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SPRACHWANDEL UND SPRACHGESCHICHTS­ SCHREIBUNG

Jahrbuch 1976 des Instituts für deutsche Sprache

PÄDAGOGISCHER VERLAG SCHWANN DÜSSELDORF © 1977 Pädagogischer Verlag Schwann Düsseldorf Alle Rechte Vorbehalten • 1. Auflage 1977 Umschlaggestaltung Paul Effert Herstellung Lengericher Handelsdruckerei Lengerich (Westf.) ISBN 3-590-15641-4 INHALT

Johannes Erben (Innsbruck): Sprachgeschichte als System­ geschichte 7

Theo Vennemann (München): Beiträge der neueren Linguistik zur Sprachgeschichtsschreibung 24

Laurits Saltveit (): Mundartenkunde und Sprachgeschichte 43

Dieter Cherubim (Braunschweig): Sprachtheoretische Positionen und das Problem des Sprachwandels 61

Wladimir Admoni (Leningrad): Die Hauptarten des Wandels im grammatischen System der deutschen Schriftsprache 83

Eis Oksaar (Hamburg): Zum Prozeß des Sprachwandels: Dimen­ sionen sozialer und linguistischer Variation 98

Karl-Heinz Bausch (Mannheim): Sprachvariation und Sprach­ wandel in der Synchronie 118

Uwe Pörksen (Freiburg): Einige Aspekte einer Geschichte der Naturwissenschaftssprache und ihrer Einflüsse auf die Gemeinsprache 145

Friedhelm Debus (Kiel): Soziale Veränderungen und Sprach­ wandel. Moden im Gebrauch von Personennamen 167

Rolf Caspari (Freiburg): Beobachtungen zur Thematisierung der Kommunikation in deutschen Strafprozeßordnungen des 19. und 20. Jahrhunderts 205

H. Bach (Aarhus): Sprachwandel und Interferenz, öffentlicher ortrag 232

Günter Bellmann (Mainz): Slawisch-deutsche Mehrsprachig­ keit und Sprachwandel 249

Em il Skala (Prag): Der deutsch-tschechische Bilinguismus 260

Karl Mollay (Budapest): Deutsch-ungarische Sprach kontakte 280

Gustav Korl£ (Stockholm): Niederdeutsch-schwedische Lehnbeziehungen 285

5 Jan Goossens (Münster): Zur vergleichenden Phonologie des Deutschen und des Niederländischen 295

Johann Knobloch (Bonn): Donnerhall und Widerhall von Schlagwort und Schlagzeile 311

Ludwig Jäger (Düsseldorf): Erkenntnistheoretische Grund­ fragen der Sprachgeschichtsschreibung. Thesen 332

Leopold Auburger (Mannheim): Bericht der Arbeitsstelle für Mehrsprachigkeit (AMS) 1976 zur Situation der Mehr­ sprachigkeitsforschung und interlingualen Soziolinguistik 342

Hans-Martin Gauger (Freiburg): Bericht über das Projekt einer Deutsch-Spanischen Kontrastiven Grammatik 378

Wolfgang Mentrup (Mannheim): Über ein geplantes neues Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache 384

Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1976 392

6 JOHANNES ERBEN

Sprachgeschichte als Systemgeschichte

Frühjahrstagungen des Instituts für deutsche Sprache bewirken nicht selten einen heilsamen Zwang, zu aktuellen Fragen Stellung zu nehmen, selbst dann, wenn dies angesichts des Entwicklungsstandes unserer Wis­ senschaft nur vorläufig und gewissermaßen im Vorgriff möglich sein kann. Dies gilt auch für meinen Versuch über ‘Sprachgeschichte als Systemge­ schichte’, welchen ich auf Ersuchen des Herrn Präsidenten, der hierzu vielleicht besser selbst als Verfasser einer bekannten “Sprachgeschichte” das Wort sachkundig ergriffen hätte, nun zu unternehmen habe. Vom “Sprachsystem” hat man auch v Ferdinand de Saussure schon gesprochen; vor allem Wilhelm von Humboldt ist hier zu nennen: “Man kann die Sprache mit einem ungeheuren Gewebe vergleichen, in dem jeder Teil mit dem andren und alle mit dem Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhange stehen. Der Mensch be­ rührt im Sprechen...immer nur einen abgesonderten Teil dieses Gewebes, tut dies aber instinktartig immer dergestalt, als wären ihm zugleich alle, mit welchen jener einzelne notwendig in Übereinstimmung stehen muß, im gleichen Augenblick gegenwärtig” , .. der Sprecher habe “ein in­ stinktartiges Vorgefühl des ganzen Systems”, so Humboldt in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts — zu einer Zeit als auch der junge Indoger­ manist A.. Pott zu seinen ‘Etymologischen Forschungen’ (1833) erklärt: “Natürlich, Sprache ist ein Bezeichnungssystem; was wäre aber ein Sy­ stem ohne Wechselbedingtheit”?2 Letztlich ist die Vorstellung der Spra­ che als eines wohlgegliederten, zusammenhängenden Ganzen natürlich schon im Begriff “Sprache” selbst angelegt. Sobald man über die Äuße­ rungen einzelner Sprecher hinaus greift, von diesen Einzelreden die “ p r a h ” als besondere Größe abzuheben beginnt und von der deutschen, englischen oder irgendeiner anderen Sprache spricht, wird im Grunde eine Ganzheit eigener Art und Struktur angenommen und als selbst­ verständliche Tatsache hingestellt. Wer darüber hinaus vom “System der Sprache” spricht, betont nur stärker noch den geordneten Zusammen­ hang, und er fordert mit dieser Leitidee eine Beachtung der systemhaften Zusammenhänge durch die Sprachwissenschaft. Angesichts dieser einleuch­ tenden Forderung ist uns in den letzten Jahrzehnten beinahe selbstver­ ständlich geworden, nicht mehr einzelne Laute, Flexionsformen oder Wör­ ter “atomistisch” für sich zu untersuchen — ohne Beachtung des Verhält­ nisses zu sprachlichen Einheiten gleicher oder ähnlicher Art. Schon . Grimm

7 hatte ja mit seiner Beschreibung der germanischen und hochdeutschen Lautverschiebungen einen frühen Beweis für die Nützlichkeit systemhaf- ter Betrachtung gegeben, wenngleich zur Erhellung dieser reihenhaften Umstrukturierung des indogermanischen bzw. germanischen Konsonan­ tensystems noch sehr viel Scharfsinn neuerer Forscher aufgewendet wor­ den ist. 3 Macht man mit der Systembetrachtung der Sprache ernst, so drohen freilich andere Nachteile: nicht mehr der Vereinzelung sprach­ licher Elemente gegenüber gleichrangigen, sondern der künstlichen Isolie­ rung einzelner Bereiche, etwa des Lautsystems oder des Formensystems von allen übrigen (Syntax, Semantik) und — damit zusammenhängend — die Isolierung vom sprechsituationellen Kontext, wo all diese auf Koope­ ration angelegten Mittel Zusammenwirken und das ausmachen, was man die “ s o i a 1 e Wirklichkeit” der Sprache nennt. So ist die sog. “ Sy­ stem-Linguistik” etwas in Verruf geraten, bevor sie noch Gele­ genheit gehabt hat, ihren Nutzen für die sprachwissenschaftliche Praxis voll zu erweisen, was freilich mehr oder weniger das Schicksal aller in rascher Folge proklamierten Linguistiken zu sein scheint — im Unterschied etwa noch zu den sog. “Junggrammatikern” der Generation von H. Paul. Am ehesten ist der Systemgedanke noch bei der Erforschung der Laut­ systeme, also im Bereiche der Phonologie, fruchtbar gemacht worden4, wo die Anzahl sprachlicher Einheiten sowie der sie unterscheidenden Merk­ male einigermaßen begrenzt und überschaubar ist. Denn, um noch einmal Wilhelm von Humboldt zu zitieren, “in der Sprache entscheidet ... nicht gerade der Reichtum an Lauten, es kommt vielmehr im Gegenteil auf keusche Beschränkung auf die der Rede notwendigen Laute und auf das richtige Gleichgewicht zwischen denselben an ”.5 Störung und mögliche Wiederherstellung des Gleichgewichts konnten offenbar im “Lautsystem” am besten beobachtet werden, wo — anders als etwa im lexikalischen Be­ reich — “ein hoher Grad von Kohäsion”6 zwischen den relativ wenigen Einheiten zu bestehen scheint, sodaß jede qualitative oder quantitative Änderung an einer Stelle sich unmittelbar auf das Ganze ändernd auswirkt. Wenn dies zutrifft — wir lassen Streitfragen einmal beiseite, z.. ob der Zusammenfall zweier Phoneme, deren Opposition funktionell wenig be­ lastet ist, schon zum störenden Ungleichgewicht des Lautsystems führen kann — wenn dies alles zutrifft, so ist ein solches, sprecherunabhängiges Symmetriestreben eines idealen Systems7 jedenfalls noch nicht für alle anderen Bereiche der Sprache erwiesen, was zu beachten und eher als posi­ tiv zu werten ist. Denn würde Sprachgeschichte als Systemgeschichte so dargestellt, dann ergäbe dies ein ebenso einfaches wie einseitiges Bild; und man fragt sich, ob man mit einem Historiker zufrieden wäre, in dessen Welt- oder Landesgeschichte nur davon die Rede wäre, wie bestimmte Kräfte ein Gleichgewicht stören, das andere mühsam aufgebaut haben

8 und — systemimmanenten Attraktionen oder Pressionen folgend — wieder­ herstellen. Will man diese mechanistische und unergiebige Sicht der Ge­ schichte vermeiden, so gilt es für den Sprachwissenschaftler offenbar, einen angemessenen, d.h. nicht zu starren und nicht zu simplen Systembegriff anzuwenden und bewußt zu halten, daß “System” nur ein Hilfsbegriff oder Erklärungsprinzip der wissenschaftlichen Beschreibung, nicht das Forschungsobjekt selbst ist, wenngleich sicher weitgehende Einigkeit dar­ über besteht, daß die Sprache kein Konglomerat ungeordneter, beziehungs­ los isolierter Einzelteile, sondern etwas ist, das Struktur hat und auf Grund erkennbarer Regularitäten systematisch-wissenschaftlicher Beschreibung zugänglich ist. Die Aufgabe kann jedoch nicht einfach lauten, d a s S ­ stem der Sprache und seine Veränderung zu beschreiben, sondern: zu prüfen, ie weit Sprache als funktionierendes “ System” oder als “System von Systemen” (“Polysystem”) beschreibbar ist und entspre­ chend ihre Veränderung als “Systemgeschichte” bzw. als struk­ turelle Entwicklung in Richtung einer größeren “ Systemhaftig- e i ” — im Sinne Coserius also eine “Systematisierung”® zur Erhöhung der Funktionsfähigkeit. Ohne die großartigen Versuche bisheriger Sprachgeschichtsschreibung herabwürdigen zu wollen, ist festzustellen, daß die angedeuteten Aufgaben zwar gestellt, aber noch kaum bewältigt sind. Dies ist sicherlich nicht so sehr eine Folge der zeitweilig dominanten geschichtsfeindlichen Strömung in der Sprachwissenschaft, die solcher Problematik wertvolle Kräfte ent­ zogen hat, sondern eher noch eine Auswirkung von Schwierigkeiten, die im Forschungsobjekt selbst begründet sind. Eine zureichende wissenschaft­ liche Gesamtbeschreibung einer Sprache als System ist, wie Sie wissen, nicht einmal im bevorzugten Bereich synchronischer Darstellung der Ge­ genwartssprache geglückt, wo uns außer einer Fülle von Texten und Infor­ manten auch das Korrektiv der eigenen “Sprachkompetenz” sowie des eigenen Sprachbewußtseins zur Verfügung stehen. Je weiter wir aber in die Vergangenheit zurückgehen, umso schwieriger wird es, aus den zuneh­ mend fragmentarischen Quellen und den wenigen metasprachlichen Äuße­ rungen ein systematisch abgerundetes Bild der Sprache und ihrer Wirkungs­ möglichkeiten — auch solcher, die nicht auf der schriftsprachlichen Ebene liegen und in der schriftlichen Überlieferung nur indirekt faßbar sind — zu gewinnen, ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten der Rekonstruktion vor-literarischer Sprachzustände. Wir befinden uns hier in der prinzipiell gleichen Lage wie jeder Historiker, dessen schwieriges Geschäft Wilhelm von Humboldt einmal folgendermaßen umschrieben hat: “Die Aufgabe des Geschichtsschreibers ist die Darstellung des Geschehenen. Je reiner und vollständiger ihm diese gelingt, desto vollkommener hat er jene gelöst...

9 Das Geschehene aber ist nur zum Theil in der Sinnenwelt sichtbar, das Uebrige muß hinzu empfunden, geschlossen, errathen werden. Was davon erscheint, ist zerstreut, abgerissen, vereinzelt; was dies Stückwerk verbin­ det, das Einzelne in sein wahres Licht stellt, dem Ganzen Gestalt giebt, bleibt der unmittelbaren Beobachtung entrückt” ; “daher sind die Thatsa- chen der Geschichte...wenig mehr, als die Resultate der Ueberlieferung und Forschung, die man übereingekommen ist, für wahr anzunehmen, weil sie am meisten wahrscheinlich in sich, auch am besten in den Zusammen­ hang des Ganzen passen”.9 In der historischen Sprachwissenschaft ergeht es uns nicht besser. Was uns dabei besonders zu schaffen macht, ist die “Grammatik des U n b e 1 e t e n ”. 10 Die Frage, ob eine sprachliche Form nur zufällig unbelegt ist, oder ob sie überhaupt zur damaligen Zeit unüblich war, bedarf jeweils sorgfältiger Prüfung. Einerseits darf man “sprachlichen Tiefseebewohnern ” 11, die zufälligerweise oder auf Grund des einseitigen Charakters unserer literarischen Überlieferung nicht früher an der Oberfläche unserer Texte erscheinen, nicht leichtfer­ tig jedwede frühere Existenz absprechen — man denke z.B. an die Prono­ minalformen des D u a 1 s , die in den althochdeutschen Quellen so gut wie ganz fehlen, ebenso bei den klassischen mittelhochdeutschen Autoren, dann aber — Ende 13./Anfang 14. Jh. — im ‘Fürstenbuch’ des Wieners Jans Enikel sowie in der Reimchronik des Steirers Ottokar wieder auftau­ chen und wie in den heutigen bairischen Mundarten — nicht mehr dualisch, sondern pluralisch — gebraucht werden.12 Andererseits muß man sich vor einer “Übersystematisierung” hüten, insbesondere vor der “Vollständigkeitssucht”, die — ohne Rücksicht auf den wirklichen Sprach­ gebrauch (die Norm der Nutzung systemgebotener Möglichkeiten) — pe­ dantisch lückenlose Paradigmen aufstellt und z.B., wie der Gräzist H. Fränkel angeprangert hat, “in unsern griechischen und lateinischen Lehrbüchern die Paradigmen für sämtliche Arten von Substantiven in allen Genera und Numeri durch die Einschaltung von angeblichen Vokativ formen kom­ plettiert”, “statt eine wahrheitsgemäße Feststellung zu bringen: Für Per­ sonennamen, und für den Singular von einigen Appellativen, die gern zur Anrede benutzt werden...hat man in bescheidenem Umfang eigne Vokativ­ formen geschaffen”.13 Der Sprache sei “an einer gleichmäßigen Verteilung ihrer Gaben über alle Bezirke möglicher Wirklichkeit hin, auf kategorialer Basis, nichts gelegen; sie ist parteiisch, weil sie praktisch sein will und ist”. 14 Was gemessen an einem Idealsystem mangelhaft oder unausgewogen zu sein scheint, kann kommunikativen Bedürfnissen durchaus entsprechen 15, die man bei der Beschreibung der Sprache und ihrer geschichtlichen Verände­ rungen nicht außer Acht lassen darf, wenn man grobe Fehleinschätzungen der Sprachwirklichkeit vermeiden und nicht einem sterilen Paradigmen­ denken verfallen will. Wie kann man sich vor solchen Gefahren metho-

10 d i s c h absichern? Zunächst, indem man die Aufgabe wieder sehr ernst nimmt, ein zureichendes, möglichst vielseitiges Text-Korpus als Fundament aller datengegründeten Urteilsbildung zu schaffen; und zwei­ tens, indem man diese verfügbaren Quellen kritisch nutzt. Dazu ge­ hört die textkritische Prüfung der Überlieferung im philologischen Sinne ebenso wie die textlinguistische Klärung der Textart und speziellen Textfunktion, so daß Gattungsnormen, stilistische Intentionen und soziokulturelle Bedingtheit (etwa eines Übersetzungstextes) in Rech­ nung gestellt werden können. Auf eine leichtfertige Ergänzung “fehlender” Daten aus unserer Kenntnis anderer Sprachzustände oder verwandter Spra­ chen ist tunlichst zu verzichten, stattdessen zu prüfen, wie weit in einem bestimmten Funktionsbereich des Unbelegten andere sprachliche Mittel als Träger einer ähnlichen Funktion zu beobachten sind16, und selbstver­ ständlich auch, ob “das Gefüge von funktioneilen (distinktiven) Opposi­ tionen”17, die sich in den untersuchten Sprachdenkmälern eines bestimm­ ten Zeitraumes feststellen lassen, überhaupt schon die strukturelle Möglich­ keit der betreffenden Funktion enthält, d.h. ob im sich abzeichnenden System der damaligen Ausdrucksmöglichkeiten ein entsprechendes reali­ sierbares Muster schon gegeben war — als “instrumentale Konvention”18 zumindest einer bestimmten wortführenden Gruppe mit erhöhten Aus­ drucksbedürfnissen und weitestem Kommunikationsradius. Da man im sprachlichen Leben nicht mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen rech­ nen, sondern eine lebende Sprache als “ständig sich verbesserndes Pro­ visorium”19 ansehen darf, muß man natürlich bei jeder Korpusana­ lyse der “Dialektik zwischen Variante und Regel”20 besondere Aufmerksamkeit widmen. In Varianten können sich Tendenzen zu einer einfacheren oder deutlicheren Sprachstruktur abzeichnen, Ansätze zu einer größeren Systemhaftigkeit und Regelmäßigkeit (z.B. durch Anpassung kleiner Sondergruppen an große Flexionsklassen, Tendenz zur Beseitigung der Heteroklisie oder auch Heteronymie, etwa statt der ahd. Opposition hunt-zöha hd. hunt-hundinne), andererseits auch vielleicht Ansätze zur Vermehrung der distinktiven Möglichkeiten (etwa durch Funktionalisierung lautlicher bzw. semantischer Varianten), wobei nicht nur schon sprachüb­ liche Kategorien deutlicher und reihenhaft gleichbleibend (“iso-morph”) ausgeprägt werden (z.B. die Unterscheidung zwischen Singular und ), sondern auch neue (z.B. das Futur) zu strukturieren versucht werden. Hier vor allem, in der individuellen Anwendung der Sprache, die teilweise über die Grenzen des bisher Realisierten hinausgehen kann, findet sich das, was wir mit E. Coseriu das “ System in Bewegung” oder “syste­ matisches Werden der Sprache”21 nennen können. Zu erfassen und darzustellen ist dies natürlich nicht im globalen Zugriff — etwa in der Art einer Gesamtaufnahme des sprachlichen Panoramas —, sondern im ge­

11 nauen Aufarbeiten einzelner Bereiche. Die Auffassung, daß die Sprache eher ein “Polysystem” als ein einziges System sei, kann sich hier als nütz­ liche Arbeitshypothese erweisen. Offensichtlich gibt es ja so etwas wie “kooperierende Teilsysteme”, oder sagen wir zunächst vorsichtiger: Gruppen sprachlicher Zeichen, die jeweils untereinander enger zusammen­ gehören, weil sie ähnliche Merkmale und ähnliche Aufgaben haben. Sie mit dem Zweck genauerer Analyse in paradigmatischer und syn- tagmatisch-kommunikativer Hinsicht zunächst vorläufig für sich zu untersuchen, ist theoretisch gerechtfertigt und aus praktischen Gründen notwendig. Das gilt für das sog. “ Vokal-System ” 22, w el­ ches die silbengipfelbildenden “Kernphoneme” umfaßt, ebenso wie z.B. für das “semantische System” der sog. “Modalverben ” 23, die im Zusammenspiel mit “Modaladverbien” eine wichtige Ergänzung des verbalen “Modussystems” bilden. Abgrenzungsfragen werden natürlich, besonders auch bei der Aufstellung lexikalischer Paradigmen, zu schaffen machen, doch sollte man sie angesichts der Vorläufigkeit einer nur zeit­ weiligen Isolierung solcher Teilsysteme nicht überbewerten. Entscheidend ist, daß es gelingt, für den jeweiligen Kernbestand besonders eng zusammengehöriger Zeichen die wesentlichen Merkmale zu ermitteln, welche die Ähnlichkeit sowie abgestufte Verschiedenheit ausmachen und die Regularitäten der Anwendung bedingen. Als “peripher” erscheinende Phänomene — z.B. Ansätze zur systemhaften Integration von Fremdpho­ nemen oder etwa von Verben wie brauchen in das Paradigma der Modal­ verben — dürfen selbstverständlich ebensowenig unerwähnt bleiben wie die Sekundärverwendung bestimmter Morpheme im untersuchten Funk­ tionsbereich, deren Primärfunktion in einem anderen Bereich liegt (Bsp. etwa die Kollektivverwendung usueller Abstrakta: Be-stuhl-ung neben oder statt G estü h ). Der Auf-, Um- oder Ausbau eines grammatischen oder lexikalischen Teilsystems sollte, wie schon früher gefordert, nicht ohne Bezug auf die kommunikativen Bedürfnisse der Sprachträ- ger untersucht werden. Dies ist z.T. sehr leicht, so im Falle der Anrede- p r o n o m i n a , die infolge soziokultureller Änderungen differenzierter werden, d.h. zum alten Du-zen tritt im Mittelhochdeutschen als Höflich­ keitsanrede das Ihr-zen, im älteren Neuhochdeutschen das Er-zen und stattdessen dann das Sie-zen,24 Es ist dabei bemerkenswert, daß die — metasprachliche Reflexion widerspiegelnde — Verbableitung du-zen erst im Mittelhochdeutschen, und zwar nur wenig später als ¡(h)r-zen, auf­ kommt, nachdem eben die neue Opposition du — i(h)r in höfischen Krei­ sen üblich geworden war. Neu ist vor allem die veränderte Gebrauchsnorm von ir, das nicht mehr einfach den Funktionswert “Angesprochene” hat (= Plural von du; “du und du...”), sondern auch einen Reverenz-

12 faktor signalisiert: Angesprochene(r) als Angehörige(r) einer gesellschaft­ lichen Gruppe, der Respekt und höfliche Distanz auszudrücken ist. Infol­ ge dieser “Grammatikalisierung des Höflichkeitsverhaltens” (H. Steger) erhält aber auch d u jetzt einen anderen Status, den der vertrauli­ chen Anrede — sei dies nun Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühls oder der Geringschätzung —, also eine beider seitige Veränderung, die in der Folge auch syntagmatische Auswirkungen hat. Konnten zu­ nächst außer Ruf- oder Verwandtschaftsnamen auch Standes bezeich- nungen m it d u verbunden werden, so tritt nun i(h)r zunehmend in dieses syntaktische Zusammenspiel mit Standesbezeichnungen ein, im Nhd. na­ türlich dann Sie, das zunächst pluralische Titel oder abstrakte Anredeum­ schreibungen wie Eure Fürstliche Gnaden wieder aufnimmt. Dessen Sieg über Ihr erklärt sich wohl nicht nur aus dem Streben nach einer unver­ brauchten Ausdrucksform von noch größerer Höflichkeit, die eine direkte Anrede vermeidet. Fördernde Bedingung war gewiß auch die störende laut­ liche Ähnlichkeit der Pronomina Ihr und er in schwachtoniger Position25, z.B. in Fällen wie Komm-t’r (Ihr/er)? Daß aber die Entwicklung der deut­ schen Anredeformen nicht nur als “interner Systemwandel” vor sich gegangen ist, scheint offenkundig. Sie hängt zusammen mit Veränderungen des sozialen und sprachlichen Rollenverhaltens, wobei die neue Konvention zunächst in starkem Maße spätlateini­ schen bzw . romanischen Regelungen folgt. Dies zeigt schon das älteste, zunächst vereinzelte Vorkommen der pluralischen Anrede im 9. Jh., bei Otfrid von Weißenburg, der in der gereimten Zuschrift seines Evange­ lienbuches an den Bischof Salomo von Konstanz Z. 7 wie selbstverständ­ lich schreibt: “Oba ir hiar findet iâuuiht thés, thaz uuirdig ist thes lésannes/ iz iùer hitgu iruuallo”26 (Wenn Ihr hier etwas Lesenswertes findet, so möge Euer Geist es prüfend durchwandern). In der voranstehenden lateinischen Zuschrift an den Erzbischof Liutbert von Mainz heißt es an den entspre­ chenden Stellen natürlich vos und vestrae excellentissimae prudentiae ; und es fehlt auch nicht die das Ichpronomen vermeidende Demutsfloskel mea parvitas, die später durch die Lehnwendung meine Wenigkeit einge­ deutscht wird, Gegenstück natürlich zu Eure Hoheit,27 Die angedeutete Vielfalt der syntagmatisch-kommunikativen Bezüge eines untersuchten Paradigmas — unter Beachtung eventueller Interferenzen — zureichend zu beschreiben, ist nicht immer leicht, aber es ist möglich und aufschlußreich. Was die Strukturierung des Wortschatzes angeht, den Auf- und Ausbau lexikalischer Paradigmen für die sprachliche Erschlie­ ßung von Bereichen, die der Sprachgemeinschaft oder zunächst bestimm­ ten Gruppen ausdruckswichtig werden, so habe ich bereits auf der Jahres­ tagung 1968 das mhd.-frühnhd. Paradigma der alters- und geschlechtsdif-

13 ferenzierenden Personenbezeichnungen als Modellfall vorgeführt. Ich will dies nicht wiederholen, sondern einfach auf das Jahrbuch 1968 verweisen28 und auf meinen Beitrag in der Tschirch-Festschrift über die sprachliche Er­ fassung der “Vorfahren ”.29 Stattdessen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit hier noch auf einen anderen, mehr grammatischen Beispielfall lenken, die Funktionsklassen der Präpositionen und Konjunktionen. Daß die allmählich aufgebaute, komplementäre Mannigfaltigkeit des Präpo­ sition a 1* und Konjunktional-“ Repertoires” in Zusam ­ menhang mit der zunehmenden Notwendigkeit zu sehen ist, zeiträumliche oder ursächliche Beziehungen für einen situationsfernen Hörer genauer zu fixieren, scheint sicher. Dieser verfolgbare Differenzierungsprozeß ist aber nun nicht einfach von steigenden Exaktheitsansprüchen be­ dingt. Diese hängen wiederum zusammen mit dem sich weitenden Kom­ munikationsradius, der dann auch das Sprechen etwa über fach­ wissenschaftliche Sachverhalte sowie die Konfrontation mit anderen Spra­ chen im Übersetzungsvorgang einschließt; und selbstverständlich besteht auch ein Zusammenhang mit der zunehmenden Verschriftlichung3*- der Sprache, welche in dieser Existenz- und Wirkungsform erst den Aufbau größerer Komplexe auf einer höheren Abstraktionsstufe gestattet, wo dann die explizite Bezeichnung der jeweils ausgedrückten hypotaktischen Beziehungen notwendig wird. Hierfür konnte der anfängliche Bestand we­ niger polysemer Fügewörter ohne eindeutigen Signalwert nicht mehr ge­ nügen, weshalb in der deutschen Schriftsprache sehr früh, besonders aber zwischen 1300 und 1700 der Aufbau eines entsprechenden Zeichenreper­ toires zu verfolgen ist. Während z.B. mhd. so Haupt- und Gliedsätze der verschiedensten Funktion einleiten konnte (besonders Temporal-, Kondi­ tional-, Relativ- und Vergleichssätze), setzt sich im frühen Nhd. allmählich eine Reihe von Erweiterungsformen mit speziellen Funktionswerten durch, z.T. mit einer bestimmten Tempus- und Modusform des finiten ver­ bunden: so-bald, so-wie, so-lange, so-oft, so-fern und al-s (mit verstärken­ dem akzenttragenden al, aber Verlust des zu a abgeschwächten o), w ohin­ gegen die ungekürzt gelassene zweisilbige Form al-so trotz möglicher An­ fangsstellung keine Gliedsatzeinleitung ist und eine ganz andere Aufgabe erfüllt; eine Folgerung anzuzeigen.31 ln dem Maße wie eindeutige Neben­ satzeinleitungen üblich werden, werden natürlich die Konjunktivformen des Nebensatzverbs als Abhängigkeitssignal entbehrlich (z.B. im dam it- Satz), so wie andererseits die Kasusformen des Substantivs zunehmend durch die ausgebaute Funktionsklasse der Präpositionen entlastet werden, vor allem in ihrem Bezug auf lokale, temporale, kausale oder modale Ver­ hältnisse (statt Hunger-s sterben also vor Hunger sterben). Entlastung fin­ den einfache Kasusformen aber auch durch das sog. “Präpositionalobjekt”, wo die semantisch differenzierende Funktion der Präpositionen zugunsten

14 der verbspezifischen syntaktischen Verknüpfung zurücktritt. 32 A uf das sich herausbildende funktionale Zusammenspiel der Präpositionen mit dem ebenfalls ausgebauten verbalen Präfixsystem kann ich aus Zeitgrün­ den nur eben hinweisen. Es ist auch an diesem letzten Beispiel deutlich geworden, daß man bei Teilanalysen nicht stehen bleiben darf, sondern Querbezüge be­ achten und versuchen muß, die gewonnenen Befunde zu anderen Befun­ den desselben Sprachzustands in Beziehung zu setzen. Stets stellt sich da­ bei die Frage, ob etwa das Vordringen bestimmter Neuerungen im Unter­ suchungsbereich mit dem Rückgang anderer Erscheinungen zusammen­ hängt oder aber das Aufkommen weiterer sprachlicher Veränderungen zu bedingen scheint. Offensichtlich sind nicht nur “interparadig­ matische” Zusammenhänge im engeren Sinne zu beachten (im Deut­ schen etwa zwischen dem Aufbau der pronominalen Adjektivflexion und dem teilweisen Abbau der Substantivflexion, deutlich z.B. im Nom. sing. frisch-er Fisch).33 Ich erinnere nur an die bekannte Aufhebung aller quali­ tativen und quantitativen Vokaloppositionen in unbetonter Nebensilben­ position zugunsten des schwundbedrohten Vokals der “Indifferenzlage” a . Die Auswirkungen dieser akzentbedingten Reduktionsprozesse des späteren Althochdeutschen sind offensichtlich nicht nur auf das Lautsy­ stem beschränkt, sondern bedingen weitgehend Umstrukturierungen im Flexions- und Wortbildungssystem, die wieder nicht ohne Auswirkungen im Bereich der Syntax bleiben und andererseits Rückwirkungen wieder auf das Lautsystem haben. I. Dal hat meines Erachtens zu Recht darauf hingewiesen, daß die beim Übergang zum Mittelhochdeutschen zu be­ obachtende “Phonemisierung” der Umlautvarianten nicht einfach im di­ rekten Zusammenhang mit dem Schwund der umlautbewirkenden «-Laute zu sehen ist, sondern daß der Typ der neuen gerundeten Vorderzungen­ vokale seinen phonemischen Status in dem Maße festigen konnte, wie der Umlautwechsel in den Paradigmen der Flexion und Wortbildung morpho- logisiert und funktionell genutzt wurde.34 Ein Beispiel dafür, daß man sprachgeschichtliche Veränderungen nicht zu simpel und nicht nur als in einer Richtung verlaufend sehen darf, auch nicht im Bilde einer “Ketten­ reaktion”, wo etwa erst eine schon vollzogene Änderung die nächste auslöst und diese eine weitere nach sich zieht. Offensichtlich konnte man auf die nebentonige Vokaldifferenzierung deshalb zunehmend verzichten und der sprachgeschichtlichen Tendenz zur Stärkung der Stammsilben nachgeben, weil andere, zunächst redundante sprachliche Mittel bereits kommunika­ tionssichernd mitwirkten. In der Rede (syntagmatisch) wirksame Behelfe können gewissermaßen aufgewertet und nützliche Varianten paradigma­ tisch anerkannt werden, d.h. bei zunehmender Kommunikationsnotwen­

15 digkeit kommt es zu einer grammatikalisierenden Systematisierung und Bereitstellung für künftige Sprechsituationen und Textfunktionen. Daß nicht alles in den grammatischen und lexikalischen Paradigmen Bereitge­ stellte für künftige Sprecher gleichermaßen nützlich ist, da sie vielleicht Gruppen mit anderen Ausdrucksbedürfnissen angehören oder neue Sprech­ situationen und Sachverhalte sprachlich bewältigen müssen, läßt dann wie­ der manche Unterscheidungen ungenutzt und einige strukturelle System­ ansätze unausgebaut.35 Manches wird nur noch gekannt, aber kaum mehr verwandt, ist also nun Bestandteil des “ passiven” Sprachschatzes und wird dann infolge einer kommunikativ notwendigen Auswahl aus den Möglichkeiten der sprachlichen Tradition aufgegeben; oder es verliert zu­ mindest seinen alten Stellenwert, wie z.B. das Präteritum im Süddeutschen oder m hd. hövesch, das zwar in nhd. hübsch weiterlebt, aber aus dem Zen­ trum des aufgegebenen Feldes ständischer Wertbegriffe in das ausgebaute Paradigma ästhetischer Wertungsadjektive gerückt ist — nur noch Ausdrucks­ variante für ein abgeschwächtes “schön”. Sprachgeschichte als Systemgeschichte hat es offensichtlich nicht mit einem geradlinig und bruchlos verlaufenden Systematisierungsprozess zu tun, der alle Bereiche der Sprache gleichmäßig erfaßt und vervollkommnend weiter­ bildet. Nun kann man “Aufgabe alter Differenzierung”, also Redu­ zierung, und “Beginn neuer Differenzierung”, also Reorgani­ sation des Systems, als “Epochenkriterium” verwenden, wie das W. Betz 1960 in seinem Kopenhagener Vortrag ‘ “Spätzeiten” in der Geschichte der deutschen Sprache’ getan hat. 36 Da jede Geschichts­ schreibung aus praktischen Gründen gliedern muß, und — ich zitiere hier K. Baumgärtners Vortrag über ‘Synchronie und Diachronie’ (1968) — im Falle der Sprache es kaum oder nur annähernd möglich ist, den “gesamten Faktenzusammenhang... tatsächlich als eine lückenlose Aufeinanderfolge von Systemzuständen zu beschreiben”37 — das “System in Bewegung”21 gleichsam in einer “panchronischen” Gesamtschau —, müssen Periodisie- rungen gewagt werden. Gerade Sprachgeschichte als Systemgeschichte kann hierzu einen wesentlichen Beitrag liefern. Wir können zwar nicht das sprachliche Verhalten desselben Sprechers oder derselben sozialen und regionalen Sprechergruppe in denselben Sprechsituationen durch die Jahrhunderte beobachten, wohl aber die Manifestation der “Kreativi­ tät” vieler Generationen, Gruppen und schöpferischer Persönlichkeiten, die in der Auseinandersetzung mit der jeweils erfahrenen Wirklichkeit ihre sprachlichen Anlagen entfaltet und — in Erweiterung der überkommenen Zugriffsmöglichkeiten der Sprache — ein vielgliedriges, vielverwendbares Instrumentarium des Geistes geschaffen haben, das weit über die Zwecke der elementaren Verständigung hinausgeht. Wenn man aber mit Wilhelm

16 von Humboldt “die Sprachen als eine Arbeit des Geistes ”38 ansehen kann, so ist es nur legitim, in gewissen Abständen zu prüfen, welche strukturelle Organisation und “instrumentale Konvention”18 nunmehr gewonnen ist. Das Ergebnis wird interessanter sein, wenn man nicht Vergleichsbefunde beliebig vieler Sprachzustände anhäuft und die historische Betrachtung nicht auf die herausdestillierte “Folge von Ver­ änderungsmengen” oder die Addition von “Innovationsregeln” reduziert, sondern “Sprachstadien” genauer und nur dort herausarbeitet, wo sich trotz aller Variabilität eine charakteristische systemhafte Iden­ tität in den Texten abzeichnet. Man wird jeweils prüfen müssen, welche lautlichen Merkmale distinktiv genutzt werden, um die spezifischen Lautstrukturen der sprachlichen Einheiten auszuprägen, welche “ Funk­ tionswort klassen” oder “Morpheminventare” kategoriale Unterscheidungen ermöglichen, sich — z.T. konvergierend oder auch kon­ kurrierend (“Morphemfächer” einer Funktion) — das Funktionsfeld se- mantisch-syntaktischer Kategorien nunmehr aufteilen, d.h. zur geregelten Verwirklichung dominant gewordener Muster beim Auf- oder Einbau komplexer sprachlicher Einheiten (Wort-, Gruppen-, Satzbildung) bereitstehen. Nicht zuletzt ist auch die Frage nach der Wortschatz­ strukturierung zu stellen, sowohl in Hinblick auf die Prägung durch Wortbildungsmuster (Motivationsbeziehungen) als auch auf feldhafte Gruppierungen zu lexikalischen Paradigmen, die eine ungewöhn­ liche Vielgliedrigkeit syn- oder antonymischer Ausdrücke erlangt haben — dies vielleicht im Zusammenhang mit der Entwicklung bestimmter Funk- t i o n a 1 s t i 1 e und der sprachlichen Erfassung (begrifflichen Neugliede­ rung) besonders ausdruckswichtig gewordener Sachbereiche. Hierbei sollte natürlich das Zusammenspiel zw ischen Lexikon (bisheriger Ausdrucksskala des herkömmlichen Wortschatzes) sowie Wortbildung ^ und Syntax wieder besondere Beachtung finden. Man wird über den konstanten Zügen der Norm nicht allzu sehr abstrahierend und simplifizierend die Varianten vergessen dürfen. Sie sind nicht einfach durch den Hinweis auf einen Realisierungsspielraum abzutun, dessen kei­ neswegs unveränderliche Spannweite (“Streuung”, d.h. Richtung, Stärke und Häufigkeit der Abweichungen) ja gerade auch von den besonderen Gegebenheiten und Bedingungen des jeweiligen Sprachzustands abhängt, sondern sie sind als geschichtliche Erscheinung historisch zu interpretieren unter Berücksichtigung natürlich aller zur Aufhellung und rechten geschicht­ lichen Einschätzung geeigneten Gesichtspunkte, wobei die Möglichkeit der zeitweiligen “ Koexistenz” unterschiedlicher “Normensyste­ me” innerhalb des “Diasystems” einer größeren Sprachgemeinschaft mit verschiedenen sprachlichen Traditionen 39 und Kulturmittelpunkten eben­ sowenig vergessen werden darf wie das Vorkommen von Entwick-

17 lungstendenzen.So können Varianten Abweichungen erkennen lassen in Richtung einer systemgemäßen Änderung oder einer — Mängel und Grenzen des bisherigen Systems überwindenden —neuen Systematisierung, die — vielleicht in Anschluß an fremdsprach­ liche Muster oder an heimische ambivalente Scheinmuster — zweckmäßige Konstruktionen neuer Art hinzugewinnt. Besondere Auf­ merksamkeit verdienen daher solche “diachronisch-relevan­ ten” Varianten, die auch Voraussagen über mögliche künftige E nt­ w icklungen40 und resultierende Strukturen erlauben, bei Sprachstadien der Vergangenheit natürlich den wichtigen Brückenschlag zur Darstellung nachfolgend geschilderter Sprachzustände. Daß es sich jeweils noch um Variation innerhalb desselben sprachlichen Entwicklungskontinuums und nicht etwa um Konstituierungsanzeichen einer sich als eigene T ra­ dition abzweigenden “Tochtersprache” handelt, wo gleichsam ein neues “Kulturfaktum” entsteht und die gegenseitige Verständigung nicht mehr voll gegeben ist, muß natürlich gesichert sein. Sehr viel wichtiger als absolute Vollständigkeit der Beschreibung, die we­ der erreichbar noch wünschenswert scheint, ist für die Sprachgeschichte das Finden des rechten Darstellungsstils. Heinrich Wölfflin hat einmal gesagt: “Es gibt kein objektives Sehen, und wenn zwei dasselbe zeichnen, sind es zwei verschiedene Bilder”. 41 Bei wissenschaftlichen Dar­ stellungen ist dies freilich weniger erwünscht, doch ist auch hier jede Be­ schreibung eines Befunds schon beinahe eine — unumgängliche Wertungen implizierende — Interpretation, jede theoriegesteuerte Auswahl und Anordnung von Fakten für die Darstellung sprachlicher Systeme und systemhafter Bewegungen eine subjektive Entscheidung, die nachprüfbar sein muß. Im übrigen wird der Erkenntniswert einer vornehmlich als “Systemgeschichte” versuchten Sprachgeschichte umso größer sein, je weniger man einfach “deskriptive Grammatiken verschiedener Perioden aneinanderreiht”42 und je angemessener das im Vergleich auf­ deckbare zentrale Geschehen beschrieben wird: wie “ das Werden der Sprache sich auf das Funktionieren hin verwirk­ licht”43, d.h. der Bezugspunkt der Darstellung sollte ein funktio­ naler sein. Dabei wird sich eines Tages zeigen, wie weit den so dargestell­ ten Entwicklungsabläufen aller systematisch beschriebenen Sprachen “zweckgerichtete Prinzipien mit universeller Gül­ tig k eit”44 zugrunde liegen. Doch wird — selbst vor dem Hintergrund eines noch utopischen Katalogs “diachronischer Universalien ”45 oder gar im Rahmen einer Universalgeschichte der Sprachen — die charak­ teristische Verschiedenheit der jeweils unter besonderen histo­ rischen Bedingungen46 selektiv w i r k s a m gewordenen Kreativität”47

18 der einzelnen Sprachgemeinschaften nicht weniger interessant sein. Denn geschichtliche Abläufe sind nicht nur immer gleichförmig wiederkehrende Erfüllung vorgezeichneter Muster, sondern auch Ergebnis menschli­ chen Handelns, dem glücklicherweise selbst bei der Entwicklung der Sprache ein gewisser — wenngleich nicht immer bewußt genutzter — Freiheitsraum möglicher Entscheidungen gelassen ist.

Anmerkungen

1 Schriften zur Sprache, hg. von M. Böhler, Stuttgart 1973, S. 65. 2 Zit. von E.F.K. Koerner, Ferdinand de Saussure, Braunschweig 1973, S. 357; ebda S. 357 ff. weitere Nachweise aus dem 19. Jh. Vgl. auch E. Hildenbrandt, Versuch einer kritischen Analyse des Cours de linguistique générale von Ferdi­ nand de Saussure, Marburg 1972, S. 63 f. 3 Vgl. den Forschungsbericht von R. Schrodt, Die germanische Lautverschiebung und ihre Stellung im Kreise der indogermanischen Sprachen, Wien 1973. 4 “In den linguistischen Bereichen, die nicht zur Phonologie gehören”, sind die Versuche, eine “Systemgeschichte” zu bilden, unglücklicherweise “sehr viel weniger fortgeschritten” T. Todorov — O. Ducrot, Enzyklopädisches Wörter­ buch der Sprachwissenschaften, Frankfurt 1975, S. 166. 5 Schriften (s. Anm. 1) S. 65. 6 “un degré supérieur de cohésion” G. Francescato, Systèmes coexistants ou systèmes diachroniques, in: Neophilologus 44. Jg. (1961) S. 41. 7 Vgl. G. Schneider, Zum Begriff des Lautgesetzes in der Sprachwissenschaft seit den Junggrammatikern, Tübingen 1973, S. 237 ff. 8 E. Coseriu, Synchronie, Diachronie und Geschichte, München 1974, S. 236. Zur Kritik des linguistischen Systembegriffs vgl. auch J. Erben, Bemerkungen zu einigen Grundfragen wissenschaftlicher Sprachbeschreibung, in: Wirkendes Wort 3. Sonderheft (1961, H. Brinkmann gewidmet), S. 145; H. Bayer, Spra­ che als praktisches Bewußtsein, Düsseldorf 1975, S. 32 ff. und M. Wandruszka, Linguistik: Wissenschaft von den menschlichen Sprachen, Salzburg — München 1973, S. 12. 9 Wilhelm von Humboldt, Ges. Werke Bd. 1, Berlin 1841, S. 1 f. 10 H.B. Rosen, Die Grammatik des Unbelegten dargestellt an den Nominalkom­ posita bei Ennius, in: Lingua Bd. 21 (1968) S. 359 ff. 11 H. Jacobi, Compositum und Nebensatz, Bonn 1897, S. 75. 12 E. Kranzmayer, Der pluralische Gebrauch des alten Duals ‘eß’ und ‘enk’ im Bairischen - ein Beispiel für Homonymenflucht, in: Festschrift für D. Kralik, Horn 1954, S. 250. 13 H. Fränkel, Grammatik und Sprachwirklichkeit, München 1974, S. 386 f. 14 ebda S. 115.

19 15 Vgl. J. Erben, Ober Nutzen und Nachteil der Ungenauigkeit des heutigen Deutsch, Mannheim 1970, S. 18 f. 16 Vgl. Rosen, a.a.O. (Anm. 10) S. 361. 17 E. Coseriu, Der periphrastische Verbalaspekt im Altgriechischen, in: Glotta Bd. 53 (1975) S. 1. C. hat in der Diskussion mit Recht darauf hingewiesen, daß auch von später belegten Formen Rückschlüsse möglich sind, wenn diese als offenkundige “ Fortsetzungsformen” — z.B. in einigen romanischen Spra­ chen — bestimmte, zufällig unbelegte Bildungsweisen des Lateinischen not­ wendig voraussetzen; doch ist er ebenfalls der Ansicht, daß Unbelegtes, das auf Grund genauer Prüfung als existent angenommen werden muß, besonders zu kennzeichnen ist. 18 M. Wandruszka, Interlinguistik, München 1971, S. 25. 19 W. Lang, Probleme der allgemeinen Sprachtheorie, Stuttgart 1969, S. 113. 20 ebda S. 59. 21 Coseriu, a.a.O. (s. Anm. 8) S. 236. 22 Vgl. z.B. W.G. Moulton, Zur Geschichte des deutschen Vokalsystems, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Bd. 83 (Tübin­ gen 1961/62) S. 1 ff.; im übrigen den Abschnitt ‘Sprachlaute im System’ bei H. Penzl, Vom Urgermanischen zum Neuhochdeutschen. Eine historische Phonologie, Berlin 1975, S. 16 ff. 23 Vgl. z.B. den Versuch von G. Bech, Grundzüge der semantischen Entwicklungs­ geschichte der hochdeutschen Modalverba, Kopenhagen 1951, sowie ders., Das semantische System der deutschen Modalverba, Kopenhagen 1949. 24 Vgl. I. Ljungerud, Der deutsche Anredestil, Geschichten und Geschichtliches (= Moderna sprak monographs, No.2), der zwar hauptsächlich das neuere Deutsch untersucht, aber die einschlägige Literatur der Gesamtentwick­ lung verzeichnet. 25 Vgl. H. Wunderlich — H. Reis, Der deutsche Satzbau, Bd. 2, Stuttgart — Ber- lin31925, S. 244; ferner Kranzmayer, a.a.O. (s. Anm. 12) S. 254: Im Bairi­ schen konnte “das dualische eß erst in den Plural vorstoßen, seitdem die Schwachdruckform von ihr lautgleich mit der von er geworden war”. 26 Ausgabe von J. Kelle, Regensburg 1856, S. 12. 27 Vgl. J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 14, 1/2, Sp. 41 f. Otfrid spricht stattdessen von “mtnes selbes niden" H. 155. 28 Vgl. J. Erben, Synchronische und diachronische Betrachtungen im Bereich des Frühneuhochdeutschen, in: Sprache, Gegenwart und Geschichte (= Spra­ che der Gegenwart Bd. 5), Düsseldorf 1969, S. 224 ff. sowie J. Erben und H. Moser, Das Feld der alters- und geschlechtsdifferenzierenden Personen­ bezeichnungen im Tirolischen, in: Studien zur Namenkunde und Sprach­ geographie (= Festschrift für K. Finsterwalder), hg. von W. Meid, H.M. ölberg, H. Schmeja, Innsbruck 1971, S. 241 ff. sowie zum Grundsätzlichen L. Seiffert, Wortfeldtheorie zwischen Sozio- und Systemlinguistik, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft, hg. von W. Müller-Seidel, München 1974, S. 347 ff.

20 29 Vgl. J. Erben, Zu den Verwandtschaftsbezeichnungen der Luthersprache. Die sprachliche Erfassung der ‘Vorfahren’, in: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung (= Festschrift für Fr. Tschirch), hg. von K.-H. Schirmer und B. Sowinski, Köln — Wien 1972, S. 376 ff. sowie: Großvater und Enkel (Groß-/ Klein-kind), zur Bezeichnungsgeschichte der “Kindes-kinder”, in: Amster­ damer Beiträge zur älteren Germanistik Jg. 1976 (= Festschrift für J. van Dam). Im Druck. 30 Vgl. H. Bayer, Sprache als praktisches Bewußtsein, Düsseldorf 1975, S. 110 ff. Interessant ist natürlich der Vergleich mit den heutigen Mundarten sowie “der Erwerb von Sätzen mit unterordnender Konjunktion” in der Kinder­ sprache , H. Ramge, Spracherwerb, Grundzüge der Sprachentwicklung des Kindes, Tübingen 21975, S. 98 ff. 31 Vgl. J. Erben, Frühneuhochdeutsch, in: Kurzer Grundriß der germanischen Philologie, hg. von L.E. Schmitt, Bd. 1. Sprachgeschichte, Berlin 1970, S. 434 sowie G. Schieb, Zum Nebensatzrepertoire des ersten deutschen Prosaromans, in: Gedenkschrift für W. Foerste, hg. von D. Hofmann, Köln — Wien 1970, S. 61 ff.; weiterhin in: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache (= Bau­ steine zur Geschichte des Neuhochdeutschen, hg. von G. Feudel), Berlin 1972, S. 167 ff. und: Linguistische Arbeitsberichte Bd. 10 (= Mitteilungsblatt der Sektion Theoretische und angewandte Sprachwissenschaft der Karl-Marx-Uni- versität Leipzig), Leipzig 1974, S. 97 ff. Zu vergleichen ist jetzt auch die ma­ schinenschriftliche Diss. von O. Putzer, Konjunktionale Nebensätze und äquiva­ lente Strukturen in der “Erchantnuzz der Svnd” des Heinrich von Langenstein (Innsbruck 1976). 32 Weiteres s. J. Erben, Deutsche Grammatik. Ein Abriss, München ' 11972, S. 138 und 148. 33 Vgl. J. Erben, Zur Morphologie der Wortarten im Deutschen, in: . f.dt. Sprache Bd. 21 (1965) S. 146 ff. Das Kasussystem bleibt im wesentlichen bewahrt, wird aber nun “hauptsächlich in den attributiven Wörtern verankert”, in “neuen synthetischen Adjektivformen” I. Dal, Systemerhaltende Tendenzen in der deutschen Kasusmorphologie, in: Untersuchungen zur germanischen und deutschen Sprachgeschichte, Oslo — - Tromsö 1971, S. 168. 34 Vgl. I. Dal, Ober den ¿- im Deutschen, in: Untersuchungen (s. Anm. 33) S. 36 und 42. 35 Zum “Konflikt zwischen dem Syntagmatischen und dem Paradigmatischen” vgl. Coseriu, a.a.O. (s. Anm. 8) S. 111, im übrigen auch J. Erben, Einführung in die deutsche Wortbildungslehre, Berlin 1975, S. 139. 36 W. Betz, in: Spätzeiten und Spätzeitlichkeit, hg. von W. Kohlschmidt, Bern — München 1962, S. 149: hierzu J. Erben, ebda S. 97 f. Hinsichtlich der in der Diskussion aufgeworfenen Frage, welche Periodisierung ich für die deutsche Sprachgeschichte als angemessen ansehe, möchte ich auf meinen Beitrag Früh­ neuhochdeutsch (s. Anm. 31) S. 386 u. 439 sowie meine Besprechung der Sprachgeschichte von A. Bach verweisen, in: Colloquia Germanica 1969, S. 262. 37 K. Baumgärtner, Synchronie und Diachronie in der Sprachstruktur. Faktum oder Idealisierung? in: Sprache, Gegenwart und Geschichte (= Sprache der Gegenwart Bd. 5), Düsseldorf 1969, S. 64 und — über die “Panchronie der

21 Sprache” — S. 61; nach Koerner, a.a.O. (s. Anm. 2) S. 291 dachte Saussure an die Möglichkeit “of studying language from a panchronic viewpoint, although he thought that it admitted general statements only and could not treat the concrete facts of language” , vgl. auch Hildenbrandt, a.a.O. (s. Anm. 2) S. 60. .,8 Humboldt, a.a.O. (s. Anm. 1) S. 37. 39 Vgl. Coseriu, a.a.O. (s. Anm. 8), S. 48 f., 53 f., und 113 f. Es ist also jeweils zu prüfen, wie weit “die sprachliche Variable durch Kovariation mit sozialer Schicht, ethnischer Zugehörigkeit, Altersstufe und Kontextstil defi­ niert ist” (W. Labov, Ober den Mechanismus des Sprachwandels, in: Zur Theorie der Sprachveränderung, hg. von G. Dinser, Kronberg 1974, S. 170), darüberhinaus, ob die “Ungleichförmigkeit” der Sprachkenntnisse in einer Sprachgemeinschaft nur von einem “System von koexistierenden G r a m m a - t i k e n ” (S. Kanngießer, Aspekte der synchronen und diachronen Linguistik, Tübingen 1972, S. 55 f. und 80) beschrieben werden kann. 40 P. Pauly, Zur Darstellung von Synchronie und Diachronie des Vokalismus im Deutschen, in: Deutsche Sprache 1 (1974) S. 335 ff., versucht den Befund “hat die Tendenz der Entwicklung zu” in einem “Kombinationsschema als Integrationsmöglichkeit für Synchronie und Diachronie” (S. 340 f.) darzu­ stellen. Die in der Diskussion von I. Rosengren aufgeworfene Frage, ob das Aufdecken allgemeiner sprachgeschichtlicher Tendenzen in der Vergangen­ heit nicht auch dem Erkennen des modernen Sprachwandels zugute komme, ist gewiß zu bejahen, wenngleich das Wirksamwerden solcher Tendenzen von den besonderen Bedingungen des jeweiligen Sprachzustands abhängt. 41 H. Wölfflin, Vom Stil Albrecht Dürers, in : Deutscher Geist. Ein Lesebuch. Bd. 2, Berlin 1943, S. 864. 42 H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, Tübingen ®1970, S. 23, vgl. auch S. 31 f. und 189 f. sowie H. Wellmann, Sprachgeschichtsschreibung und historische Grammatik, in: Wirkendes Wort Bd. 22 (1972) S. 201 f. 43 Coseriu, a.a.O. (s. Anm. 8) S. 237. 44 H. Seiler, Das linguistische Universalienproblem in neuer Sicht (= Rheinisch- Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 200), Opladen 1975, S. 10; vgl. auch ebda S. 12 und 23. 45 H.M. Hoenigswald, Gibt es Universalien des Sprachwandels?, in: Zur Theorie der Sprachveränderung, hg. von G. Dinser, Kronberg 1974, S. 139. Über “die dynamischen Universalien” vgl. auch E. Coseriu, Die sprachlichen (und die anderen) Universalien, in: Sprachtheorie, hg. von B. Schlieben-Lange, Hamburg 1975, S. 135 und 151. 46 Dazu gehört auch die Art der jeweiligen “Gesellschaftsstruktur”, die mit be­ sonderen Kommunikations-situationen und -formen verbunden ist. Allerdings gibt es keinen einfachen Gleichlauf zwischen der Geschichte der Sprache und der Gesellschaft. Man darf auch nach Meinung der ‘marxistisch-leninistischen Sprachwissenschaft’ “nicht erwarten, daß gesellschaftliche Umwälzungen eine Sprache unmittelbar und grundstürzend umwandeln könnten. Die Sprache muß immer intakt sein und zur Kommunikation auch zwischen den Vertre­ tern der verschiedenen Klassen bereitstehen, selbst in revolutionären Situa­ tionen. Wesentliche Teile des sprachlichen Systems werden nicht direkt von den Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur betroffen” R. Grosse, Ge-

22 sellschaftsstruktur und Sprachstruktur, in: Festschrift zur Feier des 125- jährigen Bestehens der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, hg. von K. Schwabe, Berlin 1974, S. 108. Vgl. ferner G. Lerchner, Zu gesell­ schaftstheoretischen Implikationen der Sprachgeschichtsforschung, in: Bei­ träge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Bd. 94 (Halle 1974) S. 143. 47 “Kreativität” wird hier also nicht “als individualpsychologische Komponente des Sprechens” verstanden; zur Problematik vgl. B. Imhasly, Der Begriff der sprachlichen Kreativität in der neueren Linguistik, Tübingen 1974, S. 19 u.ö.

23 THEO VENNEMANN

Beiträge der neueren Linguistik zur Sprachgeschichtsschreibung

Ich habe das Thema dieses Vortragsmanuskripts nicht selbst formuliert, und ich äußere mich zu diesem Thema als Linguist, jedenfalls ohne er­ wähnenswerte Erfahrung auf dem Gebiet der Sprachgeschichtsschreibung. Beides bitte ich den Leser zu berücksichtigen, wenn, wie zu erwarten, seine durch das Thema geweckten Erwartungen hier nicht erfüllt werden.*

I

Ich beginne mit einer Analyse des gestellten Themas. Mehrere Fragen drängen sich auf. Steht hier “ Linguistik” als euphonisch motivierte Varian­ te von “Sprachwissenschaft”, oder ist auf einen engeren Begriff abgezielt, z.B. im Sinne der Einleitung der Aufsatzsammlung “Linguistik und Nach­ barwissenschaften”?1 Wie ist das Adjektiv in “neuere Linguistik” zu ver­ stehen? Gehören die tiefen und für alle nachfolgende Sprachgeschichts­ schreibung höchst bedeutenden Einsichten in die Regelhaftigkeit der lautlichen und konzeptuellen Sprachveränderung, die im 19. Jahrhundert gewonnen wurden, zur “neueren Linguistik”? Die Antwort kann sicher nicht ein klares Nein sein; denn was sind schon hundert Jahre in der dreitausendjährigen Geschichte unserer ehrwürdig alten Wissenschaft. Gehören Schuchardts Einsichten in den Prozeß des Sprachwandels durch Regelverallgemeinerung, in den Zusammenhang von Dialektologie und Sprachgeschichtsschreibung — “die räumliche Projection zeitlicher Unter­ schiede” — und in die soziale Bedingtheit des Sprachwandels zur “neueren L inguistik”?2 Was damals konzipiert wurde, steht — genau so wie das Bemühen um ein tieferes Verständnis lautgesetzlicher und analogischer Prozesse3 — immer noch im Mittelpunkt linguistischer Forschung; ich erinnere nur an die seit Jahren anhaltende Diskussion um die adäquate Darstellung analogischer Veränderung von Regelsystemen in der genera­ tiven Grammatik, an die immer wachsende Bedeutung der Dialektgeo­ graphie für die sprachgeschichtliche Rekonstruktion und an die gewaltige Entwicklung der Soziolinguistik von Gauchat bis Labov. Gehören die grundlegenden Einsichten des Strukturalismus zur “neueren Linguistik”, daß nämlich ein funktionaler Zusammenhang zwischen den Veränderun­ gen einer Sprache besteht? Ich erinnere an Martinets “Schiebeketten”4 — ein Veränderungsmodell für Lautsysteme, dessen erklärende Kraft im Bereich der serienmäßigen Vokal- und Konsonantenverschiebungen5 (die auch durch Kings rein formalistisch begründete Infragestellung6 um nichts

24 gemindert ist) noch gar nicht recht ausgeschöpft ist. Gehört zur “neueren Linguistik” die Transformationsgrammatik? Sie hat sich in einer Reihe einflußreicher Arbeiten mit Problemen der Diachronie befaßt7 und wirkt auch heute noch stark, vor allem dadurch, daß ihrem formalistisch-des­ kriptiven Ansatz widersprochen wird, der alles — gewöhnlich auf mehrere Weisen — zu beschreiben gestattet, aber keine Fragen beantwortet, aus­ genommen allenfalls solche, die ihren eigenen formalen Apparat betref­ fen. Ein Fragezeichen verdient schließlich die Präsupposition des Themas, d a ß die Linguistik Beiträge zur Sprachgeschichtsschreibung liefere. Das tut sie nicht, und das kann und will sie nicht. Eine entsprechend falsche und abzulehnende Präsupposition liegt der Alternativformulierung des Themas zugrunde: “Eignung von Methoden der neueren Linguistik für Sprachgeschichtsschreibung.” Die Linguistik ist eine theoretische Diszi­ plin; ihre Aufgabe ist — jedenfalls sehe ich sie so8 — die Erstellung einer allgemeinen Grammatiktheorie und einer allgemeinen Grammatikverän­ derungstheorie. Die Sprachgeschichtsschreibung ist eine praktische Tätig­ keit; ihre Aufgabe ist — wenn ich sie recht verstehe — die Erstellung von Hypothesen über Ereignisse und ihre Chronologie, die zusammen eine Theorie über die “innere” und “äußere” Geschichte einer bestimmten Sprache konstituieren. Es ist also von vornherein klar, daß die Methoden der einen Disziplin sich nicht für die andere Disziplin eignen; sie haben überhaupt nichts gemein. Relevant für die Sprachgeschichtsschreibung, nämlich für die Beschreibung der “inneren” Geschichte einer Sprache, d.h. der Entwicklung ihrer Grammatik, sind nicht die Methoden der Linguistik, sondern ihre Hypothesen (oder, wenn man dies vorzieht, ihre “ Ergebnisse”): So wie jeder Historiker frühere Weltzustän­ de und Übergänge zwischen Weltzuständen so rekonstruieren muß, daß sie sich im Einklang mit den Hypothesen der Naturwissenschaften, der Anthropologie, Psychologie, Ökonomie usw. befinden (es sei denn, er stellt diese Hypothesen ausdrücklich in Frage), so rekonstruiert der Sprachgeschichtsschreiber frühere Sprachzustände und Übergänge zwi­ schen Sprachzuständen aufgrund seiner Daten in solcher Weise, daß sich alle Zustände und Übergänge im Einklang mit den Hypothesen der allge­ meinen Grammatiktheorie bzw. der allgemeinen Grammatikveränderungs­ theorie befinden (es sei denn, er stellt diese Hypothesen ausdrücklich in Frage). — Mit dieser Bemerkung will ich keinerlei Anspruch auf eine ori­ ginelle Formulierung verbinden; sie soll lediglich das Verhältnis von Lin­ guistik und Sprachgeschichtsschreibung im Hinblick auf das Verhältnis ihrer Methoden charakterisieren. Die Kontrollfunktion der Linguistik für die Sprachgeschichtsschreibung hat besonders eindringlich Roman Jakobson hervorgehoben: 25 “A conflict between the reconstructed state of a language and the general laws which typology discovers makes the reconstruction questionable. ... A realistic approach to a reconstructive technique is a retrospective way from state to state and a structural scrutiny of each of these states with respect to the typological evidence. ... The structural laws of the system restrict the inventory of possible transitions from one state to another.”9 Indem der Sprachhistoriker seine Beschreibungen im Einklang mit den Prinzipien der allgemeinen Grammatiktheorie und der allgemeinen Gram­ matikveränderungstheorie formuliert, sichert er den beschriebenen Phä­ nomenen zugleich eine bestimmte Interpretation: sie werden relativ zu den linguistischen Theorien erklärt. (Seine eigene Beschreibung er­ klärt dann wiederum die in die Rekonstruktionen eingegangenen Daten; aber damit hat der Linguist nichts zu tun.) Daß umgekehrt der Sprachhistoriker mit seinen Beschreibungen dem Linguisten überhaupt erst das Material verschafft, auf dem er eine allge­ meine Grammatikveränderungstheorie aufbaut, bedarf sicher keiner nä­ heren Erläuterung. Jede noch nicht durch die Theorie erfaßte beschriebe­ ne Grammatikveränderung erfordert eine Veränderung der Theorie; die veränderte Theorie bietet dann wiederum eine relative Erklärung für das beschriebene Phänomen dar. Die Methoden, mit denen der Sprachhistori­ ker zu seinen Beschreibungen gelangt (z.B. Verfahren der Diplomatik mit ihren zahlreichen Hilfswissenschaften wie Paläographie, Schreibmaterial­ kunde, Siegelkunde usw., Verfahren der Numismatik, der Dialektologie und zahlreicher anderer Wissenschaften), interessieren den Linguisten al­ lerdings überhaupt nicht. Ihn interessieren, als Linguisten, einzig und al­ lein die Ergebnisse der Tätigkeit des Sprachhistorikers, die Rekonstruk­ tionen. Wenn er sich gelegentlich darüber wundert, wie die Kollegen in den verschiedenen Philologien zu ihren Rekonstruktionen gelangen, und diese unterschiedlich bewertet, so tut er dies sozusagen als Mensch, näm­ lich als im allgemeinen Wissenschaftsbetrieb erfahrener Mensch, aber nicht als Linguist, ausgenommen natürlich den Fall, daß gegen die Kon- trollfunktion der linguistischen Prinzipien verstoßen worden ist. Auch aus diesem Blickwinkel ergibt sich also keine Berührung der Methoden.

II

Dies geklärt, will ich mich nun den positiven Seiten des Verhältnisses von Linguistik und Sprachgeschichtsschreibung zuwenden. Es ist ja nicht so, daß die Linguistik, insbesondere die diachronische Linguistik auf der Sprachgeschichtsschreibung parasitiert oder für das Bezogene nur knapp mit der Lieferung deskriptiver Kategorien und Prinzipien ihrer Verwen­ dung entgilt. Ganz im Gegenteil: seit es beide Disziplinen gibt, hat die

26 Linguistik der Sprachgeschichtsschreibung immer neue Impulse gegeben, so daß man das Verhältnis der beiden zueinander unbedingt symbiotisch nennen muß. Um dies zu sehen, braucht man sich nur zu vergegenwärti­ gen, wie jede nennenswerte Änderung in der Linguistik ihre Wirkung auf die Sprachgeschichtsschreibung ausgeübt hat, und nicht nur so, daß sich das Kontrollinstrument geändert hätte, sondern so, daß Sprachge­ schichte ganz offensichtlich nur deshalb neu geschrieben wurde, weil sich die Linguistik geändert hatte. Zweifellos steht der enorme Auf­ schwung der Sprachgeschichtsschreibung im letzten Viertel des 19. Jahr­ hunderts in engem Zusammenhang mit den gewaltigen Fortschritten der diachronischen Linguistik, die die junggrammatische Schule erbracht hat; oft genug waren ja die beiden Disziplinen in Personalunion vereinigt. Aus jüngerer Zeit will ich nur zwei Beispiele nennen: Man muß mit Blind­ heit geschlagen sein, um zu verkennen, daß Moultons Aufsatz “Zur Ge­ schichte des deutschen Vokalsystems”10 nur deshalb geschrieben wurde, weil der Autor sich von der Verwendung der Beschreibungsmethoden der strukturalistisch-funktionalen Linguistik interessante neue Interpre­ tationen gewisser Aspekte der deutschen Lautgeschichte versprach, neue Erklärungen relativ zu einer veränderten Theorie — nicht aber, weil sich die Wissenslage im Gegenstandsbereich der Beschreibung der deutschen Sprachgeschichte signifikant verändert hätte, etwa durch die Entdeckung neuer Daten. Dasselbe gilt zweifellos für Elizabeth Closs Traugotts “ Syntax ”11 mit Bezug auf die Transformationsgram­ matik, was sich ja schon im Untertitel ausdrückt: “A Transformational Approach to the History of English Sentence Structure”. Solche Impulse sind natürlich dann besonders wertvoll, wenn das von der Linguistik her motivierte Interesse für einen bis dahin gar nicht oder wenig beachteten Problemkreis neue oder intensivere Materialforschung nötig macht und in Gang setzt. Da mir, wie gesagt, nicht deutlich ist, wann die “neuere Linguistik” be­ ginnt, möchte ich den zuletzt genannten Aspekt des Verhältnisses von Linguistik und Sprachgeschichtsschreibung an zwei Beispielen aus der neuesten Linguistik erläutern, womit ich die Linguistik der allerletzten, sagen wir der siebziger Jahre meine. Da immer eine gewisse Zeitdifferenz zwischen der Entwicklung neuer Konzeptionen in der Linguistik und ih­ ren Anwendungen in der Sprachgeschichtsschreibung anzusetzen ist, darf man nicht erwarten, daß die Wirkungen auf die letztere schon bedeutend gewesen wären. Ich möchte also verdeutlichen, wie diese aussehen könn­ ten (oder Vorhersagen, wie sie aussehen werden). Das erste Beispiel be­ trifft die Morphophonologie, das zweite die Syntax.

27 Während der Zeit der Dominanz der Transformationsgrammatik hat in der theoretischen Morphophonologie eine Entwicklung stattgefunden, in der neben der Ebene der systematisch-phonetischen Repräsentation eine solche der systematisch-phonemischen (oder “zugrundeliegenden”) Re­ präsentation angenommen wurde, wobei die beiden Ebenen durch eine lange Reihe zum Teil extrinsisch geordneter Regeln miteinander verbun­ den (bzw. voneinander getrennt) waren. An die Frage der Entfernung dieser beiden Ebenen voneinander hat sich eine lange Kontroverse, die sogenannte Abstraktheitskontroverse, geknüpft, ausgelöst durch Paul Kiparskys Aufsatz “How abstract is phonology?” von 1968 und fortge­ setzt von Kisseberth, Larry Hyman, John Crothers, mir, Joan Hooper und verschiedenen anderen.12 Die jüngste Entwicklung auf die­ sem Gebiet, von der ich Kenntnis habe, ist in einem Aufsatz von mir vollzogen, “Words and Syllables in Natural Generative ” von 1974.13 Hier fallen die beiden Ebenen völlig zusammen; d.h., es gibt überhaupt nur eine Darstellungsebene für phonologische Information über lexikalisches Material, nämlich die der lexikalischen Speicherung. Die Repräsentationsform ist die expliziteste systematisch-phonetische Form, die der “Aussprache in Isolation”. Die Wortbildungsregeln und phonologischen Regeln haben die Funktion von Wohlgeformtheitsbe- dingungen für lexikalische Einheiten (“Wörter”); sie werden generativ nur zur Bildung neuer Einheiten, zur Adaptation fremder Einheiten und zur Analyse unbekannter Einheiten eingesetzt. Die einzigen Modifikatio­ nen, denen eine lexikalische Einheit ausgesetzt ist, werden durch Sandhi- regeln, satzintonatorische Regeln und des weiteren solche Regeln durch­ geführt, die durch den Kommunikationskontext kontrolliert werden, z.B. durch den Grad der Formalität und das Sprechtempo. Da sich die lexikalischen Einheiten durch phonologische Prozesse gewöhnlich im Lauf der Zeit reduzieren, die unreduzierte Form aber oft im syntaktischen Nexus noch eine Zeit erhalten bleibt, haben Sandhiregeln charakteristi­ scherweise eine Gestalt, die sie wie Umkehrungen des ursprünglichen phonologischen Prozesses erscheinen läßt, dem sie ihre Entstehung ver­ danken. Für diesen speziellen Entwicklungstypus, der in der Vergangen­ heit schon öfter bemerkt, aber in seiner Bedeutung nie recht gewürdigt worden ist, habe ich die Bezeichnung “Regelumkehrung” vorgeschlagen14; sie scheint sich einzubürgern. Die Realität der inversen Regeln kann man oft nachweisen, so wie man die Realität jeder anderen sprachlichen Re­ gel nachweist: aufgrund von Regelverallgemeinerung, manifest in Anwen­ dungen auf Kontexte, die nicht zur Domäne der ursprünglichen Regel gehören.

28 Ich möchte diese Entwicklung innerhalb der Linguistik an zwei konkre­ ten Fällen verdeutlichen. Erster Fall. In der Vorgeschichte des Sanskrit hat eine phonologi- sche Entwicklung stattgefunden, in der die Isolationsform eines Wortes in auslautenden Konsonantengruppen alle Konsonanten mit Ausnahme des ersten verlor. Mit Bezug auf das Vedische schreibt Macdonell:

“The rule is that only a single consonant may be final. Hence all but the first of a group of consonants must be dropped; e.g. abhavan 3.pl.impf. ‘were’ (for abhavant); tan acc.pl. ‘thpse’ (for täns); tudän ‘striking’ (for tudänts); prah ‘forward’ (through prUhk for pranc-s); ¿chan 3.s.aor. ‘has pleased’ (for achantst). ” 15 Nach n zeigt sich aber gelegentlich ein ursprünglich durchgängig vorhan­ denes s im syntaktischen Nexus, wenn die nächstfolgende lexikalische Einheit mit einem frontalen stimmlosen Verschluß beginnt, nämlich vor anlautendem t und, zu s assimiliert, vor anlautendem c. Macdonell schreibt:

“ Final n usually remains unchanged before dental t, e.g. tvavän tmanS; but the dental sibilant is sometimes inserted in the RV., the preceding » then becoming Anusvära. This insertion takes place, only when the sibilant is historically justified16; e.g. avadams tvitm (for Svadan). ” “ Before c the palatal sibilant is sometimes inserted in the RV., the preceding n then becoming Anusvära. This insertion takes place, only when the sibilant is etymologically justified17, almost exclusively (though not without excep­ tion even here) before ca and cid; e.g. anuyajäms ca, amenHms cit. " (§ 40.2 und § 40.1.a.) Wie würde man diese Situation mit den Methoden der neueren und neuesten Linguistik beschreiben? Die Transformationsgrammatik würde hier For­ men mit auslautendem ansetzen, dazu eine Regel (in Merkmalnotation, aber hier abgekürzt, mit # für die Wortgrenze und F für frontalen stimm­ losen Verschluß):

s ->•

Die neueste Linguistik würde genau nach der Beschreibung der letzten beiden Macdonell-Zitate verfahren, da sie von der Isolationsform ausge­ hen m uß:

-*• s/n #F (optional)

Die beiden Beschreibungen leisten hinsichtlich der Daten dasselbe.18 Die Frage ist nur: Welche ist richtig? Betrachten wir die Fortsetzung jedes der beiden letzten Zitate bei Macdonell:

“In the later Samhitäs the inserted sibilant becomes commoner, occurring

29 even where not etymologically justified.” [Fußnote: “As in the 3.pl.impf., e.g. abbavan (originally äbhavan-t) and the voc. and loc. of » stems, e.g., rüjan (which never ended in s). ”] Im klassischen Sanskrit schließlich ist die Einschaltung des Sibilanten zur allgemeinen Regel geworden. So heißt es in Thumb-Hauschilds “Handbuch des Sanskrit” ohne jede Einschränkung: “Zwischen ein -n und einen anlautenden tonlosen Palatal, Cerebral und Dental wird der entsprechende Zischlaut (s, s, s) eingeschoben; der Nasal wird zum A n u s v ä r a 19 Die Einschaltung des Sibilanten ist also sogar auf den Fall eines anlautenden zerebralen, d.h. retroflexen stimmlosen Verschlus­ ses, der im Vedischen noch gar nicht vorkam, ausgedehnt worden. Wie können wir diese späteren Entwicklungen verstehen? Müssen wir an­ nehmen, daß der optionale Teil der Regel der ersten Beschreibung weni­ ger häufig angewendet wurde und daß zudem gewisse Formen, die ­ sprünglich auf n (oder n t) endeten, später mit ns relexikalisiert wurden, wobei das s dann auch hier optional getilgt wurde? Oder sollen wir an­ nehmen, daß die Erinnerung daran, welche Formen auf-« vor frontalem stimmlosem Verschluß einen “etymologisch gerechtfertigten” Sibilanten einschalteten und welche nicht, sich mit der Zeit verlor, die Regel der Einschaltung selbst aber nicht, so daß allmählich Regelverallgemeinerung, d.h. Anwendung der Regel auf vorher ausgenommene Kontexte und schließlich ausnahmslose Anwendung eintrat? Ohne Zweifel haben wir letzteres anzunehmen: Die richtige Beschreibung dieses Aspekts der Ge­ schichte des Sanskrit muß von der zweiten Beschreibung des entsprechen­ den Zustands im ältesten Vedischen ausgehen; d.h., sie nimmt jeweils sofortige Relexikalisierung mit der Isolationsform, Regelumkehrung und Regelverallgemeinerung an. Nur sie wird in plausibler Weise durch die ihr zugrundeliegende Theorie interpretiert. Zweiter Fall. Im Bairischen hat sich auslautendes -(s)r in “ ein vorn gesprochenes, sehr helles a ” verändert20; z.B. hindda ‘hinter’, da ‘dir [dar] ’, heä ‘hör(e)’. In syntaktischem Nexus zeigt sich aber das r noch vor Vokal: hindda: hindd'ar an Baam ‘h in ter einem B aum ’ da: da daad a dar äa schdingga ‘da würde er dir auch stinken’ beh: da heär i ‘da höre ich' (aber i bea di ‘ich höre d ic h ’) A uch auslautendes -aw ist zu -ä gew orden: la fß ‘lau fen ’, kenriä ‘kennen’, und auch dieses -n taucht vor Vokal wieder auf: laffä: de läfßn aa ‘die laufen auch’ kenna: miä kennan da ‘wir kennen einen’

30 Wieder würde die Transformationsgrammatik “zugrundeliegende” Reprä­ sentationen mit den längeren Formen ansetzen und die kürzeren Formen durch Regeln ableiten, die die historische Entwicklung in der Synchronie nachbilden. Auf diese Weise würde sie diesen Aspekt der bairischen Sprachgeschichte genau so falsch beschreiben wie den entsprechenden Fall des Sanskrit. Denn betrachten wir einige weitere Formen, zunächst Partizipien und In­ finitive auf -ä, aus -s«: kerria ‘gekom m en’, lachh ‘lachen’. Wie verhalten sich diese in syntaktischem Nexus vor Vokalen? kemh: wann ä kemär is ‘wenn er gekommen ist’ *wann h kem an is lachh-. soi ma lachhr äa no ‘da soll man auch noch lachen’ *dft soi ma lachan aa no Hier taucht nicht das etymologisch allein zu rechtfertigende n w ieder auf, sondern ein r. Sollen wir also annehmen, daß infinite Verbformen, die ehemals auf n auslauteten, nunmehr in ihrer “zugrundeliegenden” Gestalt auf r auslauten, welches dann zudem in allen Kontexten außer vor Vokal getilgt wird? Keineswegs. Dieses r liegt nicht zugrunde, es wird als “Bindelaut” (so meine Vorlage) durch eine Sandhiregel eingeschoben. Haben also die infiniten Formen ihr n verloren, so daß die Sandhiregel, die r einfügt, angewandt werden kann, die finiten Verbformen aber nicht? Das widerspräche der Theorie, die besagt, daß die Formen, die in den syntaktischen Verband gelangen, die Isolationsformen sind, und die lauten ja auf -a, nicht auf n aus. Nach der Theorie wird also auch das n durch eine Sandhiregel eingeschoben; die Theorie lehrt also für den vor­ liegenden Fall, daß diese Sprache (mindestens) zwei Sandhiregeln für den K o n tex t -a # V- hat, deren Anwendbarkeit durch bestimmte zusätzli­ che Informationen gesteuert wird, z.B. den Unterschied zwischen finiten und infiniten Verbformen. Dies sagt die Theorie; aber gibt es irgendwelche Hinweise in der Sprache darauf, daß die Theorie hier die richtige Beschreibung erzwingt? Es gibt sie. Zunächst können wir die Realität beider Sandhiregeln an For­ men nachweisen, die historisch weder ein r noch ein n im Auslaut besaßen, nun aber sowohl mit r als auch mit n gebunden werden können, z.B. wiä ‘w ie’:

‘wie ich gesagt habe’

31 Sollen wir annehmen, daß wiä auf zwei verschiedene Weisen relexikali- siert worden ist, als wiär und als wiän, wobei beide Formen außer vor Vo­ kal wieder zu wiä verkürzt würden? Natürlich nicht. Die lexikalische Form ist nach wie vor wiä, und die Doppelheit der Realisierung vor vo- kalischem Anlaut rührt daher, daß die Sprachverwender mit zwei San- dhiregeln operieren, in diesem Fall aber keinerlei Information darüber ha­ ben, welche der beiden die “richtige” Sandhiform erzeugt, da keine der beiden “etymologisch gerechtfertigt” ist (was natürlich die Sprachver­ wender im allgemeinen nicht wissen). Wir können aber noch weiter gehen und eine Rangordnung zwischen den beiden Sandhiregeln aufstellen. Meine Vorlage sagt immer in Fällen, wo beide Regeln verwendet werden, daß die Form mit r die häufigere sei (also z.B. wiär i häufiger als wiän i) oder daß die Form mit n in der “bäuer­ lichen Sprache” verwendet würde. Wenn ich meine Vorlage richtig deute, so kann, wo immer n Verwendung findet, auch r verwendet werden, aber nicht umgekehrt. Z.B. kann bei den infiniten Verbformen, wie schon gesagt, nur r eingefügt werden, nicht aber n, bei den finiten hinge­ gen sowohl n, wie schon gezeigt, als auch r21: laffct: m ib läffär hä ‘wir laufen auch’ kennh: die kennar ohne ‘sie kennen eine’ Während die Einfügung von n auf bestimmte syntaktische Kategorien und Einzelwörter beschränkt ist und zudem auch dann nur eine Option gegenüber der von r darstellt, wird r frei verwendet, wie die folgenden Beispiele zeigen22: Buä: da Buär is ‘der Bub ist’ wegä: wegär eich ‘wegen euch’ ä ä .ä a rh ‘auch ein’ Die richtige Beschreibung des Bairischen geht also von den Isolationsfor­ m en au f -a aus und enthält die folgenden Regeln: “ in finiten Verbformen ~n / < in wiä ► optional ------> < ► /a ___ #V .»•

Tatsächlich ist das Problem der “ Bindung” im Bairischen noch um eini­ ges komplexer, da 1. unter bestimmten Bedingungen auch andere Kon­ sonanten eingeschaltet werden (d, w ), 2. auch nach anderen Vokalen als -a Bindung vorkommt und 3. auch die Qualität des nachfolgenden An­ lautvokals in einigen Fällen eine Rolle spielt. Die Einbeziehung dieser

32 Komplexitäten würde aber die Beschreibung nur im Detail, nicht im Grundsätzlichen ändern. Auch dieser zweite Fall verdeutlicht, wie ein Unterschied in der Theorie Unterschiede in der Beschreibung von Sprachzuständen zur Folge hat — und damit natürlich auch Unterschiede in der Beschreibung der Verände­ rungen, die zu den Sprachzuständen geführt haben. Obwohl die Trans­ formationsgrammatik keine Prinzipien aufgestellt hat, die den Beschrei­ ber von Sprache und Sprachgeschichte zwängen, vorgegebene Daten in einer bestimmten Weise zu beschreiben, sah die durch sie bestimmte Pra­ xis doch stets so aus, daß die “zugrundeliegenden” Formen so lange als unverändert angesetzt wurden, wie die Formen in irgendeinem Kontext noch erschienen, während alle Veränderungen als Änderungen in dem ursprünglichen Regelsystem beschrieben wurden, nämlich als Verallge­ meinerung einzelner Regeln oder Umordnung zweier oder mehrerer Re­ geln, und daß eine neue “zugrundeliegende” Form erst angesetzt wurde, wenn keine Formenalternation mehr vorlag. Die Natürliche Generative Grammatik hingegen hat Prinzipien erarbeitet, die den Beschreiber von Sprache und Sprachveränderung, der im Rahmen dieser Theorie arbeitet, zwingen, für ein sehr frühes Stadium der Sprachveränderung Relexikali- sierung anzusetzen, nämlich sobald eine neue Isolationsform fixiert ist, und die ihn daran hindern, Sprachveränderung als Änderung in einer vorgeschriebenen Regelordnung zu beschreiben. Regelverallgemeinerung und natürlich Regelverlust sind Veränderungsmechanismen, die beide Ansätze mit der traditionellen Grammatik teilen. Aber Regelumordnung läßt die Natürliche Generative Grammatik sowenig wie die traditionelle Grammatik zu, nämlich aus dem einfachen Grunde nicht, daß sie keine geordneten Regeln zulassen. Hingegen berücksichtigt die Natürliche Ge­ nerative Grammatik den Fall, daß durch die Relexikalisierung eine Regel entsteht, die residuale Formen aus den neuen lexikalischen Formen ab­ leitet (Regelumkehrung). Die Adäquatheit der durch diese Theorie dik­ tierten Beschreibungen ist in einer Reihe signifikanter Fälle nachgewie­ sen worden, so ja auch in den beiden hier vorgestellten Fällen, in denen die Realität der Umkehrregel durch ihre Verallgemeinerung erwiesen wurde. Die durch die Theorie erzwungene Ansetzung frühzeitiger Re­ strukturierung mit Regelumkehrung 23 hat in einigen praktischen Fällen zu Beschreibungen geführt, die sich vom Standpunkt der Transforma­ tionsgrammatik aus radikal abweichend ausnehmen, die aber, wenn älte­ re, im Rahmen der vorstrukturalistischen Grammatik oder außerhalb der strukturalistischen und der transformationalistischen Linguistik durch­ geführte Beschreibungen vorliegen, mit diesen im Einklang stehen .24 (Dasselbe gilt ja auch für die beiden hier besprochenen Fälle.) Die neueste

33 Linguistik ist also in höherem Maße mit der deskriptiven Praxis der be­ deutenden Grammatiker der älteren Zeit verträglich als gewisse Entwick­ lungsstufen der neueren Linguistik. Man kann sagen, daß die neueste Lin­ guistik, ohne daß dies zu ihren Zielen gehört hätte, eine Theorie der Grammatik und der Grammatikveränderung geschaffen hat, die zu der aus Erfahrung und Intuition entwickelten Praxis der traditionellen Sprach- beschreibung und Sprachgeschichtsschreibung in wichtigen Punkten die theoretische Grundlage darstellt.

III

Als zweites Beispiel möchte ich eine neuere Entwicklung in der Syntax­ forschung besprechen. In der Sprachbeschreibung und der Sprachge­ schichtsschreibung hat, unter den verschiedensten Namen wie Modifika­ tion, Qualifikation, Bestimmung und Determination, der Begriff der Spezifikation eines sprachlichen Ausdrucks durch einen anderen seit je­ her eine Rolle gespielt, ausgenommen allerdings die Transformations­ grammatik. Neuerdings hat dieser Begriff in der theoriebezogenen Wort­ stellungsforschung große Bedeutung erlangt; den Anstoß dazu gaben die typologischen Untersuchungen von Greenberg.25 Der Begriff war allerdings nie allgemein und genau definiert worden; er gründete sich auf eine vage semantische Intuition. Infolgedessen finden sich bei verschie­ denen Autoren verschiedene Anwendungen des Begriffs. Z.B. engt Bloomfield ihn auf den Fall der Attribution (der “endozentrischen Kon­ struktionen”) ein; Trubetzkoy läßt außer der Attribution auch bestimm­ te Fälle der Komplementation zu, so die Relation des Objekts zum , aber nicht die des Subjekts zum Verb; in dem Aufsatz “Sprachtheorie” von Bartsch und mir ist auch die Subjekt-Verb-Relation als Spezifikations­ beziehung zugelassen.26 Auf den Begriff der Spezifikation gründet sich der auch für die Beschrei­ bungspraxis wichtig gewordene Begriff der wortstellungskonsistenten Sprache als einer Sprache, in deren Grundwortstellung Spezifikatoren ihren Spezifikaten entweder sämtlich vorangehen (konsistent präspezifi- zierende Sprache) oder sämtlich folgen (konsistent postspezifizierende S prache).27 Winfred P. Lehmann hat, ausgehend von Ergebnissen der äl­ teren Forschung, die Thesen aufgestellt, daß das Proto-Indoeuropäische zum präspezifizierenden Typus gehörte und daß die Entwicklung der europäischen Tochtersprachen im wesentlichen eine solche vom präspezi­ fizierenden Typus fort und hin zum postspezifizierenden Typus gewesen sei und noch sei; so zuletzt in seinem Buch “Proto-Indo-European Syn­ ta x ”.28 Hierüber scheint sich nun eine Kontroverse zu entwickeln; jeden-

34 falls findet sich Lehmanns Ausgangsthese in Frage gestellt in Paul Fried­ richs Aufsatz “The Devil's Case: ‘PIE as SVO’ ”.29 Die sich hier abzeichnende Kontroverse ist offensichtlich eine solche der Sprachbeschreibung und der Sprachgeschichtsschreibung; geführt aber wird sie über einen linguistischen Begriff, den der Spezifikation. Die Fra­ ge lautet: War das Proto-Indoeuropäische eine vorwiegend präspezifizie- rende (Lehmann) oder eine vorwiegend postspezifizierende Sprache (Friedrich)? In einer solchen Situation ist es offensichtlich von größter Wichtigkeit, daß der theoretische Begriff völlig klar ist; denn sonst ist bei der Beurteilung spezifischer rekonstruierter Phänomene dem Forscher ein individueller Spielraum gelassen, der nur zu immer neuer Verwirrung führen kann und eine Lösung des Problems prinzipiell unmöglich macht. Ich will an einem konkreten Fall erläutern, was ich meine. Friedrich, auf der Suche nach postspezifikativen syntaktischen Relationen im Proto- Indoeuropäischen, untersucht auch Syntagmen mit lokativen Adverbial­ partikeln und einerseits Verben, andererseits Nominalausdrücken — Syn­ tagmen, die auch im heutigen Deutsch sehr häufig sind, z.B. aus-fäbrt, aus Mannheim; mit-geht, mit Peter. Er schreibt:

“ Locative Auxiliaries: Preposing These little units (1) can stand in immediate construction with a , with which they share a dominating noun phrase node3®, in which case they function to disambiguate case subcategories: or (2) can stand in immediate construc­ tion with a verb, with which they share a dominating verb phrase node, in which case they function to disambiguate aspectual subcategories. ... Both the case and the aspect categories are spatio-temporal. ... Rather than call them 'preverbs’ in one part of the grammar, and ‘prepositions’ or ‘postposi­ tions’ in another part, I will call them ‘locative auxiliaries’. ... The locative auxiliaries are of differential relevance to the problem at issue here. The evidence is that they normally preceded the verb, as is consonant with the type II hypothesis [das ist die These, daß das Proto-Indoeuropäische eine SVO-Sprache, also eine vorwiegend postspezifizierende Sprache war]. The key, moot involves adnominal position: were they preposed or postposed? ... PIE was probably ambivalent, with preposing somewhat more frequent and less marked.... The probability of such preposing significantly decreases the likelihood that SOV was dominant, and increases the likelihood that PIE was VO, whether I or II [das heißt, daß das Proto-Indoeuropäische eine Verb-vor-Objekt-Sprache war, und zwar entweder vom Subtypus I (VSO, mit dem Subjekt zwischen Verb und Objekt) oder vom Subtvpus II (SVO), jedenfalls also eine vorwiegend postspezifizierende Sprache].” Friedrich betrachtet also die rekonstruierte bevorzugte Stellung der Ad­ verbialpartikeln sowohl v o r dem Verb (analog deutsch aus vor fä h rt) als auch v o r dem Nominalausdruck (analog deutsch aus vor M annheim ) als Evidenz für die Hypothese, das Proto-Europäische sei eine VO-Spra-

35 che, also eine vorwiegend postspezifizierende Sprache gewesen. Er sieht also das Verhältnis des Verbs zum “Präverb” und das Verhältnis des No­ minalausdrucks zur “Präposition” als parallel und beide als parallel zum Verhältnis des Objekts zum Verb; in der hier verwendeten Sprechweise: er betrachtet sowohl das Verb als auch den Nominalausdruck als Spezifi­ kator zur Adverbialpartikel. Hier ist offenbar genau die Stelle erreicht, an der die Argumentation zu­ sammenbricht, wenn es keine vom Fall unabhängige Definition des Spe­ zifikationsbegriffs gibt. Nun hat die neueste Linguistik eine solche Defini­ tion angegeben; aber Friedrich hat sie nicht benutzt. Diese Definition besagt, daß das Spezifikat diejenige Konstituente ist, deren Kategorie mit der Kategorie des Gesamtausdrucks übereinstimmt, abgesehen von Unter­ schieden in der Stelligkeit.31 Ändert sich die Stelligkeit nicht, so liegt der Spezialfall der Attribution vor; ändert sich die Stelligkeit, so der der Komplementation. Z.B. ist schnell in schnell fä h rt Spezifikator, nämlich Attribut zu fä h rt, und den A p fe l ist Spezifikator, nämlich Komplement zu ißt in den Apfel ißt; denn schnell fährt ist von derselben Kategorie wie fährt, und den Apfel ißt von derselben Kategorie, allerdings bei um eins verminderter Stellenzahl, wie ißt. Nehmen wir an, beide komplexen Prä­ dikate bildeten mit Peter als Subjekt einen Satz, seien also komplexe intransitive Verben. Als solche sind sie — in der formalen Kategorialgram- matik — von der Kategorie s/n, da sie mit dem Nominalausdruck (n) Peter einen Satz (s) bilden. Auch fä h rt ist von der Kategorie s/n, und zwar aus demselben Grunde. Das Modaladverb schnell, das sich hier mit einem intransitiven Verb zu einem komplexen intransitiven Verb verbindet, ist also von der Kategorie (s/n) / (s/n). Hier stellt sich das Attributionsver- hältnis also auch formal dar:

Peter schnell fährt n (s/n) / (s/n) s/n

s/n

s

Der Prozeß, nach dem sich dies errechnet, ist der der einfachen Katego­ rienmultiplikation: Für Kategorien g, h, k ist h-k = g genau dann, wenn entweder h die Gestalt g/k oder k die Gestalt g/h hat; sonst ist h-k = O. W ährend den Apfel ißt von der Kategorie s/n ist, ist iß t von der Katego­ rie (s/n)/n, denn als transitives Verb verbindet es sich mit einem Nominal­ ausdruck (n) zu einem intransitiven Verb (s/n):

36 Peter den Apfel( ißt 1 - v 1 n n (s/n)/n

s/n J s

In dieser Darstellung drückt sich auch formal aus, daß sich die Kategorie von den Apfel ißt genau durch die um eins verminderte Stellenzahl von der Kategorie von ißt unterscheidet, daß also den A p fe l Komplement zu ißt ist. Wenden wir nun diese Definition auf das bei Friedrich bemerkte Problem an; ich benutze die deutschen Beispiele zur Verdeutlichung. Nehmen wir an, aus-fäbrt und aus Mannheim stünden in den Kontexten Peter aus-fährt und Peter aus Mannheim fährt, Ausdrücken von der Kategorie s. Da auch Peter fährt von der Kategorie s ist, sind aus-fährt, aus Mannheim fährt und fä h rt alle von derselben Kategorie, nämlich s/n. Die Adverbien aus und aus Mannheim verändern die Kategorie von fä h rt nicht; sie sind also beide von der Kategorie (s/n) / (s/n). Daran sehen wir zunächst, daß aus in aus-fäbrt Attribut, also Spezifikator zu fä h r t ist. Allgemein: (1) “Präverbien” sind Spezifikatoren zu Verben. M annheim ist von der Kategorie n; aus in aus Mannheim ist also von der Kategorie ((s/n) / (s/n)) / n, wie die Ausführung der Kategorienmultipli­ kation sofort zeigt:

Peter aus - fä h rt n (s/n) / (s/n) s/n I I s/n

s

37 Peter aus Mannheim fährt n ((s/n) / (s/n)) / n n s/n

(s/n) / (s/n)

s/n

s

M annheim ist in aus Mannheim also Komplement, mithin Spezifikator zu aus (während natürlich aus Mannheim als Ganzes Attribut und also Spezifikator zu fä h rt ist); denn aus und aus Mannheim unterscheiden sich hier kategoriell ausschließlich durch die Stellenzahl: aus ist einstellig, aus Mannheim nullstellig. Allgemein: (2) Nominalausdrücke sind Spezifikatoren zu “Präpositionen”. Wir sehen also, daß Friedrich die Situation falsch beurteilt hat: Nur die “Präpositionen”, die nach (2) in postspezifizierende Konstruktionen ein- treten, stützen seine These, daß das Proto-Indoeuropäische vorwiegend postspezifizierend war (während “Postpositionen” ihr widerstreiten wür­ den); die “Präverbien” hingegen stützen diese These keineswegs, da sie nach (1) in präspezifizierende Konstruktionen eintreten. Natürlich steht es Friedrich frei, diesen Angriff zurückzuweisen. Aber dazu müßte er eine allgemeine Theorie der Spezifikation — vom hier skizzierten Charakter — entwerfen, derzufolge sich Verben als Spezifikatoren zu ihren Partikelad­ verbien erwiesen. Eine solche Theorie ist mir nicht bekannt, und ich kann sie mir auch nicht vorstellen.32

IV

Mein Beispiel aus der Syntax zeigt noch einmal deutlich die drei Aspekte des Zusammenhangs von Linguistik und Sprachbeschreibung bzw. Sprach­ geschichtsschreibung, die ich am Anfang von Abschnitt II hervorgehoben habe: 1. Es zeigt, wie relevante Aspekte beschriebener Sprache und Sprachgeschichte auf seiten der Linguistik zu einer Theorie (der Theorie der Spezifikation, der Wortstellungskonsistenz usw.) geführt haben. 2. Es zeigt, wie umgekehrt diese Theorie bei der Beschreibung als Kon- trollinstrument eingesetzt werden kann. 3. Es zeigt, wie von der Linguistik Impulse zur intensiveren Erforschung zuvor wenig beachteter Aspekte einzelner Sprachen und ihrer Geschichte ausgehen können: Das Vorwie-

38 gen der Wortstellungsforschung in der einzelsprachlichen Syntaxforschung ist zweifellos als Rückwirkung der Theoretisierung dieses Bereichs in der Linguistik auf die Beschreibungspraxis zu beurteilen .33 Im letzten dieser Bereiche ist zu erwarten, daß demnächst detaillierte Beschreibungen der Wortstellungsgeschichte einzelner Sprachen, Sprachfamilien und Sprach- bünde vom Standpunkt der Wortstellungstheorie aus vorgelegt werden. Z.B. ist eine genaue Untersuchung der Prozesse, die, nach Ausweis der Statistiken von Fries34, das Englische in den letzten tausend Jahren im­ mer näher an konsistente Postspezifikation herangeführt haben, ein Desi­ deratum; ihre erfolgreiche Durchführung könnte umgekehrt höchst för­ dernd auf die Theoriebildung zurückwirken.

Anmerkungen

•Zugleich mit der Einladung, zu diesem Thema zu sprechen, erhielt ich ein Programm, in dem mein Name, wiewohl mit einem Fragezeichen versehen, bereits erschien. Ich danke dem Herrn Präsidenten des Instituts fur deutsche Sprache, daß er mich gleich­ wohl auf meine eindringliche Bitte hin zunächst aus dieser Pflicht entließ. Mit einem zweiten Rundschreiben erhielt ich ein Programm, in dem mein Name immer noch — oder wieder — mit ebendem Thema erschien, wiewohl mit einem Fragezeichen. So ohne Ausweg gelassen, schrieb ich diesen Vortrag. In dem bei Tagungsbeginn verteilten Programm erschienen Name und Thema dann nicht mehr. Infolgedessen wurde der Vortrag bei der Tagung nicht gehalten. Ich habe den Organisatoren die­ ser Tagung zu danken, wenn sie den Vortrag trotz dieser Verkettung von Umständen in den Tagungsbericht aufnehmen.

1 Hrsg. von Renate Bartsch und Theo Vennemann, Kronberg/Ts. 1973. 2 Vgl. Hugo Schuchardt: Über die Lautgesetze: Gegen die Junggrammatiker, Berlin 1885, S. 23, 22, 13-17. Abgedruckt und kommentiert in Theo Venne­ mann und Terence H. Wilbur: Schuchardt, the Neogrammarians, and the Transformational Theory of Phonological Change: Four Essays, Frankfurt am Main 1972; vgl. dort S. 25, 24, 17-21. 3 Vgl. Kap. 4 von Raimo Anttila: Analogy, University of Helsinki, Depart­ ment of General Linguistics (Dress Rehearsals, 1), 1974; erscheint in Janua Linguarum, Series Critica. 4 André Martinet: Function, Structure, and Change, in: Word 8 (1952), 1-32. Abgedruckt in Allan R. Keiler (Hrsg.): A Reader in Historical and Comparative Linguistics, New York 1972, S. 139-174. 5 Ich denke z.B. an den Zusammenhang von Monophthongierung und Diph­ thongierung im Althochdeutschen (vgl. G. Moulton: Zur Geschichte des deutschen Vokalsystems, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 83 (1961), 1-35, und meinen Aufsatz “Phonetic Detail in Assimilation: Problems in Germanic Phonology” in Language 48 (1972), 863-892, § 2), an die bedeutenden Vokalveränderungen

39 im mittelalterlichen Englischen und Deutschen und an die germanische und deutsche Konsonantenverschiebung. 6 D. King: Push chains and drag chains, in: Glossa 3 (1969), 3-21. 7 Z.B. Morris Halle: Phonology in Generative Grammar, in: Word 18 (1962), 54-72, mit geringfügigen Änderungen abgedruckt in Jerry A. Fodor und Jerrold J. Katz (Hrsg.): The Structure of Language: Readings in the Philo­ sophy of Language, Englewood Cliffs, N.J. 1964, S. 334-352; Paul Kiparsky: Linguistic Universals and Linguistic Change, in: Emmon Bach und Robert T. Harms (Hrsg.): Universals in Linguistic Theory, New York 1968, S. 170- 202, abgedruckt in Keiler (s.o. Anm. 4), S. 338-367; Robert D. King: Histo­ rical Linguistics and Generative Grammar, Englewood Cliffs, N.J. 1969; Ar­ beiten von Elizabeth Closs Traugott, zuletzt: A History of English Syntax: A Transformational Approach to the History of English Sentence Structure, New York 1972. Vgl. auch den Sammelband Robert P. Stockwell und Ronald K.S. Macaulay (Hrsg.): Linguistic Change and Generative Theory, Bloomington 1972. 8 Vgl. “Linguistik” in “Linguistik und Nachbarwissenschaften” (s.o. Anm. 1) sowie “Sprachtheorie” in Peter Althaus et al. (Hrsg.): Lexikon der Ger­ manistischen Linguistik, Tübingen 1973, S. 34-55, insbesondere § 3 und § 4. 9 Typological Studies and their Contribution to Historical Comparative Lin­ guistics, in: Proceedings of the VIII International Congress of Linguists (Oslo 1958), 17-25. Abgedruckt in Roman Jakobson: Selected Writings I, Den Haag 1962, S. 523-532, und in Keiler (s.o. Anm. 4), S. 299-305. Zitiert nach Keiler, S. 304 f. 10 S. o. Anm. 5. 11 S. o. Anm. 7. 12 Charles W. Kisseberth: On the Abstractness of Phonology: The Evidence from Yawelmani, in: Papers in Linguistics 1 (1969), 248-282; Larry M. Hyman: How Concrete is Phonology?, in: Language 46 (1970), 58-76; John Crothers: A Note on the Abstractness Controversy, in: Monthly Internal Memorandum, November 1970, Berkeley, University of California, Phonology Laboratory, POLA, 1-22; Theo Vennemann: Phonological Concreteness in Natural Gene­ rative Grammar, in: W. Shuy und Charles-James N. Bailey (Hrsg.): Towards Tomorrow’s Linguistics, Washington, D.C. 1974, S. 202-219; Joan B. Hooper: Aspects of Natural Generative Phonology, Diss., University of California, Los Angeles, 1973 (erhältlich durch University Microfilms Inc., Ann Arbor, Michigan). 13 In Anthony Bruck et al. (Hrsg.): Papers from the Parasession on Natural Phonology, Chicago 1974, S. 346-374. 14 Rule Inversion, in: Lingua 29 (1972), 209-242. 15 A. Macdonell: A Vedic Grammar for Students, Bombay 1916 (Nach­ druck von 1966), § 28. Macdonell fährt fort: “k, t, or t, when they follow an r and belong to the root, are allowed to remain [Fußnote: “The only instance of a remaining after r is in dar-t 3.s.aor. of dr ‘cleave'^beside ä-Jar 2.s. (for a-dar-s). ”]; e.g. vark 3.s.aor. of vrj ‘bend’ (for vark-t); urk nom.s. o f ürj ‘strength’; a-märt 3.s. impf, o f mrj ‘wipe’; 3-vart 3.s.aor of vrt

40 / / ‘turn’; su-hàrt nom.s. of suhSrd ‘friend’.” Fußnote bei Macdonell; “That is, in the nom.s. and acc.pl.m., which ori­ ginally ended in ns.” Fußnote bei Macdonell: “That is, in the nom.s.and acc.pl.m., which ori­ ginally ended in ns." Die Regeln für die Assimilation von s zu s vor palatalen Obstruenten und die Schwächung von n zu Anusvära (m) vor Sibilanten wären in beiden Beschrei­ bungen dieselben. Albert Thumb: Handbuch des Sanskrit, Bd. 1.1, 3. Aufl. von Hauschild, Heidelberg 1958, § 180. Alle Beschreibungen sind Ludwig Merkle: Bairische Grammatik, München 1975, entnommen. Vgl. insbesondere S. 9 und S. 30-33. Die unterschiedliche Behandlung der finiten und infiniten Verbformen er­ klärt sich aus der Stellungssyntax des Bairischen: Wegen der Frühstellungs­ regeln für finite Verben in unabhängigen Sätzen und der Satzklammer sowie der Häufigkeit dieser Satztypen gegenüber dem eingeleiteten abhängigen Satz stehen finite Verbformen viel häufiger in syntaktischem Nexus als infi­ nite, so daß sich die Erinnerung an die “etymologisch gerechtfertigte” San- dhiform bei den finiten besser erhalten konnte; vgl. kenh und kema in Mw ketià(r) avià(r) aa(r) h(n) andàsmSi kemit ‘Wir können aber auch ein andermal kom men’. In da Zwo'ära (*dà Zwoàà) ‘der Zweier (= die Zwei)’ ist r sogar zwischen Stamm und Suffix eingedrungen. Über die verschiedene Behandlung der Restrukturierung von Grammatiken in der Transformationsgrammatik und der Natürlichen Generativen Gramma­ tik habe ich ausführlicher in “Restructuring”, in: Lingua 33 (1974), 137-156, gesprochen. Partielle Sprach- und Sprachveränderungsbeschreibungen von diesem Stand­ punkt aus finden sich z.B. in den folgenden Arbeiten: Russell Schuh: Rule Inversion in Chadic, in: Studies in African Linguistics 3 (1972), 379-397; J. Klausenburger: Rule Inversion, Opacity, Conspiracies: French Liaison and Elision, in: Lingua 34 (1974), 167-179; Theo Vennemann: Rule Inversion and Lexical Storage: The Case of Sanskrit Visarga, Vortrag, International Conference on Historical Linguistics, Ustronie, Poznan, 17.-20. März 1976 (erscheint im Kongreßbericht, hrsg. v. Jacek Fisiak); vgl. auch den Abschnitt “ Rule Inversion” in Larry M. Hyman: Phonology: Theory and Analysis, New York 1975, S. 176-178. Some Universals of Grammar with Particular Reference to the Order of Meaningful Elements, in: Joseph H. Greenberg (Hrsg.): Universals of Language, 2. Aufl., Cambridge, Mass. 1966, S. 73-113. Abgedruckt in Keiler (s.o. Anm. 4), S. 306-337. Leonard Bloomfield: Language, New York 1933, S. 194-198; Prince N. Trubetzkoy: Le rapport entre le determine, le déterminant et le défini, in: Mélanges de linguistique offerts à Charles Bally, Genf 1939, 75-82 [abge­ druckt in: Eric P. Hamp et al. (Hrsg.): Readings in Linguistics II, Chicago 1966, S. 133-138] ; Renate Bartsch und Theo Vennemann: Sprachtheorie (s.o. Anm. 8), § 5.2.4. 41 27 Der Begriff der Konsistenz ist von Winfred P. Lehmann im Anschluß an Greenberg eingeführt worden. Zu Lehmanns langer Reihe von Aufsätzen zu diesem Thema vgl. die Bibliographie, insbesondere ab 1971, in seinem Buch “Proto-Indo-European Syntax”, Austin 1974, S. 260 f. 28 S. o. Anm. 27. — Charakteristische Aspekte dieser Entwicklung sind, mit direktem Bezug auf den Begriff der Spezifikation, beschrieben in meinen Aufsätzen “Topics, Subjects, and Word Order: From SXV to SVX via TVX”, in: John M. Anderson and Charles Jones (Hrsg.): Historical Linguistics, Amsterdam 1974, Bd. 1, S. 339-376 [mit erheblichen Auslassungen und Entstellungen deutsch abgedruckt in Gudula Dinser (Hrsg.): Zur Theorie der Sprachveränderung, Kronberg/Ts. 1974, S. 265-314]; “An Explanation of D rift”, in: Charles N. Li (Hrsg.): Word Order and Word Order Change, Austin 1975, S. 269-305; “ Zur Entstehung der Nebensätze im Germani­ schen” (erscheint in der Festschrift für Winfred P. Lehmann, hrsg. v. Jerome Bunnag und Paul Hopper). 29 Erscheint in Linguistic Studies Offered to Joseph Greenberg on the Occasion of his 60th Birthday, hrsg. von Alphonse Juilland. 30 Friedrich sagt irrtümlich “noun” und “noun phrase”, wo er beziehentlich “noun phrase” und “adverbial phrase” meint; aber diese kategoriellen Ver­ wechslungen haben keine weiteren Konsequenzen für die Diskussion. 31 Diese Definition ist gegeben in Renate Bartsch und Theo Vennemann: Semantic Structures: A Study in the Relation between Semantics and Syn­ tax, Frankfurt am Main 1972, S. 136. Die genaueste Fassung dieser Defini­ tion, und zwar im Rahmen der formalen Kategorialgrammatik, findet sich in meinem Aufsatz “Categorial Grammar and the Order of Meaningful Ele­ ments” (erscheint in der Festschrift für Greenberg, s.o. Anm. 29). 32 Im Englischen, einer nahezu konsistent postspezifizierenden Sprache, gehen Partikeladverbien in beiden Funktionen ausschließlich in postspezifizierende Konstruktionen ein: comes in (*in comes), in London (*London in). 33 Vgl. den Sammelband “Word Order and Word Order Change” (s.o. Anm. 28). Zwei erst in Manuskriptform vorliegende größere Arbeiten zum Deutschen, die von der Wortstellungstheorie ausgehen, sind Klaus-Peter Lange: Deutsche Syntax und natürliche Semantik, Universität Mainz, 1975, und O.C. Dean, Jr.: The Significance of Word-Order Typology for the Basic Position of the Verb in a Grammar of German, Diss University of Georgia, Athens, 1974. 34 Charles C. Fries: On the Development of the Structural Use of Word-Order in Modern English, in: Language 16 (1940), 199-208.

42 LAURITS SALTVEIT

Mundartenkunde und Sprachgeschichte

Nachdem Theodor Frings in den bekannten “Kulturströmungen und Kul­ turprovinzen in den Rheinlanden” bei den Formen gän/gen festgestellt hat, daß “die geschriebene Überlieferung des Mosellandes und der südlich angrenzenden Gegenden ... in gleichem Sinne” sprechen, heißt es: “So wertvoll diese Unterbauung unserer Ausführungen, so wertvoll auch die gegenseitige Belichtung erscheinen mag, in die wir damit Dialektgeographie und schriftliche Überlieferung gerückt sehen: wir könnten ihrer im Not­ fälle entbehren ”.1 Dieser Gesichtspunkt der “gegenseitigen Belichtung” war damals nicht so selbstverständlich, wie er heute erscheinen mag. — Georg Wenker selbst war, als er 1876 — also vor genau 100 Jahren — zum ersten Mal seine Sätze hinausschickte, von der positivistisch-junggrammatischen Überzeu­ gung ausgegangen, die Sprachgesetze hätten eine absolute Gültigkeit, und er beabsichtigte, durch seine Befragung nachzuweisen, daß unter densel­ ben Bedingungen in allen Wörtern dieselben Änderungen einträten. — Daß sich gerade im rheinischen Gebiet, wo Wenker aus guten Gründen seine Untersuchung zuerst durchführte, ein völlig anderes Bild herausstei­ len mußte, sei nur nebenbei bemerkt; wichtiger ist, daß in junggrammati­ schen Kreisen das Primat der Sprachgeschichte und deren Gesetze, die von den Befunden in den Mundarten als erwiesen galten, noch lange er­ halten blieben. So lautete es noch ein paar Jahre nach den ersten Untersu­ chungen Wenkers in den “Morphologischen Untersuchungen” IX: “ln allen lebenden volksmundarten erscheinen die dem eignen laut- gestaltungen jedesmal bei weitem consequenter durch den ganzen sprach- stoff bei ihrem sprechen innegehalten, als man vom Studium der älteren blos durch das medium der schrift zugänglichen sprachen her erwarten sollte.”2 Auch galten die Mundarten selbst bisher als in dem Sinne geschichtlich bestimmt, daß sie die Sprache der alten Stämme, Bayern, Schwaben, Ale­ mannen, Franken, Thüringer, Sachsen, waren, und noch 1895 konnte Wenkers berufener Kritiker, Otto Bremer, sagen: “Die Grenzen haben sich seit den Zeiten Clodwigs nicht erheblich verschoben.”3 — Die mund­ artlichen Eigentümlichkeiten wurden demnach als etnische Besonderhei­ ten aufgefaßt; man darf in diesem Zusammenhang an Eduard Wechslers “Artikulationsbasis” erinnern, die er begrifflich von Eduard Sievers’ “Operationsbasis” übernommen hatte und die als ererbte Eigenschaft

43 galt.4 — Daß dieser Gesichtspunkt in unserer Zeit kaum als völlig über­ holt gelten kann, bezeugt eine Arbeit von R.W. Thompson und L.F. Brosnahan aus dem Jahre 1959, die vorgibt erwiesen zu haben, daß Volks­ gruppen mit einem Übergewicht der Blutgruppe 0 besonders viele denta­ le Spiranten in ihrer Sprache haben.5 — In diesem Zusammenhang ist es wohl auch nicht ganz abwegig, Chomskys “Intuition” als ererbte Fähig­ keit am Rande des Blickfeldes zu behalten. Seit Heinrich Morf, Ferdinand Wrede, Karl Haag, T. Ramisch und nicht zuletzt seit Karl Bohnenbergers “ Über die Ostgrenze des Alemannischen”6 ist man sich wohl aber im großen und ganzen darüber einig, daß es sich mit den Mundarten völlig anders verhält; daß ihre Grenzen häufig die al­ ten Stammesgebiete durchqueren und daß, wenn sie tatsächlich mit den Stammesgrenzen zusammenfallen, dies die Folge von menschlichem Ver­ kehr und von politischer und geistlicher Verwaltung ist. Auch der Begriff “Mundart” und nicht zuletzt der der “Mundartgrenze” gerieten vorübergehend in Fluß. Der Umstand, daß der erwartete gesetz­ liche Zusammenfall der mundartlichen Lauterscheinungen und die sich z.T. durchkreuzenden Tendenzen führten zu einem radikalen Zweifel an der Berechtigung dieser Begriffe. Am bekanntesten ist wohl hier die Äuße­ rung des Franzosen Gaston de Paris: “ Il n’y a réellement pas de dialectes, il n’y a que de traits linguistiques qui entrent respectivement dans des combinaisons diverses”.7 — Diese radikale Opposition gegen die übernom­ menen Begriffe wurde durch die weitere Forschung allmählich gemäßigt, und als immer noch gültig kann wohl eine modifizierte Formulierung von Karl Haag stehen: “Größere Kernlandschaften mit weitgehender Gleichartigkeit sind getrennt durch eine Reihe kleinerer Landschaften, die stufenweise von einer zur anderen hinüberleiten.”® — “Mundart” und “Mundartgrenze” decken also immer noch Realitäten; statt scharf tren­ nender Linien treten aber Bündel von Isophonen, Isomorphen und Iso­ glossen, die mehr oder weniger parallel laufen, manchmal dicht, manch­ mal weiter auseinander, nur in den seltensten Fällen mit faktischem Zu­ sammenfall. In ihrem weiteren Verhältnis zur Sprachgeschichte ist die Mundartfor­ schung nicht ganz unproblematisch geblieben. Die flächenhafte Betrach­ tung der Sprache, die sich durch Ferdinand de Saussure und die Genfer Schule vor allem in Frankreich stark geltend machte, führte zu einer ge­ wissen Selbstgenügsamkeit der Mundartforschung, die eine Gegenüber­ stellung von Mundart und älteren Sprachstufen ablehnte. So ist Wenkers französischer Kollege, Jules-Louis Gilliéron — der für seine Untersuchun­ gen bekanntlich ein völlig anderes Verfahren wählte — dafür bekannt,

44 daß er die geschichtliche Sprachbetrachtung ablehnte; aber seine bekann­ ten Routinen, “configuration” (Verteilung der Formen auf einer Einzel­ karte) und “superposition” (“Übereinanderlegen”, d.h. Vergleich zwischen mehreren Karten) enthalten trotzdem unzweifelhafte Elemente der Dia­ chronie, und wohl mit einigem Recht sagte dann auch Millardet von ihm, er gehöre zu “ces enfants ingrats qui battent leur nourrices”.9 Die eingangs zitierte Äußerung von Theodor Frings deutet in diesem Zwiespalt eine gewisse Synthese an: “wir könnten ihrer ... ent­ behren” betont allerdings die Priorität der Synchronie, “im Notfall” macht aber dabei eine gewisse Konzession an die Sprachgeschichte, und “gegenseitige Belichtung” setzt als gegeben voraus, daß alles in allem Mundartforschung der Sprachgeschichte und historische Sprachforschung der Mundartenkunde dienen können. Diese Präsentation von womöglich zum großen Teil Bekanntem schien mir notwendig, um zur aktuellen Fragestellung zu gelangen: ln welchem M aße kann heute — 100 Jahre nach Wenkers erstem Vorstoß und über 50 Jahre nach der zitierten Äußerung von Frings — die Mundartfor­ schung unsere Einsichten in die Entwicklung der Sprache vertiefen? Die Auswirkungen der synchronischen Sprachbetrachtung sind bekannt und beachtenswert: 1. Synchronie wurde im großen und ganzen als gleichwertig mit Erforschung der Gegenwartssprache angesehen, und diese Forschungsrichtung hat sich bis heute als fruchtbar erwiesen. 2. Saussures Forderung nach einer Diachronie als synchronischer Erfor­ schung der zeitlich übereinandergelagerten Sprachsysteme hat in erster Linie für Handbuchdarstellungen, weniger für die eigentliche Forschung Bedeutung gewonnen. — Jedenfalls ist man kaum über die Erforschung von Teilsystemen der einzelnen Epochen hinausgelangt — aus dem ein­ fachen Grunde, weil eine Methode, die ein ganzes Sprachsystem mit ein­ schließen sollte, zu umständlich, schwerfällig und zu sperrig wäre. — Hi­ storische Sprachforschung ist deswegen im großen und ganzen in alther­ gebrachter Weise betrieben worden. Eine der heutigen Sprachtheorien mit den dazugehörigen methodischen Grundansichten verdient besondere Erwähnung: die generative Transfor­ mationsgrammatik. Weil diese Theorie Generierung von (Basis-)Sätzen voraussetzt und mit Transformationen dieser Sätze in neue Sätze — über­ haupt mit Strukturen verschiedener Tiefe — rechnet, kann sie im strikte­ sten Sinne nicht synchron sein, ln der GT-Grammatik findet man dann auch gelegentlich Feststellungen wie: Struktur X ist ursprünglich die Struktur Y, bzw. geht auf eine ursprüngliche Struktur Y zurück oder ent­ steht aus der Struktur Y. Was heißt nun hier “ursprünglich” , was heißt

45 “zurückgehen au f’, was heißt “entstehen aus” ? — Ich weiß es nicht, ich möchte nicht sagen: m an weiß es nicht, weil ich auch nicht weiß, ob “man” es weiß oder nicht. — Die Unsicherheit — falls da wirklich eine Unsicherheit besteht — müßte dadurch zu erklären sein, daß man sich nicht darüber klar ist, in welcher Dimension sich “Generierung” bzw. “Transformation” vollziehen: 1. Sind die Vorgänge als zeitlich zu definie­ ren, und vollziehen sie sich in der Langue bzw. in der Kompetenz, dann ist “Generierung” nicht grundverschieden von “Genese” und “Transfor­ mation” etwa gleich “Veränderung”. 2. Sind die Vorgänge zeitlich und vollziehen sie sich in der Parole bzw. der Performanz, haben wir es eher mit Fragen der Ausdrucksgestaltung des Einzelsprechers auf Grund vor­ liegender bewußter, un- oder halbbewußter Systembeherrschung zu tun. 3. Vollziehen sich die Vorgänge in einer nicht-zeitlichen Dimension, wüßte ich sie nicht klar zu erfassen weder als Sache der Langue/Kompe- tenz noch als Sache der Parole/Performanz. Sie ergeben sich als abstrakte Korrelation, und die entsprechende Sprachbeschreibung als fiktiv oder imaginär. (Diese Kennzeichnung darf nicht als abwertend betrachtet wer­ den.) Die Wahl einer der beiden ersten Möglichkeiten wird dadurch erschwert, daß die Richtung der Vorgänge im Sinne der GT z.T. in direktem Gegensatz zur nachweisbaren Genese oder geschichtlichen Entwicklung steht; mit anderen Worten: Die Vorgänge erhielten wohl ein Element der Diachronie, aber keiner wahren Diachronie. — Die zweite Möglich­ keit, die Vorgänge mit der Entstehung des Ausdrucks im sprachlichen Prozeß, dem sogenannten Sprechakt, in Verbindung zu bringen, verbietet sich wohl dadurch, daß sie bei den Vertretern der GT selbst auf Wider­ stand stoßen würde. Die Frage verkompliziert sich durch eine aprioristische Festlegung der Transformations r i c h t u n g , indem von vornherein entschieden wird, welche Struktur als die tieferliegende zu gelten hat. Durch T-Regeln ent­ stehen Sätze aus anderen Sätzen, wobei als Bedingung nur genuine struk­ turelle Beziehung und als Ziel möglichst einfache Beschreibung gefordert wird. Indem allmählich die Forderung nach der jeweiligen Struktur zu­ grundeliegenden Kernsätzen mit dem Einfachheitsprinzip in Kon­ flikt geriet10, ist wohl seit Jerrold Katz und Paul Postal die Forderung nach Bedeutungsgleichheit von Transformand und Transfor­ mat stärker in den Vordergrund gerückt.11 Meinem Versuch soll eine Grammatik zugrundegelegt werden, die in be­ zug auf Richtung der Vorgänge wertneutral ist, ich nenne sie versuchs­ weise v a r i a t i v e Grammatik. — Kurz ausgedrückt: Wenn eine Struk­

46 tur X in der Hochsprache mit einer Struktur Y in einer Mundart in Bezie­ hung gesetzt wird, muß zuerst nachgewiesen werden, ob die eine als Va­ riante der anderen angesehen werden kann. Hier ist die B e d e u t u n g s g 1 e i c h h e i t entscheidend. Wenn eine positive Entscheidung getroffen ist, muß nachgewiesen werden, ob X aus Y, Y aus X oder XY aus einer etwaigen dritten Struktur Z entstanden sind. Die Zeitdimension wird also erst auf der zweiten Arbeitsstufe eingeführt. — Als Erklärung der wechseln­ den Blickrichtung X — Y, Y — X sei folgendes vorausgeschickt: Dialekto­ logie hat man nicht zuletzt aus dem Grunde betrieben, weil die Mundar­ ten so viele ursprüngliche Züge bewahrt haben (vgl. das obige Zitat von Frings). Arthur Hübner hat bestimmt richtig gesehen, als er schrieb: nicht weniges, was im Vergleich zur Schriftsprache als mundartliche ­ derbildung erscheint, ist in Wirklichkeit nur altererbter, ehemals auch der Schrift gemäßer syntaktischer Gebrauch” 12. — Dies stimmt nicht zuletzt für die sogenannten Reliktgebiete, an denen der Verkehr vorbeigelaufen ist oder die in fremdsprachlicher Umgebung abgeriegelt geblieben sind. — Andererseits darf man nicht davon absehen, daß es auch das gibt, was Hübner als “mundartliche Sonderbildungen” bezeichnet, die nicht weni­ ger interessant und für die Betrachtung der Hochsprache in geschichtli­ cher Sicht von Bedeutung sind. Statt mich nun weiter in theoretischen Erwägungen zu verlieren, ziehe ich es vor, ein paar Beispiele anzuführen, die sich mit der syntaktischen Komponente der Sprache beschäftigen und die zum großen Teil auf eige­ ne Forschung zurückgehen. Zunächst zwei einfache Sätze: (1) Er bleibt liegen (2) Er b leibt stehen Jede Satzanalyse würde den verbalen Teil dieser Sätze analysieren als Finitummit einfachem Infinitiv, und in der Form, wie diese Wendungen in der Hochsprache einschließlich der meisten Mundarten verwendet werden, scheint gegen eine derartige Analyse nichts Ernsthaftes einzu­ wenden zu sein. Schwieriger wird ein solches Analyseverfahren aber in einigen bairischen Mundarten, vor allem in der Gegend Nürnberg — Richtung Eger, an der Grenze entlang bis nach Cham und in westlicher Richtung über Regens­ burg — Ingolstadt. Die entsprechenden Wenkersätze 14 und 25 finden sich innerhalb dieses Gebietes, allerdings mit recht unterschiedli­ cher Verbreitung, etwa in folgender Form: (1 ’) Er bleibt liegad

47 (2 ’) Er b leibt steiad Nach Wenker finden sich völlig analoge Formvarianten in fremdsprachli­ cher (kaschubischer) Umgebung bei Deutschkrone in Ostpommern :13 (1” ) he b lift liggant (2” ) he blift st au an t Das Arbeitsverfahren Wenkers läßt keinen Zweifel daran, daß alle diese Formen mit denen der hochsprachlichen Ausgangssätze synonym sind, und sie dürfen also als Varianten betrachtet werden. — Vor allem die pommerischen Formen erlauben uns, die waagerechte variative Achse in senkrechter Richtung zu projizieren, wobei sie sich mit den älteren — et­ wa mittelhochdeutschen — Formen liggende bzw . stende/stande begegnen. Dadurch erhält die Achse diachronischen Wert, und die mit bleiben/blivien verbundenen Formen stellen sich genetisch als ursprüngliche Part.Präs. heraus. — In diesen und in weiteren bairischen Gegenden ist das Suffix -ad formbildendes Element für das Part.Präs. auch in anderer Funktion, z.B. attributiv: e lafads Kind (‘ein laufendes Kind’), bei einigen Formen auch adverbial: brinnad/siadad hoass (‘brennend/siedend h eiß’). Allerdings ist die Endung -ad im Bairischen gleichzeitig die mundartliche Entsprechung des hochsprachlich nominalableitenden -ig. 14 Es gibt aber verhältnismäßig wenig Fälle, in denen die Deutung unsicher wird. Ein solcher Fall wäre hosad, das entweder als Nominalableitung *hasig (von H ase) oder als Part. Präs. *hasend (von hosn/*hasen = ‘laufen wie ein Hase’) interpretiert werden kann. (Eine geringe Anzahl Informan­ ten hat die zweite Interpretation bevorzugt.) — Aus dem folgenden wer­ den sich weitere Unterscheidungsmittel dieser Formen ergeben. Welche Folgen haben nun diese Gegebenheiten für die Interpretation der Form en stehen und liegen m it bleiben in der Hochsprache? In der tradi­ tionellen Analyse wurden die Formen als bezeichnet. Ist es nun möglich, sie als Partizipien zu bezeichnen, oder verfällt man dadurch der verpönten Vermengung von Synchronie und Diachronie? — Ich setze in einem solchen Fall kein großes Vertrauen auf die Intuition, und wenn die Antwort auf eine direkte Frage wahrscheinlich “ Infinitiv” werden würde, steckt wohl in einer solchen Antwort ein beträchtlicher Teil Schulbildung und Gewohnheit. Ich selbst als Skandinavier darf natürlich hier nicht mitreden, weil die skandinavischen Sprachen wie das Bairische das Part. Präs. haben; ich meine aber, daß auch mancher sprachlich bewußte Deutsche sich über diesen Infinitiv Gedanken gemacht und ihn direkt als störend empfunden hat. Unbefangene deutsche Sprecher umschreiben auf Anfrage stehen/liegen bleiben mit ‘(als) ein stehender/liegender blei­

48 ben’. Eine adjektivisch-prädikative Deutung der Formen ist also für die Intuition eigentlich befriedigender und sollte auch als “Basisstruktur” gelten können, wenn man eine solche sucht. Die objektive Bestätigung einer solchen Intuition erhalten wir, wenn wir die waagerecht-variative Achse nach dem Südhang des Thüringer Waldes mit dem Hennebergischen als Kerngebiet drehen. In diesem typischen Reliktgebiet hat man diesmal nicht “den altererbten Gebrauch”, wie es bei Hübner hieß, bewahrt, im Gegenteil: es finden sich dort klare Neu­ bildungen: ( 1” ’) er b leibt linnig/lennig (2” ’) er b leibt stienig/stinnig In dem großen Mundartgebiet, das d nach n assimiliert und das -n im In­ finitiv beibehält, fallen Inf. und Part. Präs. zusammen. Hier wird aber in mitteldeutschen und niederdeutschen Gebieten, die ich hier nicht genauer abgrenzen kann, der synkretisierten Form leicht ein -ig angehängt, wenn sie in attributiver oder prädikativer Stellung die Funktion eines Adjektivs übernimmt: kokenig/kochenig. Gerade dies ist im Hennebergischen of­ fenbar auch mit liegen und stehen bei bleiben geschehen, nach meiner Ansicht ein starkes Indiz dafür, daß liegen/stehen als Infinitivformen in dieser Position störend gewirkt haben müssen. — Ein weiteres Indiz ist, daß sich im bairisch-fränkischen Grenzgebiet, d.h. z.B. in der Nürnberger Gegend, die Form stein et findet, deren -et also dem nördlicheren -ig e n t­ spricht und diesmal nicht das bairische -ad, -end sein kann, sondern, wie das n zeigt, auf ic h t/o c h t zurückgeht, also dem nhd. -ig entspricht. Zur weiteren Klärung der oben angeschnittenen Frage sollen unter ent­ sprechenden Gesichtspunkten folgende Sätze behandelt werden: (3) es macht ihn schwitzen/laufen (4) ich fand ihn dort liegen (5) er hat Vieh im Stall stehen (6) ich sah ihn dort stehen (7) ich hörte ihn plärren/husten (8) er geht hausieren/wallfahrten Diese Sätze sind die gekürzte Form einer Anzahl von Sätzen, die einer Befragung zugrundegelegt wurden. Die Befragung war ein Auswahltest, d.h. die Befragten sollten nach ihrem Sprachgefühl die Wahl treffen zwi­ schen zwei bis vier als möglich angenommenen Satzformen .15 Es wurden Fragebogen an etwa 300 Gewährspersonen des Bayrischen Wörterbuchs verschickt, und es liefen genau 270 Antworten ein, wovon rund 20 ande­

49 re — bedeutungsbeschreibende — Ausdrücke gewählt hatten und also ausscheiden mußten, so daß man von etwa 250 Antworten ausgehen kann. Sätze wie die obigen werden in der GT-Grammatik, wie z.B. von Manfred Bierwisch, auf zwei Basissätze zurückgeführt: 1. Ich fand/sah etc. ihn/es 2. Er /es lag/stand etc. Es findet dann nach Bierwisch eine Einbettung des zweiten (Konstituen­ tensatzes) in den ersten (Matrixsatz) nach bestimmten Regeln statt.16 (Ob Bierwisch auch bei m achen dieselbe Transformation unternehmen würde, möchte ich allerdings bezweifeln.) — Nebenbei bemerkt, hat man wahrscheinlich durch diese Zurückführung des Ausgangssatzes auf eine konkrete Situation und einen konkreten Vorgang bereits den Boden der Sprache verlassen, so daß man statt einer sprachlichen Grundstruktur das physisch Vorliegende, das, was Eugenio Coseriu als “die Bezeich­ nung” ansieht, beschreibt.17 Daniele Clement geht es eher darum, die beiden Realisierungsmöglichkei­ ten: 1. Ich fand, sah etc. ihn/es liegen, stehen etc. und 2. Ich fand, sah etc., daß er/es da lag, stand etc. auf eine gemeinsame Tiefenstruktur zu­ rückzuführen, die vielleicht anders aussehen müßte als die beiden Sätze bei Bierwisch. 18 — Das wichtigste ist, daß auch bei ihr, wie entsprechend bei Bierwisch, die Verbalformen liegen, stehen etc. als Infinitive betrachtet werden. Das Ergebnis der Befragung zeigt aber, daß im Bairischen auch hier — et­ was unterschiedlich auf die Sätze verteilt — die Verbalform auf -ad, je ­ denfalls als Nebenform, bei einigen der Befragten in der Oberpfalz als die einzig mögliche Form erscheint. Die Sätze werden unten in etwas norma­ lisierter Form aufgeführt, mit Angabe der Belegzahlen der einzelnen For- m en: (3 ’) es macht ihn schwitzad/laffad 234 (4’) ich fand ihn dort 1 i e ga d 143 (5 ’) er hat Vieh im Stall stäihad 40 (6’) ich sah ihn dort stäihad 35 (7 ’) ich hörte ihn plärrad/huostad 9 (8’) er g e h t hausierad : 5 / walfartad : 0 Beispiel (8) wurde nur zur Kontrolle herangezogen. Bekanntlich kann gehen sowohl mit dem finalen Infinitiv als auch mit einem “freien” prä­ dikativen Part.Präs. konstruiert werden, die letztere Fügung war von vorneherein nur für hausieren als möglich angesehen, was sich durch eine

50 — allerdings sehr geringe — Anzahl Belege mit -ad bestätigt. Eine weitere Bestätigung des adjektivisch-prädikativen Charakters dieser Form au f -ad ergibt sich aus folgenden Beobachtungen: Bei fin d e n und sehen — also Satz (4) und (6) — findet sich nicht selten eine flektierte, mit dem unbestimmten Artikel substantivierte Form mit als, nach einem Gewährsmann in Laufen sogar mit ausgehendem Nasal: ois an liegadan und in Schrobenhausen mit Nasal in der Partizipalendung: stehanda, sonst ohne Nasal: (4 ” ) ich fand ihn dort asaliegada -. 31 (6” ) ich sah ihn dort asastäihada ■■ 18 Diese Ausdrucksweise wird teils als gleichwertige Variante zur oben an­ gegebenen, teils mit Bedeutungsunterschied, seltener als die einzig mög­ liche aufgeführt. Diese Varianten mit als und substantivierter Partizipial- form entsprechen den oben angedeuteten Laienparaphrasen mit bleiben: bleibt (als) ein stehender und könnten vielleicht eher denn Bierwischs zwei Ausgangssätze und Daniele Clements daß-Satzparaphrase als Basis­ struktur der Inf.-Fügung angesetzt werden. Etwaige variative Formen aus dem Hennebergischen waren leider in die­ sem Falle bisher nicht zu ermitteln, aber in dem recht unvollständigen “Thüringischen Wörterbuch” Spangenbergs habe ich zwei Belege gefun­ den (beide so weit östlich wie Pößneck), von denen ich die wesentlichen Teile unten hervorhebe: 1. ich wall der gu garn aushelfe, ober ic h h o b olle weile k e G a l d l i e c h n i c h. 2. sinsten gob es beite, wosn steif un fest dron gleeben toten, d o s s manch eener annre Leite kennt stiehnig ma­ che.19 Durch Projektion dieser variativen Formen auf -ad mit der Ableitung auf -ig in die Vertikale begegnen sie sich mit entsprechenden Partizipalfü- gungen im Mhd. Es wären Fälle zu erwähnen wie: ich sol dich wol machen anders redende (N ik. v. B. 142); dd sf den bo ten körnende ... sach (Nib. 225,1)-,den ich da s t ende v an t (Iw. 282); so h o e r e ich wachende bi mir eine stimme (Nik. v. B. 256); wan ez h e t e diu vil süeze ir lieben herren füeze Stande in ir schozen (Arm. Heinr. 461). Daneben sind aber bekanntlich auch Belege für den Inf. bei denselben Verben zu verzeichnen: daz man hat wirdichleich gesehen den edlen hie u f erden leben (Suchenw. 12.26); auch ahd. ...sah siu druhtin

51 s t a n d a n (O. V,7,44); und got.: g a s a i h w i p sunu m ans u s s t e i - g a n (Joh. 6.62); m an horte in sere vlehen (Parz. 414,12); ahd.: then fater h o r t er sprechan (0.1,25,15 );do vunden si da sitzen ein engel wizen (Ava 1839); ahd.: thesan fundum es ... u e d an (dicentem; Tat. 194,2).20 Wie vor allem das zuletzt zitierte Tatian-Beispiel zeigt, in dem der Inf. quedan ein lat. Part.Präs. übersetzt, sind die Formen hier bei weitem nicht so eindeutig partizipial wie in (1) und (2) mit bleiben. Umso stär­ ker machen sich aber die Präs.Part.-Formen im heutigen hochsprachlichen Gebrauch bemerkbar, indem jedenfalls bei (4), (5) u. (6), vielleicht sogar bei (8), Varianten mit Part. Präs. Vorkommen: (4) Ich fand ihn dort lie­ gend, (5) er hat Vieh im Stall stehend, (8) er g eh t hausie­ rend (herum ). — Solche Varianten gab es bei bleiben nicht. Als der bekannte dänische Linguist Paul Didriksen in den vierziger Jah­ ren seine Grammatik der dänischen Sprache herausgab, hat er den Infini­ tiv und den Konj. des Präs. als eine Form mit syntaktischen Varianten bezeichnet, weil der Wegfall des -n im Inf. bereits in der Urzeit hier einen Synkretismus bewirkt hatte .21 Es entspann sich daraus eine Diskussion, wobei man diese terminologische und begriffliche Kühnheit als einen zu weitgehenden strukturalistischen Schritt rügte, ohne darauf zu achten, daß z.B. im Deutschen Benennungen bestehen, die in dieser Hinsicht nicht sehr viel besser sind. Zugegeben, daß es im Deutschen ein eindeuti­ ges Part.Präs. auf -end gibt, verwendet man nämlich in der deutschen Grammatik seit jeher die Bezeichnung “ Infinitiv” auch für Formen, die sich variativ-diachronisch als Part.Präs. herausstellen und die auch intuitiv als solche empfunden werden, d.h. in einer “tieferliegenden Struktur”, die sich diesmal innerhalb der Sprache, nämlich im seman­ tischen Bereich befindet, Part.Präs. sind — “Basisstrukturen” , von denen aus an die “Oberfläche” transformiert werden kann, ohne gegen die Dia­ chronie zu verstoßen. Das zweite Beispiel, das ich kurz vorführen möchte, entstammt dem mo­ dalen Bereich der Syntax, und wir wollen auch hier die variative Perspek­ tive auf die Mundart, und zwar auf das Niederdeutsche, richten. — Das Niederdeutsche ist nämlich vor allem dafür bekannt, daß es keine Möglichkeit hat, Konjunktiv und Indikativ zu unterscheiden, sei es daß der Indikativ als einzige Form beide Modi übernommen hat oder der Konjunktiv, wie oft im Prät. der starken Verben. Ohne daß diese Frage m.W. jemals ernsthaft untersucht worden ist, nimmt man an, die Modal­ verben seien hier als Ersatz für die fehlende formale Modusdistinktion eingetreten. Bekanntlich steht auch in der Hochsprache der präsentische

52 voluntative Konjunktiv, wie auch der Imperativ, in einem Austauschver­ hältnis zu gewissen Modalverben, und hier ist eine solche Annahme auch in der Mundart mit keinen großen Schwierigkeiten verbunden. — Etwas anders verhält es sich in dieser Hinsicht mit dem sogenannten “Irrealis”, bei dem auch “Ersatzfügungen” mit den Modalverben und dazu noch m it dS n vermutet wurden. Dieses letztere ist vor allem von Gisbert Kese- ling behauptet worden: Es hat “sich für den Irrealis eine zusammengesetzte Verbform mit d o o n herausgebildet (as wenn hei em dat glöben dee )".22 Aus Raumgründen kann ich hier keinen detaillierten Gegenbeweis führen, aber daß Keselings Behauptung anfechtbar ist, geht aus folgenden Fest­ stellungen hervor, die, obwohl sie bereits in den Hauptzügen bekannt waren, von Keseling nicht beachtet wurden, die ich aber habe nachprüfen können: d ön (‘tun’) ist im Nd. eine klare Proverbalform, die es erlaubt — nicht nur in Nebensätzen, sondern überhaupt —, das im Infinitiv stehende Verb stärker zu akzentuieren, als es die finite Form erlauben würde. Die­ ser Gebrauch verteilt sich auf drei Typen: 1. drinken deit he nich mehr 2. ik will weeten, wat hei drinken deit 3. he deit doch nich drinken! In allen drei Fällen ist der Infinitiv hervorgehoben. Um es in unserem Zusammenhang so anschaulich und einfach wie möglich auszudrücken: 3. ist das Spiegelbild von 1., einmal steht drinken (nach Erich Drachs Terminologie) an der “Eindrucksstelle” (3.), einmal an der “Ausdrucks­ stelle” (1.), in 2. steht es dort, wo bei Endstellung des Verbs die hervor­ zuhebenden Verbteile und Verbzusätze wie Partikeln etc. zu stehen pfle­ gen. Mit dem Prät. Ind./Konj. verhält es sich nicht anders: 1.’ drinken dee he nich mehr 2.’ ik will weeten, wat hei drinken dee 3.’ he dee doch nich drinken! 23 Daß außer dieser hervorhebenden Funktion, die dem Verhältnis zwi­ schen Pronomen und extraponiertem Substantiv (etwa in: diesen Mann, den meine ich nicht) verwandt ist, der iöw-Umschreibung ein modaler Inhalt zukommen sollte, ist bei dieser Distribution unwahrscheinlich. Und wie verhält es sich nun mit dem behaupteten Ersatz des präteritalen Konjunktivs durch Modalverbperiphrasen? — Zunächst zur Aufklärung: Nicht allen niederdeutschen Mundarten fehlt die Distinktion zwischen Konjunktiv und Indikativ. Wie bereits Ferdinand Holthausen nachgewie­

53 sen hat, kennt das südliche Westfalen eine solche Unterscheidung, und Torsten Dahlberg stellt sie für das Süd-Ostfälische fest.24 Wir haben es also mit einem Fall zu tun, in dem eine Mundartgrenze — allerdings eine sehr gestaffelte — ein Stammesgebiet durchquert. Ich bringe im folgenden die Ergebnisse einer kleinen Befragung von west­ fälischen Mundartsprechern. Allerdings handelt es sich diesmal um einen Übersetzungstest, aber da mein Hauptinformant Felix Wortmann war, mit Abstand der beste Kenner dieser Mundarten, halte ich die Ergebnisse trotzdem für recht zuverlässig. — Mit dem Formenbestand von Wortmanns Heimatort Münhede, Kreis Arnsberg, lauten die Sätze25: Ind. ( 4) et is earn, ä wane spaike s ö so ( 5) et k ü n sliema woan sein k o n ( 6) düt dröfte woal dat richtige dream d ro fte ( 7) k ö n e s t e mi n bietkn helpm? koneste ( 8) dat d ä ’ k nich chean dä ( 9) dat b ä r e s t e beate maken kont hareste (10) wane dat peat men köfte! k o fte (11) et sö l mi frögn, wank ik et bekäme sol... bekam (12) wan diu säu v ö 1 e s är iek möchte woles... mochte Wie die rechts angeführten Indikativformen zeigen, sind hier nicht nur distinktive Konjunktivformen schlechthin vorhanden, sie kommen sogar dort vor, wo sie in der Hochsprache fehlen: köfte — kofte (10), söl — sol (11), wöles — woles (12). Außerdem ist trotz des kaufen täte der Vorlage k ö fte benutzt, und auf direkte Frage wurde die döw-Umschreibung als ungebräuchlich angesehen, was Keselings Hypothese bereits erheblich widerspricht. Dazu kommt noch, daß dö n als einziges Verb Formenzu­ sammenfall aufweist. Die schwachen Verben haben eigene Konjunktiv­ form, soweit der Vokal umlautbar ist, (außer kö p en ) z.B. bruken-. bräch­ te — bruchte. Auch nicht ein etwaiges ‘kaufen würde' könne als köpen wöa wiedergegeben werden, obwohl wöa in der Mundart gegenüber woa distinktiv ist. Der Grund dürfte nach Wortmanns Angabe der sein, daß wöa für würde leicht mit der mundartlichen Form für wäre zusam m en­ fällt. Nach dem Norden hin nimmt die Zahl der distinktiven Verben ab, und in Höhe von Münster-Coesfeld scheint, nach den Antworten zu urteilen, in den obigen Beispielen eine klare Opposition nur bei den Verben dür­ fen, können, mögen und haben zu bestehen; man könnte in diesem Über­

54 gangsgebiet von “Modalverben” in dem etwas ungewöhnlichen Sinne sprechen, daß sie am zähesten an einer Konjunktivform festhalten und somit Träger des Systems sind, nicht aber weil sie etwa für den Konjunktiv einträten. Etwa in der Höhe von Bentheim-Osnabrück scheint aber jede formale Opposition aufzuhören, und die Frage erhebt sich dann, wie man nörd­ lich dieser Grenze Sätze wie die eben behandelten gestaltet. Die Antwort lautet: Eigentlich genauso. In der Satzgestaltung sind keine oder jeden­ falls so geringfügige Abweichungen zu verzeichnen, daß sie nicht als rele­ vante Unterschiede gelten können. Dieser Tatbestand muß einen zum Nachdenken bringen, warum und wieso eine Formendistinktion, die in einem Mundartgebiet sogar mit einem größeren Formenreichtum als in der Hochsprache hervortritt, in der Nachbarmundart einfach ausbleiben kann. Etwas zugespitzt kann die Frage folgendermaßen gestellt werden: Wenn ein “ Konjunktiversatz” eigentlich nur in der Phantasie einiger Lin­ guisten zu bestehen scheint, wie wird dann dieser Modus dort ausgedrückt, wo Konjunktiv und Indikativ formal gleich sind? Um diese Frage zu klären zu versuchen, drehen wir noch einmal unsere variative Achse nach dem Süden, genauer gesagt nach dem Alemannischen und dem Bairisch-Österreichischen. Unten sind die Sätze zuerst in ange­ nähertem Züridütsch aufgeführt, rechts davon die relevanten Verbalfor­ men in einer Mundart bei Wien: ( 4 ’) Es schint’ em als g ’sächtr G’schpängscbtr /sächad ( 5 ’) Es c h ö n t schlimmergsi si /könnad ( 6 ') daas dörfti wol s Richtigi träffe /derfad ( 7 ’) chöntischtu mir öppis hälfe? /könnad ( 8 ’) das t ä t i c h nöd gärn /tat/tät ( 9 ’) das hättischtu besser mache chönne /hättst (1 0 ’) wänner das Ross nu c h au f e würd/tät.. /kaufen tat/ c h a u f t i k a u f ad (1 1 ’) es wiird mich freue, wännich's überchämti / /kriegad ü b e r c h o w ii r d i (1 2 ’) Wann du wettisch wien ich m ö c b t /wolladst... m öchadst Die Verbalformen sind in beiden Mundarten lautgerechte Präteritumfor­ men und gehören — abgesehen von tat — der schwachen Flexion an; gleichzeitig haben sie aber den Umlaut als Moduszeichen für den Konjunk­ tiv.

