Man muss sich eine solche fremde Landschaft erobern. Das geht nur, indem man in sich hineingeht, indem man steigt, in- 100 dem man schleppt und schwitzt. Es gibt in dieser Gegend wahrhaft beglückende Tage, wenn das Licht strahlend ist und die Luft frisch ist, und es kann auch graue und bedrückende Tage geben. Aber wenn ich so bei Mondenschein abends etwa vor meinem Häuschen stehe und in den Raum hineinsehe, und wenn ich das Feuer des Kamins sehe und dann draußen die völlige Ruhe und ein glorreicher Sternenhimmel und der Vollmond, dann ist es so schön, dass ich es kaum glau- ben kann. Dann fühle ich mich sehr wohl.“

EINBLENDUNG Stimmhorn „Ausland“

SPRECHERIN Golo Mann arbeitete in Berzona an seinem Wallenstein. Hoch oben auf dem Berg. Über 110 allen anderen. Fern jeder Weltenbrandnachrichten. Thronend, mit Blick weit in das Tal hinein, saß er abseits auf seinem Adlerhorst, dem Mataruk. Die Enge der Steinhäuser, ihre Gedrängtheit und Dichte, die Gespräche der Nachbarn, das Geschrei der Kinder auf der kleinen Piazza – all das wollte der Schriftsteller und Autor nicht hören. Ein Fremder 4

in einer fremden Welt.

EINBLENDUNG Golo Mann „Ich ging nicht nach Berzona, weil andere Schriftsteller dort waren. Mein sehr lieber Freund Alf- red Andersch war schon dort, aber den habe ich erst dort eigentlich kennengelernt. Max Frisch kam später. Und auch heute ist für mich Berzona nicht ein Ort, an dem sich Schriftsteller oder Philosophen oder Literaten treffen. Das ist äußerlich, das ist zufällig, und das ist für mich nicht 120 der Sinn meiner eigenen Ansiedlung dort.“

ZITATOR Max Frisch „Holozän“ „Steigt man in die Höhe, so trifft man keinen Zeitgenossen mehr; man findet Ruinen von steinernen Ställen, das Gebälk eingestürzt, die Mauern stehen noch im Geviert, im In- nern wuchern Brenneseln unter dem freien Himmel, und es rührt sich nichts.“

SPRECHER 1979 veröffentlicht Max Frisch die Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“. Darin verarbeitet er eine Naturkatastrophe, die er ein Jahr zuvor in Berzona selbst erlebt hatte. Damals war das Tal nach tagelangen Regenfällen von der Außenwelt abgeschnitten. Brücken, Häuser und die einzige Straße versanken unter Erdrutschen. Aus seinen Beo- 130 bachtungen entwirft Frisch eine Apokalypse en miniature, einen Abgesang auf das Le- ben - und ganz nebenbei eine präzise Ortsbeschreibung des Tales. Heute noch wandern manche Touristen durch Berzona mit dem „Holozän“ in der Hand.

EINBLENDUNG Vent Negru „La sisina“

ZITATOR Max Frisch „Holozän“ „Das Tal hat eine einzige Straße, die kurvenreich ist, aber fast überall versehen mit ei- nem eisernen Geländer; eine schmale, aber ordentliche Straße, die nur Ausländern Angst macht. Unfälle mit tödlichem Ausgang sind seltener als man beim ersten Anblick dieser Straße erwartet.“

140 SPRECHERIN 300 Kurven auf 28 Kilometern. Noch immer ist die Straße schmal, wenn auch inzwischen ausgebaut. Noch immer ist sie kurvenreich und das Geländer nur ein schwacher Halt für die Augen. Tief unten schimmert von Zeit zu Zeit smaragdgrün der Fluss. Unzugänglich und wild.

ZITATOR Max Frisch „Holozän“ „Es bellt kein Hund. Die Aussicht ist herrlich, nicht anders als vor Jahrtausenden. Da und dort ein kleine Kapelle; die verblichene Muttergottes hinter einem verrosteten Gitter und eine verrostete Büchse mit verdorrten Blumen davor, Fresken unter dem Vordach, zum Teil zerstört, da die Ziegen sich den Salpeter von den Mauern lecken.“ 5

150 EINBLENDUNG Marta Regazzoni „Ja, ja, immer viel Arbeit. Meine Schwester auch mit einer Ziege und so. Und meine Schwester ist in Berge gegangen zusammen mit Mama und eine hat verkauft die Milch.“

