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Plenarprotokoll 12/192

Deutscher

Stenographischer Bericht

192. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Inhalt:

Bestimmung des Abgeordneten Rolf Dr. PDS/Linke Liste . . . . 16551A Schwanitz als ordentliches Mitglied im Ver- Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/ mittlungsausschuß 16531 A DIE GRÜNEN 16554 B Tagesordnungspunkt I: Dr. , Bundeskanzler . . . 16557 A Fortsetzung der zweiten Beratung des Rudolf Scharping, Ministerpräsident des von der Bundesregierung eingebrach- Landes Rheinland-Pfalz 16566 C ten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans Dr. F.D.P. . . . 16576B für das Haushaltsjahr 1994 (Haushalts- 16577 B gesetz 1994) (Drucksachen 12/5500, CDU/CSU 12/5870) Dr. F.D.P. 16578 B Einzelplan 04 Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 16578D Bundeskanzler und Bundeskanzleramt Dr. Jürgen Schmude SPD 16580 C (Drucksachen 12/6004, 12/6030) Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . 16587 A in Verbindung mit Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU (zur Einzelplan 05 GO) 16595 B Auswärtiges Amt (Drucksachen 12/ CDU/CSU 16595 C 6005, 12/6030) Ortwin Lowack fraktionslos 16598 D in Verbindung mit Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . 16600 C Einzelplan 14 Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16603B Bundesministerium der Verteidigung Ernst Waltemathe SPD 16605 D (Drucksachen 12/6014, 12/6030) Udo Haschke (Jena) CDU/CSU 16608 A in Verbindung mit Ingrid Matthäus-Maier SPD 16608 C Einzelplan 35 Dr. Rudolf Krause (Bonese) fraktionslos 16609A Verteidigungslasten im Zusammen- Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 16610 D hang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte (Drucksachen 12/6027, 12/ Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ 6030) DIE GRÜNEN 16612B Hans-Ulrich Klose SPD . . . . 16531D, 16592A , Bundesminister BK . . 16613 D Michael Glos CDU/CSU 16537A Dr. Hans Stercken CDU/CSU 16614B Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 16544 C Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ Hans-Ulrich Klose SPD 16544 D DIE GRÜNEN 16615A II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. , Mittwoch, den 24. November 1993

Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . . . . 16616D, Einzelplan 36 16630 B Zivile Verteidigung (Drucksachen 12/ Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 16618A 6028, 12/6030) Hans-Gerd Strube CDU/CSU 16622 A Rudolf Purps SPD 16652 D Dr. PDS/Linke Liste . . 16623D CDU/CSU 16656 C Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . 16626A, 16630 C F.D.P. 16659 A Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . . . 16627 B PDS/Linke Liste 16661 B 16628 A Ingrid Matthäus-Maier SPD Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16662 D Volker Rühe, Bundesminister BMVg . 16630D Günter Graf SPD 16664 B SPD 16633 C Dr. F.D.P. 16665 D CDU/CSU 16636 B CDU/CSU 16666 D Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD . . . 16637 B Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 16668D Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 16554 A SPD 16670A Namentliche Abstimmung 16638 C Karl Deres CDU/CSU 16670 C Ergebnis 16644 D Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . 16671A Einzelplan 23 Klaus Lohmann (Witten) SPD 16672 C Bundesministerium für wirtschaftliche Manfred Kanther, Bundesminister BMI 16673 B Zusammenarbeit und Entwicklung (Drucksachen 12/6021, 12/6030) Nächste Sitzung 16675 D Helmut Esters SPD 16639 B Christian Neuling CDU/CSU 16641D Anlage 1 Dr. PDS/Linke Liste . . . 16646 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . 16677' A Werner Zywietz F D P 16647 D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16649 C Anlage 2 Carl-Dieter Spranger, Bundesminister Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- BMZ 16650 C nungspunkt I 12: Einzelplan 05 — Aus- wärtiges Amt Einzelplan 06 Bundesministerium des Innern (Druck- Dr. Klaus Rose CDU/CSU 16633' C sachen 12/6006, 12/6030) Anlage 3 in Verbindung mit Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- Einzelplan 33 nungspunkt I 13: Einzelplan 14 — Bundes- Versorgung (Drucksache 12/6026) ministerium der Verteidigung in Verbindung mit Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 16679' A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16531

192. Sitzung

Bonn, den 24. November 1993

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Berichterstattung: Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Abgeordnete Rudi Walther (Zierenberg) Ihnen einen guten Morgen und eröffne die Sitzung. Hans-Werner Müller (Wadern) Kurt J. Rossmanith Zunächst teile ich mit, daß der Abgeordnete Hinrich Hans-Gerd Strube Kuessner der Fraktion der SPD als ordentliches Mit- Carl-Ludwig Thiele glied im Vermittlungsausschuß ausscheidet. Als Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Nachfolger wird der Abgeordnete Horst Jungmann (Wittmoldt) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Damit ist der Kollege Rolf Schwanitz als Einzelplan 35 ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß be- Verteidigungslasten im Zusammenhang mit stimmt. dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte Wir setzen die Haushaltsberatungen — Punkt I — — Drucksachen 12/6027, 12/6030 — fort: Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Emil Schnell Zweite Beratung des von der Bundesregierung Dr. Klaus-Dieter Uelhoff eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Carl-Ludwig Thiele die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1994 (Haushaltsgesetz Zu Einzelplan 14 liegt ein Änderungsantrag der 1994) Fraktion der SPD vor. — Drucksachen 12/5500, 12/5870 — Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Beschlußempfehlungen und Berichte des Aussprache über den Einzelplan 04 nament lich Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) abstimmen werden.

Ich rufe dazu Punkt I 11 bis 14 auf: Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache neun Stunden vorgesehen. Einzelplan 04 — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Bundeskanzler und Bundeskanzleramt Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Hans- — Drucksachen 12/6004, 12/6030 — Ulrich Klose. Berichterstattung: Abgeordnete Rudi Walther (Zierenberg) Dietrich Austermann Hans-Ulrich Klose (SPD): Frau Präsidentin! Meine Carl-Ludwig Thiele sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte diese Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Rede — in sicherlich streitiger Debatte, zu der ich beitragen will — nicht beginnen, ohne an die Morde Einzelplan 05 in Mölln, gestern vor einem Jahr, zu erinnern. Es sind Auswärtiges Amt nicht die einzigen Gewalttaten geblieben — ich denke — Drucksachen 12/6005, 12/6030 — an Solingen und die vielen Anschläge, die es seither Berichterstattung: gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger Abgeordnete Dr. Klaus Rose gegeben hat. Dr. Sigrid Hoth Ich spreche davon, weil wir wie alle Menschen dazu Ernst Waltemathe neigen, allzuschnell zu vergessen. Wir dürfen aber Einzelplan 14 nicht vergessen, was geschehen ist und was beinahe täglich geschieht. Daß der Kampf gegen Gewalt, Mord Bundesministerium der Verteidigung und Unrecht noch immer — leider — auf der Tages- — Drucksachen 12/6014, 12/6030 — ordnung stehen muß, daran wollte ich erinnern, auch 16532 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Hans-Ulrich Klose um die Rang- und Reihenfolge der Probleme zu eingesetzt werden. Das Eigenkapital der Unterneh- verdeutlichen. men müsse im Rahmen der Erweiterung der Kreditga- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rantiegemeinschaften gestärkt werden. Gefordert der CDU/CSU, der F.D.P. und des BÜNDNIS wird ein Programm zur Liquiditätssicherung: öffentli- SES 90/DIE GRÜNEN) che Bürgschaften, Zinsvergünstigungen, Konsolidie- rungskredite durch Bund oder Länder oder die Kredit- Meine Damen und Herren, es gibt so viele Probleme anstalt für Wiederaufbau. Investitionszulagen und hierzulande, daß es wohl angemessen ist, sich bei der Investitionszuschüsse müßten schneller ausgezahlt heutigen Debatte, die traditionell eine Generalde- werden. Das gleiche gelte für Ansprüche auf Mehr- batte ist, auf eben diese Probleme zu konzentrieren: wertsteuererstattung. Öffentliche Arbeitgeber — m an Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und die zunehmende höre und staune! — sollten ihre Zahlungsverpflichtun- Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich. gen schneller erfüllen. Abnehmer in Westdeutschland Es sind Ihre Probleme, Herr Bundeskanzler, denn sollten ihre ostdeutschen Lieferanten nicht länger als Sie regieren dieses Land seit zwölf Jahren. Auf Erbla- andere mit der Zahlung warten lassen. Oder: Zur sten früherer Regierungen können Sie sich nicht mehr Verbesserung des Marktzugangs sollten sich die herausreden, jedenfalls nicht, soweit es um die alte staatlichen Unternehmensberatungsprogramme auf Bundesrepublik geht. Für die neuen Lander können Verkaufs-, Werbungs- und Marketingmaßnahmen Sie — das räume ich ein — auf die Erblast einer konzentrieren, und die Teilnahme an Messen und 40jährigen SED-Diktatur verweisen. Deren Verant- Ausstellungen, vor allem in westlichen Märkten, wortung soll nicht weggedrückt und auch nicht ver- müsse unbürokratisch und schneller gefördert wer- gessen werden. den. Dennoch wiederhole ich, weil es die Wahrheit ist: Meine Damen und Herren, die SPD-Bundestags- Diese Bundesregierung hat die absehbaren Lasten fraktion macht sich nicht alle Forderungen des DIHT durch eigene Versäumnisse größer gemacht: zu eigen; aber wir fordern Sie, die Mitglieder der Bundesregierung, doch auf, und zwar dringlich, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Mängelliste des DIHT durchzugehen und die erhobe- nen Forderungen vorurteilsfrei zu überprüfen. Das politisch, weil sie bei den Hoffnungen der Menschen zumindest kann man von einer Bundesregierung, die hoch- und bei den Sorgen tiefgestapelt hat, als wirtschaftsfreundlich gelten will, doch erwarten: (Beifall bei der SPD) Prüfung und Bescheid. handwerklich, weil sie, zumindest anfänglich, so (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ getan hat, als würden sich die außerordentlichen DIE GRÜNEN) Probleme der Strukturumstellung von Plan auf Markt Meine Damen und Herren, das gilt auch für den gewissermaßen im Selbstlauf lösen — kreative Zerstö- Vorschlag, die Altschuldenregelung zu ändern. Denn rung, frei nach Schumpeter. richtig ist doch, daß früh privatisierte Unternehmen Meine Damen und Herren, Zerstörung hat stattge- häufig benachteiligt worden sind. Diese Benachteili- funden. Nahezu 70 % der industriellen Arbeitsplätze gung ist oft gravierend und geradezu existenzgefähr- im Osten der Republik sind verschwunden, und von dend. den verbleibenden 30 % wird, fürchte ich, ein weiteres (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das Drittel verschwinden. Eine wahrhaft erschreckende stimmt so nicht!) Bilanz, die das Ausmaß an Zerstörung deutlich macht. Wir schlagen deshalb vor, daß — nach Maßgabe des Zerstörung — ich wiederhole es — hat stattgefun- Einzelfalles — die Altschulden privatisierter Unter- den. Wo aber ist das Kreative bei dieser Regierung nehmen, die für diese ein Entwicklungshemmnis geblieben? Was hat sie über notwendige Infrastruk- darstellen, in langfristige, niedrigverzinsliche Kredite turmaßnahmen hinaus, die ich nicht kleinrede, getan, umgewandelt werden. Wir glauben, daß das geht und um den alten und den neuen Unternehmen im Osten gemacht werden muß, weil sonst viele Unternehmen Deutschlands zu helfen? Den Sanierungsauftrag für in Ostdeutschland allein aus Gründen mangelnder sanierungsfähige Unternehmen mußten wir Sozialde- Liquidität in die Knie gehen. mokraten und die ostdeutschen Landesregierungen Ihnen mühsam abringen. Der Erhalt der industriellen (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Kerne war ja nicht Ihr Programm, sondern unser Punkt Wer bezahlt?) in den sogenannten Solidarpaktverhandlungen. Dies bringt mich, meine Damen und Herren, zu Ausreichende Starthilfen für ostdeutsche Unter- einem weiteren Punkt, den ich in diesem Zusammen- nehmer, z. B. bei der Bereitstellung von Betriebsflä- hang wenigstens ansprechen will. Wenn über die chen und Liquidität, fehlen bis zum heutigen Tage. Fortführung der Treuhandarbeit, in welcher Form Und was an Hilfsprogrammen nach und nach entwik- auch immer, nachgedacht wird, muß jedenfalls sicher- kelt wurde, mühsam und immer nur auf Druck, geht gestellt sein, daß das sogenannte Vertrags - Controll- seinen üblichen bürokratischen Gang. Das hat den ing mit ökonomischem Sachverstand be trieben DIHT — Vorstand und Vollversammlung — Ende wird. Oktober dieses Jahres zu einem Beschluß veranlaßt, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner der, wenn man ihn richtig liest, eine massive Kritik an Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Bundesregierung enthält. NEN]) Die vorhandenen Hilfsprogramme, so liest man Verträge müssen gehalten werden; das ist richtig.- dort, müßten gestrafft und schneller und wirksamer Aber noch wichtiger ist, daß Arbeitsplätze erhalten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16533

Hans-Ulrich Klose und gesichert werden. An dieser Zielvorgabe vor Stellungnahme des Ministeriums vom Januar dieses allem muß sich das notwendige Controlling orientie- Jahres und gebe zu: Die Argumente des Ministeriums ren. Von daher gewinnt es seine eigentliche Bedeu- klingen plausibel. Auf der anderen Seite sind auch die tung. Wenn das Pochen auf Vertragstexte am Ende Argumente des BDI nicht völlig von der Hand zu zum Aus für das betroffene Unternehmen und zum weisen. Ein Mann mit praktischen Erfahrungen in den Verlust von Arbeitsplätzen führt, dann ist das j eden- neuen Bundesländern wie hält falls kein sinnvolles Verhalten. Es geht auch beim sie für überzeugend. Und da ich viel von Klaus von Controlling nicht um Rechthaberei, sondern um kon- Dohnanyi halte, bitte ich den Herrn Bundesfinanzmi- krete Hilfe. nister um nochmalige Prüfung — nicht, weil ich ihm (Beifall bei der SPD) zusätzliche Beschwerden verschaffen wollte, sondern Meine Damen und Herren, wir sind uns, so denke weil ich meinerseits bereit bin, fast alles zu tun, um die ich, einig, daß die Probleme der ostdeutschen Betriebe verzweifelt schlechte Lage der ostdeutschen Betriebe auf Dauer auch durch noch so effektive Hilfsmaßnah- zu verbessern. men nicht überwunden werden können. Es geht auch (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner nicht allein um Kostenprobleme. Entscheidend ist, ob Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sich diese Unternehmen am Markt neu positionieren NEN]) können. Denn das ist doch das eigentliche Problem: Die alten, regulierten Märkte im Osten sind wegge- Es kann uns doch nicht gleichgültig sein, meine brochen, und neue Märkte im Westen sind besetzt, Damen und Herren, was dort geschieht, und es ist kein überbesetzt und folglich heftig umkämpft. Argument gegen besondere Hilfsprogramme im Osten, daß auch im Westen der Republik die wirt- Natürlich muß jede Anstrengung unternommen schaftliche Lage inzwischen überaus schwierig werden, um den noch bestehenden Osthandel zu geworden ist. Das ist leider so. fördern und neue Exportmärkte in der GUS und in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas zu erschlie- Ich denke z. B. an die Stahlindustrie. Sie steckt ßen. Dazu gehören Hermes-Bürgschaften, dazu europaweit in einer Krise. Diese ist nicht von gestern gehört die Einrichtung von Handels-Entwicklungsge- auf heute entstanden. Sie hat sich lange angedeutet, sellschaften, dazu gehören Kooperation und Projekte ohne daß es die Bundesregierung für nötig befunden vor allem mit den unmittelbaren Nachbarn Polen und hätte, irgend etwas zu deren Vermeidung oder Milde- der Tschechischen Republik. rung zu tun. Dennoch bleibt richtig, daß sich die ostdeutsche Mangelnde strukturpolitische Weitsicht, das ist das Wirtschaft für die absehbare Zukunft in erster Linie Mindeste, was man der Bundesregierung, aber auch auf den gesamtdeutschen und europäischen Markt der Europäischen Kommission vorwerfen muß. Es gibt ausrichten muß. Hier steht sie zahlreichen Hemmnis- doch den europäischen Subventionskodex, an den sen und Barrieren gegenüber, die nicht so leicht sich aber außer der deutschen Stahlindustrie niemand überwunden werden können. Es ist deshalb erforder- zu halten scheint. Darüber in Brüssel mit der nötigen lich, die Förderung des Absatzes ostdeutscher Pro- Klarheit zu sprechen wäre Pflicht der Bundesregie- dukte und Dienstleistungen effizient und durchset- rung gewesen. Sie hat diese Pflicht versäumt. zungsfähig zu organisieren. (Beifall bei der SPD) Herr Bundeskanzler, Goodwillerklärungen dazu haben wir reichlich, auch von Ihnen. Es kommt aber Ergebnis: Es gibt in der EG seit Jahren keine darauf an, daß etwas geschieht. Dafür sind Sie zustän- marktwirtschaftliche Ordnung mehr, soweit es um dig. Ich frage Sie deshalb: Was haben Sie getan, um Stahl geht. Einige Regierungen haben ihren nationa- die Chancengleichheit ostdeutscher Anbieter bei len Erzeugern in kurzen Abständen mit hohen Sub- öffentlichen Aufträgen zu sichern? Wie stellen Sie ventionen Vorteile im internationalen Wettbewerb sicher, daß die Abnahmezusagen der westdeutschen verschafft. Das Ergebnis sind Überkapazitäten, Über- Wirtschaft eingehalten werden? produktionen, nicht kostendeckende Preise und des- halb hohe Verluste. Diese Entwicklung geht vor allem ( [Köln] [SPD]: Gar nicht!) zu Lasten der nicht subventionierten privaten Stahl- Wann haben Sie zuletzt mit westdeutschen Handels- unternehmen in Deutschl and, die schon in den ver- häusern über die Listung ostdeutscher Produkte gangenen Jahren viele tausend Arbeitsplätze verlo- gesprochen? ren haben und die in der nächsten Zeit, wahrschein- (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Letzte lich schon in den nächsten zwei Jahren, noch einmal Woche! — Heiterkeit und Beifall bei der rund 40 000 bis 50 000 Arbeitsplätze verlieren wer- CDU/CSU — Zuruf von der SPD: In den. Die Bundesregierung wartet einfach ab. China!) Handelsauseinandersetzungen mit den Vereinig- — In China, klar. ten Staaten und östlichen Stahlproduzenten, die mit Dumpingpreisen auf den europäischen Markt drän- Meine Damen und Herren, der BDI plädiert darüber gen, verschärfen die Krise. Will die Bundesregierung hinaus für eine generelle Wertschöpfungspräferenz auch künftig einfach zuwarten? für Unternehmen in den neuen Bundesländern. Ob dies sinnvoll und wirksam ist, erscheint mir eher Unseren Antrag, eine nationale Stahlkonferenz zweifelhaft. Immerhin werden wir Sozialdemokraten einzuberufen, hat die Bundesregierung abgelehnt. die neuerlich vorgetragenen Argumente des BDI Unser Antrag vom 3. März dieses Jahres, der darauf prüfen, so wie wir das Bundesfinanzministerium bit- abzielte, den Montanstandort Deutschland zu stabili- ten, in eine erneute Prüfung einzutreten. Ich kenne die sieren und die sozialen Folgen der Krise aufzufangen, 16534 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Hans-Ulrich Klose wurde erst am 10. November, acht Monate später, im EG-Ministerrates am 17. Dezember 1993 ein größeres Wirtschaftsausschuß behandelt. Das, meine Damen Maß an Durchsetzungsvermögen zu zeigen. und Herren, ist mehr als verantwortungslos. (Beifall bei der SPD — Anke Fuchs [Köln] (Beifall bei der SPD) [SPD]: Das kann der nicht!) Denn bis zum 31. Dezember 1995 soll ein Restruktu- Daß die Lage schwierig ist, weiß ich. Die Regierung ist rierungsprogramm für die europäische Stahlindustrie aber dazu da, diese Schwierigkeiten zu meistern. abgeschlossen sein. Zu diesem Zweck hat die Bundes- Wenn sie es nicht kann, dann soll sie es sagen und regierung am 30. September 1993 die Freistellung von abtreten. 37 000 Stahlarbeitern bei der EG angemeldet und dafür 170 Millionen Ecu beantragt. Gleichzeitig hat (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Klaus- die EG-Kommission die Absicht, Erzeugungskapazi- Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) täten für 29 Millionen t Rohstahl und 19 Millionen t Walzstahl stillzulegen — eine Maßnahme, von der Leider, meine Damen und Herren, beschränken auch deutsche Stahlstandorte betroffen sind. sich die Schwierigkeiten nicht auf die Stahlindustrie. Die Krise ist allgemein. Kaum ein Tag vergeht, an dem Der 18. November 1993 wurde lange als Fixpunkt nicht gemeldet wird, daß wiederum ein bedeutendes für die europäische Stahlindustrie gehandelt, weil an Unternehmen soundso viel tausend Arbeitnehmer diesem Tag der EG-Ministerrat in Brüssel den Durch- freigesetzt, Arbeitsplätze eingespart hat. Es ist inzwi- bruch für die Sanierung und künftige Struktur in der schen — scheint es — ein Qualifikationsmerkmal für europäischen Stahlindustrie erreichen wollte. Der deutsche Unternehmer geworden, Arbeitsplätze ein- Bundeswirtschaftsminister hat in den vergangenen zusparen, 3 000, 5 000, 50 000 — wer bietet mehr zu Wochen und Monaten immer wieder auf dieses Datum Lasten der Allgemeinheit? hingewiesen — das immerhin sei ihm als Verdienst angerechnet — und versichert, danach werde alles in (Beifall bei der SPD) ruhigeres Fahrwasser kommen. Nichts dergleichen, meine Damen und Herren: Das Ergebnis der Sitzung Dabei dachte ich immer, es sei Sache der Unterneh- ist bekannt. Die alten nationalen Egoismen feierten mer, etwas zu unternehmen, damit sich ein konkretes fröhliche Urständ, die Uneinsichtigkeiten waren fester Unternehmen positiv entwickelt, Produkte herstellt, denn je, und der Bundeswirtschaftsminister zeigte die am Markt verkauft werden können, damit die sich überrascht, was mich nun überhaupt nicht über- Gewinne gesteigert und Arbeitsplätze gesichert wer- rascht. den. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Das scheint heute aber anders zu sein. Heute geht es Meine Damen und Herren, es liegt mir daran, in vor allem um Kosten. Und wenn Unternehmer von diesem Zusammenhang auf einen zusätzlichen sozial- Kosten reden, dann denken sie in erster Linie an Lohn- politischen Aspekt aufmerksam zu machen, der in und Lohnnebenkosten und sonstige adminis trative Zukunft für erheblichen sozialen Sprengstoff sorgen Preise, also an Kosten, für die andere verantwortlich wird. Durch das von der Bundesregierung beschlos- sind, was bei den Löhnen nicht einmal stimmt, weil sene Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumspro- — darauf haben Sie hingewiesen, Herr Bundeskanz- gramm, in dem auch das Arbeitsförderungsgesetz ler — unter Tarifverträgen doch immer zwei Unter- geändert wird, wird es den Unternehmen der deut- schriften stehen. schen Stahlindustrie in Zukunft nicht mehr möglich sein, Arbeitnehmer nach Sozialplänen zu entlassen. Kein Zweifel, Deutschland ist ein Hochkostenland Durch die Reduzierung des Arbeitslosengeldes und und wird es bleiben. Jedenfalls ist es völlig abwegig, die Kappung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre wird zu glauben, wir könnten die Kostenkonkurrenz mit es in der Stahlindustrie zu betriebsbedingten Kündi- Billigproduzenten vor unserer Haustür gewinnen. gungen kommen, wobei • die soziale Komponente (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner — Stichwort: Familiengröße — ausschlaggebend ist. Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Was das bedeutet, kann sich jeder leicht ausrechnen, NEN]) wenn er einen Augenblick nachdenkt. Meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler, es Ich bitte Sie! Die Lohnkosten in der Tschechischen ist absolut unverantwortlich — und ich wäge meine Republik liegen bei ca. 12 % der deutschen, in Polen Worte —, das L and mit solchen Beschlüssen immer sind sie noch niedriger, in den baltischen Staaten tiefer in den Konflikt hineinzutreiben. liegen sie bei 1 bis 2 % der deutschen Lohnkosten. Empfiehlt hier irgend jemand, wir sollten uns auf diese (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Konkurrenz einlassen? Ich jedenfalls kenne nieman- DIE GRÜNEN) den, der alle Tassen im Schrank hat und das tut. Das sage ich schon heute: Für diese Konflikte sind Sie, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Bundeskanzler, und der Bundesfinanzminister DIE GRÜNEN) verantwortlich. Es wäre — ich wiederhole es — völlig abwegig, so zu (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Wo denken. Die Wahrheit ist doch, daß wir nur dann eine bleibt Herr Kinkel?) Chance haben, aus den Schwierigkeiten herauszu- Und den Bundeswirtschaftsminister kann ich nur kommen — nicht von heute auf morgen, sondern auffordern, bei der erneut angesetzten Sitzung des mittelfristig —, wenn wir uns wieder Vorsprünge Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16535

