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APuZAus Politik und Zeitgeschichte 65. Jahrgang · 33–34/2015 · 10. August 2015

25 Jahre deutsche Einheit

Costanza Calabretta Feiern und Ge­ denken: Zur Entwicklung einer gemeinsamen Erinnerungskultur seit dem 3. Oktober 1990

Vera Caroline Simon Tag der Deutschen Einheit: Festakt und Live-Übertragung im Wandel

Eckhard Jesse Das Ende der DDR

Jürgen Danyel Alltag Einheit: Ein Fall fürs Museum!

Everhard Holtmann · Tobias Jaeck Was denkt und meint das Volk? Deutschland im dritten ­Jahrzehnt der Einheit

August Pradetto Ost-West-Beziehungen und deutsche Außenpolitik seit der Wiedervereinigung Editorial Frankfurt am Main ist vorbereitet: Die „zentralen Feierlichkei- ten“ zum 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung werden dort vom 2. bis 4. Oktober 2015 stattfinden, prominente Gäste wie Michail Gor­ba­tschow und Jean-Claude Juncker ha­ ben ihr Kommen zugesagt. Frankfurts Städtepartnerschaft mit Leipzig spiegelt sich wider im Rahmenprogramm aus Konzerten, Le- sungen, Filmen und Ausstellungen. Mit insgesamt einer Milli- on Besucherinnen und Besuchern wird gerechnet. Flankierend gibt es hessenweit bereits jetzt eine Vielzahl von Veranstaltun- gen und Aktionen unter dem Motto „Grenzen überwinden“. So hat sich für den 3. Oktober mittlerweile eine Kultur des Fei- erns und Gedenkens herausgebildet, angesichts derer es lohnend ­erscheint, auf die Anfänge zurückzublicken.

In immer neuen Studien werden die materiellen und ideel- len Lebensbedingungen in den östlichen und in den westlichen Bundesländern, aber auch innerhalb Gesamtdeutschlands mit- einander verglichen. Mithilfe des soeben freigeschalteten On- line-Atlasses des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raum- forschung lassen sich beispielsweise Unterschiede anhand einer Vielzahl von Indikatoren wie Lebenserwartung, Beschäftigten- quoten und Baulandpreise ermitteln. Und was Werthaltungen und Einstellungen betrifft: Auch die Meinungsforscher sind uns auf den Fersen, wenn es um Divergenzen und Konvergenzen geht. Von der „Mauer in den Köpfen“ ist dagegen kaum noch die Rede; sie sei mittlerweile ebenso gefallen, wie zuvor diejeni- ge aus Beton – so jedenfalls unlängst ein Befund der Demosko- pen in Allensbach.

Introspektionen anlässlich des Jubiläums sollten aber den Blick nicht verstellen auf die Entwicklungen, die sich seit der Auflösung der bipolaren Weltordnung als stetige Herausforde- rung der gesamtdeutschen Außenpolitik vollzogen haben. In- dividuellen Identitäten waren im Zuge der Wiedervereinigung vielfach schweren Erschütterungen ausgesetzt; der kollektiven Identität und dem Selbstverständnis Deutschlands im interna- tionalen Kontext erging es nicht anders. Gerade im laufenden Jahr gibt es reichlich Anlässe, über die „Staatsräson“ zu disku- tieren, die in der Außen- und Sicherheitspolitik zum Ausdruck kommt.

Barbara Kamutzki Costanza Calabretta Mit der Wiedervereinigung verloren die gesetzlichen arbeitsfreien Feiertage der DDR ihre Gültigkeit und es wurden nur die Fei- Feiern und Gedenken: ertage behalten, die auch in der Bundesre- publik galten (beispielsweise der 1. Mai und Zur Entwicklung die christlichen Feiertage). Außerdem wollte man generell einen Perspektivwechsel wagen. Als zutiefst geprägt vom Diskurs des Kalten einer gemeinsamen Krieges und in der Bevölkerung kaum wahr- genommen oder gelebt, wurde der in West- Erinnerungskultur seit deutschland seit 1954 geltende Nationalfeier- tag des 17. Juni diskussionslos abgeschafft, er gilt aber nach wie vor als ein nationaler Ge- dem 3. Oktober 1990 denktag, an dem der Opfer des SED-Regimes gedacht wird. m Juni 1990 führte „Die Zeit“ eine Um- Ifrage unter Persönlichkeiten aus Kul- Der Vorschlag, den 3. Oktober als neu- tur und Politik durch (darunter Fritz Stern, en Nationalfeiertag zu wählen, wurde von Hans Modrow, Ernst Bundeskanzler (CDU) wäh- Costanza Calabretta Nolte, Ralph Dah- rend eines nicht öffentlichen Kolloquiums M. A., geb. 1986; Historikerin rendorf, Golo Mann, den Ministerpräsidenten der alten Bundes- und Doktorandin am Fach- Antja Vollmer und länder am 29. August 1990 unterbreitet und bereich Neue Geschichte der Lea Rosh) und bat da- schließlich angenommen. ❙3 Unverzüglich Università La Sapienza in Rom, rum, Namen, Datum wurde der Feiertag in den Einigungsvertrag lebt derzeit in Berlin. und Hymne für einen aufgenommen. ❙4 Einige Tage später begrüß- [email protected] Nationalfeiertag für te Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) das neue Deutschland den Beschluss im und erweckte vorzuschlagen. ❙1 Am schwierigsten schien den Eindruck, dieser sei auf „spontane Zu- die Frage nach dem Datum zu sein. Dies stimmung“ gestoßen. Einige Abgeordne- zeigte sich nicht zuletzt an den zahlreichen, te der Fraktion der Grünen unterbrachen gänzlich unterschiedlichen Vorschlägen. So Schäuble und wollten wissen, wann und wurden bereits belegte Feiertage der alten mit wem die Wahl des 3. Oktobers bespro- Bundesrepublik vorgeschlagen (20. Juli, At- chen worden sei. ❙5 Die fehlende Diskussion tentat auf Hitler 1944; 17. Juni, Volksaufstand auf institutioneller Ebene und der undemo- in der DDR 1953 und bisheriger Tag der Deut- kratische Entstehungsprozess des Natio- schen Einheit in der Bundesrepublik; 23. Mai, nalfeiertages „im Grau der administrativen Unterzeichnung des Grundgesetzes 1949; Beschlüsse“ ❙6 ließen sich auch in der Ent- 8. Mai, Ende des Zweiten Weltkriegs 1945) scheidung darüber wiedererkennen, wie ebenso wie der 18. März (im Gedenken an die Märzrevolution 1848) und zwei weitere Da- Übersetzung aus dem Italienischen: Alina Plachky, ten, die sich auf den Sturz des DDR-Regimes Heidelberg. ❙1 Vgl. Symbol für das neue Deutschland. Welcher bezogen (9. Oktober und 9. November). Fa- Name? Welche Hymne? Welcher Feiertag?, in: Die vorit schien der 9. November zu sein, ein Tag, Zeit vom 15. 6. 1990 und 22. 6. 1990. an dem mehrere Ereignisse die deutsche Ge- ❙2 Vgl. Hans-Jörg Koch, Der 9. November in der schichte des 20. Jahrhunderts geprägt haben: deutschen Geschichte, Freiburg i. Br. 1998; Peter Novemberrevolution und Beginn der Weima- Steinbach, Der 9. November in der Erinnerung der rer Republik 1918, gescheiterter Hitlerputsch Bundesrepublik, in: Deutschland Archiv, 41 (2008) 5, S. 877–882. in München 1923, Reichspogromnacht 1938, ❙3 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Do- 2 Fall der Berliner Mauer 1989. ❙ Letztendlich kumente zur Deutschlandpolitik: Deutsche Einheit. entschieden sich die Verfasser des Einigungs- Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleram- vertrages für ein Datum, das nur von weni- tes 1989/90, München 1998, S. 1508 ff. 4 gen Befragten vorgeschlagen worden war: ❙ Vgl. Einigungsvertrag, Kapitel II, Artikel 2, Ab- den Tag, an dem die politische Einheit durch satz 2. ❙5 Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 11/222 den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich vom 5. 9. 1990, S. 17491. des Grundgesetzes vollzogen werden würde. ❙6 Wilhelm Hennis, Aus Kohls Erbe, in: Frankfurter Und dies war der 3. Oktober 1990. Allgemeine Zeitung vom 28. 9. 2000.

APuZ 33–34/2015 3 die Feierlichkeiten zum 3. Oktober gestal- dungen zu treffen, um das Ziel der Wieder- tet werden sollten. Auf ursprünglichen Vor- vereinigung zu erreichen. Gleichzeitig wird schlag Schäubles hin beschlossen Kohl und deutlich, dass die tief greifenden kulturellen die Ministerpräsidenten im Mai 1991, den und sozialen Unterschiede zwischen Ost- Tag der Deutschen Einheit nicht in Berlin zu und Westdeutschland und der „Grad der feiern, sondern in der Hauptstadt des Bun- Entfremdung“, ❙11 wie es der Historiker Fritz deslandes, das gerade den Vorsitz im Bun- Stern genannt hat, maßgeblich unterschätzt desrat inne hatte. ❙7 So wollte man eine auf wurden. europäischer Ebene gänzlich unübliche Pra- xis einführen und den Nationalfeiertag jedes Aufgrund der nicht erfolgten Aussprache Jahr in einer anderen Stadt und einem ande- im Bundestag kam es immer wieder zu öf- ren Bundesland begehen. fentlicher Kritik an der Wahl des 3. Okto- bers als Datum des Nationalfeiertages. Unter anderem von den Historikern Arnulf Baring Auseinandersetzungen um den Termin und Hans-Ulrich Wehler wurden Alternati- des neuen Nationalfeiertages ven wie der 17. Juni und der 18. März vorge- schlagen. Hauptkonkurrent des 3. Oktobers Vorteilhaft war zwar, dass der 3. Oktober ge- blieb jedoch der 9. November. schichtlich nicht negativ besetzt war, aber er erinnerte auch lediglich „an etwas so Auf- Einer der einflussreichsten Befürworter regendes wie ein bürokratisches Verfah- des 9. November war im Jahr 2000 der dama- ren“. ❙8 Allein der Name verlieh dem Tag et- lige Außenminister Joschka Fischer (Bünd- was mehr Feierlichkeit: Getauft wurde er nis 90/Die Grünen), der in einem „Spiegel“- „Tag der Deutschen Einheit“, „um als Staats- Interview erklärte: „Für mich ist immer noch gründungstag Geltung im Bewusstsein der die Frage, warum diese Republik nicht den Bevölkerung zu erlangen“. ❙9 Es wurde bei Mut hatte, den 9. November zum National- der Wahl des 3. Oktobers nur wenig Wert feiertag zu bestimmen. (…) Das ist unsere auf Symbolik gelegt. Dies ist umso erstaun- ganze Geschichte. Tiefste Trauer und Betrof- licher, wenn man bedenkt, wie wichtig die fenheit über das, was der deutsche Staat sei- Symbolik gewesen war „während der Revo- nen jüdischen Bürgern und anderen angetan lution vom Oktober und November 1989. Die hat. (…) Der 9. November war aber auch die Entlegitimierung der DDR und das Streben Nacht, in der die Mauer fiel, als die Menschen nach Wiedervereinigung waren wochen-, gar auf der Straße tanzten. Dieses Datum hat eine monatelang allgegenwärtig in den öffentli- ganz besondere emotionale Qualität.“ ❙12 Paul chen Demonstrationen. (…) Gerade Symbo- Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden le und kulturelle Aktionen trugen entschie- in Deutschland, antwortete wenige Wochen den dazu bei, den Sturz des DDR-Regimes später gegenüber demselben Magazin: „Der zu beschleunigen.“ ❙10 Dass man der Symbo- Gedanke, sich zwischen Würstchenbuden lik so wenig Beachtung geschenkt hat, könn- und Volksfeststimmung an die Pogromnacht te eventuell dadurch zu erklären sein, dass vom 9. November 1938 zu erinnern, erscheint ein gewaltiger Druck bestand, innerhalb kür- mir unvorstellbar.“ ❙13 Der damalige Bundes- zester Zeit außergewöhnlich viele Entschei- tagspräsident (SPD) be- zeichnete den 9. November als „verfluchtes ❙7 Vgl. Staatsarchiv Hamburg, Tag der Deutschen deutsches Datum“ und fand ähnliche Wor- Einheit. Vorbereitung, 131.1 II, 9034 1, Bd. 1. te: An einem Tag, der an die Pogromnacht ❙8 Michael E. Geisler, In the Shadow of Exceptiona- lism, in: ders. (Hrsg.), National Symbols, Fractured Identities. Contesting the National Narrative, Mid- ❙11 Fritz Stern, The Many Unifications of Germany, delbury 2005, S. 86. in: Bulletin of the American Academy of Arts and ❙9 Anselm Doering-Manteuffel, 23. Mai 1949/7. Ok- Sciences, (1995) 5, S. 33. tober 1949/3. Oktober 1990, in: Eckart Conze/Tho- ❙12 Stephan Aust et al., 9. November als Feiertag, in: mas Nicklas (Hrsg.), Tage deutscher Geschichte. Von Der Spiegel vom 21. 8. 2000, S. 41 f.; vgl. auch Joschka Fi- der Reformation bis zur Wiedervereinigung, Mün- scher. Tag der Deutschen Einheit verlegen, 4. 10. 2000, chen 2004, S. 272. www.spiegel.de/politik/deutschland/joschka-fischer- ❙10 Vgl. Christoph Cornelißen, Il decennale e il ven- tag-der-deutschen-einheit-verlegen-a-96515.html tennale della Riunificazione tedesca, in Massimo Ba- (10. . 7 2 015). ioni/Fulvio Conti/Maurizio Ridolfi (Hrsg.), Cele- ❙13 Karen Andresen/Hans-Joachim Noack, Dieses brare la nazione, Cinisello Balsamo 2012, S. 409. schreckliche Aber, in: Der Spiegel vom 9. 10. 2000, S. 28.

4 APuZ 33–34/2015 1938 erinnern solle, „finde ich es einfach de- chen friedlichen und führerlosen Ritual fol- platziert, wenn man sich an Bierständen und gend demonstrierten am 9. Oktober 1989 Würstchenbuden in die Schlange stellt“. ❙14 etwa 70 000 Menschen gewaltfrei gegen das Regime der SED. Dieser Tag „war der ent- Die Gefahr, dass die Erinnerung an die scheidende Wendepunkt der Friedlichen Re- Reichspogromnacht von 1938 durch die Fei- volution. Für viele Menschen, die jetzt eben- erlichkeiten zum Gedenken an den Mauer­ falls Mut zum Protest fassten, wurde er fall verdrängt werden könnte, wurde im zum ‚Symbol des Aufbruchs‘ in eine andere Übrigen schon sehr früh von dem Publizis- DDR.“ ❙17 ten und Friedensnobelpreisträger Elie Wie- sel benannt. Dieser kritisierte im Dezember Im Jahr 2004, fünfzehn Jahre nach 1989, 1989 den Westberliner Bürgermeister Wal- erklärte Thierse, „mit dem 9. Oktober hätte ter Momper (SPD) für seine Äußerung, der vor allem auch der Beitrag der Ostdeutschen 9. November würde in die Geschichte einge- zur deutschen Geschichte gewürdigt wer- hen. Dabei habe Momper vergessen, „dass der den können“. ❙18 Der Vorschlag kam bereits 9. November seinen Platz in der Geschich- 1990 durch den Abgeordneten Gerald Häfner te bereits hat: An diesem Tag vor 51 Jahren (Bündnis 90/Die Grünen) ins Spiel, der sagte, fand die ‚Reichskristallnacht‘ statt“. ❙15 Wenn- der 3. Oktober sei „wirklich der ungeeignets- gleich die fehlende historische Bedeutung te Termin zum Feiern“. und emotionale Wertigkeit gegen den 3. Ok- tober sprachen, so waren es doch eben diese Aber der 9. Oktober fand nicht genug Zu- Argumente, die den 9. November historisch stimmung, um sich als Alternative zum und emotional so überfrachteten, dass es un- 3. Oktober durchzusetzen. Dies lag vor al- möglich war, diesen Tag zum Nationalfeier- lem daran, dass man den Eindruck hatte, die tag zu ernennen. Bürger Westdeutschlands seien durch die- ses Datum nicht ausreichend repräsentiert. Auf der Suche nach einem Datum, das die Eine mögliche Lösung wäre gewesen, 1990 Schwächen des 3. Oktobers überwinden das Beitrittsdatum der DDR zur Bundesre- könnte, wurde der 9. Oktober vorgeschlagen publik auf den 9. Oktober zu legen und somit im Gedenken an die Leipziger Montagsde- die Erinnerung an die Friedliche Revolution monstrationen, die eine entscheidende Etappe und die Vollendung der Wiedervereinigung der Friedlichen Revolution hin zum Zusam- vom Datum her abzustimmen. Dieser vom menbruch der DDR darstellten. Ab Septem- letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lo- ber 1989 „versammeln sich die Leipziger je- thar de Maizière (CDU), unterbreitete Vor- den Nachmittag um fünf in vier Kirchen im schlag sollte den ostdeutschen Bürgern „ein Zentrum der Altstadt. Die Pfarrer sprechen gewisses Maß an Würde wahren“, ❙19 fand je- über Leipzig und über die Stadt Gottes. Welt- doch keine Unterstützung. liche begleiten sie in einem langen Gebet, des- sen Text aus einer ungewöhnlichen Mischung aus Auszügen aus der Bibel und diversen Ta- Wie der 9. November gefeiert wird geszeitungen besteht. Die Gläubigen nehmen sich an der Hand und singen die alten Kir- Der 9. November ist weder ein gesetzli- chenlieder von Luther. Danach kehren sie zu- cher Feiertag noch ein offizieller Gedenk- rück in die dunklen Straßen voller Menschen, tag. Trotzdem wurde die Erinnerung an den in den Händen Kerzen und Fahnen, und bil- Mauerfall wachgehalten, durch verschiedene den einen Zug, der bei seinem Marsch durch Veranstaltungen schon in den ersten Jahren die Straßen stetig größer wird“. ❙16 Dem glei- ❙17 Rainer Eckert, Der 9. Oktober: Tag der Entschei- ❙14 Verfluchtes deutsches Datum. Thierse gegen 9. No- dung in Leipzig, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), vember als Feiertag, 5. 10. 2000, www.spiegel.de/po- Revolution und Vereinigung 1989/90, München 2009, litik/deutschland/verfluchtes-deutsches-datum- S. 221. thierse-gegen-9-november-als-feiertag-a-96674.html ❙18 Thierse fordert neuen Nationalfeiertag, 7. 9. 2004, (10. . 7 2 015). www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/debatte-thierse- ❙15 Elie Wiesel, Vergesst Ihr die Vergangenheit?, in: fordert-neuen-nationalfeiertag-a-316977.html . (10 . 7 ​ Die Zeit vom 15. 12. 1989. 2015). ❙16 Robert Darnton, Diario berlinese. 1989–1990, Tu- ❙19 Konrad H. Jarausch, Die unverhoffte Einheit, rin 1992, S. 69. 1989–1990, Frankfurt/M. 1995, S. 286.

APuZ 33–34/2015 5 nach 1989, insbesondere zu seinem fünften gen (CDU) ergriffen zwei ehemalige Aktivis- Jubiläum. Das Datum gewann bundesweite ten der Demokratiebewegung, Rainer Eppel- Bedeutung erstmalig bei seinem zehnten Ju- mann (CDU) und Stephan Hilsberg (SPD), biläum, als sowohl die Bundesregierung als das Wort und erinnerten an den Weg hin zur auch der Berliner Senat die offiziellen Veran- Befreiung aus der DDR, den die Bürger ei- staltungen organisierten. genständig beschritten hatten, und an den Weg hin zur Demokratisierung des ostdeut- Für die Feierlichkeiten im Bundestag am schen Staates, der die Wiedervereinigung 9. November 1999 wurde der Rednerliste (da- überhaupt erst ermöglicht hatte. rin vertreten: Michail Gor­ba­tschow, ­George W. Bush, Helmut Kohl, Gerhard Schröder Der Berliner Senat, der neben der Bun- und Wolfgang Thierse) erst im zweiten An- desregierung für die Gestaltung des zehnten lauf hinzugefügt – evan- Jahrestag der Maueröffnung zuständig war, gelischer Pastor aus Rostock, Vertreter des betonte die Notwendigkeit, dem 3. Oktober Neuen Forums und damaliger Bundesbeauf- und dem 9. November klar zu unterscheiden- tragter für die -Unterlagen. Anfänglich de Profile zu verleihen. Ersterer sei ein Tag, war gar kein Beitrag aus den neuen Bundes- an dem Bilanz gezogen werden sollte zur ländern vorgesehen, was unvermeidlich emp- Einheit Deutschlands und zu dem, was poli- funden wurde als „ein Affront gegen alle Ost- tisch bereits erreicht wurde und was es noch deutschen, die sich wieder einmal als Bürger zu erreichen galt. Der 9. November hingegen zweiter Klasse fühlen mussten“. ❙20 Wie tief sei ein Tag „der historischen Vergegenwärti- die Wunde war, zeigten auch die Worte des gung und Einordnung“. ❙23 Leipziger Schriftstellers Erich Loest, der noch vier Jahre später dazu sagte: „Peinlich Zehn Jahre später wurde die Feier anlässlich war es beim zehnten Jubiläum. Zum Staatsakt des Mauerfalls als „Fest der Freiheit“ internati- im Berliner Bundestag drängelten sich Politi- onal übertragen und mitverfolgt. An den Fei- ker, die damals dabei oder nicht dabei gewe- erlichkeiten am Abend des 9. November 2009 sen waren, alle, alle wollten sie auf die Tri- nahmen neben dem Berliner Bürgermeister büne und im Fernsehen zu besichtigen sein, Klaus Wowereit (SPD), der Kanzlerin Ange- die Liste wurde länger und länger, bis jemand la Merkel (CDU) und Bundespräsident Horst darauf kam, das Volk, der große Lümmel, das Köhler auch Vertreter der vier Besatzungs- auf die Straße gegangen war und eine marode mächte – der britische Premierminister Gordon Greisenriege vom Thron gestürzt hatte, war Brown, der französische Präsident Nicolas Sar- schlicht vergessen worden.“ ❙21 kozy, die US-Außenministerin Hillary Clin- ton und der russische Präsident Dmitrij Med- Auch bei der Feierstunde des Berliner Se- wedew – teil, ebenso Zeitzeugen und wichtige nats im Roten Rathaus am Vormittag des Akteure der Wiedervereinigung, so Michail 9. Novembers 1999 bereitete die Auswahl Gora ­b ­tschow, Hans Dietrich Genscher, Lech der Redner die größten Sorgen. Die ostdeut- Wałęsa und Miklós Németh sowie einige Mit- sche Komponente sollte zwar vorherrschend glieder der Widerstandsbewegung der DDR sein, „es sollte aber kein nostalgisches Bür- wie Roland Jahn und . gerbewegungs-Revival über die Ideale der Runden Tische werden“. ❙22 Man wollte Red- Eingeleitet durch ein Konzert unter der ner auswählen, die erfolgreiche Persönlich- Leitung von Daniel Barenboim war der Hö- keiten darstellten und von der Wiederverei- hepunkt des Abends die Inszenierung des nigung nicht desillusioniert waren. Neben Mauerfalls durch den Fall tausender Domi- dem Berliner Bürgermeister Eberhard Diep- nosteine entlang des ehemaligen Mauerver- laufs. Den Abschluss bildete der Auftritt ei- 24 ❙20 Nicole Maschler, Die Großen bleiben unter sich, nes bekannten DJs. ❙ Die Gestaltung des in: Taz.Die Tageszeitung (taz) vom 6. 11. 1999. ❙21 Erich Loest, Dieser unbequeme Feiertag, in: Thü- ringer Staatskanzlei, Tag der deutschen Einheit 2003. ❙23 Senatskanzlei Berlin, Veranstaltungen zum 9. No- Festakt in der Kornmarktkirche zu Mühlhausen, Er- vember 1999, Konzept 10. Jahrestag des 9. November furt 2003, S. 16–21, hier: S. 16. 1989 – Staatlicher Festakt, Az. 80602, 15. 12. 1998. ❙22 Senatskanzlei Berlin, Veranstaltungen zum 9. No- ❙24 Zum detaillierten Ablauf der Ereignisse vgl. Ein vember 1999, Vermerk 10. Jahrestag der Maueröff- inszenierter Mauerfall, in: Der Tagesspiegel vom nung – Berliner Feierstunde, Az. 80602, 31. 5. 1999. 6. 11. 2009.

6 APuZ 33–34/2015 Abends wurde eng mit der Liveübertragung ge Protagonisten der Friedlichen Revolution im Fernsehen (ZDF) abgestimmt, und auch aktiv beteiligt. Insbesondere die Robert-Ha- die Wahl des bekannten Entertainers Tho- vemann-Gesellschaft und die Behörde des mas Gottschalk zum Moderator der Veran- Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen staltung zeigt, dass sie nunmehr zu einer me- organisierten 2009 zahlreiche öffentliche Ver- dialen Unterhaltungsshow geworden war. anstaltungen, in denen der Fokus größtenteils auf die nationalen und internationalen Ereig- Der Erfolg des Festes in puncto Besucher- nisse gerichtet war, die letztendlich zum Nie- zahlen und Fernsehzuschauer ließ erneut For- dergang der DDR und ihrer Hauptvertreter derungen laut werden, den 9. November zum geführt hatten. Die Robert-Havemann-Ge- Nationalfeiertag zu küren. ❙25 Gleichzeitig gab sellschaft war außerdem federführend an ei- es jedoch auch Kritik an der Gestaltung der ner großen Open-Air-Ausstellung am Ale- Feier. So sprach der Publizist Thomas Moser xanderplatz beteiligt, in der der Verlauf der von einer „Profanisierung und Boulevardisie- Friedlichen Revolution mit all ihren Akteu- rung der Revolutionen von vor 20 Jahren“. ❙26 ren und der Weg hin zur Einheit dargestellt Die linke Tageszeitung „taz“ bemängelte die wurden. Der Schwerpunkt wurde auf die fehlende politische Dimension der Feierlich- Oppositionsbewegung der DDR-Bürger ge- keiten und bezeichnete die offizielle Haltung legt, ohne dabei die internationalen Aspekte Deutschlands gegenüber seiner jüngsten Ver- zu übergehen. ❙30 Ziel war es, sich auf die Bür- gangenheit als unreif und kindisch ❙27, wäh- gerbewegungen zu konzentrieren, deren Rol- rend ein Kommentar bei „Spiegel Online“ die le in der stark auf die Opfer des SED-Regimes Veranstaltung als „Plunder (…) auf dem Ni- (Stasi-Opfer, Mauertote) bezogenen Aufar- veau der Samstagabendunterhaltung im deut- beitung allzu häufig vernachlässigt wurde. schen Fernsehen“ ❙28 ­beschrieb. Man wollte ihnen einen Platz in der kollekti- ven Erinnerung sichern und sie wieder in den Ad acta gelegt schien die Kritik, die noch öffentlichen Diskurs aufnehmen. Der Titel 1999 an den Feierlichkeiten im Bundestag ge- der Ausstellung lautete „Wir sind das Volk!“ äußert worden war, dies nicht zuletzt dank Kanzlerin Merkel, die die Feierlichkeiten zum Der 25. Jahrestag des Mauerfalls wurde 9. November 2009 mit einem Spaziergang ent- ebenfalls von Berliner Senat und Bundesregie- lang der Bösebrücke in der Nähe der Bornhol- rung gemeinsam gestaltet und war genau wie mer Straße begann, wo 1989 nachts der erste die Zwanzigjahrfeier ein großes öffentliches Grenzübergang geöffnet worden war. Begleitet Event mit gewaltiger medialer Resonanz und wurde sie von Gor­ba­tschow, Wałęsa und Ver- hunderttausenden Zuschauern. Volksfest und tretern der Bürgerrechtsbewegung der ehema- künstlerische Performance waren die Haupt­ ligen DDR und rückte somit symbolisch die ele ­mente. Auf einer Strecke von 15 Kilo­ nationalen und internationalen Akteure der Re- metern entlang des ehemaligen Mauerverlaufs volution ins Zentrum der ­Aufmerksamkeit. ❙29 wurden achttausend leuchtende Ballons auf- gestellt. Am Abend ließ man dann ausgehend An der Zwanzigjahrfeier waren erstmals vom Brandenburger Tor, wo die Hauptbühne neben den offiziellen Stellen wie Berliner stand, die Ballons zu den Klängen der „Ode an Senat und Bundesregierung auch ehemali- die Freude“ steigen. Diesmal erklärte „Spiegel Online“: „Ein modernes Erinnern, entstaubt und frisch, gelang erstaunlich gut.“ ❙31 ❙25 Vgl. Aussagen Margot Käßmanns und Christoph Meyers, in: Jörn Hasselmann/Lars von Törne, 9. No- Wenngleich eine so überwältigende Ge- vember. Ein Feiertag für alle, in: Der Tagesspiegel denkfeier den Eindruck erweckt, man wen- vom 10. 11. 2009. ❙26 Thomas Moser, Domino und andere Spiele, in: de sich nun mehr der jüngeren Vergangenheit Deutschland Archiv, 43 (2010) 1, S. 117. ❙27 Vgl. Ines Kappert, Kinder an der Macht, in: taz vom 11. 11. 2009. ❙30 Vgl. Wir sind das Volk! Magazin zur Ausstellung ❙28 Reinhard Mohr, Mauerfall-Jubiläum im ZDF: Der Friedliche Revolution 1989/1990, Kulturprojekte Plunder von Berlin, 10. 11. 2009, www.spiegel.de/ Berlin GmbH, Berlin 2009. kultur/tv/mauerfall-jubilaeum-im-zdf-der-plunder- ❙31 Annett Meiritz/Christoph Sydow, Berlin erin- von-berlin-a-660313.html .(10. 7 2015). nert, Berlin jubelt, 9. 11. 2014, www.spiegel.de/politik/ ❙29 Senatskanzlei Berlin, Veranstaltungen zum 9. No- deutschland/mauerfall-jahrestag-berlin-gedenkfeier- vember 2009, Protokoll, Az. 80602, 29. 9. 2009. am-brandenburger-tor-a-1001910.html .(10. 7 2015).