SPRECHER Marta Regazzoni in ihrem kleinen Negozio, einer Art Lebensmittellädchen. Auf engstem Raum wird hier in wundersamer Weise alles zusammengehalten, was der Mensch zum Leben braucht: Milch, Salz, Backpulver, Zwiebeln und Schneckenkorn. Marta schüttelt den Kopf. Am Verstand der Städter zweifelnd, die zum Vergnügen über die aus Stein- platten gelegten Alpwege hochsteigen. Um die Einsamkeit und Stille zu genießen. Für die 70-Jährige dagegen bedeuteten die Berge größte Mühe und Arbeit:

160 EINBLENDUNG Marta Regazzoni „Mama ist gekommen mit den Behältern mit Milch unten von Colmo, und nachher sind sie ge- gangen, um das zu verkaufen. Und nachher wir mussten im Sommer schneiden das Heu. Und im Herbst kamen die Tiere runter in den Stall. Auch die Schweine. Ich hatte Angst vor den Kühen ... (lacht) “

EINBLENDUNG Golo Mann „…wenn ich das sagen darf, der gute Engel von Berzona, ohne den ich mir Berzona überhaupt nicht vorstellen kann, ist die Besitzerin oder Mitbesitzerin des kleinen Ladens. … Sie ist etwas wie der heimliche, ungewählte Syndako des Ortes. Ich bin herzlich mit ihr befreundet.“

170 EINBLENDUNG Hans-Jürg Sommer „Moos-Ruef“

SPRECHERIN Ein Tal ohne Baedeker-Stern. Ein Tal, das die boomende Tourismuswelle noch nicht ü- berspült hat. Kein Tal, in dem es Fresken eines Giotto und Antonio Tradate zu bewun- dern gibt wie im benachbarten Centovalli oder gar doppelbögige Brücken für das Fotoal- bum daheim.

EINBLENDUNG Marta Reggazoni (mit Übersetzung) „Meine Mutter hat noch die Bänder geflochten. Die Arbeit ist erst die Bänder flechten und nach- her mit den Bändern die Hüte und die Körbe nähen. Und das macht Marta heute noch. Ja, heute noch. Das war noch sehr verbreitet. Und die meisten älteren Frauen wollten das nicht 180 weiter geben, weil sie Angst hatten vor der Konkurrenz. Und dann ist ihr Vater einmal nach Au- ressio zur Arbeit gegangen zur Arbeit und da war dort eine der wenigen, die das machen konnte mit der Maschine, mit den Füßen betrieben. Und der Vater fragte, und sie sagte, ja. Ja, der Marta zeige ich das. Und dann ist die Frau gekommen und hat eine Stunde lang die Marta instruiert, und sie hat alles sehr schnell erfasst und konnte dann nachher selber sich perfektionieren. Und sie hat dann Jahrzehnte die Arbeit bestens gemacht.“

SPRECHER Längst ist das Gelb der reifenden Roggenfelder aus der Landschaft verschwunden. Geblieben sind nur die für das Valle Onsernone so typischen Sonnenbalkone, auf denen 6

190 einst das Stroh trocknete.

SPRECHERIN Heute verdienen die meisten Einheimischen ihr Brot außerhalb des Tales. Industrie gibt es keine. Allein der Granitsteinbruch im Nebental hat überlebt. Die Alpwirtschaft wurde fast gänzlich aufgegeben. Das Tal ist zu steil und zu karg, als dass sich das Halten von Tieren über den Eigenbedarf hinaus lohnen würde. Und die seit rund 150 Jahren andauernde Abwanderung der Bevölkerung scheint unaufhaltbar.

EINBLENDUNG Kinderlied

SPRECHER Die Zukunft macht denjenigen, die das Tal lieben, die dorthin für immer aus den großen 200 Städten gezogen sind oder die seit Generationen ihm die Treue halten, große Sorgen:

ZITATOR Max Frisch „Das kommt vor: Eine Villa steht schon seit längerer Zeit verlassen, von den Bewohnern keine Spur.“

SPRECHER Max Frisch in seinem Tagebuch:

ZITATOR Max Frisch „Es scheint, dass die Leute einfach aufgestanden sind vom Tisch, ohne abzuräumen; Ri- sotto in einer Schüssel verschimmelt, Wein in einer offenen Flasche, Reste von steinhar- tem Brot. Nicht einmal ihre Kleider haben sie mitgenommen, ihre Schuhe, ihr persönli- 210 ches Zeug. Erst nach Wochen blieb das elektrische Licht aus, weil niemand die Rech- nung bezahlte; das fiel auf. Inzwischen wurde einiges gestohlen; die Haustüre war nicht geriegelt; ein Portal mit naivem Sgraffito, darüber ein Balkon, dessen Geländer verrostet ist, die grünen Jalousien sind jetzt geschlossen, der Verputz (Yoghurt mit Himbeere) fla- denweise abgebröckelt. Im Garten steht eine Tafel: CASA DA VENDERE, wie ich höre: schon seit Jahren.“

SPRECHERIN Annette Korolnik-Andersch, Malerin und Tochter des berühmten Vaters, kennt das Dorf seit ihrer Kindheit.