Hans-Ulrich Klose erarbeiten, die wir früher hatten und die uns trotz druck ist aber, daß Sie, Herr Bundeskanzler, diese hoher Preise konkurrenzfähig gemacht haben. Entwicklung überwiegend als Negativpunkt sehen, als Problempunkt. Ich aber sage Ihnen, daß darin auch (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Klaus eine Chance liegt. Die Japaner scheinen das — wenn Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) meine Informationen richtig sind — wieder einmal Dazu ist es erforderlich, daß sich die Unternehmer früher erkannt zu haben. Was aber tut das zuständige selbst — das deutsche Management — aufmachen Ministerium hier zusammen mit dem Wirtschaftsmini- und endlich einsehen, daß ein Teil der Wettbewerbs- sterium, um die absehbare Entwicklung positiv zu nachteile, die auch Kostennachteile sind, auf ihr Konto gestalten? Wäre es nicht an der Zeit, ein neues, gehen. Expertisen, die dazu erstellt worden sind, zukunftsorientiertes Programm zur Humanisierung zeigen überdeutlich, was in der Vergangenheit falsch des Arbeitslebens aufzulegen? Wäre es nicht hohe gelaufen ist. Mein Eindruck ist, daß zumindest weit- Zeit? sichtige Unternehmer, die es ja Gott sei Dank auch (Beifall bei der SPD) gibt, dies erkannt haben und entsprechend handeln. Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik Nicht immer nur fordern, sondern selbst etwas tun! Deutschland sind derzeit fünf Millionen Menschen (Beifall bei der SPD) ohne oder ohne regulären Arbeitsplatz. Niemand von uns kennt den Königsweg aus dieser Misere, Entscheidend ist, daß wir uns gemeinsam zu einer strategischen Anstrengung aufraffen und uns mit (Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben wir einem kräftigen Innovationsschub wieder ins vordere gern!) Glied katapultieren. Produkte entwickeln und anbie- die mit soviel materiellem und psychischem Elend ten, die anderswo nicht oder nicht so gut produziert verbunden ist. Mit Konjunkturprogrammen — das werden können — das ist die Devise. wissen wir— ist es nicht getan. Es geht um die richtige (Beifall bei der SPD) strategische Weichenstellung, damit es wenigstens mittelfristig zu schaffen ist. Es ist ein strategischer Fehler, Herr Bundeskanzler, die Haushaltsmittel für Forschung und Technologie Dazu gehört — ich weiß, das ist insbesondere aus zu kürzen. Das Gegenteil wäre richtig. Das wissen Sie der Sicht der Liberalen eine harte Anmutung —, daß auch, aber Sie tun nichts. wir uns endlich dazu entschließen, eine intelligente, marktkonforme Industriepolitik zu betreiben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN — Widerspruch bei der CDU/ (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P: CSU) Was ist das?) Es ist ein Fehler, daß auch die Unternehmen die Ihr Besuch in China, Herr Bundeskanzler, paßt dazu. Aufwendungen für Forschung und Entwicklung Türen öffnen, Unterstützung signalisieren — andere zurückgefahren haben. Sie müssen erhöht werden. Regierungen waren da jedenfalls in der Vergangen- Und wenn es dazu — man wird ja realistisch — heit weit aktiver. Wenn ich z. B. an die deutschen und steuerlicher Anreize bedarf, dann, bitte, präsentieren die französischen Bemühungen gegenüber Südkorea Sie uns geeignete Vorschläge, damit wir endlich aus denke — ich rede vom Verkauf des Hochgeschwin- der appellativen Ebene herauskommen. Es muß etwas digkeitszugs —, dann tränen einem die Augen. Für getan werden! Frankreich fuhr der Staatspräsident, für Deutschl and (Beifall bei der SPD) ein Staatssekretär. Das muß in Zukunft besser werden, Herr Bundeskanzler. Das gilt auch für die Förderung des sogenannten Humankapitals. Deutschland ist nicht reich an natür- (Beifall bei der SPD) lichen Ressourcen. Unser Reichtum, das sind Köpfe Ideologische Scheuklappen, die insbesondere liberale und Hände. Diesen Reichtum müssen wir bewahren Wirtschaftsminister in ihren Aktivitäten hemmen, dür- und mehren. Dazu bedarf es einer gemeinsamen fen nicht länger als Hinderungsgrund für politisches Anstrengung von Wirtschaft, Politik und Wissen- Handeln akzeptiert werden. Wie l ange — so frage ich schaft, damit endlich ein zukunftsweisendes Fortbil- mich manchmal — machen die Damen und Herren der dungssystem geschaffen wird — als vierte Säule CSU, die doch eine andere politische Tradition haben, unseres Bildungssystems. das noch mit? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Damit das klar ist, meine Damen und Herren: Wir DIE GRÜNEN) denken, wenn wir von Industriepolitik reden, nicht an Dies müssen wir schon deshalb tun, weil die demo- Erhaltungssubventionen und auch nicht an Protektio- graphischen Veränderungen der Gesellschaft uns nismus. Wir wollen, daß im Dialog zwischen Wirt- dazu zwingen. Es macht nämlich einen gewaltigen schaft und Politik Weichen gestellt und knappe Res- Unterschied, ob die Arbeitnehmer an der Montage- sourcen — finanzielle und personale — gebündelt straße, z. B. bei VW, im Durchschnitt 35 Jahre oder werden. Was, um Gottes willen, ist daran eigentlich 45 Jahre alt sind. Auf diese Entwicklung muß man sich falsch? Haben nicht die vergangenen Jahre bewiesen, vorbereiten, und zwar rechtzeitig; sonst geht die daß in der Konkurrenz unterschiedlich organisierter Entwicklung über uns hinweg. Marktwirtschaften diejenigen am erfolgreichsten wa- ren, die sich für eine intelligente Kooperation von Tut die Bundesregierung irgend etwas in dieser Politik und Wirtschaft entschieden haben? Richtung? — Der Herr Bundeskanzler redet gelegent- lich über den demographischen Wandel. Mein Ein- (Beifall bei der SPD) - 16536 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Hans-Ulrich Klose Wer nach Ostasien blickt und dorthin fährt, kann doch von mir im Frühjahr prognostizierten 80 Milliarden nicht übersehen, was anderswo getan wird und mit DM Nettoneuverschuldung werden, fürchte ich, noch welchem Erfolg. übertroffen. Ich wiederhole es: 5 Millionen Arbeitslose. Auch (Ina Albowitz [F.D.P.]: Und Sie fordern doch wenn die Konjunktur — was wir alle hoffen — in den immer noch mehr!) nächsten Monaten anspringt, wird sich daran nicht Was tun Sie dagegen? Sie schneiden tief ins soziale viel ändern. Der erste Arbeitsmarkt wird es eben nicht Netz, weil Sie sich, wenn es ums Geld geht, an schaffen, diese Menschen in schneller Zeit in den diejenigen halten, von denen Sie sonst nicht allzuviel Arbeitsprozeß zurückzuführen. Wünschen würden halten, die mit dem geringeren Einkommen, um ja die wir es uns. Aber Sie von der Koalition wissen so gut sogenannten Leistungsträger schonen zu können. wie wir, daß das nicht zu erwarten ist. Deshalb müssen Sie, Herr Bundeskanzler, eine Antwort darauf geben, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ was Sie zu tun gedenken, um diesen Menschen, die DIE GRÜNEN) jetzt arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind, Wenn wir dann davon reden, daß dies sozial unge- zu helfen. Sollen sie alle in das ausgedünnte soziale recht sei, dann reden Sie von Sozialneid. Klientel- Netz fallen, und das war es dann? Hilft es den politik nenne ich das; mit sozialer Gerechtigkeit hat Menschen, wenn Sie in diesem Zusammenhang das nichts mehr zu tun. anklagend von zu kurzen Arbeitszeiten, von zuviel (Beifall bei der SPD) Urlaub, vom kollektiven Freizeitpark und davon reden, daß wir über unsere Verhältnisse leben? Das Nein, Herr Bundeskanzler, das Land ist in keinem alles hilft gar nichts, Herr Bundeskanzler, im Gegen- guten Zustand. Die Lage ist schwierig, und die Stim- teil: Es befördert die Spaltung der Gesellschaft, die mung ist schlecht. Nirgendwo wird bei dieser Regie- Entsolidarisierung und die wachsende Bereitschaft rung erkennbar, daß sie ein ordentliches Konzept enttäuschter und verzweifelter Menschen, Halt bei hätte, wie es weitergehen soll. den Rattenfängern von rechts zu suchen. (Zuruf von der CDU/CSU: Was ist denn mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihrer Mitschuld?) DIE GRÜNEN) Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Bundeskanzler, Dagegen anzureden bringt nichts. Auch die bei glaube ich an die Solidarität der Menschen und an die Konservativen so beliebte Wertedebatte — ein Stek- Bereitschaft, mitzuarbeiten bei dem notwendigen Pro- kenpferd des Kollegen Dr. Schäuble — hilft da nichts. zeß der Erneuerung im Osten wie im Westen des Nicht neue Werte sind gefragt oder die Rückbesin- wiedervereinigten Landes. Aber die Menschen wol- nung auf alte — wogegen ich nichts habe —, sondern len wissen, wo es langgeht. Sie wollen wissen, wofür bessere Politik. sie sich anstrengen, wofür sie Opfer bringen sollen. Sie erwarten, daß es in unserem Land gerecht zugeht. (Beifall bei der SPD) Solche Erwartung ist nicht unbillig. Wenn sie ent- Zu tun gäbe es genug, meine Damen und Herren. täuscht wird, wachsen Unsicherheit und Verdruß. Die Ein längerfristig angelegtes Zukunftsinvestitions- Folgen können fatal sein. programm zur Verbesserung der Verkehrs- und Kom- Meine Damen und Herren, ich sehe mich nicht in munikationsinfrastruktur, zur Verbesserung der Ent- der Rolle der Kassandra. Trotz zunehmender Besorg- sorgung, der Energieversorgung, des Städte- und nis ziehe ich keine Vergleiche zwischen der politi- Wohnungsbaus. Das wäre es, was wir jetzt brauch- schen Entwicklung in Italien und bei uns. Ich bin fest ten. davon überzeugt, daß wir es schaffen können, die In ganz Deutschland fehlen z. B. 2 bis 3 Millionen Probleme, die wir derzeit haben, zu beherrschen und Wohnungen. Es gibt wieder Wohnungsnot; das Pro- zu lösen. blem der Obdachlosigkeit bedrückt die Kommunen. Dies ist ein gutes Land mit tüchtigen Menschen. Was tun Sie eigentlich dagegen? Nichts. Sie bleiben Ohne Führung geht es aber nicht. bei dem System der heutigen progressionsabhängi- gen steuerlichen Förderung des selbstgenutzten Woh- (Michael Glos [CDU/CSU]: Das gilt für die nungseigentums, subventionieren den Luxus beim SPD!) Neubau und bei der Wohnungsmodernisierung und Bei Ihnen, Herr Bundeskanzler, sehe ich leider nur kürzen die Mittel für den sozialen Wohnungsbau. noch eine Führungsleistung: die Koalition über die Runden zu bringen, koste es, was es wolle. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Unglaublich!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Allein durch eine Veränderung der Wohnungsförde- DIE GRÜNEN) rung wäre viel zu erreichen. Noch besser wäre es, wenn zusätzliche Mittel für Wohnungsbau und Städ- Das ist zuwenig, Herr Bundeskanzler, und der Preis ist tebau und für andere Zukunftsaufgaben bereitgestellt zu hoch. Es ist Zeit für einen Wechsel. werden könnten. Das können sie aber nicht, weil Sie (Anhaltender Beifall bei der SPD) sich haushaltspolitisch in eine Situation der völligen Lähmung hineinregiert haben. (Beifall bei der SPD) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Es ist doch unübersehbar und durch keinerlei der Kollege Glos. Sprachkünste des Bundesfinanzministers wegzure- (Zuruf von der SPD: Das kann doch nicht den, daß die Verschuldung wächst und wächst. Die sein!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16537