APuZ 33–34/2015 7 und den positiveren Aspekten der deutschen zehnten Jahrestag 1999 erstmals Breitenwir- Geschichte zu, ist die Erinnerung an den kung, als vor der Nikolaikirche als einem der 9. November 1938 nicht gänzlich aus den ersten Denkmäler der Friedlichen Revolution Veranstaltungen verschwunden. So erklär- eine Säule zur Erinnerung an die Ereignisse er- te Kanzlerin Merkel zur Eröffnung des Fests richtet wurde. Zum traditionellen Ablauf des der Freiheit 2009: „der 9. November mar- 9. Oktobers gehören mittlerweile drei Elemen- kiert eine wahrhaft glückliche Stunde der te: das Friedensgebet in der Nikolaikirche, die deutschen und der europäischen Geschich- Rede zur Demokratie und das Lichtfest. Die te (…). Doch für uns Deutsche ist der 9. No- Auswahl der Redner für die Rede zur Demo- vember auch ein Tag der Mahnung. Heute vor kratie ging bis dato in zweierlei Richtungen. 71 Jahren wurde in der Reichspogromnacht Zunächst wurden Vertreter der Bundesrepu- das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte blik als Redner eingeladen (die Präsidenten aufgeschlagen: die systematische Verfolgung von Bundestag und Bundesrat, der Präsident und Ermordung der europäischen Juden und des Bundesverfassungsgerichts, der Bundes- vieler anderer Menschen.“ ❙32 Fünf Jahre spä- präsident), die dazu aufgerufen wurden, sich ter während der Eröffnung der neuen Aus- für die offizielle Anerkennung des 9. Oktober stellung der Gedenkstätte Berliner Mauer einzusetzen. In jüngerer Zeit wandte man sich begann ihre Rede mit einem eher Persönlichkeiten aus Polen, Ungarn und kurzen Abriss der Ereignisse des 9. Novem- der Tschechischen Republik zu, um die in- ber 1918 und 1923, um dann schließlich auf ternationale Komponente der Revolution von den 9. November 1938 einzugehen: „Der 1989 zu betonen. Im Laufe der Zeit wurden die 9. November wurde ein Tag der Scham und Feierlichkeiten nicht mehr nur von der „Ini- der Schande (…) Deshalb empfinde ich heu- tiative 9. Oktober“, sondern auch vom Land te, am 25. Jahrestag des Falls der Berliner Sachsen, dem sächsischen Parlament und der Mauer, nicht nur Freude, sondern vor allem Stadt Leipzig organisiert. auch die Verantwortung, die uns die deutsche ­Geschichte insgesamt aufgegeben hat.“ ❙33 Ebenso wie die Gedenkfeier zum Mauer­ fall erreichte auch die zum 9. Oktober ih- ren bisherigen Höhepunkt zum zwanzigsten Der 9. Oktober auf dem Weg Jahrestag, als 2009 der Tag in Leipzig zum zum lokalen Feiertag lokalen Feiertag gekürt wurde. Die Feierlich- keiten begannen mit der Einweihung der De- Es war die „Initiative Tag der Friedlichen Re- mokratieglocke am Augustusplatz, danach volution – Leipzig 9. Oktober“ (kurz „Initiati- folgte die offizielle Zeremonie mit Bundes- ve 9. Oktober“), die den 9. Oktober als festen präsident Horst Köhler, dem Bürgerrechtler Gedenktag einrichten wollte. Sie besteht aus , dem Leipziger Bürgermeis- ehemaligen Aktivisten der Bürgerrechtsbewe- ter, dem Landtagspräsidenten und dem säch- gungen und nichtstaatlichen Einrichtungen, sischen Ministerpräsidenten. Highlight war die einen direkten Bezug zum Herbst 1989 ha- nach wie vor das abendliche Lichtfest mit ben, darunter die Gedenkstätte Museum in der rund 150 000 Teilnehmern. Im Anschluss da- „Runden Ecke“ im ehemaligen Sitz der Stasi, ran wurde der Teil des Leipziger Stadtrings die Universität Leipzig, das Zeitgeschichtliche abgelaufen, auf dem zwanzig Jahre zuvor die Forum Leipzig und die Behörde des Bundes- Montagsdemos stattgefunden hatten. Das beauftragten für die Stasi-Unterlagen. symbolische Wachrufen der Ereignisse in der kollektiven Erinnerung ermöglichte es, Mitte der 1990er Jahre begann die Initiati- auch die Menschen, die an den Protesten 1989 ve mit öffentlichen Treffen und dem traditio- nicht teilgenommen hatten, „zwanzig Jahre nellen Friedensgebet und erreichte dann zum später physisch einzubinden in eine ‚authen- tische‘ Veranstaltung, die basierend auf ih- ❙32 Angela Merkel, Bulletin der Bundesregierung, rem historischen Vorbild, ein starkes Gefühl 111-3, 9. 11. 2009, S. 1, www.bundesregierung.de/Con- emotionaler Bindung erzeugte“. ❙34 tent/DE/Bulletin/​2009/​11/Anlagen/​111-3-bk.pdf?__ blob=publicationFile&v=1 (25. 6. 2015). ❙33 Angela Merkel, Bulletin des Bundesregierung, ❙34 Alexandra Kaiser, We Were Heroes. Local Me- 126-3, 9. 11. 2014, www.bundesregierung.de/Content/ mories of Autumn 1989, in: Anna Saunders/Debbie DE/Bulletin/​2010-2014/​2014/​11/​126-3-bk-daueraus- Pinfold (Hrsg.), Remembering and Rethinking the stellung.html (25. 6. 2015). GDR, Basingstoke 2013, S. 182.

8 APuZ 33–34/2015 Zentrales Argument der Leipziger Ge- chern war das Lichtfest ein erneuter Erfolg. Je- denkfeier ist, was auch in der Rede zur De- doch gab es auch kritische Stimmen, die in den mokratie von Bürgerrechtler Werner Schulz Feierlichkeiten eher eine Marketing-Veranstal- 2009 klar zum Ausdruck kam: „Ohne den tung sahen, mit der Leipzig versucht habe, „ein 9. Oktober in Leipzig hätte es den 9. Novem- Revolutions-Disneyland zu erschaffen, in dem ber in Berlin nicht gegeben. Und nicht den Bestreben, die Marke ‚Leipzig‘ zu promoten“. ❙40 3. Oktober 1990.“ ❙35 So versucht man einer- seits, ein Gegengewicht zu Berlin zu schaf- fen, andererseits will man aber vor allem Schlussfolgerungen „die Aufmerksamkeit darauf konzentrie- ren, die Erinnerung an Friedliche Revoluti- Trotz des wachsenden öffentlichen Interes- on und Mauerfall nachhaltig im Gedächtnis ses an den Gedenkfeierlichkeiten des 9. Okto- der Nation zu verankern“. ❙36 Ein ähnlicher bers und des 9. Novembers wird wahrschein- Appell ging von der „Initiative 9. Oktober“ lich der 3. Oktober Nationalfeiertag bleiben. unter dem Titel „40 + 20 = 60 Jahre Bundes- Auffallend ist jedoch, dass – wie eingangs aus- republik“ aus. Mit dieser Rechenformel woll- geführt – im Laufe der Jahre immer wieder te man die Erinnerung an die Gründung der Alternativvorschläge laut wurden, die Unter- Bundesrepublik (1949) mit dem 20. Jahrestag stützung auch von Vertretern höchster Stel- der Friedlichen Revolution in Verbindung len fanden. Das Problem scheint nicht zu sein, setzen und somit letzteres Ereignis in die de- dass die Deutschen „unfähig“ sind, zu feiern. mokratische Tradition Gesamtdeutschlands Die Schwierigkeit scheint vielmehr darin zu einbetten und als Geschehnis hervorheben, liegen, eine angemessene Sprache zu finden, auf das „alle Deutschen stolz sein können“. ❙37 der es gelingt, den jüngsten zeitgeschichtli- chen Ereignissen wie der Friedlichen Revolu- Der 25. Jahrestag des 9. Oktobers im Jahr tion und der Wiedervereinigung Rechnung zu 2014 wurde nach dem bis dahin etablier- tragen, ohne dabei allzu große Nabelschau zu ten Ablauf gestaltet. ❙38 Bundespräsident Joa- betreiben oder ein übertriebenes Medienspek- chim Gauck zeichnete in seiner Rede zur De- takel zu entfachen. Der 3. Oktober ist bekannt mokratie ein umfassendes und facettenreiches als ein Tag, an dem sich Staatsmänner und po- der wichtigsten Ereignisse und Errun- litische Elite selbst feiern, ohne dabei das Volk genschaften der Friedlichen Revolution von allzu sehr mit ­einzubeziehen. 1989 und betonte: „Kein 9. November ohne den 9. Oktober. Vor der Einheit kam die Frei- Den Befürwortern des 9. November ist es heit.“ ❙39 Auf Wunsch von Gauck selbst waren nicht gelungen, einen neuen Gründungsmy- beim Festakt in Leipzig auch die Präsidenten thos entstehen zu lassen, dies vor allem auf- Polens, Ungarns, der Tschechischen Republik grund der Mehrdeutigkeit des Datums und laut und der Slowakei zugegen, um den interna- dem Politologen Herfried Münkler auch auf- tionalen Rahmen und das Zusammenspiel der grund der räumlichen Eingeschränktheit des osteuropäischen Demokratiebewegungen her- Mauerfalls, den das westdeutsche Volk schließ- vorzuheben und den Eindruck zu vermeiden, lich nur als Beobachter verfolgt hat. ❙41 Dies gilt die Befreiung wäre ein ausschließlicher Akt umso mehr für den 9. Oktober, der trotz des der heldenhaften Selbstbefreiung des ostdeut- gestiegenen medialen Interesses, der Teilnah- schen Volkes gewesen. Mit rund 200 000 Besu- me hoher Bundesvertreter und aller Bemühun- gen der Organisatoren nach wie vor als eine ausschließlich ostdeutsche, wenn nicht sogar 35 ❙ Werner Schulz, Rede zum Festakt 9. 10. 2009, www. lokale Feierlichkeit wahrgenommen wird. herbst89.de/startseite/reden-zur-demokratie/reden- zum-festakt-2009/werner-schulz.html (19. 6. 2015). ❙36 Rainer Eckert, Das Erinnerungsjahr 2009, in: Gleichwohl entwickeln sich Formen des Deutschland Archiv, 42 (2009) 6, S. 1078. Gedenkens, wie beispielsweise das Leipziger ❙37 Ruf aus Leipzig, 18. 6. 2007, www.herbst89.de/ Lichtfest oder die Feierlichkeiten zum Tag startseite/ruf-aus-leipzig.html (19. 6. 2015). des Mauerfalls, die eine neue Tendenz in der ❙38 Vgl. Programm www.herbst89.de/startseite/veran- staltungen/programm-9-oktober-2014.html (19. 6. 2015). ❙39 Joachim Gauck, Bulletin der Bundesregierung, ❙40 Andreas Raabe, Die verkitschte Revolte, in: Kreu- 113-2, 14. 10. 2014, www.bundesregierung.de/Con- zer, (2010) 14, S. 22. tent/DE/Bulletin/​2010-2014/​2014/​10/​113-2-bpr- ❙41 Vgl. Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre festakt.html (25. 6. 2015). Mythen, Berlin 2009, S. 479.

APuZ 33–34/2015 9 kollektiven Erinnerung der Deutschen deut- 3. Oktober ist der Ablauf der Feierlichkeiten lich werden lassen. Vor allem die Hervorhe- stark emotional geprägt und scheint eine neue bung dieser beiden Daten, die in der Öffent- Tendenz abzuzeichnen, weg von der öffentli- lichkeit immer stärker gefeiert werden, zeigt chen Selbstdarstellung, von der die Bundes- den Wunsch, die Ereignisse von 1989 und republik während der Teilung Deutschlands 1990 getrennt zu betrachten und daran zu geprägt war, in der staatliche Feierlichkeiten erinnern, dass die Wiedervereinigung zwar zumeist ein „enormes Defizit was öffentliche schnell vollzogen wurde, ihr Erfolg aber kei- Emotionen in institutionalisierten Zeremoni- nesfalls selbstverständlich war. Wenn man en anbelangt“ ❙43 ­aufwiesen. den Fokus auf die Revolution von 1989 legt, werden dadurch die nachfolgenden Schwie- Es ist schwierig, aus einem fortlaufenden rigkeiten außer Acht gelassen, die während Prozess wie der Entstehung einer kollektiven des praktischen Prozesses der Wiedervereini- Erinnerung an die Friedliche Revolution und gung aufgetreten sind. Die Friedliche Revo- Wiedervereinigung dauerhafte Schlussfolge- lution, die dem Mauerfall vorangegangen war rungen zu ziehen. Es scheint sich jedoch ein – und für die sich die Bezeichnung „die erste „Wandel in der Erinnerungskultur der Deut- gelungene und gewaltfreie Revolution in der schen zu vollziehen, in der immer mehr Be- deutschen Geschichte“ ❙42 etabliert hat – sepa- zug auf die jüngste Geschichte genommen rat zu betrachten, bedeutet vor allem, die Dar- wird“ ❙44 und die sich auf der Suche nach posi- stellungsweise in den Schatten zu stellen oder tiv besetzen Symbolen zu ihrer eigenen Iden- zumindest zu nivellieren, die sich auf den di- tifikation befindet. Dies wird auch in der plomatischen Erfolg der westdeutschen politi- Absicht deutlich, in Berlin ein Denkmal für schen Elite (allen voran den Erfolg von Kanz- Freiheit und Einheit zu errichten, durch das ler Kohl) im Prozess der Wiedervereinigung die Geschehnisse von 1989 und 1990 „in Stein konzentriert. Gerade an der aktiven Rolle der gemeißelt“ werden. ❙45 Vertreter der Bürgerrechtsbewegungen lässt sich erkennen, wie durchlässig die kollektive Die Weiterentwicklung einer kollektiven Erinnerung ist, und wie bedeutend nach wie Erinnerung der Deutschen hat schlussendlich vor die Rolle der Zeitzeugen und deren münd- nicht, wie befürchtet, zu einer Vernachlässi- liche Weitergabe der Geschehnisse von 1989 gung der Erinnerung an den Holocaust ge- sind. Dieses kommunikative Gedächtnis geht führt, die nach wie vor zumindest im öffent- eine Wechselbeziehung mit den Institutionen lichen Diskurs maßgeblicher und „ethisch ein und fordert diese zur Interaktion auf. orientierender“ ❙46 Bestandteil der deutschen Identität ist. Gleichzeitig hat man manchmal Die Feierlichkeiten zum 20. und 25. Jahres- „den Eindruck, als sollte die friedliche Revo- tag des Mauerfalls und der Montagsdemo am lution von 1989 angesichts der Geschichte des 9. Oktober zeigen den Versuch, jenseits der in- 20. Jahrhunderts als eine Art stellvertreten- stitutionellen oder offiziellen Ebene eine Aus- de Rehabilitierung aller Deutschen dienen“. ❙47 drucksform für das Gedenken zu finden, mit der das Volk selbst unmittelbar angesprochen ❙43 und zur Interaktion und aktiven Beteiligung Christoph Cornelißen, Le feste nazionali nelle due Germanie dopo la „catastrofe“ del nazionalsociali- aufgefordert wird. Während der 9. Oktober smo, in: Maurizio Ridolfi (Hrsg.),Rituali civili. Storie sich vornehmlich an ein deutsches Publikum nazionali e memorie pubbliche nell‘Europa contem- richtet, stößt der 9. November, sei es aufgrund poranea, Roma 2006, S. 211–220, S. 217. der Tragweite des Mauerfalls oder aufgrund ❙44 Vera Caroline Simon, Rivoluzione e unità, in: Me- der Anziehungskraft Berlins, auf internati- moria e Ricerca, (2010) 34, S. 94. Vgl. auch dies., Ge- onale Aufmerksamkeit und zeichnet welt- feierte Nation. Erinnerungskultur und National- feiertag in Deutschland und Frankreich seit 1990, weit ein positives und überzeugendes Bild Frankfurt/M. 2010. von Deutschland. Auch wenn sie auf unter- ❙45 Vgl. Andreas H. Apelt (Hrsg.), Der Weg zum Denk- schiedliche Reaktionen treffen, scheinen bei- mal für Freiheit und Einheit, Schwalbach/Ts. 2009. de Feierlichkeiten von dem Bemühen geprägt ❙46 Vgl. Gian Enrico Rusconi, Berlino. La reinvenzio- zu sein, ein neues, positiv besetztes Image ne della Germania, Laterza, Roma-Bari 2009. ❙47 Deutschlands aufzubauen. Im Gegensatz zum Ralph Jessen, Die Montagsdemonstrationen, in: Martin Sabrow (Hrsg.), DDR Erinnerungsorte, München 2009, S. 479. ❙42 Leipziger Thesen, 4. 9. 2009, www.herbst89.de/ startseite/leipziger-thesen.html (19. 6. 2015).

10 APuZ 33–34/2015 Vera Caroline Simon präsentieren sich die Bundesländer und auch die Verfassungsorgane stellen sich vor.

Tag der Deutschen In diesem Beitrag wird nachgezeichnet, welcher Stil sich für die Ausgestaltung des Einheit: Festakt und offiziellen Festakts im Laufe der Jahre he- rauskristallisiert hat, wie dieser durch die Live-Übertragung im Fernsehen verbreitet Live-Übertragung und schrittweise durch die Möglichkeiten des Mediums mitgeprägt wurde. ❙6 Diese Ent- im Wandel wicklungen lassen sich auf drei Ebenen ana- lysieren, die für politische Rituale prägende Zeitlichkeiten darstellen: Kollektives Erleben un haben wir ihn. Nun feiern wir ihn. Wie und Handeln, also Gleichzeitigkeit, ❙7 Au- Nmachen wir das?“ ❙1 Diese Feststellung des ßeralltäglichkeit beziehungsweise „Außerge- ostdeutschen Schriftstellers Erich Loest auf ei- wöhnlichkeit“ ❙8 sowie der Bezug zu „Schlüs- ner Veranstaltung der selereignissen der Vergangenheit“. ❙9 Vera Caroline Simon Thüringer Landesre- Dr. phil., geb. 1980; Referentin gierung zum 3. Okto- Dieser Artikel basiert im Wesentlichen auf einem Ka- in der Niedersächsischen Staats- ber 2003 war sympto- pitel der 2010 im Campus Verlag erschienenen Studie kanzlei, unter anderem tätig matisch für die Debat- der Autorin: Gefeierte Nation. Erinnerungskultur in der Geschäftsstelle des „Zu- te über den richtigen und Nationalfeiertag in Deutschland und Frankreich seit 1990, Frankfurt/M.–New York 2010. kunftsforums ­Niedersachsen“. Umgang mit dem Tag ❙1 Erich Loest, Dieser unbequeme Feiertag, in: Thü- [email protected] der Deutschen Einheit. ringer Staatskanzlei (Hrsg.), Tag der Deutschen Ein- Für die einen war der heit 2003. Festakt in der Kornmarktkirche zu Mühl- 3. Oktober schlicht ein „Missgriff“, ❙2 „willkür- hausen, Erfurt 2003, S. 16–21, hier: S. 16. lich und ohne jeglichen historischen Bezug“, ❙3 ❙2 Arnulf Baring, Der 3. Oktober war ein Missgriff, für die anderen ein Tag, an dem „Vergangen- in: Die Welt vom 30. 9. 2000. ❙3 heit, Gegenwart und Zukunft miteinander ver- Werner Schulz, Verhandlungen des Deutschen Bun- destages, 13. Wahlperiode, 237. Sitzung, 27. 5. 1998, söhnt werden“, gerade weil das Datum keine S. 21758. 4 bestimmten Ereignisse herausstelle. ❙ ❙4 Andreas Piontek, Gedanken zum Tage, in: Thü- ringer Staatskanzlei (Hrsg.), Tag der Deutschen Ein- Am 3. Oktober wird seit 1990 der Beitritt der heit 2003. Festakt in der Kornmarktkirche zu Mühl- DDR zur Bundesrepublik Deutschland gefei- hausen, Erfurt 2003, S. 8–10, hier: S. 9. ❙5 ert. Er wurde in Artikel 2 des Einigungsver- 2011 fand die zentrale Einheitsfeier zum Tag der Deutschen Einheit nicht in der Landeshauptstadt trages als gesetzlicher Feiertag festgelegt. Die Nordrhein-Westfalens, sondern in statt. zentralen Feierlichkeiten werden jeweils in ❙6 Ausgewertet wurden die Jahre 1992–2007 und dem Bundesland gefeiert, das den Bundesrats- 2014. Das Quellenmaterial ist als Eigentum der Sen- vorsitz innehat und von der jeweiligen Staats- deanstalten zumeist nur durch Erwerb zugänglich. kanzlei organisiert. Der protokollarische Teil Für Live-Übertragungen stellt sich noch ein wei- setzt sich aus einem ökumenischen Gottes- teres Problem, da sie nicht immer archiviert wer- den. Dies gilt zum Beispiel nach Angaben des Mit- dienst sowie einem Festakt mit anschließen- schnittservices des ZDF für die Übertragung vom dem Empfang des Bundespräsidenten zusam- 3. 10. 1991. men, an dem hohe Repräsentanten aus Staat ❙7 Z. B. Gabriella Elgenius, National Days and Nati- und Gesellschaft sowie seit 1995 Bürgerdele- on-Building, in: Lina Eriksonas/Leos Muller (Hrsg.), gationen aus den 16 Bundesländern teilneh- Statehood before and beyond Ethnicity. Minor Sta- men. Im Mittelpunkt der Festakte stehen die tes in Northern and Eastern Europe, Brüssel 2005, S. 363–386, hier: S. 363. Reden des amtierenden Bundesratspräsidenten ❙8 Etienne François/Hannes Siegrist/Jakob Vogel, als Gastgeber sowie entweder von Bundesprä- Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen, Emotio- sident, Bundestagspräsident, Bundeskanzler nen, in: dies. (Hrsg.), Nation und Emotion. Deutsch- oder von geladenen Gästen, die von unter- land und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahr- schiedlichen Programmpunkten eingerahmt hundert, Gottingen 1995, S. 13–35, hier: S. 25. ❙9 werden. In der jeweiligen Landeshauptstadt ❙5 Hannes Stekl, Öffentliche Gedenktage und gesell- schaftliche Identitäten, in: Emil Brix/ders. (Hrsg.), findet außerdem das sogenannte Bürgerfest Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenk- mit vielfältigem Informations- und Unterhal- tage in Mitteleuropa, Köln u. a. 1997, S. 91–116, hier: tungsprogramm statt. Auf der „Ländermeile“ S. 91.

APuZ 33–34/2015 11 Gemeinsames Erleben? Kritische Töne Dazu gehören zum Beispiel die bessere Sicht am Bildschirm als vor Ort ❙15 sowie das Zeigen Sowohl die Datumswahl des Nationalfei- der Reaktionen der Festteilnehmer auf die ertags als auch seine symbolische Ausge- gebotenen Beiträge, wodurch der „gemein- staltung, durch die der 3. Oktober mehr die schaftsstiftende Charakter der abgebildeten Züge eines Staats- als eines Nationalfeier- Erfahrung“ betont wird. ❙16 tags trägt, ist umstritten. ❙10 Regelmäßig wur- den der 9. Oktober oder der 9. November als geeigneterer Nationalfeiertag in die öffent- Im Zeichen der Zurückhaltung liche Debatte eingebracht, um die Rolle der ostdeutschen Bürgerbewegung und Massen- Als gesetzlicher Feiertag durchbricht der proteste stärker zu würdigen. Ebenso stand 3. Oktober zwar den Arbeitsalltag, jedoch die Trennung der offiziellen Feierlichkei- gab es anfänglich wenig Bestrebungen, ihn ten in zwei separate Teile in der Kritik. Der durch eine außergewöhnliche Inszenierung Ausschluss der Bevölkerung vom offiziellen vom Alltag abzusetzen. Wohl auch ange- Festakt wurde in Ost und West gleicherma- sichts der im In- und Ausland geführten ßen als „Großer Festakt ohne Volk“ ❙11 ge- Debatte über die Gefahr eines neu aufkei- brandmarkt und es waren Schlagzeilen wie menden Nationalismus im wiedervereinten „Wir sind das Volk, wir müssen draußen blei- Deutschland fielen die Organisation und die ben“ ❙12 zu lesen. Von 1993 bis zum Jubiläum symbolische Ausgestaltung sehr zurückhal- 2000 in fand keine der Einheitsfei- tend aus. ern in den neuen Bundesländern statt und keinem ostdeutschen Redner, keiner ostdeut- Der 3. Oktober soll über jeden Vorwurf ei- schen Rednerin wurde das Wort erteilt, was nes Hurrapatriotismus erhaben sein und ein den Eindruck einer westdeutschen Elitenfei- verfassungspatriotisches Signal senden. Bun- er noch zusätzlich verstärkt haben mag. despräsident Roman Herzog machte diese Maxime der Zurückhaltung 1994 explizit, Angesichts dieser strikten Trennung des offi- indem er anmahnte, „die Liebe zu unserem ziellen Festakts vom gesellschaftlichen Teil der Land nicht einen Augenblick zu verschwei- Feierlichkeiten wird die Bedeutung der mas- gen, uns dabei aber (…) ausgesprochen leiser senmedialen Vermittlung deutlich: Allein die Töne zu befleißigen. Nationales Trara, Fan- Live-Übertragung im Fernsehen kann der in- faren und Tschinellen sind das letzte, was wir teressierten Öffentlichkeit einen „vereinheit- dabei brauchen können.“ ❙17 lichten Zugang“ ❙13 zum Festakt gewähren. Die Massenmedien und insbesondere die öffent- Bereits die Bezeichnung als „zentrale“ und lich-rechtlichen Sender erfüllen so eine wich- nicht als „nationale“ Feier verdeutlicht diesen tige gesellschaftsstiftende Funktion, schaffen Anspruch. Auch der Verzicht, die offiziellen Transparenz und üben eine „Legitimations- Feierlichkeiten im wieder zur Hauptstadt ge- und Kontrollfunktion“ politischer Macht aus. ❙14 wählten Berlin abzuhalten, ist nicht nur als föderales Symbol, sondern auch als politische Das Medium Fernsehen verfügt darüber Entscheidung zu verstehen, mit der Begrün- hinaus über bestimmte Techniken, die ein ge- dung, dass eine „zentrale Hauptstadt-Feier meinsames „Erleben“ suggerieren können. (…) weder dem vereinten Deutschland noch Berlin nützen“ würde. ❙18

10 ❙ Siehe hierzu den Beitrag von Costanza Calabretta Im Gegensatz zu anderen Nationalfeier- in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). tagen wie zum Beispiel dem französischen ❙11 Yuriko Wahl, Großer Festakt ohne Volk, in: Säch- sische Zeitung vom 4. 10. 1995. 14. Juli, an dem die Champs-Élysees einem ❙12 Andreas Rehnolt, Strenge Sicherheitsvorkehrun- gen zum funften Jahrestag der Einheit, in: Kehler Zeitung vom 4. 10. 1995. ❙15 .D Dayan/E. Katz, (Anm. 13), S. 434. ❙13 Daniel Dayan/Elihu Katz, Medienereignisse, in: Ralf ❙16 Ebd., S. 417. Adelmann et al. (Hrsg.), Grundlagentexte zur Fernseh- ❙17 Bundespräsident Roman Herzog, Verhandlungen wissenschaft, Konstanz 2001, S. 413–453, hier: S. 434. des Deutschen Bundestages, 13. Wahlperiode, 239. ❙14 Vgl. Jens Lucht, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk Sitzung, 1. 7. 1994, S. 21155. in der Demokratie, in: APuZ, (2009) 9–10, S. 26–31, ❙18 Klaus Wedemeier, Verhandlungen des Bundesra- hier: S. 28 f.. tes, 675. Sitzung, 14. 10. 1994, S. 549.

12 APuZ 33–34/2015 trikoloren Fahnenmeer gleichen, werden na- werten, ein realistisches Bild der Situation tionale Symbole am Tag der Deutschen Ein- zu zeichnen, das die „hartnäckige Vereini- heit eher sparsam eingesetzt. Durch das ge- gungskrise“ ❙21 nicht ausspare. Somit wurde meinsame Singen der Nationalhymne, die der 3. Oktober zum Tag der Bestandsauf- den offiziellen Festakt beschließt und bei der nahme der inneren Einheit. Am Nationalfei- sich alle Anwesenden im Festsaal erheben, er- ertag sollte nichts beschönigt werden, denn hält die Feier jedoch ein typisches Element ei- „Schönfärben hieße ja, die Mündigkeit der nes Nationalfeiertags. Bürger missachten“, wie Bundespräsident Ri- chard von Weizsäcker 1992 ­betonte. ❙22 Von den Fahnen der Bundesländer im Fest- saal bis hin zur Ländermeile auf dem Bürger- Insgesamt waren die Festakte in den An- fest ist dagegen der Föderalismus präsent. Die fangsjahren eher nüchterne und zurückhal- länderbezogene Ausgestaltung des 3. Okto- tende Zeremonien, die vor allem durch Re- bers verleiht ihm nicht nur historische Tie- den und klassische Musikeinlagen geprägt fenschärfe, sondern erfüllt eine weitere wich- waren. Die mehrmals gezeigten Darbietun- tige Funktion, indem sie eine gemeinsame gen von Kindern standen darüber hinaus Identifikationsgrundlage bereitstellt, welche in einem starken Kontrast zu den in ande- die dichotome Gegenüberstellung von Ost- ren europäischen Ländern zum Nationalfei- und Westdeutschen aufbricht. ertag üblichen Militärparaden. In Saarbrü- cken sang beispielsweise 1993 ein Kinderchor Darüber hinaus ist das deutsche Bekennt- die Hymne „Frei und schön wie Lieder und nis zur europäischen Integration sowohl in hell wie Sonnenschein soll für alle Brüder den Festreden als auch in der symbolischen die Welt von morgen sein“ ❙23 auf Deutsch Ausgestaltung präsent und wurde insbeson- und auf Französisch. 1999 in Wiesbaden tra- dere in den Anfangsjahren stark herausge- ten der Kinderliedermacher Rolf Zuckowski stellt. So feierte das Saarland bereits zwei- und ein Kinderchor mit dem Lied „Deutsch- mal – am 3. 10. 1993 und am 3. 10. 2009 – ein land, deine Kinder“ auf. 2002 in Berlin setz- grenzüberschreitendes „Europa-Fest“. ❙19 ten Kinder der Berliner Europa-Schulen aus Bausteinen eine ­Miniatur des Brandenburger Ebenso zeigen die Festakte eine vergan- Tores zusammen und wandten sich mit Wün- genheitsbewusste Perspektive. Das Holo- schen, wie zum Beispiel „dass es so was wie caustgedächtnis und die Reflexion der deut- die Mauer nie wieder geben wird“ an die Teil- schen Tätergeschichte haben ihren Platz in nehmenden des Festakts. ❙24 den Reden am Tag der Deutschen Einheit. Mit dem Fall der Mauer solle nichts vergessen Die zurückhaltende Inszenierung des Na- sein, betonte beispielsweise Bundesratspräsi- tionalfeiertags knüpft somit an die Traditio- dent Henning Voscherau am 3. Oktober 1991: nen der alten Bundesrepublik an, die sich von „Im Gegenteil, die Spuren nationalsozialisti- den militärischen Zeremonien und Massen- scher Gewaltherrschaft sind uns zu gemein- veranstaltungen der DDR abgegrenzt hat- samem Erinnern aufgetragen. Auch das heißt te. ❙25 In diesem Sinne lobte zum Beispiel Ri- ­Einheit.“ ❙20 chard Schröder, SPD-Fraktionsvorsitzender der 1990 frei gewählten , die Auch die Bedeutung des demokratischen Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Einheit Systems für das gemeinschaftliche Zusam- menleben im vereinigten Deutschland wird 21 anlässlich des 3. Oktobers hervorgehoben. ❙ Konrad Jarausch, Die unverhoffte Einheit 1989– Im Sinne des Verfassungspatriotismus lässt 1990, Frank­furt/M. 1995, S. 317. ❙22 Fernsehansprache des Bundespräsidenten, in: sich darüber hinaus auch der Anspruch be- BPA (Hrsg.), Bulletin der Bundesregierung, Nr. 81 vom 5. 10. 1993, S. 929–930, hier: S. 929. ❙19 Vgl. Nationalfeiertag als Europa- und Frei- ❙23 Feierstunde zum Tag der Deutschen Einheit, heitsfest, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. 10. 1993; ZDF, 3. 10. 1993. Deutschland und Nachbarn zu Gast im Saarland, in: ❙24 Deutschlands Fest, Phoenix, 3. 10. 2002. Saarbrücker Zeitung vom 29. 9. 2009. ❙25 Vgl. Sabine Behrenbeck, Rituale des Zwiespalts. ❙20 Henning Voscherau, Rede des Bundes­rats­prä­ Politische Feiertage in Ost und West, in: Peter Ben- siden­ten, in: BPA (Hrsg.), Bulletin der Bundesre- der/Heiner Hastedt/Ekkehard Martens (Hrsg.), Zei- gierung, Nr. 108 vom 9. 10. 1991, S. 857–859, hier: chen und Mythen in Ost und West, Rostock 1999, S. 858. S. 45–70, hier: S. 50.

APuZ 33–34/2015 13 in Dresden: „Auch die Stimmung ist eins a. ZDF und ARD transportierten und ver- Wie ich es mir so vorstelle: zivil, locker und stärkten also die Botschaft des zurückhal- trotzdem festlich.“ ❙26 tenden Feierstils.. Ganz dem realistischen Anspruch des Nationalfeiertags entspre- chend, begrüßte beispielsweise der Kom- Feiern per Fernbedienung: mentator des NDR die Zuschauer zum Fest- Nüchterne Anfänge bei ARD und ZDF akt am 3. Oktober 1992 in Schwerin: „Zwei Jahre deutsche Einheit liegen hinter uns, Daniel Dayan und Elihu Katz haben (an ein- eine Zeit, die Deutschland, aber auch ganz maligen Fernsehereignissen) gezeigt, dass Europa verändert hat, die Mauer ist gefallen, die Fernsehübertragung eines Ereignis- 16 Millionen Deutsche leben in Freiheit, die ses dessen dominante Botschaft durch be- Welt steht ihnen offen und doch: Drei Jahre stimmte Präsentationsmodi hervorheben nach dem Fall der Mauer ist die Stimmung kann: „Fernsehen hilft dabei, die einschlägi- der Deutschen auf einem Tiefpunkt ange- gen Merkmale, durch welche diese Identität langt, obwohl der Lebensstandard höher der Feierlichkeiten verkündet wird, zu über- denn je ist.“ ❙29 mitteln und ermöglicht den Zuschauerinnen und Zuschauern, die Wesensart des Ereig- Die Übertragungen des Festakts hatten nisses zu identifizieren.“ ❙27 Dabei kann die meistens keinen effektvoll gestalteten Vor- Art der Fernsehübertragung die Eigendefi- spann, sondern blendeten einfach den Titel nition des Ereignisses unterstützen, „indem der Sendung ein, der zumeist schlicht hieß es jene Merkmale ständig wiederholt, durch „Festakt zum Tag der Deutschen Einheit.“ die es von den Organisatoren erkennbar ge- Eine Ausnahme von derartiger Praxis bildete macht wird“. ❙28 die Produktion des Bayerischen Rundfunks von 1996. Die Übertragung des Festakts Die ersten Übertragungen des offiziel- wurde mit einer kurzen Dokumentation des len Festakts durch die öffentlich-rechtlichen Einigungsprozesses eingeleitet: mit Bildern Rundfunkanstalten entsprachen dem von von der Einigungsfeier vom 3. Oktober 1990, den Staatskanzleien vorgegebenen Skript ei- von Feuerwerk und wehenden Deutsch- nes nüchternen, den Verfassungspatriotismus landfahnen sowie mit der zu hörenden Na- inszenierenden Staatsaktes, und so waren die tionalhymne. Es erfolgte am Ende auch eine Möglichkeiten einer effektvollen Fernseh- Abmoderation, die einen Appell an die Zu- übertragung ohnehin gering. Ein geschlos- schauer richtete: „Sechs Jahre deutsche Ein- sener Raum bietet nur eine limitierte Anzahl heit – das soll keine Schlussbilanz oder auch von Kameraeinstellungen auf Bühne und Pu- keine Zwischenpause sein, sondern das Signal blikum. Bei nur sehr kurzen Pausen zwischen für neues Kräftesammeln. Schließlich ist die Reden und künstlerischen Darbietungen ha- deutsche Einheit keine Maschine, die von al- ben die Kommentatorinnen und Kommen- leine läuft; erst die Menschen erwecken diese tatoren nur wenig Gelegenheit zur Interven- beiden Worte zum Leben.“ ❙30 tion. Allenfalls können sie einige Hinweise zum Veranstaltungsort geben und die jewei- 1998 hingegen überließ die Übertragung ligen Reden in aller Kürze zusammenfassen. der ARD die Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer sich selbst mit Sicht auf den sich Die TV-Übertragung von ökumenischem langsam füllenden Festsaal sowie mit der Ge- Gottesdienst und Festakt wurde jährlich räuschkulisse des sich formierenden Orches- wechselnd auf die beiden öffentlich-rechtli- ters und der Unruhe der eintreffenden Gäste. chen Rundfunkanstalten aufgeteilt. Weder Erst nach einigen Minuten meldete sich der konkurrierten ARD und ZDF also miteinan- Kommentator zu Wort und führte in den be- der, noch mit privaten Fernsehsendern, sodass vorstehenden Festakt ein. Oftmals fand kei- eine effektvollere Inszenierung auch aus öko- ne oder nur eine sehr diskrete Abmoderation nomischer Perspektive nicht erforderlich war. statt, wie zum Beispiel anlässlich des 3. Ok- tobers 2001 in Mainz, bei dem der Moderater ❙26 MDR extra. 10 Jahre Deutsche Einheit. Der Fest- akt in der Dresdner Semperoper, MDR, 3. 10. 2000. ❙29 Festakt im Theater Schwerin, ARD, 3. 10. 1992. ❙27 .D Dayan/E. Katz, (Anm. 12), S. 416. ❙30 Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, ARD, ❙28 Ebd., S. 419. 3. 10. 1996.

14 APuZ 33–34/2015 den Zuschauerinnen und Zuschauern für ihr ren an- und abmoderiert, es gibt doppelte Be- Interesse dankte und noch einen „friedlichen richterstattung vom Ort des Geschehens und Feiertag“ ❙31 wünschte. aus dem Fernsehstudio, Interviews mit Gäs- ten des Festakts in der Live-Übertragung, Das Fernsehen wurde bei den Live-Über- vermehrt Kameraeinstellungen von außer- tragungen in den ersten Jahren insgesamt, halb des Festsaals, oder die dauerhafte Ein- wie es die Autoren einer stichprobenarti- blendungen des Logos der Feierlichkeiten. gen Untersuchung des Festakts vom 3. Ok- tober 1997 treffend formuliert haben, „hoch Am deutlichsten zeigt sich die Abkehr von konventionell und gewissermaßen andächtig der sparsamen Inszenierung auf der Ebe- eingesetzt“. ❙32 Die Sender hatten jedoch die ne der Festakte selbst. Die Staatskanzleien Möglichkeit, die Übertragungen in ein Rah- bemühten sich im Laufe der Zeit um immer menprogramm zu integrieren. Das Fernseh- mehr Abwechslung, von der auch die Live- programm des 3. Oktobers und oftmals der Übertragung profitierte. ganzen Woche wurde, über die öffentlich- rechtlichen Sender hinaus, thematisch dem Mit dem seit 2002 wiederkehrenden Ein- Ereignis angepasst. ❙33 Mit Doku-Dramen, satz dramaturgischer und audiovisueller Ele- Fernsehfilmen, Talkshows und Quizshows mente konnten nun Emotionen transpor- bestimmten sowohl Unterhaltungssendun- tiert und suggeriert werden. So begrüßte der gen als auch Dokumentationen und Repor- Kommentator des MDR die Zuschauerinnen tagen das Programm. Auch die Printmedien und Zuschauer zum Festakt 2004 in Erfurt wiesen auf den zum 10. Jubiläum der Einheit mit einem Bild aus dem Festsaal und leitete besonders intensiven „Programm-Marathon über zu Bildern von der Einigungsfeier vom zum Tag der Deutschen Einheit“ ❙34 hin und 3. Oktober 1990 mit den Worten: „In den stellten so die Bedeutung des bevorstehenden vergangenen 14 Jahren lagen Freud und Leid Ereignisses heraus. Angesichts von Umfrage- gerade der Menschen in Ostdeutschland oft werten, die das Unwissen vieler Bundesbür- beieinander, doch der Jubel der Nacht vom 3. ger in Bezug auf das Datum des 3. Oktobers auf 4. Oktober 1990 (sic!) bleibt unvergessen. dokumentierten, ❙35 schufen die Fernsehan- Bevor der Festakt in wenigen Momenten be- stalten so Aufmerksamkeit, leisteten Infor- ginnt, zeigen wir Ihnen noch einmal die Bil- mationsarbeit und begingen den 3. Oktober der, die die Welt bewegten.“ ❙37 Im Anschluss als „Tag der deutschen Fernseheinheit“. ❙36 daran wurden Mitschnitte der Vereinigungs- feier vor dem Reichstag gezeigt, so das Hissen der riesigen Deutschlandfahne, die von einem Gesteigerte „Außeralltäglichkeit“ Bild der läutenden Freiheitsglocke überblen- im neuen Jahrtausend det wurde. Auch der Kommentar vermit- telte den Zuschauerinnen und Zuschauern Die Live-Übertragungen lassen – im Rahmen Emotionen: „Auf diesen Moment hatten vie- der durch den Festakt vorgegebenen Möglich- le Deutsche jahrzehntelang gewartet. Um keiten – eine Entwicklung zu einer aufwendi- Punkt Mitternacht am 3. Oktober 1990 ist ihr geren Inszenierung erkennen. Beispielsweise Vaterland wieder vereint (…). Hier, wie über- wird nun mit Reportagen und Kommenta- all in Deutschland, liegen sich die Menschen in den Armen.“ ❙38 ❙31 Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, ZDF, 3. 10. 2001. Am 3. Oktober 2007 in Schwerin wurde 32 ❙ Werner Früh et al., Ostdeutschland im Fernsehen, während des Festakts ein an der Filmhoch- München 1999, S. 333. schule Potsdam-Babelsberg entstandener ❙33 Vgl. ebd., S. 326. ❙34 Terror mit System. Einheitsfeierlichkeiten auf al- Kurzfilm gezeigt, in dem sich Kinder aus ganz len Fernseh-Kanälen, in: Trierischer Volksfreund Deutschland mit dem Deutschlandlied und vom 2., 3. und 4. 10. 2000. seinen zentralen Themen Glück, Freiheit und ❙35 Nach einer Emnid-Umfrage von 2003 konnte ein Vaterland befassten. Auch die Anmoderation Drittel der unter 29-Jährigen den 3. Oktober nicht im Fernsehen forderte die Zuschauer zu dieser zuordnen. Zit. nach: Anemi Wick, Überraschendes Umfrageergebnis: „An diesem Tag ist die Mauer ge- fallen“, in: Die Welt vom 2. 10. 2003. ❙37 Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, ARD, ❙36 Eva-Maria Weiss, Tag der deutschen Fernsehein- 3. 10. 2004. heit, in: Neue Presse vom 2. 10. 2014. ❙38 Ebd.

APuZ 33–34/2015 15 Auseinandersetzung auf: „Was bedeutet uns Der 3. Oktober wurde damit als „Tag der unsere Nationalhymne? Der Tag der Deut- Freude“ ❙45 begangen und von anderen deut- schen Einheit ist vielleicht der richtige Tag, um schen Gedenk- und Feiertagen unterschie- auch einmal darüber nachzudenken.“ ❙39 Der den, die meistens „der Trauer und dem Ge- Film endete damit, dass die befragten Kinder denken gewidmet“ ❙46 seien. gemeinsam das Deutschlandlied sangen. Die seit 2002 in die Festakte integrierten 2014 in Hannover wurden während des Filme, Bild- und Toncollagen setzten die his- Festakts Frauen und Männer der DDR-Bür- torische Zäsur wirkungsvoll in Szene und gerbewegung in Bild- und Toncollagen mit rückten sie so zunehmend in das Zentrum ihrem Wirken und ihren Motiven in den der Feierlichkeiten. 2005 in Potsdam bei- Mittelpunkt gestellt. Ebenso wurden Bil- spielsweise wurden während des offiziellen der von Montagsdemonstrationen, Mauer- Festakts Teile des Dokumentarfilms „Wie öffnung, politischen Meilensteinen auf dem im Flug … 15 Jahre Deutsche Einheit“ vor- Weg zum 3. Oktober 1990 und ein Rückblick geführt. Nur kurze Zeit nach dem 9. No- auf die Jahre seit 1990 gezeigt. Der dramatur- vember 1989 entstanden, zeigte er die Ber- gisch geschickt inszenierte Festakt erzeugte liner Grenzanlagen von der Ostseite. Der „Gänsehautgefühl und feuchte Augen beim die Bilder live kommentierende ostdeutsche Publikum“ ❙40 und wurde in der Pressebe- Schauspieler und Synchronsprecher Hans richterstattung als „würdevoll und emotio- Teuscher rief die mörderischen technischen nal“ ❙41 gelobt. Auch die live aus dem Festsaal Details des Sicherheitssystems und die Opfer berichtende Kommentatorin des NDR be- der Berliner Mauer ins Gedächtnis und schuf stätigte den Zuschauerinnen und Zuschau- eine beklemmende Atmosphäre im Saal, die ern den Gefühlsgehalt der Feier: „Ich habe die Fernsehsender und auch die Printmedi- sie im Saal erlebt und tatsächlich, es waren en weiterverbreiteten: „Die beklemmenden viele emotionale Momente dabei.“ ❙42 Bilder flimmern über zwei Großbildschirme in Potsdams Caligari-Halle und nehmen die rund 1000 versammelten Gäste beim Fest- Schlüsselereignisse der Vergangenheit – akt zum Tag der Deutschen Einheit gefangen. fernsehgerecht inszeniert 15 Jahre nach der Wiedervereinigung scheint es notwendig, wieder eindringlich an die Ver- Am Tag der Deutschen Einheit gedachten die gangenheit zu erinnern.“ ❙47 Festrednerinnen und -redner von Anfang an des Endes der DDR-Diktatur und der Wie- Ebenso setzte der Film „Vorher-Nachher- dervereinigung und würdigten damit sowohl Bilder“ ein, um das Ende der DDR-Diktatur die Rolle der DDR-Bürger als auch die Leis- zu visualisieren: Eine Einstellung zeigte ein tungen der Regierung Kohl. Ungeachtet aller von der Mauer verdecktes Haus in unmittel- Forschungskontroversen über die Angemes- barer Nähe eines Wachturms. Das gesamte senheit des Revolutionsbegriffs für die Er- Bild, von kühlen Farben und vor allem von eignisse von 1989/1990 ❙43 wurde die „eigene Grau dominiert, veränderte sich durch einen revolutionäre Freiheitstradition“ und die da- fließenden Übergang zu einer exakt gleichen, durch gewonnene „neue Würde“ gefeiert. ❙44 jedoch späteren Aufnahme der Straße: Der Wachturm und die Mauer waren verschwun- ❙39 Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, ZDF, den, die Straße nun begrünt und das Bild vol- 3. 10 . 2 0 07. ler Farbe. Diese Farbgestaltung wurde auch 40 ❙ Hannovereint, in: Neue Presse vom 4. 10. 2014. mit anderen Perspektiven wie zum Beispiel ❙41 Bodo Krüger, Würdevoll und emotional, in: Neue auf den Potsdamer Platz wiederholt. Neben Presse vom 4. 10. 2014. ❙42 Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, ARD, der historischen Zäsur wurden so auch der 3. 10. 2014. ❙43 Vgl. Eckhard Jesse, Die friedliche Revolution ❙45 Helmut Kohl, Fernsehansprache des Bundes- 1989/90, in: /Bernd Faulenbach/ kanzlers, in: BPA (Hrsg.), Bulletin der Bundesregie- Ulrich Mählert (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der rung, Nr. 108 vom 9. 10. 1991, S. 854. DDR-Forschung, Paderborn 2003, S. 196–202. ❙46 Rita Süssmuth, Rede der Bundestagspräsidentin, ❙44 Beide Zitate Roland Koch, Rede des Bundesrats- in: ebd., S. 855–857, hier: S. 855. präsidenten, in: BPA (Hrsg.), Bulletin der Bundes- ❙47 Ronald Bahlburg/Matthias Schröter, Eindring- regierung, Nr. 62 vom 6. 10. 1999, S. 633–635, hier: liche Erinnerungen, in: Sächsische Zeitung vom S. 634. Koch zitiert an dieser Stelle Joachim Gauck. 4. 10. 2005.

16 APuZ 33–34/2015 Aufbau Ost und die ökonomischen Konse- ihn. Als Staatsakt konzipiert, der die Bedeu- quenzen der Vereinigung – ein wiederkeh- tung der staatlichen Eliten unterstrich, war rendes Thema der Einheitsfeiern – visuell un- der 3. Oktober Gegenstand wiederkehren- terlegt. Dieses Vorher-Nachher-Motiv war der Kritik. Für die Legitimationsfunktion auch in der ostdeutschen Lokalberichter- des offiziellen Festakts war die massenme- stattung zum 3. Oktober ein beliebtes Mit- diale Berichterstattung, insbesondere durch tel, um die seit 1990 realisierten Fortschritte das Fernsehen, essenziell. Die Live-Über- in der eigenen Stadt oder Region zu verdeut- tragung ermöglichte der Öffentlichkeit den lichen. Durch die Überblendung der Bilder Zugang und suggerierte eine Teilnahme am und die musikalische Dramaturgie von einem ­Geschehen. leisen, traurigen Spiel mit einem Crescendo hin zu fröhlicher Musik war dieser Kunst- Sowohl die Gestaltung der Zeremonien griff im Fernsehen jedoch um ein Vielfaches selbst und mithin auch die Live-Übertragung ­effektiver. durch ARD und ZDF entwickelten sich im Laufe der Jahre hin zu einer immer aufwen- 2006 in Kiel wurde eine Visualisierung digeren Inszenierung. Die verstärkte Einbin- der deutschen Nachkriegsgeschichte und des dung audiovisueller Elemente führte zu einer bisher im Einigungsprozess Erreichten ge- fortschreitenden Ästhetisierung der Feiern boten. Ein Zusammenschnitt von Archivbil- und einer Anpassung an Visualisierungskri- dern begann mit der berühmten Pressekon- terien. Sie steigerten nicht nur die Außerall- ferenz Walter Ulbrichts vom 15. Juni 1961. täglichkeit des Festakts, sondern bezeugen Nachdem Ulbricht versichert hatte, niemand auch die mediale Prägung von Erinnerungs- habe die Absicht, eine Mauer zu errichten, kulturen. ❙50 In der visuellen Konstruktion stoppte die Aufnahme und das Gesicht Ul- des 3. Oktobers wurden die Ereignisse von brichts wurde, begleitet von mehreren Pau- 1989/1990 als historische Zäsur in Szene ge- kenschlägen, herangezoomt. Anschließend setzt und als wichtiges Element des neu- begann das Orchester im Saal Beethovens en Gründungsmythos versinnbildlicht. So „Ode an die Freude“ zu spielen. Die Ar- wurden die Festakte zunehmend emotiona- chivbilder setzten wieder ein und zeigten ler und sind Ausdruck einer Veränderung der „Schlüsselbilder einer mörderischen Gren- deutschen Erinnerungskultur, in der über- ze“ ❙48 und andere Szenen aus der deutsch- dies die jüngste deutsche Vergangenheit ver- deutschen Geschichte. Das Orchester inter- stärkt in den Vordergrund rückt. pretierte die „Ode“ zunächst langsam und getragen, wechselte dann ins Allegro und Das 25. Jubiläum der Einheit steht bevor. vermittelte so die „bereits im filmischen Ge- Es ist anzunehmen, dass sich die Tendenz zur schehen angelegten Stimmungen“, ❙49 nämlich fortschreitenden Außeralltäglichkeit, Ästhe- Freude über das Ende der DDR-Diktatur tisierung und Emotionalisierung, die im Üb- und die Wiedervereinigung. rigen auch bei den Bürgerfesten zu beobach- ten ist, sowohl auf der Ebene des Ereignisses als auch in der Fernsehübertragung fortset- Zusammenfassung und Ausblick zen wird.

Insbesondere in den Anfangsjahren zeigte die zurückhaltende Inszenierung des 3. Ok- tobers ein sich der nationalen und internatio- nalen Vorbehalte bewusstes, wiedervereintes Deutschland. Die Live-Übertragungen des offiziellen Festakts passten sich dem verfas- sungspatriotischen Stil an und potenzierten ❙50 Vgl. z. B. Astrid Erll, Medium des kollektiven Ge- dächtnisses: Ein (erinnerungs-) kulturwissenschaft- ❙48 Christoph Hamann, Fluchtbilder. Schlüsselbilder licher Kompaktbegriff, in: dies./Ansgar Nünning einer mörderischen Grenze, in: Gerhard Paul (Hrsg.), (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Kon- Das Jahrhundert der Bilder 1949 bis heute, Bd. 2, struktivität-Historizität-Kulturspezifizität, Berlin– Bonn 2008, S. 266–273. New York 2004, S. 3–22. ❙49 Knut Hickethier, Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart–Weimar 2007, S. 94.

APuZ 33–34/2015 17 Eckhard Jesse Einer der Altmeister der deutschen Politik- wissenschaft, Klaus von Beyme, sprach von einem „schwarzen Freitag“ der Sozialwis- Das Ende der DDR senschaften. Der Hinweis auf deren Versagen lenkt aber vom eigentlichen Problem ab: Kri- tikwürdig ist weniger, das Ende der DDR nicht Essay erkannt, sondern die Illegitimität ihres Herr- schaftssystems, unabhängig von seiner Stabi- lität, verkannt zu haben. Die heftigste Schelte as die Mauer betrifft, so lassen wir uns an der politikwissenschaftlichen DDR-For- Wnicht deren Schutzfunktion ausreden – schung kam dann aus den eigenen Reihen: Jens ganz einfach, weil wir den Schutz spüren vor Hacker konzentrierte sich auf den Umstand, all dem, was hinter die (Politik-)Wissenschaft habe nicht an der Eckhard Jesse der Mauer an brauner Wiedervereinigung festgehalten. ❙3 Der Stand- Dr. phil., geb. 1948; Professor Pest wuchert.“ ❙1 Diese punkt der westdeutschen DDR-Forschung vor em. am Institut für Politikwis- Einschätzung traf im 1990 wurde nach 1990 bislang nur unzurei- senschaft der Technischen Juli 1989 Ulrich Jung- chend analysiert. ❙4 Eine Lehre könnte lauten: Universität Chemnitz, Thüringer hanns, von 2002 bis Frage bei der Analyse diktatorischer Systeme Weg 9, 09126 Chemnitz. 2009 Wirtschaftsmi- weniger nach der normativen Kraft des Fak- eckhard.jesse@ nister in tischen als nach der faktischen Kraft des Nor- phil.tu-chemnitz.de und 2007/2008 Vorsit- mativen! Und die These, die DDR sei „ausge- zender der dortigen forscht“, ist ein Vierteljahrhundert nach ihrem CDU. In der DDR gehörte er zu den Funk- Ende unhaltbar, zumal der paradoxe Begriff tionären der Demokratischen Bauernpartei wissenschaftsfeindlich anmutet. ❙5 Deutschlands – einer Blockpartei, die 1990 in der CDU aufging. Eine andere Einschätzung, wenige Tage nach dem Fall der Mauer: „Lasst Zäsur 1989 Euch nicht von den Forderungen nach einem politischen Neuaufbau der Gesellschaft ab- Im Laufe der 1970er und vor allem der 1980er lenken! Ihr wurdet weder zum Bau der Mau- Jahre kristallisierte sich eine Art „Selbstaner- er noch zu ihrer Öffnung befragt, lasst Euch kennung“ der Bundesrepublik Deutschland jetzt kein Sanierungskonzept aufdrängen, als „postnationale Demokratie unter Natio- das uns zum Hinterhof und zur Billiglohn- nalstaaten“ ❙6 heraus, so der Bonner Demokra- quelle des Westens macht! (…) Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung der Abschieds- keine Gesellschaft haben, in der Schieber und vorlesung des Autors am 3. Juli 2014 an der TU Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen.“ ❙2 Chemnitz. So argumentierten führende Kräfte des Neu- ❙1 , Berlin – sozialistische Metropole en Forums um Bärbel Bohley und Jens Reich. in Farben der DDR, in: Bauernecho vom 3. 7. 1989, S. 6. 2 In beiden Zitaten kommen dem antikapitalis- ❙ Jens Reich/Sebastian Pflugbeil/Bärbel Bohley/Rein- tisch-antifaschistischen Jargon der Sozialis- hard Schult/Eberhard Seidel/Jutta Seidel, „Die Mauer ist gefallen“, 12. November 1989. Zit. nach: Jens Reich, tischen Einheitspartei Deutschlands (SED) Rückkehr nach Europa. Zur neuen Lage der deutschen entlehnte Wendungen vor („braune Pest“, Nation, München 1991, S. 202. „Schieber und Ellenbogentypen“). ❙3 Vgl. Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfär- ber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Die Beispiele, nicht gewählt, um selbstge- Frank­furt/M.–Berlin 1994³. ❙4 recht spezifische Positionen zu diskreditie- Vgl. Jens Hüttmann, DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundes- ren, sollen zeigen, wie überraschend der Fall deutschen DDR-Forschung, Berlin 2008. der Mauer kam – und damit das Ende der ❙5 Vgl. dazu Thomas Lindenberger, Ist die DDR aus- DDR. Verbreitet war die Akzeptanz des ge- geforscht? Phasen, Trends und ein optimistischer teilten Deutschlands im Osten wie im Westen. Ausblick, in: APuZ, (2014) 24–26, S. 27–32. 6 „Das Ende der DDR“ es stand nicht auf der ❙ Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Ent- Tagesordnung von Politikern, Publizisten und stehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 19765, S. 544; ders., Politik und Zeitgeist. Ten- Politikwissenschaftlern, auch wenn manche denzen der siebziger Jahre, in: ders./Wolfgang Jäger/ Neunmalkluge im Nachhinein den Eindruck Werner Link, Republik im Wandel 1969–1974. Die erwecken, als sei es vorhersehbar gewesen. Ära Brandt, Stuttgart 1986, S. 406.