EINBLENDUNG Anette Korolnik 220 „Ich müsste ihnen eigentlich dazu sagen, ich hätte lieber ein Ruinendorf. Was ich mir vielleicht gewünscht hätte, wäre, von den Tessinern mehr Geschmack und von den Ausländern weniger Geld. Also, da fehlen nur noch ein paar Gartenzwerge irgendwo, und dann haben wir es bei- sammen“

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EINBLENDUNG Peter Schäfer „Was dann auch seltsam ist, ist oft, dass so auch Deutschschweizer kommen, sich hier so ein Häuschen kaufen und dann alles bekämpfen rundherum.“

SPRECHER Peter Schäfer, Therapeut für verhaltensauffällige Jugendliche, lebt seit rund zwanzig 230 Jahren im Valle.

EINBLENDUNG Peter Schäfer „Da kommt einer von Schaffhausen, der hat ein Haus, das ist auch nicht mehr Original. Aber der träumt davon, eine heile Welt zu finden, die es längst nicht mehr gibt. Mein Freund hat daneben sein Haus gehabt, wenn er nur eine Abdeckung machte, dann hat der die Polizei angerufen.“

EINBLENDUNG Maria-Rosaria Regolati „Ja, das ist nicht nur ein architektonisches Problem, sondern ist auch ein soziologisches Prob- lem.“

SPRECHERIN Maria-Rosaria Regolati, Architektin, aufgewachsen in Locarno, lebt heute im Nachbar- 240 dorf Mosogno, im Haus ihrer Eltern.

EINBLENDUNG Maria-Rosaria Regolati „Ich finde das Museale gar nicht schlecht, persönlich. Mir tut weh, wenn ich ein schlecht umge- bautes Haus sehe. Dann habe ich fast lieber ein Ferienhaus, das gut umgebaut ist, als ein Pri- märhaus, das schlecht umgebaut ist. Und ich ärgere mich dann jeden Tag, wenn ich das sehe.“

SPRECHERIN Kulturelle Vielfalt und Offenheit waren hier ebenso zu finden wie Spannungen durch un- terschiedliche Lebensmuster. Vor allem in den siebziger Jahren.

SPRECHER Den Schriftstellern folgten nun Hippies und Aussteiger. Viele kamen aus Zürich. Manche 250 waren auf der Flucht vor ihrer Drogensucht. Diese Capellonis, wie die Onsernoneser sie spöttisch nannten, nisteten sich in verlassenen Gehöften ein und verfallenen Almhütten. Meist ohne Wasser und Strom. Aber in der Hoffnung, im Tal ihre gesellschaftsfernen Träume verwirklichen zu können. Ein Leben in der Natur und ohne Zwänge. Peter Schäfer:

EINBLENDUNG Peter Schäfer „Wir waren zuerst so eine Gemeinschaft. Wir hatten so indianische Ideen. Das war halt damals diese Zeit, dieses Aussteigen und Selbstversorgen. All diese Dinge halt. Das waren Riesenillusi- onen, dass man gedacht hat, man könne sich ein Stück von dieser Welt zurückziehen.“ EINBLENDUNG Sägerei

260 SPRECHERIN Nur wenige dieser „Aussteiger“ haben es geschafft, ihre Ideale lebenspraktisch umzu- 8 setzen. Die meisten sind in die Städte zurückgekehrt. Einige fanden einen Kompromiss zwischen dem abgeschiedenen Leben im Valle und ihrem Platz in der dörflichen Gesell- schaft.

SPRECHER Ueli Pfenniger zum Beispiel betreibt seit über zehn Jahren eine Sägerei, in der das teure Esskastanienholz auf traditionelle Weise verarbeitet wird: 9

EINBLENDUNG Ueli Pfenninger „Es ist eben sehr schwierig, an diesem Standort ein Sägewerk zu betreiben. Das ist richtig. Ent- 270 standen ist das, weil wir dieses Tal gewählt haben, um zu leben. Also, ich bin immer noch sehr glücklich, dieses Tal gewählt zu haben. Es ist ein schlechter Standort, die Zufahrtstraße ist sehr kurvig. Wir können kein Langholz hochfahren, nur einzelne Stämme, die über die Kabine gelegt werden von zehn bis Maximum zwölf Meter Länge. Wenn man auch sagen muss, am Anfang, als wir auf die Suche gingen, haben wir den Platz nicht erkannt, es gab nicht einen Quadratmeter flaches Land. Es war alles Hanglage. Aber ein alter Bauunternehmer hat uns aufmerksam ge- macht. Und tatsächlich, wir haben die Fläche machen können gerade für die Säge und für die Geleise der Säge, und der ganze Rest, das sind Tausende Kubikmeter, ist aufgeschüttet.“