Michael Glos (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine hat, nämlich dafür, daß sich Löhne und Renten auf die sehr verehrten Damen und Herren! In allen entschei- Dauer nicht vom Produktivitätsniveau abkoppeln las- denden Fragen der Wirtschafts- und der Finanzpolitik, sen. der inneren Sicherheit und der gewachsenen Verant- Herr Klose hat die Lage der Stahlindustrie beklagt. wortung Deutschlands in Europa und in der Welt Herr Klose, Sie wissen, die Stahlindustrie ist montan- fehlen konkrete und umsetzbare Vorschläge der mitbestimmt. Hier bestimmen also die Gewerkschaf- Opposition. ten voll mit, was im Betrieb geschieht. Es ist so, daß es (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie können auch hier an entsprechenden Rezepten fehlt. Nicht nicht lesen! — Weitere Zurufe von der nur die Stahlindustrie setzt Arbeitskräfte frei. Ich muß SPD) in diesem Zusammenhang einmal daran erinnern: Wir Wer geglaubt hat, durch die heutige Rede von Herrn haben den neuen Zustand in unserem L and, daß Klose mehr zu erfahren, der ist enttäuscht. inzwischen Gewerkschaften Arbeitnehmer entlassen, nämlich hauptberuflich bei ihnen tätige Funktio- (Beifall bei der CDU/CSU — Ingrid Mat näre. thäus-Maier [SPD]: Einen ganzen Katalog haben wir vorgelegt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie haben keine Alternative zum konsequenten Das kommt daher, weil ihnen zu Recht die Mitglieder Sparkurs der Bundesregierung aufgezeigt. davonlaufen und weil dadurch das Funktionärskader verringert werden muß. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie haben nicht zugehört!) Die SPD möchte gerne Regierungsfähigkeit bewei- sen, hat aber auf ihrem Parteitag in Wiesbaden erneut Sie haben beklagt, daß der ICE z. B. in Südkorea nicht das Gegenteil bewiesen, weil sie auf die großen verkauft worden ist. Herausforderungen unserer Zeit keine Antworten (Zuruf von der SPD: Er sieht noch verschlafen hat. aus!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Aber die SPD und der Wunschpartner der SPD, DIE Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das sehen GRÜNEN, tun alles, um neue Strecken und neue aber alle anders!) Technologien bei uns zu verhindern. Arbeitsplätze lassen sich in Deutschland nur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sichern und neu schaffen, wenn deutsche Unterneh- ordneten der F.D.P.) men weltweit qualitativ und vor allem im Preis wett- bewerbsfähige und neue Produkte verkaufen kön- Sie haben zu Recht beklagt, daß der wirtschaftliche nen. Aufbau in der ehemaligen DDR sehr langsam voran- geht. Sie haben aber verschwiegen, daß über einen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mittelfristigen Zeitraum Finanztransfers in Höhe von Die Vollbeschäftigung einfach per Handaufheben 150 Milliarden DM jährlich von West nach Ost gehen zu beschließen, wie dies die SPD get an hat, sichert und daß das eine gewaltige Solidaritätsleistung ist. keinen einzigen Arbeitsplatz. Auch wenn es die SPD (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht wahrhaben will, besteht eben doch ein enger Zusammenhang zwischen hohen Lohnkosten und der Sie haben keine Alternative zur Politik der konse- Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte auf natio- quenten Verbrechensbekämpfung. Sie haben keine nalen und internationalen Märkten. Alternative zum außenpolitischen Kurs dieser Regie- rung, (Beifall bei der CDU/CSU) (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Da guk Meine sehr verehrten Damen und Herren, es muß ken Sie mal die F.D.P. an!) doch nachdenklich stimmen, wenn in den ersten Monaten dieses Jahres in Deutschland 20 % weniger der auf Zusammenarbeit und gleichberechtigte deutsche Autos verkauft worden sind, der Rückgang Kooperation mit den Partnern und Freunden in der bei den im Ausland produzierten Pkws aber nur bei Welt setzt und nicht einen deutschen Sonderweg 16 % gelegen hat. Das zeigt doch, daß auch dem geht. deutschen Arbeitnehmer die deutsche Arbeit zu teuer (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Können Sie oder die deutsche Produktivität zu gering geworden nicht lesen? — Weitere Zurufe von der ist. SPD) Wer vor zu hohen Abschlüssen bei den Lohnrunden — Ich komme schon noch zu Ihrem Parteitag, weil Ihr 1991 und 1992 gewarnt hat, wie wir dies getan haben, Parteitag die angeblichen Alternativen beschlossen wurde von der SPD damals heftigst beschimpft. hat. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Detlev von Larcher [SPD]: Wann kommen Sehr richtig!) Sie zu Ihrer Politik?) Es wurde uns entgegengehalten, wir würden die Sie haben vor allen Dingen — ich wiederhole das; es Tarifautonomie verletzen. war deutlich merkbar — keine wirtschafts- und finanzpolitische Alternative. Symbolhaft dafür war (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist doch nicht der Kniefall von Oskar Lafontaine, der auf dem das Thema!) Parteitag in Wiesbaden bis zur Selbstverleugnung um Es wurde uns entgegengehalten, wir würden uns Verständnis für ökonomische Wahrheiten gebeten zugunsten der Arbeitgeber in die Tarifauseinander-- 16538 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Michael Glos setzengen einmischen wollen. Heute wollen Sie uns delegierten im Regen stehen lassen. Was sollen deut- für die Folgen des falschen Handelns der Tarifpartner sche UNO-Soldaten tun, wenn z. B. Blockaden durch- von damals voll verantwortlich machen. Das paßt brochen werden? Wenn die SPD auf ihrem Parteitag nicht zusammen. den Frieden in der Welt beschließt, kümmert dies weder Diktatoren noch Heckenschützen. Ich möchte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hierzu Ihren verstorbenen Ehrenvorsitzenden Willy Nicht nur Ihre Fähigkeit zur Einsicht in wirtschafts- Brandt zitieren. Er sagte: „Vergeßt nicht: Wer Unrecht politische Fragen ist begrenzt. Das gleiche ist leider lange geschehen läßt, bahnt dem nächsten den auch bei der Außen - und Sicherheitspolitik der Weg." Fall. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Er meinte nicht (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] — Hel den militärischen Einsatz!) mut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Du hast Die SPD hat auf ihrem Parteitag beschlossen — ich keine Ahnung!) zitiere wieder —: „In diesem Zusammenhang befür- Deutschland muß gerade in Zeiten großer politischer worten wir einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat für Veränderungen in Europa in der Außen- und Sicher- die Bundesrepublik Deutschland." Deutschland heitspolitik berechenbar, verläßlich und glaubwürdig würde in diesem Gremium anderen Mitgliedstaaten bleiben. Bündnisse und Mitgliedschaften in interna- Pflichten auferlegen, die es nach SPD-Meinung selbst tionalen Organisationen sind keine Schönwetterver- nicht erfüllen will. Das ist meiner Ansicht nach Mit- pflichtungen. gliedschaft auf Gutsherrenart: Nicht einmal Ihre (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ach Genossen von der Sozialistischen Internationale wer- Gott! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: den dafür Verständnis haben. Nanu!) In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, Ich war in der vorletzten Woche in den Vereinigten daß auf dem SPD-Parteitag der Antrag, die NATO in Staaten. Unsere Bündnispartner fragen uns: Wie wird Frage zu stellen, immerhin ein Drittel der Parteitags- sich das vereinte Deutschland verhalten? Steht delegiertenstimmen erhalten hat. Das zeigt, daß der Deutschland zu seinen Verpflichtungen in der NATO? Ungeist, die NATO in Frage zu stellen und bündnis- Steht Deutschland zu seinen Verpflichtungen, die es politische Verpflichtungen aufzugeben, bei Ihnen eingegangen ist, als wir Mitglied der UNO geworden noch immer vorhanden ist. In diesem Zusammenhang sind? muß daran erinnert werden, daß die SPD bereit gewesen wäre, die NATO preiszugeben, als über die In dieser außenpolitisch sensiblen Situation verfolgt Wiedervereinigung unseres Vaterlandes verhandelt die SPD eine Politik, die quasi einem Teilaustritt aus worden ist. der UNO gleichkommt. Sie will den militärischen Einsatz der Bundeswehr allein auf den Blauhelm ( [CDU/CSU]: So war es!) Einsatz beschränken. Dabei weiß doch jeder, daß sich Es ist Helmut Kohl im Kaukasus gelungen, beides zu Deutschland mit dem Beitritt zur UNO-Charta zur erreichen: die Wiedervereinigung und die NATO- Erfüllung aller Beschlüsse der UNO verpflichtet hat, Mitgliedschaft als Lebensversicherung für die Zu- auch zu friedensschaffenden Maßnahmen. kunft in Freiheit zu erhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ordneten der F.D.P.) Mit der SPD wird Deutschland kein gleichberech- Widersprüchlicher als die SPD kann man nicht sein. tigtes Mitglied der Völkergemeinschaft sein können. Einerseits fordert sie eine Stärkung der UNO — die Diese Politik führt in die Isolation. Sie wissen, eine UNO solle mehr Frieden durchsetzen, auch mit UNO- solche Sonderrolle würde das Vertrauen in unsere Truppen —, andererseits wird eine deutsche Mitwir- Bündnisfähigkeit und damit in unsere Verläßlichkeit kung abgelehnt, wenn es ernst wird, und damit eine auf das tiefste erschüttern. gefährliche Sonderrolle Deutschlands heraufbe- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt den deut- schworen. schen Soldaten für ihren Einsatz in Kambodscha und Eine Unterscheidung zwischen rein beobachtenden Somalia. Missionen mit Blauhelmen und anderen Einsätzen auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Grund der UNO-Charta ist künstlich und nicht umsetzbar. Sie, Herr Kollege Klose, sind deshalb auf Unsere Soldaten haben damit einen sichtbaren dem SPD-Parteitag — ich beziehe mich auf einen Beweis für die Verläßlichkeit und auch für die Verant- Bericht der Tageszeitung „Die Welt" vom 19. Novem- wortung Deutschlands geleistet. ber 1993 — für eine deutsche Mitgliedschaft in der Wie sehr Anspruch und Wirklichkeit bei den So- UNO ohne Wenn und Aber eingetreten. zialdemokraten auseinanderfallen, zeigt sich z. B. bei (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Recht der Wehrtechnik. Der niedersächsische Ministerprä- hat er!) sident Gerhard Schröder tritt vor die Mitarbeiter der DASA und macht sich für den Erhalt dieser Arbeits- Das ehrt Sie, und ich möchte mich dafür ausdrücklich plätze stark. Er sagt: bedanken. Solange wir eine Bundeswehr haben, müssen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) im eigenen Land für die Ausrüstung sorgen. Es Leider haben Sie Ihren Vorsitzenden, der anschlie- gibt einen direkten Zusammenhang zwischen ßend zu uns sprechen wird, und auch die Parteitags dem Bereich der Produktion für die Verteidi- - Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16539

Michael Glos gungsindustrie und dem zivilen Luftfahrtbe- Die von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion durchge- reich. setzte Grundgesetzänderung erweist sich heute als erfolgreich. Die Asylbewerberzahlen sind auf ein Der Mann hat recht. Drittel geschrumpft, Altanträge werden zügig abgear- Gleichzeitig beschließt der SPD-Parteitag die strikte beitet und neue Anträge rasch entschieden. Vor allem Ablehnung von europäischen Rüstungskooperatio- in SPD-regierten Ländern bestehen aber noch viele nen wie z. B. bei dem Eurofighter. Wo ist da die Vollzugsdefizite. Logik? Der Unmut der Bürger über wachsende Kriminalität (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) muß ernstgenommen werden. Ich lade die SPD aus- drücklich ein, das Sofortmaßnahmenpaket 1994 der Wo bleibt die Glaubwürdigkeit? Für wie dumm halten Koalition zur Verbrechensbekämpfung mitzutragen. Sie eigentlich die Arbeitnehmer in der Luft- und Raumfahrtindustrie? (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wir haben unsere (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge eigenen Vorstellungen! — Tragen Sie die doch mit!) ordneten der F.D.P.) Glauben Sie, die Leute können keine Zeitung lesen Die Koalition hat bereits beschlossen: beschleunigte und hören nicht die Berichte Ihres Parteitages? Strafverfahren, Verschärfung des Haftrechtes, harte Strafen gegen Schlepperunwesen, höhere Strafen Interessant ist auch das doppelbödige Verhalten der gegen Körperverletzung, besserer Diebstahlschutz für SPD-Ministerpräsidenten immer dann, wenn es um Kfz, Ausweitung der Kronzeugenregelung usw. Arbeitsplätze im eigenen Bundesland geht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das Zulassung elektronischer Überwachung von Gang- kann man wohl sagen!) sterwohnungen scheint es auf den ersten Blick einen Schröder sagt in realpolitischer Verantwortung um Meinungsumschwung bei der SPD zu geben. Es Arbeitsplätze im Grunde nichts anderes als das, was scheint allerdings nicht so zu sein, daß dieser Beschluß CDU/CSU schon immer vertreten. besserer Einsicht entspringt. Er dient offenkundig nur dem Ziel, die Koalition auseinanderdividieren zu (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wollen. Dann müssen wir fliegende U-Boote neh men!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Auch das wäre legitim, Herr Kollege!) In einer schwierigen Phase des Umbruchs braucht die Industrie Planungssicherheit, um Hochtechnologie Aber das wird Ihnen nicht gelingen. und Arbeitsplätze in Deutschland sichern zu können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt deshalb Herrn Bundeskanzler Kohl sehr herzlich für sein Für gemeingefährliche Gewaltverbrecher darf es Eintreten für deutsche Wirtschaftsprojekte in China keinen Freiraum geben. Wohnungen von Schwerst- zugunsten deutscher Unternehmungen und damit verbrechern dürfen keine Ruheräume sein. Wir ver- zugunsten deutscher Arbeitsplätze. trauen hier auf die Einsichtsfähigkeit unseres Koali- tionspartners. Niem and ist davor geschützt, Schritt für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Schritt klüger zu werden. ordneten der F.D.P. — Dr. Wolfg ang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Die gute Vorbereitung (Zustimmung bei der CDU/CSU) nicht vergessen!) Zur Glaubwürdigkeit der SPD in Fragen der inneren Die SPD debattiert, der Kanzler handelt. Ich selbst Sicherheit gehört auch, die Blockade der Ernennung war Zeuge, als der Kanzler in der China-Delegation eines neuen Generalbundesanwaltes aufzugeben. mit Vertretern der deutschen Indust rie (Lachen bei der SPD) (Zurufe von bei der SPD: Oh!) Will die SPD die Verantwortung dafür übernehmen, und auch des deutschen H andels darüber gesprochen wenn bei einem terroristischen Anschlag die General- hat, wie man Produkte aus den neuen Bundesländern bundesanwaltschaft nicht voll handlungsfähig ist? Die stärker in das Sortiment aufnehmen kann. Es sind dort SPD hat sich verrannt. auch entsprechende Zusagen erfolgt. (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Warum haben Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — denn den alten entlassen?) Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Donnerwetter! — — Auch Ihr Zwischenruf, Herr Kollege Klose, kann Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Mein nicht davon ablenken: Hier geht personelle Parteitak- Gott, was bist du ein großer Mann!) tik über Interessen des Staates und den Schutz der Durch langes Taktieren und Blockieren bei der Bürger. Verhinderung des hunderttausendfachen Mißbrau- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ches des Asylrechts hat sich die SPD als zuverlässiger ordneten der F.D.P. — Widerspruch bei der Wahlhelfer von Herrn Schönhuber erwiesen. SPD — Hans-Ulrich Klose [SPD]: Dann holen (Beifall bei der CDU/CSU — Helmut Wieczo Sie den alten doch zurück! — Helmut rek [Duisburg] [SPD]: Wer ist denn Schönhu Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Den haben Sie - ber?) doch ungerechterweise entlassen!) 16540 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Michael Glos — Ich weiß, Ihnen geht es um Frau Däubler Die SPD in Hamburg — wenn ich recht weiß, kommt Gmelin. Herr Klose von dort — hat jahrelang durch die Duldung rechtsfreier Räume wie in der Hafenstraße (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Eine gute dem Rechtsbewußtsein schweren Schaden zugefügt. Frau!) Ich habe sehr deutlich mitbekommen, daß man auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dem SPD-Parteitag eine neue Planstelle für die ordneten der F.D.P.) Genossin Däubler-Gmelin geschaffen hat, indem man Die SPD weigert sich heute, die Zusammenhänge zu sie zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden ge- erkennen. Hat man vergessen, daß die Gewalt gegen macht hat. Personen mit der Duldung von Gewalt gegen Sachen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie können begonnen hat? Hat man vergessen, daß es Strategie nicht einmal lesen!) der 68er-Bewegung war, jede Autorität und jede Erziehung in Frage zu stellen? Nun, nachdem die Dame nicht mehr stellungslos ist, könnten Sie Ihre Blockade doch endlich aufgeben. (Zuruf von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der — Herr Kollege, Ihr lautes Schreien beweist, daß bei SPD: Zur Sache!) Ihnen die Erziehung im Elternhaus offensichtlich auch Ebenso unverständlich ist — auch hier führen Sie nicht richtig funktioniert hat. Ihre Glaubwürdigkeit ad absurdum —, daß Sie die (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Ernennung der ersten Frau zur Präsidentin des Bun- Lachen bei der SPD — Bundesminister desrechnungshofs im Bundesrat immer noch blockie- Dr. Theodor Waigel: Sehr gut! Ausgezeich- ren, obwohl Sie im Deutschen Bundestag zugestimmt net! — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: haben. Herr Glos, sagen Sie mal etwas zum Haus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) halt!) Sie sollten es sich als Bundestagsfraktion nicht gefal- Daß die SPD auch bis heute nichts dazugelernt hat, len lassen, daß Sie vom Bundesrat so behandelt zeigt ein Blick in die aktuellen Beschlüsse. Nötigung werden. Wo bleibt da Ihr Selbstverständnis als Abge- durch Sitzblockaden will die SPD erlauben. Bei ordnete? Ladendiebstahl und Kleinstkriminalität will die SPD (Arne Fuhrmann [SPD]: Wir müssen ja sogar auf Bestrafung verzichten. Die Sanktion dieser Sie ertragen!) Gesetzesverstöße soll sogar durch „Richtlinien näher geregelt werden" , wie es in ihrem Programm heißt. Alt In einem Parteitagsbeschluß in Wiesbaden beklagt ist allerdings die Forderung, daß der Besitz von die SPD zu Recht, die positive Werteorientierung in leichten Drogen wie Haschisch und Marihuana künf- weiten Teilen unserer Gesellschaft sei verlorengegan- tig straffrei bleiben soll. Neu ist hingegen, daß auch gen. Man versteigt sich allerdings in die schamlose bei harten Drogen künftig in bestimmten Fällen Behauptung, Bundeskanzler Kohl sei der Hauptschul- Straffreiheit zugelassen werden soll. dige dafür. (Widerspruch bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) Das ist allerdings eine falsche Methode, nämlich die Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist Methode „Haltet den Dieb". nicht nur schlimm für das Rechtsgefühl der Bürgerin- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Der nen und Bürger, Kanzler hat doch damit nichts zu tun!) (Zuruf von der SPD: Daß Sie nicht zum — Hören Sie zu, wenn Sie wissen wollen, wie es Haushalt kommen, das ist schlimm!) wirklich war. sondern es ist schlimm für unsere Jugend, (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Es fällt uns so schwer!) (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Daß sie so einen Schwachsinn anhören muß!) Wer hat denn jahrelang gerade im Bereich der inneren Sicherheit Werte relativiert, ja sogar verächt- die damit eine Verharmlosung der Drogen erfährt. lich gemacht? Wer hat grenzenloser Selbstverwirkli- Und Sie sind bereit, all dies in Kauf zu nehmen. chung und Konfliktstrategien das Wort geredet? Es war Oskar Lafontaine von der SPD, der Tugenden wie (Beifall bei der CDU/CSU — Andrea Lederer Fleiß, Selbstdisziplin, Pünktlichkeit und Treue als [PDS/Linke Liste]: Dem widersprechen alle Sachverständigen!) „Sekundärtugenden" diffamierte, mit denen man genausogut ein „KZ führen" könne. Er hat das damals Damit wird das von Ihnen beklagte mangelnde Werte- alles nur gesagt, um den damaligen Bundeskanzler bewußtsein und die Trennung zwischen Recht und und heutigen Wirtschaftsberater von Herrn Schar- Unrecht aufgeweicht und ein höchst gefährlicher Weg ping, Herrn Schmidt, zu diffamieren. Ich bin gespannt, beschritten. wie dieses neue, alte Führungsteam jetzt Arm in Arm miteinander in Wahlkämpfen auftreten will. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion tritt im Gegen- satz zur SPD für eine positive Wertordnung ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Uwe Lambinus [SPD]: Was hat das mit den (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer regiert hier - Schulden zu tun?) eigentlich?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16541

