Montag, 26. Oktober 2020 REGION 5

100 Jahre Kulturgesellschaft Glarus und das «Erbhaus»

Hans Tschudi «zur Wiese» (1878-1945) war einer der vier Gründer der Kulturgesellschaft Glarus und deren Präsident von 1926-1938. Er holte berühmte Künstler für Auftritte nach Glarus. Darunter auch Thomas Mann.

von Swantje Kammerecker

ie ersten Kulturprogram- me der vor 100 Jahren ge- gründeten Glarner Mu- sikgesellschaft erstreck- D ten sich jeweils nur über die kurze Saison der kalten Jahreszeit: «Als Arbeitspensum für den kommen- den Winter sieht der Vorstand die Durchführung von vier Abonnements- konzerten vor. (…) Die bestimmten Daten werden später bekannt gege- ben», heisst es in der Zeitungsmeldung der «Glarner Nachrichten» nach der Gründungsversammlung im «Glarner- hof» vom 27. S eptember 1920. Die vier Initianten Hans Tschudi zur Wiese, Ru- dolf Gallati, Ernst Fritsche und Musik- direktor Jacob Gehring waren einan- der durch Hausmusik verbunden. Nachdem bereits 1830 eine ähnli- che Gesellschaftge gründet wurde, sich aber nicht halten konnte, wollten die Initianten nun Nägel mit Köpfen ma- chen: Der sorgfältig vorbereiteten Ver- einsgründung war ein «voller Erfolg» beschieden, gleich 51 Personen traten der Gesellschaft bei. Auch der Ankauf eines eigenen Konzertflügels wurde be- schlossen, wofür 4000 Franken an Spenden zusammengekommen waren. Mit dem Anspruch «nur allererste So- listen» nach Glarus verpflichten zu wollen, startete man mit hohen Zielen.

