Vernichten Oder Offenlegen? Zur Entstehung Des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
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Silke Schumann Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes Eine Dokumentation der öffentlichen Debatte 1990/1991 Reihe A: Dokumente Nr. 1/1995 Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Abteilung Bildung und Forschung 10106 Berlin E-Mail: [email protected] Die Meinungen, die in dieser Schriftenreihe geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassungen der Autoren wieder. Abdruck und publizistische Nutzung sind nur mit Angabe des Verfassers und der Quelle sowie unter Beachtung des Urheberrechtsgesetzes gestattet. Schutzgebühr: 5,00 € Nachdruck der um ein Vorwort erweiterten 2. Auflage von 1997 Berlin 2020 ISBN 978-3-942130-39-4 Eine PDF-Version dieser Publikation ist unter der folgenden URN kostenlos abrufbar: urn:nbn:de:0292-97839421303940 Vorwort zur Neuauflage Im Vergleich mit den politischen Umbrüchen in den anderen postkommunistischen Ländern war die Friedliche Revolution 1989/90 in der DDR außerordentlich stark von der Auflösung der Stasi und der Auseinandersetzung um die Vernichtung ihrer Akten geprägt. Die Besetzung der regionalen Dienststellen im Dezember 1989 und der Zentrale des MfS (Ministerium für Staats- sicherheit) am 15. Januar 1990 bildeten Höhepunkte des revolutionären Geschehens. Die Fokus- sierung der Bürgerbewegung auf die Entmachtung des geheimpolizeilichen Apparats und die Sicherung seiner Hinterlassenschaft ist unübersehbar. Diese Fokussierung findet gleichsam ihre Fortsetzung in der Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit der DDR in den darauffol- genden Jahren, in denen wiederum das Stasi-Thema und die Nutzung der MfS-Unterlagen im Vordergrund standen. Das könnte im Rückblick als zwangsläufige Entwicklung erscheinen, doch bei näherer Betrach- tung wird deutlich, dass das nicht der Fall war. Die Diskussionen des Jahres 1990 zeigen, dass die Nutzung von Stasi-Unterlagen für die Aufarbeitung der Vergangenheit selbst in Kreisen der Bürgerbewegung keineswegs unumstritten war. Im Gegenteil – dort gab es zahlreiche Stimmen, die einer Offenlegung skeptisch oder sogar kritisch gegenüberstanden. Selbst das Aktenein- sichtsrecht für Betroffene galt vielen als zu riskant, einige befürchteten gar »Mord und Tot- schlag«. Im Jahr 1995 veröffentlichte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen die vorliegende Broschüre, die die kontroversen Diskussionen der Jahre 1990/91 über den Umgang mit den MfS-Akten dokumentiert. Ein Rückblick auf diese Debatte erweist sich vor dem Hintergrund von nunmehr 30 Jahren Stasi-Aufarbeitung als höchst aufschlussreich. Bezeichnend ist zum Beispiel, dass die Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tisches noch im März 1990 in ihrem Abschlussbericht eine vollständige Vernichtung der personen- bezogenen Akten des MfS empfahl, während das nicht personenbezogene Material der Öffent- lichkeit so bald wie möglich zur Verfügung gestellt werden sollte. Heute wissen wir, dass eine solche selektive Vernichtung der Unterlagen angesichts der Struktur des MfS-Aktenbestandes sehr problematisch, wenn nicht gar vollkommen unpraktikabel gewesen wäre, weil eine Ab- grenzung des personengebundenen Materials so gut wie unmöglich ist. Selbst bei einer großzü- gigen Auslegung des Begriffs der personenbezogenen Akte hätte dieser Beschluss zur Vernich- tung des weitaus größeren und wichtigeren Teils der Unterlagen geführt. Nach der freien Wahl der neuen Volkskammer am 18. März 1990 kam es allerdings zu einem Stimmungsumschwung, nicht zuletzt weil im Vorfeld des Wahlganges einige ehemalige inoffi- zielle Mitarbeiter der Stasi enttarnt worden waren, die bei den gewendeten Blockparteien, aber auch den neu gegründeten Parteien der Bürgerrechtsszene in hohe Funktionen hatten einrü- cken können. Es entbrannte eine Diskussion über die Überprüfung der frisch gewählten Abge- ordneten, bei der sich letztendlich die Auffassung durchsetzte, dass diese notwendig sei, um die Integrität des Parlaments sicherzustellen. Aus heutiger Sicht ist interessant, dass es der spätere Bundesbeauftragte und damalige Volks- kammerabgeordnete von »Bündnis 90/Grüne« Joachim Gauck war, der schon früh dezidiert für eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anhand der Akten eintrat. Bereits im April 1990 veröffentlichte er in der Wochenzeitung »Die Zeit« ein Plädoyer für eine solche Auf- arbeitung als Grundlage eines gesellschaftlichen »Heilungsprozesses« (siehe Dokument 6). Gauck wurde am 21. Juni 1990 Vorsitzender des »Sonderausschusses der Volkskammer zur Kon- trolle der Auflösung des MfS/AfNS«, dem neben elf Abgeordneten auch 16 Vertreter verschie- dener Bürgerkomitees als Mitarbeiter angehörten. Dieser Ausschuss spielte eine