Schweizer Gegenwartsliteratur

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Schweizer Gegenwartsliteratur 513 Exkurs 1: » ... fremd und fern wie in Grönland«• Schweizer Gegenwartsliteratur Die Schweiz, von Deutschland aus betrachtet-da entsteht das Bild einer Die Schweiz Insel: eine Insel der Stabilität und Solidität und Neutralität inmitten eines Meeres politisch-ökonomischer Unwägbarkeiten und Unwegsam- keiten. Eine Zwingburg der Finanz- und Währungshoheit, eine calvinisti- sche Einsiedelei, in der das Bankgeheimnis so gut gehütet wird wie an- dernorts kaum das Beichtgeheimnis, getragen und geprägt von einem tra­ ditionsreichen Patriarchat, das so konservativ fühlt wie es republikanisch handelt, umstellt von einem panoramatischen Massiv uneinnehmbarer Gipfelriesen. Ein einziger Anachronismus, durchsäumt von blauen Seen und grünen Wiesen und einer Armee, die ihresgleichen sucht auf der Welt. Ein Hort »machtgeschützter Innerlichkeit<<, mit Thomas Mann zu reden - eine Insel, von Deutschland aus betrachtet. Mag dieses Postkartenbild auch als Prospektparodie erscheinen - es entbehrt doch nicht des Körnchens Wahrheit, das bisweilen auch Pro­ spekte in sich tragen. >>Was die Schweiz für viele Leute so anziehend macht, daß sie sich hier niederzulassen wünschen, ist vielerlei<<, wußte schon zu Beginn der 60er Jahre ein nicht unbekannter Schweizer Schrift­ steller, Max Frisch nämlich, zu berichten: >>ein hoher Lebensstandard für solche, die ihn sich leisten können; Erwerbsmöglichkeit; die Gewähr eines Rechtsstaates, der funktioniert. Auch liegt die Schweiz geogra­ phisch nicht abseits: sofort ist man in Paris oder Mailand oder Wien. Man muß hier keine abseitige Sprache lernen; wer unsere Mundart nicht ver­ steht, wird trotzdem verstanden.( ...) Die Währung gilt als stabil. Die Po­ litik, die die Schweizer beschäftigt, bleibt ihre Familienangelegenheit.<< Kurz: >>Hier läßt sich leben, >Europäer sein<.<< Soweit das Bild- von der Schweiz aus betrachtet-, das sich die Deutschen von ihr machen. Und das sie sich, nach dem Willen vieler Schweizer, vielleicht ihrerweit über• wiegenden Mehrheit, auch getrost machen dürfen. Es dient dem nationa­ len Wohlbefinden -wir Deutschen wissen dies, weil es uns fehlt. Wir wissen auch oder könnten doch wissen: Das Bild ist falsch. Oder Widersprüche wenn nicht gerade falsch, so doch ein Zerrbild. Oder wenn nicht dieses, so doch nicht die ganze Wahrheit über die Schweiz. Da fehlt manches, da sind Retuschen vorgenommen, Unschärfen gibt es und mangelnde per- spektivische Schärfe. Das Bild entbehrt des Hintergrundes und der Kon- traste, der Widersprüche und damit einer Lebendigkeit, die auch Inseln, und gerade sie, auszeichnen. Das Bild ist also unvollständig. Denn diese Widersprüche und Kontraste, Hintergründe und Perspektiven- sie sind, buchstäblich, aufgezeichnet, literarisch fixiert in vielfältigen Korrektur- vorschlägen, die sich zur gängigen Glanzpapierverklärung der Schweiz verhalten wie zur Leuchtkugel die Schwärze der Nacht: Diese erst bringt die Flüchtigkeit zur Erscheinung, in der jene erstrahlt. >>Schwärze der Nacht<<- die Metapher trifft die Sache. >>Ich sah den »Marse< schwarzen Vogel der Taschenbuchausgabe von Mars aufvielen Pulten<<, notierte