Michael Glos — Ich kann Ihre Frage, wer eigentlich regiert, schnell Land gezogen ist und die Union einer Diffamierungs- beantworten. kampagne bezichtigt hat.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das merkt (Dr. Uwe Küster [SPD]: Mönch in Sachsen- man Ihrer Rede nicht an!) Anhalt z. B.! —Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ihre Rede ist eine Zumutung!) Hierzu gehört an allererster Stelle der vorbehaltlose Schutz des ungeborenen Lebens. Die SPD hat mit — Darm verlassen Sie den Saal, wenn es Ihnen hier ihrer reinen Fristenregelung ein verfassungswidriges nicht gefällt, Frau Matthäus-Maier. Sie sind die Welt- Gesetz beschlossen, das erst vom Bundesverfassungs- meisterin in Polemik und beklagen sich, wenn andere gericht gestoppt werden mußte. die Dinge beim Namen nennen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hat die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Mehrheit im Parlament beschlossen! — Horst ordneten der F.D.P. — Bundesminister Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Gucken Sie zur Dr. Theodor Waigel: So ist es!) F.D.P. hin!) Ich wollte Frau Matthäus-Maier eigentlich ausspa- — Das ist eine Tatsache meine Damen und Herren. — ren, aber nun bin ich gezwungen, die ganze Wider- Sie sind eingeladen, das Urteil des Bundesverfas- sprüchlichkeit aufzuzeigen. Wo sind denn die Rezepte sungsgerichtes jetzt mit umzusetzen und dabei mitzu- der SPD in der Wirtschaftspolitik? Das in Wiesbaden wirken, daß es in Zukunft einen besseren Schutz des dazu beschlossene Papier gibt keine Antwort. Selbst ungeborenen Lebens gibt. Frau Matthäus-Maier setzt sich davon ab und nennt das Papier „anspruchsvoll, auch was die Kosten (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das angeht" . Zu deutsch heißt das: Die SPD hat in einer habt ihr doch erstritten! Nun seht auch zu, Zeit, in der die Sparsamkeit bei den öffentlichen wie ihr damit klarkommt!) Ausgaben oberstes Gebot ist, einen vorweihnachtli- chen Wunschzettel zusammengeschrieben, der zig Auch das Wort „Wahrheit" ist bei der SPD höchst Milliarden neue Ausgaben notwendig machen unterentwickelt. würde. (Zuruf von der SPD: Das zu sagen steht Ihnen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wo denn? wohl nicht zu!) — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie haben das nicht gelesen!) — Okay. Wenn Sie wollen, daß ich den Wahrheitsbe- weis antrete, tue ich das sehr gern. Ich habe mich Mit der haushaltspolitischen Realität hat das, was Sie natürlich darauf vorbereitet. dort beschlossen haben, überhaupt nichts zu tun. Was der Untersuchungsausschuß des Landtages in Herr Schröder nennt das Wirtschaftsprogramm der Schleswig-Holstein in diesen Wochen zutage fördert, SPD zu Recht „notwendig abstrakt", was immer das ist ein Skandal. heißt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was hat das mit Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.] — Zuruf Frau Matthäus-Maier zu tun?) von der CDU/CSU: Engholm-Skandal!) Auch hier kann ich Ihnen die Übersetzung in den Es kann nicht mehr ausgeschlossen werden, daß der normalen Sprachgebrauch liefern: Sie wollen mit unsägliche Herr Pfeiffer mit Wissen oder sogar im verbalen Nebelbomben die ökonomische Wirklich- Auftrag der SPD tätig geworden ist, um Herrn Eng- keit verhüllen. holm wählerwirksam als Opfer darstellen zu kön- nen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zurufe von der SPD) Aus diesem Nebel zeichnen sich allerdings Konturen ab. Sie wollen dem Bürger tiefer in die Tasche — Hier ist nicht Geschrei notwendig, sondern hier ist anschließend ein klares Wort des Bundesvorsitzenden greifen Scharping notwendig. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das geht doch gar nicht mehr!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und sich Spielraum für neue Umverteilungen schaf- Ich fordere Sie auf, Herr Scharping, im Deutschen fen. Bundestag die Rolle der SPD offenzulegen und klar zu (Widerspruch bei der SPD) bewerten. Mit dieser Aktion damals ist viel Schaden hinsichtlich des Vertrauens in die deutsche Politik Ihr sozialistischer Irrglaube hat Sie nicht verlassen, entstanden. nur Ihr Vokabular ist moderner geworden. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) unglaublicher Lügenskandal!) Jetzt spricht man nicht mehr von staatlichen Len- Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht auf kungs- und Kontrollinstanzen wie in den 70er Jahren, die volle Wahrheit, und es ist geradezu ein Hohn, daß nein, man nennt das jetzt im neuen Soziologen- Herr Engholm noch vor wenigen Monaten durchs deutsch: „Regionalisierte Arbeitsmarkt-, Beschäfti- 16542 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Michael Glos gungs- und Strukturpolitik braucht einen institutio- und das müssen wir jetzt alle miteinander ausbaden, nellen Ort in der Region." meine sehr verehrten Damen und Herren. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — F.D.P.) Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Es gehö- Es ist jedem klar, was damit gemeint ist. Herr Klose hat ren immer zwei dazu, Herr Glos! Zwei Par es vorhin umschrieben; er hat von „marktkonformer -teien!) Industriepolitik" gesprochen. — Lieber Herr Kollege Jungmann, wenn Sie, statt selbst lautstark die Veranstaltung zu stören, zugehört (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist hätten, hätten Sie merken müssen, daß ich von Tarif- schön!) parteien gesprochen habe, und es ist selbstverständ- Es ist offensichtlich: Ihr Glaube an den sozialisti- lich, daß dazu zwei gehören. schen Staatsinterventionismus sitzt nach wie vor tief. Wir brauchen keine neuen Agenturen und Konferen- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: In Bay- zen, sondern wir brauchen wettbewerbsfähige ern weiß man das nicht immer so genau! — Arbeitsplätze in leistungsfähigen Privatbetrieben. Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Herr Kollege, Sie sind nicht auf einer CSU-Veranstaltung, son- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — dern im Deutschen Bundestag!) Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Jetzt Die Gewerkschaften haben kein Monopol für wirt- baut er wieder alte Feindbilder auf, die er schaftliches Versagen bei uns im Land. Hier gab es braucht!) einen unheilvollen Wettlauf mit manchen Mana- Ich kann Ihnen noch mehr Widersprüche aufzei- gern. gen. (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Ja, SPD: Mit der Regierung!) machen Sie mal weiter!) Ihr sogenannter Frankfurter Kreis — das soll eine Sie, Frau Matthäus-Maier, wiederholen mit gewohn- Organisation von linken SPD-Abgeordneten sein — ter Penetranz — wir kennen Ihre Reden — Ihre bestreitet sogar, daß es eine Lohnkosten- und Steuer- durchaus richtige Erkenntnis, daß die Neuverschul- belastungskrise in Deutschland gibt. dung des Staates begrenzt werden muß. Ein wirtschafts-, energie- und umweltpolitisches (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Jetzt müssen Eigentor schießt die SPD mit ihrem kompromißlosen Sie mich loben!) Beschluß zum Ausstieg aus der friedlichen Nutzung So weit, so gut. Gleichzeitig appelliert Herr Lafontaine der Kernenergie. Die SPD spricht in ihrem Wirt- an die Länder, das Sparpaket der Bundesregierung schaftsprogramm unablässig von Ökologie. Ihre Ideo- abzulehnen. logen sind jedoch nicht bereit, zur Kenntnis zu neh- men, daß allein im letzten Jahr durch die Kernenergie (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Weil wir bes fast 160 Millionen t des klimaschädlichen CO2 vermie- sere Vorschläge haben!) den werden konnten. Frau Matthäus-Maier hält laut Bericht des „Handels- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) blatts" vom 10. November die Vorschläge für „nicht Seit Beginn der Kernenergienutzung in Deutschland akzeptabel", wonach Einkommensausfälle, die durch ist bis heute der Umwelt ein CO2-Ausstoß von sage Arbeitszeitverkürzung entstehen, durch Mittel der und schreibe 1,8 Milliarden t Kohlendioxid erspart Bundesanstalt für Arbeit ersetzt werden sollen. geblieben. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Da hat sie recht! — Ina Albowitz [F.D.P.]: Wo nehmen wir das (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Geld her?) GRÜNEN]: Durch den Zusammenbruch der Wirtschaft im Osten, durch nichts weiter!) Der Chefökonom Lafontaine hingegen, ihr Angst- gegner, der ihr ja in das Schattenkabinett Scharping Die SPD ist tief gespalten, wie sich an all diesen Beispielen zeigt. Eine Regierungsübernahme der SPD vorgezogen wurde, rechnet der Öffentlichkeit vor, daß wäre eine Gefahr für unser Land. es eigentlich ganz logisch sei, daß die Bundesanstalt für Arbeit zur Zahlung herangezogen werde. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) (Manfred Opel [SPD]: Was sagt denn Stoiber dazu?) Deswegen brauchen wir in dieser schwierigen Zeit Vernunft und Augenmaß zur Wiedererlangung unse- Den Vogel schießt er allerdings ab, wenn er über die rer Konkurrenzfähigkeit. Die Dolchstöße der SPD Höhe der Zuschüsse durch die Bundesanstalt für gegen die Leistungsbereitschaft des einzelnen und Arbeit auch noch die Tarifparteien verhandeln lassen die Investitionsbereitschaft der Unternehmen sind in will. einer solchen Phase unerträglich. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ja!) (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Diese Was die Tarifparteien mit ihren Verhandlungen in den militante Sprache verrät Sie, Herr Glos!) letzten Jahren alles angestellt haben, das wissen Herr Scharping forderte in seiner Rede auf dem wir, Parteitag in Wiesbaden ein Bündnis der Leistungsfä- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sind wir dafür higen und der Starken; sonst könne den Schwachen - auch noch zuständig?) nicht geholfen werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16543

Michael Glos Schon einige Sätze später in seiner Rede macht er Wie wollen Sie es den Arbeitern der Stahlindustrie, allerdings gegen diese Leistungsträger Stimmung. Er der Metall- und der chemischen Indust rie oder gar der läßt also die Maske fallen. Er spricht von der „Raffge- Wälzlagerindustrie in Schweinfurt erklären, warum sellschaft" und davon, daß jeder, der 2 000 DM Sie die Energiepreise verteuern wollen und warum Steuern zahlt, genausogut 2 200 DM bezahlen ihre Arbeitsplätze dann noch schneller ins Ausland kann. verlagert werden sollen? Schon heute müssen diese Menschen, wie gesagt, wegen der hohen Produktions- (Zustimmung bei der SPD — Anke Fuchs kosten bei uns im Land um ihre Arbeitsplätze b an [Köln] [SPD]: Das stimmt doch!) -gen. an der Steuerschraube drehen Jeder, der jetzt noch (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wer will, muß wissen, daß er die Wachstumsimpulse im regiert hier eigentlich? Das sind doch die Keim erstickt. Folgen eurer Regierung! — Ingrid Matthäus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Maier [SPD]: Ja, wer regiert hier eigentlich in Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie sind geizig, Sie diesem Land?) wollen nicht zahlen!) — Wir sprechen im Moment von den Folgen hoher Ich würde Ihnen einmal empfehlen, beim 16. Präsi- Energiekosten. denten der USA, Abraham Lincoln, nachzulesen. Ich (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer regiert denn will nicht den ganzen Absatz vorlesen, aber wenig- hier?) stens den Beginn: Da kann ich nur sagen: Wir haben uns allezeit zur Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem Kernkraft bekannt, die die preiswerteste Energie ist. ihr die Starken schwächt. Ihr werdet denen, die Die Demonstrationszüge gegen die Kernkraftwerke ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, nicht sind allemal von der SPD und den GRÜNEN angeführt helfen, indem ihr diejenigen ruiniert, die sie worden. Nicht weit weg von der Heimat des Herrn bezahlen. Ihr werdet keine Brüderlichkeit schaf- Scharping steht ein Kernkraftwerk, das man zum fen, indem ihr Klassenkampf und Klassenhaß Museum umbauen kann, schürt. Ihr werdet den Armen nicht helfen, indem ihr die Reichen ausmerzt. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie haben doch die Mehrheit! Warum regieren Sie nicht?) All das gilt noch heute. das voll intakt und in Ordnung ist, das jeden Tag (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) für 1 Million DM Strom liefern könnte. So kostet es Die Soziale Marktwirtschaft kann nur funktionieren, 1 Million DM Zinsen täglich. Wenn man all dies in wenn auch ausreichend Anreiz zur Leistung vorhan- wirtschaftliche Vernunft umwandeln würde, könnte den ist. man schon vielen Arbeitslosen helfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir haben eine Belastungsquote der Leistungsträ- Herr Scharping kann anschließend auch erklären, ger unserer Gesellschaft erreicht, die, wie ich meine, was er damit gemeint hat, daß wir die Arbeitslosigkeit fast unerträglich ist und die wir nicht willkürlich nur bewältigen, wenn die Menschen kürzer, also weiter in Anspruch nehmen können. weniger arbeiten. Statt den Bürgern die unange- nehme Wahrheit zu sagen, flüchten Sie sich damit in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — angenehme Unwahrheiten. Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wie Für wie dumm halten Sie eigentlich die Bürger, daß lange sind Sie eigentlich an der Regie Sie glauben, ihnen sagen zu können: Ihr müßt nur rung?) weniger arbeiten, dann werden wir schon wieder Ich kann deshalb die SPD nur warnen, ihr Steuerer- wettbewerbsfähig? höhungskonzept weiterzuverfolgen. Hinter ihrer Ver- Wo bleibt Ihr Gegenfinanzierungsvorschlag für die balpirouette mit dem großartigen Titel „ökologische Finanzierung der Pflegeversicherung? Hier können Umgestaltung des Steuersystems" verbirgt sich nichts Sie zeigen, daß Sie wirtschaftlich dazugelernt weiter als eine drastische Erhöhung der Energiebe- haben. steuerung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Die Energiepreise, ein wichtiger Wettbewerbsfak- — Lachen bei der SPD) tor — wir reden ja über den Wettbewerb der deut- schen Wirtschaft —, befinden sich in Deutschland Wollen Sie mit noch höheren Lohnkosten, mit noch bereits in einer Spitzenposition. Ich erinnere daran: höheren Lohnzusatzkosten, die zu höheren Lohn- Der strompreisbedingte Mehraufwand der deutschen stückkosten führen, noch mehr Arbeitsplätze aus Industrie im Vergleich zu Frankreich betrug im letzten Deutschland vertreiben? Ob man es wahrhaben will Jahr sage und schreibe 13,5 Milliarden DM. oder nicht: In Deutschland waren die Lohnkosten je Produkteinheit 1992 immerhin um 30 % höher als Wenn Sie wissen wollen, wie sich eine Energie- 1985. In den USA sind die entsprechenden Kosten im preiserhöhung auswirkt, so empfehle ich Ihnen ein- gleichen Zeitraum nur um 3,6 % angestiegen, in Jap an mal, einen Blick auf die Ölpreiskrisen 1973/74 und um 7,4 %. 1979/80 und auf die ökonomischen Folgen zu wer- fen. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wer - (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) regiert seit 1985?) 16544 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Michael Glos Stefan Baron hat in der „Wirtschaftswoche" am Danke schön. 5. November 1993 richtig gesagt: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Mit Umverteilung ist noch nie ein Problem gelöst worden, das seinen Ursprung im Bereich der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Produktion hat. der Abgeordnete Hermann Otto Sohns. Bei allen wirtschaftspolitischen Entscheidungen, (F.D.P.): Frau Präsidentin! die wir in Deutschl and treffen, müssen wir die inter- Dr. Hermann Otto Solms Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle nationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt- wissen, daß wir in einer schaft im Auge behalten. Wir wissen, daß nicht nur Epoche tiefgreifender Deutschland, sondern ganz Europa von einer Rezes- Umwälzungen stehen, daß wir vor weitreichenden sion betroffen ist. Die gegenwärtige Situation in der Aufgaben unserer Zukunftsgestaltung stehen, daß wir EG ist geprägt von Strukturkrisen, Budgetdefiziten, vor Herausforderungen historischer Dimension, vor Arbeitslosigkeit, steigenden Steuern und Sozialabga- einer neuen Standortbestimmung von Deutschl and ben. stehen — im Inneren wie nach außen. Und die Aufgeregtheit der Diskussion zeigt ja, daß jeder weiß, Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, das wie schwierig die Aufgaben sind, die wir zu lösen Heil kann nicht Protektionismus sein, sondern wir haben. müssen erst recht ja sagen zum freien Welthandel. Das ist oft beschworen worden. Nur, wir sind noch Deswegen hoffe ich sehr, daß die Uruguay-Runde im nicht in einem Zustand der Normalität, und wer dies Rahmen des GATT zu einem guten Ende geführt nicht erkennt oder nicht wahrhaben will, wird der wird. gegenwärtigen Herausforderung auch nicht gerecht (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sitzt da werden können. auch die SPD am Verhandlungstisch?) Wenn Sie, Herr Klose, sagen, es seien die Probleme Ich bedanke mich auch hier für den ausdrücklichen des Bundeskanzlers, dann haben Sie — für mich Einsatz des Herrn Bundeskanzlers, der die amerikani- jedenfalls — ein merkwürdiges Demokratieverständ- schen und die französischen Positionen näher zuein- nis. ander gebracht hat. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU — Zurufe von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es sind die Probleme von uns allen! Und wenn wir Peter Sutherl and, der GATT-Generaldirektor, hat in nicht endlich lernen, dies auch so zu begreifen, daß einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt" nämlich jeder zunächst gucken soll, was er selbst dazu vorgestern gesagt: beitragen kann, die Probleme zu lösen, bevor er auf Mit einem GATT in den 30er Jahren wäre uns den anderen zeigt, vielleicht der Zweite Weltkrieg erspart geblie- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Warum zah- ben. len Sie dann keinen Solidaritätszuschlag?) Von der weiteren Öffnung der Märkte in aller Welt dann werden wir allerdings diese Situation nicht können wir in Deutschland neue wirtschaftliche beherrschen. Impulse erwarten. Bedingung ist allerdings, daß wir (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) unsere eigenen strukturellen Krisen bewältigen, daß wir wieder lernen, nicht mehr auszugeben, als wir Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Solms, gestat- einnehmen, daß wir wieder lernen, daß Wohlstand ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klose? nicht von Freizeit, sondern von Arbeit kommt. Hätten — Bitte, Herr Klose. die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg die wenige Arbeit, die vorhanden war, „gerecht verteilt", Hans-Ulrich Klose (SPD): Herr Kollege Solms, wür- statt die Ärmel hochzukrempeln, hätte es nie ein den Sie dann auch sagen, daß Äußerungen der deutsches Wirtschaftswunder gegeben. Bundesregierung, sie habe in bestimmten Zeiträumen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — von 1982 bis — sagen wir — 1989 soundsoviel Millio- Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Also nen Arbeitsplätze geschaffen, ebenfalls ein mangeln- 1945 gab es wenig Arbeit? So einen Blödsinn des Demokratieverständnis zeigen? habe ich noch nie gehört!) (F.D.P.): Nein. Das zeigt, Der bekannte Sanierer Kajo Neukirchen sagt heute zu Dr. Hermann Otto Solms Recht: „In Notzeiten müssen die Menschen eher mehr daß die Bundesregierung — jedenfalls was ihren arbeiten als weniger." Anteil betrifft — damals richtige Entscheidungen getroffen hat. Die SPD ist als angebliche Arbeiterpartei aufgefor- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dert, Arbeitsplätze zu sichern, ihre Blockadehaltung im Bundesrat gegen die Spargesetze aufzugeben, in Und, Herr Kollege Klose, das zeigt auch, daß wir bereit der Energiepolitik Vernunft einkehren zu lassen, und sind, auf diese Therapie, die wir damals angewendet die SPD ist vor allen Dingen aufgefordert, aufzuhören, haben, zurückzugreifen und sie jetzt auch einzuset- die Menschen in unserem Land zu verhetzen. zen, soweit das in unserer Macht steht. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Zurufe von der SPD) ten der CDU/CSU — Horst Jungmann [Witt- Helfen Sie lieber mit, den Karren wieder flottzuma- moldt] [SPD]: Also, die Bundesregierung ist chen. machtlos?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16545

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine letzten Jahr gemeinsam getan, als wir um eine Neu- weitere Zwischenfrage? regelung des Asylrechts gerungen haben —, kann, ähnlich wie beim Asylrecht, eine Einschränkung von Grundrechten überhaupt in Betracht gezogen wer- Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Ja, bitte. den. Dies kann, wenn überhaupt, nur am Ende der Anstrengungen zur Bekämpfung der Kriminalität ste- Hans - Ulrich Klose (SPD): Würden Sie im Sinne hen. So weit sind wir heute bei weitem noch nicht. einer solchen Bescheidenheit wenigstens zugeben, daß die Bundesregierung ihren guten Anteil auch am (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Entstehen der Probleme hat? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will dazu sagen: Nach meinem Empfinden ehrt es die F.D.P., Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Herr Klose, es ist daß sie sich diese Auseinandersetzung so schwer ja nun das alte Spiel seit 1990, daß so getan wird, als macht; ginge die Entwicklung, insbesondere die ökonomi- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sche Entwicklung, über den Fall der Mauer hinweg ten der CDU/CSU) kontinuierlich weiter. Das ist der Fehleindruck, der hier immer zu erwecken versucht wird. das zeigt, daß sie die Lösungen nicht je nach politi- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das hat scher Opportunität sucht. Wenn Sie sich die öffentli- doch der Bundeskanzler gemacht!) che Berichterstattung ansehen, stellen Sie ja auch fest, daß die F.D.P. in diesem Zusammenhang nicht sehr Aber es gibt ganz im Gegenteil völlig neue Probleme, gut wegkommt. Trotzdem versuchen wir, diesen vor denen nicht nur wir Deutschen stehen, sondern vor Abwägungsprozeß in aller Gründlichkeit und in einer denen alle Länder in Europa und der Welt stehen. Kein schwierigen innerparteilichen Diskussion so vorzu- Land hat Antworten gefunden, die diese Probleme nehmen, daß wir zum Schluß zu einem Ergebnis einfach lösen könnten. kommen, das, glaube ich, der Problematik von beiden (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Seiten her gerecht werden kann. Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Frage nicht beant wortet!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) Was wir hier tun, ist, darum zu ringen, die richtigen Lösungen zu finden. Daß auf diesem Weg auch Fehler Dazu ist aber jetzt nicht . Es ist jetzt die Zeit, gemacht werden, ist völlig selbstverständlich, da es die Vollzugsdefizite, die wir alle erkannt haben, zu kein Lehrbuch gibt, das einfache Regeln enthält, wie beseitigen. wir das machen sollen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) ten der CDU/CSU) Wir unterstützen deshalb auch den Bundesinnenmini- Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines der zentra- ster und erwarten von der am kommenden Freitag len Themen, mit denen wir uns gegenwärtig zu tagenden Konferenz mit den Innenministern der Län- befassen haben und die die Bürger bekümmern, ist die der, daß das Bund-Länder-Sicherheitsprogramm von zunehmende Verunsicherung durch wachsende Kri- 1974 endlich fortgeschrieben wird. Wir mahnen seit minalität, durch eine Beeinträchtigung der inneren Jahren, daß wir hier vorankommen müssen. Sicherheit. Der liberale Rechtsstaat hat die Aufgabe, den Menschen vor staatlichen Übergriffen, vor staat- (Zuruf von der SPD: Wir auch!) licher Willkür zu schützen. Er hat aber genauso die Bis jetzt ist nichts geschehen. Aufgabe, den Menschen, den Bürger vor den Über- griffen anderer Menschen, vor der Kriminalität zu Wir erwarten von der SPD, die ja die meisten schützen. Beide Aufgaben muß er übernehmen. Landesinnenminister stellt, daß sie sich konstruktiv daran beteiligt. Wir halten es für ein elementares (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Versäumnis, daß dieses Programm trotz unserer stän- Die parteipolitisch motivierte Symboldiskussion digen Mahnungen bisher nicht aktualisiert worden über den sogenannten großen Lauschangriff lenkt ist. von den tatsächlichen Problemen der inneren Sicher- Was den Bundesgesetzgeber betrifft, so haben sich heit ab. Die Grundrechte unserer Verfassung sind die die Experten der Koalitionsfraktionen bereits auf die wichtigsten Normen unseres Rechtsstaates. wichtigsten Eckwerte eines Verbrechensbekäm- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne pfungsgesetzes 1994 verständigt. Es wird deutliche ten der SPD) Verbesserungen zur Bekämpfung von Straftaten Eine Verfassungsänderung im Bereich der Grund- durch die Anpassung des Haftrechts und die Anhe- rechte kann daher immer nur, wenn überhaupt, eine bung der Strafrahmen bei Körperverletzung sowie Ultima ratio sein. Bestimmungen gegen Schlepperbanden und eine (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ganze Reihe weiterer Maßnahmen umfassen. Ich ten der SPD — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: hoffe, daß dieses Gesetz dann zügig beraten und Richtig!) verabschiedet werden kann. Das ist ein schwieriger Abwägungsprozeß. Erst Jetzt sind vor allem auch die Länder aufgefordert, wenn der Nachweis erbracht worden ist, daß alle endlich ihre Hausaufgaben, was die Vollzugsdefizite anderen Mittel ausgeschöpft sind und noch immer betrifft, zu machen. Die Länder müssen neue Prioritä-- Handlungsbedarf besteht — das haben wir ja im ten setzen, um die erforderlichen Mittel bereitzustel- 16546 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Hermann Otto Solms len, die Polizei und Justiz zur Erfüllung ihrer Aufga- verbunden sein soll. ben brauchen. Die Justiz — ich habe in der Zwischen- (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Die CDU zeit einige Gerichte besucht — arbeitet noch heute mit tut es nicht!) Organisationsmethoden und -strukturen des letzten Jahrhunderts. Wenn das so weitergeht, werden wir — Herr Bundeskanzler, ich glaube Ihnen gerne; denn den Erfordernissen des Rechtsstaats nie genügen, weil ich denke, daß dies ein Vorgehen ist, welches auf gar wir, da es Jahre dauert, bis die Prozesse abgewickelt keinen Fall akzeptiert werden kann. werden, zu einer Situa tion der Rechtsverweigerung (Beifall bei der F.D.P.) kommen werden. Wer den Schutz des privaten Eigentums antastet, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne legt die Axt an die Wurzel unserer Gesellschaftsord- ten der CDU/CSU und der SPD) nung, meine Damen und Herren. In Bremen, wo der F.D.P.-Senator van Nispen für die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) innere Sicherheit verantwortlich ist, konnte die Krimi- Die von der SPD geplante Änderung, die Aushöhlung nalitätsrate gesenkt werden. Bremen ist — ich will das der Eigentumsgarantie, ist mit der Eigentumspartei hervorheben — das einzige Bundesland, in dem die F.D.P. jedenfalls nicht zu machen. Kriminalitätsrate effektiv gesenkt werden konnte. (Beifall bei der F.D.P. — Hans-Ulrich Klose (Beifall bei der F.D.P.) [SPD]: Ja, das glaube ich! — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das war sehr verräte- Das ist ein gutes Ergebnis. Andere Landesinnenmini- risch!) ster sollten sich ein Beispiel daran nehmen. Denn das ist es schließlich, was der Bürger von uns erwartet. Gerade in einer Zeit, in der die deutsche Wirtschaft dringend Kapital und Investitionen braucht, Schon bevor alle praktischen Möglichkeiten der Kriminalitätsbekämpfung ausgeschöpft sind, ist nun (Zuruf von der SPD: Sie schützen Verbre- die SPD auf ihrem Parteitag bereit gewesen — sie hat chergeld!) einen Mehrheitsbeschluß durchgeführt —, das hätte ich auch von der SPD erwartet, daß sie sich der Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung ein- Bedeutung des Eigentums für die Funktionsfähigkeit zuschränken. des Investitionsprozesses bewußt wäre. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Als Ul tima (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Der Schutz ratio!) der Banken war Ihnen immer wich tiger als der Schutz unserer Kinder!) Herr Scharping, ich glaube, das ist in dieser Situa tion und bei diesem Stand des Vorgehens leichtfertig. — Frau Matthäus-Maier, schon Aristoteles hat vor 2 300 Jahren in seiner Soziallehre zur Bedeutung des (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und des Eigentums formuliert: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es darf der Besitz nur in gewisser Weise zum Um die Zustimmung dafür auf Ihrem Parteitag zu Gemeingut gemacht werden, bekommen, hat Herr Scharping — das ist noch kritik- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: In gewisser würdiger — einen noch höheren Preis gezahlt. Er hat, Weise!) um deren Zustimmung zu erreichen, den linken Dele- gierten die Eigentumsgarantie des Art. 14 gleich mit in der Hauptsache aber muß er P rivateigentum auf den Opfertisch gelegt. bleiben. Denn gerade bei der geteilten Verwal- tung wird alles besser gedeihen, indem jeder mit (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sorgfalt für seinen eigenen Vorteil arbeitet. Das ist unglaublich!) Dieser Grundsatz ist schließlich in unsere Verfassung So macht man die Grundrechte zu einem beliebigen eingeflossen. Das zeigt, wie wich tig er für die Funk- Instrument der Parteitaktik und der Machtergrei- tionsfähigkeit ist. fung. Zumindest diese Lehre sollte die SPD aus dem (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Niedergang des Kommunismus gezogen haben. Wer ten der CDU/CSU) durch die ehemalige DDR gefahren ist, weiß doch, allein wenn er sich den Wohnungsbestand anschaut, Wenn es um die Macht geht, spielen bei der SPD von wohin es führt, wenn man P rivateigentum geringach- heute Grundsätze nur noch eine mindere Rolle. Die- tet. sen Eindruck muß man haben. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. — Dr. Uwe Küster ten der CDU/CSU) [SPD]: Das sagt ausgerechnet die F.D.P.! — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Ja, gerade die F.D.P.!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Solms, gestat- Ich möchte auch gerne von der CDU, von der wir ten Sie eine weitere Zwischenfrage? wissen, daß sie den Lauschangriff und die Änderung des Art. 13 befürwortet, wissen, was sie dazu sagt, daß Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Nein, ich möchte dies mit einer Änderung des Art. 14, mit einer Aus- jetzt fortfahren. höhlung der Eigentumsgarantie Zumindest diese Lehre sollte jetzt endlich gezogen (Zurufe von der SPD: Für den Verbrecher! — werden, denn privates Wohneigentum schafft dar- - Für geklautes Geld!) über hinaus einen Ho rt für die Familie und eine Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16547