entscheidende Rolle bei der Formulierung des Stasi-Akten-Gesetzes des DDR-Parlaments, das allen betroffe- nen Bürgern ein Auskunftsrecht zugestand. Das Volkskammergesetz ging hier weiter als der ursprüngliche Regierungsentwurf, aber nicht so weit wie das spätere Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG), in dem ein allgemeines Einsichtsrecht für Betroffene verankert wurde, eine Regelung, die heute geradezu selbstverständlich erscheint. Dass das StUG, vom gesamtdeutschen Bundes- tag im November 1991 beschlossen, letztlich sogar zu einer weitergehenden Aktenöffnung führte, war im Sommer 1990 nicht vorgezeichnet. Im Gegenteil – das Volkskammergesetz wur- de nicht in den Einigungsvertrag übernommen und nach bundesdeutschen Plänen sollten die Stasi-Akten unter die Obhut des Bundesarchivs kommen und jahrzehntelange Sperrfristen gel- ten. Ein Sturm der Entrüstung in der DDR, eine zweite Besetzung der ehemaligen MfS-Zentrale im September 1990 und ein Hungerstreik von prominenten Bürgerrechtlerinnen und Bürger- rechtlern sensibilisierte Politik und Öffentlichkeit dann jedoch letztendlich für die Notwendig- keit einer umfassenden Aktenöffnung. Doch selbst die entschiedensten Befürworter der Aktenöffnung dürften damals nicht geahnt haben, welche Dimensionen die Stasi-Aufarbeitung später annehmen sollte und dass sie in eini- gen Bereichen auch noch 30 Jahre später nicht abgeschlossen sein würde. Nach dem Stand vom 31. Dezember 2019 wurden bislang über 7 300 000 Ersuchen und Anträge an die Stasi-Unter- lagen-Behörde gestellt, darunter mehr als 3 300 000 Anträge im Rahmen der persönlichen Akteneinsicht. Noch im Jahr 2019 stellten Bürgerinnen und Bürger rund 56 500 Anträge. Die hier neu aufgelegte, immer noch sehr lesenswerte Darstellung und Dokumentation von Silke Schumann aus dem Jahr 1996 beleuchtet die wechselvollen Debatten und Entwicklungen, die 1990/91 den Grundstein für diesen in seinen Dimensionen historisch einmaligen Aufarbei- tungsprozess legten. Roger Engelmann, Februar 2020 Inhalt I. Die Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes 5 1. Auflösung des Staatssicherheitsdienstes 6 2. Die öffentliche Debatte in der DDR 13 3. Das Volkskammergesetz vom 24. August 1990 19 4. Der Einigungsvertrag 22 5. Von Oktober 1990 bis Dezember 1991 - Die Gesetzgebungsdebatte 28 5.1. Rechte der Betroffenen 33 5.2. Verwendung für Zwecke der Nachrichtendienste 37 5.3. Verwendung für die Strafverfolgung 42 5.4. Zentrale oder dezentrale Verwaltung der MfS-Unterlagen? 47 5.5. Überprüfung auf MfS-Mitarbeit 51 5.6. Zugang für Forschung und Presse 55 5.7. Die Verabschiedung des Gesetzes 60 6. Ausblick 63 II. Dokumentenverzeichnis 67 1. Stellungnahmen zum Umgang mit den MfS-Akten 67 2. Gesetzentwürfe und Gesetzestexte 70 III. Dokumente 72 Abkürzungsverzeichnis 349 Auswahlbibliographie 351 5 I. Die Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes 111 km Akten des Staatssicherheitsdienstes lagern in den Archiven der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR1. Sie hat nicht nur die Aufgabe, die Akten zu verwalten, archivisch zu erschließen und zu verwahren. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben Auskünfte aus den Unterlagen, legen sie zur Einsicht vor und händigen Kopien aus. So können etwa vom Staatssicherheitsdienst Bespitzelte ihre Akten einsehen, um sich über das ihnen angetane Unrecht Gewißheit zu verschaffen. Parlamente, Behörden und Kirchen, Betriebe, Parteien und Verbände können Ersuchen an den Bundesbeauftragten richten, um Personen auf eine frühere Tätigkeit für das MfS zu überprüfen. Fragen der Rehabilitierung, etwa von Opfern des Staatssicherheits dienstes und der politischen Justiz der DDR, der Verfolgung von Straftaten, manchmal sogar Renten- und Vermögensfragen lassen sich nur mit Hilfe einer Mitteilung aus den MfS-Akten klären. Daneben unterstützt der Bundesbeauftragte Medien, Forschung und politische Bildung bei der Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, indem er die Unterlagen Journalisten, Wissenschaftlern und interessierten Bürgern zur Verfügung stellt. Zur Erfor schung von Struktur, Aufgaben und Wirkungsweise des MfS unterhält die Behörde eine eigene Forschungsabteilung, deren Arbeitsergebnisse in Publikationen, öffentlichen Veran staltungen und Dokumentationszentren präsentiert werden. Gesetzliche Grundlage der Tätigkeit der Behörde ist das "Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik", kurz "Stasi Unterlagen-Gesetz" (StUG)2 genannt. Das Gesetz, das am 29. Dezember 1991 in Kraft trat, ist das Ergebnis einer nahezu zwei Jahre währenden Debatte über den Umgang mit der Hinterlassenschaft des Staatssicherheitsdienstes: Bereits um die Jahreswende 1989/90 war darüber in den Gruppen und Gremien diskutiert worden, die sich mit der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes