EINSICHTEN PERSPEKTIVEN Bayerische Zeitschrift Für Politik Und Geschichte
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EINSICHTEN PERSPEKTIVEN Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 3 20 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, Autorinnen und Autoren dieses Heftes Was haben Sie auf den ersten Blick auf unserem Cover erkannt? Sahen Prof. Dr. Stephan Bierling lehrt Internationale Poli- Sie vielleicht zunächst rote Blumen? Oder (Corona-)Viren? – Erst bei tik und Transatlantische Beziehungen an der Univer- genauerer Betrachtung wird deutlich, dass es sich um Tänzerinnen bei sität Regensburg. Gerade erschien sein neues Buch einer Massengymnastik-Veranstaltung handelt. Das Bild wurde 2012 „America First. Donald Trump im Weißen Haus. in Pjöngjang in Nordkorea aufgenommen. Eine Bilanz“ im Verlag C.H. Beck. Dr. Thies Claussen war u.a. Vorstandsmitglied der Das vermeintlich schöne Bild spiegelt symbolisch den Rang des Indi- LfA Förderbank Bayern und in leitenden Positionen viduums in einer Diktatur wider – man tanzt in der Masse, man geht im Bayerischen Wirtschaftsministerium, bei der im Kollektiv auf, man stählt seinen Körper und hält sich gesund, um Wacker Chemie, im Bayerischen Landtag und bei der dem Staat bzw. in diesem Fall dem „geliebten Führer“ zu dienen. Das Flughafen München GmbH tätig. Kollektiv ist alles, der Einzelne nichts. Prof. Dr. Klaus Gestwa ist Lehrstuhlinhaber und Die Entindividualisierung der Menschen und die Formung gesichtslo- Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte ser, funktionierender Kollektive im Rahmen wie auch immer gearteter und Landeskunde an der Universität Tübingen. Staatsvorgaben sind typische Muster literarischer Dystopien. Im zwei- ten Teil unserer Serie zum Thema beleuchtet Thomas Schölderle dies- Dr. Dr. Dietmar Görgmaier ist nach Stationen u.a. in mal einen Text, der sehr viele Bezüge zur derzeitigen Corona-Situation der Thüringischen Staatskanzlei und an den Universi- hat: Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“. täten in Regensburg und Erfurt nun verantwortlich für das Europa-Projektmanagement an der Handwerks- kammer Erfurt. Etwas positivere Perspektiven greifen zwei weitere Beiträge auf, die sich ebenfalls mit Fragen unserer modernen Gesellschaft auseinanderset- Prof. Dr. Rainer F. Schmidt hat eine Professur für zen: So wagt Thies Claussen einen mehr realistischen als utopischen Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an Blick auf die Medizin der Zukunft. Das Thema Inklusion steht im der Universität Würzburg inne. Mittelpunkt des Artikels von Andreas Thum. Dr. Thomas Schölderleist Politikwissenschaftler Nord- und Südkorea sind bis heute getrennte Staaten – im Gegensatz und Publikationsreferent an der Akademie für Poli- zu Deutschland, das am 3. Oktober den 30. Jahrestag der Deutschen tische Bildung in Tutzing. Einheit der Wiedervereinigung beging. Dietmar Görgmaier zeichnet den Weg vom Mauerfall 1989 bis zum Vollzug der Einigung nach, Dr. Philipp Springer ist wissenschaftlicher Mitar- während Klaus Gestwa die essentielle Bedeutung Michail Gorbat- beiter in der Abteilung Bildung und Forschung des schows würdigt, dessen Rolle in Russland selbst extrem kritisch bewer- Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssi- cherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demo- tet wird. Philipp Springer erklärt anhand exklusiver Archivfotos, wie kratischen Republik. die Stasi noch 1989 Bürgerinnen und Bürger bespitzelte. Andreas Thum, M.A.,ist Wissenschaftlicher Mitar- Geradezu dystopisch erscheinen momentan auch die Zustände in den beiter am Stadtmuseum Erlangen. Vereinigten Staaten. Man darf gespannt sein, ob sich Stephan Bierlings Prognose zum Ausgang der US-Wahl bewahrheiten wird – er geht davon aus, dass Trump die Wahl am 3. November verlieren wird. Leserbriefe richten Sie bitte an folgende E-Mail- Adresse: [email protected], Wir wünschen eine anregende Lektüre! Stichwort: Einsichten und Perspektiven. Hier können Sie auch ein kostenloses Die Redaktion Abonnement der Zeitschrift beziehen. 2 Einsichten und Perspektiven 3 | 20 Inhalt 30 Jahre Deutsche Einheit und ihre Zukunft in Europa 4 von Dietmar Görgmaier Das Ende der Konfrontation. Gorbatschows „Neues Denken“ und seine Folgen 16 von Klaus Gestwa Hinter den Kulissen 27 Das Jahr 1989 auf Fotografien der DDR-Geheimpolizei von Philipp Springer Wer war es? 36 Ein historisch-biographisches Rätsel von Rainer F. Schmidt „Zeit für Politik“ mit neuen Themen 39 Gesundheit, Diktatur und Dystopie 40 Zu Juli Zehs Corpus Delicti von Thomas Schölderle Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft 55 von Andreas Thum Medizin und Gesundheit machen Fortschritte 67 von Thies Claussen Warum Trump die Wahl am 3. November 2020 verlieren wird 74 von Stephan Bierling Einsichten und Perspektiven 3 | 20 3 30 Jahre Deutsche Einheit und ihre Zukunft in Europa 30 Jahre Deutsche Einheit und ihre Zukunft in Europa von