18 APuZ 33–34/2015 tie- und Diktaturforscher Karl Dietrich Bra- Zeitgenossen 1918/19 als gravierenden Ein- cher. Wer in den 1980er Jahren für die deutsche schnitt empfanden, war der Übergang von der Einheit stritt, galt in der Regel als linker oder autoritären Monarchie zur demokratischen Re- rechter Nationalneutralist. ❙7 Die deutsche publik tatsächlich stark von Kontinuität be- Einheit wurde vage als mögliche Folge der stimmt. Umgekehrt fiel die Perzeption für das europäischen Einheit angesehen. Tatsächlich Jahr 1933 aus: Damals galt die „legale Revoluti- avancierte sie dann zu einem Schrittmacher on“ vielfach nicht als Zäsur. Hingegen sind bei der europäischen Einheit. Wer in den 1980er den zwei letzten großen Einschnitten 1945 bis Jahren nicht für die Wiedervereinigung focht, 1949 und 1989/90 Erfahrungs- und Deutungs- musste nicht ihr prinzipieller Gegner sein. zäsur weithin deckungsgleich. Schließlich schien diese allenfalls unter dem Vorzeichen einer – wenig wünschenswerten – Ich möchte 25 Jahre nach dem Ende der Neutralität ganz Deutschlands erreichbar. DDR zwei Fragen, die in einem engen Zu- sammenhang stehen, pointiert und ansatz- Hinfällig und entkräftet zerbrach der so- weise zu beantworten versuchen. Erstens, vor wjetische Kommunismus mehr an eigenen allem: Welche Ursachen sind für das Ende der Schwächen als an Angriffen seiner Gegner. Der DDR verantwortlich, zum einen für das Ende Versuch Michail Gorbatschows, das System der SED-Diktatur – sie führte zur Freiheit, von innen heraus zu reformieren, beschleu- zum anderen für das Ende der freiheitlichen nigte den Untergang des „Vaterlandes aller Va- DDR – sie führte zur Einheit. Zweitens, etwas terländer“. Einerseits machten Verselbständi- kürzer: Welche Folgen zeitigte dieses Ende, gungstendenzen einstiger Satellitenstaaten der zum einen bezogen auf die Freiheit, zum an- Sowjetunion zu schaffen, andererseits leiste- deren auf die Einheit, wobei keine trennschar- te sie ihnen durch eigene Liberalisierung in- fe Unterscheidung zwischen freiheits- und direkt Vorschub. Ein Domino-Effekt trat ein. einheitsbedingten Folgen möglich ist. Das Ende der diktatorischen DDR, das sich in das Ende einer weltgeschichtlichen Perio- Vorher werfe ich eine Frage auf, die rhetori- de einfügte, ist nur vor dem Hintergrund der scher Natur zu sein scheint: Wann endete die präzedenzlosen Vorgänge in der So­wjet­union DDR? Es gibt zwei Extremantworten. Die ers- zu verstehen. ❙8 Den einst verteufelten Termi- te ignoriert den Staat der DDR, die zweite dä- nus „Totalitarismus“ wandten Michail Gor­ monisiert seine Wirkung. Variante 1: Das Ende ba­tschow, Boris Jelzin und Eduard Scheward- der DDR war schon besiegelt, als sie noch nadse nun auf „ihr“ System an. gar nicht existierte. Alle Alliierten gingen auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 1989 stellt ebenso ein Epochenjahr dar wie von der Einheit Deutschlands aus. Insofern 1789. Die Wahrnehmung der Zeitgenossen war dessen spätere Teilung weniger eine Fol- kann aber von der retrospektiven Wahrneh- ge des von Deutschland angezettelten Welt- mung abweichen. Martin Sabrow hat dafür krieges als vielmehr des Kalten Krieges. Sollte das Begriffspaar „Erfahrungs- und Deutungs- der Ost-West-Konflikt zu Ende gehen, könn- zäsur“ ❙9 geprägt. Zwei Beispiele: Während die te sich die deutsche Frage neu stellen. Varian- te 2: Die DDR ist nicht tot, sondern lebendi- ❙7 Vgl. Eckhard Jesse, Der „dritte Weg“ in der deut- ger denn je. Wer so argumentiert, zielt auf die schen Frage. Über die Aktualität, Problematik und Popularität der Jugendweihe, die Zunahme der Randständigkeit einer deutschlandpolitischen Positi- Kirchenaustritte, auf die Verklärung der DDR, on, in: Deutschland Archiv, 22 (1989) 5, S. 543–559; auf „Ostalgie“. Im Westen – für Autoren wie Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines Arnulf Baring ist die Bundesrepublik mittler- vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945– weile eine „DDR light“ ❙10 – fällt zuweilen da- 1990, Bonn 2001, S. 309–446; etwas anders setzt die Akzente Lutz Haarmann, Teilung anerkannt, Ein- her das böse Wort von „Dunkeldeutschland“. heit passé? Status-quo-oppositionelle Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom Grundlagenver- Der 9. Oktober 1989 mit der Massendemons- trag bis zur Friedlichen Revolution, Berlin 2013. tration der 70 000 in Leipzig war der Durch- 8 ❙ Vgl. den Großessay von György Dalos, Der Vor- bruch zur Freiheit, der 9. November mit dem hang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuro- Mauerfall in Berlin der Durchbruch zur Ein- pa, München 2009. ❙9 Martin Sabrow, Zäsuren in der Zeitgeschichte, in: Frank Bösch/Jürgen Danyel (Hrsg.), Zeitgeschichte. ❙10 Vgl. Arnulf Baring, Bürger, auf die Barrikaden, in: Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S. 107–130. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 19. 11. 2002.

APuZ 33–34/2015 19 heit. Die Zeitgenossen nahmen dies so nicht nachträgliche Rechthaberei, seine nicht auf wahr. Erfahrungs- und Deutungszäsur müs- Glasnost und Perestroika setzende Politik zu sen sich, wie gezeigt, nicht decken. Zum Teil verteidigen: „Gor­ba­tschow will das europä- gingen die beiden Phasen ineinander über. ische Haus bauen. Wir alle sind dabei, unsere So gab es bereits in der zweiten November- eigenen Häuser zu zerstören.“ ❙14 Stärkere Re- hälfte 1989 Demonstrationen für die Einheit pression im Inneren hätte der SED-Diktatur Deutschlands, als noch das erst am 1. Dezem- eine Atempause gewährt. ber gestrichene Machtmonopol der SED in der Verfassung festgeschrieben war. Ist die Frei- Die kommunistische DDR war nicht refor- heits- und Einheitsrevolution im Gegensatz mierbar. Gerade weil die oppositionelle Be- zum Umbruch in anderen Staaten Ostmittel- wegung als reformerisch galt, leistete sie ih- europas durch eine „doppelte Demokratisie- ren Beitrag zur Revolution. Der beständige rung“ ❙11 gekennzeichnet – zunächst die Selbst- Vorwurf an die beiden „Erichs“ – Honecker befreiung von der Diktatur 1989, dann, 1990, und Mielke –, durch Starrheit den eigenen der Austausch des soeben erst errungenen de- Untergang beschleunigt zu haben, stimmt mokratischen Systems gegen das der Bundes- so nicht. Außenpolitische und wirtschaftli- republik Deutschland? Diese These stimmt in- che Umstände zwangen die DDR allerdings sofern nicht, als auch in anderen Staaten eine zu immer mehr Konzessionen. Der allmäh- doppelte „Demokratisierung“ ablief, nur mit lichen Loslösung von der So­wjet­union folg- konträren Konsequenzen. Aus der Tschecho- te eine partielle Abhängigkeit von der Bun- slowakei gingen Tschechien und die Slowakei desrepublik. Die großzügigere Regelung der hervor, aus Jugoslawien und der So­wjet­union Reisepraxis ab Mitte der 1980er Jahre min- mehrere Staaten. ❙12 Aber die Revolution in der derte keineswegs das Unruhepotenzial, son- DDR erhielt eine besondere Dynamik durch dern zog Ausreiseanträge nach sich. Nicht den Ruf nach dem Beitritt zu einer ökonomisch mangelnde, sondern zu große Flexibilität un- starken und politisch gefestigten Demokratie. terminierte die SED-Herrschaft.

Da die Bevölkerung wusste, Kritik werde Ursachen für das Ende weniger scharf geahndet als früher, riskierte sie der diktatorischen DDR mehr, entwickelte sie mit der Abnahme der Re- pressionen ein besonderes Gespür für Repres- Die So­wjet­union spielte beim Aufbau der sion – eine Variante des Tocqueville-Effekts. ❙15 SED-Diktatur eine ebenso tragende Rolle wie Der Unmut der Bürger war fast durchgän- bei deren Ende. Gor­ba­tschow war nicht nur gig groß – über die im Vergleich zum Westen der Totengräber der So­wjet­union, sondern schlechte wirtschaftliche Situation, über die auch der DDR, wiewohl dies seiner Intention mangelnde Reisefreiheit, über die politischen widersprach. Was er wollte: Reformen; was Repressalien. Autonome intermediäre Struk- er bewirkte: das Ende des „real existieren- turen fehlten, für Mängel machten viele Bürger den Sozialismus“. Er ging in die Reformfalle. daher „das System“ verantwortlich. Allerdings Und er akzeptierte mit seiner Absage an die stieß dieses auch auf eine gewisse Loyalität, Breschnew-Doktrin ❙13 den Systemwechsel. womit sich die relative Stärke der postkommu- Insofern war es von keine nistischen Partei nach 1990 ­erklärt. ❙16

Da die SED ideologisch ermattet war, agierte ❙11 Vgl. Michael Richter, Die doppelte Demokratisie- die Staatssicherheit nicht. Sie, die alle oppositi- rung. Eine ostdeutsche Besonderheit der Transition, in: onellen Gruppierungen unschädlich machen Totalitarismus und Demokratie, 3 (2006) 1, S. 79–98. ❙12 „Demokratisierung“ ist in zweierlei Hinsicht oh- nehin problematisch: Zum einen war die Beseitigung ❙14 Erich Honecker zit. nach: , Herbst ’89, einer Diktatur mehr als eine „Demokratisierung“, Berlin 1999, S. 28. zum anderen der Beitritt bzw. die Teilung, obwohl ❙15 Der große französische Liberale Alexis de Toc- jeweils auf dem Votum der Bevölkerung basierend, queville vertrat die zutreffende Ansicht, die Redukti- keine „Demokratisierung“. on von Ungleichheit erhöhe die Sensibilität für deren ❙13 Gemäß diesem 1968 im Anschluss an den Einmarsch Existenz. in die Tschechoslowakei formulierten Interventions- ❙16 Vgl. Udo Grashoff, Legitimation, Kooptation und vorbehalt der So­wjet­union wurde ihren sozialistischen Repression in der DDR, in: Uwe Backes/Steffen Kai- „Bruderländern“ nur eingeschränkte Souveränität zu- litz (Hrsg.), Ideokratie im Vergleich. Legitimation, gestanden. Kooptation, Repression, Göttingen 2014, S. 185–205.

20 APuZ 33–34/2015 sollte, blieb in der Krise eigentümlich pas- mer mehr in einen Gegensatz zur Masse der siv, ❙17 nicht zuletzt, weil die ostdeutsche Dik- Bürger, die das System ohne Wenn und Aber tatur offenkundig nicht mehr den Bajonetten beseitigen wollte. Bürgerrechtler tappten in der So­wjet­union vertrauen konnte. Am Ende, fünf „Fallen“ ❙21: die Sozialismusfalle, die Re- als der Umbruch unabwendbar erschien, woll- formfalle, die Antifaschismusfalle, die Dritte- te sie, kein „Staat im Staate“, die eigene Arbeit Weg-Falle und die Teilungsfalle. durch mehr oder weniger systematische Ak- tenvernichtung vertuschen. Ursachen für das Ende Wer die Kategorien der Systemwechselfor- der demokratischen DDR schung zugrunde legt, ❙18 kommt zu folgendem Ergebnis: Entgegen mancher Legenden hat es Mit der Freiheit war die Einheit noch nicht er- in der DDR offenkundig keinen von alten Re- reicht. Nach dem Fall der Mauer und bei nun gimeeliten gelenkten Systemwechsel gegeben, vermindertem Repressionsrisiko änderte sich auch nicht einen durch die So­wjet­union ins- das Meinungsklima atemberaubend schnell: pirierten. Der Systemwechsel war von unten Wer an einer eigenständigen DDR festhielt, erzwungen – durch das komplexe Zusammen- geriet rasch in die Defensive. Die ostdeutsche spiel der Fluchtbewegung („exit“) im Sommer Bevölkerung, aller Propaganda von einer „so- und der Demonstrationsbewegung („voice“) zialistischen Nation“ zum Trotz, wollte das im Herbst, so das Modell des aus Deutschland Leben im Westen, überdrüssig jeglicher Expe- emigrierten Soziologen Albert O. Hirsch- rimente. Zwar hatten Teile der „künstlerischen man: ❙19 „Wir wollen raus“ zog „Wir bleiben Intelligenz“ 1976 nach der Ausbürgerung Wolf hier“ nach sich. Den „alternativen Kräften“, Biermanns protestiert, aber die Masse der Be- wie schwach auch immer sie waren, kam mit völkerung ließ dies kalt. Eine Paradoxie: Der ihren Maximen von einem „Dritten Weg“ und Liedermacher Biermann musste gehen und unbedingter Gewaltfreiheit zunächst eine wollte bleiben, viele DDR-Bürger hingegen zentrale Rolle zu. Daneben bestimmten Ele- mussten bleiben und wollten gehen. mente der Implosion die revolutionären Er- eignisse, die soziale Kontrolle der öffentlichen Otto Reinhold, Rektor der Akademie für Meinung durch die Herrschenden bröckel- Gesellschaftswissenschaften beim Zentralko- te. ❙20 Ein ausgehandelter Systemwechsel blieb mitee der SED, hatte im August 1989 in einem in der DDR – anders als in Polen und Un- Rundfunkbeitrag Tacheles geredet: „Welche garn – weithin aus, jedenfalls in der Frühpha- Existenzberechtigung sollte eine kapitalisti- se. Erst als der Sieg der Revolution unaufhalt- sche DDR neben einer kapitalistischen Bun- sam schien, traten SED-Politiker an die Spitze desrepublik haben? Natürliche keine. Nur der Proteste, um ihr die Spitze zu nehmen. wenn wir diese Tatsache immer vor Augen ha- Dazu gehören etwa die vielen Runden Tische ben, wird klar erkennbar, wie wichtig für uns und die Einbindung Oppositioneller in Hans eine Gesellschaftsstrategie ist, die kompro- Modrows „Regierung der nationalen Verant- misslos auf die Festigung der sozialistischen wortung“, so die vollmundig-irreführende Ei- Ordnung gerichtet ist.“ ❙22 Da keine ausgepräg- genbezeichnung. Auf diese Weise gerieten die te DDR-Identität bestand, musste das Ende der „feindlich-negativen Kräfte“, um die Termi- SED-Herrschaft auch das Ende der DDR be- nologie der Staatssicherheit zu benutzen, im- deuten. Hingegen hieß es am 7. Oktober 1989 in der Grundsatzrede von bei der Gründung der Sozialdemokratischen Par- 17 ❙ Vgl. Daniela Münkel (Hrsg.), Herbst ’89 im Blick tei in der DDR (SDP), die als erste Kraft mu- der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Füh- tig die Machtfrage stellte: „Wir anerkennen die rung – Auswahledition, Berlin 2014. ❙18 Vgl. Eckhard Jesse, Systemwechsel in Deutschland. 1918–1933–1945/49–1989/90, Bonn 20134, S. 17–32. ❙21 Vgl. Eckhard Jesse, DDR: Die intellektuelle Formie- ❙19 Vgl. Albert O. Hirschman, Abwanderung, Wider- rung der Opposition seit den 1970er Jahren, in: Hans-Jo- spruch und das Schicksal der Deutschen Demokrati- achim Veen/Ulrich Mählert/Peter März (Hrsg.), Wech- schen Republik. Ein Essay zur konzeptionellen Ge- selwirkungen Ost-West. Dissidenz, Opposition und schichte, in: Leviathan, 20 (1992) 3, S. 330–350. Zivilgesellschaft 1975–1989, Köln u. a. 2007, S. 65–77. ❙20 Vgl. Nicole Weisheit-Zenz, Öffentliche Meinung ❙22 Zit. nach: Die „sozialistische Identität“ der DDR. im Dienste des Regimes? Soziale Kontrolle und „Op- Überlegungen von Otto Reinhold in einem Beitrag für position“ in der DDR in den letzten Jahres ihres Be- Radio DDR am 19. August 1989, in: Blätter für deut- stehens, Münster 2010. sche und internationale Politik, 34 (1989) 10, S. 1175.

APuZ 33–34/2015 21 Zweistaatlichkeit Deutschlands als Folge der die darauf bedacht waren, den sowjetischen schuldhaften Vergangenheit unseres Volkes.“ ❙23 Parteichef nicht zu demütigen? Vermutlich Das war faktisch das Zwei-Nationen-Konzept schließt das eine das andere nicht aus. der SED: offenkundig eine ­Chimäre. Ein Gedankenexperiment: Was wäre gewe- Die DDR-Regierung trat nach dem Fall der sen, hätte der sowjetische Politiker zu Beginn Mauer, der dem gleichen Zweck dienen soll- der friedlichen Revolution die „deutsche Kar- te wie ihr Bau – dem Erhalt der DDR –, die te“ gezogen und wie Stalin 1952 die Vereinigung Flucht nach vorne an und suchte mit ihrem Deutschlands unter neutralen Vorzeichen ange- Vorschlag einer „Vertragsgemeinschaft“ und boten? Sicher, kontrafaktische Überlegungen einer Konföderation in die Offensive zu ge- sind müßig, zeigen jedoch die Offenheit des his- langen. Hingegen wurde die Bundesregie- torischen Verlaufs. Es wäre zu einem massiven rung erst aktiv, als der öffentlich bemerkbare Konflikt zwischen der ostdeutschen Bevölke- Stimmungswandel in Richtung Einheit um- rung und der westdeutschen Politik gekommen. schlug. Helmut Kohls vorsichtig formuliertes Ein solcher Vorschlag hätte einen Keil in das Zehn-Punkte-Programm von Ende Novem- westliche Lager getrieben – mit unabsehbaren ber 1989 – gleichwohl ein Paukenschlag – Folgen für die deutsche Einheit und für die flu- verfehlte seine Wirkung weder im Ausland ide politische Stimmung in ganz Deutschland. noch in Deutschland. Der letzte Punkt lau- tete: „Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Folgen der Freiheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.“ Die stark extremistische NPD, die schwach ist, spielt schon seit langem ebenso wie die Wir wissen nicht, was Michail Gor­ba­tschow, schwach extremistische Partei Die Linke, die wahrlich kein Stratege, nach erbittertem Wi- stark ist, im Osten eine deutlich größere Rol- derstand und Zögern bis Anfang 1990 ❙24 dazu le als im Westen. Aber die Freiheit ist in der bewog, gegen ein vereintes Deutschland in- gefestigten Demokratie Deutschlands nicht nerhalb der NATO kein Veto einzulegen: die in Gefahr. Größere Unterschiede zwischen Notwendigkeit, angesichts der ökonomisch Ost und West bestehen bei der Frage nach prekären Lage, den finanziell starken Westen dem Sozialismus-Verständnis: Im Osten gilt nicht vor den Kopf zu stoßen? Die schwieri- der Sozialismus einer großen Mehrheit unun- gen Nationalitätenkonflikte im eigenen Lan- terbrochen seit 1990 als gute, freilich schlecht de, die eine offensive Außenpolitik unmög- ausgeführte Idee, im Westen halten sich Be- lich machten? Die Einsicht, das eigene System fürworter und Gegner die Waage, und – damit sei ein für allemal gescheitert? Die Entwick- zusammenhängend – bei dem Gleichheits- lung im Warschauer Pakt, dessen Mitglieder beziehungsweise Freiheitsverständnis. ❙25 Die in die NATO strebten? Die Überzeugung, Soziale Marktwirtschaft findet in den neu- das Selbstbestimmungsrecht der Völker sei en Bundesländern sozialisations- und situ- zu akzeptieren? Der klar bekundete Wille des ationsbedingt weniger Unterstützung als in Westens, an der Einbindung Deutschlands im den alten. Allerdings haben sich dort – „rotes westlichen Verteidigungsbündnis ohne Wenn Brandenburg“, „schwarzes Sachsen“ – schnell und Aber festzuhalten? Die „Männerfreund- spezifische Regionalkulturen herausgebil- schaft“ zu Helmut Kohl und George Bush, det. ❙26 Von „dem“ Osten (von „dem“ Westen ganz zu schweigen) kann darum heute keines- wegs mehr die Rede sein. ❙27 ❙23 Markus Meckel, Programmatischer Vortrag zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) am 7. Oktober in Schwante, in: Markus ❙25 Vgl. Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahr- Meckel/Martin Gutzeit, Opposition in der DDR. buch der Demoskopie 2003–2009. Die Berliner Re- Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit – kommentierte publik, Bd. 12, Berlin–New York 2009, S. 132 f. Quellentexte, Köln 1994, S. 394. ❙26 Vgl. Martin Koschkar/Nikolaus Werz (Hrsg.), ❙24 Vgl. Stefan Karner et al. (Hrsg.), Der Kreml und Regionale politische Kultur in Deutschland, Wiesba- die „Wende“ 1989. Interne Analysen der sowjetischen den 2015. Führung zum Fall der kommunistischen Führung. ❙27 Vgl. Tom Mannewitz, Politische Kultur und de- Dokumente, Innsbruck 2014. Siehe etwa die Rede mokratischer Verfassungsstaat. Ein subnationaler Gora ­b ­tschows auf dem Warschauer-Pakt-Gipfel in Vergleich zwei Jahrzehnte nach der deutschen Wie- Moskau vom 4. Dezember 1989, ebd., S. 550–579. dervereinigung, Baden-Baden 2015.

22 APuZ 33–34/2015 Nicht wenige in den neuen Bundeslän- Gleichwohl: Die neuen Bundesländer sind dern vermissen die „sozialen Errungenschaf- überwiegend demokratisch konsolidiert. ten“ der DDR, rufen nach „Vater Staat“ und Deutschland ist weiterhin ein „Staat der Mit- „Mutter Betrieb“, der eine Art „Heimat“ bot. te“ (Jörn Ipsen) mit seiner „Politik des mittle- In der DDR habe größere Hilfsbereitschaft ren Weges“ (Manfred G. Schmidt). Allerdings zwischen den Menschen bestanden, wobei, fällt im Westen die System- und Demokratie- was zuweilen der Vergessenheit anheimfällt, akzeptanz größer als im Osten aus, das In- der seinerzeitige Zusammenhalt oft aus der stitutionenvertrauen ebenso. Dies kann ein Not geboren war. Im Vergleich zum Westen Vierteljahrhundert nach der deutschen Ein- dominiert Konsensbewusstsein und eine ge- heit kaum anders sein. wisse Konfliktscheu. Damit korreliert das geringere Maß an Lagermentalität. Die Kon- sequenz: Herkömmliche Links-Rechts-Ori- Folgen der Einheit entierungen sind schwächer ausgeprägt. In den neuen Bundesländern ist in einigen ge- Ostdeutsche sprechen der DDR mehr gute sellschaftlichen Bereichen ein Elitenwechsel als schlechte Seiten zu – Ostalgie spielt eine weithin ausgeblieben, beispielsweise in der Rolle, ❙28 weniger der Wunsch nach einer Verwaltung. Wer früher „oben“ stand, wur- Rückkehr zu DDR-Verhältnissen. Die West- de nicht zwangsläufig abgehalftert, und wer bindung dürfte angesichts jahrzehntelan- heute bestimmte Qualifikationen nicht besitzt gen „Trommelns“ gegen die „Kriegstreiber“ (etwa, weil er zu DDR-Zeiten keine politischen im Osten nicht so tief verankert sein wie im Konzessionen machte), ist erneut „der Dum- Westen. Aus gegebenem Anlass – etwa beim me“. In anderen Bereichen dominiert West- Kosovo-, Irak-, Afghanistan- oder Ukraine- Personal, vor allem politische, wirtschaftliche Konflikt – lassen sich antiwestliche Affekte und gesellschaftliche Spitzenposten sind ent- abrufen. sprechend besetzt. Ostdeutsche sehen vielfach ihre Biographie als entwertet an, ihre Lebens- Wer pauschal die weltoffene Bürgerkultur leistung nicht angemessen gewürdigt: „Im der alten Bundesländer gegen die Obrigkeits- Osten ist das Gefühl, Bürger zweiter Klas- kultur des Ostens ausspielt, bedient Klischees, se zu sein, über alle Parteiorientierungen hin wiewohl Illiberalität im Osten – etwa gegen- weit verbreitet.“ ❙30 Für das als unzureichend über Minderheiten – stärker entfaltet ist als im empfundene Tempo der wirtschaftlichen An- Westen. Eine Demonstrationsbewegung wie gleichung sind nicht nur bundesdeutsche Po- Pegida („Patriotische Europäer gegen die Is- litiker und Wirtschaftsbosse verantwortlich, lamisierung des Abendlandes“) ❙29 dürfte nicht sondern auch die einst maroden Zustände in zufällig im Osten aufgekommen sein. Dieser Ostdeutschland. Manche Fehler waren in dem ist soziokulturell autoritärer und sozioökono- präzedenzlosen Einigungsprozess, der zudem misch linker als der Westen. Damit erklärt sich unter großem Zeitdruck ablief, wohl unver- das eigentümliche Erscheinungsbild von Pegi- meidlich. Die „Wohlstandsexplosion“ (Klaus da. Globalisierungskritische Positionen gehen Schroeder) im Osten erfährt dort nicht gebüh- Hand in Hand mit migrationskritischen. Poin- rende Würdigung: Maßstab ist allein der „heu- tiert formuliert: „Abgehängte“ wehren sich tige Westen“, nicht der „frühere Osten“. gegen einen Elitenkonsens, bezogen etwa auf Multikulturalismus und Tendenzen hin zu ei- Ist es nicht ein schönes Indiz für „Normali- nem europäischen Bundesstaat. Eine neue Par- tät“, die Tatsache einer ostdeutschen Kanzle- tei wie die Alternative für Deutschland besitzt rin und eines ostdeutschen Bundespräsiden- im Osten ihre Hochburgen. ten weder zu bekritteln noch zu loben? Das Wort von der „Vereinigungskrise“ (Jürgen ❙28 Vgl. Katja Neller, DDR-Nostalgie. Dimensio- Kocka), das in den 1990er Jahren grassierte, nen der Orientierungen der Ostdeutschen gegenüber ist mittlerweile ein Anachronismus. Von 1949 der ehemaligen DDR, ihre Ursachen und politischen bis zum Mauerbau 1961 sind etwa 2,5 Milli- Konnotationen, Wiesbaden 2006; Thomas Großböl- onen Menschen aus der DDR in den Westen ting (Hrsg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009. ❙29 Vgl. Lars Geiges/Stine Marg/Franz Walter, Pegi- ❙30 Richard Schröder, Versöhnung – mit wem? Wa- da. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Biele- rum die Linke nicht ausgegrenzt ist, in: Der Spiegel feld 2015. vom 9. 11. 2009, S. 32 f.

APuZ 33–34/2015 23 abgewandert. In der Zeit bis Ende 1989 folg- Westdeutsche fühlen sich im Vergleich zu den te eine weitere Million. Allein in den 1990er Ostdeutschen eher als Deutsche (und nicht als Jahren sind über zwei Millionen Ostdeutsche Westdeutsche), wobei Ostdeutsche bei der Fra- in den Westen und über eine Million West- ge nach dem Gelingen des Zusammenwach- deutsche in den Osten gezogen. Zudem för- sens von Ost und West deutlich reservierter dert eine Vielzahl an Migranten die demogra- sind. ❙33 Ein Plädoyer für eine Separation des phische Durchmischung. Ostens vom Westen oder des Westens vom Osten entbehrt jeglichen Realismus, anders als Einige ostdeutsche Gegenden, etwa in Me- etwa in Belgien, Großbritannien, Italien, Spa- cklenburg-Vorpommern, leiden unter Ver- nien. Berlin avancierte zur Bundeshauptstadt, ödung. Der FAZ-Redakteur Peter Carstens der 3. Oktober zum neuen „Tag der Deutschen hat 2014 ein trostloses Bild des Ostens ge- Einheit“ (nunmehr großgeschrieben). Un- zeichnet. „Eine Bahnfahrt von Berlin nach ter dem Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit Dresden: gute Gelegenheit, über die deutsche ist das Votum für Berlin richtig, das für den Einheit nachzudenken. Der Zug schleicht über 3. Oktober nicht. Ausgerechnet in dem Mo- krumme Schienen. Es geht vorbei an Feldern ment, in dem die Ziele der Volkserhebung in und Birkenwäldchen. Alles wirkt malerisch der DDR im Jahr 1953 erreicht waren – Freiheit und menschenleer. (…) Zwei Diktaturen, zwei und Einheit –, schaffte der Einigungsvertrag Kriege und ein beispielloser Bevölkerungs- den 17. Juni als Tag der deutschen Einheit ab. ❙34 rückgang haben die Gesellschaft erschüttert und ausgezehrt. In manchen Gegenden der Altmark, der Prignitz oder der Uckermark Ursachen und Folgen im Vergleich sieht es heute aus wie im neunzehnten Jahr- hundert: weite Felder, arme Dörfer. (…) Viel- Die Initiative für das Ende der DDR – der leicht sollte die Kanzlerin mal wieder mit dem langjährigen diktatorischen wie der kurzzei- Zug nach Dresden fahren.“ ❙31 Das ist Schwarz- tigen demokratischen – ging von den bei ih- malerei, auch wenn der Publizist kritikwür- rer Flucht- wie ihrer Demonstrationsbewe- dige Zustände einfängt. Helmut Schmidts gung durch westliche Medien ❙35 beeinflussten Diktum vor einigen Jahren, der Osten sei Menschen in der DDR aus – die Macht der „Mezzogiorno ohne Mafia“, vermittelt ein Bilder überlagerte die Bilder der Macht. Sie Zerrbild. Und warum muss der Berliner Eth- stürzten das System der Unfreiheit im ersten nologe Ulf Matthiesen davon sprechen, ost- möglichen Moment, und sie strebten – sofort, deutsche Regionen würden aufgrund des Exo- unverzüglich – die Einheit Deutschlands an. dus „versteppen, verblöden und vergreisen“? ❙32 Beides konnte nur gelingen, weil sich die So­ Die zwei Freistaaten im Osten stehen besser da wjet ­union dem nicht mehr entgegenstellte. als die beiden Bindestrichländer und Branden- Im Vergleich zu den Ursachen für das Ende burg, dessen Bevölkerung 1996 die Fusion mit der SED-Diktatur (die veränderte außenpo- Berlin abgelehnt hat. Es gibt „Ostinseln“ des litische Konstellation durch die So­wjet­union „Aufstiegs“, etwa Dresden und Leipzig, wie Gora ­b ­tschows) sind endogene Faktoren (der „Westinseln“ des „Abstiegs“, etwa das Ruhr- klare Wille der DDR-Bevölkerung) für das gebiet. Werden wir nach weiteren 25 Jahren Ende der DDR stärker. ein deutschlandweites Nord-Süd-Gefälle ha- ben – und kaum mehr ein Ost-West-Gefälle? Wer die Folgen des Endes der DDR mit Blick auf Freiheit und Einheit in den Blick Das Verhältnis zu den nationalen Symbo- nimmt, erkennt eine gewisse Diskrepanz len ist nicht mehr so verkrampft (man denke zwischen der Einschätzung im Osten und im an die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 im ei- Westen Deutschlands einerseits, der im Aus- genen Land), dies nicht zuletzt dank der deut- land andererseits. Der Blick von außen nimmt schen Einheit. Patriotismus ist heute weithin die deutsche Einheit weithin als „Erfolgsge- geachtet, Nationalismus hingegen geächtet. schichte“ wahr und empfindet manche Kla-

❙31 Peter Carstens, Auf dem Nebengleis, in: Frank- ❙33 Vgl. R. Köcher (Anm. 25), S. 67. furter Allgemeine Sonntagszeitung vom 22. 6. 2014, ❙34 Siehe den Beitrag von Costanza Calabretta in die- S. 5. ser Ausgabe (Anm. d. Red.). ❙32 Zit. nach: Uwe Müller, Supergau Deutsche Ein- ❙35 Vgl. Thomas Großmann, Fernsehen, Revolution heit, Berlin 2005³, S. 20. und das Ende der DDR, Göttingen 2015.

24 APuZ 33–34/2015 ge als „Luxusproblem“. In Deutschland hin- schaft nicht sonderlich positiv aus. Die Ge- gegen wird mehr über die materiellen Kosten schichtswissenschaft hat ihr vielerorts den der Einheit geredet als über die immateriellen Rang abgelaufen. Ich nenne beispielhaft nur Lasten der Teilung. Richard Schröder, neben je ein (Meister-)Werk: Ilko-Sascha Kowal- Jens Reich und Friedrich Schorlemmer einer czuks „Endspiel. Die Revolution von 1989 in der führenden Intellektuellen aus dem Os- der DDR“ und Andreas Rödders „Deutsch- ten, wendet sich gegen die Miesmacher, wel- land einig Vaterland“. Historische Umbrüche che die deutsche Einheit vor allem unter der derartigen und unerwarteten Ausmaßes ru- Rubrik „Pleiten, Pech und Pannen“ ❙36 abhan- fen naturgemäß zunächst Zeithistoriker auf deln, ebenso gegen Gesundbeterei. den Plan, die den Verlauf samt Ursachen und Folgen detailliert nachzeichnen und Mythen Machen wir ein weiteres Gedankenexperi- korrigieren. ment: Bei den Menschen in der DDR wäre, kurz vor dem Fall der Mauer, als Zukunfts- Ein Vierteljahrhundert nach 1989/90 ist es szenario die heutige Situation in Deutschland jedoch Zeit für größere politikwissenschaft- beschrieben, wohl eitel Freude gewesen; die liche Perspektiven. Ein Titel wie „Die Auf- ökonomische Lage nahm desolate Ausmaße lösung der Deutschen Demokratischen Re- an, die Demonstrationsbewegung höchst ris- publik“, der an ein bahnbrechendes Werk kante Formen. Hätten dieselben Personen elf Karl Dietrich Brachers von 1955 zur Weima- Monate später, kurz vor der deutschen Ein- rer Republik erinnert, ist ebenso ein Deside- heit, in höchster Euphorie, erfahren, die Lage rat wie ein kategorial überzeugendes Werk werde in 25 Jahren so sein wie derzeit, wäre zum Systemwechsel 1989/90 in der DDR, der Missmut groß gewesen. Das Urteil hängt auch unter Einbeziehung der internationalen stark vom jeweiligen Ausgangspunkt ab. Konstellationen. Die innen- und außenpo- litischen Folgen der deutschen Einheit sind Ist durch die deutsche Einheit auch die politikwissenschaftlich ebenfalls unzurei- „alte“ Bundesrepublik Deutschland unter- chend analysiert. gegangen? Wer diese Position teilt, benennt neben dem größeren außenpolitischen Spiel- Beherzigte die deutsche Politikwissen- raum, der militärische Verantwortung ein- schaft stärker Maximen ihrer Gründungs- schließt, Tendenzen im Westen, die jenen in väter, gewönne das Fach mehr Ausstrahlung den neuen Bundesländern ähneln: den Rück- und Bodenständigkeit zugleich. Wie die mit gang der Wahlbeteiligung etwa, die sinkende dem Namen von Karl Dietrich Bracher und Zahl der Parteimitglieder, die nachlassende seinem Nachfolger Hans-Peter Schwarz ver- Partizipation in Bürgerinitiativen. Dies sind bundene „Bonner Schule“ gelehrt hat, muss jedoch gesellschaftliche Prozesse in der ge- der Unterschied zwischen der Politik- und samten westlichen Welt. Insofern ist der Os- der Geschichtswissenschaft ohnehin nicht ten keineswegs ein Vorreiter für den Westen. prinzipieller Natur sein. Die Politikwis- Es ist weithin zu einer Verwestlichung des senschaft hat bei aller Notwendigkeit der Ostens gekommen, nicht zu einer „Veros- Strukturanalyse die Rolle von Persönlichkei- tung“ (Arnulf Baring) des Westens. Je weiter ten (wieder) stärker zu erfassen. ❙37 Auch das wir uns von 1989/90 entfernen, umso klarer lehrt die Geschichte der friedlichen Revoluti- zeigt sich: Die DDR, ein künstliches Gebilde, on und die der deutschen Einheit. Es gilt, an schuf wenig Dauerhaftes. den großen Wurf Peter Graf Kielmanseggs, der die Zeit bis 1990 doppelsinnig mit „Nach der Katastrophe“ einfängt, so die traumati- Aufgaben der hiesigen sche Vergangenheitsfixierung im westlichen Politikwissenschaft Deutschland betonend, bald anzuknüpfen. Möglicher Titel: „Nach dem Wunder“. Mit Blick auf die Rezeption der friedlichen Revolution 1989 und der deutschen Einheit 1990 fällt das Urteil über die Politikwissen- ❙37 Vgl. Jürgen Hartmann, Persönlichkeit und Politik, ❙36 Richard Schröder, Die wichtigsten Irrtümer über Wiesbaden 2007. die deutsche Einheit, Freiburg i. Br. 2007, S. 9, 31, 201, 203.

APuZ 33–34/2015 25 Jürgen Danyel die Fußballweltmeisterschaft 1990 schließt das der Zeit nach 1990 gewidmete Kapitel mit einem optimistischen Ausblick: Die Be- kämpfung der Hochwasserkatastrophe an Alltag Einheit: Ein der Oder 1997 wird zur Metapher für eine nationale Solidarität mit den betroffenen Fall fürs Museum! Regionen und damit zum Sinnbild des er- folgreichen Zusammenwachsens.

Jahre nachdem die deutsche Einheit am Auch die Geschichtserzählung der Dau- 253. Oktober 1990 politisch vollzogen erausstellung des DHM ist konsequent und wurde, rückt sie erneut in den Blickpunkt der fast teleologisch auf den 3. Oktober 1990 als öffentlichen Wahrneh- glücklichem Höhepunkt der deutschen Ge- Jürgen Danyel mung. Auch die zeit- schichte ausgerichtet. Beide Ausstellungen Dr. phil., geb. 1959; Leiter der historische Forschung sollen in den nächsten Jahren neu konzi- Abteilung „Zeitgeschichte der wagt sich neuerdings piert werden. Es ist davon auszugehen, dass Medien- und Informationsge- immer weiter in die in diesem Zusammenhang der Entwick- sellschaft“ und stellvertretender Geschichte der Gegen- lung nach 1990 mehr Raum gegeben wird Direktor des Zentrums für Zeit- wart vor. Mit dem Ver- als bisher. Die 2011 erneuerte Bonner Aus- historische Forschung (ZZF), Am einigungsprozess und stellung „Unsere Geschichte. Deutschland neuen Markt 1, 14467 Potsdam. den damit verbunde- nach 1945“ im Haus der Geschichte geht [email protected] nen gesellschaftlichen zeitlich über die deutsche Einheit hinaus Veränderungen ent- und schließt mit einem Blick auf die deut- deckt sie ein neues Forschungsfeld, das sie nicht sche Gesellschaft nach dem Ende des Kal- mehr allein den Politikwissenschaftlern, So- ten Krieges im Kontext von europäischer ziologen und Wirtschaftsexperten üb­ erlässt. ❙1 Einigung und mit Blick auf die Heraus- forderungen von Globalisierung, Migra- Ist das Zusammenwachsen der beiden tion, Sicherheitspolitik, Umweltschutz und über 40 Jahre getrennten Gesellschaften ­Finanzpolitik. seit 1990 aber auch schon ein Fall fürs Mu- seum? Ein Blick in die Ausstellungsräume der großen Geschichtsmuseen in Deutsch- Von der Politik- land zeigt, dass die Musealisierung der deut- zur Erfahrungsgeschichte schen Vereinigung als Teil der deutschen Geschichte des ausklingenden 20. Jahrhun- Insgesamt fällt auf, dass der Blick auf die- derts bestenfalls begonnen hat. Selbstver- se Zeit des Umbruchs in der öffentlichen ständlich haben die friedliche Revolution Wahrnehmung stark politik- und ereignisge- in der DDR im Herbst 1989, der Freuden- schichtlich geprägt ist und sich in erster Li- taumel des Mauerfalls am 9. November 1989 nie an der historischen Chronologie wichti- und die dadurch möglich gewordene deut- ger Ereignisse und Zäsuren orientiert. Hier sche Einheit einen festen Platz in den Dau- werden dann vor allem die wichtigen politi- erausstellungen des Hauses der Geschichte schen und diplomatischen Schritte dokumen- in Bonn und des Deutschen Historischen tiert, die zum 3. Oktober 1990 geführt ha- Museums (DHM) in Berlin. Als markan- ben. Das hat auch den Blick der Museen und te historische Ereignisse bilden sie dort ei- Ausstellungen auf diese Zeit geprägt. Nun nen vorläufigen Höhepunkt der deutschen wird niemand behaupten wollen, dass die Geschichte. Daneben liefert auch die seit Geschichte der innen- und außenpolitischen 1999 gezeigte Dauerausstellung des Zeitge- Entscheidungsprozesse von den Verhandlun- schichtlichen Forums in Leipzig erste, not- gedrungen fragmentarische Einblicke in Der Autor ist einer der beiden Kuratoren der Aus- die ab 1990 einsetzenden politischen, wirt- stellung „Alltag Einheit. Porträt einer Übergangs- schaftlichen und sozialen Veränderungen. gesellschaft“, die seit dem 27. Mai 2015 und bis zum 3. Januar 2016 im Deutschen Historischen Museum in Nach Schlaglichtern auf unter anderem die Berlin gezeigt wird. Stasiakten, den Umzug von Bonn nach Ber- ❙1 Vgl. Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte. lin, die Parteienlandschaft, die Begegnung Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen der Ostdeutschen mit Arbeitslosigkeit und 2015.

26 APuZ 33–34/2015 gen zwischen der letzten DDR-Regierung Probleme der Musealisierung unter Lothar de Maizière und dem Kabinett von Helmut Kohl über den Einigungsvertrag, Denkt man über die Frage nach, ob die deut- die Zwei-plus-Vier-Gespräche bis zu Gor­ sche Vereinigung bereits museumsreif ge- ba ­tschows „Ja“ zur deutschen Einheit nicht worden ist, gerät eine weitere Schwierigkeit spannend und ausstellungswürdig wären. in den Blick. Es handelt sich keineswegs um Aber sie sind inzwischen gut dokumentiert, einen abgeschlossenen Prozess. Er ist noch wovon auch eine umfangreiche Erinnerungs- nicht reif für eine abgerundete und durch literatur und die vielen Fernsehdokumentati- historische Bewertungen abgesicherte Ge- onen zeugen, die den Weg vom Zusammen- samtdarstellung. Hinzu kommt, dass die bruch der DDR über den Fall der Mauer bis Entwicklung der deutschen Vereinigungs- hin zu den Einheitsfeierlichkeiten am 3. Ok- gesellschaft erst allmählich in den Blick der tober 1990 rekonstruieren. Sammlungsbemühungen der historischen Museen gerät. Die Frage, welche Objekte Der Prozess der Vereinigung mit sei- und Zeugnisse für diese Zeit des Zusammen- nen weitreichenden Folgen für das Leben wachsens beider deutscher Teilgesellschaften der Menschen zunächst vor allem im Osten bedeutsam und sammlungswürdig sind, ist Deutschlands und die daraus resultierenden häufig erst noch zu klären. Bezogen auf die Konflikte und Probleme werden hinter die- friedliche Revolution in der DDR im Herbst ser politischen Kulisse jedoch kaum sicht- 1989 oder den Mauerfall sind solche Fragen bar. Die Folge ist ein eher statisches, auf den bereits weitgehend beantwortet und man fin- politischen Vollzug der deutschen Einheit det entsprechend viele Objekte und Zeugnis- ausgerichtetes Bild. Dies trifft weitgehend se in den Museumsdepots. auch für die ersten historischen Publikati- onen zur Geschichte der deutschen Einheit Dies alles beschreibt die Ausgangssituati- zu. ❙2 Die erfahrungsgeschichtliche Dimen- on, mit der sich ein gemeinsames Team von sion dieser Entwicklung wird bestenfalls Historikern und Historikerinnen sowie Aus- im Zusammenhang mit der Darstellung des stellungsmachern und Ausstellungsmache- Mauerfalls thematisiert. Die Zeitzeugen be- rinnen aus dem Zentrum für Zeithistori- glaubigen hier das für alle überraschende sche Forschung (ZZF) und dem DHM bei und überwältigende Jahrhundertereignis. der Vorbereitung einer Ausstellung zur Ge- Dabei kann ein euphorischer deutsch-deut- schichte der deutschen Vereinigung ausei- scher und internationaler Erlebniskonsens nanderzusetzen hatte. Mit der Kooperation beschworen und gefeiert werden. Dies er- beider Einrichtungen wurde Neuland be- klärt die enorme Wirkung und Faszinati- treten, insofern die Beteiligten aus dem ZZF on, die der Mauerfall bis heute ausübt. ❙3 Das nicht, nur wie sonst üblich, fachlich beratend Ereignis ist wie kaum ein anderes in dieser tätig waren, sondern gemeinsam mit ihren Zeit geeignet, positive Emotionen zu stiften. Kolleginnen und Kollegen vom Museum die Dieser gemeinsame Erfahrungshorizont ei- Ausstellung konzipiert und erarbeitet haben. nes glücklichen Moments wirkte auch noch in das Jahr 1990 mit seiner Fußballeupho- Die Antwort auf die Frage, mit welcher rie und den schwarz-rot-goldenen Fahnen- Wechselausstellung sich das DHM zum meeren des „Einheitstaumels“ hinein. Schon 25. Jahrestag der deutschen Einheit präsen- kurze Zeit später löste er sich allerdings an- tieren werde, zielte zunächst auf eine Neu- gesichts der sprichwörtlichen „Mühen der auflage der beschriebenen und fachlich wie Ebene“ bei der deutschen Vereinigung rela- museal gut gesicherten Chronologie der po- tiv schnell auf. litischen Ereignisse. Dafür verfügt das Mu- seum – angefangen bei den Transparenten ❙2 Vgl. Gerhard A. Ritter, Wir sind das Volk! Wir der großen Demonstration am 4. November sind ein Volk! Geschichte der deutschen Einigung, 1989 auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz München 2009; Andreas Rödder, Deutschland einig als dem Schlüsselereignis der friedlichen Re- Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, volution – über ausreichend interessante Ob- Berlin 2013. Siehe dazu auch Heinrich August Wink- jekte in seinen Sammlungen. Diese nahelie- ler, Geschichte des Westens, Bd. 4, Die Zeit der Ge- genwart, München 2015. gende und mit Blick auf die zur Verfügung ❙3 Siehe hierzu den Beitrag von Costanza Calabretta stehende Vorbereitungszeit pragmatische Lö- in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.) sung wurde in der Diskussion mit dem ZZF

APuZ 33–34/2015 27 Kinder mit Deutschlandfahne im Eichsfeld, Januar 1990 Quelle: DHM, Peter M. Mombaur

jedoch schnell verworfen. Vielmehr entstand on in der DDR zur deutschen Einheit nach die Idee, mit der gemeinsamen Ausstellung und beleuchtet dabei sowohl die innenpo- eine auch aus der Forschungstradition des litischen wie auch die diplomatischen Weg- Potsdamer Instituts erwachsene alltags- und marken. ❙4 Dem Mauerfall und dem Ende des erfahrungsgeschichtliche Perspektive auf die Kalten Krieges in Europa widmet die im No- deutsche Vereinigungsgesellschaft und ihre vember 2014 eröffnete neue Dauerausstellung Konflikt- und Problem­ ­lagen zu entwickeln. der Gedenkstätte Berliner Mauer gebührende Allen Beteiligten war klar, dass es sich dabei Aufmerksamkeit. Die von 2009 bis 2010 auf um ein Experiment handeln würde, schon al- dem Berliner Alexanderplatz mit beachtli- lein deshalb, weil es zu diesem Themenfeld cher Publikumsresonanz gezeigte Open-Air- kaum einen Forschungsvorlauf im Bereich Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“ der Zeitgeschichte gab. Zusätzliche Argu- der Robert-Havemann-Gesellschaft ❙5 befin- mente für diese Richtungsentscheidung lie- det sich in der Überarbeitung und soll künf- ferte ein Blick auf weitere im Kontext des tig dauerhaft auf dem Gelände des ehemali- 25. Jahrestages der deutschen Einheit geplan- gen Ministeriums für Staatssicherheit in der te Ausstellungsprojekte. Berliner Normannenstraße gezeigt werden. Mit ihr liegt dann eine umfassende Doku- Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der mentation der Geschichte der ostdeutschen SED-Diktatur hat in Zusammenarbeit mit Bürgerbewegung vor, die zugleich die politi- dem Auswärtigen Amt zum Jahrestag eine schen Umbrüche in den anderen Ländern des Plakatausstellung mit dem Titel „Der Weg Ostblocks einbezieht. In dieser sich weiter zur deutschen Einheit“ zusammengestellt, ausdifferenzierenden Ausstellungslandschaft die in einer Auflage von 3000 Exemplaren zur Geschichte der deutschen Vereinigung produziert und von Einrichtungen der poli- und ihrer unmittelbaren Vorgeschichte schien tischen Bildung, Schulen, Bibliotheken und Behörden bei der Stiftung bestellt werden ❙4 Vgl. www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/deut- kann. Die Ausstellung zeichnet auf 20 Ta- scheeinheit-4787.html (9. 7. 2015). feln den Weg von der friedlichen Revoluti- ❙5 Vgl. www.revolution89.de (9. 7. 2015).

28 APuZ 33–34/2015 es erst recht geboten, sich der bislang kaum dokumentierten Gesellschaftsgeschichte des Vereinigungsprozesses zu ­widmen.

Alltag in der frühen Vereinigungsgesellschaft

„Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsge- sellschaft“ – der für die Ausstellung schließ- lich gewählte Titel bringt in mehrfacher Hinsicht den Anspruch des Projekts zum Ausdruck: Im Mittelpunkt steht nicht das Geschehen auf der großen politischen Bühne, auf der nach dem Fall der Mauer der Weg zur deutschen Einheit geebnet wurde. Stattdes- sen nimmt die Ausstellung den Alltag in den Blick und fragt danach, wie sich die Zeitge- schichte mit ihren markanten Zäsuren in die alltägliche Erfahrungswelt und die Lebens- geschichten der Menschen in der ersten Hälf- te der 1990er Jahre eingeschrieben hat. ❙6

Das Ausstellungsplakat zeigt eine Frau mit geblümter Kittelschürze, die schwarz-rot- goldene Fahnen zu einem Paket schnürt. Es handelt sich um eine Aufnahme des Fotogra- Fahnenproduktion, DEWAG-Fahnen­lager, Berlin, fen Jens Rötzsch, die am 1. Oktober 1990 im 1. 10. 1990 Fahnenlager der Deutschen Werbe- und An- Quelle: Jens Rötzsch/OSTKREUZ zeigengesellschaft (DEWAG) entstanden ist. Sie steht ganz offensichtlich im Zusammen- hang mit den unmittelbar bevorstehenden wichen. Im Sinne eines Prologs begegnen die Feiern zur deutschen Einheit, wobei es für Besucherinnen und Besucher am Beginn ih- den Betrachter offen bleibt, ob es sich um ob- res Rundgangs durch die Ausstellung zwei solet gewordene DDR-Fahnen oder die jetzt großformatigen, besonders markanten Foto- überall gefragten Deutschlandfahnen han- motiven: delt. Das Spannungsverhältnis von Alltägli- chem und Politischem wird mit diesem Bild- Die erste, noch im November 1989 entstan- motiv besonders prägnant zum Ausdruck dene Aufnahme von Harald Hauswald zeigt gebracht. einige der von den Teilnehmern selbst gefer- tigten, mit frechen Sprüchen und Karikatu- Die Ausstellung setzt im Jahr 1990 ein. Ge- ren versehenen Transparente der legendären nau genommen geht für sie der Prozess der Demonstration vom 4. November 1989 auf deutschen Vereinigung als ein historisch ein- dem Ost-Berliner Alexanderplatz. Sie liegen maliger Vorgang gesellschaftlichen Wandels nun kreuz und quer übereinander geworfen nach dem 3. Oktober 1990 erst richtig los. im Heizungskeller einer Theaterwerkstatt, Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Reform­ gleichsam vom rasanten Fortgang der Ge- utopien für eine bessere DDR längst erledigt, schichte überholt. Die Stimmung in der ost- die Mehrheit der Ostdeutschen hatte für ei- deutschen Gesellschaft hatte sich gegen wei- nen schnellen Weg zur Vereinigung votiert tere Experimente mit dem Ziel einer anderen und die Euphorie des Mauerfalls war dem all- DDR und Dritter Wege gewandt. täglichen Leben mit der offenen Mauer ge- Die zweite Aufnahme lässt den Betrachter ❙6 Vgl. Stiftung Deutsches Historisches Museum von einer offenen Stelle der Berliner Mauer (Hrsg.), Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsge- am Bethaniendamm in Kreuzberg auf bei- sellschaft, Berlin 2015. de Seiten der ehemaligen Grenze blicken. Zu

APuZ 33–34/2015 29 sehen sind Spaziergänger und Radfahrer – ren Rundgang aufgezwungen. Das gleich- die offene Mauer ist inzwischen zum All- berechtigte Nebeneinander der Themen soll tag geworden und das spektakuläre Erleb- die Gleichzeitigkeit der Veränderungen in nis ihrer Öffnung ist verblasst. Damit wird ganz verschiedenen Lebensbereichen beto- die Ausgangssituation für eine Alltagsge- nen. In der Mitte des Raumes werden mit Fo- schichte der deutschen Vereinigung treffend tos, Kurzbiografien und Zeitzeugenvideos ­beschrieben. „Vereinigungsbiografien“ dokumentiert. Sie zeigen, wie prominente und weniger promi- nente Menschen aus Ost und West die ersten Schwebezustand des Übergangs Jahre der Vereinigung erlebt, verarbeitet und mit ihrem Tun selbst gestaltet haben. Auf die- Mit dem Begriff der „Übergangsgesellschaft“ se Weise bietet sich dem Betrachter eine Art im Titel der Ausstellung wird eine Phase der Kollektivbiografie, die programmatisch den Entwicklung umrissen, in der die Auflösung alltags- und erfahrungsgeschichtlichen Zu- der politischen, wirtschaftlichen, sozialen griff der Ausstellung unterstreicht. und kulturellen Institutionen der unterge- gangenen DDR einherging mit der schritt- Thema und Zeithorizont der Ausstellung weisen Etablierung einer am Vorbild der bringen es mit sich, dass der Schwerpunkt Bundesrepublik orientierten Verfassungs-, im Osten Deutschlands liegt. Für die Ost- Wirtschafts- und Institutionenordnung. Es deutschen bedeuteten das Ende der DDR, handelte sich um eine Art Schwebezustand, der Mauerfall und die Vereinigung eine ein- in der das Alte noch nicht völlig verschwun- schneidende Zäsur mit weitreichenden Kon- den war und das Neue sich erst allmählich zu sequenzen für ihre individuellen Lebensläufe. etablieren begann. Anders formuliert, wird Sie mussten sich in nahezu allen Lebensberei- die Dramatik des gesellschaftlichen Wandels chen umorientieren und in relativ kurzer Zeit noch deutlicher: Im Osten Deutschlands än- lernen, mit den neuen Verhältnissen zurecht- derte sich für die Menschen fast alles und dies zukommen. gleichzeitig. Die Geschwindigkeit der Verän- derungen produzierte eine Atemlosigkeit, die Die Asymmetrie der deutsch-deutschen in den Erinnerungen der Menschen an die- Parallelgeschichte ❙7 bekommt auf diese Wei- se Zeit immer wieder aufscheint. Etwa Mitte se mit der deutschen Vereinigung eine neue der 1990er Jahre beruhigte sich diese Situati- Wendung. Während sich im Osten in einem on allmählich wieder. Wichtige Etappen der rasanten Tempo die gesamte Institutionen- Transformation wie die Privatisierung der landschaft, die Wirtschafts-, Eigentums- so- ostdeutschen Wirtschaft oder der Instituti- wie die Werteordnung und mit ihr die Koor- onenumbau im Bereich der öffentlichen Ver- dinaten der Lebenswelt veränderten, erfuhr waltung waren weitestgehend vollzogen, und der größere Teil des Landes die Vereinigung auch in der Taktung der Lebensgeschichten zunächst als kulturelle Selbstbestätigung. der Menschen trat wieder eine gewisse Beru- Im geeinten Berlin wurde jedoch schon re- higung ein. Für die Ausstellung fungiert das lativ früh klar, dass sich mit der Vereinigung Jahr 1995 deshalb als vorläufige Zäsur, um auch der Westen grundlegend wandeln wür- die für das Vorhaben besonders interessante de. Die damit einhergehende Verlusterfah- frühe Phase der Vereinigung einzugrenzen. rung speist den gegenwärtig so auffälligen Letztere steht im Mittelpunkt.

❙7 Das auf Christoph Kleßmann zurückgehen- de Konzept zielt auf die trotz der Teilung der bei- Idee und Schwerpunkt den deutschen Staaten und ihrer Abgrenzung von- einander bestehenden Verflechtungen. Gleichzeitig Das Ausstellungsdesign greift dieses Mo- verweist es auf die Asymmetrie dieser Beziehungs- tiv eines Übergangszustandes mit vielen pa- geschichte, denn die DDR und ihre Bevölkerung ma- rallel ablaufenden Veränderungen auf. Die ßen sich viel stärker an der Bundesrepublik, als die Ausstellungsarchitektur weckt Assoziatio- Westdeutschen am Osten. Vgl. Christoph Kleßmann, nen mit einer Baustelle. Die ganze Struktur Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteil- ten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegs- des Raumes ist damit offen und wirkt, als ob geschichte, in: APuZ, (1993) 29–30, S. 30–41; ders./ sie noch veränderbar ist. Den Besucherinnen Peter Lautzas (Hrsg.), Teilung und Integration. Die und Besuchern wird keine Richtung für ih- doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte, Bonn 2005.

30 APuZ 33–34/2015 Boom der Bücher, Filme und Ausstellungen „Treuhandanstalt“ oder „gaucken“. ❙8 ­Viele über das verschwundene Biotop West-Ber- Wörter und Redewendungen aus dem all- lin. Deshalb konzentriert sich der Blick auf täglichen ostdeutschen Sprachgebrauch ver- den Westen in der Ausstellung vor allem auf schwanden, besonders der politische Jargon Entwicklungen in Berlin. Zu dieser „Schief- der SED-Ideologie hat deren Ende nicht über- lage“ bekennt sich das Ausstellungsteam lebt. In der Ausstellung können die Besuche- ausdrücklich. Schließlich brachte die deut- rinnen und Besucher in diese Welt der ver- sche Einheit auch für die Menschen in den al- schwundenen und neuen Begriffe eintauchen ten Bundesländern Veränderungen mit sich. und eigene Erfahrungen an einer speziell da- Sie kamen jedoch erst mit zeitlicher Verzö- für gestalteten Installation hinzufügen. gerung zum Tragen und waren in der Regel weit weniger dramatisch. Neue deutsche Medienlandschaft. Wie der plötzlich mit bunten Werbeaufstellern voll- Es ist daher auch ein Anliegen der Aus- gestopfte Ost-Berliner Zeitungsladen auf ei- stellung zu zeigen, dass die Vereinigung bei- ner Fotografie von Harald Hauswald aus dem der Gesellschaften ohne die enormen Anpas- Jahr 1991 kommt der Themenraum daher, sungsleistungen, ohne die Bereitschaft von der sich dem Wandel der Medienlandschaft Millionen Menschen im Osten, sich neu zu widmet. Diese Flut neuer Print- und audio- orientieren, nicht möglich geworden wäre. visueller Medien aus dem Westen haben vie- Die Präsentation richtet sich an die „Gene- le Ostdeutsche als besonders mächtig erlebt. ration der Mitlebenden“. Sie sind eingeladen, Gezeigt wird hier auch, wie die ostdeutschen ihre individuellen Erfahrungen einzubringen Medien versuchten, auf diese neue Heraus- und zu verorten. Es gibt Angebote zur Par- forderung zu reagieren und ihren Platz neben tizipation, die von den Besucherinnen und der Konkurrenz aus dem Westen zu finden. Besuchern nach den bisherigen Erfahrungen Die Vereinigung und zunehmend auch deren gerne angenommen werden. Probleme lieferten den Stoff für viele Fern- sehsendungen. Und „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ wurden ebenfalls vereinigt. Unter dem Dimensionen des Wandels: Titel „Unter Brüdern“ trafen im Oktober Acht Themenfelder 1990 die Kommissare Schimanski und Tan- nert auf ihre ostdeutschen Kollegen Fuchs Acht Themenfelder stehen im Mittelpunkt: und Grawe. Wolfgang Lippert moderierte als der Wandel der Sprache, die neue deutsche ostdeutscher Star für kurze Zeit die Sendung Medienlandschaft, der Einzug der D-Mark „Wetten, dass ..?“ An den satirischen Serien und der westlichen Konsumwelt, der Umgang „Motzki“ und „Die Trotzkis“ schieden sich der vereinten Deutschen mit nationalen Ge- die Geister. Eine Collage aus Fernsehclips fühlen, die Veränderungen in der politischen verweist in diesem Raum auf den durchschla- Kultur, die dramatischen Veränderungen in genden Erfolg des privaten Unterhaltungs- der Arbeitswelt, die sich Anfang der 1990er fernsehens im Osten. Jahre bietenden kulturellen Freiräume und schließlich die Begegnungen der Ost- und Geld, Konsum und Eigentum. Im Som- Westdeutschen im Alltag mit all den daraus mer 1990 hielt die von vielen Ostdeutschen erwachsenden Klischees und Stereotypen. sehnsüchtig erwartete „harte“ D-Mark mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialuni- Sprache. Mit der Vereinigung wandelt sich on Einzug in ihren Alltag. Ein ostdeutsches die Sprache. Wie kein anderes Wort steht Sparbuch mit dem Eintrag der Währungs- „Wende“ für die durch den Umbruch im umstellung und ein privater Kontoauszug Herbst 1989 ausgelösten gesellschaftlichen machen diese Zäsur für das Alltagsleben Veränderungen. Der viel gebrauchte und um- sichtbar. Darüber blickt der Betrachter auf strittene Begriff ist ein Paradebeispiel da- das großformatige Foto eines Busses, den für, wie sich die Bedeutung von Wörtern än- die Deutsche Bank als rollende Zweigstelle derte. Zahlreich sind die Neuschöpfungen in Thüringen einsetzte. Noch etwas ungläu- von Wörtern, die unmittelbar mit adminis- trativen Maßnahmen des Vereinigungspro- ❙8 Die Überprüfung auf eine Zusammenarbeit mit zesses zusammenhängen wie „Begrüßungs- der Staatssicherheit, benannt nach dem ersten Leiter geld“, „Währungsunion“, „Einigungsvertrag“, der Stasi-Unterlagen-Behörde Joachim Gauck.

APuZ 33–34/2015 31 Supermarkt bei Rostock, 1991 Quelle: DHM, Thomas Hoepker

big starrt eine Frau auf eine zu Werbezwe- waren die Forderungen auf Rückübertragung cken aufgestellte lila Milka-Kuh in einem von Immobilien und Grundstücken, die nun der über Nacht „auf der grünen Wiese“ ent- von Alteigentümern aus dem Westen oder de- standenen Supermärkte. Die neuen Konsu- ren Nachfahren gestellt wurden. Viele Ost- mangebote wurden bereitwillig angenom- deutsche fürchteten, ihr Dach über dem Kopf men, erfüllten sich doch damit lange gehegte zu verlieren. Eine Karte von Kleinmachnow Sehnsüchte. Ostprodukte hatten plötzlich bei Berlin, auf der fast alle Grundstücke rot einen schweren Stand. Viele Menschen ent- unterlegt sind, weil sie von Rückübertra- ledigten sich im Handumdrehen der Dinge, gungsansprüchen betroffen waren, zeigt die die sie bislang umgeben hatten und versorg- Dimension dieses Problems. ten sich mit den begehrten Westprodukten. Einige Objekte aus einem Projekt der Künst- Wandel der Arbeitswelt. Als besonders gra- lerin Peggy Meinfelder, unter anderem eine vierend empfanden die meisten Menschen in mittlerweile völlig verschlissene und ausge- den neuen Ländern den Wandel der Arbeits- waschene Jeans, veranschaulichen, was sich welt: Die vielfach maroden DDR-Betriebe die Ostdeutschen von ihrem ersten Westgeld wurden mit dem Ziel der Privatisierung in der gekauft haben und welche persönlichen Er- Treuhandanstalt zusammengeführt. Auch fahrungen sich damit verbinden. scheinbar konkurrenzfähige Werke mussten schließen. Die Ausstellung erzählt anhand Bei vielen Ostdeutschen standen Reisen in der Geschichte einzelner Betriebe und ih- den Westen ganz oben auf der Wunschliste. rer Belegschaften von Erfolgen und Misser- Häufig ging es zunächst in die alten Bundes- folgen: von der Sektkellerei in Freyburg, die länder, nach Österreich und in die Schweiz. sich mit ihrem „Rotkäppchen Sekt“ auf dem Ein Diaprojektor zeigt private Urlaubsfotos Markt behaupten konnte, von letztlich er- aus dieser Zeit. Mit dem neuen Besitz kam folglosen Anpassungsversuchen, wie dem mit auch die Angst vor dessen Verlust – Tür- dem inzwischen legendären Colani-Fernse- schlösser und Wegfahrsperren fanden reißen- her der RFT AG Staßfurt, aber auch von der den Absatz. Eine neue, ganz reale Bedrohung Stilllegung und dem Abriss ganzer Betriebe

32 APuZ 33–34/2015 Blick in die Ausstellung Quelle: J. Danyel wie dem Stahl- und Walzwerk Brandenburg, wie sehr das Thema „Stasi“ und immer neue das zum Industriemuseum wurde. Tausende Enthüllungen über „inoffizielle Mitarbeiter“ von Menschen erhielten Kündigungsschrei- die Öffentlichkeit beherrschten. ben, sahen ihre Arbeitskraft entwertet und fassten manchmal nur mühsam und nach ei- Den Ostdeutschen wird häufig für die Zeit ner Reihe von Umschulungen wieder Fuß. nach dem 3. Oktober 1990 eine wachsen- Davon erzählt auch eine Fotoserie von Ange- de Politikverdrossenheit nachgesagt. In der lika Kampfer, die Brüche in den Erwerbsbio- Ausstellung werden auch gegenläufige Ten- grafien in dieser Zeit dokumentiert. denzen sichtbar: Zivilgesellschaftliches En- gagement entwickelten die aus der Zeit des Politische Kultur und Zivilgesellschaft. Mit Umbruchs stammenden Bürgerinitiativen, dem Aufbau der Stasi-Unterlagen-Behörde die sich wie die Kalikumpel in Bischoffero- und den Regelüberprüfungen im öffentlichen de gegen Betriebsschließungen, die Einwoh- Dienst begann eine groß angelegte Durch- ner des brandenburgischen Horno gegen die leuchtung der ostdeutschen Gesellschaft, die Folgen des Braunkohlenabbaus oder die Bür- parallel zum Aufbau von Verwaltungen und ger von Dresden für den Wiederaufbau der politischen Strukturen verlief. Von den Ost- Frauen­kirche einsetzten. deutschen wurde verlangt, dass sie ihre Bio- grafien offenlegen. Gleichzeitig wollten nun Nationalgefühl. Mit der Vereinigung arti- viele Menschen wissen, in welcher Form die kulierte sich in Deutschland auch ein neues Staatssicherheit in ihr Leben eingegriffen Nationalgefühl, das vom Ausland aufmerk- hatte. Einer der riesigen Karteipaternoster sam bis misstrauisch beobachtet wurde. Na- aus dem Archiv des Ministeriums für Staats- tionale Emotionen wurden erstmals bei der sicherheit veranschaulicht diesen Prozess, Fußballweltmeisterschaft 1990 weithin sicht- der von großem medialen Interesse und po- bar. Wichtige Momente für nationale Emoti- litischen Skandalisierungen begleitet wur- onen waren auch die öffentlichen Silvester- de. Eine Projektion mit markigen Zeitungs- feiern 1989/90 und natürlich der 3. Oktober schlagzeilen aus dieser Zeit dokumentiert, 1990, der Tag der Deutschen Einheit. Zu-

APuZ 33–34/2015 33 Unfall auf der B91, 1989/90 Quelle: Daniel Biskup, Berlin

gleich stieß dieses Nationalbewusstsein an- proletarischen Habitus der Ostdeutschen oder gesichts der sich im ganzen Land ausbreiten- eines der riesigen Handys, mit denen west- den rechtsextremen Gewalt gegen Ausländer deutsche Manager den Osten eroberten und und Asylbewerber auf offene Kritik nicht nur es zum Symbol für westliche Überheblichkeit auf Seiten der politischen Linken. Der auf- machten. Ausgestellt sind ebenfalls eine Ost- kommende Rechtsextremismus wurde zu ei- und eine Westschrippe, weil auch Backwaren ner ernsthaften und vom Ausland besonders zu Projektionsflächen für im Alltag erfahre- kritisch beobachteten Gefahr für das verein- ne Unterschiede werden konnten. An einer te Deutschland, denn die Vorbehalte reichten Station können die Besucherinnen und Besu- und reichen weit in die Bevölkerung hinein. cher solche Unterschiede unmittelbar sinn- lich erfahren, indem sie für den Osten und den Begegnungen und Stereotype. Im Zuge der Westen als typisch geltende Gerüche mit ih- Vereinigung sammelten Ost- und Westdeut- ren eigenen olfaktorischen Erfahrungen der sche ganz unterschiedliche Erfahrungen im deutschen Einheit in Beziehung setzen kön- alltäglichen Umgang miteinander. Hier zeig- nen. Es ist eine Einladung, sich kritisch und ten sich durch die Teilung gewachsene unter- mit ein wenig Humor mit solcherart Denken schiedliche Mentalitäten und Lebensstile. Die in Schubladen auseinanderzusetzen. Erfahrungen des Andersseins verdichteten sich zu Bildern und Klischees von den „Os- Kulturelle Freiräume. Die frühen 1990er sis“ und den „Wessis“, die das Zusammenleben Jahre boten aber auch schier unbegrenzte von Ost und West bis heute begleiten. Zahl- Möglichkeiten zum Experimentieren. Mitten lose Witze und Karikaturen fanden hier ih- im vereinten Berlin etablierte sich eine leben- ren Stoff. Gegenstände aus dem Alltag wur- dige Kunst- und Clubszene. Die elektroni- den zu Projektionsflächen für Unterschiede. In sche Musik erlebte eine bis heute nachwirken- der Ausstellung ist eine große Vitrine mit Ob- de Blütezeit. Techno und Rave avancierten jekten gefüllt, an denen sich solche Stereoty- zum Sound einer neuen Jugendkultur, die sich pe festgemacht haben. Zu sehen sind etwa eine mit der „Love Parade“ eine unverwechselba- ostdeutsche Kittelschürze als Symbol für den re Ausdrucksform schuf. Diesen Raum in der

34 APuZ 33–34/2015 Ausstellung dominiert die mit einer Stahltür Everhard Holtmann · Tobias Jaeck versehene Re-Inszenierung des inzwischen legendären Techno-Clubs „Tresor“ in der Leipziger Straße. Was denkt und meint

Der Club befand sich in den Kellerräumen der Bank des im Zweiten Weltkrieg zerstörten das Volk? Deutsch- Kaufhauses Wertheim. Die Reste der Bank- schließfächer und zwei tonnenschwere Tre- land im dritten sortüren gehörten zum unverwechselbaren Ambiente des Clubs. Eine vergleichbare Blü- tezeit gab es in der freien Kunstszene, für die Jahrzehnt der Einheit an erster Stelle das Kunsthaus Tacheles in der Oranienburger Straße steht. Einer der ers- ie Realität der Lebens- und Arbeitsbe- ten Besetzer des Tacheles, der Metallkünstler Ddingungen in der DDR wird mit den Be- Hüseyin Arda, hat eigens für die Ausstellung griffen „ökonomische Rückständigkeit“ und eine seiner spektakulären Wortskulpturen „diktaturförmige Ver- angefertigt: Vor dem Pei-Bau des DHM fällt steinerung“ zutreffend Everhard Holtmann sofort das in über zwei Meter hohen Buch- beschrieben. Solange Dr. phil, geb. 1946; Professor für staben aus Stahl gestaltete Wort „Einheit“ ins die DDR existierte, hat Politikwissenschaft, Forschungs- Auge und lenkt die Aufmerksamkeit auf die darüber auch das Gros direktor am Zentrum für Sozial­ Ausstellung. Es ist inzwischen zu einem be- der ostdeutschen Be- forschung Halle e. V. (ZSH) an liebten Fotomotiv für Museumsbesucher und völkerung nicht anders der Universität Halle-Wittenberg, Touristen geworden. gedacht. Wie jüngst Großer Berlin 14, 06108 Halle/S. wiederentdeckte Um- everhard.holtmann@ fragedaten bestätigen, ❙1 zsh.uni-halle.de Baustelle Einheit schnitt die DDR, wenn Ostdeutsche beide Sys- Tobias Jaeck Das DHM und das ZZF sind selbst „Kin- teme miteinander ver- Dipl.-Soz., geb 1977; Wissen- der der deutschen Einheit“. Daher lag es glichen, hinsichtlich schaftlicher Mitarbeiter am nahe, auch beide Einrichtungen mit ihrer ei- des Konsumangebots Zentrum für Sozialforschung genen Vereinigungsgeschichte zum Thema sowie der persönli- ­Halle e. V. (ZSH) an der Uni­ der Ausstellung zu machen. Sie historisieren chen Freiräume und versität Halle-Wittenberg (s. o.). sich gewissermaßen selbst. Dies geschieht in künftigen Lebensaus- [email protected] Form einer Reihe von Interviews. Und auch sichten gegenüber der die Ausstellungsmacher sind mit ihren un- Bundesrepublik stets eindeutig schlechter terschiedlichen Biografien ein Teil der Ge- ab. Überzeugte Anhänger des SED-Regimes schichte. blieben immer eine Minderheit, zwischen 1973 und 1988 zum Beispiel lag ihre Zahl fast Wie beschließt man eine Ausstellung, bei durchgängig unter 25 Prozent. Etwa ebenso der das im Mittelpunkt stehende historische viele lehnten das System entschieden ab. Die Geschehen noch nicht reif für abschließen- große Mehrheit verhielt sich all die Jahre hin- de Bewertungen und Einordnungen ist? Da- durch politisch angepasst beziehungsweise rüber hat das Ausstellungsteam lange disku- desinteressiert. ❙2 Seit den 1960er Jahren blieb tiert. Herausgekommen ist eine große von die Wiedervereinigung als ein Wunschbild einem Bauzaun umgebene Holzwand, an der Dutzende Fotos von Baustellen in ganz ❙1 Vgl. Everhard Holtmann/Anne Köhler, Wiederver- Deutschland angepinnt sind und auf der ein einigung vor dem Mauerfall. Einstellungen der Bevöl- im Zeitraffertempo gedrehter Film über die kerung der DDR im Spiegel geheimer westlicher Mei- Veränderungen auf der Großbaustelle am nungsumfragen, Frankfurt/M.–New York 2015 (i. E.). Potsdamer Platz läuft. Die Botschaft ist ge- ❙2 Vgl. hierzu ausführlich Everhard Holtmann et al., nauso simpel wie eingängig: Die deutsche Deutschland 2014. 25 Jahre friedliche Revolution und Einheit ist immer noch eine große Baustelle. Deutsche Einheit, Forschungsprojekt im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bun- desländer im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Endbericht, 1. 2. 2015, www.beauftragte- neue-laender.de/BNL/Redaktion/DE/Downloads/

APuZ 33–34/2015 35 präsent, dem der größte Teil der DDR-Bür- generell kennzeichnet, wird auch auf der Ein- ger beharrlich a­ nhing. stellungsebene erkennbar. Im Folgenden stel- len wir die Gleichzeitigkeit von Konvergenz Nicht überraschend wünschte sich daher und Differenz als typische Ausprägung des in der Umbruchsphase von 1989/90 die über- bisherigen Entwicklungsgangs und aktuellen wältigende Mehrheit der Ostdeutschen einen Entwicklungsstands der gesamtdeutschen po- Systemwechsel hin zu einer demokratischen, litischen und sozialen Kultur anhand von vier rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlich ba- Indikatoren exemplarisch dar: Systemidentifi- sierten Ordnung, die in ihren Grundzügen kation und generalisiertes Vertrauen, politische dem Modell der Bundesrepublik entsprach. Die Partizipation, Frauen- und Familienbild sowie deutsche Einheit ist diesen Weg gegangen, ohne subjektive Bewertung der Erträge der Eini- dass es zu einer von manchen Auguren prophe- gung. Hierfür greifen wir auf ausgewählte Er- zeiten „Kolonisierung“ ostdeutscher Lebens- gebnisse des Forschungsprojekts „Deutschland welten gekommen wäre. Der vielbeschriebene 2014“ zurück, das für die Zeitspanne von 1990 „Transfer“ westdeutscher Institutionen, Nor- bis 2012 eine Längsschnittanalyse gebündelter men und Personen von West nach Ost in Vor- empirischer Einstellungsdaten erstellt hat und bereitung und Vollzug der Einheit hatte nicht außerdem mit einer repräsentativen Bevölke- zur Folge, dass der „Modernisierungsvor- rungsumfrage vom Herbst 2014 den zeitlichen sprung“, welcher der DDR seitens westdeut- Bogen an die Gegenwart heranführt. ❙5 scher Sozialwissenschaftler vor allem bezüg- lich der Gleichstellung der Frauen in Familie und Arbeit attestiert wurde, ❙3 gänzlich dahin Systemidentifikation I: schmolz. Im nachholenden Ausbau gesetzlich Einstellungen zur Demokratie garantierter Angebote einer öffentlichen Kin- derbetreuung in Westdeutschland und in der Eine wesentliche Voraussetzung für die stabi- nach wie vor hohen (Voll-)Erwerbstätigkeit le Verankerung einer politischen Ordnung in ostdeutscher Frauen und Mütter, aber auch in der Bevölkerung ist, dass sich die Bürgerin- der fortschreitenden Annäherung westdeut- nen und Bürger mit der Idee dieser Ordnung scher Mütter an den ostdeutschen Modus der identifizieren und ihr eine hinreichende Leis- Erwerbsbeteiligung ❙4 wird beispielhaft deut- tungsfähigkeit zusprechen. In der Systemthe- lich, dass der Osten innerhalb des geeinten orie wird demgemäß zwischen genereller Un- Deutschlands in manchem gesellschaftspoli- terstützung für das System als solches sowie tisch ein Vorreiter war und ist. Diese gesamt- spezieller Unterstützung für die konkreten deutsche Vorreiterrolle Ostdeutschlands ist Leistungen des Systems unterschieden. Über- ebenso Teil der Erfolgsgeschichte der ­Einheit. tragen auf die hier aufgenommene Frage nach dem Grad der Identifikation der Deutschen Dass ein Vorsprung gehalten wird, verweist mit der Demokratie lassen sich drei Dimensi- auf Unterschiede, die trotz kontinuierlich vo- onen von Demokratiezustimmung ausloten: ranschreitender Annäherung nicht völlig ein- einmal die Unterstützung für das demokra- geebnet werden. Dieses dynamische Neben- tische Ordnungsmodell an sich, zweitens die einander von – keineswegs linear verlaufener, Unterstützung für die in der Bundesrepublik sondern auch Auf und Ab abbildender – An- verfassungsförmig institutionalisierte Form gleichung und fortdauernder Differenz, das den der Demokratie und drittens die leistungs- Entwicklungsprozess im geeinten Deutschland bezogene Zufriedenheit mit dem konkreten Funktionieren dieser Demokratie.

Publikationen/studie-deutschland-2014-25-jahre- In Westdeutschland war die Akzeptanz der revolution.html . (6. 7 2015). Im Weiteren „Projekt Deutschland 2014, Endbericht“ genannt. Demokratie seit den 1970er Jahren stetig ge- ❙3 Vgl. Rainer Geißler, Soziale Ungleichheit zwi- wachsen. Sie blieb im westlichen Landesteil schen Frauen und Männern im geteilten und im ver- auch seit der deutschen Einheit, trotz eines ge- einten Deutschland, in: APuZ, (1991) 14–15, S. 13–24. ❙4 Vgl. Alexander Kubis et al., Ostdeutsche Transfor- mationsgesellschaft: Zum Fortbestand von Struktu- ❙5 Vgl. E. Holtmann et al. (Anm. 2). Methodisch wurde ren und Verhaltensweisen, in: Astrid Lorenz (Hrsg.), hierfür das Instrument einer Meta-Analyse entwickelt, Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bi- bei dem die Datensätze der herangezogenen repräsen- lanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiederver- tativen Bevölkerungsumfragen auf eine einheitliche einigung, Opladen u. a. 2011, S. 197–201. Skala von plus 2 bis minus 2 umkodiert wurden.

36 APuZ 33–34/2015 Abbildung 1: Unterstützung der Demokratie im Allgemeinen und der in Deutschland exis­tier­en­den Form der Demokratie in West- und Ostdeutschland 1991–2014 (Nennungen in Prozent)

100 96 92 90 86 85 84 90 89 80 80 71 86 80 77 77 82 70 78 70 72 60 64 63 50 56 40 49 41 30 38 35 20

10

0 1991 2000 2005 2007 2010 2014 West Ost Demokratie im Allgemeinen Demokratie im Allgemeinen Demokratie in Deutschland Demokratie in Deutschland

Quelle: Projekt Deutschland 2014, Endbericht, S. 191 wissen Abschwungs zwischen 2000 und 2005, verständnis zwischenzeitlich auf nur mehr auf einem durchgehend hohen Niveau und sie gut ein Drittel (2007) abgesackt war. unterschritt, wie der für die Studie „Deutsch- land 2014“ von Oscar Gabriel vorgenommene Die Längsschnittanalyse der Einstellungsda- Vergleich unserer Bevölkerungsumfrage von ten macht für beide Demokratie-Dimensionen 2014 mit früheren Erhebungen zeigt, während die Parallelität von Konvergenz und Differenz der letzten fast zweieinhalb Jahrzehnte nie- als das kennzeichnende Merkmal eines Ost- mals die Zustimmungsschwelle von 80 Pro- West-Trendverlaufs deutlich, das auch bei an- zent (Abbildung 1). Anders in Ostdeutschland: deren Indikatoren der gesamtdeutschen politi- Zwar hielt auch hier stets eine Mehrheit die schen Kultur zutage tritt: Zum einen folgen das Demokratie für die wünschenswerte Form po- ostdeutsche und das westdeutsche Meinungs- litischer Ordnung. Doch lag die Zustimmung bild in seinen Pendelausschlägen demselben im Jahr 1991 mit 70 Prozent deutlich unter dem wellenförmigen Bewegungsmuster. Zum ande- westdeutschen Vergleichswert und sank bis ren bleibt dabei zwischen beiden Landesteilen 2007 vorübergehend auf 56 Prozent ab. stets ein Abstand im Grad der Zustimmung, der jedoch – schließlich ist auch das typisch –, Prekä rer ent w ickelte sich im Osten Deutsch- im Jahr 2014 überwiegend erheblich kleiner lands nach 1990 zunächst die Grundeinstel- ausfällt als im ersten Nacheinheitsjahr 1991. lung zu der Demokratie, wie sie in Deutsch- land real existiert (Abbildung 1). Auch in Heute ist die Demokratie eine bei Ost- wie Westdeutschland fiel dieser Zustimmungs- Westdeutschen grundsätzlich sehr breit un- wert geringer aus als die Akzeptanz der De- terstützte Form politischer Ordnung. Dass mokratie generell, und der Wert unterlag dort die Demokratie „die beste Staatsform“ sei, zudem vergleichsweise größeren Schwankun- bejahten im Herbst 2014 insgesamt 82 Pro- gen. Hingegen fand das bundesdeutsche De- zent im Osten und 90 Prozent im Westen der mokratiemodell bei Ostdeutschen überhaupt Republik. Und „die Demokratie, wie wir sie erst gegen Ende der 2000er Jahre eine stabile in der Bundesrepublik haben“, fand nun bei Mehrheit, und dies, nachdem das Systemein- 72 Prozent der Ostdeutschen und bei 90 Pro-

APuZ 33–34/2015 37 Abbildung 2: Demokratiezufriedenheit – Metatrendlinien Ost und West (Mittelwerte ausge- wählter Datensätze auf einer rekodierten Skala von –2 sehr unzufrieden bis +2 sehr zufrieden)

2

1

0

–1 Metatrend West Metatrend Ost

–2 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012

Quelle: Projekt Deutschland 2014, eigene Berechnungen auf Basis der Allgemeinen Bevölkerungsbefragung der Sozialwissenschaften (ALLBUS), des Eurobarometers, des Politbarometers und des European Social Survey (ESS)

zent ihrer westdeutschen Landsleute Zu- Systemidentifikation II: stimmung. Lediglich 17 Prozent (Ost) und 13 Prozent (West) sagten, es gebe „eine ande- Vertrauen in politische Institutionen re Staatsform, die besser ist“. Vertrauen als eine Mitmenschen generell ent- Nun zur Entwicklung der Demokratiezu- gegengebrachte positive Verhaltenserwartung friedenheit im geeinten Deutschland: Diese ist eine wichtige Grundlage für gedeihliches lag zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung mit gesellschaftliches Zusammenleben. Wer ver- gut 60 Prozent in den ostdeutschen Ländern traut, erbringt gegenüber den Objekten sei- um mehr als 20 Prozentpunkte niedriger als nes Vertrauens eine Vorleistung, aus der Ver- der westdeutsche Vergleichswert (gut 85 Pro- mutung heraus, dass diese durch das Handeln zent). Dieses Gefälle in der Zufriedenheit mit der jeweiligen Personen gerechtfertigt wird. dem Funktionieren der hiesigen Demokra- Auch demokratische Politik gründet auf ei- tie nimmt in Ost wie West danach denselben ner solchen Vertrauensbeziehung. Vertrauen wellenförmigen Verlauf und bleibt bis 2012 in politische Institutionen ist eine wesentliche dauerhaft deutlich ausgeprägt (Abbildung 2). Voraussetzung für die Legitimität, die dem 2014 fiel die Differenz indes so gering aus wie politischen System und seinen Akteuren sei- niemals zuvor: Nur 13 Prozent der Westdeut- tens der Bevölkerung gewährt wird. schen und 15 Prozent der Ostdeutschen zeig- ten sich mit der Leistungsfähigkeit der Demo- Wie die empirische Demokratieforschung kratie erklärtermaßen unzufrieden. Die seit immer wieder belegt, bringen die Deutschen etwa 2008 in beiden Landesteilen deutlich ge- den rechtsstaatlichen Institutionen, das heißt stiegene allgemeine Lebenszufriedenheit, die Gerichten, Polizei und öffentlicher Verwal- ihrerseits mit einer verbreitet optimistischen tung, traditionell mehr Vertrauen entgegen Einschätzung der wirtschaftlichen Lage kor- als parteienstaatlichen Institutionen, zu de- respondiert, liefert einen erklärenden Hinter- nen Parlament, Abgeordnete, Parteien und grundfaktor für die deutschlandweit gute Be- die Regierung gerechnet werden. Erstere ha- notung des Funktionierens der ­Demokratie. ❙6 ben deshalb einen höheren Vertrauensbonus, weil sie mit unparteiischem, sachkundigem ❙6 Vgl. ebd., S. 145, 151 ff. und korrektem Handeln verbunden werden,

38 APuZ 33–34/2015 Abbildung 3: Vertrauen in Parteien/Politiker – Metatrendlinien Ost und West (Mittel­werte ausgewählter Datensätze auf einer rekodierten Skala von –2 überhaupt kein Vertrauen bis +2 sehr großes Vertrauen)

2 Metatrend West Metatrend Ost

1

0

–1

–2 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012

Quelle: Projekt Deutschland 2014, eigene Berechnungen auf Basis des ALLBUS, des Eurobarometers und des ESS also als im landläufigen Sinne nicht politisch Die Regierung sowie vor allem Parteien gelten. Auch und insbesondere der Bundes- und Politiker schneiden im Reigen des Insti- präsident bezieht sein seit jeher sehr hohes tutionenvertrauens durchwegs schlechter ab Amtsvertrauen aus dem Attribut der Über- (Abbildung 3). Bei beiden Institutionen ergibt parteilichkeit. Parteienstaatliche Institutio- sich in der Längsschnittbetrachtung das ver- nen hingegen werden gemeinhin mit Macht- traute Verteilungsbild: Die ost- und westdeut- spielen, „eigensüchtigen“ Interessenkämpfen schen Linien „mäandern“ entlang des glei- und Parteilichkeit identifiziert, mithin sol- chen Verlaufsmusters. Dabei erweist sich die chen „unsachlichen“ Ausstattungsmerkma- Sichtweise der Ostdeutschen als ausdauernd len, die generell eher Misstrauen wecken. skeptischer, kritischer und distanzierter. Der Ost-West-Abstand verkleinert sich im Laufe Diese Rangfolge wird während der zweiein- der Jahre, ohne gänzlich zu ­verschwinden. halb Jahrzehnte seit der Einheit bundesweit in Umfragen stabil erkennbar. Zwar lag das Ver- Während sich beim Vertrauen in die Bun- trauensniveau in Ostdeutschland durchgehend desregierung über den gesamten betrachteten niedriger, doch fielen die seinerzeit feststell- Zeitraum hinweg eine leicht steigende, zuletzt baren Ost-West-Unterschiede im Institutio- die Wendemarke zum positiven Wertungsbe- nenvertrauen insgesamt vergleichsweise gering reich streifende Tendenz abzeichnet, hat sich aus. Allerdings existierten zunächst deutliche die Vertrauenskurve für Politiker und Partei- qualitative Unterschiede zwischen beiden Tei- en, die nach der Jahrtausendwende stark nach len des Landes. Diese Unterschiede bestanden unten abknickte, bis heute nur mäßig erholt. darin, „dass die westdeutsche Bevölkerung den politischen Institutionen mehr Vertrauen als In der Gesamtschau des Institutionen- Misstrauen entgegenbrachte, während es sich vertrauens treten gegenwärtig, gemessen an im östlichen Landesteil umgekehrt verhielt“.­ ❙7 den Daten der Bevölkerungsbefragung vom Herbst 2014, zwischen Ost- und Westdeutsch- ❙7 Ebd., S. 202. land fast keine Unterschiede mehr auf. Mehr

APuZ 33–34/2015 39 Abbildung 4: Mitgliedschaft/Mitarbeit in einer politischen Partei (Angaben in Prozent) – Metatrendlinien Ost und West

10 Metatrend West Metatrend Ost

7,5

5

2,5

0 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012

Quelle: Projekt Deutschland 2014, eigene Berechnungen auf Basis des ALLBUS, des ESS, des Freiwilligen- survey (FWS) und der Kommission für die Erforschung des Sozialen und Politischen Wandels in den Neuen Bundesländern e. V. (KSPW)

noch: „Für keine Institution findet sich die aus An einer (genehmigten) Demonstration früheren Untersuchungen bekannte Konstel- teilzunehmen, ist eine typische Ausdrucks- lation, dass im Westen Vertrauen, im Osten form demokratischen bürgerschaftlichen aber Misstrauen ü­ berwiegt.“ ❙8 Engagements. Dass Ostdeutsche im Eini- gungsjahr 1990 angeben, sehr viel häufi- ger als Westdeutsche für ihre Rechte auf die Partizipation Straße gegangen zu sein beziehungsweise innerhalb der letzten zwölf Monate demons- Betrachtet man anhand der von der Parteien- triert zu haben, spiegelt die Massenproteste forschung kontinuierlich erhobenen Daten zur in der DDR während der Um­bruchs­phase Parteimitgliedschaft „den gesamten Zeitraum wider. Nachdem diese außeralltägliche Situ- seit 1990, so haben alle Parteien außer den Grü- ation verklungen war, glichen sich die De- nen Mitglieder verloren“, und dies in teilwei- monstrationsraten für West und Ost bald se drastischem Ausmaß. ❙9 Die für die Zeit von einander an, wenngleich die ostdeutsche 1990 bis 2012 ermittelten Daten über Mitglied- Kurve punktuell „unruhiger“ verlaufen ist. schaft beziehungsweise Mitarbeit in einer po- Über die Zeit seit 1990 betrachtet ist die De- litischen Partei (Abbildung 4) widersprechen monstrationskurve landesweit moderat zu- dem stetigen Abwärtstrend der Mitglieder- rückgegangen, wobei zwischen Ost- und zahlen nur scheinbar. Tatsächlich sind die ab- Westdeutschland 2012 kein Unterschied gebildeten Umfragedaten, die Gesamtjahres- mehr besteht. bilanzen der Parteien ergänzend, insofern von zusätzlicher Aussagekraft, als sie über die Fluk- tuation von Eintritts- und Austrittsbewegun- Frauen- und Familienbild: Ostdeutsch- gen beziehungsweise Schwankungen der zeitli- land als gesamtdeutscher Vorreiter chen Befristung individuellen Engagements in einer politischen Partei Aufschluss geben. In der Familien- und Berufsforschung wird zwischen einem „traditionellen“ und einem „modernen“ Verständnis der Geschlechter- ❙8 Ebd., S. 203. ❙9 Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im rollen unterschieden. Während das altherge- Jahr 2013, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, (2014) brachte männliche Ernährermodell der Frau 2, S. 416. die außerberuflichen Aufgaben der Haus-

40 APuZ 33–34/2015 Abbildung 5: Hausfrau und Mutter als weibliches Lebensideal? Metatrendlinien Ost und West sowie gesamtdeutsche Metatrendlinien männlich/weiblich (Mittelwerte ausgewählter Datensätze auf einer rekodierten Skala von –2 stimme gar nicht zu bis +2 stimme voll zu) 2 Metatrend weiblich gesamtdt. Metatrend männlich gesamtdt. Metatrend West Metatrend Ost

1

0

–1

–2 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012

Quelle: Projekt Deutschland 2014, eigene Berechnungen auf der Basis von Allbus und EVS

Abbildung 6: Mutterschaft und Erwerbstätigkeit der Frau sind gut miteinander ver- einbar. Metatrendlinien Ost und West sowie gesamtdeutsche Metatrendlinien weiblich/ männlich (Mittelwerte ausgewählter Datensätze auf einer rekodierten Skala von –2 ­stimme gar nicht zu bis +2 stimme voll zu)

2

1

0

–1

Metatrend weiblich gesamtdt. Metatrend männlich gesamtdt. Metatrend West Metatrend Ost

–2 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012

Quelle: Projekt Deutschland 2014, eigene Berechnungen auf der Basis von Allbus und EVS

APuZ 33–34/2015 41 haltsführung und Kindererziehung zuweist, den Wunschbildes“ blickten im Frühjahr geht das Doppelverdienermodell mit der Vor- 1990 über 90 Prozent aller Ostdeutschen der stellung einer egalitären, das heißt nicht ge- sich anbahnenden Einheit mit Freude oder schlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Beruf sehr großer Freude entgegen. Auch in West- und Familie einher. deutschland überwogen damals zwar ein- deutig die zustimmenden Gefühle (knapp Die Meta-Analyse der Einstellungsda- 75 Prozent), fast ein Viertel äußerte sich in- ten zeigt, dass sich die deutsche Gesellschaft des kritisch (rund 12 Prozent) oder gleich- vom früheren Lebensideal der Frau als Haus- gültig (rund 14 Prozent). ❙10 frau und Mutter mehr und mehr verabschie- det. Vor allem in Ostdeutschland wird, von Fast zweieinhalb Jahrzehnte später ist die Frauen wie Männern, einem emanzipati- Ost-West-Differenz bei dieser Frage einge- ven Rollenbild der Vorzug gegeben (Abbil- ebnet. Jeweils vier von fünf Ost- wie West- dung 5). Die Metatrendlinie Ost liegt seit An- deutschen geben 2014 an, dass für das Land fang der 1990er Jahre entsprechend konstant „alles in allem eher die Vorteile der Einigung unter der Metatrendlinie West. Drei Befun- überwiegen“. Erkennbar ist dabei ein Zu- de sind bemerkenswert: Zum einen sind ost- sammenhang mit dem formalen Bildungs- wie westdeutsche Frauen kontinuierlich fort- grad: Befragte mit Hauptschulabschluss äu- schrittlicher eingestellt als Männer in beiden ßern sich kritischer als Abiturienten und Landesteilen. Zum anderen hat sich der Wes- Studierte. ten Deutschlands insgesamt einem egalitären Familien- und Frauenbild erkennbar angenä- Dass die Einigung sich „für sie persönlich“ hert. Wir deuten diese Entwicklung als nach- vorteilhaft ausgewirkt habe, bejahen mehr holende Modernisierung. Da sich, drittens, Ostdeutsche (77 Prozent) als Westdeutsche aber auch Ostdeutschland weiter in dieselbe (62 Prozent). Aufgefordert, ein jeweils eige- Richtung bewegt, hat kein Aufholen statt- nes Einigungsfazit sowohl für den eigenen gefunden, sondern es bleibt in den Einstel- als auch den anderen Landesteil zu ziehen, lungslinien eine Differenz. sehen einesteils Ost- wie Westdeutsche uni- sono einen größeren Gewinn für den Os- Weitere Indikatoren bestätigen den ge- ten des Landes (Abbildung 7). Andererseits samtdeutschen Einstellungswandel hin zu fällt auf, dass fast jede(r) dritte Westdeutsche einem egalitären Verständnis der Geschlech- (29 Prozent) für den westlichen Teil des Lan- terrollen wie auch den Befund, dass Ost- des eher nachteilige Auswirkungen der Wie- deutsche in diesem Punkt von Anfang an dervereinigung annimmt. Der ostdeutsche einen Vorsprung halten. Heute sind Män- Vergleichswert liegt niedriger, nämlich bei ner wie Frauen in Ost- und Westdeutsch- 19 Prozent. land überzeugt, dass sich Mutterschaft und Erwerbstätigkeit der Frau gut miteinander Westdeutsche beklagen demzufolge häu- vereinbaren lassen (Abbildung 6). Auch hier figer einigungsbedingte Nachteile für ihren sprechen sich in beiden Teilen des Landes Landesteil als Ostdeutsche. Folgende Er- Frauen häufiger als Männer für eine solche klärung bietet sich hierfür an: Während im Vereinbarkeit aus, aber im Westen Deutsch- Osten Deutschlands die dort in den 1990er lands ist der Vorsprung der Frauen vor den Jahren massenhaft erlebten Folgen der öko- Männern größer. Westdeutsche Frauen sehen nomischen und sozialen Transformationskri- sich ersichtlich häufiger in der Funktion von se inzwischen weitgehend abgeklungen sind „Pionieren“ eines für sie vorteilhaften Rol- beziehungsweise von wirtschaftlicher Kon- lenwandels. solidierung überlagert werden, ist in West- deutschland die öffentliche Debatte um eine regional „gerechtere“ Verteilung finanziel- Die deutsche Einheit: ler Ressourcen, nach gemeinsamem Schul- mehr Vorteile oder mehr Nachteile? tern der Teilungslasten, erst unlängst eröff- net worden. Wie anfangs angemerkt hat sich die Bevöl- kerung der DDR vor 1990 stets mehrheit- ❙10 Vgl. Rudolf Wildenmann, Datensatz Politische lich die Wiedervereinigung gewünscht. In Einstellungen in Ost und West März 1990, GESIS- der Verlängerung dieses „immerwähren- Studiennummer ZA 1902.

42 APuZ 33–34/2015 Abbildung 7: Wiedervereinigung: Vorteil oder Nachteil für Ost- beziehungsweise West- deutschland? (2014, Nennungen in Prozent)

Beurteilung der Wiedervereinigung Beurteilung der Wiedervereinigung aus aus der Sicht der Ostdeutschen der Sicht der Westdeutschen 100

80

Vorteile überwiegen 60 60 72 79 64 Weder noch

40 Nachteile überwiegen 9

20 6 6 3 29 19 15 13 0 Für Ostdeutschland Für Westdeutschland Für Ostdeutschland Für Westdeutschland

Quelle: Projekt Deutschland 2014, Endbericht, S. 177

DDR und Bundesrepublik und insbesondere Chancen für persönlichen Aufstieg sowie bemerkenswerterweise auch im persönlichen Systemvergleich Gleichberechtigung der Geschlechter neigt sich die Waagschale zugunsten der alten Bundesre- Fast 25 Jahre nach dem Vollzug der deut- publik. Mit der DDR werden aus ostdeutscher schen Einheit hat die Beantwortung der Fra- Sicht rückblickend mehrheitlich Systemvorteile ge, ob sich seit der Wiedervereinigung für die in den Bereichen soziale Gerechtigkeit, soziale Deutschen die Lebensbedingungen in ihrem Absicherung, Schutz vor Verbrechen, Kinder- jeweiligen Landesteil verändert, das heißt betreuung, Bildung und sozialer Zusammen- konkret verbessert oder verschlechtert ha- halt verbunden (ohne Abbildung). Wird jedoch ben, eine erfahrungsgesättigte Aussagekraft. beim 35. Lebensjahr eine Trennlinie gezogen, Die Ausgangslage für einen solchen individu- so erweist sich, dass es vor allem ältere Ost- ellen „Systemtest“ ist für Westdeutsche und deutsche sind, die für die DDR obigen Bonus Ostdeutsche indes unterschiedlich. Während vergeben. Demgegenüber hat sich für jüngere Ostdeutsche, zumal ältere, die heutigen Be- Ostdeutsche bis auf die Bereiche Bildung, so- dingungen mit den damaligen der DDR in zialer Zusammenhalt und Kinderbetreuung die Beziehung setzen und insofern einen tatsäch- Lebenssituation im geeinten Deutschland ver- lichen Systemvergleich vornehmen, verglei- bessert (Abbildungen 8 und 9). chen Westdeutsche vergangene und aktuel- le Leistungsangebote und -mängel innerhalb In Westdeutschland ist diese Scheidelinie ihres unverändert fortbestehenden politi- in der Bilanz der Generationen noch stärker schen und wirtschaftlichen Systems. ausgeprägt: Hier hat sich für unter 35-Jährige mehrheitlich die Lebenslage in sämtlichen ab- Der persönliche Vergleich der Systeme fällt gefragten Bereichen, ausgenommen mensch- aus Sicht der ostdeutschen Bevölkerung im licher Zusammenhalt, seit 1990 verbessert. Gesamtbild zwiespältig aus: Bei den Faktoren Ältere Westdeutsche hingegen schätzen, ähn- Anerkennung persönlicher Leistungen, sozi- lich wie ihre ostdeutschen Landsleute, die ales Wohlbefinden, Gesundheitsversorgung Entwicklung, die Deutschland nach 1990 ge-

APuZ 33–34/2015 43 Abbildung 8: Systemvergleich DDR/Bundesrepublik/bis 34-Jährige – Ostdeutschland (2014, Nennungen in Prozent)

Lage nach 1990 verschlechtert Lage nach 1990 verbessert

Chancen für persönlichen Aufstieg 79,2

Anerkennung persönlicher Leistungen 44

soziale Gerechtigkeit 48,4

soziale Absicherung 47,3

Schutz vor Verbrechen 42,9

Kinderbetreuung 57,2

Zusammenhalt der Menschen 59,4

Bildungssystem 44

Gesundheitswesen 59,4

Wohlbefinden in der Gesellschaft 50,6

Gleichberechtigung der Geschlechter 58,3

Quelle: Projekt Deutschland 2014, Endbericht, S. 171

Abbildung 9: Systemvergleich DDR/Bundesrepublik/ab 35-Jährige – Ostdeutschland (2014, Nennungen in Prozent)

Lage nach 1990 verschlechte rt Lage nach 1990 verbessert

Chancen für persönlichen Aufstieg 64,5

Anerkennung persönlicher Leistungen 33,2

soziale Gerechtigkeit 56,1

soziale Absicherung 47,6

Schutz vor Verbrechen 58,6

Kinderbetreuung 55,2

Zusammenhalt der Menschen 70,4

Bildungssystem 58,8

Gesundheitswesen 43,3

Wohlbefinden in der Gesellschaft 44,1

Gleichberechtigung der Geschlechter 31

Quelle: Projekt Deutschland 2014, Endbericht, S. 172

44 APuZ 33–34/2015 Abbildung 10: Bilanz vor/nach 1990: ab 35-Jährige – Westdeutschland (2014, Nennungen in Prozent)

Lage nach 1990 verschlechtert Lage nach 1990 verbessert

Chancen für persönlichen Aufstieg 35,5

Anerkennung persönlicher Leistungen 23

soziale Gerechtigkeit 47,2

soziale Absicherung 49

Schutz vor Verbrechen 33,3

Kinderbetreuung 63,8

Zusammenhalt der Menschen 35,2

Bildungssystem 41,7

Gesundheitswesen 50,4

Wohlbefinden in der Gesellschaft 28,9

Gleichberechtigung der Geschlechter 62,5

Quelle: Projekt Deutschland 2014, Endbericht, S. 175

nommen hat, überwiegend kritisch ein (Ab- tet zuversichtliche Sicht auf die allgemeinen bildung 10). Allerdings sind es nicht durch- wie persönlichen Lebensbedingungen. Bedient gehend dieselben Lebensbereiche, denen eine wird dadurch ein elementares Grundbedürf- Verschlechterung attestiert wird. Ein besse- nis nach Sicherheit, welches in beiden Teilen res gesellschaftliches Klima, persönliche Auf- Deutschlands seit jeher vorherrscht, das je- stiegschancen sowie insbesondere Gleichbe- doch in Ostdeutschland infolge der dort in den rechtigung und Kinderbetreuung werden aus 1990er Jahren erfahrenen Lebensrisiken beson- westdeutscher Sicht auf der Habenseite ver- ders dominiert. Aktuell ist zu beobachten, dass bucht. Umgekehrt werden in punkto sozia- wachsende Zahlen zuwandernder Flüchtlinge ler Sicherheit, Verbrechensbekämpfung sowie von Teilen einer Gesellschaft, die die Erfah- Bildung und Gesundheit Fehlentwicklungen rungen der Transformationskrise der 1990er festgestellt. Diese Bilanz darf nicht mit einer Jahre noch im Gedächtnis hat, als Bedrohung Bewertung der Einheit im engeren Sinne ver- der wieder erlangten Zustände sicheren Lebens wechselt werden. Vielmehr kommt hier zum wahrgenommen werden. ❙11 Vereinzelte Hin- Ausdruck, dass die politische Gesamtleistung weise darauf enthält auch unsere Meta-Analy- der (wechselnden) Regierungen im Zeitver- se der Umfragedaten: So ist beispielsweise für lauf in manchem negativ und in manchem als die Zeitspanne von 2010 auf 2012 ein Anstieg vorteilhaft eingeschätzt wird. fremdenfeindlicher Einstellungen feststell- bar. ❙12 Eine Umkehr des langfristigen Trends lässt sich daraus freilich nicht ­ablesen. Ausblick

11 Alles in allem zeichnen die von uns herange- ❙ Vgl. Heinrich Best/Everhard Holtmann, Aufbruch zogenen Einstellungsdaten weithin das Bild der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung, Frank­furt/M.–New York 2012. einer gesamtdeutsch gefestigten Demokratie. ❙12 Vgl. E. Holtmann et al. (Anm. 2), S. 162 ff. Die erreichten Zuwächse an demokratischer Stabilität sind eingebettet in eine weitverbrei-

APuZ 33–34/2015 45 August Pradetto tig zusammengehalten durch den als geo- politische Auseinandersetzung inszenier- ten Konflikt im Südosten der Ukraine. Die Ost-West-Beziehun- Organisation für Sicherheit und Zusam- menarbeit in Europa (OSZE) ist infolge di- vergierender Vorstellungen und Politiken gen und deutsche weitgehend handlungsunfähig. Rechtsgrund- sätze werden, wo es opportun erscheint, viel- Außenpolitik seit der fach gebrochen. Der Rechtsbruch wird mit Begründungen vollzogen, die einen humani- tären Ausnahmefall (Kosovo-Krieg, NATO), Wiedervereinigung eine präventive Verteidigungsnotwendig- keit (Irak-Krieg, USA), einen unabdingbaren „Schutz von Landsleuten“ (Krim-Annexion, Essay Russland), eine „internationale Verantwor- tung“ oder auch eine „Weiterentwicklung st-West-Beziehungen“ ist eigentlich ein des Völkerrechts“ (Libyen-Krieg, Frankreich OBegriff aus dem Kalten Krieg, der vor und Großbritannien) konstruieren. De facto allem seit der Ukraine-Krise 2014 eine Re- werden neue Doktrinen beschränkter Souve- naissance erlebt. Ge- ränität postuliert. August Pradetto meint sind die Bezie- Dr. phil., geb. 1949; Universitäts- hungen zwischen dem Für die deutsche Politik war nach der Wie- professor em. für Politikwissen- Ost- und dem West- dervereinigung 1990 die Herstellung der inne- schaft, Institut für Internationale block nach dem Zwei- ren Einheit so bedeutsam wie die Selbsteinord- Politik der Helmut-Schmidt- ten Weltkrieg bis Ende nung des nunmehr wieder zur „Zentralmacht Universität, Holsten­hofweg 85, der 1980er Jahre be- Europas“ (Hans-Peter Schwarz) aufgestiege- 22043 ­Hamburg. ziehungsweise zwi- nen Landes in sein ebenfalls neues Umfeld. [email protected] schen Russland und Beides bewältigte die deutsche Politik in ei- den USA, der NATO nem bemerkenswerten Maße. Die Beibehal- und der Europäischen Union heute. 1990 war tung des Status als NATO-Mitglied für das eine „neue Weltordnung“ verkündet wor- wiedervereinigte Deutschland, der Verzicht den, die sich vor allem durch ökonomische auf Nuklearwaffen und der Vertrag über und sicherheitspolitische Kooperation zwi- Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) schen den vormaligen Gegnern in Ost und trugen zur Friktionsarmut bei der Auflö- West, die Beachtung internationaler Normen sung des Warschauer Pakts 1991 und damit und durch eine „gerechte Entwicklung“ als zur Wiederherstellung der Souveränität Po- Grundlage für Frieden und Wohlstand in der lens, der Tschechoslowakei, Ungarns, Bul- Welt auszeichnen sollte. Auf Basis zuvor im gariens und Rumäniens bei. Die Selbstein- transatlantischen Raum und in Europa etab- bindung Gesamtdeutschlands in Europa und lierter Regelsysteme und Institutionen öffne- in die transatlantischen Strukturen war zu- te sich für den Alten Kontinent und für die gleich Grundlage für die weitere vertrauens- deutsche Außenpolitik ein window of oppor- volle Zusammenarbeit mit alten und neuen tunity, das historisch präzedenzlos war. Die Partnern. Voraussetzungen für eine gesamteuropäische und darüber hinausgreifende Ordnung von Berlin wurde der Hauptpromotor der post- Vancouver bis Wladiwostok schienen gut wie kommunistischen Nachbarn auf ihrem „Weg nie. nach Europa“. Eine insgesamt erfolgreiche Nachbarschaftspolitik entkrampfte das Ver- Von dieser Aufbruchsstimmung ist 2015 hältnis zwischen dem vergrößerten Deutsch- wenig übrig. Die EU ist in der tiefsten Kri- land und seiner Umgebung und mündete in se seit ihrem Bestehen, die NATO ist trotz einer „Zivilisierung“ auch der sicherheitspo- aller Beschwörungen zur Eintracht in Ko- litischen und militärischen Lage in Europa. alitionen von Willigen und Unwilligen, von Das deutsche Bemühen um eine Vertiefung (in Anlehnung an John George Stoessingers der Integration Europas, die das „europä- gleichnamige Studie von 1979) crusaders und ische Projekt“ irreversibel machen und als pragmatists gespalten, gegenwärtig notdürf- richtungsweisendes Gemeinschaftsprojekt

46 APuZ 33–34/2015 etablieren sollte, manifestierte sich unter das nur etwa 1,3 Prozent zum Bruttoinlands- anderem in den schon 1992 getroffenen Be- produkt (BIP) der EU beiträgt, die Angst vor schlüssen über die Einführung einer gemein- dem Zusammenbruch des Gesamtsystems samen europäischen Währung und den Be- evoziert. Das Umfeld südlich und östlich des mühungen um eine gemeinsame politische Mittelmeers ist in einem solchen Zustand, dass Verfasstheit. Hunderttausende auf der Flucht nach Europa ihr Leben riskieren. Wirtschaftliche, soziale, Mit der insbesondere von Deutschland administrative und politische Instabilität, die advokierten Erweiterung von NATO und Proliferation riesiger Waffenarsenale, Radika- EU wurde den mittel- und osteuropäischen lisierung, Bürgerkriege, Stellvertreterkriege Transformationsstaaten eine sicherheitspoli- und Terrorismus haben dort ein dramatisches tische, politische und ökonomische Perspek- Ausmaß angenommen. In Osteuropa bau- tive gegeben, die den Umgestaltungsprozess en sich wieder militärische Spannungen und stimulierte und erleichterte. Nach den Auf- Konfrontationen auf. Die Ukraine ist zum nahmewellen 2004 und 2007 umfasste die EU geopolitischen Kampffeld zwischen Russland 28 Mitglieder, fast doppelt so viele wie 1995. und dem Westen geworden. Das Verhältnis Die NATO wuchs bis 2009 ebenfalls auf 28 zu Russland ist so schlecht wie seit mehr als Mitglieder an. 30 Jahren nicht. NATO und EU sind gespal- ten in der Frage, wie mit den genannten He- So ist nicht zuletzt der deutschen Außen- rausforderungen umzugehen ist. politik zuzuschreiben, dass das Land wenige Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges nur Im Folgenden wird insbesondere nach- noch von Freunden umgeben und mit ihnen zuvollziehen versucht, warum sich die Ost- in institutionalisierter Weise verflochten und West-Beziehungen vor allem in den vergan- damit gleichzeitig zu einem Stabilitäts- und genen 15 Jahren so verschlechtert haben. Führungsfaktor in der schwierigen Phase der Diese Entwicklung wird zur Krisenhaftig- Neugestaltung des Kontinents und damit der keit in den anderen genannten Bereichen Ost-West-Beziehungen geworden war. Auch deutscher beziehungsweise westlicher Au- Russland wurde im Zuge dieser Entwicklung ßenpolitik in Relation gesetzt. Ein Fazit der zu einem „strategischen Partner“. Die „deut- Analyse lautet, dass eine zunehmend volun- sche Frage“, die Europa und die Welt mehr als taristische Politik, das Missverhältnis von ein Jahrhundert lang umgetrieben hatte und Superioritätsambition und realer Gestal- die in dieser Zeit eine zentrale Determinan- tungsmacht sowie eine Überlagerung von te von Krisen und Kriegen gewesen war, war Verantwortungs- durch Gesinnungspolitik endlich gelöst. zur Entfaltung negativer Entwicklungen in allen Bereichen beigetragen und sie wechsel- Dieses Narrativ ist keineswegs falsch. seitig verstärkt haben. Deutsche Außenpolitik hat im vergange- nen Vierteljahrhundert einen substanziel- len Beitrag zur Neugestaltung Europas und Die 1990er Jahre: des transatlantischen Raums geleistet. Da- das Jahrzehnt Europas? rüber hinaus hat Deutschland in besonderer Weise zum Abschluss internationaler Klima­ Moskau befand sich nach dem Ende des Kal- abkommen und zur Verankerung internatio- ten Krieges in jeder Hinsicht auf dem Rück- naler Strafgerichtsbarkeit beigetragen. Dass zug. Mit der Auflösung von Warschauer Pakt dieses Narrativ unvollständig ist, ist indes und So­wjet­union verlor es sein strategisches auch evident. Vorfeld, die russischen Truppen zogen sich zurück, die Wirtschaft erlitt einen schwer- Denn 25 Jahre nach den fundamentalen wiegenden Einbruch. Umbrüchen in Europa – und diese Diskre- panz ist der Ausgangspunkt für die nachfol- Gleichzeitig war Russland noch immer genden Überlegungen – ist die deutsche Au- eine militärische Supermacht mit einem Ar- ßenpolitik vor allem mit Krisen konfrontiert. senal an Nuklearwaffen und einer giganti- Die 19 Länder umfassende Eurozone ist in ei- schen Armee. Angesichts der innenpolitischen nem so schlechten Zustand, dass der mögli- Verfasstheit und außenpolitisch geschrumpf- che Ausstieg eines Mitglieds, Griechenlands, ter Aktionsräume stellte dies eine Bürde dar,

APuZ 33–34/2015 47 die in den Folgejahren reduziert wurde. Heu- cherheit neuer Mitglieder, die die NATO- te ist der Verteidigungshaushalt geringer als Grenze nach Osten verschoben, erfuhren der Großbritanniens, Frankreichs oder Japans wieder eine stärkere Betonung. und etwas höher als der Saudi-Arabiens oder Deutschlands. Aber er beträgt nicht einmal ein Damit wurde das von Deutschland und an- Zehntel des Verteidigungsbudgets der USA – deren gerade mit Blick auf eine Entmilitarisie- gemessen am BIP gleichwohl eine hohe Rate. rung der europäischen Sicherheitspolitik und auf Vertrauensbildung zielende Projekt einer Versuche, diesen Rückzug aufzufangen „Politisierung“ der NATO (im Gegensatz zur und sich als Weltmacht zu reetablieren, ge- Dominanz der militärischen Dimension) und langen kaum. Der Aufbau der Gemeinschaft einer „Europäisierung“ (im Gegensatz zur Unabhängiger Staaten (GUS), der Organisa- Dominanz der USA in der Allianz) schnell tion für Verteidigung und Kollektive Sicher- relativiert. Das heißt, nach einem Trend hin heit (OVKS), Shanghai Five, aus der dann die zu einer Europäisierung der NATO gab es Shanghai Cooperation Organization (SCO) ab spätestens 1997, als der Beschluss über die wurde (zusammen mit China und zentralasi- Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechi- atischen Staaten), wirtschaftliche Koopera- schen Republik getroffen wurde, wieder einen tionsforen und dergleichen stellten nur be- Trend zu einer „Reamerikanisierung“. dingt und eher punktuell einen Ersatz für die vormalige Integration im regionalen Rahmen Der erste manifeste Bruch zwischen Russ- dar. In der Frage der postbipolaren Gestal- land und dem Westen kam durch den Kri- tung Europas und seines Umfeldes, auf dem senfall Kosovo. Ab Juni 1998 unterstützte Gebiet der Sicherheitspolitik wie in militäri- Washington gegen Serbien die albanische Se- scher Hinsicht geriet Moskau also evident ins zessionsorganisation UCK. Als Belgrad das Hintertreffen. Territorium des Kosovo nicht freiwillig ab- trat, wo sich aufgrund der gewaltsamen Aus- Dem gegenüber waren die 1990er Jahre einandersetzung zwischen Separatisten und für den Westen eine Phase intensiver Wer- serbischen Sicherheitskräften eine humanitäre teprojektion und Transformation vor allem Katastrophe anbahnte, beschloss die NATO im vormals kommunistischen Teil des Kon- gegen den Willen Russlands und ohne Man- tinents. Die westlichen Vorhaben wurden dat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen durch Unterstützungsleistungen, Aufbauhil- (VN) einen Krieg gegen Serbien. Der fakti- fen und die Finanzierung von Reformprojek- schen Abtrennung nach einem 77 Tage wäh- ten sowie ein Geflecht an Institutionen, vom renden Bombardement folgte später die völ- Europarat über die zur OSZE weiterentwi- kerrechtswidrige Anerkennung der Sezession ckelte KSZE als Organisation der wirtschaft- des Kosovo durch die meisten NATO-Länder. lichen, politischen und sicherheitspolitischen Kooperation von Vancouver bis Wladiwos- Insbesondere die deutsche Politik hatte tok bis hin zu NATO und Europäischer Uni- nach Kriegsbeginn im März 1999 versucht, on abgesichert. Moskau wieder „ins Boot zu holen“ und in Verhandlungen mit Serbien einzubinden, ers- Des Problems möglicher neuer Grenzzie- tens um möglichst schnell den Krieg zu be- hungen war man sich durchaus bewusst, zu- enden, und zweitens um das Zerwürfnis mit mal Moskau von Anfang an eine Ausdeh- Moskau abzumildern. Der gleichwohl offen- nung der NATO ablehnte. Zu entschärfen kundige Statusverlust Russlands auf interna- versuchte die NATO-Allianz den entstehen- tionaler Ebene wurde von einem Verfall im den Konflikt durch institutionalisierte Ko- Inneren begleitet, der zu schwersten ökono- operation auch mit Russland. Der beabsich- mischen, politischen und ethnischen Krisen tigte Ausgleich gelang schon deswegen nur und sogar zu internen militärischen Ausei- bedingt, weil durch den Beitritt der neuen nandersetzungen führte: dem Krieg gegen ostmitteleuropäischen Mitglieder und deren tschetschenische islamistische Separatisten sicherheitspolitischer US-Orientierung, ver- zuerst 1994 bis 1996, später von 1999 bis 2009. bunden mit einer sich von Russland abgren- zenden Rhetorik und Politik, die NATO sich Auch hier traten Dissonanzen mit dem stärker an Washington orientierte, als sie es Westen auf, zumindest bis zu den Terror- ohnehin schon tat. Fragen militärischer Si- anschlägen auf New York und Washington

48 APuZ 33–34/2015 im September 2001. Moskau nahm es als an- 2000 Präsident. Ein halbes Jahr später wiede- tirussische Haltung wahr, dass im Westen rum setzte sich in den USA der Republika- mehr Verständnis für tschetschenische Sepa- ner George W. Bush gegen den amtierenden ratisten, die auch mit terroristischen Akten in demokratischen Vizepräsidenten Al Gore Russland ihre Ziele durchzusetzen suchten, durch. aufgebracht wurde als für die entsprechenden russischen Reaktionen. Damit kamen zwei Politiker an die Spitze zweier sich nach wie vor als Weltmächte be- Betrachtet man die europäische Entwick- greifender Nationen, die dieser Eigenwahr- lung in den 1990er Jahren unter dem Aspekt nehmung in nachdrücklicherer Weise gerecht der Veränderung der dominierenden Ak- werden wollten, als dies bei ihren Vorgängern teurskonstellation, so ist Folgendes festzu- der Fall gewesen war. Eine Dimension dieses halten. Diese Phase war nicht nur eine der Anspruchs bestand in der Stärkung des mili- Einflussminderung Moskaus, sondern parti- tärischen Sektors. Putin erhöhte die Verteidi- ell und in der ersten Hälfte der 1990er Jahre gungsausgaben in den folgenden Jahren, un- auch des Rückzugs der USA aus der europä- ter Bush explodierte der US-Rüstungsetat. ischen Entwicklung. Mit der NATO-Oster- weiterung und dem Kosovo-Krieg waren die Auch wenn nach den Zerwürfnissen im USA dann allerdings zurück auf der europäi- Kosovo-Krieg die beiden neuen Präsiden- schen Bühne und die Basis für eine Konflikt- ten den Personalwechsel für einen reset zu lage mit Moskau war gelegt. nutzen versuchten und sich offenbar per- sönlich gut verstanden, setzten schnell neue Spannungen ein. Zwar wurden die Differen- Rückkehr der Großmächte und zen nach „9/11“ durch die von beiden Seiten der Geopolitik in den 2000er Jahren gewollte Kooperation bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus relativiert. Im Vergleich können die 1990er Jahre den- Aber in der Frage des Wie gab es wenig Ei- noch als „Jahrzehnt Europas“ bezeichnet wer- nigkeit. Schon die Reaktion auf den Krieg den, das ungeachtet der zunehmenden Invol- gegen die Taliban in Afghanistan und Pa- viertheit der USA in hohem Maße von einer kistan zeigte das Aufleben geopolitischer ökonomischen, politischen und sicherheits- Wahrnehmungen. Moskau äußerte Befürch- politischen Selbstorganisation des Kontinents tungen, die USA könnten sich in Zentral- geprägt war und für die die deutsche Außen- asien festzusetzen versuchen. Konsequenz politik wesentliche Impulse setzen konnte. war eine ambivalente Politik, die USA bei der Intervention einerseits logistisch zu un- Für die EU galt dies auch in den 2000er Jah- terstützen und andererseits schon bald zu ren insofern, als die zuvor im Osten Europas fordern, sie möge sich aus Zentral- und Süd- auf den Weg gebrachten Transformationspro- asien ­zurück­ziehen. zesse 2004 in der Aufnahme acht postkom- munistischer Länder – Estland, Lettland, Kurz nach der Afghanistan-Intervention Litauen, Polen, Tschechien, Slowenien, Slo- kamen zwei Paukenschläge, die die Differen- wakei und Ungarn – sowie von Malta und zen zwischen dem Westen und Russland ver- Zypern mündeten. 2007 folgten Rumänien größerten und simultan die Spielräume für und Bulgarien und schließlich 2013 Kroatien. europäische und deutsche Außenpolitik ein- schränkten: erstens die ab Sommer 2002 lau- International, sicherheitspolitisch wie mi- fenden Vorbereitungen für einen Krieg gegen litärisch, veränderten sich allerdings Anfang den Irak, und dann im Herbst 2002 die For- der 2000er Jahre die strukturellen und Ak- derung Washingtons, in einem big bang eine teurskonstellationen erheblich, und dies hat- ganze Reihe postkommunistischer Länder in te massive Rückwirkungen auf Europa und die NATO aufzunehmen. Von beidem ließ die deutsche Außenpolitik. Wladimir Putin sich Washington weder von engen europäi- wurde acht Wochen nach Beendigung der schen Verbündeten und schon gar nicht von NATO-Luftangriffe auf die Bundesrepublik Moskau abbringen. Jugoslawien und dem Waffenstillstandsab- kommen mit Belgrad, also im August 1999, Die Ära George W. Bush beendete das in- russischer Ministerpräsident und im März tegrative „europäische Jahrzehnt“. Die Eu-

APuZ 33–34/2015 49 ropäer wurden von Washington vor die Ent- Schutz von Bevölkerungsgruppen und Ge- scheidung gestellt, für oder gegen dessen bieten auch außerhalb seiner Grenzen in der Entscheidungen zu sein, oder, wie es der da- Lage ist. malige Verteidigungsminister Donald Rums- feld formulierte, dem „alten“ oder dem „neu- Am Ende des Jahrzehnts hatten sich in en Europa“ anzugehören. großen Teilen des Westens wie in Mos- kau geopolitische Wahrnehmungsmuster Im Falle Afghanistans entschied sich die und entsprechende außenpolitische Reflexe Regierung Gerhard Schröder/Joschka Fi- durchgesetzt. In der globalen Ordnungspoli- scher im November 2001 noch für die USA, tik bestimmten wieder die USA die Agenda, beim anderthalb Jahre später folgenden Irak- in den sicherheitspolitischen Beziehungen Feldzug zusammen mit dem französischen zwischen West und Ost trat wieder das Ver- Präsidenten Jacques Chirac und anderen da- hältnis zwischen den USA und Russland in gegen. Der britische Premier Tony Blair, der den Vordergrund. In den internationalen Be- spanische Ministerpräsident José Maria Az- ziehungen, insbesondere in der Sicherheits- nar und andere sowie die neuen Allianzmit- politik, spielten Europa und die deutsche Po- glieder im Osten standen an der Seite der litik eine zunehmend marginale Rolle. Der Bush-Administration. Damit ging ein Riss Spagat, den die deutsche Außenpolitik in ih- durch die NATO und durch Europa. rer auf einen Kompromiss zwischen enger Verbundenheit mit den USA, europäischer Zwar blieben die USA schon nach kurzer Eigenständigkeit und Inklusion Russlands Zeit im Wüstensand des Afghanistan- und gerichteten Politik vollziehen wollte, wurde Irak-Krieges stecken. Das änderte nichts an immer größer. der geopolitischen Wahrnehmung in Mos- kau, dass sich die USA in Asien, im Nahen Osten und auch in Europa neue Stützpunkte Postbipolare Ordnung 2008 bis 2015: und Einflusszonen verschafften. Im März Vom „Reset“ zum „Failing System“? 2004 wurden die ehemaligen Sowjet­repu­ bli ­ken Estland, Lettland und Litauen sowie 2008 kam es wieder zu einem doppelten Per- Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slo- sonalwechsel bei den Großmächten. Dmitri wenien in die NATO aufgenommen. 2008 Medwedew wurde im März 2008 zum rus- setzte die US-amerikanische Seite eine Er- sischen Präsidenten gewählt, und Wladimir klärung durch, wonach die Ukraine und Ge- Putin wechselte vom Präsidenten- ins Minis- orgien – ohne Datumsnennung – Mitglieder terpräsidentenamt. Barack Obama schlug im werden sollten. Herbst 2008 bei der Wahl zum 44. Präsiden- ten der USA den von republikanischer Seite Den Georgien-Krieg im August 2008 wer- nominierten John McCain. Wie schon An- teten sowohl Russland als auch die USA als fang der 2000er Jahre wollten beide Seiten Bestätigung ihrer jeweiligen Auffassung. Der die Chance eines personellen Neubeginns Krieg um die seit Anfang der 1990er Jahre nutzen, um von der in den vorangegangenen abgespalteten Provinzen Abchasien und Süd- Jahren aufgebauten Konfrontation wegzu- ossetien wurde zwar vom georgischen Prä- kommen und die Kooperation wiederzube- sidenten Micheil Saakashvili in der irrigen leben. Auffassung angefangen, die NATO oder zu- mindest die USA würden wenn notwendig Am 20. Januar 2009 trat Barack Obama sein den georgischen Streitkräften beistehen. Im Amt an, und schon sechs Monate später gab Westen wurde gleichwohl zuerst vor allem es Vereinbarungen über nukleare Abrüstung Moskau die Schuld an der militärischen Aus- und eine Wiederaufnahme der (nach dem Ge- einandersetzung und der nun wohl auf länge- orgien-Krieg eingefrorenen) militärischen re Zeit nicht mehr revidierbaren Abspaltung Zusammenarbeit. Nach jahrelangen Protes- Südossetiens und Abchasiens angelastet. ten aus Moskau stoppte Washington im Sep- Moskau war zufrieden gezeigt zu haben, dass tember 2009 den geplanten Aufbau eines Ra- es sehr wohl zu schnellen militärischen Re- ketenschutzschirms in Polen und Tschechien. aktionen gegen den in seiner Sicht von Wa- Ein neuer Abrüstungsvertrag begrenzte die shington inspirierten „Aggressor“ und – an- Zahl der strategischen Atomwaffen auf bei- ders als im Fall des Kosovo-Krieges – zum den Seiten um ein Drittel auf 1500. Aus Mos-

50 APuZ 33–34/2015 kauer Sicht entspannte sich die Lage gleich- man noch verschlimmerte, waren die Um- zeitig insofern, als Georgien und die Ukraine brüche in der arabischen Welt. Die Macht­ von der NATO als Beitrittskandidaten auf eliten in den Ländern südlich und östlich des Eis gelegt wurden. Umso mehr galt dies nach Mittelmeers haben es verabsäumt, ihre Län- der Wahl von Wiktor Janukowitsch 2010 zum der so zu modernisieren, dass sie den ver- ukrainischen Präsidenten, der im Gegensatz änderten demografischen und globalisierten zu seinem Vorgänger eine gleichgewichtige Gegebenheiten gerecht werden können. Aber Politik zwischen dem Westen und Russland Konsens ist heute weitgehend auch, dass die und eine Brückenfunktion seines Landes westliche Interventionspolitik ein Faktor der zwischen West und Ost ­proklamierte. Destabilisierung von Nordwestafrika bis in den Mittleren Osten war. Massive Eingriffe, Dieser mit vielen Hoffnungen verbundene bis hin zu Kriegen, Besetzungen und regime Neubeginn schien auch die Chance für eine changes von Afghanistan über Irak, Syrien wieder eigenständigere Rolle Europas zu bie- bis Libyen, hatten katastrophale Folgen für ten. Derartige Erwartungen wurde praktisch die betroffenen Länder und hierüber für die simultan konterkariert: durch die 2008 von gesamte Region. den USA ausgehende Finanzsystemkrise, die schnell auf Europa und andere Teile der Welt- Das Ergebnis des Libyen-Krieges 2011 ökonomie übergriff; die politischen Eruptio- war ein Desaster, das nicht nur Libyen be- nen in Nordafrika sowie durch die Folgen der traf, sondern auf die ganze Region negative US-Interventionspolitik der 2000er Jahre im Auswirkungen zeitigte. Die Folgen bestan- Nahen Osten unter anderem im Zusammen- den in über die Grenzen des Landes hinaus- hang mit dem Rückzug der USA aus Irak; reichende Bürgerkriegsauseinandersetzun- und der gleichzeitig einsetzenden neuen Wel- gen und einem Chaos, das aus Libyen einen le von Interventionen in Nordafrika und im failed ­state machte, die Proliferation großer Nahen Osten. Waffenmengen und die Destabilisierung der angrenzenden Länder vorantrieb. Eine wei- Im Gefolge der Finanz- und Wirtschafts- tere Folge war ein Anschwellen der Flücht- krise verlor die EU an ökonomischer, sozialer lingsströme aus Nordafrika in die Länder und politischer Kohärenz. Die deutsche Poli- nördlich des Mittelmeers. Die EU zeigte sich tik spielte in dieser Krise eine problematische dann völlig überfordert von der Fluchtwelle, Rolle. Zuerst waren von der Einführung des die mittlerweile auf Hunderttausende ange- Euro bis zur Aufnahme diverser postkom- wachsen ist. munistischer Länder in die Union die recht- lichen und Kontrollmechanismen, die un- Ab Herbst 2013 versetzte die Ukraine- abdingbare Voraussetzungen für den Erfolg Krise der europäischen Politik und den Be- dieser Projekte darstellen, teils unzureichend ziehungen zwischen Russland und west- fixiert und verbindlich gemacht, teils nicht lichen Ländern einen weiteren schweren eingehalten worden. Als die Strukturdefekte Schlag. Unter Putin ist Russland autoritä- in akute Krisen umschlugen, verfolgte Berlin rer und imperialer geworden. Aber auch eine Strategie, die die Probleme in den betrof- hier hat die europäische und westliche Po- fenen Ländern eher verschärfte als abmilder- litik zur Krisenentwicklung beigetragen, te, was soziale Proteste sowie antieuropäi- wobei Bundeskanzlerin Angela Merkel und sche politische Bewegungen noch beförderte Außenminister Frank-Walter Steinmeier ab und den politischen Zusammenhalt unter den 2014 große – und zum Teil erfolgreiche – An- Mitgliedern minderte. Schließlich wurde das strengungen unternahmen, um die Eskalati- Dilemma zwischen dem Versuch, die Spielre- on e­ inzudämmen. geln zu wahren, und dem Gebot, Gläubiger- und Schuldnerländer beisammen zu halten, immer größer. Das griechische Drama über Faktoren des Versagens Austritt aus oder Verbleib in der Währungs- europäischer und deutscher Politik union 2015 war der vorläufige Höhe­punkt dieser Negativentwicklung. Als Fazit aus der Entwicklung seit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Wie- Die zweite große Herausforderung, der dervereinigung kann bilanziert werden, dass man nicht adäquat begegnete, sondern die alle drei zentralen Bezugspunkte deutscher

APuZ 33–34/2015 51 Außenpolitik – die Beziehungen zu Europa, seit der Ablehnung des Irak-Kriegs zum den USA und Russland – wie auch die regi- wichtigsten Gegenspieler derer geworden, onalen Schwerpunkte – außerhalb der EU die die NATO für geopolitische (oder/und liegendes Osteuropa, der Nahe Osten und persönliche) Ambitionen instrumentalisie- Nordafrika – nach einer positiven Entwick- ren wollen. Gleichzeitig wird die von Rechts- lung in den 1990er Jahren, die partiell in den grundsätzen und politischer Rationalität mo- 2000er Jahren weiterwirkte, gleichzeitig in tivierte Haltung vielfach durch die Faktoren eine negative Dynamik rutschten. Viele Span- Loyalität und Opportunität überlagert und nungen sind durch Verbündete Deutschlands konterkariert. Versicherungen, dass man das und eine unzulängliche Politik der EU-Insti- politische Ziel des Sturzes von Diktatoren wie tutionen ausgelöst worden. Die deutsche Po- Saddam Hussein, Muhammad Gaddafi oder litik hat es nicht geschafft, diesen Defiziten Baschar al-Assad teile, und die Vermeidung ausreichend entgegen zu wirken. Teilweise der Betonung von Rechtsgrundsätzen gegen- hat sie sie selbst befördert. über Verbündeten trugen bei zur Erosion von Rechtsgrundlagen, auf denen die gemeinsa- Überlagerung von Recht men Organisationen beruhen. durch Voluntarismus Die desaströsen Konsequenzen und Er- fahrungen der Einmischung in Afghanistan Die NATO unterlag im Verlauf ihrer post- und im Irak führten nicht zu einem Umden- bipolaren Entwicklung einem Prozess der ken bei tonangebenden westlichen Akteu- Geopolitisierung, der dann auch auf die EU ren, sondern zu einer Fortsetzung dieser abfärbte; die meisten NATO- sind ja auch Politik unter Vermeidung des Einsatzes ei- EU-Mitglieder. Europäischen Emanzipati- gener Bodentruppen. Die Unterstützung onsbestrebungen in außen-, sicherheits- und auch gewaltsamer Proteste gegen den ägyp- verteidigungspolitischen Fragen hatte Wa- tischen Präsidenten Husni Mubarak 2010, shington von Beginn an das Bestreben ent- der Libyen-Krieg 2011, die Bewaffnung von gegengestellt, die Union eng mit der NATO Aufständischen in Syrien ab 2012, der Fast- verbunden und damit dem Einfluss Washing- Krieg gegen Iran 2013, die Ausdehnung mi- tons unterstellt zu halten. litärischen Engagements bis nach Jemen und Subsahara-Afrika trugen wesentlich zur Tendenziell wurde die Allianz infolge der Destabilisierung der Lage bei. Zu den we- Geopolitisierung (verstanden als Schaffung nigen positiven Entwicklungen in der Regi- von Optionen, die über die konsentierte on zählte der Abschluss eines Abkommens Rechtsgrundlage „Selbstverteidigung“ hin- über das iranische Nuklearprogramm im ausgehen) und im Zuge der Erweiterung um Juli 2015, an dessen Zustandekommen auf neue Mitglieder zu einer „Baukasten-Orga- westlicher Seite die deutsche Politik maß- nisation“: Unterschiedliche Gruppen bedie- geblich beteiligt war. nen sich für unterschiedliche Zwecke je nach Bedarf des Potenzials, das die Organisation zur Verfügung stellt. Die Bildung von „Ko- Superioritätsambition alitionen der Willigen“ im Irak-Krieg oder und Gestaltungsmacht anfangs in Libyen sind dafür Beispiele. Die Geopolitisierung der Gesamtorganisation Der beschriebene Voluntarismus steht in Ver- wurde aber auch in der Übernahme der Füh- bindung mit einem weiteren Charakteristi- rung beispielsweise der International Secu- kum postbipolarer Ordnungspolitik, die sich rity Assistance Force (ISAF) in Afghanistan auf eine Weise bei der europäischen Integra- 2003 oder in Libyen drei Wochen nach Be- tion, auf andere Weise bei der Politik in au- ginn des zuerst vor allem von den Luftstreit- ßereuropäischen Regionen zeigte: eine zum kräften Frankreichs, der USA und Großbri- Teil groteske Überschätzung der eigenen tanniens geführten Krieges sichtbar. Möglichkeiten. In der deutschen Debatte hat es seit den 1990er Jahren warnende Stimmen Der deutsche Diskurs ist im Vergleich zu wie etwa die von Helmut Schmidt gegeben, dem anderer maßgebender Akteure in der statt weltpolitischer Ambitionen eine Poli- NATO wohl am stärksten von Rechts- und tik der Konzentration auf die eigenen (deut- Legitimitätsdebatten geprägt. Berlin ist zwar schen und europäischen) Angelegenheiten zu

52 APuZ 33–34/2015 verfolgen. Die Diskurshoheit erlangten indes Die aus der Perzeption eines „Endes der diejenigen, die für die Übernahme „interna- Geschichte“ abgeleitete Superioritätsattitü- tionaler Verantwortung“ auf globaler Ebene de und die Überzeugung, dass aus der an- nicht zuletzt in militärischer Hinsicht plä- genommenen Richtigkeit der eigenen Posi- dierten und – prestigeorientiert – „auf Au- tion auch das Recht zu ihrer unmittelbaren genhöhe“ mit anderen großen Mächten Welt- Umsetzung folge, ist eine Determinante ge- ordnungspolitik betreiben wollten. sinnungspolitischer Hybris. Eine zweite be- steht in überwältigenden ökonomischen und Bereits die Politik der Regierung Helmut militärischen Kapazitäten, mit denen dieser Kohl/Hans-Dietrich Genscher gegenüber Überzeugung Nachdruck verliehen werden Jugoslawien 1991 war von diesem Missver- kann. Der postbipolare Weltordnungsinter- hältnis zwischen Ambition und Kapazität ventionismus beansprucht Legitimität, weil geprägt. Die vorschnelle Anerkennung der er auf Menschenrechte und Demokratie ziele; Teilrepubliken Slowenien und Kroatien im die „Wertegemeinschaft des Westens“ müs- Herbst 1991 – gegen Absprachen in der Eu- se hierfür „internationale Verantwortung“ ropäischen Union – war nicht die Ursache wahrnehmen. Die Berufung auf Zugehörig- für die Kriegsentwicklung, verschärfte aber keit zu dieser Wertegemeinschaft ist vor al- die Krise und die gewaltsamen Auseinander- lem seit dem Kosovo-Krieg ein wesentlicher setzungen. Die gleiche Diskrepanz wurde in Bestandteil gesinnungspolitischer Legitimi- einer Wunschzettelpolitik gegenüber vor al- tätsproduktion. lem afrikanischen Ländern deutlich, die gute Regierungsführung, demokratische Wah- Auch die deutsche Außenpolitik hat im len, Eindämmung der Korruption und der- Verlauf der vergangenen 25 Jahre immer stär- gleichen zur Bedingung von Kooperation ker den Aspekt der „Wertegemeinschaft“ in erklärte. Die eigenen außenpolitischen Spiel- der Begründung eigener außenpolitischer räume wurden so oft nicht erweitert, son- Aktivitäten oder in Begründung der Unter- dern eingeengt. Versuche, die europäische stützung beziehungsweise der Nichtkritik Integration und die Aufnahme weiterer eu- rechtswidriger Aktivitäten von NATO- oder ropäischer Länder in die NATO voranzu- G7-Partnern betont. Zu dieser „Nahbe- treiben, hatten durchaus ihre Rationalität. reichsmoral“ gehört, ebenso komplementär Das Problem bestand in einer aus dem „Sieg wie scheinbar paradox, dass diejenigen, die im Kalten Krieg“ abgeleiteten Verabsolutie- nicht dieser Wertegemeinschaft angehören, rung eigener Systemmerkmale, einer feh- auf jene Rechts-, prozeduralen, Verfassungs- lerhaften Analogiebildung und Projektion oder Verantwortungsgrundsätze verpflich- sowie einer Fehleinschätzung eigener Ge- tet werden sollen, die man für sich selbst mit staltungskapazitäten. dem Hinweis auf die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft unter einen Opportunitäts- Verantwortungs- und vorbehalt stellt. Gesinnungspolitik Das gilt selbst dann, wenn Berlin implizit seine Missbilligung von Interventionen zum Im Sinne Max Webers kann auch von einer Ausdruck bringt, wie beispielsweise seine progressiven Überlagerung von Verantwor- Enthaltung bei der Libyen-Resolution 1973 tungs- durch Gesinnungspolitik gesprochen des Sicherheitsrats der VN 2011 zeigte, von werden. Gesinnungsethik beurteilt das poli- der man wusste, dass sie bloß der Rechtfer- tische Tun nach der Handlungsabsicht und tigung eines (illegalen) militärisch herbeige- mit Blick auf die Realisierung eigener Wer- führten Machtwechsels dienen sollte. Aus te, Verantwortungsethik bezieht in die poli- Loyalitätsgründen wurde diese Positionie- tische Entscheidung ihre (eingetretenen oder rung aber im gleichen Augenblick auch schon möglichen) Konsequenzen und Folgen ein. wieder relativiert, indem die Regierung An- Teile der Erweiterungspolitik der EU, die gela Merkel/Guido Westerwelle den Initia- Afghanistanpolitik, die Interventionspoli- toren des Libyen-Krieges, Nicolas Sarkozy, tik der vergangenen 15 Jahre in Nordafrika David Cameron und Barack Obama, die und im Nahen Osten bis zur Ukrainestrate- deutsche Ja-Stimme im Sicherheitsrat anbot, gie der EU lassen sich der Kategorie Gesin- sollte es bei den Quoten für Resolution 1973 nungspolitik zuordnen. knapp werden.

APuZ 33–34/2015 53 Aufbau einer europäischen Rechts- Der Schlüssel besteht in einer emanzipa- torischen Korrektur europäischer Innen- und Verantwortungsgemeinschaft und Außenpolitik: vom Vorrang einer ge- sinnungspolitisch determinierten westlichen In zwischenstaatlichen Beziehungen wie in Wertegemeinschaft zurück zu einer europä- einem Gemeinwesen ist eine auf den jeweili- ischen Rechts- und Verantwortungsgemein- gen Sachbereich bezogene kollektive „Basis­ schaft, ihrem Anspruch nach mit den USA identität“ die Voraussetzung für Koopera- wie auch mit Russland. Denn beide Akteu- tion. Sie resultiert aus dem gemeinsamen re werden von Deutschland und der EU für Verständnis und der Einhaltung bestimm- die Bewältigung akuter Krisen und zukünfti- ter Normen. In Europa sind das die Verträge, ger Aufgaben (auch gegenüber Dritten) drin- auf denen unter anderem das prekäre Verhält- gend benötigt. Gelingen kann dies nur dort, nis von Eigenverantwortung und Solidarität wo anstelle von Gesinnungspolitik akzep- ruht. Im Verhältnis zu Dritten sind es die tiert wird, dass die Basis für Kooperation die grundlegenden völkerrechtlichen Prinzipien Anerkennung widerstreitender ideologischer der Souveränität, der Nichteinmischung in Positionen ist. Prinzipiell ist die EU dazu die inneren Angelegenheiten eines anderen aufgrund des beschränkten Potenzials ihrer Staates und der Verzicht auf Anwendung oder Mitglieder, das globale Machtprojektionen Androhung von Gewalt. Genau darin besteht kaum zulässt, ihrer Konstruktion und proze- die kollektive, weil konsensfähige Identität duralen Verfasstheit sowie ihrer politischen der „internationalen G­ emeinschaft“. Kultur am ehesten geeignet.

Zu dieser Identität gehört das Genozid-Ver- Analoges gilt für die deutsche und europä- bot ebenso wie die prozedurale Korrektheit ische Politik gegenüber dem Mittleren Osten, des diesbezüglichen Feststellungs-, Manda- dem Nahen Osten und Nordafrika. Positi- tierungs- und Durchführungsverfahrens. Der ve Transformationsprozesse sind am ehesten generelle Anspruch auf eine moralische Hö- dort möglich, wo Stabilität herrscht. Alle em- herwertigkeit eigener Werte und Rechte be- pirische Erfahrung zeigt, dass Gesellschaf- deutet indes die Außerkraftsetzung allgemein ten mit gewaltsamen Auseinandersetzungen verbindlicher Normen und damit die Auflö- und Kriegen jene Gesellschaften sind, die das sung einer solchen Identität. Dieser Anspruch höchste Risiko für abermalige Rückfälle in und die mit ihm verbundene Gesinnungsethik Gewalt und Krieg bergen. hat innerhalb von zwei Jahrzehnten von einer in diesem Ausmaß in Europa nie zuvor dage- 40 Jahre lang hat die Bundesrepublik wesenen Akzeptanz allgemeiner Rechtsprin- Deutschland erfolgreich eine außenpoliti- zipien (die jahrzehntelang gegen den sowjeti- sche „Kultur der Zurückhaltung“ entwickelt schen Anspruch moralischer Höherwertigkeit und praktiziert. Der Korrekturbedarf ge- verteidigt worden sind) und von einem nie da- genüber den Fehlentwicklungen in den ver- gewesenen Prestigegewinn des Westens Ende gangenen zwei Jahrzehnten lässt sich auf der 1980er/Anfang der 1990er Jahre zu einer die Formel bringen: Recht, Verantwortung tiefen Glaubwürdigkeitskrise und in die inter- und Zurückhaltung. Eine solche Ausrich- nationale Isolation geführt. Die deutsche Au- tung lässt auf globaler Ebene auch Spielräu- ßenpolitik hat sich diesem Trend – zum Teil me entstehen, die der real vor sich gehen- widerwillig – angepasst. den Multipolarisierung entsprechen und die aus dem antiquiert-kontraproduktiven und Die Kluft, die in der deutschen Außenpo- gesinnungsethisch-selbst­isolationistischen litik zwischen der deklaratorischen Beto- Denk- und Handlungsmuster Der Westen nung der Stärkung internationalen Rechts ­gegen den Rest der Welt herausführt. und der „Nahbereichsmoral“ liegt, die ge- genüber Partnern in EU und NATO geübt wird, die das Gegenteil praktizieren, mag Berlin kurzfristig Konflikte ersparen. Aber es schwächt jenes Fundament, auf dem mit- tel- und langfristig die Stabilität und die Si- cherheit Deutschlands beruhen, und es er- schwert seine Weiterentwicklung.

54 APuZ 33–34/2015 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung „APuZ aktuell“, der Newsletter von Adenauerallee 86 53113 Bonn Aus Politik und Zeitgeschichte Redaktion Wir informieren Sie regelmäßig und kostenlos per E-Mail Anne-Sophie Friedel (Volontärin) über die neuen Ausgaben. Barbara Kamutzki (verantwortlich für diese Ausgabe) Online anmelden unter: www.bpb.de/apuz-aktuell Johannes Piepenbrink Anne Seibring Telefon: (02 28) 9 95 15-0 www.bpb.de/apuz [email protected]

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Commonsbasierte Zukunft. Wie ein altes Konzept eine bessere Welt ermöglicht Die Veröffentlichungen in Aus Politik und Zeitgeschichte stellen keine Meinungsäußerung Die Texte dieser Ausgabe stehen – mit Ausnahme der Abbildun- der Herausgeberin dar; sie dienen gen in Beitrag von Jürgen Danyel – unter einer Creative Com- mons Lizenz vom Typ Namensnennung-NichtKommerziell- der Unterrichtung und Urteilsbildung. KeineBearbeitung 3.0 Deutschland. ISSN 0479-611 X 25 Jahre deutsche Einheit APuZ 33–34/2015

Costanza Calabretta 3–10 Feiern und Gedenken: Zur Entwicklung einer gemeinsamen Erinnerungskultur seit dem 3. Oktober 1990 Aus dem Ringen um das Datum für den neuen nationalen Feiertag ist schließlich der 3. Oktober siegreich hervorgegangen. Über das emotionale Potenzial des feierlichen Gedenkens an den 9. Oktober und den 9. November 1989 verfügt er allerdings nicht.

Vera Caroline Simon 11–17 Tag der Deutschen Einheit: Festakt und Live-Übertragung im Wandel Die jährlichen offiziellen Festakte anlässlich des 3. Oktobers entwickelten sich von einer zurückhaltenden hin zu einer emotionalen und audiovisuell geprägten Inszenierung, die von der Live-Übertragung durch das Fernsehen in ihrer Wir- kung unterstützt wird.

Eckhard Jesse 18–25 Das Ende der DDR Welche Ursachen waren für das Ende der diktatorischen, welche für das Ende der freiheitlichen DDR verantwortlich? Was sind die Folgen von Freiheit und Ein- heit? 25 Jahre nach dem 3. Oktober 1990 ist Deutschland eine gefestigte Demo- kratie ohne innere Separationsbestrebungen.

Jürgen Danyel 26–35 Alltag Einheit: Ein Fall fürs Museum! Über 40 Jahre durch die deutsche Teilung getrennt wachsen seit 1990 Ost- und Westdeutschland wieder zusammen. Eine Ausstellung macht die vielfältigen An- passungs- und Integrationsleistungen vornehmlich der Menschen im Osten sicht- bar und nachvollziehbar.

Everhard Holtmann · Tobias Jaeck 35–45 Was denkt und meint das Volk? Deutschland im dritten Jahrzehnt der Einheit Kennzeichnend für die deutsche Einheit ist ein bis heute reichendes Nebeneinan- der von Angleichung und fortbestehenden Unterschieden auf der Einstellungs- ebene. Es lässt sich in Gestalt von Metatrendlinien auf der Zeitachse von 1990 bis 2014 abbilden.

August Pradetto 46–54 Ost-West-Beziehungen und deutsche Außenpolitik seit der Wiedervereinigung 1990 waren normative und materielle Voraussetzungen für eine positive Neuge- staltung der internationalen Beziehungen gegeben. Heute ist die deutsche Außen- politik vor allem mit gravierenden Krisen konfrontiert. Welche Determinanten prägten diese Entwicklung?