Dr. Hermann Otto Solms Sicherung für das Alter. Die erfolgreiche Politik zur Meine Damen und Herren, zur weiteren Konsoli- Ankurbelung des Eigenheimbaus durch Frau dierung des Bundeshaushalts gibt es keine Alterna- Schwaetzer und die Bundesregierung ist genau die tive, richtige Strategie, um diesem Gedanken Wirkung zu verleihen. Deswegen wird die F.D.P. auch verhindern, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- daß die Eigentumsrechte beim Wohneigentum z. B. ten der CDU/CSU) durch eine überzogene Ausweitung des Mietrechts so auch der Sachverständigenrat. Steigende Defizite weiter eingeschränkt werden. wären ein Signal für eine unsolide Haushaltspolitik. Sie führten zu höheren Zinsen, weil der Staat die Die SPD muß sich doch nur in der ehemaligen DDR schon zu wenigen p rivaten Investoren vollends ver- umschauen — darauf habe ich bereits hingewiesen —, drängte und weil die Bundesbank, um die Stabilität zu wie die Situation sich ohne Eigentum entwickelt. sichern, zwingend handeln müßte. Mangelnde Haus- Deshalb ist und bleibt es richtig, auch am Konzept haltsdisziplin bedroht Wachstum und Beschäftigung. „Rückgabe vor Entschädigung" festzuhalten. Konsolidierung dagegen führt zu mehr Wachstum. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Mancher Keynesianer mag das nicht verstehen. Aber ten der CDU/CSU) das haben auch die achtziger Jahre bewiesen. Deswegen ist es auch so wichtig, daß wir dem Konzept (Detlev von Larcher [SPD]: Ja, man sieht es eines Entschädigungsgesetzes, das Herr Gattermann jetzt!) entwickelt hat, folgen und es möglichst bald mit Konsolidierung ist nicht nur Aufgabe des Bundes. Gesetzeskraft versehen. Bund, Länder und Gemeinden sind hier gemeinsam aufgefordert zu handeln, denn nur dann kann es (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gelingen. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wer sich nicht zur wirtschaftlichen Bedeutung des Privateigentums bekennt, wird die wirtschaftlichen Wir haben heute gesamtwirtschaftlich ein Finanzie- Probleme nicht dauerhaft lösen. rungsdefizit von 160 Milliarden DM. Wir erreichen 1995 eine Steuerquote von über 25 %. Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer tief- greifenden Problemphase eines strukturellen Um- (Zuruf von der SPD: Ein toller Erfolg!) bruchs. Die Umstrukturierung in Ostdeutschland hat zwar 1993 Fortschritte gemacht; ein sich selbst tragen- Das war seit Anfang der fünfziger Jahre noch nie der Aufschwung ist jedoch noch nicht errreicht. da. Immerhin konnten in der Zwischenzeit nahezu (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Doch 1975 600 000 selbständige Existenzen gegründet werden. schon einmal!) Viele Erfolge des Aufbaus Ost beruhen nach wie vor auf der staatlichen Förderung. Deshalb muß diese Wir haben heute schon eine Zinslastquote von 8 % und staatliche Förderung fortgesetzt werden. eine Zins-Einnahmen-Quote von 9,4 %, die 1997 unter Einbeziehung der Erblast auf 15 % anwachsen wird. Das Konjunkturtal im Westen ist noch lange nicht Dieser Trend muß jetzt gebrochen werden, meine durchschritten. Der Strukturwandel ist noch nicht Damen und Herren. Was muß dafür getan werden? abgeschlossen. Allerdings sind inzwischen wichtige Voraussetzungen für einen neuen Aufschwung Ost (Zuruf des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) und West geschaffen: Die Bundesregierung hat wei- Der Trend muß gebrochen werden durch Sparen bei tere Konsolidierungsschritte unternommen. Die Lohn- den öffentlichen Ausgaben, durch Privatisierung politik hat 1993 in Westdeutschland mehr Zurückhal- öffentlicher Aufgaben, durch den Abbau der Rege- tung gezeigt als in den Jahren zuvor. Die Auftragslage lungsflut sowie durch den Abbau und die Reduzie- im Export hat sich stabilisiert. Auf Grund der Anstren- rung der Bürokratie, gungen der Finanzpolitik und der moderaten Lohnpo- litik war es der Bundesbank möglich, die Leitzinsen zu (Beifall bei der F.D.P.) senken. und zwar auf allen öffentlichen Ebenen. Da ist keiner Wer das Vertrauen der Investoren und Konsumen- auszunehmen, und jeder muß dort h andeln, wo er ten stärken will, wer mehr Wachstum und Beschäfti- Verantwortung trägt. gung will, wer aus der Krise zum Aufschwung will, der (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sehr kann nicht auf die weitere Erhöhung der Nettoneu- wahr!) verschuldung setzen. Mit 69,1 Milliarden DM über- steigt sie schon jetzt weit das, was ein konjunkturbe- Die Daten zeigen auch den mangelnden Beitrag der dingtes Defizit umfassen darf. Länder und Gemeinden für die gesamtwirtschaftlich notwendige Konsolidierung. Wer heute nicht konsoli- Die SPD redet in ihrem gerade beschlossenen diert, hat in der nächsten Legislaturperiode einen Wirtschaftsprogramm noch davon, daß die Begren- immer geringer werdenden Spielraum für gestaltende zung des Ausgabenanstiegs in Abhängigkeit von der Politik. konjunkturellen Lage vorgenommen werden könne. Dies ist eine der vielen Halbherzigkeiten, eine der (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Warum tun vielen falschen ökonomischen Analysen des SPD- Sie es dann nicht? — Gegenruf von der - Wirtschaftsprogramms. CDU/CSU: Furchtbar!) 16548 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Hermann Otto Solms — Ja, also, Frau Matthäus-Maier, jetzt liegen die — Bei uns herrscht keine Untergangsstimmung. Wir Sparpakete vor, von denen Sie behaupten, sie gingen sind fest entschlossen, die Probleme, die anstehen, zu viel zu weit. lösen. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie leh (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- nen sie ab! Sie boykottieren!) ten der CDU/CSU) Wir sind in der Koalition kurz davor, die wichtigsten Und diese Sparpakete haben Sie in den Vermittlungs- Probleme gelöst zu haben. Dann werden Sie sich ausschuß gebracht, um sie noch einmal zu kürzen. wundern, daß von Ihren Angriffen plötzlich nichts (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Weil sie öko mehr übrigbleibt. nomisch unsinnig sind!) (Detlev von Larcher [SPD]: Fangt doch ein- — Nein, sie sind nicht ökonomisch unsinnig. Gerade mal an!) die Kritik an den Einsparungen bei den Lohnersatz- — Sie können ja einen Beitrag leisten, beispielsweise leistungen zeigt doch, daß Sie nicht wahrhaben wol- bei den gegenwärtig anstehenden Verhandlungen len, was einfach Tatsache sein muß, zur Lösung der Probleme bei der Schaffung einer Pflegeversicherung. Wir wollen eine Pflegeversiche- (Beifall bei der F.D.P.) rung einführen, und zwar auf der Basis eines schwie- nämlich daß Menschen, die Lohnersatzleistungen rig ausgehandelten, aber verantwortlichen Kompro- bekommen, ohne zu arbeiten, natürlich weniger Ein- misses. kommen erzielen müssen als Menschen, die für ihr (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist nicht Einkommen arbeiten müssen. Das ist doch geradezu akzeptabel!) eine Selbstverständlichkeit. Wir erwarten nun von Ihnen, dazu einen konstrukti- (Beifall bei der F.D.P.) ven Beitrag zu leisten. Deswegen: Wenn die Einkommen real zurückge- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: So nicht!) hen — was ja gegenwärtig unvermeidlich der Fall Die Frage ist nur, ob Sie überhaupt noch in der Lage ist —, dann müssen auch die Lohnersatzleistungen sind, einen konstruktiven Beitrag zu leisten. gekürzt werden. Da kommen wir doch gar nicht drum (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU herum. — Detlev von Larcher [SPD]: Ihr seid euch ja (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der noch nicht einmal in der Koalition einig!) CDU/CSU — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Eine Also: Auf Ihrem Parteitag in Wiesbaden hat m an andere Steuerpolitik!) gehört, daß die Aufwertung der D-Mark und die Sagen Sie Ihren Mitgliedern doch bitte die Wahrheit, deutschen Unternehmen die Hauptverantwortlichen anstatt ihnen vorzugaukeln, es könne so weitergehen, für die wirtschaftliche Lage seien. Da, Herr Scharping, sie müßten nur auf den Kapitalmarkt gehen oder den sind Sie nun wirklich zu kurz gesprungen. Kümmern Steuerzahler weiter plündern. So kann es nicht Sie sich weniger um die Fehler anderer, handeln Sie gehen. da, wo Sie selbst Verantwortung tragen! Dann können (Beifall bei der F.D.P.) wir der Lösung näherkommen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wer tatsächlich den Willen hat, in Zukunft als Regierungspartei in Bund oder Land Politik zu gestal- Denn das zentrale Problem des Standorts Deutsch- ten, und sich heute verweigert, der riskiert seinen land ist der Mangel an Arbeitsplätzen. Selbst wenn eigenen künftigen Gestaltungsspielraum. Auch daran das Konjunkturtal durchschritten ist, wird die Zahl der müssen Sie denken, weil Sie ja gerne die Regierung Arbeitslosen noch steigen. Der Grund dafür liegt in übernehmen wollen. Die Gefahr, daß das eintritt, einem ganz einfachen Zusammenhang — auch den scheint mir immer geringer zu werden. Aber aus Ihrer sollten Sie sich allmählich klarmachen —: Die deut- Sicht ist dieser Gedanke nicht von der Hand zu schen Arbeitsplätze sind zu teuer. weisen. (Beifall bei der F.D.P.) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die Das ist eine Binsenweisheit der Ökonomie, aber eine glauben selber nicht daran!) unerfreuliche Wahrheit. — Deswegen gibt es ja immer mehr Bemühungen, (Ina Albowitz [F.D.P.]: Deswegen sind die ja mittels einer Großen Koalition in die Regierung zu pleite!) kommen. Sie können dem brutalen Kostenwettbewerb, beson- ders mit dem Osten, nicht standhalten. Wer zu hohe (Dr. Uwe Küster [SPD]: Oh, was war denn Löhne, wer die Belastung durch Lohnzusatzkosten das? Ist das ein Trauma? — Weitere Zurufe und Steuern nicht offen anspricht und im Gegenteil von der SPD) Steuererhöhungen ankündigt, der vergibt jedoch die Ich denke, der Wähler würde diesem Ansinnen eine Chance, in der Krise eine Bereinigung vorzuneh- Abfuhr erteilen. men. (Beifall bei der F.D.P. — Anke Fuchs [Köln] (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) [SPD]: Weltuntergangsstimmung bei der Vor dem Parteitag schien es so, als hätten Schröder - F.D.P.!) und Lafontaine dies erkannt. Sie haben es offen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16549

