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Günther Rüther

Von einem schwierigen zu einem offenen Verhältnis. Vordergründiges und Hintergründiges zur Literaturwerkstatt in Cadenabbia

1991, ein Jahr nach der Wiedervereinigung Deutschlands, gestand Jürgen Habermas in einem Essay für die Wochenzeitung Die Zeit: „Aus der Retrospektive erkenne ich, dass ich seinerzeit, als Student, Adenauers große Leistung – die energische Einbindung der Bundesrepublik in die westliche Allianz und das westliche Gesellschaftssystem – in seiner historischen Tragweite nicht richtig eingeschätzt habe. Alle meine Haare sträubten sich damals gegen Adenauer“. Was ist an diesem Bekenntnis so bemerkenswert, um damit einen Beitrag in einer Anthologie mit Gedichten und Prosatexten einzuleiten, die ihren Ursprung in Cadenabbia, dem ehemaligen Feriendomizil Konrad Adenauers, dem heutigen internationalen Bildungszentrum der Konrad-Adenauer-Stiftung haben? Dahinter steht vor allem eine doppelte Erkenntnis des Irrtums. Die große Mehrzahl vor allem der Linksintellektuellen hat erkannt, dass die Ära Adenauer einen wesentlichen Beitrag zur Rückkehr Deutschlands in die Internationale Staatengemeinschaft und zur inneren politischen Stabilität unseres Landes geleistet hat. Führende Politiker auch aus der damaligen Zeit, vor allem aus den Kreisen der Union, haben längst eingestanden, dass die Intellektuellen, insbesondere ihre Kritik, für die Ausbildung und Fortentwicklung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung unverzichtbar sind. Dies galt damals und es gilt auch heute. Kritik ist auch dann berechtigt, wenn sie sich gegen sensible Vorhaben der Regierungspolitik wendet, wenn sie ganz oder zum Teil an der politischen Realität vorbeigeht oder Repräsentanten des Staates persönlich angreift. Die Intellektuellen haben erfahren, dass der Staat in der Bundesrepublik Deutschland sie deshalb nicht unterdrücken wird, sondern als unbequeme, freie und des Wortes mächtige Bürger akzeptiert. Die politische Elite hat gelernt, dass die Intellektuellen ihre Kritik nicht als Fundamentalopposition begreifen, sondern als geistige Herausforderung, als Anstoß zu eigenständigem Denken, als Hefe im Sauerteig der Demokratie. So hat der doppelte Irrtum zur Erkenntnis geführt, die Erkenntnis zur wechselseitigen Anerkennung ihrer unterschiedlichen Aufgaben in Staat und Gesellschaft. Zu den wenigen international angesehenen Intellektuellen, die sich

15 Günther Rüther dieser verbreiteten Erkenntnis verweigern, zählt nach wie vor Günter Grass. Er gehört zu den unbelehrbaren Kritikern der Ära Adenauer. Offenbar verblendet, wie seine von ihm im Sommer 2006 publizierte Offenbarung zeigt, in den Nationalsozialismus als junger Soldat der Waffen-SS verstrickt gewesen zu sein, gelingt es ihm bis heute nicht, seine unbändige Wut selbst denjenigen gegenüber zu überwinden, die wie zwar in der Weimarer Republik in Amt und Würde standen, aber im Gegensatz zu ihm selbst der Verführung des Nationalsozialismus widerstanden. Cadenabbia hat zu dem beidseitigen Erkenntnisprozess beigetragen, weil diese Gemeinde am Ufer des Comer Sees schon in der Ära Adenauer ein begehrter Ort der Begegnung gewesen ist, vor allem für die Politik, aber eben nicht nur. So empfing Konrad Adenauer dort u.a. Oskar Kokoschka, der eines der bemerkenswertesten Portraits des Altkanzlers erstellte. Auch besuchte Cadenabbia. Adenauer lud ihn ein, weil ihn dessen Rezensionen zu seinen bandweise erscheinenden Lebenserinnerungen in der Zeit beeindruckten. Beide Begegnungen förderten den Respekt für einander. Sie führten Geist und Macht, wenn auch zu einem späten Zeitpunkt, zusammen, als Konrad Adenauer sein Amt als Kanzler schon an Ludwig Erhard abgetreten hatte. Golo Manns Vater Thomas fand, dass beide Sphären ohnehin nicht zu trennen seien, wie er in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen schreibt, weil sie den Menschen zum Gegenstand haben, „darum sind sie, wenn nicht identisch, so doch untrennbar zusammengehörig“. Von dieser Zusammengehörigkeit war jedoch in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland wenig zu spüren. Dies erfuhr auch Jürgen Habermas. Erst seit einigen Jahren zählt er, Parteigrenzen überschreitend, zu den bedeutendsten und anerkanntesten Intellektuellen der Bundesrepublik Deutschland. Sicher trug dazu auch seine bemerkenswerte Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Frankfurt bei, wo er sich positiv zum Christentum äußerte und von der Bedeutung religiöser Sinngehalte auch für den „religiös Unmusikalischen“ sprach. In seinem Dialog mit Joseph Kardinal Ratzinger in der katholischen Akademie in München führte er seine Position weiter aus. Habermas ist längst zu einem viel beachteten und diskutierten Intellektuellen auch in christdemokratischen Kreisen geworden. Wenn es dafür eines Beleges bedürfte, sei auf die Rede des Bundestagspräsidenten und

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stv. Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung Norbert Lammert verwiesen, die dieser im Bon- ner Haus der Geschichte im Rahmen eines Sym- posions zur Leitkultur-Debatte am 3.5.06 hielt. Aus alledem ist vor allem eine Schlussfolgerung zu ziehen: Geist und Macht begegnen sich seit Mitte der achtziger Jahre immer weniger wie sich fremde Botschafter in der Zeit des Kalten Krieges. Beide Seiten sind aufeinander zugegangen. Aus einem schwierigen Verhältnis wechselseitiger Enttäuschungen ist ein offenes Verhältnis wachsender Gesprächsbereitschaft und Akzeptanz erwachsen. Diese qualitative Veränderung schließt auch die Vorzeigeintellektuellen, die Meister des geschliffenen Wortes, die Schriftsteller, mit ein. In den fünfziger Jahren polterten sie gegen das politische Establishment. Wolfgang Koeppens Roman-Trilogie über das schwüle Treibhaus-Klima in der sich gerade zu kleinem, neuem Wohlstand aufschwingenden Bonner Republik erschütterte Staat und Gesellschaft. Aber nicht der eher stille, introvertierte , sondern die auch öffentlich Wortgewaltigen Heinrich Böll und Hans Werner Richter, Initiator, Katalysator und Spiritus rector der Gruppe 47, avancierten zu den intellektuellen Gegenspielern der Politik in der Ära Adenauer. Der Vorwurf der Restauration wurde erhoben und machte die Runde. Er traf die politische Elite und weite Teile der Gesellschaft tief ins Mark, gerade weil nicht ganz klar wurde, worauf er tatsächlich abzielte. Sollte damit unterstellt werden, dass in der Bonner Republik nationalsozialistisches Denken aus der Zeit der Hitler-Diktatur fortleben oder sogar gefördert würde? In jedem Fall wurde damit den sichtbaren und allenthalben spürbaren Erfolgen des Wiederaufbaus und der Demokratisierung der Gesellschaft eine negative Gründungslegende entgegengesetzt, die bis heute fortlebt. Gemeint war damit wohl der Anfangsverdacht, statt eines politischen und wirtschaftlichen Neuaufbaus würden in der Bundesrepublik alte Verhältnisse kultiviert oder z.T. wiederhergestellt. Aber was waren alte Verhältnisse?