Dietmar Görgmaier Teil 1 Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags am 12. September 1990 in Moskau v.l.n.r: Der US-amerikanische Außenminister James Baker, der britische Außenminister Douglas Hurd, der sowjetische Außenminister Eduard Shevardnaze, der französische Außenminister Roland Dumas, der Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizierè, sowie Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher Foto: Süddeutsche Zeitung Photo 4 Einsichten und Perspektiven 3 | 20 30 Jahre Deutsche Einheit und ihre Zukunft in Europa Gespräche am „Runden Tisch“ im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin mit zwölf Erster „Runder Tisch“ im Bonhoeffer-Haus in Berlin, draußen demonstrieren teilnehmenden Parteien und politischen Gruppierungen, 7. Dezember 1989 die Gewerkschafter, Ostberlin, 7. Dezember 1989 Foto: ullstein bild/ADN-Bildarchiv Foto: ullstein bild/Fotograf: Rolf Zöllner Vom „Runden Tisch“ bis zur freien Volkskammer- einem etwa zehnjährigen Prozess bis zu einer endgültigen wahl der DDR Wiedervereinigung allmählich annähern. 2019 wurde in zahlreichen Festreden, auch am Vorabend Doch der tatsächliche Annäherungsprozess vollzog sich des 9. November 2019 im Deutschen Bundestag, der Fall in rasantem Tempo: Zunächst herrschte „Uneinigkeit über der Mauer und des „Eisernen Vorhangs“ nach der „friedli- den Weg zu Freiheit, Demokratie, freien Wahlen, Rechts- chen Revolution“ vor dreißig Jahren gewürdigt.1 Die Zeit staat und eine funktionierende soziale Marktwirtschaft“.3 zwischen dem Fall der Mauer und der Unterzeichnung Lange diskutierten die vereinigten Bürgerrechtler und des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 12. September 1990 mit -rechtlerinnen am sog. „Runden Tisch“ über den Ablauf von einem Treffen der Außenminister in Moskau bis zum Bei- freien, gleichen und geheimen Wahlen sowie die Bildung tritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes von Parteien zur Volkskammer und den damit verbunde- am 3. Oktober 1990 gilt als eine der aufregendsten Episo- nen Reform- und Modernisierungsprozess der DDR.4 den der deutschen Geschichte. Ab 3. Januar 1990 vereinten sich zunächst sechs ehe- Der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik mals oppositionelle Parteien und Gruppierungen, näm- Deutschland und der Deutschen Demokratischen Repu- lich SPD, Demokratischer Aufbruch, Neues Forum, blik wurde am 31. August 1990 unterzeichnet und am Demokratie jetzt, Vereinigte Linke, Initiative Frieden und 3. Oktober 1990 vom Deutschen Bundestag und der Menschenrechte, zu einem Wahlbündnis. am 18. März 1990 aus freien Wahlen hervorgegangenen Bereits zwei Wochen später, am 13. Januar 1990, Volkskammer der DDR ratifiziert.2 verließ die SPD das Wahlbündnis wieder, nachdem sie In der Zeit zwischen dem Fall der Mauer und dem Zulauf von mehreren Gründungsmitgliedern des Demo- Einigungsvertrag bestanden die beiden deutschen Staaten kratischen Aufbruchs erhalten hatte. nebeneinander. Sie sollten sich nach Auffassung der Sie- Vor allem Willy Brandt, der am 25. Februar 1990 von germächte des Zweiten Weltkrieges, also der USA, Russ- der DDR-SPD zum Ehrenvorsitzenden ernannt wurde, lands, Frankreichs und des Vereinigten Königreiches, in 3 S. Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme: Wie Ostdeutschland Teil der Bun- desrepublik wurde, München 52019, S. 70; vgl. Andreas Fraude: Die Friedliche 1 S. Das Parlament, Nr. 46 v. 11. November 2019, S. 3, sowie Jean-Claude Jun- Revolution in der DDR im Herbst 1989, Landeszentrale für politische Bildung cker: „Der 9. November 1989 bleibt europäische Sternstunde und zugleich Thüringen, 2. aktualisierte Auflage, Erfurt 2014; s. auch: Manfred Görtema- unser Auftrag“, in: EU-aktuell, European Commission-Nachrichten, COMM- ker: Die Berliner Republik, Berlin-Brandenburg 2009, S. 28-35. [email protected] vom 8.11.2019 [Stand 07.09.2020]. 4 S. Martin Debes: Es war eine heftige Zeit: vor 30 Jahren wurde erstmals 2 Vgl. Ingo Münch (Hg.): Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, in der DDR die Volkskammer frei gewählt, in: Thüringer Allgemeine v. Stuttgart 1991. 18. März 2020, S. 4; S. auch Fraude (wie Anm. 3), S. 69 f. Einsichten und Perspektiven 3 | 20 5 30 Jahre Deutsche Einheit und ihre Zukunft in Europa befürwortete einen Weg zur deutschen Vereinigung nach als Sieger hervor, die die DDR „reformieren und neu Art. 146 Grundgesetz. Dieser Artikel sah die Ausarbeitung gestalten“ wollten. Denn eine Überwindung der deut- einer gemeinsamen Verfassung vor im Gegensatz zu Artikel schen Teilung stand bis zur zehnten Volkskammerwahl 23, der die Möglichkeit eines Beitritts zur Bundesrepublik am 18. März 1990 für viele noch nicht auf der Tagesord- definierte. Das Neue Forum als Bürgerbewegung, ferner die nung.7 Die große Mehrheit der Wählerschaft wollte die Bewegungen „Demokratie jetzt“ und „Initiative Frieden und Ideen der Bürgerrechtsbewegungen nicht realisiert sehen, Menschenrechte“