Dr. Hermann Otto Solms gesagt. Jedoch ist die Bereitschaft von Lafontaine, härter werdenden internationalen Wettbewerb um- klare Worte zur Lohnpolitik zu sagen, die Bereitschaft fassend zu sichern. von Schröder, konstruktiv am Energiekonsens mitzu- Die Bundesregierung hat mit dem Rexrodt-Papier wirken, bestraft worden. Lafontaine mußte sogar vor einen umfangreichen Be richt zur Sicherung des seinem Parteitag Selbstkritik üben — so wie das bei Standorts Deutschland vorgelegt. Aber die Analyse anderen Parteien früher üblich war —, reicht nicht. Jetzt müssen wir auch konsequent han- (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist unver deln. Wir unterstützen Günter Rexrodt bei der Durch- schämt! — Dr. Uwe Küster [SPD]: Unglaub setzung seiner Ziele, und fordern die Koalition auf, lich! — Weitere Zurufe von der SPD) alle Handlungsanweisung entschlossen umzusetzen. um als stellvertretender Parteivorsitzender nicht (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) abgestraft zu werden. Diese Aufforderung gilt auch an den Kollegen Blüm. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Die F.D.P. hat hierzu eine Dopppelstrategie vorge- CDU/CSU) schlagen, um den regulären Arbeitsmarkt zu beleben Seine teils richtigen Vorschläge wurden schon vor und neue Beschäftigungsfelder zu erschließen. Ich dem Parteitag eingestampft. Das erinnert mich an die will nur kurz die Stichworte nennen. Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit Der erste Teil umfaßt die Verbesserung der Rah- Galileo Galilei. menbedingungen für die Arbeit auf dem ersten (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der Arbeitsmarkt: Senkung von Steuern und Abgaben, CDU/CSU) Beseitigung administrativer Hemmnisse. Ich kann Ihnen das alles ganz konkret darstellen, nur nicht in Wer hat zum Schluß recht behalten? Die Naturgesetze der mir verbleibenden Redezeit. Ich habe es in der sind nicht außer Kraft zu setzen, auch nicht durch ersten Lesung zum Haushalt schon dargelegt. Mehrheitsbeschlüsse, auch nicht durch Ideologien oder durch Glauben. Sie setzen sich durch. Wenn Zum ersten Teil gehört also die Beseitigung admi- Oskar Lafontaine bereit ist, das, was er dort zurück- nistrativer Hemmnisse. Ich denke hier nur an die gezogen hat, wiederum zu revidieren wie seinerzeit gewaltigen Bürokratien, die bei uns bestehen. Der Galilei, der gesagt haben soll: Und sie bewegt sich größte Moloch ist die Bundesanstalt für Arbeit mit doch!, ungefähr 100 000 Mitarbeitern, zentral und zentrali- stisch geführt. Das kann nicht funktionieren. Das (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ich finde es gut, gleiche gilt für die Großunternehmen, die jetzt an daß Sie uns mit dem Papst vergleichen!) ihrer eigenen Größe kaputtgehen. Das ist wie im dann hat er den Namen Oskar Galilei verdient. Aber Dinosaurierpark, meine Damen und Herren: ich sehe das noch nicht. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wir wollen die (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Arbeitsmarktpolitik auch regionalisieren!) ten der CDU/CSU) winzige Köpfe, riesige Körper, zum Untergang verur- Wie immer ist interessanter, was im SPD-Wirt- teilt. Das kann nicht funktionieren. Wir brauchen eine schaftsprogramm nicht steht, als das, was darin steht. schlanke Administration, genauso wie wir eine Mit anderen Worten: Was jetzt richtig und notwendig schlanke Unternehmensführung in der Privatwirt- wäre, haben Sie schon vor Ihrem Parteitag verworfen. schaft brauchen. Herr Scharping, um sich im nachhinein wenigstens den Anschein einer seriösen Wirtschaftspolitik zu (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- geben, wollen Sie dem Ganzen jetzt das Etikett von ten der CDU/CSU) aufkleben, wenn man „Focus" glau- Wir müssen die öffentlichen Aufgaben so weit wie ben darf. möglich privatisieren, und zwar auch auf kommunaler (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Fragen Sie ihn Ebene. Wir müssen eine maßvolle Lohnpolitik und einmals selbst!) flexible Tarifverträge erhalten, sowohl was die Nur, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Arbeitszeit als auch was die Löhne anbetrifft. Wir ebsräte, Die Therapie von Schmidt hat schon 1982 bei der SPD brauchen mehr Mitwirkungsrechte der Bet ri keine Zustimmung mehr gefunden. Ich sehe nicht, wie weil die vor Ort besser wissen, was zu tun ist, sich das heute nach diesen Beschlüssen geändert (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) haben sollte. als die Gewerkschaftsführung in Frankfurt, oder wo (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne immer sie ist. ten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Es wäre ja schön, wenn sich die SPD heute wenigstens CDU/CSU) zu der Therapie von Helmut Schmidt bekennen würde. Wir brauchen mehr Teilzeitarbeit. Die Phantasie der Arbeitsgestaltung kennt gar keine Grenzen. Nur Recht hat der Sachverständigenrat, wenn er für die starren Strukturen verhindern, daß man diese 1994 fordert, daß die Lohnabschlüsse in Ost- wie in Phantasie einsetzt. Westdeutschland sogar unterhalb des Produktivitäts- wachstums liegen sollten. Aber es sind nicht allein die Wir brauchen ein leistungsfähigeres Schul- und Lohnkosten, die zu dem Verlust von Arbeitsplätzen Ausbildungssystem. Die deutschen Hochschulen sind- geführt haben. Es gilt, den Standort Deutschl and im extrem ineffektiv. Hier könnte vieles get an werden. 16550 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Hermann Otto Solms Sie bräuchten mehr Selbstbestimmungsrechte, um gert die SPD dann den dringend notwendigen natio- selbst mit dem knappen Geld umzugehen. nalen Energiekonsens? (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) So kommen wir nicht weiter, meine Damen und Herren. Wir laufen Gefahr, daß Zukunftsmärkte, wie Wir brauchen eine Gleichbehandlung der berufli- die der Telekommunikation, modernster Verkehrssy- chen Bildung. Denn die gut ausgebildete Facharbei- steme und auch die Gentechnologie, verteilt werden, terschaft ist das Rückgrat unserer Wi rtschaft. ohne daß Deutschland dabei ist. Der zweite Teil der Doppelstrategie ist die Schaf- Wir haben scheinbar Geld, um wie bei der Kohle die fung neuer Beschäftigungsfelder, die insbesondere in Vergangenheit zu finanzieren, aber kein Geld mehr, den persönlichen Dienstleistungen zu finden sind. Ich um — nehmen Sie das Beispiel Transrapid — die bedanke mich bei Herrn Schäuble besonders, der Zukunft zu gestalten, öffentlich erklärt hat, daß er es für richtig halte, — wofür ich seit Jahren werbe — daß die p rivaten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Haushalte als Arbeitgeber genauso behandelt werden obwohl ich davon ausgehe, daß wir uns noch dafür sollten wie Betriebe. entscheiden werden. (Beifall bei der F.D.P.) Wer heute die Zeichen der Zeit übersieht und die Denn dadurch sind sicher ein bis zwei Millionen Sicherung des Standorts Deutschland anderen über- Beschäftigungsverhältnisse zu begründen. läßt, handelt leichtfertig. Wer ökonomische Notwen- digkeiten ignoriert, riskiert Stabilisierungskrisen. Auf Was schlägt die SPD vor? Ich habe mir Ihre dem Spiel steht auch der soziale F riede, und der ist Beschlüsse angeschaut und will ein paar herausgrei- durch Verteilungspolitik nicht zu sichern. fen. (Beifall bei der F.D.P.) In Wiesbaden haben Sie vollmundig ein Zukunfts- investitionsprogramm gefordert. Da kann man nur Jeder weiß, meine Damen und Herren, daß man nur fragen: Wer soll das bezahlen? Wieder wie früher aus verteilen kann, was man zuvor erarbeitet hat. Die SPD Schulden oder aus höheren Steuern? Beides wäre ist und bleibt die Verteilungspartei, ohne Konzept für falsch. Wachstum und neue Arbeitsplätze. Die F.D.P. setzt dagegen konsequent und kompromißlos auf neue Investitionen in das Schienennetz: Gut, richtig. reguläre Arbeitsplätze. Wir werden alles tun, was Warum, frage ich mich, blockiert die SPD dann die diesem Ziel dient, auch wenn die Medizin teilweise Bahnreform? Gerade haben sie sich geeinigt, jetzt bitter schmeckt. Das muß man dann auch offen werden wieder Nachforderungen gestellt. bekennen. (Beifall bei der F.D.P. — Anke Fuchs [Köln] (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) [SPD]: Wir haben gestern zugestimmt!) Schon in den 80er Jahren hat die Koalition mit der — Wenn das so ist, nehme ich das zurück. Ich habe nur Schaffung von über 3 Millionen Arbeitsplätzen bewie- gehört, daß von einzelnen Bundesländern, beispiels- sen, daß diese Medizin auch den gewünschten Hei- weise aus dem Bundesland, aus dem ich komme, aus lungserfolg bewirkt. Die F.D.P. ist in diesem Sinne Hessen, von Herrn Eichel, Nachforderungen gestellt eine Arbeitsplatzpartei, und dazu bekennen wir werden. uns. Eine verbesserte Kommunikationsinfrastruktur: (Beifall bei der F.D.P. — Horst Sielaff [SPD]: Warum, frage ich mich, blockieren Sie dann die Das glauben Sie doch selber nicht!) notwendige Postreform? Können Sie sich aus den Fesseln des Herrn van Haaren nicht befreien? Eine Zweidrittelgesellschaft kann nur verhindert werden, wenn die deutsche Wirtschaft leistungsfähig (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) bleibt. Mehr Wohlstand ist nur über mehr Arbeits- Eine bessere Städtebauförderung, vor allem in den plätze zu erreichen. neuen Ländern: Warum, frage ich mich, hindern Sie Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich uns daran, die dort bestehenden Hemmnisse abzu- sagen, wir müssen diese Veränderungen und diese bauen: das zu enge Planungsrecht, Baugenehmigun- Schwierigkeiten, in denen wir uns befinden, auch als gen, die zu hohen Standards für das Bauen. Eine eine Chance begreifen. Jede Krise ist auch eine Sozialwohnung in Holland wird heute etwa zum Chance zur Gesundung, zur Revitalisierung. Wir halben Preis hergestellt, verglichen mit der Bundesre- haben die große Chance, überholte, überlebte Struk- publik, ohne daß dort die klimatischen Verhältnisse turen aufzubrechen, die Lähmung der gesellschaftli- schlechter wären. chen Kräfte zu überwinden. Es kommt jetzt darauf an, Zusätzliche Investitionen für eine sinnvolle Wasser- unser Gemeinwesen aus der Agonie zu befreien und bewirtschaftung und Abfallverwertung: Warum, es wieder anpassungsfähig und leistungsstark zu frage ich mich, verhindern Sie in vielen Kommunen machen. eine zügige Privatisierung im Bereich der kommuna- Optimismus statt Pessimismus. Nicht klagen son- len Aufgaben? dern handeln. Nicht lähmen sondern mobilisieren. Das steht heute an, denn nur damit können wir die (Beifall bei der F.D.P.) deutsche Einheit verwirklichen. Das sollte für uns alle Und schließlich eine forcierte Förderung umwelt- eine begeisternde, eine anspornende Aufgabe sein. Es - schonender Energien: Warum, frage ich mich, verwei sollte für uns auch eine stolze Aufgabe sein, daß wir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16551

Dr. Hermann Otto Solms die Gelegenheit haben, daran mitzuwirken. Ich weiß, nationalistischen antieuropäischen Wende zu tun, die daß die meisten in diesem Hause das auch so empfin- insbesondere in den Äußerungen des bayerischen den. Nur: Es ist nicht gut, wenn wir in der Öffentlich- Ministerpräsidenten Stoiber deutlich zum Ausdruck keit den Eindruck erwecken, daß es nicht so sei, kam. Er hat erklärt, daß der europäische Einigungs- sondern daß die Situation viel schlimmer wäre, als sie prozeß nicht mehr erforderlich sei, weil wir als Deut- in Wirklichkeit ist, ja, unbeherrschbar wäre. Denn wir sche keine europäische Identität mehr benötigten, um sind auf gutem Wege, und wir werden die Situa tion die Bürde der Vergangenheit loszuwerden, und weil meistern. inzwischen gegenüber früheren Vorstellungen die (Zurufe von der SPD) deutsche Einheit auch ohne die europäische gelungen Ich kann nur alle auffordern, daran jeweils in ihrem sei. Damit wird sogar der Bundeskanzler aus seinen Verantwortungsbereich mitzuwirken. eigenen Reihen hinsichtlich seiner europäischen Eini- gungspolitik angegriffen. Die Renationalisierung der Vielen Dank. Außenpolitik wird von bestimmten Kräften in CDU (Anhaltender Beifall bei der F.D.P. — Beifall und CSU gefordert. Ich hoffe, daß die Bundesregie- bei der CDU/CSU) rung dagegen widerstandsfähig bleibt. (Zuruf von der CDU/CSU: Mit Hilfe von Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Gysi!) der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi. — Da können Sie sogar meine Hilfe haben. Aber ich hoffe, daß Sie darauf nicht angewiesen sind. Es wäre ja noch trostloser, wenn Sie mich dazu brauchten, solche Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Haushalt 1994 soll Angriffe abzuwehren. verabschiedet werden, obwohl seine Voraussetzun- Aber das ändert auch nichts daran, daß der Maas- gen höchst unsicher und seine Prämissen außen-, trichter Vertrag leider die Bedingungen nicht schafft, sicherheits-, wirtschafts- und sozialpolitisch — wie ich die wir im Kampf gegen die Gefahren des Nationalis- meine — falsch sind. Wenn es hier um den Bundes- mus und Rechtsextremismus brauchten. Das Europa kanzleretat geht, ist es angezeigt, sich mit der Regie- von Maastricht schließt Osteuropa aus, es schafft rungspolitik insgesamt auseinanderzusetzen. Der überflüssigerweise eine europäische Armee, es weist Bundeskanzler und sein Kabinett stehen hoffnungslos erhebliche Demokratiedefizite auf. Das ist in unserer überfordert und ideenlos vor den Herausforderungen gegenwärtigen Entwicklungsphase besonders ge- dieser Welt und in diesem Land. fährlich, weil das hohe Maß an Politikverdrossenheit Nach Wegfall des Ost-West-Konflikts stellt der in Demokratieverdrossenheit umzuschlagen beginnt. Nord-Süd-Konflikt die größte und eine die Existenz Wenn der Deutsche Bundestag seine Befugnisse nicht der Menschheit bedrohende Herausforderung dar. auf das Europäische Parlament, sondern auf eine Osteuropa lateinamerikanisiert sich langsam, und wie bürokratisch hinter verschlossenen Türen arbeitende in den USA wird auch bei uns dadurch Armut zur Brüsseler Bürokratie verlagert, dann ist das eben ein Selbstverständlichkeit. Auf diese großen politischen, Nährboden, der antieuropäische Kräfte ebenso wie ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturel- antidemokratische Kräfte versorgt. len Herausforderungen findet die Bundesregierung Aber das Schlimmste am Maastrichter Vertrag ist, nur zwei Antworten. Sie versucht, sich vor Flüchtlin- daß die Fehler aus der deutschen Vereinigung poten- gen abzuschotten, und macht die Menschen glauben, ziert wiederholt werden. Die wesentlichen Vorausset- daß sich die dahintersteckenden Probleme irgendwie zungen für eine Währungsunion und für eine europäi- von selbst lösen würden. Und das auch noch, obwohl sche Einigung sind nicht im Vertrag vereinbart wor- sie weiß, daß alle führenden Industriestaaten, d. h. den. Es gibt nicht die geringsten Anzeichen für eine auch die Bundesrepublik Deutschland, ihren be- Steuerangleichung, um Kapitalflucht, umfangreiche trächtlichen Anteil an den Ursachen von Not und Steuerverkürzungen und die Ausnutzung von Steuer- Elend in der sogenannten Dritten Welt haben. tricks wenigstens zu minimieren. Nichts ist bisher Auf der anderen Seite bereitet uns die Bundesregie- geschehen, um eine Lohn- und Sozialangleichung, rung täglich darauf vor, daß der Nord-Süd-Konflikt eine Angleichung ökologischer St andards und der militärisch zu beherrschen sei. Wir sollen Krieg wieder Standards im Arbeitsschutz und Gesundheitswesen als normales Mittel der Politik empfinden und uns zu erreichen. Die niedrigsten Sozialleistungen, die darauf einstellen, daß deutsche Soldaten weltweit niedrigsten Löhne, die niedrigsten ökologischen Stan- operieren werden. Die SPD, die zunächst gegen dards, der niedrigste Arbeitsschutz und das niedrigste jegliche Beteiligung deutscher Soldaten auch an Blau- Niveau im Gesundheitswesen werden auf diese Art helmeinsätzen war, ist im Laufe der letzten Jahre der und Weise zum Maßstab des Wettbewerbs erhoben. Auffassung der Bundesregierung immer näher Jede und jeder kann sich ausrechnen, welche Folgen gekommen. Ich befürchte, daß der Tag nicht mehr dies für die europäische Idee haben wird und wie groß weit ist, an dem die Tür auch für weltweite Kampfein- der Drang zur Renationalisierung auf diesem Wege sätze der Bundeswehr ganz geöffnet wird. sein wird. Der europäische Einigungsprozeß ist ins Stocken Wenn ich nun auf die Probleme in Deutschl and zu geraten. Das liegt zum einen daran, daß die Bundes- sprechen komme, so muß ich sagen, es ist klar, daß die regierung führend an einem Maastrichter Vertrag Bundesregierung die Probleme der deutschen Einheit beteiligt war, der die notwendigen Voraussetzungen nicht bewältigt. Im Gegenteil: Sie nutzt sie aus, um für eine europäische Einigung eben nicht regelt. Zum einen Demokratie-, Rechts-, Sozial- und Lohnabbau in anderen haben wir es mit einer rechtskonservativen Westdeutschland durchzusetzen. Das ist übrigens 16552 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Gregor Gysi auch gegenüber den Menschen in Ostdeutschland beitslosigkeit wirksam beseitigen will, der muß die höchst unbillig, weil sie dadurch zu Sündenböcken vorhandene Arbeit auf mehr Schultern verteilen und der Veränderungen in den alten Bundesländern wer- zugleich neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsbe- den. Noch immer leben Hunderttausende Menschen reich, im Kultur-, im Bildungs- und Ökologiebereich in den neuen Bundesländern wegen des Prinzips schaffen. „Rückgabe vor Entschädigung" in der Ungewißheit, Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es einer ande- ob sie ihre Häuser und Grundstücke, ihre Wohnungen ren Arbeitszeitpolitik behalten können. Sie, Herr Kollege Solms, haben sich und einer anderen Steuerpoli- tik. Aber es war diese Bundesregierung, die bis vor hier zum Eigentumsschutz bekannt und haben gesagt, kurzem — heute eigentlich schon wieder — von deshalb müßten Sie beim Prinzip „Rückgabe vor Arbeitszeitverlängerung sprach. Durch die Initiative Entschädigung" bleiben. Wieso interessiert Sie von VW ist es nun wenigstens gelungen, die Frage der eigentlich das Eigentum Hunderttausender Bürgerin- Arbeitszeitverkürzung ernsthaft auf die politische nen und Bürger in den neuen Bundesländern nicht, Tagesordnung in unserer Gesellschaft zu setzen. denen Sie mit diesem Prinzip keinen Schutz geben? Sicherlich gibt es noch Str Selbst wenn sie es behalten könnten, wissen sie nicht, eit über die Art und Weise der notwendigen Finanzierung dieser Arbeitszeitver- welche Kosten damit verbunden sein werden. kürzung, aber Tatsache ist natürlich, daß es keine Immer mehr Menschen werden auch wegen hoheit- einseitigen Lohnkürzungen geben darf, da sich für die lichen Handelns für die DDR in Strafverfahren verwik- Betroffenen auch die Lebenshaltungskosten nicht kelt. Fast jede Ostdeutsche und fast jeder Ostdeutsche senken und weil das im übrigen — was Sie, Herr fühlen sich gedemütigt, weil ihnen auch seitens der Solms, immer nicht beachten — zu einer Kaufkraftre- Bundesregierung immer wieder erklärt wird, daß sie duzierung führt und damit zu einem Rückgang der 40 Jahre lang falsch gelebt und falsch gearbeitet Wirtschaftstätigkeit und zu einem Rückgang der Zahl haben. Ihre Biographien werden ihnen ebenso zer- der Arbeitsplätze. stört, wie sie auch nicht stolz darauf sein sollen, was sie Warum ist eigentlich diese Arbeitszeitdiskussion in in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben. Wer aber der Koalition unterblieben, obwohl sie doch so off en- Menschen in so großer Zahl demütigt, muß mit psy- sichtlich nötig ist? Haben wir nicht Möglichkeiten, chischen Gegenreaktionen rechnen. Das sage ich, hier Veränderungen zu beschließen? Der Bundestag obwohl ich weiß, daß sich für die Menschen in den könnte durch Veränderungen des Arbeitszeitgesetzes neuen Bundesländern durchaus viele positive Verän- die Höchstdauer der Arbeitszeit deutlich beschrän- derungen ergeben haben. Nur werden sie durch die ken. Wir könnten durch Gesetze die zulässige Zahl Massenarbeitslosigkeit, die immer größer werdenden von Überstunden weiter beschränken. Es wäre mög- finanziellen Belastungen, den Kultur- und Wissen- lich, Steuergerechtigkeit herzustellen, Steuerprivile- schaftsabbau und durch die psychischen Demütigun- gien abzuschaffen und jährliche Steuerverkürzungen gen auf schlimme Art und Weise überschattet. von 130 Milliarden DM wirksam zu bekämpfen. Aber seit der deutschen Einheit verändert sich die Das wäre übrigens ein wesentlich besseres Instru- Bundesrepublik auch in den alten Bundesländern. ment, als hinter jeder Sozialhilfeempfängerin und Rechtsunsicherheit herrscht auch hier. Arbeitslosig- jedem Sozialhilfeempfänger herzurennen und zu prü- keit und Angst vor Arbeitslosigkeit grassieren in ganz fen, ob er nicht vielleicht zehn Mark zuviel hat. An Deutschland. Mit diesem Bundeshaushalt wird die diese 130 Milliarden DM sollten Sie einmal herange- Schere bei den sozial Schwächsten und den sozial hen. Schwachen angelegt. Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, Umschülerinnen und Umschü- Ebenso wäre es möglich, den Vermögenden in ler, Arbeitslose — sie alle werden ab 1. Januar 1994 unserem Land und den Gewinnern der Einheit mehr weniger haben. abzuverlangen, als sie bisher geleistet haben. Dann gibt es noch die berühmten 700 Milliarden DM frei (Zuruf von der CDU/CSU: Herr Gysi, das ist vagabundierendes Kapital, an das man herangehen gar nicht wahr!) sollte. Diese Bundesregierung wird das jedoch nicht — Doch, das ist wahr. Wenn Sie die Teuerungsrate tun, sie hält sich lieber an Sozialhilfeempfänger und hinzunehmen, wird die Schere noch viel größer. Arbeitslose. Aber das Problem ist, daß wir diesen Menschen, den Woher, frage ich Sie, nehmen Sie eigentlich den sozial Schwächsten, sagen müssen, daß wir so viel Mut, drei bis vier Millionen Sozialhilfeempfängerin- behalten, wie wir schon immer hatten und daß nie- nen und Sozialhilfeempfängern das Existenzmini- mand an die Vermögenden in dieser Gesellschaft mum zu kürzen und gleichzeitig 97 Milliardäre in der herangeht. Das ist die eigentliche Katastrophe. Was ist Bundesrepublik zu schonen und ihnen nicht eine das für eine Art Solidarität, in die nur die Schwächsten Mark mehr in einer solchen Krisensituation abzufor- in der Gesellschaft einbezogen sind, aber nicht die dern? In Krisenzeiten müssen Vermögende einen Vermögenden? wirklichen Solidarbeitrag leisten. Ihnen ging es vor- her, geht es in einer solchen Zeit und auch in Zukunft Das bedrückendste und gefährlichste Problem in immer noch wesentlich besser als jenen ohne Vermö- der Gegenwart ist und bleibt die Massenarbeitslosig- gen, denen Sie noch das Existenzminimum kürzen. keit, zumal sie täglich zunimmt und inzwischen die Fünf-Millionen-Grenze erreicht hat. Damit ist eine (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wie bei Fülle sozialer und psychischer Probleme verbunden. Gysi!) Welche Konzepte legt die Bundesregierung dagegen Eine Regierung, die in erster Linie den Lebensstan- vor? Zumindest keine wirksamen. Wer die Massenar- dard der ohnehin Sozialschwachen reduziert, entlarvt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16553