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Richtig ist, dass es die sogenannte „Stunde Null“ nicht gegeben hat. Richtig ist auch, dass viele ehemalige Nazis auf der Bonner Bühne wieder auftraten, und richtig ist, dass sich die politische Klasse völlig erneuert hat. Personelle Kontinuitäten etwa der Abgeordneten im Deutschen Bundestag reichten bis in die Weimarer Republik zurück, nicht aber in die NS-Regierung oder den Parteiapparat der NSDAP. Der Vorwurf der Restauration wurde dennoch zum Pauschalverdikt linker Intellektueller und zu ihrem gesellschaftspolitischen Glaubensbekenntnis. Er richtete sich gegen den fortschreitenden Wiederaufbau der Bundesrepublik und den wachsenden Wohlstand für breite Teile der Bevölkerung. Vielen erschien diese Entwicklung angesichts des nur wenige Jahre zurückliegenden Terrors, den die Deutschen in Europa und anderen Teilen der Welt entfacht haben, als unverdient und unangemessen. Der Vorwurf richtete sich aber auch gegen die politische Elite, vor allem die politischen Repräsentanten der Union, die an diesen politischen und wirtschaftlichen Erfolgen erheblichen Anteil hatten. Die Intellektuellen, insbesondere die Schriftsteller, leisteten Widerstand in besseren Zeiten. Es war ihre Form der Wiedergutmachung für unterlassene oder aufgrund der ‚Gnade der späten Geburt‘ nicht mögliche Zivilcourage im „Dritten Reich“. Manche bezeichnen dieses Verhalten als eine Art nachholenden Widerstand, der sich hier mit dem latenten Faschismusvorwurf als präventiver Faschismusverdacht manifestiert. Vor allem Schriftsteller konnten sich nicht vorstellen, dass es nach den verheerenden Erfahrungen mit dem deutschen Staat im Zwanzigsten Jahrhundert zu einem erfolgversprechenden Neuanfang gekommen war. Zudem fühlten sie sich „wieder einmal von der Macht im Stich gelassen; sie gewannen mehr und mehr den Eindruck, dass man nicht auf sie hörte, ihre Kritik nicht beherzigte, ihre dauernde Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten als störend empfand“ (Kurt Sontheimer). Im anderen Teil Deutschlands, der DDR, suchte das SED-Regime den Schulterschluss zwischen Geist und Macht. Wie der Antifaschismus gehörte diese Symbiose zur Gründungslegende der DDR. So gab es denn auch keinen nennenswerten Kongress der Schriftsteller, an dem nicht auch die Spitzen des kommunistischen Staates teilnahmen und das Wort führten. Die SED verwöhnte die Intellektuellen, indem sie ihnen ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkte, zumindest solange sich diese in den Dienst des Regimes stellten.

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Ganz anders verhielt es sich in der Bundesrepublik. Der Staat und seine wichtigsten Repräsentanten vernachlässigten die Beziehung zu den Schriftstellern. Man schenkte ihnen kaum Aufmerksamkeit und zog sich in den Schmollwinkel des Missverstandenen und Beleidigten zurück. Diese Grundhaltung fand in den Verbalinjurien Mitte der sechziger Jahre seinen schrillen öffentlichen Ausdruck, als u.a. der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard öffentlich wegen der harschen Kritik am politischen System der Bundesrepublik Deutschland im Allgemeinen und der CDU/CSU geführten Bundesregierung im Besonderen die Schriftsteller als „kleine Pinscher“ bezeichnete. Die Jahre der außerparlamentarischen Opposition und die Solidarität, die einige Schriftsteller, wie beispielsweise , der Studentenrevolte entgegenbrachte, indem er selbst dem politischen Umsturz das Wort redete, führten zu einer öffentlichen Vergiftung des traditionell schwierigen, deutschen Verhältnisses von Geist und Macht. Erst als Mitte der achtziger Jahre in der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl beide Seiten erkannten, in welchem Maße sie auf einander angewiesen sind, und dies auch öffentlich einräumten, kam es zu einer nachhaltigen Entspannung des politisch-kulturellen Klimas. Die Politiker, allen voran die Christlichen Demokraten, haben ihr Verhältnis zu den Intellektuellen neu justiert. Heute wird niemand mehr ernsthaft bestreiten, dass die Intellektuellen, insbesondere die Schriftsteller, einen wesentlichen Beitrag zur Ausformung einer demokratischen Kultur in den zurückliegenden Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland und inzwischen auch in den zurückliegenden sechzehn Jahren im wiedervereinigten Deutschland entgegen manchen schrillen Äußerungen zu Beginn des Vereinigungsprozesses geleistet haben. Sie haben als scharfe Analytiker, unbequeme Mahner und nicht selten auch als polemische Wortführer die Streitkultur in unserem Lande mitentwickelt und hoffähig gemacht. Da sie dies im Gegensatz zur Weimarer Republik in der Regel von einem antitotalitären Standpunkt aus taten, trugen sie ganz maßgeblich zur Kultur der modernen Bürgergesellschaft, zu Zivilcourage und zur Einübung der Meinungsfreiheit bei. Es ist inzwischen zu einem Allgemeinplatz geworden, wenn man hervorhebt, dass die Demokratie die Intellektuellen nicht nur für die Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses, sondern auch für den öffentlichen Diskurs, die Entwicklung eines kritischen

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Bewusstseins und gegen die vermeintlichen Gewissheiten der Mächtigen braucht, wie der Mensch saubere Luft zum Atmen. So wie die führenden Repräsentanten unseres Staates und die Spitzen der politischen Parteien ihren inneren Frieden mit den Intellektuellen geschlossen haben, so ist dies auch umgekehrt geschehen. So findet Hans Magnus Enzensberger neben nicht nachlassender Streitbarkeit und geringer Reizschwelle hin und wieder zumindest auch anerkennende Worte über Staat und Gesellschaft. So bezeichnet er sie in dem lesenswerten Essay Mittelmaß und Wahn (1988) immerhin als „Durchschnitt und Spitze zugleich“ und entdeckt ein Gemeinwesen „von seltener Buntscheckigkeit. Das Mittelmaß, das in dieser Republik herrscht, zeichnet sich durch ein Maximum an Variation und Differenzierung aus. Subjektiv erscheint diese bewegliche Mischung als ein Zuwachs an Freiheitsgraden, Chancen, Wahlmöglichkeiten.“ Und damit nicht genug, wendet er sich gegen nostalgische „Beschwörungen vergangener Lebenswelten“, die „Verklärung altbürgerlicher Milieus“ oder „die wehmütige Erinnerung an die proletarische Kultur“. Den Vorwurf der Restauration aus den fünfziger Jahren bezeichnet er ebenso schlicht wie zutreffend als Augentäuschung vor allem linker Intellektueller. Lakonisch fügt er hinzu: „Überhaupt ist es, nach drei, vier Jahrzehnten, an der Zeit, zu konstatieren, dass die Kritiker der westdeutschen Gesellschaft, die zur linken wie zur rechten Hand, vom Pech verfolgt waren. Ihre Deutungen haben sich nicht nur als ohnmächtig erwiesen, sie waren falsch.“ Bei soviel Erkenntnis des Irrtums von höchster Instanz blieb es natürlich nicht aus, dass auch andere ihre Position und ihr Verhältnis zu Staat und Politik durchdachten und sich öffentlich erklärten. Erfreulich ist daran vor allem, dass sich daraus ein neues Loyalitätsverständnis der Intellektuellen entwickelt hat und dass ihr abgrundtiefes Misstrauen gegenüber der politischen Macht überwunden zu sein scheint. Glücklicherweise hat sich die politische Elite nicht in die Position des „wußten wir schon immer“ begeben, sondern die Bereitschaft zum offenen Dialog ohne Rechthaberei und ohne die Wiederholung alter Schuldvorwürfe aufgegriffen.

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Auf dieser sich abzeichnenden, veränderten politisch-kulturellen Grundlage entschied sich der Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung auf Vorschlag des damaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel bereits 1984 dazu, die Förderung von Kunst und Kultur zu einer Kernaufgabe der Stiftung zu machen. So entstanden nach und nach verschiedene Veranstaltungsformate von Dichterlesungen bis zu Kunstausstel- lungen, von literarischen Symposien bis zur Künstlerförderung, von Konzertaufführungen bis zu Hommagen, auf denen namhafte Künstler, Schauspieler oder Schriftsteller in besonderer Weise geehrt wurden. Einen besonderen Höhepunkt bedeutete für dieses neue offene Verhältnis von Geist und Macht, oder konkreter von Politik und Literatur, die Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung 1993 in Weimar an . Damit wurde eine Lyrikerin drei Jahre nach der Wiedervereinigung ausgezeichnet, die sich in beiden deutschen Staaten zuhause fühlte und deren Literatur sowohl Ausdruck der Teilung wie der Einheit Deutschlands war. Inzwischen ist der Literaturpreis, der, wie es in der Präambel heißt, der Freiheit das Wort geben möchte, vierzehn mal, zuletzt im Juni 2006 an vergeben worden. Dieser Preis steht seit 1995 in engem Zusammenhang zur jährlich stattfindenden Literaturwerkstatt der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cadenabbia, an der inzwischen ca. einhundert Schriftsteller und Schriftstellerinnen vor allem aus Deutschland teilgenommen haben. Viele bekannte Schriftsteller besuchten inzwischen Cadenabbia nicht nur im Rahmen der Literaturwerkstatt: Borchers, Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Thomas Hürlimann, Norbert Hummelt, Wulf Kirsten, , Hartmut Lange, , Patrick Roth, Hans-Joachim Schädlich, Burkhard Spinnen, . Schriftsteller lesen hier bei der Werkstatt vor allem aus unveröffentlichten Arbeiten, diskutieren und treffen sich zum Gespräch. Die Öffentlichkeit wird nicht gesucht. In den Lesungen geäußertes Lob oder auch Tadel bleiben intra muros. Auf den Gedanken, nach den Lesungen politische Resolutionen zu erarbeiten oder politische Stellungnahmen vorzubereiten, um damit Aufmerksamkeit in