55 Wenn wir vorläufig den Tatbestand kurz zusammenfassen wollen, gibt es also im Süden (Al. und Bair.) sowohl Tempusformen als auch Modus­ formen, sie sind aber beide im Modussystem aufgegangen. Ein Prät.lnd. gibt es nicht, die Zeitstufe der Vergangenheit wird anders ausgedrückt. — Im Südniederdeutschen gibt es sowohl Konjunktivformen als Tempus­ formen mit getrennter Funktion. — Im Nordniederdeutschen fehlen di­ stinktive Konjunktivformen vollkommen, das Tempussystem ist dagegen intakt. Eine Rückprojizierung auf mhd. bzw. mnd. Formen hat hier wenig Sinn, da dieser Wandel später erfolgt ist, und mit dem langwierigen Prozeß des Präteritumschwundes im Süden, mit dem sich Kaj B. Lindgren 26 einge­ hend beschäftigt hat, brauchen wir uns auch nicht weiter auseinanderzu­ setzen; uns interessiert vor allem eine annehmbare Interpretation des obigen Tatbestandes. Eine solche dürfte die folgende sein: Wie vor allem Roman Jakobson herausgearbeitet hat 27, herrscht zwi­ schen den sogenannten markierten und den sogenannten unmarkierten Formen Einbahnverkehr: Die unmarkierten können für die markierten eintreten, aber nicht umgekehrt die markierten für die unmarkierten. Das unmarkierte Präsens kann z.B. durch Kontext und/oder Situation auf die Vergangenheitsstufe übertragen und als Präs.hist. — oder wie man es sonst nennen will — verwendet werden. Umgekehrt kann aber nicht das Präteritum auf die Gegenwartsstufe übertragen werden und sich mit dem Zeitinhalt des Jetzigen vertragen. Wenn es aber trotzdem in einem Gegenwartskontext verwendet wird, verwandelt sich offenbar die zeitli­ che Markierung der Form in eine modale Markierung. Diese wäre dann der eigentliche “Konjunktiversatz”. Unsere Beispiele können sich mit einem “Jetzt” vertragen, und auch in der nordwestfälischen Form ohne Modusmarkierung haben sie alle einen deutlich modalen Wert, der dem des Konj.Prät. gleich ist. Warum nun trotzdem die südwestfälischen Mundarten nicht nur ihre Konjunktivformen bewahrt, sondern auch ihre Zahl vergrößert haben, ist eine schwierige Frage, auf die ich keine völlig befriedigende Antwort gefunden habe. — Allerdings fällt auf, daß die hier vertretene Mundart in einem etwas ambivalenten Verhältnis zum Dentalsuffix steht: Häufig fehlt es, manchmal ist es da. Nach der obigen Interpretation könnte aber eine starke Neigung zur Weglassung des Präteritumsuffixes eine gu­ te Erklärung dafür abgeben, daß sich das formale Modussystem durch Vermehrung der Formen verstärkt. Diese Dinge sind aber viel zu wenig untersucht.

56 Interessant ist es jedenfalls, daß die alemannischen und bairischen Mundar­ ten dasselbe erreichen, indem sich dort das präteritale Dentalsuffix verstärkt. Im Beispiel (4) scheint die umgelautete starke Verbalform nicht zu genügen; ein Suffix -ti bzw. -at tritt leicht hinzu, damit die richtige Modusmarkierung erzielt wird. Das Dentalsuffix scheint also bei dieser modalen Deutung auf einer höheren Rangstufe zu stehen als die eigentliche Konjunktivform. Zur Veranschaulichung kann auch diesmal eine intuitive Reaktion angeführt werden, aber hier nicht als Neubildung in einer Mundart, wie bei dem -ig des Part.Präs. im Hennebergischen, sondern auf derontogenetischen Stufe der Kindersprache: (13)... denn kämte die Blüte von der Tagelilie raus, wenn ich sie eine Geschichte erzählte (M. Hausmann, Martin, S. 19) - Dies ist die Antwort des 5jährigen Martin auf die Frage des Vaters, warum er seiner Tagelilie Geschichten erzählt. Der Norm nach müßte käm e genügen, aber das reicht für den kleinen Martin nicht aus: es gehört etwas mehr da­ zu, um diesen gedachten Fall auszudrücken, und er hängt spontan ein -te an. — Ein 5jähriger Junge würde auf keinen Fall ka m te für kam sagen. Um zum Abschluß kurz zu zeigen, wie sich dies in der Hochsprache verhält, entnehme ich Siegfried Jägers “Empfehlungen zum Gebrauch des Konjunk­ tivs” den Satz (14): Wenn man ihn lobte, erholte er sich schnell.2^ Dieser Satz ist, isoliert gesehen, ambig, und seine Bedeutung ändert sich je nach Kon­ text und Situation: a)... Das hielt aber nie lange vor. — b) Er ist bisher noch nie gelobt worden. ... Im Vergangenheitskontext (a) behält das Prä­ teritum die zeitliche Markierung, und w enn heißt jedesmal wenn. Im Ge­ genwartskontext (b) geht nach der oben beschriebenen Regel die zeitliche Markierung in eine modale über, w enn erhält die Bedeutung falls, und es bildet sich ein sogenannter Irrealis. Nach dem, was oben über die Form des Part.Präs. gesagt wurde, müßte es inkonsequent erscheinen, in diesem zweiten Fall nicht von einem Kon­ junktiv sprechen zu wollen. Es muß aber als wenig naheliegend gelten, hier die Bezeichnung “Konjunktiv II” zu wählen, ohne im Terminus das Tempus zum Ausdruck kommen zu lassen. Denn es ist mehr Präteritum als Konjunk­ tiv, d.h. das Tempus ist immer explizite ausgedrückt, der Modus nicht; der modale Inhalt kann die Folge einer Sekundäreinwirkung desTempus sein, wenn, wie hier, das formale Element für Konjunktiv fehlt. Es werden für die Bezeichnung “Konjunktiv II” pädagogische Gründe angeführt. Es scheint aber schwer vertretbar, eine wissenschaftlich schlecht zu begründende Bezeichnung als pädagogisch besonders glücklich gelten zu lassen. Sei es, daß man vom “Prä­ teritum ” oder von der “zweiten Stammform” spricht, müßte es richtiger er­ scheinen, durch den Terminus zu zeigen, daß die Form auch in dieser sekundä­ ren Verwendung hierhergehört. In der primären, temporal markierten, modal

57 unmarkierten Verwendung ist sie imstande, eine Zeitstufe zu bezeichnen, in dieser zweiten — modal markierten — Verwendung verwandelt sich eben diese Zeitbedeutung in eine modale Bedeutung, mit dem Ergebnis, daß die Form temporal unmarkiert wird und keine Zeit stufe bezeichnet. — Man nennt ja auch nicht den in einem gewissen Sinn “umgekehrten” Vor­ gang — das historische Präs. — etwa “Präteritum II”. Ich habe versucht, ein paar zentrale Bereiche der verbalen Morphosyntax im Lichte einer als “ v a r i a t i v ” bezeichneten Methode zu betrachten. Das Bild, das sich ergeben hat, ist vielleicht nicht so einfach. Hoffentlich sind durch diese Methode doch einige Züge klarer hervorgetreten und vielleicht auch folgerichtiger behandelt worden, als es in den gängigen modernen Methoden meist geschieht, die hinsichtlich der hier behandel­ ten Erscheinungen als hypertraditionell gelten müssen. — Auch hat die obige Darstellung hoffentlich erwiesen, daß man der strengen Forderung nach vollständiger Erforschung jedes der übereinandergelagerten Sprach­ systeme nicht zu gehorchen braucht, um diachronische Linguistik zu betreiben; die Einstellung der waagerechten Perspektive nach den einzel­ nen diatopisch festgelegten Richtungen hat uns — wie ich hoffe — erlaubt, Einzelphänomene und Teilsysteme für sich zu behandeln, ohne ihre syste­ matischen Zusammenhänge aus dem Auge zu verlieren.

Anmerkungen

1 Hermann Aubin/Theodor Frings/Josef Müller, Kulturströmungen und Kul­ turprovinzen in den Rheinlanden, Bonn 1925, S. 135. 2 Hermann Osthoff/Karl Brugmann, Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen I, Leipzig 1878, S. IX. 3 Otto Bremer, Beiträge zur Geographie der deutschen Mundarten in Form einer Kritik von Wenkers Sprachatlas des deutschen Reiches. Sammlung kurzer Grammatiken deutscher Mundarten III, Leipzig 1895, S. 523. 4 Eduard Sievers, Grundzüge der Phonetik. Bibliothek indogermanischer Grammatiken I, 3 1885, S. 103. 5 Vgl. Helmut Richter, Tradierung von Lautsystemen oder Vererbung? In: Phonetica 8, 1962, S. 73 ff. — In seiner Schlußfolgerung drückt Richter seine Skepsis in folgender Weise aus: “Die Tatsachen, die als angebliche Bedingtheit von Lautsystemen ins Feld geführt werden, fügen sich den Ein­ sichten über die Existenz biologischer Grenzen der Tradierung ein, ohne daß von der Auffassung abgegangen werden müßte, daß der Lautstand von Sprachen traditionsbedingt ist.” (Ebd. S. 91). 6 Karl Bohnenberger, Ober die Ostgrenze des Alemannischen, in: PBB 52, 1928, S. 217-291.

58 7 Gaston de Paris, Les Parles de France. Revue de Patois galloromans II, 1888, S. 163 f. 8 Karl Haag, Sieben Sätze über Sprachbewegung, in: ZDM 1, 1900, S. 141. 9 Gustav Millardet, Linguistique et Dialektologie romanes, Montpellier u. Paris 1923, S. 256. 10 Emmon Bach, An lntroduction to Transformational , New York, Chicago, San Fransisco 1966, S. 69. 11 Jerrold Katz/Paul Postal, An integrated theory of linguistic descriptions, Cambridge, Mass. 1964, S. 157. 12 Arthur Hübner, Die Mundart der Heimat, Breslau 1925, S. 64. 13 Siehe Übersichtskarten in Verf., Studien zum deutschen Futur, in: Ärbok for Universitetet i Bergen Hum. Serie 2, Bergen/Oslo 1962, S. 44 u. 45. 14 Vgl. Ingo Reiffenstein, Endungszusammenfall (Suffixsynkretismus) in dia­ chronischer und synchronischer Sicht, in: Sprache - Gegenwart und Ge­ schichte = Sprache der Gegenwart 5, Düsseldorf 1968, S. 174. 15 Die Informanten wurden auch gebeten, die Sätze, die dem Sprachgebrauch der Gegend entsprachen, in der mundartlichen Aussprache wiederzugeben. Da dabei fast immer Laienschreibung benutzt wurde, wird hier und im fol­ genden keine Lautschrift verwendet. 16 Manfred Bierwisch, Grammatik des deutschen Verbs = Studia grammatica II, Berlin 1965, S. 122 f. 17 Eugenio Coseriu, Semantik, Innere Sprachform und Tiefenstruktur, in: Folia Linguistica IV, 1970, S. 56 ff. — Ich schließe mich dieser Ansicht umso eher an, als ich während eines Aufenthaltes in Columbus/Ohio denselben Stand­ punkt vertreten habe in Diskussionen mit Charles Fillmore über seine “Tie­ fenkasus”. 18 Daniele Clement, Satzeinbettungen nach Verben der Sinneswahrnehmung im Deutschen, in: Probleme und Fortschritte der Transformationsgramma­ tik, hrsg. v. Dieter Wunderlich = Linguistische Reihe 8, München 1971, S. 245 ff. 19 Thüringisches Wörterbuch, hrsg. von Karl Spangenberg, Bd. 4, Berlin 1967, Sp. 280 und 400. Karl Spangenberg hat mir brieflich weitere Beispiele gelie­ fert, z.B. : do hatten de Liete anne grusse Gelle mät Wasser in Hofe stiehnig (Arnstadt); ich habe ein paar Kühe im Stall stehnig (Altenburg); dreihundert Mork hob ich uf dr Sporkasse stiehnig (Pößneck); die Hexe kann stiehnig ma­ chen (Saalfeld, Hildburghausen, Sonneberg, Pößneck).— Von diesen Formen auf -ig sind wohl die "gutturalisierten” Formen auf -ing, das als echte Parti- zipialendung anzusehen ist, zu unterscheiden, obwohl man nicht von späteren Analogien und Kontaminationen absehen kann; siehe hierzu Theodor Frings und Ludwig Erich Schmitt, Gutturalisierung, in: ZMaF 18, 1942, S. 49 - 58; vgl. Verf., Studien zum deutschen Futur (Anm. 13), S. 67. 20 Zitiert nach Otto Behaghel, Deutsche Syntax, Bd. 2, S. 388 f. und 324.

59 21 Paul Didriksen, Elementaer Dansk Grammatik, Kopenhagen 31962, S. 26: “Optativ og Infinitiv falder sammen i alle Verber og maa efter det danske Sprogs Struktur betragtes som een Form med to syntaktiske Varianter.” 22 Gisbert Keseling, Erwägungen zu einer überregionalen Syntax der nieder­ deutschen Mundarten, in: Gedenkschrift für William Foerste, hrsg. von Dietrich Hofmann, Köln und Wien 1970, S. 361 f.; vgl. N djb. 1968, S. 145 ff. 23 Vgl. Otto Mensing, Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch, 5 Bde, Neumünster 1927-35, unter don; siehe auch: Johannes Erben, ‘Tun’ als Hilfsverb im heu­ tigen Deutsch, in: Festschrift für Hugo Moser, hrsg. v. Ulrich Engel et al., Düsseldorf 1969, S. 47 ff., wo Beispiele aus mehreren Mundarten gebracht werden. 24 Ferdinand Holthausen, Die Soester Mundart. Lautlehre und Formenlehre nebst Texten, Nord 1886, S. 59 u. passim: Thorsten Dahlberg, Die Mundart von Droste 2, Lund 1937, S. 18 ff.;ders., Zum neuostfälischen Konjunktiv, in: NdKb. 65/4, 1958, S. 63. 25 Die hochdeutschen Ausgangssätze lauteten: (4) es ist ihm, alss ä h e er Gespen­ ster; (5) es k ö n n t e schlimmer geworden sein; (6) dies dürfte wohl das Richtige treffen; (7) könntest du mir etwas behilflich sein? (8) das täte ich nicht gern; (9) das h ä t t e s t du besser machen können; (10) wenn er das Pferd nur kaufen täte / w ü r d e! (11) eswürde mich freuen, wenn ich es b e k ä m e; (12) wenn du so wolltest, wie ich möchte. 26 Kaj B. Lindgren, Oberden oberdeutschen Präteritumschwund, in: Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Ser. B 112, 1, 1957;ders., Ober Präteri­ tum und Konjunktiv im Oberdeutschen, in: Neuphil. Mitt. 64, 1963, S. 264 ff.; vgl. Ingerid Dal, Zur Frage des süddeutschen Präteritumschwundes, in: Indogermánica (Festschrift für W. Krause), Heidelberg 1960, S. 1 ff. 27 Roman Jakobson, Zur Struktur des russischen Verbums, in: Charisteria Guilelmo Mathesio quinquagenario oblata, Praha 1932, S. 74. 28 Siegfried Jäger, Empfehlungen zum Gebrauch des Konjunktivs = Sprache der Gegenwart 10, Düsseldorf 1970, S. 36.

60 DIETER CHERUBIM

Sprachtheoretische Positionen und das Problem des Sprachwandels

1. Problem stellung

Es scheint eine trivale Feststellung zu sein, daß das Problem des Sprach­ wandels für die Sprachwissenschaft in ihrer historischen Entwicklung nicht nur unterschiedlich interessant war, sondern auch unterschiedlich formu­ liert und untersucht worden ist.1 Während das unterschiedliche Interesse möglicherweise auf die unterschiedliche Akzentuierung von Theorie- und Datenorientierung in der Geschichte der Sprachwissenschaft zurückzufüh­ ren ist2, könnte die unterschiedliche Fassung und Analyse des Problems auf unterschiedliche sprachtheoretische Positionen verweisen, die implizit oder explizit den Problemzusammenhang bestimmten. Die derart mit der scheinbar trivialen Feststellung verbundene Annahme, daß spezifische sprachtheoretische Positionen mit einer bestimmten Sicht des Problems des Sprachwandels und der Art seiner Untersuchung in Zusammenhang stehen, ist nun keineswegs mehr trivial, da sie, wie zu zeigen sein wird, un­ mittelbar zu Überlegungen führt, wie auf der Basis derzeitiger sprachtheo- retischer Annahmen das Problem des Sprachwandels formuliert und unter­ sucht werden kann. Es stellt sich somit die Frage: Was leisten die bisher vorliegenden oder geltenden Sprachtheorien (oder Ansätze dazu) für die Konzeptualisierung von Untersuchungen zu Sprachveränderun- gen, die nicht nur im Zusammenhang abgeschlossener sprachgeschichtlicher Entwicklungen, sondern auch im Rahmen aktueller kommunikativer Vor­ gänge zu beschreiben sind?3 Bevor hierzu Vorschläge gemacht werden (4.), soll die dabei zugrundegelegte Annahme eines systematischen Zusammen­ hangs zwischen sprachtheoretischen Positionen und der Untersuchung und Darstellung historischer Prozesse in natürlichen Sprachen expliziert und konkretisiert werden (2. und 3.).

2. Zum Begriff “Sprachtheorie”

Unter sprachtheoretischen Positionen werden solche allgemeinen Annah­ me über Eigenschaften, Strukturen und Funktionen natürlicher Sprachen verstanden, die im Rahmen von spezifischen Erkenntnisinteressen und deren Bedingungen konstitutive Funktionen ausüben, d.h. den je­ weiligen Gegenstand von Sprachwissenschaft entwerfen und so zusammen mit allgemeinen methodologischen Prinzipien, die ihrerseits zugrundelie-

61 genden Wissenschafts- oder Erkenntnistheorien entstammen, die meta­ theoretische Basis zur Erforschung einzelner historischer Sprachen oder Sprachphänomene abgeben.4 Da die jeweiligen Gegenstände von Sprach­ wissenschaft nicht mit ihrem eigentlichen Gegenstand, der Sprache bzw. den Sprachen selbst, zusammenfallen, sondern nur als Projektion von inter­ essengesteuerten idealisierenden Modellen dieses komplexen Gegenstandes erscheinen, können sprachtheoretische Positionen keine “Wesensaussagen” sein, sondern nur Hypothesen über Sprache (oder Sprachen allgemein), deren Brauchbarkeit ebenfalls Gegenstand sprachwissenschaftlicher For­ schung ist.5 Im Unterschied zu methodologischen und beschreibungs­ methodischen Konzeptionen sind sprachtheoretische Positionen solche Annahmen, die forschungs logisch jeder Konzeptualisierung spezifi­ scher Forschungsinteressen vorausgehen, auch wenn sie historisch erst danach formuliert oder rekonstruiert worden sein können.6 Sprach­ theoretische Positionen sind ihrerseits bestimmt durch unterschiedliche Bedingungen, z.B. ökonomischer, institutioneller oder wissenschaftshisto­ rischer Art, oder sind aus solchen Vorstellungen, Hypothesen oder Theo­ rien ableitbar, die wiederum auf solche Bedingungen zurückverweisen oder mit ihnen in Zusammenhang stehen.7 Terminologisch werden sprachtheo­ retische Positionen in der Sprachwissenschaft unter anderem als “Prinzi­ pien” (Paul), “Axiome” (Bühler) oder “ Universalien” (Chomsky) geführt.8 Die Einsicht in die Notwendigkeit, die jeder konkreten Sprachanalyse und -deskription explizit oder implizit zugrundeliegenden sprachtheoretischen Positionen zu reflektieren und zu begründen, kann als der entscheidende, erkenntnistheoretisch bedingte Fortschritt der modernen gegenüber der traditionellen Sprachwissenschaft angesehen werden.9

3. Sprachtheoretische Positionen

3.1. D aß Sprache sich wandelt oder (besser) veränderbar ist, wird in der Sprachwissenschaft allgemein vorausgesetzt, da der damit behauptete Sach­ verhalt unmittelbar evident ist. Absolut genommen bleibt diese sprachtheo­ retische Position aber noch trivial, ihr Erklärungswert also gering. Versu­ che einer Rechtfertigung dieser Position zeigen, daß sie insbesondere dann fruchtbar für die Analyse und Deskription sprachlicher Phänomene werden kann, wenn sie im Zusammenhang mit anderen sprachtheo­ retischen Positionen (und entsprechenden methodologischen Konzeptio­ nen) gesehen w ird.10 Im Sinne der oben (1.) angenommenen Relation soll daher im folgenden verdeutlicht werden, welche Konsequenzen die vorgän­ gige Wahl bestimmter sprachtheoretischer Positionen für die Annahme des Sprachwandels und der Veränderung von Sprachen mit sich bringt. UmgC" kehrt könnte durch solche Reflexionen auch deutlich werden, welche

62 (anderen) sprachtheoretischen Positionen für die Annahme des Sprach­ wandels und der Veränderung von Sprachen erforderlich oder damit un­ vereinbar sind.11 Da es mir an dieser Stelle nicht schon um eine hinrei­ chende Bestätigung meiner Annahme, sondern noch um ihre Explikation und Konkretisierung geht, greife ich einige Beispiele heraus, um an ihnen den behaupteten Zusammenhang zu verfolgen und in exemplarischer Weise plausibel zu machen. Bei der kritischen Rekonstruktion der vorgeführten Positionen sollte je­ doch nicht übersehen werden, daß diese Positionen — als historische Aus­ wahlen bestimmter Annahmen über Sprache — vielfach andere Annahmen oder Positionen nicht aus schließen, sondern aus sparen oder schwächer akzentuieren. Mit einer solchen Einschränkung soll vermieden werden, daß die hier vorgeführte kritische Sichtung als schematische Kon- trastierung verschiedener Positionen verstanden wird, nur weil die existie­ renden historischen Kontinuitäten und Übergänge zwischen den einzelnen Positionen nicht mitbehandelt werden können.12 Insgesamt repräsentieren die ausgewählten Positionen H. Pauls, de Saussures, der Prager Schule und der linguistischen Pragmatik Schwerpunkte der Entwicklung der neueren Sprachwissenschaft. 3.2. Für Hermann Paul ist der primäre Gegenstand der Sprachwissen­ schaft das “Sprachleben” oder die “Sprachgeschichte”. 13 Das Sprachleben oder die Sprachgeschichte sind nun zunächst eine Funktion der indivi­ duellen Sprechtätigkeit; diese wird jedoch durch ein regulativ w irkendes soziales Moment, den “Sprachusus” ergänzt, dessen kon­ kreter Status bei Paul allerdings wenig deutlich wird.14 Für Pauls “Prinzi­ pienlehre der Sprachgeschichte”, die er selbst als “Theorie der Sprachent­ wicklung” charakterisiert15, stellt sich demnach als zentrale Frage,

“wie verhält sich der Sprachusus zur individuellen Sprechtätigkeit? Wie wird diese durch jenen bestimmt und wie wirkt sie umgekehrt auf ihn zurück?” (33) Dem entspricht dann auch Pauls methodisches Postulat: “Das wahre Objekt für den Sprachforscher sind [...] sämtliche Äußerungen der Sprechtätigkeit an sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung aufein­ ander.” (24) Obwohl Paul in seiner Sprachtheorie die soziale Genese und Kon­ stitution der Individualsprachen anerkennt16, bleibt für ihn doch die i n - d i v i d u e 11 e Psyche das wesentliche Untersuchungsfeld: “Die [...] psychischen Organismen (der Individuen — D. Ch.) sind die eigent­ lichen Träger der historischen Entwicklung.” (28)17

63 Die Begründung ergibt sich für ihn aus der Tatsache,

“daß alle rein psychische Wechselwirkung sich nur innerhalb der Einzelseele vollzieht.” (12) Von einer solchen Position aus, die nicht zuletzt auch durch seine Ausein­ andersetzung mit der Völkerpsychologie geprägt ist18, muß Paul das kon­ zedierte soziale Moment von Sprache problematisch erscheinen. So fragt er z.B. im Zusammenhang mit der Dialektgliederung von Sprachen nicht etwa danach, wie es zu einer Ausdifferenzierung der Dialekte innerhalb einer Sprache gekommen sein könnte, sondern wie es möglich ist, “daß, indem die Sprache eines jeden einzelnen ihre besondere Geschichte hat, sich gerade dieser größere oder geringere Grad von Übereinstimmung innerhalb dieser so und so zusammengesetzten Gruppe von Individuen er­ hält.” (39 f.) Und weil Paul von seiner individualpsychologischen Position aus das Pro­ blem nicht in den Griff bekommen kann, muß er sich auf Spekulationen über die Einfachheit und große Gleichmäßigkeit aller sprachlichen Vor­ gänge in den verschiedenen Individuen19 stützen oder den komplexen sozialen Prozeß des Sprachwandels auf die bloße Summierung individueller Sprachinnovationen verkürzen: “Jede sprachliche Schöpfung ist stets nur das Werk eines Individuums. Es können mehrere das gleiche schaffen, und das ist sehr häufig der Fall. Aber der Akt des Schaffens ist darum kein anderer und das Produkt kein anderes. Niemals schaffen mehrere Individuen etwas zusammen, mit vereinigten Kräf­ ten, mit verteilten Rollen [...] Allerdings insofern, als eine sprachliche Schöpfung auf ein anderes Individuum übertragen und von diesem umgeschaffen wird, als dieser Prozeß sich immer wieder von neuem wiederholt, findet auch hier eine Arbeitsteilung und Arbeits­ vereinigung statt [...]. Und wo in unserer Überlieferung eine Anzahl von Zwi­ schenstufen fehlen, da ist auch der Sprachforscher in der Lage, verwickelte Komplikationen auflösen zu müssen, die aber nicht so wohl durch das Zusam­ menwirken als durch das Nacheinanderwirken verschiedener Individuen ent­ standen sind.” (18) 3.3. Für Ferdinand de Saussure ist Sprache (langue) als Gegenstand der Sprachwissenschaft ein System von sozial geltenden Zeichen, die Sprachwissenschaft somit Teil einer allgemeinen Wissenschaft, die er “Semiologie” nennt und “ qui étudie• la vie des signes au sein de la vie sociale.’ • i t» (33) 21

Wie die kritische Interpretation der Quellen von Saussures “Cours de linguistique générale” zeigen kann, ist dabei für den Zeichen- wie den Sy­ stembegriff das Prinzip der Arbitrarität zwischen Zeichengestalt und Zei­ cheninhalt von fundamentaler Bedeutung.22 In Verbindung mit dem Wert-

64 bzw. Formprinzip führt es insofern über die traditionellen zeichentheore­ tischen Konventionalitätsannahmen hinaus, als es die Frage nach der Mög­ lichkeit von Bedeutung und damit nach der Gegenstandskonstitution durch Sprache eröffnet.2 3 Dieses Arbitraritätsprinzip ist zugleich fundamental für den Sprachwandel, indem es die theoretische Möglichkeit einer unbe­ grenzten Veränderbarkeit der Zeichen durch Verschiebung des Verhält­ nisses zwischen den Zeichenseiten garantiert : “... l’arbitraire de ses signes (i.e. der langue — D. Ch.) entraîne théoriquement la liberté d’établir n’importe quel rapport entre la matière phonique et les idées.” (110) Denn es läßt zu, daß die einzelnen Zeichenseiten prinzipiell unabhängig voneinander unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt sind und verändert werden. Doch jede derartige Veränderung hat auch Konsequenzen für das Verhältnis der beiden Zeichenseiten zueinander, d.h. läuft letztlich auf eine Verschiebung dieses Verhältnisses hinaus.24 Die in der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens begründete systematische Möglichkeit einer beliebigen Veränderung wird jedoch praktisch durch den histo­ risch-sozialen Charakter von Sprache eingeschränkt: Als sozial entstande­ nes und geltendes Zeichensystem ist Sprache (langue) notwendig an eine “masse parlante” gebunden und unterliegt damit sozialen Kräften, die durch die Wirkung der Zeit, der die Sprache wiederum als historisches Gebilde ausgesetzt ist, hervortreten.25 Saussure selbst hält in diesem Zusammenhang aber fest, daß mit seiner Erklärung der Veränderbarkeit des Zeichens noch nichts über die Ursachen oder die Notwendigkeit von Veränderungen ge­ sagt ist. Es erscheint ihm sogar besser, vorerst noch auf eine detailliertere Darstellung zu verzichten.26 Daher bleiben auch die von ihm angesproche­ nen sozialen Kräfte, die auf die Sprache einwirken, ohne nähere Konkreti­ sierung; sie werden sogar an anderer Stelle weitgehend aus dem inneren Untersuchungsbereich der Sprachwissenschaft ausgeklammert.27 Aus der Wirkung der Zeit bzw. dem historisch-sozialen Charakter von Sprache leitet Saussure als weitere Einschränkung der beliebigen Veränder­ barkeit der sprachlichen Zeichen das Prinzip der Solidarität von Kontinui­ tät und Umgestaltung in der Sprache ab : “En dernière analyse, les deux faits sont solidaires: le signe est dans le cas de s’altérer parce qu’il se continue. Ce qui domine dans toute altération, c’est la persistance de la matière ancienne ; l’infidélité au passe' n’est que relative. Voilà pourquoi le principe d’altération se fonde sur le principe de continuité.” (108 f.)28 Wie auch andere soziale Institutionen ist Sprache durch einen spezifischen Grad von Balance zwischen der historischen Tradition und der verändern­ den Wirkung der Sprachgemeinschaft bestimmt.29

65 Mit der Veränderbarkeit des Einzelzeichens, die durch das Arbitraritäts- prinzip gewährleistet wird, ist über das Wert- bzw. Formprinzip auch die Veränderbarkeit von Sprache (langue) als System von Zeichen gegeben: “Nous avons dit p. 109 que l’altération du signe est un déplacement de rapport entre le signifiant et le signifié. Cette définition s’applique non seulement à l’altération des termes du système, mais a l’évolution du système lui même; le phenomene diachronique dans son ensemble n’est pas autre chose.” (248)30 Daher kann auch der Mechanismus der Sprache, so wie er von Saussure als kombinierte Wirkung von syntagmatisch und assoziativ strukturierten Gruppierungen erläutert wird (176 ff.), als Einschränkung des Arbitrari- tätsprinzips auf der Ebene des funktionierenden Systems beschreiben wer­ den 3*, womit bereits unter synchronischem Aspekt das Moment der Krea­ tivität und der Veränderung von Sprache (langue) ins Spiel gebracht wird.32 Letztere finden dann eine umfassendere Darstellung in den beiden Kapiteln über die Analogie (221 ff.), wobei wiederum Synchronie und Diachronie in der Sprache eng miteinander verschränkt erscheinen und der Aspekt der Einschränkung der Arbitrarität wichtig ist.33 3.4. Für die Prager Schule, die als eine der wenigen europäischen europäischen Strukturalismusvarianten auch eine diachronische Kompo­ nente entwickelte, ist Sprache primär das funktionale System, dessen Be­ griff Saussure vorher entworfen hatte.34 So kann ihre Position einerseits als Weiterentwicklung der Vorstellungen von Saussure angesehen werden; andererseits geht sie jedoch auch von einer Kritik an Saussure aus. Saussure hatte mit seiner explizit methodi sch gerechtfertigten Unterschei­ dung von statischer und evolutiver Sprachwissenschaft System und Ent­ wicklung voneinander getrennt (114 ff.), ohne jedoch sprachtheo- r e t i s c h ihre Einheit in Frage zu stellen (24). 35 Seine Trennung betraf zudem primär die Bedingungen diachronischer Prozesse, während ihre Konsequenzen durchaus mit dem Sprachsystem verbunden blieben (124; Engler 1449). ln ihrer Interpretation des Saussureschen An­ satzes (wobei sie allerdings nur den kanonischen Text des “Cours” voraus­ setzen) kritisieren nun die Vertreter der Prager Schule die angeblich “ato- mistische” Position Saussures inbezug auf den Sprachwandel und versu­ chen ihrerseits den Systembegriff auch in die Methodologie der diachro­ nischen Sprachwissenschaft zu integrieren.36 Das führt dazu, daß gegen­ über Saussure, der nur vereinzelt und relativ vorsichtig strukturelle Ge­ sichtspunkte zur Erklärung sprachlichen Wandels heranzieht (z.B. 237; Engler 2635)37, von den Vertretern des diachronischen Strukturalismus (besonders R. Jakobson und A. Martinet) das Sprachsystem bzw. seine Struktur zum zentralen Erklärungsprinzip sprachlicher Veränderungen und sprachlichen Wandels gemacht wird :

66 “Ainsi l’etude diachronique, non seulement n’exclut pas les notions de système et de fonction, mais, tout au contraire, à ne pas tenir compte de ces notions, elle est incomplète.” ^ Obwohl die in diesem Zusammenhang zunächst vertretene teleologische und kausale Interpretation der Sprachstruktur bald dahingehend verän­ dert wird, daß die Sprachstruktur weniger als finale oder kausale Ursache, sondern eher als regulative Bedingung sprachlichen Wandels zu begreifen ist 39, gewinnt die Systemerklärung innerhalb des diachronischen Struktu­ ralismus doch einen solchen Eigenwert, daß der pragmatische und soziale Kontext von Sprache, trotz aller “funktionalistischen” Programmatik, weitgehend aus dem Blick zu geraten droht.40 In ähnlicher Weise wird auch die Prager Kritik an der Geschlossenheit und Homogenität des Saus- sureschen Systembegriffs in der Praxis des diachronischen Strukturalismus nicht relevant, wodurch, wie u.a. Weinreich, Labov und Herzog (1968) zei­ gen, konstitutive Faktoren des sprachlichen Wandels ausgeblendet werden.41 Neben dem klassischen diachronischen Strukturalismus entwickeln sich je­ doch innerhalb wie außerhalb der Prager Schule Ansätze, die versuchen, unter Heranziehung soziologischer wie psychologischer Begriffe die von Saussure in der Theorie, von den Vertretern des diachronischen Struktura­ lismus in der Praxis durchgeführte Trennung von externem und internem Bereich der Sprachwissenschaft zu überwinden.42 Die in diesem Zusam­ menhang entstandene Diskussion um die Rolle der internen und externen Faktoren für den Sprachwandel bestimmt heute noch besonders die empi­ rische diachronische Forschung in den osteuropäischen Ländern.43

3.5. Für die auf der Basis der operationalen Bedeutungstheorie L. Wittgen­ steins und der sprachanalytischen Philosophie (J.L. Austin, J.R. Searle u. a.) betriebene linguistische Pragmatik heute ist Sprache dasjenige System von Regeln, das das kommunikative Handeln innerhalb von Gruppen oder Gemeinschaften leitet und erklärt.44 Wie nun im Han­ deln als intentionalem Verhalten (bewußt oder unbewußt) stets die Er­ fahrung seiner Bedingungen vorausgesetzt ist, sind in Sprache von ihrer Genese wie von ihrer Verwendung her die kommunikativen Erfahrungen historischer, d.h. in gesellschaftlicher Praxis agierender Subjekte symbo­ lisch gebunden und als Muster oder Möglichkeiten sinnvollen kommuni­ kativen Handelns formuliert. Zentrales sprachtheoretisches Konzept der Pragmatik ist daher neben dem Handlungsbegriff, der eine bedeutsame Ausweitung des Gegenstandsbereiches der Sprachwissenschaft mit sich bringt45, der Begriff der Regel. Wichtigste Eigenschaften von Regeln sind ihre Konventionalität und ihr sozialer Charakter.46 In diesem Regel­ begriff sind auch die Möglichkeiten der Veränderung von Sprache mit an­ gelegt, weil schon die Konventionalität der Regeln ihre “historische Offen-

67 heit” bedingt47, ferner weil in dem, was durch Regeln bestimmt ist, im­ mer auch Spielräume existieren48, und vor allem weil im Regelbegriff notwendig die Möglichkeit von Abweichungen und Fehlern mitenthalten ist.49 Von diesen Abweichungen und Fehlern kann zumindestens eine be­ stimmte Teilmenge als Ensemble von kreativen Vorschlägen für neue Re­ geln verstanden werden ¡freilich bedürfen solche Vorschläge wegen des bereits betonten sozialen Charakters von Regeln der Akzeptation durch eine Gruppe oder Gemeinschaft, um zu tatsächlichen Veränderungen zu führen. Von Wichtigkeit ist ferner, daß Regelveränderungen ihrerseits immer nur auf der Folie geltender Regeln denkbar sind, also selbst nicht regellos, sondern zumindestens regelhaft in dem Sinne sind, daß ihnen Regeln ent­ sprechen, die sie erklären.50 Damit wird auch hier ein Prinzip der systematischen Reorganisation als essentielle Bedingung für die Veränderung von Sprache in Anspruch genommen.51 Darüber hinaus wird im Sinne dieses Regelbegriffs sprachliche Kreativität insbesondere dort ermöglicht, wo die in Sprache gebundenen Erfahrungen verfügbar sind und damit bewußt Handlungsalternativen formuliert werden können.52

4. Folgerungen und Vorschläge

4.1. Der Vergleich einiger sprachtheoretischer Positionen daraufhin, wie von ihnen aus das Problem des Sprachwandels bestimmt und als Unter­ suchungskonzept formuliert wird, zeigt bereits deutlich, daß für jede Ana­ lyse des Sprachwandels eine durchgehende Reflexion der zugrundeliegen­ den sprachtheoretischen Positionen unumgänglich ist, wenn die Reichwei­ te und Erklärungsstärke eines Ansatzes abgeschätzt und Alternativen in die Diskussion miteinbezogen werden sollen. Für die Planung derartiger Untersuchungen bietet es sich daher an, die bisher vertretenen und rele­ vanten sprachtheoretischen Positionen zu sichten und sie auf ihre Konse­ quenzen für die Analyse des Sprachwandels hin zu prüfen, um zu theore­ tisch begründeten und heuristisch fruchtbaren Forschungshypothesen über den Sprachwandel, seine Formen, Funktionen und Bedingungen zu kom­ men. Dabei wird man über den Wert der unterschiedlichen Positionen und der aus ihnen abgeleiteten Konzepte nicht generell, sondern nur von den besonderen Forschungsinteressen einzelner Untersuchungen her entschei­ den können. Dementsprechend lassen sich auch die oben erörterten Posi­ tionen unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten der heutigen Sprach­ wissenschaft zuordnen und erweisen sich dort als fruchtbar. So ist Pauls individualpsychologische Theorie des Sprachwandels sicher noch im Rah­ men psycholinguistischer Ansätze diskutabel, obwohl auch hier zunehmend pragmatische und soziale Daten in die empirische Basis mitaufgenommen und zur Erklärung herangezogen w erden.” Ebenso ergeben Saussures

68 zeichentheoretisch fundiertes und das auf den Systembegriff gegründete Erklärungsmodell des Strukturalismus brauchbare Konzepte im Rahmen spezifischer, d.h. auf bestimmte Aspekte beschränkter Untersuchungen des Sprachwandels; darüber hinaus ist zu prüfen, inwieweit diese Ansätze in umfassendere, d.h. vor allem den pragmatischen und sozialen Kontext miteinschließende Analysen integriert werden können.54 Relativ wenig läßt sich bisher über den Nutzen pragmalinguistischer Konzepte für eine Beschreibung und Erklärung des Sprachwandels sagen, weil einerseits die bisher vorliegenden, im Rahmen traditioneller und struktureller Ansätze erhobenen Daten von Sprachveränderungen keine zureichende Basis für eine pragmatisch orientierte Auswertung bilden und andererseits umfassen­ dere Analysen noch ausstehen.55 4.2. Da es im Rahmen einzelner Untersuchungen kaum möglich ist, die oben vorgeschlagene Sichtung sprachtheoretischer Positionen und ihrer Konsequenzen für die Analyse sprachverändernder Prozesse vollständig vorzunehmen, muß ein abkürzendes Verfahren angewandt werden, das möglichst die gleichen Funktionen erfüllen kann. Hierzu bietet sich an, stellvertretend für die einzelnen sprachtheoretischen Positionen solche konstitutiven Relationen auszuwählen, die sich für die bisherige Forschung schon als Basis bewährt haben und die daher für die Formulierung von em­ pirisch überprüfbaren Hypothesen geeignet sind. Dabei wird von der An­ nahme ausgegangen, daß diese Relationen unter synchronischem Aspekt (mehr oder weniger) stabilisierten sprachlichen Prozessen entsprechen, an denen sprachliche Veränderungen besonders leicht ansetzen und daher für eine Deskription greifbar sind. 56 Die bisher im Rahmen unterschiedlicher Ansätze gewonnenen Daten und Materialien zum Sprachwandel könnten dann ebenfalls auf diese Basis bezogen bzw. von dort aus neu erklärt wer­ den. Um diesen Vorschlag etwas zu konkretisieren, werden im folgenden einige Relationen herausgegriffen und anhand von Beispielen auf ihren Erklärungswert für Sprachveränderungsprozesse hin skizziert, ln ihrer paar­ weisen Anordnung stehen sie exemplarisch für bestimmte, analytisch abzu­ grenzende und zu explizierende Bereiche, stellen aber keinerlei Vorgriff auf eine vollständige und befriedigend geordnete Liste aller möglichen Re­ lationen dar, deren konkreter Zusammenhang zudem bei jeder Erklärung berücksichtigt werden muß. 4.3. Die ersten beiden Relationen betreffen den engeren Bereich der strukturellen Organisation von Sprache: die Relation von Ausdruck und Inhalt und die Relation von Lexik und Syntax. Die schon für Saussures Ansatz zentrale Relation von Ausdruck und Inhalt des sprachlichen Zeichens hat sich vor allem als Basis für die funktionale Beschreibung des Bedeutungswandels bewährt.57 Von hier aus lassen sich

69 z.B. Hypothesen über Homonymenkonflikte, Differenzierung von Syno­ nymen und Polysemie als Bedingung von Sprachveränderungen formulie­ ren. 58 Ferner können über eine pragmatische Erweiterung dieser Grund­ relation, d.h. den Einbezug von referenz-semantischen sowie sprechakt- und sprachbenutzerbezogenen Aspekten, weiterreichende und differen­ ziertere Beschreibungskategorien und Hypothesen entwickelt werden.59 Auf der Basis der Relation von lexikalischer und syntaktischer Organisa­ tion von Sprache können Hypothesen über Lexikalisierungs- (Beispiel: Geiselgangster) und Idiomatisierungsprozesse (Beispiel: die Schau stehlen) formuliert werden.60 Damit sind im ersten Fall besonders die vielfältigen Wortbildungsmöglichkeiten, im zweiten unter anderem auch die Konta­ mination und (partielle) Remotivierung von Idiomen und Sprichwörtern angesprochen. Ein mehrschichtig interpretierbares Beispiel für das zuletztgenannte Phä­ nomen lieferte eine Glosse von Siegfried Michel, die unter dem Titel “Der Minister und die Pferde” in der Braunschweiger Zeitung vom 7.6. 1975 erschien. Der Text lautete: Das Pferd wird immer mehr zum Lieblingstier der deutschen Wirtschafts­ und Finanzpolitiker. Helmut Kasimier, Finanzminister in Niedersachsen, antwortete auf die Frage, wie er zu der Vorankündigung von Steuererhöhun­ gen durch Bundesfinanzminister Hans Apel stehe, mit dem neuen Gaul- Bonmot: “Das Pferd, das ihn getreten hat, das muß ihn jetzt gebissen haben. Apel hatte ein Pferde-Zitat erst im Frühjahr zum unterdessen geflügelten Wort gemacht. Als er nach Inkrafttreten der Steuerreform plötzlich eine Reihe von ungerechten Ungereimtheiten gewahr wurde, stieß er in schönstem Hamburgisch den Stoßseufzer aus "Ich denk’ mich tritt ein Pferd” (jetzt auch Titel eines Apel-Buches). — Vor Hans Apel hatte auch schon Wirtschaftsminister Karl Schiller für eine plastische Darstellung der Huftiere gesorgt. Als 1966/67 der damaligen Rezession mit einem Konjunkturprogramm begegnet wurde, ver­ glich Schiller die lahmgewordene Wirtschaft mit einem darbenden Gestüt: "Die Pferde müssen wieder saufen." — Wenn Kasimier jetzt bissig mutmaßt, seinen Bonner Kollegen Apel habe das Wirtschafts- und Finanz-Pferd nach dem Tritt auch noch gebissen, so steht dahinter freilich nicht nur Spaß am Spiel mit Worten. Tatsächlich befürchten auch die Experten in den eigenen SPD-Reihen, daß sich die Wirtschaft noch schwerer wird auf Trab bringen lassen, wenn sie schon heute vor die Aussicht gestellt wird, beim Wiederauf­ schwung vom Fiskus geschröpft zu werden. Der SPD-Abgeordnete Hans-Jürgen Junghans empfindet denn auch die Apel-Ankündigung nicht gerade als Beitrag zum Konjunkturaufschwung. Junghans kombiniert die Pferdesprüche alle zu­ sammen zu der sinnigen Bemerkung: "Das Pferd, das ihn gebissen hat, wird nicht mehr saufen wollen. ” — Das boshafteste Pferde-Zitat stammt aus der CSU-Landesgruppe. Hier wurde Apels TV+Talkshow-Scherz "Bayern ist für mich Ausland" — mit dem Bemerken quittiert: "Der Apel fällt nicht weit vom Pferd. ”

70 Interessant erscheint hierbei, daß die variierende Wiederaufnahme mehr oder weniger fester Wendungen auf der Basis des Kontrasts von idiomati­ scher und nicht-idiomatischer (remotivierter) Bedeutung erfolgt und daß dieser Prozeß auch die metakommunikative Ebene des Textes affiziert: vgl. die lahmgewordene Wirtschaft, sich wird auf Trab bringen lassen. D en weiteren Bereich des Funktionieren von Sprache betreffen die Relationen von Struktur und (kommunikativer) Funk­ tion und von Virtualität und Aktualisierung. So kön­ nen auf der Basis der Relation von Struktur und Funktion Hypothesen über den Funktionsverlust oder die Umfunktionierung grammatischer Strukturen (z.B. des Systems der reinen Kasus und der Präpositionalfügun- gen im heutigen Deutsch) formuliert werden. Unter pragmatischen Aspek­ ten sind damit auch Prozesse der Verschiebung im Verhältnis der zwei Kon- ventionalitätsebenen von Sprache zueinander angesprochen.62 Mit der Relation von Virtualität und Aktualisierung kommen unter anderem die sehr zahlreichen Möglichkeiten ko- und kontextuell determinierter Ver­ änderungen in den Blick, wie sie z.B. an den aktuellen Modewörtern (Bei­ spiel: ech t) unmittelbar zu beobachten sind.63 Den pragmatisch-sozialen Kontext von Sprache betreffen die Relationen von sozialer Norm und individuellem Gebrauch und von Intention und Verstehen. Dabei sind hinsichtlich der ersten Relation neben den durch poetische oder politisch-rhetorische Zwecke motivierten, individuell ausgelösten Normüberschreitungen64 auch die Phänomene konkurrierender und/oder interferierender (z.B. fach- und umgangssprachlicher) Normen mit von Interesse. Die Relation von Intention und Verstehen schließlich kommt erst inner­ halb einer pragmatisch fundierten, d.h. zumindestens auch den Hörer als kommunikativen Faktor miteinbegreifenden Sprachwissenschaft in den Blick. Sie kann als sprachtheoretische Grundlage für die Erklärung zahl­ reicher kommunikativer Konflikte und Innovationen herangezogen wer­ den, die bei Vorliegen entsprechender Bedingungen zu sozial verbindlichem, d.h. für die Sprachbenutzergruppen relevantem Wandel führen können. Musterbeispiele solcher Prozesse finden sich vor allem beim kindlichen Spracherwerb. H. Paul sah darin bereits eine Hauptquelle ständigen sprach­ lichen Wandels (34). Wie solche Verstehensprobleme zu kurzfristig gelten­ den und auf kleine Sprachbenutzergruppen (z.B. Familien) beschränkten Änderungen führen können, zeigt ein Beispiel aus der “Sprachgeschichte” meiner eigenen Tochter (2;5). Als sie die lobende Äußerung prima, prima beim Einnehmen einer Medizin als nomen appellativum mißverstand, wur­ de dieser Vorschlag aus ökonomischen Gründen, d.h. wegen der artikulato-

71 rischen Schwierigkeiten mit H ustensaft oder ähnlichen Ausdrücken, auch von den Eltern übernommen.65

4.4. Sprachtheoretische Reflexionen, wie sie bisher erörtert wurden, ma­ chen jedoch nur einen Teil jeder Konzeptualisierung von empirischen Un­ tersuchungen zum Sprachwandel aus. Darüber hinaus sind vor allem methodische Probleme zu lösen. So macht bereits Saussure (246 ff.), der ja von seiner Ausbildung her primär der historischen Sprachwissen­ schaft verpflichtet ist 66 auf das Problem der Abgrenzung diachronischer Einheiten und damit der Gleichheit bzw. Kontinuität zwischen zeitlich auseinanderliegenden Einheiten aufmerksam. Ein entscheidendes metho­ disches Problem ist ferner, mit welchem Beobachtungsansatz Sprachwan­ del als Prozeß (für den gelten soll, daß er im Verhalten mindestens einer Sprachbenutzergruppe manifest wird) erfaßt werden kann, da manche Prozesse nur innerhalb größerer Zeiträume zum Abschluß kommen und sich die meisten Veränderungen für die Sprachbenutzer unbewußt und sprunghaft (diskontinuierlich) vollziehen, so daß sie einer direkten Beob­ achtung nicht zugänglich zu sein scheinen. Indirekte Beobachtungsverfah­ ren, wie die modellhafte Untersuchung von Spracherwerbsprozessen oder der generationalen Verteilung struktureller Varianten (“age-grading”), er­ lauben nur bedingt Rückschlüsse (oder gar Voraussagen) auf allgemeine sprachhistorische Prozesse und arbeiten zudem mit unzulässigen Verein­ fachungen wie der Reduktion des Sprachwandels auf die einfache Weiter­ gabe von Sprache zwischen den Generationen.67 Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, erscheint es nützlich, prinzipiell zweigleisig zu verfahren, d.h. solche Untersuchungskonzeptionen zu verfol­ gen, die sowohl Daten aus bereits abgeschlossenen Prozessen (Sprachwan­ del) als auch solche von in Gang befindlichen Veränderungen (Innovatio­ nen) berücksichtigen können. Dabei kann man sich im ersten Fall vor allem auf die Durchsetzungs- bzw. Stabilisierungsbedingungen, im zweiten Fall hauptsächlich auf die Entstehungsbedingungen sprachlichen Wandels kon­ zentrieren. Für die Untersuchung der innovatorischen Prozesse — unabhän­ gig von ihrer Durchsetzung bzw. Akzeptation — bietet sich wiederum an, besonders “virulente” Bereiche des Sprachgebrauchs ins Auge zu fassen. Solche Bereiche scheinen mir vor allem zu sein: — Primärer und sekundärer Spracherwerb, auch auf fortgeschrit­ tener Stufe (z.B. Sprachveränderungen in der Schule); — inter- wie intralingualer Sprachkontakt (z.B. Entlehnungen, Interferenzen, Diglossie usw.)68; — sozial und pragmatisch gesteuerte Sprachvariation (z.B. situa­ tionsspezifischer Wechsel im Sprechen, Sprachmoden und Kritik d a ra n ); 72 — Gebrauch von Fachsprachen, einschließlich der Wissenschafts­ sprachen, auf der Basis von Umgangssprachen (z.B. Termino- logisierungen und Pseudo-Terminologisierungen)69; — persuasiver Sprachgebrauch, besonders in Werbung und Politik (z.B. Neologismen, Bedeutungsmanipulationen)70; -- poetischer Sprachgebrauch (z.B. Metaphorisierungen) und krea­ tive Formen des philosophischen Sprachgebrauchs (vgl. z.B. die Sprache Heideggers).71 Insgesamt sind in diesen (partiell überlappenden) Bereichen mehr oder weniger spezifizierter alltäglicher Kommunikation nicht nur die entspre­ chend einer historischen Norm akzeptabel erscheinenden, sondern gerade auch die weniger akzeptablen oder gar “fehlerhaften” Innovationen, Kon­ taminationen, Etymologisierungen (Remotivierungen) usw. für die dia­ chronische Forschung interssant.72 Dafür liefert u.a. die Konsumgüter­ und Dienstleistungswerbung zahlreiche, gezielt eingesetzte Bildungen wie z.B. Leisestärke, Ohr-Aufführung (Musikgeräte), Feinbrand, Lachbrand (Weinbrand), L ärm igkeit (Wohnungseinrichtung), frischwärts (Coca- Cola), entd eckein (Pepsi-Cola), ginnieren (G in), schuh-verlässig (Schu­ he), Kennersitte (Sangrita), Minividualisten, Kururlaub, Naturlaub (R eisen), Schmeck dich in Schwung (Toffifee), entlastern, zügiger (B undesbahn).73 Zusätzlich zur Verwendung solcher qualitativer Daten müßten freilich quantitative Daten herangezogen werden, um Durchsetzungs- und Stabili­ sierungstendenzen von in Gang befindlichen innovatorischen Prozessen ab­ schätzen zu können.74 Sprachtheoretisch impliziert eine solche Konzeption, daß Sprachwandel nicht nur als Bewegung zwischen (mehr oder weniger) stabilen Zuständen, sondern auch als integrales Moment jeden Zustands und damit als Bestandteil alltäglichen kommunikativen Handelns angesehen wird. Sprach- veränderungstheorie wird somit Teil einer Sprachgebrauchstheorie, wie sie heute im Rahmen pragmalinguistischer Ansätze angestrebt wird. Auf die­ ser Basis erscheint dann Chomskys bekannte Unterscheidung von regelge­ leiteter und regelverändernder Kreativität als unangemessen. Sie muß viel­ mehr in einer Position aufgehoben werden, die die Kreativität sprachlichen Handelns in der Synthese beider Komponenten begründet.75

73 Anmerkungen

Für die kritische Lektüre einer ersten Fassung danke ich H. Henne, K.L. Müller, H. Rehbock und W.K. Vesper.

1 Vgl. Cherubim (1975 b) und die einschlägigen Darstellungen zur Geschichte der Sprachwissenschaft. 2 Zum Wechsel von Daten- und Theorie-Orientierung vgl. Robins (1974). Wie sowohl die Entwicklung der historischen Grammatik zu Beginn des 19. Jh. wie auch die diachronische Soziolinguistik heute zeigen, fallen Phasen stärkerer Empirisierung mit einem verstärkten Interesse an Problemen des Sprachwan­ dels zusammen; vgl. Telegdi (1966) und (1967) sowie Weinreich/Labov/ Herzog (1968). 3 Zu den vorliegenden Theorien bzw. Ansätzen im Bereich der diachronischen Sprachwissenschaft vgl. u.a. Malkiel (1972), Dinser (1974), Cherubim (1975 a). Der Begriff der Konzeptualisierung wird nach Friedrichs (1973) 113 wie folgt bestimmt: “ Unter Konzeptualisierung soll der Vorgang verstanden werden, in dem für den expliziten Entdeckungszusammenhang und den weitgehend anti­ zipierten Verwertungszusammenhang eines Problems ein angemessener Be­ gründungszusammenhang entwickelt wird.” Vgl. auch Friedrichs (1973) 50 ff. 4 Vgl. auch Firth (1951). 5 Saussure (1916) 20 und 23 unterscheidet entsprechend zwischen “matière” und “objet” der Sprachwissenschaft; vgl. dazu auch die Erläuterungen und Bemerkungen von de Mauro (a.a.O. 414 ff.) und Saussures eigene Notizen nach Englers kritischer Ausgabe (1968) 26. Bühler (1934) 15 f. spricht in diesem Zusammenhang von einem Komplexen “Ausgangsgegenstand” der Linguistik, der nur in Auswahl beobachtet werden kann. Leont’ev (1969) 15 ff. trennt zwischen “Objekt” und “Gegenstand” der Sprachwissenschaft, wobei letzterer ausdrücklich als Modellierung gekennzeichnet wird. 6 Zur Trennung von Sprachtheorie, Methodologie und Beschreibungsmethodik vgl. jetzt zusammenfassend Oesterreicher (1975), der damit einen früheren Ansatz von Lieb (1970), besonders 14 ff. weiterführt. 7 Bei Bühler (1934) 20 sind die sprachtheoretischen Axiome “aus dem Bestand der erfolgreichen Sprachforschung selbst durch Reduktion” zu gewinnen. Die Beziehung zwischen Sprachtheorie und Sprachphilosophie behandelt eingehen­ der Oesterreicher (1975), besonders 110 ff. Er problematisiert aber nicht, wie er zu seiner Liste sprachtheoretischer Grundannahmen (ebd. 122) kommt. Letztlich erscheint bei ihm die Sprachtheorie als Teildisziplin, die zwischen Sprachphilosophie und einzelsprachlicher Sprachbeschreibung vermittelt. 8 Die Diskussion um den Begriff der Universalien hat erst vor kurzem Coseriu (1975) zusammengefaßt und weiteigeführt. Auch Seilers (1973) Vorschläge erscheinen mir fruchtbar. 9 Vgl. Whitney (1875) 337, Jolly (1874) 707;Paul (1880) 3,5.

74 10 Vgl. Coseriu (1958), Weinreich/Labov/Herzog (1968), Kanngießer (1973), Knoop (1975). 11 Analog zur Unterscheidung von schwacher und starker Theorie (für den Sprach­ wandel vgl. Weinreich/Labov/Herzog (1968) 99 f.) könnte man hier von einer schwächeren und einer stärkeren Version metatheoretischer Reflexion sprechen. Vgl. auch Lüdtke (1970). 12 Vgl. aber Cherubim (1975 b). 13 H. Paul ist entgegen aller strukturalistischen Ideologie keineswegs auf einen ausschließlich diachronischen Ansatz festzulegen; vgl. Cherubim (1973). Der metaphorische Ausdruck “Sprachleben” findet sich z.B. bei Paul (1880) 6,24. Wie der Titel seines Buches zeigt, zieht er aber meistens “Sprachgeschichte” vor. Über die Grenzen einer durch diesen Sprachgebrauch implizierten Ana­ logie zwischen organischem und sprachlichem Bereich hatte sich schon Whitney in Auseinandersetzung mit Schleicher und dessen Adepten deutlich geäußert. Vgl. z.B. Jolly (1874) 68 ff., Whitney (1874); ferner auch Paul (1880) 37. Mit “Sprechtätigkeit” sind bei Paul nicht nur die Aktivitäten von Sprechern gemeint. Alle folgenden Zitate aus Paul beziehen sich auf die von mir zugrun­ degelegte 9. Aufl. von Paul; die Seitenangaben stehen in runden Klammem, die Rechtschreibung ist modernisiert. 14 Paul (1880) 29 ff. Der Sprachusus spielt erst wieder eine größere Rolle in Kap. 21 und 23. Weinreichs Kritik an Pauls “ Isolierung des Idiolekts” — vgl. Wein­ reich/Labov/Herzog (1968) 104 ff. — geht jedoch zu weit, wenn sie Pauls “Sprachusus” als beliebige Abstraktion über eine Menge von Idiolekten charak­ terisiert. Immerhin gesteht Paul dem “herrschenden” Sprachusus doch eine regu­ lative Funktion zu. 15 Paul (1880) 6. 16 Vgl. Paul (1880) 39: “Der Verkehr ist es allein, wodurch die Sprache des Indi­ viduums erzeugt wird.” 17 Damit wendet sich Paul vornehmlich dagegen, daß das, was von einer deskrip­ tiven Grammatik qua Abstraktion als “Sprache” rekonstruiert wird, eine Ent­ wicklung haben könne (a.a.O. 24). Diese Position Pauls, die den Status der Beschreibung von Sprache mit einer bestimmten Annahme über Spra­ che in Verbindung setzt, ist mit Recht schon von den ersten Rezensenten kri­ tisiert worden. Vgl. auch Weinreich/Labov/Herzog (1968) 104 ff. Pauls indivi­ dualistische Position führt ihn, wie er selbst sieht, zu utopischen bzw. absur­ den Konsequenzen (24) und zur Atomisierung seines Sprachbegriffs (37). 18 Vgl. Paul (1880) 8 ff. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, daß Paul Whitneys sprachtheoretischen Ansatz (Sprache als soziale Institu­ tion) nicht ausdrücklich aufnimmt und sich nur mit einem kurzen Zusatz zum gesellschaftswissenschaftlichen Charakter seiner Prinzipienlehre (7 f.) begnügt. Dazu paßt, daß er auch sonst Whitney so gut wie ganz verschweigt. Vgl. Cheru­ bim (1975 b) 12 Anm. 40. 19 Paul (1880) 19. 20 So wird von Paul auch die Verschiebung des Sprachusus durch die Summierung einer Reihe von individuellen, in die gleiche Richtung tendierenden Verschie­ bungen in den einzelnen psychischen Organismen erklärt (32). Vgl. auch Wein­ reich/Labov/Herzog (1968) 107 ff.

75 21 Wir zitieren im folgenden nach Saussure (1916), Seitenangabe in runden Klammern. Z.T. sind die entsprechenden Stellen bei Engler (1968) mit den jeweiligen Satznummern hinzugefügt. — Die hier zitierte Formulierung hat keine direkte Entsprechung in den Quellen. Doch finden sich Engler 286 folgende Formulierungen: “l’étude de la vie des signes dans la société” (F. Joseph) und “études des signes et de leur vie dans les sociétés humaines” (E. Constantin). 22 Vgl. insbesondere den Kommentar de Mauros, Note 65 zu Saussure (1916) 30 und Note 137 zu Saussure (1916) 100. 23 Vgl. Saussure (1916) 155 ff., besonders 157. Wie de Mauro, Note 137 zu Saussure (1916) 100 f. jedoch zeigt, enthalten Saussures Erläuterungen zum Arbitraritätsprinzip noch Reste konventionalistischer Vorstellungen, die wohl auf Whitneys Einfluß zurückgehen. 24 Saussure (1916) 109;Engler 1250. 25 Saussure (1916) 112 f., vgl. auch 108; Engler 1232. 26 Saussure (1916) 111; Engler 1279. Dem entspricht auch die skeptische Be­ handlung der Ursachen des Lautwandels im dritten Teil des “Cours”, vgl. Saussure (1916) 202 ff., 208. 27 Vgl. Saussure (1916) 40 ff. Die mangelnde Konkretheit hinsichtlich der sozia­ len Einbettung von Sprache halten auch Weinreich/Labov/Herzog (1968) 121 f. Saussure vor. Sie weisen außerdem auf Reste einer individualistischen Position in Nachfolge von H. Paul hin (ebd. 120 f.). 28 Damit ist ein dialektischer Zusammenhang der von Saussure getrennt analy­ sierten Eigenschaften ‘immutabilité’ und ‘mutabilité du signe’ angenommen, was offensichtlich von den Herausgebern nicht verstanden wurde, wie ihre Anmerkung zeigt. 29 Saussure (1916) 105. Die Mitschriften (Dégallier, Sechehaye und Constantin; Engler 1197) sprechen nur von einer Balance zwischen historischen und sozia­ len Faktoren, doch findet dieses Prinzip seine konkrete Anwendung in den Analogiekapiteln, Saussure (1916) 235 ff. 30 Wie Engler 2733 zeigt, ist diese ausführliche Formulierung von den Heraus­ gebern zu verantworten ; die Mitschriften (Riedlinger, Gautier) geben nur die Formulierung: “Ordre diachronique = déplacement des valeurs.” Dennoch scheint es mir eine richtige Paraphrase von Saussures Vorstellungen zu sein. 31 Saussure (1916) 182. Die genaue Formulierung der Quellen (Engler 2108 Dégallier, Constantin, ähnlich auch Sechehaye) lautet; “Tout ce qui fait d’une langue un système ou un organisme grammatical demande dans notre conviction d’être abordé sous ce point de vue, où on ne l’aborde guère en générale, 4 savoir comme une limitation d l'arbitraire par rapport a l’idee.” 32 Zur Kreativität bei Saussure vgl. jetzt auch Wunderli (1974), der sich darum bemüht, den Saussureschen Begriff der “faculté du language” aus den Quellen zu rekonstruieren, ln ihm ist nach Wunderli — außerhalb der langue und damit jeden Teleologismus des Systems vermeidend — die Kreativität begründet. 33 Die Analogie selbst ist kein sprachverändernder (= diachronischer) Vorgang, wohl aber zentraler Bestandteil solcher; vgl. Saussure (1916) 223 ff., beson­ ders 227 (Engler 2523), 232 (Engler 2569), 234 f. Der Verweis auf die Passage

76 über die relative Arbitrarität (Saussure 228; Engler 2529) ist zwar auch ein Zusatz der Herausgeber, der folgende Text (Engler 25 30 ff.) weist aber in­ haltliche Gemeinsamkeiten mit Saussure (1916) 183 auf. Vgl. Malkiel (1972), Cherubim (1975 b) 23 ff. Vgl. auch Coseriu (1958). Dabei ist allerdings zu beachten, daß gerade be­ stimmte Schlüsselstellen des “Cours” Zusätze der Herausgeber sind; vgl. z.B. Engler 1448, 1493 f., 1585. Saussures Position findet sich dagegen in den Schlußfolgerungen, vgl. Saussure (1916) 140, Engler 1660 f. Zum Atomismusvorwurf vgl Jakobson (1928) und noch Coseriu (1958) 226. Auf die — gemessen am historischen Saussure, wie er durch die Mitschriften und eigenen Notizen belegt ist — eigenwillige, z.T. ungerechtfertigte Interpre­ tation Saussures durch die Prager weist auch de Mauro, Note 176 zu Saussure (1916) 119 hin. Saussures Position scheint zudem in diesem Punkt noch nicht abgeschlossen zu sein. Die Herausgeber haben sie vielfach fester und apodik­ tischer erscheinen lassen als es die Mitschriften erlauben. 37 Saussure (1916) 235 taucht sogar schon der Begriff der “Ökonomie” auf; auch er ist jedoch Zusatz der Herausgeber, vgl. Engler 2608. 38 Theses (1929) 34. 39 Zur teleologischen Betrachtungsweise vgl. Jakobson (1928); wesentlich vor­ sichtiger ist bereits die Position Martinets (1952) und (1955). Coseriu (1958) 152 ff. unterzieht die kausalen und teleologischen Positionen einer durch­ greifenden Kritik. Er selbst nimmt einen bestimmten, dem Humboldtschen Sprachbegriff verwandten Finalitätsstandpunkt ein. 40 Vgl. besonders Martinet (1955). Aber auch Coserius (1958) und (1968) er­ läuterter Vorschlag, der die Einführung einer Skala ‘Rede - Norm - System - Typ’ vorsieht, zielt nur auf die Erklärung der inneren Bedingungen des Sprach­ wandels. 41 So gehen z.B. die klassischen Arbeiten von Jakobson (1931) und Martinet (1955) nicht von einem Sprachbegriff aus, der Heterogenität impliziert. 42 Außerhalb der Prager Schule sind vor allem A. Meillet und A. Sommerfeit zu nennen (vgl. Cherubim 1975 b, 33 ff.), innerhalb z.B. J. Vachek. 43 Vgl. z.B. Deme (1956/1957), Vachek (1962) und den Forschungsbericht in Girke/Jachnow (1974), besonders 94 ff. 44 Hierbei wäre jedoch zu prüfen, ob jede Form des kommunikativen Handelns oder nur bestimmte Erscheinungsweisen, nämlich das Handeln mit bestimm­ ten Zeichen, als Sprachen zu verstehen sind; letztere wären dann als sprach- kommunikatives Handeln zu charakterisieren. 45 So werden jetzt systematisch benutzerbezogene, situative und soziale Faktoren miteinbezogen. 46 Vgl. öhlschläger (1974). 47 Vgl. Heringer (1974) 26. 48 Henne (1975) 35 f. 49 Heringer (1974) 25 f.; Keller (1974) 11;öhlschläger (1974) 97 f.

77 50 Dabei ist eine Skala von Regelhaftigkeit anzunehmen, die etwa von ‘regel­ haft abweichend’ über ‘regelhaft für eine kleine Gruppe’ bis ‘regelhaft für alle’ reicht. 51 Vgl. dazu Coseriu (1957) 245 und passim. Mit diesem Prinzip verbunden ist das von Saussure herausgestellte andere Prinzip der Solidarität zwischen Kontinuität und Veränderung (vgl. oben), das auch schon bei Humboldts Be­ schreibung der Sprache als Ergon und Energia anklingt. 52 Vgl. in diesem Zusammenhang Wittgensteins Unterscheidung von “gramma­ tischem Satz” und “Erfahrungssatz” ; dazu jetzt Stetter (1976). 5 3 So zumindestens die rumänische Forschung, vgl. Slama-Cajacu (1973). 54 Das scheint nach Girke/Jachnow (1974) 94 ff. offensichtlich für die diachro­ nische Soziolinguistik der UdSSR zu gelten. 55 Einen Versuch macht u.a. Fritz (1974);bei ihm werden zugleich die Schwie­ rigkeiten deutlich. 56 Z.T. überschneiden sich diese Relationen mit den in der russischen Forschung in diesem Zusammenhang diskutierten Sprachantinomien; vgl. Girke/Jachnow (1974) 99 f. 57 Vgl. Ullmann (1957) 159 ff., besonders 197 ff. — Anstelle der bisher verwen­ deten Saussureschen Termini benutze ich hier die theoretisch eindeutigeren Termini von L. Hjelmslev. 58 Vgl. z.B. A nttila (1972) 133 ff. 59 Vgl. z.B. Fritz (1974) 112 ff. Aktuelle Beispiele für die pragmatisch gesteuerte Differenzierung von partiellen Synonymen liefert u.a. die Werbesprache; so wird z.B. zwischen sauber und rein (Ariel) unterschieden. 60 Der umgekehrte Prozeß, syntaktische Auflösung lexikalischer Einheiten, ist wohl hauptsächlich in metasprachlicher Funktion (Paraphrase) üblich. 61 Vgl. Burger (1973), besonders 97 ff. und Mieder (1975) mit reichem Material. Der Mechanismus der Remotivierung ist allerdings nicht auf den Bereich der festen Wendungen beschränkt, ln der diachronischen Forschung sind unter dem Stichwort “Volksetymologie” vor allem Phänomene der Remotivierung von Komposita und einzelnen lexikalischen Elementen gesammelt worden. Gleichzeitig lassen sie sich auch in alltäglicher Kommunikation und besonders beim Spracherwerb im Prozeß beobachten. 62 Vgl. Wunderlich (1972) 13 ff. 63 Vgl. Bausinger (1974). Einen Beleg für den Gebrauch von echt liefert z.B. auch die Zigarettenwerbung: Dreibändig drehen schmeckt. Echt. (Roth- Händle). 64 Ein aktuelles Beispiel stellt die z.Zt. (März 1976) durch eine Äußerung des amerikanischen Präsidenten Ford angeregte Diskussion dar, wonach nicht nur Abrüstungs-, sondern auch bestimmte Aufrüstungsmaßnahmen mit detente bzw. Entspannung bezeichnet werden sollten. Anschauliche Beispiele poli­ tisch motivierter Sprachmanipulation liefern z.B. auch Autoren wie Thukydides (vgl. besonders den sog. Melierdialog), G. Orwell (“ 1984” ) und H. Marcuse (“Der eindimensionale Mensch”).

78 65 Die Relation von Sprecher und Hörer bzw. von Intention und Verstehen wird schon bei Leumann (1927) als Basis für die Beschreibung und Erklä­ rung von Bedeutungswandel benutzt. Vgl. auch Humboldts “Relativitäts­ prinzip der Kommunikation” : “Keiner denkt bei dem Wort gerade und ge­ nau das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen” (W.v.Humboldt, Werke III: Schrif­ ten zur Sprachphilosophie, Darmstadt 21969, S. 439). 66 Vgl. auch Peeters (1974). 67 Einige Argumente gegen diese Methode trägt z.B. Francescato (1970) 150 ff. vor. Neben der generationalen müßte freilich auch die absolute Häufigkeits­ verteilung der Varianten berücksichtigt werden, um Tendenzen der Verände­ rung zu erfassen, vgl. unten Anm. 74. 68 Ansatzpunkte für Interferenzen und Beeinflussungen anderer Art liegen auch da vor, wo bestimmten lexikalischen Einheiten der Standardsprache ausdrucks­ mäßige Äquivalente mit nicht-äquivalenten Inhalten in den Dialekten gegen­ überstehen, z.B. holen, springen im Standarddeutschen und holen (‘nehmen’) im Saarländischen, springen (‘laufen’) im Schwäbischen. 69 Vgl. Möhn (1975). Die zunehmende Beeinflussung der Umgangssprachen durch die Fachsprachen wird vor allem durch die starke Tendenz zur Popularisierung wissenschaftlicher und fachlicher Gegenstände in den Massenmedien begünstigt. 70 Vgl. oben Anm. 64. 71 Metaphernschöpfung ist nicht nur ein Phänomen der poetischen, sondern auch der gewöhnlichen Umgangssprache; vgl. Coseriu (1956). 72 Hier ist eine diachronisch-orientierte “Fehlerlinguistik” zu etablieren, die auch ältere Fehlersammlungen wie Meringer/Mayer (1895) und Meringer (1908) neu auszuwerten hätte. 73 So wurden z.B. in einer Proseminararbeit in acht willkürlich herausgegriffenen, aufeinanderfolgenden Heften der Wochenschrift “Der Spiegel” in ca. 300 An­ zeigen etwa 60 Neubildungen festgestellt. Zur sprachverändernden Wirkung solcher Werbeneologismen äußert sich allerdings Römer (1968) 208 ff. skeptisch. 74 Vgl. dazu z.B. Manczak (1966) und Winter (1971). Im Bereich der deutschen Sprachgeschichte hat vor allem H. Eggers quantitative Untersuchungen durch­ geführt. 75 Eine ähnliche Forderung stellt auch Coseriu (1968) 144 Anm. 12 auf.

L iteratur

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82 WLADIMIR ADMONI

Die Hauptarten des Wandels im grammatischen System der deutschen Schriftsprache

Unter der deutschen Schriftsprache verstehe ich hier die Gesamtheit der Texte, die im deutschsprachigen Raum seit dem 14. Jh. entstanden sind und die in ihrer Wechselwirkung die Hauptstütze für die entstehen­ de einheitliche, die Mundarten überlagernde deutsche Sprache mit ihren Regional- und Nationalvarianten bilden. Daß die schriftlich fixierte Sprachform sich mit der gesprochenen Sprache auf verschiedene Weisen berührt, steht außer Frage, und einige zu diesem Problemkreis gehören­ de Erscheinungen werden auch weiter unten gestreift. Aber grundsätz­ lich wird im vorliegenden Vortrag in aller Kürze der Wandel in der deutschen Schrift spräche untersucht, namentlich die Hauptarten dieses Wandels. Unter zwei Gesichtspunkten lassen sich die Arten der historischen Ver­ änderungen des sprachlichen Systems betrachten. Einerseits unter dem Gesichtspunkt der Ursachen des sprachlichen Wandels, d.h. der Trieb­ kräfte, die diesen Wandel bestimmen.* Andererseits unter dem Gesichts­ punkt der Formen, die der sprachliche Wandel annimmt. Ich will ver­ suchen, meinen Stoff unter diesen beiden Gesichtspunkten systematisch zu untersuchen. Dabei ist es unumgänglich, manche allgemein-theore­ tische Fragen aufzuwerfen, die für die Erforschung des Wandels i n verschiedenen Sprachen und in verschiedenen Sprachformen von Wichtigkeit sind. Aber es wird dies alles hier nur insoweit herangezogen, als es zu unserem Thema, d.h. zur Feststellung der Hauptarten des Wandels in der deutschen Schriftsprache, beiträgt. Die komplizierte und verzweigte Natur unseres Darstellungsobjekts er­ möglicht hier nur eine thesenartige, zum Teil sogar vereinfachte Dar-

*Ich berühre somit das entscheidende und das umstrittenste Problem der histori­ schen Linguistik, nämlich das von den internen und externen Faktoren der Sprach­ entwicklung und ihren Wechselbeziehungen. Aber ich habe hier keine Möglichkeit, auf die vielen Schriften zu diesem Problem einzugehen, und verweise nur auf den Sammelband: D. Cherubim, Sprachwandel. Reader zur diachronischen Sprach­ wissenschaft, Berlin - New-York 1975, und auf zwei Arbeiten, die in diesem Sam­ melband nicht erwähnt werden, obgleich sie reichhaltiges Material bringen: W. Havers, Handbuch der erklärenden Syntax, Heidelberg 1931; H. Moser, Wohin steuert das heutige Deutsch? Triebkräfte im heutigen Sprachgeschehen, in: Satz und Wort im heutigen Deutsch = Sprache der Gegenwart, Bd. 1, Düsseldorf 1967, S. 15 - 35.

83 stellungsart. Es werden nur die wichtigsten Erscheinungen — und auch die nicht erschöpfend — berücksichtigt. Ich verzichte (mit einer einzigen Ausnahme) auf Hinweise auf wissenschaftliche Literatur und führe nur die allernotwendigsten sprachlichen Beispiele an (in schematisierter Form).

1. Die Triebkräfte des grammatischen Wandels in der Schriftsprache

Die den Sprachwandel bewirkenden Triebkräfte gehören zu zwei ganz verschiedenen Arten. Einerseits sind es immerwährende, jeder natürli­ chen menschlichen Sprache (wenigstens in ihren Formen, die uns heute empirisch zugänglich sind) innewohnende, psychologisch, physiologisch und kommunikativ bedingte Änderungstendenzen im grammatischen System. Wir wollen sie als beständige Triebkräfte des grammatischen Sprachwandels bezeichnen. Andererseits gibt es speziellere, historisch bedingte Triebkräfte, die als Ergebnis gewisser geschichtlicher Konstel­ lationen auftreten. Allerdings sind auch diese Triebkräfte in der Regel nicht einmalig, da auch die geschichtlichen Konstellationen einer Spra­ che oft wiederkehren. Aber sie sind doch an irgendwelche historische Gegebenheiten gebunden. Wir wollen sie als historisch-bedingte Trieb­ kräfte des grammatischen Sprachwandels bezeichnen.

1.1. Beständige Triebkräfte Obgleich sie ihrem Wesen nach beständig sind, üben sie ihre Wirkung nicht beständig aus. Es können Zeitperioden Vorkommen, in denen be­ stimmte Triebkräfte völlig wirkungslos sind, und in verschiedenen Zeit­ perioden lassen sich bedeutende graduelle Unterschiede in ihrer Wirk­ samkeit feststellen. Denn sie sind eigentlich immer nur als Tendenzen da, als gewisse Möglichkeiten der Einwirkung auf den sprachlichen Wan­ del, aber die Aktualisierung solcher Möglichkeiten und ihre Realisierung hängt sowohl von dem konkreten Stand des sprachlichen Systems ab als auch von der gesamten konkreten sozial-kommunikativen Lage der betreffenden Sprache. Auch die einzelnen beständigen Triebkräfte selbst wirken immer aufeinander ein, zum Teil einander zu Hilfe kommend, zum Teil einander aufhebend. Die beständigen Triebkräfte sind somit nur die immer auf der Lauer liegenden Vorbedingungen des sprachlichen Wandels. Sie kommen in vier Arten vor.

1.1.1. Tendenz zur sprachlichen Ökonomie Da dieser Tendenz in den letzten Jahrzehnten besondere Aufmerksam­ keit geschenkt und ihre Wirksamkeit in den Vordergrund gestellt wurde, glaube ich, daß ich sie hier nicht eingehend zu charakterisieren brauche. Ich muß nur hervorheben, daß ihre Wirksamkeit oft von der Wirkung anderer Tendenzen der Sprachentwicklung gehemmt wird.

84 Siegreich ist die Tendenz zur sprachlichen Ökonomie in der zweiten Etappe des Frühneuhochdeutschen. Sie manifestiert sich in der Tendenz zur Vereinheitlichung der paradigmatischen Reihen, vor allem in der Aufhebung der Unterschiede zwischen Singular und Plural des Präteri­ tums der starken Verben, in der Beseitigung der Sonderformen vom Typus kreucht, fleucht in der 2. und 3. Person Präsens Singular. Es gehört hierher auch die Ausgleichung der Deklination der Feminina und die der Form der vorangestellten attributiven Adjektive (die Verdrängung der Kurzform durch die flektierte Form). Die selteneren Formen eines Paradigmas gleichen sich in allen diesen Fällen den gebräuchlicheren an, was das Denkverfahren bei der Speicherung und beim Gebrauch der grammatischen Formen sparsamer gestaltet. Eine andere Art der sprach­ lichen Ökonomie macht sich bei der Bildung und massenhaften Verwen­ dung von afiniten Formen des Nebensatzes geltend, d.h. bei der Elimi­ nierung der Hilfsverben im Nebensatz, zum Teil auch der kopulativen Verben. Diese Erscheinung ist bis ins 19. Jh. hinein sehr verbreitet. Ich meine hier Konstruktionen folgender Art: der Mann, der es getan; die Arbeit, die sehr beschwerlich. Hier besteht die Sparsamkeit in der Ab­ nahme der lautlichen und lexial-grammatischen Masse des Nebensatzes. Dasselbe gilt für die im 16. - 18. Jh. außerordentlich verbreitete Zusam­ menziehung von gleichartigen Satzgliedern, z.B. solcher, die durch Sub­ stantive ausgedrückt werden (z.B. Länder- und Städtenamen), und spä­ ter für die Abbreviaturen. Auch die Ausweitung der Monoflexion beim Gebrauch des substantivischen Attributs (des Doktors Schmidt) führt zu einer derartigen Ersparung — hier allerdings nur eines Morphems, das durch ein Phonem ausgedrückt werden sollte. Eine andere Art der Ten­ denz zur sprachlichen Sparsamkeit kommt zum Ausdruck, wenn die Satzklammer verkürzt oder überhaupt aufgehoben wird. Hier wird die für die Spannung notwendige Energie erspart, die die Bildung des Satz­ rahmens bewerkstelligt. 1.1.2. Tendenz zur Deutlichkeit Auch von dieser Tendenz gibt es verschiedene Unterarten. In reinster Form tritt sie bei der Bildung von semantisch exakteren, spezialisierten unterordnenden Konjunktionen auf, die im Laufe der ganzen frühneu­ hochdeutschen Periode und auch später entstehen. Dasselbe gilt auch für die neuere Schicht der Präpositionen, die seit der Entstehungszeit der deutschen Schriftsprache gebildet werden. Auch die Übertragung der grammatisch ausdrucksfähigen Genitivendung -s (-ns) auf solche Substan­ tive, die in der Regel ohne Artikel gebraucht werden und deswegen ihren Kasus monoflektiv nicht eindeutig bezeichnen können, namentlich auf Eigennamen, unter anderem sogar auf solche weiblichen Geschlechts

85 (z.B. Annas Hut), vollzieht sich unter der Einwirkung der Tendenz zur Deutlichkeit des sprachlichen Ausdruck. Auch der Gebrauch von nicht- distanzierten Formen der syntaktischen Bildungen statt der distanzierten macht die betreffenden Bildungen deutlicher. In mancher Hinsicht wirkt die Tendenz zur Deutlichkeit in derselben Richtung wie die zur Ökono­ mie. Aber sie können auch gegeneinander wirken. So steht die Aufhebung der afiniten Konstruktion, die unter anderem auch der Tendenz zur Deut­ lichkeit entspringt, im Widerspruch zur Tendenz zur sprachlichen Spar­ sam keit. 1.1.3. Tendenzen zur Ausdrucksverstärkung Ich möchte hier vor allem eine Erscheinung erwähnen, die allerdings eine sehr spezifische Unterart der Tendenz zur Verstärkung des Ausdrucks ist. Ich meine die Tendenz zur Beibehaltung und Entfaltung syntaktischer Synonymie. Dieser Prozeß führt ja zur Vorbeugung von Eintönigkeit, Gleichförmigkeit des Satzbaus, indem man nicht immer dieselben For­ men zu wiederholen braucht. Es wird hier also nicht die einzelne Form an und für sich emotionell oder irgendwie anders verstärkt und hervorge­ hoben, sondern die Redekette im ganzen. Demgegenüber bedeuten solche Erscheinungen wie die Ausbreitung des Gebrauchs von invertierten und elliptischen Satzkonstruktionen, die in der Sprache des Sturm und Drangs und später in der des Naturalismus, des Impressionismus und besonders des Expressionismus Vorkommen und auch in der modernen schönen Lite­ ratur häufig verwendet werden, in erster Linie eben Verstärkung einzelner Glieder des Redestroms. Dabei kann die Ausdrucksverstärkung auch zur Einsparung von sprachlicher Materie führen, was besonders am Vordringen der elliptischen Konstruktionen deutlich wird. Andererseits kann die Ten­ denz zur Ausdrucksverstärkung der Sparsamkeitstendenz entgegenwirken. So bedeutet die Notwendigkeit, unter dem vorhandenen (oft mehreren) synonymischen Formen ständig von neuem eine Auswahl treffen zu müs­ sen, eine zusätzliche Belastung des Denkverfahrens im Redeprozeß. 1.1.4. Tendenz zur strukturellen Organisierung des Redestroms Diese Tendenz führt sowohl zur festeren Zementierung als auch zur kla­ reren Gliederung der Redeeinheiten. Die festere Zementierung wird im 16. - 18. Jh. vor allem durch die viel konsequentere Durchführung des Rahmenprinzips im Haupt- und Nebensatz erzielt, die klarere Gliederung durch die strukturelle Gegenüberstellung der Gruppe des Verbs und der des Substantivs: die Beschränkung des Genitivgebrauchs im großen ganzen auf die Substantivgruppe, die des Gebrauchs der adjektivischen Formen mit der Nullendung auf die Gruppe des Verbs. Die Ausweitung des Satz­ rahmens ist gewiß eine Gegenbewegung in bezug auf die Tendenzen zur Sparsamkeit und zur Deutlichkeit. Aber die Tendenz zur strukturellen

86 Organisierung trägt auch zur Bildung und Verbreitung der afiniten Kon­ struktion bei, da durch die Auslassung der finiten Form des Hilfsverbs oder der Kopula der unselbständige Status des Nebensatzes noch erhöht wird. Hier arbeitet die Tendenz zur strukturellen Organisierung mit der zur sprachlichen Ökonomie Hand in Hand, und sie beide zusammen wir­ ken hier der Tendenz zur Deutlichkeit entgegen. Sehr wichtig sind auch die Auswirkungen der Tendenz zur strukturellen Gestaltung im Bereich der Substantivgruppe selbst: die stärkere formelle Differenzierung der präpo­ sitiven und postpositiven Attribute, der verselbständigten und nicht verselb­ ständigten Adjektivattribute und das Vordringen der monoflektiven Festigung der kongruierenden Glieder der Substantivgruppe. Der Ersatz der starken Ge­ nitivform des attributiven Adjektivs Singular im männlichen und sächli­ chen Geschlecht durch die schwache Form (leichtes Schrittes -* leichten Sch rittes) erfolgt ja deswegen, weil das Substantiv selbst in der Regel hier die grammatisch eindeutige Flexion -s hat. Die syntagmatische Anordnung der Wortformen, von der Tendenz zur strukturellen Zementierung unter­ stützt, siegt hier somit über die paradigmatische Anordnung. Meine Musterung der Hauptarten der beständigen Triebkräfte des Sprach­ wandels kann selbstverständlich nur einige von vielen Erscheinungen in der Entwicklung der deutschen Schriftsprache berücksichtigen.Aber das angeführte Material zeigt, wie kompliziert die Wechselwirkungen dieser einander oft bekämpfenden Triebkräfte sind. 1.2. Historisch bedingte Triebkräfte Diese Triebkräfte sind von zweierlei Art. Einerseits sind sie sozialer Natur und verdanken ihre Existenz gewissen konkreten historischen Ereignissen im Leben des Volkes, das der Träger der betreffenden Sprache ist. Dabei wirken solche Ereignisse auf das grammatische System der Sprache ge­ wöhnlich durch die Vermittlung der Veränderungen in den Formen der sprachlichen Kommunikation. Andererseits stellen die historisch beding­ ten Triebkräfte die Intention der Entwicklung dar, die im System der be­ treffenden Sprache in dem von uns zu beobachtenden Zeitpunkt vorherrscht. Dies ist somit eine interne, innersprachliche Triebkraft des sprachlichen Wandels, die aber selbst historisch geworden ist, d.h. von verschiedenen anderen — gewöhnlich nicht eindeutig zu ermittelnden — Triebkräften be­ stimmt wird und als in der betreffenden Sprache obwaltende Tendenz zu bestimmten Veränderungen in ihrem Bau existiert. Eben die Tatsache, daß sie in jeder Sprache (oder Sprachgruppe) einen besonderen Charakter auf­ weist, macht diese innersprachliche Triebkraft zu einer historisch beding­ ten, selbst wenn sie mit irgendwelchen beständigen Triebkräften sehr vie­ les gemeinsam haben sollte. Denn es wirkt hier oft eine von irgendwelchen geschichtlichen Vorbedingungen getroffene Auswahl von beständigen Trieb-

87 kräften, die sich mit dem Druck auf das grammatische System irgendwel­ cher rein sprachlicher (phonetischer und grammatischer) Entwicklungs­ tendenzen verbindet. 1.2.1. Triebkräfte sozial-kommunikativer Art Ich erhebe keinen Anspruch, eine erschöpfende Liste solcher Triebkräfte zusammenzustellen. Es werden hier in aller Kürze nur die sozial-kommu­ nikativen Triebkräfte erwähnt, die für die Entwicklung der deutschen Schriftsprache besonders wichtig sind. Vor allem sind es die Bedingungen, unter welchen die deutsche Schrift­ sprache sich als eine besondere sprachliche Form entwickelte. Ich meine die wohlbekannte Tatsache, daß die deutsche Schriftsprache sich auf län­ geren Strecken ihres Werdegangs in gewissem Grade unabhängig von der Entwicklung der gesprochenen Sprache veränderte. Man sollte gewiß diese Eigenheit der deutschen Schriftsprache nicht überschätzen. Immer gab es verschiedene Verbindungslinien zwischen deutscher Schriftsprache und deutscher gesprochener Sprache — selbst in der Zeit von 1650 bis 1750, die als besonders reinschriftsprachlich gilt. In sogenannten Relationen (Berichten) und Zeitungen, später in “moralischen Wochenschriften” wendet sich ja die Schriftsprache auch in dieser Zeit an eine verhältnis­ mäßig breite Leserschicht. Und doch ist eine gewisse Isolierung der schrift­ sprachlichen Form in der Entwicklung der deutschen Nationalsprache nicht zu leugnen, und eben das Aufkommen der Benennung “deutsche Schrift­ sprache” ist außerordentlich kennzeichnend für die sprachlichen Verhält­ in den deutsch-sprachigen Gebieten während der frühneuhochdeutschen Periode und zum Teil noch später. Sehr wichtig für die Entwicklung des deutschen Sprachbaus im Frühneuhochdeutschen war auch die starke Aus­ richtung der deutschen Schriftsprache auf einen sehr verwickelten seman­ tischen Gehalt, vorwiegend kanzleimäßiger Art (Gesetze, Urkunden, Vor­ schriften, außenpolitische Dokumente usw.), was das ungeheure Anwach­ sen des Ganzsatzes (vor allem des Satzgefüges) zur Folge hatte. In Verbin­ dung mit dem Ausbleiben der Einwirkung von Seiten der gesprochenen Sprachformen führte dies zur besonderen Wirksamkeit einerseits der be­ ständigen Tendenz zur Deutlichkeit und andererseits der zur strukturellen Organisierung der syntaktischen Konstruktionen. Dabei hatte die letztere Tendenz gewöhnlich den Vorrang, da es unumgänglich war, den Ganzsatz als eine geschlossene Einheit im Text und den Elementarsatz als eine ge­ schlossene Einheit im Ganzsatz klar hervortreten zu lassen. Auch der große Einfluß, den andere Sprachen, vor allem das Lateinische, später das Französische, bis ins 18. Jh. hinein auf die deutsche Schrift­ sprache ausgeübt haben, ist im Wesentlichen auf dieselben sozial-kommu- nikativen Triebkräfte zurückzuführen, wenn auch dabei verschiedene kon­

88 kretere historische Gegebenheiten im Spiele waren. Aber die Einflüsse anderer Sprachen waren letzten Endes von verhältnis­ mäßig geringer Bedeutung für die Formung des grammatischen Systems der deutschen Schriftsprache. Zum Teil deswegen, weil diese Einwirkun­ gen zuweilen verschiedenen, sogar entgegengesetzten Entwicklungen Vor­ schub leisteten. So diente z.B. die lateinische Sprache Ciceronischer Prä­ gung als Muster zur Entfaltung der komplizierten Satzperioden, wogegen die lateinische Sprache Tacitischer Prägung zur Bildung von kurzen, zu­ sammengedrängten Ganzsätzen führte. In erster Linie aber deswegen, weil von den Formen, die die einwirkenden Sprachen der deutschen Schrift­ sprache boten, in der Regel nur diejenigen dem grammatischen System der deutschen Schriftsprache einverleibt wurden, die diesem System nicht fremd waren und gewisse Vorbedingungen für ihre Verwertung vorfanden. Ganz andere sozial-kommunikative Triebkräfte machen sich bekanntlich im 19. und besonders im 20. Jh. in der deutschen Schriftsprache geltend. Es kommt hier zu einer regen Wechselwirkung zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Form der Sprache. Es entwickeln sich die Massen­ medien, die mit der Zeit eine immer wichtigere Stellung einnehmen. Von den fremdsprachlichen Einflüssen wird der der englischen Sprache beson­ ders stark. Die Schriftsprache selbst weist in kommunikativer Hinsicht starke Veränderungen auf, indem das Gesamtbild der Funktionalstile bun­ ter wird, sie selbst zum Teil anders werden und stärker aufeinander ein­ wirken. Zum Teil durch den Einfluß der Umgangssprache, aber vor allem durch gewisse Züge der wissenschaftlichen und technischen Texte bekommt die Tendenz zur sprachlichen Sparsamkeit immer größere Bedeutung. So kommen seit dem Ende des 19. Jhs. in der Schriftsprache (auch in der ge­ sprochenen Sprache) massenweise Abkürzungen vor. In der letzten Zeit werden in immer größerer Anzahl in Substantivgruppen Bildungen mit postpositivem klassifizierendem Attribut in Nullform verwendet (vom Ty­ pus E xp o 76 ). Beide Strukturen stammen letzten Endes aus dem Termi- nologisierungsverfahren der Sprache der Wissenschaft und Technik, auch des Handels. Auch die Tendenz zur geradlinigen Struktur des Satzes hat ihren Ursprung in sprachökonomischen Tendenzen dieser Funktionalstile, aber sie verringert nicht die Masse des sprachlichen Materials, sondern soll das Denkverfahren erleichtern. Der Einsparung von sprachlichem Material dienen die sich verbreitenden Formen der Wortzusammensetzung und Wortableitung (in erster Linie die Adjektive mit dem Morphem -mäßig), die den allgemeinen Bezug irgendwelcher Erscheinungen aufeinander als solchen ausdrücken. Nebenbei sei erwähnt, daß solche Ansätze zugleich das Aufkommen neuer Komplikationen gedanklicher und struktureller Art bedeuten und daß sie keineswegs zur Verdrängung andersgearteter

89 Konstruktionen führen. Es ist auch hervorzuheben, daß die sozial-kommu- nikative Lage der deutschen Sprache von heute die Beibehaltung der Sy­ nonymie von grammatischen Formen erfordert. 1.2.2. Innersprachliche historisch bedingte Triebkräfte In bezug auf die Entwicklung des grammatischen Systems handelt es sich hier erstens um die Einwirkung der Veränderungen im phonetisch-phono- logischen System der betreffenden Sprache. Für die deutsche Schriftspra­ che ist diese Einwirkung im Frühneuhochdeutschen von Bedeutung, vor allem wegen der Folgen, die die Abschwächung der tonlosen Flexionssil­ ben für die Unterscheidung der Wortformen hatte. Zweitens wirken hier die Intentionen, die sich im grammatischen System der betreffenden Sprache selbst zur gegebenen Zeit gebildet haben, wobei die Ursachen ihrer Entstehung in der Regel nicht zu bestimmen sind. Für die Entwicklung der deutschen Schriftsprache sind solche Intentionen von entscheidender Bedeutung, namentlich die Tendenz zur Bildung von analy­ tischen grammatischen Formen und die zur festen Organisierung des Satzes und der Wortgruppe. Die Tendenz zur Analyse hat sich bereits im Althochdeutschen und beson­ ders im Mittelhochdeutschen klar ausgeprägt und wirkt im Frühneuhoch­ deutschen und Neuhochdeutschen weiter. Sie führt im Bereich des Verbs zur Bildung des analytischen Futurs mit w erden und zu umschreibenden Konstruktionen verschiedener Zeitformen mit tu n und mit sogenannten Funktionsverben, die verbal-nominale Konstruktionen mit kausativer und aktionsartmäßiger Semantik ermöglichen. Im nominalen Bereich führt die­ se Tendenz zur Bildung von neuen Präpositionen und zur Erweiterung des Gebrauchs der alten Präpositionen. Die Intention zur festen Organisierung der syntaktischen Einheiten macht sich in den Erscheinungen geltend, die wir bereits in allgemeiner Form als Ergebnis der Tendenz zur strukturellen Organisierung des Redestroms als einer besonderen Art der beständigen sprachlichen Triebkräfte betrachtet haben. Die starke Auswirkung dieser Tendenz in der deutschen Schrift­ sprache wurde unter anderem auch dadurch ermöglicht, daß bereits im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen, zum Teil als Weiterführung grammatischer Züge noch älterer Sprachperioden, die entsprechenden Er­ scheinungen zum Grundbestand des grammatischen Systems gehörten. Es handelt sich hier um die Tendenz zur Versetzung der finiten Verbform im Nebensatz von der zweiten Stelle auf eine spätere und um die Tendenz zur Verwendung der schwachen, im Mittelhochdeutschen grammatisch nicht ausdrucksfähigen Adjektivform in Verbindung mit dem Artikel.

90 In den Mundarten entfaltet sich die Tendenz zu analytischen gramma­ tischen Formen bekanntlich besonders frei. Dagegen entwickelt sich in der Schriftsprache besonders stark die Tendenz zur strukturellen Organi­ sierung des Satzes und der Wortgruppe, was mit tiefgehenden Unterschie­ den in ihrer sozial-kommunikativen Situation zusammenhängt.

2. Die Formen des grammatischen Wandels

Unter den Formen des Wandels im grammatischen System der deutschen Schriftsprache verstehe ich hier die verschiedenen Arten dieses Wandels, unabhängig davon, durch welche Triebkräfte der Wandel hervorgerufen wurde. Wir haben es hier also mit denselben Erscheinungen zu tun, die im vorigen Teil des Vortrags bereits erörtert wurden, aber sie werden nun anders gruppiert und beleuchtet, namentlich in Abhängigkeit davon, wel­ che formale Rolle sie in der Entwicklung des grammatischen Systems eben als eines Systems spielen. Zum Teil könnte man dabei von Funktionen sprechen, die die Triebkräfte des grammatischen Wandels ausüben, aber ich habe hier keine Möglichkeit, dieses Problem zu erörtern. Es sei nur betont, daß einunddieselbe formale Veränderung im grammatischen System gewöhnlich durch das Zusammen­ wirken mehrerer Triebkräfte zustande kommt. Die Formen des Wandels sind sehr mannigfaltig und bilden verschiedene Aspekte. Der allgemeinste Aspekt vom Standpunkt des Systemcharakters des grammatischen Baus besteht darin, ob die betreffenden Veränderun­ gen der Erhaltung und Festigung des grammatischen Systems dienen oder zu seiner Zerrüttung führen. Für die konkreteren Verlagerungen im gram­ matischen Bau der indoeuropäischen Sprachen ist es von großer Wichtig­ keit, ob die Entwicklung in Richtung auf die Entfaltung der analytischen oder der flektivischen Formen verläuft, was aber bereits bei der Behand­ lung historisch bedingten innersprachlichen Triebkräfte erwähnt wurde. Andererseits kann man den Wandel des grammatischen Systems nach den Bereichen charakterisieren, in denen er verläuft d.h. 1) als Wandel im paradigmatischen oder syntagmatischen Bereich. 2) als Wandel im Be­ ziehungssystem oder im Gestaltungssystem. Weiter sind folgende einan­ der gegenüberstehende Formen des Wandels im grammatischen System zu erwähnen: Bereicherung der grammatischen Systeme — Verarmung des grammatischen Systems; Komplikation des grammatischen Systems — Vereinfachung des grammatischen Systems;

91 logische Präzisierung der grammatischen Formen — logisch unprä­ zisere Gestaltung der grammatischen Formen; Anwachsen des Umfangs der grammatischen Formen — Abnahme des Umfangs der grammatischen Formen. Alle diese Entwicklungsformen sind für den Wandel des grammatischen Systems der deutschen Schriftsprache von Bedeutung. Ich habe hier nicht die Möglichkeit, eingehend ihre Rolle in diesem Prozeß zu umreißen; des­ halb will ich nur einige Hinweise geben, wobei ich die Beziehungen der systemerhaltenden und -bildenden und der systemzerrüttenden Verände­ rungen zueinander und die der Veränderungen im paradigmatischen und syntagmatischen System etwas ausführlicher behandle. Andere Formen der grammatischen Entwicklung werden zum Teil in Verbindung damit erörtert, zum Teil in aller Kürze als besondere Erscheinungen charakteri­ siert. Systemzerrüttender Wandel war besonders stark in der ersten Etappe des Frühneuhochdeutschen. Die Auswirkungen der phonetischen Entwicklun­ gen verbanden sich hier mit der Konkurrenz verschiedener territorialer Schriftsprachen, Drucksprachen usw., was zur gleichzeitigen Verwendung von einander widersprechenden Formen führte. Es wurden auch verschie­ dene Reihen im grammatischen System durchbrochen oder die früheren Ansätze zu solchen Durchbrechungen weiterentwickelt. So verbreitet sich in der Substantivgruppe die flexionslose Form des Adjektivs, besonders bei den sächlichen Substantiven im Nominativ und Akkusativ, aber spora­ disch auch bei anderen Substantivformen. Zwar könnte man dabei viel­ leicht vom Aufkommen eines neuen Systems der Adjektivdeklination sprechen, in dem das sächliche dem männlichen und weiblichen Geschlecht und der Nominativ und Akkusativ dem Genitiv und Dativ gegenübersteht. Jede Abkehr von einem bestehenden System läßt sich ja immer auch als Ansatz zur Bildung eines neuen Systems betrachten. Aber das außerordent­ liche Schwanken des Gebrauchs der Nullform des Adjektivs zeugt doch eher von der allgemeinen Zerrüttung des Systems. Auch später, bis ins 18. Jh. hinein, lassen sich einander widersprechende Varianten verschiede­ ner grammatischer Formen feststellen, die als Zerrüttungserscheinungen zu betrachten sind. Aber allmählich tritt dabei immer stärker der Hang zur Gestaltung neuer Systeme auf, selbst wenn diese Systeme im weiteren Verlauf der Sprachentwicklung sich nicht behaupten können. So ist das Aufkommen des anorganischen -e im Präteritum der starken Verben (z.B. ich nähm e) ein Schritt zur Erweiterung des Systems der verbalen Formenbildung mit Einbeziehung der starken Verben in das Formen­ system des schwachen Verbs. Doch wurde diese Erweiterung, die rein schriftsprachlich war, später vollständig fallengelassen.

92 In der neueren und neuesten Zeit führen die Kämpfe der konkurrierenden grammatischen Erscheinungen in der Regel zur Beibehaltung und Festi­ gung beider oder sogar mehrerer der konkurrierenden Erscheinungen bei gewisser Differenzierung und Präzisierung ihres Wirkungskreises, so daß sie zusammen ein neues umfassenderes System bilden. Dies findet z.B. in der Substantivgruppe statt, wo das System der nicht kongruierenden Attribute eben als ein Ausgleich aufzufassen ist im Kampf der konkurrierenden Formen: des Genitivattributs und des präpositionalen Attributs, zum Teil auch der substantivischen Zusammensetzung, der Konstruktion mit dem Monoflektiv (Gemeinschaftskasus) und der semantisch-relativen Adjektive. Daß dieser Ausgleich kein endgültiger ist und die Rolle der einzelnen Glie­ der dieses Systems sich beständig so oder so verschiebt, hebt den System­ status ihres Gebrauchs keineswegs auf. Dasselbe gilt für das Wortstellungs­ system im Elementarsatz. Die Abweichungen vom Satzrahmen, die auf den ersten Blick Zerrüttung eines wichtigen Teils dieses Systems bedeu­ ten, gestalten sich doch als ein besonderes, namentlich bereichteres, wenn auch komplizierteres Spezialsystem. Der grammatische Wandel in der deutschen Schriftsprache vollzieht sich sowohl im paradigmatischen als auch im syntagmatischen Bereich, wobei die betreffenden Entwicklungen in einigen Fällen einander unterstützen, in einigen Fällen einander bekämpfen. So wird die Ausweitung der analytischen grammatischen Formen als einer paradigmatischen Erscheinung dadurch unterstützt, daß im syntagmati­ schen Gebrauch die analytischen Formen, vor allem die des Verbs, die Bildung der distanzierten, klammerfähigen Konstruktionen ermöglichen. Allerdings drückt sich diese Tendenz in den Mundarten und in der Um­ gangssprache viel stärker aus als in der Schriftsprache. Man beachte die Entwicklung der periphrastischen Formen mit tu n (ich tu schreiben) und die Verdrängung des Präteritums durch das Perfekt im südlichen Teil des deutschsprachigen Raums. Aber auch in der Schriftsprache geht die para­ digmatische Entwicklung mit der syntagmatischen Hand in Hand, wie die massenhafte Bildung und Verwendung von Konstruktionen mit sogenann­ ten Funktionsverben zeigt. Eine weitgehende Vereinfachung, die aber keineswegs als Verarmung auf­ zufassen ist, stellt die Entwicklung des Paradigmas der Feminina dar. Das­ selbe gilt für die Deklination aller Substantive im Plural. Auch die Schei­ dung der Substantivdeklination (als Veränderung nach den Kasus) von der Pluralbildung ist an und für sich eine Vereinfachung im paradigmatischen System, obgleich sowohl die Deklination der Substantive im Singular als auch die Pluralbildung verwickelte Teilsysteme sind und manche Wider­ sprüche aufweisen. Das verbale Paradigma hat sich vom Standpunkt seiner

93 Kompliziertheit aus weniger verändert, wenn man von der Bildung neuer (futurischer) Zeitformen absieht. Die Tendenz zur Verdrängung der star­ ken Verbalformen durch die schwachen hat sich nur auf einige der wenigen gebräuchlichen Verben erstrecken können. Es sind dabei manche Misch­ formen entstanden. Aber auch einige entgegengesetzte Entwicklungen sind zu verzeichnen, d.h. Verwandlungen (zum Teil nur zeitweilige: frug, jug) der schwachen Verben in starke. Folgerichtig ist die allerdings sehr früh zur Geltung kommende Tendenz zur Beseitigung der Verben mit Rück­ umlaut durchgeführt. Diese Entwicklung, die eine Vereinfachung im Sy­ stem der schwachen Verben bedeutete, blieb nur dort zum Teil stehen, wo der Rückumlaut eine Stütze im System der starken Verben fand (nennen - nannte-, werfen - warf). Von größter Wichtigkeit sind die Veränderungen im paradigmatischen System der Wortgruppen, vor allem die Einbeziehung der Zusammenset­ zungen (in erster Linie der substantivischen) in das System der Formen, die imstande sind, die syntaktischen Beziehungen auszudrücken. Dies be­ deutete eine Bereicherung der synonymischen Formen in der Substantiv­ gruppe. Im Adjektivsystem spielen die relativ-semantischen Adjektive, die im Frühneuhochdeutschen manche Verluste erlitten hatten, im 19.- 20. Jh. wieder eine größere Rolle. Im paradigmatischen System der logisch-grammatischen Satztypen kommt es im 19. und 20. Jh. zu einer gewissen Vereinfachung, indem der eigen­ artige partitive Typus mit dem das Nominativsubjekt ersetzenden Genitiv immer mehr zurücktritt (Der Straßen waren viele -»■ Es waren viele Straßen; Die Straßen waren viele ). Von den Typen ohne Nominativsubjekt behaup­ ten und vermehren sich dagegen die Konstruktionen mit unpersönlichen Verben und das eingliedrige Passiv. Auch manche Konstruktionen ohne finite Verbalformen werden systematisch gebraucht und gestalten sich zu besonderen, wenn auch peripheren Satztypen (Ich dich ehren? R ech ts eine Tür und zwei Fenster). Sehr verbreitet sind die eingliedrigen nomina- tiven Existenzialsätze. Es kommt auch zu manchen Verlagerungen in der semantischen Aufnahmefähigkeit und in den semantischen Schattierungen der logisch-grammatischen Satztypen, vor allem in den Typen mit Akku­ sativ* und Dativobjekt und mit dem Passiv. So trägt die Entwicklung im großen Ganzen hier doch zu Bereicherung des Satzsystems bei. Dasselbe läßt sich auch im Bereich des Satzgefüges feststellen, und zwar für die Ge­ samtentwicklung während des Frühneuhochdeutschen und des Neuhoch­ deutschen. Es ist namentlich die Tendenz zur Schaffung eines reichhalti­ gen Systems von unterordnenden Konjunktionen mit scharf umrissener Semantik und zum Rücktritt der universalen unterordnenden Konjunktio­ nen (daß, so, als ), die ich hier im Auge habe. Dies ist eine Bereicherung,

94 die keineswegs zur Komplikation des Systems führt, eher letzten Endes zu seiner Vereinfachung, was sich auch in der Beseitigung mancher rein kanzleimäßiger Konjunktionen zeigt (maßen, gestalt usw.). Allerdings be­ rührt diese spezialisierende Entwicklung eigentlich nur den semantischen Bestand des Satzgefüges, nicht sein Gestaltungssystem als solches. Was das Gestaltungssystem des Satzgefüges betrifft, so sind hier andere Formen des historischen Wandels erkennbar, namentlich die Veränderungen im Umfang und im Grad der logischen Präzision des Satzgefüges. Das Frühneuhochdeutsche steht unter dem Zeichen der ungeheuren An­ schwellung des Satzgefüges in der Kanzleisprache und in vielen mit ihr ver­ bundenen Sprachgattungen, zum Teil auch in den wissenschaftlichen Tex­ ten, wenn auch daneben in Texten anderer Art ganz einfache und kurze Satzgefüge vorherrschen. Aber bereits im 18. Jh. nimmt in allen führenden und mustergültigen Hervorbringungen der Schriftsprache der Bestand und Umfang des Satzgefüges bedeutend ab, und in neuester Zeit wird im allge­ meinen der Bestand des Satzgefüges noch einfacher und sein Umfang noch geringer. Bedeutend ist der Wandel des Satzgefüges auch hinsichtlich der logischen Präzision seiner Gestaltung, was übrigens auch als eine Abart der beständigen Tendenz zur Deutlichkeit gelten kann. Allerdings erscheint die logische Präzision im sprachlichen System überhaupt als ein schwan­ kender Begriff. Denn im Bewußtsein des “naiven Sprechers” tritt jede Form seiner Muttersprache als eine natürliche und selbstverständliche auf und hat für ihn auf diese Weise den Charakter einer logisch einwandfreien Bildung. Dies ist der Fall zum Beispiel in den Sprachen, die die Distanz­ stellung gebrauchen, d.h. die Trennung von semantisch und syntaktisch eng zusammenhängenden grammatischen Formen. Eine solche Trennung wie sie sich u.a. auch im deutschen Satzrahmen zeigt,wird als logisch ein­ wandfrei empfunden, und nur bei Überlastung der Distanzstellung, d.h. durch das übermäßige Anwachsen der Komponenten, die sich zwischen den distanzierten Wortformen befinden, wird in solchen Sprachen die Distanzierung als etwas den Gedankenablauf Störendes, somit als etwas Unlogisches empfunden und die logischere Konstruktion hergestellt durch Ausklammerung eines Teils der eingeklammerten Komponenten. Und doch ist es vom objektiven Standpunkt aus möglich, den unlogischeren die logi­ scheren grammatischen Formen gegenüberstellen, d.h. solche, die den Be­ ziehungen der Dinge in der objektiven Welt und dem diese Beziehungen zum Ausdruck bringenden Gedankenverlauf genauer entsprechen. Der Wandel in der Gestaltung des Satzgefüges zum logischeren Bau macht sich in solchen Prozessen bemerkbar wie der Beseitigung der apo-koinu-Kon- struktion, die noch um 1500 sehr verbreitet war, der aus lauter Neben­ sätzen bestehenden Ganzsätze, die noch um 1700 keine Seltenheit sind,

95 der Häufung von äußerlich parallelen, aber ungleichartigen Nebensätzen um ein und dasselbe Unterordnungszentrum in irgendeinem Elementar­ satz. Auch die Ausarbeitung des Systems von semantisch spezialisierten unterordnenden Konjunktionen ist eine Art der logischen Präzisierung im Wandel des Satzgefüges. Man muß aber nicht denken, daß in allen Bereichen des grammatischen Systems und immer die Entwicklung sich in der Richtung auf präzisere Konstruktionen hin vollzieht. Z.B. führt die bereits erwähnte Verdrän­ gung des logisch-grammatischen partitiven Satztypus mit dem subjekt­ ersetzenden Genitiv zur Verwischung der semantischen Besonderheit die­ ses Satztypus, so daß hier eine präzisere Konstruktion durch eine unpräzi­ sere ersetzt wird. Die Veränderungen im Umfang sind eine wichtige Erscheinung sowohl im System der syntaktischen Konstruktionen als auch im Bereich der Wort­ formen. Z.B. ist der Ganzsatz in den meisten Gattungen und Textsorten der deutschen Schriftsprache durch ein mächtiges Anwachsen seines Um­ fangs im Frühneuhochdeutschen bis ins 17. Jh. hinein gekennzeichnet. Bereits im 18. Jh. macht sich aber in einem Teil sowohl der wissenschaft­ lichen als auch der schöngeistigen Literatur die Tendenz zur Abnahme des Umfangs des Ganzsatzes bemerkbar. Im 20. Jh. wird diese Tendenz noch stärker. Dagegen zeigt die Entwicklung des Umfangs des Elementar­ satzes in vielen Gattungen und Textsorten der deutschen Schriftsprache ein bedeutendes Anwachsen erst im 18. Jh., und in der folgenden Zeit, selbst im 20. Jh., erhält sich in der Gebrauchssprache dieser beträchtliche Umfang des Elementarsatzes oder tritt nur in geringem Maße zurück. Auch der Umfang der Substantivgruppe erreichte in der Gebrauchssprache be­ reits im 18. Jh. einen hohen Stand, wurde aber noch beträchtlicher im 20. Jh. Allerdings kommen bei allen syntaktischen Strukturen sehr große Schwankungen in ihrem Umfang vor — in Abhängigkeit von den Textsor­ ten und unter dem Einfluß von Eigentümlichkeiten der Funktional- und Individualstile. Im Bereich der Wortformen steht der seit langem wirken­ den Tendenz zur Bildung von langen und überlangen Komposita (beson­ ders auf dem Gebiet der Substantive) die am Ende des 19. Jhs. aufkom- mende Tendenz zur Kürzung der Zusammensetzungen (Abbreviaturen) gegenüber. Zum Schluß sei noch eine besondere Form des Sprachwandels erwähnt, nämlich die seit dem 17. Jh. einsetzende Regeneration, d.h. Wiederher­ stellung der früher vorhandenen, aber später vollständig oder zum Teil verdrängten grammatischen Formen. So wird z.B. mit Ausnahme einiger phraseologischer Wendungen die flektierte Form des nicht verselbständig­ ten adjektivischen Attributs wieder zur allgemeinen Norm in der deutschen

96 Schriftsprache. Auch die Hilfsverben in Nebensätzen werden vom 19. Jh. an in der Regel gebraucht, während im 17. - 18. Jh. die afinite Konstruk­ tion sehr verbreitet war. Nun sind wir mit der Skizzierung der Formen zu Ende, die die Entwick­ lung des grammatischen Systems in der deutschen Schriftsprache aufweist. Dabei hat sich herausgestellt, daß diese Entwicklung trotz aller Buntheit doch ausgewogen ist und sich durch Beibehaltung und Entfaltung man­ cher sogar entgegengesetzter formaler Züge auszeichnet. In dieser Hinsicht darf wohl der gesamte historische Prozeß, der hier vorgeführt wurde, als eine Bereicherung angesehen werden, die allen Anforderungen entspricht, die die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens und die neuesten For­ men des Kommunikationsprozesses an die modernen Schriftsprachen gestellt haben und erst recht heute stellen.

97 ELS OKSAAR

Zum Prozeß des Sprachwandels: Dimensionen sozialer und linguistischer Variation

1. Die Entwicklung der Linguistik in den letzten zehn Jahren ist gekenn­ zeichnet durch eine zunehmende Aktivität der Sozio-, Psycho-, Pragma- und Pädolinguistik, um nur einige Forschungsschwerpunkte zu nennen, für die gemeinsam ist, daß sie zu einer Renaissance des Empirismus — von Labov “the new American empiricism” genannt — geführt haben. Der Neo­ empirismus hat seine Wurzeln in der Unzufriedenheit mit den bisherigen Resultaten der linguistischen Theoriebildung mit idealisiertem Sprecher- Hörer in einer homogenen Gesellschaft. Dieser soll eine Theoriebildung entgegengesetzt werden, die die Sprache des realen Sprecher-Hörers in einer wirklichen, und das heißt heterogenen Gesellschaft als Ausgangs­ punkt hat. Zweckbedingtheit und empirischer W'ert der Modelle dürfen nicht vernachlässigt werden. Diese Forderungen sind während der sechziger Jahre vor allem von den zwei wichtigen Ansätzen der soziolinguistischen Forschung gestellt wor­ den: von dem korrelationalen Ansatz, vertreten durch Labov und Bern­ stein, und dem interaktionalen Ansatz, dessen Hauptvertreter Hymes und Gumperz sind.1 Die Reichweite der beiden Ansätze wird hier im Augenblick nicht zur De­ batte stehen, s. dazu Sektion 5. Für unser Thema ist es wichtig festzustel­ len, daß beide Richtungen erneut die Aufmerksamkeit nicht nur auf die sprachlichen Varianten gerichtet haben, sondern auch auf die Wichtig­ keit der Untersuchung des Sprachwandels im sozialen Kontext.

1.1. Die Fragestellung ist nicht neu. Schon Whitney (1867, 18) hat her­ vorgehoben, daß Sprachveränderungen auf das Zusammenwirken des Ein­ zelsprechers mit der Sprachgemeinschaft zurückgehen. Der soziale Ge­ sichtspunkt ist durchaus schon vorhanden auch bei Breal, Meillet und de Saussure, die alle betont haben, daß die Veränderungen der Zeichen mit Veränderungen sozialer Systeme zusammenhängend Seit Hermann Paul, Jespersen, Havers und Hugo Moser dürften die Bedingungen und Trieb­ kräfte, die den sprachlichen Wandel bedingen, allgemein bekannt sein; Havers (1931, 144 ff.)gibt eine Auswahl: das Streben nach Anschaulich­ keit, nach emotionaler Entladung, nach Kraftersparnis, nach Schönheit des Ausdrucks, Ordnungstendenzen und sozialer Triebkreis, worunter u.a. Höflichkeit und Rücksichtnahme auf die Umgebung gemeint ist. Es

98 bleibt aber die Frage: unter welchen Bedingungen werden diese Kräfte aktiviert?

Hugo Moser (1967, 17) faßt “die Neigung zur Differenzierung und Verdeut­ lichung einerseits, zur Systematisierung und Ökonomie andererseits, die Tendenz zur Abstraktion neben der zur bildhaften Ausdrucksweise, ästhe­ tische und ethische Impulse” als Triebkräfte psychologischer Art zusam­ m en. 1.2. Wie sind nun aber das W i e und das Warum ganz konkret im einzelnen festzustellen? Betont doch auch Havers (1931, 144) daß mei­ stens mehrere Triebkräfte zugleich tätig sein können. Es erhebt sich eine Reihe von Fragen. Läßt sich mit dem soeben angeführten Katalog der Triebkräfte die Entstehung und Verwendung der dynamischen Variante des Deutschen erklären, die man z.B. von Lufthansaangestellten in der Form : Haben Sie Ihr Ticket schon gecheckt? hören kann, im Deutschen Fernsehen: Amerikas Kissinger jettet [dzettat] durch Schwarzafrika (F. Nowottny), und von deutschen Winzern in Australien: W irp ikke n die Weine jede drei Monate. Und wie erkläre ich die Motivation zur Vari­ ante: Da Vogel, macht schwimme, schwimme ? Möglichkeiten zur Beantwortung dieser Frage ergeben sich, wenn wir vom Individuum und seiner Sprache, vom Idiolekt ausgehen. Schon Paul (1909, 34) hat hervorgehoben, daß die Sprachveränderungen sich durch die spon­ tane Tätigkeit des Individuums und durch die Beeinflussung durch andere vollziehen, denen er ständig ausgesetzt ist. Heute erscheint derselbe Ge­ danke in der Form, daß Sprachwandel als ein “kontinuierlicher Prozeß und unvermeidliches Beiprodukt der linguistischen Interaktion” anzu­ sehen ist.3 Bei Paul wurde jedoch die Beziehung zwischen dem Indivi­ duum und seinem sozialen Umfeld, in dem nicht nur sprachliche, sondern auch immer gewisse andere soziokulturell bedingte Verhaltensmuster als Norm gelten, nicht thematisiert. Obwohl das Prinzip des Prager Strukturalismus, daß Sprachwandel als ein Faktum der synchronischen Linguistik anzusehen ist, bekannt sein dürfte, hat man daraus bis heute kaum Konsequenzen für die Untersu­ chung der dynamischen Synchronie in verschiedenen Sektoren der deut­ schen Gegenwartssprache gezogen.4 Man hat m.E. zu wenig beachtet, daß dieselben Bedingungen und Triebkräfte, die laut Havers (1931, 144 ff.) zur “Umgestaltung der Sprache” führen, auch die Sprachverwendung steuern können. Da Sprachverwendung aber im Vergleich zu Sprachveränderung das Pri­ märe ist, so muß man ihre Bedingungen zuerst untersuchen. Man kann die Hypothese formulieren, daß die Bedingungen und Triebkräfte, die

99 den Sprachgebrauch steuern, auch zu den Bedingungen gehören, die den Sprachwandel verursachen. Um diesen Fragenkomplex näher zu behandeln, muß die überwiegend psychologische Plattform Hermann Pauls mit einer soziologischen ver­ bunden werden.5 Dabei gibt es eine Reihe von Dimensionen als Ausgangs­ punkte: kulturelle, wirtschaftliche, soziale, auf denen menschliche Ver­ haltens- und Handlungsweisen, zu denen auch Sprache gehört, untersucht werden können. Ziel meines Vortrags ist es, anhand von Beispielen vom Zusammenwirken zweier Dimensionen: der sozialen und der linguistischen Variation mensch­ licher Interaktion, einige Erscheinungsformen zu analysieren, die in der dynamischen Synchronie der Gegenwart den Sprachwandel beeinflussen können. Dabei erweist es sich auch als notwendig, methodologische Fra­ gen eines derartigen Ansatzes zu erörtern.

2. Den Ausgangspunkt bildet das Individuum als Mitglied in verschiede­ nen sozialen Beziehungsgeflechten. Sein sprachliches Repertoire kann als zugehörig zu einer oder mehreren Sprachen, Dialekten, Soziolekten identi­ fiziert werden; man kann innerhalb einer Sprache mit Jakobson (1974, 182) auch von Subkodes und Gebrauchsstilen sprechen. Entscheidend ist, daß das Individuum über heterogene Ausdrucks- und Inhaltsstrukturen ver­ fügen kann, deren Verwendung von verschiedenen soziokulturellen Be­ dingungen abhängt. Die Existenz dieser Strukturen läßt sich auch experi­ mentell feststellen. In einem Identifikationstest haben 20 Hamburger Studenten, die die Aufgabe hatten, bei einer Reihe von Sätzen festzustel­ len, w e r dies zu w e m sagt, bei folgenden Sätzen über 90 % Überein­ stimmung erzielt. 1) Haben Sie Ihr Ticket schon gecheckt ? — Ausländer. 2) Da Vogel, macht schwimme, schwimme — Kinder oder Erwachsene zu Kindern. 3) Ich nix sehen — Ausländer oder Deutsche zu Ausländem. 4) Einfach süß ! — 72 % der Befragten gaben Frauen und Kinder an. Diese Identifizierbarkeit losgelöster Sätze als zugehörig zu kommunikati­ ven Akten, in denen sogar Varianten gegen die Regeln der normativen Grammatik verwendet werden, führt zu folgenden Überlegungen. Man muß auch im intrasprachlichen Bereich von einer variablen kommunika­ tiven Kompetenz der Sprachträger ausgehen, und nicht nur im intersprach­ lichen, wie man es bei Zwei- und Mehrsprachigen fordert. Denn wenn ge­ wisse Sequenzen sich z.B. als Sprache der Erwachsenen zu Kindern klassi-

100 fizieren lassen, so bedeutet dies ja noch nicht, daß die Erwachsenen im­ mer in der Weise mit Kindern sprechen. 2.1. Diese Tatsache macht deutlich, daß man die Methode und gewisse Resultate der intersprachlich aktiven Sprachkontaktforschung als eine realistische Grundlage für die Erforschung des intrasprachlichen Wandels heranziehen sollte. Denn die verschiedenen Subkodes und Stile mit ihren Varianten, über die ein Individuum verfügt, treten in seinem Erfahrungs­ bereich in Kontakt. Die Folgen derartiger Kontakte lassen sich als ver­ schiedene Arten von Alternationen und Interferenzen identifizieren, wie das Beispiel Haben Sie Ihr Ticket schon gecheckt? zeigte. Ich unterschei­ de zwischen linguistischen und situationalen Interferenzen. Mit einem von Weinreich (1953, 1) abweichenden Interferenzbegriff betrachte ich als “linguistische Interferenzen” die “Abweichungen von den phonetischen und phonemischen, lexikalischen und semantischen Konventionen einer Sprache, eines Dialekts oder Soziolekts durch den Einfluß anderer Kodes oder Subkodes”. Die Interferenzen entstehen in der Performanz — in di­ rekter oder indirekter Interaktion — sie können aber Bestandteile der Kom­ petenz der Sprachträger werden, nicht nur im Idiolekt, sondern auch im Soziolekten und auf größeren Ebenen. Die “situationalen Interferenzen” sind Abweichungen von den pragma­ tischen Normen der Situation, in der die Sprachen/Kodes verwendet wer­ den. Als klassisches Beispiel kann die Verhaltensweise von Herrn Perma- neder in den Buddenbrooks angeführt werden, der in Lübeck beim Fort­ gehen gu ten Tag sagte, — in Lübeck, wo man es nur beim Kommen tat!6 Situationale Interferenzen sind gewöhnlich von soziokulturellen Mustern abhängig, sie treten z.B. auch ein, wenn Regeln, die soziale Beziehungen markieren, nicht beachtet werden. Sie entstehen z.B. bei den Schweden­ deutschen in den kommunikativen Akten der Anrede, wenn das deutsche D u verwendet wird, entsprechend dem schwedischen Du in Situationen, in denen nur das Siezen möglich ist. Die Anredekonventionen verändern sich durch situationale Interferenzen auch in der Bundesrepublik Deutsch­ land, z.B. in der Kommunikation der Studenten unter sich.7 In Schweden, wo das D u sich nun auf fast alle Bevölkerungsgruppen erstreckt, gibt es aber immer noch Generationsgruppen, die dies als normfremd auffassen. 2.2. Ich habe erwähnt, daß Interferenzen in Interaktionen entstehen. Es erweist sich daher als wichtig, das Konzept der kommunikativen Kompe­ tenz zu differenzieren. Denn wenn Hymes (1967, 17) unter “kommuni­ kativer Kompetenz” die Fähigkeit versteht, die den Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglicht, Sprache zu verwenden und die Verwendung einer Sprache zu interpretieren, so ist dies zu allgemein, um den komplexen Me­ chanismus zu erfassen. Etwas exakter gibt die Lage die Fähigkeit wieder,

101 die ich als “interaktionale Kompetenz” bezeichnen möchte. Es gibt ja verschiedene Arten von kommunikativen Fähigkeiten, da mündliche Kommunikation in einer direkten Interaktion (face -to face interaction) nicht nur Sprechen und Hören umfaßt, sondern auch paralinguistische und visuell erfaßbare Fähigkeiten.8 Kommunikative Fähigkeiten umfas­ sen ferner nicht nur verbale und nicht-verbale Handlungen, also Sprache, Gestik, Mimik, sondern auch nicht aktionale Komponenten wie Schwei­ gen. Man muß Watzlawick et. al. (1972, 53) recht geben, wenn sie be­ haupten, daß man, wenn das gesamte Verhalten in einer Situation Mit­ teilungscharakter hat, nicht nicht kommunizieren kann. Ich verstehe unter interaktionaler Kompetenz die Fähigkeit einer Person, in einer Interaktionssituation verbale und nicht-verbale Handlungen zu vollziehen und zu interpretieren, gemäß den soziokulturellen und psycho­ logischen Regeln der Gruppe. Die interaktionale Kompetenz wird realisiert in kommunikativen Akten. Unter einem “kommunikativen Akt” fasse ich den gesamten Aktionsrahmen zusammen, in dem eine Sprechhandlung stattfindet. Die Hauptelemente des kommunikativen Aktes sind: 1) Part­ ner/Auditorium, 2) Die verbalen Elemente, 3) Die paralinguistischen Ele­ mente, 4) Die Kinetik, 5) Die Gesamtheit der affektiven Verhaltensmerk­ m ale.9 Dieses Konzept ist Sprecher- und hörerbezogen, während der Sprechakt, wie ihn z.B. Searle (1971, 30) darlegt, den Hörer nicht berücksichtigt, vgl.: “die Produktion oder Hervorbringung eines Satzzeichens unter bestimm­ ten Bedingungen stellt einen Sprechakt dar.”

3. Im kommunikativen Akt wird die Strategie der Kodeumschaltung sicht­ bar: die abwechselnde Verwendung mindestens zweier Kodes oder Sub­ kodes mit oder ohne Interferenzen. Der kommunikative Akt bildet eine der Plattformen zur Entstehung und Verbreitung der Variationen.

3.1. Die soziale Dimension der linguistischen Variation erhellt hauptsäch­ lich von dem Aspekt her, der eine Antwort auf die Fragen zuläßt: wer wählt welchen Ausdruck zu welchem Zeitpunkt in welcher Situation zu welchem Zweck für eine Mitteilung an wen? Man muß auch weiter fragen: wie reagiert der Hörer? Denn seine Reaktion ist für die Verbreitung der Veränderungselemente wichtig. Nicht nur Variablen wie Alter, Geschlecht, Status- und Rollenposition im allgemeinen bestimmen hier die Wahl der Mittel, sondern auch die Beziehung des Sprechers zum Hörer: Fremder, Bekannter, Freund, Verwandter; Vorgesetzter, Untergebener. Auf dieser Dimension erhellt nicht nur der Unterschied zwischen der Sprache, ge­ sprochen von Einheimischen und Ausländern, oder zwischen Männer­

102 und Frauensprache, sondern auch zwischen verschiedenen Interaktions­ modellen, z.B. in der Anrede: Du und Sie oder der Titelverwendung, um nur einige zu erwähnen, und hier entstehen entsprechende Alterna­ tionen und Interferenzen als Realisierung der variablen Kompetenz. Sie entstehen keineswegs nur durch die Ausdrucks- und Kommunikations­ funktion der Sprache, sondern sind motiviert durch die Tatsache, daß die Sprache dem Sprecher als Identitätsfaktor und dem Hörer als Identi­ fikationsinstrument dient. Ausdrücke, charakteristisch für das sprachliche Verhalten einer Gruppe, werden von Personen außerhalb dieser Gruppe verwendet, um als zu dieser Gemeinschaft gehörig identifiziert zu werden. Die beiden bis jetzt weniger beachteten Funktionen der Sprache — die Identitäts- und Identifikationsfunktion — können aber dazu führen, daß sich eine neue Alternative nicht allein, sondern mit einer weiteren Mög­ lichkeit parallel verbreitet. Dies geschieht vor allem dann, wenn aus sozio- psychologischen Gründen die Alternative und die bisher übliche Ausdrucks­ weise weniger akzeptabel sind. Wird jemand mit D u angeredet, wenn er Sie erwartet, so kommt es vor, daß er dieser situationalen Interferenz mit einem für die Situation nicht frequenten oder neuen Modell begegnet: Student A (zu einem ihm nicht bekannten Studenten B im Haupt- Sem inar): Was D u da gerade gesagt hast...