EINBLENDUNG Hans-Jürg Sommer „Moos-Ruef“

280 EINBLENDUNG Anette Korolnik „Jeder war für sich jemand ganz selber. Jeder hat seine eigene Beziehungen zu den Einheimi- schen gepflegt.“

SPRECHERIN Anette Korolnik-Andersch.

EINBLENDUNG Anette Korolnik „Frisch war anders eingebettet, Andersch war auf seine Art eingebettet und Golo dann noch mal. Und Golo, denke ich, hatte eine besondere Stellung, weil, wer war, das hat man bis nach Berzona hinauf gewusst. Mein Vater hatte nicht so einen berühmten Vater und Max Frisch auch nicht. Max Frisch hatte den Vorteil des Schweizers. Auch andere finanzielle Mög- 290 lichkeiten. Und vor allen Dingen auch ganz andere private Strukturen. Also Golo Mann auf sei- nem Adlerhorst, dem Mataruk dort oben, der es vor allem gebraucht hat in den sechziger Jahren, um den Wallenstein ins Reine zu schreiben. Ich seh mich auch als Kind noch die Gassen rauf und runter gehen mit dem Golo. Der hat immer vom Wallenstein geredet.“

EINBLENDUNG Aline Valangin „Ich hatte schon lange die Idee, ich möchte ein Haus haben für mich im Sommer im Tessin.“

SPRECHERIN In Comologno lassen sich Anfang der dreißiger Jahre die Autorin Aline Valangin und der Züricher Staranwalt Walter Rosenbaum nieder.

EINBLENDUNG Aline Valangin 300 „Und dann sah ich mal in der Zürcher Zeitung eine Annonce‚ und da war daneben die Fotografie von einem schlößchenartiges hübsches Haus und da habe ich es gekauft am 1. Mai 1929. Es heißt, es wären zwei Brüder Remonda gewiesen … einer ausgewandert nach Frankreich … er wurde Seidenhändler… Die Leute waren damals noch sehr arm und schauten uns an, als ob wir ein Weltwunder wären. Dabei waren sie eigentlich nicht freundlich gesinnt. Besonders die alte Magd, die das Recht hatte, im alten Haus zu bleiben, war sehr verstimmt, ja, sehr unglücklich, als wir einzogen in dieses Haus. Sie hatte gehofft, dieses Haus würde sie zu eigen zu bekom- men, vererbt … Das Testament war nicht zu finden.“

SPRECHER La Barca, der Palazzo der Brüder Remonda, wird in den dreißiger Jahren bald zum Treff- 10

310 punkt von Emigranten, Politflüchtlingen und Künstlern. Man diskutiert, man erörtert sor- genvoll die Weltlage und vergnügt sich ansonsten nicht schlecht. , Hans Marchwitza, Max Ernst, Meret Oppenheim sind Namen, die der Geschichte der Barca Glanz verleihen. Nicht zu vergessen Kurt Tucholsky. Er bleibt länger im Haus, als Kur- gast, der seinen Leibesumfang verringern will – allerdings ohne Erfolg.

SPRECHERIN In Berzona bildete sich dann in den sechziger Jahren der zweite künstlerische Knoten- punkt mit Alfred Andersch, Max Frisch, Golo Mann, Jan Tschichold und der Verlegerfa- milie Kiepenheuer.

SPRECHER 320 Alfred Andersch, 1914 geboren, 1980 gestorben, empfindlich gegen jede Form von Lärm, lebt seit 1959 mitten im Dorf. Max Frisch, durch Andersch aufmerksam gemacht, kauft sich bald darauf etwas außerhalb ein altes Bauernhaus. Bocciabahn und Schwimmbad werden dazugebaut. Zum großen Ärger von Golo Mann, dem Visionär der Vergangenheit, dem oben auf seinem Berg in heißen Sommern das Wasser ausging, wenn der Kollege unten sein Becken voll laufen ließ.

SPRECHERIN Keine Aline Valangin vereinte die „Großen Drei“ aus Berzona in einem Salon der Poesie. Sie blieben für sich, auch wenn sie manche Wanderungen miteinander unternahmen, sich Besuche abstatteten oder Briefe schrieben wie Golo Mann:

330 EINBLENDUNG Golo Mann „Alfred Andersch war für mich von Anfang an ein sehr hilfreicher und lieber Nachbar. Wenn man sich in solch einem Ort ansiedelt, hat man ja zunächst auch beträchtliche Schwierigkeiten. Ich hatte sie umso mehr, da mein Häuschen hoch über dem Dorf liegt und man die alltäglichen Sa- chen, die man da hinauf bekommt. Die Anderschs haben mir am Anfang einen großen Teppich geliehen und allerlei Sachen, die ich brauchte. Und ich bin ihnen immer dankbar dafür.“

EINBLENDUNG Hans-Jürg Sommer „Moos-Ruef“

SPRECHER Berzona war Rückzugsort und Refugium. Ausgegrenzt aus Zeit und Raum. Man kennt die Bilder: Max Frisch in seinem Schreibturm, Frisch am Granittisch unter der Kastanie 340 im Garten mit der Pfeife im Mund, Frisch mit dem Stift in der Hand. Im Tagebuch, in sei- nem Dienstbüchlein und im „Holozän“ ist Berzona präsent, sind die Menschen aus dem Dorf, Ereignisse und Landschaften in sein Werk eingegangen.

EINBLENDUNG Hörspielausschnitt „James Dean“

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SPRECHERIN Alfred Andersch, der auf den totalitären Staat der Nationalsozialisten mit „totaler Intro- version“ reagierte, hatte in Berzona seine produktivste Phase. Er entwarf Hörstücke, komponierte legendäre Rundfunksendungen darunter „Der Tod des James Dean“. An- dersch schrieb Romane wie „Sansibar“, „Die Rote“, „Efraim“ und „Winterspelt“. Aber Ber- 350 zona blieb im öffentlichen Schreiben eine Leerstelle. Allein in seiner privaten Briefkorres- pondenz spricht der Autor über seine Bergheimat.

ZITATOR Brief Alfred Andersch „Dear mom“,

SPRECHER Stuttgart, 12. Juni 1957

ZITATOR Brief Alfred Andersch „Ich habe im Onsernonetal, einem Gebirgstal, das sich von Locarno aus gen Westen zieht, ein Haus gekauft, ein Tessiner Rustico-Haus mit vier Zimmern, mit Möbeln, Betten, Geschirr und allen Geräten voll eingerichtet, mit Garten, Altane, Terrasse und mit 35 000 360 Quadratmetern Grund, zu denen ein Bach gehört, mehrere Kastanienwälder (Edelkasta- nien!), eine große flache Spielwiese und eine Garage. Wir werden das Haus in den nächsten zwei Jahren nur als Ferienhaus benützen können, denn ich muss es mir ja erst verdienen, und außerdem wollen wir es ein wenig umbauen, aber dann soll es unser ständiger Wohnsitz werden. Die landschaftliche Lage ist völlig einzigartig, Süden und Gebirge in einem. Das Bergnest heißt Berzona, es besteht aus 20 Häusern, die Hollän- dern, Deutschen, Schweizern, Engländern und einer baltischen Baronin gehören, und die Kirche hat den schönsten Campanile des Tessin.“

SPRECHERIN Andersch lebte als einziger der „Großen Drei“ dauerhaft in Berzona. Er war feste Be- 370 zugsgröße sowohl für Frisch als auch für Golo Mann. Der verachtete den luxuriösen Le- bensstil seines Kollegen Max Frisch. Überhaupt missfiel ihm der ganze Mensch:

ZITATOR Brief Golo Mann „Für Max Frisch habe ich wenig Achtung, ohne seine konstruktiven Fähigkeiten und Ge- schicklichkeiten zu verkennen. Aber er ist mir ein gar zu schlauer, kalkulierender und o- bendrein genusssüchtiger Steuerer seines Lebensschiffleins…“

SPRECHER Dagegen war Manns Achtung vor Alfred Andersch sehr groß. Auch wenn sie politisch nicht übereinstimmten, so verband die Autoren Freundschaft und gegenseitige Anerken- nung. Als Andersch 1980 dann starb, notierte Mann in seinem Tagebuch: 12

380 ZITATOR Brief Golo Mann „Der Umgang mit ihm war schwierig und wurde immer schwieriger, was mit latenten Krankheiten zusammenhing, aber ich mochte ihn immer und schätze ihn immer noch. Autant l’homme comme l’écrie-van“.

EINBLENDUNG Anette Korolnik „Und ich glaube…

SPRECHERIN …erinnert sich Anderschs Tochter Anette Korolnik...

EINBLENDUNG Anette Korolnik „…diese Zeit in Berzona war für meinen Vater wichtig, endlich das zu machen, für was er das 390 Gefühl hat, jetzt habe ich gerade noch Zeit. Er stellt einen Elfenbeinturm her. Er ist fünfzig, er will schreiben. Stellt sich auch die Frage, warum hat er nicht über das Tessin geschrieben. Er hat nicht über das Tessin geschrieben, weil er vorher noch dreißig Jahre hatte, über die er schreiben wollte. Er musste all das schreiben, was sein inneres Manuskript vorgegeben hat.“

EINBLENDUNG Marta Regazzoni (mit Übersetzung) „Alfred Andersch war mit Marta weniger streng als mit anderen Leuten. Nur wenn der Helikopter kam, wurde er sehr, sehr wütend und schimpfte... Alfred und Gisela Andersch haben sie nach Rom eingeladen und sie hat das Billett nach Rom immer noch aufbewahrt. Das war beim Tod des Papstes Johannes des XXIII. 400 Sansibar, Die Rote. Es war nicht viel Zeit zum Lesen. Den Holozän. Aber sie hat nicht alles ganz verstanden. Alle Sachen sind vergangen. (lacht laut und herzlich) .

SPRECHERIN Mit dem Tod der großen Schriftsteller ist die Kunst aus dem Valle Onsernone längst nicht verschwunden. Steigt man durch die lichten Kastanienwälder bergaufwärts, so kann es sein, dass auf einer scheinbar verlassenen Maiensässe das Klingen eines Meißels er- tönt, bald ein Steinmetz sichtbar wird, der Masken in den harten Granit schlägt; dass ein Flötenton lockt oder gar fremdartige Gongs und Obertongesänge neugierig machen.

EINBLENDUNG Bernhard Jäger 410 „Ich hab schon lang Musik gemacht. Ich hab dann drei Jahre lang auf dem Balkon geschlafen, weil in der Dreizimmerwohnung haben die Instrumente gestanden und die Klangkörper, und da war einfach kein Raum mehr…“

SPRECHER Bernhard Jäger, Obertonsänger, Gongspieler und Therapeut.

EINBLENDUNG Bernhard Jäger „Bin dann im Onsernonetal einen alten Freund besuchen gegangen. Dann war so dieses Haus, wo wir hier drin sitzen, zum Verkauf ausgeschrieben, hat er mir erzählt. Und ich bin zu diesem Haus gewandert, und es ist ein unglaublicher Platz, ich kam nicht mehr weg hier. Das Tal hat mich fasziniert, die Wildheit des Tales, ich habe nichts gewusst über das Tal, nichts über das 420 Haus, über die Menschen hier, die Wildheit, die positive, schöne Wildheit, die sie hier haben. 13

Man kann sehr viel lernen. Und diese Herzlichkeit und Offenheit im Tal. Und ich habe einfach für die Klangkörper, für die Gongs, alles, was ich gesammelt hatte, eine Heimat gesucht.“

EINBLENDUNG Bardo „Monochord“

SPRECHERIN Chimes, Yet und Jams, Klangschalen und Baligongs, Monochord – die Namen fremdar- tiger Instrumente aus dem asiatischen Raum. Reich an Obertönen. Bernhard Jäger be- herrscht sie alle. Seit rund dreißig Jahren gibt der Deutschschweizer Kurse für Wissen- schaftler, Ärzte, Wellness- und Esoterik-Fans.

SPRECHER 430 Obertonmusik sei überall auf der Welt zu Haus, sagt Jäger. In Indien oder in der Mongo- lei ebenso wie im europäischen Kulturraum. Die Esoterikwelle, die in den achtziger Jah- ren in den Westen zu schwappen begann, habe ihre Wurzeln in der Gregorianik.

SPRECHERIN Doch schon den Ägyptern sollen Obertöne vertraut gewesen sein. Spuren von Oberton- kultur finden sich bei den Kelten, bei der schweizerischen Maultrommelkunst und dann in der gregorianischen Kirchenmusik. Es gibt ein eigenes Notationssystem, mit dem die Mönche das Ansingen der Töne notieren, so dass besonders viele Obertöne entstehen.

EINBLENDUNG Karlheinz Stockhausen „Stimmung“

SPRECHER 440 In den sechziger Jahren ist es die experimentelle Musik, die mit Hilfe ungewöhnlicher In- strumente und Syntheziser den einzelnen Ton in den Mittelpunkt rückt. Verschiedene Musiker und Komponisten entdecken die Obertöne wieder neu. Karlheinz Stockhausen komponiert 1968 „Stimmung, ein Stück für sechs Vokalisten“, Michael Vetter entwickelt den „Weg der Stimme“ im improvisatorisch-meditativen Bereich, David Hyke gründet den New Yorker Harmonie Chor. Und in einem Hamburger Klinikum behandelt man Krebspa- tienten mit dem Monochord.

SPRECHERIN Damals wurde die Obertonkultur enthusiastisch gefeiert. Die Esoterik-Szene propagierte sie als einzigartiges Heilmittel. Heute sei eine gewisse Nüchternheit eingekehrt, resü- 450 miert Bernhard Jäger selbstkritisch, der inzwischen 28 Arten kennt, Obertöne zu singen, und der dabei eine eigene Technik entwickelt hat.

EINBLENDUNG Bernhard Jäger „Also, Obertöne sind ganz einfach zu singen. Ich nehm einen Grundton, den ich gemeinsam hab mit der Natur. Es sind nicht meine Töne, ich leih die. Das ist Physik, das ist Zahlenreihe, das ist Mathematik, und es berührt seelisch sehr stark. Also, ich hab sehr starke Gefühlsentwicklungen, nicht im Sinne von überschwänglichen Emotionen, sondern tiefe Gefühle, die in Tiefen führen 14

oder in Höhen führen können, die nicht vergleichbar sind mit etwas zu lieben. Man spürt immer noch den Geist der Aufklärung, der hier über Jahrhunderte gewirkt hat. Das ist ein Tal, das sehr künstlerisch wirkt, sehr inspirierend, und wir hoffen, dass es nicht vom Tourismus überschwemmt 460 wird, sondern dass die Menschen herkommen, die das suchen. Wir brauchen nicht Menschen, wir brauchen Seelen hier im Tal.“

EINBLENDUNG Hans-Jürg Sommer „Moos-Ruef“

EINBLENDUNG Dimitri „Alphorn“

SPRECHER Verscio, kurz vor der Einfahrt ins Valle Onsernone. Versteckt in einem Gewirr von engen Gässchen, eleganten Palazzi und bäuerlichen Häusern mit steinernen Dächern, befindet sich eine einzigartige Theaterschule: Die Scuola Teatro Dimitri, benannt nach ihrem Gründer Dimitri Jakob Müller.

EINBLENDUNG Dimitri „Belle“

470 SPRECHERIN Seit über 40 Jahren gehört Dimitri zu den großen Clowns unserer Zeit. Mime und Musik- virtuose...

EINBLENDUNG Dimitri „Teatro“

SPRECHER …Theaterdirektor, Spaßmacher und Sprachakrobat...

EINBLENDUNG Dimitri „I’m a rolling stone“

SPRECHERIN …Meister des Seils und des Saltos...

EINBLENDUNG Dimitri „Teatro“

480 SPRECHER Wir treffen Dimitri in seiner Theaterschule. Vor uns sitzt ein agiler, bescheidener Mann, der mit Freude und Lust von seiner Geschichte erzählt. 1935 hier im Tessin geboren, aufgewachsen in einem künstlerischen, anthroposophischen Elternhaus, begeistert Di- mitri Jakob Müller bis heute durch sein poetisch-virtuoses Spiel. Ein Clown, der sich auf dem Theater genauso zu Hause fühlt wie in der Manege. Und dabei auf die üblichen Kli- schees verzichtet: Rote Pappnase, bunte Riesenschuhe und Clownsperücke.

EINBLENDUNG Dimitri „Diese Gegend ist sehr stark mit Energie beladen. Es hat hier überall so Kraftquellen. Und ich glaube, diese Energie spürt man schon, und auch die Bevölkerung hat eine gute Ausstrahlung, 490 also diese Urbevölkerung, die ‚Eingeborenen’, die sind sehr freundlich, sehr bescheiden, offen, 15

humorvoll. Dann gibt es wieder die anderen, die schon ein bisschen verdorbener sind, aus den Städten. Oder die ein bisschen vom Tourismus profitieren wollen. Aber reden wir mal nicht von denen (lacht) .“

SPRECHERIN Heute bringt er mit seinem phänomenalen Lachmund vier Saxophone zum Klingen, gleichzeitig! Er beherrsche viele Instrumente, aber alle schlecht untertreibt Dimitri, und der Schabernack sitzt ihm dabei im Gesicht. Aber: Gut schlecht spielen, das will gelernt sein.