AdolfMuschg (geb. 1934) in Erinnerung an die Zeitseiner Frank- furter Poetik-Vorlesungen. Er gab ihnen- man schrieb das Jahr 1980- den Titel Literatur als Therapie. Das Emblem des >>schwarzen Vogels<<- eines Unglücks-Vogels: Bote eines nahen Todes -findet sich auf dem Ein- band des Textes, der offenbarzur Identifikation einlud. Er beginnt mit den Sätzen: >>Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein. Ich stamme aus einer der allerbesten Familien des 514 Exkurs 1: Schweizer Gegenwartsliteratur rechten Zürichseeufers, das man auch die Goldküste nennt. Ich bin bür• gerlich erzogen worden und mein ganzes Leben lang brav gewesen. Meine Familie ist ziemlich degeneriert, und ich bin vermutlich auch ziem­ lieh erblich belastet und milieugeschädigt. Natürlich habe ich auch Krebs, wie es aus dem vorher Gesagten eigentlich selbstverständlich hervor­ geht.« Lakonismus und Beiläufigkeit dieses Auftakts spielen mit dem Ab­ grund, auf den er in Wahrheit hinführt. Das Sterben ist der Anlaß des Schreibens. Das Thema ist: die Schweiz. Aufgewachsen in »der besten aller Welten«, problemlos, konfliktlos, meinungslos, sorglos: comme il faut. Fritz Zorn ( d. i. Fritz Angst, 1944-1976) ist das Pseudonym eines Krebskranken, der mit seinem Schreiben ankämpft gegen die tödliche Krankheit- und mit 32 Jahren, einen Tag, nachdem er von der bevorste­ henden Veröffentlichung seines Werks erfahren hat, seinem Leiden er­ liegt. Sein Buch ist das Dokument dieses Kampfes, ein einziger autisti­ scherTraktatüber die Lebensunfähigkeit unserer- derwestlichen- Ge­ sellschaft, überihre Kulturlosigkeit, ihre Unfähigkeitzum Mitleiden, ihre Verhärtungen und die Verstörungen, die von ihr ausgehen. Fritz Zorn deu­ tet sich seine letzte Lebenszeit im Zeichen des Krieges, im Zeichen des Kriegsgottes Mars, der dem Buch den Titelleihen sollte: »Ich erkläre mich als im Zustand des totalen Krieges«, lautet der letzte Satz des Autors. Sein Buch ist-um den Titel von Rimbauds letztem Werk aufzunehmen­ »Une saison en enfer«. Seine Vision von der Schweiz entwirft eine bürgerli• che Hölle. Das Schwarz der Hölle. Offenbar bot es den jungen deutschen Lesern des Jahres 1980 eine ldentifikationsmöglichkeit, wenn nicht gar-im zeit­ genössischen Kontext von Innerlichkeit und Neuer Subjektivität- einen Spiegel der eigenen, narzißtischen Betroffenheit: >>Literatur als Thera­ pie<<, als jenes seit Goethes Werther nicht seltene Medium, in dem eine ganze Generation von Lesern die eigene Seelen- und Problemlage wie­ derzuerkennen meint. »Aus dem einsamen Lebens- und Todesbericht<<, so AdolfMuschg, »ist eine Projektionsfigur, ja ein Mythos für eine ganze Generation geworden. Sie nimmt >Mars< nicht mehrnureine gesellschaft­ liche Krankheitseinsicht ab. Sie findet darin die tröstlich-summarische Schuldigsprechung der Eltern. Ein scheinlebendiges Milieu darfverant­ wortlich gemacht werden; das ist ein Freibrieffür die eigene Hoffnungs­ losigkeit.