Student B zu A, verwendet statt des üblichen Sie die Passivkon­ struktion: Was hier soeben behauptet wurde ... 3.2. Hier zeigt sich auch gleich die Brücke zur linguistischen Dimension mit ihrer sozialen Variation. Ein und derselbe Ausdruck kann, je nach Sprachträgergruppen, mit kollektiven, sozialspezifischen Konnotationen verbunden sein, wobei wiederum die sozialen Variablen, z.B. Alters- und Geschlechtsunterschied, eine Rolle spielen. Hier können Differenzen der Interpretation zwischen Sender und Empfänger entstehen, und diese kön­ nen zu Bedeutungsveränderungen führen. Denn die Interpretation geschieht vom Wissensradius her, aber sie scheint auch gleichzeitig vom Zentrum des Interesses aus vorgenommen zu werden. Am deutlichsten sehen wir das bei Kindern. Ein siebenjähriger Hamburger Junge wurde gefragt, was es bedeu­ te: Müßiggang ist aller Laster Anfang. A n tw o rt: Das ist der erste Gang. Den legt der Laster ein und fängt an zu fahren. Auch bei Erwachsenen sind es der komplexe Erfahrungshintergrund und das sog. Bewußtsein von der Situation, das laut Bühler auch die Kenntnis von der Absicht des Sprechers10 umfaßt, die die Interpretation einer Mit­ teilung ermöglichen. Differenzen können zum Wandel der Verhaltenswei­ sen führen, die Sprache einbegriffen. In Witzen ist dieses Bewußtsein aus­ geschlossen, und gerade dadurch wird ihre zentrale Rolle deutlich. Das

103 zeigt sich z ß . bei dem Vater, der seinem Baby ein warmes Bad richtet, weil die Vorschrift für Mahlzeiten lautet: Bevor das Baby sein Essen erhält, muß es leicht gewärmt werden. Durchaus denkbar ist die Verwirrung der beiden Kommunikatoren, wenn der eine, eine Frau, den anderen, einen Schaffner, fragt: Muß ich für die Kinder auch bezahlen ? — Antwort: Nicht unter sechs — Die Frau: Fein, es sind nur drei. 3.3. Das Dargelegte soll auch die schon erwähnte Rolle des Empfängers der Mitteilung als Weiterführer der Veränderung hervorheben. Ihm ist in der psycho- und soziolinguistischen Literatur im Vergleich zu dem Sen­ der geringe Aufmerksamkeit zuteil geworden, obwohl schon Hermann Paul (1909, VI) bei seiner Kritik von Wundt hervorhebt, daß kein volles Verständnis der Sprachentwicklung ohne die Berücksichtigung des Hörers gewonnen werden kann. Wegener (1885, 182) weist darauf hin, daß die Frage nach dem Sprachverstehen im Vordergründe der sprachwissenschaft­ lichen Untersuchung stehen sollte, und hebt somit die Hörerrolle hervor. Der Hörer hat, das wissen wir mit Nachdruck schon von Scerba und der Petersburger Schule, ebenso wie von den Prager Linguisten, eine andere Grammatik als der Sprecher.11 So existiert die H o m o n y m i e ja nur in der Hörergrammatik, und dieses Phänomen führt zu den soeben gehör­ ten Mißverständnissen in den Witzen. Die Abweichung des Hörers bei der Interpretation kann u.a. auch durch die Tatsache erklärt werden, daß im kommunikativen Akt nicht alles verbalisiert wird. Die Kreativität der na­ türlichen Sprache hängt, wie Jakobson (1974, 74) darlegt, von ihrer spe­ zifischen Fähigkeit ab, nicht alles auszudrücken, um überflüssige Einzel­ heiten zu vermeiden. Auch diese Ebene ist für die Veränderungsforschung wichtig. Die Mutter, die beim Anblick, daß der Sohn seine alten Jeans anzieht, zu ihm sagt: Heute ist Sonntag, hat die vom Hörer interpretier­ bare Aufforderung zur Verhaltensänderung verbal gar nicht ausgedrückt. Der Ausdruck kann — wenn er an anderen Tagen verwendet wird — in der Familiensprache jedoch schnell idiomatisiert werden, etwa als Verbot, als “das sollst du nicht tun”. Den Weg zu derartigen idiomatisierenden Ver­ änderungen zeigt der Ausdruck auf den Steinen sitzen, der in den “Bud­ denbrooks” die Bedeutung “vereinsamt sein und sich langweilen” ange­ nommen hat.12 Den vielen Auflagen des Romans zufolge hätte man er­ warten können, daß dieser Redensart eine allgemeine Verbreitung zuteil geworden wäre, wie es zum Beispiel mit es ist die höchste Eisenbahn ge­ schehen ist.13 Dies ist jedoch nicht der Fall gewesen. 3.4. Derartige Feststellungen richten die Aufmerksamkeit auf die Tat­ sache, daß nicht alle Neuerungen und Veränderungen in die Standard­ sprache gelangen und man mit verschiedenen Prozeß-Stadien des Wandels rechnen muß. Es gilt aber gerade deshalb, diese Stufen auf ihre Bedingun-

104 gen hin zu beleuchten, weil man bei Untersuchungen des Sprachwandels bisher fast immer von den Resultaten ausgegangen ist und bei der Frage der Annahme und Verbreitung der Neuerungen keine regionale und soziale Differenzierung vorgenommen hat. Der Prozeß, der im Zusammenhang mit der Veränderung der Sprachgewohnheiten des Individuums zu sehen ist, wird gewöhnlich empirisch nicht verfolgt, weil dies für die Vergangen­ heit in allen Einzelheiten nicht möglich ist, in der Gegenwart jedoch vieles als schwierig greifbar oder als Okkasionelles abgetan wird. Man sollte aber nicht von vornherein von okkasionellen Erscheinungen, Mariginalität und “Eintagsfliegen” reden, wenn die Funktion einer Er­ scheinung noch nicht untersucht worden ist. Derartige metasprachliche Feststellungen dürften nicht als Alibi gelten, sie von der Sprachbeobach- tung auszuschließen.14 Denn mit Recht stellen Weinreich et.al. (1968, 188) fest: “Not all variability and heterogeneity in language structure involves change ;but all change involves variability and heterogeneity.” Varianten in der Synchronie können, diachron gesehen, zur Norm werden. Es müssen Forschungsansätze des Sprachwandels aktiviert werden, in deren theore­ tischen Konzepten auch die soziopsychologische Dimension des Kommuni­ kationsprozesses berücksichtigt wird. Feststellungen wie: “Alle Sprach- neuerungen sind notwendigerweise individuell; doch entsprechen die Neue­ rungen, die angenommen und verbreitet werden, sicher interindividuellen Ausdrucksbedürfnissen”15 sind Annahmen, die zwar nicht wirklichkeits­ fremd anmuten, deren empirische Fundierung explizit aber noch gegeben werden muß. Sie müssen auch auf metatheoretischer Ebene weiterent­ wickelt werden, um den Grad der Operationalisierung der einzelnen Variab­ len zu erhöhen. 3.4.1. Zu berücksichtigen sind dabei so unterschiedliche Variablen wie der kommunikative Kanal, die Motivation, der linguistische Kontext und der Zusammenhang mit der außersprachlichen Wirklichkeit, z.B. inwiefern eine soziale Veränderung zur sprachlichen Veränderung führen kann. Mehrere Faktoren können auch gleichzeitig wirksam werden. Wird eine Veränderung über den Kanal der Massenmedien verbreitet, z.B. in Werbeanzeigen, mit der Motivation, Aufmerksamkeit auf die Anzeige zu lenken, kann sie in verschiedenen Lesergruppen in Umlauf gesetzt wer­ den und modellbildend wirken. 3.4.1.1. Anschaulich zeigen das Zusammenwirken mehrerer Faktoren fol­ gende Fälle: Kommen Sie zu Adia, und wenn es nur einen Farbfernseher lang ist (Anzeige der Firma Adia).

105 Hier wird in den Rahmen einer Zeitangabe (Substantiv im Akkusativ + lang), der entweder ein Substantiv fordert, das direkt auf die Frage w ie lange? antwortet: einen Tag, einen Sommer, ein Semester, oder eine Paraphrasierung mit dauern zuläßt: ein Gespräch lang = so lange ein Gespräch dauert, ein Substantiv gesetzt, das diese Bedingungen nicht er­ füllt. Das Substantiv Farbfernseher signalisiert in diesem Rahmen die Zeitspanne ebenso durch den linguistischen Kontext einen Farbfernseher lang, dieser kann jedoch nicht paraphrasiert werden als * so lange ein Farb­ fernseher dauert, sondern als so lange (es dauert), bis man Geld für den Kauf eines Farbfernsehers zusammen hat. Die Zeitspanne wird durch die Finalität und Motivation des Arbeitens ausgedrückt. Es handelt sich hier um den Prozeß der Zentrierung, analysiert bei Oksaar (1972), der den festen Rahmen der Zeitangabe durchbricht, vgl. auch: Ein Tortenstück lang sitzen heute die Bürger... an den kühlen Marmortischen des Sacher-Kaffeehauses in Wien (Stern 20, 1976, S. 58). Finalität und Motivation sind ebenso mit der Angabe der Zeitspanne ver­ bunden in Konstruktionen mit auf: auf eine Tasse Kaffee, eine Zigarette, einen Drink, ein Gespräch.

3.4.1.2. Der linguistische Kontext bewirkt Bedeutungsverschiebungen der Adjektive im Mikro- und Makrokontext der Komposita: fu ß fr e u n d ­ liche Schuhe, schlüsselreife Häuser. Dadurch, daß Adjektive in dem Rah­ men SA + S mit Wörtern verbunden werden, mit denen sie ihre volle se­ mantische Kongruenz nicht aktualisieren können, wird nur ein Teil des Inhalts realisiert, oft aber zusammen mit konnotativen Varianten. Ein kinderfreundlicher Spielplatz ist “passend”, “angebracht” für Kinder, ein hautsympathisches Oberhemd ist “angenehm” für die Haut. F reund­ lich ist hier ein Komplex von [passend, angebracht] + [meliorativ], 3.4.1.3. Auch der syntaktische Rahmen kann eine Bedeutungssteuerung bewirken, und zwar die Konstruktion nicht nur ... sondern. In: A riel macht die Wäsche nicht nur sauber, sondern rein, hat rein die stärkere Intensitätskomponente; diese kommt aber tauber zu, wenn dieses Wort nach sondern erscheint: Ariel macht die Wäsche nicht nur rein, sondern sauber. 3.4.1.4. Soziale Veränderungen wie Arbeitszeitverkürzung und längerer Urlaub haben zu einer Reihe von sprachlichen Neuerungen geführt, die sich u.a. in neuen Berufsbezeichnungen zeigen: Freizeitplaner, Freizeit­ gestalter, Freizeitberater, Freizeithelfer, Freizeitpädagoge,16 Es sind ambi- direktionale sprachliche Folgen, die man einerseits in der schlagartig zu­ nehmenden Zahl von Komposita für die Bezeichnung neuer Begriffe fest-

106 stellen kann, andererseits in der veränderten Inhaltssphäre von Wörtern wie Freizeit, Arbeitswoche, Wochenende u.a., wobei sich auch Einwir­ kung auf gewisse Typen von Interaktionsritualen feststellen läßt, z.B. in der Kategorie “Abschied”. Statt schönen Sonntag, den man sich am letz­ ten Arbeitstag der Woche, am Samstag, wünschte, verwendet man jetzt, da dieser Tag gewöhnlich Freitag ist, überwiegend ein schönes Wochen­ ende. Diese Beispiele zeigen, daß auch derartige Veränderungen der Inhalts­ sphären, die Hermann Paul (1909, 104) als unmittelbare Folge des Wan­ dels in den kulturellen Verhältnissen sieht und bei denen er deshalb keinen Bedeutungswandel ansetzt, für die Untersuchung der dynamischen Syn- chronie und des Prozesses des Sprachwandels wichtig sind. Sie können zur inhaltlichen Variantenbildung, zur Polysemierung und zum Bezeichnungs­ wandel führen. Sie weisen eine Veränderung des sprachlichen Verhaltens der Sprachträger auf, der durch Anpassung der sprachlichen Mittel an ihren sozio kulturellen Rahmen bedingt ist. Auch Bildungen wie Parkstudent, Schlüsselkind, Tagesmutter oder Nur- Hausfrau gehören zu den Innovationen in der Lexik, die soziale Verände­ rungen oder Attitüden widerspiegeln, gleichzeitig aber intersprachliche Ver­ änderungen auf dem Gebiete der Bedeutung hervorrufen. Die Differenzie­ rung, die sich durch Parkstudent, Tagesmutter und Schlüsselkind gegen­ über Student, Mutter und K ind feststellen läßt, führt in einen anderen Sektor als frühere Differenzierungen Werkstudent, Korpstudent; Windel­ kind, Patenkind. D urch Nur-Hausfrau w ird Hausfrau zur Abstraktion und zur Klassenbezeichnung, außerdem wird mindestens eine weitere Exemplarbezeichnung impliziert, z.B. *Werkhausfrau, d.h. eine Frau, die zu Hause und außerhalb tätig ist. Schlüsselkind und Tagesmutter hängen direkt mit der funktionalen Umstrukturierung im Arbeitsleben durch be­ rufstätige Frauen zusammen. Die Prägung Tagesmutter ist die einzige un­ ter den Bildungen mit M utter, die in den Bereich der Berufe gehört.

3.4.1.5. Derartige Mikrountersuchungen ermöglichen uns auch, die Ent­ wicklung und Wirkung der Inhaltskonflikte in der Gegenwartssprache zu verfolgen. Die Ölkrise und das damit zusammenhängende Fahrverbot an Sonntagen führten, wenn auch für kurze Zeit, zu einer sprachlichen Situation, in der neben dem Kompositum Sonntagsfahrer “derjenige, der nur sonn­ tags Auto fährt und daher schlechter fährt als die anderen,” ein zweites, aus den gegebenen Umständen heraus gebildetes Sonntagsfahrer “derjeni­ ge, der die Sondergenehmigung erhalten hat, am Sonntag Auto fahren zu dürfen” zu belegen war. Da aus der Interpretationsstruktur17 hervorgeht, daß beide Zeichen einen entgegengesetzten Prestigewert hatten, aber in denselben Situationen Vorkommen konnten — beide Inhalte können ja auch auf ein und dieselbe Person bezogen werden — ergab sich hier ein

107 Inhaltskonflikt. Das Wort mit dem positiven Prestigewert hat das andere in der Hörergrammatik fast ausschließlich zurückgedrängt: Herr Müller ist Sonntagsfahrer wurde in dieser Zeit überwiegend mit der zweiten Interpretation verwendet.

4. Die oben gegebenen Beispielkategorien im Bereich der Bedeutungs­ und Bezeichnungsfragen lassen sich leicht erweitern. Weniger beachtet sind die Erscheinungsformen der Veränderung im sprachlichen Verhal­ ten, die sich durch bestimmte Unterschiede zwischen Gesprächspartnern und durch ihre Anpassungsfähigkeit ergeben. Ein derartiger Prozeß kann z.B. dann stattfinden, wenn der oder die Partner den normalen Kode der Sprachgemeinschaft nicht vollständig beherrschen. Dies kann zu neuen Subkodes führen. Als derartige Subkodes, die in verschiedenen Sprachen als “vereinfachte Rede” (simplified speech) oder “vereinfachte Register” (simplified regi- ster) bekannt sind, werden die Sprache der Kinder und der Ausländer angesehen.18 Sie sind durch vereinfachte Syntax und gegen die Regeln der normativen Grammatik gebildete Elemente gekennzeichnet. Die ver­ einfachte Rede findet sich aber nicht nur bei Kindern und Ausländern im Spracherwerbsprozeß. Auch der Subkode der Erwachsenen, vorwiegend der Frauen, für Kommunikation mit Kleinkindern und der Subkode der Ein­ heimischen zu Ausländern gehören hierher; sie sind zwei eigenständige Varianten. Da sie weniger bekannt sind, den Prozeß des Sprachwandels aber genauso wie andere Subkodes durch ihre Varianten und Kontakt­ phänomene beeinflussen können, und weil sie die Veränderungen des sprachlichen Verhaltens der Sprachträger anschaulich darlegen, werden wie sie hier besprechen. Man muß im Auge behalten, daß es gerade die Unterschiede zwischen den Gesprächspartnern und ihrer wechselseitigen Anpassungsfähigkeit sind, die, wie Jakobson (1974, 183) hervorhebt, ent­ scheidend die zahlenmäßige Zunahme und die Differenzierung der Un­ terkodes innerhalb einer Sprachgemeinschaft und innerhalb der sprach­ lichen Kompetenz ihrer einzelnen Mitglieder beeinflussen. 4.1. Im Deutschen ist der Subkode der Erwachsenen zu Kleinkindern als Ammensprache bekannt, es fehlen jedoch — wie auch beim Subkode zu Ausländern — systematische Untersuchungen auf diesem Gebiet. Mein Material erstreckt sich auf Beobachtungen von fünf Müttern und drei anderen Bezugspersonen im Zusammenhang mit unseren Langzeitstudien der Kindersprache in Hamburg. Dieses Material bestätigt die sporadischen Beobachtungen seit Anfang des Jahrhunderts. Der Kode ist gekennzeich­ net durch typische internationale und paralinguistische Muster.19 Es fällt

108 dabei besonders die Übertreibung der Intonationskonturen auf. Ferner nehmen die Sprecher phonologische und grammatische Modifikationen vor: vermeiden schwierige Konsonantenverbindungen, verwenden über­ wiegend zweisilbige Wörter und einfache Syntax: hier B uch\ Es fällt die Reduplikation nicht nur von Silben auf, Typus w auw au20, sondern auch von Wörtern. Beispiel: eine Mutter zeigt auf einen Vogel in der Pfütze und sagt zu dem Zweijährigen: Da Vogel, macht schwimme, schw im m e. Häufig ist die Verwendung der dritten Person, wenn der Er­ wachsene auf sich selbst hinweist, oder auf das Kind in direkter Anrede: Mutti kommt gleich\ — Wie groß ist das Kind ? Wo ist Hansi? In diesem Subkode ist auch das soziative wir in verschiedenen Situationen zu fin­ den: wir waschen uns nun die Händchen, wobei es auch hier variablen Inhalt haben kann: “wir waschen Deine Händchen” oder: “du wäschst Dir nun die Händchen”. In kommunikativen Akten dieses Subkodes finden wir auch eine frequentere Verwendung von Diminutiven als in der Hochsprache, vom Typus mein kleines Mäuschen !, vgl. im Süd­ deutschen das »-Suffix: Buchi, Hausi, Betti. In Österreich kennt man laut Sieberer (1950, 87) aus diesem Subkode nicht nur Verbdiminutive w ie trinki, schreibi, sondern auch Formen wie waserl denn ? Kruisinga (1942, 9) weist darauf hin, daß hypokoristische Formen auf -y, ie fast ausschließlich auf den Umgang mit kleinen Kindern beschränkt sind, hieraus können sie in die allgemeine Sprache eindringen. Von der Gabe- lentz (1901, 277) ist der Ansicht, daß diese Art des sprachlichen Ver­ haltens die Sprache der Erwachsenen dauernd beeinflussen könne, wo­ durch sich “das Überhandnehmen der Diminutiva” in den slawischen Sprachen und in einigen deutschen Dialekten, z.B. dem Ostpreußischen, erklären ließe. 4.1.1. Obwohl dieser Subkode idiolektal eine große Variation aufweist und alle seine linguistischen Elemente keineswegs von sämtlichen Er­ wachsenen, die mit Kleinkindern sprechen, verwendet werden, para­ linguistische aber fast immer, so sind doch die hier erwähnten Elemente der Sprache der Erwachsenen zu Kleinkindern heute zu belegen, bezeich­ nenderweise häufig auch bei denen, die von sich selbst das Gegenteil behaupten. Dieser Subkode ist ein anschauliches Beispiel für die variable interaktionale Kompetenz: der Sprecher paßt sich bewußt oder unbe­ wußt dem vermeintlichen Subkode und dem Niveau des Kindes an. Man darf diese Variante nicht, wie es häufig geschieht, mit dem Kode des Kleinkindes gleichsetzen, obwohl hier ein wechselseitiger Einfluß — durch verschiedene Arten von Interferenzen — festzustellen ist und sich dadurch auch Gemeinsamkeiten ergeben können. Frequente Kin­ dersprachenmuster wie die Übergeneralisierung der schwachen Verb­

109 formen, Typus: singte und gesingt, kommen in diesem Subkode nicht vor, man trifft auch nicht Verletzungen der linguistischen und der se­ mantischen Kongruenz an. Der wechselseitige Einfluß dieser Kodes führt aber in vielen Sprachen zu Eigennamen und Koseformen: Bob, Peppo (Giuseppe), N enne (). Hier wären systematische Untersuchungen — auch kontrastiv — sehr wichtig, da gerade die soziale Dimension: Er­ wachsener - Kind bei der Variantenbildung des Erwachsenen die an­ fangs erwähnten, den Wandel bedingenden Triebkräfte aus einer ganz anderen Perspektive beleuchtet: Ökonomie und Anschaulichkeit durch vorwiegend emotionale Gründe. Es ist eine Tatsache, daß Varianten die­ ses Subkodes auch in Erwachseneninteraktionen Vorkommen. Schon von der Gabelentz (1901, 278) weist darauf hin, “daß Liebende in ihrem Ge- kose in die Kindersprache verfallen”. Man fragt sich aber mit Recht, ob das so ist — vielmehr scheint es die Variante zu sein, die nicht nur das Kind, sondern auch die Erwachsenen sprechen — die Schnittmenge ihrer Subkodes. Mit Recht stellt von der Gabelentz (1901, 278) ferner fest, daß man es hier mit einer Art Sprachmischung zu tun hat. Aber wenn er dies auf “jene irrationalen Factoren zurückführt, die die Geschichte der Sprache beeinflussen, die Gleichmäßigkeit ihrer Entwicklung durchbrechen kön­ nen”, so zeigt unsere heutige Beobachtungsebene, daß es höchst ratio­ nale Faktoren sein können, da wir es hier mit den grundlegenden Fak­ toren der menschlichen sprachlichen Tätigkeit zu tun haben, mit der Akkomodation und Assimilation der Verhaltensweisen, mit dem sog. Partnerzwang.21 Partnerzwang ist eine Erscheinung, deren genaue Analyse in verschiede­ nen kommunikativen Akten eine wichtige soziopsycholinguistische Auf­ gabe ist. Jakobson (1971, 559) stellt fest: “Jedermann versucht, wenn er mit einer neuen Person ins Gespräch kommt, absichtlich oder unwill­ kürlich, ein gemeinsames Vokabular abzustecken: entweder um zu ge­ fallen oder einfach um zu verstehen oder schließlich nur um ihn loszu­ werden, gebraucht er die Ausdrücke seines Adressaten.”

4.1.2. Wie erklären wir das? Man könnte sozialpsychologische Balance­ theorien heranziehen, z.B. die Theorie des Gleichgewichts der kogniti­ ven Strukturen, wie sie zuerst von Heider dargelegt und seitdem von einer Reihe von Forschern wie Cartwright und Harary, Festinger u.a. weiterentwickelt worden ist.22 Die Modelle der kognitiven Konsistenz bauen auf der Annahme auf, daß eine Person in ihren Handlungen eine Tendenz zur Vermeidung kognitiver Dissonanzen zeigt. “Inkonsistenzen wirken motivierend auf eine Umstrukturierung der Beziehungen zwischen kognitiven Elementen: jede Reduktion der kognitiven Dissonanz, der

110 Inkongruität oder des kognitiven Ungleichgewichts wird als gratifizierend empfunden.” 23 Die Anpassung an den Partner kann man in der Termino­ logie dieser Theorie als einen Balance-Akt verstehen. Zu den bekannte­ sten Konsistenzmodellen gehört die Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger (1957). 4.2. Eine andere Variante, die durch Partnerzwang ensteht, ist der Sub­ kode der Einheimischen zu Ausländern, die die Sprache nicht ganz be­ herrschen. Während die internationale Renaissance der Pidgin- und Creoleforschung auch in der Bundesrepublik Deutschland zur Untersuchung des Pidgin- Deutsch der ausländischen Arbeitnehmer geführt hat, fehlt es an Kennt­ nissen über den Subkode, den die Deutschen in ihrer Interaktion mit Ausländern verwenden. Einer derartigen Untersuchung habe ich einen experimentellen Ansatz vorausgeschickt, um das Wissen um einen der­ artigen Kode zu ermitteln. Die ganze Untersuchung dient zur Feststel­ lung des Einflußbereiches und der Struktur dieser gewissen Variante der sozialen Interaktion.

4.2.1. Studenten der Sprachwissenschaft in Hamburg (20-25 in der Gruppe) wurden in drei Tests im Laufe von 3 Jahren 10 Sätze24 vor­ gelesen, die nach verschiedenen grammatischen Schwierigkeiten ausge­ wählt waren, mit der Bitte, jeden Satz in der Form niederzuschreiben, wie sie denken, daß ein Deutscher sich ausdrücken würde, wenn er ihn Ausländern zu sagen hätte. Diese sind Südeuropäer, die Deutsch gehört haben, selbst aber noch wenig sprechen. Sie wurden auch gebeten, para­ linguistische Eigenschaften anzugeben. Auf die Einzelheiten einzugehen, verbietet mir die Zeit — ein wichtiges Resultat ist, daß sich in diesen drei Jahren trotz der Variation der einzelnen Formulierungen folgende Übereinstimmungen der in jeder Gruppe dominierenden Variablen zeig­ te: 1) Ersetzung der flektierten Verbformen durch den Infinitiv, 2) Fehlen der Kopula, 3) Fehlen der Hilfsverben (haben, werden), 4) Er­ setzung der Modalverben durch paralinguistische Elemente und Gestik, 5) Fehlen des Artikels, Demonstrativums und der indefiniten Prono­ mina, 6) Duzen statt Siezen, 7) Angabe der Befindlichkeit statt Rich­ tung. — Als Beispiel gebe ich einige Varianten von 4 Sätzen: 1) Ich habe den Mann, von dem Sie sprechen, nicht gesehen erscheint als 1) Ich Mann nicht sehen. 2) Ich nix gesehen Mann. 3) Ich den Mann nicht gesehen, ich nix sehen, nix Mann.

111 2) Er ist mein Bruder, er ist nicht mein Vater erscheint als 1) Er Bruder, nicht Vater. 2) Nix Vater, Bruderl 3) Gestern sah ich ihn und gab ihm etwas Geld erscheint als 1) Gestern, ich sehen ihn und Geld geben. 2) Ich ihn gesehen gestern, ich ihm Geld geben. 4) Besuchen Sie mich morgen. Vergessen Sie es nicht erscheint als 1) Morgen hier kommen. Nicht vergessen ! 2) Du morgen zu mir kommen, nicht vergessen ! Von paralinguistischen Eigenschaften überwogen zwei Züge: ‘langsamer’ und ‘lauter’ sprechen als üblich, auch ‘Lachen’. Stichproben aktueller Interaktion haben diese Feststellungen bestätigt.

4.3. Bei den in diesem Vortrag gegebenen Beispielen konnte nicht näher auf die Tatsache eingegangen werden, daß die Mitteilung auch gleichzei­ tig durch die paralinguistischen und kinetischen Elemente getragen wird. Forschungen des Sprachwandels haben dies kaum berücksichtigt, obwohl schon Havers (1931, 20 ff.) mit Beispielen veranschaulicht hat, wie Sprechmelodie, Akzent, Rhythmus, Tempo und Pausen, die er indirekte sprachliche Mittel nennt, und die äußere Situation, Haltung, Gebärden und Mimik des Sprechenden, die er als außersprachliche Ausdrucksmit­ tel bezeichnet, als bedingende Faktoren hinter syntaktischen Verände­ rungen stehen können. Man fragt sich allerdings, ob nicht das von Havers (1931, 23) erwähnte bekannte Erklärungsmodell der Entstehung des Nebensatzes: in dem Ich sehe das: er kommt durch Verlegung der Pause zu Ich sehe, daß er kommt wird, nicht anders aussehen könnte. Und zwar durch die hörerbezogene Betrachtungsweise. Warum, könnte man sich fragen, wird eine Pause ohne weiteres dahin verlegt, wo früher keine war. Man könnte statt dessen argumentieren, daß in Ich sehe, daß er k o m m t eine Pause eliminiert worden ist, und somit von zwei Pausen ausgehen. Ich sehe — das (möglicherweise mit einem Kinem verbunden) — er ko m m t. Das inhaltsmäßig im demonstrativen das Implizierte fügt sich beim Hörer ohne Pause zusammen. Jedoch — nur die Analyse der lebendigen Sprache läßt uns Lösungsvor­ schläge für die Dynamik der Vergangenheit machen.

5. Wir kommen zum Abschluß unserer Betrachtungen. Eduard Benes stellt in seinem Mannheimer Vortrag über Fachtext, Fachstil und Fachsprache (1971, 127) fest, daß man sich die Koexistenz der Teilsysteme der Spra-

112 che nicht etwa in Form eines zweidimensionalen Schemas vorstellen darf, “als ob sich immer nur die benachbarten Systeme direkt beein­ flussen und eventuell auch überdecken könnten, sondern als eine kom­ plizierte Kooperation und Interaktion, die sich in allen möglichen Di­ mensionen und Relationen verwirklicht”. Daß dies der Fall ist, haben auch unsere Überlegungen gezeigt. Weitere Untersuchungen müssen den Sprachwandel auf den Dimensionen der sozialen und linguistischen Va­ riation beleuchten. Dabei könnte die Verbindung des anfangs erwähnten korrelativen und des interaktionalen Ansatzes auf der Basis des von uns konzipierten kommunikativen Aktes einen weitreichenden methodischen Rahmen abgeben. Die Verbindung der Modelle ist effektiver als jedes für sich, denn das korrelationale Modell verwendet zwar exakte Metho­ den — korreliert eine Anzahl von spezifischen linguistischen und sozio­ logischen Variablen, seine Reichweite ist aber gerade dadurch einge­ schränkt, da viele Beziehungen unbeachtet gelassen werden. Das inter- aktionale Modell geht von der Beobachtung von natürlichen Kommuni­ kationssituationen aus und ermöglicht durch ihre emischen Einheiten, die in Komponenten wie Kode, Teilnehmer, Situation analysiert werden, die Feststellung außerlinguistischer Faktoren der linguistischen Variation, die man mit dem anderen Ansatz nicht findet. Sie hat zwar einen brei­ teren Rahmen, arbeitet aber nicht mit so exakten Methoden. Das Ana­ lysezentrum bildet jedoch der kommunikative Akt — hier findet die gegenseitige Anpassung statt, ein psychologisches Phänomen, das den Prozeß des Wandels steuert. Was man aus derartigen Prozessen lernt, muß nicht nur für die geschicht­ liche Perspektive fruchtbar gemacht werden, sondern auch futurologisch. Futurologische Aspekte gehören zu den Aufgaben vieler Wissenschafts­ zweige. Auch die Wissenschaft von der deutschen Sprache sollte nicht bei der Gegenwart haltmachen, sondern sich mit einem wichtigen Zweig der futurologischen Sprachbetrachtung, der Sprachplanung, befassen.25 Da die Planung auf Tatsachen bauen muß, gilt auch hier die Forderung, mit der ich meinen Vortrag begann: Empirie im Sinne des Neoempiris­ mus. Auf dem Hintergrund dieses Theoriebewußtseins möchte ich Einar Haugens Worte in dem Vortrag verstanden haben, den er auf dem IX. Internationalen Kongreß der anthropologischen und ethnologischen Wissenschaften in Chicago hielt: “Die Richtung: zuerst Beobachtungen und Feldarbeit im Bereich der natürlichen Sprachen und dann erst die Theorie und nicht umgekehrt, muß eingehalten werden, trotz der Fest­ stellung, daß auf dem umgekehrten Weg viele zu Gurus in der Linguistik geworden sind.” Natürlich soll dies keine Zweiteilung in Empirie und Theorie der Forschung bedeuten. Schon Goethe hebt in seiner Farben­ lehre hervor: “Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrach-

113 ten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theo- retisieren.”26 Feststellungen wie die von Brezinka (1964, 196) im Be­ reich der Pädagogik, die auch für die Linguistik der letzten zehn bis fünfzehn Jahre vielerorts Gültigkeit haben, lassen Haugens Forderung im richtigen Licht erscheinen: “Immer noch besteht die Neigung, Hypo­ thesen aufzustellen und Theorien zu bilden, bevor die relevanten Tat­ sachen bekannt sind... Bloße Hypothesen verwandeln sich unkontrolliert in gesicherte Voraussetzungen des Denkprozesses; Abstraktionen werden nicht mehr als solche erkannt; die von der Erfahrung abgeschnittene Spekulation über Begriffe erscheint als echte Auseinandersetzung mit der Sache.” Was kann die Erforschung der Vorstufen oder des Vorfeldes beim Sprach­ wandel in der Form der sozialen und der linguistischen Variation ermit­ teln? Erstens findet man neue Möglichkeiten zu einem besseren Verständ­ nis der Entstehung und Verbreitung von Varianten. Zweitens entdeckt man auch Zusammenhänge, die meistens verborgen bleiben, wenn man den Wandel als Endpunkt auffaßt. Aus den obigen Darlegungen läßt sich z.B. zeigen, daß das Prinzip der schichtenweise Übereinanderlagerung im System der Sprache, das Jakobson (1969, 130) anhand des Sprachwan­ dels beim Kinde und beim Aphasischen dargelegt hat, sich auch bei be­ stimmten sozialen Beziehungen: Einheimischer — Ausländer feststellen läßt. Jakobsons Grundsatz geht darauf aus, daß es eine Reihe konstan­ ter Fundierungen im Bau jedes einzelnen morphologischen oder syntak­ tischen Teilsystems gibt, z.B. ein Redeteil, ein Kasus, eine verbale Kate­ gorie. Dieser Bestandteil erweist sich als notwendig sekundär in bezug auf einen anderen Redeteil, Kasus oder verbale Kategorie. Jakobson (1969, 131) zeigt, daß diese Teile bei Kindern nach dem Primären ent­ stehen, bei Aphasikern aber vor dem Primären verschwinden und in den Völkersprachen nicht ohne den entsprechenden primären Teil Vorkom­ men. Die Verbendungen erweisen sich als ein derartiger sekundärer Be­ standteil. Das Kind erwirbt sie nach mehreren anderen verbalen Ka­ tegorien27, der Aphasiker verliert sie zuerst, der Einheimische verwirft sie in Interaktion mit einem bestimmten Typus von Ausländern, und dieser erwirbt sie nach anderen verbalen Kategorien.

114 A,1merkungen

1 Siehe Oksaar (1973, 318 f.). 2 Vgi_ hierzu auch Hugo Schuchardt, in: Hugo Schuchardt-Brevier (1922, 312f). 3 Weinreich, Labov, Herzog (1968, 150). 4 Wertvolle Erkenntnisse sind jedoch durch die Dialektforschung gewonnen worden. Zur dynamischen Synchronie s. R. Jakobson, Linguistics and Communication Theory, in: Structure of Language and its Mathematical Aspects, Proceedings of Symposia in Applied Mathematics, Nr. 12, Rhode Island 1961, S. 248. 5 A uch diese Perspektiven sind keineswegs neu, s. Hugo Moser (1955, 47), sie werden aber leicht übersehen. 6 Thomas Mann, Buddenbrooks. Fischer Bücherei, Exempla Classica 13, S. 226. 7 Männliche Jugendliche von 18-19 Jahren schätzen laut einer Repräsentativ­ umfrage des Instituts für Jugendforschung 1976 das Du am stärksten, ab 20. Lebensjahr ändert sich jedoch diese Einstellung. 61 % der 2000 befrag­ ten 14-22-jährigen finden es “blöd”, wenn gleichaltrige sich siezen. 8 Vgl. hierzu P. Ekman, Body Position, Facial Expression, and Verbal Beha­ vior during Interviews. In: Journal of Abnorm, and Soc. Psych. 48, 1964, 295 - 301. 9 Oksaar (1975, 738). 10 K. Bühler, Bericht über den III. Kongreß für experimentelle Psychologie, Leipzig 1909, 94 f. Zitiert nach Havers (1931, 65). 11 L. V. Scerba, Izbrannye raboty po jazykoznaniju i fonetike I, Leningrad 1958; I. Revzin, Tezisy konferencii po maSinnomu perevodu, Moskva, Pervyj Moskov. Gos. Ped. Inst. Inostrannych Jazykov, 1958, 23-25. 12 Vgl. hierzu Oksaar (1971, 283 f.). 13 Siehe G. Büchmann, Geflügelte Worte, Köln, 2. Aufl., 216. 14 Bausinger (1974, 262 f.) weist darauf hin, daß modische Sprachinnovatio- nen “ein beredtes Argument gegen den Versuch sind, die Sprachbeobachtung von allem ‘Okkasionellen’ abzuschirmen”. Zu den allgemeinen Bedingungen des Wandels s. Coseriu (1974, 94 ff.). 15 Coseriu (1974, 127). 16 Siehe Oksaar (1976, 23). 17 Zu diesem Begriff s. Oksaar (1976, 46 f.). 18 C.A. Ferguson, Baby Talk in six . In: American Anthropologist 1964, 103 - 114; C.A. Ferguson, Baby Talk as a simplified Register. Paper presented at the SSRC Conference on Language Input and Acquisition, Boston 1974. 19 Vgl. v. der Gabelentz (1901, 277): “die tändelnd kosende Sprache”. 20 Derartige onomatopoetische Tiernamen, gekennzeichnet durch Reduplika­ tion, können laut Paul (1909, 181) dazu führen, “daß die Wörter der aus-

115 gebildeten Sprache teilweise zuerst in einer Komposition mit Wörtern der Ammensprache erlernt werden, vgl. Wauwauhund, Mukuh, u. dgl.” 21 Zum Begriff s. M. Braun, Beobachtungen zur Frage der Mehrsprachigkeit. In: Göttingische gelehrte Anzeigen 119, 1937,127. 22 Siehe die Erörterungen bei Hummell (1969) und Körner (1976). 23 Hummell (1969, 1223). 24 Da eine kontrastive Analyse dieses Subkodes geplant ist, orientieren die Sätze sich am englischen Material, dargelegt von Ferguson in einem Vortrag auf dem 3. Internationalen Kongreß für angewandte Linguistik in Kopenhagen 1972. 25 Siehe hierzu V. Tauli, Introduction to a Theory of Language Planning, Uppsala 1967, und die seit 1975 erscheinende “Language Planning News­ letter”. 26 Zu diesen und anderen methodischen Prinzipien, die allen Wissenschaften gemeinsam sind, s. H. Roth, Die Bedeutung der empirischen Forschung für die Pädagogik. In: S. Oppolzer (Hrsg.), Empirische Forschungsmethoden (= Denkformen und Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft 2), München, 15 - 62. 27 Vgl. CI. und W. Stern, Die Kindersprache, Leipzig 1922, 3. Aufl., 98. 28 Vgl. Schuchardt (1922, 139).

Abgekürzt zitierte Literatur

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117 KARL HEINZ BAUSCH

Sprachvariation und Sprachwandel in der Synchronie1

1. Vorbemerkung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Theorie-Empirie-Problem in der Linguistik. Ausgangspunkt ist die Frage, wie die Heterogenität des Sprachgebrauchs in eine synchrone Strukturbeschreibung integriert wer­ den kann und wie aus Daten zur Sprachvariation in der Synchronie Prog­ nosen auf künftigen Sprachwandel gezogen werden können.2 Es wird ge­ zeigt, daß die Forderung nach deskriptiver Angemessenheit einzelsprach­ licher Strukturbeschreibungen erst eingelöst werden kann, wenn eine prognostische Komponente in synchrone Methoden integriert wird. Vor­ geschlagen wird eine mögliche empirische Forschungsstrategie, mit der über kontrollierte Tests die Heterogenität des Sprachgebrauchs systema­ tisch erfaßt werden kann. Außerdem werden Kriterien genannt, mit de­ nen aus Sprachvariationen auf Sprachwandel geschlossen werden kann. Der Vorschlag wird angewendet auf den Modusgebrauch in der indirek­ ten Rede in der gesprochenen deutschen Standardsprache. Zur Abgrenzung des Themas sind einige grundsätzliche Anmerkungen er­ forderlich. Voran die triviale Feststellung, daß Sprachvariation und Sprachwandel primär ein Interessensgebiet ist, um das sich eine einzel­ sprachlich orientierte Linguistik zu kümmern hat. Es gehört in den Be­ reich der empirischen Pragmatik.3 Zur Beschreibung und Erklärung von Sprachvariation und Sprachwandel in einer Einzelsprache genügt es vor­ erst, sich mit empirisch fundierten Hypothesen oder Teiltheorien zu be­ gnügen, die auf bestimmte konkrete Sprachgemeinschaften zugeschnitten sind. Die Universalienfrage wird vorerst zurückgestellt. Diese Forschungs­ strategie scheint zumindest in Anbetracht des gegenwärtigen Standes der Sozialwissenschaften die angemessenere zu sein.4

2. Synchrone Linguistik — eine Methodenkritik

Die synchrone Linguistik versteht sich weitgehend als dokumentierende — als historische — Wissenschaft. Sie beschreibt ein bestimmtes Sprach- stadium entweder als ein homogenes System oder — weitaus seltener — als ein zwar heterogenes System, in dem jedoch Varianten lediglich den Status von Fußnoten erhalten.5 Ihr fehlt weitgehend eine prognostische Komponente. Sie versucht kaum, Aussagen über möglichen Sprachwandel in der Zukunft zu machen. Entsprechende Ansätze in der Dialektologie

118 oder in der Soziolinguistik sind die Ausnahme.6 Auch Chomskys Kon­ zept der sprachlichen Kreativität weicht nicht von dieser Tradition ab; denn Kreativität ist nach diesem Konzept nur insoweit gegeben, als Äuße­ rungen mit den vorgegebenen Regeln — die die Sprachnorm repräsentieren — generiert werden können. Das Problem sprachlicher Innovation bleibt ausgeklammert.7 Die Frage nach prognostischen Möglichkeiten in der synchronen Linguistik ist m.E. ein zentrales Problem der Theorie-Empirie-Relation, das gelöst werden muß, wenn man die Forderung, linguistische Beschreibungen soll­ ten einen möglichst hohen Grad an deskriptiver Angemessenheit auswei- sen, ernsthaft realisieren möchte. Die in Strukturbeschreibungen wegen der Heterogenität des Sprachgebrauchs erforderlichen theoriebedingten und substantiellen Idealisierungen (die normierende Funktion haben) müssen transparent und kontrollierbar gemacht werden. Sie müssen in der Weise erfolgen, daß man sich nicht dem Vorwurf präskribierenden Ver­ haltens aussetzt. Diesem Vorwurf kann man m.E. nur entgehen, wenn aus der Heterogenität des Sprachgebrauchs Prognosen zum Sprachwandel ab­ geleitet werden können, die dann Kriterien für diese normierenden Ideali­ sierungen abgeben.8 Die Tatsache, daß die Frage möglicher Prognosen zum Sprachwandel in der Synchronie kaum behandelt wurde, läßt sich m.E. erklären aus drei Wissenschaftskonventionen. Die erste Konvention besteht in der seit de Saussure akzeptierten analyti­ schen Trennung von Diachronie und Synchronie, in der implizit angelegt ist, daß in einer auf Synchronie angelegten Forschungsstrategie keine Fragestellungen zur Diachronie zuzulassen sind. Synchrone Strukturbe­ schreibung bedeutet seither im günstigsten Fall eine idealisierte Dokumen­ tation eines bestimmten Sprachstadiums. Die zweite Wissenschaftskonvention ist eng mit der ersten verbunden. Sie betrifft die Dichotomie langue bzw. competence und parole bzw. perfor- mance. Gegenstand einer synchronen Strukturbeschreibung kann nur die langue bzw. competence sein, nicht die parole bzw. performance. Nun praktiziert aber die Linguistik permanent Beschreibungen der Kompetenz von Einzelsprachen, ohne daß sie darüber reflektiert, daß der Übergang von Performanz zu Kompetenz — dieser oben erwähnte erforderliche Idealisierungsprozeß — einer empirischen Überprüfung und Legitimation bedarf.9 Selten wird die Forderung erhoben, diese Idealisierungen nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch zu legitimieren. Noch seltener wird diese Legitimation in der Beschreibungspraxis realisiert.

119 Die Reflexion über empirische Methoden, sei es zur Datenerhebung, zur Gruppierung gewonnener Daten oder zur Überprüfung von Hypothesen, wird ausgespart. Dagegen wurde der unkontrollierte Sprung von Perfor- manz zu Kompetenz zur Wissenschaftskonvention. Chomsky hat schließ­ lich, indem er das Konstrukt Kompetenz des idealen Sprecher-Hörer in einer homogenen Sprachgemeinschaft10 einführt, diese Konvention zu einer Art Axiom erhoben, mit dem nicht nur die Diskussion um die Frage, wie die Heterogenität des Sprachgebrauchs in linguistischen Beschreibun­ gen angemessen erfaßt werden kann, sondern auch die Diskussion um empirische Erhebungsprozeduren abgeblockt wird. Es ist nur konsequent, daß unter dieser Prämisse Fragen nach Sprachvariation oder Sprachwan­ del in der Synchronie nicht aufkommen konnten.11 Als dritte Wissenschaftskonvention muß die Behauptung genannt werden, die Linguistik sei eine deskriptive Wissenschaft. Die Forderung nach Des- kriptivität wird gemeinhin bereits als realisiert angesehen, wenn der Lin­ guist darauf verzichtet, explizite qualitative oder ästhetische Urteile über den Sprachgebrauch abzugeben. Diese Enthaltsamkeit konstituiert jedoch noch keine Wissenschaftsmethode.12 Hinter der Behauptung, der Linguist verhalte sich deskriptiv, steht das Versprechen, daß die Strukturbeschreibungen, die er gibt, den konventio- nalisierten Sprachgebrauch in einer Sprache oder Sprachschicht angemes­ sen beschreiben, wobei unter ‘angemessen’ zu verstehen ist, daß die Be­ schreibungen und Erklärungen für den Sprecher einer Sprachgemeinschaft von kommunikativer Relevanz sind.13 Man kann nicht behaupten, daß dieses Versprechen bereits eingelöst wäre. Der mögliche Grad der deskriptiven Angemessenheit ist erstens abhängig von den bereits erwähnten erforderlichen Idealisierungen, die der Linguist vornehmen muß, wenn er die Sprachkompetenz beschreiben möchte. Er ist zweitens abhängig von dem Modell, das er der Beschreibung zugrunde­ legt. Bestimmte Modellkonzeptionen lassen eben nur bestimmte Erklärun­ gen über die Sprache zu. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Darauf haben un­ ter anderen schon Paul, de Saussure und Bloomfield hingewiesen.14 Das bisher Gesagte läßt sich auf den folgenden Nenner bringen: Der Lin­ guist ist, bedingt durch die Art des Gegenstandes, mit dem er sich be­ schäftigt, gezwungen zu abstrahieren, d.h. letztlich zu normieren. Solange er aber die Problematik dieser notwendigen Normierungen nicht reflek­ tiert, d.h. solange er den Idealisierungsfaktor in der Datenbasis und in der Modellkonzeption nicht in die Methodendiskussion der Wissenschafts­ disziplin einbezieht, kann er das Problem der deskriptiven Angemessen­ heit nicht lösen.

120 Sobald er jedoch diese methodischen Probleme reflektiert, wird er sich zwangsläufig mit der Heterogenität des Sprachgebrauchs auseinanderset­ zen müssen und Sprachvariation und Sprachwandel auch unter synchro­ nem Aspekt thematisieren müssen. Bedenkt man außerdem, daß Struktur­ beschreibungen vom Benutzer als Anweisungen über den Sprachgebrauch interpretiert werden können und somit sprachplanende Funktion haben können, wird der Linguist seine Tätigkeit auch unter dem Aspekt mögli­ cher sprachpflegerischer Folgen zu prüfen haben. Nun könnte der Verdacht aufkommen, hier werde wieder die von Bloom- field geforderte Wissenschaftsstrategie vertreten, nach der nur von der parole ausgehende induktive Schlüsse in der Linguistik zulässig seien, die von natürlichen Korpora ausgehen.15 Dem ist nicht so. Es geht vielmehr darum, dem zentralen Prinzip Intuition in der Linguistik die Alibifunk­ tion zu nehmen, die es derzeit noch weitgehend hat, und dieses Prinzip zum Gegenstand der Diskussion um empirische Erhebungs- und Über­ prüfungsprozeduren zu machen und damit empirisch zu fundieren.16 Die hier vertretene Position deckt sich weitgehend mit der Forschungs­ strategie, die Bühler in seiner Sprachtheorie vorgeschlagen hat, wenn er schreibt:

Man vertraue sich also der echt phänomenologischen Grundhaltung der lo­ gischen Untersuchungen an und übe das Einklammern. Dann werden dem Monadenwesen, welches alle Tentakeln eingezogen hat, im Felde der Des- carteschen Cogitatio Schritt für Schritt Strukturgesetze des Bedeutens auf­ gehen. Woran eigentlich? Natürlich an den Modellen, die dieser Diogenes im Faß gewinnt an der von Kindheit auf von ihm gelernten und gesprochenen Sprache.17 Doch diese Introspektion reicht nach Bühler nicht aus für die angemesse­ ne Beschreibung von Einzelsprachen. Er fährt fort:

Allein um von da zu einem System wie ‘die deutsche Sprache’ oder ‘Lingua Latina’ zurückzukehren, gehört erstens nach dem Einklammern das ebenso notwendige Wiederausklammern und das Verlassen des Monadenraums mit seiner nichts als intendierten (vorgestellten) Welt.17 Eben eine mögliche Strategie des Wiederausklammerns soll im folgenden zur Diskussion gestellt werden. Sie soll Daten und Kriterien bereitstellen, mit denen der erforderliche Idealisierungsfaktor kontrollierbar gemacht werden kann.

3. Einige Prämissen über Standardsprache

Die geforderte empirische Strategie läßt sich nur sinnvoll auf eine Einzel­ sprache hin konzipieren. Der hier zur Diskussion gestellte Ansatz soll zu-

121 nächst nur für die deutsche Standardsprache gelten. Sie ist diejenige Sprachschicht, an der Bühlers Empfehlung, das Wiederausklammern zu üben, zweckmäßigerweise ansetzen sollte, weil hier Strukturbeschreibun­ gen der Linguistik, in traditionellen Grammatiken kodifizierte Normen und Sprachgebrauch in einer Sprachschicht konfrontiert werden können. Die folgenden Überlegungen gehen von fünf Erfahrungssätzen über die Standardsprache aus. Sie haben die Funktion von Prämissen.18 1. Das überregionale Kommunikationsmittel Standardsprache ist in sich nicht homogen. Es ist zumindest zu unterscheiden zwischen dem sekun­ dären System Schriftsprache und dem primären System gesprochene Standardsprache. 2. Die Schriftsprache ist das konservative System. Sie ist stark an den Normen der Schul- und Gebrauchsgrammatiken ausgerichtet. Das gilt insbesondere für die Schrift- und Lesesprache der Massenmedien. 3. Für die gesprochene Standardsprache gilt: je formaler oder öffentli­ cher die Kommunikationssituation ist, desto stärker ist das Sprachver- halten der Sprecher an den schriftsprachlichen Normen und den Vor­ schriften der Grammatiken und am schriftsprachlichen Sprachge­ brauch orientiert. 4. Diese Überschneidungen zwischen Grammatikpräskriptionen, schrift­ sprachlichem und gesprochensprachlichem Sprachgebrauch lassen sich als Interferenzerscheinungen beschreiben. 5. Interferenzerscheinungen können sich in einem der Subsysteme der Standardsprache nur dann als Norm etablieren, wenn sie gegenüber den Äquivalenten, für die sie stehen können, einen höheren Prestige­ wert haben.

Der Systembegriff von Standardsprache, der hinter diesen Prämissen steht, schließt insbesondere an Überlegungen der Prager Schule und ihrer Nach­ folger an, die die Sprache als ein differenziertes funktionales System in Zentrum und Peripherie gliedern.19

4. Ansätze zu einer empirischen Strategie

Ausgehend von dem eben genannten Konzept Standardsprache und der Kritik an den Wissenschaftskonventionen der synchronen Linguistik wäre nun eine empirische Strategie zu entwickeln, die nicht von der Prämisse ausgeht, es gebe eine einzige Normebene (eine langue, eine homogene Sprachkompetenz), die als Bezugssystem angenommen wer­ den könne, die zu beschreiben sei und von der aus dann Abweichungen

122 darzustellen seien. Die Strategie darf nicht einseitig gerichtet sein, son­ dern mit ihr muß die Interrelation der einzelnen Subsysteme im Sprach­ gebrauch empirisch ermittelt werden können und zwar so, daß Interfe­ renzerscheinungen diaphasisch und diastratisch lokalisiert werden kön­ nen. Den Vorschlag für eine entsprechende empirische Strategie möchte ich in sechs Analyse- und Syntheseschritten skizzieren: Erster Schritt: Er gilt der Analyse der Beschreibungstradition, d.h. insbesondere den Beschreibungen in wissenschaftlichen und pädago­ gischen Grammatiken. In ihm muß a. die strukturelle Analyse der als Varianten verdächtigten ausdruckssei­ tigen Elemente erfolgen. Ebenso muß b. eine vergleichende Analyse der Interpretationsmodelle in der Beschrei­ bungstradition vorgenommen werden, um daraus eine neue Arbeits­ hypothese abzuleiten oder eine plausible zu übernehmen. Außerdem müssen c. die Meinungen in Sprachkritik und Sprachpflege zum Objektbereich beschrieben werden.

Mit dieser kritischen Übernahme der Beschreibungstradition wird Choms­ kys Konzept korrigiert, nach dem der Linguist zunächst einmal die struk­ turellen Informationen, die in traditionellen Grammatiken informell ge­ geben werden, übernehmen sollte.20 Eine solch unkritische Übernahme von Daten enthält implizit einen Rückkopplungsprozeß; denn mit ihm werden auch deskriptiv nicht angemessene Beschreibungen tradiert, die lediglich zur idiolektalen Kompetenz des Grammatikers oder Analysators gehören. Zweiter Schritt: Nach dem ersten Schritt ist ein angemessenes Testverfahren zu entwickeln, das die folgenden Bedingungen erfüllen m uß: a. Es muß auf die Überprüfung der im ersten Schritt gewonnenen Hypo­ these angelegt sein. b. Es muß die Sprecherintuition zugänglich machen. c. Es muß beliebig wiederholbar sein, d.h. es muß kontrolliert und mani­ puliert sein. d. Das Testverfahren muß auf mindestens zwei diaphasisch unterschied­ liche Ebenen der Standardsprache hin manipulierbar sein, damit eine Kontrastierung der aus dem Test erhaltenen Daten in diaphasischer Variation möglich wird.21 e. Die diaphasische Testvariation ist am selben Informantensample zu testen.

123 Als sample sollte eine homogene Gruppe von Sprechern gewählt werden, die in standardsprachliche Kommunikationssituationen eingeübt sind. Als sample empfiehlt sich die Altersgruppe zwischen 20 und 40 Jahren, weil von deren Sprachverhalten auf das Sprachverhalten der kommenden Generation geschlossen werden kann.22 Dritter Schritt: Durchführung des Tests und Auswertung der Testergebnisse. Aufgrund der statistischen Auswertung wird die unter Schritt eins angenommene Arbeitshypothese überprüft. Vierter Schritt: Nun werden die statistischen Ergebnisse der in diaphasischer Variation wiederholten Tests untereinander konfrontiert. Dabei werden vorläufige Aussagen über eine systematische diaphasische Variation der getesteten Sprachelemente gemacht. Fünfter Schritt: Nach der im dritten und vierten Schritt erfolg­ ten Testanalyse und der vorläufigen Dateninterpretation wird nun die Versuchsanordnung selbst auf ihre Angemessenheit im Hinblick auf na­ türliche Sprechsituationen diskutiert. Diese Bewertung muß gegenwärtig noch weitgehend vorwissenschaftlich intuitiv bleiben, weil noch ausrei­ chende Erfahrungen auf dem Gebiet der Situationsmanipulation für Sprachtests fehlen. Die Diskussion über den Grad der Angemessenheit der Versuchsanordnung ermöglicht eine Bewertung der Testergebnisse auf ihre Repräsentativität im Hinblick auf den konventionalisierten Sprachgebrauch, d.h. eine entsprechende Uminterpretation der ermittel­ ten Sprachdaten aufgrund der Testkritik.23 Sechster Schritt: ln diesem letzten Schritt werden die im voran­ gegangenen Schritt uminterpretierten Sprachdaten zugrundegelegt. Aus der Konfrontation der diaphasischen Variationen untereinander und mit der vorhandenen Beschreibungstradition, die im ersten Schritt analysiert wurde, werden nun Prognosen zu künftigem Sprachwandel formuliert. Die mögliche Richtung des Sprachwandels wird ausgelöst von unter­ schiedlichen Faktoren, die mit in die prognostischen Überlegungen ein­ bezogen werden müssen. Die Ergebnisse dieser prognostischen Interpre­ tation müssen in die abschließende Strukturbeschreibung eingehen in Form von Kriterien für die notwendigen Normierungen. Auf diese Weise kann der Idealisierungsfaktor zumindest teilweise transparent gemacht w erden.

5. Richtungsgebende Faktoren des Sprachwandels

Die folgenden — zugegebenermaßen vorläufigen — Überlegungen zum Sprachwandel sind gerichtet auf diejenigen auslösenden Faktoren, die

124 auch in der heutigen deutschen Standardsprache wirksam werden und zur Interpretation von Sprachvariation als Sprachwandel beitragen kön­ nen. Ausgegangen wird von vier Prämissen, deren empirische Fundierung mit Daten aus der Diachronie gegeben wird. 1. Prämisse vom Strukturwandel: Die historische Entwicklung des Deut­ schen geht vom synthetischen zum analytischen Sprachbau. Diese Prämisse ist trivial. Sie läßt sich aus jeder diachronen Untersuchung des Deutschen empirisch herleiten. Zur historischen Entwicklung der Tempus- und Modusmorphologie zum analytischen Sprachbau hin sei hier nur auf die zusammenfassende Darstellung von Werner verwiesen.24 Veränderungen in der Sprachstruktur führen, unabhängig davon, wodurch sie ausgelöst wurden, zunächst zu bedeutungsäquivalenten Doubletten in der Grammatik (bestehend aus den tradierten archaischen und den neuen Strukturelementen). Bezogen auf das Regelinventar einer Grammatik be­ deutet das, that while linguistic change is in progress, an archaic and an innovating form coexist within the grammar: this grammar differs from an earlier grammar by the addition of a rule, or perhaps by the conversion of an invariant rule to a variable rule.2 ^ Die älteren Doubletten verschwinden im Verlauf der weiteren Sprachent­ wicklung. Indiz für das Verschwinden oder die Etablierung von Elementen kann das Kriterium Gebrauchshäufigkeit sein. Abnehmende Gebrauchs­ häufigkeit, die zum Aufgeben einer Strukturdoublette führt, kann direkt durch soziale Faktoren ausgelöst werden oder indirekt bedingt sein durch strukturelle Veränderungen auf einer anderen linguistischen Ebene. So haben z.B. Veränderungen auf phonologischer Ebene beim Konjunktiv zur Aufgabe von Morphemoppositionen dem Indikativ gegenüber ge­ führt.26 Offensichtlich besteht jedoch ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen hoher Gebrauchshäufigkeit von Sprachelementen und Resistenz gegenüber Sprachwandel. Je frequenter ein Strukturelement ist, desto länger behauptet es sich in der Diachronie, Dies gilt für die Ausdruckssei­ te. Auf der Inhaltsseite können jedoch bei diesen resistenten Elementen Veränderungen eintreten.27 Ist das der Fall, dann handelt es sich um eine der oben erwähnten “conversion of an invariant rule to a variable rule”. Diese Eaten führen zu einer weiteren Prämisse: 2. Prämisse vom Strukturausgleich: Durch eingeleiteten Sprachwandel bedingte ausdrucksseitige Doubletten (Varianten) werden im Verlauf der weiteren Sprachentwicklung in der Weise beseitigt, daß die archai-

125 sehen Varianten verschwinden. Je höher jedoch die Gebrauchshäufig­ keit von Sprachelementen ist, desto länger behaupten sie sich in der Diachronie. Neben diesen unter rein linguistischem Aspekt aus der Diachronie herleit­ baren Faktoren des Sprachwandels gibt es soziale Faktoren, die richtungs­ gebend für Sprachwandel sein können. Zunächst ist festzuhalten, daß eine Sprache, die ein alphabetisches (oder ein ähnliches an der Phonologie oder Morphologie ausgerichtetes) Transliterationssystem besitzt, damit auch eine Norm hat, in der ein bestimmtes Sprachstadium konserviert ist. Das gilt insbesondere dann, wenn dieses Schriftsystem durch autorisierte In­ stitutionen festgeschrieben ist und für verbindlich erklärt wird. Weiter ist festzuhalten, daß das Beschreiben oder Vorschreiben von Sprachgebrauch in Form von wissenschaftlichen oder pädagogischen Grammatiken normie­ rend auf den Sprachgebrauch einwirkt. Mit Einführung einer allgemeinen Unterrichtspflicht wird diese normierende Wirkung der Grammatiken institutionalisiert und gefördert. Auch hier gilt — wie bei der Orthographie daß diese Grammatiken ein bestimmtes Sprachstadium konservieren. In der Regel lehnen sie sich an das durch die Orthographie festgehaltene Sprachstadium an.28 Die Überlegungen führen zur nächsten Prämisse: 3. Prämisse von der institutionalisierten Normierung: Mit der Orthogra­ phie wird ein bestimmtes archaisches Sprachstadium festgehalten. Die Deskriptionen und Präskriptionen der Grammatiken sind an dieses Sprachstadium angelehnt. Normierende Institutionen und Bildungsein­ richtungen propagieren und tradieren dieses Sprachstadium. Veränderungen dieses Sprachstadiums setzen voraus, daß tradierte und institutionalisierte Normierungen ignoriert werden, und daß deren Nicht- Beachtung in der Sprachgemeinschaft akzeptiert wird. Die Frage, ob sol­ che zunächst auf einzelne Individuen eingegrenzte Veränderungen zu einem Sprachwandel geführt haben, kann in der Diachronie anhand beobachteter Veränderungen der Häufigkeitsrelation unter Varianten be­ antwortet werden. Das Kriterium Häufigkeit als Indiz für Sprachwandel ist an die vergleichende Analyse von mindestens zwei zeitlich auseinander­ liegenden Sprachstadien, d.h. an die diachrone Methode gebunden. Es ist deshalb nicht auf die synchrone Methode übertragbar. Diachrone Untersuchungen zeigen immer wieder, daß die Veränderung von Häufigkeitsrelationen in der Regel zugunsten der Varianten verläuft, die ein höheres Sozialprestige in der Sprachgemeinschaft haben.29 Daraus läßt sich die vierte Prämisse formulieren: 4. Prämisse zur Sprachbewertung: Sprachwandel, insbesondere die Ver­ änderungen in der Häufigkeitsrelation unter Varianten, wird ausgelöst

126 oder zumindest verstärkt durch das unterschiedliche Sozialprestige, das den einzelnen Varianten in der Sprachgemeinschaft zugewiesen ist. Das in der Diachronie anwendbare sprachinterne Kriterium Häufigkeit muß demnach in der Synchronie ersetzt werden durch das sprachexterne Kriterium Sozialprestige von Sprachvarianten, das über Sprachbewertungs- tests zu ermitteln wäre. Oben in Abschnitt 3 wurden mit den Prämissen 2, 3 und 5 bereits Erfahrungssätze zur diaphasischen Stratifikation in der Standardsprache und zur Prestigefunktion dieser Straten in der Sprachge­ meinschaft formuliert. Ausgehend von der genannten Prestigefunktion dieser Straten kann nun auch im Rahmen einer synchronen Analyse wie­ derum das interne Kriterium Häufigkeitsrelation — nun aber bezogen auf die Variation in den einzelnen diaphasischen Straten — als Kriterium zur Prognose von Sprachwandel herangezogen werden. Für die Interpre­ tation der Richtung des Sprachwandels ist außerdem mit entscheidend, welche Position Grammatik und Sprachkritik einnehmen. Mit den Kriterien diaphasische Häufigkeitsrelation, Grammatikposition und Sprachbewertung können anhand der Ergebnisse aus Tests, die die oben in Abschnitt 4, Schritt zwei, genannten Bedingungen erfüllen, fol­ gende Prognosen zur vermutlichen Entwicklung von Sprachwandel ge­ macht werden: Ist die Häufigkeitsrelation der Varianten in den einzelnen diaphasischen Straten gleich (oder annähernd gleich), dann ist wahrscheinlich, daß Sprachwandel in Richtung der häufiger vorkommenden Variante ver­ läuft. Wird diese Variante auch in den Grammatiken als Hauptvariante genannt, erhöht sich (nach Prämisse 2) diese Wahrscheinlichkeit. Nennen die Grammatiken dagegen die weniger häufige Variante als Norm, dann dürfte diese Normierung dazu beitragen, daß sich der status quo zumin­ dest im öffentlichen Stratum nur sehr langsam ändert, da über die Gram­ matikpräskription die Gebrauchshäufigkeit manipuliert wird. Die Frage, wie erfolgreich diese Manipulation vermutlich ist, kann über Sprachbe- wertungstests geprüft werden. Hat diese Grammatikpräskription trotz der niedrigen Gebrauchshäufigkeit einen hohen Prestigewert im öffent­ lichen Stratum, dann dürfte die Manipulation auf die Dauer erfolgreich sein. Ist die Häufigkeitsrelation der einzelnen Varianten in den einzelnen Straten unterschiedlich, können je nach Daten z.B. die folgenden Prog­ nosen über die wahrscheinliche Entwicklung des Sprachwandels gemacht werden: In der Regel ist die im öffentlichen Stratum häufigere Variante die Variante, in deren Richtung der Sprachwandel verläuft. Das gilt ins-

127 besondere, wenn diese Variante auch durch die Grammatiken als Norm interpretiert wird. Stützt die Grammatik dagegen die im nicht-öffentli­ chen Stratum häufigere Variante, dann ist wahrscheinlich, daß sie künftig auch im öffentlichen Stratum die Norm sein wird. Auch hier können durch Sprachbewertungstests die Prognosen präzisiert werden. Diese in groben Zügen skizzierten Mechanismen zur Prognose von Sprach­ wandel sind sowohl auf eingeleiteten strukturellen als auch auf stilisti­ schen (diaphasischen) Sprachwandel anwendbar. Eingeleiteter strukturel­ ler Sprachwandel liegt dann vor, wenn mindestens eine der Varianten kein vollständiges Paradigma bildet oder nur unter bestimmten strukturel­ len Bedingungen angewendet werden kann. Das ist z.B. bei der Konjunk­ tivmorphologie gegeben. Während die synthetischen Konjunktive ein ru­ dimentäres Numerusparadigma haben und/oder nur von bestimmten Verbklassen gebildet werden können, hat der analytische Konjunktiv (die sog. würde-Umschreibung) ein vollständiges Paradigma, das auf alle Verbklassen anwendbar ist. Da nach den oben genannten Prämissen eins und zwei Sprachwandel zum Strukturausgleich führt, wird langfristig der Sprachwandel in Richtung der nicht rudimentären Variante gehen. In den Bereichen, in denen noch strukturelle Varianten möglich sind, handelt es sich um stilistischen Sprachwandel. Prognosen zum stilistischen Sprachwandel können dem­ nach gleichzeitig Aussagen über die Intensität sein, in der sich strukturel­ ler Sprachwandel wahrscheinlich vollziehen wird. In den genannten Fällen kann man auch ohne Sprachbewertungstests zu differenzierteren Aussagen über künftigen Sprachwandel kommen, wenn man die Häufigkeitsrelation der Varianten nicht nur in diaphasisch unter­ schiedlichen Bereichen testet, sondern darüber hinaus auch innerhalb der diaphasischen Variation prüft, wie sich die Variantenverteilung in An­ wendungsbereichen verhält, die unterschiedliche absolute Häufigkeit im Sprachgebrauch haben, aber diaphasisch neutral sind. Im Bereich der Modusmorphemklassen ist dies möglich insofern, als man im Sprachge­ brauch unterschiedlich häufig vorkommende Verben wählen kann (z.B.: haben, sein, kommen, geben, nehmen, helfen, sterben). Nach Prämisse zwei müßten die im Sprachgebrauch unterschiedlich häu­ fig vorkommenden Strukturen auch unterschiedliche Häufigkeitsrelatio­ nen aufweisen. Je einheitlicher die Häufigkeitsrelation einer Struktur bestimmter Häufigkeitsklasse über die diaphasische Variation hinweg bleibt, desto stabiler ist die Häufigkeitsverteilung der Varianten in dieser Häufigkeitsklasse gegenüber künftigem Sprachwandel.

128 Konfrontiert man die Häufigkeitsrelation der Varianten der einzelnen Häufigkeitsklassen in den unterschiedlichen diaphasischen Straten darüber hinaus mit den Grammatiknormen, dann kann daraus die Wirkung dieser Normen im Sprachgebrauch abgeleitet werden. Geringe Verschiebung der Häufigkeitsrelation in unterschiedlichen diaphasischen Straten deutet auf starken Einfluß der Grammatiknormen hin.

6. Demonstration der Strategie am Modusgebrauch

Als Demonstrationsbeispiel möchte ich nun die vorgeschlagene empiri­ sche Strategie auf den Objektbereich ‘Modusgebrauch in der indirekten Rede der gesprochenen deutschen Standardsprache’ anwenden. Unab­ hängige Variable sind die diaphasische Situationsstratifikation und die Vorkommenshäufigkeit der Verben, abhängige Variable sind die Modus­ morphemklassen Indikativ, Konjunktiv I und Konjunktiv II. Bei der In­ terpretation der Forschungssituation und der Testergebnisse werde ich den Schwerpunkt auf den Konjunktivgebrauch legen. Schritt eins ist die kritische Überprüfung der Beschreibungstradi­ tion. Zunächst die strukturelle Bewertung der Varianten: Die Grammati­ ken und Monographien zum Konjunktiv gehen ohne Ausnahme vom synthetisch gebildeten Konjunktiv aus. Die analytisch gebildete Form, die sogenannte tui/nte-Umschreibung, wird als eine Subvariante behan­ delt.30 Da jedoch die synthetisch gebildete Form des Konjunktiv I nur für einen Teil des Paradigmas, die des synthetischen Konjunktiv II nur von einer bestimmten Verbklasse, den unregelmäßigen Verben, gebildet wer­ den kann, heißt das, daß die Beschreibungstradition Subvarianten als strukturelle Hauptvarianten ausgibt. Diese Entscheidung kann nicht als strukturangemessen bewertet werden, sondern beruht offensichtlich auf sprachästhetisch stilistischen Kriterien. Sie ist präskriptiv. Nun zur Kritik der Interpretationsmodelle in der Beschreibungstradition: Die Literatur zum Modusbereich geht fast ausnahmslos von einer 1 ^-R e­ lation zwischen Inhalts- und Ausdrucksseite auf morphologischer Ebene aus.31 Dieses Modell wird in der Beschreibungspraxis jedoch stellenwei­ se aufgegeben, entweder weil das Modell der Empirie nicht gerecht wird und/oder weil im Modell widersprechende Normierungen eingeführt w e rd e n .32 Bei der Erklärung der kommunikativen Funktion der Modusmorphem­ klassen in der indirekten Rede sind drei Positionen zu unterscheiden: 1. eine strikt Modell-konforme Position, nach der die Modusmorphem­ klassen Indikativ, Konjunktiv I und Konjunktiv II eine bestimmte

129 grammatische Grundfunktion haben, nämlich Stellungnahme des Sprechers zum berichteten Sachverhalt: Indikativ: Für-wahr-Halten des Berichteten, Konjunktiv I: neutrales Berichten ohne Stellungnahme, Konjunktiv II: Bezweifeln des Berichteten; 2. eine gemäßigte Position, nach der zwar die in Position eins gegebene semantische Interpretation der Modusmorphemklassen gelten soll, in der aber gleichzeitig auf einen abweichenden Sprachgebrauch hinge­ wiesen wird; 3. eine dem Modell widersprechende Position, nach der die Modusmor­ phemklassen Indikativ, Konjunktiv I und Konjunktiv II bedeutungs­ äquivalent sind.33 Die erste Position kann man eine modelladäquate, die zweite Position eine normierende und die dritte eine informelle Beschreibung nennen. Unabhängig von der jeweils vertretenen Position bringen die Grammati­ ken außerdem häufig die Empfehlung, in der indirekten Rede sollte der Konjunktiv gebraucht werden. 34 Welche der drei Beschreibungen deskriptiv angemessen ist bezüglich des konventionalisierten Sprachgebrauchs, ist keine Frage, die von der Theo­ rie her entschieden werden kann, sondern eine Frage der Empirie, die mit angemessenen empirischen Methoden gelöst werden muß. Sie ist auch nicht aus der Introspektion des Linguisten ad hoc für die Sprachge­ meinschaft zu entscheiden. Gerade die idiolektale Kompetenz des Lin­ guisten ist vorgeprägt durch eine überdurchschnittliche Kenntnis der Grammatiknormen. Hinzu kommt, daß Grammatiknormen und Sprach­ pflegekonzepte zum Konjunktiv verwandt sind. Die Sprachpflege stützt sich im wesentlichen auf das oben beschriebene tradierte Grammatikmo­ dell, das die semantischen Moduskategorien an den Modusmorphemklas­ sen festmacht. Ausgehend von einer Art Sapir-Whorf-Hypothese kommen­ tiert sie das historisch und strukturell bedingte Schwinden des syntheti­ schen Konjunktivs als einen kognitiven Verlust für die deutsche Sprach­ gemeinschaft. Am prägnantesten formuliert Reiners diese Haltung:

Noch haben wir in Deutschland diese Möglichkeitsform, den Konjunktiv, und können auf diese Weise unterscheiden zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was geschehen könnte. Aber in hundert Jahren werden wir diesen Unterschied nicht mehr machen können, denn der Konjunktiv, die Möglich­ keitsform, stirbt langsam aus, namentlich in der Umgangssprache Nord- und Mitteldeutschlands. Jedoch solche Unterschiede verwischen heißt, das Den­ ken zugrunde zu richten. Wer Möglichkeit und Wirklichkeit nicht unter­ scheidet, ist ein Sprachstümper. s

130 N un zu Schritt zwei, zur Entwicklung eines angemessenen Test­ verfahrens, mit dem die Cbrstellung in der Beschreibungstradition auf ihre deskriptive Angemtssenheit bezüglich des konventionalisierten Sprachge­ brauchs überprüft werden kann. Oder anders gefragt: wie kann der kon- ventionalisierte Sprachgebrauch ermittelt, die Sprecherkompetenz empi­ risch objektiviert werden? Direkte Befragung von Informanten über den Modusmorphemgebrauch scheidet aus. Mit diesem Verfahren ist der oben genannte Rückkopplungs­ prozeß kaum auszuschalten; denn es ist zu erwarten, daß als Antworten die Vorschriften der Grammatiken und nicht der Sprachgebrauch wieder­ gegeben werden. Eine Korpusanalyse ist nicht möglich, da die Modusmorphemklassen nach der ersten der drei vertretenen Modushypothesen der Grammatiken die kontextunabhängige Funktion ‘Einstellung des Sprechers zum be­ richteten Sachverhalt’ haben. Dieses physische intrapersonale Konzept ist aus dem Kontext nicht deduzierbar, aber stets durch den extrakom­ munikativ Analysierenden hineininterpretierbar. Möglich wäre eine Art Interviewtechnik mit teilnehmendem Beobachter in natürlichen Dialogsituationen. Durch Rückfragen müßte der Informant aufgefordert werden, seine Stellungnahme zum berichteten Sachverhalt auf einer metakommunikativen Ebene zu explizieren. Wenn der Infor­ mant z.B. sagt: er sagte mir, er käme gleich, müßte der Interviewer gemäß den Grammatikpräskriptionen rückfragen: Sind Sie nicht davon überzeugt, daß er kommt? und die Reaktion des Sprechers auf die Frage als Urteil über die Modus­ morphemfunktion werten. Das Verfahren wäre jedoch sehr zeitaufwen­ dig, da solche Dialogsituationen schwerlich manipulierbar und kontrollier­ bar sind. Die Informantenauswahl würde zufällig bleiben. Außerdem las­ sen sich aus diesem Test nur Aussagen über die semantische Interpretation der Modusmorphemklassen, aber keine repräsentativen Aussagen über die diaphasisch bedingte Modusvariation in indirekter Rede machen. Eine andere Möglichkeit zur Ermittlung des konventionalisierten Sprach­ gebrauchs besteht darin, daß man einen oder mehrere auf die Hypothese der Beschreibungstradition zugeschnittene Testsätze konstruiert und einer homogenen Gruppe von geübten Sprechern vorgelegt, d.h. man er­ stellt zur Überprüfung der Hypothese ein manipuliertes Korpus über kon­ trollierte Testverfahren. Dieses Verfahren hat Ähnlichkeiten mit Tests, die der Fehleranalyse im Unterricht dienen. Nur wird hier das Testergebnis

131 nicht aufgrund der Grammatikpräskriptionen nach ‘richtig’ und ‘falsch’ bewertet, sondern die Grammatikbeschreibungen werden aufgrund des Testergebnisses kritisiert. Zur Korpusmanipulation wurde der folgende Lückentest konstruiert:

Testsatz 1: Sie sind mit Bekannten zusammengekommen, sitzen gemütlich zusammen. Die Runde spricht über Klaus, der nicht anwesend ist. Sie sprechen von einer Unterhaltung mit Klaus: Ja, und da hat der Klaus gesagt, er (haben) im Moment sowieso nicht viel zu tun, und um sich nicht irgendwie überflüssig zu fühlen oder so, da (übernehmen)...... er doch lieber die Aufgabe. Sie (ko m m en )...... ihm gerade recht.

Testsatz 2: Sie sind Kommentator und geben im Rundfunk einen Bericht über eine Ta­ gung. Dabei sagen Sie: Der Präsident erklärte, er (haben)...... zur Zeit keine weiteren Ver­ pflichtungen zu erfüllen, und um sich nicht unnütz zu fühlen, (übernehmen) ...... er gerne die an ihn herangetragene Aufgabe. Sie (kommen) ...... ihm wie gerufen.

Die beiden Testsätze stehen in Paraphrasenrelation zueinander. Sie vari­ ieren lediglich auf diaphasischer Ebene. Die Situationsanweisung zu den beiden Sätzen lassen sich einer nach Öffentlichkeitsgrad der Kommuni­ kationssituation definierten Skalierung zuordnen. Die Situationsanwei­ sung von Testsatz eins ist dem unteren Teil der Skala, dem Bereich ‘nicht-öffentlich’, die von Testsatz zwei dem oberen Teil der Skala, dem Bereich ‘öffentlich’ zuzuordnen. Mit den Situationsanweisungen und der diaphasischen Variation der indirekten Rede ist den Informanten die Möglichkeit gegeben, sich intuitiv in die unterschiedlichen Kommunika­ tionssituationen zu versetzen. Als eine unabhängige Variable gilt dem­ nach der Öffentlichkeitsgrad der Kommunikationssituation. Der Lückentest wurde von 20 Studenten im Alter von 20 bis 29 Jahren schriftlich beantwortet. Sie sind alle im Raum Mannheim aufgewachsen und waren somit während des Spracherwerbs ähnlichen regionalsprach­ lichen Bedingungen ausgesetzt. Für die Auswahl der Verben haben, kommen und (über)nehmen w ar das Kriterium Häufigkeit im Sprachgebrauch maßgebend. Haben, kommen und (iiber)nehmen stehen in der genannten Reihenfolge in Frequenzlisten in absteigender Häufigkeit. Zweite unabhängige Variable ist somit das Kriterium Gebrauchshäufigkeit.

132 Bei der Testauswertung möchte ich mich auf die Erläuterung der für Sprachvariation und Sprachwandel relevanten Teile des Tests beschrän­ ken. Die Testergebnisse zu den drei Verben sind in Fig. 1 als Varianten­ profile graphisch dargestellt. Die durchgehende Linie gibt die Ergebnisse des Testsatzes eins, der ‘nicht-öffentlichen’ Kommunikationssituation wieder, die durchbrochene Linie die von Testsatz zwei, der ‘öffentlichen’ Kommunikationssituation. Der synthetische Konjunktiv 1 wird mit K j, der synthetische Konjunktiv II wird mit K 2 bezeichnet. I bezeichnet den Indikativ Präsens und U analytisch gebildete Konjunktiv-II-Formen.

% 100 100 100, öffentlich .... 90 90 90 (Testsatz 2) 80 80 8Q nicht-öffent­ 70 70 70 lich (Testsatz 1)

60 60 — i 6C 50 50 ' 5C

40 40 ____ L 4C 30 30 ! 3C 20 20 ; 2C

1 10 10 1 IC k 0 .... 0 C

K , I U K K , I U K 1 I U

Fig. la Fig. lb Fig. lc V arian tenp rofile Variantenprofile Variantenprofile von haben von übernehmen von kom m en

Fig. 1: Variantenprofile der Verben in den Testsätzen 1 und 2

N un zu Schritt drei, zur Überprüfung der Modushypothese: Schon das unterschiedliche Variantenprofil der drei Verben in der ‘öffent­ lichen’ Kommunikationssituation in den Figuren la bis lc (durchbrochene Linie) zeigt, daß sich die von einigen Grammatiken angenommene 1:1-Re- lation von Inhalts- und Ausdrucksseite im Bereich der Modusmorphem­ klassen im Sprachgebrauch nicht bewährt; denn die Verteilung der Mo­ dusmorpheme ist bei den einzelnen Verben unterschiedlich und offen­ sichtlich abhängig vom Kriterium Häufigkeit im Sprachgebrauch. Das häufig vorkommende Verb haben wird fast ausschließlich in den Kon-

133 junktiv I gesetzt, die weniger häufigen Verben k o m m en und (ü b e r n e h ­ m en dagegen werden bereits von über einem Drittel der Informanten im Konjunktiv II verwendet. Widerlegt wird die Modushypothese auch, wenn man das in Fig. 2 wieder­ gegebene Sprecherprofil der Testsätze heranzieht. In Fig. 2a ist das Spre­ cherprofil von Testsatz 1, der ‘nicht-öffentlichen’ Kommunikationssitua­ tion wiedergegeben, in Fig. 2b das von Testsatz 2, der ‘öffentlichen’ Kommunikationssituation.

Fig. 2a nicht-öffentliche Fig. 2b öffentliche Kommuni- Kommunikationssituation kationssituation

Fig. 2: Sprecherprofile der Testsätze 1 und 2

134 Bereits in der näher an der Schriftsprache ausgerichteten ‘öffentlichen’ Kommunikationssituation (Fig. 2b) verhalten sich nur 9 der 20 Informan­ ten konform mit der Modushypothese. 8 Informanten verwenden durch­ gehend den synthetischen Konjunktiv I, ein Informant verwendet durch­ gehend den Konjunktiv II. 10 Informanten schwanken dagegen zwischen Konjunktiv I und Konjunktiv II, und ein Informant zwischen Indikativ und K onjunktiv I. Die Modushypothese, nach der eine l:l-Relation zwischen Inhalts- und Ausdrucksseite besteht, muß verworfen werden, weil sie, falls sie vom Hörer angewendet wird, bei über 50% der Informanten einen Kommuni­ kationskonflikt auslösen würde. Sie besitzt demnach keine kommunika­ tive Relevanz. N un zum vierten Schritt, der Interpretation der Sprach Varia­ tion: Konfrontiert man die Variantenprofile der beiden diaphasisch un­ terschiedlichen Kommunikationssituationen ‘öffentlich’ und ‘nicht-öf­ fentlich’ in den Fig. la bis lc, ist zu beobachten, daß nicht nur die Variable Gebrauchshäufigkeit eines Verbs sondern auch die Variable Öffentlichkeitsgrad von Einfluß auf die Art des Modusmorphemge­ brauchs in der indirekten Rede ist. Bei dem im oberen Rang von Fre­ quenzlisten stehenden Verb haben nimmt die Häufigkeit des Konjunk- tiv-I-Gebrauchs zur ‘nicht-öffentlichen’ Kommunikationssituation hin ab zugunsten der Konjunktiv-II- und Indikativvariante. Bei dem weniger frequenten Verb k o m m e n nimmt die Gebrauchshäufigkeit sowohl der Konjunktiv-I-Variante als auch der Konjunktiv-II-Variante ab zugunsten der Indikativvariante. Bei dem niederfrequenten Verb (iiber)nebmen ist eine stärkere Abnahme des Konjunktiv II als bei k o m m e n zu beobachten, in diesem Falle nicht ausschließlich zugunsten der Indikativvariante, son­ dern in stärkerem Maße zugunsten des analytischen Konjunktiv II mit werden. Ein Vergleich des Variantenprofils von haben in der ‘nicht-öffentlichen’ Kommunikationssituation mit dem von ko m m e n und von (über)nehmen in der ‘öffentlichen’ Kommunikationssituation zeigt außerdem, daß die Konjunktiv-I/Konjunktiv-II Verteilung der weniger frequenten Verben in der ‘öffentlichen’ Kommunikationssituation vom frequenteren Verb haben erst in der ‘nicht-öffentlichen’ Kommunikationssituation erreicht w ird. Die Modusmorphemwahl in der indirekten Rede ist demnach nicht nur abhängig von der Variable Gebrauchshäufigkeit eines Verbs, sondern auch von der pragmatischen Variable Öffentlichkeitsgrad der Kommuni­ kationssituation. Die Modusmorphemklassen dürfen folglich für die in-

135 direkte Rede nicht als grammatische Kategorien interpretiert werden, sondern sie sind Äquivalente, genauer: diaphasisch motivierte Varianten. Deskriptiv angemessen ist demnach die oben in diesem Abschnitt erwähn­ te von einigen Grammatiken vertretene dritte Position, die lediglich eine informelle Beschreibung des Modusmorphemgebrauchs in der indirekten Rede gibt. Es stellt sich nun die Frage, wie die eben festgestellte Varianten­ distribution in eine Strukturbeschreibung der deutschen Standardsprache integriert werden kann. Es dürfte außer Frage stehen, daß dies nicht mög­ lich ist, wenn man von der Prämisse ausgeht, die deutsche Standardspra­ che ließe sich auf ein homogenes System reduzieren. Bevor dieses Problem angegangen wird, muß jedoch noch die Versuchsanordnung einer kriti­ schen Prüfung unterzogen werden. Fünfter Schritt, Kritik der Testanordnung und der Testergeb­ nisse: Da der Test in Schriftsprache vorgelegt und beantwortet wurde, ist zu erwarten, daß die Testergebnisse nicht dem tatsächlichen gespro­ chenen Sprachgebrauch der Informanten entsprechen, sondern in Rich­ tung des schriftsprachlichen Normverständnisses verschoben sind. Da in den Grammatiken außerdem die Anweisung propagiert wird, in der indi­ rekten Rede sollte der Konjunktiv gebraucht werden, ist zu vermuten, daß die Häufigkeitsrelation Indikativ/Konjunktiv stark zugunsten des Konjunktivs verschoben ist. Deshalb können aus dem Test nur bedingt Aussagen über den Indikativgebrauch in indirekter Rede abgeleitet w erden. Das Testergebnis zum analytischen Konjunktiv II, d.h. zur w ürde-U m ­ schreibung dürfte — wie das zur Variante Indikativ — ebenfalls unter dem tatsächlichen Wert liegen, der für den konventionalisierten Sprach­ gebrauch in ‘nicht-öffentlichen’ Kommunikationssituationen anzusetzen ist; denn die Informanten mußten, um die wi/rie-Umschreibung im Test realisieren zu können, von der vorgegebenen Testmatrix abweichen. Sie mußten zusätzlich die Wortstellung in den vorgegebenen Testsätzen ver­ ändern. Hinzu kommt außerdem die Tatsache, daß ein Großteil der Gram­ matiken die wttttte-Umschreibung in indirekter Rede nicht empfiehlt. Sechster Schritt, Prognosen zum Sprachwandel, die aus der Sprach variation abgeleitet werden können: In der Analyse der Sprachvariation unter Schritt vier konnten die folgen­ den drei Regularitäten zur Verteilung der Modusmorphemklassen in der indirekten Rede festgehalten werden: 1. Im Sprachgebrauch sehr häufige Verben (haben, sein, Modalverben36) werden in ‘öffentlichen’ Kommunikationssituationen fast ausschließ­ lich im Konjunktiv I verwendet. 136 2. Bei weniger und nicht häufigen Verben wird in ‘öffentlichen’ Kom­ munikationssituationen sowohl der Konjunktiv 1 als auch der synthe­ tische Konjunktiv II verwendet. 3. In ‘nicht-öffentlichen’ Kommunikationssituationen nimmt bei Verben aller Häufigkeitsklassen der Gebrauch des Konjunktiv I ab zugunsten des synthetischen Konjunktiv II, des Indikativ. Präs. und des analyti­ schen Konjunktivs mit würde. Nach der in Abschnitt 5 genannten ersten Prämisse geht Sprachwandel im Deutschen in Richtung analytischer Sprachbau. Demnach müßte — falls die Variante Konjunktiv in der indirekten Rede verwendet wird — der analytisch gebildete Konjunktiv mit würde zumindest bei weniger häufig vorkommenden Verben sowohl in den unterschiedlichen diapha- sischen Strafen in etwa gleicher Häufigkeit Vorkommen. Daß er nur in ‘nicht-öffentlichen’ Kommunikationssituationen vorkommt, weist da­ rauf hin, daß die Grammatikpräskription, die w ürde-Form sollte in der indirekten Rede nicht verwendet werden, hier offensichtlich das Sprach- verhalten beeinflußt. Die synthetischen Konjunktive, insbesondere der Konjunktiv I, haben in öffentlichen Kommunikationssituationen offensichtlich eine Prestige­ funktion. 37 Die zweite beobachtete Regularität zeigt jedoch, daß die Grammatikpräskription, den Konjunktiv I zu verwenden, bei weniger häufig gebrauchten Verben selbst in ‘öffentlichen’ Kommunikationssitua­ tionen nicht dieselbe Prestigefunktion zu haben scheint. Bei geringer Ge­ brauchshäufigkeit scheint sich die Grammatikpräskription noch nicht durchzusetzen. Die beobachtete Häufigkeitsverteilung in ‘nicht-öffentlichen’ Kommuni­ kationssituationen ist noch weniger von dieser Normierung beeinflußt. Hier kommen bei allen Häufigkeitsklassen sowohl Konjunktivvarianten als auch die Variante Indikativ vor. Diese Verteilung dürfte das gegen­ wärtige Sprachstadium im Bereich des nicht Grammatik-normierten Sprachgebrauchs annähernd wiedergeben. Die in Abschnitt 5 unter der dritten Prämisse genannte institutionalisierte Normierung wirkt demnach entscheidend nur auf das Sprachverhalten in ‘öffentlichen’ Kommunika­ tionssituationen ein. Folgende Schlüsse können aus der diaphasischen Modusvariation in der indirekten Rede auf gegenwärtigen Sprachwandel gezogen und als Prog­ nose für die künftige Sprachentwicklung gegeben werden: Die Wahl zwi­ schen den Modusmorphemklassen synthetischer, analytischer Konjunk­ tiv und Indikativ ist im gegenwärtigen natürlichen Sprachverhalten frei.

137 Das geht aus der Verteilung der Varianten in ‘nicht-öffentlichen’ Kom­ munikationssituationen hervor. Die Präskriptionen der Grammatiken korrigieren jedoch dieses Sprachsta- dium zugunsten eines archaischen und idealisierten Sprachstadiums, das an der Schriftsprache orientiert ist38, indem sie durch ihre Normierung die natürliche Gebrauchshäufigkeit der Varianten manipulieren. Diese Präskriptionen werden in ‘öffentlichen’ Kommunikationssituationen der gesprochenen Standardsprache als Prestigeformen angenommen. Durch die soziale Funktion dieser Interferenz wird auch hier das archaische Sprachstadium tendenziell hergestellt. Die Beschreibungstradition zu den Modi und die mit ihr weitgehend konforme Sprachpflege sind für diesen eingeleiteten Sprachwandel verantwortlich. Wir beobachten hier einen ge­ lenkten Sprachwandel, der gegen das Sprachwandelprinzip verläuft, das besagt, Sprachwandel führt zum Strukturausgleich. Durch diesen gelenk­ ten Sprachwandel wird der Strukturausgleich zumindest verzögert.

7. Einige Folgerungen für die synchrone Linguistik

Wenn ich hier — ausgehend von der Tatsache, daß Sprachgebrauch hete­ ist — versucht habe, eine empirische Strategie zu skizzieren, mit der eine angemessenere Datenbasis für einzelsprachliche Strukturbeschrei­ bungen in der Synchronie erreicht werden könnte, so will dieser Vor­ schlag nur ein Hinweis darauf sein, in welcher Richtung Methoden zu ei­ ner empirischen Fundierung der Datenbasis in der Linguistik zu entwickeln wären. Die wichtigsten Forderungen an ein entsprechendes Konzept las­ sen sich etwa folgendermaßen auflisten: 1. Nicht die Introspektion des Linguisten, sondern die Intuition von ge­ übten Sprechern muß Ausgangspunkt für die Datenerhebung sein. Damit ist die Forderung nach Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Kategorien auch in die sogenannte Systemlinguistik verbunden. 2. Die Datenerhebung hat — wie in den Sozialwissenschaften — über kontrollierte Tests zu erfolgen. 3. Man kann davon ausgehen, daß Sprecher ein durch gesellschaftliche Erfahrung gewonnenes relatives Bewußtsein auch von Sprachverhal- tensnormen haben, und daß sie in der Lage sind, diese Normen einem vorgegebenen Situationskontext intuitiv zuzuordnen. Sprachtests dür­ fen deshalb nicht auf das direkte Befragen von Sprachdaten reduziert sein, sondern sie müssen Sprachdaten im Rahmen festzulegender so­ zialer Situationen ermitteln. Erhebung von Sprachdaten hat von so­ zialen Interaktionsmustern auszugehen.

138 4. Für die Interpretation der erhobenen Sprachdaten ist entscheidend, daß Daten über den gleichen Sachverhalt in unterschiedlichen Interak­ tionssituationen erhoben und kontrastiert werden. Dadurch sind die vorgenommenen Idealisierungen in der Strukturbeschreibung zumin­ dest teilweise transparent zu machen. 5. Die in Strukturbeschreibungen vorgenommenen Idealisierungen sind als Normierungen zu interpretieren und müssen mit einem Sprachwan­ del- und/oder einem Sprachplanungskonzept begründet werden. Der Status linguistischer Regeln als soziale Normen muß in der Beschrei­ bungspraxis reflektiert werden. Das Bemühen um eine die Heterogenitätsannahme berücksichtigende Da­ tenbasis führt zu Fragen, die im Rahmen der eingangs erwähnten drei Wissenschaftskonventionen nicht gelöst werden können. Die strikte ana­ lytische Trennung von Synchronie und Diachronie ist in der tradierten Form nicht zu halten. Man muß vielmehr davon ausgehen, daß Sprach- variation in der Synchronie auch unterschiedliche diachrone Sprachsta- dien repräsentieren kann. Auch die seit Saussure und insbesondere Chomsky akzeptierte Teilung in eine Linguistik der Kompetenz und eine Linguistik der Performanz ist für die Konstituierung einer angemessenen Datenbasis zur Strukturbeschreibung eines Sprachstadiums nicht ange­ messen. Kompetenzbeschreibungen sind Idealisierungen. Einzelsprachli­ che Kompetenzen (Sprachverhaltensnormen) sind vom Linguisten aus systematisch und kontrolliert erhobenen idiolektalen Kompetenzurteilen (Normverständnissen) zu rekonstruieren. Unter diesem Aspekt kann auch die dritte Konvention, nämlich die Behauptung, die Linguistik sei eine deskribierende Wissenschaft, nur als eine mögliche Forderung interpretiert werden, deren Realisierung höchst unwahrscheinlich ist. Die Frage der deskriptiven Angemessenheit von Strukturbeschreibungen stellt sich viel­ mehr als Frage nach einer angemessenen Normierung. Eine angemessene Normierung hat von der systematisch beobachteten Sprach Variation auszugehen und diese Variation daraufhin zu interpretie­ ren, welche Tendenzen des Sprachwandels möglicherweise zu erwarten sind. Für diese Prognose sollte das sprachinterne Kriterium Strukturaus­ gleich und das sprachexterne Kriterium Sozialprestige von Sprachvarian- ten herangezogen werden. Im Bereich der Schriftsprache und gesproche­ nen Standardsprache muß zusätzlich die Funktion der Beschreibungs­ tradition in Grammatik und Sprachpflege einbezogen werden, weil diesen über die Bildungsagenturen und Massenmedien vermittelt eine Steuerung der Prestigefunktion zukommen kann. Die Entscheidung des Linguisten bei der Normierung (Idealisierung), sei es in Richtung des Strukturaus­

139 gleichs, in Richtung der Variante mit dem höheren Sozialprestige oder in Richtung der Grammatiktradition kann nur der Versuch einer Prognose sein, die aufgrund vorliegender empirischer Daten und empirisch mehr oder weniger fundierter Hypothesen plausibel gemacht werden kann. Das Ergebnis der Entscheidung selbst kann wiederum die Richtung des Sprach­ wandels beeinflussen; denn:

“It is likely that all explanations to be advanced in the near future will be after the fact. If we seriously consider the proposition that linguistic change is change in social behavior, then we should not be surprised that predictive hypotheses are not readily available, for this is a problem common to all studies of social behavior.”3^ Ich hoffe, daß trotz dieses Dilemmas die hier vorgetragene Skizze zu ei­ ner empirischen Strategie der Datenerhebung und Dateninterpretation in der Linguistik zu einer möglichen empirischen Fundierung der Wissen­ schaft beitragen kann. Ihre Anwendung auf das zugegebenermaßen wenig komplexe Problem Modusfunktion in der indirekten Rede dürfte zumin­ dest gezeigt haben, daß sie zu einer angemesseneren Beschreibung eines Sprachstadiums beitragen kann, sowohl als Instrumentarium zur Über­ prüfung linguistischer Hypothesen, als auch zur Kontrolle des Idealisie­ rungsfaktors in einzelsprachlichen Systembeschreibungen.

Anmerkungen

1 Dieser Beitrag ist eine erweiterte Fassung des am 11.3.1976 auf der Jahres­ tagung 1976 des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim gehaltenen Vortrags. Abschnitt 5 ‘Richtungsgebende Faktoren des Sprachwandels’ wur­ de für die Veröffentlichung neu eingefügt. 2 Diese Fragestellung greift den Ansatz von Weinreich u.a. (1968) auf, die die Synchronie-Diachronie-Antinomie in der Linguistik mit einer empirisch fun­ dierten Theorie des Sprachwandels überwinden möchten. Sie gehen von der These aus: “that a model of language which accomodates the facts of variable usage and its social and stylistic determinants not only leads to more adequate descriptions of linguistic competence, but also naturally yields a theory of language change that bypasses the fruitless paradoxes with which histo­ rical linguistics has been struggling for over half a century” (S. 99). Vgl. auch den Ansatz von Kanngießer (1972). 3 Habermas (1971) S. 108. Ihre Aufgabe ist die Beschreibung eines Sprach­ stadiums mit seinen sozialen und stilistischen Dimensionen. Vgl. auch Brekles “Performanzkompetenz” (1972) S. 134, Liebs (1970) “Sprachstadium” oder Hegers (1971) “Z -parole”. 4 Eine Theorie zur Prognose von Sprachwandel müßte konzipiert sein als em­ pirisch fundierte integrative Theorie des sozialen Wandels und Sprachwandels.

140 5 Die Linguistik verfährt in der Kegel nach dem qualitativen Prinzip: Norm versus Abweichung von dieser (angenommenen oder gesetzten) Norm. 6 Ansätze in der Dialektologie sind in den Stadt-Land-Studien zu finden, z.B. bei Debus (1962). Thematisiert wurde das Problem von Labov (1966b). 7 Chomsky (1967) S. 401 weist ausdrücklich darauf hin, daß es ihm um ein Beschreibungsverfahren für vorgegebene Normen, nicht um die Innovations­ problematik im Sinne von Sprachveränderung geht: “Repetition of sentences is a rarity; innovation, in accordance with the grammar of the language, is the rule in ordinary -by-day performance”. 8 Damit werden Normproblematik, Sprachplanungskonzepte und auch Sprach­ pflegeprinzipien, die hinter einzelsprachlichen Systembeschreibungen stehen, bereits v o r einer Strukturbeschreibung thematisiert. 9 Bierwisch (1963) S. 10 betont noch diese Notwendigkeit. Kritik an der mangelnden Empirie in der neueren Linguistik übt Juhasz (1975). Siehe auch die Kritik von Andresen (1974) am Selbstverständnis der theoretischen Linguistik als einer deduktiven Theorie, insbesondere S. 148 ff. 10 Chomsky (1969) S. 13. 11 Dabei wurde übersehen, daß Chomskys Entscheidung für diese Prämisse of­ fensichtlich primär forschungsstrategisch motiviert war. Siehe dazu Bausch (1975). 12 Zu den Autoren, die dieses Selbstverständnis der Linguistik kritisieren, ge­ hören Lyons (1971) und Bünting (1971). 13 Ich verwende bewußt nicht den Begriff “adäquat”, sondern ziehe mich zu­ rück auf das schwächere “angemessen” bezüglich des konventionalisierten Sprachgebrauchs. 14 Paul (1968) S. 37 f., Saussure (1969) S. 143, Bloomfield (1969) S. 45. 15 Bloomfield (1969) S. 24. 16 Zur empirischen Fundierung intuitiver Urteile siehe Bausch (1975) S. 129- 133. 17 Bühler (1965) S. 67 f. 18 Oder die Funktion von empirisch fundierten Hypothesen. Es kann hier nicht diskutiert werden, ob sie den Status von Basissätzen im Sinne Poppers (1969) S. 68-70 haben. 19 So z.B. Dane? (1966). 20 Chomsky (1969) S. 15. 21 Über die Kontrastierung kann man Hypothesen zur Richtung künftigen Sprachwandels formulieren. Über kontrollierte Tests erhält man selbstver­ ständlich keine ‘natürlichen’ Sprachdaten. Deshalb wird in Schritt fünf eine Kritik der Daten-Validität eingeschaltet. 22 Das Sprachverhalten dieser Altersgruppe ist relativ stabil. Es repräsentiert den gegenwärtig angemessenen Sprachgebrauch und wirkt, da diese Alters­ gruppe auch Erzieher der nächsten Generation ist, auch auf das Sprachver­ halten der nächsten Generation. Siehe dazu Labov (1966a) und (1966b).

141 23 In dieser Phase wird die Objektivierbarkeitsproblematik thematisiert. Zu diskutieren ist dabei insbesondere, inwieweit die Daten durch die notwendi­ gerweise paradoxe Beobachtersituation (Labov (1970)) beeinflußt sein könn­ ten. 24 Werner (1970). 25 Weinreich u.a. (1968) S. 149. 26 Zum graphematischen und phonologischen Konjunktiv-Morpheminventar siehe Bausch (im Druck) Kap. 5. 27 Auf die Zusammenhänge von Vorkommenshäufigkeit und Sprachwandel hat Winter (1969) hingewiesen. 28 Als ein Beispiel sei hier nur das Französische erwähnt. 29 Siehe z.B. Untersuchungen zur Entwicklung von Nationalsprachen oder dialektologische Studien zur regionalen Veränderung von Sprachgrenzen. 30 Siehe Bausch (im Ehick) Kap. 2.2.2. 31 Siehe ebd. Kap. 2.2.1. 32 Siehe ebd. Kap. 2.2.5. und 2.2.6. 33 Siehe ebd. Kap. 2.2.5. 34 Siehe ebd. Kap. 2.2.5. 35 R einers(1943) S. 185 f. 36 Das Verb sein und Modalverben kommen zwar nicht im Test vor. Aufgrund der Testergebnisse kann diese Erweiterung aber als zulässig vermutet werden. 37 Inwieweit diese Prestigefunktion generell vorhanden ist, wäre mit Sprachbe- wertungstests zu prüfen. 38 Der Einfachheit wegen wird hier angenommen, daß die Grammatiken ein vergangenes schriftsprachliches Sprachstadium beschreiben. An dieser Stelle kann nicht diskutiert werden, inwieweit diese ‘Beschreibungen’ auch in der Vergangenheit den Status von Präskriptionen hatten. 39 Weinreich u.a. (1968) S. 186.

Literatu r

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144 UWE PÖRKSEN

Einige Aspekte einer Geschichte der Naturwissenschaftssprache und ihrer Einflüsse auf die Gemeinsprache

1. Problem der Quellen Unüberschaubarkeit des Materials Mögliche Quellen: Schriften wirksamer Naturwissenschaftler, Äußerungen metasprachlichen Inhalts von Naturwissenschaftlern, Geschichten der Naturwissenschaft 2. Besondere Bedingungen der Entwicklung der Naturwissenschaftssprache Ständige Erkenntniserweiterung Internationale (und schriftliche) Verständigung Vereinbarungscharakter der Sprache 3. Inauguratoren neuer Fachsprachen und ihre Wirkung Linné (Botanik und Zoologie) — Logische Klassifikation, präzise Beschreibungssprache, binäre lateinische Nomenklatur (Form der Definition) Lavoisier/Berzelius (Chemie) — durchsichtige lateinische Nomenklatur (Kopulativkomposita) und Zeichensprache Freud (Psychoanalyse) — terminologisierte Umgangssprache 4. Übersetzungen aus dem Gelehrtenlatein (1. Obersetzungsvorgang) und Über gang wissenschaftlicher Termini in die Gemeinsprache Linnés Botanik Bergmans ‘attractio electiva’ Freuds Terminologie 5. Metaphorik Darwins und Überlegungen zu ihrer möglichen Wirkung ‘Anthropomorphe’ Zoologie und ihr Umschlag in eine ‘zoomorphe’ Anthropo­ logie (Übertragung und Rückübertragung von Begriffen) 6. Entfernung der Fachsprachen von der Gemeinsprache und ihre Übersetzung durch populärwissenschaftliche Literatur (2. Übersetzungsvorgang) Wortschatzerweiterung und terminologisierte Gemeinsprache in den Fach­ sprachen ‘Genetische’ oder ‘dogmatische’ wissenschaftliche Darstellung Übersetzung der Fachsprachen in populärwissenschaftliche Literatur 7. Schlußbemerkung Hinweis auf außersprachliche Faktoren der Sprachentwicklung

1. Problem der Q uellen

Die Fachsprachen, das ist fast ein Gemeinplatz, sind für die neuzeitliche Sprachgeschichte von erheblicher Bedeutung. Aber die Geschichte der Fachsprachen und die ihres Einflusses auf die allgemeine Gebrauchsspra-

145 che ist wenig erschlossen — darauf hat kürzlich Seibicke hingewiesen.1 Das gilt speziell für die Geschichte der Naturwissenschaftssprache und für ihren Einfluß auf die Gemeinsprache. Die allgemeinen Sprachgeschichten nehmen nur am Rand von ihr Notiz. Der Grund für diese Situation ist einmal die sehr schwierige Quellenlage — in diesem Fall gibt es zu viele Quellen. Das naturwissenschaftliche Schrifttum und die von ihm infiltrierten Texte sind unüberschaubar. Und wer eine Geschichte der Naturwissenschaftssprache auf diesen Quellen aufbauen will, sieht sich der zweiten Schwierigkeit gegenüber, daß er von den verschiedensten Fachgebieten, über deren Sprachwandel er berichten will, etwas verstehen, sich in sie einarbeiten müßte. Ich möchte nur über einzelne Aspekte einer Geschichte der Naturwissen­ schaftssprache und ihrer Beziehung zur Gemeinsprache sprechen, die mir besonders aufgefallen sind; ich bin dabei von folgenden Quellen ausge­ gangen: 1. Von Schriften wirksamer, auch öffentlichkeitswirksamer Naturwissen­ schaftler — z.B. Linné, Darwin. 2. Von Überlegungen der Naturwissenschaftler zu sprachlichen Proble­ men, zu Nomenklatur und Terminologie, zum Problem der Metaphorik, zur Form der Darstellung. Diese Äußerungen metasprachlichen Inhalts sind eine ergiebige und reizvolle Quellengruppe. 3. Von Darstellungen der Geschichte der Naturwissenschaft — neueren von Asimov, Mason, Einstein/Infeld und älteren von Burkhardt/Erhard und Dannemann; außerdem von Lexika. Die Geschichten der Naturwissenschaft vereinfachen die Arbeit in zwei­ facher Hinsicht: sie vermitteln einen Überblick über die entscheidenden Entwicklungsschübe in der Naturwissenschaft und erleichtern dadurch die Quellenauswahl, und sie machen recht häufig auf sprachliche Begleit­ erscheinungen des Wandels der Wissenschaft aufmerksam.

2. Besondere Bedingungen der Entwicklung der Naturwissenschafts­ sprache

Die Entwicklung der Naturwissenschaftssprache unterliegt besonderen Bedingungen: a. Ein allgemeines Kennzeichen der Naturwissenschaftsgeschichte ist die schubweise oder allmähliche Entdeckung neuer Zusammenhänge und Gegenstände. Die wissenschaftliche Mitteilung dient nur teilweise der Verständigung über Bekanntes und mindestens ebensosehr der Korrektur des Bekannten und der Verständigung über Unbekanntes. Das bedingt,

146 schubweise oder allmählich, die Schaffung neuer Termini und die Ver­ ständigung über alte, die Umdeutung, Ersetzung, Erweiterung des vor­ handenen Fachvokabulars. — Seit dem 18. Jahrhundert hat dieser Er­ kenntnisfortschritt explosionsartige Formen angenommen, und entspre­ chend vollzog sich die Sprachentwicklung mit sonst ungewohnter Ge­ schwindigkeit. b. Die Verständigung über ein Fachgebiet vollzieht sich zunächst inner­ halb einer besonderen national nicht begrenzten Verständigungsgemein­ schaft, die verbunden ist durch vorwiegend schriftliche Formen der Kommunikation: Briefe, Zeitschriften, Bücher. Das Internationale er­ scheint als konstanter Faktor in der Geschichte der Wissenschaftssprache; dieser Faktor ist allerdings in unterschiedlichem Grad wirksam. Zunächst, bis ins 17. und 18. Jahrhundert, war das Latein als europäische Gelehr­ tensprache Ausdruck dieser Idee. Auch nach seiner zunehmenden Ablö­ sung durch die volkssprachige Wissenschaft blieb dieses Prinzip insofern erhalten, als ein beträchtlicher Teil des Fachvokabulars aus dem Material der alten Gelehrtensprachen, des Griechischen und Lateinischen, ent­ nommen wurde, und es kehrt vielleicht im 20. Jahrhundert in der Domi­ nanz des Englisch-Amerikanischen als Wissenschaftssprache der westli­ chen Welt wieder. c. Die Schaffung des Fachvokabulars ist ein bewußter Akt. Er erfolgt ausdrücklich, durch die Form der ausdrücklichen Benennung — ‘wir nen­ nen das’, ‘wir schlagen den Namen vor’ — oder die Form der Definition: ‘wir sprechen von Bewegung ...’, ‘Bewegung ist ...’ usw. Die Namengebung unterliegt bestimmten Regeln, die einmal festgelegt worden sind und deren Befolgung überwacht wird — so z.B. in der Bota­ nik, Chemie, Ornithologie usw. Auch die Durchsetzung eines neuen erklärenden Begriffs unterliegt gewis­ sen Regeln der Überprüfung auf seine Zweckmäßigkeit und Brauchbar­ keit. Insofern vollzieht sich die Geschichte der Naturwissenschaftssprache — der Idee nach und auch teilweise in der Realität — nach künstlich fest­ gelegten vernünftigen Spielregeln.

3. Inauguratoren neuer Fachsprachen und ihre Wirkung a. Die Grundlagen einer Fachsprache werden nicht selten durch einen ein­ zelnen Forscher bestimmt — in der Botanik z.B. geschah dies durch Linné. “Wenn man Autoren vor und nach Linnés liest, findet man

147 eine ganz verschiedene Sprache” , schreibt Linné über sich selbst, in einer postum veröffentlichten Aufzeichnung.2 Er brachte Ordnung in die verwirrende Vielgestaltigkeit der Pflanzenwelt und in die uneinheitliche Sprache der Botaniker durch seine strenge Me­ thode der Einteilung und Benennung. In seinem Werk ‘Systema Naturae’, das 1735 zum ersten Mal erschien^, verwandte er ein übersichtliches Klassifikationssystem, das später erwei­ tert wurde, aber bis heute grundlegend blieb. Er teilte das Pflanzenreich ein in sukzessiv kleiner werdende Rubriken, in Klassen, Ordnungen, Gat­ tungen und Arten. Die Einteilung erfolgte aufgrund von Übereinstim­ mungen in den Blütenteilen — eine ‘Klasse’ Linnés stimmt überein in der Zahl und Beschaffenheit der Staubfäden und erhält nach dieser Zahl und Beschaffenheit ihren Namen. ‘Ordnungen’, ‘Gattungen’, ‘Arten’ stimmen in weiteren Merkmalen der Blütenorgane überein. Logisch aufgebaute le­ xikalische Hierarchien und eine auf einer künstlichen Systematik beru­ hende künstlich geschaffene Terminologie sind ein Kennzeichen des taxo- nomischen Systems Linnés. Er wandte seine Begriffsleiter — Klasse, Ordnung, Gattung, Art — mit annähernd gleichem Erfolg auch auf das Tierreich an und gilt für die ge­ samte Biologie als Begründer der Taxonomie.4 Voraussetzung der logischen Klassifikation war, daß die Blütenorgane, die den Schlüssel der Einteilung bildeten, exakt unterschieden und be­ nannt wurden. Darin bestand die zweite bedeutsame Leistung Linnés, daß er die unterscheidbaren Pflanzenteile und ihre typischen Formen durch ein detailliert aufgefächertes Wortfeld — von der ‘Wurzel’ bis zur ‘Narbe’ — abdeckte. Wilhelm Troll bemerkt dazu: “Auf Grund dieser Nomenklatur war erst eine präzise Diagnostik möglich, d.h. knappe Be­ schreibungen der einzelnen Pflanzenarten, die gestatteten, aus ihnen wie­ der eine Pflanze zu erkennen, oder, wie man sagt, zu ‘bestimmen’, ihr den von den Botanikern festgestellten Namen zuzuordnen .”5 Drittens begründete Linné eine einheitliche Benennung der Arten. Aus den Pflanzennamen waren z.B., angesichts der wachsenden Zahl von be­ kannten Arten, zunehmend längere Beschreibungen geworden. Die Form der Benennung war oft inkonsequent und undurchsichtig; es war zu vie­ len Synonyma gekommen. Die rote Johannisbeere hieß bei einem Vor­ gänger Linnés ‘Grossularia, multiplici acino: seu non spinosa hortensis rubra, seu Ribes officinarium’. Linné gab ihr den Namen ‘Ribes rubrum’6. Seit Linné werden die Pflanzennamen durch einen lateinischen Doppel­ namen bezeichnet, der erste bezeichnet die Gattung und der zweite, meist in Form eines Eigenschaftswortes, die besondere Art: ‘Viola tricolor’,

148 ‘Viola mirabilis’ usw. Linn^ verwendet also in seiner Nomenklatur die klassische Form der Definition per genus proximum et differentiam specificam. Mit der Aufgabe, eine einheitliche und praktikable Nomenklatur zu schaf­ fen, beschäftigte er sich sehr eingehend. In der ‘Philosophia Botanica’ von 1751 formulierte er dazu allgemeine Grundsätze, z.B.: § 218 Wer eine neue Gattung feststellt, ist auch gehalten, ihr einen Namen beizulegen. § 228 Gattungsnamen, die ähnlich lauten, geben Anlaß zur Ver­ wirrung. § 229 Gattungsnamen, die ihren Ursprung nicht in der griechischen oder lateinischen Sprache haben, sind zurückzuweisen. § 256 Vollständig benannt ist eine Pflanze, wenn sie mit dem Gat- tungs- und Artnamen ausgestattet ist.7 Die hier aufgestellten Regeln sind bis heute gültig. Die Pflanzennamen werden nach dem Muster der von Linné eingeführten ‘binären Nomen­ klatur’ bezeichnet. Dabei gilt das Prinzip der Priorität: wer zuerst eine Art (Gattung oder Familie) zweifelsfrei beschrieben hat (in lateinischer Sprache, ‘Diagnose’), ist berechtigt, ihr den Namen zu geben. Dieser Na­ me gilt, wenn er den Nomenklaturregeln entsprechend gegeben ist. — Dem Namen einer Art wird deshalb der Name des Autors, der sie so be­ nannt hat, meist in abgekürzter Form hinzugesetzt, (z.B. ‘Bellis perennis, L.’, L.=Linné)8. Bei Botaniker- und Zoologenkongressen setzen sich Kommissionen zusammen, die sich um eine einheitliche Nomenklatur nach den genannten Regeln bemühen. Nach einem Wort des Wissenschaftshistorikers Asimov hat Linné durch seine ‘binäre Nomenklatur’ “den Biologen für die Lebensformen eine internationale Sprache geschaffen, die ein nicht anzugebendes Ausmaß von sonst zu erwartenden Verwirrungen von vornherein beseitigt hat.”^ Die neue präzise Kunstsprache, die Klassifikationsmethode und verbind­ liche Nomenklatur, ermöglichte wohl erst eine immense Ausweitung des Wissens. Sie wurde zum Suchgerät, das von zahlreichen Schülern leicht und sicher gehandhabt werden konnte. Ein späterer Historiker der Na­ turwissenschaften charakterisiert Linnés Wirkung: “Mit seinem Natur­ system schuf er ein praktisches Hilfsmittel, das ermöglichte und die Lust weckte, neuen Zuwachs an Arten beizubringen. Glückliche praktische Folgen waren z.B. die allgemeine Beschäftigung Gebildeter mit Naturge­ schichte, Abtrennung des naturwissenschaftlichen Studiums vom medi­ zinischen, Aussendung von Expeditionen zum Zwecke der Erforschung

149 von Flora und Fauna.” 10 Die Erstauflage von Linnes ‘Systema Naturae’, die 1735 erschien, war ein großformatiges Heft von 11 Folioseiten. Das Werk wurde ständig er­ weitert und neu aufgelegt. Die 10. Auflage erschien 1766/68 — sie wurde noch von ihm selbst besorgt und umfaßte drei starke Bände — über die Tiere, die Pflanzen und die Mineralien.11 b. Dieser Fall — ein Forscher inauguriert eine Fachsprache und diese wird zum Instrument einer enormen Ausweitung des Wissens — kommt ähnlich in anderen Disziplinen vor. Beispiele wären vielleicht in der Mine­ ralogie der Schwede Cronstedt und Abraham Gottlob Werner, in der Che­ mie Lavoisier und Berzelius und Freud in der Psychoanalyse. Die Chemie bietet das Musterbeispiel einer internationalen, selbsterklä­ renden, durchsichtigen Nomenklatur. Ihr Wortmaterial ist überwiegend lateinisch/griechisch. Sie arbeitet vorwiegend m it durchsichtigen Komposita — diese Komposita erlau­ ben den Schluß auf die Bestandteile einer Zusammensetzung: Natrium­ chlorid z.B. besteht aus Natrium und Chlor; m it Prä-, In - und Suffixen — auch sie sagen z.B. etwas aus über das Verhältnis, in dem die Elemente zusammengesetzt sind: Kohlen­ dioxyd enthält mehr Oxyd als Kohlenmonoxyd; m it Abkürzungssymbolen — den Anfangsbuchstaben der la­ teinischen Elementnamen: H für Hydrogen (Wasserstoff), O für Oxygen (Sauerstoff); m it ‘Formeln’ — das sind Zusammensetzungen aus diesen Symbolen, die zugleich mit einem Zahlenindex versehen sind — CO2 , N H 3: aus ih­ nen lassen sich nicht nur die Bestandteile einer chemischen Verbindung entnehmen, sondern auch die quantitative Zusammensetzung ihrer ­ küle; m it ‘Gleichungen’ — die chemischen Reaktionen lassen sich mit Hilfe des Plus- und Gleichheitszeichens beschreiben: z.B. C + O 2 = CO2, durch eine Verbindung von Kohlenstoff und Sauerstoff entsteht Kohlen­ d ioxyd; m it ‘Strukturformeln’ — die den Bau eines Moleküls graphisch als Zusammensetzung von Bausteinen darstellen, und m it dreidimensionalen räumlichen Modellen — die ihn abbilden.

150 Diese Nomenklatur erlaubt, selbst die kompliziertesten Verbindungen in einem kurzen Ausdruck oder einer knappen Formel durchsichtig dar­ zustellen. Entscheidend für die Begründung dieser Fachsprache waren Lavoisier und Berzelius. Lavoisier führte 1787 die lateinisch-griechischen Kompo­ sita als Namen für chemische Verbindungen ein, ebenso das System der Vor- und Nachsilben. Außerdem vereinheitlichte er die Benennung der zu seiner Zeit bekannten Elemente; Berzelius führte 1814 die Abkürzungs­ symbole, Formeln und Gleichungen als die Zeichensprache der Chemie ein .12 Linné und Lavoisier entwarfen also im 18. Jahrhundert für die Biologie international verbindliche, auf logischen Prinzipien aufgebaute, lateinisch­ griechische Nomenklaturen — in der Chemie kam im 19. Jahrhundert eine ausgearbeitete Zeichen- und Formelsprache hinzu. Die Psychoanaly­ se, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte, vertritt einen dritten Terminologietypus. c. Freud ist in diesem Fall der ausschließliche Inaugurator einer neuen Disziplin und ihres Fachvokabulars. Das Wörterbuch oder sogenannte ‘Vokabular der Psychoanalyse’ von Laplanche und Pontalis, das 1972 in deutscher Sprache erschien, erläu­ tert 331 Termini, von denen mehr als 300 von Freud selbst geprägt wor­ den sind und nur 25 von seinen Kollegen und Schülern. Freuds Terminologie gehört, wie erwähnt, einem anderen Typus an als die der Botanik, Chemie oder auch der Medizin. Sie ist ganz überwiegend gemeinsprachlich: ‘Abwehr’, ‘Verneinung’, ‘Lustprinzip’, ‘manifester In­ halt’, ‘Zensur’, ‘Konflikt’ — das sprachliche Material besteht etwa zur Hälfte aus Erbwörtern des Deutschen, und die verwendeten Lehnwörter bzw. “ Fremdwörter” sind ganz überwiegend eingebürgerte, gängige Wör­ ter der Gemeinsprache oder doch der Bildungssprache. Daneben gibt es auch den aus lateinisch-griechischem Wortmaterial neu gebildeten Kunst­ ausdruck — ‘Eltern-Imago’, ‘Neuropsychose’, ‘Libido’ — aber er ist die Ausnahme. Habermas hat bei Freud von einer “terminologisierten Um­ gangssprache” gesprochen .13 Als Termini technici erfahren die Wörter der Gemeinsprache eine “Spe­ zialisierung der Bedeutung durch Verengung des Umfangs und Bereiche­ rung des Inhalts” — nach Hermann Paul ist dies die “erste Hauptart” des Bedeutungswandels und “eines der gewöhnlichsten Mittel der Schaffung technischer Ausdrücke” 14. Das Wort W iderstand hat in der Gemeinspra­ che einen weiten Anwendungsbereich; als Terminus wird es begrenzt auf

151 einen bestimmten sozialen Kontext, nämlich die Beziehung des Patienten zum Analytiker, und innerhalb dieses eingeschränkten Umfangs wird der gängige Inhalt in einer bestimmten Richtung erweitert, nämlich ‘Wider­ stand gegen unbewußte Regungen’; — der neue Inhalt wird also erst im Zusammenhang mit anderen Begriffen Freuds, innerhalb eines neuen Systems, durch einen bestimmten Ort in einem Lehrgebäude, voll defi­ niert. Ein Teil der Ausdrücke Freuds sind Gleichnisse, Analogien, die er den Naturwissenschaften entlehnt hat: die dominierende Vorstellung von der Psyche als eines Energieverteilungsapparates ist der Physik entlehnt, der Terminus ‘Objektwahl’ kommt aus der Biologie, das Bild von der ‘Psycho­ analyse’ aus der Chemie. Diese naturwissenschaftlichen Analogien sind mehr als bloße Metaphern. Freud verstand die Psychologie als eine Teil­ disziplin der Naturwissenschaft und sich selbst als Naturwissenschaftler, der nur noch nicht in der Lage sei, die psychischen Vorgänge bis in ihre physiologische, physikalisch-chemische Basis zu verfolgen. Eben deshalb wählt er bevorzugt eine naturwissenschaftliche Sprache, und es wäre be­ rechtigt, von ihm im Zusammenhang einer Geschichte der Naturwissen­ schaftssprache zu sprechen .15 In etwas modifizierter Form gilt für ihn, was für Linné und Lavoisier/ Berzelius gilt. Eine klar und scharf gefaßte Begriffs- und Beschreibungs­ sprache und ein verbindliches Vokabular werden zum Instrument einer enormen Wissenserweiterung, ziehen eine Flut von einzelnen Entdeckun­ gen und Arbeiten nach sich.

4. Übersetzungen aus dem Gelehrtenlatein und Übergang in die Gemein­ sprache

Die Erforschung des Gelehrtenlateins der Neuzeit und seines Einflusses auf die Landessprachen steckt nach Seibicke noch in den Anfängen.16 Vielleicht liegt hier für die neuzeitliche Sprachgeschichte ein ähnlich er­ giebiges Arbeitsfeld wie für die ältere Sprachgeschichte in den Überset­ zungsleistungen der ahd. Zeit, und möglicherweise wäre eine eingehende­ re Beschäftigung mit den Übersetzungen von Linnés Werk ins Deutsche lo h n en d .17 a. Linné selbst schreibt in der Regel Latein; sein ‘Systema Naturae’ wur­ de in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrfach ins Deutsche übertragen. Sicher ist die deutsche Bildungssprache durch den Einfluß Linnés erwei­ tert worden. Dieser Einfluß ist bei Adelung nur teilweise und in Ansätzen

152 greifbar; in dem Wörterbuch von Campe, das 1807 ff. erschien, ist er dann deutlich ausgeprägt. Campes Erläuterungen der Begriffe ‘Klasse’, ‘Ordnung’, ‘Gattung’ und ‘Art’ geben jeweils auch die Sonderbedeutung an, die ihre lateinischen Äquivalente ‘classis’, ‘ordo’, ‘genus’, ‘species’ bei Linné haben, und zwar in deutlicher Anlehnung an Linné. So spricht Campe z.B. in dem Artikel ‘Klasse’ von der “Naturbeschreibung, wo die Naturreiche in Klassen, und namentlich das Tierreich in sechs Klassen, die Säugetiere, Vögel, zweile- bige Tiere (das ist eine Lehnübersetzung von Linnés ‘Amphibia’), Fische, Ziefer (eine Eindeutschung von Linnés ‘Insecta’) und Würmer eingeteilt werden. Diese Klassen werden wieder in Ordnungen, diese in Geschlech­ ter, Gattungen und Arten abgeteilt.” Für Linnés Bezeichnung der Pflanzenteile ‘Calyx’, ‘Corolla’, ‘Stamina’, ‘F ilam enta’, ‘A n th era’, ‘Pistill’, ‘S tylus’, ‘Stigm a’ erscheinen in Cam pes Wörterbuch als ihre deutschsprachigen Äquivalente ‘Kelch’, ‘Krone’, ‘Staubgefäß’, ‘Staubfaden’, ‘Staubbeutel’, ‘Fruchtknoten’, ‘Griffel’, ‘Narbe’, teils also neue Übersetzungen, teils Sonderbedeutungen ge­ bräuchlicher Wörter. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden zahlreiche naturwis­ senschaftliche Werke aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen. La­ tein verschwindet um diese Zeit zunehmend als Sprache der deutschen Naturwissenschaft, in welchem Ausmaß, darüber liegen allerdings m.W. keine genauen Angaben vor.18 Gelehrte wie Blumenbach (Ende des 18. Jh.) schrieben zweisprachig. Goethe ließ seine erste naturwissenschaftli­ che Arbeit über den Zwischenkieferknochen (1784) ins Lateinische über­ setzen, um sie dem Holländer Camper vorzulegen19; Dissertationen wur­ den selbstverständlich lateinisch abgefaßt. Der Übergang der Wissen­ schaftssprache in die Landessprache wurde durch das zunehmende In­ teresse des allgemeinen Lesepublikums an naturwissenschaftlichen Fra­ gen begünstigt. b. Ein berühmt gewordenes Beispiel aus der Chemie: 1775 erschien das Werk des Schweden Torbern Bergman ‘De attractionibus electivis’. Der Terminus ‘attractio electiva’ wurde 1779 durch Weigel mit ‘Wahlver­ wandtschaft’ wiedergegeben, und bald darauf benutzte Hein Tabor in seiner Übersetzung des Bergmanschen Werkes den gleichen Ausdruck.20 Er war bis zum Herbst 1809 nur als Terminus in der Chemie gebräuch­ lich — damals erschien Goethes Roman ‘Die Wahlverwandtschaften’, der den Begriff aus der Chemie in den Bereich der menschlichen Beziehun­ gen übertrug. Es war Goethes erklärte Absicht, die Gemeinsprache um diesen — wie er fand — “geistreichen” Ausdruck 21 zu bereichern, und er hatte damit einen gewissen Erfolg. 153 c. Die Terminologie Freuds ist in unserem Zusammenhang doppelt in­ teressant, zunächst hinsichtlich der Frage ihrer Übersetzbarkeit. Lagache macht in der Einleitung zum ‘Vokabular der Psychoanalyse’ auf die Schwierigkeit aufmerksam, die deutschen Ausdrücke Freuds in den ande­ ren Sprachen wiederzugeben. Oft fehlt ein genaues Äquivalent, und das­ selbe Wort wird in der Übersetzungssprache von verschiedenen Autoren unterschiedlich wiedergegeben. Der Begriff der ‘Anlehnung’ wird im Fran­ zösischen z.B. durch vier verschiedene Vokabeln repräsentiert. Demgegen­ über bereiten die Lehnwort-Termini Freuds, in denen er also ursprünglich griechisch-lateinisches Wortmaterial verwendet, keine Schwierigkeiten. Der Begriff‘psychische Repräsentanz’ wird z.B. im Englischen, Französi­ schen, Italienischen, Spanischen durch das gleiche Wortmaterial wieder­ gegeben (z.B.: englisch: ‘psychical representation’, spanisch: ‘represen­ ta n te psíquico’). Auf der anderen Seite ist bemerkenswert, wie viele Begriffe Freuds in die Gemeinsprache übernommen worden sind: ‘abreagieren’, ‘Identifizierung’, ‘Komplex', ‘Narzißmus’, ‘Neurose’, ‘das Unbewußte’, ‘Fehlleistung’, ‘Verdrängung’, um nur einige Beispiele zu nennen. Bei diesem Vorgang scheint es charakteristisch zu sein, daß die Wörter etwas von ihrem spe­ ziellen Inhalt verlieren und ihren Anwendungsbereich erweitern. Das Wort ‘Trauma’ hat bei Freud einen genau definierten Inhalt und einen begrenzten Umfang — in der Umgangssprache ist der Inhalt verblaßt und der Anwendungsbereich größer. Das Gleiche gilt für Wörter wie K o m p lex, Verdrängung. Diese häufig zu beobachtende Erweiterung der Anwendungs­ bereiche wissenschaftlicher Spezialausdrücke bei ihrem Übergang in die Gemeinsprache erklärt sich sehr leicht aus der in der Regel nur oberfläch­ lichen Kenntnis ihrer terminologischen Bedeutung.22 Es ist genau der umgekehrte Vorgang wie bei der Terminologisierung gemeinsprachlicher Ausdrücke (s. oben). Der Übergang der Wissenschaftssprache vom Gelehrtenlatein zu den Volkssprachen, der in Deutschland Ende des 17. Jahrhunderts von Thomasius und Leibniz unter dem Leitgedanken der Aufklärung so ent­ schieden gefordert wurde23, erschwert nicht nur die internationale Kom­ munikation; er birgt auch Probleme, die an der Wirkungsgeschichte wis­ senschaftlicher Lehren ablesbar werden, Probleme der verzerrenden Re­ zeption und Wirkung. Diese Wirkungen könnten mit der Sprache der Au­ toren Zusammenhängen; davon soll im folgenden die Rede sein.

154 5. Zur Metaphorik Darwins und ihrer möglichen Wirkung

Im Zuge der Säkularisierung übernahm der wissenschaftliche Autor zu­ nehmend Aufgaben, die von der Theologie und Kirche lange Zeit verse­ hen oder doch bestimmt worden waren — die Funktionen der allgemei­ nen Weltinterpretation. Im 18. und 19. Jh. beginnt die Zeit des wissen­ schaftlichen Schriftstellers. Diese Situation — Rollenwandel des wissen­ schaftlichen Autors und Verbreiterung des Publikums wissenschaftlicher Lehren — wirkte mehr oder weniger zurück auf den Stil und die Begriff- lichkeit der Autoren selbst. Es wäre lohnend, Autoren wie Darwin, Haeckel, Freud, Konrad Lorenz unter diesem Gesichtspunkt zu betrach­ ten. Ich möchte nur kurz auf einige Begriffe Darwins und ihre Rezeption in Deutschland eingehen. Die vorläufige These: Darwins Begriffe waren Metaphern. Sie projizierten Vorstellungen aus dem Bereich der menschlichen Beziehungen in den der Tier- und Pflanzenwelt. In dem Zielbereich wurden sie terminologisiert, behielten aber eine gewisse Unschärfe und ein ihnen vom Ausgangspunkt her anhaftendes emotives Konnotat. Die Projektion dieser Begriffe aus dem menschlichen Sozialbereich in den biologischen begünstigte eine Rückprojektion in den Ausgangsbereich. Im Gegensatz zu den klassifizierenden Termini Linnfes handelt es sich bei Darwin um erklärende Begriffe, Formeln, die erlauben, Daten und Zu­ sammenhänge innerhalb eines größeren Gebiets zu überschauen. Der Ti­ tel von Darwins Hauptwerk, das 1859 erschien, enthält solche ‘Formeln’ oder ist eine solche Formel: ‘On the Origin of the Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life’. Eine deutsche Übersetzung von Bronn erschien schon 1860 unter dem Titel: ‘Über die Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzen- Reich durch Natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vollkommneten Rassen im Kampf ums Dasein’. Die wichtigsten Begriffe, ‘Struggle for Life’ und ‘Natural Selection’, sind dem Bereich menschlicher Beziehungen und Tätigkeiten entlehnt; darauf macht Darwin selbst aufmerksam. Der Begriff ‘Natural Selection’ wird von ihm in Analogie zu dem menschlichen Züchter gebildet — die Natur züchtet, indem sie unbewußt die am besten ausgestatteten und anpassungs­ fähigsten Arten auswählt und überleben läßt, so wie der Mensch durch bewußte Auslese züchtet. 24 Der Begriff ‘Struggle for Life’ (der die treibende Kraft in diesem Auslese­ vorgang bezeichnet), entstand nach Dörwins eigenem Zeugnis unter dem Eindruck der Bevölkerungslehre von Malthus, die besagt, daß das gesetz-

155 mäßige Mißverhältnis zwischen dem Wachstum der Nahrung (in arithme­ tischem Verhältnis) und der Übervermehrung der Bevölkerung (in geome­ trischem Verhältnis) unvermeidlich zu Kriegen und einer Abwärtsent­ wicklung der menschlichen Gesellschaft führen müsse.25 “Es ist die Lehre von Malthus, in verstärkter Kraft übertragen auf das gesamte Tier- und Pflanzen-Reich”, schreibt Darwin.26 Im Gegensatz zu dieser pessimistischen Bevölkerungslehre sati Darwin allerdings den Konkurrenzdruck in der Natur als Vehikel des Fortsfchritts; man hat öfters auf die Parallele zum Wirtschaftsliberalismus der Zeit Dar­ wins hingewiesen; für diesen Herkunftsbereich des Begriffs spricht, daß Darwin sich sehr oft ökonomischer Begriffe in seinem Werk bedient.27 Die Hauptbegriffe Darwins sind also anthropomorphe bzw. — ein Aus­ druck von Topitsch 28 — soziomorphe Denkmodelle; ihr metaphorischer und deshalb nur teilweise adäquater Charakter wird von Darwin selbst anerkannt. So schreibt er z.B. über den Begriff ‘Struggle for Life’ (in der Übersetzung Bronns): “Ich will voraussenden, daß ich den Ausdruck ‘Ringen ums Dasein’ in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrau­ che, in sich begreifend die Abhängigkeit der Wesen voneinander und, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch die Sicherung seiner Nachkommenschaft.” Er nennt verschiedene Beispiele — das Kämpfen zweier Hunde um Nahrung, die Abhängigkeit einer Wü­ stenpflanze von der Feuchtigkeit, der Mistel von dem Baum, auf dem sie schmarotzt — und schreibt: “In diesen mancherlei Bedeutungen, welche ineinander übergehen, gebrauche ich der Bequemlichkeit halber den Aus­ druck ‘ums Dasein ringen’.” 29 Der Begriff hebt also an einem komplexen und umfangreichen Vorstel­ lungsbezirk e i n gemeinsames Merkmal hervor, etikettiert diesen Vor­ stellungsbezirk in zuspitzender Weise und umfaßt ihn so in einem Ge­ samtüberblick. Verbindet sich diese ‘pointierende Abstraktion’ mit einem unscharfen Bild — und einem starken Gefühlsgehalt, so gerät er in die Nähe dessen, was man als Definition des Schlagworts bezeichnen kann. Das scheint bei der Übersetzung von ‘Struggle for Life’ mit ‘Kampf ums Dasein’ der Fall zu sein, die auch Bronn meist verwendet. Darwin unter­ schied zwischen ‘struggle’ auf der einen und ‘fight’ oder ‘war’ auf der an­ deren Seite und gebraucht in der Regel den Begriff ‘Struggle for Life’. Die Ausdrucksweise Darwins und insbesondere die Übersetzung durch ‘Kampf ums Dasein’ wurde nach 1945 von verschiedenen Biologen als “unglücklich” und “drastisch” bezeichnet und durch die Begriffe ‘Kon­ kurrenz’, ‘Wettbewerb’, ‘W ettstreit’ ersetzt.30

156 Der Ausdruck ‘Natural Selection’, der von Bronn nur teilweise31 und später in der Regel durch ‘natürliche Zuchtwahl’ wiedergegeben wurde, schreibt der Natur, wenn man ihn wörtlich nimmt, Bewußtsein und Wahl zu — er wäre eine Verbindung semantisch unverträglicher Bestandteile. Man hat diesen Ausdruck in England sehr bald kritisiert, und Darwin ant­ wortet in der dritten Auflage: “Es unterliegt allerdings keinem Zweifel, daß buchstäblich genommen ‘Natural Selection’ ein falscher Ausdruck ist; wer hat aber je den Chemi­ ker getadelt, wenn er von einer Wahlverwandtschaft unter seinen chemi­ schen Elementen gesprochen ? und doch kann man nicht sagen, daß eine Säure sich die Basis auswähle, mit der sie sich vorzugsweise verbinden wolle. Man hat gesagt, ich spreche von ‘Natural Selection’ wie von einer thätigen Macht oder Gottheit; wer aber erhebt gegen andere einen Ein­ wand, wenn sie von der Anziehung reden, welche die Bewegung der Pla­ neten regelt? Jedermann weiß, was damit gemeint, und ist an solche bild­ liche Ausdrücke gewöhnt; sie sind ihrer Kürze wegen nothwendig. Ebenso schwer ist es, eine Personifizierung der Natur zu vermeiden; und doch ver­ stehe ich unter Natur bloß die vereinte Thätigkeit und Leistung der man­ cherlei Naturgesetze. Bei ein bißchen Bekanntschaft mit der Sache sind solche oberflächliche Einwände bald vergessen.” 32 Auch für den Linguisten würde gelten: bei Bekanntschaft mit der Sache definiert sich der Inhalt eines Begriffs von den Realzusammenhängen her. Die motivierte Bildung wird dann nicht mehr aus den Bedeutungen ihrer Bestandteile erschlossen, sie verliert ihre Durchsichtigkeit zugunsten der in ihr intendierten Sache.33 Die Begriffe ‘Struggle for Life’ und ‘Natural Selection’ haben sich — darauf weisen Peters und Topitsch hin — in der Evolutionslehre von ihrem ursprünglichen Bildgehalt abgelöst und verselbständigt.34 Aber die Sachsteuerung des Verstehens, die Bühler hervorhebt35, funk­ tioniert nur, solange und soweit die Sache bekannt ist, und auch dann nur halb. Der Sozialdarwinismus war nicht nur eine Sache des breiten, unwissenden Publikums, was die Darstellungen von Peters und Topitsch überbetonen, sondern durchaus auch der Fachbiologie. Allerdings, je we­ niger die Sache bekannt ist, um so mehr gewinnt ein wortgesteuertes Ver­ stehen die Oberhand. Es wird besonders durch metaphorische Termini begünstigt. Sie knüpfen ja an bekannte Vorstellungen an und enthalten damit einen Hinweis auf die gemeinten begrifflichen Inhalte, man ver­ steht sie halbwegs und wird sehr leicht zu der vorschnellen Meinung ver­ führt, sie ganz zu verstehen, die Sache in dem Wort zu haben. Die breite und verzerrende Wirkung Darwins hängt, glaube ich, unmittelbar mit sei­

157 ner Begriffsbildung zusammen — auch die aufschlußreichen Ausführun­ gen von Peters legen dies nahe.36 Darwins Formeln wurden sehr bald von anderen wissenschaftlichen Dis­ ziplinen aufgenommen, u.a. von A. Schleicher in der Sprachwissenschaft und von Carl du Prel auf dem Gebiet der Astronomie. Vor allem wurden Darwins Begriffe schlagartig in den Bereich der Politik und Sozialtheorie übertragen, zunächst in England. Schon im Jahr des Erscheinens von Darwins Hauptwerk veröffentlichte Walter Bagehot eine Schrift über Na­ tur und Politik, in der er das Prinzip der natürlichen Auslese auf die Be­ ziehungen der Nationen untereinander anwandte und in Krieg und Unter­ drückung ein Vehikel des Fortschritts sah. Spencer übertrug das Prinzip der ‘natürlichen Auslese’ und ‘Erhaltung begünstigter Rassen’ auf die menschliche Gesellschaft — unter der wirksamen Formel ‘survival of the fittest’ — deutsch ‘Überleben der Tüchtigsten'.37 Ebenso wurde Eferwins Lehre in Deutschland sehr bald zu einem belieb­ ten Denkmodell auf dem Gebiet der menschlichen, sozialen, politischen Beziehungen, und seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erschien eine umfangreiche sozialdarwinistische Literatur. Der Biologe Oscar Hertwig, ein Schüler Erich Haeckels, veröffentlichte 1918 eine große Streitschrift ‘Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus’. Die Schrift breitet das Schrifttum aus, in Zitaten von Nietzsche, Tille, Schallmayer, Ploetz, Ammon, Wagner, Schriften mit dem Titel ‘Grundlinien einer Rassenhygiene’ (Ploetz), ‘Der Krieg als schaffendes Weltprtnzip’ (Wagner) usw. Hertwig kritisiert nicht nur diese Folgerungen, sondern die Begriffsbil­ dung Darwins selbst, und zwar im einzelnen: 1. ihre vieldeutige Unbestimmtheit, der Ausdruck ‘Kampf ums Dasein’ werde derartig weit gebraucht, daß sein Inhalt ganz unbestimmt werde; 2. ihren bildlichen, metaphorischen Charakter — er sei die Ursache der Unbestimmtheit. Das gelte auch für die Begriffe der ‘Konkurrenz’ und den anthropomorphen Ausdruck ‘natürliche Auslese’. In die nüchterne sachliche Sprache der Wissenschaft werde eine ‘dichterische Lizenz’ hineingetragen; 3. enthalten die Begriffe Darwins nach Hertwig wissen­ schaftlich nicht vertretbare Werturteile, so in den ‘Schlagworten’ ‘Über­ leben des Passenden, des Nützlichen, des Tüchtigen, des Zweckmäßigen’. Hertwig kritisiert also die terminologische Unschärfe der Begriffe Dar­ wins und das Vorhandensein eines ‘emotiven Konnotats’. Die Unbestimmt­ heit sei die Ursache dafür, daß diese Begriffe so vielseitig verwendbar seien und als ‘Mädchen für alles’ dienten .38

158 Bei ihrer Übertragung in andere Bereiche — außerhalb des Zusammen­ hangs, wie ihn die Theorie verlange — verlören sie noch mehr an Be­ stimmtheit und würden zu abgegriffenen Scheidemünzen, die zu häufigen Irrtümern Anlaß gäben. Über deren öffentliche Wirkung schrieb Hertwig 1917: “Man glaube doch nicht, daß die menschliche Gesellschaft ein hal­ bes Jahrhundert lang Redewendungen, wie unerbittlicher Kampf ums Dasein, Auslese des Passenden, des Nützlichen, des Zweckmäßigen, Ver­ vollkommnung durch Zuchtwahl usw. in ihrer Übertragung auf die ver­ schiedensten Gebiete wie tägliches Brot gebrauchen kann, ohne in der ganzen Richtung ihrer Ideenbildung tiefer und nachhaltiger beeinflußt zu w erd en .” 39 Die Ausbreitung der Begriffe Darwins in den Wissenschaften und in der Gemeinsprache ist u.a. auch ein sprachgeschichtlicher Vorgang. Wie läßt er sich erklären? ln der Geschichte der Wissenschaftssprache läßt sich häufiger beobachten, daß der Begriffsapparat einer Disziplin in eine andere übertragen wird. Beispiele wären die naturwissenschaftliche Sprache Freuds oder die der Linguistik in verschiedenen Zeitabschnitten. Ein auf einem Sektor ent­ wickeltes Denkmodell wird zum Schlüssel für einen neuen Sektor. Das in der Sprachgeschichte so produktive Prinzip der Analogie ist auch in der Denkgeschichte sehr produktiv. Trier spricht von Wortfeldern “mit be­ währter Kraft der Weltaufschließung”, die sich in bestimmten Zeiten über andere Sachbereiche analogisch ausbreiten, sich “als Mittel anbieten, auch andere Bereiche analogisch zu erklären”.40 Die Gefahr dieser Über­ tragungen, wenn sie unkritisch und uneingeschränkt vorgenommen wer­ den, kann darin liegen, daß sie den Zielbereich verzerren, seine u.U. sehr viel komplexere Struktur vereinfachen. Es ergibt sich das Problem der, wie es bei Carnap heißt, ‘Sphärenvermengung’41. Die möglichen Gründe für die Ausbreitung der Begriffe Darwins sollen nicht im einzelnen ausgeführt werden — ich halte es für wahrscheinlich, daß an diesem Vorgang die Sprache Darwins beteiligt war. Die Übertra­ gung der Begriffe aus der Biologie in den Sozialbereich war eine Rück­ übertragung. Darwin hatte sie von dorther entlehnt. Die vorherige Projek­ tion begünstigte eine Rückprojektion. Ihre schlagartige Ausbreitung ist vielleicht ein Indiz dafür. Die Übereinstimmung in der Sprache legte eine Kongruenz in der Sache nahe — der suggestive, bildkräftige und wenig scharf gebrauchte Begriff vom ‘Kampf ums Dasein’ tendierte von vorn­ herein dazu, die Bereiche zu verklammern, wieder auf den Sozialbereich angewandt zu werden. Er war von dorther, von Malthus, entnommen — füllte sich im biologischen Bereich mit einem vielfach belegten Inhalt, die Vorstellung: Fortschritt durch Kampf ums E&sein und Zuchtwahl

159 konnte nun, als ein biologisches Gesetz, zurückübertragen werden in den menschlichen Bereich, in dem die Allgemeinformen dieser Begriffe exi­ stierten, und sich hier als Vorstellung eines allgemeinen Lebensprinzips auswirken. Die Begriffe Darwins bewirkten eine biologische Terminologi- sierung von Begriffen der Gemeinsprache, die, im Sozialbereich vorhan­ den, im sozialwissenschaftlichen Bereich eine Zeitlang üblich wurden. Die Frage, wie weit eine anthropomorphe Zoologie umschlägt in eine zoomorphe Anthropologie, wird in letzter Zeit anläßlich des Streits um Konrad Lorenz und die Verhaltensforschung diskutiert. Es geht dabei um das gleiche Problem der richtigen Analogie, der Übertragung und Rückübertragung.42 Wir haben zuletzt von Problemen der Wirkung gesprochen, die sich aus einer gemeinsprachlichen Terminologie ergeben können — ich komme abschließend auf einen sozusagen gegenteiligen Aspekt der Geschichte der Wissenschaftssprache — auf ihre Entfernung von der Gemeinsprache.