21 Günther Rüther den Medien zu erlangen, wie es in der Gruppe 47 immer wieder geschehen ist, verfiel noch niemand. Es ist auch völlig abwegig, weil es zu keinem Ergebnis führen und das Ende der Literaturwerkstatt in der Konrad-Adenauer-Stiftung bedeuten würde. Cadenabbia ist zu allererst ein Ort des Dialogs. Das hört sich banal an, weil heute bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit gesprochen wird. Manche tun es im Gottesdienst und stören andere, die innere Ruhe suchen, manche tun es aber auch alleine vor dem Fernseher in dem Glauben, die Akteure auf dem Bildschirm würden zuhören. Die Villa La Collina in Cadenabbia bietet wie nur wenige andere Orte die Chance zu sprechen, zu hören und sich im Gespräch zu begegnen. Dieses Sich-Aufeinander-Einlassen ist zum Genius loci der Literaturwerkstatt geworden. Im Mittelpunkt steht das Gespräch über die Literatur, gelesene Texte, neue Vorhaben, Preise, Erfahrungen mit Verlegern und Verlagen, aber natürlich geht es hin und wieder auch um politische Themen. Vor allem, wenn namhafte Politiker wie Bernhard Vogel oder Norbert Lammert an der Literaturwerkstatt selbst teilnehmen und mitdiskutieren. Da es, wie Jens Jessen in der Zeit vom 2. Juni 2005 behauptet, keine „CDU- Schriftsteller“, wohl aber „SPD-Schriftsteller“ gebe, besagt dies nicht mehr, aber auch nicht weniger, wenn denn diese inzwischen wohl angestaubte und auf einen Realitätsverlust hinweisende These stimmt, dass die Konrad-Adenauer- Stiftung keine Probleme mit der Weltanschauung der Autoren hat, die sie nach Cadenabbia oder bei anderer Gelegenheit einlädt. „Tatsächlich sind“, schreibt Norbert Lammert in einer Replik auf Jens Jessen, auch „die Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung parteipolitisch unauffällig! Aber ist es nicht Ausweis politischer Souveränität und eines nicht instrumentellen Kulturverständnisses, wenn sich die Auswahl von Autoren für den auch deshalb inzwischen renommierten Literaturpreis eben nicht am Maß ihrer CDU-Nähe, sondern allein ihres künstlerischen Niveaus orientiert?“ Die Konrad-Adenauer-Stiftung sucht den Dialog mit Schriftstellern nicht aus vordergründigem parteipolitischem Interesse, sondern weil ihr der Dialog zwischen Politik und Literatur wichtig ist und sie dazu beitragen möchte, dass das in den letzten 20 Jahren gewachsene offene Verhältnis zwischen Geist und Macht, Literatur und Politik erhalten bleibt und sich weiterentwickelt. Sie hat diesen Dialog nicht zuerst aufgenommen, aber sie hat ihn in den letzten 20 Jahren in einer Weise gepflegt und intensiviert wie nur wenige andere politische

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Institutionen. Die Schriftsteller nehmen unsere Einladungen, Ehrungen und Auszeichnungen an, weil sie nicht vom Geist der Gruppe 47 beseelt sind, von der Daniel Kehlmann, der Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung 2006 und ehemalige Teilnehmer der Literaturwerkstatt in Cadenabbia, sagt, dass sie alles andere als nur segensreich gewirkt habe, weil sie eine Lobby gegen die Vertriebenen von bis Hans Sahl gebildet habe. Sie organisierte die Herausbildung des Literaturbetriebes im Nachkriegsdeutschland. Sie gab sich offen, war aber in Wirklichkeit politisch und poetologisch festgelegt. Sie bekämpfte die Ära Adenauer und schloss die internationale Moderne der Literatur in ihrem Programm aus. Auch wenn der Literaturnobelpreisträger Günter Grass, einst einer der Häuptlinge der Gruppe 47, nach wie vor versucht, im alten Geiste den Dialog zwischen Literatur und Politik parteipolitisch auffällig zu organisieren, so möge er dies tun. Nicht nur die Konrad-Adenauer-Stiftung, auch die meisten Schriftsteller haben aus der Erkenntnis des doppelten Irrtums gelernt; es lohnt sich Vorurteile zu überwinden und frei nach Martin Buber zu verfahren: Wir haben keine Lehre. Wir suchen das Gespräch.

aus: Vogel, Bernhard (Hrsg.): Cadenabbia als literarischer Ort. Schriftsteller am Comer See, LIT Verlag, 2006

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