<< Wäre es so, dann müßte sich die Frage anschließen: Wie reprä• sentativ ist die Farbe Schwarz für die gegenwärtige Schweizer Literatur wirklich? Handelt es sich bei diesem Text eines jungen Schweizers nicht um ein eher bekenntnishartes Werk? Läßt sich nicht sein verzweifelter Ton aus seinerTodesgewißheit leicht erklären? Ist denn dergleichen nicht hinlänglich bekannt: ein expressionistischer Aufschrei in der Tradition des »Ü Mensch<<, beglaubigtzumal durch den eigenen Ton?Und die iden­ tifikatorische Lektüre - ein echohaftes Mißverständnis? Ist nicht Fritz Zorns Mars ein Ausnahmefall, ein Extrem, ein Exzeß eher denn ein reprä• sentatives Werk, dem sich Verallgemeinerbares ablesen ließe? Dissidenz Literaturist in diesem Sinne nie nur» repräsentativ<<. Es gibt sie nicht als etwas Mittleres, als Durchschnitt, als Quintessenz oder Extrakt. Von ihr läßt sich kein Maßstab abziehen, der verbindlich sein könnte. Sie liefert nicht das Exemplarische- es sei denn eben in der Form des Ausnahme­ falls. Als Ausnahmefall aber, den jedes literarische Werk in sich darstellt, ist dieser Aufschrei so einzigartig wie beispielhaft. Entfremdung und Be­ ziehungslosigkeit, Unversöhntheit und Todesnähe- Fritz Zorn hat viele Verwandte in der Schweizer Gegenwartsliteratur. Denn wen sehen wir, Exkurs 7: Schweizer Gegenwartsliteratur 515 wir Deutschen, wenn wir einmal absehen von den beiden Klassiker­ Monumenten Frisch und Dürrenmatt, die uns stets als erste bei jenem na­ tionalstaatlichen Stichwort »Schweiz« einfallen? Wir sehen jenen Dr. phil. Peter Albisser, dessen »Grund« für einen Mordanschlag auf sei­ nen Therapeuten Zerutt AdolfMuschg in seinem vielgerühmten Roman Albissers Grund ( 1974) nachspürt. Ein kompositorisch vielschichtig auf­ gefächertes Werk, in dem es um die unmögliche Möglichkeit geht, Bezie­ hungen zu Menschen aufzubauen, Kommunikation, Formen der Verstän• digung, Freundschaft gar zu entwickeln, eine Identität, die Heimat heißen könnte. Wie aber sagt jener Dr. Albisser, zu dem Mann, den er später er­ schießen wird: >>Ich mußte dreißig Jahre alt werden, um mirwenigstens den Verdacht zu erlauben, daß das nicht meine Leute waren. Ich mußte erst etwas geworden sein, bis ich sicher war: es hatte sich nicht gelohnt. Ich hatte mich von kleinen Strebern um mein Leben betrügen lassen.« Adolf Muschg Dr. Albisser, wie Fritz Zorn, ist Gymnasiallehrerund er hat seinen Schwei- zer Kontrahenten an einem Sozialtypus, wie wirihn auch in Fritz Zorns At­ tacke finden, in Dr. Egli, Staatsanwalt, der Albissers Motiven auf den Grund kommen soll: >>Das Ordentliche, findet er, verdient Schonung, es versteht sich schließlich nicht von selbst«-Bürgersinn versus Dissidenz. Wen noch s ehen wir, wir Deutschen, im Blick auf die Schweizer Gegen­ wartsliteraturminus Frisch und Dürrenmatt?Wirsehen in Hermann Bur­ gers ( 1942-1989) Sprachwucherungsmonolog Schiften ( 1976) einen Leh­ rer, einen Dorfschullehrer diesmal, der in kompliziertesten Sprachwen­ dungen und -erfindungen, umständlich, endlos, introvertiert, den> Anger­ schwermut« seines Dorfes H err zu werden trachtet. Eine Existenz im Schatten des Todes, Vorentwurfvon des Autors Freitod, ein Schreiben zur Bannung desFremds eins, eine Totalität der Isolation , deren Autarkie sich, wie in Burgers letztem Roman Brenner(1989) auch, im Kosmos der Spra­ che reproduziert. Die Schweiz als Nährboden der Verzweiflung und des Wahns, vergleichbar dem abgründigen Kosmos, den Gerold Späth (geb. Hermann Burger 1959; Unschlecht, 1970; Commedia,
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