6. Entfernung der Fachsprachen von der Gemeinsprache und ihre Über Setzung durch populärwissenschaftliche Literatur

Linne führte in seinen Schriften noch den Titel ‘Doktor der Medizin’ — erst durch ihn wurde aus der Botanik eine selbständige Disziplin. Dieser Vorgang hat sich vielfach wiederholt. Die Auffächerung der Wissenschaf­ ten in zahlreiche Einzeldisziplinen und deren Aufspaltung in Teildiszipli­ nen ist bekannt. Diese besonders im 18. Jh. einsetzende Differenzierung — Wüster rechnet für die Gegenwart mit 300 Fachsprachen, wobei er vermutlich große Fä­ cher m eint43 — ist begleitet von einer explosionsartigen Ausweitung des Wortschatzes der Fachsprachen. In der ersten Auflage von Linnis ‘Syste- ma Naturae’ (1735) sind 549 Tierarten erfaßt, in der zehnten Auflage (1766) sind es 5897, gegenwärtig rechnet man (laut Fischer-Lexikon) mit 1 1/4 Millionen Tierarten, darunter mehr als 750 000 Insektenar­ te n .44 Die letzte lateinische Ausgabe von Linnes ‘Systema Naturae’ schätzt die Zahl der Pflanzen auf 10 00045, heute geht man von 370 000 bis 380 000 Arten aus (Fischer-Lexikon), die wissenschaftlich abgegrenzt werden müssen und daher stehender Benennungen bedürfen.46 D er W ort­ schatz der Chemie wurde 1964 auf 2 Millionen Wörter geschätzt, derjeni­ ge der Elektronik auf 50 000 Spezialausdrücke — diese Liste ließe sich verlängern.47 Hinzu kommt in Fächern wie z.B. der Chemie oder auf den Gebieten der Physik eine wachsende Zahl von Abkürzungssymbolen, Formeln, Glei­ chungen. 160 Mit dieser Wortschatzerweiterung geht in den Fachsprachen eine Termi- nologisierung gemeinsprachlicher Ausdrücke einher. Eine erhebliche Zahl von Ausdrücken der Gemeinsprache haben z.B. in der Biologie eine gere­ gelte Spezialisierung erfahren: ‘Nischen’, ‘Grenzfälle’ z.B.; von einem ‘Gesetz der Blattbildung’ und ‘geregelten Erbänderungen’, die in älteren Darstellungen möglich wären, kann man nicht mehr ohne weiteres spre­ chen, weil ‘Gesetz’ und ‘geregelt’ einen engeren, genormten Sinn haben. Erweiterung des Wortschatzes und Spezialisierung der gemeinsprachli­ chen Ausdrücke führen also in den zahlreichen Disziplinen zu einer zu­ nehmenden Entfernung von der Gemeinsprache, so daß die Gruppen, die sich über ein Teilgebiet verständigen können, zunehmend kleiner werden und die Zahl der von der Kommunikation Ausgeschlossenen größer wird. Der geschilderte Verlauf erscheint als typisch und unvermeidlich. Man kann beobachten, daß die Begründer einer wissenschaftlichen Disziplin relativ allgemeinverständlich schreiben — am Beginn der biologischen Evolutionstheorie, der Psychoanalyse oder der Verhaltensforschung ste­ hen weitgehend gemeinsprachliche Darstellungen. Das erklärt sich daraus, daß Darwin, Freud, Lorenz sich noch nicht an ein Fachpublikum im en­ geren Sinne wenden können; sie müssen die Einsicht in neu entdeckte Zusammenhänge und eine entsprechende Terminologie erstmalig vermit­ teln und können in dieser Hinsicht nichts voraussetzen. Das bedingt eine Sprache, die einführt und erklärt, an das Bekannte anknüpft, von hier aus die neuen Theorien entwickelt. Vielleicht spielt hier auch ein besonderes Verhältnis des wissenschaftli­ chen Erneuerers zur Sprache eine Rolle. Die Begründer einer neuen wis­ senschaftlichen Richtung haben ein unabhängiges Verhältnis zur überlie­ ferten Sprache. Daß sie sich ihre Begriffe nicht von der überlieferten Sprache vorschreiben lassen, sondern sich den Sachen neu gegenüberstel­ len, ist eine Vorbedingung ihrer neuen Begriffe. Das sprachunabhängige, unmittelbare Verhältnis zur Sache ist sehr auffallend bei einer Reihe von Beispielen. Dem entspricht auf der anderen Seite das aktive, umgestaltende Hand­ haben der Sprache: Neuprägung von Begriffen, Schaffung von Termini und Nomenklaturen, eine neue Gesetzgebung sozusagen. Ihre Nachfolger in der gleichen Disziplin haben bei jedem weiteren Schritt von einem zunehmenden Vorrat an Wissen und an Terminologie auszugehen und können ihn beim Fachpublikum voraussetzen, tun es auch in der Regel. Sie arbeiten in der durch die Begründer des Faches vorgezeichneten Bahn weiter, überliefern ihre Begriffe, bestreiten und diskutieren sie, definieren sie neu. So ergibt sich fast automatisch ein

161 ständiger Zuwachs an Metasprache; gemeinsprachliche Ausdrücke, die der Vorgänger noch intuitiv zu verstehen glaubte, werden terminologi- siert; vor allem erweitern sich ständig die Einsicht in Zusammenhänge und die Kenntnis der Gegenstände und damit die Terminologie und Nomen­ klatur. Man könnte hier an Thomas S. Kuhns der Naturwissenschaftsgeschichte abgewonnene Vorstellung von der Struktur wissenschaftlicher Revolutio­ nen anknüpfen — ein Paradigma, ein einmal entworfenes Denk- und Er­ fahrungsmodell, wird von den Nachfolgern ausgearbeitet, durch breite, ins Detail gehende Forschung eingeholt und erweitert; Geschichte der Naturwissenschaftssprache ist dementsprechend Vervielfältigung, Varia­ tion und Modifikation eines einmal entworfenen sprachlichen Musters und seine Erweiterung. Beides bedeutet unvermeidlich, worauf Kuhn ein­ geht, Spezialisierung der Fachsprachen.48 Gegenüber der Entfernung der Fachsprachen von der Gemeinsprache gibt es gegenläufige Anstrengungen: zunächst auf Seiten der Wissenschaft­ ler die Bemühung um eine gemeinverständliche Sprache, ln der neueren Physik und Biologie gibt es zahlreiche Beispiele dafür, daß Wissenschaft­ ler sich gemeinsprachlich ausdrücken oder ihre wissenschaftlichen Ergeb­ nisse einmal fachsprachlich und dann in die Gemeinsprache übersetzt veröffentlichen. Freud unterscheidet im ‘Abriß der Psychoanalyse’ zwei “Methoden oder Techniken” der Darstellung, die er jederzeit für möglich hält, und nennt sie die “genetische” und “dogmatische” Darstellung. Die erste, die gene­ tische, macht kaum Voraussetzungen, sondern geht vom allgemein Be­ kannten aus und erweitert dessen Bezirk schrittweise, sie beteiligt “den ändern an dem Aufbau einer neuen Theorie des Gegenstandes”. Die an­ dere, die dogmatische, “stellt ihre Ergebnisse voran, verlangt Aufmerk­ samkeit und Glauben für ihre Voraussetzungen, gibt wenig Auskünfte zu deren Begründung”.49 Die beiden unterschiedlichen Methoden des deduk­ tiven Lehrvortrags oder der den Leser an der Entwicklung eines neuen Ergebnisses beteiligenden genetischen Darstellung unterscheiden sich auch, zumindest graduell, durch ihre Nähe zur terminologischen bzw. zur Gemeinsprache. Eine andere gegenläufige Anstrengung liegt vor in den Übersetzungen der wissenschaftlichen Erkenntnisse durch Zeitungen, Zeitschriften, Bü­ cher. Es gibt seit dem 18. Jh., in dem das Gelehrtenlatein übersetzt wur­ de, seit Gottscheds deutscher Fassung von ‘Herrn Bernhards von Fonte- nelle Gespräche(n) von mehr als einer Welt zwischen einem Frauenzim­ mer und einem Gelehrten’ (1725), einen zweiten Übersetzungsvorgang,

162 der von dem gleichen aufklärerischem Impuls getragen war wie der Über­ gang der Wissenschaftssprache in die Volkssprache. Wetzel hat der popu­ lärwissenschaftlichen Prosa in den Naturwissenschaften einen interessan­ ten Aufsatz gewidmet50; es wäre lohnend, diesen Strang von Texten nicht nur stilistisch, sondern auch sprachhistorisch zu untersuchen. Die Verbreitung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse durch Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen, im Unterricht, durch Zeitschriften oder durch das ‘Sachbuch’ — Sachbücher sind ja weitgehend Übersetzungsliteratur — ist der Ort, wo die Fachsprachen in die Gemeinsprache übergehen.

7. Schlußbemerkung. Hinweis auf außersprachliche Faktoren der Sprachentwicklung

Es war die Absicht, auf einige Aspekte einer Geschichte der Naturwissen­ schaftssprache hinzuweisen: dabei wurden außersprachliche Faktoren dieser Geschichte fast ganz außer Acht gelassen. Es würde zu weit führen, auf diese Frage noch einzugehen. Nur einige Beispiele seien erwähnt: der politische Faktor wird u.a. wirksam, wenn ein Staat ein bestimmtes Fach zur Leitdisziplin erhebt und andere Fächer unterdrückt; der ökonomi­ sche Faktor, wenn wirtschaftliche Unternehmen eine bestimmte Diszi­ plin wegen der Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse fördern oder wenn die “Übersetzungs”instanzen (Verlage, Zeitungen) eine bestimmte wissen­ schaftliche Richtung innerhalb eines Faches begünstigen; der wissen­ schaftsorganisatorische Faktor, wenn eine wissenschaftliche Lehre durch die Autorität einer fest etablierten Schule über lange Zeit am Leben ge­ halten wird, obwohl sie längst widerlegt ist. Man wird nicht leugnen, daß sich solche Faktoren auf die Geschichte der Wissenschaftssprache auswirken. Ihre Auswirkung läßt sich hier viel­ leicht sogar besonders gut beobachten, weil die Versuchsanordnung etwas übersichtlicher ist als in der allgemeinen Sprachgeschichte.

Anmerkungen

1 L. Drozd, W. Seibicke (1973): Deutsche Fach- und Wissenschaftssprache. Wiesbaden, S. 4; zum Thema Fachsprachen vgl. außerdem E. Barth (1971): Fachsprache. Eine Bibliographie. In: Germanistische Linguistik 3, S. 209- 363, und H. Fluck (1976): Fachsprachen. Einführung und Bibliographie. München. 2 Zitiert nach C.A.M. Lindman (1909): Carl von Linné als botanischer For­ scher und Schriftsteller. In: Carl von Linnés Bedeutung als Naturforscher und Arzt. Hrsg. v. Königl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Jena, S. 101.

163 3 C. v. Linné (1735): Caroli Linnaei, Doctoris Medicinae, Systema Naturae, sive Régna Tria Naturae systematice proposita per Classes, Ordines, Genera & Species. Lugduni Batavorum. 4 J. Asimov (1968): Geschichte der Biologie. Frankfurt/M., S. 37. 5 W. Troll (1926): Goethes Morphologische Schriften. Ausgewählt und einge­ leitet von W. Troll. Jena, S. 41. 6 H. Goerke (1966): Carl von Linné. Arzt - Naturforscher - Systematiker. Stuttgart, S. 115, 117. 7 C. v. Linné (1751) (1770): Philosophia Botanica in qua explicantur Funda- menta Botanica cum Definitionibus Partium, Exemplis Terminorum, Observa- tionibus Rariorum, Adiectis Figuris Aeneis. Vindobonae. Kap. VII: Nomina und Kap. VIII: Differentiae. 8 S. Strugger, O. Härtel (1970): Biologie 1 (Botanik) = Das Fischer-Lexikon. Frankfurt/M. Erstausgabe 1962, S. 284. 9 J. Asimov [Anm. 4], S. 37 f. 10 R. Burckhardt, H. Erhard (1921): Geschichte der Zoologie und ihrer wis­ senschaftlichen Probleme. Teil I und II. Berlin und Leipzig. 2. Auflage, S. 89. 11 Zu diesem Abschnitt vgl. auch U. Pörksen (1975): Zur Wissenschaftssprache und Sprachauffassung bei Linné und Goethe. In: Freiburger Universitäts­ blätter. Heft 49, S. 43-63. 12 Zu diesem Abschnitt vgl. J. Asimov (1965): Kleine Geschichte der Chemie. München, S. 58 ff.; H. Kelker, F. Klages, R. Schwarz, U. Wannagat (1969): Chemie = Das Fischer-Lexikon. Erstausgabe 1961, S. 98 ff.; H.-R. Fluck [Anm. 11, S. 83 ff.; R. Wolff (1971): Die Sprache der Chemie. Zur Entwick­ lung und Struktur einer Fachsprache. Bonn (= Math.-Nat.wiss. Taschenb. 11); M.P. Crosland (1962): Historical studies in the language of chemistry. London. 13 J. Habermas (1970): Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M., S. 322 f. 14 H. Paul (1970): Prinzipien der Sprachgeschichte. Studienausgabe der 8. Auf­ lage 1968 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 6). Tübingen, S. 87, 89. 15 Zu diesem Abschnitt vgl. U. Pörksen (1973): Zur Terminologie der Psycho­ analyse. In: deutsche spräche. Heft 3, S. 7-36. 16 L. Drozd, W. Seibicke [Anm. 1], S. 31. 17 Vgl. den kurzen Abschnitt in E. Agricola, W. Fleischer, H. Protze (1970): Die Deutsche Sprache. Kleine Enzyklopädie in 2 Bänden. Leipzig, 2. Band 6.8.7. (S. 749 ff.). 18 Vgl. die Angaben bei A. Bach (1965): Geschichte der deutschen Sprache, 8. stark erweiterte Auflage. Heidelberg, § 150 (S. 309), § 166 (S. 331). 19 Vgl. H. Bräuning-Oktavio (1956): Vom Zwischenkieferknochen zur Idee des Typus. Goethe als Naturforscher in den Jahren 1780-1786. In: Nova Acta Leopoldina. NF Band 18. Nr. 126. 20 Deutsches Wörterbuch (Grimm) Bd. XIII, Sp. 597.

164 21 Vgl. das Gespräch m it Riemer vom 24. Juli 1809. 22 Vgl. Pörksen [Anm. 15], S. 22 f. 23 Vgl. A. Bach [Anm. 18], § 166 (S. 331); G.W. Leibniz (1916): Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben, samt beigefügtem Vorschlag einer deutschgesinnten Gesellschaft. In: G.W. Leibniz: Deutsche Schriften. Erster Band. Leipzig (= Philosophische Bibliothek. Band 161), S. 13 ff.; ders. (1916): Von deutscher Sprachpflege. Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Spra­ che, §§ 8 ff. (ebd. S. 26 ff.); reprographischer Nachdruck der beiden Schrif­ ten durch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Ebrmstadt, in der Reihe ‘Libelli’, Band CCXVI. 24 C. Darwin (1863): Über die Entstehung der Arten im Thier und Pflanzen- Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampf um’s Daseyn. Nach der 3. englischen Auflage und mit neueren Zusätzen des Verfassers für diese deutsche Ausgabe aus dem Engli­ schen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. H.G. Bronn, 2. ver­ besserte und sehr vermehrte Auflage. Stuttgart. Vgl. besonders das erste Kapitel, S. 41 ff., vgl. S. 73: “Ich habe dieses Prinzip, wodurch jede solche geringe, wenn nützliche Abänderung erhalten wird, mit dem Namen ‘Natür- liehe Züchtung’ belegt, um dessen Beziehung zur Züchtung des Menschen zu bezeichnen.” 25 S.F. Mason (1961): Geschichte der Naturwissenschaft in der Entwicklung ihrer Denkweisen. Deutsche Ausgabe besorgt von B. Sticker. Stuttgart, S. 488 f., 492 f. 26 Darwin [Anm. 24], S. 75, vgl. S. 15. 27 Vgl. Mason [Anm. 25], S. 497; vgl. zu dieser Frage H.M. Peters (1960): Soziomorphe Modelle in der Biologie. In: Ratio. 3. Jg., S. 22-37, besonders S. 30 ff. 28 E. Topitsch (1962): Das Verhältnis zwischen Sozial- und Naturwissenschaf­ ten. In: Dialéctica 16, S. 211-231, besonders S. 213 ff. 29 Darwin [Anm. 24], S. 75. 30 Vgl. E. Mayr (1967): Artbegriff und Evolution. Hamburg und Berlin. Über setzt von G. Heberer, S. 60 f.; Heberer im Nachwort zu C. Darwin (1963): Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Stuttgart, S. 685; Vgl. auch R. Denker (1975): Aufklärung über Aggression, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz (= Urban-Taschenbücher 80). 5. Auflage, S. 19 ff., 29 f.; Vgl. K. Lorenz (1963): Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Wien, Beginn des dritten Kapitels. 31 Vgl. die Anmerkung Bronns in seiner Übersetzung Darwins [Anm. 24], S. 14. 32 Darwin [Anm. 24], S. 94. 33 Vgl. W. Fleischer (1969): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig, S. 12. 34 Peters [Anm. 27], S. 33; Topitsch [Anm. 28], S. 216 f.

165 35 K. Bühler (1965): Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache. 2. unveränderte Auflage, Stuttgart, S. 171 f.; Vgl. Fleischer [Anm. 33], S. 53. 36 Peters [Anm. 27], S. 37: “Wenn innerhalb der kritischen Forschung Denk­ modelle nur im Hinblick auf ihre Funktion bei der Entschlüsselung des Problemgebiets interessant sind, auf das man das Augenmerk gerichtet hält, so wendet sich das Interesse des großen Publikums gerade umgekehrt an das Modell als solches. Dem vielschichtigen, schwer zu handhabenden Material der Wissenschaft fernstehend, an den Umgang mit ihren Methoden nicht ge­ wöhnt, hält es sich vor allem an die Analogie. Diese ist so viel leichter zu­ gänglich als die Realzusammenhänge es sind, auf welche die Analogie abzielt, und mit dem Bilde glaubt man schon die Sache selbst zu haben. Die Unter schiede zwischen den sachlichen Aussagen der Lehre und den Bildern, unter denen diese in mühevoller Forschung erst gewonnen wurden, tauchen wieder unter in banalen Gleichsetzungen.” Vgl. auch Pörksen [Anm. 15], S. 29. 37 Mason [Anm. 25], S. 497 ff. 38 O. Hertwig (1918): Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus. Jena, S. 2, 10 f., 13, 15, 21. 39 Hertwig, ebd., S. 2. 40 J. Trier (1934): Deutsche Bedeutungsforschung, ln: Germanische Philologie. Ergebnisse und Aufgaben. Festschrift für O. Behaghel. Hg. A. Goetze, W. Horn, F. Maurer (= Germanische Bibliothek, Abt. I, Reihe 1, 19). Heidelberg, S. 196. 41 R. Carnap (1931): Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis 2, S. 235 ff. 42 Dieses Problem von ‘Übertragung und Rückübertragung’ habe ich in meiner Antrittsvorlesung in Freiburg (29.6.76) näher untersucht, die demnächst ver­ öffentlicht werden soll: ‘Wahlverwandtschaften’, ‘Natürliche Zuchtwahl’, ‘Psychoanalyse’— zur Metaphorik in der naturwissenschaftlichen Sprache Goethes, Darwins und Freuds.

43 L. Drozd, W. Seibicke [Anm. 1], S. IX. 44 B. Rensch, G. Dücker (1968): Biologie II (Zoologie) = Das Fischer-Lexikon. Veröffentlicht 1963, S. 284. 45 Vgl. F. Dinnemann (1962): Grundriß einer Geschichte der Naturwissen­ schaften. I. Band. Erläuterte Abschnitte aus den Werken hervorragender Na­ turforscher aller Völker und Zeiten. 2. Auflage, Leipzig, S. 129. 46 S. Strugger, O. Härtel [Anm. 8], S. 288. 47 A. Bach [Anm. 18], S. 411. 48 Th. S. Kuhn (1973): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen = Suhr- kamp Taschenbuch Wissenschaft 25. Frankfurt/M., S. 40 f. 49 S. Freud (1940 ff.): Gesammelte Werke. London. Bd. XVII, S. 141 f. 50 W.D. Wetzel (1971): Versuch einer Beschreibung populärwissenschaftlicher Prosa in den Naturwissenschaften, ln: Jahrbuch für Internationale Germani­ stik III, S. 76-95.

166 FRIEDHELM DEBUS

Soziale Veränderungen und Sprachwandel. Moden im Gebrauch von Personennamen*

I

Vor nunmehr 150 Jahren erschien eine Schrift mit dem Titel “Die Moden in den Taufnamen” von M. Johann Christian Dolz.1 Der Verfasser spricht darin von der “Herrschaft der Mode” bei der Namengebung2, und es ist dies auch der Tenor in vielen der zahlreichen nachfolgenden Arbeiten über dieses Thema oder auch über das Thema Mode allgemein — bis hin zu René Königs “Macht und Reiz der Mode. Verständnisvolle Betrach­ tungen eines Soziologen”.3 Weniger verständnisvoll, vielmehr mißbilli­ gend bis deutlich ablehnend sind gemeinhin Äußerungen zur Mode im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Personennamen (PN). Entspre­ chendes gilt auch für die sprachpflegerisch betonten Aussagen über die sogenannten Modewörter.4 — In der Regel wird von den Autoren der Be­ griff “Mode” ohne genauere Erläuterung verwendet. Eine gewisse Aus­ nahme davon, auch in der Einschätzung des Phänomens, bildet jedoch der vor genau vier Jahren in Mannheim gehaltene Vortrag “Sprachmoden und ihre gesellschaftliche Funktion” von Hermann Bausinger.5 N am en freilich spielen darin überhaupt keine Rolle. Wenn in der jüngeren Gegenwart nun auch der Bereich der nomina propria stärker in die linguistische Behandlung solcher Fragen einbezogen wird, so gibt es dafür insbesondere zwei Gründe, nämlich einerseits die inten­ sivere Beschäftigung mit Problemen der Namentheorie und andererseits das allgemein stärkere Interesse — ich möchte nicht sagen: das zur Mode gewordene Interesse — für den sozialen Aspekt der Sprache. Bevor wir uns an Hand konkreten Materials Vorgängen der Namengebung und

'Das hier gebotene Material wurde teilweise verwendet in des Verfassers Vortrag “Soziolinguistische Aspekte der Namengebung. Zur Sammlung und Analyse von Personennamen in Norddeutschland”, gehalten am 7. Febr. 1976 in Amsterdam auf dem Symposion der “Commissie voor Naamkunde en Nederzettingsgeschiedenis van de Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen”. — Für die Rein­ zeichnung der Abbildungen habe ich Herrn cand. phil. Volker Holm zu danken.

167 Namenverwendung widmen, ist es wichtig, durch einige theoretische Vorüberlegungen wenigstens in groben Zügen den Rahmen für die Analy­ se abzustecken.

II

Die Zeichen einer natürlichen Sprache lassen sich synchronisch nach der Dichotomie geschlossen : offen klassifizieren. Während z.B. die Flexions­ oder die Derivationsmorpheme geschlossene Klassen darstellen, muß der lexikologische Bereich als prinzipiell nicht geschlossen bezeichnet wer­ den. Insbesondere die Substantive sind als ausgesprochen offene Klasse einzustufen. Die täglich begegnenden Neubildungen oder Entlehnungen aus anderen Sprachen einerseits und der Untergang von Wörtern anderer­ seits belegen dies zur Genüge. Der Wortschatz einer Sprache erweist sich so “als ein Spiegel der Geschichte — in weitestem Sinne: politisch, ökono­ misch, soziologisch, geistes-, kultur- und sittengeschichtlich” , wie Hans Eggers es formuliert hat.6 Das nun bedeutet nicht, daß sich das Lexikon lediglich durch außersprachliche Einwirkungen verändert. Vielmehr gibt es auch hier Teilbereiche, die sich systemintern wandeln .7 Demgegenüber sind der phonologische, morphologische und syntaktische Bereich auch diachronisch gesehen eher geschlossen. Damit ist gesagt, daß diese Berei­ che nicht nur systeminternen Veränderungsmechanismen unterliegen. Diese notwendig fragmentarischen Bemerkungen können durch eine vereinfachende Skizze noch einmal veranschaulicht werden, die zu­ gleich die Position des uns interessierenden onomatologischen Bereichs in dem damit umschriebenen Rahmen verdeutlicht (s. “Skizze des sy­ stemintern und -extern bedingten Sprachwandels”). Der onomatologische Bereich ist hier, vom Zentrum aus gesehen, dem lexikologischen nachge­ ordnet. Mit J. Kury+owicz könnte man die nomina propria zur “Margi­ nallexik” rechnen .8 Sie tragen Merkmale — auch semantische —, die Ver­ bindungen mit den nomina appellativa aufweisen. Das ist durch neuere Untersuchungen genauer herausgearbeitet worden .9 Das wesentliche Kennzeichen des Namens indessen ist seine identifizierende Funktion, seine spezifische Eins-zu-Eins-Relation. Goethe hat das bildhaft so um­ schrieben: “...der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa wie ein Man­ tel, der bloß um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen”.10 Nach Jost Trier er­ greift der Name “ohne das Dazwischentreten des Begriffes unmittelbar das Einzelne; der Gattungsname bezeichnet nur auf dem Weg über den

168 Skizze des systemintern und-extern bedingten Sprachwandels

WIRKUNGEN

Ia Phonologischer Bereich n Lexikologischer Bereich b Morphologischer Bereich I Onomatologischer Bereich c Syntaktischer Bereich FD.

169 Begriff, oder anders gesagt: der Eigenname bezeichnet nur, der Gattungs­ name bezeichnet, indem und nur indem erbedeutet”.11 Dies ist — ohne hier auf die Terminologie im einzelnen eingehen zu können 12 — der Grund dafür, daß wir nomina propria etwa nicht “verstehen” wie nomi- na appellativa, daß wir sie prinzipiell nicht übersetzen; sie sind nicht ein­ gebunden in ein Begriffsnetzwerk wie die Wörter. Auf Grund ihrer gerin­ geren denotativen, jedoch beherrschenden konnotativen Komponente haben Eigennamen keine intersubjektive Gültigkeit wie die Appellative und stehen in Hinsicht ihrer Semantik eher an der Peripherie des Sprach­ system s.13 Die Grenze zwischen lexikologischem und onomatologischem Bereich ist also nicht starr. Sie ist vielmehr durchlässig, wie im übrigen auch die­ jenige zwischen den Bereichen II und I (s. Skizze). Mit anderen Worten: Es gibt nomina appellativa, die zu nomina propria werden bzw. deren Funktionen übernehmen und umgekehrt. In diesem Stadium können dann Namen auch zu einer sozialen Barriere werden, obwohl — worauf Odo Leys kürzlich hingewiesen h at 14 — dies im Gegensatz zum übrigen Sprachschatz bei den Namen normalerweise nicht der Fall ist. Einzelne Namen können durch einen oder viele Träger regional und auch überregio­ nal in der Sprachgemeinschaft sozusagen ein bestimmtes Gesicht erhalten. In der Regel sind solche Namenphysiognomien schichtenspezifisch rele­ vant. 15 Soviel sei gesagt, um die Offenheit des onomatologischen Bereichs vom Charakter des nomen proprium her zu begründen. Diese Qualität kommt vornehmlich der Klasse der Anthroponyme, insbesondere der Teilklasse der Vornamen (VN) zu, nicht zuletzt deshalb, weil gerade in diesem Be­ reich der “ Bedarf’ an Namen außerordentlich groß ist; denn jedes Indi­ viduum muß seinen eigenen Namen, seinen Eigennamen, erhalten. Das führt zur Frage nach der Namenwahl bzw. Namengebung. Die Wahl eines VN erfolgt nach anderen Gesichtspunkten als die Wahl eines nomen appellativum im Kommunikationsprozeß. Dem einzelnen Namengeber ist zweifellos ein hohes Maß an Freiheit bei der Wahl eines bestimmten Namens aus der großen Fülle der möglichen gegeben. Daß dies nicht “die völlige Freiheit der Wahl” ist, wie z.B. der polnische Na­ menforscher T. Milewski meint16, hat V.A. Nikonov auf Grund umfang­ reicher statistischer Auswertungen russischen Personennamenmaterials zu Recht betont. Sein Ergebnis trifft wesentlich auch auf die deutschen und entsprechende westliche Verhältnisse zu; es sei daher teilweise zi­ tiert: Die Daten beweisen “unbestreitbar, in welch engem Spielraum sich die Wahl der Personennamen sogar beim Fehlen religiöser und juri-

170 stischer Verbote bewegt, bedingt durch den gesellschaftlichen Geschmack, durch die gegenwärtige anthroponymische Norm, obgleich sich der Na­ mengeber ihrer nicht bewußt wird ”. 17 Ebensowenig gilt, daß heute, nachdem eher mechanisch funktionierende Verfahrensweisen (wie z.B. die verschiedenen Formen der Nachbenennung) stark abgebaut worden sind, Namenwahl bzw. Namengebung willkürlich seien.18 ln der Regel wählt der Namengeber bewußt nach ganz bestimmten Gesichtspunk­ ten einen Namen für sein Kind aus. Häufig sind es mehrere Motive, die — mit gleicher oder unterschiedlicher Gewichtung — bei diesem Prozeß eine Rolle spielen. Daß der Namengeber dabei nicht selten unbewußt allgemeinen Entwicklungstendenzen, Trends, Normen folgt, ist ein Phä­ nomen, das mit unter den Begriff der “Mode” fällt. 19 Bewußte und un­ bewußte Namenwahl lassen sich begreifen und erklären als Ausdruck der Mentalität des Namengebers. Über die Mentalität wirken die system­ externen Faktoren (vgl. Skizze), d.h. auch die sozialen Veränderungen, in vielfältiger Form auf den onomatologischen Bereich ein .20 D abei ge­ hen Hans Walther und Johannes Schultheis21 davon aus, daß die “spezi­ fisch sozial determinierte Namengebung und Namenwahl (Zeichenwahl) ... ihrerseits dazu bei[trägt], das Gruppenbewußtsein als entscheidendes konstituierendes Gruppenmerkmal zu entwickeln und zu verstärken ... Die Gruppenzugehörigkeit des einzelnen wirkt stärker als seine subjektive Individualität”. Die Untersuchung all dieser Beziehungen ist Aufgabe der pragmatischen Namenkunde,22 — Die Mentalität des einzelnen Menschen wird geprägt durch individuelle und gesellschaftliche Faktoren, sie ist nach Theodor Geiger “geistig-seelische Disposition, ist unmittelbare Prä­ gung des Menschen durch seine soziale Lebenswelt und die von ihr aus­ strahlenden, an ihr gemachten Lebenserfahrungen”.23 Diese sozialpsycho- lögische Kategorie hat Geiger 1932 als Grundlage für seinen soziographi- schen Versuch, die Schichtung des deutschen Volkes zu beschreiben, herangezogen 24 , und Ralf Dahrendorf greift sie wiederum auf für einen entsprechenden neueren Versuch .25 Wenn wir also davon ausgehen, daß die Mentalität den Namengebungs­ prozeß wesentlich steuert und daß ferner die Mentalität soziale Schich­ ten determiniert, so erhebt sich von unserem Thema her die Frage, ob tatsächlich die aus diesen Prämissen abgeleitete Annahme einer schichten­ spezifischen Namengebung auch noch für die Gegenwart verifiziert wer­ den kann. Daß für die frühere ständisch gegliederte Gesellschaft solche deutlichen Unterschiede und zudem eine prestige-orientierte Entwicklung von “oben” nach “unten” festgestellt wurden, sei hier lediglich erwähnt.26 Die gestellte, auch allgemein-soziolinguistisch wichtige Frage berührt das vieldiskutierte Problem, auf Grund welcher konkreten Vorgaben über­

171 haupt soziale Schichtung erfaßt werden kann — wobei wir grundsätzlich davon ausgehen, daß es auch in der modernen Gesellschaft soziale Schich­ tung g ib t.27 Sind sozioökonomische Daten allein hinreichend oder müs­ sen soziokulturelle einbezogen werden? Welche Faktoren sind bei einem mehrdimensionalen Modell zu berücksichtigen? Wie wird am besten eine bloße Kasuistik vermieden? Ist überhaupt ein der sozialen Realität adä­ quater Schichtbegriff möglich? — Solche und ähnliche Fragen werden sehr unterschiedlich beantwortet. Die Diskrepanz der bisher vorgelegten Modelle und Lösungsversuche beweist, daß es keinen verbindlichen, neu­ tralen Schichtbegriff gibt, sondern eher nach je verschiedenen Gesichts­ punkten und Fragestellungen statistisch definierte Gruppen.28 Für das von uns erarbeitete Schichtenmodell (Tabelle 1 ) stellt der Beruf des Vaters den vorgegebenen objektiven Faktor dar, von dem her in An­ lehnung an Ralf Dahrendorf die Auswahl- bzw. Einteilungskriterien ge­ wonnen wurden .29 Dieses eindimensional angelegte Modell ergab sich einerseits aus den Vorgefundenen Daten der hauptsächlich als Material­ basis dienenden Standesamtsunterlagen, andererseits aber hat die empiri­ sche Sozialforschung auch gezeigt, daß der Beruf als das wichtigste Merk­ mal überhaupt im Zusammenhang mit sozialer Stratifizierung bezeichnet werden muß — weshalb dieses nicht selten allein oder vorwiegend heran­ gezogen wird .30 Das gilt generell auch noch für die jüngste Zeit trotz der zunehmenden Berufsmobilität. 31 Zu bedenken ist freilich immer, daß jedes einzelne Individuum nicht einförmig, ein-schichtig und in seinem Rollenverhalten eindeutig festgelegt ist. Ralf Dahrendorf hat das treffend gekennzeichnet, indem er sagt: “Schichtmentalitäten sind nie völlig ein­ heitlich. Auch zeigt nicht jeder Schichtangehörige zu jeder Zeit die erwar­ tete Mentalität; es gibt hier wie bei anderen Rollen Abweicher, Außensei­ ter, Randgestalten und Fremde”.32 Notwendig sind schließlich einige Bemerkungen zum Begriff “Mode”. Bezogen auf Namengebung und Namenverwendung werden in der Regel zwei charakteristische Merkmale für sie genannt, nämlich: Häufigkeit bzw. Beliebtheit und kurzfristiger Wechsel.33 Beide Merkmale sind zwei­ fellos typische Kennzeichen jeglicher Mode, sie sind nur mit dem eine exakte Definition erschwerenden Nachteil behaftet, daß sie nicht eindeu­ tig quantifizierbar sind. “Mode und damit auch Sprachmode” , sagt Hermann Bausinger mit Recht, “gehört zu den Gegenständen, die sich wesensgemäß jeder engeren Definition entziehen.” 34 Wenn man z.B. einen Modenamen so charakterisiert, daß er “die Menge der übrigen Na­ men hoch überragen” muß35, so kommt man in Schwierigkeiten, wenn eine Namenliste solche “ Spitzenreiter” nicht aufweist, aber dennoch der Zeitfaktor zeigt, daß die Namen in kurzer Zeit hohe Prozentwerte erreich-

172 Tabelle 1 : Schichteneinteilung (in Anlehnung an Ralf Dahrendorf)

Schicht Auswahlkriterium ■1 i ...... 9 J Eliten Führungsaufgaben in institutionei­ len Bereichen wahrnehmend i 8 1 Dienstklasse III Hochschulabschluß 7 D ienstklasse II Abitur ohne Hochschulausbildung, i Fachhochschulausbildung 6 Dienstklasse I Vorwiegend geistige Arbeit, Schul­ i abschluß, kein Abitur, “Machtteil­ i h abe” 5 1 Alter Mittelstand Selbständig 4 ' “Falscher Mittelstand” Untergeordnete Angestellte, deren 1 soziales Selbstverständnis durch den 1 direkten Publikumskontakt über­ 1 höht wird; Lehre erforderlich 3 , Arbeiterelite Ausbildung zum Meister, Techniker, oder Polier in einem der Berufe von 1 Schicht 2 2 1 A rbeiter II Vorwiegend nicht geistige Arbeit, i “echte’ Lehrzeit ist erforderlich 1 1 Arbeiter I Vorwiegend nicht geistige Arbeit; i bestimmter Schulabschluß und längere “echte” , d.h. vertraglich ge­ 1 regelte Lehrzeit sind nicht erforder­ i lich (angelernte Arbeiter) 0 1 Unterschicht Dauererwerbslose, Unstete (“sozial i Verachtete”) ' ......

173 ten. Das demonstriert beispielsweise Tabelle 3 (s.d.): Die Gruppe der VN-Formen Marc(o)/Markus erreichte in Kiel 1970 4,9%, und die Vergleichspositionen in der Klammer davor machen sehr deutlich, daß die Namengruppe von Position 25 im Jahr 1959 über die Position 8 im Jahr 1967 rasch diese Spitzenposition erreichen konnte. Es ist auch deut­ lich, daß der Abstand zu den beiden nachfolgenden Namengruppen nicht groß ist, jedenfalls kleiner als der zwischen Position 2 und 3. — Unsere Aufmerksamkeit wird hierbei auch auf die prozentual besonders gekenn­ zeichneten Namenformen Marc(o), Andre und M ike gelenkt. Diese For­ men sind auf die Gesamtentwicklung hin gesehen für unsere Gegenwart sehr bezeichnend. Sie gehören zur Fülle der VN, die wegen ihres fremden Charakters gewählt werden. Die vorliegenden Formen sind auf Grund ih­ rer durchweg niedrigen Prozentwerte sicher keine Modenamen, sie kenn­ zeichnen aber einen deutlichen Modetrend. Entsprechendes gilt auch für andere Bildungen, wie etwa die sogenannten Bindestrichnamen vom Typ Hans-Georg oder die Doppelnamen vom Typ A nnem arie, die in einer be­ stimmten Zeitspanne üblich wurden .36 Ich möchte solche Erscheinun­ gen unter dem Begriff “Namenmode” zusammenfassen. Dabei geht es also nicht um den Einzelnamen, sondern um Bildungsmuster oder Moti­ vationen, die durch mehrere oder auch zahlreiche Namen repräsentiert werden können. 37 Der Begriff “Modename” hat — ähnlich wie der ebenfalls der Objektspra­ che entnommene Begriff “Umgangssprache” — eher heuristischen Wert. Man kann ihn als solchen zu präzisieren versuchen, indem man die Ent­ wicklung derartiger Namen in ihrem Phasenverlauf folgendermaßen ge­ nauer beschreibt 38 : Eine erste Phase umfaßt die Innovation, d.h. die Phase des langsamen Anstiegs, die nicht bei Null beginnen muß. Die zweite Phase ist die durch rapides Ansteigen gekennzeichnete Diffu­ sion. Als dritte Phase schließt sich die Adaptation an, d.h. die Phase der relativ größten Verbreitung. Die vierte Phase repräsentiert die Restriktion, also das Abgleiten, den Rückgang. Für die Restrik­ tionsphase ist zu bedenken, daß sich ein VN durchaus mit hohen Prozent­ werten an der Spitze der Beliebtheitsliste länger halten kann — wie das früher durchweg bei sogar recht hohen Prozentwerten zu beobachten ist. 39 Solche Namen werden in diesem Stadium nicht mehr als Modena­ men empfunden, da ihnen der Charakter des Auffälligen, Neuen fehlt. Es wäre also für diese Phase zu unterscheiden eine real relativ kurze Dauer und eine zwar real längere, aber mental entsprechend kurze Zeit­ spanne.40 Phase 3 wäre dann diejenige des eigentlichen Modenamens; Phase 2 die, in der ein Name den Charakter eines Modenamens gewinnt; Phase 1 würde die Vor-, 4 die Nachphase darstellen. An Hand von eini­

174 gen Beispielen soll dies später verdeutlicht werden. Es ist auch ohne besonderen Hinweis evident, daß für all solche Beobach­ tungen ein möglichst umfangreiches, jedenfalls quantitativ hinreichendes Material unbedingte Voraussetzung ist.41 Das gilt nicht weniger für die Untersuchung einzelner Parameter.

III

Der empirische Teil stützt sich im wesentlichen auf Material aus drei Teil­ bereichen Schleswig-Holsteins (s. Abbildung 1): Die Stadt Bad Segeberg als altes Markt-, Verwaltungs- und Schulzentrum mit einem hö­ heren Anteil gewerblicher Betriebe hatte 1970 rd. 13 000 Einwohner. Der zugehörige Landkreis wird wesentlich durch die Land- und Forst­ wirtschaft geprägt. Berücksichtigt sind alle im Standesamt Bad Segeberg registrierten Geburten zwischen 1940 und 1970.42 Neben diesem ersten Untersuchungsbereich stellt der zweite ein in vielerlei Hinsicht eigenstän­ dig-geschlossenes und darum für die anstehende Fragestellung besonders aufschlußreiches Gebiet dar. Die sog. Probstei wurde durch ihre Zugehö­ rigkeit zum Kloster Preetz seit 1226 in Sprache, Sitte und Recht spezifisch geprägt, nicht zuletzt durch ihren von Anfang an weitgehend freien Bauernstand.43 Zur eigentlichen Probstei gehören der alte ländliche Zen­ tralort Schönberg mit 18 kleineren Bauerndörfern44 und die Förde-Bade- stadt Laboe, die noch heute neben einer größeren neuen Wohnsiedlung mit vorwiegend im Dienstleistungsgewerbe Tätigen das ursprünglich bäuerliche Oberdorf und das als Fischersiedlung im 19. Jahrhundert ge­ gründete Unterdorf deutlich erkennen läßt. Als weiterer größerer Ort ist das bis zur Förde hin sich erstreckende Heikendorf mit berücksichtigt, das besonders gekennzeichnet ist durch seine Fischerbevölkerung45 und durch zahlreiche in der Großstadt Kiel jenseits der Förde Tätige, vorwie­ gend aus höheren Schichten. Ein kontrastiver Vergleich mit der Namen­ gebung in der durch die Förde getrennten Landeshauptstadt Kiel als drit­ tem Untersuchungsbereich bietet sich hier an .46 Für die Einzelanalyse sei unmittelbar an das zu Tabelle 3 Gesagte angeknüpft und nunmehr auch Tabelle 2 in die Betrachtung mit einbezogen. Vergleicht man beide Tabellen miteinander, so fallen sogleich einige Unterschiede zwischen den weiblichen und männlichen VN-Ver- hältnissen einerseits und dem städtischen und ländlichen Befund anderer­ seits auf. Es sei hier nur auf weniges hingewiesen: Auffällig ist z.B. in der Liste der weiblichen VN (Tab. 2), daß 1970 auf den beiden vorderen Plätzen in Kiel Namen erscheinen, die sich nach Ausweis der Vergleichs­ positionszahlen in kürzester Zeit an die Spitze geschoben haben, nämlich

175 Tabelle 2 Namengebung in Kiel und im Bereich der Probstei — weibliche VN (Zahlen in Klammern = Positionen im/in den vorausgehenden Vergleichs- jahr/en)

1959 1967 1970

Kiel (nach F. Rast)

1 Sabine 4,6% (6) A ndrea 3,9% (-/12) N icole 4,6% 2 Susanne 3,8% (2) Susanne 3,2% (-/17) Tanja 3,8% 3 Birgit 3,4% (21) A nja 3,0% (4/3) Christi(a)ne 3,7% (4) Christi(a)ne (8) M artina (5) Petra 4, Christi(a)ne 3,2% (1) Sabine 2,9% (21/3) A nja 2,9% 5. Gabriele 3,0% (20) Claudia 2,7% (20/5) Claudia 2,4% Petra

Bereich der Probstei (nach P. Wenners)

1. Birgit 5,2% (7) A nja 5,4% (7/10) Tanja 5,0% 2. Susanne 3,9% (6) Sabine 4,9% <-/5) Claudia 4,2% (-/8) N icole 3. Maria 3,2% (4) Petra 4,4% (-/5) B ritta 3,3% (6/8) M artina 4. Andrea 2,6% (4) A ndrea 3,4% (-/-) A lexandra 2,5% A ngelika (6) Maren (7/1) A nja A n k e (2) Susanne (5/9) Gabriele Bärbel (-19) Karen Elke (4/6) K athrin K atharina/ (-/-) Katja K athrin (1,3%) (-19) Meike/Maike Petra (6/4) M aren Silke (-/10) Sandra Ute (-/8) S tefa n ie (2/4) Susanne

176 Bereich der Probstei (nach P. Wenners)

5. Angela 1,9% (-) B ritta 2,9% (4 /4 ) A ndrea 1,7% Christi(a)ne (-) Claudia (6/9) A n n e tte Elisabeth (-/-) Beke Gabriele (*/7) Birte Luise (-/10) D örte W iebke (-/-) Gesa (-19) H eidi (-/-) H elene (-/-) Ilka (7/-) M arianne (-/-) M iriam (4/3) Petra (-/-) R u th (6/ 2) Sabine

Tabelle 3 Namengebung in Kiel und im Bereich der Probstei — männliche VN (Zahlen in Klammern = Positionen im/in den vorausgehenden Vergleichs- jah r/en )

1959 1967 1970

Kiel (nach F. Rast)

1. M ichael 4,9% (6) A n d rea s/ 5,0% (2 5 /8 ) M arc(o) 4,9% A ndré (3,3% )/ (0,5% ) M arkus 2. Thom as 4,6% (13) S tefa n 4,6% (6 /1 ) A n d rea s/ 4,4% A n d re ( 1,8%) (1 /3 ) M ichael/ M ike (0,8%) 3. Jo h a n n es/ 4,1% (1) M ichael/ 4,4% (1 3 /2 ) S tefa n 3,7% Hans M ike (0,5% )

177 Kiel (nach F. Rast)

4. Peter 3,7% (2) Thom as 4,1% (7 1 4 ) Oliver 2,9% 5. J o a c h im / 2,5% (13) Frank 3,7% (\H\2)Martin 2,7% J o c h e n / (W lSW atthias A ch im

Bereich der Probstei (nach P. Wenners)

1. Hans 4,9% (6) A n d rea s/ 4,4% (8/4) M ichael 6,3% A n d re (0,5%) (7) Dirk (-) T (h)orsten 2. Peter 4,4% (-) Jörg 3,9% (2/2) Thom as 4,4% Thom as (8) Stefa n (2) Thom as 3. H einrich/ 3,8% (8) Karsten 3,4% (-/7) S w » 3,8% H einz (2,7%) 4. Christian 3,3% (8) Frank 2,9% (8/6) J o a c h im / 3,1% (6) Jens J o c h e n / (6) Klaus A ch im (8) M ichael (8/2) S tefa n 5. G ünther 2,7% (-) O laf 2,5% (6/1) A n d rea s/ 2,5% Ulrich (2) Peter A n d ré (1,3%) (8/3) K arsten (-/7) Lars (-/6) Marcus (6/7) M artin <-/7) M atthias (-/-) Oliver

178 179 Nicole mit 4,6% und Tanja m it 3,8%.47 Es sind bezeichnenderweise Na­ men aus Sprachbereichen, die insgesamt in der jüngeren Gegenwart ganz erheblich an Beliebtheit gewonnen haben. So betrug der romanische VN- Anteil bei den Mädchen in Kiel 1959 = 3%, 1967 = 11,2% und 1970 = 15,9%, der slawische Anteil 1959 = 1,2%, 1967 = 5,6% und 1970 = 11,1%.48 Bei den Jungen-VN haben dagegen in dieser Zeit die nordi­ schen Namen ihre Spitzenposition halten können. Das zeigt im übrigen bereits, daß der Wechsel bei den Mädchen-VN signifikant stärker, vielfäl­ tiger und daher auch in prozentualer Verteilung niedriger ist, was durch weitere Daten auf beiden Tabellen belegt werden kann und was auch von anderen Autoren — häufig unter dem Stichwort “größere Modeanfällig­ keit der Mädchennamen” — nicht nur für die Gegenwart bezeugt wird .49 Dieselbe Entwicklung vom Anteil der deutschen VN her gesehen verdeut­ lichen für den Standesamtsbereich Bad Segeberg die Abbildungen 2 und 3 (s.d.). Diese zeigen, daß bei den Jungen der prozentuale Anteil der deutschen VN ganz erheblich ist, nämlich um mehr als das Doppelte höher als bei den Mädchen. Bei beiden aber zeigt sich eine insgesamt fal­ lende Linie — freilich mit teilweise auffälligen Schwankungen. Bei den Mädchen steigt Anfang der 40er Jahre der deutsche VN-Anteil (bis etwa 1943), um dann jäh zu sinken; nach 1945 steigt der deutsche Namenan­ teil noch einmal an. Bei den Jungen-VN ist ein entsprechendes Bild zu beobachten, die Kurve steigt allerdings nach dem 2. Weltkrieg deutlich stärker an. Hier stellt sich zunächst die Frage, ob sich im Ansteigen des deutsch­ stämmigen Namenanteils bis rd. 1943 die Propagierung einer bewußt deutschen Namengebung widerspiegelt. Die Versuchung zu unverzüglicher Bejahung dieser Frage liegt nahe, wenn man einerseits z.B. in einer Schrift von L. Andresen aus dem Jahre 1937 liest, daß die Namengebung eines Volkes als “gelebter und gewollter Ausdruck seiner rassisch und geistig-seelischen Kräfte und seiner Erlebnisinhalte” verstanden wurde50, wenn man andererseits aber vor allem den Runderlaß des Reichsministeriums des Innern vom 18. August 1938 zur Kenntnis nimmt: “Kinder deutscher Staatsangehöriger sollen grundsätzlich nur deutsche Vornamen erhalten. Es dient der Förderung des Sippengedankens, wenn bei der Wahl der Vornamen auf in der Sippe früher verwendete Vornamen zurückgegriffen wird. Dabei werden besonders auch solche Vornamen in Frage kommen, die einem bestimmten deutschen Landesteil, aus dem die Sippe stammt, eigentümlich sind (z.B. Dierk, Meinert, Uwe, Wiebke).”51 Gewiß ist es übereilt, wie Hans Berger festzustellen, dieser Erlaß “verlangt und erreicht weitgehend die Umgestaltung des deutschen Vornamengutes im national deutschen Sinne. Die Schweiz, solchem Druck nicht ausgesetzt, folgt

180 Jah rg an g

181 Abb. 3: Deutsche Jungenvornamen im Standesamtsbereich

Jahrgang

182 Deutschland nicht.” 52 Denn es gibt hierzu noch keine umfassenderen Untersuchungen. Lediglich Einzelbeobachtungen bzw. örtlich begrenzte Studien liegen vor; und diese bestätigen eine solche Beurteilung nicht oder nur teilweise.53 Im Bereich der Probstei ergibt sich bei den deutschen männlichen und weiblichen VN, daß in Schönberg mit den Bauerndörfern wie im Standes­ amtsbereich Bad Segeberg die fallende Linie 1941-43 noch einmal ansteigt, in Laboe bereits 1933-35 bis 1941-43 der Anteil wächst, jedoch in Heiken­ dorf insgesamt ab 1930 die Tendenz fallend ist. Für Kiel stellt Inge Lüpke- Müller54' zusammenfassend fest, daß nach dem Erlaß sowohl bei den weib­ lichen als auch bei den männlichen VN insgesamt eher das Gegenteil von dem im Erlaß Geforderten eintrat. Entsprechendes geschah dort angesichts eines Erlasses des Reichsministeriums des Innern vom 14. April 1937, in dem ausdrücklich nordische VN wie Björn, , Sven o d er Ragnhild als nichtdeutsch bezeichnet und damit geächtet wurden; dennoch aber wurde z.B. K n u t noch 1939 und 1941 je zweimal vergeben.55 Daß dane­ ben in Kiel, wie auch andernorts56, in der Hitlerzeit eine gewisse Vorliebe für germanisch-altdeutsche VN festzustellen ist — u.a. auch durch eine vermehrte Wahl von Namen aus dem Nibelungenlied, der Kudrun oder der — widerspricht dem Gesagten nicht. 57 Auch ist es nicht weiter verwunderlich, daß das Kriegsgeschehen seine Spuren in der Namenge­ bung hinterlassen hat. So wurden in Kiel während dieser Zeit häufiger VN mit dem Bestandteil Sieg oder Fried vergeben; ein Mädchen erhielt 1941 den sprechenden Namen Bringfriede.58 — Ob die stärkere Beliebt­ heit der niederdeutschen und friesischen Namenformen mit dem ja auch regional-eigenständiges Namengut befürwortenden Erlaß in Verbindung zu bringen ist, kann höchstens vermutet werden. Immerhin wurden eini­ ge dieser VN in der ministeriellen Verlautbarung ausdrücklich positiv er­ wähnt, und in Kiel sind entsprechende Namen gerade während der Zeit des Dritten Reiches zeitweise häufig gewesen. Das veranschaulicht A b - b i 1 d u n g 4 (s.d.): E lke und H eike werden im Duden-Lexikon der Vornamen als “Modenamen” apostrophiert 59, und in der Tat zeigen ja auch die Kurven den vorhin skizzierten Phasenverlauf recht deutlich; die Adaptationsphase würde bei einer vollständigen Erfassung des Materials sicher besser hervortreten. Bezogen auf den Erlaß muß hier aber festge­ stellt werden, daß sich die Entwicklung aller drei Namen 1938 bereits in der Diffusionsphase befindet, diejenige von E lke sogar schon an deren Ende. Zu beachten ist auch, daß mit diesen Namen durchaus alte Tradi­ tionen fortgeführt sein können. Der Anteil der niederdeutschen und frie­ sischen Formen betrug z.B. in der Probstei bei Jungen- und Mädchen-VN im:

183 184 Abb. 5: Vorkommen der Rufnamen Horst und Adolf in Kiel

Jah rg an g

185 17. Jahrhundert = 56,3 % 18. ” = 40,8% 19. ” = 13,0 % 6 0 .

In diesem Zusammenhang sei auch kurz auf die VN H orst und A d o lf ein­ gegangen (Abbildung 5). H orst — offenbar allgemein im 20. Jahr­ hundert beliebt geworden 61 und über längere Zeit hin mit relativ hohen, wenngleich nicht immer mit höchsten Prozentwerten ausgestattet — wird gelegentlich mit der Nachwirkung des 1930 ermordeten Horst Wessel in Verbindung gebracht.62 Ob dies wirklich zutrifft, läßt sich schwer auf in­ direktem Wege feststellen. Auch hier befindet sich die Verlaufskurve im­ merhin bereits in der Diffusionsphase, wie Abb. 5 zeigt. Eine erweiterte Materialerfassung würde insbesondere die erste Phase klarlegen und dabei auch feststellen lassen können, ob dieser ursprünglich nur im Niederdeut­ schen vorkommende seltene Name tatsächlich durch Klopstocks “Her­ manns Schlacht” bekannt wurde.63 — Der Name A d o lf jedenfalls ist, das gilt offenbar auch für andere Orte und Gebiete, nie über geringere Werte im Dritten Reich hinausgekommen, wenn in der Literatur zuweilen auch anderes behauptet wird .64 V on A d o lf abgeleitete weibliche VN blieben ebenfalls vereinzelt: 1933 wurde zweimal und 1934 einmal A d o lfin e in Kiel jeweils als Drittname vergeben.65 Ein weiterer, starken Wandlungen unterworfener Komplex ist die Ein- bzw. Mehrnamigkeit.66 Abbildung 6 veranschaulicht die Entwick­ lung im Standesamtsbereich Bad Segeberg, die bei den Mädchen- und Jungen-VN etwa gleich verläuft und daher zusammengefaßt ist. Es ist deutlich, daß innerhalb von 30 Jahren die Mehrnamigkeit insgesamt ab- und die Einnamigkeit zunimmt. Eine deutliche Gegenentwicklung läßt sich allerdings während des ersten Jahrzehnts feststellen. Ab 1944 geht abrupt die Einnamigkeit zurück, die Zweinamigkeit und auch die Drei- namigkeit werden demgegenüber beliebter, um dann ab 1947/48 den al­ ten Entwicklungstrend fortzusetzen. Ehe nach dem Grund für diese Ent­ wicklung gefragt wird, soll zum Vergleich Material aus Laboe herangezo­ gen werden, das zeitlich weiter zurückgreift: Abbildung 7 zeigt, daß die Zunahme der Einnamigkeit einerseits und die Abnahme der Mehrnamigkeit andererseits hier ganz erheblich sind. Die Entwicklungs­ linien zeigen auch den deutlichen Knick in den 40er Jahren und zusätz­ lich einen solchen in den Jahrzehnten 1915-17 und 1920-22. Hier frei­ lich wird der Verlust der Einnamigkeit durch den besonderen Anstieg der Dreinamigkeit sozusagen kompensiert. — Dieses Bild gibt uns nun auch die Erklärung für diese Entwicklung an die Hand, nämlich: jeweils um das Ende der beiden Weltkriege haben offensichtlich recht viele Eltern

186 187 Abb. 7: Anzahl der Vornamen für Mädchen und Jungen in Laboe (nach P. Wenners)

------1 Vorname ------2 Vornamen —------3 Vornamen ...... 4 Vornamen

Jahrgani 1910-12 1915-17 1920-22 1955-55 1941-45 1 9 4 6 -4 8 1 9 5 8 -6 0 1 9 6 4 -6 6 1 9 6 9 -7 1

188 ihren Kindern in Erinnerung an nahverwandte Kriegstote deren Rufna­ men als Zweit- oder Drittnamen gegeben. Wir haben es dabei also mit einer besonderen Art der Nachbenennung zu tun. Diese Deutung läßt sich durch Befragungen erhärten .67 Es wird damit zugleich noch einmal ein Bogen zurückgeschlagen zu den Abbildungen über den Anteil der deutschen VN (Abb. 2 und 3). Dort hatte sich nach dem Kriege ein An­ stieg der deutschen VN gezeigt im Gegensatz zur im ganzen rückläufigen Tendenz. Dabei wirkt sich unmittelbar aus, daß durch diese Benennun­ gen nach der älteren Generation eben noch vorwiegend oder eher deutsche VN betroffen waren. Für den Bereich der Probstei insgesamt kann festgestellt werden, daß von 1910 an immer die Einnamigkeit bei den Mädchen deutlicher als bei den Jungen ausgeprägt erscheint.68 Das zeigt sich auch, wenn man die durch­ schnittliche VN-Zahl je Kind errechnet. Tabelle 4 , für die alle Na­ menvarianten einzeln mitgezählt wurden, verdeutlicht über den in Frage stehenden Faktor hinaus, daß bei den Mädchen — trotz der niedrigeren VN-Durchschnittszahl je Kind — die Zahl der verschiedenen Namen (= VN-Schatz) bedeutend höher ist. Die Buntheit und die Vielfalt der

Tabelle 4 : Verteilung der Vornamen (VN) auf Mädchen und Jungen im Bereich der Probstei, 1910-1971 (n.P. Wenners)

M ädchen Jungen

Zahl der Geburten 3 783 4 116

VN-Nennungen 6 264 7 245

VN-Zahl je Kind 1,66 1,76

VN-Schatz 510 390

Mädchennamen scheint damit das zu bestätigen, was Wilhelm Hester- k am p 69 bei entsprechendem Befund sagt: “Hier zeigt sich deutlich die Auffassung, daß gerade für das Mädchen der Vorname ein wesentlicher Teil seiner Schönheit ist, der durch eine individuelle Gestaltung den per­ sönlichsten Bereich des einzelnen Menschen bildet.” — Die Verteilung der Mehrnamigkeit bei Mädchen und Jungen ist aber offenbar nicht über­ all gleich. So zeigt sich in Kiel eine stärkere Angleichung; die Mehrnamig­ keit bei Mädchen ist hier nach den ausgewerteten Jahrgängen nur wenig geringer.70 Im Standesamtsbereich Bad Segeberg ist nach den Feststel­ lungen von Rainer Frank 71 bei den Mädchen die Mehrnamigkeit sogar

189 häufiger. Insgesamt nimmt jedoch auch hier die Mehrnamigkeit stark ab. Damit unterscheidet sich diese Entwicklung deutlich von derjenigen, wie sie Gerhard Koss in Weiden/Opf. mit Umgebung für die Jahre 1969/70 festgestellt hat.72 Dort zeigt sich ein beträchtliches Überwiegen der Zweinamigkeit sowohl bei den Mädchen als auch bei den Jungen: von insgesamt 193 Kindern tragen 145 zwei VN, 24 drei und ebenfalls nur 24 einen. Ob sich mit der starken Tendenz zur Einnamigkeit im Norden die Vorliebe für den schlichten, unkomplizierten VN in einen unmittel­ baren Zusammenhang bringen läßt, kann vermutet werden. Bei einer Mo­ tivbefragung im Bad Segeberger Bereich stand der als schlicht und un­ kompliziert empfundene VN mit 23,24% weit an der Spitze, danach erst folgte mit 15,93% der als wohlklingend bzw. zum Familiennamen passen­ de V N .73 Wie nun verhalten sich die einzelnen sozialen Schichten der Ein- und Mehrnamigkeit gegenüber? Läßt sich etwa bei den für den Bereich der Probstei so bedeutsamen Gruppen der Bauern und Fischer ein spezifi­ sches Verhalten feststellen? Abbildung 8 zunächst zeigt im Prin­ zip die gleiche Tendenz wie sie auf Abb. 7 sichtbar wird, doch ist in der Anfangsphase deutlich die Zweinamigkeit höher und entsprechend die Dreinamigkeit niedriger. Ferner sind die Einschnitte um das Ende der beiden Weltkriege viel stärker ausgeprägt. — Bei den Fischern als schon immer recht geschlossener Berufsgruppe mit ausgeprägtem Gemeinschafts­ geist tritt gegenüber den Bauern ein deutlicher Unterschied auf. Nach Abbildung 9 hat insgesamt die Einnamigkeit nicht die Bedeutung wie bei den Bauern und bei der übrigen Bevölkerung, wiewohl nach 1946- 48 auch ein rapides Ansteigen derselben zu beobachten ist. Sie erreicht aber längst nicht den Anteil wie bei den Bauern. Demgegenüber ist die Mehrnamigkeit stärker, anfänglich insbesondere die Dreinamigkeit. Das bestätigt die Beobachtungen von Bernhard Becke in Vorpommern, wo zwischen den beiden Weltkriegen jedes 3. Fischermädchen und jeder 2. Fischerjunge sogar 4 VN erhielten .74 Abb. 9 zeigt, daß zunächst offen­ bar die Dreinamigkeit zugunsten der Zweinamigkeit abgebaut wurde und diese dann nach dem Zweiten Weltkrieg zugunsten der Einnamigkeit. Die unterschiedliche VN-Entwicklung bei Bauern und Fischern soll noch ein­ mal in einer Synopse festgehalten werden, wobei die VN von drei Zeitab­ schnitten jeweils zusammengestellt sind (Tabelle 5 ). Die teilw eise großen Unterschiede treten hier deutlich zutage.

190 191 Abb. 9: Anzahl der Vornamen für Fischerkinder im Bereich der Probstei 80 (nach P. Wenners)

70 1 Vorname ------2 Vornamen 3 Vornamen ...... 4 Vornamen

60

50

40

30

20

10

0 i > , i | | m. | ■ — | | i T'« Jahrgang 1S 12 1915-17 1920-22 1933-35 1941-43 1946-48 1958-60 1964-66 1969-71 Tabelle 5 : Zahl der Vornamen (in %) für Bauern- und Fischerkinder im Bereich der Probstei (n. P. Wenners)

1910-1922 1933-1948 1958-1971 Bauern 1 Fischer Bauern 1 Fischer Bauern l Fischer i 1 1 V ornam e 9,3 1 8,4 39,3 18,4 73,1 '6 5 ,5 j _ 2 V ornam en 73,9 49,6 50,9 58,5 24,6 •29,9 i 3 u.mehr VN 16,8 1 42,0 9,8 23,1 2,3 ' 4,6 i i

Prüft man das VN-Material aus dem Standesamtsbereich Bad Segeberg nach dem Schichtenmodell (Tab. 1), zeigt sich ebenfalls eine schichten­ spezifische Verteilung. Die Mehrnamigkeit kommt vorwiegend in den obe­ ren Schichten vor, deutlich weniger aber in Schicht 5. Entsprechend läßt sich in den oberen Schichten auch eine Vorliebe für den längeren Rufna­ men konstatieren .75 Im übrigen zeigt gerade die Namenlänge eine ganz auffällige Opposition zwischen weiblichen und männlichen Rufnamen. Das verdeutlicht Tabelle 6 . Es scheint, daß einerseits die Präferenz der Mehrsilbigkeit ebenfalls zur genannten Kategorie des Schmückenden gerechnet werden kann und andererseits die Vorliebe für das Schlicht/Un­ komplizierte eher zur “Einsilbigkeit” neigt. Hierzu sollten noch weitere Untersuchungen angestellt werden.

Tabelle 6 : Verteilung der Namenlänge, auf Grund einer Zufallsaus­ wahl von Mädchen- und Jungen-Ruf-(Erst)namen im Standesamtsbereich Bad Segeberg (n. R. F rank) Vier- (und Einsilber Zweisilber Dreisilber Mehr-)silber

M ädchen - 777=69,81% 201 = 18,06% 135=12,13%

Jungen 756=51,60% 180=12,29% 459=31,33% 70= 4,78%

Schichtenspezifische Unterschiede ergeben sich immer wieder bei einzel­ nen VN. Hier können sich örtliche bzw. regionale oder S tadt: Land-Be­ sonderheiten herausbilden. So zeigt sich etwa zeitweise eine ganz deutli­ che Vorliebe für niederdeutsche und friesische Namenformen in der Bauern- und Fischerbevölkerung der Probstei, demgegenüber finden fremdsprachige Modenamen in diesen Gruppen teilweise keine oder nur

193 geringe Berücksichtigung; z.B. sind die besonders für Kiel so bezeichnen­ den Modenamen N icole und Tanja (s. Tab. 2) bei den Fischern bis 1970 (noch) kein einziges Mal vergeben worden .76 Solche schichtenspezifisch verteilten Vorkommen lassen sich einfach und übersichtlich durch Namensoziogramme darstellen. Sozio- gramme sind formalisierte graphische Darstellungen.77 Namensoziogram­ me werden erstellt, indem die einzelnen Nennungen eines VN jeweils mit der zugehörigen Schichtzahl und dem Untersuchungszeitraum notiert werden. Das sei an wenigen einfachen Beispielen aus dem Bad Segeberger Standesamtsbereich demonstriert:78 E ditha (1940-1970) 88/81 Dieses Soziogramm 79 zeigt also, daß die “exklusivere” Namen-Variante fast nur in der sehr hohen Schicht 8 v o rk o m m t.80 Telse (1940-1970) 655555/55531 Telse, eine speziell niederdeutsch-regionale Variante des insgesamt häufi­ gen VN E lisabeth mit unorganischem i-Vorschlag81, kommt nur als Ruf­ name vor, und zwar hauptsächlich in der Schicht der Selbständigen, die als vorwiegend Alteingesessene offenbar den regional verwurzelten Na­ men bewußt gewählt haben. Eine Aufschlüsselung nach Stadt-Land-Vor- kommen zeigt außerdem, daß nur zwei Belege aus der Stadt stammen .82 Entsprechendes gilt auch für die nicht so zahlreichen Vorkommen der Rufnamen-Varianten E lsbeth und Lisa von derselben Grundform Elisabeth. An einer gegenüber dem Namensoziogramm aufwendigeren Tabelle, die aber zugleich Schichtzuordnung und Stadt-Land-Verteilung festhält, sei das verdeutlicht (Tabelle 7 ). Das daraus ablesbare deutliche Über­ gewicht von Schicht 5 im ländlichen Bereich vergleicht sich demjenigen von Telse und ließe sich weiteren Beispielen zur Seite stellen.83 Horst-Dieter (1940-1970) 865222/111111 Dieser 1953 zuletzt vergebene Rufname ist mit 75% in Arbeiterfamilien v ertreten .84

194 Tabelle 7 : Schichtenspezifische Zuordnung der Rufnamen Elsbeth (1940-1970) und Lisa (1940-1970) im Standesamtsbe­ reich Bad Segeberg (n. R. Frank)

E lsbeth Lisa S chicht Stadt Land Stadt Land

9 - - - -

8 - - - -

7 - -- -

6 - - - -

5 - 5 2 4

4 - ---

3 1 - - -

2 - 1 1 2

1 - 1 - -

0 - - --

Die Frage nun, ob sich die Schichtzugehörigkeit des Namengebers für den Wandel in der Namengebung, für die Entwicklung auch eines Namens zum Modenamen als wichtig erweist und ob Begriffe wie “Mehrwert”, “psychologisches Übergewicht” oder “Prestige” zur Erklärung dieser Vorgänge angebracht sind85, läßt sich für die Gegenwart nicht endgültig beantworten. Einzelbeobachtungen und -Studien, die durch systemati­ sche Untersuchungen auf breiter Basis zu vertiefen wären, deuten auf eine positive Beantwortung dieser Frage hin .86 Nach einer detaillierten Analyse des Bad Segeberger Materials stellt Rainer Frank fest: “Die Richtung der Modenamenausbreitung in ihrer soziologischen Dimension hat sich auch in der nicht ständischen Gesellschaft nicht verändert. Die Initiatorengruppen von Modenamenwellen sind aber in der Moderne nicht mehr eindeutig fixierbar, ebensowenig die Ausbildung und Aus­ strahlung von Namen von irgendwelchen städtischen Zentren aus ...

195 Der soziologische Stellenwert der Initiatorengruppe liegt zumeist über ... der Arbeiterschicht, also in den Dienstklassen und vor allem in der Aka­ dem ikerschicht” .87 Es sollte hier am Beispiel der Personennamen gezeigt werden, daß der onomatologische Bereich systemexternen Wirkungen gegenüber beson­ ders offen ist. Der Wandel im Namengebrauch, wie er im 20. Jahrhundert und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten ist, hat wesentliche Ursachen in den tiefgreifenden sozialen Veränderungen die­ ser Zeit. Durch den Abbau alter Namengebungstraditionen bieten sich dem einzelnen Namengeber viele Möglichkeiten der Wahl. Er wählt nach bestimmten Gesichtspunkten, doch er folgt dabei — nicht selten unbe­ wußt — Entwicklungstendenzen, Zeitströmungen, Modetrends. Die eigent­ lichen Motive der Namenwahl im einzelnen exakt zu erfassen, ist freilich mit besonderen Schwierigkeiten verbunden.88 Der Weg, dies über ein Interview zu tun, ist sehr aufwendig und zeitraubend, da ein möglichst umfangreiches, nach sozialen Schichten gestaffeltes Material zu erfragen wichtig wäre, um auf der Basis der vielfältigen Einzelgründe übergreifen­ de Motivationen feststellen zu können. Ein anderer Weg ist die Fragebo­ generhebung. Dieser ist in Schleswig-Holstein beschritten worden. Eine erste Aktion in allen Schulen der Stadt Kiel führte zu einem quantitativ guten Ergebnis; die Auswertung der Datenmenge auf den rd. 7 500 aus­ gefüllt zurückerhaltenen Fragebögen ist noch nicht abgeschlossen. Sie ist nur durch EDV-Verfahren möglich. Das gilt auch für die Informationen, die durch ein entsprechendes Unternehmen mit dem überarbeiteten Fra­ gebogen auf den sprachlich interessanten nordfriesischen Inseln mit ihrem zunehmenden Fremdenverkehr durchgeführt wird. Es steht zu hoffen, daß damit für einen bestimmten Zeitabschnitt exemplarisch ein umfassen­ deres Bild über das Namengebungsverhalten im Bereich der VN gewon­ nen wird, als dies bisher möglich war.89

Anmerkungen

1 M.J.Chr. Dolz, Die Moden in den Taufnamen; mit Angabe der Wortbedeu­ tung dieser Namen. Leipzig 1825. 2 Ebd. 3. 3 Düsseldorf und Wien 1971. Vgl. auch dens., Mode; in: W. Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl. Stuttgart 1969, 717 f. 4 Hierzu vgl. zuletzt G. Storz; nach einer Mitteilung in: Der Sprachdienst 20 (1976), H.l, 13. — Zur Frage vgl. besonders J. Stave, Modewörter — Lieblinge oder Stiefkinderder Sprache? in: Muttersprache 72 (1962), 79-84.

196 H. Bausinger, Sprachmoden und ihre gesellschaftliche Funktion; in: Ge­ sprochene Sprache, Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1972 (= Sprache der Gegenwart 26), Düsseldorf 1974, 245-266. H. Eggers, Deutsche Sprache der Gegenwart im Wandel der Gesellschaft; in: Sprache — Gegenwart und Geschichte. Probleme der Synchronie und Dia­ chronie. Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1968 (= Sprache der Gegenwart 5), Qisseldorf 1969, 9-29, daraus 14. Hinzuweisen ist hierzu auf bestimmte Wortfeldstrukturen. Vgl. z.B. J. Goossens, Strukturelle Sprachgeographie. Eine Einführung in Methodik und Ergebnisse (= Sprachwissenschaftliche Studienbücher, Zweite Abteilung), Heidelberg 1969, 70 ff. J. Kuryiowicz, La position linguistique du nom propre; in: E.P. Hamp e.a. (Hrsg.), Readings in Linguistics II, Chicago, London 1966, 362-370. Vgl. hierzu und zum folgenden besonders: V.D. Belen’kaja, Die Toponoma­ stik als soziolinguistisches Problem; in: E. Eichler, W. Fleischer, A.V. Superanskaja (Hrsg.), Sowjetische Namenforschung, Berlin 1975, 43-49; ders., Über die Kategorien der Toponomastik; in: E. Eichler e.a., a.a.O. 51- 58; V. Blanär, Das spezifisch Onomastische; in: Der Name in Sprache und Gesellschaft. Beiträge zur Theorie der Onomastik (= Dt.-Slaw. Forschungen 27), Berlin 1973, 31-51; F. Grucza, Beiträge zu einer stratifikationellen Theorie der Eigennamen. Demonstriert anhand der Transpositionsprozesse; ebd. 89-103; W. van Langendonck, Zur semantischen Syntax des Eigenna­ mens; in: Namenkundliche Informationen 23 (1973), 14-24; ders., Über das Wesen des Eigennamens; in: Onoma 18 (1974), 337-361; A.A. Reformatskij, Zur Stellung der Onomastik innerhalb der Linguistik; in: E. Eichler e.a., a.a.O. 11-32; A.V. Superanskaja, Sprachliches Zeichen und Eigenname; in: E. Eichler e.a., a.a.O. 33-41; H. Walther, J. Schultheis, Soziolinguistische Aspekte der Eigennamen; in: R. Grosse, A. Neubert (Hrsg.), Beiträge zur Soziolinguistik (= Ling. Studien), Halle/Saale 1974, 187-205 (hier S. 189 über “semantische Grundwerte (semantische Universalien)” der nomina propria); R. Wimmer, Der Eigenname im Deutschen. Ein Beitrag zu seiner linguistischen Beschreibung (= Ling. Arbeiten 11), Tübingen 1973 (darin viele weitere einschlägige Titel). J.W. v. Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Zehntes Buch; in: Goethes sämtliche Werke in fünfundvierzig Bänden, Leipzig: Reclam o.J., 23. Band, S. 143, daselbst auch das Zitat aus Herders scherzhaft-höhnischem Brief, der Goethes Bemerkung provozierte: Wenn des Brutus Briefe dir sind in Ciceros Briefen, Dir, den die Tröster der Schulen von wohlgehobelten Brettern, Prachtgerüstete, trösten, doch mehr von außen als innen, der von Göttern du stammst, von Goten oder vom Kote, Goethe, sende m ir sie. VgL auch B. Boesch, Die Eigennamen in ihrer geistigen und seelischen Be­ deutung für den Menschen; in: Der Deutschunterricht 9 (1957), H. 5, 32-50; R. Katz, Psychologie des Vornamens (= Beih. z. Schweizerischen Zs. f. Psychologie u. ihre Anwendungen 48), Bern und Stuttgart 1964, passim. Nach A. Bach, Deutsche Namenkunde I: Die deutschen Personennamen 1, 2. Aufl. Heidelberg 1952, § 1; vgl. hierzu auch A.V. Superanskaja, a.a.O. (Anm. 9). 197 12 Vgl. F. Debus, Aspekte zum Verhältnis Name — Wort. Groningen 1966, bes. 6 ff. 13 Hierzu vgl. allgemein bes. H. E. Brekle, Semantische Analyse von Wertadjek­ tiven als Determinanten persönlicher Substantive in William Caxtons Prolo­ gen und Epilogen, Diss. Tübingen 1963, 31; ders., Semantik. Eine Einfüh­ rung in die sprachwissenschaftliche Bedeutungslehre (= UTB 102), München 1972, bes. 65; H. Geckeier, Strukturelle Semantik und Wortfeldtheorie, München 1971, 70 ff. 14 O. Leys, Sociolinguistische Aspekten van de Zuidnederlandse Persoonsnaam- geving. Vortrag, gehalten am 7. Febr. 1976 in Amsterdam, Mskr.; s.o. Fuß­ note*); ders., Sociolinguistic Aspects of Namegiving Patterns; in: Onoma 18 (1974), 448-455. 15 Vgl. hierzu m it einschlägigen Literaturhinweisen R. Krien, Namenphysiogno­ mik. Untersuchungen zur sprachlichen Expressivität am Beispiel von Personen­ namen, Appellativen und Phonemen des Deutschen. Tübingen 1973; ferner M. Willberg, Abgewertete Vornamen; in: Muttersprache 75 (1965), 330-342. 16 Vgl. V.A. Nikonov, Die russischen Personennamen der Gegenwart; in: E. Eichler e.a. (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 9), 117-133, darin 133. 17 Ebd. 133; vgl. hierzu auch H. Walther, Soziolinguistisch-pragmatische Aspekte der Namengebung und des Namengebrauchs; in: Namenkundliche Informa­ tionen 20 (1972), 49-60. 18 Hierzu vgl. F. Debus, a.a.O. (Anm. 12) 9; ders., Deutsche Namengebung im Wandel, dargestellt am Beispiel Schleswig-Holstein; demnächst in: BNF NF. 19 Nicht selten geben Eltern an, “zur Zeit der Namengebung geglaubt zu haben, mit den gewählten Namen im näheren Umkreis allein zu sein. Mangelnde Kommunikation von Bewohnern gleicher Häuser hat also abnehmenden Individualismus in der Namengebung zur Folge, oder umgekehrt ausge­ drückt: die Anonymität moderner Massensiedlungen hat einigen Einfluß auf die Namengebung, ganz besonders auf die Bildung von Modenamen, auf Namen also, die sich an einem Ort mangels Verbindung der Einwohner unter­ einander überdurchschnittlich stark verbreiten können”; L. Bosshart, Motive der Vornamengebung im Kanton Schaffhausen von 1960 bis 1970, Diss. Freiburg i.d. Schweiz 1973, 79. - Diese Angaben sind durch eigene Befra­ gungen mannigfach bestätigt worden. 20 H. Berger betont im Blick auf die Namengebung mit Recht: “Politische, wirtschaftliche, konfessionelle und soziale Umwälzungen bleiben wirkungs­ los, wenn sie nicht von einem entsprechenden Mentalitätswandel, also einem psychologischen Umbruch, gefolgt sind”; H. Berger, Volkskundlich­ soziologische Aspekte der Namengebung in Frutigen (Berner Oberland) (= Sprache und Dichtung NF 14), Bern 1967, 326. 21 A.a.O. (Anm. 9) 188. 22 Vgl. dazu auch: Namenforschung heute. Ihre Ergebnisse und Aufgaben in der Deutschen Demokratischen Republik. Von einem Autorenkollektiv, Berlin 1971, 46.

198 23 Th. Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage (= Soziologische Gegenwartsfragen 1), Stuttgart 1932, 77; vgl. hierzu auch R. König (Hrsg.), Soziologie (= Das Fi­ scher Lexikon 10), Frankfurt 1962, 180 ff.; K. Mannheim, Mensch und Ge­ sellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 1958. Mannheim weist darin auf die Schwierigkeit hin, die Zusammenhänge zwischen seelischem Wandel des Menschen und gesellschaftlichem Strukturwandel darzustellen. 24 “Cts Element der Mentalität ist im Begriff der Schicht schon enthalten, denn die Schicht i s t ein Bevölkerungsteil, dem eine typische Mentalität zuge­ schrieben wird...: der Mentalität entspricht die Schicht (oder Klasse) a.a.0. (Anm. 23) 78 f. 25 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 2. Aufl. Mün­ chen 1972, bes. 86 ff. 26 Vgl. dazu F. Debus, Soziologische Namengeographie. Zur sprachgeographisch- soziologischen Betrachtung der Nomina propria; in: W. Mitzka (Hrsg.), Wort­ geographie und Gesellschaft (= Festgabe f. L.E. Schmitt), Berlin 1968, 28- 48; E. Pulgram, Historisch-soziologische Betrachtung des modernen Familien­ namens; in: BzN 2 (1950/51), 132-165, bes. 146; W. Will, Deutsche Namen­ forschung; in: Germanische Philologie. Ergebnisse und Aufgaben (= Fest­ schrift f. Otto Behaghel), Heidelberg 1934, 137-154, darin 153 f.; H. Wolf, Sprachwandel in soziolinguistischer Sicht; in: Germanistische Linguistik 6 (1970) 696-716. 27 Vgl. R. Dahrendorf, a.a.O. (Anm. 25) 88: “es gibt soziale Schichtung; sie ist eine harte Tatsache der modernen wie jeder anderen Gesellschaft”. Dagegen H. Naumann, Entwicklungstendenzen in der modernen Rufnamengebung der Deutschen Demokratischen Republik; in: Der Name in Sprache und Ge­ sellschaft. Beiträge zur Theorie der Onomastik (= Dt.-slaw. Forschungen 27), Berlin 1973, 147-192, darin 187: “Nach der großen historischen Wende von 1945 wurde nicht nur die Kluft zwischen Arbeitern und Angestellten in der Namengebung sehr rasch überwunden, sondern es kam in unserer Republik überhaupt zur Überwindung der sozial differenzierten Namengebung, weil sich die Gesellschaftsstruktur grundlegend verändert hatte”. 28 Aus der umfangreichen Literatur zu dieser Thematik sei besonders hervorge­ hoben: P. Atteslander, Methoden der empirischen Sozialforschung, 4. Aufl. Berlin, New York 1975; K.M. Bolte, K. Aschenbrenner, R. Kreckel, R. Schultz-Wild, Beruf und Gesellschaft in Deutschland. Berufsstruktur und Berufsprobleme (= Struktur und Wandel der Gesellschaft, Reihe B der Beitr. z. Sozialkunde 8), Opladen 1970; H. Daheim, Soziologie der Berufe; in: R. König (Hrsg.), Handbuch der Empirischen Sozialforschung II, Stuttgart 1969, 358-407; N. Dittmar, Soziolinguistik. Exemplarische und kritische Darstellung ihrer Theorie, Empirie und Anwendung. Mit kommentierter Bibliographie (= FAT 2013), Frankfurt 1975, bes. 290 ff.; F. Fürstenberg, Die Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland (= UTB 191), Opladen 1972; F. Hager, H. Haberland, R. Paris, Soziologie + Linguistik. Die schlech­ te Aufhebung sozialer Ungleichheit durch Sprache, Stuttgart 1973, bes. 185 ff.; D.V. Glass, R. König (Hrsg.), Soziale Schichtung und soziale Mobi­ lität (= Kölner Zs. f. Soz. u. Sozialpsychologie, Sonderheft 5), Köln und Opladen 1961 (darin besonders: K.M. Bolte, Einige Anmerkungen zur Proble-

199 matik der Analyse von "Schichtungen” in sozialen Systemen, S. 29-53; E.K. Scheuch unter Mitarbeit von H. Daheim, Sozialprestige und soziale Schichtung, S. 65-103; L. Rosenmayr, Soziale Schichtung, Bildungsweg und Bildungsziel im Jugendalter, S. 268-283); S. Jäger, J. Huber, P. Schätzte, Sprache — Sprecher — Sprechen. Probleme im Bereich soziolinguistischer Theorie und Empirie (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Spra­ che 8), Mannheim 1972; Th. Luckmann, Soziologie der Sprache; in: R. König (Hrsg.), Handbuch der Empirischen Sozialforschung II, Stuttgart 1969, 1050-1101; H. Moore, G. Kleining, Das soziale Selbstbild der Gesell­ schaftsschichten in Deutschland; in: Kölner Zs. f. Soz. u. Sozialpsychologie 12 (1960), 86-119; G. Myrdal, Objektivität in der Sozialforschung (= ed. suhrkamp 508), Frankfurt 1971; J. Schlee, Sozialstatus und Sprachverständ­ nis. Eine empirische Untersuchung zum Instruktionsverständnis bei Schul­ kindern und Vorschulkindern aus unterschiedlichen Sozialschichten (= Spra­ che und Lernen 30), Düsseldorf 1973. 29 Vgl. hierzu ausführlicher: F. Debus, J. Hartig, H. Menke, G. Schmitz, Namen­ gebung und soziale Schicht. Bericht über ein Projekt zur Personennamenkun­ de; in: Naamkunde 5 (1973), 368-405. Die Schichteneinteilung ist nunmehr gegenüber 1973 vervollständigt. Zu bedenken ist dabei, daß die beiden Ex­ tremschichten “Eliten” und “Unterschicht” unterrepräsentiert sind und auch keine eindeutigen Mentalitätsmerkmale besitzen; vgl. R. Dahrendorf, a.a.O. (Anm. 25) 97. 105. - W. Hesterkamp, Einflüsse sozialer Verhältnisse auf die Namenwahl (dargestellt an der Vornamengebung in Essen-Werden seit der Jahrhundertwende); in: Muttersprache 75 (1965), 33-40 geht eben­ falls von der Berufszugehörigkeit des Vaters aus, unterscheidet aber nur drei Schichten. L. Bosshart, a.a.O. (Anm. 19) 5 differenziert lediglich in zwei Schichten. Demgegenüber arbeitet auch W. Labov mit zehn sozioökonomi- schen Schichten; vgl. z.B. dens., Zum Mechanismus des Sprachwandels; in: D. Cherubim (Hrsg.), Sprachwandel. Reader zur diachronischen Sprachwis­ senschaft (= Grundlagen der Kommunikation), Berlin, New York 1975, 305- 334. 30 Vgl. z.B. L. Rosenmayr, a.a.O. (Anm. 28) 272, der sein eindimensionales Schichtenmodell durch die Beobachtung begründet, “daß ein Merkmal, das stellvertretend für ein Maß des sozialen Status dienen kann, nämlich der Be­ ruf des Familienerhalters, mit einer Reihe von anderen sozial-ökonomischen und kulturellen Merkmalen in engstem Zusammenhang stand”. K.M. Bolte, Zum Verhältnis von Mensch, Arbeit und Gesellschaft; in: K.M. Bolte e.a., a.a.O. (Anm. 28) 226-248; darin S. 239 stellt er fest, “daß die Berufsposition ein entscheidender Faktor ist, der in unserer Gesellschaft das ‘Prestige’ eines Menschen (seinen gesellschaftlichen Status und seine Schichtzugehörigkeit) mitbestimmt”. J. Schlee, a.a.O. (Anm. 28) 49: “Die Berufsbezeichnung ... scheint, sofern sie die berufliche Tätigkeit scharf definiert, das für eine soziale Klassifizierung am besten zu verwendende Einzelsymbol darzustellen ...”. Es wird öfters betont, daß Berufe bzw. Berufsgruppen sich durch je spezifi­ sche Mentalitäten und Verhaltensweisen auszeichnen; so in: K.M. Bolte e.a., a.a.O. (Anm. 28) passim. 31 Noch heute gilt, “daß die Berufswahl in hohem Maße schichtgebunden er­ folgt, also trotz der ... Veränderungen immer noch primär bestimmt wird von der sozio-ökonomischen Herkunft des Berufswählers”; K. Aschenbrenner,

2 0 0 Aspekte und Probleme der Berufswahl; in: K.M. Bolte e.a., a.a.O. (Anm. 28), 168-199, Zitat 175. Zur Berufsmobilität vgl. bes. K.M. Bolte, Berufsstruktur und Berufsmobilität; ebd. 150-167; ders., Die Berufsstruktur im industriali­ sierten Deutschland - Entwicklungen und Probleme, ebd. 32-149. 32 R. Dahrendorf, a.a.O. (Anm. 25) 96. 33 Vgl. etwa: Namenforschung heute, a.a.O. (Anm. 22) 23. 96; Die deutsche Sprache. Kleine Enzyklopädie in zwei Bänden, Leipzig 1970, 658 f.; R. Frank, Zur Frage einer schichtenspezifischen Personennamengebung. Na- menkundliche Sammlung, Analyse und Motivuntersuchung über den Kreis und die Stadt Bad Segeberg. Diss. (Masch.) Kiel 1976; R. Katz, a.a.O. (Anm. 10) 75 ff.; G. Kettmann, Zur Rufnamengebung bei Jungen in Halberstadt und Aspenstedt (Krs. Halberstadt) vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart; in: Muttersprache 74 (1964), 237-240; G. Koss, Motivationen bei der Wahl von Rufnamen; in: BNF NF 7 (1972), 159-175; W. Seibicke, Wie nennen wir unser Kind? Ein Vomamenbuch, Lüneburg 1962, 34 ff.; ders., Modenamen; in: Der Sprachdienst 14 (1970), 51-55. Vgl. auch V. Kohlheim, Namenmode und Selektionsprinzipien. Zur Terminologie der Sozio-Onomastik; demnächst in BNF NF. 34 H. Bausinger, a.a.O. (Anm. 5) 246. 35 W. Seibicke, Wie nennen ..., a.a.O. (Anm. 33) 41. Seibicke unterscheidet im übrigen zwischen “Modenamen” und “modischen Namen”: “Als modisch kann man allgemein solche Namen bezeichnen, die, bisher unbekannt oder ungewöhnlich, plötzlich irgendwo auftauchen und sich verhältnismäßig rasch und stark verbreiten, ohne deswegen an Häufigkeit aus der Menge der gebräuchlichsten Namen hervorzutreten” (ebd. 42); ähnlich auch G. Koss, a.a.O. (Anm. 33) 173 ff. 36 Vgl. z.B. Th. Herrle, Die Mode in den Vornamen; in: Muttersprache 66 (1956), 18-21, darin 21; W. Hesterkamp, a.a.O. (Anm. 29) 34 f. 37 Vgl. hierzu die Unterscheidung Seibickes zwischen “Modenamen” und “mo­ dischen Namen” ; s.o. Anm. 35. 38 Ich stütze mich hierbei auf R. Frank, a.a.O. (Anm. 33) 13 ff.; 120 ff. Wichtig ist vor allem das Werk von T. Hägerstrand, The Propagation of Innovation Waves, Lund 1952. — Auch H. Bausinger, a.a.O. (Anm. 5) 259 f. bringt die­ sen Ansatz. 39 Vgl. z.B. W. Hesterkamp, a.a.O. (Anm. 29) 36 oder Chr. Andersen, Namen­ gebung in Nordfriesland. Dargestellt am Beispiel der Bökingharde, 1760- 1970. Diss. (Masch.) Kiel 1976. 40 Vgl. H. Bausinger, a.a.O. (Anm. 5) 247 zu den Modewörtern. 41 Darauf weist auch H. Naumann, a.a.O. (Anm. 27) 150 hin. 42 Hierzu vgl. näher R. Frank, a.a.O. (Anm. 33). 43 Vgl. P. Wenners, Die Entwicklung der Namengebung im Bereich der Probstei seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Staatsexamensarbeit Kiel 1975. Für Heikendorf sind in dieser Arbeit sämtliche Geburtsjahrgänge von 1910-1971 berücksichtigt, für die eigentliche Probstei eine Auswahl von 27 Jahrgängen (vgl. Abb. 7 ff.). Vgl. ferner W. Mitzka, Die Probstei bei Kiel und die Bezie-

201 hung des Holsteinischen zum Ostfälischen; in: Korrespondenzblatt des Vereins f. nd. Sprachforschung 55 (1942), 82-86. 44 14-18 % aller Erwerbstätigen sind hier Selbständige, vorwiegend Bauern. 45 Ihr Anteil wurde durch die Zuwanderung preußischer, pommerscher und mecklenburgischer Fischer nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt. 46 Ober die 1972/73 durchgeführte Fragebogenaktion zur modernen VN-Ge- bung vgl. F. Debus e.a., a.a.O. (Anm. 29) mit Angaben zur ökonomischen Struktur. Als Basis für die folgenden Erörterungen dienen besonders: I. Lüpke-Müller, Namengebungspolitik und -praxis in der Zeit des Dritten Reiches am Material der Stadt Kiel. Staatsexamensarbeit Kiel 1974; F. Rast, “Modenamen”. Merkmale heutiger Vornamengebung, dargestellt am Beispiel der Stadt Kiel. Seminararbeit Kiel 1971. Durch diese Arbeiten sind aus Stan­ desamtsunterlagen die Jahrgänge 1928, 1933, 1934, 1939, 1941, 1946, 1959, 1967 und 1970 erfaßt. 47 Vgl. zum Einfluß der Massenmedien in diesem Zusammenhang F. Debus, Namengebung. Möglichkeiten zur Erforschung ihrer Hintergründe; in: Onoma 18 (1974), 456-469, darin 461 ff. 48 Vgl. dazu näher F. Debus, ebd. 460. 49 Vgl. z.B. A. Bach, Deutsche Namenkunde I: Die deutschen Personennamen 2, 2. Aufl. Heidelberg 1953, § 454; L. Bosshart, a.a.O. (Anm. 19) 88; G. Koss, a.a.Q (Anm. 33) 174; H. Naumann, a.a.O. (Anm. 27) 169 f.; W. Seibicke, Modenamen... (Anm. 33) 54; H. Walther, J. Schultheiss, a.a.O. (Anm. 9), 197. Vgl. aber auch W. Seibicke, Wie nennen ... (Anm. 33) 42. — Zum ent­ sprechenden Befund im Standesamtsbereich Schleswig vgl. F. Debus, Deut­ sche Namengebung im Wandel... (Anm. 18). 50 L. Andresen, Von Volkstum und Namengebung im Schleswigschen (= Schriften zur Volkstumsarbeit, H. 5), Kiel 1937, 3. 51 Zs. f. Standesamtswesen 18 (1938), 339; vgl. dazu I. Lüpke-Müller, a.a.O. (Anm. 46) 41. 52 H. Berger, a.a.O. (Anm. 20) 327; vgl. auch ebd. 328. 53 Vgl. W. Hesterkamp, a.a.O. (Anm. 29) 35 f.; B. Link, Die Rufnamengebung in Honnef und Wermelskirchen von 1900 bis 1956, Diss. Köln 1966, 38. 48; bes. 1. Lüpke-Müller, a.a.O. (Anm. 46) passim mit weiterer Literatur. 54 A.a.O. (Anm. 46) 171. 55 Vgl. ebd. 43. 46 m it weiteren Beispielen. 56 Dazu W. Seibicke, Wie nennen ... (Anm. 33) 30. 43. 57 Material hierzu bei I. Lüpke-Müller, a.a.O. (Anm. 46) 123 ff. 172. 58 Ebd. 25. 117. 120 f. 59 G. Drosdowski, Duden. Lexikon der Vornamen. Herkunft, Bedeutung und Gebrauch von mehr als 3 000 Vornamen. Mit 75 Abbildungen (= Duden- Taschenbücher 4), Mannheim, Wien, Zürich 1968, 70. 105. 60 Nach P. Wenners, a.a.O. (Anm. 43) 30.

202 61 Vgl. bes. G. Drosdowski, a.a.O. (Anm. 59) 113; W. Hesterkamp, a.a.O. (Anm. 29) 38; H. Naumann, a.a.O. (Anm. 27) 166 f. 62 I. Lüpke-Müller, a.a.0. (Anm. 46) 172; “Die einzig bekanntere Person der NS-Zeit, die möglicherweise nachhaltiger auf die Namenwahl einwirkte, war der zum Märtyrer stilisierte SA-Führer Horst Wessel, dessen Name in den dreißiger Jahren zu den beliebtesten überhaupt gehörte”. 63 Vgl. hierzu G. Drosdowski, a.a.O. (Anm. 59) 113. 64 Vgl. hierzu mit Literaturhinweisen I. Lüpke-Müller, a.a.O. (Anm. 46) 128 f.; ferner R. Katz, a.a.0. (Anm. 10) 58. 67; H. Walther, a.a.O. (Anm. 17), 197 f. 65 Durch einen Runderlaß des Reichsinnenministeriums vom 3. Juli 1933 wurden frühzeitig die Möglichkeiten zurückgewiesen, Kinder nach Hitlers Familien­ namen zu benennen; “Wird bei einem Standesbeamten der Antrag gestellt, den Namen des Herrn Reichskanzlers als Vornamen, sei es auch in der weib­ lichen Form Hitlerine, Hitlerike oder dergl. einzutragen, so hat er dem An­ tragsteller nahezulegen, einen anderen Vornamen zu wählen, da die Annah­ me des gewählten Vornamens dem Herrn Reichskanzler unerwünscht ist.” Zeitschr. f. Standesamtswesen 13 (1933), 230; dazu vgl. I. Lüpke-Müller, a.a.O. (Anm. 46) 35. 66 Vgl. hierzu allgemein W. Seibicke, Wie nennen ... (Anm. 33) 13 ff. 67 Sie wird ferner bestätigt durch eine geschlechterspezifische Auffächerung der Linien. Dabei zeigt sich, daß der Knick bei den Jungen-VN wegen der zahlreichen Gefallenen deutlich ausgeprägter ist als bei den Mädchen-VN; vgl. P. Wenners, a.a.O. (Anm. 43) Abb. 2a. 68 Vgl. Abb. la, 2a, 3a bei P. Wenners, a.a.O. (Anm. 43). 69 A.a.O. (Anm. 29) 34. 70 I. Lüpke-Müller, a.a.O. (Anm. 46) 154 ff., bes. 160. 71 A.a.O. (Anm. 33) 217 ff., bes. 219. 72 A.a.O. (Anm. 33) 162. Die Befragung wurde in der Geburtshilflich-gynäkolo­ gischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses Weiden/Opf. durchgeführt. Vgl. entsprechend auch H. Schönbrunner, Namengebung und soziale Schicht in Kötzting und Umgebung. Staatsexamensarbeit Regensburg 1973, 44. 73 Nach R. Frank, a.a.O. (Anm. 33) 235 f.; dagegen vgl. z.B. G. Drosdowski, a.a.O. (Anm. 59) 20. 74 B. Becke, Volkskundliche Untersuchungen zu Wesen und Wandel der deut­ schen Vomamengebung (Mskr.) 1947, 110. 75 Nach R. Frank, a.a.O. (Anm. 33) 217 ff. 208 ff. Frank hat diese Ergebnisse durch Auswertung einer Zufallsauswahl aus seinem Gesamtmaterial gewon­ nen. — “Rufname” wird durchgehend im Sinne von “Erstname” gebraucht. 76 Vgl. m it weiterem Material P. Wenners, a.a.O. (Anm. 43) 102 f. 77 Hierzu vgl. z.B. P. Atteslander, a.a.O. (Anm. 28) 257 f. 78 Nach R. Frank, a.a.O. (Anm. 33).

203 79 Der Schräg-Mittelstrich dient als Orientierungshilfe, insbesondere bei länge­ ren Reihen und auch deshalb, um daran bereits grob den soziologischen Mittelwert abzuschätzen. 80 Allerdings wird sie nur einmal als Rufname (in Schicht 8) gemeldet, sonst nur als Nebenname, was darauf hinweist, daß hier wohl eine besondere Tra­ ditionsform vorliegt. 81 Vgl. J. Hartig, Die münsterländischen Rufnamen im späten Mittelalter (= Nd. Studien 14), Köln, Graz 1967, 61. 82 Nach K. Frank, Anhang und S. 181. 83 Z.B. Hanne/Johanne oder Dirk; vgl. R. Frank, a.a.O. (Anm. 33) 178. 193. 84 Auch Horst wird deutlich von Schicht 1 (38,94%) und Schicht 2 (17,84%) bevorzugt. Die Stadt : Land-Relation ist beim Rufnamen Horst-Dieter aus­ geglichen, was zeigt, daß dieser Aspekt und Schichtzugehörigkeit nicht korres­ pondieren müssen. 85 Vgl. z.B. W. Labov, a.a.O. (Anm. 29); H. Wolf, a.a.O. (Anm. 26); dazu J.A. Fishman, Soziologie der Sprache. Eine interdisziplinäre sozialwissenschaftli­ che Betrachtung der Sprache in der Gesellschaft (= hueber hochschulreihe 30), München 1975, bes. 136 ff.; J.J. Gumperz, Zur Ethnologie des Sprach­ wandels; in: D. Cherubim (Hrsg.), Sprachwandel. Reader zur diachronischen Sprachwissenschaft (= Grundlagen der Kommunikation), Berlin, New York 1975, 335-355. 86 Vgl. hierzu etwa H. Bausinger, a.a.O. (Anm. 5) 255; W. Hesterkamp, a.a.O. (Anm. 29) 39 f.; O. Leys, Sociolinguistic Aspects ..., a.a.O. (Anm. 14) 452; W. Seibicke, Wie nennen ..., a.a.O. (Anm. 33) 35 ff.; H. Walther, J. Schultheis, a.a.O. (Anm. 9) 188; siehe auch o.S. 171 f. 87 R. Frank, a.a.O. (Anm. 33) 158 f. Vgl. hierzu auch W. Hesterkamp, a.a.O. (Anm. 29) 40; W. Seibicke, Wie nennen ... (Anm. 33) 35 ff. 88 Vgl. F. Debus, a.a.O. (Anm. 47). 89 Als Beispiel für eine offenbar gruppenspezifische und nachzuprüfende Na­ mengebungsmotivation bei Germanisten wurde im Vortrag abschließend hingewiesen auf Karl Müllenhoff, von dem Wilhelm Scherer, Karl Müllenhoff. Ein Lebensbild. Berlin 1896, 129 berichtet: “In dem dritten [Sohn], den er in humoristischer Anknüpfung an die Nibelungenfehde nach Bischof Piligrims angeblichem Schreiber und Holtzmanns Nibelungendichter Konrad nannte, hatte er anfangs seinen Nachfolger und Fortsetzer gesehen.”

204 ROLF C AS PARI Beobachtungen zur Thematisierung der Kommunikation in deutschen Strafprozeßordnungen des 19. und 20. Jahrhunderts

Inhaltsübersicht 1. Sprachgeschichtsschreibung und Kommunikationssituationen 2. Sprachgeschichtliches Material und Fragestellung 3. Entstehungsgeschichte und Publikationsrahmen 4. Verhaltens- und Sprachseite 5. Thematisierung der Kommunikation a) Bezeichnung der Kommunikationssituation b) Sprecheranwesenheit und Sprechemennung c) Sprechaktbezeichnungen d) Textsortenbezeichnungen

1. Sprachgeschichtsschreibung und Kommunikationssituationen

Fragt man nach der Geschichte des Sprachverhaltens als kommunikativen Verhaltens, wird es unerläßlich sein, nach Kommunikationssituationen zu unterscheiden .1 Erst eine Differenzierung nach z.B. Verkaufsgespräch, po­ litischer Verhandlung, Predigt, Familiengespräch, Polizeibericht, Beicht­ gespräch, Salonkonversation wird eine Geschichte des so konzipierten Sprachverhaltens sinnvoll modellieren können. Die Kommunikationssituation “Gerichtsverhandlung” eignet sich für eine entsprechende Untersuchung besonders gut a) wegen der sozialen Streuung der beteiligten Sprecher, b) wegen der relativ hohen Konstanz seit den Anfängen der deutschen Sprachgeschichte, wie sie sonst nur im religiös-kultischen Bereich an­ zutreffen ist, einer Konstanz, die — anders als vielleicht in der Presse, dem fachwissenschaftlichen Sprechen oder der politischen Rede — eine gute Vergleichbarkeit der jeweiligen synchronen Schnitte ermög­ licht, c) wegen der öffentlichen Relevanz dieses Sprachverkehrs, der in der neue­ ren Verfassungsgeschichte im Bereich der dritten Gewalt auf die Gestal­ tung des Soziallebens Einfluß hat. (Statt von einer “Effektivität des Rechts”, wie ein Titel eines rechtssoziologischen Jahrbuchs heißt2, ließe sich in diesem Zusammenhang von einer “Effektivität” der Kom­ munikationssituation “Gerichtsverhandlung” sprechen.)

205 2. Sprachgeschichtliches Material und Fragestellung

Wegen der für einen Nicht-Juristen nicht leicht durchschaubaren Vielfalt von Prozeßarten ist es sinnvoll, sich auf einen Verhandlungstyp zu be­ schränken. Ich möchte die Strafverhandlung herausgreifen, da sich durch das 19. Jh. hindurch bis heute die juristische Öffentlichkeit immer wieder mit ihr auseinandergesetzt hat, was im Hinblick auf die Zivilverhandlung nicht im selben Maße der Fall ist. Wenn man von der gegenwärtigen Möglichkeit von Tonbandaufnahmen und deren genauer Transkription absieht, so sind uns sprachliche Quellen zur Geschichte der Strafverhandlung greifbar in unterschiedlichen schrift­ lichen Textsorten:

1. Strafprozeßordnungen 2. Gerichtsakten 3. Gerichtsreportagen und Veröffentlichungen von Anwaltsreden 4. verfahrensrechtliche Literatur (z.B. Lehrbücher zum Strafprozeß) 5. verfahrenskritische Literatur (z.B. Veröffentlichungen zur Debatte um Mündlich­ keit, Öffentlichkeit, Geschworenengericht und Anklageprinzip im 19. Jh. oder - gegenwärtig - um die Benachteiligung des Unterschichts-Angeklagten und die Gefährdung des rechtlichen Gehörs im Strafprozeß) 6. Literatur zur praktischen Juristenausbildung (z.B. Anleitungen zur Abfassung von Urteilen, zur Durchführung der Hauptverhandlung). Aus diesen Materialgruppen möchte ich die Prozeßordnungen herausgrei­ fen, da sie die Beziehungsgrundlage für das Verstehen jeder anderen Dar­ stellung einer Gerichtsverhandlung und außerdem leicht zugänglich sind und schließlich explizit das kommunikative Geschehen thematisieren durch die Verwendung von sprechaktbezeichnenden Ausdrücken, wie sie in kei­ ner der anderen Materialgruppen so konzentriert Vorkommen. Aufgrund dieser Materiallage wird der — sozusagen — “semasiologische” Weg3 der Erschließung des Kommunikationsgeschehens eingeschlagen: Von den sprachlichen Ausdrücken ausgehend, wird versucht, zu den kom­ munikativen Einheiten und deren Sequenzierung und Variation vorzu­ stoßen. Selbstverständlich ist wie für alle semasiologischen Arbeiten ein onomasiologisches tertium comparationis notwendig4, das in diesem Falle mit der Kommunikationssituation “Gerichtsverhandlung” als gegeben an­ gesehen wird und nicht weiter problematisiert werden soll. Problematisiert werden muß demgegenüber die Binnengliederung der Kommunikationssi­ tuation. Neuere Arbeiten zur Sprache der Gerichtsverhandlung5 lassen er­ kennen, daß geeignete Analyseeinheiten fehlten, die über äußere Merkma­ le wie z.B. phonologische oder lexikalische (z.B. Gebrauch von b itte ) hinausgehen, andererseits aber genügend gehaltvoll, sachangemessen und

206 überprüfbar zugleich sind und nicht nur innerhalb eines bestimmten, eigen­ willigen Kommunikationsentwurfs Geltung haben sollten, wie z.B. bei Tausch/Langer6. Im Folgenden soll an Hand von Strafprozeßordnungen über die darin vor­ genommene Thematisierung der Kommunikation auf die Kommunikations­ struktur der Strafverhandlung geschlossen werden. Behandelt werden sollen dabei die badischen Prozeßordnungen des 19. Jh., die Reichsstrafprozeß­ ordnung und die gegenwärtigen Strafprozeßordnungen der Bundesrepu­ blik und der DDR. Der Beginn dieser Reihe um ca. 1800 ist dadurch ge­ rechtfertigt, daß nach der Französischen Revolution sich auch in Deutsch­ land eine allmähliche, aber grundlegende Umgestaltung des Strafverfahrens zu seiner noch heute gültigen Form vollzogen hat. Die Heranziehung badischer Prozeßordnungen für die Zeit vor der Reichs­ gründung ist zwar willkürlich, aber auch insofern exemplarisch, als der historische Prozeß in den anderen deutschen Teilstaaten mit geringer Pha­ senverschiebung ähnlich verlaufen ist (z.B. in Preußen).

3. Entstehungsgeschichte und Publikationsrahmen

Seit der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von 1532 herrschte im Deut­ schen Reich das Strafverfahren des Gemeinen Prozesses, so auch in den badischen Markgrafschaften.7 Nach deren Vereinigung zum Kurfürstentum 1803 wurde auf der Grundlage der “Carolina” von Kurfürst Karl Friedrich am 4.4.1803 das 8. Organisations-Edikt, “Die Verwaltung der Strafge- rechtigkeitspflege betreffend”, erlassen.8 Es erschien zunächst nur im Re­ gierungsblatt, zwanzig Jahre später mit Zusätzen9 auch in Buchform. Die 100 Paragraphen des Strafedikts enthalten wie die Halsgerichtsordnung von 1532 materielles und formelles Strafrecht (d.h. Ausführungen über Delikte und ihre Bestrafung wie auch Verfahrensvorschriften) und sollten die “herkömmlich mildere Anwendungsart der älteren Gesetze” (gemeint sind die “Carolina” und regionale Strafgesetze) sichern.10 Das Straf-Edikt von 1803 sollte ein “provisorisches Normativ”11 sein, blieb aber bis 1851 in K raft. Demgegenüber wurde seit dem ersten badischen Landtag 1818/19 die For­ derung laut nach Trennung der Justiz von der Verwaltung und Ablösung des geheimen und schriftlichen Verfahrens durch das öffentliche und münd­ liche.12 Das Ergebnis dieser Debatten war 1819 die Einsetzung einer Rechts­ gesetzgebungskommission, die bis 1837 tagte und schließlich 1835 der Re­ gierung den Entwurf einer neuen Strafprozeßordnung vorlegte. Nach ver­ schiedenen Modifikationen und Kompromissen wurde 1845 dieser Ent­ wurf von beiden Kammern angenommen. Die neue Strafprozeßordnung

207 wurde am 6.3.1845 vom Großherzog “mit Zustimmung Unserer getreuen Stände” “beschlossen und verordnet”.13 Diese Strafprozeßordnung, die wegen der revolutionären Ereignisse der Jahre 1848/49 nicht in Kraft ge­ treten ist, war die fortschrittlichste in den Staaten des Deutschen Bundes, insofern sie das Inquisitionsverfahren des Gemeinen Prozesses durch eine Reform in Richtung auf das Anklageverfahren gemäß französischem Muster ablöste. Erst 1851 traten diejenigen Bestimmungen, die ohne Veränderung der Ge­ richtsverfassung durchgeführt werden konnten, in Kraft. Die Prinzipien der Strafprozeßordnung von 1845 wurden ohne Einschränkungen Gesetz erst in der Strafprozeßordnung von 1864, die der Großherzog am 18.3. 1864 mit einer nahezu gleichlautenden Publikationsverordnung wie 1845 und 1851 verkünden ließ.14 Die Reichsstrafprozeßordnung von 1877, verkündet mit der Formulierung “Wir Wilhelm von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. verordnen im Namen des Deutschen Reichs, nach erfolgter Zustim­ mung des Bundesrathes und des Reichstags, was folgt” 15, zeigt starke Ähn­ lichkeiten mit der badischen Strafprozeßordnung von 1864.16 Der Grund­ gehalt der Strafprozeßordnung ist bis zur gegenwärtig für die Bundesrepu­ blik Deutschland gültigen Fassung gleichgeblieben; seit der Weimarer Zeit ist allerdings die monarchische Publikationsverordnung weggefallen. Im Gegensatz zur Bundesrepublik hat die DDR seit 1952 und verstärkt nach dem Rechtspflegeerlaß von 1963 ihre Strafprozeßordnung in wesent­ lichen Teilen, darunter auch in dem Abschnitt über die Hauptverhandlung, geändert und dem Strafverfahren einen neuen Sinn zu geben versucht, was sich — im Unterschied zur Bundesrepublik — auch dadurch äußert, daß dem eigentlichen Text eine Präambel vorangestellt wird. In der Strafprozeßord­ nung der DDR von 1952 heißt es darin in § 2: “Die erzieherische Aufga­ be des Strafverfahrens. Das Strafverfahren soll zur Achtung vor dem sozia­ listischen Gesetz, zur Achtung vor dem sozialistischen Eigentum, zur Ar­ beitsdisziplin und zur demokratischen Wachsamkeit erziehen.” In der ge­ mäß dem Rechtspflegeerlaß reformierten Strafprozeßordnung von 1963 ist explizit von “erzieherischer Aufgabe” des Strafverfahrens nicht mehr die Rede. Es heißt dort in § 2 (3) vorsichtiger: Das Strafverfahren “trägt ... bei ” “ - zum Schutze der sozialistischen Gesellschaftsordnung und ihres Staates und der Rechte und gesetzlich geschützten Interessen der Bürger vor Straf­ taten ; - zur Gestaltung der sozialistischen Beziehungen der Bürger zu ihrem Staat und im gesellschaftlichen Zusammenleben,

208 — zur Entwicklung der schöpferischen Kräfte des Menschen und der ge­ sellschaftlichen Verhältnisse.”17 Für alle hier zu behandelnden Strafprozeßordnungen seit 1803 gilt, daß der Adressat nicht genannt wird, während als Sprecher bis 1918 der je­ weilige Monarch auftritt. Da die Strafprozeßordnungen jedoch ein Ver­ fahren regeln, sind die Adressaten die Verfahrensbeteiligten: Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Schöffe, Angeklagter. Von der Regelung ihrer Beteiligung am Verfahren hängt es ab, ob und in welchem Umfange sie als Adressaten in Frage kommen.

4. Verhaltens- und Sprachseite

Die Untersuchung der gesamten Strafverhandlung mit all ihren Veräste­ lungen soll nicht Aufgabe dieses Beitrags sein. Ich wähle deshalb die Schluß­ teile der Gerichtsverhandlung zum Vergleich aus: Diese Teile sind für ei­ nen Nicht-Juristen überschaubar — anders als die unmittelbar vorhergehen­ de Beweisaufnahme, in die historisch jeweils unterschiedliche Beweistheo­ rien hineinspielen — und zeigen in der Grundstruktur die Abfolge von “Schlußvorträgen”, “Urteilsberatung”, “Urteilsverkündung” (um mit den gegenwärtig gebräuchlichen Termini zu sprechen). Prüft man, welche Daten aus der Kommunikationsbeschreibung für die Kennzeichnung von Verhaltensseite und Sprachseite im Sinne des Frei­ burger Sprachverhaltensmodells18 gewonnen werden können, so ergibt sich folgendes Bild (wobei nur die mündlichen Kommunikationsakte be­ rücksichtigt werden): In dem vorliegenden Material der Strafprozeßordnungen sind die redekon- stellativen Merkmale Öffentlichkeit, Sprecherzahl, Rang der Sprecher und leitende Intention dokumentiert. Vergleicht man die Gerichtsverhandlun­ gen untereinander, so stellen sich die Strafprozeßordnungen ab 1845 als eine geschlossene Gruppe heraus gegenüber dem Verfahren nach dem Straf- Edikt von 1803. Ab 1845 sind die Schlußvorträge (in der Regel) öffentlich und haben mehrere Sprecher; die Urteilsberatung wird nicht-öffentlich durchgeführt, mit einem oder mehreren Sprechern (den Richtern);das Ur­ teil wird öffentlich verkündet von einem Sprecher, dem Vorsitzenden Rich­ ter. Der Vorsitzende Richter ist es auch, der in allen drei Redekonstella­ tionen privilegiert ist. Demgegenüber sind 1803 das Schlußverhör, die Fassung der Urteile wie auch die im Haupttext des Straf-Edikts nicht erwähnte Eröffnung des Ur­ teils nicht-öffentlich. Die drei Redekonstellationen sind 1803 nicht Teile einer größeren Kommunikationssituation “Schlußverhandlung” oder

209 “Hauptverhandlung”, sondern sind als selbständig in bezug auf Kommu­ nikationsort und -teilnehmer anzusehen: Die Fassung der Urteile wird nicht vom Untersuchungsrichter vorgenommen, sondern vom Hofgericht aufgrund der A kten; bei der Eröffnung des Urteils ist wiederum keine Kontinuität zu den voraufgegangenen Redekonstellationen gewahrt, denn das Untergericht, das aber nicht mit dem Untersuchungsrichter identisch sein muß, liest den Betroffenen das vom Hofgericht übersandte Urteil vor. Die beiden Gruppen von Redekonstellationsfolgen, die mit Hilfe der Merk­ male Öffentlichkeit, Sprecherzahl und Rang der Sprecher bereits deutlich voneinander getrennt werden können, unterscheiden sich auch in ihren leitenden Intentionen “Inquisitionsprinzip” vs. “Anklageprinzip”, wie sie z.B. im Straf-Edikt auch verbalisiert sind: § 6 “Ein Anklageprozeß (Pro­ cessus accusatorius) findet in unseren Landen nirgends statt ...” und § 7 “Mithin muß alles was in der peinlichen Halsgerichtsordnung über den Prozeß vorkommt, nur so wie es auf den Untersuchungsprozeß anwend­ bar ist, verstanden und angewandt werden”. Hinsichtlich der Sprachseite machen die Kommunikationsbeschreibungen der Prozeßordnungen kaum Angaben; lediglich bei den Ausführungen des Staatsanwalts werden 1845 und 1864 Vorschriften hinsichtlich der Ver- sprachlichung gemacht (Begründung der Anträge 1845 und 1864, Bezeich­ nung des Gesetzes 1864) und ebenfalls bei der Bestimmung über die Urteils­ verkündung in allen Prozeßordnungen. Die Formulierung des Urteils ist in allen Prozeßordnungen an bestimmte Regeln gebunden: Nennung des Er­ gebnisses, des Verbrechens, der Strafe, der Kostenentscheidung. Darüber hinaus werden ab 1845 die Entscheidungsgründe für das Urteil verlangt, ab 1877 wird zwischen Urteilsformel und Urteilsgründen unterschieden, und ab 1950 in der Bundesrepublik Deutschland und ab 1952 in der DDR ist in die Prozeßordnung aufgenommen worden, daß die Urteile mit dem Aus­ druck “Im Namen des Volkes”abgefaßt und verkündet werden sollen. (Ohne daß dieser Ausdruck in der Strafprozeßordnung erwähnt worden ist, ist er bereits nach dem 1. Weltkrieg, wenn auch nicht in allen Ländern des Deutschen Reiches, bis 1934 verwendet worden, von 1934 bis 1945 in der Version “Im Namen des Deutschen Volkes” und nach dem 2. Welt­ krieg bis zur Neuregelung der Ausdruck “Im Namen des Rechts”. Die For­ mel hat ihr Vorbild in dem Ausdruck “Im Namen des Königs”, mit dem in Preußen seit 1850 die Urteile bis 1918 verkündet wurden; daneben verwen­ dete das Reichsgericht bis 1918 den Ausdruck “Im Namen des Reichs”.)19

210 S. Thematisierung der Kommunikation

1. Straf-Edikt Baden 1803 (“Schlußverhör”) § 17 ... die ... nochmalige Vernehmung der Inquisiten über kurze Fragen, welche das Geständnis derselben oder sonst das Hauptsächlichste ihrer Aussagen über das Verbrechen und über die erschwerenden und mildernden Umstände enthalten und auf welche die Antwort durch Urkundspersonen bezeugt wird; sodann die Befra­ gung: ob der Verbrecher etwas zu seiner Rechtfertigung anzuführen wisse — und er einen Rechtsfürsprecher verlange, der schriftlich seine Verteidigung führe — oder ob er sich allein dem gerechten Erkenntniß der obrigkeitlichen Entscheidungsbehörde überlassen wolle... § 18 Die Fassung der Urtheile...

2. Strafprozeßordnung Baden 1845 (“Schlußverhandlung”) § 235 Am Schlüsse der Verhandlung werden die Partheien, und zwar zuerst der Staatsanwalt mit seinen Anträgen und deren Begründung, sodann der Angeschul­ digte und sein Anwalt mit der Vertheidigung gehört. Dem Angeschuldigten und seinem Anwalt gebührt in jedem Falle das letzte Wort. § 241 Am Schlüsse der Verhandlung ... schreitet das Gericht alsbald zur Berathung in geheimer Sitzung und zur Fällung und Verkündung des Urtheils. § 243 Mit dem Urtheil eröffnet der Präsident zugleich in Kürze das Wesentliche der Entscheidungsgründe, deren nähere Ausführung der schriftlichen Ausfertigung Vor­ behalten bleibt.

3. Strafprozeßordnung Baden 1864 (“Hauptverhandlung”) § 244 Nach geschlossener Beweiserhebung wird der Staatsanwalt mit seinen Anträgen und deren Begründung, sodann der Angeklagte und sein Anwalt mit der Vertheidi­ gung gehört. Dem Angeklagten und seinem Anwälte gebührt in jedem Falle das letzte Wort. Der Staatsanwalt hat in seinem Antrage das Gesetz, dessen Strafandrohung in An­ wendung kommen soll, zu bezeichnen; es steht ihm frei, auch hinsichtlich der Strafausmessung einen Antrag zu stellen. §252 Das beschlossene Urtheil wird mit den Entscheidungsgründen sofort in öffent­ licher Sitzung verkündet. § 300 Mit dem Urtheil eröffnet der Vorsitzende zugleich in Kürze das Wesentliche der Entscheidungsgründe, deren nähere Ausführung der schriftlichen Ausfertigung Vorbehalten bleibt.

4. Reichsstrafprozeßordnung 1877 (“Hauptverhandlung”) § 257 Nach dem Beschlüsse der Beweisaufnahme erhalten die Staatsanwaltschaft und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort. Der Staatsanwaltschaft steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten ge­ bührt das letzte Wort. Der Angeklagte ist, auch wenn ein Vertheidiger für ihn gesprochen hat, zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Vertheidigung anzuführen habe. § 259 Die Hauptverhandlung schließt mit der Erlassung des Urtheils.

211 § 267 Die Verkündung des Unheils erfolgt durch Verlesung der Urtheilsformel und Eröffnung der Urtheilsgründe am Schlüsse der Verhandlung. Die Eröffnung der Ur- theilsgründe geschieht durch Verlesung oder durch mündliche Mitteilung ihres wesent­ lichen Inhalts.

5. Strafprozeßordnung BRD 1975 (“Hauptverhandlung”) § 258 (1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort. (2) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu ¡dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. (3) Der Angeklagte ist, auch wenn ein Verteidiger für ihn gesprochen hat, zu befra­ gen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung anzuführen habe, § 260 (1) Die Hauptverhandlung schließt mit der auf die Beratung folgenden Ver­ kündung des Urteils. § 268 (1) Das Urteil ergeht im Namen des Volkes. (2) Das Urteil wird durch Verlesung der Urteilsformel und Eröffnung der Urteils­ gründe verkündet. Die Eröffnung der Urteilsgründe geschieht durch Verlesung oder durch mündliche Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts.

6. Strafprozeßordnung DDR 1968 (“Hauptverhandlung”) § 238 (1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der gesellschaftliche An­ kläger, der gesellschaftliche Verteidiger, der Staatsanwalt, der Angeklagte oder sein Verteidiger zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort. (2) Der Angeklagte ist, auch wenn ein Verteidiger oder ein gesellschaftlicher Vertei­ diger gesprochen hat, zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung auszuführen habe. (3) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu; Verteidiger oder Ange­ klagter können hierauf ihrerseits erwidern. (4) Für den gesellschaftlichen Ankläger und den gesellschaftlichen Verteidiger gilt Absatz 3 entsprechend. § 239 Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. § 240 (1) Der Beweisaufnahme und den Schlußvorträgen folgt die Beratung des Gerichts. (2) Die Hauptverhandlung schließt mit der Verkündung 1. eines Urteils oder 2. eines Beschlusses über die vorläufige oder die endgültige Einstellung des Verfah­ rens oder über die Verweisung der Sache an ein anderes Gericht. § 246 (1) Das Urteil wird im Namen des Volkes öffentlich verkündet. (2) Die Verkündung erfolgt durch Verlesung der Urteilsformel und der Urteilsgründe.

Bei der Analyse der Texte unter dem Gesichtspunkt der Kommunikations- thematisierung hätte es auch nahegelegen, Beschreibungsverfahren heran­ zuziehen, die den Anspruch erheben, eine sachadäquate Metasprache be­ reitzustellen: so z.B. die Beschreibungsverfahren von R. F. Bales oder neuerdings H. Steger. Abgesehen davon, daß das Textmaterial aus den Strafprozeßordnungen nicht die reale Kommunikation, sondern eine Kom­ munikationsbeschreibung bzw. -normierung darstellt, erscheint die Inter-

212 aktionsanalyse von Bales wegen ihrer Bezogenheit auf “Konferenzgrup­ p e n ”20 und ihres rigoros funktionalistischen Ansatzes wenig geeignet, das historische Material zu erfassen und ist der Vorschlag zur Intentionenana­ lyse bei H. Steger21 gegenwärtig m.E. noch zu sehr der umgangssprachlichen Umschreibung verhaftet, als daß dieses Verfahren ohne Absicherung der In­ terpretation durch Paralleltexte wie z.B. Gerichtsreportagen, Selbstinter­ pretationen der Beteiligten in der Kommunikation usw. zu einer nicht zir­ kelhaften Analyse führen würde. Aus diesen Überlegungen heraus soll in diesem Zusammenhang nur auf Beobachtungen aufmerksam gemacht werden, die es lohnen würden, sy­ stematischer untersucht zu werden, als es gegenwärtig geschehen kann.

a) Bezeichnung der Kommunikationssituation In den herangezogenen Textstellen kommen folgende Bezeichnungen für die Kommunikationssituation vor: “Schlußverhör” 1803 “Schlußverhandlung” 1845 “Hauptverhandlung” 1864, 1877, 1968, 1975 In diesem Bezeichnungswandel spiegelt sich der Wandel vom Inquisitions­ verfahren zum Anklageverfahren.22 Friedrich Hecker, der badische Hof­ gerichtsadvokat und Revolutionär von 1848/49, sprach als Abgeordneter des Landtages vom “heimlichen Kriegsverfahren der Inquisition” 23. Zwar existiert in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits der Terminus “Verhandlung” im Zusammenhang mit dem Strafverfahren, aber nicht als kodifizierter Name für einen bestimmten Abschnitt dieses Verfahrens. So schreibt der bedeutende Heidelberger Rechtsgelehrte und Landtagsab­ geordnete C.J.A. Mittermaier in seinem Lehrbuch zum deutschen Straf­ verfahren 21832/3 3 von der “Aufnahme von Verhandlungen zu den Ak­ ten” und von “erschöpfender Verhandlung”24, nennt aber das Kapitel über den betreffenden Verfahrensabschnitt “von der Haupt Untersu­ chung”25. Verbunden mit diesem terminologischen Rahmen “Unter­ suchung”, die gegen den Angeklagten geführt wird, ist eine charakteristi­ sche Verteilung des Ausdrucks “Verhör” im Gegensatz zu “Vernehmung”: ln der eben erwähnten Schrift von Mittermaier ist im Zusammenhang mit dem Angeschuldigten überwiegend von “Verhör” die Rede2^, im Zusam­ menhang mit Zeugen dagegen von “Vernehmung”27. Dieselbe Distribu­ tion läßt sich in H.A. Zachariaes Strafprozeßlehrbuch 1861/68 feststel­ len.28 Mit dem Übergang vom Terminus “Schlußverhör” zu “Schlußverhandlung ist außerdem der Übergang vom Schriftlichkeitsprinzip zum Mündlichkeits-

213 prinzip 29 verbunden. Dabei ist unter Schriftlichkeitsprinzip30 nicht eine ausschließlich schriftliche Kommunikationsform zu verstehen, sondern durchaus ein mündliches Verhandeln, das aber wie beim Angeklagtenver­ hör und der Zeugenvernehmung in vorformulierten und durchnumerierten Fragen und der Aufzeichnung der entsprechenden Antworten in den Pro­ zeßakten minutiös festgehalten wird nach dem Motto “quod non est in actis, non est in mundo”. Das sog. mündliche Verfahren dagegen kommt ohne schriftliche Teile nicht aus: so ist die Anklage schriftlich niederge­ legt, der Urteilstenor vor Verkündung schriftlich fixiert und auch ein Pro­ tokoll abgefaßt. Dieses Protokoll enthält aber in der Regel keine Wieder­ gabe des Dialogs. Zwei Textbeispiele können aus Prozeßakten 31 vor und nach Einführung des Anklage- und Mündlichkeitsprinzips dies verdeutlichen: Stühlingen d. l l r Septbr. 1847 vor grhl. Bez. Oberamtmann Frey. In dieser Untersuchungssache gegen [...] et Cons. v. Obereggingen wegen Straßenraubs und Teilnahme hat man zur Vornahme des feierlichen Schlußverhörs mit den Inquisiten Tagfahrt auf heute anberaumt und dazu die beyden verpflichteten Urkundspersonen Bgrmstr. Ignatz Würth u. G. Rath Jakob Stadler von hier beygezogen, sofort den Inquisiten [...] vorführen lassen welchem man all­ vorderst sämtliche in dieser Untersuchungssache mit demselben vorgenommenen Verhöre vorlas, sofort ihn nach deren Vorlesung befragte, wie folgt: Fr. Erkennt ihr die euch so eben vorgelesenen Antworten auf die an euch während der jüngsten Untersuchung dahier wegen Straßenraubs gestellten Fragen als die eurigen u. als richtig zu Protokoll genommene oder was findet ihr an denselben noch beyzu- fügen, oder abzuändem? Ich erkenne die so eben vorgelesenen Antworten auf die während der jüngsten Untersuchung dahier wegen Straßenraubs gestellten Fragen nach vollem Inhalte als die meinigen, und als richtig zu Pro­ tokoll genommen u. an welchen ich nichts abzuändern oder beyzufügen finde. — [...]

214 Fr. Verlangt ihr einen Anwalt der eure Verteidigung schriftlich führe, oder wollt ihr euch nach Lage der Untersuchungsacten vertrauensvoll dem gerechten Urtheile des höhern Richters unterziehen? Ja; ich verlange einen Anwalt, der meine Vertheidigung schriftlich führe; da ich aber keinen Advokaten kenne, so bitte ich das hochpreisl. Hofgericht einen solchen für mich zu ernennen u. zwar um so mehr als ich auch die Mittel nicht besitze einen solchen zu bezahlen indem meine Frau erst auf Absterben ihrer noch lebenden Eltern das von mir angegebene Vermögen erhält. [...]

Oeffentliche Sitzung des Schwurgerichts für den Oberrheinkreis Freiburg, den 18ten Dezember 1856 vormittags 9 1/4 Uhr. Anwesend: [ 5 Richter, 1 Staatsanwalt, 1 Protokollführer] In Anklagesachen gegen [...] von Breisach wegen Mords. Der Präsident eröffnete die Sitzung, ließ durch den Protokollführer den Gegenstand der heutigen Tagesordnung ausrufen und die Angeklagte von der Wache begleitet vorführen [_. Nach Vernehmung zur Person, Bildung der Geschworenenbank, Ver­ lesung der Anklageschrift:] Hierauf vernahm der Präsident die Angeklagte ausführlich über den Inhalt der An­ klage. Die zur heutigen Verhandlung vorgeladenen 4 Sachverständigen waren von Beginn der Sitzung an zugegen. [...] Seinen Grund hat dieser Verzicht auf genaue Protokollierung der einzelnen Äußerungen darin, daß das Gericht aus dem unmittelbaren Eindruck der Gerichtsverhandlung sein Urteil fällen soll wie im schriftlichen Prozeß aus der Kenntnis der Akten. Dies ist der heutigen Strafprozeßlehre sog. “Grundsatz der Unmittelbarkeit” 32. Er fand bereits in der badischen Strafprozeßordnung von 1845 seinen Niederschlag zu § 241, Satz 2: “Das Gericht hat bei der Urteilsfällung n u r a u f d as Rücksicht zu nehmen, was in der Schlußverhandlung vorgekommen ist.”33

215 Dennoch sind die heutige “Hauptverhandlung” und die “Schlußverhand­ lung” in der Strafprozeßordnung von 1845 in der Berücksichtigung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit nicht identisch, ln dem maßgeblichen Kommentar zur Strafprozeßordnung von 1845 heißt es bei Bekk 184634: “Alle Beweismittel sollen schon in der Voruntersuchung benützt, und was dadurch ermittelt wird, schriftlich gemacht werden, so daß in der Schlußverhandlung, wenn gleich dabei manche frühere Aussage erst näher aufgeklärt und vervollständigt wird, in der Hauptsache doch nur das­ jenige, was in der Untersuchung bereits erhoben ist, durch den Angeschul­ digten, die Zeugen und Sachverständigen, vor dem urteilenden Richter wiederholt und bestätigt o d er berichtigt wird.” Dieser Kommentar zeigt, daß trotz der eben zitierten Bestimmung aus § 241 der Strafprozeßordnung 1845 die Vorstellung einer abschließenden “Rekon­ stru k tio n ” 35 aus der Zeit des Inquisitionsprozesses noch lebendig ist. In­ sofern spiegelt auch der Terminus “Schlußverhandlung” in seiner Wort­ bildung die Mittelstellung zwischen Schlußverhör und Hauptverhandlung, zwischen Inquisitionsprozeß und Anklageprozeß wider.

b) Sprecheranwesenheit und Sprechernennung Betrachtet man die Auszüge aus den Strafprozeßordnungen, wie sie am Anfang von Teil 5 unter dem Gesichtspunkt der Sprechaktabfolge von den Schlußvorträgen bis zur Urteilsverkündung wiedergegeben worden sind, nun unter dem Aspekt der Sprechernennung, so ergibt sich folgende Über­ sicht, wenn man der Sprechernennung in der Strafprozeßordnung die tat­ sächliche Sprecheranwesenheit gegenüberstellt:

StPO Spre cheranwesenheit3^ Sprechernennung

1803 Schlußverhör R (2 Urkundspersonen)37 (Urkundspersonen) A Inquisit, Verbrecher Rechtsfürsprecher, Hof­ gerichtsadvokat Fassung der mindestens 4 R Hofgericht, obrigkeitliche Urteile Entscheidungsbehörde

216 StPO Sprecheranwesenheit Sprechernennung 1845 Schlußverhandlung a) Schlußvorträge 1 - 6 R — S Staatsanwalt A Angeschuldigter fParteie V Anwalt b) Urteils­ 1 - 6 R Gericht beratung c) Urteils­ Vorsitzender R Präsident verkündung

1864 Hauptverhand­ lung a) Schlußvorträge 1 - 5 R — S Staatsanwalt A Angeklagter V Anwalt b) Urteils­ 1 - 5 R — beratung c) Urteils­ Vorsitzender R Vorsitzender verkündung

1877 Hauptverhand­ lung a) Schlußvorträge 1 - 5 R - S Staatsanwaltschaft A Angeklagter V Vertheidiger b) Urteils­ 1 - 5 R — beratung c) Urteils­ Vorsitzender R — verkündung

BRD 1975 Hauptverhand­ lung a) Schlußvorträge 1 - 5 R - S Staatsanwalt A Angeklagter V Verteidiger b) Urteils­ 1 - 5 R — beratung c) Urteils­ Vorsitzender R — verkündung

217 StPO Sprecheranwesen heit Sprechemennung

DDR 1968 Hauptverhand­ lung a) Schlußvorträge 1 - 3 R — gesellsch. Ankläger gesellsch. Ankläger gesellsch. V gesellsch. V S Staatsanwalt A Angeklagter V Verteidiger b) Urteils­ beratung 1 - 3 R Gericht c) Urteilsver­ kündung Vorsitzender R -

Im Anschluß an das unter 5 a) zur Bezeichnung der Kommunikations­ situation Gesagte fällt auf, daß parallel zu der Reihe Schlußverhör (1803) — Schlußverhandlung (1845) — Hauptverhandlung (1864) die Rolle des Angeklagten bezeichnet wird mit Inquisit/Verbrecher (1803) — Angeschuldigter (1845) - Angeklagter (1864). Unter “Verbrecher” wird um 1800 verstanden “eine Person, welche ein Verbrechen begangen, muth- willig wider ein mit schwerer Strafe verbundenes Gesetz gesündigt hat” 38. Abgesehen von dem Merkmal “Sünde” ist dies die auch heute noch gültige Bedeutung. Im Straf-Edikt von 1803 wie in anderen Inquisitionsprozeßord­ nungen wie der “Constitutio Criminalis Theresiana” von 1768 oder der Josephinischen “Allgemeinen Kriminal-Gerichtsordnung” von 1788 kom­ men die Ausdrücke “Verbrecher”, “Inquisit”, “Untersuchter”, “Beschul­ digter”, “beschuldigte Person” vor, und zwar synonym, vorausgesetzt, die Straftat ist gleich schwerwiegend. Diese sorglose Synonymie, bei der der zu Verurteilende vor dem Urteil bereits als Verbrecher gilt, war für die Reformbestrebungen des 19. Jahrhunderts unhaltbar, besonders im Ver­ gleich zum französischen und englischen Kriminalprozeß. 39 Um die Gleich­ setzung Inquisit/Verbrecher vor der Verurteilung zu verstehen, muß man beachten, daß aus der Carolina von 1532, auf die sich das Straf-Edikt be­ ruft, als Ziel des Inquisitionsprozesses das Geständnis des Inquisiten über­ nommen worden ist. Insofern könnte eine gewisse Absicht darin liegen, den Terminus “Verbrecher” in unserem Text erst zu verwenden, nachdem der Inquisit sein Geständnis abgelegt hat (bzw. ein gleichwertiger Ersatz­ beweis geliefert worden ist); gegen diese möglicherweise bewußte Termi- nologisierung sprechen aber die vielen Stellen mit den oben angeführten Synonym a.

218 Diese Konzeption des Inquisiten hat eine Konsequenz für die Sprecher­ anwesenheit bzw. Sprechernennung. Auf den Verteidiger, den “Rechts­ fürsprecher”, wird zwar im Schlußverhör verwiesen, er ist aber nicht an­ wesend. Bei leichteren Verbrechen kann der Inquisit einen Rechtsfür­ sprecher erst nach der Urteilsfällung verlangen, wie es in einem Zusatz zu diesem Paragraphen des Straf-Edikts festgelegt wird .40 Streng in der Terminologie sind dagegen die späteren Strafprozeßordnun­ gen. Nach der Strafprozeßordnung der Bundesrepublik Deutschland von 1975, § 157, wird zwischen “Angeschuldigten” und “Angeklagten” un­ terschieden: “Im Sinne des Gesetzes ist Angeschuldigter der Beschuldigte, gegen den die öffentliche Klage erhoben worden ist, Angeklagter der Be­ schuldigte oder Angeschuldigte, gegen den die Eröffnung des Hauptver­ fahrens beschlossen ist.” Die Strafprozeßordnung von 1845, § 207, dage­ gen spricht von “Versetzung des Angeschuldigten in den Anklagestand” nur, wenn das Bezirksstrafgericht wegen der Schwere der Straftat oder der zu verhängenden Strafe das Hofgericht für zuständig hält. Der Termi­ nus “Angeklagter” taucht in badischen Strafprozeßordnungen zum ersten­ mal in dem “Gesetz vom 5. Februar 1851, die Einführung des Strafgesetz­ buches, des neuen Strafverfahrens und die Schwurgerichte betreffend” au f.41 Erst über das Institut des nach angelsächsischem und französischem Muster unter dem Druck der revolutionären Ereignisse um 1848 eingeführ­ ten Schwurgerichts wird der Ausdruck “Angeklagter” in deutschen Straf­ prozeßordnungen gebräuchlich.42 Mit der Einführung des Namens ist zu­ gleich eine Stärkung der Position des Rollenträgers verbunden: Der prozeß­ rechtliche Schritt der Versetzung in den Anklagestand ermöglicht ab 1851 die Eröffnung einer “Hauptverhandlung” im modernen Sinne, als welche die Schwurgerichtsverhandlung des 19. Jahrhunderts gelten kann, bei der die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit zum erstenmal in der deutschen Strafverfahrensgeschichte des 19. Jahrhunderts verwirklicht sind. Der Angeschuldigte der Strafprozeßordnung von 1845 ist dagegen noch sehr stark in ein inquisitorisches Verfahren eingebunden, was darin zum Ausdruck kommt, daß — wie bereits gesagt — die “Schlußverhand­ lung” nur als eine Wiederholung der voraufgegangenen Untersuchung ver­ standen wird. In dieser Untersuchung hat der Angeschuldigte kein Recht, die Aussage zu verweigern, ohne Gefahr zu laufen, daß dies “die Wirkung einer für seine Schuld sprechenden Anzeigung haben” kann (§ 200). Dem noch verhältnismäßig starken inquisitorischen Anteil in der Straf­ prozeßordnung von 1845 scheint zu widerspechen, daß die Rollen des Anklägers und des Angeklagten als “Partheien” bezeichnet werden wie 1803 noch nicht und ab 1864 nicht mehr. Der Ausdruck “Partheien” deutet darauf hin, daß das neue Anklageprinzip mit einem Terminus ver-

219 deutlich werden soll, der aus dem Zivilprozeß stammt, bei dem zwei wi­ derstreitende Parteien einer urteilenden Instanz gegenüberstehen.43 D aß dieses neue Verfahrensprinzip mit einem nicht ganz zutreffenden, aber bereits anderweitig bekannten Terminus erläutert werden mußte, wird indirekt dadurch bestätigt, daß der schon erwähnte Jurist Mittermaier vor einer nur äußerlichen Nachahmung der “Anklageform” warnt, bei der die Gefahr besteht, daß Richter und Staatsanwalt lediglich “zwei Inquiren­ te n ”44 sind. Der Sinn des Anklageprozesses sei der, daß von den Parteien “Eine gegen die Andere Behauptungen aufstellt, aus diesen gewisse Fol­ gerungen und Anträge ableitet und sich bemüht, diejenigen, von denen die Entscheidung über die Anträge abhängt, von dem Dasein der Behaup­ tungen und der Richtigkeit der Folgerungen zu überzeugen”.45 Daß der Strafprozeß als reiner Parteien-Prozeß nach angelsächsischem Muster im deutschen Strafprozeßrecht nicht heimisch geworden ist, kommt auch zum Ausdruck in der Strafprozeßordnung von 1877, in der nicht von “Staatsanwalt”, sondern von “Staatsanwaltschaft” die Rede ist. Hiermit wird auch im sprachlichen Ausdruck deutlich gemacht, daß der Staatsan­ walt nicht Partei sein soll, sondern Vertreter eines “Rechtspflegeorgans”46, dem es aufgetragen ist, “nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln”47. Daß in den Strafprozeß­ ordnungen nach 1877 der Ausdruck “Staatsanwaltschaft” in den hier her­ angezogenen Paragraphen wieder aufgegeben worden ist, kann darauf zu­ rückgeführt werden, daß die Institution als Rechtspflegeorgan im allgemei­ nen Bewußtsein genügend etabliert war und man aus diesem Grunde auf den kürzeren und konkreteren Terminus zurückgreifen konnte. Gegenüber der auf dieser Basis noch heute in der Bundesrepublik Deutsch­ land gültigen Strafprozeßordnung hat die DDR seit dem Rechtspflegeer­ laß von 1963, wie aus der Übersicht über Sprecheranwesenheit und Sprech­ ernennung ersichtlich ist, das Parteien-Prinzip im deutschen Strafprozeß wiederbelebt durch Einführung eines gesellschaftlichen Anklägers und ge­ sellschaftlichen Verteidigers.48 Das Parteien-Prinzip in der DDR-Strafpro- zeßordnung steht aber anders als 1845 im Dienste einer ausgesprochenen “Erziehung der Rechtsverletzter”.49 Dabei sind die gesellschaftlichen An­ kläger und Verteidiger verpflichtet auf die seit etwa 1955 gültige Strafpro­ zeßmaxime von der sozialistischen Gesetzlichkeit50, definiert als “dialek­ tische Einheit von Gesetzlichkeit und Parteilichkeit”51, Neben der ideo­ logischen Fixierung des Prozeßziels, die zu belegen ist und der hier nicht weiter nachgegangen werden soll 52, wird hier im Kern ein Problem zur Sprache gebracht, das auch in der Bundesrepublik Deutschland die justiz­ kritische Literatur beschäftigt: Wie kann die Rechtsfindung bei neuen sozialen Fällen noch rational bleiben? D. Horn hat bereits 1966 unter

220 kommunikationskritischem Aspekt die deskriptive, identifizierende und logisch subsumierende Verfahrensweise in der juristischen Praxis beleuch­ tet und dagegen die These von der imperativen Kommunikationssituation gestellt, die durch eine flexible Gesetzesanwendung besonders in neuartigen sozialen Fällen mehr Rationalität gewährleistet.53 Die sprachkritische und sprachgeschichtliche Pointe dieser Überlegungen ist folgende: Die gegenwärtige Überbetonung der syntaktischen und se­ mantischen Aspekte der Rechtssprache unter Vernachlässigung der prag­ matischen ist ein Charakteristikum entwickelter Gesellschaften, in denen es der Verständigung wegen um Präzisierungen geht bis hin zur eindeuti­ gen Bezeichnung eines Gegenstandes. Diese Präzisierungs-Tendenz ent­ wickelt eine Eigengesetzlichkeit, so daß z.B. von Haus aus weniger präzise Vorschriften wie z.B. die sog. unbestimmten Rechtsbegriffe 54 wie “Treu und Glauben”, “billiges Ermessen”, “gute Sitten” fälschlicherweise ver­ standen werden als Namen für erkennbare Sachverhalte und nicht in ihrer ausschließlich imperativen Funktion. Die Umorientierung der Strafprozeßordnung in der DDR scheint, wenn die These Horns richtig ist, ein Versuch zu sein, die seit den Reformbe­ strebungen des 19. Jahrhunderts verlorengegangene imperative Orientie­ rung über die Einbeziehung neuer Verfahrensbeteiligter (gesellschaftliche Ankläger und Verteidiger), d.h. über die Kommunikationsstruktur, in der Strafprozeßordnung zu verankern.

c) Sprechaktbezeichnungen Welche Auswirkungen die Verschiebung in der Sprecherkonstellation für die Sprechaktkonzeptionen haben kann, zeigt sich in der Strafprozeßord­ nung der DDR am Beispiel der Sprechaktbezeichnung der Verteidigung. Heißt es in der Strafprozeßordnung 1877 und der Strafprozeßordnung BRD 1975 gleichlautend: “Der Angeklagte ist, auch wenn ein Verteidi­ ger für ihn gesprochen hat, zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung auszuführen habe”, so ist in dem entsprechenden Satz der Strafprozeßordnung DDR 1968 der Ausdruck fü r ihn gestrichen. Das Feh­ len dieses Ausdrucks mag unbedeutend erscheinen, wenn im Lehrkommen- tar zur Strafprozeßordnung zu dieser Stelle formuliert wird: “Es steht dem Angeklagten frei, ob er von seinem Recht auf einen Schlußvortrag auch dann Gebrauch machen will, wenn sein Verteidiger fü r ih n bereits ge­ sprochen hat” 55. Allerdings ist der Wortlaut der Strafprozeßordnung ge­ genüber dem Kommentar der Primärtext und hat deshalb höheren Rang. Aus der Zielbestimmung der Tätigkeit der gesellschaftlichen Ankläger und Verteidiger wie der gesamten Strafverhandlung läßt sich schließen, daß die

221 Änderung der Sprechaktbezeichnung “für den Angeklagten sprechen” in “sprechen” beabsichtigt war, zumal es in einer für die DDR repräsentati­ ven juristischen Publikation von K.-H. Beyer über das Strafverfahren zur Aufgabe der Verteidigung heißt: “Im sozialistischen Strafverfahren be­ steht kein Widerspruch zwischen den Interessen der Gesellschaft und den gesetzlich geschützten Interessen des einzelnen Bürgers. Der Verteidiger muß den Angeklagten nicht vor dem Staat der Arbeiter und Bauern schüt­ zen, denn dieser Staat ist auch der Staat des Angeklagten. Der Verteidiger wahrt seine Rechte und berät ihn .”56 Die stark traditionsorientierte deutsche Rechtssprache57 scheint sich, was die DDR betrifft, in diesem Punkt von der hinter dieser Formulierung stehenden älteren Institution des “Fürsprechers/Vorsprechers” 58 gelöst zu haben. Die Stellung des Angeklagten, die mit Einführung des Anklageprozesses um die Mitte des 19. Jahrhunderts gestärkt worden ist, findet ihren Aus­ druck in der Institutionalisierung des Sprechakts “Letztes Wort”. Diese Sprechaktbezeichnung erscheint in deutschen Strafprozeßordnungen zum erstenmal in der badischen Strafprozeßordnung von 1845. Die Sprechakt­ bezeichnung, die im deutschen Wortschatz mindestens seit dem 16. Jahr­ hundert vorhanden war59, fand Aufnahme in die Strafprozeßordnung in Anlehnung an den Text des Code d ’instruction criminelle von 1808, Art. 335: “ ... mais l’accusé ou son conseil auront toujours la parole les der­ niers”60. Auffällig ist, daß zunächst nur die Hälfte von 10 Ländern mit deutschsprachigen Strafprozeßordnungen um die Jahrhundertmitte den Rechtsstatus dieses Sprechakts des Angeklagten mit dem Verb “gebüh­ ren” bezeichnen61, daß aber dann seit der Reichsstrafprozeßgesetzgebung von 1877 der Ausdruck unverändert bis heute beibehalten worden ist, ob­ wohl er heute als archaisierend verstanden werden muß. Die Erklärung für diesen Sachverhalt liegt m.E. darin, daß mit der Straf­ prozeßordnung von 1877 eine stärkere Explizierung des Rechtsstatus der Sprechakte vorgenommen wird und daß dabei ein so feierlicher Ausdruck, besonders im Hinblick auf die vorher schwache Rechtsposition des Ange­ klagten, auf keinen Fall aufgegeben wird. Diese Tendenz soll kurz verdeut­ licht werden. Bei den Abschnitten “Schlußverhör” (1803) bzw. “Schlußvorträge” (1845 und später) werden die jeweils syntaktisch und auch pragmatisch überge­ ordneten Sprechakte unterschiedlich formuliert. Der rechtliche Status des jeweiligen Sprechakts kann durch explizierte Formulierungen abge­ sichert werden, seien es solche, die einen obligatorischen oder einen fakul­ tativen Sprechaktvollzug bezeichnen. Zur ersten Gruppe (fakultativer Sprechaktvollzug) sind zu zählen: gehört -werden mit, gebühren, es steht frei, das Wort erhalten zu, das Recht steht zu, können. In die zweite Gruppe

222 (obligatorischer Sprechaktvollzug) fallen: haben zu, ist zu. Bezogen auf die Strafprozeßordnungen läßt sich folgende Verteilung ermitteln:

StPO fakultativ obligatorisch

1803 Baden 0 0 1845 Baden 2 0 1864 Baden 3 1 1877 Deutsch.Reich 3 1 1975 BRD 3 1 1968 DDR 5 1 Damit erweist sich auch hier der Übergang zum reformierten Prozeß um die Mitte des 19. Jahrhunderts als starke Zäsur. Interessant ist der Beginn dieser Zäsur mit der Strafprozeßordnung von 1845. Diese Strafprozeß­ ordnung enthält für diesen Abschnitt der Gerichtsverhandlung keine obli­ gatorische Sprechaktformulierung (bei den folgenden Strafprozeßordnun­ gen beziehen diese sich übrigens nur auf das Gericht und die Staatsanwalt­ schaft). Dagegen hat die Strafprozeßordnung von 1845 den Ausdruck “die Partheien werden gehört”. Im Gegensatz zu den anderen Ausdrücken, die alle sprecherbezogen sind, wird hier ausdrücklich hörerbezogen formu­ liert. Als Sprechaktkonzeption steht hinter diesem Ausdruck der sog. Par- teien-Prozeß nach dem Vorbild des Zivilverfahrens bzw. des angelsächsi­ schen Strafprozesses. In Teil 5 b wurde bereits darauf hingewiesen, daß diese Konzeption im deutschen Strafverfahren wieder zurückgedrängt worden ist: Ablesbar ist dies am Verschwinden des Ausdrucks “gehört werden” ab 1877 und am Wegfall des Terminus “Parteien” ab 1864.

d) Textsortenbezeichnungen Zum Schluß dieser Überlegungen soll noch einmal auf die wohl wichtigste Reform der neueren Strafprozeßgeschichte, die Ablösung des Inquisitions­ prozesses durch den Akkusationsprozeß eingegangen werden. Die Interfe­ renz der Sprechaktkonzeptionen als Erscheinung des sprachlichen Wandels ist bereits am Beispiel der Bezeichnungen der Kommunikationssituation wie der Sprechernennung zur Sprache gekommen. Auch im Bereich der Textsortenbezeichnungen läßt sich dieses Phänomen belegen: So hat z.B. Mittermaier vor einer bloß oberflächlichen Praktizierung des Anklagepro­ zesses unter Beibehaltung der überkommenen Inquirentenrollen gewarnt.62 Von der entgegengesetzten, konservativen Seite wird andererseits die Re­ form als bloß oberflächliche Verkleidung der alten Praxis verspottet. So schreibt der Heidelberger Rechtsgelehrte C.F. Roßhirt über den Entwurf zur badischen Strafprozeßordnung von 1845 : “Wir haben in der That

223 keinen Anklageprozeß, wenn er auch jetzt so heißt. In unserem Prozesse hat man nur die R e 1 a t i o n s - Methode verändert. ... Ein Staatsanwalt... gibt die Anschuldigung: der Vertheidiger gibt die Entschuldigung, das Ge­ richt fängt in dem wahren Referenten mit dem voto desselben seine Urtheils fassung an. Die beiden ersten also geben die species facti. Natürlich fehlt etwas an der Sache: die einheitliche Arbeit in der ganzen Relation, aber es schadet nichts für das Drama: diesjecta sunt membra poetae, damit eine neue Darstellung in dramatischer Form erfolge.” 63 Diese Äußerung ist zwar in sich widersprüchlich, insofern sie den Anklageprozeß grundsätzlich für möglich hält, andererseits aber dessen konstitutive Momente, die Rollen­ verteilung in dem Entwurf der Strafprozeßordnung von 1845, glaubt ab­ lehnen zu müssen. Dennoch kann sie als Ausdruck eines wohl verbreiteten Ressentiments dieser Zeit angesehen werden: Roßhirt formuliert hier nicht eine Verteidigung der geschriebenen Textsorte Relation gegen gesprochene Textsorten wie Anklage und Verteidigung, die z.B. wie die Anklage nur verlesen wird, sondern spricht sich aus für die Beibehaltung der epischen Gattung der Relation gegenüber der “dramatischen Form” des Strafprozes­ ses mit den Plädoyers. Darin spiegelt sich eine Kommunikations- und Kon­ senserwartung im Hinblick auf das Strafverfahren, deren Ursachen in der Rechtstheorie und besonderen juristischen Professionalisierung zu suchen sind. Dies ist aber eine Frage, deren Behandlung speziell für die Rechtspfle­ ge des 19. Jahrhunderts weiterer Untersuchung Vorbehalten bleiben muß .64

Anmerkungen

1 Die Situationsbedingtheit des Sprachverhaltens ist insbesondere durch die schichtenspezifisch orientierte Soziolinguistik — sozusagen gegen ihr ursprüng­ liches Programm — hervorgehoben worden: Vgl. C.B. Cazden 1971, S. 290 f.; W.P. Robinson 1965¡G. Schulz 1973, S. 55;K.-H. Deutrich/G. Schank 1974, S. 1046 - 1056. 2 M. Rehbinder/H. Schelsky (Hg.) 1973. 3 Wunderlich 1976 b, S. 464, unterscheidet zwei verschiedene Wege für die Be­ stimmung der fundamentalen Sprechakte einer Sprache, die — ohne daß Wunderlich so formuliert — im Grunde mit einer “onomasiologischen” und einer “semasiologischen” Verfahrensweise übereinstimmen. 4 Henne 1972, S. 129 ff.; Püschel 1972, S. 115 - 121. 5 Tausch/Langer 1971 unterscheiden trotz fruchtbarer Ansätze nicht zwischen sprachlicher Ausdrucks-und Inhaltsseite; Winter/Schumann 1973 arbeiten trotz plausibler Ergebnisse mit nicht leicht operationalisierbaren kommuni­ kativen Einheiten wie z.B. Suggestivfragen; Leodolter 1975 stellt bei der Ma­ terialuntersuchung den Bezug zur m.E. interessanten Pointe ihres eigenen

224 theoretischen soziolinguistischen Rahmens (S. 136 ff. Verbalisierung von “interaktionsbezogenen Motiven sozialen Handelns”) merkwürdigerweise nicht her, sondern benutzt einerseits phonologische andererseits dem jewei­ ligen Interpretationsansatz ausgesetzte interaktionelle Kriterien. Bei Tausch/Langer 1971 scheint die Strafverhandlung durch die ausschließ­ liche Anwendung des Kriterium der Reversibilität als reine Nettigkeitsveran­ staltung verharmlost zu werden. Mackert 1947, S. 2. Ebd. S. 5. Anm. 2. Der badische Jurist. Karl Junghanns hat das Straf-Edikt unter dem Pseudonym Rhenanus (Hg.) 1823 veröffentlicht. Zum Autor vgl. Fr. v. Weech (Hg.): Ba­ dische Biographien, Vierter Teil, Karlsruhe 1891, S. 205 f. 10 Straf-Edikt 1803, S. 3; vgl. auch ebd., S. 4.

11 Ebd., S. 3. 12 Müller 1900 - 1902, Teil 1, S. 63 - 66. 13 Haeberlin 1852, S. 370. 14 StPO Baden 1864, S. XVII. 13 StPO Deutsches Reich 1877, S. 4. 16 Mackert 1947, S. 139. 17 StPO DDR 1969, S. 30. 18 Vgl. Steger u.a. 1974. 19 Weinmann 1930, S. 127 f.; Erstes Gesetz zur Überleitung der Rechtspflege auf das Reich vom 16.2.1934, RGBl. I, S. 91; Allgemeine Anweisung an die Richter Nr. 2, 1946, S. 6, Ziffer 5 (für die Zeit von 1946 - 1950); StPO BRD 1950, § 268 (1), StPO DDR 1952, § 246 (1). 20 Bales 1968, S. 149. 21 Steger 1975a und b. 22 Vgl. Henkel 1968, S. 52 ff. 23 Protokolle der II. Kammer 1834/44, Bd. 6, S. 313. 24 Mittermaier 1832/33, Teil II, S. 132, 135. 25 Ebd., S. 125 (Hervorhebung von mir). 26 Ebd., Teil I, S. 408 ff., 412, 424 ff., II, S. 144. Ausnahmen: II, S. 82 (“summarische Vernehmung mit dem Angeschuldigten”), II, S. 87 (“sum­ marisches Zeugenverhör”), ebenso in der 4. Auflage, Heidelberg 1845/46. 27 Ebd., Teil II, S. 87, Teil I, S. 387, 390, Ausnahme: Teil II, S. 87 (“summa­ risches Zeugenverhör”), ebenso in der 4. Aufl., Heidelberg 1845/46. 28 Zachariae 1861/68, Bd. II, S. 231 (“Verhör des Beschuldigten”), S. 232 ff. (“Verhör ... oder Vernehmung des Beschuldigten"), S. 201, 240 (“Verhöre des Beschuldigten”) S. 240 (“Vernehmung des Verdächtigten”), S. 243 (“Verhöre mit dem Angeschuldigten”), S. 197, 199, 200 (“Vernehmung

225 der Zeugen”), S. 201 (“gerichtliche Zeugenvernehmung”), S. 206 (“Zeugen­ verhör”), S. 362 (“Vernehmung der Zeugen”). Im Register (Bd. II. S. 724 f.) tauchen nur die Stichwörter auf: “Verhör des Beschuldigten”, “Zeugenver­ nehmung” . 29 Repräsentative zeitgenössische Schriften sind: Feuerbach 1821, Mittermaier 1845. 30 Vgl. Kip 1952 und Fezer 1970. 31 Bad. Generallandesarchiv Karlsruhe, Abt. 303, Zugang 1908, Nr. 34 und Abt. 241, Nr. 12 3. Auf ein Schwurgerichtsprotokoll mußte im zweiten Beispiel zu­ rückgegriffen werden, da die Archive nur bemerkenswerte Strafprozesse auf­ bewahren. In der Protokollierung besteht aber kein Unterschied zu unterge­ richtlichen Prozessen. 32 Baumann 1972, S. 493 f. 33 Sperrungen im Original. 34 Bekk 1846, S. 19. Sperrungen im Original. 35 Mackert 1847, S. 64. 36 Als Quellen wurden benutzt für 1803: § 16 des Straf-Edikts, für die Gerichts­ verhandlungen ab 1845 die Gerichtsverfassungsgesetze, die in den Ausgaben der Strafprozeßordnungen (s. Literaturverzeichnis) enthalten sind. Die Auf­ stellung bezieht sich nur auf die erste Instanz und nur auf die Beteiligung der Berufsrichter. Als Abkürzungen wurden verwendet: R = Richter, S = Staats­ anwalt, A = Angeklagter. 37 Die Urkundspersonen sind nicht ausdrücklich als Sprecher ausgewiesen. Sie bezeugen die Vorgänge des Schlußverhörs durch ihre Unterschrift. 38 Adelung 1801, 4. Theil, Sp. 1003. 39 Mittermaier 1832/33. 40 Straf-Edikt 1803, § 17. “Zus. Ein in Untersuchung befindlicher Verbrecher kann vor gefälltem Urtheil eine Vertheidigung durch einen Rechtsfür­ sprecher nur verlangen, wenn es auf eine mehr als einjährige Zuchthaus- oder eine andere dem gleichgeltende oder höhere Strafe ankommt.” Vgl. auch Mackert 1847, S. 22 ff. 41 Z.B. § 86 in Haeberlin 1852, S. 435. 42 Vgl. die Sammlung von Strafprozeßordnungen der Mitte des 19. Jahrhunderts bei Haeberlin 1852. 43 Bei der Untersuchung der Sprechaktbezeichnungen unter 5 c) wird dies be­ stätigt. 44 Mittermaier 1856, S. 279. 45 Ebd.,S. 285. 46 Baumann 1972, S. 487. 47 StPO BRD 1975, § 160 (2)

226 48 Erlaß des Staatsrats der DDR über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege vom 4. April 1963, Teil IV, C 2, in: Aufgabe und Arbeitsweise der Rechtspflegeorgane, hg. v. Ministerium der Justiz, Berlin 1963: “Vornehmste Aufgabe des gesellschaftlichen Anklägers und des gesellschaft­ lichen Verteidigers ist es, die Meinung ihres Kollektivs über die Straftat und den Täter darzulegen, dem Gericht bei der Erforschung der Wahrheit und der Findung einer gerechten Entscheidung zu helfen und bei der Mobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte zur Verhütung weiterer Straftaten und der Er­ ziehung der Rechtsverletzer mitzuwirken.” 49 Siehe Anm. 48. 50 Bechthold 1967, S. 58. 51 Benjamin 1958, S. 365. 52 Vgl. die affirmative Sprache in “Beschluß des Plenums des Obersten Gerichts zu Fragen der gerichtlichen Beweisaufnahme im sozialistischen Strafprozeß” vom 30. Oktober 1970, in: StPO DDR 1968, S. 437: “Die sozialistische Parteilichkeit gewährleistet die objektive und allseitige Erkenntnis jeder Straftat. Sie liegt bei der Wahrheitsfindung im Strafprozeß in wissenschaftlich fundiert, die sozialistische Gesetzlichkeit strikt achtender, unvoreingenommener Beweisführung.” 5 3 Horn 1966, S. 159 ff. Ähnliche Überlegungen liegen m.E. auch folgenden Arbeiten zugrunde: Lautmann 1972; Rottleuthner 1973a;Seibert 1972; Rödingen 1972. 54 Müller-Tochtermann 1959, S. 88. 55 Strafprozeßrecht der DDR 1968, S. 278. 56 Beyer 1967, S. 71. 57 Vgl. z.B. die auch in der StPO der DDR noch vorhandene, heute archaisierend klingende Wendung “Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort.” 58 Vgl. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Sp. 185 f. und 1336. Vgl. auch “Rechtsfürsprecher” im Straf-Edikt Baden 1803, § 17. 59 Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. XIV 2, S. 1502. 60 Haeberlin 1852, S. 40. 61 Vgl. Haeberlin 1852: Österreich 1850, S. 140, § 285 ; Preußen 1852, S. 232 o, Art. 79; Bayern 1848, S. 259, Art. 170; Baden 1845, S. 399, § 235; Sachsen- Weimar 1850, S. 801, Art. 249. Braunschweig 1849 (S. 732, § 56) und Preußen 1849 (S. 221, § 136) verwen­ den den Ausdruck mit Bezug auf die Prozeßleitung des Vorsitzenden, und 5 Länder formulieren den Sprechakt “Letztes Wort” des Angeklagten mit fol­ genden Ausdrücken: “Stets muß jedoch dem Beschuldigten oder seinem Rechtsbeistande das letzte Wort gegeben werden” (Hannover 1850, S. 318, § 137); “... erhält stets der Angeklagte das letzte Wort” (Kurhessen 1848, S. 473, § 109);

227 sind hinwiederum der Angeschuldigte und sein Vertheidiger in gleicher Weise zu entgegnen befugt. Mit dieser Erwiderung soll die Verhandlung ge­ schlossen sein” (Württemberg 1843, S. 570, Art. 276); “... Der Angeklagte und dessen Vertheidiger hat allemal das letzte Wort” (Württemberg 1848, S. 620, Art. 152); “Der Angeklagte oder dessen Vertheidiger hat aber jedesmal das letzte Wort” (Hessen-Nassau 1848/49, S. 679, Art. 162). 62 Siehe oben Anm. 44. 63 Roßhirt 1844, S. 23. Zum Autor vgl. ADB, Bd. 29, Leipzig 1889, S. 260 - 262. 64 Für die gegenwärtige Situation hat z.B. Rottleuthner 1973a, S. 196 f. und 1973 b, S. 177 f., 265 ff. das Problem formuliert.

Quellen- und Literaturverzeichnis

1) Quellen Allgemeine Anweisungen für die Richter, Nr. 2: Gerichtsverfassungsgesetz und Straf­ prozeßordnung, Göttingen 1946. Beschluß des Plenums des Obersten Gerichts zu Fragen der gerichtlichen Beweisauf­ nahme und Wahrheitsfindung im sozialistischen Strafprozeß vom 30. Oktober 1970, in: StPO DDR 1968, S. 436 - 448. Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die grundsätz­ lichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege vom 4. April 1963, in: Aufgaben und Arbeitsweise der Rechtspflegeorgane, hg. v. Ministerium der Justiz, Berlin 1963. Erstes Gesetz zur Oberleitung der Rechtspflege auf das Reich vom 16. Februar 1934, RGBl. I, S. 91. C.F.W.J. Haeberlin (Hg.) 1852: Sammlung der neuen deutschen Strafprozeßord­ nungen, Greifswald. Straf-Edikt Baden 1803: Das großherzoglich-badische Straf-Edikt mit seinen Er­ läuterungen und Zusätzen, hg. v. Rhenanus, Mannheim 1823. StPO Baden 1845: Strafprozeßordnung für das Großherzogthum Baden nebst Gesetzen über die privatrechtlichen Folgen von Verbrechen, die Gerichts­ verfassung, den Strafvollzug im neuen Männerzuchthaus zu Bruchsal, Karls­ ruhe 1845 (StPO und GVG auch in Haeberlin 1852, S. 355 - 421). StPO Baden 1864: Gerichtsverfassung und Strafprozeßordnung für das Großherzog­ thum Baden, hg. v. K. Ammann, Karlsruhe 1865. StPO Deutsches Reich 1877: Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich vom 1. Februar 1877 und das Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 mit den Erläuterungen des Reichsgerichts, hg. v. P. Daude, Berlin 1886. StPO BRD 1950: Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz in der vom 1. Oktober 1950 an geltenden Fassung, hg. v. W. Dallinger, Stuttgart/Köln 1950.

228 StPO DDR 1952: Strafprozeßordnung vom 2. Oktober 1952, hg. v. Ministerium der Justiz der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1955. StPO DDR 1968: Strafprozeßordnung der Deutschen Demokratischen Republik und angrenzende Gesetze und Bestimmungen, hg. v. Ministerium der Justiz, Berlin 1969. GVG DDR 1974: Gerichtsverfassungsrecht, hg. v. Ministerium der Justiz, Berlin 1975. StPO BRD 1975: Strafprozeßordnung mit Einführungsgesetz und Gerichtsverfassungs­ vorschriften, hg. v. C. Roxin, 19. Aufl., München 1975.

2) Wörterbücher Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. A. Erler/E. Kaufmann, Bd. 1, Berlin 1971. J.Chr. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 4 Theile, Leipzig 1793 - 1801. J. u. W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, hg. v.d.Deutschen Akademie der Wissen­ schaften zu Berlin, 16 (= 32) Bde., Leipzig 1854 — 1860.

3) Literatur R.F. Bales (1968): Die Interaktionsanalyse: Ein Beobachtungsverfahren zur Unter­ suchung kleiner Gruppen, in: R. König (Hg.): Beobachtung und Experiment in der Sozialforschung, 6. Aufl., Köln/Berlin, S. 148 — 167. J. Baumann (1972): Einführung in die Rechtswissenschaft, 3. Aufl., München. J. Bechthold (1967): Die Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, Bonn. J.B. Bekk (1846): Die Großherzoglich Badische Strafprozeßordnung, erläutert, Mannheim. H. Benjamin (1958): Die dialektische Einheit von Gesetzlichkeit und Parteilichkeit durchsetzen, in: Neue Justiz, S. 365. K.-H. Beyer (1967): Das Strafverfahren in der DDR, Berlin. C.B. Cazden (1971): Die Situation. Eine vernachlässigte Ursache sozialer Klassen­ unterschiede im Sprachgebrauch, in: W. Klein/D. Wunderlich: Aspekte der Soziolinguistik, Frankfurt a.M., S. 267 - 296. K.-H. Deutrich/G. Schank (1974): Redekonstellation und Sprachverhalten II, in: Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik, Bd. 2, Weinheim/Tü­ bingen, S. 1046 — 1056. P.J.A. v. Feuerbach (1821): Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlich­ keit der Gerechtigkeitspflege, 2 Bde., Gießen. G. Fezer (1970): Die Funktion der mündlichen Verhandlung im Zivilprozeß und im Strafprozeß, Tübingen. H. Henkel (1968): Strafverfahrensrecht. Ein Lehrbuch, 2. Aufl., Stuttgart.

229 H. Henne (1972): Semantik und Lexikographie, Berlin. D. Horn (1966): Rechtssprache und Kommunikation. Grundlegung einer seman­ tischen Kommunikationstheorie, Berlin. H.-G. Kip (1952): Das sogenannte Mündlichkeitsprinzip, Köln/Berlin. R. Lautmann (1972): Justiz — die stille Gewalt. Teilnehmende Beobachtung und entscheidungslogische Analyse, Frankfurt a.M. R. Leodolter (1975): Das Sprachverhalten von Angeklagten vor Gericht. Ansätze zu einer soziolinguistischen Theorie der Verbalisierung, Kronberg/Ts. J.A. Mackert (1947): Von der Peinlichen Prozedur zum Anklageprozeß. Beiträge zur Geschichte des Strafprozesses im Großherzogtum Baden, Jur. Diss. Frei­ burg i.Br. (mschr.). C.J.A. Mittermaier (1832/33): Das deutsche Strafverfahren in Fortbildung durch Gerichtsgebrauch und Partikulargesetzgebung und in genauer Vergleichung mit dem englischen und französischen Strafprozesse, 2 Teile, 2. Aufl., Hei­ delberg. (1845): Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschworenengericht, Stuttgart. (1856): Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren, Erlangen. L. Müller (1900 - 1902): Badische Landtagsgeschichte, 4 Teile. H. Müller-Tochtermann (1959): Zur Struktur der deutschen Rechtssprache. Beobachtungen und Gedanken zum Thema Fachsprache und Allgemein­ sprache, in: Muttersprache 69, S. 84 - 92. U. Püschel (1975): Semantisch-syntaktische Relationen. Untersuchungen zur Kom­ patibilität lexikalischer Einheiten im Deutschen, Tübingen. M. Rehbinder / H. Schelsky (Hg.) (1973): Zur Effektivität des Rechts (= Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 3). W.P. Robinson (1965): The Elaborated Code in Working Class Language, in: Language and Speech 8, S. 243 — 252. H. Rödingen (1972): Ansätze zu einer sprachkritischen Rechtstheorie, in: ARSP 58, S. 161 - 183. C.F. Roßhirt (1844): Über die Entwürfe der Gerichtsverfassung und der Strafpro­ zeßordnung für das Großherzogthum Baden, Heidelberg. H. Rottleuther (1973a): Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, Frankfurt a.M. (1973b): Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Frankfurt a.M. G. Schulz (1973): Die Bottroper Protokolle — Parataxe und Hypotaxe, München. T.-M. Seibert (1972): Von Sprachgegenständen zur Sprache von juristischen Gegen­ ständen. Sprachkritische Thesen zum Verhältnis von Eigenzeichen zu juri­ stischen Zeichen, in: ARSP 58, S. 43 — 52. Strafprozeßrecht der DDR. Lehrkommentar zur StPO der DDR vom 12. Januar 1968, hg. v. Ministerium der Justiz, Berlin 1968.

230 H. Steger u.a. (1974): Redekonstellation, Redekonstellationstyp, Textexemplar, Textsorte im Rahmen des Sprachverhaltensmodells, in: Gesprochene Spra­ che, Jahrbuch 1972 des Instituts für deutsche Sprache (=Sprache der Gegen­ wart 26), Düsseldorf, S. 39 — 97. H. Steger (1975 a): Praxisbezogener Versuch über Sprechintentionen, Paper. (1975 b): Zur Klassifikation gesprochener Alltagskommunikation, Paper. A.-M. Tausch/1. Langer (1971): Soziales Verhalten von Richtern gegenüber Ange­ klagten; Merkmale, Auswirkungen sowie Veränderungen durch ein Selbst­ training, in: Zs. f. Entwicklungspsychologie und Päd. Psychologie 3, S. 283 — 303. A. Weinmann (1930): Gutachten und Urteilsentwurf, 6. Aufl., Berlin. G. Winter /K.F. Schumann (1973): Sozialisation und Legitimierung des Rechts im Strafverfahren, zugleich ein Beitrag zur Frage des rechtlichen Gehörs, in: M. Rehbinder/H. Schelsky (Hg.) 1973, S. 529 — 553. D. Wunderlich (1976 b): Sprechakttheorie und Diskursanalyse, in: K.-O. Apel (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a.M., S. 463 — 488. H.A. Zachariae (1861/68): Handbuch des deutschen Strafprozesses, 2 Bde., Göttingen.

231 H. BACH

Sprachwandel und Interferenz

öffentlicher Vortrag

Vor dem anfang des 19. Jahrhunderts beschäftigte die Sprachforschung sich kaum mit den Veränderungen der sprachen. Antike und mittelalter sind geprägt von sprachphilosophie und Spekulationen über die philo­ sophisch-sprachlichen kategorien. Als gewinn bleibt vor allem das latei­ nische alphabet; außerdem die einteilungen der schulgrammatik, die zwar durch mechanische Übertragung auf sprachen ganz anderer Struktur als die der klassischen manchen schaden angerichtet haben, dennoch bis heute als gerüst ihre gültigkeit bewahren. Das arbeitsfeld erweiterte sich vom 16. bis zum 18. jahrhundert auf die orientalischen und die modernen europäischen sprachen. Es erschienen grammatiken und umfangreiche Wörterbücher. Die von patriotischem geist getragenen bestrebungen richteten sich auf reinheit der spräche und auf die herausbildung einer gemeinsprachlichen norm. Gerade des­ halb lag der Sprachwandel außerhalb des blickfeldes. Mit der entdeckung des sanskrit verloren die klassischen sprachen ihre Sonderstellung. Ein gemeinsamer ursprung war augenfällig, und für die jetzt erblühende vergleichende Sprachwissenschaft wurde die beschäfti- gung mit den lautlichen und morphologischen änderungen das hauptan- liegen. Zurückblickend kann man feststellen, daß die von 1810 bis ungefähr 1920 alleinherrschende sprachgeschichtliche forschung ganz hervorragendes ge­ leistet hat. Sie hat ein riesiges material zusammengetragen, geordnet und erklärt. Sie hat ihre methoden verbessert und abgesichert. Sie hat inschrif- ten in längst untergegangenen sprachen entziffert. Sie hat unser geschicht­ liches wissen um sehr vieles erweitert, ln den ersten generationen wurde die schnell entfaltete Sprachgeschichte fast ausschließlich von großen for- scherpersönlichkeiten aus Deutschland, den Österreichisch-Ungarischen ländern und aus Skandinavien getragen. Von 1870 an wurde sie gemein- gut der europäischen und amerikanischen humanistischen fakultäten. Die Vertreter der sprachgeschichtlichen forschung des 19. jahrhunderts waren stolz auf ihre tüchtigkeit, ihre ergebnisse — und das mit recht. Man kann ihnen bestimmt nicht verdenken, daß sie auf die überwundene sprach­ philosophie der vorhergehenden jahrhunderte bemitleidend oder mit Ver­ achtung zurückschauten. Bedenklicher — wenn auch verständlich — war es,

232 daß die selbstbewußten Vertreter der damals herrschenden richtung mit nicht geringer skepsis den unzeitgemäßen spekulativ-philosophischen ein- zelgängern des 19. jahrhunderts begegneten, obwohl diese jetzt auf einer solideren sprachlichen grundlage fußten, dank eben den glänzenden ergeb- nissen der Sprachgeschichte des 19. jahrhunderts. Der Schwerpunkt der Sprachforschung der letzten zwei generationen hat sich von der sprachgeschichtlichen diachronischen betrachtung.auf die synchronische analyse der sprachsysteme verschoben. Dies hat zu neuen Zielsetzungen geführt, vor allem zu theorien über das wesen der spräche als solcher, zu den kommunikativen aufgaben, deren möglichkeiten und be- grenzungen, zu den sozialen Schichtungen in der sprachkompetenz und deren politischen und kulturellen folgeerscheinungen. Zweifellos haben diese intensiven bemühungen zu interessanten und hochwichtigen erkennt- nissen geführt, wenn auch manches nicht ganz so neu ist, wie es sich Ver­ treter dieser schulen zuweilen vorstellen. Jedenfalls, die Sprachvergleichung und die Sprachgeschichte und damit auch der Sprachwandel sind in den hin- tergrund getreten. Als reaktion gegen teils ganz mechanische rekonstruk­ tionsverfahren, teils eine oft perspektivlose stoffreudigkeit, geschieht eine bewußte abkehr von der historischen dimension, dies wiederum im einklang mit dem herrschenden Zeitgeist. Es fehlt nicht an abschätzigen urteilen über die Sprachwissenschaft des 19. jahrhunderts, die ironisch genug an den ton erinnern, in dem das 19. jahrhundert die frühere Sprachforschung verspot­ tete. Es wäre sicher angemessener, von zwei oder drei unterschiedlichen und gleichberechtigten wissenschaftlichen disziplinen zu sprechen: der Sprachgeschichte, der linguistik und der sprachphilosophie. Trotz der be- grenztheit behalten die ergebnisse der Sprachgeschichte ihren wert. Im großen jahrhundert der Sprachgeschichte bot das arbeitsfeld so reiche aufgaben, daß theoretische betrachtungen zurückgestellt wurden. Der Sprachwandel als solcher war ja eine sonnenklare tatsache. Man konzen­ trierte sich deshalb auf beobachtung und systematisierung der feststellba­ ren Veränderungen in laut/form/syntax und Wortschatz, und dementspre­ chend auf die vorgeschichtlichen lautlichen und morphologischen korrespon- denzen. Die allgemeine Sprachwissenschaft und noch mehr die sprachphilosophie standen ganz im schatten. Aber es gab natürlich methodologische Überle­ gungen; unter den allgemein-theoretischen handbüchern nehmen Pauls “Prinzipien der Sprachgeschichte” zu recht eine zentrale Stellung ein. Im Vordergrund stehen hier nicht wie früher die logischen beziehungen, son­ dern die allgemeinen erklärungen werden zum großteil der damals ganz neuen wissenschaftlichen psychologie entnommen. Paul fordert überall

233 methoden, die in direktem Verhältnis zum tatsachenmaterial stehen. Zitat aus der Vorrede zur 2. auflage: “Ich erkläre ein für alle mal, daß ich nur für diejenigen schreibe, die mit mir der Überzeugung sind, daß die Wissen­ schaft nicht vorwärts gebracht wird durch komplizierte hypothesen, mögen sie auch mit noch so viel geist und scharfsinn ausgeklügelt sein, sondern durch einfache grundgedanken, die an und für sich evident sind, die aber erst fruchtbar werden, wenn sie zu klarem bewußtsein gebracht und mit strenger konsequenz durchgeführt werden”.1 — Wie so viele Zeitgenossen hegte Paul eine tiefe abneigung gegen zu geistreiche oder gar metaphy­ sische betrachtungen. Sein wissenschaftliches glaubensbekenntnis, scheint mir, trifft eine fruchtbare mitte zwischen der völlig stoffgebundenen und der nur abstrahierenden einstellung. Die “Prinzipien” behandeln eingehend auch nicht-geschichtliche sprach­ liche probleme. Trotzdem verteidigt Paul den titel seines buches: “Prinzi­ pien der Sprachgeschichte”. Der folgende passus ist immer wieder zitiert worden — in der ersten generation mit beifall, später als abschreckendes beweisstück für die engstirnigkeit der sprachhistorischen richtung, als diese auf ihrem höhepunkt stand. Es lautet: “Ich habe mich noch kurz zu recht- fertigen, daß ich den titel “Prinzipien der Sprachgeschichte” gewählt habe. Es ist eingewendet, daß es noch eine andere wissenschaftliche betrachtung der spräche gäbe als die geschichtliche. Ich muß das in abrede stellen. Was man für eine nicht-geschichtliche und doch wissenschaftliche betrachtung der spräche erklärt, ist im gründe nichts als eine unvollkommen geschicht­ liche, unvollkommen teils durch die schuld des betrachters, teils durch die schuld des beobachtungsmaterials. Sobald man über das bloße konstatie­ ren von einzelheiten hinausgeht, sobald man versucht den Zusammenhang zu erfassen, die erscheinungen zu begreifen, so betritt man geschichtlichen boden, wenn auch vielleicht, ohne sich klar darüber zu sein”.2 — Man muß zugeben: im lichte der späteren entwicklung der allgemeinen linguistik kann diese formulierung Pauls nur komisch erscheinen. Richtig verstanden ist das zitat vielleicht nicht ganz so abwegig, wie es einem auf den ersten blick Vorkommen mag. Die klassischen darstellungen des sprachwandels, bei Whitney, Paul oder Sandfeld und anderen, schildern den mechanismus der änderungen auf dem gebiet der lautlehre, der morphologie, der Wortbildung, des Wort­ schatzes, der syntax. Diese beschreibungen der Vorgänge halten sich vor­ zugsweise an ein geschichtliches material. Grundlage für die erklärungen sind ein umfassendes wissen, scharfe beobachtungsgabe und vor allem eine rationale, tatsachennahe betrachtungsweise. Die kodifizierungen in den sprachgeschichtlichen handbüchern und etymologischen Wörterbüchern sind im großen und ganzen unangefochten und unanfechtbar. Sehen wir

234 vorerst von den fremden einflüssen ab, sind die Verschiebungen in der syntax und im Wortschatz am leichtesten zu erklären. Sie hängen eng mit der geschichtlichen entwicklung und den zahllosen kulturellen Wandlun­ gen, großen wie kleinen, in den verschiedenen materiellen und geistigen bereichen zusammen. Andere innersprachliche änderungen sind meist durch analogiebildungen zu erklären. Bekanntlich hat die moderne linguistik auf dem gebiet der syntax eine völlige umwälzung der analysen herbeigeführt. Gerade hier handelt es sich jedoch ausschließlich um synchronische, eventuell panchronische gesichts- punkte, so daß der Sprachwandel nicht berührt wird. — Für die wortge- schichte bedeutete die wortfeldtheorie eine entschiedene und auch prin­ zipiell wichtige bereicherung. Die früheren erklärungsmethoden werden durch diese theorie nicht aufgehoben, aber das Verständnis der Verschie­ bungen erfährt eine neue und wertvolle perspektive. Praktisch anwendbar ist sie allerdings nur in begrenzten — hochinteressanten — bezirken. Die änderungen in den grammatischen/morphologischen ausdrucksmittein und dann auch die einschränkung, eventuell erweiterung oder jedenfalls Umwandlung der grammatischen paradigmen beginnen oft mit lautlichen entwicklungen, Wenn dadurch das system ins schwanken gerät, spielen analogiebildungen und ausgleichstendenzen, sowie konzentrationen eine erhebliche rolle. Hier gilt, daß die hervorhebung des systembegriffs in der modernen linguistik dazu geführt hat, diese änderungen in den grammati­ schen ausdrucksmittein vor allem als systemänderungen aufzufassen. In­ dessen ist auch dies keine prinzipielle neuschöpfung — in der formenlehre drängte sich die aufstellung von beinah eindeutigen paradigmen wie von selbst auf. Es ist kein zufall, daß sich eben diese kategorien, als erbe aus der sonst wenig ergiebigen antiken sprachphilosophie, bis heute lebendig erhalten haben, und das nicht bloß in der schule. Doch haben die moder­ nen richtungen gerade in der kategorienlehre großes geleistet: das gilt so­ wohl für eine allgemein-sprachtheoretische erkenntnis als für neue katego- riebildungen, die in der synchronen und sogar in der praktischen gramma- tik mit vorteil verwendet werden. Aber für das Verständnis oder die be- schreibung des sprachwandels sind sie kaum von Wichtigkeit. Da die änderungen in syntax, wortvorrat und formenlehre sich gewöhnlich rein pragmatisch erklären lassen, hat sich die theorie des sprachwandels ganz überwiegend mit den lautveränderungen befaßt. Hier bieten sich keine kulturellen oder politischen notwendigkeiten — wie beim wortvorrat — auch kein stilwille oder analogietendenzen — wie in der syntax — als Vor­ aussetzung für die neuerungen an. Die lautlichen änderungen ziehen, wie wir wissen, auf lange sicht radikale folgen nach sich, indem sie im laufe

235 der jahrhunderte so große Umwälzungen in den sprachen hervorrufen, daß ein unmittelbares Verständnis zwischen zwei stufen derselben spräche nicht möglich wäre — wie z.b. zwischen italienisch und lateinisch. Oder daß mehr oder weniger einheitliche sprachen sich so stark auseinanderentwickeln, daß eine synchrone Verständigung erschwert oder ausgeschlossen ist — z.b.: er­ schwert zwischen dänisch/norwegisch/schwedisch — unmöglich zwischen diesen drei skandinavischen sprachen einerseits und dem isländischen ander­ seits, obwohl die unterschiede vor 1 0 0 0 jahren geringfügig waren. Dasselbe Verhältnis, stark akzentuiert wegen der größeren Zeitspanne, gilt zwischen den germanischen sprachen, ganz zu schweigen von den indoeuropäischen. Dem umstrittenen problem des lautwandeis nähert man sich am zweckmäs- sigsten, indem man zunächst eine bedeutsame kategorie ausscheidet. Ich denke an die lautübergänge, die sich durch bestimmte faktoren in der Struk­ tur einer spräche erklären lassen, bzw. die durch andere änderungen her­ vorgerufen werden. — Wenn ich im folgenden ein paar ganz banale beispie- le heranziehe, bitte ich die fachkollegen zu bedenken, daß es sich um die schwierige textsorte “öffentlicher vortrag” handelt! — Die wichtigste von sämtlichen neuerungen in den germanischen sprachen war die Verlegung des (druck) akzents auf die erste silbe. Die neue akzentuation hatte die durch zwei jahrtausende zu beobachtende folge für sämtliche germanischen sprachen, daß die nachstehenden Silben reduziert wurden, in sehr vielen fäl­ len ganz geschwunden sind. Dies bedeutete nicht nur eine völlig veränderte wortstruktur, sondern auch eine starke Schrumpfung der primären gram­ matischen formelemente — damit auch eine neue grammatische Oberflä­ chenstruktur, d.h. daß die weiter bestehenden beziehungen zwischen den konstituenten neue ausdrucksmittel finden mußten. Ob man die akzent- verhältnisse dieser sprachgruppe als “ursache” oder als “bedingung” des wandels bezeichnen will, dürfte wenig relevant sein. Jedenfalls sind die reduktionen und die radikale Strukturänderung keine “primäre” entwick- lung, sondern eben abhängig von der germanischen akzentuation — deren ursprung wiederum entweder primär oder sekundär sein kann. Zu den vielen sekundären, und deshalb erklärbaren lautveränderungen ge­ hört die menge der umlaute, assimilationen, dissimilationen, erleichterun- gen von konsonantengruppen, analogie- und ausgleichserscheinungen. Ganz anders verhält es sich mit den primären, unabhängigen, “spontanen” lautveränderungen. Da, wo sie aufkommen, sind sie im prinzip unerklärlich. Als klassisches beispiel unter zahllosen könnte man die nhd.diphthongie- rung nennen — mhd. luth/hüs/fiur zu nhd. wein/haus/feuer. Der mecha- nismus dieses Vorgangs bietet für den phonetiker keine Schwierigkeit, und parallelen für diphthongierungen langer vokale — nicht nur die der hoch-

236 gestellten — gibt es eine unmenge in vielen sprachen und mundarten. Das ist das w ie — aber das weshalb/weshalb nicht bleibt schwie­ rig. Warum heißt es wein /haus/feuer im deutschen, im engl, wine/house/ fire, wenn das nd. das ursprüngliche win/hus/für bewahrt, und genau so dän./schwed. vin/hus/fyr? Wir können heute nicht ausführlich auf diese probleme eingehen: verzeichnen bloß, daß man früh den unterschied be­ tonte zwischen dem ersten entstehen im ursprungsherd einer lautlichen änderung und deren annahme in angrenzenden landschaften, eventuell im ganzen Sprachgebiet. Diese Verbreitungsprozesse, und das gilt sowohl für sekundäre als für primäre lautänderungen und auch für die übrigen kate- gorien des sprachwandels, spielen sich im einzelnen sehr verschieden ab; sie sind vor allem durch die sprachgeographischen methoden erfolgreich beleuchtet worden, und diese gesichtspunkte haben auch ein tieferes Ver­ ständnis der sprachbewegungen in alter zeit ermöglicht. Für die lautlichen änderungen haben die phonologischen schulen den wich­ tigen unterschied hervorgehoben zwischen der entwicklung von lautvarian- ten innerhalb eines phonemsystems und dem entstehen neuer phoneme und damit auch eines neuen phonemsystems, letzteres eventuell auch durch Zusammenfall zweier phoneme oder phonemreihen. Das beispiel von vorher: die diphthongierung von i/u /ü im nhd., ausgehend vom südosten des Sprach­ gebiets, bedeutet natürlich anfangs bloß eine diphthongisch anklingende neuerung der aussprache (ähnlich wie die engl, normalaussprache kein o : sondern nur ein o“ kennt). Das war zwar rein faktisch eine änderung der aussprache, aber verglichen mit ändern dialekten bloß eine aussprache-va- riante. Als in der nächsten phase die diphthongierung voll durchgeführt wurde, und als daneben neuentwickelte lange i/u /ü entstanden, muß man mit einer neuen phonemreihe rechnen. Den ersten teil dieses prozesses nennt man oft lautänderung (Paul: lautwechsel3), im gegensatz zu dem vollzogenen lautwandel. Schon Paul unterschied zwischen lautnuancen einerseits, und “differenzen von funktionellem wert”4 andererseits. Diese Vorstellungen wurden erst von den Prager phonologen konsequent ausge­ arbeitet. Prinzipiell wichtig ist vor allem, daß die nhd. schriftliche und mündliche Standardsprache die neuentstandenen diphthonge nicht von den alten Zwielauten e i/o u /ö u unterscheidet: also wein/haus/neu klingen genau wie bein/laub/heu. Das bedeutet eine umwälzung des phonemsy­ stems, die besonders bemerkenswert ist, weil sämtliche mundarten und manche Umgangssprachen des deutschen Sprachgebiets die zwei mhd. phonemreihen bis heute auseinanderhalten, und schon dadurch ein von der Schriftsprache durchaus verschiedenes Vokalsystem besitzen. Die entstehung der spontanen lautänderungen — egal ob zu Varianten oder neuen phonemen — hat den theoretikem viel mühe gemacht, ln der Saus-

237 sure-nachfolge betonte man, daß die aufgabe nicht in der beschreibung der einzelnen entwicklungen besteht, sondern darin, nachzuweisen, wie das eine system durch das andere abgelöst wird. Diese behauptung führte zu manchen fehlschlüssen, weil der systemvergleich die 1 a n g u e, die spra che, also eben das sprachsystem betrifft. Die änderungen dagegen gehen in der realität des sprechens, in der p a r o 1 e , in den sprechakten vor sich. Es ist das große verdienst Coserius, nachdrücklich und überzeu­ gend betont zu haben, daß sich die Saussuresche antinomie sprache­ rede nicht auf die objektsebene, sondern auf die betrachtungsebene be­ zieht. Die Unterscheidung gehört nicht zur theorie der spräche, sondern zur theorie der Sprachwissenschaft.5 Coseriu trifft auch etwas sehr zentra­ les, wenn er es ablehnt, nach den Ursachen der sprachveränderungen zu fragen, sondern betont, daß die spräche als realität durch ihre funktion bestimmt wird. Sie muß sich wandeln, weil sie nicht ein fertiges produkt, sondern ein Vorgang ist, weil sie im sprechakt stets neugeschaffen wird. Wenn man behauptet hatte, die Wandlung widerspräche der natur der sprä­ che, sagt Coseriu gerade umgekehrt, die Veränderlichkeit gehört zur “seins­ weise der sprachen”.6 Dies ist der springende punkt — und es ist erfreulich, daß dogmatische Positionen allgemein überwunden erscheinen. Schon Ro­ man Jakobson sagt (1953), polemisch gegen Saussure: “Der große fehler und die konfusion beruhten auf der scharfen Unterscheidung von synchro- nisch und diachronisch, die mit statisch und dynamisch gleichgesetzt wur­ den. Der sprachzustand ist synchronisch, aber nicht statisch”. — Wie so oft wörtlich identisch mit Humboldts formulierung: “Nichts in der sprä­ che ist statisch, alles dynamisch”. Mehrfach beruft sich Coseriu in positivem sinn auf Pauls “Prinzipien”, was nicht ausschließt, daß er in vielem eingehender analysiert, geschult durch die die diskussion der neueren linguistischen schulen. Die Überein­ stimmung in den kernpunkten zwischen Coseriu und Martinet einerseits und Paul anderseits geht in der tat erstaunlich weit. Schon der junggram- matiker Paul betont, daß die lautgesetze keine gesetze im naturwissen­ schaftlichen sinne sind, sondern feststellbare, regelmäßige entsprechun- gen.9 Er lehnt es ab, nach den Ursachen der sprachveränderungen zu fra­ gen. Die Wandlungen finden in der sprechtätigkeit der einzelnen individúen s t a tt10 : Das psychische element ist der wesentliche faktor in aller kultur- bewegung, und die kulturwissenschaft ist immer gesellschaftswissenschaft.11 Schon nach Paul liegt der eigentliche grund zu den Veränderungen des usus somit in der sprechtätigkeit. Voraussetzungen des sprachwandels sind die individuellen Varianten, vor allem die Unvollkommenheiten bei der sprach- erlernung der neuen generationen .12 — Ich glaube, man kann diese Vorstel­ lung mit vorteil dahin ergänzen: kein kind, oder kaum ein kind, wächst

238 unter genau denselben sprachlichen bedingungen auf wie seine eitern. In den meisten fällen sind diese bedingungen sogar sehr verschieden — jeder kann sich selbst zum beispiel nehmen. Rein statistisch muß eine addition dieser Verschiebungen zu kleinen oder größeren änderungen in der norm führen. — Die tatsachen des sprachwandels ließen sich am geschichtlich überlieferten material ohne Schwierigkeit ablesen. Für Wortgeschichte und syntax konn­ te man auch den entstehungsprozeß in vielen fällen örtlich/ zeitlich/ nach sozialgruppen oder individuell nachweisen. Gerade für den spontanen lautwandel bot eine direkte beobachtung unüber­ windbare Schwierigkeiten, schon wegen der großmaschigkeit und beharr- lichkeit der Orthographie. Erst in jüngster zeit ist durch die tonbandauf- nahmen die möglichkeit gewonnen, eine objektive grundlage für die Unter­ suchung der lautlichen neuerungen zu erarbeiten. Bald werden aufnahmen vorliegen, die in gewissen zeitabständen die genaue erfassung der gespro­ chenen sprachform in einer bestimmten gegend und sozialschicht ermög­ lichen. Hervorzuheben sind die über 8000 tonbandaufnahmen deutscher mundarten, Umgangssprachen und regionaler hochsprachen in E. Zwirners Deutschem Spracharchiv, die Untersuchungen der gesprochenen Gebrauchs­ hochsprache unter leitung von H. Steger und die gründlichen und metho­ disch bedeutsamen Untersuchungen der Tübinger Arbeitsstelle.13 Wünscht man, die spontanen lautänderungen im entstehungsprozeß zu er­ fassen, ist es eine Voraussetzung, daß eine homogene Sprachgemeinschaft vorliegt, deren norm einigermaßen abgeklärt ist. Da gerade die mündliche Standardnorm des deutschen große, vor allem landschaftliche unterschiede aufweist, sind spontane lautänderungen in ihr wohl schwer abzugrenzen. Ich bin deshalb versucht, auf eine vor einigen monaten erschienene, sehr umfangreiche Untersuchung hinzuweisen, welche eben das problem der schrittweisen lautänderungen beleuchtet. Zwei junge Kopenhagener lin- guisten, Lars Brink und Jdrn Lund, haben anhand des grammophonar- chivs des dänischen Nationalmuseums die lautlichen Verschiebungen in der Kopenhagener spräche untersucht.14 Sie finden zwei sprachliche schichten, die sich grob nach sozialem status unterscheiden. Viele sprach- träger verwenden ihren soziolekt mit einmischung von elementen aus dem ändern, ohne daß es möglich scheint, mehr als die zwei “ideal abstrahier­ ten” sprachformen abzugrenzen. Die Kopenhagener realisation in der höheren sprachschicht hat die norm gebildet für die mündliche Standardsprache des ganzen landes in den Städten, und hat auch in deren strahlungsgebieten die mundart völlig verdrängt. Die­ se mündliche norm ist weitgehend unabhängig von der Schriftsprache: für

239 das dänische gilt wie für das englische oder französische, daß eine ausspra- che genau nach der schrift kaum verständlich sein würde. Ich kann hinzu­ fügen, daß die sprachträger gegen abweichungen von der norm im allge­ meinen sehr intolerant sind, und daß der lautliche nuancenreichtum so groß und so unsystematisch erscheint, daß ein ausländer, selbst bei größtem kräfteaufwand, geringe chancen hat, sich diese norm ganz korrekt anzueig­ nen. Die mündliche dänische Standardsprache hat dabei viele der positiven cigenschaften, welche die großen deutschen landschaftssprachen charakte­ risieren: sie ist bequem im mündlichen verkehr, und in der öffentlichen kommunikation sehr wenig sozial diskriminierend.

Zurück zu dem Sprachwandel. Die Untersuchung von Brink und Lund zeigt deutlich, daß die aussprache in der oberen sozialsprachschicht der hauptstadt in den letzten 120 jahren große änderungen erfahren hat. Sie widerlegt ein­ deutig die auch bei uns früher verbreitete annahme, daß die Wandlungen nur sehr langsam, fast unmerkbar, von generation zu generation fortschreiten. Das gilt also für die zeit von 1855 bis 1975: aber die perspektive erweitert sich, wenn ein zitat des berühmten junggrammatikers Karl Verner hinzugezogen wird. In einem brief 187 3 an den jungen Studenten J ulius Hoffory, später ein bekannter phonetiker und philologe, prof. in Berlin, schreibt Verner:“In einem dänischen buch aus dem vorigen jahrhundert [also dem 18.] zeigen sich sprachliche unterschiede [also vom dänisch 1873], abgesehen vom nur orthographischen, bloß in einzelnen altertümlichen ausdrücken und syntak­ tischen Wendungen. Die phonetische seite ist ganz eine terra incognita... Der unterschied in der aussprache vor 100 jahren und heutzutage... wie sie prak- tice im gespräch von mann zu mann lebt,... ist unglaublich groß, besonders für diejenigen, welche die spräche für ewig und unveränderlich halten ”.15 — Karl Verner hatte klare beweise für diese behauptung, weil er die aufschluß­ reichen phonetischen angaben des grammatikers Jens Htfysgaard mit seiner eigenen aussprache vergleichen konnte. Alle drei, Karl Verner, Julius Hoffory und Jens Htfysgaard hatten kinder- und Schulzeit in ihrem geburts- ort Aarhus verbracht, so daß die Vergleichsbasis zuverlässig war. Karl Verners aussage stimmt ganz zu den detaillierten und dokumentierten feststellungen von Brink und Lund, so daß wir faktisch die schnellen aus- spracheänderungen in der führenden sozialschicht der dänischen hauptstadt über mehr als zwei jahrhunderte recht genau verfolgen können. Die neue Untersuchung kommt zu dem überraschenden ergebnis, daß über die hälfte aller Wörter in einem normalen text während der letzten 120 jahre die aus­ sprache geändert hat. Besonders beachtenswert ist: die gedruckte/geschrie­ bene norm spielt hierbei eine unbedeutende rolle — die meisten entwick- lungen führen die aussprache noch weiter von der schrift weg, als das schon vorher der fall war. Interessant ist auch, daß die niedere sozial-sprachschicht

240 die entwicklung stärker zu bestimmen scheint als die obere — alles dies widerspricht den herkömmlichen theoretischen erwägungen.16 *

In dem hurtigen panorama über die erscheinungsformen des sprachwan- dels habe ich bisher die von außen kommenden faktoren ausgeschlossen. Es handelt sich ja da vor allem um wortentlehnungen: die fremdwÖrter und deren anpassung verschiedenen grades an das laut- und formensystem der aufnehmenden spräche. Und um die mindestens ebenso wichtigen Übertragungen der phraseologischen muster, um die lehnbedeutungen, lehnübersetzungen, lehnbildungen und lehnschöpfungen nach der eintei- lung von Werner Betz.17 Starke beeinflussungen machen sich in syntax und stil und vor allem deren grenzzonen geltend. Die forschung hat sich von je mit Vorliebe mit diesen gegenständen beschäftigt, schon weil sie so eng mit der politischen geschichte, wie auch mit der entwicklung der ma­ teriellen und geistigen kultur Zusammenhängen. Ein reiches material ist zu­ sammengetragen, klassifizierungen sind aufgestellt, verfeinert und allgemein akzeptiert. Es handelt sich um offene systeme und ganz klar um geschicht­ liche Vorgänge, die sich örtlich und zeitlich festlegen lassen. Prinzipielle probleme bietet diese — ungeheuer wichtige — seite des sprachwandels eigentlich nicht. In den letzten zwei jahrzehnten hat man beeinflussungen zwischen zwei, eventuell mehreren, sprachen mit dem terminus “interferenz” (IF) bezeichnet. Der ausdruck stammt aus der physik, und wurde übertragen in der assoziationspsychologie verwendet. Heute verbinden die konnotatio- nen das wort sehr adäquat mit der rundfunktechnik. Zum linguistischen terminus wurde IF vor allem durch Uriel Weinreichs buch “Languages in C o n ta c t”.18 Weinreich beleuchtet die IF-probleme ganz überwiegend aus der Situation des zwei- oder mehrsprachlers. Er definiert IF als die Störun­ gen im system oder der norm in der spräche 1 oder der spräche 2, w elche bei dem Übertritt aus der einen Sprachgemeinschaft in die andere Vorkom­ men. Das gleiche gilt, wo die Zweisprachigkeit nicht auf einem solchen Wechsel (z.b. bei der immigration) beruht, sondern wo der zweisprachler von kind an mit zwei sprachen aufwächst: sei es, daß vater und mutter je ihre spräche verwenden;sei es durch Zugehörigkeit zu einer sprachlichen minorität als grenzbewohner oder sonstwie. Weinreich besaß persönliche Voraussetzungen für die behandlung des the- mas: Aufgewachsen mit yiddisch in polnisch/ukrainisch/litauischer um­ weit, als 14-jähriger umgesiedelt nach New York, wo er sein yiddisch in Verflechtung mit dem amerikanischen erlebte, d.h. in einer gesellschaft, wo der bilinguismus in vielen anderen und andersartigen einwanderergrup­ pen herrscht.

241 Die abgrenzung des begriffs IF hat geschwankt: abzulehnen ist die radi­ kale auffassung, daß jede beeinflussung von einer spräche auf die andere als IF zu verstehen sei — die Übernahme von z.b. bloß einem oder einigen fremdwörtern beruhe ja auf irgend einem grade der kenntnis der fremden spräche, d.h. auf irgend einem grad von “Zweisprachigkeit” — und die an- leihe bewirke eine, wenn auch noch so geringe, Störung in der entlehnen­ den spräche. — Eine solche auffassung bedeutet eine Verwässerung des fruchtbaren begriffs IF, der durch die gleichsetzung mit “fremdeinwir- kung” überflüssig würde. Ebenso darf man den unterschied nicht verwi­ schen zwischen der Situation des zweisprachlers, und desjenigen, der als einsprachler eine fremdsprache lernt oder gelernt hat. Es läßt sich aller­ dings nicht leugnen, daß alle nur denkbaren Übergangsstadien zwischen diesen beiden typen Vorkommen. Aber die IFen in der fremdsprache des schülers sind pädagogische probleme — ungeheuer wichtige — jedoch ge­ hören sie nicht in die Sprachgeschichte, abgesehen von den fällen, wo die erlernte fremdsprache so dominiert, daß die ausgangssprache, die lebendi­ ge, ihre muster übernimmt. Am deutlichsten lassen sich die IFen wahrnehmen, wo es sich um eine durchkreuzung zweier klar unterschiedener sprachen handelt, wie z.B. französisch und deutsch, oder russisch und amerikanisch. — Jedoch hat man allgemein auch den Zusammenstoß zwischen Standardsprache und mundart oder soziolekt, wie auch von landschaftlicher Umgangssprache einerseits und Standardsprache bzw. dialekt anderseits hierher gezogen. Auch hier gibt es verschiedene grade einer “Zweisprachigkeit”, die viele parallelen zu dem eigentlichen bilinguismus bietet — allerdings darf man die unterschiede nicht bagatellisieren. Gerade für den Sprachwandel sind die IFen bei dieser “internen Zweisprachigkeit” von hervorragender Wich­ tigkeit. Sprachmischungen, wie sie in sprachlichen grenz- oder mischgebieten Vor­ kommen, waren früher untersucht — man denke an Schuchardt oder Sand­ feld. Weinreichs buch kann sich nicht mit den forschungen dieser meister messen. Es ist jedoch sein verdienst, die sprachlichen IFen mit den ergeb- nissen der umfassenden bilinguismus-forschung verbunden zu haben. Das neue ist, daß es ihm nicht — wie den Vorgängern — auf das produkt der mischung ankommt, sondern auf den prozeß. Wie geht der Zusam­ menstoß zweier oder mehrerer sprachen vor sich? Wie erlebt ihn das einzel- individuum oder die gruppe? Welche folgen hat der konflikt — sprachlich, psychologisch, sozial? Extralinguistische faktoren spielen deshalb eine wichtige rolle. Der sprachkontakt ist häufig identisch mit einem kulturkontakt. Das pre- stige der ersten bzw. zweiten spräche wird entscheidend für die erhaltung

242 der erstsprache bzw. für den teilweisen oder vollständigen Übergang zur zweitsprache. Entgegengesetzt wirkt die loyalität einer sprachlichen mino- rität im widerstand gegen eine dominierende spräche — vor allem wenn ein politischer druck ausgeübt wird. Einbezogen werden persönliche vor­ teile und nachteile der Zweisprachigkeit. Wie betont, ist für Weinreich der Vorgang des sprachkontaktes und die in der sprechtätigkeit entstehende IF das eigentliche anliegen. Ähnliches gilt für die anschließende wissenschaftliche diskussion. Die Wichtigkeit dieser forschung für eine reihe von disziplinen ist unbestreitbar: für die ethno- graphie, die Soziologie und Sprachsoziologie, die individual-/gruppen-/und Sprachpsychologie, und nicht zum wenigsten für die fremdsprachenpäda- gogik. Wertvoll für die Sprachwissenschaft ist vor allem die direkte beob- achtung und die eingehende analyse der individuellen und gruppenbe­ stimmten prozesse, da gerade die Situation der zweisprachler und die da­ mit verbundenen IF-probleme einen günstigen ausgangspunkt für erkennt- nisse im bereich der sprechtätigkeit bilden. ln unserem Zusammenhang fragt es sich, wieviel diese IFen in der spräche der grenzbewohner oder der zweisprachigen minoritäten und einzelfami- lien oder einzelpersonen für das hauptthema, den Sprachwandel, bedeuten? Da wo es sich um fest etablierte sprachen handelt, hierunter mit gewissen einschränkungen auch landschaftliche Umgangssprachen oder mundarten, ist der einfluß solcher IFen sehr gering einzuschätzen. Als typisches bei- spiel kann man die sprachliche anpassung der rückwanderer und ostver­ triebenen anführen: es gibt vielfache Zeugnisse dafür, daß ihre sprachliche angleichung an die neue sprachliche umgebung, u.U. auch zur dorfmund- art, sehr gelungen erscheint. 19 Jedenfalls wurde umgekehrt die “aufneh­ mende spräche” durch den sprachlichen fremdkörper nicht oder nur in­ direkt berührt. Ich könnte aus meiner persönlichen Sphäre folgendes anführen: 1920 kamen bei der Wiedervereinigung Nordschleswigs mit Dänemark 170.000 menschen in direkte Verbindung mit dem mutterland (3 millionen). Die ganz überwiegende mehrzahl der Nordschleswiger bediente sich der loka­ len dänischen mundart, bei vielen Stadtbewohnern mit gewissen hoch­ deutschen einwirkungen, die durch schulgang, soldatendienst usw. zustan­ degekommen waren. Die Nordschleswiger hielten auch nach 1920 zäh an ihrer Umgangssprache fest; trotzdem haben weder diese stark mundartlich gefärbte Umgangssprache noch die hochdeutschen einschläge den gering­ sten einfluß auf die fest etablierte schriftliche oder mündliche dänische Standardsprache ausgeübt. Das gilt für lautgebung wie für syntax und Wort­ schatz. Dies ist um so auffälliger, als der einfluß des hochdeutschen und des niederdeutschen auf das dänische — wie auf die anderen skandinavischen

243 sprachen — durch die Jahrhunderte und bis in die neueste zeit einen unge­ heuren umfang gehabt hat. Aber die IF-erscheinungen in der spräche der grenzbewohner oder der vielen privaten ausländer im dänischen Sprachge­ biet ist anscheinend ohne jegliche bedeutung für die realisation der heuti­ gen dänischen Standardsprache. Auch die zahlreichen gastarbeiter, die na­ türlich — ähnlich wie die grenzbewohner — selbst mit den problemen der IF schwer zu kämpfen haben, üben keinerlei einfluß auf die dänische sprä­ che aus. Ich kann mir schlecht vorstellen, daß dies in Deutschland oder Frankreich anders sein sollte. Hat die spräche der bilingualen Elsässer, nach 1918, irgendwelchen einfluß auf das standard-französisch gehabt? Hat die spräche der zahlreichen fremdarbeiter in Deutschland die deutsche grammatik vereinfacht oder kompliziert oder die aussprache modifiziert? Sicher nicht. Es gibt in unserm Zeitalter millionen von menschen, die durch freiwillige oder zwangsweise umsiedlung, individuell oder in gruppen, mit anderen sprachen in allerengste berührung kommen und in die läge des zweisprach- lers gebracht werden. Hinzu kommt die sprachsituation der vielen, die in administration, Wissenschaft, industrie und handel in internationalen gre- mien semipermanent im ausland arbeiten. D.h. es hat in unserem teil der erde noch nie so viele IF-erscheinungen gegeben wie heute. Und trotzdem können wir feststellen, daß diese IFen kaum einfluß auf die normen der kultursprachen ausüben. Das bedeutet ja nicht, daß diese sprachen — man könnte sie die wohletab­ lierten nennen — sich fremden einflüssen entziehen. Im gegenteil. Wie schon immer ist dre einfuhr an fremdwörtern oder fremdausdrücken be­ stimmt durch die entwicklung der materiellen und geistigen kultur. Die gleichschaltung der zivilisationsmuster ist in unserem jahrhundert global und prägt alle lebensbereiche. Das deutsche, das skandinavische und andere sprachen werden deshalb heute so stark wie noch nie überschwemmt durch fremdes sprachgut auf allen gebieten der technik, der natur- und geistes- wissenschaften, der mode, der gastronomie, des sports, der jazz- und beat- musik usw. Die neuen ausdrücke springen mit erstaunlicher Schnelligkeit von kulturzentrum zu kulturzentrum und verbreiten sich sogleich bis in die abgelegensten winkel. Es ist klar, daß diese entwicklungen von aller­ größter bedeutung für den Sprachwandel sind. Wortschatz und phraseolo- gie werden erweitert und umgeschichtet, fremde laute und lautverbindun- gen dringen ein und können zu änderungen des phonemsystems führen. Es handelt sich ganz überwiegend um eine Übernahme, die von der IF der zwei- sprachler zu trennen ist.

244 Scheiden demnach in der gegenwart die eigentlichen IFen zwischen ver­ schiedenen sprachen als bedeutsamer faktor beim Sprachwandel aus, so verhält es sich ganz anders mit den IFen innerhalb einer Sprachgemein­ schaft. Wohl die wichtigste erscheinung in der heutigen sprachsituation der europäischen länder sind die gegenseitigen beeinflussungen zwischen den geographischen und sozialen sprachschichten, darunter auch die völ­ lige Verdrängung der mundart aus stadt und umgebung. Diese ausgleichs- prozesse führen zu IFen jeglichen grades, und sie sind entscheidend für die neubildungen und Verschiebungen in usus und norm. Ausgangspunkt und bedingungen für diese umlagerungen sind in den ländern unseres kul- turkreises grundverschieden. Wo eine hauptstadt seit jahrhunderten poli­ tisch und kulturell dominiert, hat sich eine mündliche norm gebildet, die — in der lautform oft ganz vom Schriftbild abweichend — für die sogenann­ ten gebildeten kreise, aber auch für jede öffentliche kommunikation, den maßstab abgibt. Das bereitet denjenigen, die diese sprachform nicht vom eiternhause mitbringen, große anpassungsschwierigkeiten, in der schule, im beruf, im täglichen leben. Schwierigkeiten, mit denen viele fertig wer­ den, und dann verschwinden die IFen ganz oder beinahe ganz;für andere bleiben sprachliche barrieren bestehen. Es gibt von spräche zu spräche große unterschiede in der toleranz gegen abweichungen von der Standardnorm — auch das steht im Zusammenhang mit der geschichtlichen entwicklung und der kulturellen und sozialen Struk­ tur des landes. Bei großer toleranz — die zur demokratischen gesinnung ge­ hören sollte — entfaltet sich ein harmonisches Verhältnis zwischen mündli­ cher Standardsprache und landschaftlicher Umgangssprache. Der diskrimi­ nierende soziale druck wird geringer, weil eine große Variationsbreite allge­ mein akzeptiert wird. Das deutsche befindet sich, meiner auffassung nach, in dieser glücklichen läge. Die IFen bestehen und sind relativ groß, anglei- chungen geschehen langsam, doch findet zweifellos ein andauernder stan- dardisierungsprozeß statt. Ein weiterer Vorzug des deutschen dürfte darin bestehen, daß die mündliche Standardsprache der schriftnorm verhältnismäßig nahesteht. Gerade weil kein unangefochtener kultureller mittelpunkt eine sprachtyrannie hat aus­ üben können, hat das Schriftbild die deutsche mündliche Standardsprache entscheidend geformt. Das bedeutet, daß die orthographischen probleme geringfügig sind und in gemäßigter form leicht zu lösen wären. Man darf nicht übersehen, daß feste Sprachnormen im modernen leben nützlich und notwendig sind. Gerade für die sozial benachteiligten bevölkerungsschich­ ten bietet eine schriftnahe mündliche norm große vorteile. Die Schatten­ seite besteht in der gefahr der “papierenen spräche” — sie ist aber keine eigenschaft der norm, sondern eine frage des stils, d.h. des sprachwillens.

245 In dieser hinsicht wage ich es nicht, für das deutsche ein ebenso positives urteil zu fällen wie vorher. *

Ich habe versucht, in knapper form einige hauptlinien zu zeichnen, die für Sprachwandel und IF in den heutigen kultursprachen maßgebend sind. Zum Schluß noch ein kurzer hinweis darauf, daß die einwirkung der IFen auf den Sprachwandel sich in früheren epochen unter ganz anderen bedin- gungen entfaltete. Sprachmischung war in vielen fällen die Voraussetzung für tiefgreifende sprachliche änderungen, ja für die entstehung neuer spra­ chen. Dafür, daß die Vorgänge sich anders abspielten, gibt es mehrere gründe, wovon ich die zwei wichtigsten anführe, indem ich gewissermaßen die frühere argumentation umdrehe. Erstens sollte man bedenken, daß die sehr dünne besiedlung in alter zeit die Vermischung der ursprünglichen einwohner mit fremden einwanderern oder eroberern erleichterte. Das mußte zu weitgehenden IFen zwischen zwei oder mehreren sprachen führen, und letztlich zur aufgabe der spräche des einen oder anderen be- völkerungsteils. So muß man sich in vorgeschichtlicher zeit die indoger- manisierung von beinah ganz Europa und großen landstrecken des südlichen Asiens vorstellen. — In viel kleinerem maßstab könnte ich noch einmal auf Skandinavien verweisen: wenn das niederdeutsche und später das hoch­ deutsche im spätmittelalter und bis ins 18.jh. mächtigen einfluß auf die dänische spräche ausübte, gab es politisch und kulturell viele Ursachen da­ für — besonders wichtig war es aber, daß die dänischen Städtchen damals so klein waren. Deutsche kaufleute, handwerker, eventuell gutsbesitzer und militärs, konnten sich deshalb so stark geltend machen, daß die däni­ sche spräche außerordentlich stark von der verwandten fremdsprache ge­ prägt wurde. Die zweite Voraussetzung für die geringere abwehrkraft der Volkssprachen und damit für die eingreifendere integration in früheren jahrhunderten war der umstand, daß es in den europäischen sprachen bis zur renaissance außer dem lateinischen keine Standardnormen gab, die einer Überlagerung hätten widerstand leisten können. So waren schon die Volkssprachen in Gallien, Spanien, Italien dem politisch/kulturell überlegenen latein gewichen. Zwei­ fellos hat die Verdrängung jahrhundertlange IFen verursacht, und man darf annehmen, daß die großen unterschiede zwischen den heutigen romani­ schen sprachen jedenfalls zum teil auf solche substratwirkungen zurückzu­ führen sind. Auch auf die germanischen sprachen übte das lateinische, vor allem durch die kirche, über ein jahrtausend einen überwältigenden einfluß aus. Wenn die Deutschen, im gegensatz zu ihren westlichen und südlichen nachbarn,

246 an ihrer spräche festhalten konnten, lag es daran, daß sie ihre politische Selbständigkeit behaupteten, ja durch jahrhunderte selbst die politische führung innehatten. Trotzdem drangen die sprachlichen einflüsse vom la­ teinischen und französischen nach norden und osten. Das lateinische als allgemeine schriftliche amtssprache und als mündliche Umgangssprache in kloster, schule und kirche hat durch jahrhunderte bi­ linguale milieus aufrechterhalten — und zu den entsprechenden IFen ge­ führt. Wir dürfen dankbar sein, daß diese IFen bewirkt haben, daß das heutige Europa zwar eine kulturell fruchtbare sprachliche vielfalt besitzt, daß aber die zahlreichen parallelen entwicklungen in den romanischen und germanischen sprachen so viele gemeinsamkeiten in Wortschatz, phraséo­ logie und syntax/stil hervorgebracht haben, daß durch die unterschiede ein gemeinsames muster hervorleuchtet.

Anmerkungen

1 H. Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte, 4. Aufl. Halle 1909, s. III. 2 Ebd. s. 20. 3 Ebd. s. 68. 4 Ebd. s. 374. 5 E. Coseriu: Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprach­ wandels, München 1974, s. 9 und 21. 6 Ebd. s. 9 und 94. 7 R. Jakobson: International Journal of American Linguistics, vol.19, suppl. no. 2, Baltimore 195 3, s. 17 f. 8 W.v.Humboldt: Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues [1827-29], in: W.v.H.: Werke in fünf Bänden, hgg. v.A. Flitner und Kl. Giel, Darmstadt 1960ff, Bd. III, s. 184. 9 Paul, Prinzipien, s. 68. 10 Ebd. s. 32. 11 Ebd. s. 6 f. 12 Ebd. s. 63. 13 A. Ruoff: Grundlagen und Methoden der Untersuchung gesprochener Sprache, Tübingen 1973. 14 Lars Brink og ¡

247 17 W. Betz: Deutsch und Lateinisch, Bonn 1949, s. 11-28, besonders s. 27 f. 18 U. Weinreich: Languages in Contact. Findings and Problems, New York 1953. 19 Z.b. A. Ruoff (anm. 13), s. 50.

248 GÜNTER BELLMANN

Slawisch-deutsche Mehrsprachigkeit und Sprachwandel

1. Slawisch-deutscher Sprachkontakt

Die slawische Westausbreitung und die nachfolgende entgegengerichtete Bewegung deutscherseits haben in der zweiten Hälfte des Mittelalters ein nahezu tausend Kilometer tiefes ethnisches Mischgebiet entstehen lassen.1 Davon interessiert hier — gemäß dem mir aufgetragenen Thema — nur der mittlere und nördliche Teil, in dem die Deutschen zusammengetroffen sind vor allem mit Sorben, Polen und Polaben. Wir müssen annehmen, daß es besonders in den Grenzzonen zwischen älteren slawischen und jüngeren deutschen Siedelgebieten und in den Ge­ bieten mit Mischsiedlung zunehmend zu ethnischem Kontakt gekommen ist. Eine Begleiterscheinung dieses ethnischen Kontaktes war der Sprach­ kontakt. Sprachkontakt folgt aus der Divergenz von Sprachgemeinschaft und Kommunikationsgemeinschaft.2 Über die Erscheinungsformen des frühen slawisch-deutschen Sprachkontaktes haben wir kaum direkte Zeug­ nisse. Wir sind daher gezwungen, aus der Entwicklung dieses Kontaktes und aus seinen jüngsten beobachtbaren Stadien Schlüsse zu ziehen. So dürfen wir annehmen, daß es sich um direkten Kontakt handelte, der sich im täglichen Umgang vollzog. Es deutet auch alles darauf hin, daß sich die­ ser Kontakt vor allem in einem verbreiteten Bilingualismus äußerte. Unter Bilingualismus oder Mehrsprachigkeit verstehe ich die Fähigkeit von Spre­ chern, in mindestens einer weiteren als der Primärsprache Sprechhandlun­ gen zu vollziehen, und zwar jeweils in dem Umfange, in dem die soziale Situation des Sprechers es nötig macht. Wie der linguistische Umfang des Bilingualismus, so wurde auch sein unterschiedlicher zeitlicher Beginn durch die Zugehörigkeit der Sprecher zu einzelnen sozialen und arealen Gruppen bestimmt. Da die Städte des westlicheren Kontaktgebietes früh­ zeitig oder schon von Anfang an deutschsprachig-unilingual waren, blieb der Bilingualismus auf die Landbevölkerung konzentriert. 3 Und hier war er bis in das 19. Jahrhundert ein spontaner, ungesteuerter Bilingualismus.4 Außerdem war er zunehmend ein einseitiger Bilingualismus. Das heißt: Die außersprachlichen Faktoren des Kontaktes (Quantität der ethnischen Grup­ pen, soziales, politisches, kulturelles Übergewicht usw.) führten allenthalben zur Dominanz einer Seite, ln den westlichen und mittleren Kontaktgebie­ ten wurde das Deutsche dominant. Bilingual waren hier nur die Slawen. Für sie wurde der einseitige Bilingualismus zum Durchgangsstadium neuer

249 Einsprachigkeit, indem, von der indominanten Sprache aus gesehen, ein Sprachwechsel stattfand, zugunsten des Deutschen oder — im Osten — zu­ gunsten des Slawischen.5 Dazwischen konnte sich zumindest tendenziell die Sprachgrenze herausbilden, als Linie des Gleichgewichtes der Dominanz­ faktoren. östlich dieser Linie verblieben, hauptsächlich bis 1945,einige kleine deutsche sog. Sprachinseln als Reste der bilingualen Großfläche. Westlich der Sprachgrenze, die erst durch die Folgen des 2. Weltkrieges mit der Ostgrenze eines deutschen Staates, der DDR, zur Deckung gebracht wurde, erhielten sich in der uns überschaubaren Zeit zwei größere inselhafte Flächen des slawisch-deutschen Bilingualismus: das Dravänopolabische im hanno­ verschen Wendland und das Ober- und Niedersorbische um Bautzen/Cott­ bus. Für das Dravänopolabische liegen aus dem 17./18. Jahrhundert verschiede­ ne Bezeugungen vor, die diese slawische Sprache zu der Zeit schon beglei­ tet erscheinen lassen von einem weit fortgeschrittenen, einseitigen, zum Sprachwechsel tendierenden Bilingualismus. Sie war zuletzt reduziert in ihrer Funktion und kommunikativen Reichweite auf die Sprache der Fa­ milie und der Alten auf niedrigster Prestigestufe. Sie erlosch — und damit auch der sie begleitende Bilingualismus — in der Mitte des 18. Jahrhunderts.6 Das Sorbische, die andere westslawische Sprachinsel, hat demgegenüber eine ungleich größere Widerstandskraft gezeigt. Zwar hat es ständig von der es umgebenden Sprachgrenze her Einbußen erlitten, das Stadium des durch­ gängigen Bilingualismus wurde indessen erst in der 2. Hälfte des 19. Jahr­ hunderts erreicht. Inzwischen ist deutlich geworden, daß nicht nur die auf Assimilation gerichtete Politik früherer deutscher Regierungen die Unilin- gualisierung zugunsten des Deutschen ständig näher gebracht hat, sondern daß die vielseitigeren kommunikativen Verwendungsmöglichkeiten des Deutschen es vor allem sind, die dazu führen. Die jüngsten Beobachtungen haben ergeben, daß die junge Generation unter den Einheimischen des Sorbengebietes heute stark zur deutschen Einsprachigkeit tendiert.7 Die nach dem letzten Kriege einsetzenden stützenden Maßnahmen zugunsten der sorbischen Kultur und der sorbischen Sprache erweisen sich also offen­ sichtlich nicht in dem zu erwartenden Maße als Stütze eines tatsächlichen sorbisch-deutschen Bilingualismus im Sinne der eingangs gegebenen Defi­ nition. Auf die Umstände der Reduzierung der bilingualen Flächen, die bis 1945 im Nordosten bestanden z.B. in Westpreußen, und derjenigen in Oberschlesien kann ich hier nicht eingehen.

2. Auswirkung des Bilingualismus auf die Sprachverwendung Bilinguales Sprachverhalten führt in aller Regel zu einer gegenseitigen Be-

250 einflussung der beteiligten Sprachen. Diese Beeinflussung einer Sprache durch eine andere unter den Bedingungen des Bilingualismus wird als In­ terferenz bezeichnet. Interferenz erscheint zunächt in der Sprachverwen- dung von Individuen und Gruppen, dann aber auch, wenn ihre Auswirkun­ gen usuell werden, im Sprachsystem (Code). (Es ist üblich geworden, zwi­ schen Interferenz und Transferenz zu unterscheiden: Elemente und Re­ geln werden aus Sprache Lj in Sprache L 2 transferiert. Aber die Sprache Lj interferiert die Sprache L2.) Durch den Tatbestand der Interferenz wird der Bilingualismus für die Linguistik im engeren Sinne in besonderem Maße wichtig. Prinzipiell bewirkt der Bilingualismus Interferenz in beiden Richtungen. Es gibt also z.B. ein sorbisch interferiertes Deutsch und ein deutsch inter­ feriertes Sorbisch.8 Ich gehe im Folgenden auf die Interferenz ein, die das Deutsche typischerweise durch die westslawischen Kontaktsprachen er­ fahren hat und konzentriere mich auf das sorbisch interferierte Deutsch, da das Deutsche den Gegenstand dieser Tagung bildet und dafür den sor­ bisch-deutschen Kontakt am besten vorgearbeitet ist, wofür ich vor allem auf die zwei Bände “Studien zur sprachlichen Interferenz” von S. Michalk/ H. Protze verweise. Für das sorbisch interferierte Ostmitteldeutsch ist von H. Becker die Bezeichnung “Neulausitzisch” geprägt worden.9 Das Neu- lausitzische dient der Kommunikation der bilingualen Sorben mit unilin- gualen Deutschen. Darüber hinaus wird es offensichtlich zunehmend auch von den bilingualen Sorben untereinander verwendet, z.B. in technisch fach­ sprachlicher und in öffentlicher Kommunikation. Es zeigt sehr charakteri­ stische phonetische, phonologische, morphologische, syntaktische, seman­ tische u.a. Transferenzen, die darin begründet sind, daß bestehende inter­ linguale Kontraste der Oberflächenstruktur oder aus der Nähe der Ober­ flächenstruktur als solche nicht aufrechterhalten sondern zur Konvergenz gebracht werden. Neben sehr häufigen Fällen phonetischer Interferenz des Sorbischen auf das Deutsche10 gibt es auch Einwirkungen auf das Phonemsystem des Deutschen. Das Sorbische kennt keine phonemisch relevante Opposition zwischen langen und kurzen Vokalphonemen. Diese Quantitätsindifferenz wird von den bilingualen Sorben auf das Deutsche übertragen, und zwar in der Weise, daß einer historischen Vokallänge des Deutschen im Neulau- sitzischen Länge oder Kürze oder eine dazwischenliegende, meist als “Halblänge” bezeichnete Quantität entsprechen kann.11 Genau dasselbe gilt für die historische Vokalkürze des Deutschen.Minimalpaare wie Rate: R a tte sind somit außer Gültigkeit gesetzt. An die Stelle der Distinktivität der Vokalquantität ist im Neulausitzischen als phonologische Unterdiffe­ renzierung die freie Varianz getreten:

251 d(V * V:) -> (V, V-, V:) \ s (V, v- , V:)12 D.h. der distinktive Gegensatz Vokalkürze/-länge des Deutschen erscheint unter Interferenzwirkung des Sorbischen im Neulausitzischen als freie Varianz. Ich will zwei Beispiele im engeren Sinne grammatischer Interferenz folgen lassen. Das Sorbische ist eine artikellose, das Deutsche eine Artikelsprache. Auch dieser Kontrast führt zur Interferenz. Michalk/Protze 1974 haben für den bestimmten Artikel an Hand von neulausitzischen Tonbandtexten eine Abweichung von bis zu 25 % festgestellt, in der Weise, daß der be­ stimmte Artikel, um nur diesen hier zu erwähnen, in 25 % der Fälle fehlt, in denen er im Deutschen grammatisch notwendig stehen müßte: [Er ist gefahren auf Kreisrat ].13 Auch hier liegt eine Tendenz zur interferenzbe­ dingten Unterdifferenzierung vor. Es gibt auch interferenzbedingte grammatische Überdifferenzierungen. Das Sorbische hat ein vollausgebildetes Aspektsystem, von dem aus bestimmte Reflexe als sehr wahrscheinliche Transferenzen im Neulausitzischen vor­ gefunden werden. Insbesondere werden in verschiedenen Fällen präfigierte Verben aspektuell uminterpretiert. So entsteht im Neulausitzischen eine aspektuelle Opposition, nachdem z.B.[(Speck) auslassen] perfektiv aufge­ faßt und das unpräfigierte lassen (in der lexikalischen Bedeutung ‘(Speck) auslassen’) die Funktion des Imperfektivums übernommen hat.14 Es läge somit in diesem speziellen Falle eine Transferenz der sorbischen Opposi­ tion vor, die dort repräsentiert ist durch wuskr?c : skrtc, verallgemeinert: d [S/e hat den Speck ausgelassen] -> n) [S/V hat den Speck ausgelassen] =£ [Sie hat (den ganzen Tag) (perfektiv) S p eck gelassen] (imperfektiv)

ys([...l * [...]) \ (perf.) (imperf.) Ähnliche Beobachtungen hat V. Schwänzer in der Slowakei gemacht: Der bilinguale Sprecher des Deutschen werde “aspektempfindlich”, indem er mit den sprachlichen Mitteln des Deutschen zwischen vollendeten und un­ vollendeten Handlungen zu unterscheiden beginne.15 Ganz dieselbe Ent­ wicklung schien sich nach U. Weinreich unter polnischer Interferenz auch im Jiddischen angebahnt zu haben.16 Syntaktische Interferenz äußert sich beispielsweise in typischen Abwei­ chungen von der Satzgliedstellung des Deutschen, insbesondere durch

252 Meidung des Satzrahmens und der Endstellung des verbum finitum im eingeleiteten Nebensatz.17 Was die lexikalisch-morphologische Interferenz betrifft, so ist zu sagen, daß das aus anderen Kontakten viel beschriebene Code-switching nicht im Neulausitzischen vorkommt, sondern, umgekehrt, im deutsch-inter- ferierten Sorbisch, für das es höchst charakteristisch ist.18 Der sorbische Einfluß auf das Deutsche ist dagegen stark im Bereich dessen, was man nach Betz im weiteren Sinne als “Lehnprägung” bezeichnet.19 Hier aller­ dings ist dieser Ausdruck nicht zulässig, worauf ich noch zu sprechen kom­ me. Es gehören hierher Transferenzen morphologisch durchsichtiger Syn- tagmen, wie der Verbindung von Verb + abhängiger Präposition und idio­ matische Wendungen jeder Art. Wichtig ist die semantische Transferenz. Einzelsprachen unterscheiden sich voneinander nicht nur durch grammatische Regeln und durch ihren Bestand an Lexikoneinheiten sondern auch durch bestimmte Strukturie­ rungen des Lexikons, insbesondere durch die spezifischen Zuordnungs­ strukturen der Bedeutungen polysemer Lexeme (semasiologischer Para­ digmen). Ich bringe ein Beispiel aus dem polnisch-deutschen Kontakt. In das Deutsch des bilingualen Sprachinselortes Wilmesau ist aus dem Polni­ schen bei dem Lexem Freude die weitere Bedeutung ‘Hochzeit’ transfe­ riert worden.20 Das ist ein Transfer des Polnischen wesele, das diese bei­ den Bedeutungen hat: A(F reude ‘F reu d e’) ->•

Es ist dabei zu sehen, wie die semasiologische Paradigmatik durch die Transferenz von Bedeutungen — teilbereichsweise — zur Konvergenz ge­ bracht wird. Es ist des weiteren offensichtlich, daß nicht nur im Lexikon sondern auch durch die von mir bereits angedeuteten grammatischen Trans­ ferenzen dieselbe Wirkung zum Ausdruck kommt, die darin besteht, be­ stimmte gegebene strukturelle Abstände, die jeweils zwischen Teilsyste­ men zweier Einzelsprachen bestehen, tendenziell zu verringern. Wir haben diese Konvergenz am Deutschen des Sorbengebietes beobachtet, das auf diesem Wege dem Sorbischen angenähert wird. Für das deutsch-interfe- rierte Sorbische ist dieselbe Beobachtung zu machen. L.V. Scerba hat schon 1925 auf diese besondere Form der “Sprachmischung”, wie er es nannte, hingewiesen.22 Demnach würden, übertragen in F. de Saussures Termino­ logie, Sorbisch und die deutsche Umgangssprache des Sorbengebietes nur eine Sprache darstellen, mit der Besonderheit, daß es zu einer einheit­ lichen Inhaltsseite zwei einzelsprachliche (eine deutsche und eine sorbische) Ausdrucksseiten gäbe. 253 Ähnliche Auffassungen sind in jüngster Zeit auch von denjenigen For­ schern vertreten worden, die den Bilingualismus von Einwandererspra­ chen in Überseeländern untersucht haben. Hierher gehört Haugens Vor­ stellung eines graduellen Überganges von zwei Codes in einen und sein Begriff des “Code convergence”. Hasselmo nimmt für den bilingualen Sprecher an, daß er über ein Einer-System (single system) aus sozialdeter­ minierten bilingualen Varianten verfüge.24 Das ist sicherlich eine Auffas­ sung, die die Bilingualismusforschung weiter verfolgen wird. Wir fühlen uns dabei an die Prager Theorie des Sprachbundes erinnert. Es sind dies übrigens Gedanken, die schon durch H. Schuchardt25 und noch vorher, wenn ich recht sehe, zuerst 1829 durch J.B. Kopitar in Bezug auf die Bal­ kansprachen vorbereitet worden sind.26 Und doch ist hier ein wichtiger Unterschied zu beachten, ln dem Falle des Sprachbundes handelt es sich um systemintegrierte, stabilisierte Interfe­ renzerscheinungen. Das Neulausitzische zeigt demgegenüber eine solche Tendenz der Stabilisierung seiner typischen sorbischen Transferenzen nicht. Demzufolge finden auf diesem Wege im allgemeinen auch keine eigentlichen Entlehnungen statt.27 Unter dem Druck der hochdeutschen Standardsprache und der großräumigen allgemeinen ostmitteldeutschen Umgangssprache vermögen die Sorben nicht nur das Sorbische in der bis­ herigen Weise nicht aufrechtzuerhalten, sondern sie geben auch ihre spe­ zifische sorbisch interferierte Variante des Deutschen auf zugunsten eines allgemeineren interferenzfreien, standardsprachenahen Ostmitteldeutsch. Sorbisch interferiertes Neulausitzisch sprechen die älteste und allenfalls die mittlere Generation der Sorben, immer weniger aber die Jugend.7 Es bedeutet dies: Das Deutsche erfährt nur vorübergehend, solange die bi­ linguale Situation anhält, eine Beeinflussung, nicht aber darüber hinaus. Die Interferenzwirkung, durch die in Gestalt der sorbischen Transferenzen ein besonderer Variantenapparat zunächst aufgebaut wird, tritt wieder zurück. Sie überdauert nicht den bilingualen Zustand. Es gibt also im Hin­ blick auf das Deutsche auf diesem Wege keinen Sprachwandel. Es handelt sich — um an Herrn Fourquets Bemerkung von heute vormittag anzu­ knüpfen — , um Sprachveränderungen, die (auf die Dauer) nicht akzep­ tiert werden.

3. Systemintegrierte Transferenzen (Integrate)

Und doch gibt es Fälle, in denen slawische Transferenzen den Sprachwech- überdauert haben, und zwar dadurch, daß sie (wahrscheinlich) schon vor dem Sprachwechsel durch Integration Systembestandteile des domi­ nanten Deutschen wurden. Man bezeichnet diese Art von Integraten als

254 Relikte.28 Am häufigsten sind die lexikalischen Relikte, unter ihnen oben­ an die nach Tausenden zählenden slawischen Toponyme. Beachtlich ist auch die Anzahl appellativer lexikalischer Relikte.29 Sie zeichnen sich durch kleinräumige Geltung aus und dadurch, daß sie meist sachlich un­ bedeutende, kaum zu schriftlicher Fixierung Anlaß gebende Denotate be­ zeichnen. Vor allem zeichnen sie sich durch ausschließliche Zugehörigkeit zur dialektalen Schicht des Deutschen und zur informellen Sprache aus. Dazu gehören Bezeichnungen von volkstümlichen Speisen, von Beeren, Speisepilzen, von kleinen Tieren, von Arbeitsgeräten einer veralteten Tech­ nik usw. Diese Integrate sind Bestandteile des Deutschen geworden. Sie haben an der lautgeschichtlichen Entwicklung des Deutschen teilgenom­ men, so daß man daraus die Zeit ihrer Übernahme ablesen kann. Sie zeigen oft auch eine postintegrative semantische Entwicklung. Nur ausnahmsweise ist ihre Entwicklung zugleich auch eine diastratische, wenn sie nämlich aus der unteren, dialektalen Schicht der Sprache in Schichten überlandschaft­ licher Geltung und sogar in die Standardsprache führt, wodurch die areale Verbreitung (Diffusion) über das übrige deutsche Sprachgebiet gewährlei­ stet ist. Das ist der Fall z.B. bei Peitsche, , Jauche. Insgesamt ver­ bleibt jedoch die nach einigen Hunderten zählende Masse der lexikalischen Relikte des Westslawischen im Deutschen an der Peripherie des Lexikons. Doch handelt es sich immerhin bei ihnen um Lexikonelemente des Deut­ schen, die zur Zeit ihrer Integration eine Innovation und damit eine Sprach- veränderung dargestellt haben. Sehr selten sind phonische und syntaktische Integrate. Die phonischen vor allem sind schwer mit Sicherheit als solche auszumachen. Sie treten aus­ schließlich in den Dialekten auf: W. Mitzka und H. Teuchert haben inte­ grierte Interferenzen des pomoranischen Konsonantensystems festgestellt.30 Es bleibt also dabei: Der sprachverändernde, bilingualismusbedingte Ein­ fluß des Westslawischen auf das Deutsche ist insgesamt vergleichsweise gering und er ist peripher. Vermutlich spielt dabei eine Rolle, daß es sich — vor allem in jüngerer Zeit — um einen durch soziale Unterschichten re­ präsentierten Sprachkontakt gehandelt hat. Einen bedeutenden Reflex haben demgegenüber die slawischen Siedel­ gebiete auf der deutschen Sprachkarte hinterlassen: Das Areal des sor­ bisch-deutschen Bilingualismus um Bautzen-Cottbus tritt als umgangs­ sprachliche Fläche auf der deutschen Dialektkarte hervor.31 Auch ältere Teilgebiete des westlicheren, im Meißnischen gelegenen Sorbischen, die um 1400 bereits den Sprachwechsel vollzogen haben und zwar damals bereits zu einer höheren, ausgeglicheneren Schicht des spätmittelalterli­ chen Ostmitteldeutsch hin, fallen nach R. Grosse heute noch durch ihre geschlossene Sprachfläche und ihre spezifischen hochsprachenahen Sprach-

255 formen auf.32 Diese areale, raumdistributive Nachwirkung des Westslawi­ schen auf das Deutsche ist ebenfalls im Auge zu behalten.

Anmerkungen

1 Hierzu Herrmann u.a. 1970. 2 Mitzka 1928, S. 58 Sprachgemeinschaft vs. Verkehrsgemeinschaft 3 Herrmann u.a. 1970, S. 381. 4 z.B. Schönfeld 1963, S. 5. 5 Beilmann 1971, S. 13 ff. 6 Olesch 1962, S. 299 ff. 7 Protze 1974, S. 415. 8 z.B. Michalk/Protze 1974, S. 33 ff. 9 Becker 1939, S. 111 ff. 10 Michalk/Protze 1967, S. 25. 11 Michalk 1969, S. 128 f.; Protze 1974, S. 400 ff. 12 V = Vokalkürze, V- = Halblänge, V: = Länge, d = deutsch, nl = neulausitzisch, s = sorbisch,\ = “unter Interferenz von” 13 M ichalk/Protze 1974, S. 89 f. 14 Michalk 1969, S. 134 f. 15 Schwänzer 1968, S. 94: Er ist zu seinem Freund gegangen Er ist zu seinem Freund hingegangen 16 Weinreich 1953, S. 40. 17 Michalk/Protze 1974, S. 96. 18 Michalk/Protze 1967, S. 29 f. 19 Michalk/Protze 1974, S. 90 ff; Protze 1974, S. 413. 20 Mojmir 1930/36, S. 136. 21 p = polnisch, wilm = Wilmesau 22 S&rba 1925, S. 12. 23 Haugen 1973, S. 521. 24 Hasselmo 1975, S. 247 ff. 25 Schuchardt z.B. 1884, bes. S. 125. 130. 135; Übertragung “der innern Sprachform” einer Sprache auf eine andere. 26 Kopitar 1829, S. 86: “eine Sprachform .„ mit dreyerlei Sprachmaterie”. - Von Michalk/Protae 1974, S. 7 f. wird die These der “langue mixte a deux termes” (Scerba) allerdings abgelehnt.

256 27 Michalk/Protze 1927, S. 29 f. unterscheiden Lehnwörter und Wortsubstitu­ tionen. 28 Beilmann 1971, S. 23 ff. 49 f. mit Literatur; K. Müller 1972. 29 Hierzu und zu dem Folgenden Bielfeldt 1963. 1965. 1967; Eichler 1965. 30 Mitzka 1928, z.B. S. 12; Teuchert 1969, S. 244 - 251. 31 Deutscher Sprachatlas 1927 - 1956, z.B. Karten 60 ‘hint(en)’, 65 ‘alt(e)’, 91 ‘Schwest(er)’. 32 Grosse 1961, S. 24 f.

L iteratur

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259 EMIL SKALA

Der deutsch-tschechische Bilinguismus

EINGANG Wer du auch seist: Am Abend tritt hinaus aus deiner Stube, drin du alles weißt; als letztes vor der Ferne liegt dein Haus: Wer du auch seist. Mit deinen Augen, welche müde kaum von der verbrauchten Schwelle sich befrein, hebst du ganz langsam einen schwarzen Baum und stellst ihn vor den Himmel: schlank, allein. Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift. Und wie dein Wille ihren Sinn begreift, lassen sie deine Augen zärtlich los ... R.M. Rilke, Das Buch der Bilder

Seit Jahrtausenden gehen Mehrsprachigkeit und Kultur Hand in Hand. Sprachen- und Völkerkreuzungen waren schon immer bedeutende Gebie­ te vollendeter Synthese der materiellen und geistigen Werte. Bereits in Chattuschasch — der Hauptstadt des Hethiterreichs in Kleinasien — er­ scheint vor mehr als 3.000 Jahren im riesigen Archiv der hethitischen Könige das Hethitische neben der babylonischen Sprache. Das interessan­ te Nebeneinander und Durcheinander von Sprachen und Kulturen, die für Europa von besonderer Bedeutung waren und sind, schildert B. H rozny.1 Auch in Europa sind die Probleme der Mehrsprachigkeit in dia- chroner und synchroner Sicht sehr mannigfaltig. Die bisherige Literatur deckte eine große Anzahl von Stufen und Variationen der Sprachmischung und der Mehrsprachigkeit auf, je nach der betreffenden kulturellen und politischen Situation, in der die Mehrsprachigkeit zustande kommt.2 Das Gebiet des europäischen Herzlandes — der Tschechoslowakei — ver­ spricht in bezug auf Bilinguismus eine interessante Ausbeute. Die Ge­ schichte der Tschechoslowakei bietet ein reiches Material zu den Fragen der Zweisprachigkeit. Sprachliche Minderheiten in der Vergangenheit und Gegenwart, tschechische Sprachinseln im deutschen Sprachgebiet und deutsche im tschechischen und slowakischen Sprachgebiet, Beein­ flussung des Tschechischen und Slowakischen durch andere Sprachen und umgekehrt, Grenzmundarten, Fachsprachen, Umgangssprachen und Jargons sind zu untersuchen.

260 Den Bilinguismus sprechen wir nicht nur zweisprachigen Individuen zu, die für Weinreich “the ultimate locus of contact” sind3, sondern vor al­ lem ganzen Gemeinschaften, die unter bestimmten kultur- und sprachge- schichtlichen Aspekten leben und die in Frage stehenden Sprachen be­ nützen. Unter Bilinguismus im weiteren Sinne verstehen wir natürlich auch die Zweisprachigkeit von Umgangssprache und Mundart, die im be­ handelten Raum überall vorhanden war und zum Teil noch ist. Im Tsche­ chischen und auch im Deutschen setzte der Ausgleich der Mundarten schon im Mittelalter ein, nicht jedoch im Slowakischen, das seine eigene Schriftsprache erst im vorigen Jahrhundert erhielt. Bis dahin war auch in der Slowakei das Tschechische mit bodenständigen Slowakismen die eigentliche Schriftsprache der Slowaken im ungarischen Staat. Noch im 20. Jahrhundert gab es viele deutsche Lehnbezeichnungen in der tschechischen und slowakischen Umgangssprache, besonders im Jar­ gon der Handwerker. Auf der anderen Seite lebten tschechische und slo­ wakische Lehnwörter in den deutschen Bauernmundarten. Ich belege aus Böhmen: Brabenze bzw. W awrenze ‘A m eise’, W onischen ‘H opfen­ ran k en ’, Schmetten, Schmettich ‘Sahne’, Pifanka ‘Pfingstrose’, Malina ‘Himbeere’, Tragatsch ‘S chubkarren’, (S)tariswart, Pla:npatsch, Drusch- ma ‘Hochzeitsbitter’, Tschischka ‘Tannenzapfen’, Krinitz, Krims ‘K reuz­ schnabel’, K retscham ‘Gasthaus’, Baba, Waba, Wawa ‘Großmutter’, Wuch- ta, Wuchtei ‘Schmalzkuchen’, K olatscben ‘runder, flacher Kuchen’ u.a.m., außerdem freilich noch Lehnwörter, die auch die Schriftsprache übernom­ men hat, z.B. Peitsche, Zeisig, Stieglitz, Schöps. Ernst Schwarz hat diese Erscheinungen als erster systematisch aufgearbeitet.4 Er irrt jedoch, wenn er meint, die tschechische Wissenschaft hätte sich nie um deutsche Lehnwörter im Tschechischen bemüht. Die Arbeiten von J. Gebauer, A. Beer, J. Janko, nach dem Kriege S. Uteseny, B. Havranek u.a. lassen diese Tradition deutlich erkennen, was übrigens auch die Beiträge in den beiden Bänden “Deutsch-tschechische Beziehungen im Bereich der Spra­ che und Kultur” nachweisen5. In der Vergangenheit verstand man unter Zweisprachigkeit häufig den Gebrauch von zwei verschiedenen Sprachen auf einem bestimmten Terri­ torium, das eine historische Einheit bildete, vor allem in den Sprachen­ kämpfen der österreichisch-ungarischen Monarchie im vorigen und in un­ serem Jahrhundert. Diese Fragen spielten in der böhmischen Geschichte eine bedeutende Rolle, da hier nämlich schon im 12. Jh. die Sprache zum Träger außersprachlicher Interessen wurde. Vom rechtswissenschaftlichen Standpunkt hat sich mit dieser Problematik vor allem J. Kapras beschäf­ tig t.6 Schon 1125 tritt uns in der lateinischen Chronik des Vysehrader Kanonikus Cosmas Gehässigkeit gegen “Ausländer” entgegen, d.h. gegen

261 deutsche Ansiedler in Böhmen, die wirtschaftliche Sonderrechte besaßen .7 ln Prag bestand im 12. Jh. neben dem kleinen vicus Theutonicorum an der Peterskirche auf dem Poric außerhalb der Stadtmauer bereits eine bedeutendere deutsche und jüdische kaufmännische Siedlung im oder am Teynhof in der Altstadt. Die Mehrheit der altstädter Bürger waren im 12. Jh. noch Tschechen. Die Prager Altstadt war eine städtische Siedlung bereits vor der deutschen Kolonisation. Die deutsche Bevölkerung wuchs in der Premys- lidischen Kolonisation in vielen Städten bedeutend an. Diese Bevölke­ rungsverschiebung gipfelte in den böhmischen Ländern, z.T. auch in der Slowakei am Anfang des 14. Jahrhunderts. Die Mehrheit der Prager Zünf­ te hatte eine deutsche Verwaltung und auch in der Stadtverwaltung saßen deutsche Patrizier. Die Prager Altstadt wurde zu einer zweisprachigen Stadt, das Deutsche besaß sozialen Vorrang. Am Anfang des 14. Jahr­ hunderts hatten viele bis dahin einsprachige Städte bereits eine deutsche Minderheit, z.B. Kolin, Cäslav, Chrudim, Domazlice (Taus) in Böhmen, 2ilina (Sillein), Trnava (Tyrnau) in der Slowakei, ln diesen Kleinstädten gab es tschechische Zünfte, z.B. Mälzer, Bäcker, Bierbrauer, neben deut­ schen Zünften. Das Tschechische war am Anfang des 14. Jahrhunderts in manchen Städten mit dem Deutschen nicht gleichberechtigt: die deutschen Patrizier waren selten zweisprachig. Die Handwerkerschaft untereinander war sicher bedeutend stärker bilingual. Die sozial minder­ berechtigten Schichten waren zum größten Teil einsprachig tschechisch. Das Ergebnis der deutschen Kolonisation, die am Anfang des 14. Jahr­ hunderts abgeschlossen war, verschob das sprachliche Verhältnis zugun­ sten des Deutschen: in Böhmen sprach damals fast ein Drittel der Bevöl­ kerung deutsch, ln Mähren und in Oberschlesien war der Gesamtanteil des Deutschen kleiner, in der Umgebung von Leobschütz, Ratibor und Cosel wurde noch tschechisch gesprochen.8 In der Slowakei war der Bilinguismus in dieser Zeit wohl meist in größeren Städten verbreitet. Das slowakische Ethnikum reichte damals in das heutige Nordungarn, bis südlich des Matra- und Tokayergebirges. Zur Magyarisierung kam es in diesen Gebieten erst nach dem Türkeneinfall.9 In der Slowakei war die deutsche Minderheit schwächer als in den böhmischen Ländern, wo sie wichtige wirtschaftliche und kirchliche Schlüsselstellungen innehatte. Daneben gab es die bedeutende Schicht des alteingesessenen tschechi­ schen Landadels, der seine Positionen gegen das deutschsprachige Stadt­ patriziat hartnäckig und mit Erfolg verteidigte. Das typische Zeugnis dieser Situation ist die tschechische Reimchronik des sogenannten Dalimil aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts.10 In der deutschen Fassung des Dalimil, die um 1345 entstand, sind die deutschfeindlichen Stellen natür-

262 lieh weggelassen, vgl. die Ausgabe von Hanka in der BLV, Band 48, Stuttgart 1859. Von besonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung des deutsch-tschechischen Bilinguismus war, daß sich schon 1318 König Johann von Luxemburg vordem böhmischen Adel eidlich verpflichten mußte, alle Rheinländer und Gäste aus dem Lande zu entfernen, keinem Ausländer ein Amt zu verleihen und in allen Fällen sich nur des Rates der Böhmen zu bedienen.11 In Böhmen kam es zum regelrechten Spra­ chenkampf, der im damaligen Europa nicht seinesgleichen hatte. Der Grund dafür liegt auch in der sich rasch entwickelnden Wirtschaftsstruk­ tur, in der beide Völker engagiert waren. Die Regierungszeit Johanns von Luxemburg, 1310-1346, bedeutete eine erhebliche Erstarkung der Macht des tschechischen Adels, der auf der Einsprachigkeit des Landes bestand. Als Beispiel die Stiftungsurkunde des Bischofs Johann v. Prag für das Augustinerkloster in Raudnitz an der , in das nur Tschechen aufgenommen werden sollten, deren beide Eltern tschechisch waren, denn “ebenso wenig, als zwei Gegensätze in einem Wesen vereinbar seien, könnten auch zwei entgegengesetzte Nationen in demselben Kloster sein” 12. Unter Karl IV., 1346-1378, kam es in Böhmen zur weiteren Stabilisie­ rung des Tschechischen. Durch die Errichtung des Erzbistums in Prag, 1344, wurde Böhmen vom Mainzer Erzbistum unabhängig. Karl IV. er­ reichte im Jahre 1347 trotz heftigen Widerstandes in Rom, daß in Prag das Kloster zu Emaus gegründet wurde, in dem der Gottesdienst in kir- chenslawischer Sprache abgehalten wurde. Die Lücken in der Bevölkerung Böhmens, die vor allem in den Städten durch einige Pestepidemien erheb­ lich waren, wurden nicht mehr durch Kolonisation, sondern durch Zuzug aus den ländlichen Bezirken geschlossen; auf diese Weise kamen immer mehr Tschechen nach Prag, wo auch die Wirtschaft des Landes zentrali­ siert wurde. 1348 kam es zur Gründung der Prager Neustadt, der Univer­ sität, der Burg Karlstein, später zum Bau der Karlsbrücke. Nach der Gründung der Neustadt zählte Prag über 30.000 Einwohner und war be­ deutend größer als die wichtigsten Städte Deutschlands — Nürnberg, Frankfurt a.M. und Köln. In der Goldenen Bulle von Sizilien verfügte Karl IV., daß die vier Reichssprachen das Lateinische, das Italienische, das Deutsche und das Tschechische sein sollen; auch seine Söhne und Erben sollten sie erlernen. Er selber sprach sie alle. Seit 1378 nimmt die Entwicklung der Zweisprachigkeit in Böhmen ein noch schnelleres Tempo an. Die Tschechen werden immer häufiger in die Stadträte gewählt, das Tschechische wird als die einzige rechtmäßige Sprache in Böhmen bezeichnet. Kaiser Wenzel IV. wird immer mehr für diese Ansichten gewonnen. Die ganze Entwicklung gipfelte 1409 in der

263 Unterzeichnung des Kuttenberger Dekrets durch Wenzel IV., das den Tschechen an der Prager Universität 3 Stimmen sicherte, allen Ausländern dagegen nur eine. Man argumentierte so, daß die natio saxonica, die natio bavarica und die natio polonica, der damals meistens Schlesier angehör­ ten, sowieso eine Nation bilden. Die ganze Entwicklung gipfelte in der Persönlichkeit und dem Werk von Johannes Hus. Durch die hussitische Entwicklung geht der Bilinguismus vor allem in Böhmen und der Slowakei zurück. Deutsche blieben in der Regel Katho­ liken, und man ging radikal gegen sie vor. Durch den Hussitismus wurde z.B. Kutnä Hora (Kuttenberg), Nemecky Brod (Deutsch Brod) und Chrudim einsprachig. Trotz der starken Durchschichtung der beiden Völker ist es in Böhmen nie zu einer weitgehenden Sprachmischung gekommen, die die Substanz der einen oder der anderen Sprache angetastet hätte. Die einzige Ausnah­ me bildet die tschechisch-polnische Mischung mit deutschen Einschlägen — das Schlonsakische in Teschen-Schlesien. Die Prozentzahl der deutschen Lehnwörter im Alttschechischen ist zwar höher als im heutigen Tschechi­ schen (Schriftsprache), aber deutsche Einflüsse vermochten weder die grammatische Struktur, noch die phonemische Struktur, noch den Wort­ schatz maßgebend zu beeinflussen. Eine andere und kompliziertere Proble­ matik stellt sich in den gemeinsamen Erscheinungen auf der Basis des mitteleuropäischen Sprachbundes dar. Früher nahm man an, daß die Diphthongierung und Monophthongierung im Alttschechischen mit ähnlichen Erscheinungen im Mittelhochdeutschen Zusammenhänge. M. Komarek lehnt in seiner historischen tschechischen Grammatik mit Travnicek die Annahme Gebauers ab, daß die alttschechi­ sche Diphthongierung von o zu uo, o zu uo von der althochdeutschen Diphthongierung ö zu uo beeinflußt wurde, die sich schon im 8.-10. Jahr­ hundert vollzog. Den Grund für seine Behauptung sieht Komärek in inneren Voraussetzungen des alttschechischen Lautsystems und in analogen Diphthongierungen in ost- und südslawischen Sprachen, wo kein deutscher Einfluß anzunehmen ist. Auch das Phonem r, das von al­ len slawischen Sprachen nur im Tschechischen vorhanden ist, ist nicht als Produkt der Berührung des Tschechischen mit dem Deutschen zu erklä­ ren, sondern aus inneren Voraussetzungen des alttschechischen Lautsystems: die altslawische Gruppe rj ergab im Alttschechischen f, z.B. orati ‘ackern’ — o\u ‘ich ackere’.13 Dasselbe gilt vom Zusammenfall des harten und des weichen /, das heute noch die polnische und die slowakische Schriftsprache besitzt, jedoch nicht alle slowakischen Mundarten. Im Alttschechischen kam es im Laufe

264 des 13. und 14. Jahrhunderts zum Zusammenfall weicher und harter Konsonantenpaare. Die weichen Konsonanten b\ p\ v',f\ m \ d ’, t \ n\ z \ s' verschmolzen mit den harten b, p, v, f, m, d, t, n, z, s. Im P aar/— /’ schmelzen beide / in ein “mittleres” / zusammen. Komárek nimmt deut­ schen Einfluß beim Untergang der weichen Konsonanten als sehr wahr­ scheinlich an. Schon Jan Hus schrieb den Zusammenfall der beiden l im Alttschechischen dem deutschen Einfluß zu. Die Artikulation des harten und weichen l beschreibt Hus in seinem Traktat “De orthographia bohé­ mica” , den er zwischen 1406 und 1412 schrieb. Dieser Traktat ist die früheste mitteleuropäische wissenschaftliche Beschreibung einer Mutter­ sprache.14 Die Unterscheidung von / und I und von hartem y und w ei­ chem i, die Hus im zitierten Traktat ebenso fordert und beschreibt, hat er wohl aus seiner engeren Heimat nach Prag mitgebracht. In der Ortho­ graphie werden beide / und beide j im 14. Jahrhundert meist nicht unter­ schieden. In Anlehnung an die Orthographie von Hus werden sie jedoch strikt in der Orthographie der Schriften und Drucke der Böhmischen Brüdergemeine im 15. und 16. Jahrhundert auseinandergehalten. Auch im Frühneuhochdeutschen gab es bekanntlich interessante orthographi­ sche Rückschläge im 16. Jahrhundert.15 Wenn deutscher Einfluß auf die Aufhebung des Gegensatzes/ — I wirklich vorläge, bliebe zu erklären, wa­ rum die alttschechischen Palatale t, d, n von diesem Einfluß unberührt blieben; in der deutschen Sprache sind diese Laute nicht vorhanden. Es kommen noch weitere Veränderungen in Frage, die auffällige Ähnlich­ keit mit der deutschen Diphthongierung u zu au, T zu ei und der Mono-

phthongierung ie zu i, uo zu ü aufweisen, nämlich die alttschechische Di­ phthongierung von ú zu ou, y zu ej und die Monophthongierung von ie zu ?, uó zu ü. Als erster hat die Möglichkeit einer deutschen Beeinflussung A. Kraus bestritten. In seiner Besprechung des Aufsatzes von A. Beer “Über die Spuren deutschen Einflusses im Alttschechischen”16 w iederholt A. Kraus seine kritischen Bemerkungen, die er bereits 1888 in seiner Habi­ litationsschrift “Jan z Michalovic” erhob .17 Kraus geht konsequenter vor als Beer. Er streitet deutschen Einfluß bei folgenden alttschechischen Veränderungen ab: der deutsche Umlaut von a zu e und der tschechische von a zu é ergeben Laute verschiedener Qualität. Der tschechische Um­ laut von u zu i hängt mit dem deutschen Umlaut von u zu ü nicht zusam­ men. Die alttschechische Veränderung von o zu uo und u erscheint im Deutschen später und mit anderen Zwischengliedern: ö zu oa zu ua zu uo. Im Alttschechischen gibt es keine Paralleldiphthongierung von e zu ea und ie. Wahrscheinlicher erscheint Kraus der deutsche Einfluß auf die alttschechische Diphthongierung vony zu aj und ej, er stellte sich jedoch zugleich mit Recht die Frage, warum das alttschechischey von dieser

265 Veränderung erfaßt wurde, f jedoch nicht. Annehmbar erscheint Kraus der deutsche Einfluß von ü zu au auf die alttschechische Diphthongie­ rung von u zu au und ou. Doch kommen wir heute auch in diesem Falle zu anderen Ergebnissen. Auch Komarek ist bei der Beurteilung dieser Veränderung anderer Meinung. Er nimmt an, daß der Impuls zur Di­ phthongierung von ü zu ou von der ähnlichen Diphthongierung von y zu ej ausging, die damit zweifellos zusammenhängt.18 Diese Annahme dürfte stimmen, day zu ej im Tschechischen tatsächlich schon im 12. Jh. be­ legt ist: Teinez ON ‘Tynec’, während u zu ou erst im 13. Jh. erscheint. Im Deutschen ist das Verhältnis der Diphthongierung von 7 zu ei und von u zu ou gerade umgekehrt, da die Veränderung von ü zu ou schneller vor sich ging als diejenige von 7 zu ei. Somit darf auch angenommen werden, daß die Diphthongierungen in beiden Sprachen parallel verliefen; es ist anzunehmen, daß die Diphthongierung um 1500 in der gesprochenen deutschen und tschechischen Sprache beendet war. Lindgren hat bewie­ sen, daß kein Unterschied in der Diphthongierung zwischen Wörtern be­ steht, die der Apokope ausgesetzt sind und den anderen Fällen. Bei ein­ silbigen Wörtern ist jedoch immer ein höherer Prozentsatz von Diphthon­ gierungen festzustellen, was vermuten läßt, daß hier die Diphthongierung zuerst und am stärksten einsetzte.19 Parallelität zwischen dem Deutschen und Tschechischen ist auch bei an­ deren Veränderungen anzunehmen, z.B. bei der alttschechischen Mono- phthongierung von ie zu t, uo zu u und bei der mittelhochdeutschen Mo- nophthongierung von ie zu i, uo zu u, oder bei der Veränderung des bila­ bialen w in labiodentales v, die ebenfalls beiden Sprachen gemeinsam ist. In diesen Fällen wird kein deutscher Einfluß angenommen, obwohl er chronologisch genauso möglich sein sollte. Man wird annehmen können, daß beide Sprachen für diese und andere lautlichen Übereinstimmungen ähnliche innere Voraussetzungen parallel entwickelt haben müssen. Am schwersten ist natürlich der Anfang der Kette von Veränderungen zu fassen. Für das Tschechische sieht Komärek diesen Anfang in Veränderungen, die zur Aufhebung des Gegensatzes der weichen und harten Konsonantenreihen führten, und in der Unterscheidung der langen und kurzen Vokale. Im Deutschen wird die Diphthongierung oft physiologisch erklärt, so von Paul bis Mitzka.20 Nach Sievers beginnt die Diphthongierung im tiefen Fallton. Über die Ursachen der Monophthongierung erfahren wir in der Standardliteratur noch weniger. N.S. Trubetzkoy erkannte, daß sich der Zug zur Diphthon­ gierung nicht als Wirkung des stark zentralisierenden Akzents erweist, sondern der Silbenschnittkorrelation. In diesem Sinn wird die Diphthon­ gierung auch von P. Trost erklärt.21

2 6 6 Während im Bereich der Lautungen beider Sprachen völlige Autonomie anzunehmen ist, ergibt die Verteilung der Lehnwörter ein anderes Bild. Im Bereich der Lehnwörter und Lehnübersetzungen berührten sich beide Sprachen in einigen Epochen der Entwicklung sehr intensiv. Von beson­ derem Interesse sind die Fragen des Lautersatzes der Lehnwörter, mit denen sich vor allem die Arbeiten von Gebauer, Trävnitek, Havränek, Komärek, Smilauer, Vondräk, Lessiak, E. Schwarz, E. Kranzmayer, Lehr-SpJawinski, A. Mayer, R. Trautmann und E. Eichler beschäftigten. Bei der Übernahme wurden stets die Gesetze der Architektonik des Wort­ schatzes der übernehmenden Sprache respektiert.22 Wie groß war eigentlich die Zahl der deutschen Lehnwörter im Alttsche­ chischen? Im alttschechischen Differenzwörterbuch von F. Simek zählen wir nur 387 Germanismen, abgesehen von lautlichen Varianten, aber mit Ableitungen.23 Insgesamt ist im Alttschechischen bis zum Jahre 1500 nach dem Material des vorbereiteten akademischen Wörterbuchs der alt­ tschechischen Sprache von rund 70.000 Wörtern mit etwa 1500 Germa­ nismen zu rechnen, vor allem im Bereich der Peiorativa, der “höheren” Gesellschaftswörter und der Handwerkersprache, das sind rund 2% des Gesamtwortschatzes. Die bisher umfangreichste Untersuchung der deut­ schen Lehnwörter im Tschechischen von A. Mayer24 ist wegen mangeln­ der Differenzierung und Einbeziehung von einer Reihe lateinischer Ety­ mologien von Slawisten mit Recht kritisiert worden. Präziser, aber eben­ falls ergänzungsbedürftig ist die Untersuchung der slawischen Lehnwörter in der neuhochdeutschen Schriftsprache von Ph. Wiek.25 Interessant wäre auch eine Untersuchung der Lehnübersetzungen im Alttschechischen — sowohl aus dem Lateinischen als auch aus dem Deutschen. Germanismen enthält auch das für seine Zeit große Wörterbuch von Meister Klaret (Claretus de Solencia), das um 1365 entstand. Es erfaßt etwa 7.000 alt­ tschechische Wörter. Von rund zwanzig Mitarbeitern an diesem Werk lassen sich 7 - 8 identifizieren, darunter auch so wichtige Persönlichkeiten wie Karl IV., Erzbischof Ernst (Arnost z Pardubic), Johannes von Neu­ markt, der berühmte Kanzler Karls IV., dessen Teilnahme an Klarets Wörterbuch für seinen Trilinguismus spricht, der Weihbischof Albert von Prag, der Abt Neplach von Opatovice u.a .26 Die Gebildeten waren ohne Zweifel zwei-, oft auch dreisprachig. Das trifft auch für die Spitze der Feudalgesellschaft zu. Wie es aber in den mittleren Schichten aussah, läßt sich schwer generalisieren. Die Städte waren Enklaven im Feudal­ system, und es gab viele Modalitäten der sprachlichen Praxis. Die Stadt­ armen waren sicher öfter zweisprachig als die Dorfarmen.