Kein «Salonlöwe» Um international gefragte Musiker zu Blick in die Vergangenheit: Das Durchforsten von Briefen, in denen Hans Tschudi mit seinen berühmten Gästen korrespondiert, bringt immer wieder spannende Entdeckungen hervor. gewinnen – später auch Literaten – Bild Sasi Subramaniam setzten sich die im Glarner Kulturle- ben bestens verankerten Vorständler «Es scheint, als ob Glarner Schriftsteller und Juristen Al- dis beeindruckende Bibliothek. Ein deshauptmann» bezeichneten Land- mit ganzer Kraft ein; gerade von Hans die Zeit hier stehen fonso Hophan zu verdanken, der einen Ausflug per Automobil am Vormittag ammann Melchior Hefti und dessen Tschudi hiess es in einem Protokoll, mit vielen Quellen belegten Aufsatz durch die nunmehr sonnig beglänzte kunstliebender Frau begleiteten ihn al- dass er zeitweilig den Karren alleine geblieben ist. «Thomas Mann und das Glarnerland» und weiss verschneite Berglandschaft le drei zum Bahnhof. Den nächsten Be- zog und sich mit Leib und Seele dieser Beeindruckend, was verfasste. O-Ton Thomas Mann: «Abrei- rundete den Besuch ab. Nach einem ge- such bei «Tschudi-Glarus» am 10. Sep- ehrenamtlichen Arbeit verschrieb. «Er se von Bern heute Vormittag [!], Mittag- meinsamen Mittagsessen mit Tschudi tember 1935 machte Thomas Mann war wohl kein Salonlöwe gewesen, alles noch aus essen nach 12 Uhr im Speisewagen, und dem von Mann fälschlich als «Lan- dann bequemer im Auto. eher ein introvertierter und feinsinni- früherer Zeit Zugwechsel in Zürich, dann noch ein- ger Mensch», erzählt Dorothea Ja- mal Umsteigen – mit dem unhandli- kober-Sulzer. Sie und ihre Schwester vorhanden ist.» chen Handkoffer – an der Station Zie- Babara Sulzer sind Grossnichten von gelegge (gemeint: Ziegelbrücke) An- Das Haus in der Wiese in Glarus Hans Tschudi, der 1945 ledig und kin- kunfthier um 3 Uhr, am Zuge empfan- derlos starb. Das Haus in der Wiese in sind erwähnt. Dorothea Jakober be- gen von meinem Gastgeber, dem Leiter Das Haus in der Wiese giebeldach. (…) Inneres festlichen Rokokostu- Glarus blieb im Besitz der Familie, heu- richtet von Hans Tschudis reichhalti- der Musik- und Vortragsgesellschaft in Glarus wird im Kul- weitgehend in origina- ckaturen von Andreas te bewohnt von Evi Tschudi, einer be- ger Korrespondenz mit den berühm- Tschudi. Im Wagen zu seinem Jungge- turgüterschutzinventar lem Zustand: bemalter und Peter Anton Moos- tagten Nichte Hans Tschudis. ten Gästen: «Dieser Fundus ist immer sellenheim, einem soignierten Erbhaus der Objekte von natio- Kachelofen von Hein- brugger; Pariser Empi- Dorothea Jakober erzählt: «Es noch im Haus in der Wiese archiviert. aus dem 18. Jahrhundert, worin mir naler Bedeutung (Bun- rich Bleuler, 1771; Täfer re-Tapete mit Szenen scheint, als ob die Zeit hier stehen ge- Wenn ich mit meiner Tante einen Blick zwei saubere Zimmer angewiesen sind, desamt für Bevölke- mit feinen Girlanden in aus der Antike und blieben ist. Beeindruckend, was alles hineinwerfe, staune ich stets wieder die nur den Nachteil haben, sehr kalt rungsschutz) geführt. Wachsmalerei; im ers- Landschaften, um noch aus früherer Zeit vorhanden ist: über spannende neue Entdeckungen.» zu sein, obgleich schon seit gestern ge- Es gilt als «hervorra- ten DG Decken mit 1810.» (swj) die legendäre, grosse Bibliothek‘, eine Eben zum Vorschein gekommen seien heizt. Glarus, Ort von 5000 Einwoh- gendes Beispiel eines kleine Bibliothek, der Salon mit den ge- etwa Briefe und Zeichnungen des flä- nern, schön in Bergen gelegen, ist ein Ostschweizer Textilfa- malten Tapeten, das Musikzimmer.» In mischen Dichters Felix Timmermanns sehr kalter Aufenthalt, da die Winter- brikantenhauses aus den Räumen hat Hans Tschudi illustre sowie die Korrespondenz mit Pro- sonne gleich nach Mittag hinter eine der zweiten Hälfte des Künstler empfangen und beherbergt, grammvorschlägen für ein Konzert der der schroffen Wände geht.» 18. Jahrhunderts. Er- die für die Gesellschaft auftraten. damals weltberühmten Cembalistin baut für Johann Hein- Nachdem im Mai 1922 eine Erweite- Alice Ehlers aus den späten 1920er-Jah- Alle sprachlichen Register gezogen rich Streiff, den Be- rung und Namensänderung in Glarner ren. Die persönliche Einladung und Be- Über die offenbar begeisternde Lesung gründer der Glarner Konzert- und Vortragsgesellschaft be- treuung international bekannter am Abend berichten die «Glarner Nach- Textildruckerei, etwa schlossen worden war, kamen auch Li- Künstler durch Vorstandsmitglieder richten», Thomas Mann habe «alle Re- um 1771 von Hans Ja- teraten und Gelehrte: Thomas Mann, der Kulturgesellschaft habe also eine gister sprachlichen Geschickes und kob Messmer. Hohes , Golo Mann, Adolf lange Tradition, und nicht selten wur- sprachlicher Kultur» gezogen: «Nur ein spätbarockes Herren- Muschg, , aber auch den daraus freundschaftliche Bande. Grosser vermag ein im Grunde so einfa- haus mit Mansarden- C.G. Jung oder Carl Albrecht Bernoulli ches Geschehen mit einer derartigen Beschwerliche Reise nach Glarus Fülle gehaltschwerer Kleinmalerei zu Auch Thomas Mann schätzte seinen umranken.» Eine schöne Genugtuung Die Jubiläums-Serie Gastgeber Tschudi als einen Mann, der für den Literaten, der nach der Macht- Thomas Mann – Dichter mit Glarner Wurzeln «literarisch wohl orientiert» sei. Der Li- ergreifung der Nationalsozialisten in Am 25. September 1920 gründe- teratur-Nobelpreisträger von 1929 war Deutschland wegen seiner Heirat mit In seinem Aufsatz Glarner Geschlechts; (1811-1890), gründete mit ten vier musikbegeisterte Glarner zweimal zu Gast in Glarus. Am 5. Feb- einer Jüdin vielerorts geächtet wurde «Thomas Mann und das er liess sich in Nord- dem Lübecker Kauf- die Musikgesellschaft Glarus; die ruar 1934 hielt er auf Einladung der und auch wegen seiner Verwendung Glarnerland» geht der deutschland nieder und mann Johann Sieg- spätere Glarner Konzert- und Glarner Konzert- und Vortragsgesell- von «jüdisch-biblischen» Stoffen für Glarner Autor Alfonso heiratete 1805 Cathari- mund Mann (Thomas Vortragsgesellschaft, ab 1976 schaft eine Lesung im Gemeindehaus- sein Werk in der Kritik stand. Hophan auch auf die na Croll, eine Manns Grossvater) eine Glarus Konzert- und Theaterge- saal, unter anderem aus einem unver- Thomas Manns Aufenthalt in Gla- Glarner Familienbezie- wohlhabende Kauf- Familie. Heinrich Marty sellschaft und seit 2014 Kulturge- öffentlichten Teil seiner berühmten rus entwickelte sich weiter erfreulich – hungen Manns ein, die mannstochter. Marty soll der Figur des «Leb- sellschaft Glarus. In einer mehrtei- «Joseph»-Roman-Tetralogie. Über die trotz anhaltender Kälte, die er auch aber in dessen Tage- übernahm das schwie- recht Kröger» in den ligen Serie erzählen Zeitzeuginnen Reise und den Aufenthalt im «soignier- «im Mantel» sitzend und Tee trinkend buch nicht thematisiert gerväterliche Geschäft «» Pate und -zeugen sowie Nachfahren ten Erbhaus» in der Wiese hat Thomas im Hause Tschudis nicht los wurde. Zu- sind. Manns Urgrossva- und zeigte sich gegen- gestanden haben. Eine der Gründer von Stürmen und Mann, ab 1933 im Schweizer Exil le- frieden erwähnt er aber die spät- ter, Heinrich Marty (zu- über seinen Glarner literarische Verbindung, Sternstunden auf und hinter der bend, ausführlich in seinem Tagebuch abendliche Feier nach gelungener Le- vor Marti, 1779-1844) Verwandten immer wie- die anders als der Davo- Bühne. (swj) berichtet. Dass diese Episode gründlich sung mit den Honoratioren von Glarus, war ein weit gereister der spendabel. Elisa- ser Zauberberg, weniger aufgearbeitet wurde, ist dem jungen am nächsten Tag besah er sich Tschu- Nachfahre eines alten beth Marty, ihre Tochter bekannt sei. (swj)