EINBLENDUNG Dimitri „Teatro“

500 SPRECHER 1995 wird Dimitri in die „Clowns Hall of Fame“ aufgenommen, im US-Bundesstaat Wis- consin. Heute ist die Theaterschule sein Lebensmittelpunkt: Über 300 Schüler aus der Bundesrepublik, Norwegen, Chile, Spanien und den USA haben die dreijährige Ausbil- dung abgeschlossen und arbeiten verstreut in aller Welt. Rund 25 000 Menschen besu- chen jährlich die Vorstellungen. Dabei habe sich bei den Bewohnern die Begeisterung für sein Projekt zunächst in Grenzen gehalten, erzählt Dimitri. Einige dachten, seine Schüler seinen drogensüchtig. Doch dann merkte man schnell, dass ernsthafte junge Menschen aus aller Welt zur Ausbildung kamen. Nun ist das Teatro sogar größter Ar- beitgeber am Ort, was aber nicht bedeutet, dass der Cappuccino im Dorf mit einem Salto 510 serviert wird.

EINBLENDUNG Dimitri „Für mich ist das die größte Freude, wenn ich jemandem schnell ein kleines Lächeln abzwingen kann, jemanden zum Lachen bringen kann. Auch unbekannte Leute, Leute auf der Straße, in ei- nem Restaurant, in einem Geschäft, in einem fremden Land. Es ist ein Spiel. Es ist ein Test, im- mer wieder gucken, kann ich noch (lacht). Wie soll ich sagen, es ist auch eine Freude, es ist schön, andere Menschen lachen zu sehen.“

SPRECHER Auf dem Hang gegenüber wohnt ein Neorurale, ein Neubauer. Dauerhaft. Er steigt mit Esel und Hund den zweistündigen, steilen Weg von der Postbushaltestelle hinauf. Einen 520 schweren Rucksack auf dem Rücken, die Tiere ebenfalls mit Tragetaschen. Das Haus akkurat in Schuss, lawinengesichert, nach den neuesten Ökostandards, ausgestattet mit Sonnenkollektoren.

EINBLENDUNG Charles Suter „Wenn man hier in die Berge geht, dann stößt du überall an das, was hier gemacht wurde. Die- sen Kampf zwischen Natur und Kultur. Und das finde ich etwas Faszinierendes.“

SPRECHERIN Charles Suter, Professor für Psychologie und Leiter der Fachhochschule Zürich. Seine 16

Familie kommt aus Berzona, der Großvater war dort einige Jahre Syndaco - Bürgermeis- ter.

530 EINBLENDUNG Charles Suter „Zu diesem Haus gehört auch ein Monte. Das ist mittlerweile eine eidgenössisch aprobierte Ma- gerwiese, also höchste Bergzone. Dann gibt es x Vorschriften. Man darf mähen erst nach dem 15. Juli, man darf nicht düngen, man darf nicht fehlweiden lassen. Ist ja alles gut, aber jetzt mä- hen wir das alles schön brav. Es gibt eine Tonne bestes Heu. Mit dem Helikopter rüber zu einem Kollegen, der oben fest wohnt mit etwa 40 Geißen. Aber das ist auch widersinnig, in den Monti hat man nicht gelebt. Das waren die Maiensässen. Und er lebt jetzt da oben, da funktioniert es mit dem Heu nicht mehr. Also, sind x Widersprüche.“

SPRECHER Mit modernster Technik zurück zur Natur. Musealisierung auf der einen, Modernisierung 540 auf der anderen Seite. Der Grat zwischen Bewahren und Konservieren, zwischen neu Gestalten und Zerstören ist schmal. Das eine scheint ohne das andere kaum zu gehen und eine Synthese ist selten machbar. Zumal Zugezogene, Touristen und Einheimische ganz unterschiedliche Vorstellungen vom rechten Leben haben. Die einen suchen die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihre Spuren zu tilgen, die anderen wollen gera- de in ihr einen neuen Lebenssinn finden. Und sei es in Freizeit und Ferien.

EINBLENDUNG Hans-Jürg Sommer „Moos-Ruef“

EINBLENDUNG Lou Nüscheler „Der Kirchenturm, der Glockenturm, wo die Kinder läuten gehen, und die schmale Gasse zu Mar- ta, ihre Blumen auf der Treppe, und was sehr stark an Farbe da ist, ist der Swimmingpool von 550 Max Frisch seinem Haus, weil er so türkisblau ist (lacht) .“

EINBLENDUNG Marta Regazzoni „Im Sommer, alle Kinder, wenn sie in den Ferien kommen, wollen sie alle läuten. Aber jetzt nie- mand. Wenn ich nimmer bin da. Fertig. Muss eine mechanische machen.“

EINBLENDUNG Glockenläuten

EINBLENDUNG Hans-Jürg Sommer „Moos-Ruef“