Dr. Gregor Gysi sich selbst. Die Bundesregierung bekämpft nicht die auch Einfluß auf die Landeslisten der Parteien neh- Armut, sie bekämpft die Armen. Schon allein durch men können, damit wir nicht allein über die Reihen- ihre Untätigkeit verschärft sie das Problem der Mas- folge der Kandidaten entscheiden. senarbeitslosigkeit und verschont die Vermögenden Wahlrecht für Ausländerinnen in dieser Gesellschaft. Lassen Sie uns das und Ausländer und auch das aktive Wahlrecht für 16- Sie verändern die Gesellschaft darüber hinaus, so und 17jährige einführen. z. B. durch Kultur- und Bildungsabbau und dadurch, daß Sie keinen Beitrag zur Bekämpfung der Ursachen (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: der Kriminalität leisten. Massenarbeitslosigkeit und Für 5jährige! — Für 8jährige! — Dr. Wolf- Wohnungsnot, riesige soziale Unterschiede und gang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Für 12jäh- Rechtsextremismus bilden den eigentlichen Herd für rige!) Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. — Das ist doch albern. Sie wissen ganz genau, daß es Diese Ursachen werden Sie mit Ihrem großen Gutachten gibt, die besagen, daß 16- und 13jährige Lauschangriff nicht beseitigen. Bedauerlich ist, daß die politische Reife wie 18- und 19jährige haben und nunmehr auch die SPD einer solchen Maßnahme durchaus zu einer solchen Entscheidung fähig sind. zustimmt, obwohl klar ist, daß eine solche rechtsstaat- Wenn Sie das nicht wollen, entmündigen Sie schon lich nicht vertretbare Maßnahme, einmal legalisiert, wieder eine Gruppe junger Menschen und sagen sich immer stärker ausbreiten wird. Sorgen Sie für die ihnen, sie sollen sich um diese Demokratie nicht tranten, Präsenz der Polizei, nicht gegen linke Demons scheren. Dann aber wundern Sie sich, wenn sie sich sondern gegen die wirklich Kriminellen in diesem nicht darum scheren, sondern den anderen Richtun- Land! Verhindern Sie Geisterbahnhöfe, in denen gen folgen. Lassen Sie uns doch einmal neue Wege immer mehr Bedienstete entlassen werden! Leisten gehen — gerade auch in dieser Hinsicht. Sie einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und zur Verringerung der (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dr. Wolf- sozialen Unterschiede! Sie werden sehen, daß die gang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Kommen Kriminalitätsrate zurückgehen wird. Sie wieder herunter! — Bundesminister Hören Sie vor allem auf, die wirtschaftlichen und Dr. Theodor Waigel: Qualifikation Jugend- sozialen Probleme zu nutzen, um ideologische Ziel- weihe!) vorstellungen durchzusetzen wie z. B. Rückschritte in lles zu der Gleichstellung der Frauen. Massenarbeitslosig- — Nein, nein. Ach wissen Sie, das ist doch a einfach und zu simpel. Das wissen Sie doch. Wenn wir keit bekämpft m an nicht dadurch, daß man die Frauen in die Küche zurückschickt und versucht, ihnen das nicht anfangen, gemeinsam über neue Dinge nachzu- auch noch schmackhaft zu machen, weil es angeblich denken, könnten wir es irgendwann gemeinsam sehr bereuen. Das ist das Entscheidende. Dann hat uns die ihre eigentliche Bestimmung sei. ganze Polemik gar nichts genutzt. Massenarbeitslosigkeit bekämpft man auch nicht dadurch, daß man Frauen gegen ihren Willen zur (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben nichts Schwangerschaft zwingt. Massenarbeitslosigkeit be- gemeinsam! — Zuruf des Abg. Erich G. Fritz kämpft man auch nicht dadurch, daß m an jene, die [CDU/CSU]) noch Arbeit haben, gegen jene aufstachelt, die nur noch über soziale Transfers ihre Existenz sichern — Wenn Sie das nicht wollen, dann lassen Sie es können. bleiben. Aber ich hoffe, Sie kriegen dann auch die Quittung. Wie sagt doch unser Bundeskanzler immer Haben wir doch endlich den Mut, unmittelbare so schön; Er will es nächstes Jahr noch einmal wissen. Demokratie einzuführen, damit die Menschen wider- Ich hoffe, er erfährt es auch, und zwar gründlich. standsfähig werden und auch nicht bereit sind, selbst im Interesse der Lösung eines sozialen Problems auf (Zuruf des Abg. Dietrich Austermann [CDU/ demokratische Strukturen zu verzichten. Denn das ist CSU]) doch die Gefahr, daß der Rechtsextremismus die Lösung von sozialen Problemen dafür anbietet, daß — Wissen Sie, wenn Sie wirklich Eigentum schützen wir auf demokratische Strukturen verzichten sollen. wollen — ich habe schon zu den Grundstücken in der DDR gesprochen —, dann denken Sie doch einmal Genau das darf nicht passieren. Dazu muß man Altschuldenhilfegesetz nach. Da machen Sie Demokratie erlebbar gestalten, unmittelbar gestalten. über das eine Zwangsenteignung in Höhe von 15 % von schon Wir brauchen plebiszitäre Elemente in diesem L and. privatisiertem genossenschaftlichen Eigentum. Aber, Wir brauchen mehr Befugnisse und größeren finanzi- was noch schlimmer ist: Sie nötigen die Genossen- ellen Spielraum für unsere Kommunen. Denn wer schaften, bis Ende des Jahres nicht nur Schulden, die Kommunen entmündigt, entmündigt die in ihr leben- sie ablehnen, anzuerkennen, sondern, was der Gipfel den Menschen. ist, zu unterschreiben. Wenn sich später gerichtlich Ich finde es unerträglich, wie die Regierungspar- herausstellt, daß sie die Schulden gar nicht hatten, daß teien bei der Kommunalwahl durch Br andenburg sie dennoch auf eine Rückzahlung verzichten, daß sie ziehen und immer wieder dazu auffordern, sie zu einen Anspruch wegen ungerechtfertigter Bereiche- wählen, obwohl sie hier in Bonn die Möglichkeiten der rung nicht geltend machen? Das ist wirk lich schlimme Kommunen täglich einschränken. Bürgerinitiativen Nötigung. müssen zumindest das Recht haben, in kommunalen Parlamenten Anträge zu stellen. Wir sollten das Wahl- Ich sage Ihnen, wenn das privat zwischen uns so recht so verändern, daß die Wählerinnen und Wähler geschähe, dann würden wir eine Strafanzeige wegen 16554 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Gregor Gysi Nötigung und Erpressung bekommen. Der Bundestag positiver Entwicklung weiterhin im industriellen Nie- aber leistet sich das durch Gesetzgebung. dergang befindet. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Jetzt wer ( V o r sitz: Vizepräsidentin Renate den erst einmal die Massenorganisationen Schmidt) enteignet!) Drittens. Von vielen noch nicht wahrgenommen, Nein, dieser Haushalt 94 löst kein einziges der vor weil eben von den beiden zuerst genannten überla- uns stehenden Probleme. Er wird aber viele verschär- gert, entfaltet sich die ökologische Strukturkrise. fen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, kann die PDS/ Diese wird langfristig gesehen noch weit dramatischer Linke Liste Ihrem Einzeletat keine Zustimmung und bedrohlicher für die Wirtschaft und Gesellschaft geben. werden, als es die beiden anderen gegenwärtig schon (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber sind. Hier ist das Versagen der Bundesregierung am bedauerlich!) eklatantesten. Nach wie vor ist die Wirtschaft in Deutschland ökologisch falsch gepolt. Noch immer Wenn wir einen wirklich soliden Haushalt haben beruht sie auf Ressourcenverschwendung und Ener- wollen, dann müßten Sie den ganzen Haushalt in den gievergeudung. Nach wie vor wird Raubbau an der Ausschuß zur Neustrukturierung zurückschicken. Zukunft betrieben. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Die Probleme dieses Landes bündeln sich in der Tatsache, daß die Wirtschaft und die Bundesregierung den wichtigsten Produktionsfaktor, den wir haben, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bevor ich Herrn nämlich die Schaffenskraft und den Ideenreichtum Kollegen Feige das Wort gebe, möchte ich folgendes von Millionen Menschen, brachliegen lassen. Die noch einmal in Erinnerung rufen. Ausweislich des Massenarbeitslosigkeit ist daher nicht nur eine soziale Protokolls, Herr Glos, haben Sie gesagt: Die SPD ist Tragödie, sie ist zugleich eine ungeheure Verschwen- aufgefordert, damit aufzuhören, die Menschen in dung einer für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unserem Land zu verhetzen. — Für diese Aussage unseres Landes entscheidenden Ressource. muß ich Sie zur Ordnung rufen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie schon geleistet?) DIE GRÜNEN) Was aber hat die Bundesregierung anzubieten, um Als nächster spricht der Kollege Feige. den wirklichen Problemen des Standortes Deutsch- land zu begegnen? Damit fangen wir an. Nichts außer (Michael Glos [CDU/CSU]: Ich habe doch vergebenen Chancen, dazu frisierte Prognosen und nicht gesagt, daß sie Hetzer sind!) untaugliche Rezepte. Würde man den Vorschlägen der Bundesregierung folgen, dann hieße deren soge- nannte Lösung der Probleme: Sozial- und Umwelt- Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schutzabbau, Deregu lierung, Privatisierung um jeden NEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen Preis und Abbau der demokratischen Rechte. Damit und Herren! Die Bundesregierung dokumentiert mit hilft die Bundesregierung den Millionen Arbeitslosen dem Bundeshaushalt 1994 und den Spargesetzen nicht weiter. Sie hilft auf Dauer aber auch nicht der mehr denn je das Scheitern ihrer Wirtschafts-, Sozial- Wirtschaft in diesem Lande. Denn diese profitiert auf und Finanzpolitik. Am Ende der Ära Kohl sind in längere Sicht doch gerade von den vergleichsweise Deutschland knapp vier Millionen Menschen ohne hohen Sozial- und Umweltstandards in Deutsch- Arbeit, und fast zwei Millionen Menschen befinden land. sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Ohne verbindliche Rahmensetzung, ohne Unter- Drei Jahre nach der deutschen Vereinigung rächt es stützung des Staates werden die Unternehmen weder sich bitter, daß diese Regierung wider besseres Wis- den ökologischen Umbau bewältigen noch die Erhal- sen optimistische Durchhalteparolen ausgegeben hat. tung bestehender und die Schaffung neuer Arbeits- Die Politik der Bundesregierung ist so im Ergebnis der plätze erreichen. permanenten Selbsttäuschung ein einziger Scherben- Die Sozialpolitik ist zu einem defizitären Krisenma- haufen. nagement verkommen. Die elf Jahre Kohl-Regierung Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich entsprechen elf Jahren forcierten Sozialabbaus. Die heute in einer dreifaltigen Krise: Bundesregierung gefährdet die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme in unverantwort licher Erstens. Die ostdeutsche Wirtschaft durchläuft in Weise. nahezu allen Bereichen des Lebens eine umfassende Transformationskrise. Die Wirtschaft Ostdeut- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was tun Sie schlands wurde vom brutalen Anpassungsschock der denn?) Währungsreform im Kern getroffen. Die Indust rie ist Der Wirtschaftsminister z. B. verunsichert durch nahezu vollständig zusammengebrochen. seine inkompetenten Äußerungen zur Krise der Zweitens. Es gibt auch im vierten Jahr nach der gesetzlichen Rentenversicherung die Wirtschaft und Vereinigung nicht den einen Wirtschaftsstandort die Bevölkerung. Gleichzeitig bedient sich die Bun- Deutschland, sondern deren zwei; einen westlichen, desregierung in schamloser Manier hinter dem Rük- dessen strukturelle Defizite jetzt ans Tageslicht kom- ken der Öffentlichkeit aus den Sozialkassen. Seit der men, und einen östlichen, der sich trotz mancher deutschen Vereinigung benutzt diese Regierung die - Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16555

Dr. Klaus-Dieter Feige Sozialkassen für die versicherungsfremde Finanzie- masse. Da wird der weltweite Einsatz deutscher Sol- rung der deutschen Einheit. Für die Rentenversiche- daten unter UNO-Flagge vorangetrieben — zum rung bedeutet dies einen Verlust von über 10 Milliar- Schutz der Menschenrechte, versteht sich —, und den DM, während in der Arbeitslosenversicherung bis während die Bundeswehr in Somalia den Nachschub Ende dieses Jahres gar 55 Milliarden DM zweckent- für drei indische Soldaten sicherstellt — auf Kosten der fremdet sein werden. Steuerzahler natürlich —, reist der Bundeskanzler nach China, um Geschäfte zu machen. Milliardenauf- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wohin träge aus der Volksrepublik, und schon wird das kommt denn das Geld?) Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens Das ist die Realität. verdrängt und vergessen. Einer der Hauptverantwort- lichen wird statt dessen auf einen Gegenbesuch Hier offenbart sich die ganze Hinterhältigkeit und eingeladen. Makaberer geht es fast nicht. Die Über- Verantwortungslosigkeit dieser Regierung. Denn aus- gabe einer Liste mit den Namen von 20 politischen gerechnet die Wortführer dieser unsäglichen, völlig Gefangenen an die chinesische Führung bekommt auf die Lohnnebenkosten verengten Standortdebatte den faden Beigeschmack einer öffentlichkeitswirksa- haben durch ihre dreiste Selbstbedienung diese Lohn- men Pflichtübung. nebenkosten erst in die Höhe getrieben. Anderenfalls wäre der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung in China ist sicher einer der großen Zukunftsmärkte, diesem Jahr niedriger ausgefallen. Ohne die Plünde- auch für die deutsche Wirtschaft. Gute Beziehungen rung der Sozialkassen wäre auch die Erhöhung der der deutschen Wirtschaft zu China können zur Siche- Rentenversicherungsbeiträge um 1,7 % zum 1. Januar rung von Arbeitsplätzen in Deutschland beitragen. Ist 1994 vermeidbar gewesen. es da aber wirklich zuviel verlangt, trotzdem laut und deutlich den Schutz der Menschenrechte in China Die drastischen Einschnitte in das soziale Netz einzufordern? führen andererseits auch nicht zu einer höheren Verteilungsgerechtigkeit. Mit seinen Äußerungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zum „kollektiven Freizeitpark" schürt der Bundes- Ob Außen- oder Innenpolitik, was vorherrscht, ist kanzler dagegen sogar gezielt Ressentiments gegen Beliebigkeit und Herumdoktern an Symptomen. Neh- Erwerbslose und Sozialleistungsempfänger. Diese men wir die Kriminalitätsbekämpfung. Die Bürgerin- Gesellschaft ist aber alles andere als ein „kollektiver nen und Bürger in diesem Land haben Angst vor einer Freizeitpark". Herr Solms, Sie haben vorhin nur die Zunahme von Gewaltdelikten. Die Bundesregierung Adresse verwechselt. Die Führungsriege der konser- lassen diese Ängste aber weitgehend kalt. Anstatt vativ-liberalen Koalition hat sich ihrerseits dagegen nämlich die Ursachen wie z. B. die steigende Arbeits- eher in einer Art „Jurassic Park" eingerichtet: viel losigkeit, eine verfehlte Jugend- und Familienpolitik Panzer, wenig Gehirn und mangels Reproduktionsfä- und eine falsche Ausländer- und Drogenpolitik zu higkeit zum Abtreten verurteilt. bekämpfen, werden ganz einfach demokratische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte abgebaut. Jüngster Tiefpunkt: der sogenannte und bei der SPD) große Lauschangriff. In dieser Debatte schimmert kaum noch durch, daß die Argumente der Befürworter Diese fossile Bundesregierung hat nun angekün- von elektronischen Wanzen mehr als schwach sind. digt, Mißbräuche im Steuer - und Sozialsystem ent- Die rechtlichen und politischen Folgen für unser schieden bekämpfen zu wollen. Wo wird da ange- Gemeinwesen werden noch nicht einmal im Ansatz, setzt? Wieder bei den Arbeitslosen und den Empfän- nicht einmal heute in der Debatte, problematisiert. gem von Sozialleistungen, anstatt gegen die Steuer- Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung kriminalität Zeichen zu setzen. Die so zu erwartenden soll für viele Menschen nicht mehr gelten. Die Mehreinnahmen stehen in keinem Verhältnis zu den Unschuldsvermutung wird abgeschafft. Die Befür- tatsächlich durch kriminellen Mißbrauch ausfallen- worter des großen Lauschangriffs ignorieren schlicht den Steuern. Was sind die prognostizierten Einnah- und ergreifend, welche Erfahrungen wir mit zwei men in Höhe von 1,4 Milliarden DM 1994 im Verhält- Schnüffelsystemen in diesem Jahrhundert in Deutsch- nis zu geschätzten dreistelligen Milliardenbeträgen, land sammeln mußten. die dem Staat durch kriminelle Steuerhinterziehung verlorengehen? Da muß man ansetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bezeichnend für diese Regierung ist so auch, daß sie Wir halten diese Mittel weder zur Bekämpfung neuer bei der Zinsbesteuerung das Steuergeheimnis und Kriminalitätsformen für effektiv, noch sind sie geeig- den Datenschutz hochhält, während sie bei der net, den Schutzinteressen der Bevölkerung und der Bekämpfung des Leistungsmißbrauchs bei der Sozial- Bekämpfung der Alltagskriminalität gerecht zu wer- hilfe keine Bedenken gegen die Weitergabe perso- den. nenbezogener Daten hat — ganz im Gegenteil. Aber wohin geht nun die Sozialdemokratie unseres Damit wären wir schon beim Thema Menschen- Landes? Es ist doch kein Zufall, daß die Sozialdemo- rechtspolitik. Auch hier klafft in vielen Bereichen ein kraten auf ihrem Parteitag dem großen Lauschangriff Widerspruch zwischen den Koalitionssonntagsreden zugestimmt haben. Dies war nach den Koalitionsver- und dem praktischen H andeln. Dies gilt insbesondere handlungen von Hamburg ein weiterer Hinweis auf für die Verteidigung der Menschenrechte an sich. Für den künftigen Weg der SPD. Oder, wie vergangene diese Bundesregierung ist die Verletzung von Men- Woche in der „taz" zu lesen war: „Mit Scharping kehrt schenrechten, sei es im früheren Jugoslawien oder in Schmidt an die Spitze der SPD zurück. " Die Sozialde- China, nichts anderes als eine taktische Verschiebe mokratische Partei Deutschlands läuft den Konserva-- 16556 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Klaus-Dieter Feige tiven hinterher und entwickelt sich zusehends zum Der ökologische Umbau unserer hochentwickelten Schoßhündchen der CDU. Industriegesellschaft soll zur Leitidee unseres gesell- schaftlichen und wirtschaftlichen H (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das lassen Sie andelns werden. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wi einmal unsere Sorge sein!) ll einen neuen ökologischen Gesellschaftsvertrag, der allen Identifi- Wenn Sie, meine Damen und Herren von der kation und Mithandeln ermöglicht. Wer — wie die Sozialdemokratie, das Ziel haben, eine Große Koali- Koalition und Teile der SPD — die Umweltpolitik in tion zu bilden, dann sagen Sie das bitte laut und der Wirtschaftskrise auf Eis legt, gefährdet nicht nur deutlich. Ihr Vorsitzender hat die Ch ance dazu. Ihre unsere Umwelt, sondern verschlechtert auch die Per- möglichen Wählerinnen und Wähler haben schon vor spektiven für die wirtschaftliche Entwicklung. Das der Wahl ein Recht darauf, zu erfahren, ob die SPD sollte Ihnen das Beispiel Japan deutlich zeigen. und, wenn ja, wie die SPD Kohl ablösen möchte. Die ökologische Ausrichtung der Wirtschaft muß (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Der folglich mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik einher- Wähler löst ihn ab! Wir wollen wählen und gehen. Massenerwerbslosigkeit auf sehr hohem nicht manipulieren!) Niveau ist weder ein kurzfristiges Übergangsproblem Die Bürgerinnen und Bürger wollen wissen, ob die noch eine schicksalhafte Konsequenz der modernen SPD überhaupt noch über innovative Kräfte verfügt Industriegesellschaft. Sie ist nur mit einer langfristi- und zu einem tatsächlichen Machtwechsel bereit ist. gen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zu über- Die Wählerinnen und Wähler wollen wissen, ob die winden. Dabei geht es um das Drehen an vielen SPD ihre Antworten an einer verantwortlichen sozial- verschiedenen Schräubchen und nicht etwa um die ökologischen Perspektive orientiert. Das Wort Ökolo- Holzhammermethode. gie ist auf Ihrem Parteitag sehr, sehr knapp gewe- Arbeitszeitverkürzung muß endlich als Ziel der sen. Politik anerkannt werden, und zwar nicht nur, weil Wenn die SPD nicht den Mut aufbringt, eine Wende dies ein Beitrag zur Bekämpfung der Massenerwerbs- zu vollziehen, dann sage ich den Wählerinnen und losigkeit ist. Arbeitszeitverkürzung ist auch ein gesell- Wählern: Im Superwahljahr 1994 sind BÜNDNIS 90/ schaftspolitisch relevantes Instrument zur gerechte- DIE GRÜNEN dann die einzige Alternative zu dem ren Verteilung der Erwerbschancen zwischen Er- noch Schwarz-Kohl und dem neuen Rot-Kohl. Nur wir werbstätigen und Arbeitslosen, aber auch zwischen stehen für einen wirklichen ökologischen Struktur- Frauen und Männern. wandel. Die Bundesrepublik braucht eine Wirt- schaftspolitik, die in Ostdeutschland die Überlebens- Ein weiterer Schwerpunkt unseres Konzepts liegt chancen der noch vorhandenen industriellen Sub- dabei in der Verknüpfung von Beschäftigung und stanz soweit wie möglich wahrt. Wir brauchen in ganz Qualifikation. Auf diese Weise kann eine tragfähige Deutschland eine soziale und ökologische Gestaltung Brücke zwischen den öffentlich geförderten Arbeits- des wirtschaftlichen Umbruchs. plätzen und dem privatwirtschaftlichen Sektor des Arbeitsmarktes gebildet werden. Auf dem Programm verantwortlicher Wirtschaftspo- litik stehen heute zwei zentrale Aufgaben: zum einen Arbeitszeitverkürzung, die Schaffung zukunftsge- der ökologische Umbau, das Umsteuern auf ein richteter Arbeitsplätze durch einen klugen und inno- umweltverträgliches Wirtschaften, und zum zweiten vativen ökologischen Strukturwandel und eine aktive die Erhaltung bestehender und die Schaffung neuer Arbeitsmarkt- und Qualifikationspolitik, das sind Arbeitsplätze. Beide Aufgaben müssen und können unsere Antworten auf Massenerwerbslosigkeit, Be- miteinander verzahnt werden. Dazu brauchen wir harrungsvermögen und das Vertrauen in die Selbst- eine ökologische Steuerreform. heilungskräfte des Marktes. In einem ersten Schritt fordern wir die Einführung Der Staat darf sich nicht der Verantwortung für die einer allgemeinen Energiesteuer, eine drastische Gestaltung unserer Zukunft entziehen. Die wirt- Erhöhung der Mineralölsteuer und eine Abfallab- schafts- und umweltpolitische Inkompetenz und Rich- gabe. Aber — und da unterscheiden wir uns — als tungslosigkeit der Koalition schafft Zukunftsängste Kompensation für diese Belastungen werden wir die und Vertrauensverluste bei den Menschen in unserem Lohnnebenkosten senken, und zwar insbesondere im Land. Bereich der Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Gleichzeitig sind diese Bereiche von versicherungs- Wir, das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sind die fremden Leistungen zu entbinden. Leistungen wie die einzige Alternative zu Schwarz-Kohl und Rot-Kohl. Rentenanpassung oder die Zahlung von Arbeitslosen- Wir stehen für eine klare und überzeugende Politik geld in Ostdeutschland können nicht in erster Linie der ökologischen Verantwortung. Wir stehen für eine den Beitragszahlern der Sozialversicherung angela- tatsächliche Gesundung des Wirtschaftsstandortes stet werden. Sie sind eine Aufgabe der gesamten Deutschland — im Interesse der Menschen und neu- Solidargemeinschaft. erdings im Interesse gerade auch der Wirtschaft in unserem Lande. Wenn umweltschädliches Verhalten, wenn Res- sourcenverbrauch und Energieeinsatz teuer sind, Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. dann kann Arbeitskraft billiger werden. Das fordern Sie doch immer. So leistet der ökologische Wandel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen maßgeblichen Beitrag zur Schaffung sinnvoller sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Dauerarbeitsplätze. Liste) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16557