267 Schon im 12. Jahrhundert wertete man das Deutsche als höfische Sprache am Piemyslidenhof. Im 13. Jahrhundert verfaßte König Wenzel II. deut­ sche Minnelieder, und deutsche Dichter standen im Dienst der böhmi­ schen Könige und einiger großer Feudalen. Im 14. Jahrhundert war das tschechische Element in den Städten in Zunahme begriffen. Es gibt Städte, wie z.B. Saaz, die an der lateinischen Kanzleisprache festhielten, um keine Reibungsflächen entstehen zu lassen. Im Jahre 1412, kurz vor Ausbruch der hussitischen Revolution, wendet sich Hus in seiner Ausle­ gung der Zehn Gebote sehr scharf gegen die Sprachmenger unter den Tschechen: “ Es verdienten jetzt auch die Prager und andere Tschechen, die halb tschechisch und halb deutsch reden, ausgepeitscht zu werden, indem sie sagen: to b o lka für tobo+ka (‘G eldtasche’), liko sta tt fy k o (‘Bast’), hantuch sta tt ubrusec, sorc sta tt zästerka, knedlik sta tt iiska, renlik sta tt trerozka (‘Tiegel’, ob erd t. ‘R eindl’), pancier sta tt kruniet, hu n sko p sta tt konsky nahlavek, marstale sta tt konnice, mazhaus sta tt svrchnt sieh, trepky sta tt ch ö d y (‘Schuhe’), hauzsknecht sta tt d o m o v n i pacholek, forman sta tt vozataj (‘Fuhrmann’). Und wer könnte all das schildern, wie sie schon die tschechische Sprache verwirrt haben? So daß, wenn ein richtiger Tscheche sie so sprechen hört, er nicht versteht, was sie sprechen; und daher kommt Ärger, Haß, Zank, Hader und Schmach der Tschechen”.27 Die lexikalischen Paare der tschechischen Umgangs­ und Schriftsprache zu Beginn des 15. Jahrhunderts sind hier dokumen­ tarisch festgehalten. Dieser Dualismus besteht übrigens im Tschechi­ schen zum Teil bis heute .28 Vor der Hussitenzeit ist das wichtigste Denkmal der deutschen Literatur in Böhmen vor Adalbert Stifter entstanden — “Der Ackermann aus Böh­ men”, 1401-1404. Im anderen Zusammenhang haben wir gezeigt, daß der Autor dieses Werkes, Johannes de Sitbor, alias Tepl, alias Saaz, ein Trilinguist war, dessen Lebenslauf mit den zweisprachigen Orten Sitbor, Teplä, 2atec und zuletzt Prag verbunden ist. Später finden wir ihn in einer hussitischen Gesandtschaft nach Basel.29 Ob er tatsächlich Tsche­ che von Geburt war, wie K. Doskofil meinte30, ist nicht erwiesen. Noch weniger gesichert ist, daß er auch das tschechische — viermal längere — Gegenstück zum “Ackermann”, den sogenannten “Tkadlecek”, d.h. ‘Weberlein’,schrieb, der bald nach 1407 entstand. Die Hussitenkriege bedeuten wichtige Verschiebungen zugunsten des Tschechischen und Slowakischen. Das deutsche Patriziat ist auch in vie­ len Städten in der Slowakei bedeutend reduziert worden. Das Tschechi­ sche wurde im 15. Jahrhundert zur diplomatischen Sprache auch in Po­ len und Ungarn. Unter Matthais Corvinus, 1458-1490, wurde von der königlichen Kanzlei in Ofen (Buda) mit slowakischen Städten tschechisch

2 68 korrespondiert. Nach der Schlacht bei Mohäcs, 1526, nahm jedoch diese Entwicklung in der Slowakei ein rasches Ende. Die Türken besetzten das Gebiet des heutigen Ungarn. Der Schwerpunkt des ungarischen Staates verschob sich von Ofen nach Preßburg in die Slowakei. Auch in Böhmen ist das Jahr 1526 für die sprachliche Entwicklung von Bedeutung, da von diesem Jahr an die nun regierenden Habsburger die Zweisprachigkeit unterstützten, indem sie alle wichtigen Stellen mit katho­ lischen Österreichern zu besetzen begannen. Diese Bestrebungen der Habsburger führten freilich erst nach 1620, nach der Schlacht auf dem Weißen Berg bei Prag, wo die oppositionellen tschechischen Utraquisten und deutschen Lutheraner eine völlige Niederlage erlitten, zum Erfolg. Das ganze 15. und 16. Jahrhundert war eine Zeit, in der sich das Tsche­ chische qualitativ und quantitativ weiter festigte. Die böhmischen Huma­ nisten schrieben zuerst lateinisch, z.B. die Schüler des Aeneas Silvius Piccolomini Jan Huska, Mikuläs Konäc z Hodiskova und vor allem Bohus- lav Hasistejnsky z Lobkovic, später tschechisch. Die tschechisch schrei­ benden Humanisten sind für die Entwicklung des Bilinguismus bedeutend wichtiger, da sie programmatisch die tschechische Sprache in den Vorder­ grund rückten. Im 16. Jh. kam es nämlich zum neuen Zuzug deutscher Lutheraner nach Böhmen, und deren zahlenmäßige Erstarkung führte wieder zur Aktualisierung der Sprachenfrage. Bei Viktorin Kornel ze VSehrd (1460-1520) finden sich wieder dieselben Töne wie in der Chro­ nik des sog. Dalimil. Neu war in dieser Epoche des tschechischen Huma­ nismus die bewußte Sprachpflege und die positive Beziehung nicht nur zur Antike, sondern auch zum einheimischen sprachlichen und kulturel­ len Erbe. Interessant ist, daß im Vergleich mit dem älteren tschechischen Rechtsbuch von Ondrej z Dube bei VSehrd die Anzahl der deutschen Lehnwörter abgenommen hat: etwa 60% griechisch-lateinische Lehnwör­ ter neben 40% deutschen Lehnwörtern .31 In den Fußstapfen Vsehrds schritten auch andere tschechische Humani­ sten, nämlich Rehor Hruby z Jeleni, Vaclav Pisecky und vor allem der philologisch gebildete Zikmund Hruby z Jeleni, der Sohn des Erstgenann­ ten. Sein “ Lexikon symphonum”, 1537, ist der erste Versuch eines ver­ gleichenden etymologischen Wörterbuchs der griechischen, lateinischen, deutschen und tschechischen Sprache. Von großer Tragweite für die Entwicklung des Bilinguismus in Böhmen war der von den tschechischen Humanisten inspirierte Beschluß des böhmischen Landtags vom 13. März 1495, nach dem künftighin alle Eintragungen in die böhmischen Land­ tafeln ausschließlich in tschechischer Sprache zu erfolgen hatten. Für das Tschechische war im 16. Jh. die Böhmische Brüdergemeine von außerordentlicher Bedeutung. In Fortsetzung der hussitischen Gedanken

269 legte sie besonderen Wert auf die Bildung und auf die Predigt und den Gesang in der Nationalsprache und entwickelte ein im damaligen Europa einmaliges Netz von Grundschulen, vor allem in Mähren. Die sechsbändige Kralitzer Bibel, 1579-1593, nach Kralice bei Brünn, vollendete die Ein­ heit der tschechischen Schriftsprache, die schon im 14. Jh. zentralisierter und ausgeglichener war als die frühnhd. Schriftsprache. Die gesteigerten Anstrengungen der Böhmischen Brüdergemeine um ver­ tiefte Bildung fanden auch in der intensiven Sprachpflege Ausdruck, vor allem in der Person des gebildeten Bischofs Jan Blahoslav, 1523-1571. Er wandte sich gegen diejenigen deutschen Lehnwörter, die gegen den bis­ herigen Usus neu erschienen. Wie schon anderthalb Jahrhunderte zuvor Hus, kritisiert auch Blahoslav neue deutsche Lehnwörter im Tschechi­ schen seiner Zeit: “ Und deshalb, wo die heimische Sprache eigene und schöne Wörter besäße, gehört sich nicht, Fremdwörter ins Tschechische hineinzutragen. Aber dagegen stellt sich oft die Gewohnheit. Denn man­ che Tschechen, die oft mit Deutschen reden, ja neben oder unter ihnen wohnen, gewöhnen sich daran, deutsche Wörter zu benützen. Und so sprechen sie: Dej sem bantuch ‘Gib das Handtuch her’, Masli hantlik? ‘Hast du eine H andhacke?’, Zac to farkle? ‘Was kostet das Ferkel?’, ln Landskron (Ostböhmen) spricht man nämlich auf diese Weise. Wenn es so weiter gehen sollte, könnte es denjenigen Tschechen, die auf diese Weise sprechen, wie den Sorben in früheren Zeiten ergehen, daß sie näm­ lich weder tschechisch, noch deutsch, noch lateinisch sprechen, sondern ihre Sprache verworren und irregemacht haben, um nur von jenen ver­ standen zu werden, die von ihnen gezeugt werden.”32 In höfischen Krei­ sen kann man nach Blahoslav folgende deutsche Lehnwörter gebrauchen: korfyrlt, marSalek, heytman, truksas, Itolmistr, bofmistr, kuchmistr, m usterherr ‘M usterungsoffizier’, m u stro w a ti ‘mustern’, in Soldatenkrei­ sen k y ry s ‘Küraß, Brustharnisch’, Vacbtordnung, die schon eingebürgert seien. Man sollte es auch den Handwerkern nicht übelnehmen, wenn sie deutsche Lehnwörter gebrauchen, doch solle man es auch nicht nachah­ m en. Im gesamten europäischen Humanismus gibt es nirgends eine Parallele für die zentrale Rolle, die die Sprachpflege bei den tschechischen Huma­ nisten spielte. Diese Eigenart ergibt sich aus der besonderen Lage, in der sich die böhmischen Länder nach 1526 wieder befanden. Fast ein Drittel der Bevölkerung sprach deutsch (in Mähren war der deutsche Bevölkerungs­ anteil bedeutend niedriger), und das tschechische Sprachgebiet sprang halbinselartig 400 km in das deutsche Sprachgebiet vor, nachdem die deutsche Sprache in Schlesien weiter an Boden gewinnen konnte. Dazu kamen der zum Teil germanisierte Adel und die österreichischen Habs-

270 burger auf dem böhmischen Thron. Die größte Persönlichkeit des tschechischen Humanismus war Jan Ämos Komensky, 1592-1670, latinisiert zu Johannes Amos Comenius. Komensky ist der bedeutendste tschechische mehrsprachige Schriftsteller. Als letzter Bischof der Brüdergemeine predigte er die Gleichheit aller, auch aller Völ­ ker, vor Gott. Auf dieser Grundlage baute er seine pädagogischen, sittli­ chen und politischen Reformvorschläge auf. Seine methodisch-didakti- schen Prinzipien wirken bis in unsere Zeit. “Janua linguarum reserata”, lateinisch und deutsch 1631, tschechisch 1633 unter dem Titel “Dvere jazyküv otevtene”, und “Methodus linguarum novissima”, 1649, fordern die Verbindung des Sprachunterrichts mit dem Sachwissen. Eine weltwei­ te Verbreitung fanden seine im Jahr 1657 erschienenen Werke “Orbis sensualium pictus” und “ Didactica Magna”. Ein Jahr zuvor verbrannte in Leszno (Lissa) sein “Thesaurus linguae bohemicae", das bis dahin größte Wörterbuch einer Nationalsprache, an dem er über 40 Jahre gearbeitet hat. Komenskys Stil ist in der gesprochenen Sprache verankert. Er pran­ gerte die “Werkstattsprache” nicht an wie Blahoslav.33 Bei Komensky erscheinen deutsche Lehnwörter, die Blahoslav ein halbes Jahrhundert früher nicht geduldet hätte, sogar in den Titeln seiner berühmten Werke: “Labyrint sveta a lusthauz srdce” (Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens), 1623; “Ksaft umirajici matky jednoty bratrske” (Geschäft, d.i. Vermächtnis der sterbenden Mutter der Brüdergemeine), 1648; weniger bekannt ist seine Streitschrift gegen die Jesuiten “Retunk proti Anti- kristovi” (Rettung vor dem Antichrist), 1617. Der Germanisierungsprozeß, der im 16. Jahrhundert einsetzte, und vor allem in Nord- und Westböhmen Fortschritte vermerken konnte, wurde nach 1620, nach der Niederlage der Protestanten auf dem Weißen Berg, durchgreifender. Er vollzog sich in mehreren Etappen und Generationen. Am gründlichsten wurde die Zusammensetzung der herrschenden Feudal­ schicht verändert. Der bodenständige tschechische Adel bildete in seiner Klasse nur noch eine Minderheit, die am Wiener Hof trotz Anpassungs­ bereitschaft mit Mißtrauen behandelt wurde. Im 17. Jahrhundert wurde durch die Erneuerte Landesordnung (1627) zuerst die deutsche Sprache der tschechischen gleichgestellt, aber die protestantische Massenemigra­ tion und der Zustrom ausländischer katholischer Adeliger und Beamten, die des Tschechischen unkundig waren, führten bald zur Bevorzugung des deutschen Elements. Dazu kam noch ein relativer Bevölkerungsüber­ schuß in den Randgebieten Böhmens und Nordmährens sowie Südschlesiens, die zum größten Teil deutschsprachig waren. Bald kam es zur Abwande­ rung ins fruchtbare Landesinnere, besonders im ganzen Streifen zwischen Liberec (Reichenberg) und Tachov (Tachau).34 Doch wurden auch die

271 Druckerzeugnisse der Druckereien tschechischer Emigranten in Zittau und Pirna während der ganzen Gegenreformationszeit nach Böhmen ge­ schmuggelt und die Kralitzer Bibel wurde benützt. Unter den Jesuiten verbreitete Bohuslav Baibin sein 1672 entstandenes Hauptwerk “Disser- tatio apologética pro lingua slavonica, praecipue bohémica”, das freilich erst 1775 erscheinen durfte. Die Hauptbedeutung gewann es erst in der Aufklärungszeit. Für Mähren errang dieselbe Bedeutung das Werk “Mora- vopis” (Mährenkunde) von Tomás Peäina z techorodu, 1629-1680, des­ sen Hauptquelle die “ Historie cirkevni” des Lutheraners Pavel Sk'ala ze Zhore, 1583-1640, wurde. Um die 10 Bände der Handschrift dieses Wer­ kes studieren zu können, ging Pesina dreimal zu den tschechischen Exu­ lanten nach Schlesien. Für sprachliche Zusammenhänge ist interessant, daß sich Pesina für den tschechischen Gottesdienst in tschechischen und gemischten Gemeinden einsetzte. In der Slowakei war die Situation insofern günstiger, als sich dort das Tschechische in der evangelischen Kirche ununterbrochen halten konnte. Besonders seit 1781, nach dem Toleranzpatent, gab es eine enge Zusam­ menarbeit der tschechischen und slowakischen Protestanten. Es liegt auf der Hand, daß sich auf dieser Basis die Opposition der Intelligenz gegen den Zentralismus der Staatsverwaltung in Wien zu formieren begann. Das Deutsche wurde in der Aufklärungszeit im Habsburgerreich zur einheitli­ chen Amts- und Bildungssprache erhoben. Die sprachliche Umschichtung war umso größer, als auch das Lateinische von dieser Entwicklung betrof­ fen w urde. Der umfassende gesellschaftliche Prozeß der sogenannten nationalen Wiedergeburt wurde durch die Bauernbefreiung und die Industrialisie­ rung ausgelöst. Das tschechische und slowakische Landvolk und die nie­ dere Handwerkerschaft war keineswegs umfassend bilingual, sondern de facto einsprachig. Um 1750 erreichte die tschechische Schriftsprache ih­ ren Tiefpunkt. In dieser Zeit gab es Stimmen, daß die tschechische Spra­ che untergehen werde. Meistens handelte es sich um deutsche Adelige oder Bürgerliche, die ähnliche Ansichten vertraten. Auch dem Begründer der wissenschaftlichen Bohemistik Josef Dobrovsky, 1753-1829, haftete noch Skepsis gegenüber dem Tschechischen als Literatursprache an. Sein “Ausführliches Lehrgebäude der böhmischen Sprache”, die erste wissen­ schaftliche Grammatik des Tschechischen, schreibt er noch 1809 in deut­ scher Sprache. In der ersten Phase der tschechischen Wiedergeburt ent­ stand das erste und letzte Mal in jahrhundertelangen deutsch-tschechi­ schen literarischen Beziehungen eine Situation, in der man die deutsch­ sprachigen Werke als Teil der tschechischen Kultur und Literatur, die auch von Tschechen z.T. deutsch geschrieben wurde, ansehen kann .35

272 Eine ähnliche Situation entstand in der Zeit des Josefinismus auch in an­ deren kompakt katholischen Ländern, z.B. in Krain, Kärnten, der Steier­ mark und Kroatien. Der Grund für gerade diese Entwicklung in den drei erwähnten Sprachen liegt in der besonders intensiven Gegenreformation, die eine zähe lateinische und außerdem noch eine zusätzliche staatskirch­ lich bedingte deutschsprachige Tradition entwickelte.36 Diese erste Phase des Wiederaufstiegs der tschechischen Sprache bedeu­ tete eine Belebung der sprachlichen Werte des 16. Jahrhunderts, auf das auch der bedeutendste Grammatiker dieser Zeit — Dobrovsky — zurück­ griff. In der zweiten Phase der Aufwertung der tschechischen Sprache kam es zur Auffüllung des fehlenden Wortschatzes in allen Fachbereichen. An der Spitze dieser Bestrebungen standen Josef Jungmann (1773-1847), Jan Svatopluk Presl (1791-1849) und sein Bruder Karel Borivoj (1794- 1852). Jungmann lieferte mit seinem fünfbändigen Tschechisch-deutschen Wörterbuch (1835-1838) und mit seinen anspruchsvollen Übersetzungen Miltons, Chateaubriands, Goethes und Schillers den theoretischen und praktischen Beweis für die Ebenbürtigkeit der tschechischen Literatur­ sprache mit der deutschen. Die Brüder Presl beteiligten sich maßgebend an der Schaffung der tschechischen naturwissenschaftlichen Terminolo­ gie, wobei sie auf die Sprache des Volkes und die anderen slawischen Sprachen zurückgriffen. Typisch für diese Neologismen ist der Purismus, der unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Emanzipation des tschechischen Volkes und seiner Sprache bis zum Jahr 1918 auch ein starkes ideologisches Moment besaß. Die Entwicklung des nationalen Bewußtseins und die Agitationsmittel der Tschechen unter den einspra­ chigen Schichten des Landvolks, der Handwerkerschaft und des Klein­ bürgertums im Vereinswesen und der Journalistik schildert sehr anschau­ lich Anton Springer. Er definiert auch das tschechisch-slowakische Ver­ hältnis, das durch die Schaffung der slowakischen Schriftsprache im Jah­ re 1844 in neue Bahnen gelenkt wurde. Die Verschiedenheit der histori­ schen Entwicklung und die Unterschiede zwischen der österreichischen und ungarischen Reichshälfte führten dazu. Für unser Thema ist auch Springers Scharfblick für die eigentlichen Träger des österreichischen Patriotismus von Interesse — die Deutschen und die Ruthenen .37 Das Deutsch der Wiener Beamtenschaft war für die Beamten und Offiziere in der ganzen Monarchie mustergültig, aber das in den böhmischen Län­ dern und in der Slowakei gesprochene Deutsch war sehr mannigfaltig. Die Umgangssprache in den Städten war im deutschen Sprachgebiet mundartlich gefärbt. Die einzelnen deutschen Mundarträume der böhmi­ schen Länder wiesen große Unterschiede auf und waren nicht immer eine bloße Fortsetzung der Mundartverhältnisse im benachbarten Deutsch­

273 land; besonders zum Obersächsischen gab es ostfränkisch ausgerichtete Mundarten in Nordwestböhmen. Als ausgeprägteste deutsche Mundart­ landschaft galt das Egerländische. Aber auch die Mundartverhältnisse in den Sprachinseln der Slowakei waren stark differenziert, z.B. das Zipse- rische, das Gründlerische (Mundarten der Zipser Gründe im Göllnitztal), das Mantakische in Medzev (Metzenseifen) und §tos (Stoß). Die mähri­ schen und böhmischen deutschen Sprachinseln waren ebenfalls individuell abgestuft, am meisten wohl die Schönhengster Mundart. Nach der Grün­ dung der Tschechoslowakei wurde die Dialektologie zum Schwerpunkt­ gebiet der Germanistik an der deutschen Universität in Prag. Eine große Arbeit wurde geleistet, durch die die deutschen Mundarten der Tsche­ choslowakei zu den am gründlichsten erforschten schlechthin gehören .38 Zu den tschechischen Nachbarn an der Sprachgrenze gab es enge Bezie­ hungen wirtschaftlicher Art, man lebte miteinander im Frieden. In dieser Kontaktzone haben die deutschen Mundarten zahlreiche tschechische Lehnwörter und Phrasen übernommen. Der bekannte Ausspruch A. Brückners — “Wenn man zeitgenössisches Tschechisch und insbesondere die Tagespresse liest, so muß man erst das Geschriebene ins Deutsche übersetzen, um es auch wirklich zu verstehen”39 — gilt für den lexikali­ schen und phraseologischen Bereich. Typisch für die tschechische Schrift­ sprache um die Jahrhundertwende, von der dieser Ausspruch stammt, waren Lehnübersetzungen. Deutscherseits sind neben Lehnwörtern auch Lehnübersetzungen aus dem Tschechischen in der deutschen Umgangs­ sprache der böhmischen Länder bekannt.40 Bei der deutschen Bevölke­ rung war der Bilinguismus im großen und ganzen weniger verbreitet, aber er nahm seit der Jahrhundertwende laufend zu, besonders bei der deutschen Intelligenz. Viele deutsche Bilinguisten erkannte man an der lenierten Aussprache der stimmhaften tschechischen Konsonanten b, d, g als lenierte Verschlußlaute p, t, k und des stimmhaften Engelautes z als stimmlosen Engelaut s, an der unvollkommenen Beherrschung des tschechischen Systems der Verbalaspekte und an Genusinterferenzen. Den tschechischen Zweisprachlern gebrach es oft an gerundeten Vokalen im Deutschen, am Unvermögen, lenierte Verschlußlaute zu bilden und den vollen Satzrahmen zu setzen. Natürlich gab es auf beiden Seiten er­ hebliche Unterschiede nach der gesellschaftlichen Schichtung. Ein besonderes Idiom war das Prager Deutsch, das immer noch recht unterschiedlich bewertet wird. Als sicher gilt, daß sich im Prager Deutsch der deutsch-tschechische Bilinguismus recht bescheiden ausgewirkt hat. An anderer Stelle haben wir gezeigt, daß die Problematik des Prager Deutsch kein geschlossenes Ganzes und kein Kontinuum darstellt, wie oft angenommen wird, sondern daß sie in wenigstens vier Epochen zer­

274 fällt.41 In der letzten Epoche des Prager Deutsch entstand in Prag eine deutschsprachige Literatur ersten Ranges. Bei der Volkszählung im Jahre 1920 gab es in Prag 30.429 Deutsche und 624.744 Tschechen. Bei der letzten Volkszählung im Jahre 1970 gab es in Prag nur noch 936 Deutsche sowie 1.053.315 Tschechen. Wie sieht es mit dem Bilinguismus in der Tschechoslowakei in der Gegen­ wart aus? Die zahlenmäßig starke deutsche Minderheit gehört der Ver­ gangenheit an. Im Jahre 1930 gab es in der Tschechoslowakei 3.231.688 Deutsche — 22% der Gesamtbevölkerung. Die Prozentzahl der Deutschen sank bereits in den letzten Dezennien der österreichisch-ungarischen Monarchie. Nach dem zweiten Weltkrieg blieben in der Tschechoslowa­ kei nuriReste der bodenständigen deutschen Bevölkerung, besonders in Westböhmen und in Nordböhmen. Es handelt sich dabei größtenteils um Facharbeiter, Bergleute, Antifaschisten und Angehörige von Mischehen. Während es zum 1.3.1961 in der Tschechoslowakei noch 140.402 Deut­ sche gab, sank deren Zahl zum 1.12. 1970 auf 85.663 und beträgt zum 1.1.1976 rund 79.000, davon 75.000 im tschechischen und 4.000 im slo­ wakischen Landesteil. Die jährliche Abnahme beträgt über 1.000. Es gibt heute in der Tschechoslowakei keinen Ort mehr, in dem über 50% Deut­ sche leben. Den höchsten Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung wei­ sen heute vier Orte im Erzgebirge auf: M idfnec (Kupferberg) 44,1%, Mikulov (Niklasberg) 43,5%, Bo4i Dar (Gottesgab) 40,8% und ¿esk£ Hamry (Böhmisch Hammer) 40,4% — alles sehr kleine Orte. Zum 1.12. 1970 gab es in der CSR 142 Orte mit mehr als 10% Deutschen. Von 11 Orten, wo im Jahr 1961 mehr als 1.500 Deutsche lebten, blieben im Jahr 1970 nur zwei: Jablonec n.N. (Gablonz a.N.) mit 1584 Deutschen und Teplice (Teplitz) mit 1527 Deutschen. Es gibt heute zwei Kreise mit mehr als 5% Deutschen: Sokolov (Falkenau) 9% und Jablonec n.N. (Gablonz a.N .) 5 %.42 Von den heute in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen sind alle Angehörigen der jungen und mittleren Generation zweisprachig, die ältere Generation bleibt meistens bei der angestammten Mundart. Im Verkehr mit nicht bodenständigen Deutschen wird die mundartlich gefärbte Hochsprache benützt. In der internen Kommunikation inner­ halb der Familie und im Freundeskreis herrscht nach wie vor die Mund­ art. Mit den Tschechen in den gemischten Gebieten, die heute in der Regel über 90% der Einwohner ausmachen, wird tschechisch gesprochen, von jüngeren Jahrgängen ohne Akzent. Kürzlich veröffentlichte J. PovejSil eine Untersuchung über das Verhält­ nis zwischen dem deutschen Dialekt und “fremder” Hochsprache bei Zweisprachlern, die überwiegend die Randgebiete Böhmens ins Auge faßt. Es gibt dort viele Modalitäten der Zweisprachigkeit, aber im großen

275 und ganzen entspricht seine Beschreibung der Situation .43 Es stimmt, daß tschechische Lehnwörter für gesellschaftliche Einrichtungen wie rekreace ‘Erholungsaufenthalt’, ROH ‘Gewerkschaftsorganisation’, (n&rodni) vybor ‘Nationalausschuß, d.i. Gemeindeamt’, Eingang in die deutschen Mundarten und in die Umgangssprache fanden, aber geographi­ sche Bezeichnungen gebraucht man nicht in der tschechischen Form, “weil man es so in der Schule hört”, sondern in der deutschen, wobei die mitunter schwierige Konsonantenfolge bei tschechischen Benennungen auch eine Rolle spielt, also Spindelmühle ‘Spindlertiv Mlyn’, Erzgebirge ‘Kruäne hory’ oder Riesengebirge ‘K rkonose’, M arienbad ‘Marianske Laznt’, weil sie auch von den deutschen Touristen aus der DDR und der BRD um­ gangssprachlich in der deutschen Form gebraucht werden. Auch die Tsche­ chen benützen sie, wenn sie mit Deutschen sprechen, abgesehen davon, daß die Tschechen umgangssprachlich S p in d l für Spindleriiv Mlyn, Mariänky für Marienbad, Vary für Karlovy Vary sagen, um zweigliedrige Benennun­ gen zu vermeiden. Die Prager Volkszeitung benützt bei Ortsnamen nur die tschechischen Namen, bei Berg- und Gebirgsnamen die deutschen. Die Zweisprachigkeit wird in der heutigen Form, wo noch die Mundarten bestehen, wahrscheinlich nicht erhalten bleiben, aber die geographische Nähe zum deutschen Sprachgebiet, Tourismus, Wirtschaft, Rundfunk und Fernsehen werden einen neuen Modus der Zweisprachigkeit entste­ hen lassen, ln dem Zusammenhang sei erwähnt, daß die vielfältige, Jahr­ hunderte andauernde deutsch-tschechische Wechselseitigkeit im Tsche­ chischen dazu führte, daß es von allen slawischen Sprachen die meisten Exonyma für deutsche Orts- und Flußnamen besitzt, die z.T. bis in die Zeit der Christianisierung zurückgehen, z.B. Cachy ‘A achen’, K oltn nad R y n e m ‘K öln’, M o h ü t ‘M ainz’, 'kezno ‘R egensburg', Dräidany ‘D resden’, Zhorelec ‘G örlitz’, R y n ‘R hein’, M ohan ‘M ain', Salice ‘Salzach’, M hla ‘Mühl’, Litava ‘Leitha’ und viele andere im ganzen deutschen Sprachge­ biet. In der Slowakei, wo es noch heute viersprachige Orte gibt — südlich der Donau bei Bratislava (Preßburg) — erscheinen nicht nur viersprachige Ortsnamen, so Rusovce — Oroszv&r (ungarisch) — Karlburg (deutsch) — Rosvär (kroatisch), oder tu n o v o — D ünacsün (ung.) — S a n d d o rf (d t.) — tü n o v o (kroatisch), sondern auch Flurnamen. Synchron und diachron gibt es in der Tschechoslowakei ein umfangreiches, nur wenig erforschtes M aterial. Das Ergebnis des Bilinguismus in der Tschechoslowakei ist eine strenge strukturelle und eine ziemlich scharfe geographische Abgrenzung des Tschechischen und Slowakischen zum Deutschen und Ungarischen. Nur

276 zum Polnischen hin gibt es einen Ubergangsstreifen im Schwingungsfeld von Teschen-Schlesien und einigen verkehrsfreundlichen Abschnitten der Nordslowakei, namentlich beiderseits der Hohen Tatra. In Teschen- Schlesien wirkte sich die nahe Verwandtschaft und die besondere soziale Entwicklung so aus, daß Ansätze für eine Mischsprache, das Schlonsaki- sche, vorhanden waren, sie kamen jedoch nie zur schriftsprachlichen Gel­ tung. Der lachische Dialekt Schlesiens — im Westen durch die deutsche Kolonisation im Gesenkegebirge von den mährischen Mundarten im 13. Jh. abgeschnürt — blieb dennoch ein fester Bestandteil der tschechischen Sprache. Eine tschechisch-deutsche Mischsprache gab es vor dem Krieg auch in Opava (Troppau). Auf dem Markt sollen die Verkäufer (nach per­ sönlicher Mitteilung) im Jahre 1930 folgendermaßen gesprochen haben: Pojcfte döhar. Tut ms mene \éne blaun puntochy okupte si. ‘Kommen Sie heran. Kaufen Sie sich meine schönen blauen Strümpfe’. Auch dieses Idiom war sozial eng abgegrenzt und überdauerte nicht den Krieg. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der deutschen und tschechischen bzw. slowakischen Sprache brachten gegenseitig im Grunde nur Lehnwör­ ter hervor, vor allem in den Mundarten und in der Umgangssprache. Alle anderen sprachwandelnden Kontaktwirkungen unterlagen in der Regel dem Systemzwang der empfangenden Sprache und fielen dann meist dem Ausgleich zum Opfer.

Anmerkungen

1 B. Hroznÿ, Die älteste Geschichte Vorderasiens und Indiens. 2. Aufl., Prag 1943, S. 124- 183. 2 Vgl. W.F. Mackey, International Bibliography on Bilingualism. Quebec 1972. H. Kloss, Research Possibilities on Group Bilingualism. Quebec 1969. E.A. Afendras, Sociolinguistic History, Sociolinguistic Geography and Bilingualism. Quebec 1969. W.F. Mackey, Interference, Integration and the Synchronie Fallacy. Quebec 1970. P. Trost, Deutsch-tschechische Zweisprachigkeit. In: Deutsch-tschechische Beziehungen im Bereich der Sprache und Kultur, Berlin 1965, S. 21 - 28. E. Skala, Die Entwicklung des Bilinguismus in der Tschechoslowakei vom 13.-18. Jahrhundert. In: Beiträge zur Gesch. d. dt. Sprache und Literatur, Bd. 86, Halle 1964, S. 69 - 106. V. Vildomec, . Leyden 1963. 3 U. Weinreich, Languages in Contact. Findings and Problems. New York 1953. 4 E. Schwarz, Probleme der sudetendeutschen Lehnwortgeographie. In: Zs.f. Mundartforschung, Jg. 26 (1958), S. 128 - 150. 5 Abhandlungen der Sachs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse, Bd. 57, Heft 2, Berlin 1965 und Bd. 59, Heft 2, Berlin 1968.

277 6 J. Kapras, Historicky vyvoj ieskeho programu jazykoviho, Praha 1911. 7 Cosmas, Chronica Bohemorum. Fontes rerum bohemicarum II, 88; tschech. Übersetzung von K. Hrdina, Prag 1929. 8 J. Kapras, K otäzce uredni reci. In: Pokrokova Revue, Praha, roi. 4, f.6, str. 4. 9 Prehled teskoslovenskych dijin, Bd. I, Prag 1958, S. 360 f. 10 B. Havranek — J. Dahhelka, Nejstarsi ceska rymovana kronika tak receneho Dalimila. Prag 1957, S. 123. 11 Königsaaler Geschichtsquellen, hrg. v. Loserth, zit. nach R. Wolkan, Gesch. d. dt. Literatur in Böhmen bis zum Ausgange des 16. Jh.s, Prag 1894. 12 J. Emler, Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohemiae et Moraviae, Pars III (1311-1333), Prag 1890, S. 782. 13 M. Komarek, Historicka mluvnice Ceska, I, Praha 1958, S. 104, 108, 137. 14 J. Hus, De orthographia bohemica. Zit. nach Komarek (Anm. 13), S. 90. Die erste Ausgabe nach der einzigen erhaltenen Handschrift im Archiv Treboh von A.V. Sembera in Miklosichs Slawischer Bibliothek II, 1857. 15 E. Skala, Die Entwicklung der Kanzleisprache in Eger 1310 bis 1660. Berlin 1967, S. 2 9 7 - 302. 16 A. Beer, O stopäch vlivu nfcmeckeho v teStini stare. In: Sitzungsberichte der Königl. böhm. Gesellschaft der Wiss., Kl. f. Philosophie, Geschichte und Philologie, Prag 1905, Heft VII, S. 1 - 25. 17 A. Kraus, Jan z Michalovic. Nimeckü biseh trinacteho veku. Prag 1888, S. 47; ders. in: Listy filologicke XXXII, Prag 1905, S. 475 - 476 und ebenda, Jg. XXXIII, 1906, S. 62 -63. 18 M. Komarek (Anm. 13), S. 149. 19 K.B. Lindgren, Die Ausbreitung der nhd. Diphthongierung bis 1500. Helsinki 1961, S. 54. 20 H. Paul — H. Moser — I. Schröbler, Mittelhochdeutsche Grammatik, 21. Aufl. Tübingen 1975, S. 49. 21 N.S. Trubetzkoy, Grundzüge der Phonologie. Göttingen 1967, S. 176, 196 f. P. Trost, Bemerkungen zum deutschen Vokalsystem. In: TCLP 8, Prag 1939, S. 319 - 326; ders., Der Zusammenfall der Diphthongreihen in der nhd. Schriftsprache. In: Philologica Pragensia I, 1958, S. 15 - 16. 22 E. Skala, Zur kontrastiven Wortschatzarchitektonik im Deutschen und Tschechischen. Beiträge zur konfrontativen Sprachwissenschaft, Leipzig 1976, im Druck. 23 F. §imek, Slovniiek Stare ieitiny. Praha 1947. 24 A. Mayer, Die deutschen Lehnwörter im Tschechischen. Reichenberg 1927. 25 Ph. Wiek, Die slawischen Lehnwörter in der neuhochdeutschen Schriftspra­ che. Elss. Marburg 1939. 26 J. Jakubec, Dfcjiny literatury teske, Bd. I, Prag 1929, S. 189. 27 J. Hus, Vyklad desatera boiieho piikazanie. In: Husovy Üeske spisy I, hrg. von K.J. Erben, Prag 1865, I, S. 133 f.

278 E. Skala, Deutsche Lehnwörter in der heutigen tschechischen Umgangsspra­ che. In: Deutsch-tschechische Beziehungen im Bereich der Sprache u. Kul­ tur II, Berlin 1968, S. 127 - 141. Deutsch-tschechische Beziehungen (Anm. 28), I, S. 63 - 72. K. DoskoCil, K pramenum “Ackermanna”. In: Sbomik historicky 8, Prag 1961, S. 67 - 102. 31 E. Michalek, O jazykovÿch otâzkâch v dilech ïeskÿch narodnich buditelü. In: Slovo a slovesnost, Jg. 22, Prag 1961, S. 12. 32 Jan Blahoslav, Crammatika ieska dokonana léta 1571, hgg. von Hradil- Jiretek, Wien 1857, S. 227 f. 33 J. Jakubec (Anm. 26), I, 828 - 829. 34 Vgl. E. Skila, Die Entwicklung der Sprachgrenze in Böhmen von 1300 bis etwa 1650. In: Germanistica Pragensia V (1968), S. 7 - 16. 35 J. Hrabàk, Zu den deutsch-tschechischen literarischen Beziehungen im Mit­ telalter. In: Wiss. Zeitschr. der E.-M.-Arndt-Univ. Greifswald, Jg. 9, 1962, S. 4 1 7 -4 2 0 . 36 H. Peukert, Slawische Nationalsprachen in der Wiedergeburtszeit. In: Wiss. Zeitschr. der E.-M.-Amdt-Universität Greifswald, Jg. IX, 1962, S. 367 - 377. 37 A. Springer, Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809. Leipzig 1865, Bd. II, S. 1 - 35. 38 Vgl. die Bibliographie bei E. Schwarz, Sudetendeutsche Sprachräume, 2. Aufl. München 1962. 39 A. Brückner, Dzieje jçzyka polskiego. Lwow (Lemberg) 1906, S. 161. 40 F.J. Beranek, Atlas der sudetendeutschen Umgangssprache, I, Marburg 1970. 41 Zeitschrift für deutsche Sprache, Jg. 22, Berlin 1966, S. 84-91. 42 Narodnostni sloïeni obyvatelstva podle pïedbêznÿch vÿsledkü sïitâni lidu k 1.12.1970. Federàlni statisticky ufad, Praha 1971. 43 J. Povejsil, Deutscher Dialekt und fremde Hochsprache bei zweisprachiger Bevölkerung. In: Philologica Pragensia XVIII (1975), S. 108.

279 KARL MOLLAY

Deutsch-ungarische Sprachkontakte

1. Im “Lexikon der Germanistischen Linguistik” gibt es in der Abtei­ lung VII (“ Kontrastive und Interferenzaspekte der Sprache”) ein einziges, kurzes Kapitel über “Deutsche Transferenzen in anderen Sprachen” (S. 5 10-512).1 In vier vorangehenden Kapiteln werden nämlich griechische, lateinische, germanische, romanische und slawische Transferenzen im Deutschen behandelt. Es bleibe jetzt dahingestellt, ob deutsche Trans­ ferenzen (bzw. Integrate) in anderen Sprachen für die germanistische Linguistik nicht geradeso lehrreich sind wie fremde Transferenzen im Deutschen. Die Stelle des LGL, wo deutsche Transferenzen im Ungari­ schen zu Wort kommen, heißt: “Oft geht die aufnehmende Sprache von der phonologischen Substanz des dt. Wortes aus und gibt es in einer sei­ ner eigenen Lautung und Schreibung angeglichenen Form wieder.” Dann folgen einige englische und polnische Beispiele, endlich heißt es: “ Dt. habt A c h t erscheint im Ungar, als haptäk, Busserl als puszi, Nudel als nudli, Gugelhupf als kugl 'o f '. Die hier zitierte Stelle wie auch das ganze Kapitel sind für mein Thema in mehrfacher Hinsicht lehrreich. In der Auswahlbibliographie wird in bezug auf das Ungarische ein einziges Werk (Eva Martins: Studien zur Frage der linguistischen Interferenz. Lehnprägungen in der Sprache von Franz von Kazinczy 1759-1831. Stockholm 1970) erwähnt (die angeführten Beispie­ le stammen jedoch nicht aus dieser Arbeit). Keines der angeführten Bei­ spiele ist älter als die von Eva Martins behandelte Periode. Beim Leser kann daher der Eindruck entstehen, es handle sich in deutsch-ungarischer Relation um 200 Jahre Sprachkontakte, außerdem um eine Randerschei­ nung in der Geschichte des Deutschen. Demgegenüber muß man betonen, daß es seit mehr als 1000 Jahren kulturelle und ethnische Kontakte als Grundlage sprachlicher Kontakte gibt, ähnlich wie im Tschechischen, das im erwähnten Kapitel überhaupt nicht genannt wird. Dementsprechend gibt es eine ziemlich reiche Literatur über die althochdeutschen, mittel­ hochdeutschen, frühneuhochdeutschen und neuhochdeutschen Transfe­ renzen im Ungarischen. Diesbezüglich verweise ich nur auf das seit 1967 erscheinende “Historisch-etymologische Wörterbuch der ungarischen Sprache” 2, sowie auf die Arbeit von Gudrun Kobilarov-Götze: Die deut­ schen Lehnwörter der ungarischen Gemeinsprache (Wiesbaden 1972). Außerdem sind die angeführten Beispiele genauer genommen nicht deut­ sche, sondern ausnahmslos bairisch-österreichische: haptäk ‘stillgestanden!;

280 Stillstehen’ (seit 1872); nudli (seit 1894) nicht aus N u d el, sondern riüdl ~ n ü T ,p u szi (seit 1747) nicht aus Busserl, sondern aus bussi; kuglöf (seit 1835) nicht aus G ugelhupf, sondern ausgugltyf. ln keinem Abschnitt der mehr als 1000jährigen deutsch-ungarischen Sprachkontakte tritt das gan­ ze Areal des Deutschen in Erscheinung: im Mittelalter das Bairische bzw. Bairisch-Österreichische, weniger das Alemannische und Mittelfränkische; seit der Reformation auch das Ostmitteldeutsche; doch hat das Bairisch­ österreichische bis in das 20. Jh. den Vorrang. D.h. der intersystemische Arealaspekt darf nicht außer acht gelassen werden, und zwar nicht nur in bezug auf das geschlossene Areal des Deutschen, sondern auch auf das isolierte Areal des Deutschen im jeweiligen Ungarn selbst.

2. Die frühere Literatur (sie ist in den oben angeführten Werken verzeich­ net) hat diese Aspekte ungenügend berücksichtigt. In einer abgeschlosse­ nen Arbeit (“Deutsch-ungarische Sprachkontakte bis 1600”) habe ich die ältere Zeit, eine meiner gewesenen Studentinnen, Maria Horvath, das 17. Jh. (“Deutsche Elemente in der ungarischen Sprache des 17. Jahrhunderts”)3 bearbeitet. Die Zeit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts habe ich folgendermaßen periodisiert: 862-1060: Anfänge der deutsch-ungarischen Sprachkontakte; 1061-1342: Erste Einwanderungswelle des Deutschtums nach Ungarn; 1343-1686: Entstehung der ungardeutschen Schriftlichkeit. In die erste Periode fallen die althochdeutschen Transferenzen bzw. Integrare (ap'at ‘A b t’, apaca ‘Ä btissin’ -> ‘N onne’, érsek ‘Erzbischof’, pohár ‘Becher; Kelch; Trinkgefäß’, pü n kö sd ‘Pfingsten’, püspök ‘Bischof’, usw.), alle aus dem höfisch-kirchlichem Bereich, sowie die Anfänge der ungarischen und der ungarländischen lateinischen Schriftlichkeit. In die zweite Periode ge­ hören die mittelhochdeutschen Transferenzen bzw. Integrate (z.B. keh ely ‘K elch’, g eszten ye ‘Kastanie’, usw.), aus dem kirchlichen und dem welt­ lichen Bereich. Die dritte Periode liefert die große Zahl der frühneuhoch­ deutschen Transferenzen (borbély ‘B arbier’, hoher ‘H enker’, zsinbr ‘Schnur’, usw.). Man kann die Bedeutung der 1000jährigen Sprachkontak­ te auch daran ermessen, daß z.B. Kobilarov-Götze in ihrer Arbeit 1116 deutsche Transferenzen der ungarischen Gemeinsprache zusammenstellte', dabei ist die Aufzählung noch gar nicht vollständig, und es fehlen die Transferenzen der Soziolekte. Die Bedeutung der 1000jährigen deutsch­ ungarischen Sprachkontakte wird auch dadurch erhöht, daß diese Sprach­ kontakte in ihren ersten zwei erwähnten Perioden noch mit den Anfängen bzw. der Ausgestaltung der ungarländischen lateinischen Schriftlichkeit verbunden sind, so daß man oft — wenigstens bis zur Mitte des 13. Jh. — außer den deutschen auch mit deutsch-lateinischen Transferenzen rech-

281 nen muß (z.B. ung. apostol [äpostol] ‘Apostel’ aus ahd. apostolo oder aus dt.-lat. apoStolui, usw .).

3. Nach diesen Bemerkungen, die wegen der nicht allzu großen Bekannt­ heit des Themas wohl notwendig waren, muß man sich im Sinne unserer Jahrestagung fragen, ob diese Sprachkontakte einen Systemcharakter haben? Seit Wilhelm Braune ist es üblich, im Zusammenhang mit dem Lautwert des ahd. Graphems < s > als [s] auf das Ungarische hinzuweisen, wo das Graphem < s > — einzig in Europa — in jeder Stellung den Laut­ wert [5] besitzt.4 Im Altungarischen gab es nämlich den Sibilanten [s] und den Schibilanten [§], doch nicht [s]. Dieser ahd. Laut wurde daher vor stimmlosen Konsonanten anfänglich durch [s] ersetzt (vgl. ung. szekreny-, ahd. scrint ~ lat. scrinium ‘Schrein’; szoba: ahd. stuba ~ lat. stuba ‘Stube’); sonst jedoch durch [s] (vgl. ung. sajtär: ahd. sehtäri ‘Sech­ ter’; ung. safrany-, m hd. saffran ‘Safran’; ung. m ise: ahd. m eisa ~ lat. m iiia ‘Messe’; ung./ans: m hd./am ‘Kampfroß’). Diese Aussprache wird dann auch in der ungarländischen Latinität vorherrschend (vgl. ung. sors-. lat. sors ‘Schicksal’; ung. v o k s■■ lat. vo x ‘Stimme’). Weitere Forschungen ergaben, daß die lateinischen bzw. ungarischen Buchstabennamen und damit die lateinische Aussprache ebenfalls aus dem Deutschen stammen (Jot, Vau, Wau, Zet wurden nachträglich aufgegeben, weil die entspre­ chenden Phoneme der geltenden phonetischen Theorie gemäß zu den Mutae gerechnet und ung .je, ve, ze genannt wurden). So ist es wohl ver­ ständlich, daß das Altungarische im wesentlichen mit einer deutschen Graphemik arbeitet, wenn diese auch eine Konkurrenz mit der französi­ schen und der italienischen Graphemik bestehen muß .5 Die graphemische iz erstreckt sich also nicht auf ein einziges Graphem, sondern auf ein ganzes System von Graphemen.

4. Durch Sprachkontakte wird das altungarische phonologische System abgerundet. Um das Jahr 1000 taucht im ungarischen das [i] als Allophon des /$/ vor stimmhaften Konsonanten, bzw. in slawischen Transferenzen auf: deutsche Transferenzen werden in dieses System eingefügt (vgl. das bereits erwähnte ung. piinkösd ‘Pfingsten’: [pünköid]). Da die phonolo­ gische Opposition der stimmlosen : stimmhaften Konsonanten vom Alt­ ungarischen an relevant ist und im Ungarischen die Artikulation im allge­ meinen mit einem bedeutend größeren Druck vor sich geht als im Deut­ schen, sind von der allgemeinen Tendenz des Stimmhaftwerdens auch die deutschen Transferenzen ergriffen und vermehren dadurch die Fre­ quenz des Allophons [z] (ung. zsäk ‘Sack’, zsinör ‘Schnur’, usw.), das im 13. Jh. phonemisiert wird (dazu kommen noch die Fälle, wo das dt. [s]

282 auf ahd. [sk] zurückgeht: ung. zsin d ely ‘Schindel’, usw.). Damit ist das ungarische Konsonantensystem komplett. Durch die Sprachkontakte wird noch ein Mangel des ungarischen phono- logischen Systems behoben. Das /f/ ist ursprünglich nur im Wort- bzw. Silbenanlaut vertreten und wird deshalb in anderen Stellungen durch /p/ ersetzt (vgl. die deutschen Transferenzen: ung. püspök ■. ahd.-bair. piscof; ung. kaptär: ahd. chaftere ‘Käfter’). In intervokalischer und auslautender Stellung wird es dann durch Transferenzen aus anderen Sprachen, darun­ ter auch deutschen eingebürgert (vgl. die deutschen Transferenzen: d ö f ‘stechen’, g r b f ‘G raf, das bereits erwähnte k u g lö f usw.). So erhält das ung. /v/ in allen Stellungen seine stimmlose phonologische Opposition /fl.

5. In der ungarischen morphologischen Forschung hat man bislang keine Erklärung dafür gefunden, daß in einem Teil der lateinischen Transferen­ zen des Ungarischen die lateinischen Endungen -us, -ius, -um, -tum aufge­ geben wurden. Bei männlichen Taufnamen (M arion < Martinus, Elek < A lexiu s) nahm man an, daß die lateinische Endung als ein ungarisches Deminutivsuffix aufgefaßt wurde; das stimmt jedoch nicht bei ebenfalls verkürzten weiblichen Taufnamen auf -a (Margit, Erzsebet < Elisabetha).6 Untersucht man die lateinischen Transferenzen des Deutschen, die ins Ungarische in lateinischer und auch in deutscher Form weitergegeben wurden (z.B. a p o sto lu s: ung. apostol; monasterium : ung. m onostor), so drängt sich einem unwillkürlich die Erklärung auf, daß man — wenigstens in den ersten zwei Perioden der deutsch-ungarischen Sprachkontakte — mit einer deutschen morphologischen Transferenz zu tun hat, die man dann in Ungarn analogisch auch auf nicht unbedingt aus der deutschen Latinität stammende Elemente übertrug. In den ältesten lateinischen Transferenzen des Ungarischen, die sicher nicht aus der deutschen Latini­ tät stammen (z.B. plebanos ‘P farrer’ <.plebanus) findet man nämlich diese Erscheinung nicht. Erst mit der Erstarkung der Lateinkenntnisse werden lateinische Transferenzen ungekürzt übernommen (z.B. apparatus ‘A p p arat’).

6. In lexikologischer Hinsicht ist zu bemerken, daß die deutschen Trans­ ferenzen im Ungarischen in erster Linie aus Substantiven bestehen; Ad­ jektive (z.B. barna ‘braun’) und Verben (z.B. k ö sto l ‘prüfend schmecken, kosten, probieren’) erscheinen erst seit der mittelhochdeutschen Zeit, doch in geringer Zahl. Die Sachbereiche der deutschen Transferenzen werden in der Arbeit von Kobilarov-Götze aufgezählt. Hier weise ich nur

283 darauf hin, daß durch die deutschen Transferenzen nicht nur viele Sach­ bereiche aufgefüllt, sondern auch innerhalb eines Sachbereiches synony­ me Bedeutungen genauer abgegrenzt werden. Diesbezüglich führe ich nur zwei Beispiele an. Eine ahd. Transferenz ist poh a r ‘Becher; Kelch; Trink­ gefäß’: die mhd. Transferenz keh ely grenzt davon die zweite Bedeutung ab, serleg ‘Scheuerbecher’ die erste Bedeutung, so bleibt pohar als allge­ meine Bezeichnung für das Trinkgefäß. Die Frucht der Eiche, Buche, Edelkastanie, Linde, des Haselstrauches wurde im Altungarischen mit einer Transferenz aus einer unbekannten Sprache m a kk genannt: die un­ garische Bildung m ogyoro ‘Haselnuß’ (eig. ‘Eierfrucht’) grenzte davon die Frucht des Haselstrauches ab, die deutsche Transferenz g eszten ye ‘Kastanie’ (aus mhd.-bair. kestene) die der Edelkastanie, für die anderen blieb die ursprüngliche Benennung bis auf den heutigen Tag erhalten.

7. Keine deutsche Transferenz ist feststellbar in den suprasegmentalen Einheiten (, Akzent) und in der Syntax. Auf den anderen Ebe­ nen steht jedoch das Ungarische seit mehr als 1000 Jahren aufgeschlossen und einbürgernd den Kontakten mit dem Deutschen gegenüber. Ein großes Stück ungarischer u n d zugleich deutscher Sprachgeschichte! Hier bewahrheitet sich Goethes Wort: “ Die Gewalt einer Sprache ist nicht, daß sie das Fremde abweis’t, sondern daß sie es verschlingt”7.

Anmerkungen

1 Althaus, Peter — Henne, Helmut - Wiegand, Herbert Ernst (hg.): Lexikon der Germanistischen Linguistik. Studienausgabe. Tübingen 1973. 2 Benkö, Loránd (hg.): A magyar nyelv törteneti-etimologiai szótára. Budapest 1967 ff. 3 Nfcmet elemek a XVII. szazad magyar nyelvében. Budapest 1973. Maschinen- schriftl. Dissertation. 4 Vgl. jetzt Penzl, Herbert: Lautsystem und Lautwandel in den althochdeut­ schen Dialekten. München 1971, S. 72. 5 Vgl. Kniezsa, István: Helyesírásunk törtenete a könyvnyomtatas koráig (Geschichte der ungarischen Orthographie bis zum Zeitalter des Buchdruckes). Budapest 1952, S. 61 ff. 6 Vgl. Fludorovits, Jolán: A magyar nyelv jövevenyszavai (Die lateini­ schen Lehnwörter der ungarischen Sprache). Budapest 1937. 7 Werke. Sophienausgabe 422. Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik. Weimar 1907, S. 238.

2 8 4 GUSTAV KORLEN

Niederdeutsch-schwedische Lehnbeziehungen

Ich habe das ursprünglich vorgesehene Thema — skandinavisch-deutsch — auf Schweden eingeengt, und zwar nicht nur aus zeitlichen Gründen, sondern auch weil ich die spezifisch dänische und norwegische Perspekti­ ve, von der finnischen ganz zu schweigen, nur unzulänglich beherrsche. Einleitend muß aber doch betont werden, daß es sich um eine gesamt­ nordische Problematik handelt, die sich auch in der Forschungstradition widerspiegelt. Sieht man von einigen norddeutschen Universitäten ab, wie Hamburg, Kiel, Münster, Göttingen und Rostock1, dann galt und gilt wohl für die deutschsprachige Germanistik weitgehend der Satz: Saxonica sunt, non leguntur. Das ist auch der Grund, warum ich meinem Vortrag einen überwiegend informativen und referierenden Charakter gegeben habe. Ganz anders ist die Lage in Skandinavien, wo in allen Ländern die nieder­ deutsche Philologie von Anfang an eine zentrale Rolle gespielt hat. Ich brauche, stellvertretend für viele, hier nur an Namen zu erinnern wie Christian Sarauw in Dänemark, Verfasser der grundlegenden Niederdeut­ schen Forschungen in zwei Bänden (1921-24), die neben Agathe Laschs Mittelniederdeutscher Grammatik v. J. 1914 zu den Gründungsurkunden der nd. Philologie gehören, ferner an Erik Rooth in Schweden, Begründer und Altmeister der vielzitierten Lunder Schule, an Olav Brattegard in Norwegen, Erforscher der mnd. hansischen Geschäftssprache in Bergen2, und schließlich an Pekka Katara in Finnland, der u.a. — in der Nachfolge einer spezifisch finnischen Forschungsrichtung — dem französischen Ein­ fluß auf das Mittelniederdeutsche nachgegangen ist3. Aber am stärksten war die Tradition zweifellos in Schweden4, wo seit 1945 eine eigene Zeitschrift, die Niederdeutschen Mitteilungen, bis vor kurzem diesen Fragen gewidmet war. Daß die Zeitschrift im vorigen Jahr eingegangen ist5, war bedauerlich und m.E. auch nicht notwendig, hängt aber z.T. natürlich mit der markanten Neuorientierung zusammen, die seit einigen Jahren nun auch die schwedische Germanistik charakteri­ siert. Sie bedeutet aber nicht, wie einige zu befürchten scheinen, daß das Niederdeutsche in der schwedischen Forschung nun gänzlich ausgespielt h ä tte .6 Oder frei nach Mark Twain: Das Gerücht vom Absterben der niederdeutschen Philologie in Schweden ist erheblich übertrieben.

285 Aber wie ist nun diese starke Tradition zu erklären? Nun, eine Antwort bringt schon eine Dissertation, die vor genau 70 Jahren in Schweden er­ schien, und wo der Verf. — übrigens in Übereinstimmung mit der Jacob Grimmschen Tradition ein Anhänger der Kleinschreibung — im Vorwort die kommende Entwicklung schon voraussah und die folgende, zeitbe­ dingte programmatische Erklärung abgab: “Es wird vielleicht deutsche leser wundern, fragen der niederdeutschen linguistik von einem ausländer erörtert zu sehen. Jeder sollte doch zu­ nächst im eigenen hause Ordnung schaffen. Aber die schwedischen gesetze verlangen für die anstellung als Oberlehrer im deutschen an den gymnasien eine dissertation über ein thema inner­ halb der deutschen philologie. Dabei ist der nordische zweig ausgeschlos­ sen, weil er bei uns die Stellung eines selbständigen faches hat. So bleibt uns nichts anderes übrig, als den deutschen auf ihrem eigenen gebiete konkurrenz zu machen. Diese dürfte, denke ich, am wenigsten unange­ nehm empfunden werden, wenn wir das arbeitsfeld auswählen, wo ohne frage noch der meiste Schutt liegt. Einheimische arbeiter melden sich dort auch deshalb in geringerer zahl, weil das niederdeutsche doch auch manchem deutschen im gründe genommen eine fremde spräche ist und bleibt. Übrigens hat auch die schwedische philologie ein eigenes interesse daran, daß das mittelniederdeutsche baldigst durchforscht wird. Von dort her ist zu uns eine unmenge sprachgut gekommen, dem der laie freilich das “made in Germany” nicht mehr ansieht. Um in jedem falle die richtige Ursprungsbezeichnung ansetzen zu können, müssen wir am entstehungs­ orte selbst nachfrage halten. Jedenfalls haben sich in der letzten zeit jüngere germanisten in Schwe­ den fast einmütig dem niederdeutschen zugewendet. Wenn es zu einer wirklichen Zusammenarbeit dieser beteiligten, also zur bildung einer “niederdeutschen schule” in der schwedischen philologenwelt kommen könnte, sind m.e. daraus nur vorteile zu erwarten — für die arbeit wie für die arbeitenden.” Ich habe dieses Vorwort so ausführlich zitiert, nicht nur weil der Verfas­ ser mein Vater, Artur Korlen war7, sondern vor allem, weil hier schon aus einer bildungsgeschichtlichen und sprachhistorischen Perspektive die grundsätzliche Problematik auftaucht. Seitdem ist die Frage nach dem niederdeutschen Einfluß auf die schwe­ dische Sprache ein zentrales Thema der sprachgeschichtlichen Forschung in Schweden. Ich stelle zunächst einige neuere Arbeiten zusammen und

286 berücksichtige dabei vor allem deutschsprachige Beiträge. 1. auf schwedisch: Erik Rooth, Till frägan om de lägtyska länorden i svenskan, särskilt i Nya Testamentet 1526. In: Donum Grapeanum (Festschrift für Anders Grape, Uppsala 1945). Elias Wessen, Om det tyska inflytandet svenskt spräk under medel- tiden, 1. Aufl. 1954, 3. Aufl. 1970. Kumlien, Sverige och hanseaterna, 1953 (mit deutscher Zusam­ m enfassung).8

2. auf deutsch: Torsten Dahlberg, Das Niederdeutsche im skandinavischen Raum. In: Wirkendes Wort 6, 1955/56. Tage Ahlden, Der Ausklang des niederdeutschen Einflusses auf die nordischen Sprachen. In: Spätzeiten und Spätzeitlichkeit. Vorträge gehalten auf dem II. Internationalen Germanistenkongreß 1960 in Kopenhagen, 1962. Ture Johannisson, Deutsch-nordischer Lehnwortaustausch. In: Wort­ geographie und Gesellschaft, hrsg. von Walter Mitzka, 1968.

Von den schwedischen Schriften ist die von Wessen schon ein Klassiker. Auf Erik Rooth komme ich noch zurück. Kumlien ist eine großangelegte hansehistorische Abhandlung, die aber vorwiegend die rein politischen Aspekte und die wirtschaftlichen Beziehungen berücksichtigt und daher für unser Thema nicht ganz so ergiebig ist, wie man hätte wünschen kön­ nen. Von den deutschsprachigen Beiträgen ist der von Dahlberg ein Kurz­ referat, gehalten auf dem ersten Internationalen Germanistenkongreß in Rom. Ahlden behandelt in Übereinstimmung mit dem Kopenhagener Kongreßthema die spätzeitlichen Aspekte. Am ehesten für deutsche Le­ ser zu empfehlen ist wohl die jüngste zusammenfassende Übersicht des Göteborger Nordisten, Ture Johannisson, der zudem auch spätere (hoch)- deutsche Einflüsse registriert, wie z.B. die auch im Schwedischen außer­ ordentlich frequenten Adjektive auf -mäßig*. Johannisson berücksichtigt ferner die umgekehrte Perspektive, d.h. die wenigen schwedischen Lehn­ wörter im Deutschen wie etwa K näckebrot und M oped, neuerdings auch (n), wobei fraglich bleibt, ob letzteres das Stadium des Zi­ tatw o rts 10 schon verlassen hat. Zu beachten ist überhaupt, daß es sich bei dem niederdeutschen Einfluß um eine Problematik handelt, die in erster Linie die schwedische Nordistik

287 angeht. Torsten Dahlberg hat das in dem angeführten Aufsatz folgender­ maßen begründet: “Die Erforschung des Niederdeutschen ist gewiß für Nordisten von größe­ rer Wichtigkeit als für die hochdeutschen Sprachgeschichtler. Ich möchte die Sache so ausdrücken: Es wird zur Not möglich sein, große Abschnitte der hochdeutschen Sprach- und Kulturgeschichte ohne eingehendere Be­ rücksichtigung des Niederdeutschen zu behandeln — für die Nordisten aber nimmt das Niederdeutsche geradezu eine zentrale Stellung ein. Fast auf allen Gebieten der Nordistik spürt und ahnt man direkt oder indirekt das niederdeutsche Substrat, ln Skandinavien können wir an dem Nieder­ deutschen nie vorbeikommen”. Das W ort Substrat ist hier natürlich fehl am Platze, gemeint ist offenbar Superstrat oder gegebenenfalls A d stra t — ich komme darauf noch kurz zurück — aber davon abgesehen gibt dieses Zitat doch wohl eine recht klare Vorstellung von der Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung. Diese wird freilich nicht immer im erwünschten Ausmaß praktiziert. Ein besonders ärgerlicher Fall ist, daß die Nordisten bei der Ansetzung der nd. Ursprungswörter so oft den Umlaut — dessen Vorhandensein schon Agathe Lasch in ihrer mnd. Grammatik nachgewiesen und Sarauw dann erhärtet hatte — unberücksichtigt lassen.11 Dabei ist einer der Beweise für die Existenz des Umlauts gerade die in frühen mnd. Texten nicht ganz seltene nordische Orthographie

288 Verein für niederdeutsche Sprachforschung seine jährlichen Pfingsttagun- gen fast immer mit dem Lübecker Hansischen Geschichtsverein abgehal­ ten h a t.15 Das Mittelniederdeutsche als nordeuropäische Geschäfts- und Verkehrs­ sprache der Hanse ist mit anderen Worten ein entscheidender Faktor. Ich skizziere ganz kurz die Entwicklung.16 In Norddeutschland führte der lebhafte Verkehr der Hansestädte, auf jeden Fall im schriftlichen Be­ reich, zu einer Überwindung der mundartlichen Unterschiede. Allerdings darf man sich keine übertriebenen Vorstellungen von der graphematischen Einheitlichkeit dieser geschriebenen Sprache machen: “Ein mittelalter­ licher Schreiber hat nun einmal keine so unerschütterlich feste Orthogra­ phie, wie sie der Schematismus des moderenen Philologen von ihm er­ wartet”, heißt es in einer schönen Formulierung von Agathe Lasch in ihrem bereits zitierten klassischen Aufsatz vom Werden und Wesen des Mittelniederdeutschen. Aber immerhin: eine mittelniederdeutsche Geschäfts- und Verkehrsspra­ che, wesentlich Lübecker Prägung, tritt, nachdem anfangs verschiedene Strömungen nebeneinander bestanden hatten, seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts deutlicher hervor. Dabei sind besonders die Rechts­ verhältnisse des nd. Gebiets von Bedeutung gewesen. Der führende Hei­ delberger Hansehistoriker Ahasver v. Brandt hat für das Stadtrecht von Lübeck in einem eindrucksvollen Vortrag die Parallele mit Luthers Schriften gezogen. Das lübische Recht habe, so meint er, für das nordost­ deutsche Gebiet eine ähnlich entscheidende Rolle gespielt wie später für Gesamtdeutschland die lutherischen Bibelübersetzungen und Kate­ chismen: “die Rolle einer geistigen Klammer, die das Volkstum zusam­ menhielt, nicht nur in der Heimat, sondern besonders in der Fremde und im Kolonisationsgebiet” 17 — wobei ich freilich mit Brecht das Wort V o lkstu m gerne durch Bevölkerung ersetzt sehen möchte. Der Schriftverkehr der hansischen Städte untereinander, wie mit ihren Handelsniederlassungen in England, den Niederlanden, Skandinavien, den Ostseeländern und Rußland — die deutschen Kaufleute in Nowgorod besaßen schon im 13. Jh. eigene Statuten in mnd. Sprache18 — hat also zu einer Art Schriftsprache geführt, die bis in die Kontore der Kaufleute von Bergen und Wisby, von Stockholm und Riga gelangte und so zur do­ minierenden Geschäftssprache des europäischen Nordens wurde. Dies ist der eine Aspekt. Der zweite Faktor ist die starke direkte Einwan­ derung niederdeutscher Kaufleute und Handwerker nach den nordischen Ländern. Ein erstes Zentrum dieser Expansion ist Wisby auf Gotland, das schon im 12. Jh. im Zuge der Ostkolonisation zu einer fast rein deut-

289 sehen Stadt wird. Das mittelalterliche Stadtrecht von Wisby, in einer voll­ ständigen Hs. des 14. Jhs. und in zwei Bruchstücken des 13. Jhs. überlie­ fert19, ist daher in mnd. Sprache abgefaßt. Im Laufe des 13. Jhs. über­ nimmt Lübeck die führende Rolle, und gleichzeitig nimmt die Zahl deut­ scher Einwanderer gewaltig zu. Der erste namentlich bekannte Bürger­ meister von Stockholm 1297 war ein Deutscher. Bezeichnend ist, daß die Angst vor der deutschen Dominanz dazu führte, daß das Stockholmer S ta d tre c h t20 um die Mitte des 14. Jhs. vorschreibt, daß höchstens die Hälfte der Ratsherren Deutsche sein dürfen; von den 6 Bürgermeistern waren 3 Deutsche, 3 Schweden. “Im Jahre 1363 gelang es dem deutschen Fürsten Albrecht von Mecklen­ burg, den schwedischen König zu vertreiben und die Krone zu erobern. Während seiner 25jährigen Regierung siedelten Scharen von Adligen und Kriegern nach Schweden über. Ähnlich ging es in Dänemark: die Ober­ schicht war zweisprachig. Während der sog. Unionszeit herrschten nach­ einander zwei Deutsche über den ganzen Norden: Erich von Pommern und Christoph von Bayern”.21 Es liegt auf der Hand, daß die hier knapp skizzierten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründe schwerwiegende sprachliche Folgen haben mußten. In der Tat gibt es wohl in der Geschichte der europäischen Sprachen nur eine Parallele, nämlich die Umstrukturierung des angel­ sächsischen Wortschatzes als Folge der normannischen Eroberung. Die folgende Belegsammlung erhebt keineswegs Anspruch darauf, alle Bereiche zu erfassen, vermag aber immerhin wohl eine recht konkrete Vorstellung zu vermitteln von dem ganzen Ausmaß des niederdeutschen Einflusses auf Wortschatz und Wortbildung. Die Beispiele sind so gewählt, daß in der Mehrzahl der Fälle die deutsche Entsprechung einigermaßen durchsichtig ist. Es handelt sich hierbei um fast alle Aspekte des öffent­ lichen Lebens: Stadtverwaltung: radhus, borgmästare, fogde, borgare, bödel Handel: bandel, köpman, vikt, tull, frakt, mynt Handwerk: bantverk(are), skomakare, skräddare (‘S chneider’, vgl. den Personennamen Schröder), snickare (‘Tischler’, nd. sniddeker, snitker) Von dem starken Einfluß des hansischen Zunftwesens zeugt der Umstand, daß bis auf drei Ausnahmen (Schmied, Bäcker, Schornsteinfeger — beim letzteren freilich neben dem einheimischen sotare auch skorstensfejare) alle Handwerkerbezeichnungen auf mnd. Vorbilder zurückgehen.

Ritterwesen: herre, fru, fröken (vröuweken ‘Fräulein’), riddare

290 Alltagswörter nd. Ursprungs sind Legion, darunter z.B. ein für mein Sprachgefühl so eminent schwedisches Wort wie kalas (durch nd. Vermittlung aus lat. collatio), wo die lexikalischen Entsprechungen Fest, Schmaus nur unzulänglich die spezifischen Konnotationen vermitteln können. Weitere markante Beispiele wären och (‘u n d ’), bra (‘g u t’), sadan (‘solch, nd. so dan ‘so g etan ’), m en (‘aber’), bliva (‘bleib en ’ und ‘w erd en ’), usw ., usf. Die Stärke des nd. Einflusses erweist sich nicht zuletzt in der Wort­ bildung, wie die folgende Zusammenstellung zeigt: Movierte Femina: lärartnna, studentska — Substantivsuffixe: fa lskh et, b lin d h et — vetande (nd. (to)wetende ‘W issen’), m eddelande (‘M itteilung’) — Interessant ist, daß zahlreiche mnd. Ableitungen auf -nisse im Schwedi­ schen mit der Substitution -eise erscheinen, einem Suffix, das in der ein­ heimischen Sprache in einer begrenzten Zahl von Wörtern schon vorhan­ den war. Wenn — als ein Typenbeispiel — nun das mnd. vengenisse als fängelse (‘Gefängnis’) übernommen wird, so hängt dies offenbar damit zusammen, daß die sprechsprachliche Form mnd. vengense war (so mehr­ fach in Urkunden belegt, vgl. Nd. Mitt. 10, 1954, S. 79) und man also leicht ein vertrautes -eise heraushören konnte. — Adjektivsuffixe: kostbar - lögnaktig (‘lügenhaft’) - Verbalpräfixe: angripa - betala - fö rsta - undgä — um bära (m nd. u ntberen) — erinra. Auch aus Syntax, Orthographie und Aussprache ließen sich unschwer Beispiele anführen. Alles in allem: Es kann kein Zweifel bestehen, daß für das Schwedische die Goethesche Maxime zutrifft: “Die Gewalt einer Sprache ist nicht, daß sie das Fremde abweist, sondern, daß sie es ver­ schlingt”. Daher waren auch die puristischen Bemühungen zum Scheitern verurteilt, die einen unserer bekanntesten Dichter des 19. Jhs., Viktor Rydberg, u.a. in seiner Faustübersetzung dazu veranlaßten, nach Möglich­ keit die nd. Lehnwörter auszumerzen.22 Man hat errechnet, daß fast die Hälfte des schwedischen Wortschatzes in der einen oder anderen Weise, als Lehnwort, Lehnübersetzung, Lehnbedeutung oder in der Wortbildung, irgendwie niederdeutsch geprägt ist, wobei derartige statistische Feststel­ lungen vorläufig natürlich höchst unsicher bleiben müssen. Überhaupt bleibt noch manches zu erforschen. Mein Kollege, Lennart Elmevik, neuernannter Professor für Nordistik an der Universität Stock­ holm, ist gerade dabei, ein Projekt aufzubauen, das die ungelösten Fragen in Angriff nehmen will. Daß das Modewort interdisziplinär hier unver­ meidlich ist, liegt, nach dem was einleitend skizziert wurde, auf der Hand. Generell und mit einiger Vereinfachung darf man vielleicht behaupten, daß bisher mehr das Was als das Wie in der Forschung dominiert hat, daß

291 mehr registriert als erklärt und analysiert worden ist. Um hier weiterzu­ kommen, bedarf es offenbar der Mitwirkung von Sprachstatistik, moder­ ner Interferenz- und Zweisprachigkeitsforschung23, Sprachsoziologie und Geschichtswissenschaft. Die wichtigsten Probleme sind aber im Grunde schon von Erik Rooth ge­ stellt worden in seinem oben verzeichneten Aufsatz zur Frage der nd. Lehnwörter im Schwedischen, besonders im Neuen Testament von 1526: Erstens eine erneute Überprüfung einer alten These von der “dänischen Brücke” , d.h. die Frage, ob und inwiefern der Einfluß über Dänemark zu uns gekommen ist. Zweitens die grundsätzliche Frage in einer Formulie­ rung von Ernst Windisch: “Einheimische Sprache im Munde der Fremden oder fremde Sprache im Munde der Einheimischen?” Dies trifft wohl den wichtigsten kommunikativen Aspekt, aber zugleich auch die schwie­ rigste Problematik. Und drittens: was ist literarisch, was über die gespro­ chene Sprache entlehnt? Am wenigsten erforscht ist hier das Zeugnis der Mundarten. Man sollte meinen, daß dies bei einer primär so eminent städtehistorischen Problematik geringfügig sein würde, aber eigene For­ schungen von Elmevik erweisen schon, daß die Mundarten weit stärker nd. durchsetzt sind, als man vermuten könnte. 24 Es bleibt nur noch zu warnen vor allzu übertriebenen Erwartungen hin­ sichtlich der Möglichkeit der schwedischen Forschung. Professor Inger Rosengren hat vor zwei Jahren hier in Mannheim ein etwas deprimieren­ des Bild von der Lage der schwedischen Universitäten gegeben, die ge­ zwungen sind, Deutschlehrer im Schnellverfahren von 2-3 Semestern aus­ zubilden. 25 Der Feuilletonredakteur der Hamburger “Zeit”, Rudolf Walter Leonhardt, hat nach eingehenden Studien an Ort und Stelle vor zwei Jah­ ren die Situation in seinem “Schwedenreport” (1974) sehr zutreffend folgendermaßen charakterisiert: “Die Linken in der Bundesrepublik, die so gerne vom Vorbild Schweden reden, leiden offenbar an einem erhebli­ chen Informationsrückstand, denn sonst müßten sie wissen: Zustände wie an schwedischen Universitäten sind das Letzte,was sie sich wünschen”.26 Seitdem sind die Zustände gewiß nicht erfreulicher geworden. Wir stehen unmittelbar vor einer neuen Universitätsreform, die gerade für die sprach­ wissenschaftlichen Institute schwerwiegende Folgen haben wird. Eine reine Berufsschule wird mit einem Höchstmaß an technokratischem Per­ fektionismus und einer Riesenbürokratie aufgebaut, wobei der wissen­ schaftliche Nachwuchs zu verkümmern droht. Ich könnte mir vorstellen, daß unser traditionelles Fach Nordistik an schwedischen Universitäten sich nach einigen Jahren in einer Lage befindet, die zu charakterisieren wäre mit dem Satz: “Nordistica sunt, non leguntur”.

292 Aber noch ist die Reform ja bis in die letzten Konsequenzen nicht durch­ geführt. Noch hat Lennart Elmevik also einige Jahre Zeit, und es bleibt abzuwarten, was dabei herauskommt.

Anmerkungen

1 Ein wichtiges Zentrum war auch Marburg, wo der vor kurzem verstorbene Altgermanist Ludwig Wolf, langjähriger Herausgeber des Niederdeutschen Jahrbuchs, der Erforschung des Altsächsischen und Mittelniederdeutschen stark verpflichtet war. 2 Olav Brattegard, Die mittelniederdeutsche Geschäftssprache des Hansischen Kaufmanns zu Bergen, Bd. 1-2 (1945-46), vgl. dazu die Bespr. von Erik Rooth, in: Nd. Mitt. 2, 1946, S. 183 f. 3 Pekka Katara, Das französische Lehngut in den mittelniederdeutschen Denk­ mälern von 1300-1600 (1966), dazu meine Bespr. in: Nd. Mitt. 23, 1967, S. 107 ff. 4 Vgl. Gustav Korlen, Germanistik in Schweden, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1973 (1974), S. 23 ff. Kritisch dazu Erik Rooth, Die schwedische Germanistik der Gegenwart in historischer Perspek­ tive, in: Nd.Mitt. 30, 1974, S. 81 ff. 5 Vgl. Torsten Dahlberg, Schlußwort beim Aufhören der Niederdeutschen Mitteilungen, in: Nd.Mitt. 30, 1974, S. 86 f. 6 Dabei sollte man meiner Meinung nach auch die neuniederdeutsche Litera­ tur berücksichtigen, vgl. einstweilen G. Koriin, Zur Rezeption der nieder­ deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts in Schweden (in: Germanistische Beiträge, Gert Mellbourn zum 60. Geburtstag am 21.5.1972, dargebracht von Kollegen und Schülern des Deutschen Instituts der Universität Stock­ holm), neuerdings auch Ingeborg Nilsson, Niederdeutsches Theater der Ge­ genwart (= Schriften des Deutschen Instituts der Universität, Stockholm, 4, 1976). 7 Artur Korlen, Statwechs gereimte Weltchronik, Uppsala 1906. 8 Vgl. von historischer Seite auch Ahasver v. Brandt, Die Hanse und die nordi­ schen Mächte im Mittelalter, 1962. 9 Vgl. dazu neuerdings Göran Inghult, Die semantische Struktur desubstanti- vischer Bildungen auf -mäßig. Eine synchronisch-diachronische Studie (Diss. Stockholm 1975). 10 Zum Begriff vgl. Manfred W. Hellmann (Hrsg.), Zum öffentlichen Sprachge­ brauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR (= Sprache der Gegenwart 18), 1973, S. 257 und dort angeführte Literatur. 11 Vgl. dazu G. Korlen, Die mnd. Texte des 13. Jhs. (Diss. Lund 1945), S. 186. 12 Schon 1932 schrieb der Hamburger Germanist Conrad Borchling (zusammen mit Agathe Lasch der eigentliche Begründer der modernen mnd. Philologie) folgendes: “Es geht wirklich nicht an, daß der Bearbeiter eines mnd. Glossars bei der Ansetzung seiner Stichwörter auf die Bezeichnung der Umlaute ver­ zichtet” . Vgl. NcLMitt. 1952, S. 70. 293 Von Törnqvist, der sich in mehreren kleineren Arbeiten mit dem mnd. Ein­ fluß beschäftigt hat, erscheint demnächst eine größere zusammenfassende Abh. mit dem Titel “Das niederdeutsche und niederländische Lehngut im schwedischen Wortschatz”. Fatalerweise verzichtet Törnqvist in der neuen Arbeit auf die Ansetzung des Umlauts (vgl. Conrad Borchling, Anm. 12). A. Lasch, Vom Werden und Wesen des Mittelniederdeutschen, in: Nieder­ deutsches J ahrbuch 51, 1925, S. 55 ff. Siehe hierzu Gerhard Cordes, Verein für niederdeutsche Sprachforschung 1874-1974, in: Nd. Jb. 97, 1974, S. 7 ff. Das folgende z.T. in enger Anlehnung an Adolf Bach, Geschichte der deut­ schen Sprache, 9. Aufl. 1970, § 121. A.v. Brandt, Lübeck in der deutschen Geistesgeschichte, in: Zeitschrift des Vereins für lübeckische Geschichte und Altertumskunde 31, 1949, S. 31. Zur sog. Nowgoroder Schra — das Wort Schra eine der wenigen mnd. Ent­ lehnungen aus dem Nordischen (skra = ‘Zunftordnung’) — vgl. G. Korlen a.a.O. (Anm. 11), S. 189 ff. Vgl. G. Korlen, a.a.O. (Anm. 11), S. 183 ff. Es handelt sich um "Magnus Erikssons stadslag”, ein Gesetz, wo übrigens Beziehungen zum Lübecker Stadtrecht in der Fassung von 1348 m.E. nicht ganz ausgeschlossen sind, vgl. zuletzt Kumlien, Sverige och hanseaterna, S. 230. Johannisson, Deutsch-nordischer Lehnwortaustausch, S. 608 (Erich von Pommern regierte 1396-1439, Christoph von Bayern 1441-1448). Vgl. Hans-Peter Naumann, Goethes “Faust” in schwedischer Übersetzung (1970), dazu Werner Koller in: Moderna sprak 1972, S. 258 ff. Vgl. neuerdings etwa Eis Oksaar, Sprachkontakte als sozio- und psycholin- guistisches Problem (in: Festschrift für Gerhard Cordes, 1976). Vgl. auch eine Bestandsaufnahme des nd. Einflusses auf die Estlandschwedi­ schen Mundarten von Herbert Lagman, Tyska lanord i estlandssvenska mal (in: Svenska Landsmäl och Svenskt Folkliv, 1973). Siehe Inger Rosengren, Das Grammatikstudium auf der Grundstufe der Uni­ versität (Schwedisch > Deutsch), in: Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik. Jahrbuch 1974 = Sprache der Gegenwart 36, 1975, S. 297 ff. Siehe dazu vor allem die eindringliche Analyse von Ludwig Fischer, Die Produktion von Kopfarbeitern. Spätkapitalistische Bildungspolitik am Bei­ spiel des schwedischen Hochschulwesens, Berlin (West) 1974. JAN GOOSSENS

Zur vergleichenden Phonologie des Deutschen und des Nieder­ ländischen

In diesem Beitrag wird eine in der vergleichenden Phonologie verwandter Sprachen anwendbare Methode demonstriert. Sie beruht zwar nicht auf dem Prinzip, daß die Unterschiede zwischen solchen Sprachen durch Sprachwandel entstanden sind, verwendet aber Regeln, die manchmal Formalisierungen lauthistorischer Vorgänge nahekommen oder mit ih­ nen identisch sind. Vermutlich ist der behandelte Auszug aus der ver­ gleichenden Phonologie der beiden untersuchten Sprachen zugleich als die Behandlung einer Aufspaltung innerhalb des Germanischen nach dem Stammbaumprinzip zu betrachten; die wellenartige Verbreitung bestimm­ ter Neuerungen über beide Sprachgebiete nach dem Spaltungsbeginn re­ sultiert dann in einigen Vereinfachungen der Beschreibung, die bei einer rein historischen Behandlung nicht erlaubt gewesen wären. Vergleichende Phonologie des Deutschen (D) und Niederländischen (N) setzt eine Methode voraus, die es ermöglicht, Übereinstimmungen und Unterschiede in der Phonologie beider Sprachen in adäquater Weise zu ermitteln. Zunächst muß geklärt werden, ob der Vergleich auf typologi- scher Ebene oder auf der Grundlage einer gewissen Identität im lexikali­ schen Bestand durchgeführt werden soll. Typologisch ist ein Vergleich, in dem die Fragen untersucht werden, in­ wiefern beide Sprachen aus dem universellen phonologischen Merkmalin­ ventar die gleiche Auswahl treffen und inwiefern diese Auswahl verschie­ denartig ist, inwiefern in beiden Sprachen bei der Verbindung von Seg­ menten dieselben Kombinationsregeln gelten und inwiefern diese Kom­ binationsregeln voneinander abweichen; inwiefern sie identische und in­ wiefern sie unterschiedliche zyklische Regeln haben usw. Dabei wird die Frage außer acht gelassen, ob die sich auf der semantischen Ebene ent­ sprechenden Formative und Formativketten formal in irgendeiner Weise miteinander identisch sind oder nicht. Ein typologischer Vergleich ist nicht nur möglich bei Sprachen, die eine gewisse Ähnlichkeit miteinander aufweisen, wie D und N, sondern auch bei Sprachen, zwischen denen überhaupt keine formale Ähnlichkeit zu finden ist, wie D und Baskisch, N und Zulu. Ein typologischer Vergleich von D und N wäre nicht sinn­ los. Von den typologischen Merkmalen, die in beiden Sprachen Vorkom­ men, steht per definitionem schon fest, daß sie nicht einmalig sind. Ob ihnen — im Gegensatz zu den anderen — Universalcharakter zukommt,

295 kann durch Einbeziehung weiterer Sprachen wahrscheinlich gemacht oder falsifiziert werden. Solche Vergleiche können nützlich sein im Dienst der phonologischen Theorie. ln diesem Beitrag ist jedoch ein anderer Vergleich beabsichtigt, und zwar auf der Grundlage einer gewissen Identität im lexikalischen Bestand, die auf Identität im Ursprung beruht. D. Haus und n. huis sind in irgendeiner Weise identisch. Das erste und das letzte Segment haben in beiden Spra­ chen die gleiche Matrix; die Abweichung im zweiten Segment kann mit einer Regel beschrieben werden (d. [+ hinten] 4? n. [ — hinten]), die of­ fenbar für eine ganze Reihe von Formativen gilt (vgl. Maus/muis, Haut/ buid, Daumen/duim, aus/uit, laut/luid, Baucb/buik usw.), so daß man sagen kann, daß d. au und n. ui auf irgendeine Weise ebenfalls identisch sind. Diese Identität ist natürlich nicht zufällig, sondern die Folge des ge­ meinsamen Ursprungs beider Sprachen. Wenn man die TGG-Terminolo- gie in historischem Sinne übertragen anwendet, kann man sagen, daß eine gemeinsame phonologische Tiefenstruktur beider Sprachen an der Ober­ fläche jeweils teilweise verschieden realisiert wird. Der gleiche Ursprung bzw. die Verwandtschaft ist nicht der einzige Grund für die Ähnlichkeit von D und N. In einem Teil des Lexikons beruht diese auf Entlehnung aus dergleichen Drittsprache (Radio/radio, Tunnel/tunnel), in einem kleineren auf Entlehnung von N aus D (frisch/fris, Spitze/spits), in einem noch kleineren auf Entlehnung von D aus N (Matje/maatje, Kabeljau/kabeljauw), in einem sehr kleinen mag sie auf Zufall beruhen, ln diesen letzten vier Fällen läßt sich jedoch die Ähnlichkeit nicht für Gruppen von lexikalischen Einheiten formalisieren. Nur bei gemeinsamen Entlehnungen aus Drittsprachen ist eine Systematisierung in sehr be­ schränktem Umfang möglich, z.B. in Gruppen wie Fakultät/faculteit, Majestät/majesteit, Qualität/kwaliteit, Sexualität/seksualiteit usw ., elem en- tar/elementair, linear/lineair, nuklear/nucleair usw. Davon unterscheidet sich grundsätzlich die Ähnlichkeit, die auf Identität im Ursprung beruht: Sie kann in Regeln gefaßt werden, die für Reihen von lexikalischen Ele­ menten gelten. Bevor wir uns mit der Formulierung solcher Regeln befassen, ist eine Ver­ ständigung notwendig über 1) die zu berücksichtigenden Merkmale, 2) die Weise, in der diese Merkmale zu berücksichtigen sind, 3) die Segmente, die für eine vergleichende Analyse in Frage kommen. Das geschieht mit Hilfe der Matrix auf Seite 297. Es ist nicht möglich, diese hier eingehend zu besprechen oder auch nur jedes angenommene Merkmal zu definieren. Ich beschränke mich auf einige für das Verständnis der Matrix unbedingt notwendige Anmerkungen.

296 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 297 Für beide Sprachen gilt: 1) Die Diphthonge werden nicht weiter segmentiert; es wird angenom­ men, daß sie ein Merkmal ‘sich verfärbend’ besitzen, das die anderen vokalischen Segmente nicht haben. 2) a, j und t) werden als selbständige Segmente interpretiert. 3) w wird als v eingeordnet, d.h. als kontinuierlicher stimmhafter nicht koronaler anteriorer Obstruent. Für D gilt außerdem: 1) e: wird nicht als eigenes Phonem gewertet, sondern es wird von einem Subsystem ausgegangen, in dem die Vokale von w ählen und geben identisch sind. 2) Die Affrikaten werden nicht weiter segmentiert; es wird angenommen, daß sie ein Merkmal ‘sich verfärbend’ besitzen, das die anderen konso­ nantischen Segmente nicht haben. Für N gilt außerdem:

1) Die sog. Lehnphoneme e:, ce: und d: werden nicht berücksichtigt. 2) Es wird von einem Subsystem ausgegangen, in dem v (vel) und f (fei) identisch sind, ebenso w ieg (waggelen) und ch (lachen). Bei dem Aufbau der Matrix ist beabsichtigt worden, jedes n. Segment als Entsprechung eines d. Segments zu betrachten, obwohl leicht festzustel­ len ist, daß bei fast jedem d.-n. Segmentpaar kleinere oder größere pho­ netische Unterschiede vorhanden sind. Die spezifisch d. bzw. n. phoneti­ sche Realisierung muß durch zusätzliche Regeln erzeugt werden. Dabei sind verschiedene Möglichkeiten denkbar: 1) Man kann den Elementen einer universellen Matrix, von denen d. und n. Entsprechungen angenom­ men werden, spezifisch d. und spezifisch n. phonetische Merkmale hinzu­ fügen; 2) Man kann, von den Elementen der d. Matrix ausgehend, die entsprechenden n. Elemente mit zusätzlichen phonetischen Merkmalen versehen; 3) Man kann, von den Elementen der n. Matrix ausgehend, die entsprechenden d. Elemente mit zusätzlichen phonetischen Merkmalen versehen. Wir nehmen D als Ausgangspunkt; Abweichungen in der pho­ netischen Realisierung der entsprechenden n. Segmente sind durch dia­ kritische Zeichen auf der unteren Zeile sichtbar gemacht. Die durch Dia- kritika angegebenen n. Regeln dürfen nicht als sog. “phonetische Regeln” in der letzten Stufe der phonologischen Komponente aufgefaßt werden; sie sind offenbar tiefer anzusetzen. So gibt es in N eine Regel, wodurch die Segmente i:, y: und u: in bestimmten Umgebungen gekürzt werden (vgl. n. lie f [lif] mit d. lieb [li:p]). Wenn man zunächst die Kürzung durch-

298 führt und erst nachher die durch das Diakritikon angegebene Öffnung, so bekommt man [lif] wie [gif] ‘gif statt [lif], was offenbar falsch ist. Da die Zahl der d. Segmente größer ist als die der n., kann man zwar je­ de Spalte des n. Inventars einer d. zuordnen, aber nicht umgekehrt. Auf eine Reihe von in der phonologischen Komponente durchzuführen­ den Prozeduren wird hier nicht eingegangen. Das gilt für die sog. zykli­ schen Regeln, die für die richtigen Akzentverhältnisse verantwortlich sind, weiter für die merkmalverändernden nichtzyklischen Regeln, durch die auf den Formativgrenzen die richtigen Assimilationen entstehen, und schließlich auch für die merkmalmodifizierenden nichtzyklischen Regeln, die eine “akzentfreie” Realisation sprachlicher Äußerungen ermöglichen. Wir beschäftigen uns dagegen ausschließlich mit den sog. phonologischen Merkmalen der Lexikoneinträge, die bekanntlich in Form von Matrizes dargestellt werden. Es lassen sich verschiedene Ausgangspunkte für die Beschreibung des d.-n. Verhältnisses annehmen. Man kann erstens die d. Reihen als unter den n. Strukturen liegend betrachten, ln der genannten Reihe Haus/huis, Maus/ m uis usw. ergäbe das eine Regel D [+ hinten] -> N [— hinten]; in der Reihe Bein/been, Stein/steen, Kleid/kleed, beißen/beten usw. eine Regel D [+ s. verfärbend] -*■ N [— s. verfärbend] usw. Man kann zweitens auch das umgekehrte Verfahren wählen ([— hinten] -*■ [+ hinten], [— s. ver­ färbend] -v [+ s. verfärbend]). Die Wahl der tieferen und die der abgelei­ teten Struktur erscheint hier arbiträr. Übrigens wäre ein solches Verfah­ ren mit praktischen Schwierigkeiten verbunden. Neben der Reihe H aus/ huis, Maus/muis usw. gibt es die Reihe Baum/boom, taub/doof, Auge/oog, Haufen/hoop usw., die sich zwar in N, nicht aber in D von der vorigen unterscheidet. Eine Regel, die die Herleitung beider n. Reihen aus der entsprechenden einen d. darstellt, hat folgende Gestalt;

+ s.verfärbend + s.verfärbend D N ■Tl + hinten — hinten J ¡> [r— s.verfärbend] | + hinten

Hier kann aufgrund der Segmentverkettung nicht vorhergesagt werden, in welchen Fällen in der abgeleiteten Struktur N die erste, und in welchen Fällen die zweite Möglichkeit gewählt werden muß. Das bedeutet, daß in jedem Fall eine vollständige Aufzählung der in Frage kommenden Wör­ ter notwendig ist. Es kommt hinzu, daß die abgeleiteten Strukturen auch auf andere als in der Regel angegebene Weisen entstehen können (vgl. etwa tot/dood, Brot/brood, bloss/bloot, in denen Ein- und Ausgabe

2 99 identisch sind; das ist auch der Fall in heulen/huilen, Deutsch/Duits, Kreuz/kruis usw.). Aus alledem ergibt sich, daß bei aller Ähnlichkeit D und N zu stark voneinander abweichen, als daß ihr Verhältnis mit Hilfe des skizzierten Verfahrens dargestellt werden könnte. Adäquater scheint ein Verfahren zu sein, in dem nicht versucht wird, die phonologische Struktur der einen Sprache aus der anderen herzuleiten, sondern sie beide auf eine dritte zurückzuführen. Methoden, das Verhält­ nis zweier Sprachen zueinander mit Hilfe einer dritten Sprache darzustel­ len, sind schon im vorigen Jh. in der vergleichenden Grammatik entwickelt worden. In dieser Disziplin ist in der Regel von älteren Sprachstufen die Rede. Als Drittsprache wird eine Größe gewählt, die es nicht nur erlaubt, die erste und die zweite miteinander zu vergleichen; sie wird außerdem so konstruiert, daß es gelingt, die beiden anderen vergleichend daraus ab­ zuleiten. Das führte zu Konstruktionen (in der Praxis aufgefaßt als Re­ konstruktionen) von Sprachen, die nicht in Form schriftlicher Dokumen­ te überliefert waren. Auf diese Weise ist es der vergleichenden Grammatik gelungen, in eine immer weiter zurückliegende sprachliche Vergangenheit vorzudringen. Praktisch hat die Untersuchung ihren Endpunkt, d.h. hi­ storisch ihren Beginnpunkt erreicht bei einer konstruierten Ursprache, aus der die große Mehrheit der Sprachen Europas und eines Teils von Asien hergeleitet werden kann: dem Indogermanischen. Unser Ziel ist nicht, eine gemeinsame Vorstufe von D und N zu suchen, sondern eine Methode zu entwickeln, die es ermöglicht, die Phonologie beider Sprachen in adäquater Weise vergleichend darzustellen. Dabei er­ scheint es vernünftig, eine Drittgröße in die Untersuchung einzubeziehen. Diese wird als Bezugsgröße interpretiert, was nicht identisch ist mit “ge­ meinsamer Ursprache”, obwohl selbstverständlich infolge des historischen Faktums, daß D und N aus einer gemeinsamen Vorstufe entstanden sind, die Bezugsgröße eine ziemlich weitgehende Ähnlichkeit mit dieser Urspra­ che aufweisen muß. Sie braucht aber damit nicht identisch zu sein und ist es faktisch auch nicht. Nachdem die divergierende Entwicklung schon angefangen hatte, können nämlich bestimmte Neuerungen sowohl D als auch N ergriffen haben. In solchen Fällen ist es sinnvoll, das Ergebnis der gemeinsamen Neuerung bei der Konstruktion des Bezugssystems zu be­ rücksichtigen, weil dadurch der Vergleich vereinfacht wird. Beispiel: Im Ahd. war am Ende des 10. Jhs. das Segment mit dem Merkmal [+ vok.], das sich aus wg. eo entwickelt hatte (liop ‘lieb’), immer noch nicht zu­ sammengefallen mit dem Segment, das aus wg. langem e entstanden war (briaf ‘Brief’). Vor der Kollision dieser beiden vokalischen Segmente hat es jedoch gewiß schon eine Reihe von Unterschieden gegeben zwischen der Sprachform, aus der D, und jener, aus der N entstanden ist. Trotzdem

300 ist die Kollision von eo und e eine gemeinsame d.-n. Erscheinung. Die Konstruktion einer Bezugsgröße, in der die Wörter mit ursprünglichem eo und solche mit ursprünglichem e eine Gruppe mit identischem Voka­ lismus bilden, vereinfacht die vergleichende Darstellung (eine gemeinsa­ me Regel von D und N kann entfallen) und erlaubt trotzdem eine richtige Behandlung des d.-n. Verhältnisses. Sie ist deshalb gerechtfertigt, wenn man vereinbart, daß die Bezugsgröße nicht als Vorstufe aufgefaßt werden darf. Wir brauchen jetzt ein Verfahren, das einerseits einen direkten und syste­ matischen Vergleich von D und N ermöglicht und andererseits das Ver­ hältnis des gemeinsamen Eingabesystems zum doppelten Output mög­ lichst stark vereinfacht. Das erscheint möglich mit Hilfe des Konzepts “Diasystem”. Darunter versteht man in der taxonomischen vergleichen­ den Phonologie eine Formel, die das Verhältnis von zwei oder mehr ver­ wandten Sprachsystemen mit Hilfe eines Bezugssystems bestimmt. Bei­ spiel: Drei Mundarten A, B und C haben folgende Systeme der ungerun- deten palatalen Kurzvokale (um die Reihe abzurunden, ist auch der offe­ ne Kurzvokal / a / mit aufgenommen): A: i, e, a; B: i, e, e, a; C: i, e, e, a. Bezugssystem: ij, e2. ¿ 3. ¿ 4. a y i'i : dick, sitzen, mit, Hitze... e2 ■■ Bett, setzen, decken, Netz... e3 : Knecht, Speck, schlecht, weg... a 4 : mächtig, Bäcker, Schlächter, Wächter... a 5 : Macht, backen, schlachten, Wacht...

In der Annahme, daß die Korrespondenzen zur Bezugsgröße folgender­ maßen gestaltet sind: A: i=l, e=2,3, a=4,5; B: i=l, e=2, c=3, a=4,5; C: i=l, e=2, e=3,4, a=5, bekommen wir folgendes Diasystem:

Der Begriff “Diasystem” ist jedoch nicht unabdingbar mit einem taxono­ mischen Modell verbunden. Eds Verhältnis der Mundarten A, B und C im gegebenen Beispiel ließe sich auch wie folgt formalisieren: R I. 1 - + / i / R II. 2 -» / e /

R lila). 3 -*/ e/ b). (/e / -► /e /t A)

301 R IVa). 4 -+ /a/ b). (/a / ->• /e /, C) RV. 5 ->-/a/

Man bekommt dann folgendes Diasystem, in dem die Reihenfolge der Regeln III, IV, V und deren Verteilungen obligatorisch sind:

Es ist im Rahmen dieser Ausführungen nicht möglich, die vollständigen Segmentinventare von D und N mit ihren lexikalischen Korrespondenzen zu untersuchen. Wir beschränken uns auf den Vokalismus und wählen daraus die Segmente mit den Merkmalen [— lang] und [— s. verfärbend] im Bezugssystem, was praktisch heißt: die westgerm. Kurzvokale. Unser Bezugssystem kann nach herkömmlicher Art folgendermaßen dar­ gestellt werden: i u T tu u e O e o at au a

In der Matrix müssen die Elemente dieses Systems mit folgenden Spalten identifiziert werden: t = 1, u = 3, e = 4, o = 6 , a = 7 , f = 8 , iu = 9, ö = 10, e = 11,3= 13,3= 14,= 15, au = 17. Die Tabelle auf S. 303 enthält eine taxonomische Darstellung des Ver­ hältnisses D/N bei den Kurzvokalen des Bezugssystems, mit Hilfe von 5 + 4 + 9+15+6 = 39 Korrespondenzen (jeweils mit einem Beispiel ver­ deutlicht) und einem Diasystem. Die Verzweigungen in den Bäumen ge­ ben an, welche Korrespondenzen enger zusammengehören und welche weiter auseinanderliegen, ohne daß damit wieder unbedingt eine histori­ sche Reihenfolge von Lautgesetzen angegeben wäre. Die Abkürzungen bezeichnen Markierungen, die den Schlüssel zur Interpretation der Kor­ respondenzen enthalten.

Lauthistorische Erläuterungen: 1. Zu i: Korrespondenz 4 enthält auch Fälle wie Riß/reet, Biß/beet usw., d.h. hauptsächlich Verbalabstrakta zu starken Verben der ersten Reihe, die in vorahd. Zeit das i (ggf. u) der zweiten Silbe verloren haben. In N konnte dieses i/u sich länger halten, bis nach der Dehnung in offener Silbe. Historisch stehen sich hier zwei nachwestgerm. Formen gegenüber: vorahd. *rit und voranl. *riti. Der Un­ terschied braucht jedoch nicht berücksichtigt zu werden, weil die d. Form auch dann kurzes i enthalten würde ('Risse), wenn sie auf *riti zurückginge. Hier zeigt sich wieder einmal der Unterschied zwischen Bezugssystem und Protosystem.

302 DIPHTHONGE: D, N

303 2. Zu a : Der Typ Sekundärumlaut mit Dehnung (De: —Na:) ist nicht aufgenom­ men. Der Fall Mägde — maagden belegt zwar diese Korrespondenz; da jedoch auch im Falle der Wirkung eines Sekundärumlauts in N das Pendant zu Mägde durch Analogie hätte umlautlos werden müssen, ist diese Korrespondenz nicht berücksichtigt. 3. Zu u: Korrespondenz 7 enthält im Prinzip Fälle, in denen D keine Dehnung hat, weil die ausp, t, k durch die zweite Lautverschiebung entstandene geminierte Spirans das verhinderte, wie auch in den Korrespondenzen i 4,c3,a 10, 11 und 12, o 4. Ich habe jedoch kein sicheres Wortpaar finden können. Der in Klammern angeführte Fall N uß — noot (siehe auch weiterhin Guß — goot) ist zu vergleichen mit Riß/reet usw. unter i 4: In vorahd. Zeit verlor das Wort auslautendes u der zweiten Silbe; in N konnte hieraus entstandenes tonloses e sich bis nach der Deh­ nung des Vokals der ersten Silbe behaupten. 4. Zu o: Diese Gruppe enthält im Prinzip keine Fälle mit Umlaut. Es lassen sich jedenfalls keine befriedigenden Korrespondenzen konstruieren, weshalb wir Fäl­ le wie Böcke/bokken und mögen/mogen nicht berücksichtigen. Im Diasystem ist eine Dreiteilung (Kürzen, Längen, Diphthonge) aufgrund der beschriebenen Verhältnisse bei den Kürzen des Bezugssystems in den zwei verglichenen Sprachen durchgeführt worden. Das vollständige voka- lische Diasystem muß sich aus der Addierung der Repräsentanten der Kür­ zen, Längen und Diphthonge des Bezugssystems in beiden Sprachen er­ geben. Was die Darstellung der Kürzen betrifft, so sind außer der Eingabe der 5 Elemente des Bezugssystems, wie bemerkt, 39 Regeln notwendig, um das Verhältnis D-N zu beschreiben; 14 davon sind Analogieregeln. Es ist deutlich, daß mehrere dieser Regeln einander wiederholen, nämlich in allen den Fällen, die mit der gleichen Markierung versehen sind. Man muß sich deshalb fragen, ob es nicht möglich ist, die [Erstellung zu ver­ einfachen, indem man sie in weniger Regeln faßt, und den inneren Zusam­ menhang der Verhältnisse klarer herauszustellen, indem man die Vorgänge, die zusammengehören, mit Hilfe derselben Regel beschreibt. Das werden wir jetzt mit Hilfe der TGG-Regeltechnik versuchen (vgl. die Darstellung 5. 305). Durch die Regeln I - V werden die Spalten 1, 3, 4, 6 , 7 eingeführt, d.h. die Kurzvokale i, u, e, o und a des Bezugssystems. Durch die Blockierungsregel a werden die Segmente mit den Merkmalen [— kons], [+ hoch] und [— hinten], d.h. die der Spalten 1, 2, 8, 9 und 38 in N in einer bestimmten Umgebung ihres umlautverursachenden Charak­ ters entledigt, nämlich nach einem Obstruentenkluster, von dem das erste Segment die Merkmale [+ hoch] und [+ kont] besitzt (d.h. praktisch/// und/ac/, Spalte 29 und 30) und das zweite das Merkmal [+ kor]. N hat m.a.W. keinen Sekundärumlaut (vgl. D m ä ch tig / N m ächtig). Eine rich­ tige D&rstellung des dadurch entstehenden d.-n. Verhältnisses wird erreicht,

304 + vok Segmente mit den Merkmalen — s. verf, im Bezugssystem - l a n g

I - V: Einführung der Spalten 1, 3, 4, 6 , 7 a. Blockierungsregel — ko ns + ob str OL hoch / f f o b strl + hoch + hoch N * [-« hinten / 1 + k o r J — hinten / + k o n t L J b. Blockierungsregel + kons" — k o n t D * [+ kons] [+ kon0 / (+ vo k] ------[+ vok] — sth 1. U m lautregel —kons ' [+hinten] ^ []-hinten] / ------[+ kons] ([+kons]) +hoch —hinten 2. Dehnungsregel [- lang] - 5 [+ lang] / ------[+ kons) [- kons]

3. Senkungsregel + lang — hinten | — hoch "1 + hoch N niedrig] + hinten + hoch

4. Diphthongierungsregel

4.1. — nas + hinten! [+ s. v e rf] / ___ [+ latj + kor r l a n ë J N — k o n t

4.2. — nas [+ lat] 0 / [+ s.verf]----- + kor N — k o n t

DIASYSTEM: D, N // 1, II, III, IV, V, -, 1, -, 2, ------// a 3 ,4

305 indem verhindert wird, daß der sog. Umlautfaktor in der genannten Um­ gebung in N zugleich die Merkmale [+ hoch] und [— hinten] besitzt. Es ist deutlich, daß diese Blockierungsregel der Umlautregel 1 vorangehen muß, weil bei der umgekehrten Reihenfolge ein falsches Output zustan­ dekom m t. Die zweite Blockierungsregel läßt in D eine Verdoppelung der Konsonan­ ten mit den Merkmalen [— kont] und [— sth] in intervokalischer Stellung entstehen, was der Beobachtung der historischen Grammatik entspricht, daß die durch zweite Lautverschiebung entstandenen Spiranten zunächst Doppelspiranten waren. Dadurch wird die Silbe mit dem ersten Vokal ge­ schlossen, und für D und N werden unterschiedliche Dehnungsbedingun­ gen geschaffen, die für den unterschiedlichen Vokalismus etwa in A ffe/aap, essen/eten, machen/maken verantwortlich sind. Nebenbei sei bemerkt, daß die Lautverschiebung selbst für die Beschreibung des Verhältnisses der Segmente mit dem Merkmal [+ vok] in beiden Sprachen irrelevant ist. Es ist deutlich, daß Regel b der Dehnungsregel 2 vorangehen muß, um zu einem richtigen Output zu kommen. Nach den durch beide Blockierungsregeln zustandegekommenen Restrik­ tionen, die für jeweils eine Sprache gelten, können für beide Sprachen die Umlautregel 1 und die Dehnungsregel 2 eingeführt werden. Weitere Spe­ zifizierungen sind dann für D nicht mehr notwendig, wohl aber für N, das gedehntes i : und e; im Gegensatz zu Dzusammenfallen läßt, und zwar durch Senkung von i: (vgl. D sieben und geben m it N zeven und geven), ebenfalls gedehntes y-, senkt (vgl. D Bügel/N beugel) und außer­ dem sowohl nicht gedehntes als auch gedehntes «(:) senkt, wodurch u m it o und u : m it o: zusammenfällt (vgl. D H und m it N bond und D S tu b e m it N stoof). Das alles wird durch die Senkungsregel 3 ausgedrückt, in der die obere Hälfte des Inputs sich auf die vorderen Längen i: und y : , die untere auf die hinteren Vokale u und u: bezieht. Schließlich ist eine Diphthongierungsregel für N notwendig, die den Un­ terschied zwischen D kalt, Salz und N koud, zout, D Gold, H olz und N goud, b o u t zustandebringt. Die hinteren Kurzvokale a, o bekommen hier vor dem Lateral / + koronalem, nichtkontinuierlichem, nichtnasalem Konsonanten d o d er t das Merkmal [+ s.verf] in Regel 4.1, wonach in Re­ gel 4.2 der Lateral nach Diphthong und vor d oder t getilgt wird. In dem Diasystem, das auf S. 305 unten mit Hilfe der besprochenen Re­ geln konstruiert wurde, ist die Regelfolge teilweise beliebig (z.B. die der Regeln I - V), zum Teil obligatorisch (außer dem genannten Fall der Blockierungsregeln, die den Umlaut- und Dehnungsregeln vorangehen müssen, ist etwa zu erwähnen, daß die Diphthongierungsregel 4 auf jeden

306 Fall nach der Umlautregel 1 kommen muß, weil sonst ihr Anwendungsbe­ reich zu groß wäre). Es bleiben jetzt noch die 14 Fälle übrig, die auf S. 303 die Markierung A bekommen haben. Im Gegensatz zu King bin ich der Meinung, daß die historische Phonologie auf den Begriff “Analogie” nicht verzichten kann. Das gilt auch für die vergleichende Phonologie verwandter Sprachen auf der Basis der Identitäten im Lexikon. Auf S. 308 sind die 14 Analogiety­ pen gesondert aufgeführt. Angegeben ist, welcher Vokal bei Anwendung der Regeln des Diasystems bei jedem Typ sowohl in D als auch in N er­ zeugt werden müßte (Erwartete Ausgabe) und welcher Vokal tatsächlich realisiert wird (Tatsächliche Ausgabe). In den beiden Spalten mit der Überschrift “Analogietyp” ist der Versuch unternommen worden, die Analogien zu gliedern. Die d. Analogiefälle gehören zum Typ A (= Aus­ breitung), d.h. daß der Verwendungsbereich eines Vokals, der durch rich­ tige Anwendung einer Regelfolge bei einer Reihe von Wortformen erzeugt wird, in einem morphologischen Paradigma ausgebreitet wird auf die an­ deren Wortformen, die bei richtiger Anwendung einer Regelfolge einen anderen Vokalismus haben müßten. Die angegebenen d. Fälle 2, 3, 8 und 13 werden von einer solchen Ausbreitung erfaßt. Ihr tatsächlicher Voka­ lismus muß durch eine Zusatzregel erzeugt werden können. Die n. Analogiefälle dagegen gehören dem Typ E (= Einschränkung) an, d.h. daß der Verwendungsbereich eines Vokalismus, der durch richtige Anwendung einer Regelfolge bei einer Reihe von Wortformen erzeugt wird, in einem morphologischen Paradigma eingeschränkt wird nach dem Muster der anderen Wortformen, die durch richtige Anwendung einer Regelfolge einen anderen Vokalismus bekommen haben. Die angegebenen n. Fälle 4, 5, 6, 7, 9, 10, 11,12 und 14 werden von solchen Einschrän­ kungen erfaßt. Blockierungsregeln müssen hier dafür sorgen, daß die Re­ geln, die zu erwarteten, aber falschen Vokalismen führen, nicht angewen­ det werden können. In der d. Zusatzregel müssen die Verbindungen aufgezeigt werden, in de­ nen die Dehnungsregel 2 über ihren “lautgesetzlichen” Anwendungsbereich hinausgeht. Außerdem sind die morphologischen Kategorien anzugeben, auf die diese Ausdehnung zutrifft. Die Regel lautet (einfacher Schräg­ strich gibt die Umgebung an, doppelter Schrägstrich die morphologische Kategorie):

307 Analogien bei Segmenten mit den Merkmalen — s.verf im Bezugssystem - lang _ 5 ^ *5 < H SP '3 w s: H H 3 3 S u V u *c3 X) < X) j "öS JD < < < < bß O c >s cx 03 se 1> 3 bß W CL 3 t/5 Q C >£L £ Ji Ji c £ >£L *S 4 TS o so 3 sp| $ a.!1! s f -C; i ' t ^ i f f N H O v O W N O \ W ^ W N H < ^ S ^ "<3 o w "^S < .üuwcoa>c»}cdcdrt>><00 — WMWt>WoJcdCT3><>* — < wwwa)a>cöcöcd>«QoO wcdocdcörtcdrtoOoo t- H I- +- -H» '+i- If- 'H-"tt- •* * R •** R S ?, r 5 §r ?a, S t>os £ K-ä5^; J3 J J J Uri UJ UJUJ * I o -Ci ^ ©R o § 2 O ’S * In den n. Blockierungsregeln brauchen nur die morphologischen Katego­ rien angegeben zu werden, auf die in den Fällen 4, 5, 6, 7, 11 und 12 die Umlautregel und in den Fällen 9, 10, 14 die Dehnungsregel nicht anwend­ bar ist. Diese Regeln lauten:

+ s u b s tl + P1 J + st. V + Präs + Sg N [ " Regel 2] II £ f l J k t ] l.P ers p -A d j L+ Steig . + subst 1 [+ dim J Es bleibt schließlich der Fall D h ilft / N helpt übrig (Fall 1). Er wäre zu ergänzen mit den Typen nimmt/neemt, stiehlt/steelt usw., die in der Liste nicht aufgeführt sind, weil durch Anwendung der Dehnungsregel und der Senkungsregel in N ohnehin langes e: herausgekommen wäre. In h elpt liegt sprachhistorisch Analogie vor; in n eem t und steelt entsteht mit und ohne Annahme der Analogie die gleiche Ausgabe als Folge von Regel 3. Diese Analogie läßt sich nicht elegant formulieren, weil man dann ge­ zwungen ist, eine Verschiedenartigkeit in den einzelnen zum Paradigma gehörenden Formen anzunehmen und die dann wieder rückgängig zu machen (obwohl das natürlich sprachhistorisch geschehen ist: aus einer vorwestgerm. Gleichheit des Vokalismus entstand eine Ungleichheit, die nachher in N wieder aufgehoben wurde). Eine einfachere Lösung scheint zu sein, daß man in diesen Fällen überall in der Tiefenstruktur ein e an­ nimmt, das in D an der Oberfläche in der 2. und 3. Pers. Sg. Ind. Präs. und im Imperativ als i erscheint. Also:

’+ St. V + Präs + Sg D hoch "1 [+ hoch] < 1. Pers > niedrigj "+ st. V + Imp _+ Sg .

Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Wie die Kurzvokale des Bezugs­ systems hätte ich auch die anderen Segmente untersuchen können. Jede

309 Behandlung eines Ausschnitts aus der Matrix des Bezugssystems hätte eine Reihe von Regeln mit einem Diasystem ergeben. Diese Teildiasyste- me hätten aufeinanderbezogen und ineinandergeschoben werden müssen. Das hätte vielleicht eine Reihe von Korrekturen und Umformulierungen bei mehreren Regeln zur Folge gehabt. Die Reihenfolge in der Verzah­ nung der Regeln würde bei einem solchen Verfahren manches Obligatori­ sche enthalten, was in den Teildiasystemen noch beliebig sein kann. Doch würde das alles den entwickelten Arbeitsprinzipien nicht viel Neues mehr hinzufügen. Ich darf deshalb hoffen, daß der vorgetragene Ausschnitt eine mögliche Methode verdeutlicht hat, die bei der vergleichenden Pho­ nologie verwandter Sprachen verwendet werden kann.

310 JOHANN KNOBLOCH

Donnerhall und Widerhall von Schlagwort und Schlagzeile

Hans Eggers erwähnt im “Lexikon der Germanistischen Linguistik” (S. 442 a) das Klischee-Urteil, das die Zeitungssprache ungerechterweise als minderwertig hinstellt. Wenn es richtig ist, dass der schriftsprachliche Standard seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer weniger durch die Li­ teratur bestimmt wird (ders., S. 441 b), so ist dies zweifellos auf einen Wechsel der Lesegewohnheiten zurückzuführen, auf ein Vordringen des informierenden Sachbuchs und auf den Einfluss der Tagespresse, der trotz der konkurrierenden Massenmedien ungebrochen ist. Im folgenden soll vom Wert und der Ausstrahlung der sprachlichen Tätigkeit guter Journa­ listen die Rede sein und diese insbesondere an der Verbreitung von “Schlagwörtern” und “Schlagzeilen” aufgezeigt werden. Eine schärfere Kategorisierung dieser beiden Begriffe soll dem kommen­ den Artikel im “Sprachwissenschaftlichen Wörterbuch” Vorbehalten blei­ ben. Für die nachfolgenden Erörterungen genügt die Einteilung W. Dieck­ manns1, der das positiv bewertete “Leitwort” und das “Reizwort” mit negativem Vorzeichen unterscheidet. Auch möchte ich hier die Grenze zum kurzlebigen “Modewort” nicht ziehen, nicht zuletzt aus dem Grunde, dass sich das Material aus dem Zeitraum der letzten Jahre zusammenge­ setzt und nicht vorauszusehen ist, welche Modewörter ihren Wert als dy­ namisierte Informationseinheiten bewahren (wenngleich dies mit inhalt­ lichen Veränderungen verbunden zu sein pflegt) und welche mit der Mo­ de, die sie erzeugte, auch wieder verschwinden müssen. Wer hätte etwa dem politischen Schlagwort frz. b l o c , das zunächst in der Innenpolitik den ‘Zusammenschluss verschiedener politischer Partei­ en ’2 bezeichnet hat und 1907 ins Deutsche übernommen wurde, den Fortbestand über zwei Weltkriege hinweg und das Hinüberwechseln in die Weltpolitik* Voraussagen können, wo man heute, und zwar seit der Umgruppierung der Mächte nach dem Zweiten Weltkrieg vom O stblock und den blockfreien Staaten spricht. D er Nostalgie als Modewort darf man ein langes Leben Voraussagen, wie man dies von einmal Totgesagten annimmt. In einem Bericht der FAZ (28.6.75) wird es als vermisst gemeldet: “Modewörter sterben einen un­ bekannten Tod..”, was mich dazu veranlasste, ihm meine Aufmerksam­ keit zu widmen. Es ist überraschend, wie stark gerade dieses Wort in der Ausdrucksweise der Gegenwart verankert ist. Im französischen Ursprungs-

311 land gilt es als Entsprechung zu dt. H eim w eh und ist als solche auch zu­ erst in der deutschen Schweiz künstlich geschaffen worden. Im erwähn­ ten FAZ-Bericht wird die damit bezeichnete Tendenz als “Bedürfnis nach einem neuen Geschichtsbewusstsein” charakterisiert. Die auffallendste Äuszerung dieses Bewusstseins war in den letzten Jah­ ren der Hang zu alten Dingen, der den Verbraucherverbänden auffallen musste; vgl. eine Meldung aus der Schweiz in der Kundenzeitschrift “Ge­ winne dein Leben neu” Nr. 11 (1975): “Nostalgie ist vielleicht das Be­ streben, die Ängste vor der gegenwärtigen Welt zu verringern, indem Din­ ge bevorzugt werden, die die Groszeltern in ruhigeren Zeiten benutzt ha­ ben. Und vielleicht ist im Begriff der Nostalgie auch eine Spur Sehnsucht nach der alten Qualität, nach mehr Haltbarkeit, enthalten?” — Anlässlich des Nürnberger Christkindlmarkts 1975 charakterisiert Wolfgang Paul (FAZ 24.12.75) eine solche Haltung: “Dieses Christfest besteht aus einer nun wieder selbstbewusster werdenden Beständigkeit, am Alten festzu­ halten, es mit ihm zu versuchen, sich von ihm für eine kurze Zeit einhüllen zu lassen. Vielleicht ist dies Luxus, aber ein Luxus, den sich jeder leisten kann.” Und “Schaufenster” (Bonn, 18./19.6.75) schwärmt: “Altbau, strotzend voll bürgerlicher Nostalgie. Das wäre gelebtes Bonn in Reinkul­ tur.” Unter einer Überschrift “Nostalgisches an der Schwelle eines neuen Jahres” beschlieszt der GA von Bonn (31.12.75) das Jahr, das wohl noch nicht den Höhepunkt für dieses Schlagwort gebracht hat. Hier eine kurze C hronologie d er Belege-,

14.2.75 (Zeit): “und dass auch drüben [in der DDR] die ‘Nostalgie’ grassiert” 9.5.75 (GA): “ ‘Früher war überhaupt alles gemütlicher und nicht so gefähr­ lich’, unterbrach er mich und bekam Nostalgie in den Blick. ‘Da ist man mit der Bahn gereist, und nur die wirklichen feinen Leute hatten Autos.’ ” 25.6.75 (FAZ): “Mehr auf Nostalgie scheint die Galerie Brockstedt zu spekulie­ ren, wenn sie Max Klinger offeriert.” 26.6.75 (FAZ): “Die nostalgischen Gefühle, die solche Veränderung in Italien auslösen muss... (Der letzte Lauf der Bersaglieri in Mailand, vor ihrer Motorisierung).” 26.6.75 (FAZ): “Nächtliche Fahrt quer durch die DDR — das im Westen längst geschwundene Ratatata ungeschweiszter Schienen singt in den Schlaf. Nostalgie-Träume via Stendal, Wittenberge, Neubranden­ burg, Pasewalk." 28.6.75 (FAZ): “Was noch vor kurzem mit Nostalgie angemessen bezeichnet schien, hat sich inzwischen als die Spitze eines Eisbergs erwie­ sen, der tief hinabreicht in den Ozean der Geschichtlichkeit.” 28.6.75 (Furche): [Hans Werner] “Henzes nostalgische Moderne”

312 10.7.75 (FAZ): “Wenn wir Älteren immer auf die menschlichen Dimensionen geachtet hätten, wäre sicherlich keine ‘Nostalgiewelle’ ausge­ brochen. Sie ist unter anderem eine Reaktion auf die Stupidi­ tät moderner Stadt- und vor allem Verkehrsplanung.” 28.7.75 (FAZ): “Deutschlands Nostalgie-Liebling Doris Kunstmann" 7.8.75 (GA): [Südtirols] “Nostalgie nach Wien” 7.8.75 (GA): “Daheimgebliebene entdecken im Zeichen der Nostalgie, dass im Rheinland ein Spaziergang durch 60 000 Jahre Geschichte auf engstem Raum möglich ist.” 17.8.75 (Welt): “Für Bahn-Nostalgiker gibt es in Neuauflage eine komplette Übersicht über alles, was von Opas Eisenbahn in Deutschland und Österreich noch übriggeblieben ist.” 8.11.75 (FAZ): [Bericht vom Kölner Kunstmarkt] “Auch Nostalgiker finden hier Nahrung: zwei grosze bildmäszige Beards-Entwürfe und zwei Klinger-Büsten in Bronze..” 29.11.75 (GA): Einen geradezu “nostalgischen Drang nach eigenem Grund und Boden, der dem Städter nach Feierabend die Flucht ins Grüne erlaubt”, sieht das Hessische Landesamt für Landwirtschaft. 20.12.75 (GA): “...will die Möbelindustrie das breite Normalangebot zeigen, das aber zu einem groszen Teil nostalgisch gestimmt ist.” 6.1.76 (FAZ): “Nostalgie als Lebenshilfe. Das Londoner Publikum und die Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg.” [Als Überschrift eines Feuilleton-Artikels, der mit den Worten schlieszt:] “Beschwert mit einer schier überwältigenden, gerade zu Ende gegangenen Geschichte, will und glaubt man nicht, dass diese zu Ende ist. Nostalgie nicht als Design, sondern als Lebenshilfe! Was ist Schlimmes daran, wenn sie nützt?" 22.1.76 (Kurier): [Glosse über ein angebliches Fernseh-Zukunftsprogramm] “Wird das eine Nostalgiewelle geben. Erinnern Sie sich noch an das gute Programm von 1976?” 31.1.76 (FAZ): “Die gute alte Zeit der Mondrakete” [als Überschrift zu einem Bericht über Cape Canaveral]. “Unmittelbar nach den Ereignis­ sen selber fängt die Geschichte an, und ihr erstes Anzeichen ist die sentimentale Erinnerung. ‘Nostalgie mag das richtige Wort dafür sein’, sagt Mister Lavender vom Informationsbüro der Nasa...” 3.2.76 (GA): “Nostalgie und Taktik: In Australien singt man wieder ‘God save the Queen’.” 7.2.76 (GA): “Nostalgie am Beethovenplatz. Der Beethovenplatz wird seinen historischen Uhrenkandelaber zurückbekommen.” 9.2.76 (FAZ): [Landwirtschaftsminister Josef Ertl in seiner Aachner Bütten­ rede] “hat auch vermeintlich Witziges auf Lager....wenn er... von der ‘Mauerlook-Unionsnostalgie’ spricht.”

313 19.2.76 (FAZ): “Nostalgische Mahlzeiten” [Überschrift zu einer Besprechung der ‘Physiologie des Geschmacks’ von Brillat-Savarin]. 20.2.76 (FAZ): [Zum Streit um Traditionen in der katholischen Kirche] “Nicht allein museale Nostalgie erbittert die traditionsbewussten Katholiken.” 1.3.76 (GA): “Auch das Damenkomitee ‘Rot-Weisz Mehlem’ schwelgte in der Nostalgie. ‘Ach wat wor dat froher schööön’, weinten sie von ihrem Mottowagen herab.” 15.3.76 (GA): “Gut besucht war der ‘Nostalgieabend’ der Oberkasseler Pfad­ finder.” 26.3.76 (GA): “Beim VfL verdrängt man die aktuellen Sorgen [um den Euro­ papokal] durch Nostalgie” [Erinnerung an frühere Rückspiele], 27.3.76 (GA): “Nostalgie hin, Nostalgie her — bei der Bahn pfeifen die letzten Dampfloks dem Neben- oder Abstellgleis entgegen.” 13.4.76 (GA): [Leserbrief] “Auch ich gehöre zu den nostalgiebesessenen Stadtverschönerem, die für den Brunnen am Dreieck gefochten haben.” 9.6.76 (GA): [Kleine Anzeige] “Attraktives Nostalgiehaus...”

Aus dieser Zusammenstellung lässt sich einiges über die immer weiteren Kreise der Wortverwendung unmittelbar ablesen, so dass ein eigener Kommentar sich erübrigt. In Zusammenhang mit der Beliebtheit des Schlagwortes kann auf eine Allensbach-Umfrage verwiesen werden, aus der hervorgeht, dass der Fortschrittsglaube erheblich an Raum unter der Bevölkerung der Bundesrepublik eingebüsst hat. 1975 glaubten nur noch 48 Prozent von 2000 Befragten über 16 Jahren daran, “dass die Mensch­ heit einer immer besseren Zukunft entgegengeht.” Die gleiche Frage wurde 1967 von 56 Prozent, 1972 von 60 Prozent der Befragten bejaht. Eine Beschäftigung mit dem “Bezeichneten” des Bestandes an typischen Schlagwörtern kann so einmünden in eine Geschichtsschreibung der Ge­ genwart, wie diese aus sprachlichen Neuprägungen als einem wichtigen Zeugnis für das Denken der Sprachteilhaber erstellt werden kann. Das Thema könnte dabei zerflattern wie die losen Blätter einer Zeitung; die nachfolgenden Ausführungen lassen sich nicht zu einem geschlossenen Bild zusammenfügen, da hier verschiedene Blickrichtungen eingenommen wurden. Vor allem sollte die Arbeit des Journalisten als eine anspruchs­ volle Leistung gewertet werden, die alle Beachtung durch die unserer Gegenwartssprache zugewandte Forschung verdient.4 Galt doch (mit einem älteren Schlagwort gesagt) die Presse als die Fünfte Groszmacbt, wobei dies wieder auf den Ausspruch Napoleons I. zurückgeht, der den von Joseph Görres gegründeten “Rheinischen Merkur” 1814/« cinquièm e puissance genannt hatte.5

314 Am 4.2.76 konnte man in der FAZ unter der Überschrift Wieder eine Scheibe lesen, dass die DDR in ihrem Bemühen, die Bindungen Berlins an die Bundesrepublik zu lockern, wieder einen Schritt vorangekommen sei. Für die Formulierung in der Titelzeile war aus dem Artikel selbst keine weitere Verständnishilfe zu gewinnen. Die Brockhaus-Enzyklopä- d ie k en n t Scheibe als einen flachen, oft runden Gegenstand, der beim Eishockey, in der Festigkeitslehre und beim Schieszsport eine Rolle spielt. Es gehört doch wohl einiges an sprachlichem Vorwissen dazu, um auf das Stichwort Salamitaktik zu kommen, das hier unausgesprochen blieb. Eine inhaltbezogene linguistische Betrachtung der Zeitungssprache wird dem Reichtum an Bezügen und Anspielungen nachgehen müssen, die sich bei guten Leitartikeln in fast jeder Zeile finden und die von den er­ sten Seiten der führenden Organe der Weltpresse aus ihre Wirkungen auf das Denken einer Elite ausüben. Der Bonner GA beklagte sich in einem Eigenbericht am 23.2.74 über die katastrophalen Zustände in der Bundeswehr (“Die Präsenz ist unzurei­ chend” ) unter der Schlagzeile: Der Bund rief und einige Reservisten ka­ men auch... “Der Bund hatte gerufen, aber viele blieben am heimischen Herd, was immer die Gründe gewesen sein mögen. Das Soll an Mannschaf­ ten betrug 107, es kamen nur 78, was einem Fehl von 27 v.H. entspricht...” Die Überschrift “Der Bund rief und einige Reservisten kamen auch” will als “Widerhall” verstanden werden, aber kann sie dies heute noch? Man muss weit zurückgehen, um den Ruf, der da am 24. Juni 1813 erscholl, zu hören: Der König rief und alle, alle kamen, so lautete ein Gedicht von Heinrich Clauren.6 Noch im ersten Weltkrieg konnte es heiszen: Der Kai­ ser rief, und alle, alle kamen.... Eine Illustration zu dem Wandel im Leitbild, der sich zwischen 1914 und 1974 vollzogen hat, bot die genannte Zeitung ungewollt in den ersten Wochen dieses Jahres. Es erschien eine Todesanzeige eines verdienten Offiziers, “Träger des Ritterkreuzes zum Eisernen Kreuz, Inhaber des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse aus dem 1. und 2. Weltkrieg und vieler weiterer Auszeichnungen” und darunter eine andere: “Unser lieber Sohn ... hat uns [22jährig] verlassen... Er starb als überzeugter Gegner des Mili­ tärs einen sinnlosen Tod bei der Bundeswehr.” — Sicher auch im heuti­ gen Deutschland eine singuläre Formulierung. Aber was weckt sie doch an Mitgefühl gegenüber der gewohnten stereotypen Phrase im Zweiten Weltkrieg von der “stolzen Trauer”. Der Widerhall der Schlagzeile “ Der Bund rief und einige Reservisten ka­ men auch” weckte ein weiteres Echo. Am 16.6.75 hörte man Frau Mildred

315 rief und alle kamen. Die Gründerin der “Deutschen Krebshilfe” lud ein in die Kölner Sporthalle. — Am 5.8.75 gab es wiederum eine Schlagzeile; diesm al rief der BTHV — die Journalisten kamen. Man muss dabei wissen, dass BTHV der Bonner Tennis- und Hockeyverein ist. Damit war die Schlagzeile reif für weitere Sportmeldungen: in der FAZ hiesz es am 8.12.75: Der Sport rief, und viele kamen (nämlich zur Feierstunde des Deutschen Sportbundes in der Frankfurter Paulskirche). Eine weitere Verwendung führt hinab in die Unterwelt Washingtons: Die Polizei bat zum festlichen Empfang und alle Ganoven kamen. (Eine gewagte Ope­ ration des amerikanischen Bundeskriminalamtes FBI hatte einen vollen Erfolg: weit mehr als hundert Verhaftungen: Bericht der FAZ vom 2.3.76). Sechs Wochen später hiesz es ebendort (FAZ 22.4.76) in einem Bericht über das German Semester der Südkalifornischen Universität in Los Ange­ les: Der Generalkonsul der Bundesrepublik, Wilhelm Fabritius, rief zu einem Sonntag-Nachmittag-Cocktail, und alle, alle kamen. Ein brisantes Schlagwort warf die Opposition in die Bundestagsdebatte über die Finanzlage des Bundes (GA 21.6.75): die dramatische Zuspitzung der Lage der Staatsfinanzen beschwöre die Gefahr einer sozialen Demon­ tage herauf. Das Substantivum selbst steht in unlösbarem zeitgeschicht­ lichen Zusammenhang mit der Demontage deutscher Industriean­ lagen, einer Auswirkung des Morgenthau-Plans, die auf der Konferenz von Jalta (Febr. 1945) beschlossen wurde. Am 12.7.75 warnte die FAZ: Helmut Kohls Wort über Helmut Schmidt als den Kanzler der sozialen Demontage wird dieser nicht unerwidert las­ sen, am gleichen Tag hatte der GA einen Artikel von Robert Strobel: Demontage sozialer Illusionen. “Ein Schlagwort geht um, das die Men­ schen ängstigen und aufputschen soll: Das Wort von der Demontage des sozialen Besitzstandes.” Ähnlich schreibt Ernst Günter Vetter (FAZ 17.7.76): “Ein böses Wort ist in die Welt gesetzt worden: soziale ftm on- tage. Es hört sich so an, als ob im Verlauf einer Abbruchaktion eine so­ ziale Errungenschaft nach der anderen verschrottet werden solle.” Am gleichen Tag las man im GA: “Während überall im Lande das Gespenst von der “sozialen Demontage” den Bürger schreckt...” und am 22.7.76: “Sozial-Demontage heiszt die diskriminierende Etikette, die jene ange­ heftet bekommen, die nicht alle Sozialpflanzen unseres Staats als nötig und richtig ansehen.” Offenbar seit der Vorlage eines parteiinternen Arbeitspapiers der SPD ist auch die “ Sozialstaatskampagne der CDU/CSU und der Arbeitgeber­ verbände” versachlicht und der “Diskussion über den Sozialstaat und den Abbau sozialer Leistungen eine neue Stoszrichtung” gegeben worden.

316 Vgl. FAZ 23 7 75. Hatte doch diese Zeitung schon am 4.7.75 gewarnt: “ Beide Seiten wären gut beraten, auf das Schlagwort von der ‘sozialen Demontage’ zu verzichten. Mit diesem Wort wird nur verschleiert, dass es in Wirklichkeit darum geh*. die staatlichen Leistungen, auch sogenannte Sozialleistungen, so zu beschneiden, dass die dringendsten sozialen Auf­ gaben noch zu finanzieren sind.” Und am 24.7.75 heiszt es im GA: “C&s Wort von der ‘sozialen Demontage’ wird der Situation nicht gerecht.” (Peter J. Veite). Auch weiterhin wird der Geltungsbereich des Schlagworts in Frage gestellt (Leserzuschrift über die Selbstbeteiligung an der Krankenversicherungs­ leistung FAZ 9.8.76): “Das Schlagwort von der ‘sozialen Demontage’ ist gerade hier fehl am Platze.” Oder es wird in seiner Berechtigung über­ haupt angezweifelt: “Das Gerede von der ‘sozialen Demontage’ (Walter Kannengieszer FAZ 18.8.75). Die gemeinte Sache wird von der verant­ wortlichen Regierungspartei mit ‘Abbau von Privilegien’ wiedergegeben.7 Noch einmal tritt das Wort (als “Wohlfahrtsstaatsdemontage?”) in der Un­ terschrift zu einer Karikatur (FAZ 19.8.75) auf, um dann nach der Som­ merferienzeit nicht mehr aufgenommen zu werden. Bezeichnenderweise lebt es aber in anderen Kontexten weiter. Das Bon­ ner Anzeigenblatt (10.12.75) beklagt in einer Fernsehkritik einen Künst­ ler: der einstmals Brillante d em ontiere sich selbst. In Nr. 12 (1975) der Kundenzeitschrift “Neuform Kurier” ist von der “Demontage der Nah­ rung” die Rede; sicherlich eine neue und ungewöhnliche Bezeichnung für die Verdauung, die nur aus dem oben aufgezeigten Zusammenhängen stammen kann. FAZ kommentiert die innenpolitischen Zustände in Italien am 8.1.76 unter der Überschrift “Demontage in Rom”; am 10.2.76 wird in einer Leserzuschrift ebendort über die “Demontage des Faches Deutsch” Klage geführt. Aus Stuttgart wird im GA vom 14.2.76 von einer “Demon­ tage der Theaterkultur” berichtet, während am 22.1.76 der Wiener Kurier zu den Enthüllungen über die Tätigkeit der CIA sagt: “Die Dsmontage der CIA scheint perfekt.” In der Süddeutschen Zeitung liest man am 3.3. 76: “Ärztebund warnt vor Demontage des Gesundheitswesens”, ein letz­ ter Reflex des alten, schon ausrangierten Schlagworts, das in der Theater­ kritik mit “Demontage des Spielplans” (GA 15.3.76) offenbar an Boden gewinnt. GA vom 30.3.76 wirft einem Amsterdamer Blatt eine “radikale Demontage des Prinzen Bernhard” vor. Offenbar ein Ersatzwort für die­ ses Schlagwort liegt bei General Johannes Steinhoff vor, der von einer “Erosion der Nato” sprach (FAZ 15.3.76). Aber im gleichen Sachbereich heißt es unverhohlen über die deutsche Bundeswehr: “Demontage der Verteidigungsbereitschaft verhindern” (GA 14.4.76).

317 Wie Donnerhall klingt auch (mit gewolltem Stabreim) die Überschrift Am Rosenmontag rollt der Rubel. Gemeint war jedoch nicht, dass man hierzulande an diesem und am folgenden Tag alles Geld ausgibt, um dann am Aschermittwoch die Geldbörse im Rhein auszuwaschen (ein Brauch, der auch 1976 wieder geübt wurde) sondern mit der anspruchsvollen Schlagzeile8 wurde lediglich an die Rentenzahlung bei den Postämtern erinnert. Der Stabreim Meeresmonstrum mordet Menschen stand als Schlagzeile über einem Artikel, der eine Filmrezension des “Weiszen Haies” brachte. Andere Assoziationen weckt die gleiche Lautfolge in der Reklame für einen magenmilden Muntermacher.^ Auch in der Über­ schrift “Bund bedrängt Bonner Boosthäuser” (GA 13.4.76) ist die Freu­ de am Gleichklang hörbar, ebenso wie in der Schlagzeile “Kühn will um Kohle kämpfen” in der ‘Rundschau’ vom 9.1.73 oder in dem Slogan “Die lässige Leder-Linie” der Süddeutschen Zeitung (3.3.76). Auf Zusammenhänge zwischen Wyhl und Wahl (FAZ 2.2.76) machte die enge Assonanz aufmerksam: der Bau des umstrittenen Kernkraftwerks wird vor dem 1.11.76 nicht aufgenommen. Ein ähnliches Minimalpaar lädt als Überschrift in eine österreichische Donaustadt ein: Lenz in Linz (FAZ 14.4.76), für einen Bäderbesuch wirbt: Fit statt Fett (FAZ 11.3. 76). Alle reden vom Wetter — wir nicht hiesz es vor Jahren auf einem ein­ drucksvollen und erfolgreichen Plakat der Deutschen Bundesbahn. Das Klischee hielt sich in den Zeitungen. In der Tiroler Tageszeitung vom 9.12.75 war zu lesen: “ Bundesrepublik: Alle reden vom Aufschwung. Noch ist der Wirtschaftsaufschwung wie ein Schlossgespenst: alle reden von ihm, aber noch niemand hat es gesehen.” Heuer gab es schon zwei weitere Belege: “Alle reden vom Mittelstand, aber niemand hat bisher ein wirksames Rezept für dessen Überleben gefunden.” (GA 8.2.76). Und: “Alle sprechen vom Gesetz wie von einem drohenden Unwetter am Reisehimmel.” (FAZ 12.2.76). Gemeint ist ein Entwurf für ein ‘Ge­ setz über den Reiseveranstaltungsvertrag’. Die Sprache der Werbung hat alle Massenmedien für sich, was der Ver­ breitung guter “Slogans” in andere Bereiche zustatten kommt. Gesetzesübertreter werden gern als Sünder bezeichnet; in den letzten Monaten schrieb man über: Verkehrssünder, Anabolika-Sünder (L eicht­ athleten, denen die Einnahme von Anabolika nachgewiesen wurde), Kartellsünder (ihre Sünden: Verstösze gegen das Kartellverbot, Zuwider­ handlungen gegen unanfechtbare Untersagungsverfügungen der Kartell­ behörde sowie Submissionsabsprachen: FAZ 16.12.75), Alkoholsünder (im Autoverkehr), Olympische Sünder (Doping), Abfallsünder (verstoszen

318 gegen das Abfallbeseitigungsgesetz); man kennt auch Umweltsünden: der NRW-Landwirtschaftsminister hat jedoch “nicht die Absicht, mit einem nordrheinwestfälischen Sündenfall” anderen Ländern ein Alibi zu geben (GA 16.12.75), und die Bunte Illustrierte fragt am 4.3.76: “Kann sparen Sünde sein?” Eine früher in Filmtiteln beliebte Profanierung des religiö­ sen Begriffes hat einen anderen Verwendungsbereich erhalten. Mit dem Sünder tritt der Muffel in Konkurrenz. “Der Muffel trat ins Leben, als die Werbung einmal alle Superlative und Kauf-Argumente er­ schöpft hatte. Da griff sie zur List, zum Scheinmanöver, lockte den Kun­ den aufs Glatteis; sie erfand eine Figur, die genau das Gegenteil von dem meint, tut und ist, was der Käufer meinen, tun und sein sollte... So kam es zum Krawatten-, Gardinen-, Tapeten-, Bademuffel..” (Clara Menck FAZ 11.4.74). Wie die Autorin zeigt, ist daraus die Idee des ‘Allround- Muffels’ Alfred im Fernsehen entstanden. Es folgen die mir bekannt ge­ wordenen Muffel in chronologischer Reihe: Heiratsmuffel, Weltraum­ muffel, Abfallmuffel (der Abfall aus dem Auto wirft), W ahlm uffel (S tu ­ dent, der nicht wählen geht), Stullenmuffel (Student, der mitgebrachte Brote verzehrt), Vereinsmuffel (Gegensatz zu einem Vereinsmeier), Frühstücksmuffel (die Deutschen mit ihrem 08/15-Frühstück: Brötchen, Marmelade, Kaffee), Bildungsmuffel, Kreuzungsmuffel (fahren in blockier­ te Kreuzungen), Gebührenmuffel (Schwarzhörer und Schwarzseher), Konsum-Muffel (GA 5.6.71, satir. Kurzgeschichte von Wolfgang Ebern: Konsumverweigerung), Umweltmuffel, Spielplatzmuffel (Bauherr, der keine anlegen lässt), P ilzm u ffel (wer preisgünstige Pilze verschmäht), Lichtmuffel (Autofahrer, der Licht nicht rechtzeitig einschaltet), B en zin ­ m u ffe l (FAZ 23.1.74: Autos, die sparsam im Verbrauch sind), M orgen­ m u ffe l (Spätaufsteher, morgendliche Spätzünder), G u rtm u ffel (die sich nicht angurten), Blinkmuffel (versäumt Blinken beim Ausfahren aus ei­ ner Parklücke), Politik-Muffel (in der Wahlpropaganda einer Partei), Trikotmuffel (wer das neue Nationaltrikot der Leichtathleten nicht an­ zieht, FAZ 22.7.75), L o b m u ffe l (wer als Chef niemals lobt: Weltbild 6.8.75), Einkaufsmuffel (lassen ihre Frauen einkaufen), Literaturmuffel (Wissenschaftler, die wenig zitieren), K o c h m u ffe l (die in der Küche den Hilflosen mimen (GA 21.11.75)), Karnevalsmuffel (Mainzer sind es nicht: FAZ 5.11.75), Sportmuffel (haben für Sport nichts übrig). Der im Jahre 1964 erfundene Krawattenmuffel hatte einen statistisch nachgewiesenen Erfolg: der Umsatz der Krawattenindustrie stieg um 25 v.H .10 Die Beschimpfung des Käufers zu Zwecken der Bedarfssteigerung trieb mitte der sechziger Jahre noch andere Blüten: “Sie! Triefnase!” sollte den Betroffenen zu einem Schnupfenspray greifen lassen; “ Bist du ein Kamel, bleib zu Hause, willst du mal eins sehn, komm nach Ma-

319 rokko” [1967]. — “Der Mann mit dem Schnuller”, dieser “Daumen­ lutscher”, dieser “Schwächling” , dieser “Sklave der Zigarette” warb für ein neues Präparat, sich das Rauchen abzugewöhnen. Diese Werbeslogans müssen im Zusammenhang mit der Theatermode der Publikumsbeschimp­ fung gesehen werden. Ihnen war kein langes Leben beschieden, wie auch dem Muffel in der Werbung. Heute setzen die Werbefachleute andere, positive Akzente: Chic und Eleganz als Appell an den Snobismus oder das andere Extrem, nämlich Nüchternheit und blanke Information (Glos­ se ‘Werbetricks’ der FAZ vom 4.3.76). Auch für das Verhalten des Muffels gab es zu gleicher Zeit das lobenswer­ te Gegenteil, das durch die Komposita mit -bewusst ausgedrückt wurde.11 Hier ist die Ausbeute, zeitlich geordnet. Am 16.9.67 meldete die Tiroler Tageszeitung: “Pelikane leben kalorien­ bewusst” 12, aber schon früher, im April des Jahres gab sie bekannt: “ In Deutschland hat man das Fehlen eines neuen Bewusstseins entdeckt. Bei der Eröffnung einer Käseschau in Nürnberg sagte der Sprecher: ‘Die Nachbarländer haben ein gröszeres Käsebewusstsein als die Bundesrepu­ blik.’ ” Sicher ist damit noch nicht der Anfang der Bewusstseins-Kompo- sita gefunden. Es gab jedenfalls schon im August 1967 den hitzebewuss­ ten Autofahrer, der sich bei allen längeren Fahrten nach je zwei Stunden Fahrt im Schatten entspannen sollte. 1971 musste man die Kinder u n ­ fallbewusst erziehen, sich durch Vergleich des Angebots preisbewusst verhalten und gesundheitsbewusst in Reformhäusern einkaufen. Das An­ gebot in der Textilbranche wurde qualitätsbewusst ebenso wie die Anfor­ derung an Handwerksbetriebe, von denen man auch erwartete, dass sie termingerecht arbeiten. Einen deutlichen Gipfel weist die Gebrauchshäu­ figkeit im Jahre 1973 auf: man ist umweltbewusst, die “Hausherren im freifinanzierten Wohnungsbau werden wieder renditebewusster”, die Be­ völkerung ist stabilitätsbewusst, die Sparer wurden offenbar zinsbewuss­ ter, die Verbraucher im Schwabenland sind überdurchschnittlich pfennig- bew usst, wie eine Umfrage ergab, ob man sich noch nach einem herabge­ fallenen Pfennig bücken würde. Das schöne Geschlecht war wohl schon früher schlankheitsbewusst: der Begriff war eher da als seine Benennung. Auf dem 7. Weltkongress der International Road Federation (München 1973) erklang die Mahnung, das geschwindigkeitsbewusste Verhalten der Autofahrer zu fördern. Seitdem sind (zumindest in Bonn) die Autofahrer sparsamer und viel kostenbewusster geworden (GA 23.1.74). Dies gehe aus einer Abnahme der Reparatur- und Wagenpflege-Aufträge hervor. Eine negative Auswirkung dieser Sparsamkeit ist das mangelnde R e ife n ­ bewusstsein (FAZ 25.9.74).

320 Im folgenden Jahr konnte man lesen (GA 11.3.75), dass das Gros der bundesdeutschen Autofahrer sicherheitsbewusster geworden sei, wie sich aus der gesunkenen Unfallziffer für 1974 ergebe. 1975 steigt auch das Preisbewusstsein der Kunden in der Möbelbranche weiter; vor allem der Schweizer Verbraucher steht in dem Ruf, ein besonders qualitätsbewuss­ ter und anspruchsvoller Kunde zu sein (FAZ 20.12.75). “Die Gesundheit hat im Bewusstsein der Menschen von heute zwar einen sehr hohen Wert, aber ... es fehlt weitgehend an gesundheitsbewusstem Verhalten”, tadelt Wolfgang Cyran (FAZ 14.7.75). Aus dem Interesse für die Wärmedämmung ist zu erkennen, dass das Energiebewusstsein beim Bauen zunimmt (GA 18.1.75). “Energiebewusstes Bauen — heute besonders aktuell” (Das Wüstenrotheim, April 1975). Auch das Weihnachtsgeschäft 1975 ergab: Die Käufer sind qualitätsbewusster geworden (GA 22.12.75). Tendenzen also, die wirtschaftliche Hintergründe haben und deren Walten sich aus der Häufigkeit des Gebrauches solcher Leitwörter ergibt. Das Jahr 1976 beginnt mit der Feststellung der Deutschen Bundesbank in ihrem Monatsbericht, dass der deutsche Tourist Wechsel- und preisbe­ w usst war. Eine dpa-Umfrage hat (laut GA vom 29.11.75) ergeben, dass der Wunsch nach einem eigenen Garten in letzter Zeit sehr viel stärker verbreitet ist: das Ernährungsbewusstsein ist gestiegen, zweifellos als Aus­ wirkung eines Misstrauens gegenüber technischer Manipulation im Gemü­ seanbau. Eine Neuerscheinung solcher Wortbildung ist auch das k o ste n ­ bewusste Krankenhaus (FAZ 24.2.76) und die sicherheitsbewusste Stadt [Bonn] im GA 26.4.76. Gesucht wurde (FAZ 24.4.76) ein pädagogischer Mitarbeiter: leistungsbewusst, dynamisch, kontaktfähig, kooperationsbe­ reit und pädagogisch befähigt. Wie es überhaupt darauf ankommt, dass ein Schlagwort als gelungene sprachliche Bildung einem Ausdrucksbedarf auch in Nachbarbereichen abzuhelfen vermag — das lässt sich gerade an dem Gegensatzpaar M u ffel : -bew usst zeigen, auch wenn die wörtlichen Gegenüberstellungen sich (in meinen Sammlungen) auf Umweltmuffel : umweltbewusst beschrän­ ken. Aber vielleicht gibt es bald den * Kleinschreibemuffel, der eine Neue­ rung ablehnt, für die sich nach wie vor viele einsetzen. Jedenfalls fragte schon im Jahre 1974 G. Zwerenz13: “Sind wir genügend kleinschreibe­ bew usst?” Es ist auffällig, wenn das ‘Wochenblatt der Bundeshauptstadt’, das “Schau­ fenster”, in einem Artikel über das ‘modische Bewusstsein’ der Abgeord­ neten die strenge Kritik der Bundestagspräsidentin Frau Annemarie Renger wiedergibt und sich dabei die Gelegenheit entgehen lässt, den Modemuffel in die Schlagzeile zu bringen. Wenn es sich dabei nicht um ein Zeichen

321 wünschenswerter Ehrerbietung handelt, kann man aus dem Fehlen viel­ leicht den Schluss ziehen, dass die Muffel-Komposita als typische “ Reiz­ wörter” einen Überdruss hervorgerufen haben, der einer weiteren Ver­ wendung oder zumindest Expansion nunmehr Grenzen gesetzt hat. Das positiv wertende ßfnyassfseiH-Kompositum hingegen scheint ein dauern­ der Gewinn für den deutschen Wortschatz geworden zu sein. Zeigte sich in diesen Wortbildungen der Einfluss der Reklame auf die Zeitungs- und Politikersprache, so kommt auch die umgekehrte Richtung der Expansion von Schlagzeilen vor. Im vergangenen Jahr gab es anläss­ lich der Wahlen in Österreich ein Plakat mit dem Bild des Bundeskanzlers Kreisky, dazu die Unterschrift: Kreisky — wer denn sonst? Diese knappe Formulierung kennzeichnete die innenpolitische Vorwahl-Situation (die ich hier als bekannt voraussetzen darf). Sie fand sich wieder in der Rekla­ me anlässlich des Winterschlussverkaufs 1976, wo eine hübsche Blondine mit strahlendem Augenaufschlag verriet: Ich kauf bei ***, w o sonst?! Erst auf diesem Hintergrund wird eine Bemerkung aus dem Bericht über die Zweihundertjahrfeier des Burgtheaters von Hilde Spiel (FAZ 6.4.76) verständlich: “Ewald Baiser — wer sonst — sprach Goethes ‘Urworte or- phisch’.” “ Kreisky mit Hut — was sonst?” war das “Bild der Woche” in den "Salzburger Nachrichten” (20.5.76), ein Schnappschuss von der Ju­ biläumsfeier der Wiener Synagoge. Der nächste Winter kommt bestimmt, dieser Reklame-Slogan für Heiz­ material ist — bei gleicher Thematik — hinübergewechselt in die Diskus­ sion um das 3. Verstromungsgesetz. Die FAZ berichtete darüber am 16.2. 76 mit der Frage “Woher das Geld für die Kohle nehmen? Der nächste Konflikt kommt bestimmt.” Er sei schon wegen der Haltung der Elektri­ zitätswirtschaft vorprogrammiert.14 Seither erschien (FAZ 16.3.76) die alarmierende Schlagzeile “Dis nächste Fischsterben kommt bestimmt” , da in Deutschland wenig Hoffnung auf saubere Flüsse bestehe; ferner (in Dingi, der Kinderbeilage der “Neuen illustrierten Wochenschau”, 4.4. 76) die Ankündigung “Im nächsten dingi werden wieder Preise verlost, und im übrigen kommt das nächste grosze Preisausschreiben bestimmt bald wieder.” In Nr. 6 (1976) kündigte der “Spiegel” an: “Der lokale Telephon-Takt kommt bestimmt”; und auf dem Rosenmontagszug 1976 in Mainz las man auf dem Wagen des Mainzer Tiefbauamtes das Motto: “Die Konjunktur kommt ganz gewiss, dann werd’ alles wieder uffgeriss”. Von der Kohlenindustrie her kommt ein anschauliches Bild, das wohl den Höhepunkt seiner Anwendung noch nicht erreicht hat. Es geht aus von den wirklich vorhandenen Kohlenhalden im Ruhrgebiet. Dies Bild hat sich von seinem Ausgangsbereich wegen der vielen -

322 P roblem e (FAZ 5.3.76) weithin ausgebreitet. Der Boom im Wohnungs­ bau der Jahre 1971 bis 1974 hat zu einer Wohnungshalde (FAZ 12.7.75) geführt, die Ende 1974 auf 200.000 Wohneinheiten geschätzt wurde. “Droht jetzt auch eine Reihenhaus-Halde?” fragt die gleiche Zeitung am 5.3.76, die am 25.3.76 auf die gröszte Bürohalde Deutschlands in Frank­ furt hinweist. Die Lage in der Bauindustrie gab Anlass zur Gründung des Haldenkränzchens, eine Vereinigung der Spitzenvertreter aus Kreditwirt­ schaft sowie der Bau- und Wohnungswirtschaft (vgl. FAZ 16.8.75). Durch den metaphorischen Gebrauch scheint es bedingt, dass man im Rückgriff auf die Haldenwirtschaft als eine sinnvolle Reserve bei der Steinkohlenförderung diese echten Halden nunmehr mit Koppelung als Kohle-Halden bezeichnet (GA 10.7.75). Aus irgendwelchen Gründen dürfte sich Halde nicht dazu eignen, auf den Menschen selbst angewandt zu werden .15 Da springt das weniger anschau­ liche Berg ein. Es hat offenbar vom B utterberg seinen Ausgang genom­ men, dem sich im gleichen Sachbereich leicht der Z uckerberg (FAZ 11.6. 75) und der wachsende Milchpulverberg 16 (1.12.75) anschlieszen lässt. Als eine Folge der Verknappung öffentlicher Mittel wird ein Lehrerberg erw artet; der Schülerberg soll 1982 allmählich durch ein “mindestens eben­ so bedrückendes Schülertal” (FAZ 20.2.76) abgelöst werden. “Allerdings ist noch nicht abzusehen, ob nach dem Lehrerberg wieder ein Lehrertal kommt”, warnte die FAZ schon am 31.7.75. Auf der Kundgebung des Hochschulverbandes, Bonn 14.2.76, fiel das Wort vom Studentenberg; den Architektenberg aus der Zeit des Baubooms finde ich erstmals am 8.3.76 (Bericht über den Archäologentag in Würzburg, FAZ) gewortet. Für die Numerus-clausus-Fächer an den Hochschulen bedeutet eine Delle im Bewerberberg (750.000 Schulentlassene statt 800.000 im Vorjahr) eine mögliche Entlastung (FAZ 26.5.76). Zeichen der Zeit ist auch der städtische Schuldenberg (GA 5.3.76). Es war wohl die nahe Assoziation zwischen Schwemme und Über­ schwemmung, die das erstere Wort dazu geeignet machte, als Konkurrent von -balde und -berg in Erscheinung zu treten. Im Bilde bleibt die euro­ päische Milchschwemme (FAZ 19.5.76). Ein Bericht über die Bedarfs­ prognose im Frankfurter Battelle-Institut steht unter der Schlagzeile: “Nach dem Butterberg jetzt die Lehrerschwemme.” Ihr steht aber ein Lehrermangel an Sonderschulen entgegen (GA 26.7.75). In der Frage einer drohenden Juristenschwemme sind die Länderjustizministerien pessimistisch, nicht so das Bundesjustizministerium (GA 21.2.76), doch gibt es keine Theologenschwemme (GA 25.3.76).

323 Nebenbei gesagt: von einer Zuckerschwemme zu sprechen, wie es schon geschah (FAZ 11.6.75), widerspricht den Gesetzen der Physik. Berg und Halde malen treffend die unbeweglichen Lagerbestände einer Überproduk­ tion. Die Beweglichkeit von Menschen, die zu den Arbeitsämtern strö­ men oder in die vollen Hörsäle, wo ihnen der Numerus clausus eine Stau­ mauer errichtet, all dies kommt als Konnotation der stilistischen Ein­ dringlichkeit der Komposita auf -schw em m e sehr zustatten. Die Liquidi­ tät (auch hierin liegt ein Bezug auf das nasse Element) der Kreditinstitute ist durch eine anhaltende Spareinlagenschwemme (FAZ 12.4.76) gesichert. Das beste Bankenjahr (1975) der Nachkriegszeit brachte eine Ertrags­ schw em m e (ebd.) mit sich. Die zeitgeschichtliche Betrachtungsweise, die hier im Sinne einer dynami­ schen Wortforschung angestrebt wird, erfordert ein Rückblenden auf die Zeit, als in der Bundesrepublik die Notstands g esetze17 b eraten wurden (1965-68). Die dagegen Protestierenden bildeten ein Kuratorium Notstand der Demokratie (1968). Zu gleicher Zeit fand ein Wandel des studentischen Selbstverständnisses statt, der von den spöttisch-tadelnden Stimmen damals als Aufmüpfigkeit bezeichnet wurde, sachlich jedoch als ein Engagement der bis dahin apolitischen Studentenschaft charakterisiert werden muss. Damals kam auch das Wort vom Bildungsnotstand au f.18 Die Masznahmen zur Abhilfe brachten es mit sich, dass sich der Anteil an Studenten von 13.v.H. des Altersjahrgangs, der 1965 neu inskribierte, auf 21 v.H. im Jahre 1975 erhöht hat (FAZ 30.10.75): der “Bildungsnot­ stand entwickelt sich zur Katastrophe” lautet eine Schlagzeile (GA 8.3. 76), “ Bildungsnotstand oder Notstand der Gebildeten?” heiszt es in einer anderen. Solchen Alarmmeldungen entspricht eine weitere Steigerung des gewähl­ ten Bildes, das den gleichen Sachverhalt neu schildern soll. “Bald eine ‘Lawine’ arbeitsloser Lehrer?” lautet die Frage der FAZ vom 8.3.76 an­ lässlich der Berichterstattung über eine Erklärung des Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbandes. Schon im Juni 1975 taucht die Bildungs­ law ine als treffender Ausdruck auf, der in einem Leserbrief zur Bildungs­ explosion übersteigert wird, um dann unter einem als Halbbildungsexplo­ sion abqualifiziert zu werden. (FAZ 16.6.75). ln der vorweihnachtlichen Zeit 1975 war man in Bonn besorgt wegen der Postlaw ine und wegen der Verkehrslawine auf den Straszen in die Innenstadt. Die Flut von wissenschaftlichen Publikationen, als In fo rm a ­ tionslawine (vgl. FAZ 27.3.74) bekannt, wird wohl in Zukunft nur durch automatische Indizierung bewältigt werden können. Die “Papierlawine überrollt Bonner Volksvertreter” (Schaufenster 19.5.76): eine “Art poli-

324 tischer Torschlusspanik beschert den Abgeordneten eine wahre Lawine an Drucksachen, Vorlagen, Sitzungsprotokollen und anderen Papieren.” Negative Auswirkungen des wirtschaftlichen Abschwunges wurden im November 1975 als Bildungsruinen und Forschungsruinen aufgezeigt; die Bauruinen stehen — ein vielsagendes Zusammentreffen der Ausdrücke — m it der Kostenexplosion (GA 19.7.74; FAZ 11.7.75, dafür in anderer Sicht Kostenklemme FAZ 12.4.76) in ursächlichem Zusammenhang. M alen Lawine und Explosion eine Katastrophe, der die Mensch­ heit ohne Rettung ausgeliefert ist, so stimmt das Bild der Welle über­ all dort, wo sich der Mensch einer Strömung anvertraut. Die Komposita auf -welle ergeben daher in ihrer zeitlichen Abfolge ein Bilderbuch der Vergangenheit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Nachholbedarf der kargen Zeiten war zweifellos die Ursache der er­ sten Fresswelle. Laut “ Bild” vom 9.7.66, das sich auf das amerikanische Magazin “Time” beruft, haben die Deutschen nach der Fress-, Auto-, W ohnungs- und R eisew elle als letzte Wohlstandssteigerung die Edelfress­ welle für sich in Anspruch genommen. Bis (21.12.62 registrierte “Der Volkswirt”) (Frankfurt a.M.), S. 103, aus der Wirtschaft die Automations­ welle, die Begabtenförderungswelle und die Fluktuationswelle; die letzte Wellenbewegung sei nun die Qualitätswelle, man könne aber auch das Herannahen einer Gesundheitswelle ausmachen. Zwei Jahre später schrieb der Wiener Kurier (20.3.64) über die Gesundheitsaufklärungswelle. Die Gesundheitswelle war schon früher von J. Eick in der FAZ vom 5.5.60 erwähnt worden. Konrad Wünsche gab im ersten Heft der Zeitschrift “Praxis Deutsch” (1973) einen Rückblick auf die religiöse Welle nach dem Krieg, die an ti­ kommunistische Welle, dann die Reformwelle, offenbar in der Pädagogik, dann die Angst-vor-der-Reform-Weile, die Ganzheitsmethode-Welle und die Synthetik-Methode-Weile. 1966 wird aus Amerika die astrologische Welle gemeldet, doch will mir scheinen, dass diese bei uns schon mit den ersten Druckerzeugnissen nach dem Krieg begonnen hat, noch bevor die Bekleidungswelle und die Bildungswelle eingesetzt hat. Die Modeprägung dringt auch in die Wissenschaftssprache ein: 1968 no­ tierte ich mir aus einem einschlägigen Vortrag, dass das linke Ufer des Rheines schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert von einer ersten Urbanisierungswelle erreicht wurde. — Zurück in die Gegenwart: als Nachwirkung früherer Ereignisse gab es 1969 in Südtirol eine ondata di arrestii, eine Verhaftungswelle; die FAZ vom 9.3.76 berichtet über eine solche aus Südkorea, am 15.3.76 folgte eine solche in Gudscharat.

325 1970 will man in Niedersachsen mit audiovisuellen Mitteln gegen die Fresswelle arbeiten; im gleichen Jahr geht eine Weg-mit-den-alten-Möbeln- Welle durch Deutschlands Wohnungen: man wird ihnen bald im Zeichen der Nostalgiewelle (FAZ 10.7.75) nachtrauern. Die Wellen haben es an sich, dass sie nicht so bald abschwellen und sich immer wieder durchdrin­ gen und überschichten. So kam die Drogenwelle, und 1974 fragte man (FAZ 25.9.74), ob die Fresswelle nun zu Ende gehe. Weit gefehlt, auch wenn beinahe ein Jahr später wieder dieselbe Meldung kolportiert wird (“Fresswelle lässt nach”, GA 4.7.75). Am 21.1.76 konnte man eine neue Welle aus der gleichen Richtung registrieren: “Nach der Sexwelle, die schon wieder abläuft19, ohne die versprochene Befreiung von den Verklemmtheiten gebracht zu haben20, ist jetzt, heiszt es, die grosze ‘Fresswelle’ über uns gekommen.” Da diese Meldung in ei­ ner Kundenzeitschrift “küche & keller” die Einleitung bildet, könnte der Verdacht aufkommen, dass hier pro domo (oder besser: pro popina) ge­ redet wird. Aber am 19.5.76 weisz das “Schaufenster” zu berichten: “ Die neue Fresswelle, eine von ausgesprochenem Luxuscharakter, ist un­ gebrochen.” Über die “Ess- und Einrichtungswelle” in der DDR gab es am 13.3.74 eine Fernsehreportage aus Leipzig. Sturmwarnungen im Finanzwesen, doch auch unter dem gewohnten und vielleicht dafür zu harmlosen Bild der Welle: “ Burns warnt vor neuer In­ flationswelle” (FAZ 28.7.75). “Pleitewelle ungebrochen” ist die Schlag­ zeile für die Meldung “Die Welle von Firmenzusammenbrüchen in der Bundesrepublik ist noch ungebrochen” (GA 11.12.75), aber die “ Spar- welle flaut zum Jahresende ab” (GA 30.12.75). Erfreulicher ist die Nostalgiewelle (FAZ 28.7.75) auf der Bühne, die sich mit der Desasterwelle im Film (FAZ 6.8.75) überkreuzt. Der Nu­ merus clausus an den Hochschulen löst schon bei den Abc-Schützen (in Bonn und Umgebung “I-Dötzchen” geheiszen) eine Streberwelle aus (GA 14.2.75) und im März ‘schwappt’ die Ölwelle über, da die Furcht vor einem Ölembargo zu einer Überproduktion geführt hat. Für den 28.6. 75 wird die erste R eisew elle der Urlauber erwartet; wer daheim geblie­ ben ist, sorgt in Sportstätten und Bäderanlagen, die eine Fitnesswelle ins Leben gerufen hat, für seine Gesundheit. In der japanischen Autopro­ duktion ist die weiche Welle ins Rollen gekommen (FAZ 25.6.75), aber die Heroin-Schmuggler haben in diesem Jahr mit der harten Welle zu rechnen (GA 14.1.1976), und für den Möbelmarkt wird die englische Welle erwartet. “Deutsche Autofabrikate stoppen Ausländerwelle'' ist die Bi­ lanz 1975 des Automobilgeschäfts in der Bundesrepublik (FAZ 18.2.76). Auch in Afrika “rollt die Motorisierungswelle" (Mannheimer Morgen

326 12.3.76), aber bei Bestecken “rollt die Keramikwelle” : “die Nostalgie­ welle hat sie wieder hochgespült — Bestecke mit Keramikgriffen..” (Tiro­ ler Tageszeitung 23.3.76). Der Scheidungs-“Rekord” im “verflixten 7. Jahr” einer Schlagzeile am 3.3.76 verdichtet sich schon am kommenden Tag zum Schlagwort von d er Alte-Ehen-Scheidungswelle, aber für die “Welle der internationalen Anerkennung des Neto-Regimes” in Angola (GA 19.2.76) lässt sich ein entsprechendes verkürztes Schlagwort nicht finden; es wird wohl auch nicht benötigt. “Neu für die Post sind Botschaften aus den Urlaubsorten... es schwappt eine ‘neue Telegramm-Welle’ in die Postämter..” 21 (GA 24.12.75). “Der Münchener SPD-Streit löst Austrittswelle aus” (GA 27.3.76); die “Welt” brachte am 13.3.76 die Meldung über fortgesetzten Boykott West-Berlins unter der Schlagzeile “Die Boykottwelle brandet h ö h er”.22 Andere Einbettungen des bildhaften Ausdrucks in seine ursprünglichen wesenhaften Beziehungen finden sich im Feuilleton-Artikel von Jochen Schmidt der FAZ vom 19.5.76: “Wellenreiten auf der Mahler-Woge” [des Komponisten Gustav Mahler], in dem von Kitsch die Rede ist und ein “vages, sentimentales Baden in der Woge musikalischer Nostalgie” ge­ tadelt wird. Eine Meldung des Wiener “ Kuriers” vom 22.1.76 über ein Hochstapler­ paar macht stutzig: “Falsche Prinzen auf Klosterwelle”. Sollte hier ein bodenständiges««/Klosterwalz (zu w allen = ‘wandern’) falsch verhoch- sprachlicht worden sein? Hat man hier die ‘Walz(e)’mit einer homonymen ‘Welle’ gleichgesetzt? Dreiszig Jahre Frieden in Europa haben das Wort Krieg verharmlosen helfen. Schlagzeile: “Ein Kaffeekrieg mit Uhren und Löffeln” (FAZ 18. 11.75). Der Artikel wendet sich gegen die Kopplungsangebote von ‘Mit- geh-Artikeln’ in zwei konkurrierenden Kaffeegeschäften in der Bundes­ republik. Das Weihnachtsgeschäft führte zum “Stollenkrieg zwischen Ost und West”, ausgelöst durch ein Billigstangebot von Christstollen aus Dresden (GA 23.12.75). Mit dem Schlachtruf ‘Hygiene’ wurde im ver­ gangenen September in der Bundeswehr der Sockenkrieg entfesselt, der aber durch eine Änderung der Bekleidungsrichtlinien beigelegt werden konnte. “Preiseinbrüche an allen Fronten” in der Eisenindustrie — die Schlagzeile (FAZ 16.7.75) erinnert nur noch die ältere Generation unter uns an den blutigen Ernst der Kriegsjahre. “Preiskrieg der Ölländer” ist beunruhigender, steht aber noch im Wirtschaftsteil (FAZ 2.8.75). Ernste­ re Meldungen gab es am 5.3.76 aus Frankreich: Zwei Tote im französi­ schen Weinkrieg. Die Entscheidung im “Bocksbeutelkrieg” (FAZ 6.5.75)

327 fällte der Bundesgerichtshof: portugiesischer Wein darf demnach nicht in Bocksbeutelflaschen verkauft werden. Auch “an der Bier- und Bock­ wurstfront wird weitergekämpft” (FAZ 8.7.75). “Der Fischereikrieg zwischen Island und Groszbritannien ist wieder voll im Gange” (Welt 15.5.76): “Island bringt Fischkrieg23 vor die NATO.” Fachleute aus der Baubranche wissen um den “Zweiten Westfälischen Zementkrieg” der Jahre nach 1973. “Einen Dritten Westfälischen Zementkrieg wird es freilich nicht mehr geben”, weisz FAZ vom 5.6.76 im voraus. Aber der “Strumpfhosenkrieg geht weiter”: das Hamburger Landgericht hat eine Entscheidung in dem Strumpfkrieg gefällt und eine einstweilige Verfü­ gung bewirkt, wodurch einige Werbeaussagen untersagt werden, FAZ 13.4.76. Der “Schnakenkrieg” am Oberrhein ist mit der Befürchtung ver­ bunden, dass biologische Schäden entstehen könnten (FAZ 7.4.76). Beim “ Hähnchenkrieg” geht es um den maximalen Wassergehalt in tief­ gekühlten Hähnchen (GA 27.2.76). Aus betrieblichen und politischen Wahlkämpfen stammen die Schlagzeilen: “Abnutzungsschlacht mit neuen Männern” (FAZ 10.7.75) und “Zweifrontenkrieg gegen Spaniens Gewerk­ schaftsbürokraten” (FAZ 7.7.75), aus dem Gerichtssaal die “juristische Ardennen-Offensive” im Bader-Meinhof-Prozess (Welt 24.8.75). Manche Wörter und Ausdrücke aus der Kriegszeit haben sich in der Sport­ sprache gehalten. Vergessen ist das Elend der Kellerkinder in den Bom­ bennächten; Kellerkinder sind offenbar im Sportjargon Vereine, die bei Meisterschaften auf der Liste untenan stehen (FAZ 25.8.75; GA 26.1.76). Ein Abstieg auf der Liste wird als Gruben-Unglück angesehen (GA 6.4. 76). Da gingen die Lichter aus.. (GA 26.1.76, vgl. GA 23.7.75) hat in einer Sportmeldung den Sinn einer Wende des Spielerglücks; nicht jeder jugendliche Kämpfer auf dem Fussballplatz denkt bei dieser Redensart an die Verdunklung als erste Masznahme gegen Fliegerangriffe. A m B o­ den zerstört..., gleichfalls eine Meldung im Zusammenhang mit dem Luft­ k rieg 24 , ist für den Fussballspieler Ausdruck der Enttäuschung des Tor­ warts, der über ein Tor niedergeschlagen, deprimiert, vernichtet ist. Dieser gleichen, glücklicheren Jugend hatte Theodor Heuss, als er einem Manöver beiwohnte, zugerufen: Nun siegt mal schön\, was, wie J. Stave25 es darstellt, “für die anwesende Generalität schockierend” war. Dieser Ausspruch, oft variiert26, ist selbst im Sinne des Vaters geäuszert, der seine Kinder in den Garten schickt: Nun spielt man schönl Die Verkleine­ rung der Maszstäbe des Manöver'geschehens’ auf das Spiel im Sandkasten zusammen mit dem väterlichen Ton, der da mitschwang, waren dazu an­ getan, diesem Wort des Bundespräsidenten den Wert einer Charakteristik seiner Person und seiner Ära zu verleihen, der jede missbräuchliche wortspielende Verwendung nur Abbruch tun muss.

328 J. Stave hat das “übertragene Zitat”, das oft zur Parodie führt, als “eine bezeichnende Eigenart des gegenwärtigen Sprachgebrauchs” hingestellt und auf dieses “beziehungsreiche Spiel mit Worten und Zitaten” als Hauptmittel der Ironie, wie sie im “Spiegel” dominiert, hingewiesen. Er hat auch die Sprachkunst des Kabaretts als die Quelle solcher stilistischen Künste erkannt. Auf das rechte Masz einer weiterwirkenden Sprachschöp- fung gebracht, erweist sich das Spiel mit semantischen Assoziationen und die Variation von Schlagwort und Schlagzeile als ein Mittel, im Zeitungs­ stil einer Erstarrung zu Papierdeutsch entgegenzuwirken.

Anmerkungen

Abkürzungen für die Quellen FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), GA (Generalanzeiger, Bonn).

1 W. Dieckmann, Sprache in der Politik. Heidelberg 1969, S. 101. Vgl. zur negativen Bewertung der Zeitungssprache auch Hans Eich, Sprache und Stil der deutschen Presse. München 1956. Man hat sich, soweit ich sehe, zwar mit der Sprache in der “Bildzeitung”, nicht aber in den führenden Organen der bundesdeutschen Presse befasst. 2 O. Ladendorf, Schlagwörterstudien, in: Zs.f.d.dt.Unterricht 24 (1910), 473-481; zuerst a\s Bülowblock (gegen Zentrum und Sozialdemokraten), den 1909 der Schwarzblaue Block (Zentrum und Konservative) ablöste. 3 Auch hier geht es nicht um eine zufällige Bedeutungserweiterung, sondern um die sinnvolle Ausweitung auf die politischen Verhältnisse in einer kleiner werdenden Welt wechselseitiger Abhängigkeiten, deren politische Aktivitäten man mit Hans August Lücker als Weltinnenpolitik bezeichnen kann (s. den Artikel “Weltinnenpolitiker” in der FAZ v. 20.2.1976). 4 Hinzuweisen ist hierfür auf die Sammlungen von W. Wannemacher: Vivisek­ tion der Schlagwörter, 1969, auf das 1968 nachgedruckte Historische Schlagt Wörterbuch von Otto Ladendorf (1906) und auf das noch ältere Werk von R.M. Meyer, 1400 Schlagworte (1900). Ernst-Günther Geyl verlangt (Sprach- dienst 19, 1975, 16) nach einem “umfassenden, monographisch angelegten Wörterbuch politischer Leerformeln und Schlagwörter”. 5 O. Ladendorf [Anm. 2]. Die vorwiegend kritische Einstellung gegenüber der Ausdrucksweise in der Presse wird als Nachwirkung des auf die hohe Litera­ tur festgelegten Normbewusstseins der früheren Germanistik angesehen, ln den nachfolgenden Ausführungen soll aber gerade auf die brauchbaren und manchmal sogar vorbildlichen Sprachneuerungen verwiesen werden, die bei der Experimentierfreudigkeit moderner Literaten vielleicht für künftig einen besseren Rückhalt guter Ausdrucksformen darstellen können. Gegen Vorwürfe an die Adresse des Rundfunks wendet sich mit guten Gründen F. Brühl (Sprachdienst 19, 1975, 105 f.): “Gewohnt, als Journalist vielfach von vornherein zu den Sprachverderbern gerechnet zu werden, meine ich doch wenigstens auf ein paar Bedingungen hinweisen zu sollen, unter denen unser

329 Beruf angetreten ist, um schnelle, zuverlässige und farbige Informationen liefern zu können.” 6 Diesen Hinweis verdanke ich meinem Schüler Dr. Armin Ader (Bonn). 7 Laut einem “Neuen Bonner Wörterbuch” (hektogr.), S. 4, auf den SPD- Bundesgeschäftsführer Börner zurückgehend. Für die Zusendung danke ich Herrn Prof. Dr. Ulrich Crämer. 8 Beziehungsreicher verwendet die gleiche Schlagzeile Der Rubel rollt der “Spiegel” vom 4.8.75. 9 Unter der Überschrift Mao-Make-up macht Mode (aus “Marianne”, Beilage zum Wiener “Kurier” vom 27.3.76) ist zu lesen: “Die tonangebenden Visa­ gisten jedoch sind auf den Fernen Osten eingestellt — eine Modelinie, die bei der Damenbekleidung vor einem Jahr Schlagzeilen machte”. 10 Nach Heinz Küpper, Handliches Wörterbuch der deutschen Alltagssprache. Hamburg 1968, s.v. — “Die grosz angelegte ‘Krawattenmuffel’-Aktion und der Übergang vom schmalen Kulturstrick zur breiten Krawatte brachte der Branche zwar vorübergehend einen Absatzboom, doch fehlen jetzt neue Impulse”, charakterisiert die GA am 11.6.76 die heutige Marktlage unter der Überschrift: “Die Krawattenindustrie m uffelt. ” 11 Alt ist selbstbewusst, als self-conscious im Englischen schon 1697 belegt (OED, s.v.). Ob die Mode der Wortbildung aus dem Englischen kommt, konnte ich nicht feststellen. Jedenfalls findet sich der jetzige Sinn schon in “the teaching profession became method-conscious”, das ich mir aus C.J. Dodson: The bilingual method. Aberystwyth 1962, S. 6, notiert habe. Soll­ te die Existenzphilosophie mit ihrer Reflexion des Selbstbewusstseins letzt­ lich diese Neubildungen ins Leben gerufen haben? 12 In der “Frau im Spiegel” (25.3.76) sind die Frauen kalorienbewusst. 13 Gerhard Zwerenz, in: Vernünftiger schreiben, hg. v. Ingeborg Drewitz und E. Reuter. Frankfurt (M.) 1974, S. 127. 14 Die Verwendung des Slogans für Konfliktsituationen kommt nachweislich auf dem Umweg über die Sportreportage zustande: Der nächste Reiterkrieg kommt bestimmt, hiesz es schon am 2.1 .TS in der FAZ. 15 Nur in loser Verbindung ist dies möglich, vgl. die Schlagzeile “Joumalisten- ausbildung für die ‘Halde’?” (FAZ 24.3.76). 16 Er umfasst in den staatlichen lnterventionslägern der Europäischen Gemein­ schaft an der Wende von 1975/76 schon 1,2 Millionen Tonnen, und diese “Magermilchpulverhalde” (FAZ 28.2.76) schwillt jede Woche um weitere 12.000 Tonnen an. Für die Entwicklungsländer haben neuere Erkenntnisse keine “ Eiweiszlücke” sondern vielmehr eine Eiweiszüberversorgung, jedoch ein Energiedefizit durch unzureichende Zufuhr von Kalorien ermittelt (FAZ 27.8.75). — Zum Thema Berg vgl. auch Sprachdienst 20 (1976), 83 f. 17 Der Rechtsausdruck Notstand hat seinen Vorläufer in Talhoffers Fechtbuch (1467), wo in Tafel 77 der “recht stand in der Nott” (die in der Abwehr eingenommene Haltung) gezeigt wird und in Tafel 42 "Ain Notstand für den Stich oben und vnden” (die Garde gegen den oberen und unteren Stosz).

330 18 Im weiteren Umkreis des gleichen Sachbereichs noch: Beratungsnotstand (FAZ 5.11.73), “Kein Lesenotstand während der Ferien” (da zahlreiche Büchereien geöffnet sind: GA 25.7.75) und Ausdrucks-Notstand (Sprach- dienst 19, 1975, 167 a), dies von Ausdrucksnot weiter abgeleitet. — Aus GA vom 8.7.75 erfährt man, dass der Telefon-Notstand m it dem Notstand der Straszenplanuug zusammenhängt: die Einrichtung von Anschlüssen ist teils von Straszenbaumasznahmen abhängig. 19 Vgl. auch die Meldung im Wiener “Kurier" vom 23.4.74: “Pornowelle verebbt”. 20 Eine sprachliche Auswirkung ist es, wenn eine Meldung über die Pflicht zum Tragen von Sturzhelmen und die Anlegepflicht für Sicherheitsgurte mit “Kein Buszgeld bei ‘oben ohne’ ” (FAZ 14.8.75) überschrieben wird. 21 “Spiegel" Nr. 6 (1976) lässt auch eine “Winterwelle” von den Alpen bis Ameri­ ka schwappen. Es handelt sich um eine Darstellung der Geschichte der jüng­ sten Olympischen Winterspiele. 22 Den Hinweis verdanke ich Prof. Gustav Korlen. 23 Er wurde auch “Kabeljau-Krieg” genannt (GA 19.3.76). 24 Sie hat im Sechstage-Krieg eine Aktualisierung erfahren: “Am Boden zer­ stört: drei ägyptische Düsenjäger auf einem Flugplatz in der Nähe von Kairo. Schon am zweiten Tag war die Luftwaffe der arabischen Staaten ausgeschal­ tet.” 25 Joachim Stave, Wo der Büchmann aufhört. In: Muttersprache 77 (1967), 216 ff. 26 Beispiele bei Stave, ebd., dazu neuerdings: “Nun prügelt euch mal schön”, sagte Regisseur Christian-Jaque zu Brigitte Bardot (36) und Claudia Cardinale (33). Der Zweikampf der Busenstars ist der Höhepunkt des Wildwestfilms..” (Stern 10.10.71), ferner: “Nu gewinnen Se mal schön, Herr Schön" (Fuszball- meldungGA 19.5.76) und: “Dann zahlt man schön” : für die Leistungen des Staates müsse der Bürger zahlen (FAZ 5.6.76).

331 LUDWIG JÄGER

Erkenntnistheoretische Grundfragen der Sprachgeschichts­ schreibung

Thesen1

1. Die Erörterung epistemologischer Probleme einer einzelwissenschaft­ lichen Disziplin intendiert gemeinhin die Klärung solcher theoretischer Grundkategorien, die im ‘normalwissenschaftlichen’ Forschungsverlauf dieser Disziplin immer schon als geklärte unterstellt werden. Die Notwen­ digkeit der Klärung theoretischer Grundbegriffe einer Einzelwissenschaft ergibt sich immer dann, wenn das Paradigma, in dessen systematischen Rahmen sie definiert sind, in eine Krise2 gerät, und damit diese Begriffe selbst problematisch werden. Insofern ich hier im Folgenden für die Not­ wendigkeit einer erkenntnistheoretischen Diskussion der theoretischen Voraussetzungen der Sprachgeschichtsschreibung argumentieren möchte, behaupte ich also zugleich, daß sich die Sprachgeschichtsschreibung in einer tiefgreifenden Krise befindet.

2. Versucht man sich den wissenschaftstheoretischen und epistemologi- schen Ort der neueren Sprachgeschichtsschreibung vor dem Hintergrund der aktuellen Situation des geschichtlichen Denkens überhaupt nach ihrem Selbstverständnis zu vergegenwärtigen, so sieht man sich einem eigentüm­ lichen Widerspruch konfrontiert: Während sich die allgemeine Historio­ grafie in einer Grundlagenkrise weiß und diese durch eine “systemati­ sierte Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft”3 in einer zu rekonstru­ ierenden Historik4 wiederaufheben will, ist die Sprachgeschichtsschreibung in ihrere Selbsteinschätzung von Krisenb ewußtsein und Selbst- reflexionszwang unberührt.

3. Dieses unkritische Selbstbewußtsein der neueren Historiografie der Sprache muß aber anchronistisch anmuten, wenn man sich vor Augen hält, daß die Krise des geschichtlichen Denkens nicht nur, wie etwa Troeltsch meinte, eine Krise lediglich der Geschichtsp h i 1 o s o p h i e ist5, sondern eine, die gerade auch die technisch-historische Forschung erfaßt hat6. Mit dem Zusammenbruch sowohl derh istoristischen Geschichts­ idee — in deren Rahmen die Geschichtswissenschaft allgemein konstituiert war —, als auch der naturalistisch-deterministischen Ge­ schichtsauffassung7, die als erkenntnistheoretisches Paradigma der histo­ rischen Linguistik und der Sprachgeschichtsschreibung in der zweiten

332 Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts fungier­ te8, wurde die neuere Sprachgeschichtsschreibung jener geschichtstheore­ tischen Grundlage beraubt, die, obgleich sie nicht auf einer eigenständigen geschichtsphilosophischen Reflexion beruhte, gleichwohl als eine Logik der Forschung die methodischen Verfahren der historischen Arbeit der älteren Sprachgeschichtsschreibung methodologisch legitimiert hatte.

4. Trotz dieses Verlustes einer geschichtstheoreti­ schen Fundierung, der durch den Umstand noch verschärft wur­ de, daß, mit dem zu Beginn dieses Jahrhunderts einsetzenden Auseinan­ dertreten von Sprachtheorie und Theorie der Sprachgeschichte9, diese den Anschluß an die sprachtheoretische Diskussion verlor und damit auch über keine explizite sprachtheoretische Grundlage mehr verfügt, steht die neuere Historiografie der Sprache bei Hirt10, Bach11, Moser12, Tschirsch13, Eggers14 und v. Polenz15 methodisch in der — durch keinerlei epistemogische Reflexion gebrochenen — Kontinuität der Sprachgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Obgleich also das erkenntnistheoretische Paradigma des Positivismus an seinen Aporien ge­ scheitert ist, hält die neuere Historiografie der Sprache an den for­ schungspraktischen Maximen der in diesem Paradigma konstituierten Sprachgeschichtsschreibung fest und ignoriert den Umstand, daß die dort zugrundegelegte Sprach- und Geschichtsidee ihre normative Verbindlichkeit längst verloren hat.

5. Es sind vor allem drei Momente, in denen sich die explizite methodische und die implizite erkenntnistheoretische Abhängigkeit der neueren Histo­ riografie der Sprache von der älteren Sprachgeschichtsschreibung offenbart: a) in ihrer allgemeinen Aufgabenstellung, b) in ihrem historio- grafischen Strukturprinzip und schließlich c) in ihrer sprach- und geschichtstheoretischen Begrifflichkeit. a) In ihrer Aufgabenbestimmung übernimmt sie den im weitesten Sinne geistes- bzw. sozialwissenschaftlichen Ansatz16, wie er bei J. Grimm 17 und in dessen Nachfolge bei Scherer und den Junggrammatikern 18 en t­ wickelt worden war, ohne allerdings den sich wandelnden geschichtsphi­ losophischen Kontext zu beachten, in dem dieser Ansatz bei Grimm und bei Scherer je definiert war, und ohne ihrerseits den Sinn einer Er­ zeugung sprachgeschichtlichen Wissens geschichts­ theoretisch zu klären. b) Als Periodisierungsprinzip der Sprachgeschichte übernimmt sie explizit die an “lautlichen Gesichtspunkten” orientierte “herkömmliche Eintei-

333 lung”19der älteren Sprachhistoriografie und behauptet deren Neutra­ lität gegenüber jedwedem geschichtstheoretischen Ansatz20, ohne sich zu Bewußtsein zu bringen, daß sich erst im Horizont einer expliziten Ge­ schichtstheorie die historischen Daten als solche konstituieren und in einen strukturierten zeitlichen Zusammenhang bringen lassen 21. c) Der Mangel einer eigenen expliziten Sprach- und Geschichtstheorie und die implizite und damit unreflektierte Bezogenheit auf das an seinen Apo- rien gescheiterte Erkenntnis-Paradigma des älteren Positivismus macht sich für die neuere Sprachgeschichtsschreibung besonders gravierend in ihrer theoretischen Begrifflichkeit bemerkbar, die durch einen willkürlichen Eklektizismus charakterisiert ist. So geht sie bei der theoretischen Erfas­ sung des Bedeutungswandels noch weithin von der sprachtheo- retisch unhaltbaren Annahme “einer Grundbedeutung”22, bzw. einer “alten” und “ursprünglichen” Bedeutung23 aus, die als “konkrete Aus­ gangsbedeutung”24 noch durch einen “satten Bildgehalt” und durch “sinnliche Anschauungskraft”25 bestimmt sei. Von hier aus wird dann Be­ deutungswandel in so fragwürdigen Kategorien wie “Verengerung”, “Ver­ schlechterung”26 bzw. “Wertminderung”27 der Bedeutung erfaßt, Kate­ gorien, die die “Urbedeutung” als ü b e r - und außergeschicht­ liche Vergleichsnorm unterstellen müssen. Hier liegt auch das Motiv für die kulturpessimistisch-konservative Klage über den ‘Verschleiß’ der Sprache durch die “Massenhaftigkeit der sprachlichen Kommunika­ tion”28. Auf geschichtstheoretischem Gebiet ist der Ansatz der neueren Sprachhistoriografie weitgehend durch einen latenten Determinis­ mus bestimmt, der entweder in biologischer oder in kausalistischer, bzw. teleologischer Form auftritt. So besteht etwa für Hirt kein Zweifel daran, “daß auch der Bedeutungswandel nicht regellos eintritt, daß er vielmehr Gesetzen gehorcht”29. Tschirsch unterstellt der Geschichte der Sprache eine teleologische “Sinnhaftigkeit ihres Ablaufs” und eine “Zielgerichtet­ heit ihrer dauernden Wandlungen”30. Und A. Bach begreift in seinem reaktionär-volkskundlichen Ansatz31 den “dt. Geist” als geschichtsmäch­ tige Kraft, der sich die deutsche Sprache “als in schicksalerhafter Ent­ wicklung gewachsene Frucht” 313 verdankt, wobei der “deutsche Geist” als ein in “Geschichte und Raum” sich entfaltendes “biologisches Erbge- füge”32 gedacht ist. Am eklatantesten tritt die begriffliche und theore­ tische Unreflektiertheit da auf, wo die neuere Sprachgeschichtsschrei­ bung glaubt einen ‘soziologischen’ bzw. ‘sozialgeschichtlichen’ Ansatz zu vertreten 33 in Wahrheit aber lediglich jene “volkskund­ liche ”34 Position perpetuiert, die nach der Pervertierung der ro­ mantischen Volks-Idee in der wilhelminischen Ära während des deutschen Faschismus in eine “Herrenmenschen-Theorie”35 mündete. So unterschei­

334 den etwa Bach und Eggers im Anschluß an H. Naumanns “Primitive Gemeinschaftskultur” und die dort vertretene “Zweischichtentheorie”36 zwischen “geistlicher und weltlicher Führerschicht” einerseits und den geführten “breiten Massen” 37 andererseits. Ebenso aporetisch ist die — auch in der Tradition der Volkskunde stehende — Annahme einer eintausendzweihundertjährigen Identität des “unverfälschte(n) Deutsch” als einer National spräche, die sich “in ungebrochenem Fluß konti­ nuierlich und organisch entwickelt hat” 38. Gerade unter sozialgeschicht­ licher Perspektive zeigt sich nämlich, daß die “Nation” im modernen Sinne “eine historische Erfindung der letzten zweihundert Jahre” ist 39 und daß deshalb der Begriff der Nation nicht einfach naiv-reprojek- t i v dazu verwendet werden kann, der Sprachgeschichtsschreibung die Identität ihres Gegenstandes Nationalsprache zu sichern.

6. Der desolate Zustand des theoretischen Rahmens der Sprachgeschichts­ schreibung, der ein Ausdruck ihrer Krise ist, macht die erkenntnistheore­ tische Reflexion ihrer Grundbegriffe unumgänglich. Ehe deshalb, wie dies etwa H. Isenberg versucht, eine “Theorie der Sprachgeschichte” entwickelt werden kann, die eine Analyse ‘interner Sprachwandlungsprozesse’ in ihrer Beziehung zu ‘externen Sprachentwicklungsprozessen’ ermöglichen soll40, muß eine epistemologische Reflexion vorgängig vor allem den Begriff der Geschichte selber klären und von hier aus die Kategorie der G e - schichtlichkeit der Sprache41 einerseits und den Sinn einer Erzeugung sprachgeschichtlichen Wissens und damit die Aufgabe der Sprachgeschichtsschreibung andererseits näher bestim m en.

7. Wie J. Ritter42, H. Schelsky 43 Th. Nipperdey 44 und vor allem R. Kosellek in verschiedenen Analysen gezeigt haben45, hat sich das neuzeit­ liche Geschichtsbewußtsein und -Verständnis im Zuge des fundamentalen Bruchs konstituiert, mit dem sich die moderne bürgerlich-industrielle Ge­ sellschaft “aus den ihr vorgegebenen geschichtlichen Herkunftswelten ”46 emanzipiert hat. Im Zuge dieser sozialgeschichtlichen Bewegung, die mit der Auflösung der ständischen Welt und mit dem Zusammenbruch tradi- tionaler metaphysischer und religiöser Dogmen verknüpft war, verlor die alte “Historia” als “Magistra Vitae”47 und mit ihr eine “naturale” und “chronologische” Zeiterfahrung48 ihre normative, handlungsorientierende Verbindlichkeit und eröffnete damit den Raum für eine ‘denaturalisierte’ Zeiterfahrung, für ein “neues Zeitbewußtsein, das Bewußtsein einer offenen und der Herrschaft des Menschen überantworteten Zukunft”49. Mit dem Verlust jedoch einer traditional ungebrochenen Verknüpfung von Vergan­

335 genheit und Zukunft durch eine magistrale Historie verlor die Geschichte zugleich ihren naturwüchsig-kontinuierlichen Zusammenhang, ja sie ist als G e s c h i c h t e gerade dadurch bestimmt, daß ihr Zusammen­ hang nicht gegeben ist, sondern der Rekonstruktion bedarf: Geschichte konstituiert sich erst im transzendentalen Rahmen des Wissens von ihr50.

8. Damit ist auch der systematische Ort benannt, an dem die neuzeitliche Wissenschaft ihre Bestimmung erhält: als eine von einer dogmatisch in der Gegenwart fortwirkenden Vergangenheit freigesetzte Vernunft, rekon­ struiert sie die mit der “Entzweiung”51 von Gegenwart und Vergangen­ heit verlorengegangene T o t a 1 i t ä t der Geschichte als “K o n t i n u i - t ä t ” 52 im Interesse einer vernunftbegründeten Handlungsorientierung innerhalb des nun prinzipiell offenen Zukunftshorizontes. Nun hat aller­ dings die neuzeitliche Wissenschaft die ihr mit dem Zusammenbruch der magistralen Geschichte zugefallene Aufgabe durchaus nicht einheitlich in Angriff genommen: Während nämlich die szientifische Vernunft die ver­ lorene Einheit der Geschichte unter dem transzendentalen Gesichtspunkt m öglicher technischer Verfügung als kausalmechanischen Zu­ sammenhang rekonstruiert und sich methodologisch als erklärende Science konstituiert, wird die verlorene Einheit der Geschichte von der geschichtlichen Vernunft unter dem transzendentalen Gesichtspunkt einer möglichen Intersubjektivität handlungsorien­ tierender Selbstverständigung als verstandene Konti­ nuität rekonstruiert; die geschichtliche Vernunft konstituiert sich inso­ fern methodologisch als hermeneutische Geistes - bzw . S o ­ zialwissenschaft.53

9. Vor dem Hintergrund dieser geistes- und sozialgeschichtlichen Bewe­ gung hat sich nun die Sprachgeschichtsschreibung des späten 19. Jahrhun­ derts im paradigmatischen Rahmen der szientifischen Vernunft als erklä­ rende Wissenschaft konstituiert. Sie faßte die Geschichtlichkeit der Sprache als deren kausal-genetische Entwicklungsstruktur auf, und sie sah den Sinn einer Erzeugung sprachge- schichtlichen Wissens in der induktiven Gewinnung der Ge­ setze, durch die jene Entwicklungsstruktur bestimmt ist. 10. Eine erkenntnistheoretische Reflexion des der Sprachgeschichts­ schreibung zugrundeliegenden Begriffes der Geschichte und eine von hier aus vorgenommene Klärung der Kategorie der Geschicht­ lichkeit der Sprache einerseits und des Sinnes einer Erzeugung sprachgeschichtlichen Wissens anderer­ seits muß, will sie nicht den Aporien eines szientifischen Geschichtsbe­

336 griffes aufsitzen, das Problem der Geschichte wieder da aufnehmen, wo es zum ersten Mal in prinzipieller Weise hermeneutisch formuliert worden ist: in Wilhelm von Humboldts Abhandlung “Über die Aufgabe des Geschichts­ schreibers” von 1821 54. Humboldt hat hier sowohl das Problem der Ge­ schichtlichkeit geisteswissenschaftlicher Gegenstände, als auch das trans­ zendentale Interesse historischer Erkenntnis in einer Weise diskutiert, wie sie noch heute der Logik der Sprachgeschichtsschreibung zugrundegelegt werden kann: zum einen expliziert Humboldt den Zusammenhang der Geschichte weder — wie Comte — als Ausdruck ihrer kausalgesetzlichen Determiniertheit, noch — wie Hegel — als Ergebnis ihrer teleologischen Struktur, sondern er rekonstruiert ihn in ihren Gestaltungen als Produkt der Arbeit derer, die im Raum der Geschichte diese frei, d.h. unabhängig von jeder kausalen, teleologischen oder sonstigen deterministischen Bestim­ mung hervorbringen. Als solche Kontinuität kultureller Entäußerungen menschlicher Arbeit ist sie Gegenstand der Geisteswissenschaften. Im Rah­ men dieser allgemeinen Bestimmung der Kategorie der Geschichtlichkeit faßt Humboldt auch die Geschichtlichkeit der Sprache als eine historisch­ gesellschaftlich vermittelte, freie Synthesis von Sinn. Zum zweiten sind diese kulturellen bzw. sprachlichen Entäußerungen als Gegenstände historischer Erkenntnis nicht in reiner Beobachtung gegeben. Sie bedürfen vielmehr, um in ihrer Kontinuität ergriffen zu werden, mit Hegel zu reden, der Anstrengung des Begriffs, allerdings nicht eines Be­ griffes, der — so Humboldt — “der Geschichte, wie eine fremde Zugabe, geliehen” wird55. Sie bedürfen der — methodisch disziplinierten — An­ strengung des Verstehens.

Anmerkungen

1 Die hier abgedruckten Thesen zu erkenntnistheoretischen Grundfragen der Sprachgeschichtsschreibung stellen die leicht ausgearbeitete Fassung des The­ senpapiers dar, das ich zu dem Vortrag gleichen Titels am 11.3.1976 auf der Jahrestagung des Instituts für deutsche Sprache ausgeteilt habe. Eine ursprüng­ lich intendierte grundlegende Überarbeitung des Vortrags für den Druck konnte ich leider nicht rechtzeitig fertigstellen. Sie wird in Kürze, so hoffe ich, an anderer Stelle erscheinen. Den Vortrag in der gehaltenen Form zu publizieren, konnte ich mich nicht entschließen. Die hier gewählte Thesen­ form scheint mir der Vorläufigkeit der Argumentation am angemessensten. 2 Zu den Begriffen “ Paradigma" und “ Krise” vgl. Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1973. 3 Vgl. J. Rüsen, Ursprung und Aufgabe der Historik, in: H.M. Baumgartner/ J. Rüsen (ed.), Geschichte und Theorie, Umrisse einer Historik, Frankfurt 1976,63.

337 4 Vgl. hierzu die Beiträge in Baumgartner/Rüsen [Anm.3], 5 Vgl. E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Aalen 1961, 4. 6 Vgl. J. Rüsen [Anm.3] , 61f. 7 Zur Unterscheidung von “historischem Relativismus” (Historismus) und “naturalistischem Determinismus” vgl. E. Troeltsch, zit. n. J. Ritter (ed.). Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1974, Bd.3, Artikel “Historismus, Historizismus”, 1142. 8 Nach den genuin geschichtsphilosophischen Begründungsversuchen von Sprach- theorie und Sprachgeschichtsschreibung bei Humboldt und J. Grimm verlor die historische Linguistik im 19. Jahrhundert im Zuge der Expansion des szientifischen Denkens und eines naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals ihre erkenntniskritische Autonomie. Linguistische Theorie und Sprachge­ schichtsschreibung vollzogen deshalb die drei Phasen der Entwicklung des positivischen Geschichtsbegriffes im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert kritiklos mit: den anthropomorphistischen Evolutionismus J. Müllerscher Provenienz bei Becker und Schleicher, den kausalgenetischen Mechanizismus Comtescher und Bucklescher Provenienz bei Scherer, Paul und den Junggram­ matikern und schließlich den strukturellen Diachronismus im Prager Kreis. Alle drei positivistischen Geschichtsauffassungen stimmen darin überein, daß man sie als “subjektlosen Determinismus” bezeichnen kann. 9 In der Tat besteht ja im sensualistisch-induktionistischen Erkenntnisprogramm der Junggrammatiker ein systematischer Zusammenhang zwischen Sprachtheo- rie und Sprachgeschichte, insofern nämlich als die S p r a c h t h e o r i e als eine Logik der Sprachgeschichte (vgl. etwa H. Pauls “Prinzi­ pien der Sprachgeschichte”, Halle 1920, die sich ja als Sprachtheorie verstehen) aufgefaßt wird. Die Sprachtheorie glaubt das ‘Wesen’ der Sprache zu rekonstru­ ieren, indem sie die “Bedingungen des geschichtlichen Wesens” (H. Paul, ebd., 4) der Sprache rekonstruiert. Umgekehrt ist also die Sprachgeschichte sowohl auf einer (kausalgenetischen) Geschichtstheorie, als auch auf einer (sensualis- tisch-induktionistischen) Sprachtheorie fundiert. Während nun die neuere Sprachgeschichtsschreibung methodisch dem positivistischen Ansatz der Junggrammatiker verhaftet bleibt, ohne deren sprach- und geschichts­ theoretische Grundannahmen mitübernehmen zu können, hat umgekehrt die neuere Sprachtheorie aus dem Scheitern des sensuaüstisch-induktionistischen Erkenntnisprogramms und der in diesem implizierten kausalgenetischen Ge- • schichtsidee einen falschen generellen Schluß gezogen: sie geht nämlich da­ von aus, daß die Aporien des positivistischen Versuches, das Wesen der Sprache aus ihrer historischen Genesis zu rekonstruieren, Aporien einer historisch fundierten Sprachtheorie überhaupt seien, und sie hat hieraus die ihrerseits aporetische Folgerung abgeleitet, die Sprachtheorie müsse ahistorisch sein. Insofern kann die neuere Sprachgeschichtsschreibung nach dem Verlust ihrer sprachtheoretischen Grundlage auf die neuere Sprachtheo­ rie auch gar nicht zurückgreifen. 10 H. Hirt, Geschichte der deutschen Sprache, München 1919. 11 A. Bach, Geschichte der deutschen Sprache, Heidelberg 91970.

338 12 H. Moser, Deutsche Sprachgeschichte der älteren Zeit, in: W. Stammler (ed.), Deutsche Philologie im Aufriß, Bd.I, Berlin 21957, 621ff. 13 F. Tschirsch, Geschichte der deutschen Sprache, 2 Bde, Berlin 1966. 14 H. Eggers, Deutsche Sprachgeschichte, 3 Bde, Hamburg 1963 - 66. 15 P.v. Polenz, Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 71970. 16 Vgl. hierzu etwa A. Schirokauer, Frühneuhochdeutsch, in: Deutsche Philo­ logie im Aufriß [Anm. 12] , 855 ff, hier 858ff.:F. Tschirsch [Anm. 13], 13; H. Hirt [Anm. 10], 1 ; H. Eggers [Anm. 14], 260; A. Bach [Anm. 11], 22; P.v. Polenz [Anm.15] , 6. 17 Vgl. etwa J. Grimm, Geschichte der deutschen Sprache, 1. Bd., Leipzig 1848, XIII. 18 Vgl. etwa W. Scherer, Jacob Grimm, Berlin 1921, 329. 19 Vgl. H. Eggers [Anm. 14], Bd. 1, 21f. 20 Ebd. ; diskutiert, ohne daß sich allerdings an der Neutralitäts-These etwas änderte, wird das Problem der Periodisierung bei H. Moser [Anm.12], 621 ff.; vgl. ebenso ders. Probleme der Periodisierung des Deutschen, in: GRM, N.F. 1(32), 1951, 296 ff. ; auch P.v.Polenz hat die Problematik der Periodisierung ernst genommen und versucht, “sprachsoziologische Kriterien” (P.v.Polenz [Anm.15], 85 f.) zugrundezulegen, wobei diese jedoch nicht in einem sprach- soziologischen und sozialgeschichtlichen Rahmen fundiert sind. 21 Vgl. hierzu etwa F. Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften — Die “longue durée”, in: H.-U. Wehler (ed.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972, 189 ff., hier 191, 209 ; ebenso R. Kosellek, Ober die Theoriebedürftig­ keit der Geschichtswissenschaft, in: W. Conze (ed.), Theorie der Geschichts­ wissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, 10 ff, hier 14. 22 Vgl. etwa H. Hirt, Etymologie der neuhochdeutschen Sprache, München 1921, 401. 23 Ebd. 24 F. Tschirsch [Anm.l 3], 2. Bd., 215. 25 Ebd., 213. 26 H. Hirt [Anm.22], 407 ff; H. Eggers [Anm.14] , Bd. 2, 72 ff.; A. Bach [Anm. 11], 60ff., 135 ff. 27 F. Tschirsch [Anm.l 3], 216 ff.; vgl. hierzu etwa die Paulsche Klassifikation der “Arten des Bedeutungswandels” in H. Paul [Anm.9], 87 ff.; zur Kritik der gemeinhin angenommenen Ursachen des Bedeutungswandels vgl. W. Dieckmann, Linguistik und Sozialgeschichtsforschung, in: R. Bartsch/Th. Vennemann, Linguistik und Nachbarwissenschaften, Kronberg 1973, 141 ff., hier 145. 28 F. Tschirsch [Anm.13], 214;ebenso H. Eggers [Anm.14], Bd. 2, 72; “Unsere Sprache ist seit langem schon durch den alltäglichen und oft zu leichtfertigen Gebrauch verschlissene..)”.

339 29 H. Hirt [Anm. 22], 404. 30 F. Tschirsch [Anm. 13], Bd.l, 12. 31 Vgl. hierzu W. Emmerich, Zur Kritik der Volkstumsideologie, Frankfurt 1971. 31a A. Bach [Anm.l 1] , 470. 32 Ebd., 476. 33 Dies beanspruchen vor allem H. Eggers [Anm.14] und A. Bach [Anm.l 1] ; allein P. v. Polenz jedoch kann diesen Anspruch mit einigem Recht erheben (vgl. P. v. Polenz [A nm .l 5] ). 34 Vgl. vor allem W. Emmerich [Anm.31], 95 ff. 35 Vgl. ebd., 102. 36 Diese ist referiert bei W. Emmerich, ebd., 101 f. 37 A. Bach [Anm.l 1], 159; vgl. ebenso Eggers’ Unterscheidung in “führende Schichten”, die eine “feinere geistige Struktur besitzen”, und “geführte Menge” in H. Eggers [Anm.14], 16, 220;daß die Bachsche Sprachgeschichte seit der 1. Auflage 1938 in der Hochzeit des Faschismus im systematischen Aufbau und in ihrem rassistisch-biologistischen Ansatz unverändert in 9 Auf­ lagen, die letzte 1970, erscheinen, und dabei nach Bachs eigener Bekundung 100.000 Benutzer (vgl. Vorwort zur 9. Auflage) erreichen konnte, ist ein Skandalon der Sprachgeschichtsschreibung. 38 Vgl. F. Tschirsch [Anm.12], Bd. 1,12. 39 Vgl. E.J. Hobsbawm, Von der Sozialgeschichte zur Geschichte der Gesell­ schaft, in: H.-U. Wehler [Anm.21], 331 ff., hier 350. 40 Vgl. H. Isenberg, Diachronische Syntax und die logische Struktur einer Theo­ rie des Sprachwandels, in: D. Cherubim (ed.), Sprachwandel, Berlin, New York 1975, 208 ff. 41 Grundlegende Vorarbeiten hierzu finden sich bereits bei E. Coseriu, Syn- chronie, Diachronie und Geschichte, München 1974. 42 J. Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesell­ schaft, Münster 1963. 43 H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, Hamburg 1963, insbesondere 222 - 228 und 278-295. 44 Th. Nipperdey, Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 44, Köln 1962, 358 - 377. 45 R. Kosellek, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Hori­ zont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Löwith-Festschrift “Natur und Geschichte", Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1967, 200-209; ders., Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, ebd.;ders., Einleitung zu: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, ed. v. O. Brunner, W. Conze, R. Kosellek, Stuttgart, Bd.l (1972) 1974, Bd. 2, 1975. 46 J. Ritter ebd., 25.

340 47 Vgl. R. Kosellek, Historia [Anm.45] . 48 Vgl. etwa ders., Ober die Theoriebedürftigkeit [Anm.45], 14; ebenso ders.. Historia [Anm.45], 206 ff. 49 Th. Nipperdey [Anm.44], 365. 50 M. Riedel, Positivismuskritik und Historismus. Über den Ursprung des Gegen­ satzes von Erklären und Verstehen im 19. Jhd., in: J. Blühdorn/J. Ritter (ed.), Positivismus im 19. Jhd., Frankfurt 1971, 89. 51 Vgl. zum Hegelschen Begriff der “Entzweiung” J. Ritter [Anm.42], 25 f. 52 Vgl. zu Droysens Kontinuitätsbegriff M. Riedel, ebd., 81 - 91. 53 Vgl. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1973, 221, 241; ebenso M. Riedel [Anm. 51], 91. 54 W. v. Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers, in: ders., Werke, ed.v. A. Leitzmann, Bd. IV, 35 f. 55 Ebd., 46.

341 LEOPOLD AUBURGER

Bericht der Arbeitsstelle für Mehrsprachigkeit (AMS) 1976 zur Situation der Mehrsprachigkeitsforschung und interlingualen Soziolinguistik

Inhalt i

1. Aufgabenbereich der AMS 2. Überblick über den Stand der Mehrsprachigkeitsforschung und der interlin­ gualen Soziolinguistik 2.1. Mehrsprachigkeitsforschung 2.2. Soziolinguistik 2.3. Wissenschaftsgeschichtliches zur interlingualen Soziolinguistik 3. Arbeits- und Forschungsergebnisse der AMS

1. Aufgabenbereich der AMS

Die Forschungsaufgaben der Arbeitsstelle für Mehrsprachigkeit (AMS) am Institut für deutsche Sprache (Mannheim) liegen derzeit im Bereich der Gruppenmehrsprachigkeit, der interlingualen Soziolinguistik und der Ausbaukomparatistik. Forschungsgegenstand ist die deutsche Sprache als Muttersprache mit kodominantem und indominantem Status; hierbei sind sowohl standardsprachliche Verhältnisse als auch Sprachvarianten zu berücksichtigen. (Den Termini dominant, indominant, alleindominant, k o d o m in a n t liegt eine in der AMS verwendete juridolinguistische Unter­ scheidung zugrunde: “dominant” ist eine Sprache, wenn sie rechtsgültig Sprache der höchsten legalen politischen Entscheidungsinstanz eines Staates ist, “indominant”, wenn nicht; “alleindominant” ist eine Sprache, wenn sie die einzige dominante Sprache ist, “kodominant”, wenn es wenigstens eine weitere dominante Sprache gibt. Indominantes Deutsch ist vielfach zugleich (relativ) allochthon (so z.B. in Südosteuropa oder in Übersee).) Zu diesen Forschungsaufgaben kommen noch zentrale wissen­ schaftliche Dienste. Die Forschungsbeiträge der AMS sollen in der Hauptsache im Rahmen einer Schriftenreihe “Deutsche Sprache in Europa und Übersee” publi­ ziert werden. Bis jetzt liegen die Typoskripte eines Sammelbandes zur Situation in Kanada sowie von Monographien zum Sprachgebrauch bei Schülern in Ost-Lothringen, zur Sprachenfrage in der Schweiz vor 1914 und über die deutsche Sprache in Natal (Südafrikanische Republik) vor. Fertiggestellte Arbeiten zur Zweisprachigkeit in Südtirol und über die

342 Mittelwest-Staaten der USA (von Norddakota und Kansas im Westen bis Ohio im Osten) stehen ebenfalls zur Verfügung und bedürfen nur noch einer abschließenden redaktionellen Bearbeitung und Ergänzung. In diesen Arbeiten werden sowohl unentbehrliche Fakten als auch Ana­ lysen und Theoretisierungsversuche dargeboten. Zur Ansammlung einer ausreichenden empirischen Basis ist eine langfristig kontinuierliche For­ schungstätigkeit nötig. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Vielzahl der Sprachkontakte des indominanten und kodominanten muttersprachlichen Deutsch, als auch auf die Komplexität der linguistischen Fragestellung. Eine programmatische Beschränkung des Materialobjekts erscheint bei der derzeitig schmalen zur Verfügung stehenden empirischen Basis nicht sinnvoll; d.h. wo sich Möglichkeiten einer zuverlässigen Erweiterung der­ selben anbieten, sollten sie aufgegriffen werden. Bei diesen Materialien sind zwei Arten zu unterscheiden: Zum einen handelt es sich um Aus­ schnitte der jeweiligen Objektsprache, die im Rahmen einer Textdoku­ mentation (worunter hier auch die Lexikographie verstanden wird) ge­ speichert werden, vgl. z.B. die Bestände auslandsdeutscher Presse in der Bibliothek des “ Instituts für Auslandsbeziehungen” in Stuttgart oder das “Mikrofilm Archiv der deutschsprachigen Presse e.V.” in Dortmund, fer­ ner die einschlägigen Bestände in der “ Lautbibliothek der europäischen Sprachen und Mundarten. Deutsche Reihe” (Bearbeitung in der Schriften­ reihe Phonai, hg. v. Deutschen Spracharchiv im Institut für deutsche Spra­ che unter der wissenschaftlichen Leitung von G. Ungeheuer). Zum ande­ ren handelt es sich um einschlägige Faktenbeschreibungen. Die Textdo­ kumentation ist nicht direkt Aufgabe der AMS, wohl aber die Veröffent­ lichung von relevanten Berichten, wozu insbesondere die Sammelbände der Schriftenreihe der AMS dienen sollen. Was die wissenschaftliche Erhellung dieses Materials anbelangt, so bedarf es weiterer Absprachen und Koordination unter den interessierten Wissen­ schaftlern. Die Forschungsvorhaben der AMS sind zum großen Teil sowohl durch die personelle Besetzung als auch durch die Orientierung am Gesamtinstitut für deutsche Sprache bestimmt. Entsprechend sind als Schwerpunkte im Rahmen der soziolinguistischen Sprachkontaktforschung 1) Transferenz-und Interferenzphänomene, 2) Probleme der Sprachgebrauchssituationen, sowie 3) Fragen sprachlicher Norm und des Systemcharakters der untersuchten Sprachvarianten anzusetzen.

343 Bei den Transferenz - und Interferenzphänomenen sind die verschiedenen linguistischen Ebenen zu berücksichtigen, wobei die jeweils weitere Auswahl und Spezifizierung von Fall zu Fall zu be­ stimmen ist. Der Problemkreis, der mit diesem zweiten Schwerpunkt an­ gesprochen ist, berührt auch Fragen der Sprachmischung, des Sprachpu- rismus, der Pidginbildung und Kreolisierung. Punktuell wären für Fragen ", Deutschen als Fremdsprache Analysen durchzuführen. Die Sprachgebrauchssituationen werfen Fragen der Sprachgemeinschaft und Sprachschaft*, der Polyglossie mit dem Haupt­ fall der Diglossie, der Assimilation und jeweiligen Sprachbeherrschung auf; ferner ist der juridolinguistische Aspekt des Sprachenrechts zu be­ rücksichtigen. Die Fragen sprachlicher Norm und der System- haftigkeit sind ebenfalls nach den verschiedenen linguistischen Ebenen zu differenzieren; im Ergebnis wären aufschlußreiche Beiträge z.B. auch zur Sprachtypologie zu erreichen. Auf jeden Fall ist ein Ver­ gleich zu den entsprechenden Verhältnissen in der deutschen dominanten Standardsprache zu ziehen. Zusammen mit diesen Untersuchungen zum systematischen und asystematischen Charakter von Sprachvarianten sind relevante Einflußfaktoren wie z.B. die Bedingungen des Spracherwerbs und des Muttersprachenunterrichts, das geltende Sprachenrecht und die Arten der Sprachpflege darzustellen. Da sprachliche Norm und Systemhaftigkeit, Interferenz und Transferenz sowie die Konfiguration der Sprachgebrauchssituationen als vielfach inter- dependent vorauszusetzen sind, ist auch die Erhellung dieser Korrelatio­ nen Forschungsziel der AMS. Insgesamt sind solche interlingualen Studien zum indominanten oder ko- dominanten Deutsch für das Verständnis sowohl der Sprachgeschichte als auch der Gegenwartssprache wertvoll: ersteres insbesondere von einem linguistisch historiographischen Standpunkt aus, letzteres u.a. bei Behand­ lung dieser sprachlichen Gegebenheiten als Faktoren in einem “linguisti­ schen Laboratorium” (wie sich Wissenschaftler aus den USA ausdrücken). Die Gewinnung von korrespondierend tätigen Wissenschaftlern aus In- und Ausland für solche Forschungen dürfte nach den bisherigen Erfahrun­ gen der AMS auch in Zukunft keine ernsthaften Schwierigkeiten bereiten,

* Mit dem Terminus Sprachschaft bezeichnet H. Kloss den Begriff einer durch Verwendung einer bestimmten Subsprache (funktionalen Sprachvariante) abge­ grenzten Untergruppe einer Sprachgemeinschaft.

344 zumal ein Teil der Forscher ja gerade mit solchen Sprachbedingungen lebt und auf Interesse im Wohnland rechnen kann. Mit dem Terminus Ausbaukomparatistik wird auf den von H. Kloss kon­ zipierten Begriff “Ausbau einer Sprache” Bezug genommen (vgl. Kloss H. 1952), den Kloss dann später in zahlreichen Arbeiten nach Art und Grad differenziert hat (vgl. z.B. Kloss H. 1967). Der Sache nach handelt es sich hierbei um eine komplexe Typologisierung der Sprachen, insbesondere nach deren soziokultureller Leistungskraft (realisierte sprachliche Funktionen, vorhandene Subsprachen, statistische Daten die Sprachgemeinschaft betreffend, Probleme der Verschriftung u.dgl.). Die Komparatistik soll auch andere als deutsche Sprachen und Sprachvarianten berücksichtigen (andere germanische Sprachen unter Einschluß von Pidgin- und Kreolsprachen auf englischer und niederländi­ scher Grundlage). Vorrangiges Projekt ist derzeit die Überarbeitung und Neuauflage von Kloss H. 1952. Weitere Projekte werden zu gegebener Zeit initiiert werden. Die AMS wird im Rahmen ihrer Schriftenreihe in Abständen auch eigene und fremde Beiträge zu Theorie und Methode der soziolinguistischen Sprachkontaktforschung und der Ausbaukomparatistik publizieren. Die ausbaukomparatistischen Studien sollen sich dabei insbesondere mit dem Problem der Sprachvarianten, der Sprachstandardisierung und Sprachplanung, der Verschriftung und Dialektisierung, sowie nach Mög­ lichkeit daneben später auch mit supra- und interlinguistischen Fragen befassen, d.h. mit den ortholinguistischen Problemen der funktionalen Spezialisierung historisch-natürlicher Sprachen (Deutsch als Arbeitsspra­ che in internationalen Institutionen, als “Kongreßsprache” u.dgl.). Die zentralen wissenschaftlichen Dienste umfassen, außer der Schriften­ reihe “Deutsche Sprache in Europa und Übersee”, Bibliothek, Archiv, Bibliographie und internationale Korrespondenz. (Zum Titel der Reihe vgl. die dem Katalog der Aufnahmen des Deutschen Spracharchivs zu­ grundegelegte Einteilung: Gruppe 9: “Sprachinseln (Europa)”, Gruppe 10: “Deutsche Mundarten außerhalb Europas”, vgl. Monumenta Germaniae Acustica 1965, 254-256). Die Bibliothek ist als Sonderbücherei zur interlingualen Soziolinguistik des Deutschen gedacht und als solche auch für das “Verzeichnis von Spe­ zialbeständen in deutschen Bibliotheken”, das von der Universitätsbiblio­ thek Tübingen erstellt wird, angemeldet. Da die Bibliothek Bestandteil der ehemaligen “Forschungsstelle für Nationalitäten- und Sprachfragen” (1956-71, seit 1964 in Marburg) war, hatte sie bis 1971 als thematischen

345 Schwerpunkt Fragen der Nationalitäten und sprachlichen oder ethnischen Minderheiten in Europa und Übersee. Ab 1971 liegt dieser Schwerpunkt bei soziolinguistischen und Sprachkontaktfragen der deutschen Sprache in Europa und Übersee. Die Bibliothek enthält z.Zt. ca. 5500 Bände; es existieren ein Autoren- und ein Sachkatalog. Im Archiv wird Informationsmaterial, insbesondere durch Auswertung von regelmäßig bezogenen Zeitschriften gesammelt. Der Aufbau einer einigermaßen repräsentativen Bibliographie für die For­ schungsschwerpunkte der AMS ist vorläufig nur sehr begrenzt möglich, da es aus finanziellen Gründen an den nötigen Mitarbeitern fehlt. Die AMS gibt Auskunft zu Fragen aus ihren Forschungsbereichen; gleich­ zeitig strebt sie die Koordinierung von einschlägigen Forschungsvorhaben an.

2. Überblick über den Stand der Mehrsprachigkeitsforschung und der interlingualen Soziolinguistik

2.1. Mehrsprachigkeitsforschung Mehrsprachigkeits- und Sprachkontaktforschung wird unter verschiede­ nen Aspekten betrieben, vgl. die Forschungsberichte bzw. Bibliographien Kuhn W. 1934; Weinreich U. 1953; Haugen E. 1956; Oksaar E. 1970; Mackey W.F. (Hg.) 1972; Haugen E. 1973; Rudnyckyj J.B. 1973; Clyne M. 1975; insbesondere sind eine inter- vs. intralinguale Forschung und eine sprecherindividuelle vs. sprechergruppenbezogene Forschung zu un­ terscheiden. Während die interlinguale und sprecherindividuelle Forschung im Rahmen der Vergleichenden Sprachwissenschaft und der Erforschung von Lehnbeziehungen (allerdings unter weitgehender Absehung vom Spre­ cherbezug und damit gegebenen Sachverhalten) bzw. durch Fremdspra­ chendidaktik und Übersetzungstheorie bereits eine gewisse längere Tradi­ tion haben, sind intralinguale und Gruppenmehrsprachigkeitsforschung sehr viel jünger, nämlich im wesentlichen eine Entwicklung seit den 50-er Jahren (an früheren Arbeiten wären u.a. zu nennen die Sprachkontakt- studie Schuchardt H. 1971 (Original 1884), die Arbeit zur Sprachinsel­ forschung Kuhn W. 1934, sowie die verschiedenen Beiträge zur Theorie der funktionalen Stile aus der Schule des Prager Strukturalismus: Anony­ mus 1929, Havranek B. 1932, Vancura Z. 1936, Vachek J. 1939, u.a.; zur Gruppenmehrsprachigkeit vgl. u.a. Kloss H. 1969). Sprachtheoretisch und methodologisch wirft die Multilingualismusforschung zwei Grund­ probleme auf: ein altes und ein neues; zum einen gilt es auch hier, die von Saussure in die Sprachwissenschaft eingeführte Unterscheidung der

346 Begriffe “langage”, “langue” und “parole” zu berücksichtigen; zum an­ deren aber steht mit der Sprachvariantenfrage der linguistische System­ begriff neu zur Diskussion: “Tandis que le langage est heterogene, la langue ainsi délimitée est de nature homogene: c’est un système de signes où il n’y a d'essentiel que l’union du sens et de l’image acoustique, et où les deux parties du signe sont également psychiques.” (Saussure F. de 1967, 32). Entgegen dieser Position Saussures und vergleichbaren Stel­ lungnahmen aus der strukturalen (einschließlich der generativen) Lingui­ stik ist die Ablehnung eines derartigen Homogenitätspostulates und die Forderung einer Berücksichtigung der sprachlichen Wirklichkeit in deren Heterogenität und Mannigfaltigkeit ein Grundton in den Arbeiten aus der Mehrsprachigkeitsforschung (und Soziolinguistik), vgl. z.B. Weinreich U., Labov W., Herzog M.J. 1968, 106 f.; 121-123; 125; Bright W. 1966, 11 f.; Gumperz J.J. 1968, 461; Grimshaw A.D. 1971, 116 Anm. 11; Labov W. 1971, 155; Haugen E. 1973, 510; 541; Oksaar E. O.J./1976 und o.J./1976a. Die Problematik eines derartigen Homogenitätspostulates hatte im übrigen auch bereits Bloomfield erkannt, da er die Notwendigkeit einer Korrektur der strukturalistisch durch eine (nicht weiter erörterte) “Abstraktion” gewonnenen Forschungsergebnisse betonte; freilich zog er selbst daraus keine praktischen Folgen (vgl. Bloomfield L. 1933, 42-45). Die empirische und theoretische Aufarbeitung der Heterogenitätsproble­ matik erfolgte entsprechend den beiden großen Typen von Sprachvarian- ten, 1) den geschichtlich-natürlich bedingten Dialekten (Regiolekte, Ethno- lekte und andere idiomatische Sprachvarianten), und Sprachvarianten, die im Zuge des (muttersprachlichen oder fremdsprachlichen) Sprach- erwerbs bzw. Sprachverlusts (Aphasie) auftreten (vgl. z.B. den Begriff eines “learner system” für den jeweiligen Zielsprachstand eines Sprach- schülers bei Nemser W.J. 1969; zur Aphasie vgl. das klassische Werk Jakobson R. 1941), d.h. insgesamt den geschichtlich-natürlich beding­ ten phylo- oder ontogenetischen idiomatischen Sprachvarianten, und 2) den intentional funktionalen Subsprachen (Fachsprachen, Dichtung, etc.) und sonstigen Lekten (z.T. Soziolekte, Register, etc.), durch Dialektologie bzw. Spracherwerbs- und Aphasieforschung einer­ seits und durch Subsprachenforschung und “Lektologie” andererseits. Während die Dialektologie z.B. in Deutschland “ ...so alt wie die Erfor­ schung der deutschen Sprache überhaupt...” ist (Löffler H. 1974, XI), nimmt die Subsprachenforschung (nach ersten Ansätzen in der Stilistik von Bally (z.B. Bally Ch. 1913)) im wesentlichen ihren Anfang mit den Überlegungen zu einer Typologie funktionaler Stile in den Arbeiten des

347 Cercle Linguistique de Prague (d.h. mit Anonymus 1929) und wird auch in der Gegenwart in puncto Theorie und Methodologie (abgesehen von der US-amerikanischen Linguistik, die hier nicht zuletzt durch die Ein­ wanderung von Repräsentanten der Tradition des Prager Linguistenkrei­ ses nachhaltig befruchtet wurde (Roman Jakobson!)) besonders von Lin­ guisten aus der Cechoslovakei gepflegt; die empirische Subsprachenfor­ schung ist eine Domäne der Linguistik in den Vereinigten Staaten. Aus und zusätzlich zu der in Oksaar E. 1970; Mackey W.F. (Hg.) 1972; Haugen E. 1973; Rudnyckyj J.B. 1973 und Clyne M. 1975 referierten hier einschlägigen Literatur sei noch insbesondere auf folgende Arbeiten hingewiesen: als Einführung in die Dialektologie Löffler H. 1974; als Überblick über die amerikanische Dialektologie Gregory M. 1967; zur dialektologischen Phonologie mit einem Beispiel für scheinbar asystema- tischen Wechsel zwischen Standardartikulation und Variantenartikulation Veith W.H. 1971; als methodologisch interessante Arbeit zum Problem von Sprachvariante und Bedingungen der Sprachgebrauchssituation Rein K.L., Scheffelmann-Mayer M. 1975; zur soziolinguistischen Sprachvarian- tenthematik vgl. die Sammelbände Fishman J.A. (Hg.) 1971 und 1974, die Studie zur Englischvariante der Neger und Puertoricaner von New York (City) Labov W., Cohen P., Robins C., Lewis J. 1968, die Arbeit zu Interferenz und Transferenz im Rahmen einer soziolinguistischen Theorie der Interaktion mit durch letztere bedingten, nach Interferenz-/ Transferenzgrad und -art verschiedenen Sprachvarianten Oksaar E. o.J./ 1976, sowie Oksaar E. o.J./1976a mit einer weiteren Spezifizierung der Interferenz- und Transferenzbedingungen; eine zusammenfassende Be­ schreibung eines größeren Projekts zur soziolinguistisch orientierten Kontaktlinguistik gibt Oksaar E. 1972a: in dem Projekt soll die Wechsel­ wirkung sprachlicher und sozialer Faktoren im Integrationsprozeß von Auswanderern und Umsiedlern sowie deren Auswirkungen auf die Erst­ und Zweitsprache (Estnisch vs. Englisch, Deutsch vs. Schwedisch) unter­ sucht werden. Eine insbesonders terminologisch informative Studie zur deutschsprachigen Variantenforschung ist Rossipal H. 1973. Einen guten Überblick über die in der britischen Linguistik übliche Unterscheidung “register” vs. “dialect” (“variety according to users” vs. “variety accor- ding to use” (Halliday M.A.K. 1968, 141)) gibt Hess-Lüttich E.W.B. 1974. Eine wichtige Bereicherung der Sprachvariantentheorie und der einschlägigen empirischen Forschung bringt Kloss H. 1952 mit dem Be­ k iff einer “Ausbausprache”, der insbesondere auf die soziokulturelle Leistungskraft einer Sprache Bezug nimmt; eine Differenzierung nach Art und Grad dieses “Ausbau”-Begriffes findet sich in Kloss H. 1967, eine weitere theoretische Diskussion des Begriffs einer “Ausbausprache”

348 rnit seiner Anwendung in der empirischen Forschung bringt Auburger L. 1976. Unter den Subsprachen sind neben Soziolekten noch am besten bearbeitet die Fachsprachen, vgl. die Bibliographien Barth E. 1971 und Wüster E. 1974. Einen knappen Überblick über die Fachsprachenthema- tik bieten Möhn D. 1973 und Hahn W. v. 1973; die Theorie der funktiona­ len Stile in der Tradition des Prager Strukturalismus wird, was Fachspra­ chenprobleme anbelangt, insbesondere von Benes gepflegt, vgl. z.B. Benes E. 1971 und, verknüpft mit Problemen der Fremdsprachendidaktik, BeneS E. 1969. Die definitorische Abgrenzung von Fachsprachen gegen Soziolekte betont Auburger L. 1975. Ein verhältnismäßig wenig erforsch­ ter Typ von Subsprache ist die religiöse Sprache, vgl. Biser E. 1972; Kowalski J.W. 1973; Grabner-Haider A. 1975. Zum Problem der Sprach- variation durch soziologische Faktoren im Zuge des Spracherwerbs vgl. Bernstein B. 1964 und 1967 mit den populär gewordenen Termini ela­ borated code vs. restricted code; zum Spracherwerb in zweisprachiger Umgebung vgl. Oksaar E. 1971; 1972; 1973. Die Mehrsprachigkeitsforschung ist so gut wie jede andere linguistische Disziplin mit dem Problem einer Berücksichtigung des Saussureschen Begriffstripels “langage, langue, parole” konfrontiert. Dies zeigt sich be­ reits bei einem der zentralen Begriffe, nämlich jenem der “Interferenz” : “ In speech interference is like sand carried by a stream; in language, it is the sedimented sand deposited on the bottom of a lake. The two phases of interference should be distinguished. In speech, it occurs anew in the utterances of the bilingual speaker as a result of his personal knowledge of the other . In language, we find interference phenomena which, having frequently occured in the speech of bilinguals, have become habi- tualized and established. Their user is no longer dependent on bilingualism.” (Weinreich U. 1953, 11). Weinreichs Unterscheidung zwischen “interference in speech” vs. “ interference in language” terminologisierte Clyne M.G. 1967 m it interference vs. transference bzw . Interferenz vs. Transferenz (Clyne M.G. 1975, 16). Auf zwei für die empirische Interferenzforschung wichtige methodologische Punkte machte Oksaar E. 1969, 148 aufmerk­ sam: erstens, ebenso wie bei einem monolingualen Sprecher können auch bei einem bilingualen Sprecher sprachliche Fehlleistungen in außersprach­ lichen Faktoren ihre Ursache haben, also nicht direkt durch die Mehr­ sprachigkeit ausgelöst sein; zweitens, die empirische Bestimmung einer Interferenz im Unterschied zu einem Sprachsystemwechsel (code switching) dürfte in gewissen Fällen erhebliche methodologische Schwierigkeiten be­ reiten. An derselben Stelle wirft E. Oksaar auch ein mit dem Begriff einer Transferenz zusammenhängendes wichtiges theoretisches Problem auf, das auf die Genese eines Transferenzphänomens zielt: die transferentielle

349 Übernahme einer linguistischen Einheit aus einer Sprache A in eine Spra­ che B setzt für den ersten transferentiellen Gebrauch dieser Einheit in Sprache B eine “Quasi-Existenz” dieser linguistischen Einheit in B voraus. Für die Diskussion dieses Problems ist zunächst festzustellen, daß Trans- ferenz nur post factum erkannt werden kann (so, wie die “langue”-Wis- senschaft ja generell eine “ergon-”Wissenschaft im Sinne jener berühmten Unterscheidung von W.v. Humboldt zwischen Sprache als “energeia” und Sprache als “ergon” ist). Der Gebrauch einer transferierten, linguistischen Einheit ist dann, nach vollzogener Transferenz, ein anderes Problem. Die Frage nach dem Anfang in der Genese transferentieller Phänomene ist prinzipiell unbeantwortbar, weil die prospektive Frage einer Genese hier generell nicht auftritt. Andererseits wird man sicher im Hinblick auf wich­ tige pragmatische Bezüge der Interferenz verschiedene Grade einer solchen, mit verschieden starker Habitualisierung, sowie hinsichtlich der Transfe­ renz ein sprachschöpferisches Moment in Rechnung stellen und entspre­ chende Situationsanalysen, insbesondere sozio- und psycholinguistischer bzw. historischer Art durchführen müssen. Die Frage nach der Genese von Transferenz berührt eines der permanenten Vexierprobleme der Lin­ guistik, nämlich das Verhältnis von Sprachgebrauch und Sprachbrauch zur Sprachnorm als immanenter Regel (vgl. hierzu Moser H. 1967, 18-21). In der englischsprachigen Literatur wird die Diskussion solcher Probleme noch dadurch kompliziert, daß der Terminus language nicht nur im Sinne der Saussureschen Termini langue und langage (entweder alleine für erste- ren oder für beide gemeinsam) verwendet wird, sondern auch zur Bezeich­ nung eines sowohl sprachkorpusbezogenen als auch sprachstatusbezoge- nen Begriffes, wie etwa Hochsprache in der germanistischen Terminolo­ gie; language wird dann dialect u.a. zur Bezeichnung eines “hohen” Status vs. “niederen” Status gegenübergestellt (zu den Begriffen “Sprachkorpus” und “Sprachstatus” vgl. die durch Kloss H. 1969, 81 eingeführte Unter­ scheidung zwischen “language corpus planning” und “language status planning” ; diese Unterscheidung wurde z.B. auch von Fishman J.A. 1974, 18 f. aufgegriffen). Eine weitere terminologische Besonderheit bei diesem Gebrauch von language und dialect besteht darin, daß sie leicht mit kon- notativen Bedeutungskomponenten gebraucht werden, wobei dialect mehr oder weniger pejorativ ist. Haugen E. 1966, 68 lehnt dialect als wissenschaftlichen Terminus daher ab. Haugen E. 1966a, 47 sieht in der language vs. i/m/ecf-Dichotomie ein Pseudoproblem, da das eigentliche Problem die Sprachvariantenfrage, angefangen bei “the individual speech” bis “the speech of a nation” und “the speech of a world” ist. Einen guten Überblick über diese Terminologiediskussion gibt Fishman J.A. 1971a, 226-228: ebenso wie Haugen fodert Fishman mit Nachdruck konnotations-

350

i freie Termini: variety generell für Sprachvarianten, regional variety, social variety (sociolect) für regional bzw. soziolinguistisch abgrenzbare Sprach­ varianten; die Ausdrücke dialect und language als konnotativ statusbezo­ gene Termini will Fishman hingegen nur insoweit sie zur Objektsprache gehören berücksichtigen: “The sociology of language is interested in them (den beiden Ausdrücken dialect und language (L.A.)) only in so far as members of speech communities contend over which is which, and why.” (Fishman J.A. 1971a, 228). Unerläßlich für die Mehrsprachigkeitsforschung ist die Klärung des Be­ griffes "Mehrsprachigkeit” selbst; die Wichtigkeit einer ausgewogenen Definition ergibt sich sowohl aus Erfordernissen der Theorie als auch der Praxis, letzteres sowohl hinsichtlich der individuellen als auch der Grup­ penmehrsprachigkeit, wo die Testverfahren zur Situationsbestimmung von der Begriffsdefinition abhängen (vgl. Oksaar E. 1976a). “ Bilingualism is not a phenomenon of language; it is a charac­ teristic of its use. It is not a feature of the code but of the message. It does not belong to the domain of ‘langue’ but of ‘parole’ ” (Mackey W.M. 1968, 554). Diese Definition ist unbefriedigend, da sie Fragen nach den Sprachsystemverhältnissen ausschließt. Mackey W.F. 1968, 555 f. führt sodann für die sprecherindividuelle Bilingualismusforschung folgende Problemstellungen an: 1) Grad der Sprachbeherrschung; 2) Sprachfunk- tionen und Sprachgebrauchssituationen; 3) Art und Bedingungen des Sprachwechsels; 4) Interferenzphänomene. Nun ist aber gerade bei Fra­ gen des Sprachwechsels auch die Untersuchung der Sprachsystemverhält­ nisse von Interesse und dies sowohl bei inter- als auch bei intralingualem Sprachwechsel; insbesondere ist zu klären, ob und inwieweit die betref­ fenden Sprachen bzw. Subsprachen selbst sprachsystematisch korreliert sind (vgl. den Begriff eines “hypersystems” in Pike K.L. 1967, 583 ff., eines “interconnected system of subcodes” in Jakobson R. 1960, den Hinweis auf die Relevanz eines metasprachlichen Verhältnisses zu Aus­ gangs- und Zielsprache in Jakobson R. 1956 (“ Loss of a polyglot ability and confinement to a single dialectal variety of a single language is a symptomatic manifestation of this disorder.”, nämlich des “loss of metalanguage” (ebd., 68)) oder den Begriff einer “ ...‘code matrix’ as the set of codes and subcodes functionally related to the communication matrix” in Gumperz J.J. 1968, 464 (Original 1962); der Terminus code m atrix wurde dann in Gumperz J,J. 1964 ersetzt durch verbal repertoire für “ ...the totality of linguistic forms regularly employed in the course of socially significant interaction...” (ebd., 137); (im gleichen Sinn in Gumperz J.J. 1966, 31))-

351 Eine Berücksichtigung der Fragen nach dem sprachlichen System ist auch bei Gruppenmehrsprachigkeit unerläßlich: Problemstellungen der kontrastiven Linguistik, der Ortho- und Interlinguistik, der Übersetzung und generell die Aufgaben eines Multikulturalismusprogramms mit den durch Sprachloyalität, Forderung nach interlingualem Sprachwechsel und sprecherindividuelle Mehrsprachigkeit gegebenen Schwierigkeiten verlangen eine linguistische Vorabklärung der sprachlichen Systemver­ hältnisse nach Art und Grad, da nur unter Voraussetzung einer solchen sprachaxiologische Fragen sinnvoll diskutiert werden können (über wich­ tige Variablen der Sprachaxiologie informiert Kloss H. 1974). Auf Grund der Komplexität der mit dem Begriff “Mehrsprachigkeit” erfaßten Phänomene läßt sich dieser, was das Saussuresche Begriffstripel anbelangt, am besten “langage” zuordnen und ist dann analog zu “langue” und “parole” weiter zu differenzieren. Was den wissenschaftstheoretischen Status des Begriffes “Mehrsprachigkeit” anbelangt, so ist er sicher nicht klassifikatorisch, sondern typologisch und stufbar zu behandeln (vgl. Haugen E. 1973, 507 f.). Was die methodologische Seite der Mehrsprachigkeitsforschung anbelangt, so gilt hier im Hinblick auf die dargelegte Komplexität der zugehörigen Phänomene ganz besonders die Feststellung von Fishman J.A. 1971a, 256; 258: “It would be foolhardy to claim that one and the same method of data collection and data analysis be utilized for such a variety of problem! and purposes. It is one of the hallmarks of scientific social inquiry that methods are selected as a result of problem specifications rather than independently of them.” Sprachkontaktphänomene verlangen, wenn es sich um Transferenz handelt, eine genauere strukturale Betrachtung des Sprachkorpus (so sind die Studien der kontrastiven Linguistik gerade für Transferenz-, nicht aber ohne weiteres für Interferenzprobleme von Rele­ vanz), handelt es sich um Interferenz, so sind insbesondere Methoden der Psycholinguistik und Spracherwerbsforschung anzuwenden, handelt es sich um absichtlichen Sprachwechsel, so ist eine detailliertere Analyse der Situation, in welcher der Sprachwechsel stattfindet, zu geben (Ge­ sprächspartner: persönliche Merkmale, Intentionen, Vorbereitung auf und für das Gespräch, Sprecherzahl, Häufigkeit und Art des Sprecher­ wechsels (zu den Intentionen vgl. die Unterscheidung eines “normativen” und eines “rationalen” Sprecherverhaltens (“normative action” vs. “ra­ tional action”) in Oksaar E. O.J./1976, wobei im ersten Fall der Sprecher die Normen einer bestimmten Sprache zu beachten trachtet, im zweiten Fall mit Rücksicht auf die Sprechsituation auch verschiedene Arten von Sprachwechsel praktiziert), Gesprächsthema, Interaktions- und Interpre­ tationsregeln (z.B. bezüglich des Öffentlichkeitsgrades des Gesprächs),

352

a sonstige äußere Umstände (zum elfteiligen Katalog von Merkmalen zur Beschreibung von Sprachgebrauchssituationen, den die Freiburger For­ schungsstelle des IdS verwendet, vgl. Deutrich K.H., Schank G. 1973, und Bausch K.H. 1973; Rein K.L., Scheffelmann-Mayer M. 1975, 263 f. ergänzen diesen Katalog um ein Merkmal, das den “formalen Charakter der Situation" erfassen soll); handelt es sich um Gruppenmehrsprachig­ keit, so ist insbesondere auch mit interlingual soziolinguistischen Metho­ den zu arbeiten: es sind der sprachenrechtliche und sprachpolitische Rah­ men, Institutionen der Sprachvermittlung (Schulwesen) und des öffent­ lichen Sprachgebrauchs (Massenmedien, Buchmarkt) darzustellen, demo­ graphische Daten der fraglichen Sprechergruppe sind zu erheben, Sprach­ gebrauchssituationen sind zu analysieren, Angaben zur Sprachloyalität sind zu machen, u.a.m. (vgl. auch Haugen E. 1953, 319-336, wo u.a. auf die Notwendigkeit einer Variierung der Dialekte bei gleichen soziologi­ schen und geschichtlichen Verhältnissen in der Sprechergruppe, sowie einer Variierung letzterer Verhältnisse bei gleichem Dialekt hingewiesen wird, wenn die Auswirkungen von Sprachkontakt bestimmt werden sol­ len (ebd., 320)). Bei all diesen qualitativen, relationalen und quantitativen Verfahrens­ weisen ist darauf zu achten, daß im Rahmen von spezifisch sprachwissen­ schaftlichen Unternehmungen die Sprachverhältnisse die abhängigen Variablen bleiben: Gegenstand der Forschung sind Sprachen (langage) in ihren systematischen und asystematischen Zügen, d.h. insbesondere als “langue" und als “parole”, hinsichtlich ihrer Leistungen und Funktio­ nen, sowie schließlich in ihrer vielfältigen Bedingtheit. Eine unumgäng­ liche Komplizierung dieser Situation ergibt sich weiterhin daraus, daß die Sprachen auf verschiedenen segmentativen (bzw. “komplektiven”) sprachlichen Ebenen zu erforschen sind: dies sowohl korpuslinguistisch (Phonologie und Phonetik, Morphologie, Syntax; Lexikologie; Textlin­ guistik, jeweils allgemein für alle Subsprachen) als auch funktionslingui­ stisch (Subsprachen und deren Beziehungen zueinander; Ausbaukompara­ tistik). Schließlich wird Mehrsprachigkeitsforschung in vielen Fällen auch inter­ disziplinär vorgehen müssen, um zu brauchbaren Resultaten zu gelangen. 2.2. Soziolinguistik “Sociolinguistics is a hybrid discipline with a short and largely atheoretical history.” (Grimshaw A.D. 1971, 135). Ein augenfälliges Symptom hierfür ist die anhaltende Diskussion um die Selbstbezeichnung dieser Disziplin(en): insbesondere konkurrieren die Term ini Soziolinguistik (sociolinguistics) und Sprachsoziologie (auch

353 Soziologie der Sprachen) (sociology o f langugage); zur Terminologie vgl. z.B. Bright W. 1966, 11, wo u.a. auf Currie H.C. 1952 als frühe Verwen­ dung von socio-linguistics hingewiesen wird; vgl. ferner Pride J.B. 1970, 287 f. und Sieger H. 1973, 245 f. Fishman bewertet die Differenz zwischen “sociolinguistics” und “socio­ logy of language” als gering gegenüber den Gemeinsamkeiten: “Both are concerned with the interpenetration between societally patterned variation in language usage and variation in other societally patterned behavior, whether viewed in intra-communal or in inter-communal perspective.” (Fishman J.A. 1971, 8). Fishman lehnt letztlich diese Unterscheidung, soweit eine Differenzierung in Einzeldisziplinen intendiert ist, ab und sieht in der “sociolinguistics” eine Spezialdisziplin der “sociology of language” :‘All in all then, the sociology of language is con­ cerned with language varieties as targets, as obstacles and as facilitators, and with the users and uses of language varieties as aspects of more encompassing social patterns or processes.” (ebd., 9). ln Bezug auf die Segmentation des Forschungsgegenstandes können die Untersuchungen hierbei je nach Erfordernis zwischen maximaler und minimaler Komplexion bzw. Segmentation (Makro- vs. Mikrosoziologie; Unterscheidung verschiedener linguistischer Ebenen) variieren (ebd., vgl. auch Fishman J.A. 1971a, 241-250); die Sprachsoziologie ist damit z.T. auch eine weitere “Bindestrichsoziologie”, wie es z.B. “Organisationsso­ ziologie”, “Wissenssoziologie” , “Betriebssoziologie” , “Religionssoziologie” , “Rechtssoziologie”, “Gemeindesoziologie” etc. sind. Forschungsgegen­ stand sind für Fishman sowohl die Einzelsprachen und Sprache als solche, je in Abhängigkeit von soziologischen Faktoren, als auch soziale Bezie­ hungen, Gebilde, Verhaltensweisen o.dgl. in Abhängigkeit von sprachwis­ senschaftlichen u.a. Variablen. Neben der Variierung auf der Komplexions-/ Segmentationsskala (Makro- bis Mikrosoziologie bzw. -linguistik) und neben dem Wechsel zwischen Sprache(n) als abhängige vs. unabhängige Variablen kommt als eine dritte allgemeine Variable die Unterscheidung zwischen intra- vs. interlingualer Forschung bzw. deren soziologischen Entsprechungen hinzu, d.h. die Beschränkung auf eine einzige Sprache bzw. Sprechergruppe (zu letzterem vgl. Fishman J.A. 1971, 8: intra-com­ munal vs. inter-communal) oder die Erforschung mehrerer Sprachen bzw. Sprechergruppen, die in bestimmter, soziologisch relevanter Weise korre­ liert sind. Auf Grund der zweiten vorstehend erwähnten allgemeinen Variable hat die “sociology of language” Fishmans einen ausgesprochen interdisziplinären Charakter (dies wurde im übrigen auch bereits von Weinreich U. 1953, 3-5 für die Erforschung des “psychological and socio­ cultural setting of language contact” festgestellt). Eine vierte allgemeine

354 Unterteilung der “sociology of language", die ebenfalls den interdiszipli­ nären Charakter dieser Forschungen zeigt, ergibt sich aus Fishmans Dif­ ferenzierung in “descriptive sociology of language” vs. “dynamic socio­ logy of language”: descriptive sociology of language., seeks to answer the question ‘who speaks (or writes) what language (or what language variety) to whom and when and to what end?’ ” (Fishman J.A. 1971a, 219). Diese für die “sociology of language” programmatische Fragestellung ist gegenüber jener in Fishman J.A. 1965 formulierten (“Who speaks what language to whom and when?”) bereits komplexer, läßt sich aber noch durch die beiden Variablen “where” und “about what” ergänzen. Das daraus resultierende allgemeine Forschungsprogramm wäre ein Programm eigentlich für die gesamte Sprachwissenschaft (im Sinne einer Wissenschaft des “langage” Saussures): “what language”: Variable über den Bereich des sprachlichen Korpus (im Sinne von H. Kloss); die “Korpuslinguistik” ent­ spräche etwa der “eigentlichen” Linguistik; “to what end”: Variable über den Bereich der intendierten sprachli­ chen Funktionen; Erforschung insbesondere auch der intentional funktionalen Subsprachen; “who to whom”: Variable über den Bereich der Sprecher bzw. Sprecher­ gruppen; “when and where” : Variable über den Bereich der ereignismäßigen bzw. lokalen Sprachgebrauchssituationen; Erforschung von Regiolekten; “about what”: Variable über den Bereich des Gesprächsthemas; z.T. auch Fragestellungen der “Stilistik”.

Der spezifisch soziolinguistische Aspekt käme nun dadurch zustande, daß diese Fragepronomina, die kalkültheoretisch als Gegenstandsvariablen zu betrachten sind, mit dem zugehörigen (mehrstelligen) Grundprädikat “speaks” im Rahmen einer soziologisch orientierten Fragestellung durch Konstanten ersetzt werden und letztere durch soziologisch orientierte Kategorien als Funktionskonstanten weiter bestimmt werden. “...dynamic sociology of language... seeks to answer the question what accounts for different rates of change in the social organization of language use and behavior toward language?” (Fishman J.A. 1971a, 219). Zusammenfassend läßt sich die “sociology of language” Fishmans dem­ nach wie folgt gliedern:

355 1) abhängige Gegenstandsvariable (GV) über den Bereich der Sprache(n) und unabhängige Gegenstandsvariable über den Bereich soziologisch orientierter Objekte vs. unabhängige GV über den Bereich der Spra­ chein) und abhängige GV über den Bereich soziologisch orientierter O bjekte; 2) Makro- vs. Mikrosprachsoziologie (mit Zwischenstufen); 3) synchrone (“deskriptive”) vs. diachrone (“dynamische”) Sprachsozio­ logie; 4) intralinguale vs. interlinguale bzw. Sprechergruppen isolierende vs. Sprechergruppen korrelierende Sprachsoziologie.

Die Soziolinguistik ließe sich dann dahin charakterisieren, daß in obigem Punkt 1 die abhängigen Variablen in dem auf Seite 353 ausgeführten Sinn über den Bereich der Sprache(n) laufen, die Punkte 2 und 3 uneinge­ schränkt zutreffen und betreffs Punkt 4 die Alternative intralingual vs. interlingual gilt. In den Rahmen einer solchen Soziolinguistik fügen sich auch die Überlegungen von Hymes Dell 1967, 13 ein, wo die intendierte Soziolinguistik “the ethnography of speaking” (Hymes Dell H. 1968) als “... a study of speaking that seeks to determine the native system and theory of speaking; whose aim is to describe the communicative compe­ tence that enables a member of the community to know when to speak and when to remain silent, which code to use, when, where and to whom, etc.” umrissen wird. Auch Labovs “Study of Language in its Social Con­ text” (Labov W. 1971) läßt sich in eine so bestimmte Soziolinguistik einordnen: der Schwerpunkt liegt hier bei einer intralingualen Mikro­ soziolinguistik; vgl. z.B. die exemplarische Studie Labov W. 1966, wo bestimmte phonetische Merkmale auf ihre sozialschichtenmäßig signifi­ kante Realisation bei einem bestimmten Teil der Stadtbevölkerung von New York hin untersucht werden. Labov hat gewisse Schwierigkeiten mit der Abgrenzung der “sociolinguistics” von der “general linguistics”, und er hält sociolinguistics für “... an oddly redundant term...” (Labov W. 1971, 152); der Grund hierfür ist in Labovs These zu sehen, daß “Language is a form of social behavior...” (ebd.). Diese These ist in ihrer Allgemein­ heit, soll sie nicht als Nominaldefinition (von language u n d /o d er social) genommen werden, falsch. Einerseits vernachlässigt sie (wegen “behavior”) den “ergon”-Aspekt der Sprache, d.h. insbesondere das objektive Sprach­ system, andererseits ignoriert sie wegen ihres definitorischen Charakters die Fülle sprachlicher Funktionen, vgl. hierzu z.B. Kainz F. 1962, 172- 266, wo an primären Sprachfunktionen eine dialogische und eine mono­ logische Funktion und an sekundären Sprachfunktionen eine ästhetische, eine ethische, eine magisch-mythisch-religiöse und eine logisch-alethische

356 Funktion unterschieden werden; von den beiden primären Sprachfunk- tionen wird bei einer jeden Sprachäußerung entweder die eine oder die andere erfüllt. Wenn auch Kainz F. 1962, 172 das dialogische Moment als wichtigste Leistung der Sprache hervorhebt, so ignoriert er doch nicht die monologische Funktion und den Bereich der von ihm so klassifizierten “sekundären Funktionen” ; vgl. ferner das “Organon-Modell” in Bühler K. 1965, 28, wo dem sprachlichen Zeichen die drei Funktionen “Ausdruck” (Sender-Zeichen-Bezug), “Apell” (Empfänger-Zeichen-Bezug) und “Dar­ stellung” (Gegenstand-bzw.Sachverhalt-Zeichen-Bezug) zugeordnet sind. Für den gegebenen Diskussionszusammenhang von entscheidender Wich­ tigkeit ist Bühlers Feststellung, daß diese drei “Sinnbezüge” weitgehend unabhängig variabel sind (ebd., 28). Der Terminus Soziolinguistik ist da­ her durchaus nicht pleonastisch. 2.3. Wissenschaftsgeschichtliches zur interlingualen Soziolinguistik Es ist sicher kein Zufall, daß gerade in Vielvölkerstaaten mit Gruppen­ mehrsprachigkeit soziolinguistische Sprachkontaktforschung gepflegt wird. Noch für die Verhältnisse in der österreichisch-ungarischen Doppel­ monarchie sei hier an den Grazer Romanisten Hugo Schuchardt (zunächst Professor in Halle (1873), dann in Graz (1876-1900)) und dessen Ab­ handlung über slavo-deutsch-italienische Sprachkontakte (Schuchardt H. 1884) erinnert; zudem publizierte er zahlreiche Studien zur Mischspra­ chenbildung und Kreolisation (z.B. Indoportugiesisch, Malaioportugie- sisch u.a.). In Nordamerika und der UdSSR sind ausgiebige Forschungen auf dem Gebiet der interlingualen Soziolinguistik zumindest für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg eine Selbstverständlichkeit. Auf die bekannteren dieser Unternehmungen wird nachstehend kurz hingewiesen. Zur For­ schungssituation in Frankreich hoffen wir später berichten zu können. Für die USA sind u.a. Fishman, Ferguson und Gumperz zu nennen (vgl. Fishman J.A. (Hg.) 1966; 1971; 1974; Ferguson C.A. 1959; Gumperz J.J. 1967; Gumperz J.J., Hymes D. (Hgg.) 1972); Fishman gibt seit 1974 das International Journal of the Sociology of Language (The Hague, Paris) heraus (General Editor; zu den Mitherausgebern gehört auch H. Kloss), Ferguson ist der Gründer des Center for Applied Linguistics in Washington, D.C.; ab 1962 gab er die “Contrastive Structure Series” heraus (die Arbeiten für dieses Projekt, das eine Beschreibung der Überein­ stimmungen und Differenzen zwischen Englisch einerseits und Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch bzw. Russisch andererseits zum Ergeb­ nis haben sollte, waren bereits 1959 unter der Ägide des Center for Applied Linguistics aufgenommen worden; die ersten beiden Bände er­ schienen 1962 (Englisch-Deutsch-Kontrastierung); zur Kritik an diesem

357 Projekt vgl. Nickel G., Wagner K.H. 1968, 239 ff.: da eine allgemeinere Theorie kontrastiver Linguistik fehlte und auch keine breit durchgeführ­ ten Detailstudien je zu Basis- und Zielsprache Vorlagen, blieben die Ergeb­ nisse unbefriedigend). Für Kanada sind insbesondere die Forschungen am Centre international de recherche sur le bilinguisme (CIRB/ICRB) in Quebec zu erwähnen, das sich u.a. auch mit sprachsoziologischen Proble­ men einschließlich von Sprachenrechtsfragen befaßt; vgl. z.B. die von H. Kloss initiierten und mitgeleiteten Projekte “The written languages of the world: a survey of the degree and modes of use” und “Linguistic composition of the nations of the world”). Für die UdSSR sei zunächst auf die Bibliographie Girke W., Jachnow H. 1974 hingewiesen. Eine zen­ trale soziolinguistische Forschungsstätte ist der “Sektor sociolingvistiki” des “Institut jazykoznanija Akademii nauk SSSR” (Soziolinguistische Abteilung des Instituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissen­ schaften der UdSSR). Abteilungsleiter ist Ju.D. Deseriev, von den Mitar­ beitern ist insbesondere A.D. Svejcer zu erwähnen, der sich auch mit der amerikanischen Soziolinguistik auseinandergesetzt hat (Svejcer A.D. 1971). DelSeriev ist (1975) auch Präsident des “Naufnyj sovet po kompleksnoj probleme ‘Zakonomernosti razvitija nacional ‘nych jazykov v svjazi s razvitiem socialistiieskich nacij’” (Wissenschaftlicher Rat für das komplexe Problem “Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung von Nationalsprachen im Zusammenhang mit der Entwicklung sozialistischer Nationen”). Die sozio- linguistischen Publikationsvorhaben des Instituts für Sprachwissenschaft der AN SSSR umfassen sowohl theoretische als auch empirische Studien (u.a. auch in Entwicklungsländern). Eine zweite zentrale Forschungsstel­ le für Fragen der Soziolinguistik, speziell der interlingualen Richtung, ist das N.N. Miklucho-Maklaj-Institut (der AN SSSR) für Ethnographie. Hier werden speziell Nationalitätenfragen und damit zusammenhängende soziolinguistische Probleme untersucht. An interlingual soziolinguistischen Publikationen seien für die Sovetunion DeSeriev Ju.D. 1958; 1966; 1971; De^eriev Ju.D., Proifenko J.F. 1968; Mladopis’mennye jazyki 1959, Lewis E.G. 1972 und Russkij jazyk 1974 erwähnt. Vergleichbare Studien aus der Bundesrepublik Deutschland sind noch verhältnismäßig recht jungen Datums; an deutschsprachigen Arbeiten wären hier für die Situation in Europa insbesondere D^csy Gy. 1973, Haarmann H. 1975 und die beiden Bände der “Festschrift Heinz Kloss” (Sprachen und Staaten 1976) zu nennen. Was soziolinguistische Sprachkontaktstudien speziell des Deutschen an­ belangt, so sind mit Thierfelder F. 1956/57, Fausel E. 1959 und der von H. Moser herausgegebenen Sonderreihe der Duden-Beiträge “Die Beson­ derheiten der deutschen Schriftsprache im Ausland”, Mannheim 1962 ff.,

358 bereits gewisse Vorarbeiten geleistet. Daß an der Thematik Interesse be­ steht, zeigen auch kleinere Beiträge wie z.B. Roche R. 1973; Wildgen W. 1975 oder PovejäSil J. 1975. Für 1976 ist eine größere Arbeit von K. Rein über deutsche Sprachinseln täuferischen Ursprungs in den USA angekün­ digt (Rein K. 1976).

3. Arbeits- und Forschungsergebnisse der AMS

Nachstehend werden die wichtigsten Arbeiten und Forschungsergebnisse, die von der AMS direkt oder im Zusammenhang mit ihr erarbeitet und publiziert worden sind, aufgeführt und in Form von Zusammenfassungen dargestellt. Kloss H. 1971 bringt einen knappen geschichtlichen Abriß der deutschen Sprache als Mutter-, Zweit- und Fremdsprache in den USA. Deutsch als Muttersprache wird hierbei danach unterschieden, ob es Muttersprache von Einwanderern oder von bereits in den USA Geborenen ist (“immi- grant” vs. “indigenous”); der Begriff “Zweitsprache” (“second language”) wird so definiert, daß eine Zweitsprache keine Muttersprache ist, aber in einem sehr hohen Maße beherrscht wird und in bestimmten Sprachge­ brauchssituationen konstant verwendet wird; der Begriff einer “Fremd­ sprache” ist eine Residualkategorie zu “Mutter-” und “Zweitsprache”. Am Schluß der Arbeit werden mögliche Forschungsvorhaben skizziert. Kloss H. 1971a enthält Diskussionsbeiträge zum Thema; folgende zwei Diskussionspunkte sind hier besonders herauszuheben: zum einen die Frage nach Sinn und Wert von Mehrsprachigkeit in der Kombination Mutter- mit Zweitsprache, im gegebenen Fall Standarddeutsch vs. Ame­ rikanisch-Englisch bzw. deutscher Dialekt vs. Standarddeutsch vs. Ameri- kanisch-Englisch, zum anderen der forschungsmäßige Stellenwert von korpuslinguistischen Arbeiten für den Sprachunterricht. G.G. Gilbert und H. Kloss sehen für die USA als Staatswesen und Gesellschaft einen Ge­ winn darin, daß die gegebenen Chancen, solche mehrsprachigen Angehö­ rigen zu haben, fruchtbar gemacht werden; zumal da Amerikanisch-Eng­ lisch höchstens in Spanisch gebietsweise eine ernsthafte Konkurrenz erfährt. Der Gewinn zeigt sich sowohl im Kontakt mit anderen Nationen als auch im Zusammenleben der ethnischen Gruppen eines multinationa­ len Staates. J. Eichhoff sieht diesen Gewinn nicht, da der Aufwand bei der Realisierung groß sei; stattdessen befürwortet er den amerikanisch­ englisch monolingualen Sprecher mit Deutsch als Fremdsprache. B. Reeves betont die Dringlichkeit korpuslinguistischer Studien über die deutschen Sprachvarianten in den USA für den Deutschunterricht in den Schulen und an den Universitäten mit einer muttersprachlich deutschen Zielgrup-

359 pe, da effektive linguistische Curricula eine zuverlässige korpuslinguisti­ sche Erarbeitung der betreffenden Sprache notwendig voraussetzen. Mit Rücksicht auf eine breite Verwendungsmöglichkeit dieser Forschungser­ gebnisse hinsichtlich der Vielzahl deutscher Sprachvarianten in den USA schlägt B. Reeves vor, die jeweils untersuchten Sprachvarianten von vor- neherein mit dem Standarddeutschen zu konfrontieren, da ein Teil der Forschungsergebnisse dann für alle Varianten relevant sein wird und Be­ sonderheiten mit geringerem Aufwand berücksichtigt werden können als bei nicht komparatistischem Vorgehen; eine Korrelierung der Sprach­ varianten mit dem Standarddeutschen ist auf jeden Fall nötig, da letzte­ res Zielsprache des Unterrichts ist. Kloss H. 1972 ist ein Beitrag zur Typologie multinationaler Staaten und zur mit letzteren verbundenen politologischen und völkerrechtlichen Problematik. Insbesondere werden auch die Differenzen zwischen einem zweisprachigen und einem mehr als zweisprachigen multinationalen Staat herausgearbeitet, da diese in der staatlichen Praxis erhebliches Gewicht haben: bei mehr als zweisprachigen Staaten läßt sich eine totale rechtli­ che Gleichstellung der betreffenden Sprachen nur schwer oder gar nicht mehr praktizieren. Im Anhang werden u.a. die Termini Amtssprache (Amtssprache des Staates B vs. Amtssprache im Staate B), Nationalspra­ che und Arbeitssprache erläutert: “Amtssprachen” sind Sprachen der politischen Administration (der zentralen (“Amtssprache des Staates” : allein- oder kodominante Sprachen) oder einer regionalen (“Amtssprache im Staat”)). “Nationalsprachen” sind indominante Sprachen mit einer rechtlich gültigen symbolischen Funktion in nationaler bzw. ethnischer Hinsicht. Sie können “Amtssprachen im Staat” sein; ein Beispiel ist das indominante Rätoromanisch in der Schweiz, das als vierte “National­ sprache” gilt. Ebenso wie “Amtssprache” und “Nationalsprache” ist auch “Arbeitssprache” ein juridolinguistischer Begriff, der aber, international gesehen, sehr viel uneinheitlicher gefaßt ist als die beiden ersteren. Indo­ minante “Arbeitssprachen” können u.U. in bestimmten Verwendungs­ bereichen dominanter Sprachen eine höhere Gebrauchshäufigkeit haben als die konkurrierenden dominanten Sprachen. Kloss H. 1973 gibt einen demographisch-soziolinguistischen Überblick über die Situation des Deutschen als Muttersprache im Sprachausland, d.h. dort, wo Deutsch nicht alleindominant, sondern ko- oder indomi­ nant ist: kodominant: Belgien, Luxemburg, Schweiz, Südwestafrika; indominant: Dänemark, Frankreich, Italien, sozialistische Staaten Ost- und Südosteuropas, überseeische Staaten (soweit deutsch-muttersprach­ licher Bevölkerungsanteil vorhanden). Als besonders wichtig für die Stel­ lung einer (ko- oder) indominanten Sprache im Sprachkontakt erweist

360 sich deren Verhältnis zu einer linguistisch zugehörigen Standardsprache, insbesondere, wenn diese in einem anderen Land alleindominant ist: der Gebrauch einer ortholinguistisch befriedigenden Standardsprache als “Dach” der betreffenden (ko- oder)indominanten Variante fördert sta­ bile Gruppenmehrsprachigkeitsverhältnisse und schwächt den Verdrän­ gungseffekt der Sprachumgebung (auf die ko- oder indominante Variante der betreffenden Standardsprache) ab (wenngleich u.U. die Variante zu­ gunsten der Standardsprache verdrängt wird). Beispiele für deutsche Sprachvarianten ohne nennenswerte muttersprachlich-standardsprachliche Stütze, ohne “Überdachung”, bieten u.a. die meisten sozialistischen Län­ der (eine Ausnahme macht insbesondere Rumänien), Brasilien und Frank­ reich (Ost-Lothringen, Elsaß). (Ko- oder)indominante Muttersprachen wirken sich auf die Stellung dieser Sprachvarianten und/oder der zugehö­ rigen Standardsprache als Fremdsprache in dem betreffenden Land aus (in den USA war z.B. Deutsch ca. 1865-1917 erste Fremdsprache und dies vornehmlich auf Grund der starken deutschen Einwanderung). Kloss H. 1973a berichtet über demographisch-soziolinguistische und aus­ baulinguistische Verschiebungen innerhalb der germanischen Sprachen­ familie. Für das Deutsche ist hierbei auf Grund von Massenzwangswan­ derungen (in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg, während der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland und nach dem 2. Weltkrieg) und da­ mit auch verbundener Massentötung, sowie auf Grund eines Sprachwech- sels großen Ausmaßes (z.B. in den USA ab 1917, in der Sovetunion und in Brasilien) ein starker Rückgang als Muttersprache zu verzeichnen. Deut­ lich ist auch die Schwächung des Deutschen als Fremdsprache, und zwar sowohl in Bezug auf die Sprecherzahl als auch auf Umfang und Qualität der Sprachkompetenz. Kloss H. 1974 diskutiert sprachaxiologische Kriterien. Bei einem bewer­ tenden Vergleich von Sprachen ist deren Situation sowohl als Mutter­ ais auch als Zweit- bzw. Fremdsprache zu berücksichtigen. Im letzteren Fall ist zu unterscheiden zwischen der Situation einer Zweit- bzw. Fremdsprache in einem Staat, in welchem diese Sprache bei einem Teil der Bevölkerung auch Muttersprache ist, und in Staaten wo dies nicht der Fall ist. ln funktionaler Hinsicht kommt insbesondere dem Ausmaß und Einfluß einer allein-, ko-, oder indominanten Stellung, auch im Rah­ men supranationaler Organisationen, sowie der Verwendung als “Arbeits­ sprache” in internationalen Gremien Gewicht zu. Kultur- und bildungs­ politische Anstrengungen können hier von beträchtlichem Erfolg sein. Einen Extremfall stellen die Pidginsprachen dar-, denn solange sie nicht kreolisiert sind, werden sie nicht als Muttersprache tradiert. Der interna­ tionale Rang einer Sprache wird gefördert oder beeinträchtigt durch den

361 Grad der Erlernbarkeit von dieser oder jener Ausgangssprache her, der selbst wieder von der Fülle und Fruchtbarkeit von Sprachkontakten ab­ hängt. Bei der vergleichenden Sprachbewertung ist weiterhin das Über­ setzungsvolumen in Rechnung zu stellen, wobei u.a. Art und Wert der übersetzten Literatur sowie der Stellenwert der Sprachen, aus denen bzw. in die übersetzt wird, zu berücksichtigen ist. Weitere Kriterien beziehen sich auf den Ausbaugrad und die soziokulturelle Leistungskraft einer Sprache sowie auf numerische Größe und soziolinguistische Zusammen­ setzung der mutter- oder primärsprachlichen Sprechergruppen; hierbei kann u.U. in einem multinationalen Staat sprachplanerisch einer von ei­ ner demographisch-soziolinguistisch schwachen Sprechergruppe getrage­ nen Sprache als lingua franca in diesem Staat der Vorzug gegeben werden (vgl. Suaheli in Tansania, Tagalog (Philipino) auf den Philippinen). An­ dere Kriterien sind schließlich geolinguistischer Natur: Zahl, Größe, Glie­ derung und Nachbarschaften der Sprachgebiete. Kloss H. 1976 diskutiert (nach Kloss H. 1952 und 1967) erneut den kor­ puslinguistischen Begriff einer “Abstandsprache” und den funktionslin­ guistischen Begriff einer “Ausbausprache”. Für den Begriff einer “Ausbau­ sprache” wird eine neungliedrige Stufung an Hand einer dreifachen Dif­ ferenzierung des Sachschrifttums nach dessen Thematik und einer eben­ falls dreifachen Differenzierung der Sachprosa nach deren (bildungsmäßi­ gen) “Entfaltungsstufe” (z.T. intellektueller Schwierigkeitsgrad) vorge­ schlagen. Im Zusammenhang mit dieser Stufung wird als neuer Terminus Ausbaudialekt für “Dialekte”, die einen bestimmten maximalen und op­ timalen Ausbaugrad aufweisen, eingeführt. Weiterhin wird der von W.B. Stewart aufgebrachte Begriff einer “polycentric ” (Va­ rianten der Standardsprache, die als solche selbst auch standardisiert sind: Standardsprachvarianten) erörtert. Zum Schluß behandelt Kloss H. 1976 Probleme “dachloser Außenmundarten” (z.B. indominanter Dialek­ te ohne sozio- und juridolinguistisch zugeordnete, korpusmäßig nahe (in einem bestimmten anderen Staat allein- oder kodominante) Standardspra­ che: Pennsilfaanisch, Elsässer Ditsch, fränkische Mundarten Ost-Lothrin­ gens der jüngeren Generation, das Hunsrückische in Rio Grande do Sul u.a.). Kloss H. 1976a klärt Grundprobleme zweisprachiger Schulen. Eine defi- nitorisch notwendige Bedingung für “zweisprachige” Schulen ist, daß beide Sprachen auch Unterrichtssprache (und nicht nur Unterrichtsgegen­ stand) sind. Das Maß ihrer Verwendung hängt von der Aufgabenstellung und Zielsetzung der Schule ab. Neben der Heranbildung mehrsprachiger Schüler ist insbesondere die sprachlich-kulturelle Assimilation mit Sprach- wechsel eine häufige Aufgabenstellung solcher Schulen. Für eine befriedi­

362 gende Assimilation ist am fruchtbarsten die “organische Assimilation” ; der Übergang von der Muttersprache zur Zielsprache erfolgt allmählich im Laufe der gesamten Schulzeit. In den sog. utraquistischen Schulen des kaiserlichen Österreichs (in Südkärnten für die Slovenen) hatte diese Pädagogik bereits einen Vorläufer. Andere Assimilationsmethoden sind auch wegen ihres gewaltsamen Einbruchs in die Entwicklung des Kindes abzulehnen. Eine dritte Aufgabenstellung zweisprachiger Schulen findet sich dort, wo die Muttersprache nicht genügend ausgebaut ist, um sie als Unterrichtssprache für alle Unterrichtsfächer und während der gesamten Schulzeit verwenden zu können; dies gilt z.B. für die nordfriesischen Dia­ lekte in Schleswig sowie für die vierte “Landessprache” der Schweiz, das (indominante) Rätoromanisch. Kloss H. 1976a betont im Hinblick auf die diversen Funktionen der Sprache, daß eine zweisprachige Schule im­ mer auch eine bikulturelle Schule sein muß. An Institutionen, die sich international besonders um zweisprachige Erziehung verdient gemacht haben, werden das Summer Institute of Linguistics in Santa Ana (Cal./ USA) und die UNESCO hervorgehoben. Kloss H. 1976b behandelt Existenzprobleme kleiner Sprachgemeinschaf­ ten am Beispiel des Rätoromanischen in der Schweiz, des Färingischen auf den Färöer Inseln, des Sorbischen in der DDR und des Irischen auf Irland. Zu den für den Bestand solcher Sprachen erstrangig wichtigen Faktoren gehören Rundfunksendungen in diesen Sprachen (u.a. auch, weil diese sich, verglichen mit anderen Massenkommunikationsmitteln, am leichtesten wirtschaftlich realisieren lassen) und Sachliteratur; um die nötige sprachliche Leistungsfähigkeit zu erreichen bzw. zu erhalten, ist eine Stadt als sprachlich-kulturelles Zentrum unentbehrlich. Speziell für das Rätoromanische gilt, daß den fünf Varianten des Rätoromani­ schen ein Standardrätoromanisch zugeordnet werden müßte, das den funktionalen Anforderungen in der Konkurrenz mit Deutsch, Franzö­ sisch und Italienisch in der Schweiz einigermaßen nachkommen kann. Kloss H., McConnell G.D. 1974 ist der erste Band eines siebenbändigen Publikationsvorhabens des Centre international de recherche sur le bilinguisme in Québec. In der Einleitung, die zum größten Teil Kloss H. 1973b zur Grundlage hat, werden die zugrundegelegten statistischen Kategorien dargestellt. Die Schwierigkeit der Erarbeitung sinnvoller Ka­ tegorien dieser Art beginnen bereits bei der extensionalen Bestimmung des Begriffs “language” : das metalinguistische Problem liegt darin, daß der Begriff einer Einzelsprache in Bezug auf seine Spezifizierungen nu­ merisch bestimmbar sein muß. Der Lösungsvorschlag der Autoren arbei­ tet auf der Basis einer Dichotomie “language” vs. “dialect”, die unter Heranziehung des von H. Kloss in anderen Arbeiten dargelegten “Ausbau-”

363 und “Abstandskriteriums” (vgl. Kloss H. 1952; 1967, 1973b, 1976) getroffen wird. In dem verwendeten Katalog statistischer Kategorien sind (subjektive) Sprachbewertung, Sprachgebrauchshäufigkeit, Sprachge­ brauchssituationen mit besonderer Berücksichtigung der Massenkommu­ nikationsmittel, Chronologie des Erwerbs der verschiedenen einschlägigen Einzelsprachen sowie linguistisch relevante soziologische, ethnologische und religionswissenschaftliche Kategorien (Alters- und Berufsgruppen, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Auto- vs. Allochthonie, Religions­ gemeinschaft) berücksichtigt. Die Statistiken sind so erstellt, daß sie vor allem synchron, daneben aber auch diachron komparatistische Informationen für den Einzelsprachen- und für den Staatenvergleich geben. Auburger L. 1976 gibt im Sinne einer “linguistique externe” (Saussure) einen Überblick über die äußere Geschichte der zwei slavischen Standard­ sprachen mit spezifisch “makedonischem” Gepräge, nämlich über das Altkirchenslavische und das moderne Standardmakedonische. Hierbei findet der von H. Kloss eingeführte Begriff einer “Ausbausprache” frucht­ bare Anwendung. Auf die balkanologischen Sprachkontakte und deren soziolinguistische Auswirkungen, auf den Aufbau eines z.T. dialektalen, muttersprachlichen Schulwesens, sowie auf die makedoslavische Sprach- förderung bzw. Sprachpolitik im 19. und 20. Jh. wird besonders einge­ gangen. Ein eigener Abschnitt ist der Formierung des heutigen Standard­ makedonischen mit den Problemen der Integration und des Ausschlusses von Dialekten, der Festlegung der linguistischen Charakteristika im Be­ reich von Lexikologie, Phonetik und Grammatik, sowie der Stabilisierung und des weiteren Ausbaus des Standards gewidmet. In einem theoretisch und methodologisch orientierten Kapitel werden die Begriffe “Abstand­ sprache” und “Ausbausprache”, ferner die Begriffe “Dialekt” und “Standardsprache” diskutiert. Für die damit verbundenen Probleme der Abgrenzung von Einzelsprachen (z.B. “ Bulgarisch” vs. “Makedonisch”) bzw. von Sprachvarianten wird unter Verwendung des (linguistisch metho­ dologischen) Begriffs einer “Etalon-Sprache” und mit Anwendung eines von dem Lubliner Wissenschaftstheoretiker L. Koj vorgeschlagenen Defi­ nitionsverfahrens für typologisch-klassifikatorische Begriffe eine allgemei­ ne Lösung angedeutet. Hierbei werden auch Fragen der Ortholinguistik (Theorie der Sprachplanung) angeschnitten. Der erste Band der Schriftenreihe “Deutsche Sprache in Europa und Übersee” , hg. von H. Kloss, H. Rupp und L. Auburger, Verlag Franz Steiner, Wiesbaden, ist ein Sammelband über Kanada: “Deutsch als Mut­ tersprache in Kanada. Berichte zur Gegenwartslage”. In drei Teilen wird

364 unter Auswertung differenzierter Statistiken (1) über die deutsche Spra­ che in einzelnen Landesteilen Kanadas (demographische Grundtatsachen; Provinzen Quebec, Ontario und Britisch Kolumbien, Prärieprovinzen), (2) über die deutsche Sprache in einzelnen Bereichen des öffentlichen Lebens (sprachenrechtlicher Rahmen; Presse, Rundfunk und Fernsehen; Literatur und Theater; mutter- und fremdsprachlicher Deutschunterricht; Verbandswesen und Kirchen; Stellung des Jiddischen), (3) über linguisti­ sche Besonderheiten einzelner kanadadeutscher Sprachvarianten (Mund­ art der Hutterischen Brüder; Monophthonge des kanadischen Plautdietsch; Sprache kanadadeutscher Zeitungstexte) berichtet. Der Anhang enthält eine Einwanderungsstatistik nach Kanada aus deutschsprachigen Ländern seit 1946 und eine vollständige Bibliographie zur Erforschung der deut­ schen Mundarten in Kanada. Die Beiträge stammen von insgesamt 16 Autoren, die bis auf vier (W. Viereck: Graz, J. Eichhoff: Madison/USA, H. Kloss: Mannheim, L. Auburger: Mannheim) kanadische Germanisten sind. Band 2 der Schriftenreihe ist eine Doktordissertation (bei Prof. Dr. M. Wandruszka, Universität Salzburg 1973) über den Sprachwechsel in Ost- Lothringen. Es handelt sich hierbei um eine soziolinguistische Untersu­ chung über die Sprachwahl von Schülern in bestimmten Sprechsituatio­ nen. Die Daten wurden durch Fragebögen ermittelt. Die Sprachgebrauchs­ situationen sind hierbei in fünf Gruppen zusammengefaßt: Individualbe­ reich, Familienbereich, religiöser Bereich, Bereich der Öffentlichkeit, Freizeitbereich; außer den Sprachgebrauchssituationen wurden auch die Einstellungen der Schüler zur offiziellen Sprachgebrauchssituation erfragt. Die Sprachwahl wurde weiterhin in ihrer Abhängigkeit von der regiona­ len Herkunft der Eltern, vom Geschlecht der Sprecher sowie von Schul­ bildung und Beruf der Väter der Schüler untersucht. Ein eigener Abschnitt ist der Charakteristik “deutscher Sprachgemeinden” gewidmet. Wichtigere Ergebnisse der Untersuchung sind u.a.: 1) in Situationen des Individualbereichs, des Freizeitbereichs und des religiösen Bereichs entscheidet sich die Mehrzahl der Befragten für Französisch; 2) in Situationen des Familienbereichs spricht man in Situationen Be­ fragter vs. Eltern überwiegend Französisch; in Situationen Befragter vs. Großeltern wird dagegen mehr Deutsch gesprochen; die Gebrauchs­ häufigkeit des Deutschen nimmt hierbei in Richtung Staatsgrenze zu, in Richtung Sprachgrenze ab. Ein weiterer Band der Schriftenreihe handelt über Aspekte der Zwei­ sprachigkeit in Südtirol mit besonderer Berücksichtigung der Schulsitua-

365 tion. Diese Monographie beruht auf einer in Italienisch geschriebenen Doktordissertation (Mailand 1969), die für die Schriftenreihe umgearbei­ tet und aktualisiert worden ist. Untersucht wird hier die Mehrsprachigkeitssituation in Sterzing mit dem oberen Eisacktal, in Bozen und in Neumarkt. An Sprachwahlsituationen wurden Mischehen (mit besonderer Berücksichtigung des Sprachgebrauchs der Kinder), Kindergärten, Volks- und Mittelschulen sowie die Massen­ kommunikationsmittel Rundfunk und Fernsehen untersucht. Ein Band bringt eine historische Untersuchung über das Verhältnis zwi­ schen “Deutsch” und “Welsch” vor dem Ersten Weltkrieg; der Arbeit liegt eine Doktordissertation zugrunde (bei Prof. Dr. Ris, Universität Bern 1974). Das reiche Quellenmaterial über die sprachpolitischen Auseinander­ setzungen in der Schweiz bis 1914 wird positivistisch zusammengetragen und in Zusammenhang gebracht. Die wichtigsten Fragestellungen der Ar­ beit sind folgende: — Die Positionen der deutschen und der französischen Sprache in der Schweiz um 1900 unter Berücksichtigung außersprachlicher, näm­ lich politischer, konfessioneller und ökonomischer Faktoren. Die sprachenrechtliche Situation im Bund und den zweisprachigen K antonen. Sprachpolitische Auseinandersetzungen im imperialistischen Zeit­ alter. Ausländische Einflüsse und autochthone Bewegungen im sprach­ politischen Bereich; die einzelnen sprachpolitischen Differenzen. — Kulturelle Abhängigkeit oder Selbständigkeit der Schweiz gegenüber Deutschland und Frankreich; die Schweiz im Spannungsfeld zwi­ schen französischer (Staatsnation) und deutscher (Kulturnation) Interpretation des Begriffs “Nation”. Völker- und sozialpsychologische Deutung der Verhaltensweisen von “Deutsch” und “Welsch” in der Schweiz.

In Vorbereitung ist schließlich ein Band über das Nataler Deutsch (I960: 6560 Sprecher) und den Einfluß des Englischen und Afrikaansen auf die deutsche Sprache in Natal (Südafrikanische Republik). Es handelt sich hier ebenfalls um die Überarbeitung einer Doktordissertation (bei Prof. Dr. F. Tschirch, Universität Köln 1965). Die Arbeit ist synchron ange­ legt und basiert materialmäßig auf gesprochener Sprache; sie berücksich­ tigt sowohl den lexikologischen als auch den grammatischen Aspekt der Sprachkontaktphänomene (Sprachkontakt mit Englisch, und

366 Zulu). Ein Resultat von allgemeinerem germanistischem Interesse aus dem Bereich der Morphologie ist z.B. die Tatsache, daß sich die Verben als Wortklasse im Sprachkontakt deutlich anders verhalten als die übrigen Wortklassen mit Flexion: Entlehnungen werden ausnahmslos dem mutter­ sprachlichen morphologischen System adaptiert (Paradigma der schwa­ chen Konjugation), was z.B. für die Substantive nicht zutrifft. Ein ande­ res für die germanistische Sprachkontaktforschung wichtiges Ergebnis ist, daß der bestimmte Artikel und das durch ihn nahegelegte feminine Genus bei aus dem Afrikaans entlehnten Substantiven nicht ohne weiteres mit­ übernommen werden (das Afrikaans selbst unterscheidet ebenso wie das Englische beim bestimmten Artikel weder Genus noch Numerus: der be­ stimmte Artikel lautet im Afrikaans einheitlich [die]); vielmehr wird die­ ser Artikel nach anderen, z.T. gefühlsmäßigen, Kriterien gewählt (die Be­ lege zeigen eine deutliche Bevorzugung des Maskulinum entgegen dem vom Afrikaans her scheinbar nahegelegten Femininum).

“ T ko leli dobro govoriti, mora natucati” (Wer gut sprechen will muß radebrechen): Hugo Schuchardt, der Senior der Sprachkontaktfor­ schung, setzt dieses serbokroatische Sprichwort seinem etwas eigenwilli­ gen Festbeitrag für Franz Miklosich als Motto voraus (vgl. Schuchardt H. 1971, 6 (= [24]); 128 (= [150])). Bestätigt wird dieses Sprichwort durch die vielfältige freud- und leidvolle Erfahrung sprachlicher Mischbevölke­ rungen und lerneifriger Fremdsprachenschüler. Bestätigt wird dieses Sprichwort aber auch durch die Geschichte der Wissenschaft von der Mehrsprachigkeit, und in dieser Hinsicht taugt es wohl noch eine Zeitlang auch als Motto der Arbeitsstelle für Mehrsprachigkeit.

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377 HANS-MARTIN GAUGER Bericht über das Projekt einer Deutsch-Spanischen Kontrastiven Grammatik

Mit den Arbeiten zum Projekt einer kontrastiven Grammatik des Deutschen und Spanischen wurde im Januar 1974 begonnen. Es gab zunächst verschiede­ ne Schwierigkeiten, so daß von einem zügigen Arbeiten erst im Blick auf einen späteren Zeitpunkt gesprochen werden kann. Ich brauche in diesem Zusam­ menhang nicht zu unterstreichen, daß wir nicht von einer schon erprobten Vor läge, einem einigermaßen ‘gesicherten’ Modell ausgehen konnten. Auch das zuvor vom Institut für deutsche Sprache mit einer beträchtlichen Anzahl von Mitarbeitern in Angriff genommene Projekt einer deutsch-französischen Grammatik, unter der Leitung des Kollegen Jean-Marie Zemb (Paris), konnte uns nicht als Vorlage dienen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil das Er­ gebnis dieses Projekts nicht vorlag bzw. noch immer nicht vorliegt (ich muß je­ doch M. Zemb für ein langes, mir sehr nützliches Gespräch danken, das ich im Frühjahr 1975 über das deutsch-französische Projekt mit ihm führen konnte). Wir waren also — sind es noch immer — im wesentlichen auf uns selbst gestellt. Die fünf Mitarbeiter am deutsch-spanischen Projekt sind Dr. Gerd Breitenbür­ ger (Freiburg i.Br.), Dr. Nelson Cartagena (Concepción, Chile), Francisco García (Tübingen), Raingard Lötscher-Booz (Freiburg i.Br.), Dr. Leopoldo Siez (Valparaíso, Chile). Stellvertretender Projektleiter ist Dr. Nelson Carta­ gena. Dr. Siez mußte leider im Oktober 1976 ausscheiden, da ihm ein Lekto­ rat für Spanisch an der Universität Bonn angeboten wurde; er steht jedoch weiterhin als freier Mitarbeiter zur Verfügung. Die Gruppe besteht somit, vom Projektleiter abgesehen, aus zwei (über ausgezeichnete Deutschkenntnisse verfügenden, weithin in Deutschland ausgebildeten spanisch Sprechenden und aus zwei deutsch Sprechenden. Zur Gruppe gehörte zuvor auch Frau Dr. Irmgard Vogel, die bereits am deutsch-französischen Projekt mitgearbeitet hatte und jetzt an unserem Projekt unter einem Honorarvertrag m itarbeitet; sie wird Ende 1976 wahrscheinlich ganz ausscheiden. Schließlich ist Bruno Schneider, Akademischer Oberrat am Romanischen Seminar der Universität Freiburg, in lockerer Form an dem Projekt beteiligt. Es kann hier nur darum gehen, einen kurzen Einblick in den Stand unserer Arbeit zu geben. Es ist auch sogleich anzumerken, daß dieser Stand vor­ läufig ist: wir sind noch immer, um einen bekannten Titel aufzunehmen, in der Phase des “Ringens” um eine deutsch-spanische kontrastive Gramm tik. Andererseits sind wir nun aber doch ziemlich ans Ende dieser Phase gelangt. Es kommt ja unvermeidlich, bei solcher Arbeit, der prekäre Au­ genblick, in dem ‘dezisionistisch’ gesagt werden muß: so wie es jetzt ist,

378 muß es bleiben, wenn bei der Sache überhaupt etwas herauskommen soll: “sit ut est aut non sit”. Dies gilt erst recht bei einem Projekt, das befri­ stet - allzu kurz befristet - ist und an dem mehrere Personen mit ver­ schiedener Einstellung und verschiedenen Interessen beteiligt sind. Die Grammatik, die ungefähr 800 Seiten umfassen wird, besteht aus fünf Teilen, deren Überschriften vorläufig sind: I. Phonologie und Phonetik II. Morphologisch-syntaktischer Teil III. Zusammenstellung der wichtigsten Unterschiede zwischen beiden Sprachen IV. Onomasiologischer Teil V. A nhänge Der erste Teil bringt eine genaue Beschreibung und kontrastive Analyse der phonologischen Systeme beider Sprachen, ihrer phonetischen Reali­ sierung und graphischen Darstellung; ferner eine knappe Beschreibung und kontrastive Analyse der wichtigeren Intonationsmuster beider Sprachen und ihres Verhältnisses zu den Interpunktionszeichen; schließlich stellt dieser Teil die Besonderheiten des amerikanischen Spanischen in Phono­ logie, phonetischer Realisierung und Intonation zusammen. Der zweite Teil — Morphologie und Syntax in semasiologischer Darstellung bringt die Grammatik im engeren Sinn. Er behandelt nacheinander erstens die neun nominalen und verbalen Flexionskategorien (Numerus, Genus, Kasus, Komparation, Person, Tempus, Aspekt, Modus, Vox), zweitens die Wortarten in ihrer Verbindung mit den Flexionskategorien ( 1. Nicht- flektierte Wortarten, 2. Flektierte Wortarten), drittens die verschiedenen Phrasentypen, viertens die verschiedenen Satztypen. In diesem Abschnitt werden auch Beispiele für ein kontrastives Valenzlexikon gegeben. Auch die Verhältnisse der Wortfolge werden hier daigestellt. Die durchsichtigen Wörter, also die abgeleiteten und die zusammengesetzten Wörter, werden in ihren wichtigsten Typen vorgeführt. Dabei geht es nicht um die Mög­ lichkeit der Bildung ‘neuer’ Wörter (einen Aspekt, den sowohl die tradi­ tionelle als auch die moderne Wortbildungslehre, wie ich finde, ungebühr­ lich in den Vordergrund stellen ), sondern — unter Betonung des kontra­ stiv Relevanten — um die Art, w i e die durchsichtigen Wörter in den beiden Sprachen gebildet sind.1 Am Schluß dieses Teils werden die amerikanischen Abweichungen von der kastilischen Norm im morpho­ logischen und syntaktischen Bereich zusammengestellt. Sowohl im ersten als auch im zweiten Teil werden wir in der Weise Vor­ gehen, daß wir zu jedem einzelnen Punkt erst die Verhältnisse im Deut­

379 sehen, dann die Verhältnisse im Spanischen darstellen und schließlich — in einem dritten Schritt — die Verhältnisse in beiden Sprachen kontra­ stiv analysieren. Wir bringen also, in stets wiederholtem Dreischritt, zwei ‘unidirektionale’ Grammatiken, eine deutsche und eine spanische, und schließlich die kontrastive Analyse, die das Gemeinsame und besonders natürlich das Verschiedene herausarbeitet. Für das Deutsche gehen wir aus von einer gemäßigten Hochsprache. Wir werden nur gelegentlich regionale oder andere Varianten aufnehmen. Für das Spanische ist unser Bezugspunkt die kastilische Norm. Die amerikani­ schen Varianten des Spanischen stellen natürlich ein spezifisches Problem. Gäbe es eine einigermaßen einheitliche amerikanische Norm des Spani­ schen, würden wir uns — aus Gründen, die auf der Hand liegen — kaum für dessen kastilische Norm entschieden haben. Da es eine solche Norm nicht gibt, ist es nach wie vor am zweckmäßigsten, beim sogenannten ‘Kastili- schen’ zu bleiben. Daß damit keinerlei Wertung verbunden ist, braucht nicht hervorgehoben zu werden: die kastilische Norm ist, gegenüber den übrigen, nicht als solche schon privilegiert. Wir werden, wie ausgeführt, in je einem Anhang zu Teil I und zu Teil II — also klar abgesetzt — die ame­ rikanischen Varianten zusammenstellen. Im übrigen sind diese Varianten an Zahl und Gewicht, wenn man vom phonologisch-phonetischen Bereich absieht, nicht groß. Der dritte Teil bringt — in vollständigem Durchgang — eine kurze, jeweils knapp kommentierte Auflistung der wichtigsten Unterschiede zwischen den beiden Sprachen im morphologischen und syntaktischen Bereich. Er ist insofern eine Zusammenfassung des zweiten Teils und dient vor allem der Übersicht und raschen Orientierung des Lesers. Der vierte Teil beansprucht größere Originalität. Er sucht, von einem ‘onomasiologischen ’ Ansatz ausgehend, hinsichtlich eines bestimmten inhaltlichen Verfahrens die verschiedenen formalen M öglich­ keiten in beiden Sprachen aufzuzeigen und zu analysieren. Ursprünglich hatten wir die Absicht, die Grammatik durchweg so anzulegen: was jetzt als vierter Teil erscheint, ist also gleichsam der Rest unseres ursprünglichen generellen Ansatzes. Unsere schlichte, aber, ich glaube, nicht unzutreffen­ de Überlegung war die folgende: es geht um synchronischen Vergleich, oder, wie ich entschieden vorziehen würde, um den Vergleich zweier ge­ genwärtiger Kopräsenzen2 ; jeder Vergleich setzt eine Basis, ein Worauf­ hin des Vergleichens, voraus: man muß wissen, indem man vergleicht, im Blick auf w a s verglichen werden soll, es geht um das “tertium” des Ver­ gleichs; dies “tertium” kann nur ein mehr oder weniger allgemein umris- senes bzw. umreißbares Inhaltliches sein: ein inhaltliches Ver-

380 fahren, wie zum Beispiel Verneinung, Hervorhebung usw.¡diese inhaltliche Verfahren müssen — von beiden Sprachen ausgehend — in sorgfältiger semasiologischer Analyse (“from form to meaning”) erarbeitet werden. Wir haben also schließlich zweierlei: einmal eine Reihe (in solcher Ana­ lyse erarbeiteter) inhaltlicher Verfahren, zum anderen bestimmte materielle Formen, die in den beiden Sprachen zum Ausdruck jener Verfahren zur Verfügung stehen und natürlich — semasiologisch gesehen — nicht völlig gleichwertig sind. Es handelt sich nur im Grenzfall um totale, im Normal­ fall jedoch um partielle funktionelle Äquivalenzen. Es geht hier um das, was Mario Wandruszka, dessen Arbeiten dieser Ansatz überhaupt nahe steht, als “Polymorphie” bezeichnet: zum Ausdruck eines identischen Inhaltlichen stehen mehrere — funktionell äquivalente — formale Mittel zur Verfügung des Sprechenden.3 Diese formalen Mittel, die natürlich in verschiedenen Sprachen vielfach verschieden sind, bilden demnach die Ob­ jekte des Vergleichs, die inhaltlichen Verfahren dessen jeweilige “tertia”. Es werden also verschiedene materielle Formen beider Sprachen im Blick auf die als “tertia” gedachten vorgängig umrissenen inhaltlichen Verfahren miteinander verglichen. Der Plan, die ganze Grammatik — von bestimmten Bereichen, zum Bei­ spiel Wortfolge und natürlich dem phonologisch-phonetischen Bereich ab­ gesehen — so anzulegen, erwies sich als zu ehrgeizig, zumindest im Blick auf die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit. Auch dürfte diese Art der Anlage dem vorgesehenen Benutzerkreis Schwierigkeiten bringen. So haben wir uns dazu entschlossen, in diesem vierten Teil, nach der sema­ siologisch ausgerichteten Darstellung des zweiten Teils, wenigstens in einem paradigmatischen Sinn einige Beispiele für diese Art der Darstellung zu brin­ gen. Nicht zuletzt um darzutun, daß es, trotz unleugbarer Schwierigkeiten prinzipiell möglich wäre, gesamthaft so vorzugehen. Eine solche Darstel­ lung hat nicht nur in kontrastiver Hinsicht ein besonderes Interesse: sie kommt der Wirklichkeit der Sprache und des Sprechens entschieden näher und hebt die Grenzen zwischen den verschiedenen Bereichen oder ‘Ebe­ nen’ der Sprachbeschreibung vielfach auf (dasselbe kann hier lexikalisch, hier grammatisch, hier phonisch geleitet werden). Wir werden, wie wir die Dinge im Augenblick sehen, die folgenden “tertia” behandeln: Formen des Fragens, Formen des Vemeinens, Formen des Befehlens, Formen der Hervorhebung, Formen der lokalen Deixis, Formen der temporalen Dei- xis, Formen der Komporation, Formen der Modalität, Formen für die Dar­ stellung eines Geschehens von demjenigen her, an dem es sich vollzieht, Formen für die Darstellung eines Geschehens ohne Nennung des Täters, Formen für die Darstellung vorgangshaft gesehenen Geschehens, Formen für die Darstellung zustandshaft gesehenen Geschehens, Formen der An-

381 rede, Formen für weibliche Berufsbezeichnungen. Kriterium für die Aus­ wahl ist einmal die leichte Greifbarkeit des “tertium ”, zum ändern dessen kontrastive Relevanz. Daß die genannten “tertia” uneinheitlich sind, in verschiedener Hinsicht, scheint mir kein durchschlagender Einwand zu sein. Im Hintergrund dieses Ansatzes steht übrigens ein Werk, das es verdiente, stärker in den Vordergrund zu treten, nämlich Ferdinand Brunots “La pensée et la langue” : “Il faut se résoudre à dresser des méthodes de langage, ou les faits ne soient plus rangés d ’après l’ordre des signes, mais d’après l’ordre des idées” (S. XX). Das Ziel, das er hiermit verfolge, sei: “donner une idée de ce qu’est réellement le langage” (S. XII). Darum geht es, neben anderem, auch uns. Der fünfte Teil schließlich besteht aus einzelnen, meist kurzen, nicht zu­ sammengehörenden Anhängen, die für den Leser in dieser oder jener Hin­ sicht nützlich sein können und in denen der sprachpragmatische Aspekt dominiert: Vornamen und Nachnamen, Anrede (z.B. Don, Señor, amigo usw.), Grußformeln, Tageseinteilung, Uhrzeiten, typische Wendungen in bestimmten Gesprächsituationen, Ausrufe, ‘falsche Freunde’ im Lexika­ lischen. Wir wollen, vor allem übrigen, ein nützliches Buch zuwege bringen, das heißt ein solches, das den Lesern bei ihrer eigenen Arbeit hilft, auch da­ durch, daß es ihnen eigene Arbeit erspart. Nützlichkeit soll Vorrang haben vor Originalität. An was für Leser ist gedacht? Einmal an solche, die sich für eine der beider oder für beide Sprachen interessieren, an alle, die wis­ sen wollen, was hier der Fall ist und was nicht. Zum anderen und beson­ ders ist natürlich an diejenigen gedacht, die sich für den Erwerb der einen Sprache auf der schon gegebenen Grundlage der jeweils ande­ ren interessieren: Studenten (spanisch sprechende, die deutsch lernen, deutsch sprechende, die spanisch lernen), Sprachlehrer (an Sekundarschu­ len, Volkshochschulen, Hochschulen), Autoren von Lehrbüchern. Die Aus­ sagen über das Deutsche werden in spanischer Sprache, die Aussagen über das Spanische in deutscher Sprache gemacht: so mag die Grammatik auch denjenigen nützlich sein, die sich, ohne über ausreichende aktive oder pas­ sive Sprachkenntnis zu verfügen, nur über die jeweils andere Sprache unterrichten wollen. Unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit soll die Terminologie der Gram­ matik möglichst zugänglich gehalten werden: dies heißt, daß wir, wo im­ mer möglich, bei den hergebrachten Termini bleiben. Am Anfang der Grammatik werden die in ihr verwendeten Termini alphabetisch zusam­ mengestellt und kurz erläutert. Auch die Theorielastigkeit so vieler gegen­

382 wärtig vorgelegter Arbeiten soll vermieden werden. Diese kontrastive Grammatik des Deutschen und des Spanischen soll vor allem durch Fak- tenbezogenheit gekennzeichnet sein. Sie will nicht zeigen, daß ein bestimm­ tes aus diesem oder jenem — meist äußerlichem, kontigentem Grund — übernommenes Modell richtig ist oder daß man mit ihm ‘arbeiten’ kann. Wir wollen hier nicht, im Blick auf irgendein ‘theoretisches Konstrukt’, Recht behalten. Es geht uns vielmehr um die Darstellung der grammati­ schen Tatsachen in beiden Sprachen. Eine solche Haltung ist nicht not­ wendig Ausdruck von Theoriefeindlichkeit oder Theoriedefizit. Es geht uns allein um Vermeidung jener unguten, rechthaberischen Theorielastig­ keit, von der ich sprach. Unsere Grammatik wird daher dem Vorwurf des ‘Eklektizismus’ schwerlich entgehen. Es wäre jedoch zu prüfen, ob oder inwieweit ein solcher Vorwurf, den wir mit Gelassenheit tragen, überhaupt sinnvoll ist: warum sollte man nicht, was einem in verschiedenen Methoden als richtig erscheint, aus dem übrigen ‘auswählen’ können? Unsere Hauptschwierigkeit liegt darin, daß die uns verbleibende Zeit zu knapp ist. Es erscheint als unmöglich, daß wir zum vorgesehenen Zeit­ punkt — Ende 1977 — das fertige Manuskript vorlegen können. Wir hof­ fen, den Termin jedenfalls nicht allzu großzügig zu überschreiten. Es ist kein Zweifel, daß es dem Projekt qualitativ sehr zugute käme, wenn die Frist um ein Jahr verlängert werden könnte. Videant consules.

Anmerkungen

1 Hierzu H.-M. Gauger, Durchsichtige Wörter. Zur Theorie der Wortbildung, Heidelberg 1971. 2 Hierzu H.-M. Gauger, Sprachbewußtsein und Sprachwissenschaft, München 1976, S. 33 ff. 3 M. Wandruszka, Interlinguistik: Umrisse einer neuen Sprachwissenschaft, München 1971, S. 5 6 -7 3 .

383 WOLFGANG MENTRUP

Ober ein geplantes neues Wörterbuch der deutschen Gegen­ wartssprache

Ich habe Sie im folgenden über den Plan eines neuen großen Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache zu informieren. Der Bericht gibt den vorläufigen Stand von Überlegungen wieder, die in jüngster Zeit angestellt worden sind; er stellt ein “Vorplanungsstadium” dar und ist entsprechend allgemein und wohl auch Zukunftsmusik. Trotzdem glaubten wir, diesen Plan schon heute in diesem frühen Stadium hier vorstellen zu sollen. Die Begründung liegt zum einen darin, daß eine Idee der Vorjahrestagung Kon­ sequenzen gehabt hat. Zum zweiten haben wir angesichts des hohen Gra­ des an Komplexität und Problematik des Unternehmens die Hoffnung, durch weitere Belebung der fachinternen und öffentlichen Diskussion einen größeren Kreis von Interessierten zu finden, die in den denkbaren weiteren Stadien der Entwicklung mitdenken und die Arbeit mit weiter­ führen helfen. “Denn” — so schon Christoph Ernst Steinbach 1724 — “vor einen ist es ein unmögliches Werck”.

0. Vorgeschichte

In dem im Rahmen der Jahrestagung des Instituts für deutsche Sprache im Frühjahr 1975 (Thema: Wortsemantik und Lexikographie) gehaltenen Vortrag “Die Wahrheit der Wörterbücher”2 geht Harald Weinrich davon aus, daß das 20. Jahrhundert als wissenschaftliche Epoche unter der Herr­ schaft der Wissenschaften und ihrer spezifischen Fachsprachen steht und daß eine Verständigung zwischen den verschiedenen Wissenschaften und insbesondere zwischen der Gemeinsprache und den Fachsprachen nicht mehr oder nur erschwert möglich ist. Er fordert als Abhilfe dieser tief­ gehenden Kommunikationsstörungen ein großes interdisziplinäres Kom­ munikationslexikon, in dem die Gemeinsprache — der gemeinsame Grund und Nenner der Fachsprachen — in einem Grundwörterbuch und die wich­ tigsten Fachsprachen in einem Kranz von Satellitenwörterbüchern beschrie­ ben werden. Seit dem späten Herbst sind von Mitarbeitern des Instituts für deutsche Sprache in Verbindung mit Harald Weinrich Arbeitspapiere entwickelt worden, in denen kulturelle Aspekte eines solchen Wörterbuchs, Arbeits­ und Themenbereiche, die sich mit einem solchen Werk stellen, sowie Fra­ gen möglicher Organisation zusammengestellt werden.

384 Auf zwei Colloquien, die von der Werner-Reimers-Stiftung3 und dem Institut für deutsche Sprache veranstaltet und von der Stiftung finanziert wurden, sind auf der Grundlage dieser Arbeitspapiere und flankierender Referate erste Bereiche und Organisationsfragen in einem interdisziplinä­ ren Gremium von ca. 25 Wissenschaftlern4 diskutiert worden. Je ein wei­ teres Colloquium ist für Mai bzw. Juni vorgesehen. Gegenstand des Wörterbuchs sind die deutsche Standardsprache und die Fachsprachen in der BR, der DDR, Österreich, der Schweiz sowie in an­ deren deutschsprachigen Gebieten mit ihren jeweiligen regionalen Beson­ derheiten. Das Ziel der ersten Bemühungen ist, den zunächst unübersehbaren Kom­ plex in eine überschaubare Zahl überschaubarer Bereiche zu gliedern. Diese Bemühungen haben zu der Vorstellung von 6 Schwerpunktsbereichen ge­ führt, die unmittelbar von einem solchen Unternehmen betroffen sind und in einer ersten Phase aufgearbeitet werden müßten. Die folgenden Ausführungen sind das Ergebnis der geschilderten gemein­ samen Überlegungen. Es geht dabei um einen Katalog von Fragen und Problemen, nicht bereits um Lösungen und Antworten.

1.1. Schwerpunkte

S P 1 Lexikologie und Lexikographie,Grammatik und Pragmatik: Übereinstimmung herrschte bei den Teilnehmern der Colloquien darüber, daß sich das Wörterbuch durch eine besondere Qualität der lexikographischen Reflexion auszeichnen soll. Um diese zu erreichen, ist es notwendig, im Rahmen des SP 1 die Ansätze und Modelle der Lexikologie sowie die lexikographischen Erfahrungen, die bei der Er­ arbeitung vorhandener oder laufender Wörterbücher gesammelt worden sind, auszuwerten. In diesen SP gehört auch die Auswertung der Ergeb­ nisse im Bereich der Grammatik und Pragmatik, um zu entsprechenden Kategorien zur Beschreibung der Stichwörter zu kommen. Es sind Krite­ rien zusammenzustellen zur Unterscheidung von Wortklassen und Sub­ klassen, es sind Flexions-, Funktions- und Wortbildungsmuster zu ent­ wickeln sowie Fragen der Definition zu beantworten. S P 2 Fachsprachen: Das Wörterbuch soll sich durch eine starke Berücksichtigung der fachsprachlichen Komponente auszeichnen. Auch hier sind vorliegende theoretische Arbeiten sowie vorliegende Ergebnisse lexikographischer Arbeiten auszuwerten: so etwa vorliegende Wörterbü­ cher für Fachsprachen, die Ergebnisse der nationalen und internationalen Normungsbemühungen, vorliegende Terminologien und Nomenklaturen.

385 Es ist eine Aufstellung der Fachbereiche und deren Klassifizierung durch­ zuführen. Es sind die spezifischen Eigenheiten, die interne Gliederung und Schichtung der einzelnen Fachwortschätze zu erarbeiten, so wie etwa Uwe Pörksen das gestern für die Sprache der Botanik und Zoologie, der Chemie und Psychoanalyse gezeigt hat oder wie etwa u.a. Dieter Möhn es in seinem Schichtenmodell “Theoriesprache, fachliche Umgangssprache und Verteilersprache” vorgeführt hat. ln diesen Bereich fällt auch das Problem der Eigennamen, die etwa im Fachbereich der Geschichte und Geographie als zur Fachsprache zugehörig angesehen werden können. Eine weitere zentrale Fragestellung dieses SP betrifft die Bedingungen des Transfers sowie die Beziehungen zwischen der Gemeinsprache und den Fachsprachen und zwischen den Fachsprachen untereinander. Auf das Problem der Komplexität, das sich vor allem, aber nicht ausschließ­ lich in diesem Bereich stellt, komme ich weiter unter zu sprechen. In den SP 3 Sprachdidaktik und Benutzeraspekte gehören Fragen der Interessen der Benutzer, so etwa die des Laien, der sich fachlich informieren, wie auch des Fachmanns, der sich einem Laien verständlich machen will. Hinzuweisen ist hier auf Probleme des Sprach­ unterrichts für Deutsch als Muttersprache und als Fremdsprache. Es sind Überlegungen anzustellen zu verschiedenen Formen der Präsentation des Wörterbuchs sowie über Möglichkeiten der Rückkoppelung von vorgesehe­ nen Benutzergruppen zu den Bearbeitern. M it S P 4 Standardsprache,Sozial - und Regional­ dialekte sind einmal die regionalen Unterschiede innerhalb der BR, besonders aber die sprachlichen Besonderheiten in der BR, der DDR, der Schweiz und Österreichs und anderer deutschsprachiger Gebiete ange­ sprochen sowie die Sondersprachen, die Soziolekte, und Sprachschichten wie Umgangssprache, Vulgärsprache, Schriftsprache u.ä. Mit diesem Be­ reich stellen sich Fragen der Norm bezüglich der Schreibung und Ausspra­ che. Das Wörterbuch ist ein Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Das Corpus zur lexikographischen Dokumentation beschränkt sich auf Texte von etwa 1950 an bis zur Bearbeitungszeit. Es soll jedoch eine historische Komponente haben in dem Sinne, daß bei historisch relevan­ ten Wörtern über diesen Zeitraum hinaus weiter in die Geschichte zurück­ gegriffen werden soll. In den damit angesprochenen SP 5 — Wortge­ schichte und Etymologie — fällt auch die historische Ver­ flechtung von Gemeinsprache und Fachsprachen.

386 Die Erstellung des Corpus ab 1950 ist Gegenstand des SP 6 Corpora und Belegsammlungen. Hier ist zunächst zu prüfen, ob und in­ wieweit vorhandene Belegsammlungen etwa des IdS, des Dudens, des Grimmschen Wörterbuchs bzw. vorhandene gespeicherte Corpora etwa im IdS mit seinen Nebenstellen, in Saarbrücken, Lund, Bonn u.a. für dieses Unternehmen zur Verfügung gestellt und für eine Auswertung ver­ fügbar gemacht werden können. Dieser Bestandsaufnahme müßte die Erstellung eines Ergänzungscorpus folgen, das wahrscheinlich vornehmlich fachsprachliche Texte enthalten würde.

1.2. Allgemeine Probleme

Das erste Problem, das der Komplexität, ergibt sich vor allem durch die fachsprachliche Komponente. Zur Lösung sind Möglichkeiten der Reduk­ tion zu überdenken. Es müßte geprüft werden, ob nicht innerhalb der Ge­ samtmenge der Fachsprachen nach zu definierenden Relevanzkriterien bestimmte Fachsprachen ausgewählt werden können -, weiterhin, ob nicht bestimmte Schichten der einzelnen Fachwortschätze vorrangig oder aus­ schließlich berücksichtigt werden könnten. Zum dritten ergibt sich die Möglichkeit, systemhafte Erscheinungen der Fachsprachen und der Ge­ meinsprache systematisch und damit ökonomisch zu beschreiben. Als zweites allgemeineres Problem stellt sich die Frage nach dem Benutzer, nach der Zielgruppe des Werkes. Es müßte sowohl für den Muttersprach­ ler als auch für den Ausländer nützlich sein. Unter Hinblick auf die fach­ sprachliche Komponente könnte man in Erwägung ziehen, den Bereich der Fachsprachen zu berücksichtigen, auf dem der Laie mit Fachsprach­ lichem konfrontiert wird, in dem Fachsprachliches an den jeweiligen Nicht­ fachmann herangetragen wird. Gemeint ist jene Schicht, die Möhn die Ver­ teilersprache nennt, die ich lieber die Verbreitungssprache nennen würde: der Bereich der Werbung und der Propaganda, Gebrauchsanleitungen für den Zusammenbau von Möbeln und für die eigenhändige Installation von Elektrogeräten, Beschreibungen von Maschinen, Autos u.a., vor allem die für den Nichtfachmann gedachten popularisierenden Sachbücher und Sach­ sendungen (auch schon für Kinder), angefangen von Dittfurth über Habe und Cousteau bis zu Sielmann, Stern und Grzymek, Ratgeberbroschüren für Kleingärtner und Herzkranke. Eine Entscheidung in dieser Richtung hat starke Konsequenzen für die Zusammensetzung des Ergänzungscorpus.

387 Eine weitere Grundsatzfrage ist, ob das Wörterbuch generell alphabe­ tisch ist oder ob systemhafte Erscheinungen auch systematisch beschrie­ ben werden sollen. Zu denken wäre etwa an die systematische Darstel­ lung von Begriffsfeldern in Zentralartikeln (vgl. die Begriffsleitern, -reihen und Bestandsreihen in den DIN-Blättern), an Wortfelder, Distributions­ muster, Wortbildungsmuster, Funktionsmuster u.ä. Eine weitere Frage betrifft die Verbindung von Fachsprachen und Ge­ meinsprache. Dem Weinrichschen Modell von einem Grundwörterbuch für die Gemeinsprache und einem Kranz von Satelliten-Wörterbüchern für die Fachsprachen und der Variante, die alle Fachsprachen in einem zweiten Wörterbuchteil zusammen dem Grundwörterbuch gegenüberstellt, diesem trennenden Modell mit seinem notwendig aufwendigen Verweis­ system steht die integrierende Lösung gegenüber, die die Fachsprachen und die Gemeinsprache zusammenhängend beschreiben will. Als weiteres, wenn auch nicht als letztes Problem ist die Veralterung zu nennen, die sich vor allem durch die rapiden Ausweitungen in den Fach­ sprachen ergibt.

2.1. Arbeitsplan

Die entwickelten Vorstellungen gehen von zwei Phasen aus. ln der Phase 1 (Dauer: 3 Jahre) ist innerhalb der sechs Schwerpunkte eine Bestands­ aufnahme durchzuführen. Die Ergebnisse sind zu einer Gesamtkonzeption zusammenzufassen, in der der Aufbau und Inhalt des Wörterbuches und der einzelnen Artikel festgelegt ist. Im Rahmen der entwickelten Gesamt­ konzeption wäre in der Phase 2 (Dauer: 20 Jahre) das Wörterbuch zu schreiben. Der vorgesehene Umfang beträgt 20 Bände oder äquivalente Publikationsformen.

2.2. Organisation Die Vorstellung geht aus von einem Projektleiter, der hauptamtlich an­ gestellt ist und dessen Position angesichts der Bedeutung und Langfristig­ keit des Unternehmens mit wichtigen Kompetenzen und nach Möglich­ keit mit einigen attraktiven Attributen ausgestattet ist. Eine Gruppe hauptamtlich angestellter Wissenschaftler hat in der Phase 1 unter der Leitung des Projektleiters die Aufgabe, nach einer Bestandsauf­ nahme des Forschungsstandes der einzelnen Schwerpunktsbereiche die je­ weiligen Ergebnisse für ein solches Wörterbuchunternehmen auszuwerten, aufeinander abzustimmen und zu einer Gesamtkonzeption zu verarbeiten.

388 Jedem dieser Schwerpunkte wird eine kleine Beiratsgruppe, bestehend aus externen Experten, zugeordnet. Diese haben die Aufgabe, sich gene­ rell beratend an der Vorbereitung und im Einzelfall unmittelbar an der Ausarbeitung bestimmter Teilthemen zu beteiligen. Nach Klärung der Gesamtkonzeption ist von einer erweiterten Wörter­ buchredaktion in der Phase 2 (Durchführung) mit dem Abfassen der Wörterbuchartikel zu beginnen. Dabei erscheint es nützlich, zwei größere Gruppen mit je einem Gruppenleiter zu bilden. Diese haben die Arbeit der beiden Gruppen zu organisieren, die Manuskripte zu redigieren u.ä. Die Gesamtorganisation liegt auch in der Phase 2 beim Projektleiter. Für die wichtigsten Fachbereiche sind jeweils Fachleute als Außenmitarbeiter zu verpflichten, die für den jeweiligen fachsprachlichen Wortschatz Roh­ artikel liefern und der Wörterbuchredaktion im Bereich der Fachsprachen beratend zur Seite stehen. Für das Projekt in all seinen Phasen ist ein Wörterbuchrat zu ernennen, der in den Phasen 1 und 2 unterschiedlich besetzt sein kann. Dem Wörterbuchrat sollten neben Mitgliedern der kleinen Schwerpunkts­ beiratsgruppen und weiteren Fachleuten auch Persönlichkeiten des öffent­ lichen Lebens angehören. Es ist zu überlegen, ob nicht zwischen dem Lei­ ter und dem recht großen Wörterbuchrat ein kleineres Gremium als Lei­ tendes Kollegium, bestehend aus 4 Personen, eingerichtet werden soll, dessen Mitglieder in regelmäßigem engerem Kontakt miteinander stehen.

3. Kulturelle Aspekte

Ein Wörterbuch mit dieser Thematik und diesem Umfang, ein solches interdisziplinäres Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, das die komplexe Struktur der Sprache erfaßt und beschreibt, gibt es nicht. Wir sind der Meinung, daß ein solches Wörterbuch kulturell und kultur­ politisch sinnvoll, notwendig und trotz hoher Kosten zu rechtfertigen ist. Es könnte vermitteln zwischen verschiedenen sozialen und regionalen Gruppen mit ihren spezifischen Spracheigenheiten, zwischen verschie­ denen Lebensbereichen wie Politik, Behörde und dem Bürger, zwischen den Vertretern der verschiedenen Fachbereiche untereinander und dem Laien. Betroffen ist der Gesamtbereich der Schule als Lehrstätte für den Unter­ richt von Deutsch als Muttersprache. Berührt ist das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik, der DDR, Österreich und der Schweiz.

389 Wir glauben weiterhin, daß es einem führenden westlichen Kulturstaat gut ansteht, seine Sprache in angemessener Weise zu dokumentieren im Sinne der Förderung kultureller Werte und Leistungen. Das Deutsche ist im mittel- und westeuropäischen Raum die Sprache mit der größten Anzahl der Muttersprachler. Als Fremdsprache ist sie weit verbreitet. Ein solches Werk stellt für den Unterricht von Deutsch als Fremdsprache eine völlig neue Grundlage dar, sowohl für den Unter­ richt im Ausland (19 Millionen Deutschlernende) als auch im Inland (über 2 Millionen ausländische Arbeitnehmer). Auf den Nutzen für die Übersetzerdienste ist ebenfalls hinzuweisen. Das geplante Werk wird den Anspruch auf Anerkennung der deutschen Sprache als Amts- und Konferenzsprache bei internationalen Verhand­ lungen und als Arbeitssprache in internationalen Organisationen unter­ streichen.

4. Der gegebene Bericht gibt die erste Phase der Vorplanung wieder, in der es darum ging, den Problemhorizont abzustecken. Mit dem näch­ sten Colloquium Ende Mai 1976 (Thema: Probleme der Fachsprachen in Verbindung mit Problemen der Lexikologie und Lexikographie, der Grammatik und Pragmatik) beginnt die detaillierte Beschäftigung mit den in den Schwerpunkten gestellten Fragen. Natürlich liegt über dem, von dem berichtet worden ist, — um es unter­ kühlt zu sagen -- ein Hauch von Utopie. Trotzdem bleibt die Hoffnung, daß sich ein zweites Zitat von Christoph Ernst Steinbach nicht als Pro­ phezeiung für den geschilderten Plan erweist: “Man betrachte nur selber, wieviele zwar deutsche Lexica versprochen, aber wenig herausgekommen ist.” , sondern daß im Jahre 2004 ein führender Mediziner in Bezug auf das geplante Wörterbuch das schreiben könnte, was Schiller 200 Jahre früher an Goethe schrieb: “Den Adelung erbitten wir, wenn Sie ihn nicht mehr brauchen. Ich habe noch allerhand Fragen an dies Orakel zu tu n .” — Wahrscheinlich sind Sie unzufrieden, weil der Bericht nur Probleme auf­ wirft, sie aber nicht löst. Auch wir sind damit nicht zufrieden. Möglicher­ weise ist diese Unzufriedenheit jedoch eine gute Motivation zum Weiter­ denken.

390 Anmerkungen 1 Dies Zitat ist wie die beiden Zitate am Ende des Berichts entnommen: Helmut Henne, Deutsche Lexikographie und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert. In: Wortgeographie und Gesellschaft. Festschrift für L. E. Schmitt, 1968, S. 80 - 112. 2 Erschienen im Jahrbuch 1975 des Instituts für deutsche Sprache (Probleme der Lexikologie und Lexikographie = Sprache der Gegenwart 39, Düssel­ dorf 1976, S. 347 - 371). Kurzfassung in: “Die Zeit”, Nr. 27, 27.6.1975, S. 34 - 35. 3 Die 1963 errichtete Stiftung trägt den Namen ihres Stifters Werner Reimers, eines 1965 verstorbenen Industriellen. Vgl. im einzelnen: Die Werner-Rei- mers-Stiftung. Arbeit und Planung 1963 - 1971. Bad Homburg v.d.H. 1972. 4 Teilnehmerliste: H. Baitsch (Universität Ulm), H. Bergenholtz (Forschungsgruppe Limas, Bonn), G. Drosdowski (Bibliographisches Institut, Mannheim), P. Gilbert (Universität Saarbrücken), P. Grebe (Institut für deutsche Sprache, Mann­ heim), M. Hellmann (Institut für deutsche Sprache, Bonn), H. Henne (Se­ minar für deutsche Sprache und Literatur, Braunschweig), R. Hoberg (Insti­ tut für Sprach- und Literaturwissenschaft der Technischen Hochschule, Darm- stadt), A. Kirkness (Institut für deutsche Sprache, Mannheim), H. Lippert (Medizinische Hochschule Hannover), W. Mentrup (Institut für deutsche Sprache, Mannheim), P. Mittelstaedt (Physikalisches Institut der Universität Köln), D. Möhn (Germanistisches Seminar der Universität Hamburg), H. Moser (Universität Bonn; Institut für deutsche Sprache, Mannheim), K. Müller (Staatssekretär a.D., Werner-Reimers-Stiftung), H. Neumann (Universität Göttingen; Grimmsches Wörterbuch, Göttingen), J. Petöfi (Universität Biele­ feld), A. Podlech (Juristisches Seminar der Technischen Hochschule Darm­ stadt), H. Rupp (Universität Basel), W.H.U. Schewe (DIN, Berlin), H. Spie­ gel (VDI, Düsseldorf), E. Ströker (Seminar für Philosophie der Universität Köln), G. Wahrig (Seminar für vergleichende Sprachwissenschaft der Univer­ sität Mainz), H. Weinrich (Universität Bielefeld), E. Weis (Wirtschaftsuniver­ sität Wien), E. Wüster (Universität Wien).

391 Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1976

1. Allgem eines

Die großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen das Institut im Verlauf des Jahres 1976 zu kämpfen hatte, schließen einen erfreulichen Gesamtbericht aus. Die ungünstige Zusammensetzung der Institutsfinanzen aus einem ver­ gleichweise kleinen Grundhaushalt und dem großen Anteil von meist nur für kurze Laufzeiten gewährten Projektmitteln erwies sich im Berichts­ jahr als besonders problematisch. Nachteilig wirkte sich diese wirtschaft­ liche Strukturschwäche insbesondere auf eine größere Anzahl von Mitar­ beitern aus, deren Arbeitsplätze nicht erhalten werden konnten. Die Bemühungen der Organe des Instituts richteten sich deshalb in erster Linie auf eine wirtschaftliche und organisatorische Konsolidierung, und zwar im Zusammenwirken mit dem Bundesministerium für Forschung und Technologie, das während des Berichtsjahres noch die Hauptverant­ wortung für den Grundhaushalt des Instituts hatte. Erfreulicherweise konnte das Ministerium den ersten Schritt des im Vor­ jahr vereinbarten Konsolidierungsplans verwirklichen. Dem Institut wur­ den fünf neue Planstellen bewilligt. Ein Zustand, in dem die meisten Mit­ arbeiter nicht den kurzfristigen Wegfall ihrer Arbeitsplätze befürchten müssen und in dem Planung und Durchführung von Forschungsaufgaben nicht immer wieder durch wirtschaftliche Probleme beeinträchtigt werden, läßt sich jedoch wohl erst in einigen weiteren Jahren erreichen. Während des Berichtsjahrs ergaben sich personelle Veränderungen beim Vorstand des Instituts. Im März trat Professor Paul Grebe aus Altersgrün­ den von seinem Direktorenamt zurück. Zu seinem Nachfolger wurde Dr. Gerhard Stickel ernannt. Im Juni legte Professor Ulrich Engel seine Lei­ tungsaufgaben nieder. Am 1. Juli wurde Herr Stickel auf die Dauer von fünf Jahren zu seinem Nachfolger als Geschäftsführender Direktor ernannt. Gleichzeitig berief das Kuratorium Herrn Hans-Joachim Spors zum neuen Verwaltungsdirektor. Im Unterschied zu den Vorjahren besteht der Vor­ stand nun aus einem wissenschaftlichen Direktor und einem Verwaltungs­ direktor. Dr. Wolfgang Mentrup wurde im März zum Leiter der Abteilung Gramma­ tik und Lexik ernannt und Professor Dr. Dieter Krallmann (Gesamthoch­ schule Essen) zum Leiter der Abteilung Linguistische Datenverarbeitung.

392 Mit der kommissarischen Leitung der Zentralabteilung wurde Herr Wolf­ gang Teubert beauftragt.

1.1. Personalstärke im Berichtsjahr

15 Wissenschaftler auf Planstellen 42 Wissenschaftler auf Projektstellen 23 Verwaltungs- und technische Angestellte auf Planstellen 16 Verwaltungs- und technische Angestellte auf Projektstellen 44 studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte

1.2. Anschriften

Zentrale, einschließlich Rechenzentrum und Arbeitsstelle für Fragen der Mehrsprachigkeit: Friedrich-Karl-Straße 12, 6800 Mannheim, Forschungsstellen Bonn: Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik und der DDR, Kaiserstraße 46, 5300 Bonn; Deutsches Spracharchiv, Adenauerallee 113, 5300 Bonn, Forschungsstelle Innsbruck: Innrain 52, A-6020 Innsbruck, Forschungsstelle Freiburg: Beifortstraße 14, 7800 Freiburg, Schriftleitung der “Germanistik” : Pfrondorfer Straße 4, 7400 Tübingen.

1.3. Haushalte des Instituts im Berichtsjahr

Ordentlicher Haushalt

E innahm en: Bundesministerium für Forschung und Technologie DM 1.960.800,- Land Baden-Württemberg DM 185.000,- Stadt Mannheim DM eigene Einnahmen DM 71.500,-

DM 2.217.300,-

A usgaben: Personalausgaben DM 1.759.900,- Sachausgaben DM 457.400,-

DM 2.217.300,-

393 Projekt “Linguistische Datenverarbeitung” Zuschußgeber: Bundesministerium für Forschung und Technologie Personalausgaben DM 1.292.900,- Sachausgaben DM 667.400,- DM 1.960.300,-

Projekt “Kontrastive Linguistik” Zuschußgeber: Auswärtiges Amt Personalausgaben DM 1.215.700,- Sachausgaben DM 118.300,- DM 1.334.000,-

Projekt “Fremdwörterbuch von Schulz/Basler” Zuschußgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft Personalausgaben DM 194.320,- Sachausgaben DM 5.680,-

Laufzeit 1.4.1976 - 31.3.1977 DM 200.000 ,-

Projekt “Hochlautung” Zuschußgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft Personalausgaben DM 115.000,- Sachausgaben DM 5.000,- DM 120.000,-

Projekt “Verbvalenz” Zuschußgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft Personalausgaben DM 250.000,- Sachausgaben DM 10.000 ,-

DM 260.000,-

394 Projekt “Ost-West-Wortschatzvergleich” Zuschußgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft Personalausgaben DM 271.380,- Sachausgaben DM 103.370,-

Laufzeit 1.4.1976 - 1.4.1977 DM 374.750,-

Gesamtzuschüsse DM 6.466.350,-

2. Forschungsberichte

2.1. Abteilung Grammatik und Lexik L eiter: Dr. W. M entrup Unter Verwertung der Ergebnisse des 1975 abgeschlossenen Projekts “Grundstrukturen der deutschen Sprache” sind folgende Arbeiten durch­ geführt worden.

2.1.1. Geschriebenes Deutsch 2.1.1.1. Die Monographie “Untersuchungen zur Wortstellung in der ge­ schriebenen deutschen Gegenwartssprache, Teil I: Folgeerscheinungen im einfachen Satz” (U. Hoberg) wurde im Berichtsjahr im Manuskript abgeschlossen. Der Teil II: Stellungsverhältnisse im komplexen Satz, wird im Frühjahr 1977 vorgelegt. Im weiteren werden weitere Bereiche der deutschen Grammatik unter­ sucht, die für das Fach “Deutsch als Fremdsprache” notwendig sind und in dem abgeschlossenen Projekt “Grundstrukturen” nicht erarbeitet wer­ den konnten.

Im Berichtsjahr wurde die Arbeit “Systembeschreibung und Statistik der Attribut- und Angabesätze der geschriebenen und gesprochenen deutschen Sprache. Teil 1: Die Relativsätze ” (B. Hilgendorf) im Manuskript abge­ schlossen. Daneben laufen die Arbeiten an den übrigen Attribut- und An­ gabesätzen weiter. Die weiteren Teile der Monographie sollen im nächsten Jahr fertiggestellt werden. Weiterhin wurden die Arbeiten “Valenz der Substantive” (W. Teubert) und “Untersuchungen zum Objektsatz in der geschriebenen deutschen Gegenwartssprache” (I. Zint) im Manuskript fertiggestellt sowie das Ar­ beitspapier “Problems in the transformational Syntax of German nominali- zations” (J. Toman). 395 Trotz der zahlreichen im Rahmen des Projekts “Grundstrukturen der deutschen Sprache” erarbeiteten Untersuchungen sind viele andere Teil­ bereiche der Grammatik nicht ausreichend beschrieben. Innerhalb der Abteilung werden Überlegungen angestellt, diese Teilbereiche zunächst systematisch zu erfassen und in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Danach sollen bestimmte Themen für die weitere Arbeit ausgesucht wer­ den. Die in Angriff genommenen Untersuchungen sollen die Analyse eines umfangreichen Corpus mit einbeziehen. Am 28.9.1976 fand ein Gespräch zwischen Vertretern des Goethe-Instituts, München, und des IdS statt über Möglichkeiten der weiteren Zusammenarbeit. Es wurde eine lockere Ko­ operation zwischen den Mitarbeitern des Goethe-Instituts und der Abtei­ lung Grammatik und Lexik vereinbart.

2.1.2. Gesprochenes Deutsch 2.1.2.1. Zur personellen Besetzung der Forschungsstelle Freiburg: P. Schröder wird vom IdS bezahlt, ebenso F.-J. Berens, der die unter 2.1.2.1.1. genannten Aufgaben erledigt, hauptsächlich aber mit an dem Projekt “Dialogstrukturen” arbeitet, das als Projekt am Deutschen Semi­ nar der Universität Freiburg von Prof. Dr. H. Steger geleitet wird. Die im März auslaufenden Beurlaubungen der Mitarbeiter G. Schank und J. Schwitalla konnten vom IdS nicht verlängert werden. 2.1.2.1.1. Für die Verwaltung des Freiburger Archivs von Texten der ge­ sprochenen Standardsprache des Deutschen sowie für Serviceleistungen (etwa 200 Anfragen, Beratungen, Gutachten u.a.) wurden im Berichts­ jahr monatlich 5 Mitarbeiterstunden (F.-J. Berens) und 10 Hilfskraft­ stunden bzw. 230 Mitarbeiterstunden (F.-J. Berens) und ca. 115 Hilfs­ kraft- und Sektretärinnenstunden im Jahr aufgewendet. Im Berichtsjahr ist die Monographie von J. Dittmann: “Sprechhandlungs­ theorie und Tempusgrammatik. Futurformen und Zukunftsbezug in der gesprochenen deutschen Standardsprache” (=Heutiges Deutsch 1/8), er­ schienen. Die für die Arbeit “Untersuchungen zur Wortstellung in der gesprochenen deutschen Standardsprache der Gegenwart” (P. Schröder) notwendigen Handcodierungen wurden im Berichtsjahr abgeschlossen, interpretativ und frequentiell nach Aspekten wie “Satzform/Satzfunktion”, “Vorfeld­ besetzung und Vorfeldfunktion (Inversion)”, “Ausklammerung/Nachfeld- besetzung”, “Satzgliedfolge und Textkonstitution”, “innerer Rahmen” oder etwa “Verbaler Rahmen — Typen und Vorkommen” ausgewertet. Diese Auswertungen streben zum einen Aussagen über mögliche topolo­ gische Besonderheiten der gesprochenen Sprache an und zum anderen eine Überprüfung möglicher redekonstellativer Abhängigkeiten topolo-

396 gischer Eigenschaften von Texten. Ein Rohmanuskript ist für Ende 1976 geplant. Unter Verwertung der Freiburger Ergebnisse des Projekts “Grundstruk­ turen der deutschen Sprache” wurde die Untersuchung zu “Modalität und Konjunktivgebrauch in der gesprochenen deutschen Standardsprache. Eine Studie zu Sprachsystem, Sprachvariation und Sprachwandel im heu­ tigen Deutsch” (K.-H. Bausch) an der Zentrale Mannheim im Manuskript abgeschlossen.

2.1.2.2. Im Rahmen der in der Zentrale Mannheim durchgeführten Un­ tersuchung “Syntaktische Strukturen der gesprochenen Standardsprache” (Leitung: W. Mentrup) wurde vor allem der Aspekt “Strukturen außer­ halb des Verbalsatzes” von H. Günther näher untersucht und weitgehend abgeschlossen. Die Materialbasis dafür war die für das Gesamtunternehmen zugrundegelegte Textauswahl aus dem Freiburger Corpus mit einem Um­ fang von ca. 100.000 Wörtern. Der mit diesem Teilthema angesprochene Bereich wurde in zwei Hauptgruppen unterteilt: Verblose Sätze: Hier wurde ein an die Verbvalenzgrammatik angelehntes Modell formaler Strukturen als Beschreibungsbasis zugrundegelegt und versucht, regelhafte Strukturen von verblosen Sätzen aufzufinden und die Belege solchen Gruppen zuzuordnen. Ferner wurde untersucht, inwie­ weit solche Sätze bestimmte Funktionen erfüllen und ob und inwieweit sie sich dadurch von den Verbalsätzen unterscheiden. Verbunden damit war eine statistische Auswertung der behandelten Texte nach diesem Kri­ terium . Gliederungs- und Kommentarsignale außerhalb des Satzverbandes: Hier wurde der Gebrauch derartiger Partikeln hinsichtlich der Umgebung und ihrer kommunikativen Funktion untersucht. Die Ergebnisse wurden zu einer Statistik zusammengefaßt und auf die verschiedenen behandelten Texttypen projiziert, wodurch sich deutlich bestimmte Textgruppen von­ einander abheben. In weiterer Bearbeitung befinden sich die parenthese­ elliptischen Satzkonstruktionen und Interjektionen. Außerdem wurde die Komplexität von Sätzen weiter untersucht und statistisch im Bezug auf Textgruppen ausgewertet sowie das Verbregister der gesprochenen deutschen Standardsprache der Gegenwart weiter be­ arbeitet.

2.1.3. Forschungsstelle Innsbruck Im Rahmen der Arbeiten über die Wortbildung im Deutschen wurden die bisherigen Voruntersuchungen für den 3. Band (Das Adjektiv) ausgewertet

397 Die präfigierten und suffigierten Adjektive wurden nach Funktionen und anschließend im Vergleich mit der Goethezeit dargestellt. Zu den Suffixoi- den, Fremdsuffixen und den abgeleiteten Adverbien wurden die Material­ sammlungen beendet und Voruntersuchungen angestellt.

2.1.4. Forschungs^telle für öffentlichen Sprachgebrauch in Bonn Die Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch (Leiter: Dr. M.W. Hellmann) hat im Jahre 1976 weiterhin ihr Thema — die Untersuchung von Phänomenen des öffentlichen Sprachgebrauchs, insbesondere der sprachlichen Differenzierung zwischen BRD und DDR — bearbeitet. Während die Arbeit in einzelnen Teilbereichen auf Grund weiterer Redu­ zierungen bei Hilfskraftstellen weiter eingeschränkt werden mußte, konn­ ten andere Arbeitsbereiche nach der Bewilligung des bei der DFG bean­ tragten Projekts “Ost-West-Wortschatz Teil I” in der 2. Jahreshälfte wie­ der aufgenommen bzw. neu begonnen werden.

2.1.4.1. Archiv, Bibliothek, bibliographischer Service: Das Archiv zum öffentlichen Sprachgebrauch — eine Sammlung von mehreren tausend Zeitschriften-, Zeitungs- und sonstigen Aufsätzen — wurde weitergeführt (Betreuer: Dr. M. Kinne); ebenso die spezialisierte Handbibliothek (Be­ treuer: Dr. G.D. Schmidt). Archiv und Bibliothek sowie der auf sie ge­ stützte lebhafte bibliographische Service (ca. 100 - 150 Anfragen pro Jahr) gerieten Anfang 1076 in eine sehr schwierige Lage, da auch die lezte für diese Zwecke vorhandene Hilfskraftstelle gestrichen wurde. 2.1.4.2. Textauswertung und maschineller Service: Obwohl zusätzliche Texte bereitgestellt werden konnten, konnte wegen einer neuen Kosten­ regelung bei der Benutzung von Hochschulrechenzentren und wegen der Streichung einer Hilfskraftstelle maschineller Service in größerem Umfang nur in 2 Fällen (je 1 interner und externer Interessent) geleistet werden. Es wird z.Zt. nach neuen organisatorischen Wegen gesucht, den notwen­ digen maschinellen Service wiederaufnehmen zu können. 2.1.4.3. Das Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft “Ost-West- Wortschatz” hat folgende Ziele: a) die Erweiterung der vorhandenen Textbasis aus ost- und westdeutschen Zeitungstexten durch Aufnahme zusätzlicher Regionalzeitungen sowie durch die Aufnahme sehr früher und aktueller Jahrgangs-Auswahlen (1949 und 1974); b) die Entwicklung von Verfahrensweisen zur (teil-)maschinellen Verar­ beitung von Texten zu Wörterbüchern (“Maschinelles Korpus-Wörter­ b u ch ” );

398 c) die Erstellung vergleichender Wörterverzeichnisse zur ost- und west­ deutschen Zeitungssprache im Hinblick auf Art, Ausmaß, Schwerpunkte und Entwicklungstendenzen der Differenzen. Im Berichtsjahr wurden, der Projektplanung folgend, die Arbeitsgebiete (1) Textdokumentation, (2) Sekundäres Material, (3) Programmierung intensiv bearbeitet; ferner wurden im Rahmen einer (4) Pilotstudie be­ stimmte Teilfragen der Textverarbeitung, der Lexembearbeitung und der Konzeption eines “Maschinellen Korpus-Wörterbuchs” behandelt. Das Gesamtprojekt ist auf 4 Jahre veranschlagt und inhaltlich genehmigt. Die finanzielle Bewilligung ist zunächst für 1 Jahr ausgesprochen; zum 1.4.1977 ist ein Fortsetzungsantrag zu stellen. Sämtliche Arbeiten befin­ den sich somit noch im Anfangsstadium.

2.1.5. Fremdwörterbuch Im Rahmen der Fertigstellung des deutschen Fremdwörterbuchs von Schulz/Basler (R — Z und Quellenverzeichnis) wurde der Buchstabe R abgeschlossen und der Buchstabe S im Manuskript zur Hälfte bearbeitet, redigiert und an den Verlag geschickt. Die Materialarbeiten zu S sind ab­ geschlossen, die zu T in Angriff genommen.

2.1.6. Großes deutsches interdisziplinäres Wörterbuch der deutschen Sprache An den in Bad Homburg stattfindenden Colloquien über das “Projekt eines großen interdisziplinären Wörterbuchs der deutschen Sprache” ha­ ben von der Abteilung M. Hellmann, A. Kirkness und W. Mentrup teil­ genommen. Die Colloquien, die von der Werner-Reimers-Stiftung und dem Institut veranstaltet und von der Stiftung finanziert werden, haben den Sinn, die Überlegungen zu dem genannten Projekt zu organisieren und weiterzuführen. Im Berichtsjahr fanden drei Colloquien statt (7.2., 28.-29.5., 25.-26.6.1976).

2.1.7. Zur gegenwärtigen Lexikographie-Analyse vorhandener Wörter­ bücher Im Rahmen der von der Werner-Reimers-Stiftung (teil)finanzierten Pilot­ studie (zu einem geplanten neuen Wörterbuch der deutschen Gegenwarts­ sprache) wurden von einer kleineren Arbeitsgruppe der Abteilung unter der Leitung von W. Mentrup die ersten Analysen vorhandener Wörterbü­ cher durchgeführt. Im Berichtsjahr wurden Arbeitspapiere zu folgenden Wörterbüchern erstellt: “Wahrig, Deutsches Wörterbuch” (E. Link/G. Strauß, “Klappenbach/Steinitz” (I. Nortmeyer), “Exemplarische Gruppe in vorliegenden Wörterbüchern” (G. Strauß). Diese vorliegenden Einzel­

399 analysen sollen in einem weiteren Schritt kontrastiv ausgewertet werden. Dabei ist angestrebt, für das große Wörterbuch Empfehlungen auszuarbei­ ten. Im weiteren sollen Fragen der verschiedenen Definitionsmöglichkeiten (E. Link), Probleme der Zirkularität von Definitionen (G. Strauß) behan­ delt werden sowie eine Analyse der Neufassung des Grimmschen Wörter­ buchs (I. Nortmeyer) durchgeführt werden.

2.1.8. Arbeitsbereich Soziolinguistik 2.1.8.1. Die vom Wissenschaftsrat 1971 befürwortete Einrichtung einer Abteilung Soziolinguistik konnte auch im Berichtsjahr nicht verwirklicht werden. Im Berichtsjahr wurden Projektierungsarbeiten für eine künftige Abteilung geleistet, die im nächsten Jahr in den zuständigen Gremien des Instituts diskutiert werden. K.-H. Bausch und P. Nikitopoulos haben zwei Positionspapiere zur inhalt­ lichen Strukturierung und Schwerpunktbildung künftiger soziolinguisti- scher Arbeiten im Rahmen des IdS vorgelegt. Darüber hinaus hat P. Nikitopoulos eine Dokumentation über sozio- und psycholinguistische Projekte in der Bundesrepublik in den letzten zwei Jahren vorgelegt. Eine vorläufige Version dieser Dokumentation (62 Nennungen) wurde bei den soziolinguistischen Arbeitsgesprächen im Rahmen des 18. Deutschen Soziologentags vom 29.9. — 1.10.1976 in Bielefeld vorgestellt. 2.1.8.2. Projekt “Optimierung des Lernangebots zur sprachlichen Inte­ gration von ausländischen Arbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutsch­ land” : Das vom Institut vorgesehene Projekt “Zur sprachlichen Integration von Gastarbeitern” ist in dieses Gesamtprojekt des “Sprachverbands Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e.V.”, Mainz, eingegangen, der den Finan­ zierungsantrag an die Stiftung Volkswagenwerk gestellt hat, und bildet nunmehr den Projektteil I des Gesamtprojekts. Hierzu hat P. Nikitopoulos eine neue erweiterte Detailplanung der Forschungsaufgaben vorgelegt. Über diesen Projektantrag wird Anfang 1977 entschieden werden. Im Berichtsjahr wurde auch eine Pilotstudie von Frau I. Keim angefertigt über das “Sprachverhalten ausgewählter türkischer Arbeitnehmer im Raum Mannheim”, die als Forschungsbericht des IdS erscheinen soll.

2.2. Abteilung Kontrastive Linguistik (KL) Leitung: Dr. G. Stickel Die Arbeiten der Abteilung werden von der Kulturabteilung des Auswärti-

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. gen Amtes (Kontrastive Projekte) und der Deutschen Forschungsgemein­ schaft (Verbvalenz) finanziell getragen. Während des Berichtsjahres wurden die Arbeiten in drei Projektgruppen durchgeführt: — deutsch-japanische kontrastive Grammatik (Leitung: Dr. G. Stickel, ab 17.12.76 Prof. T. Kaneko) — deutsch-spanische kontrastive Grammatik (Leitung: Prof. Dr. Hans- Martin Gauger, ab 17.12.76 zusammen mit Prof. Dr. N. Cartagena) — Verbvalenz (Leitung: Helmut Schumacher). Die Projektgruppen der Abteilung arbeiten außerdem in unterschiedlicher Weise mit Wissenschaftlern und Forschungsgruppen anderer Institutionen zusammen. Hervorzuheben ist insbesondere die Zusammenarbeit mit der Kopenhagener Gruppe “deutsch-dänische kontrastive Grammatik”.

2.2.1. Deutsch-japanische kontrastive Grammatik Die Gruppe erarbeitet eine kontrastive Darstellung der deutschen und der japanischen Grammatik, die neuen Lehrwerken für den Deutschunter­ richt in Japan und den Japanischunterricht in den deutschsprachigen Ländern als linguistische Grundlage dienen soll. Seit Mitte des Jahres 1975 wird an einer umfassenden vergleichenden Übersicht über die morphosyntaktischen Strukturen beider Sprachen ge­ arbeitet. Ziel ist dabei die Erstellung jeweils einer Morphosyntax für die beiden Sprachen. Im Oktober 1976 lagen die Einzeluntersuchungen zu den morphosyntaktischen Strukturen in fast allen geplanten Arbeitsbe­ reichen vor. Diese beiden Morphosyntaxen werden dann typologisch kon­ trastiert, d.h. die formalen Unterschiede der morphosyntaktischen Struk­ turen der beiden Sprachen werden durch Gegenüberstellung festgestellt und zusammengefaßt. Mit dem Abschluß dieses Teils ist im Laufe des Jahres 1977 zu rechnen. Parallel hierzu werden bestimmte syntaktische Strukturen des Deutschen und des Japanischen, die sich für den japanischen bzw. deutschen Leser als wichtig und problematisch herausgestellt haben, jeweils unidirektio- nal über Übersetzungsäquivalenzen kontrastiert. Es entstehen somit zwei Versionen: 1) für Japaner schwierige syntaktische Strukturen des Deut­ schen, kontrastiert mit ihren japanischen Übersetzungsäquivalenzen; 2) für Deutschsprechende schwierige syntaktische Strukturen des Japanischen, kontrastiert mit ihren japanischen Übersetzungsäquivalenzen.

401 2.2.2. Deutsch-spanische kontrastive Grammatik Die Gruppe arbeitet an einer kontrastiven Grammatik des Deutschen und Spanischen, die ebenfalls zu neuen Lehrwerken für den fremdsprachlichen Spanischunterricht und den Deutschunterricht in den beiden Sprachge­ bieten die linguistischen Voraussetzungen bieten soll. Die Gruppe hat im Berichtsjahr auf den Gebieten der Phonetik, der Phono­ logie, der Morphosyntax und der Onomasiologie gearbeitet. Auf dem Gebiet der Morphosyntax konnten Komparation, Tempus, Aspekt und Vox ausgearbeitet werden. Die Untersuchungen zum Genus, Numerus und Kasus wurden für das Deutsche abgeschlossen. Der ent­ sprechende spanische und kontrastive Teil wird bis zum Frühjahr 1977 fertiggestellt. Auf dem Gebiet der Wortbildung wurde der Bereich Kom­ position deutsch-spanisch kontrastiv fertiggestellt. Im nächsten Jahr wer­ den u.a. die Gebiete Koordination, Derivation, die Nominalphrase, die Adnominalphrase erarbeitet. Im onomasiologischen Teil sind Formen des Verneinens, des Befehlens, des Hervorhebens, der lokalen Deixis, der Komparation, der Darstellung eines Geschehens vom Objekt her und der Darstellung eines Geschehens ohne Nennung des Täters ausgearbeitet worden.

2.2.3. Deutsch-polnische kontrastive Grammatik Verhandlungen über diese Grammatik wurden seit 1972 mit polnischen Kollegen an mehreren Universitäten geführt. Aus verschiedenen Gründen konnte die Arbeit noch nicht aufgenommen werden, jedoch liegen ver­ schiedene Vorarbeiten vor. Die Grammatik, die auf Anregung des IdS und polnischer Kollegen zu­ rückgeht, wird einem von Prof. Dr. U. Engel gemachten Entwurf folgen. Die Finanzierung dieses Projekts wurde von der Stiftung Volkswagenwerk im April des Berichtsjahres bewilligt. Mit der konkreten Arbeit kann nach Abschluß einer Kooperationsvereinbarung begonnen werden.

2.2.4. Deutsch-serbokroatische kontrastive Grammatik Die deutsch-serbokroatische kontrastive Grammatik wurde auf Anregung jugoslawischer Germanisten an vier Hochschulen (Belgrad, Novi Sad, Sarajevo, Zagreb) im Jahr 1973 begonnen. Sie wird erarbeitet auf der Grundlage eines Projektentwurfs von Prof. Dr. U. Engel, der von den jugoslawischen Kollegen auch zum Koordinator bestellt wurde. Im Berichtsjahr haben zweimal 2-3tägige Seminare in Belgrad stattgefun-

402 den, in denen Herr U. Engel in Probleme der Syntax einführte und Einzelfragen mit den Mitarbeitern besprach. Enge Beziehungen bestehen mit Herrn Professor Rudolf Filipovic, Zagreb, dem Leiter des sechssprachigen kontrastiven Projekts der Universität Zagreb. Finanzielle Unterstützung konnte für dieses Projekt bisher nicht gewonnen w erden.

2.2.5. Deutsch-rumänische kontrastive Grammatik (ab 1976) Dieses Unternehmen wurde von rumänischer Seite angeregt. Gespräche über die Arbeitsaufnahme laufen seit Anfang 1975. Verhandlungen zwischen dem IdS und dem Lehrstuhl für deutsche Sprache an der Uni­ versität Bukarest haben im Mai zum Entwurf einer Vereinbarung geführt, die vor der Ratifizierung steht. Mit Vorarbeiten ist bereits begonnen worden.

Die deutsch-serbokroatische, die deutsch-polnische und die deutsch-rumä­ nische kontrastive Grammatik werden im wesentlichen von ausländischen Wissenschaftlern durchgeführt, wobei das Institut für deutsche Sprache eine Koordinierungs- und Beratungsfunktion übernimmt.

2.2.6. Verbvalenz Das Projekt Verbvalenz wird seit Anfang 1975 für den Zeitraum von drei Jahren durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. Im Berichtsjahr waren die Arbeiten der Projektgruppe (Leitung: H. Schu­ macher) auf das Ziel ausgerichtet, die bereits 1975 erarbeiteten Vorstel­ lungen über die Struktur und den Umfang des geplanten Verbvalenzwör­ terbuchs auf semantischer Basis weiter zu konkretisieren. Zu diesem Zweck wurden einige ausgewählte Gruppen von Verben nach onomasiologischen Kriterien beschrieben. Damit konnte gleichzeitig das zugrundegelegte Grammatikmodell, das den semantischen Zusammenhang der Verbgruppen darstellen soll, weiter ausgearbeitet werden (J. Ballweg, P. Bourstin). Die verschiedenen vorhandenen Verfahren zur Verbklassifikation wurden ana­ lysiert und hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit für die Gruppierung von Ver­ ben getestet (S. Pape). Für die Erarbeitung eines Konzepts zur lexikographischen Deskription wurden neuere Prinzipien der Lexikographie kritisch untersucht. In die­ sem Zusammenhang wurden auch Kriterien aufgestellt für die Anlage von Wörterbuchartikeln und zur Beschreibung der einzelnen Verben nach komplementär-semasiologischen Verfahren (A. Ballweg-Schramm). Da

403 das geplante Wörterbuch im Bereich des Deutschunterrichts für auslän­ dische Studenten verwendbar sein soll, werden die für diese Zielgruppe wichtigen Wörterbücher untersucht (H. Schumacher). Das für die gedach­ te Zielgruppe relevante Verbvokabular wurde auf Grund der Sichtung einschlägiger Wortlisten und Lehrbücher sowie der Auswertung eines Corpus von Prüfungstexten eingegrenzt (J. Kubczak). Die Arbeiten der Projektgruppe wurden bei einem von der Fritz-Thyssen- Stiftung finanzierten Colloquium über “Probleme der Valenzlexikogra­ phie” diskutiert, das am 29. — 30.9.76 im IdS veranstaltet wurde. Die parallel laufenden Arbeiten am morphosyntaktischen Valenzlexikon wurden fortgesetzt. Im Berichtsjahr konnten ein Forschungsbericht mit Einzeluntersuchungen über Probleme der Verbvalenz sowie das “Kleine Valenzlexikon deutscher Verben” erscheinen. Die Datenerfassung für das “Erweiterte Valenzlexikon” wurde abgeschlossen und ein großer Teil der Daten bereits auf Datenträger genommen (G.A. Hamei, N. Trautz). Die Weiterführung der Arbeiten am Teilprojekt “Valenzregister” litt da­ runter, daß die Ablocharbeiten nur sehr langsam erledigt werden konnten und (durch das Ausscheiden von zwei Hilfskräften) seit Mitte des Jahres keine Hilfskräfte mehr für die Korrekturen zur Verfügung stehen. Die Da­ ten zur morphosyntaktischen Analyse von ausgewählten Teilen des Mann­ heimer Corpus können daher voraussichtlich erst 1977 vollständig auf Datenträger gespeichert werden.

2.2.7. Arbeitsstelle für Fragen der Mehrsprachigkeit Diese Arbeitsstelle, die aus zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern besteht, Dr. H. Kloss und Dr. L. Auburger, wird ihre Forschungsberichte in einer Schriftenreihe veröffentlichen mit dem Titel “Deutsche Sprache in Europa und Übersee”, die beim Frank Steiner Verlag, Wiesbaden, erscheint. Als erste Berichte sind vorgesehen Arbeiten über den “Sprachwechsel in Ost- Lothringen” (Hoffmeister), in Druck, über die deutsche Sprache in Kana­ da und über die schweizerische Sprachenfrage (H.P. Müller). Das Manuskript der Arbeit von Dr. H. Kloss über germanische Kultur­ sprachen liegt vor; die Kapitel über die Einzelsprachen gingen an Fach­ gutachter in den betreffenden Ländern.

2.3. Abteilung Linguistische Datenverarbeitung (LDV) Leiter: Prof. Dr. D. Krallmann Die Abteilung Linguistische Datenverarbeitung ist mit Analysen und Ope­ rationalisierungen von Beschreibungen sprachlicher Regularitäten für An­ wendungszwecke im Bereich der Datenverarbeitung befaßt. Ihre Arbeit

404 wird in den Bereichen — Forschung und Entwicklung — Rechenbetrieb — Service und Clearing durchgeführt.

2.3.1. Forschung und Entwicklung ln dem durch das dritte DV-Programm geförderten Projekt PLIDIS (problem­ lösendes Informationssystem mit Deutsch als Interaktionssprache) wird in enger Zusammenarbeit mit einem Pilotanwender ein Informationssystem erstellt. Pilotanwender ist das Regierungspräsidium in Stuttgart, das beab­ sichtigt, PLIDIS auf dem Gebiet der Industrieabwasserüberwachung einzu­ setzen. Das System besteht aus — einem linguistisch-logischen Teil, der die deutschsprachige Eingabe in eine systeminterne, prädikatenlogisch orientierte Darstellung überführt — einem Problemlösungsteil, der zum einen die üblichen Speicher- und Retrievalaufgaben übernimmt, zum anderen darüber hinaus die im An­ wendungsbereich geltenden Gesetzmäßigkeiten in die Problemlösung einbezieht. PLIDIS gibt dem Benutzer in jeder Ablaufphase die Möglichkeit zur Inter­ aktion. Zusammen mit dem Pilotanwender wurde unter besonderer Berücksich­ tigung des Problemlösungsaspekts ein “Weltausschnitt” festgelegt und analysiert. Das System soll, ausgehend von einer natürlichsprachlich ein­ gegebenen Fragestellung, die Fähigkeit haben, aus den vorhandenen Da­ ten sowie den im Weltausschnitt geltenden Regeln die Antwort herzulei­ ten. Dabei wird PLIDIS im Anwendungsbereich gemäß seiner Konzeption realisiert als — Normenkontrollsystem (z.B. bei der Grenzwertüberwachung von Schad­ stoffkonzentrationen) — Auskunftssystem (z.B. bei der Giftigkeit von Chemikalien) — differenziertes Checklistensystem (z.B. bei der Erstellung von An­ weisungen). PLIDIS wird in INTERLISP auf der Anlage SIEMENS 4004/151 unter BS2000 implementiert.

405 2.3.2. Rechenbetrieb Da auch der Rechenbetrieb von den Entlassungen Ende 1975 betroffen wurde, mußten die verwaisten Funktionen von den verbliebenen Mitar­ beitern übernommen werden. Darunter litt naturgemäß besonders die Dokumentation der geleisteten Arbeiten. Neue Textverarbeitungsprogramme wurden überwiegend für den Groß­ rechner 4004/151 erstellt, da die Programmierung im Dialog schneller und komfortabler ist. Für die planmäßige Verlagerung von Textverarbei­ tungsaufgaben von der kleineren 4004/35 auf den Großrechner wurde eine Reihe von Umstellungsprogrammen geschrieben. Auf der kleinen Datenverarbeitungsanlage wurde die Korrektur des Freiburger Corpus der gesprochenen Sprache abgeschlossen und alphabetische Wortformen- und Häufigkeitsregister für das gesamte Corpus von über 220 Texten er­ stellt. Vom Mannheimer Corpus der geschriebenen Sprache (MK 1) wurden nach Textsorten aus mehreren Einzeltexten gemischte Register angefertigt. Nach Abschluß der Korrekturen zum Ergänzungscorpus der geschriebenen Sprache (MK 2) liefen auch für dieses Corpus die entsprechenden Aufbe­ reitungsprogramme (Satzzerlegung, Indices). Um eine wirtschaftliche Auslastung der DV-Anlagen zu sichern, wurde die Zahl der Mitbenutzer erweitert. Neben der Studiengruppe für System­ forschung, die als langjähriger Mitbenutzer der 4004/35 nun auch auf dem Großrechner arbeitet, und einigen Industrieunternehmen aus dem Rhein- Neckar-Raum, die besonders von unserem Lochstreifenleser Gebrauch machen oder den Einsatz einer eigenen DVA vorbereiten, sei besonders das Dokumentationszentrum für Informationswissenschaften (ZDOK) er­ wähnt, dessen Mitarbeiter das auf der 4004/151 implementierte GMD- Datenbanksystem FIDAS mitbenutzen.

2.3.3. Service und Clearing 2.3.3.1. Service: Die Servicestelle informiert wissenschaftliche Institutio­ nen über die Möglichkeiten der Textauswertung am IdS. Dabei steht die Beratung von Interessenten über die Möglichkeit der Bearbeitung eines linguistischen Problems mit den Mitteln der linguistischen Datenverarbei­ tung bzw. die Datenbereitstellung für die Bearbeitung eines solchen Pro­ blems im Vordergrund. Wenn eine Problemstellung des Interessenten mit den der Servicestelle zur Verfügung stehenden Mitteln nicht angegangen werden kann, weist die Servicestelle den Benutzer auf andere Stellen der maschinellen Sprachverarbeitung hin. Sie macht sich dabei ihre Informa­ tionen aus der Clearingstelle zunutze.

406 Im Jahre 1976 zeigte sich ein Trend in Richtung beratender Tätigkeit der Servicestelle. Bestand früher der größte Teil der anfallenden Arbeiten in der Abwicklung von Service-Aufträgen, so nehmen jetzt die fachspezifi­ schen und gezielten Informationen über Möglichkeiten der EDV einen immer breiteren Raum ein. Im Berichtszeitraum wurden 21 Anträge (bis November 1976) auf maschi­ nelle Serviceleistungen entgegengenommen und ausgeführt. Es wurden außerdem weiter ins Detail gehende Informationen an eine Reihe von in- und ausländischen Wissenschaftlern gegeben (etwa 30 Anfragen). 2.3.3.2. Clearingstelle: Die Clearingstelle (seit der 2. Hälfte des Jahres 1971 am IdS Abteilung LDV für den Bereich des ‘Alteren Deutsch’und des ‘Neueren Deutsch’ (ab 16. Jhd.) eingerichtet) ist eine zentrale Infor­ mationsstelle auf kooperativer Basis. Ihre Aufgabe besteht darin, interes­ sierten Wissenschaftlern im In- und Ausland Informationen über abgeschlos­ sene, laufende und geplante Projekte aus dem Bereich der maschinellen Textverarbeitung des Deutschen zu vermitteln. Sie erstellt zu diesem Zweck jeweils auf den neuesten Stand gebrachte Do­ kumentationen bzw. Nachträge zu diesen Dokumentationen. Die Clearing­ stelle veröffentlichte im Dezember 1975 eine neue Dokumentation und verschickte sie an alle Wissenschaftler, die mit der Clearingstelle in Infor­ mationsaustausch stehen, kostenlos. In diesem Jahr führte die Clearing­ stelle eine großangelegte Fragebogenaktion durch, deren Ergebnis (15 neu erfaßte Projekte) in Form eines Nachtrages zum Bericht der Clearing­ stelle 1975 Interessenten zugeschickt wird. Seit Juni 1976 ist die Clearing­ stelle offiziell Mitglied des LDV-Fittings-Vereins.

2.4. Zentralabteilung Kommissarische Leitung: W. Teubert Das Kuratorium hat auf seiner Sitzung am 1.7.1976 W. Teubert mit der kom­ missarischen Leitung und der Umstrukturierung dieser Abteilung in die Ab­ teilung “Zentrale Wissenschaftliche Dienste” beauftragt, über deren Leitung das Kuratorium erneut befinden wird. Gleichzeitig hat es den Arbeitsbereich der Verwaltung aus der Zentralabteilung ausgegliedert und dem Verwal­ tungsdirektor unmittelbar unterstellt. Für diese Umstrukturierung der Abteilung wurde ein Planungskonzept erarbeitet, das einen Zeitraum von fünf Jahren umspannt und eine schritt­ weise Koordination und Integration der wissenschaftlichen Dienste vorsieht. Diesem Konzept hat das Kuratorium seine Zustimmung erteilt. Zur Zeit gehören dieser Abteilung folgende Bereiche an:

407 Ständige Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit, die vom Geschäftsführenden Direktor der Abteilung übertragen wurden, die Redaktion des Bibliogra­ phie- und Referatenorgans “Germanistik” (Tübingen), das Deutsche Sprach- archiv (Bonn), der Bereich der Schriftenreihen und Zeitschriften des In­ stituts und die Institutsbibliotheken.

2.4.1. Deutsches Spracharchiv Das Deutsche Spracharchiv ist seit seiner Gründung im Jahre 1932 durch Eberhard Zwirner und insbesondere nach 1945 ein gezielt angelegtes Do­ kumentationszentrum gesprochener deutscher Sprache geworden. Im Berichtsjahr hat ein Umzug der Forschungsstelle innerhalb Bonns statt­ gefunden, der einige Verzögerungen bei der Durchführung der Arbeiten mit sich gebracht hat. Nach der Pensionierung von W. Bethge am 30.4.1976 wechselte Frau Dr. E. Knetschke zum 1.5.1976 auf die vom Land Nordrhein-Westfalen finanzierte Stelle des Deutschen Spracharchivs. Die ehemalige Mitarbei­ terin des Deutschen Spracharchivs, Frau Dr. M. Sperlbaum, führt auch im Berichtsjahr 1976 ihre Arbeiten im DFG-Projekt “Hochlautung” fort. Professor Dr. G. Ungeheuer legte Mitte des Jahres die Leitung des Deut­ schen Spracharchivs nieder, die zum Oktober 1976 Frau Dr. E. Knetschke kommissarisch übertragen wurde. Frau Dr. E. Knetschke hat die erste Phase der selektiven phonetischen Notationen zu Ende geführt. Weitergeführt worden sind die Arbeiten an der Manuskriptkartei für den nächsten Katalogband (Monumenta Ger- maniae Acustica), deren Bearbeiter Frau Dr. E. Knetschke und Frau Dr. M. Sperlbaum sind. Dazu kamen diverse Serviceleistungen wie die Betreuung und Information verschiedener Wissenschaftler und Studenten, die das Deutsche Spracharchiv aufsuchten.

2.4.2. Redaktion der “Germanistik” Wie 1975 war die Arbeit der Redaktion auch 1976 durch angewachsene Mengen der zu erfassenden Titel und durch Ausfälle beim ohnehin knap­ pen Personal gekennzeichnet und erschwert. Diese Situation konnte nur durch regelmäßig geleistete zahlreiche Überstunden bewältigt werden. Die erste Stufe der Vorarbeiten für den Einsatz von EDV konnten abge­ schlossen werden.

2.4.3. Andere Aufgabenbereiche 2.4.3.1. Information und Dokumentation: In der zweiten Hälfte des Berichtsjahres wurde der Entwurf eines Informations- und Dokumen-

4 0 8 tationsprojekts für die germanistische Sprachwissenschaft erarbeitet. Im Rahmen dieses Projekts, das sich am IuD-Programm der Bundesregierung orientiert, sollen sowohl die Grundlagen für verschiedene Dokumentations­ bereiche erarbeitet — wie z.B. Literaturdokumentation, Textdokumenta­ tion, Projekt-, Experten- und Institutionendokumentationen — als auch dringend erforderliche Informationsdienste geleistet werden. Die Erfahrun­ gen aus diesem Projekt werden bei der Planung einer IuD-Arbeitsstelle am IdS von großem Nutzen sein.

2.4.3.2. Die Redaktion der “Mitteilungen des IdS” und — bis zur end­ gültigen Regelung — des Jahresberichts des IdS übernahm P. Nikitopoulos; er betreut auch den Freundeskreis. Die Redaktion von “IdS-Intern” ist Frau H. Günther übertragen worden; sie ist auch für die Organisation der Jahrestagung 1977 zuständig. 2.4.3.3. Bibliotheken des Instituts: Die notwendige Erweiterung der Zentralbibliothek und der Spezialbibliotheken konnte infolge der Knapp­ heit der Finanzmittel nicht im erforderlichen Umfang erfolgen. Die Abon­ nements von einigen Zeitschriften und Schriftenreihen mußten gekündigt w erden.

3. Kontakte zu anderen Institutionen, Lehraufträge, Vorträge außerhalb Mannheims und Besuche von Tagungen

3.1. Kontakte zu anderen Institutionen Mit folgenden Institutionen bestanden im Berichtszeitraum teilweise enge Verbin­ dungen: American Association of Teachers of German (AATG), Philadelphia Arbeitsgemeinschaft “Sprache und Logik”, Bielefeld Arbeitskreis Deutsch als Fremdsprache beim DAAD, Bonn Arbeitskreis der Sprachzentren, Sprachlehrinstitute und Fremdspracheninstitute (AKS) Arbeitsstelle Deutsches Wörterbuch, Göttingen Centre international de recherche sur le bilingualisme, Quebec Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bonn Deutsche Gesellschaft für Ostasien künde, Hamburg Deutscher Volkshochschulverband, Pädagogische Arbeitsstelle, Frankfurt/M. Fachverband Moderne Fremdsprachen (FMF) Forschungsinstitut für deutsche Sprache, Marburg Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) e.V., Stuttgart

409 Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung, Bonn Goethe-Institut, München Germanistische und sprachwissenschaftliche Institute an nahezu allen Universitäten der Bundesrepublik und viele germanistische Institute in anderen Ländern Institut für Angewandte Linguistik an der Universität Warschau Institut für Kommunikationsforschung und Phonetik, Bonn Institut für rheinische Landeskunde, Bonn Japanischer Germanistenverband, Tokyo Japanisches Kulturinstitut, Bonn Kontrastive Arbeitsgruppe, Tokyo Kernforschungsinstitut, Jülich Modern Language Association (MLA), London Research Committee on Sociolinguistics in der International Sociological Association Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e.V., Mainz Staatliches Institut für japanische Sprache, Tokyo Westdeutscher Rundfunk, Köln

3.2. Lehraufträge An der Universität Bonn: Prof. Dr. Ulrich Engel an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg: Pantelis Nikitopoulos — Deutsch für Ausländerkinder (Vorlesung und Oberseminar) an der Universität Mannheim: Karl-Heinz Bausch — Einführung in die Linguistik; Francisco Garcia-Lozano — Spanisch; Dr. Wolfgang Mentrup — Syntaktische Struk­ turen in der gesprochenen Standardsprache des heutigen Deutsch (Hauptseminar); Helmut Schumacher — Einführung in die Linguistik; Dr. Gerhard Stickel — WS 1975/76 Einführung in die kontrastive Linguistik (Haupt­ seminar), 1976 Syntax und Semantik der Negation (Hauptseminar), WS 1976/77 Linguistische Grundbegriffe (Proseminar); Wolfgang Teubert — Einführung in die Linguistik.

3.3. Vorträge Folgende Mitarbeiter hielten im Berichtsjahr Vorträge außerhalb Mannheims: 3.3.1. Aus der Abteilung Grammatik und Lexik Dr. W. Mentrup sprach am 19.2.1976 an der Universität Tromsd über “Überlegungen zur Valenzgrammatik”. An der gleichen Universität hielt er vom 23.2. — 4.3.1976 ein Seminar ab “Einführung in die Dependenzgrammatik”. Am 5.3.1976 sprach er an der Universität Oslo “ Zur Dependenzgrammatik”. Frau I. Zint sprach im September 1976 an der Universität Kopenhagen “Zum Problem der Mehrdeutigkeit der tu-Wörter. Überlegungen zu den Pronominalad­ verbien im heutigen Deutsch”.

410 Karl-Heinz Bausch sprach am 22.12 3.4.76 an der Universität Kopenhagen zum Thema “Der Modusgebrauch in Konditionalsätzen" und “Der Konjunktiv im Deut­ schen. Ein Thema für die Linguistik oder für die Soziolinguistik?” Dr. Manfred Hellmann hielt mehrere Vorträge über verschiedene Aspekte des sprach­ lichen Ost-West-Problems auf Veranstaltungen in Berlin, Stockholm, Lund und Lin- gen (England). M. Kinne hielt am 21.5.1976 einen Vortrag vor der Kommission für Fragen der Sprachentwicklung in Bad Homburg. G.D. Schmidt hielt Vorträge in Berlin und an der Akademie Senkelmark (Schleswig). Dr. A. Kirkness sprach am 9.10. 1976 bei der 7. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) in Trier “Zur Stichwortauswahl und Lemmatisierung in einem historisch-diachronen Fremdwörterbuch. Aus der Arbeit am deutschen Fremdwörterbuch von Schulz/Basler”. P. Nikitopoulos leitete vom 22.11. — 26.11.1976 ein Bildungsurlaubsseminar über “Probleme der Integration ausländischer Arbeitsnehmer”, das vom hessischen Sozial­ ministerium finanziert und von der Volkshochschule in Frankfurt veranstaltet wurde. Am 9.10.1976 legte er bei der 7. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) ein Referat über “Probleme der sprachlichen Norm” vor.

3.3.2. Aus der Abteilung Kontrastive Linguistik Dr. G. Stickel und Prof. T. Kaneko hielten am 22.1.1976 am Japanischen Kultur­ institut in Köln einen Doppelvortrag über “Deutsch-japanische Sprachkontraste”. Vom 30.3. — 6.4.1976 hielt sich Dr. G. Stickel zusammen mit Prof. H. Moser zu einer Vortragsreise in Finnland auf. Er nahm als Referent an dem Seminar “Kon­ trastive Linguistik” in Helsinki teil; er hielt außerdem Vorträge über kontrastive Linguistik und andere linguistische Themen an den Universitäten Oulu, Vaasa und Jyväskylä (Unterstützung vom Goethe-Institut). Vom 6.5. — 15.5. 1976 waren Prof. H. Moser und Dr. G. Stickel zu einer Vortrags­ reise in der Türkei; sie hielten Vorträge über Fragen der kontrastiven Linguistik und berichteten über die Arbeit des IdS (Unterstützung von der Deutschen Forschungs­ gemeinschaft und vom Goethe-Institut). Vom 14.10. — 4.11.1976 war Dr. G. Stickel auf einer Vortragsreise in Indien; er hielt eine Vortragsreihe über “Didaktik und Methodik des Unterrichts in Deutsch als Fremdsprache” während des gesamtindischen Herbstseminars für Deutschlehrer, Universität Poona. Er hielt außerdem Einzelvorträge über Themen der Sprachdidak- tik und der kontrastiven Linguistik an der Universität in New Delhi und Benares (Unterstützung vom DAAD). Prof, T. Kaneko leitete vom 25.9. — 1.10.1976 ein Seminar über “Übersetzungs­ theorie” an der japanischen Chiba-Universität. K. Vorderwülbecke hielt am 9.7.1976 bei dem Fortbildungskurs für ausländische Deutschlehrer des Goethe-Instituts in Augsburg ein Referat über “Kontrastive Analyse und Fremdsprachenunterricht”. Prof. Dr. N. Cartagena sprach am 27.1.1976 an der Universität Münster über “Deutsch-spanische Analyse der Pronominalkonstruktionen” und am 19.5.1976 an der Universität Stuttgart über “Die Kategorien Tempus und Aspekt im spanischen Verbalsystem”. 411 H. Schumacher hielt am 19.3. auf dem “Kolloquium über dänisch-deutsche Lexiko­ graphie” in Kopenhagen einen Vortrag über “Ein Valenzlexikon auf semantischer Basis” . Auf dergleichen Veranstaltung sprach Frau A. Ballweg-Schramm zum Thema “Zur semantischen Beschreibung ausgewählter Verben. Die Verben des Essens und Trinkens”. Am 9.10.1976 sprach H. Schumacher in Trier auf der 7. Jahrestagung der Gesell­ schaft für Angewandte Linguistik (GAL) e.V. “ Zur Valenz von Nominalisierungen und ihrer Erfassung im Wörterbuch”. J. Ballweg hielt am 28.4.1976 auf der Arbeitstagung des DFG-Projekts ‘Kernlexikon’ an der Universität Bielefeld ein Korreferat “Einige kritische Bemerkungen zum Kon­ zept der Argument-Labels”. Er hielt am 28.6. in Groningen auf dem 3rtl Round Table on Mathematical Linguistics einen Vortrag “A model-theoretic account of the concept of causality in natural language”. Auf dem 11. Linguistischen Kolloquium am 22.9.1976 in Aachen sprach er über "Vorgänge und Vorgangsverben”. Auf einer Vortragsreise sprach er am 21.10.1976 in Oslo: “Wer schläft, sündigt nicht.” “Probleme der semantischen Analyse von Vorgangsverben am Beispiel eines Wort­ feldausschnitts und Skizze eines logisch-semantischen Beschreibungsmodells”. Am 22.10.1976 in Oslo: “Semantische Beschreibung kausativer Verben”. Am 26.10. 1976 in Kopenhagen: “Generative Semantik versus logisch fundierte Grammatik". Im Rahmen von Seminaren sprach er am 27.10.1976 in Kopenhagen über “Seman­ tische Analyse der Sprechaktverben befehlen, erlauben, verbieten" und am 27.10. 1976 in Lund über “X-kategoriale Basissyntax versus prädikatenlogische Basis­ syntax” . Dr. H. Kloss sprach am 25.6.1976 an der Universität Trier über “Die Rechtsstellung der französischen Sprache in Nordamerika” und am 3.8.1976 in Achberg b. Lindau über “Die Menschenrechte”.

3.3.3. Aus der Abteilung Linguistische Datenverarbeitung G. Berry-Rogghe: “Phonol: Phonological conversion program for German Texts”, auf der Tagung ‘ The use of computers in linguistic and literary research’, Fourth international symposium, Oxford 5.-9.4.1976; “Design of PLIDIS”, auf der Tagung 'Advances in natural language processing’, Antwerpen 27.10.1976. W. Brecht: “Anwendungsspezifische Einflußgrößen auf ein natürlichsprachliches Informationssystem”, auf der Tagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL), Trier 7. - 9.10.1976. W. Dilger: “ Ein Frage-Antwort-System auf der Basis einer prädikatenlogischen Sprache”, auf dem Workshop ‘Dialoge in natürlicher Sprache und Darstellung von Wissen’, Freudenstadt 17.3.—19.3.1976. 3.4. Kongreßbesuche, Tagungen u.ä. Hellmann nahm am 19.7.1976 an einem Colloquium über Fragen der Information und Dokumentation beim Institut für Dokumentationswesen (IDW)/Dokumentations- zentrum für Informationswissenschaften (ZDOK) in Frankfurt teil. An den in Bad Homburg stattfindenden Colloquien über das "Projekt eines großen interdisziplinären Wörterbuchs der deutschen Sprache” haben Frau A. Ballweg- Schramm, M. Hellmann, A. Kirkness, W. Mentrup und G. Stickel teilgenommen.

412 Die Colloquien, die von der Werner-Reimers-Stiftung und dem Institut veranstaltet und von der Stiftung finanziert werden, haben den Sinn, die Überlegungen zu dem genannten Projekt zu organisieren und weiterzuführen. Im Berichtsjahr fanden drei Colloquien statt (7.2., 28.-29.5., 25.-26.6.1976). W. Mentrup nahm an der Arbeitstagung über "Das Lexikon in der Grammatik, die Grammatik im Lexikon” teil, die im Rahmen des DFG-Projekts Kernlexikon vom 27.4.—29.4.1976 an der Universität Bielefeld veranstaltet wurde. Frau Kühnast, S. Muraki und J. Rickmayer nahmen an der First International Con­ ference of the European Association for Japanese Studies teil, die in Zürich vom 21.9.—23.9.1976 stattgefunden hat. K. Vorderwülbecke nahm an Sitzungen des “Arbeitskreises Deutsch als Fremdsprache” teil, die in Bonn am 16./17.2., 18./19.10. und 12.— 14.12.1976 stattgefunden haben. Vom 12.—15.4.1976 nahm H. Schumacher an dem Kongreß des Fachverbandes Moderne Fremdsprachen (FMF) in Mainz teil. Vom 1.6.—2.6.1976 nahm er an einem Werkstattgespräch der Sektionsleiter der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) e.V. teil, das vom Goethe-Institut in München veranstaltet wurde. Er nahm außerdem teil an mehreren Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft ‘Deutsch als Fremd­ sprache’ des Deutschen Volkshochschulverbandes in Freiburg (23.—24.1., 9.—10.4., 15.-16.10.1976). Frau J. Kubczak nahm vom 17.—19.6.1976 teil an der Jahrestagung Deutsch als Fremdsprache des Arbeitskreises Deutsch als Fremdsprache beim DAAD in Bremen. Vom 1.—2.10.1976 war sie außerdem auf der 7. Jahrestagung des Arbeitskreises der Sprachenzentren, Sprachlehrinstitute und Fremdspracheninstitute (AKS) in Ham­ burg. Vom 15.—20.11.1976 nahm J. Ballweg an einer Sitzung der Arbeitsgemeinschaft ‘Sprache und Logik’ teil, die vom Zentrum für interdisziplinäre Forschungen (ZIF) an der Universität Bielefeld veranstaltet wurde. Dr. H. Kloss nahm an einem Symposion über “Pfälzer-Palatines” teil, das von der Heimatstelle Pfalz vom 5.1.—6.1.1976 in Enkenbach veranstaltet wurde. P. Nikitopoulos nahm teil an den soziolinguistischen Arbeitsgesprächen, die im Rahmen des 18. Soziologentags in Bielefeld vom 29.9. — 1.10.1976 vom Research Committee on Sociolinguistics der International Sociological Association veranstaltet wurden. Er wirkte auch bei einer Initiativgruppe mit, die die Bildung einer Sektion für sozio linguistische Fragestellungen innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Sozio­ logie vorantreiben will. Er nahm ferner am 29.10.1976 teil an der konstituierenden Sitzung einer Arbeitsgemeinschaft zum Problemkreis “Integration bestehender un­ systematisch erworbener Deutschkenntnisse in Lernprogramme”. Sie wurde von der Pädagogischen Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbandes initiiert und finanziert. Ziel dieser Arbeitsgemeinschaft ist es, Empfehlungen für die Sprachenab­ teilung der Pädagogischen Arbeitsstelle des DVV zur Herstellung von kursbegleiten­ den Materialien im Bereich DaF zu formulieren. An dem Workshop “Dialoge in natürlicher Sprache und Darstellung von Wissen”, der vom 17.3.—19.3.1976 in Freudenstadt stattgefunden hat, nahm H. Wulz teil. Dr. H.D. Lutz nahm vom 20.4.—23.4.1976 am Third International Meeting on Cybernetics and System Research in Wien teil.

413 Prof. Dr. D. Krallmann nahm vom 28.6.-2.7.1976 an der International Conference on Computational Linguistics in Ottawa teil. An der 7. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) vom 7.10.—9.10.1976 in Trier haben teilgenommen Frau A. Ballweg-Schramm, R. Schulte- Pelkum, H. Schumacher. An einem internationalen Colloquium über “Automatische Lexikographie, Analyse und Übersetzung”, das vom Sonderforschungsbereich 100 an der Universität Saar­ brücken vom 22.9.-25.9.1976 veranstaltet wurde, nahmen teil Frau A. Ballweg- Schramm, Frau G. Berry-Rogghe, M.W. Hellmann, W. Krause, H. Schumacher, H. Wulz.

4. Studienaufenthalte ausländischer Wissenschaftler im IdS

Auch in diesem Berichtsjahr weilten wieder mehrere ausländische Wissenschaftler, teils über längere Zeiträume, am Institut,um ihre Forschungen im ständigen Kontakt mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern des IdS fortzuführen: V. Beric, M. Bacvanski, M. Dobrenov, M. Lifen (alle aus Novi Sad), Dr. M. Dyhr (Kopenhagen), Dr. Kaniuka (Lodz/Polen), G. Möller (Kopenhagen), Prof. Miyasaka (Osaka/Japan), Prof. Okamura (Chiba/Japan), Dr. N. Witton (Sidney/Australien), Prof. Yoshijma (Tokyc/Japan) u.a.

5. Besondere Nachrichten

5.1. Todesfälle Am 18.6.1976 verstarb in Köln das Mitglied des Wissenschaftlichen Rates Professor Dr. Bruno Colbert und am 8.12.1976 in Zürich das Mitglied des Wissenschaftlichen Rates Professor Dr. Rudolf Hotzenköcherle. 5.2. Ehrungen Dem Präsidenten des IdS, Professor Dr.Dr.h.c. Dr.h.c. Hugo Moser wurde am 4.11.1976 das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Professor Dr. Paul Grebe wurde am 28.10.1976 die Schillerplakette durch die Stadt Mannheim verliehen.

6. Mitglieder der Organe des Instituts für deutsche Sprache

6.1. Kuratorium Vorsitzender: Moser, Hugo, Prof. Dr.Dr.h.c. Dr.h.c., Bonn; Stellvertreter: Rupp, Heinz, Prof. Dr., Basel; Besch, Werner, Prof. Dr., Bonn; — Eggers, Hans, Prof. Dr., Saarbrücken; — Erben, Johannes, Prof. Dr., Innsbruck; - Glinz, Hans, Prof. Dr., Aachen; — Hoberg, Ursula, IdS Mannheim; — König, Walter, VLR 1. Klasse, als Vertreter des Auswärtigen Amtes,

414 Bonn; — Lötscher-Booz, Raingard, IdS Mannheim; - Petersen, Dr., Ministerialrat, als Vertreter des Bundesministeriums für Forschung und Technologie, Bonn-,— Ratzel, Ludwig, Dr., Oberbürgermeister, als Vertreter der Stadt Mannheim, Mann­ heim; - Schäfer, Hans, Dr., Präsident des Bundesgerichtshofs, Frankfurt; — Schmitt, Ludwig, Erich, Prof. Dr., Marburg; — Seifriz, Adalbert, Dr. Dr.h.c., Minister a.D., Stuttgart; - Solte, Dr., Regierungsdirektor, als Vertreter des Kultusministeriums von Baden-Württemberg, Stuttgart; — Spannagel, Jobst-Mathias, IdS Mannheim; - Steger, Hugo, Prof. Dr., Freiburg; — Zifonun, Gisela, Dr., IdS Mannheim. 6.2. Vorstand Die Direktoren Stickel, Gerhard, Dr., Mannheim Spors, Hans-Joachim, Mannheim. 6.3. Institutsleitung Direktoren: Stickel, Gerhard, Dr., Mannheim; — Spors, Hans-Joachim, Mannheim. Abteilungsleiter: Mentrup, Wolfgang, Dr., Mannheim; — Krallmann, Dieter, Prof. Dr., Essen ; — Teubert, Wolfgang, Mannheim. Vertreter der Mitarbeiter: Bausch, Karl-Heinz, Mannheim;— Vorderwülbecke, Klaus, Mannheim; — Zint, Ingeborg, M.A., Mannheim; - Hellmann, Manfred, Dr. Bonn.

7. Mitglieder des Wissenschaftlichen Rates

7.1. Ehrenmitglieder Maurer, Friedrich, Prof. Dr. Dr.h.c., Freiburg; — Neumann, Hans, Prof. Dr., Göttingen; — Storz, G., Prof. Dr., Kultusminister a.D., Leonberg; — Weisgerber, Leo, Prof. Dr. Dr.h.c., Bonn. 7.2. Ordentliche Mitglieder Baumgärtner, Klaus, Prof. Dr., Stuttgart; — Bausch, Karl-Richard, Prof. Dr., Bochum; — Bausinger, Hermann, Prof. Dr., Tübingen; - Betz, Werner, Prof. Dr., München; — Boesch, Bruno, Prof. Dr., Freiburg; — Brinkmann, Hennig, Prof. Dr., Münster; — Bünting, Karl, Prof. Dr., Essen; — Burger, Harald, Prof. Dr., Zürich; — Cordes, Ger­ hard, Prof. Dr., Kiel; — Coseriu, Eugenio, Prof. Dr. Dr.h.c., Tübingen; — Drosdowski, Günther, Dr., Mannheim; — Gipper, Helmut, Prof. Dr., Münster; — Grebe, Paul, Prof. Dr., Wiesbaden; — Grosse, Siegfried, Prof. Dr., Bochum; — Gruenter, Rainer, Prof. Dr., Wuppertal-Elberfeld; — Hartmann, Peter, Prof. Dr., Konstanz; — Heger, Klaus, Prof. Dr., Heidelberg; — Heilfurth, Gerhard, Prof. Dr., Marburg; — Heinrichs, HAI., Prof. Dr., Berlin; — Henne, Helmut, Prof. Dr., Braunschweig; — Heringer, H.J., Prof. Dr., Tübingen; — Höfler, Otto, Prof. Dr., Wien; — Horacek, Blanka, Prof. Dr., Wien; — Kaufmann, Gerhard, München; — Knobloch, Johann, Prof. Dr., Bonn; - Köhler, Klaus, Prof. Dr., Kiel; — Kolb, Herbert, Prof. Dr., Neuss; — Korn, Karl, Dr., Bad Homburg; — Krallmann, Dieter, Prof. Dr., Essen; - Langen, August, Prof. Dr., Saar­ brücken; - Neumann, Günter, Prof. Dr., Würzburg; — Nickel, Gerhard, Prof. Dr., Stuttgart; — Oksaar, Eis, Prof. Dr., Hamburg; — Olesch, Reinhold, Prof. Dr., Köln; — von Polenz, Peter, Prof. Dr., Trier; — Rath, Rainer, Prof. Dr., Saarbrücken; — Reiffen­ stein, Ingo, Prof. Dr., Salzburg; — Ross, Wemer, Dr., München; — Schnelle, Helmut, Prof. Dr., Bochum; — Schöne, Albrecht, Prof. Dr., Göttingen; — Schützeichel, Rudolf,

415 Prof. Dr., Münster; — Schwarz, Ernst, Prof. Dr., Erlangen; — Seidler, Herbert, Prof. Dr., Wien; — Seiler, Hansjakob, Prof. Dr., Köln; — Sitta, Horst, Prof. Dr., Zürich; — Sonderegger, Stefan, Prof. Dr., Uetikon; — Staclunann, Karl, Prof. Dr., Göttingen; — Stötzel, Georg, Prof. Dr., Düsseldorf; — Ungeheuer, Gerold, Prof. Dr., Bonn; — Vater, Heinz, Prof. Dr., Köln-, - Wahrig, G., Prof. Dr., Mainz; — Wandruszka, Mario, Prof. Dr., Salzburg; — Weinrich, Harald, Prof. Dr., Köln; — Weiss, Walter, Prof. Dr., Salz­ burg; — Werner, Otmar, Prof. Dr., Freiburg; — Winkler, Christian, Prof. Dr., Marburg; — Winter, Werner, Prof. Dr., Kiel; — Wunderlich, Dieter, Prof. Dr., Düsseldorf; — Zinsli, Paul, Prof. Dr., Bern; — Zwirner, Eberhard, Prof. Dr. Dr., Münster. 7.3. Korrespondierende Mitglieder in Europa Admoni, W., Prof. Dr., Leningrad, UDSSR; — Bach, H., Prof. Dr., Arhus, Dänemark; — Bech, Gunnar, Prof. Dr., Kopenhagen, Dänemark; — Benes, Eduard, Dr., Prag, CSSR;- Czochralski, Jan, Prof. Dr., Warschau, Polen; — Dahlberg, Torsten, Prof. Dr., Sävedalen, Schweden; - Dal, Ingerid, Prof. Dr., Oslo, Norwegen; — van Dam, Jan, Prof. Dr., Amsterdam, Niederlande; - David, Jean, Prof. Dr., Metz, Frankreich; - Djukanovic, Jovan, Dr., Belgrad, Jugoslawien; — Draye, Henri, Prof. Dr., Löwen, Belgien; — Erämetsä, Erik, Prof. Dr., Turku, Finnland; — Fourquet, Jean, Prof. Dr., Fresnes, Frankreich; — Goossens, Jan, Prof. Dr., Münster; — Grucza, Franciszek, Prof. Dr. hab., Warschau, Polen; — Guchmann, Mirra, Prof. Dr., Moskau, UDSSR; — Hyldgaard- Jensen, K., Prof. Dr., Kopenhagen, Dänemark; — Isbäsescu, Mihai, Prof. Dr., Bukarest, Rum änien;- Issatschenko, A.V., Prof. Dr., Klagenfurt, Österreich; - Juhäsz, Jänos, Dozent Dr., Budapest, Ungarn; — Keller, R.R., Prof. Dr., Manchester, England; — Kloster Jensen, Martin, Prof. Dr. Dr., Hamburg; — Korlen, Gustav, Prof. Dr., Stock­ holm, Schweden; — Lerot, Jacques, Prof. Dr., Löwen, Belgien; — Leys, Odo, Prof. Dr., Löwen, Belgien; - Lindgren, Kaj B., Prof. Dr., Helsinki, Finnland; — Ljungerud, Ivar, Prof. Dr., Lund, Schweden; — Massarik, Zdenek, Dr., Brno, CSSR; — Minis, Cola, Prof. Dr., Amsterdam, Niederlande; — Mironoff, S., Prof., Dr., Moskau, UDSSR; — Mollay, Karl, Prof. Dr., Budapest, Ungarn; — Mrazovic, Pavica, Prof. Dr.phil., Novi Sad, Jugo­ slawien; — öhmann, Emil, Prof. Dr., Helsinki, Finnland; — Philipp, Marthe, Prof. Dr., Straßburg, Frankreich; - Popadic, Hanna, Dr., Sarajevo, Jugoslawien; — Rosengren, Inger, Prof. Dr., Lund, Schweden; - Saltveit, Laurits, Prof. Dr., Oslo, Norwegen; - Schwänzer, Viliam, Prof. Dr., Bratislava, CSSR; — Seiffert, Leslie, Prof. Dr., Oxford, England; - Skala, Emil, Dr., Prag, CSSR; - de Smet, Gilbert, Prof. Dr. Dr. h.c., Gent, Belgien; — Soetemann, C., Prof. Dr., Leiden, Niederlande; — Stolt, Birgit, Prof. Dr., Stockholm, Schweden; — Trost, Pavel, Prof. Dr., Prag, CSSR; — Ulvestad, Bjarne, Prof. Dr., Bergen, Norwegen; — Valentin, Paul, Prof. Dr., Paris, Frankreich; — Wisbey, R.A., Prof. Dr., London, England; — Zabrocki, Ludwik, Prof. Dr., PoznaÄ, Polen; — Zemb, Jean-Marie, Prof. Dr., Paris, Frankreich; — Zepic, Stanislav, Prof. Dr., Zagreb, Jugoslawien.

7.4. Korrespondierende Mitglieder in Übersee Antonsen, Eimer H., Prof. Dr., Urbana, 111. , USA; - Bach, Emmon, Prof. Dr., Austin, Texas, USA; — Clyne, Michael, Prof. Dr., Clayton, Victoria, Australien; — van Coetsem, F., Prof. Dr., Ithaca, N.Y., USA; — Eichhoff, Jürgen, Prof. Dr., Madison, , USA; — Folsom, Marvin H., Prof. Dr., Provo, Utah, USA; — Haugen, Einar, Prof. Dr., Cambridge, Mass., USA; — Hayakawa, Tozo, Prof. Dr., Tokyo, Ja­ pan; - Iwasaki, Eijiro, Prof., Kamakura, Japan; — King, Robert D., Prof. Dr., Austin, Texas, USA; — Koekkoek, Byron J., Prof. Dr., Buffalo, N.Y., USA; — Kufner, Her­ bert L., Prof. Dr., Ithaca, N.Y., USA; — Kuhn, Hans, Prof. Dr., Canberra, Australien; —

416 Lehmann, W.P., Prof. Dr., Austin, Texas, USA; — Lloyd, Albert L., Prof. Dr., Philadelphia, Pennsylvania, USA; — Metcalf, Georg J., Prof. Dr., Chicago, 111., USA; — Moulton, William G., Prof. Dr., Princeton, N.Y., USA; — Penzl, Herbert, Prof. Dr., Berkeley, Calif., USA; — Reed, Carroll E., Prof. Dr., Amherst, Mass., USA; — Rosen­ thal, Erwin Theodor, Prof. Dr., Sao Paolo, Brasilien; — Springer, Otto, Prof. Dr., Philadelphia, Pennsylvania, USA; — Twaddell, William F., Prof. Dr., Provedence, R.I., USA.

8. Mitarbeiter des Instituts für deutsche Sprache

8.1. Wissenschaftliche Mitarbeiter Auburger, Leopold, Dr.(Mannheim); — Ballweg, Joachim (Mannheim); — Ballweg- Schramm, Angelika (Mannheim); — Bausch, Karl-Heinz (Mannheim); — Berens, Franz-Josef (Freiburg); — Berry-Rogghe, Godelive, Dr. (Mannheim); — Bourstin, Pierre (Mannheim); — Brecht, Werner, Dr. (Mannheim); Breitenbürger, Gerd, Dr. (Mannheim); - Cartagena, Nelson, Prof. Dr. (Mannheim); - Dilger, Wemer (Mann­ heim); — Engel, Ulrich, Prof. Dr. (Mannheim); — Garcia-Lozano, Francisco (Mann­ heim); — Günther, Heide (Mannheim); — Guntermann, Rolf (Mannheim); — Hagspihl, Aloys (Mannheim); — Hellmann, Manfred, Dr. (Bonn); — Hilgendorf, Brigitte (Mann­ heim); — Hoberg, Ursula (Mannheim); — Honda, Yoshiaki (Mannheim); — Hoppe, Gabriele (Mannheim); — Kaneko, Tohru, Prof. (Mannheim); — Keim, Inken (Mann­ heim );- Kinne, Michael, Dr. (Bonn); — Kirkness, Alan, Dr. (Mannheim); — Knetschke, Edeltraud, Dr. (Bonn); — Kolvenbach, Monika (Mannheim); — Krömer, Tilman (Tü­ bingen); — Kubczak, Jacqueline (Mannheim); — Kühnast, Jutta, Dr. (Mannheim); Link, Elisabeth (Mannheim); — Lötscher, , Dr. (Mannheim); —Lötscher-Booz, Raingard (Mannheim); - Lutz, Hans-Dieter, Dr. (Mannheim); — Mentrup, Wolfgang, Dr. (Mannheim); — Muraki, Shinjiro (Mannheim); — Nikitopoulos, Pantelis (Mann­ heim); — Nortmeyer, Isolde (Mannheim); — Pape, Sabine (Mannheim); — Richter, Helmut, Dr. (Bonn); — Rickmeyer, Jens, Dr. (Mannheim); — Saukko, Kaija (Mann­ heim); — Spannagel, Jobst-Mathias (Mannheim); — Sperlbaum, Margret, Dr. (Bonn); — Schaeder, Burkhard (Bonn); — Schank, Gerhard, Dr. (Freiburg); — Schmidt, Günter, Dr. (Bonn); — Schröder, Peter (Freiburg); — Schulte-Pelkum, Rudolf (Mannheim); — Schumacher, Helmut (Mannheim); — Schwitalla, Johannes (Freiburg); — Strauß, Gerhard, Dr. (Mannheim); — Teubert, Wolfgang (Mannheim); — Vorderwülbecke, Klaus (Mannheim); — Wolfangel, Paul J., M.A. (Mannheim); — Wulz, Hanno (Mann­ heim );— Zifonun, Gisela, Dr. (Mannheim); — Zifonun, Iradj, Dr. (Mannheim); — Zint, Ingeborg, M.A. (Mannheim). 8.2. Verwaltungs- und technische Angestellte Beck, Gerda (Mannheim); — Bernardi, Waltraud (Mannheim); — Bertsch, Wolfgang (Mannheim); - Blum, Ursula (Mannheim); — Brants, Anneliese (Mannheim); — Bride, Liselotte (Mannheim); — Dachsei, Marlies (Mannheim); — Deutscher, Günter (Bonn); — Drogatz, Martha (Mannheim); — Eisinger, Annemarie (Mannheim); — Erbe, Anneliese (Mannheim); — Erbe, Ursula (Mannheim); — Ermer, (Mann­ heim); — Geelhaar, Erika (Mannheim); — Gerstel, Doris (Mannheim); — Henske, Leni (Bonn); — Kadzik, Leonore (Mannheim); — Kaehler, Erna (Mannheim); — Knorpp, Erna (Tübingen); — Kohlhase, Hanni (Mannheim); — Kolb, Dieter (Mannheim); — Krause, Wolfgang (Bonn); — Krauß, Rainer (Mannheim); — Kurbel, Iris (Mannheim); —

417 Laton, Karin (Mannheim), — Lindauer, Jacqueline (Mannheim); — Lindemann, Stephanie (Mannheim); — Magis, Hildegard (Mannheim); — Maurer, Ruth (Mann­ heim); - Mückenmüller, Peter (Mannheim); — Müßig, Waltraud (Mannheim); — Nagele, Dorothee (Tübingen); -- Nolden, Heidemarie (Bonn); — Oksas, Willi (Mannheim); — Pfeiffer, Gisela (Mannheim); — Pütz, Ingrid (Bonn); — Rachel, Emma (Mannheim); — Siebenbach, Hans (Bonn); — Sommer, Uwe (Mannheim); — Schuy, Hanns (Mannheim); — Strohm, Herbert (Mannheim); — Teubert, Eva-Maria (Mannheim); — Walter, Anneliese (Mannheim); — Wardein, Marianne (Mannheim); — Wetz, Isolde (Mannheim); — Wetz, Ulrich (Mannheim); — Wolf, Irma (Mannheim); Zipf, Uwe (Mannheim).

9. Kommissionen des Instituts für deutsche Sprache

9.1. Kommission für Rechtschreibreform Drosdowski, Günther, Dr., Mannheim; - Erben, Johannes, Prof. Dr., Innsbruck; — Glinz, Hans, Prof. Dr., Aachen; — Grebe, Paul, Prof. Dr., Wiesbaden; — Knobloch, Johann, Prof. Dr., Bonn; - Moser, Hugo, Prof. Dr. Dr.h.c. Dr.h.c., Bonn; — Nüssler, Otto, Wiesbaden; — Rupp, Heinz, Prof. Dr., Basel; — Steger, Hugo, Prof. Dr., Frei­ burg; - Weisgerber, Bernhard, Prof. Dr., Bonn. 9.2. Kommission für Sprachentwicklung Betz, Werner, Prof. Dr., München; - Drosdowski, Günther, Dr., Mannheim; — Grosse, Siegfried, Prof. Dr., Bochum; — Sitta, Horst, Prof. Dr., Zürich.

] 0. Beiräte des Instituts für deutsche Sprache

10.1. Beirat “Deutsch-spanische kontrastive Grammatik” Bausch, Karl-Richard, Prof. Dr., Bochum; — Coseriu, Eugenio, Prof. Dr., Tübingen; — Erben, Johannes, Prof. Dr., Innsbruck; — Tovar, Antonio, Prof. Dr., Tübingen. 10.2. Beirat “Fremdwörterbuch” Bahr, Joachim, Dr., Göttingen; - Müller, Wolfgang, Dr., Mannheim; — von Polenz, Peter, Prof. Dr., Trier; - Rupp, Heinz, Prof. Dr., Basel. 10.3. Beirat “Verbvalenz” Brekle, Herbert, Prof. Dr., Regensburg; — Heger, Klaus, Prof. Dr., Heidelberg; — Henne, Helmut, Prof. Dr., Braunschweig;— Lerot, Jacques, Prof. Dr., Löwen;— Vater, Heinz, Prof. Dr., Köln. 10.4. Beirat “Linguistische Datenverarbeitung” Eggers, Hans, Prof. Dr., Saarbrücken; — Hartmann, Peter, Prof. Dr., Konstanz; — Schaal, H., Ministerialrat, Stuttgart; - Wolters, Martin F., Dipl.Ing., München; - Zimpel, Jörg, Regierungsdirektor, Stuttgart.

418 11. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache

11.1. SPRACHE DER GEGENWART

Schriften des Instituts für deutsche Sprache

Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys und Hans Neumann herausgegeben von Hugo Moser

Schriftleitung: Ursula Hoberg

Pädagogischer Verlag Schwann, Düsseldorf

Band 1: Satz und Wort im heutigen Deutsch. Jahrbuch 1965/66 des Instituts für deutsche Sprache. 1967. Band 2: Sprachnorm, Sprachpflege, Sprachkritik. Jahrbuch 1966/67 des Instituts für deutsche Sprache. 1968. Band 3: Hans Jürgen Heringer. Die Opposition von ‘kommen’ und ‘bringen’ als Funktionsverben. Untersuchungen zur grammatischen Wertigkeit und Aktionsart. 1968. Band 4: Ruth Römer, Die Sprache der Anzeigenwerbung. 41974. Band 5: Sprache — Gegenwart und Geschichte. Probleme der Synchronie und Dia­ chronie. Jahrbuch 1968 des Instituts für deutsche Sprache. 1970. Band 6: Studien zur Syntax des heutigen Deutsch. 21971. Band 7: Jean Fourquet, Prolegomena zu einer deutschen Grammatik. 41973. Band 8: Probleme der kontrastiven Grammatik. Jahrbuch 1969 des Instituts für deutsche Sprache. 1970. Band 9: Hildegard Wagner, Die deutsche Verwaltungssprache der Gegenwart. Eine Untersuchung der sprachlichen Sonderform und ihrer Leistung. 21972. Band 10: Empfehlungen zum Gebrauch des Konjunktivs in der deutschen geschriebe­ nen Hochsprache der Gegenwart. Beschlossen von der Kommission für wissenschaftlich begründete Sprachpflege des Instituts für deutsche Sprache. Formuliert von Siegfried Jäger. 31973. Band 11: Rudolf Hoberg, Die Lehre vom sprachlichen Feld. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Methodik und Anwendung. 21973. Band 12: Rainer Rath, Die Partizipialgruppe in der deutschen Gegenwartssprache. 1971. Band 13: Sprache und Gesellschaft. Beiträge zur soziolinguistischen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache. Jahrbuch 1970 des Instituts für deutsche Sprache. 1971. Band 14: Werner Ingendahl, Der metaphorische Prozeß. Methodologie zu seiner Er­ forschung und Systematisierung. 21973.

419 Band 15: Leo Weisgerber, Die geistige Seite der Sprache und ihre Erforschung. 1971. Band 16: Bibliographie zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR. Zusammengestellt und kommentiert von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Manfred W. Hellmann. 1975. Band 17: Fragen der strukturellen Syntax und der kontrastiven Grammatik. 1971. Band 18: Zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR. Methoden und Probleme seiner Erforschung. Aus den Refera­ ten einer Tagung zusammengestellt von Manfred W. Hellmann. 1973. Band 19: Linguistische Studien I. 1972. Band 20: Neue Grammatiktheorien und ihre Anwendung auf das heutige Deutsch. Jahrbuch 1971 des Instituts für deutsche Sprache. 1972. Band 21: Heidi Lehmann, Russisch-deutsche Lehnbeziehungen im Wortschatz offi­ zieller Wirtschaftstexte der DDR (bis 1968). 1972. Band 22: Linguistische Studien II. 1972. Band 23: Linguistische Studien III. Festgabe für Paul Grebe zum 65. Geburtstag. Teil 1. 1973. Band 24: Linguistische Studien IV. Festgabe für Paul Grebe zum 65. Geburtstag. Teil 2. 1973. Band 25: Eis Oksaar, Berufsbezeichnungen im heutigen Deutsch. Soziosemantische Untersuchungen. Mit deutschen und schwedischen experimentellen Kon­ trastierungen. 1976. Band 26: Gesprochene Sprache. Jahrbuch 1972 des Instituts für deutsche Sprache. 1974. Band 27: Nestor Schumacher, Der Wortschatz der europäischen Integration. Eine onomasiologische Untersuchung des sog. ‘europäischen Sprachgebrauchs’ im politischen und institutionellen Bereich. 1976. Band 28: Helmut Graser, Die Semantik von Bildungen aus über- und Adjektiv in der deutschen Gegenwartssprache. 1973. Band 29: Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Eine Bestandsaufnahme des Instituts für deutsche Sprache, Forschungs­ stelle Innsbruck. Erster Hauptteil. Ingeburg Kühnhold / Hans Wellmann, Das Verb. 1973. Band 30: Studien zur Texttheorie und zur deutschen Grammatik. Festgabe für Hans Glinz zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von Horst Sitta und Klaus Brinker. 1973. Band 31 : Andreas Weiss, Syntax spontaner Gespräche. Einfluß von Situation und Thema auf das Sprachverhalten. 1975. Band 32: Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Zweiter Hauptteil. Hans Wellmann, Das Substantiv. 1975.

420 Band 33: Sprachsystem und Sprachgebrauch. Festschrift für Hugo Moser zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Ulrich Engel und Paul Grebe, Teil 1. 1974. Band 34: Sprachsystem und Sprachgebrauch. Festschrift für Hugo Moser zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Ulrich Engel und Paul Grebe, Teil 2. 1975. Band 35: Linguistische Probleme der Textanalyse. Jahrbuch 1973 des Instituts für deutsche Sprache. 1975. Band 36: Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik. Jahrbuch 1974 des Instituts für deutsche Sprache. 1975. Band 38: Theo Bungarten, Präsentische Partizipialkonstruktionen in der deutschen Gegenwartssprache. 1976. Band 39: Probleme der Lexikologie und Lexikographie. Jahrbuch 1975 des Instituts für deutsche Sprache. 1976. Band 40: Wolfgang Steinig, Soziolekt und soziale Rolle. Untersuchungen zu Bedin­ gungen und Wirkungen von Sprachverhalten unterschiedlicher gesellschaft­ licher Gruppen in verschiedenen sozialen Situationen. 1976.

In Vorbereitung: Sprachwandel und Sprachgeschichtsschreibung. Jahrbuch 1976. G.S. Süur, Feldtheorien in der Linguistik.

11.2. HEUTIGES DEUTSCH

Linguistische und didaktische Beiträge für den deutschen Sprachunterricht. Veröffentlicht vom Institut für deutsche Sprache und vom Goethe-Institut.

Max Hueber Verlag, München

11.2.1. Reihe I: Linguistische Grundlagen. Forschungen des Instituts für deutsche Sprache

Herausgegeben von Ulrich Engel, Hugo Moser und Hugo Steger Schriftleitung: Ursula Hoberg

Band 1: Siegfried Jäger, Der Konjunktiv in der deutschen Sprache der Gegenwart. Untersuchungen an ausgewählten Texten. 1971. Band 2: Klaus Brinker, Das Passiv im heutigen Deutsch. Form und Funktion. 1971. Band 3: Bernhard Engelen, Untersuchungen zu Satzbauplan und Wortfeld in der deutschen geschriebenen Sprache der Gegenwart. 1975. Band 4: Ulrike Hauser-Suida/Gabriele Hoppe-Beugel, Die ‘Vergangenheitstempora’ in der deutschen geschriebenen Sprache der Gegenwart. Untersuchungen an ausgewählten Texten. 1972. Band 5 : Hermann Gelhaus, Das Futur in der deutschen geschriebenen Sprache der Gegenwart. Studien zum Tempussystem. 1975.

421 Band 6: Franz-Josef Berens, Analyse des Sprachverhaltens im Redekonstellations­ typ “Interview”. Eine empirische Untersuchung. 1975. Band 7: Gisela Schoenthal, Das Passiv in der deutschen Standardsprache. Darstel­ lung in der neueren Grammatiktheorie und Verwendung in gesprochener Sprache. 1975. Band 8: Jürgen Dittmann, Sprechhandlungstheorie und Tempusgrammatik. Futur­ formen und Zukunftsbezug in der gesprochenen deutschen Standardspra­ che. 1976. Band 11: Karl-Heinz Jäger, Untersuchungen zur Klassifikation gesprochener deutscher Standardsprache. Rede konstellationstypen und argumentative Dialogstruk­ turen. 1976. Band 12: Franz-Josef Berens/Karl-Heinz Jäger/Gerd Schank/Johannes Schwitalla, Projekt Dialogstrukturen. Ein Arbeitsbericht. 1976.

In Vorbereitung:

Band 9: Karl-Heinz Bausch, Modalität und Konjunktivgebrauch in der gesprochenen deutschen Standardsprache.

11.2.2. Reihe II: Texte

Herausgegeben von Hugo Steger, Ulrich Engel und Hugo Moser. Schriftleitung: Forschungsstelle Freiburg

Band 1: Texte gesprochener deutscher Standardsprache I. Erarbeitet vom Institut für deutsche Sprache, Forschungsstelle Freiburg. 1971. Band 2: Texte gesprochener deutscher Standardsprache II. “Meinung gegen Meinung”. Diskussionen über aktuelle Themen. Ausgewählt, redigiert und eingeleitet von Charles van . 1974. Band 3: Texte gesprochener deutscher Standardsprache III. “Alltagsgespräche”. Ausgewählt von H.P. Fuchs und G. Schank. 1975.

11.2.3. Reihe III: Linguistisch-didaktische Untersuchungen des Goethe-Instituts

Herausgegeben von Günter Bär, Gerhard Kaufmann und Hans-Peter Krüger in Zusammenarbeit mit Ulrich Engel, Hugo Moser und Hugo Steger

Schriftleitung: Ursula Hoberg

Band 1: Gerhard Kaufmann, Die indirekte Rede und mit ihr konkurrierende Formen der Redeerwähnung. 1976.

In Vorbereitung: Band 2: Sigbert Latzei, Die deutschen Tempora Perfekt und Präteritum. Eine Darstellung mit Bezug auf Erfordernisse des Faches “Deutsch als Fremdsprache”.

422 11.3. FORSCHUNGSBERICHTE DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE

Herausgegeben von Ulrich Engel und Gerhard Stickel Schriftleitung: Eva Teubert Verlag Gunter Narr, Tübingen

Band 1: 1968. Band 2: 1968. Band 3: 1969. Sammelbände Band 4: 1970. Band 5: 1970. Band 6: 1971. Band 7: Gesprochene Sprache. Bericht der Forschungsstelle Freiburg des Instituts für deutsche Sprache. 1973. Band 8: S. Jäger/J. Huber/P. Schätzle, Sprache und Sozialisation. Vorüberlegungen zu empirischen Untersuchungen. 1972. Band 9: H. Popadic, Untersuchungen zur Frage der Nominalisierung des Verbal­ ausdrucks im heutigen Zeitungsdeutsch. 1972. Band 10: H. Fenske, Schweizerische und österreichische Besonderheiten in deutschen Wörterbüchern. 1973. Band 11: I. Neumann, Temporale Subjunktionen. Syntaktisch-semantische Beziehun­ gen im heutigen Deutsch. 1972. Band 12: G. Kaufmann, Das konjunktivische Bedingungsgefüge im heutigen Deutsch. 1972. Band 13: P. Nikitopoulos, Statistik für Linguisten. Eine methodische Darstellung. I. Teil. 1973. Band 14: K. Bayer/K. Kurbel/B. Epp, Maschinelle Sprachbeschreibung im Institut für deutsche Sprache. 1974. Band 15: H. Gelhaus/S. Latzei, Studien zum Tempusgebrauch im Deutschen. 1974. Band 16: H. Raabe (Hrsg.), Trends in kontrastiver Linguistik I. Interimsprache und kontrastive Analyse. Das Zagreber Projekt zur angewandten Linguistik.1974. Band 17: S. Marx-Nordin, Untersuchungen zur Methode und Praxis der Analyse aktueller Wortverwendungen. Aspekte des Gebrauchs der Wörter ‘Sozialis­ mus’ und ‘sozialistisch’ in der politischen Sprache der DDR. 1974. Band 18: Arbeitsgruppe MasA: Zur maschinellen Syntaxanalyse I. Morphosyntakti- sche Voraussetzungen für eine maschinelle Sprachanalyse des Deutschea 1974. Band 19: Arbeitsgruppe MasA: Zur maschinellen Syntaxanalyse II. Ein Lexikon für eine maschinelle Sprachanalyse des Deutschen. 1974. Band 20: H. Kloss (Hrsg.), Deutsch in der Begegnung mit anderen Sprachen: im Fremdsprachen-Wettbewerb, als Muttersprache in Übersee, als Bildungs­ barriere für Gastarbeiter. Beiträge zur Soziologie der Sprachen. 1974.

423 Band 21: G. Harlass/H. Vater, Zum aktuellen deutschen Wortschatz. 1974. Band 22: I. Trancre, Transformationelle Analyse von Abstraktkomposita. 1975. Band 23: H. Kubczak, Das Verhältnis von Intension und Extension als sprachwissen­ schaftliches Problem. 1975. Band 24: G. Augst, Lexikon zur Wortbildung. Band 24.1: Morpheminventar A - G. Band 24.2: Morpheminventar H - R. Band 24.3: Morpheminventar S - Z. Band 25: G. Augst, Untersuchungen zum Morpheminventar der deutschen Gegen­ wartssprache. 1975. Band 26: A. Kirkness, Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789-1871. Eine histo­ rische Dokumentation. Teil 1 und II. 1975. Band 27: A.J. Pfeffer, Grunddeutsch. Erarbeitung und Wertung dreier deutscher Korpora. Ein Bericht aus dem “Institute for Basic German”, Pittsburgh. 1975. Band 28: H. Raabe (Hrsg.), Trends in kontrastiver Linguistik II. 1975. Band 29: G. Stickel (Hrsg.), Deutsch-japanische Kontraste. Vorstudien zu einer kontrastiven Grammatik. 1976. Band 30: H. Schumacher (Hrsg.), Untersuchungen zur Verbvalenz. 1976. Band 31: U. Engel/H. Schumacher, Kleines Valenzlexikon deutscher Verben. 1976.

In Vorbereitung: Band 32: N. Filipovii, Die Partizipialkonstruktionen in der deutschen dichterischen Prosa von heute. Band 33: L. Siegrist, Bibliographie zu Studien über das deutsche und englische Adverbial. Band 34: U. Engel (Hrsg.), Deutsche Sprache im Kontrast. Band 35: H. Droop, Das präpositionale Attribut. Ein Forschungsbericht. Band 36: H. Gelhaus, Ober den modalen Infinitiv.

11.4. MITTEILUNGEN DES INSTITUTS FOR DEUTSCHE SPRACHE

Heft 1: 1972. (vergriffen) Heft 2: 1973. Heft 3: 1974.

11.5. STUDIEN ZUR DEUTSCHEN GRAMMATIK

In Verbindung mit dem Institut für deutsche Sprache hrsg. von Werner Abraham, Winfried Boeder, Ulrich Engel, Jacques Lerot, Odo Leys, Heinz Vater. Verlag Gunter Narr, Tübingen

424 Band 1: J.P. Calbert/H. Vater, Aspekte der Modalität. 1975. Band 2: I. Bätori/L.F. Pusch/J.L. Levin/W. Abraham/W. Bublitz/M. von Roncador, Syntaktische und semantische Studien zur Koordination. 1975. Band 3: H. Pütz, Über die Syntax der Pronominalform ‘es’ im modernen Deutsch. 1975.

11.6. DEUTSCHE SPRACHE

Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation

Herausgegeben von Hugo Steger in Zusammenarbeit mit dem Institut für deutsche Sprache, Mannheim

Schriftleitung: Angelika Ballweg-Schramm, Eva Schütz

Erich Schmidt Verlag, Berlin

1976 erschienen: Heft 1/1976, Heft 2/1976, Heft 3/1976.

11.7. KULA

Kartei unveröffentlichter linguistischer Arbeiten zur deutschen Sprache der Gegenwart

Band 1: Mannheim 1973. Band 2: Mannheim 1974. Weitere Folgen erscheinen seit 1974 in der Zeitschrift “Deutsche Sprache”.

11.8. PHONAI

Lautbibliothek der europäischen Sprachen und Mundarten

Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung sprachwissenschaftlicher Schallarchive

Deutsche Reihe

Herausgegeben vom Deutschen Spracharchiv im Institut für deutsche Sprache

Herausgabe und Schriftleitung: Edeltraud Knetschke, Bonn

Leitung der Herstellung: Margret Sperlbaum, Bonn

Max Niemeyer Verlag, Tübingen Band 1: Lewis Levin/Walter Arndt, Grundzüge moderner Sprachbeschreibung. 1969.

425 Band 2: Edeltraud Knetschke/Margret Sperlbaum, Anleitung für die Herstellung der Monographien der Laut-Bibliothek. S. Karger Verlag, Basel 1967. Band 3: Helmut Richter, Grundsätze und System der Transkription-IPA(G)-, 1973. Band 4: Monumenta Germaniae Acustica. Katalog 1965. Bearbeiter: E. Knetschke/ M. Sperlbaum u.a. S. Karger Verlag, Basel 1965. Band 5; Wolfgang Bethge/Günther M. Bonnin, Proben deustcher Mundarten. 1969. Band 6: Monographien 1. (W. Bethge, Riesenbeck Kr. Tecklenburg; G. Heike, Gleuel Kr. Köln; E. Grubacic, Kriva Bara/Banat; P. Paul, Barossatal/Südaustralien). 1970. Band 7: Monographien 2. (R. E. Keller, Jestetten Kr. Waldshut;L.G. Zehetner, Freising;H. Schudt, Erbstadt Kr. Hanau). 1970. Band 8: Monumenta Germaniae Acustica. Katalog 1967. Bearbeiter: E. Knetschke/ M. Sperlbaum u.a. 1969. Band 9: Monographien 3. (E. Grubafic, Knicanin/Banat; W. H. Veith, Bockwitz Kr. Sprottau). 1971. Band 10: Monographien 4. (W. W. Moelleken, Niederdeutsch der Molotschna- und Chortitzamennoni- ten). 1972. Band 11: Monographien 5. (D. Karch, Großbockenheim Kr. Frankenthal/Kallstadt Kr. Neustadt a.d. Weinstraße). 1972. Band 12: Monumenta Germaniae Acustica. Katalog 1970. Bearbeiter: E. Knetschke/ M. Sperlbaum u.a. 1972. Band 13: Monographien 6. (D. Karch, Gimmeldingen Kr. Neustadt a.d. Weinstraße/Mutterstadt Kr. Ludwigshafen a. Rhein). 1973. Band 14: Festschrift für Eberhard Zwirner, Teil I (W. Bethge, Textliste zu 111/50). 1974. Band 15: Monographien 7. Festschrift für Eberhard Zwirner, Teil II (S. Geräc, Hodschag/Batschka; W.O. Droescher, Puhoi — eine egerländer Mundart in Neuseeland). 1974. Band 16: Monographien 8. (D. Karch, Mannheim. Umgangssprache). 1975. Band 17: M. Sperlbaum, Proben deutscher Umgangssprache. 1975. Band 18: Monographien 9. (W. W. Moelleken/D. Karch, Siedlungspfälzisch im Kreis Waterloo. Ontario, Kanada). 1976.

Beiheft 1: Wolfgang Bethge, Beschreibung einer hochsprachlichen Tonbandaufnahme. 1973.

426 Beiheft 2: Festschrift für Eberhard Zwirner, Teil III (H. Richter, Eine anschauliche Interpretation des Korrelationskoeffi­ zienten nach Bravais-Pearson; K.H. Rensch, Zur Entstehung romanischer Vokalsysteme; M. Sperlbaum, Isoglossenvergleich aufgrund indirekter und direkter Spracherhebung; E. Knetschke, Die Funktion der Partikel “ja” in Tonbandaufnahmen deutscher Umgangssprache). 1974. Beiheft 3:D. Karch, Zur Morphologie der vorderpfälzischen Dialekte. 1975. Beiheft 4: Karla Waniek, Die Mundart von Ratiborhammer. 1976. In Vorbereitung: Band 19: Monographien 10. (H. Popadic, Deutsche Siedlungsmundarten aus Slawonien/Jugoslawien). Band 20: Monographien 11. (D. Karch, Braunschweig — Veltenhof — Pfälzische Sprachinsel im Ost- fälischen).

Beiheft 5: Zur gesprochenen deutschen Umgangssprache I. (D. Bresson, Hauptregeln der phonetischen Ellipse im gesprochenen Deutsch; A. Kawashima, Gesprochenes Deutsch — Seine phonetischen und syntak­ tischen Besonderheiten; M. Sperlbaum, Ellipse und Anakoluth in der deut­ schen Umgangssprache; H. Richter, Linguistische und statistische Korrela­ tion lautlicher Merkmale; W.O. Droescher, Pädagogische Auswertung von Tonbändern des deutschen Spracharchivs).

11.9. PHONETICA

Zeitschrift der Internationalen Gesellschaft für phonetische Wissenschaften

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Spracharchiv am Institut für deutsche Sprache von H. Pilch und G. Ungeheuer

Schriftleitung: W. Bethge

S. Karger Verlag, Basel — New York

1976 erschienen: Vol. 33.

11.10. GERMANISTIK

Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen

Herausgegeben von T. Ahlden u.a. in Zusammenarbeit mit dem Institut für deutsche Sprache

Schriftleitung: Tilman Krömer

Max Niemeyer Verlag, Tübingen

427 1976 erschienen: Jg. 17/1976, H. 1-3,

11.11. DIALEKT/HOCHSPRACHE - KONTRASTIV

Sprachhefte für den Deutschunterricht In Verbindung mit dem Institut für deutsche Sprache

Herausgegeben von Werner Besch, Heinrich Löffler und Hans Reich

Pädagogischer Verlag Schwann, Düsseldorf.

Heft 1 :Joachim Hasselberg/Klaus-Peter Wegera, Hessisch. 1976.

In Vorbereitung:

Heft 2: Ludwig G. Zehetner,Bairisch. Heft 3: Heinrich Löffler/Werner Besch, Alemannisch. Heft 4: Ulrich Ammon/Ulrich Loewer, Schwäbisch. Heft 5: Hermann Niebaum, Westfälisch. Heft 6: Beate Henn, Pfälzisch.

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