Vizepräsidentin : Das Wort hat nun Weil Sie eben unruhig geworden sind, nehmen Sie der Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. bitte auch diese Äußerung zur Kenntnis — ich zitiere wörtlich aus einem Leserbrief —:

Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Ohne die Umstände der Entstehung und Verbrei- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Gene- tung eines Satzes, der Steffen Heitmann öffent- ralaussprache beim Etat des Bundeskanzlers ist aus lich diffamiert, hier zu erläutern, bedaure ich guten Gründen eine Gelegenheit, über alle wichtigen sehr, daß mein Name mit solch einer Entgleisung Fragen unseres Landes zu sprechen. Ich habe guten verbunden ist. Die heftigen Reaktionen sind mehr Grund, mich zu Beginn dieser Diskussion in einem als berechtigt. Ich bin in eine journalistische Falle persönlichen Wort an Sie, Herr Ministerpräsident gelaufen und bin daran nicht schuldlos. Die Scharping, als Vorsitzenden der Sozialdemokrati- Klärung des Vorgangs ist nicht abgeschlossen. schen Partei Deutschlands zu wenden. Ich tue dies Ein schlimmer Satz schlägt seither wie ein Bume- hier und heute, weil dies die erste Gelegenheit für rang auf mich zurück. Soweit das überhaupt mich ist, auf eine Äußerung von Ihnen einzugehen; möglich ist, distanziere ich mich davon. Bei all denn ich war, wie jeder weiß, während Ihres Parteita- meinen grundsätzlichen Einwänden gegen Stef- ges letzte Woche im Ausland. fen Heitmanns Ansichten darf persönliche Herab- würdigung nicht zum Stil unserer politischen Es ist selbstverständlich das gute Recht einer jegli- Kultur gehören. F riedrich Schorlemmer. chen Opposition, die Regierung, die Regierungspar- teien oder die Regierungsmitglieder und auch den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Bundeskanzler anzugreifen. Das ist eine ganz natürli- sowie des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜND- che Sache. Wer dies nicht aushält, darf halt kein NIS 90/DIE GRÜNEN]) Bundeskanzler werden. Herr Ministerpräsident, ich hoffe, daß Sie auch (Heiterkeit — Beifall bei der SPD) heute hier das notwendige Wort finden. Aber, meine Damen und Herren, Sie sehen ja: Ich bin Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und dabei in diesen jetzt beinahe elf Jahren ganz gut Herren, heute vor fast genau vier Jahren, am 28. No- gediehen. vember 1989, haben wir — das sage ich nicht zuletzt (Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU) zu dem letzten Sprecher hier, dem Sprecher der Ich finde jedoch, wir sollten, wenn wir dauernd über Fraktion der GRÜNEN — im Deutschen Bundestag politische Kultur reden — nicht zuletzt auch Sie, Herr darüber gesprochen, wie wir die deutsche Teilung Ministerpräsident Scharping —, bei aller Gegner- überwinden könnten. Der Fall der Berliner Mauer lag schaft und bei aller Auseinandersetzung wenigstens keine drei Wochen zurück. Ich habe damals die den Stil im Umgang miteinander wahren. Es ist Ihre Etappen auf dem Weg zur deutschen Einheit in einem Entscheidung, die ich zu respektieren habe, ob Sie Zehn-Punkte-Programm zusammengefaßt. einen Kandidaten für ein Amt mögen oder nicht, ob Die Entwicklungen in den darauffolgenden Mona- Sie für oder gegen ihn sind. Wer sich um ein wichtiges ten haben unsere kühnsten Hoffnungen und Erwar- Amt bemüht und kandidiert, steht natürlich in der tungen übertroffen. Zehn Monate später, am 3. Okto- öffentlichen Kritik. Aber Sie haben auf Ihrem Partei- ber 1990, war die staatliche Einheit Deutschlands in tag über unseren Freund Steffen Heitmann gesagt, er Frieden und Freiheit verwirklicht, mit Zustimmung sei intellektuell bescheiden, politisch ausgelaugt und unserer Freunde, Partner und Nachbarn. Darüber rechtskonservativ. Das ist jenseits des Erträglichen freuen wir uns heute genauso wie vor vier Jahren. und Akzeptablen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Bei fall bei Abgeordneten der F.D.P.) Heute geht es nun darum, daß wir die innere Einheit unseres Landes vollenden und das europäische Eini- Herr Ministerpräsident Scharping, wenn das irgend gungswerk in einer Welt fortsetzen, die sich täglich jemand tut, dann ist das eine andere Sache. Aber und tiefgreifend verändert. Genau in dieser Welt von wenn Sie das tun als Vorsitzender einer großen und heute müssen wir, die Deutschen, unser Können traditionsreichen Partei, der zudem Kandidat für das bewahren, unsere Fähigkeiten erneut unter Beweis Amt des Regierungschefs der Bundesrepublik stellen. Wir erleben das nicht zuletzt im ökonomischen Deutschland ist, dann ist das, wie ich denke, etwas Bereich: In den meisten Bereichen ist unsere Wirt- ganz anderes. Ich richte ganz einfach die Frage an Sie: schaft nicht schlechter geworden, aber andere sind in Haben Sie das nötig? diesen Jahren sehr viel besser geworden. (Beifall bei der CDU/CSU) So haben sich im Fernen Osten schon seit längerem Ich glaube, Sie sollten sich ein Beispiel an dem moderne und leistungsfähige Volkswirtschaften ent- nehmen — ich fordere Sie nicht dazu auf, ich bitte Sie wickelt. Die Tagung der Asiatisch-Pazifischen Wirt- darum —, was zwei bekannte Persönlichkeiten unse- schaftsgemeinschaft in der vergangenen Woche im res Landes in diesen Tagen gesagt haben. Bärbel amerikanischen Seattle hat die Bedeutung dieser Bohley schreibt: riesigen Region für jedermann deutlich gemacht. (Unruhe bei der SPD) Die Länder dieser Wirtschaftsgemeinschaft — m an Ich bin keine Freundin von Steffen Heitmann. muß sich das immer wieder vor Augen führen — Aber jeder der vier Bewerber hat seine Vor- und erwirtschaften rund die Hälfte des Bruttosozialpro- Nachteile. Darüber muß man reden. Was aber dukts der Welt. Ich finde es ziemlich nachdenkens-- gegen Heitmann läuft, ist eine Kampagne. wert, daß hier erstmals ein Gremium von solcher 16558 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Bedeutung und mit solcher Zukunftsperspektive nehmen, daß sich dieses L and mit weit über 1 Milli- zusammentrat — das wird in Europa kaum zur Kennt- arde Menschen in den kommenden Jahren zu einer nis genommen —, an dem Europa überhaupt nicht großen Wirtschaftsmacht entwickeln wird. Deswegen teilnahm. Ich denke, es ist höchste Zeit, daß wir in ist es wichtig, daß unsere eigene Wirtschaft mit Europa erwachen und diese Tatsachen zur Kenntnis Unterstützung der Politik intensive Beziehungen mit nehmen. China im Handel, bei Investitionen und Joint-ventures pflegt, und zwar mehr noch, als dies bislang der Fa ll (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. war. sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben versucht — ich denke, das ist uns Die Wachstumsregion Asien ist für Deutschland als zweitgrößte Handelsnation der Welt von zentraler gelungen —, mit diesem Besuch ein neues Kapitel in Bedeutung. Das gilt für die Gegenwart und erst recht den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen für die kommenden Jahre, die ins nächste Jahrhun- unserer Länder aufzuschlagen. Die mich begleiten- dert führen. den deutschen Unternehmer konnten Aufträge und Absichtserklärungen im Wert von rund 7 Milliarden Auch aus diesem Grunde habe ich in diesem Früh- DM mit nach Hause bringen, und es besteht eine gute jahr eine Asien-Reise durch fünf Länder unternom- Chance, daß wir diese Zahl noch in sehr naher Zukunft men. Ziel der Reise war die Intensivierung unserer erhöhen können. wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen in die- ser wichtigen Region. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Kollege Klose, als ein Mann, den ich schätze, frage ich Sie: Wie können sie sich hier hinstellen und Meine Damen und Herren, natürlich hat dann auch sagen, wir hätten uns nicht um den Auftrag für den das Ergebnis dieser Reise bereits unmittelbar hier zu deutschen Schnellzug in Korea gekümmert? Sie Hause etwas mit Sicherung von Arbeitsplätzen und haben François Mitterrand erwähnt, aber der Bundes- Schaffung neuer Arbeitsplätze zu tun. Es ist ein außenminister, ich selbst und eine ganze Reihe unse- wichtiges Signal in einer rezessiven Phase, das wir rer Kollegen waren ebenfalls dort und haben das hier mit setzen konnten. Mögliche getan. Wir wollen auch im politischen Bereich die Konsul- Wenn die Geschichte der Vergabe dieses Zug- tationen enger gestalten. Wir wollen vor allem unser Auftrages einmal geschrieben wird, dann wird sicher- Augenmerk auf die Verstärkung der Zusammenarbeit lich festgestellt, daß es nicht am deutschen Angebot in den Bereichen Kultur und Ausbildung richten. lag, daß Deutschland nicht den Zuschlag erhielt, Deutschland genießt in diesem Teil der Welt — nicht sondern daß andere Faktoren hinzugekommen sind, zuletzt durch die Arbeit von deutschen Sinologen — die mit Sicherheit Ihre Unterstützung nicht gefunden höchstes Ansehen. hätten. Bevor Sie also einen solchen Vorwurf erheben, Ich möchte einmal mehr, wie ich es oft von dieser sollten Sie Ihre Worte noch einmal genau überprü- Stelle aus schon getan habe, warnend sagen: Wir fen. dürfen unsere internationalen Beziehungen nicht auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rein ökonomisch-politische verkümmern lassen. Wir haben unmittelbar nach meiner Rückkehr (Beifall des Abg. Hans-Ulrich Klose [SPD]) damals aus Asien die Ergebnisse analysiert und in einer engen Kooperation mit der Wirtschaft ausgewer- Die kulturelle Dimension ist von allergrößter Bedeu- tet. Das Resultat dieser Arbeit war eine umfassende tung. Asien-Konzeption, die wir in der Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. verabschiedet haben und die, wie ich hoffe, in ein paar sowie bei Abgeordneten der SPD) Tagen hier im Hohen Hause im Zusammenhang mit der Asienpolitik als Ganzes diskutiert wird. Vor allem setze ich darauf, daß wir im Blick auf Ausbildungsprogramme angesichts unseres in China In diesem Zusammenhang — das will ich hier besonders geschätzten dualen Systems bei der Ausbil- ausdrücklich positiv hervorheben — hat die deutsche dung von Lehrlingen und Facharbeitern Unterstüt- Wirtschaft ihrerseits einen Asien-Pazifik-Ausschuß zung leisten können. Ich möchte auch — ich will das gegründet, der vor allem die vielfältigen Aktivitäten hier gleich mit anführen — bei meinem nächsten von Unternehmen und Verbänden bündelt und vor Gespräch mit den Ministerpräsidenten unserer Bun- Ort zur Wirkung bringen soll. desländer noch einmal einen Versuch unternehmen Wegen der großen politischen und wirtschaftlichen herauszufinden, was wir tun können, um trotz der Bedeutung Asiens bin ich in der vergangenen Woche schwierigen Haushaltslage einen neuen Anlauf für ein weiteres Mal in das größte Land dieser Region, in wesentlich mehr Stellen im Lehrerbereich für die die Volksrepublik China, gereist. Ich konnte mich dort deutsche Sprache machen zu können. — wie auch viele von Ihnen in diesen Jahren— von der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Entschlossenheit und dem Leistungswillen überzeu- gen, mit dem die Volksrepublik China Kurs auf die Ich habe, meine Damen und Herren, bei diesem Weltmärkte nimmt. Besuch natürlich auch die Menschenrechte angespro- chen. Es ist beeindruckend, vor allem für einen Deutschen (Zuruf von der SPD) und Europäer, in welchem Tempo dort modernste Produktionsanlagen im Weltstandard errichtet wer- — Ich habe da keinen Nachholbedarf, Herr Abgeord- den. Wir alle müssen doch wissen und zur Kenntnis neter. Ich habe zu einem Zeitpunkt, als andere die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16559

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Solidarnosc bei Tag nicht grüßten, direkten Kontakt Angesichts so mancher Kommentare in Deutsch- zur Solidarnosc gehabt. land und anderswo im Westen möchte ich doch sagen: Wir sollten uns davor hüten, bei diesem so ungeheuer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schwierigen Demokratisierungsprozeß automatisch Ich habe alle meine Gesprächspartner auf die große rein westliche Maßstäbe anzulegen. Bedeutung dieser Frage für uns in Deutschland und Ich habe Boris Jelzin zugesagt, mich nach Kräften unsere Partner für viele in der Welt, aber natürlich für den baldigen Abschluß des Partnerschafts - und auch für die politische Führung der Volksrepublik Kooperationsabkommens zwischen der Europäi- China hingewiesen. Ich habe der chinesischen Regie- schen Union und Rußland einzusetzen. Wir haben rung in Abstimmung mit Amnesty International und dabei auch über die künftige Rolle, die dieses wichtige dem Kommissariat der deutschen Bischöfe eine Liste Nachbarland Deutschlands in Europa spielen muß, von über 20 Namen übergeben. Wenn Sie das hier gesprochen. Wir waren uns auch einig, daß wir eine kritisieren, verstehe ich das nicht, denn der Versuch Sicherheitsordnung für ganz Europa anstreben müs- muß doch gemacht werden, Menschen konkret zu sen, in die Rußland einbezogen ist, aber in der auch helfen und sich nicht in allgemeinen Floskeln über die Ängste der unmittelbaren Nachbarn in Mittel-, Menschenrechte zu ergehen. Ost- und Südosteuropa berücksichtigt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich habe Präsident Bo ris Jelzin eingeladen, im Mai Daraus kann dann auch konkret etwas erwachsen. des kommenden Jahres zu einem offiziellen Besuch nach Deutschland zu kommen. Er hat diese Einladung Vor allem habe ich damit die Chance, in der angenommen. Nacharbeit zu diesem Gespräch immer wieder auf diese Namen zurückzukommen und es nicht bei Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, bei allgemeinen und unverbindlichen Reden zu belas- allen meinen Gesprächen mit Partnern aus vielen sen. Ländern der Welt höre ich: Ihr Deutschen habt doch jetzt die Einheit in Frieden und Freiheit erreicht; ihr Aus meinen Gesprächen bringe ich die Zuversicht seid eines der wichtigsten und reichsten Länder dieser mit, daß in diesem Jahr auch in anderen Fällen bei den Erde; seid ihr nun auch bereit, eure Verantwortung bei politisch Verantwortlichen die Bereitschaft wächst, der Erhaltung von Frieden und Stabilität in der Welt vielleicht auch die Erkenntnis, daß Menschen- und wahrzunehmen? — Die Erwartung der Weltgemein- Bürgerrechte stärker respektiert werden müssen und schaft ist klar: Deutschland soll uneingeschränkt an daß dies auch im Sinne des internationalen Ansehens Aufgaben und Einsätzen der Vereinten Nationen zur der Volksrepublik China ist. Erhaltung und Wiederherstellung des Friedens mit- Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, bei wirken können. Wer den Frieden will, der muß auch meinem Rückflug aus China habe ich vorgestern helfen, ihn zu erhalten. Wer gegen Blutvergießen ist, Präsident Jelzin in Moskau getroffen. der muß auch helfen, es zu beenden. Die Erfahrung der Geschichte zeigt: Mit Blauhelmeinsätzen allein (Zuruf von der SPD) läßt sich der Frieden eben nicht bewahren. — Ich habe auch nichts dagegen, wenn Sie das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erwähnen. Es zeigt ja, daß wir ganz normale Bezie- hungen haben, wenn wir zusammen in die Sauna Meine Damen und Herren, wer diesen Satz ablehnt, gehen. Wenn Sie daran Anstoß nehmen, habe ich ist dann in der internationalen Politik auch nicht keinen Einwand dagegen. handlungsfähig. Wer nicht handlungsfähig ist, ist nicht bündnisfähig. Wer nicht bündnisfähig ist, ist auf (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und die Dauer auch nicht regierungsfähig. Auch dies der F.D.P. — Bundesminister Dr. Theodor gehört dazu. Waigel: Aber nicht jeden mitnehmen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Das ist in der Tat wahr, was der Finanzminister sagt: Nicht mit jedem würde ich dort hingehen. Meine Damen und Herren von der SPD, wer Ihre Beschlüsse dazu liest, kann nur mit Bestürzung fest- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und stellen: Sie haben nichts dazugelernt und sind auch der F.D.P.) offensichtlich nicht bereit, etwas dazuzulernen. In meinen Gesprächen mit Boris Jelzin habe ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bekräftigt, daß die demokratischen und reformorien- tierten Kräfte in Rußland weiterhin unsere volle Unter- 1983 waren Sie gegen den Doppelbeschluß der stützung haben. Ich denke, das ist die Meinung des NATO, an dem mein Amtsvorgänger als wesentlicher ganzen Hauses. Autor mitgewirkt hat. Es ist dieser Amtsvorgänger, Herr Ministerpräsident Scharping, der Sie jetzt berät. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie sollten ihn einmal fragen, was er von dem hält, was Präsident Jelzin hat mich ausführlich über die Ihre Partei 1983 in dieser Sache veranstaltet hat. innere Entwicklung seines Landes unterrichtet, und (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die ich kann nur immer wiederholen, was ich hier schon haben ihn deswegen ja gestürzt!) früher gesagt habe. Seine Darlegungen haben meinen Eindruck verstärkt, daß er und die Reformkräfte in Die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses war seinem Land aufrichtig und mit aller Kraft danach doch — dies ist inzwischen ganz unstreitig — eine der streben, eine lebensfähige Demokratie aufzubauen. wesentlichen Voraussetzungen für den Zusammen- 16560 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl bruch des Kommunismus und damit für die Überwin- vorgelegten „Sicherheitspaket '94" klar aufgezeich- dung des Ost-West-Gegensatzes. net, vor welchen Bedrohungen wir stehen und was (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) getan werden muß. Ohne diese Veränderung hätte es die deutsche Ein- Ich möchte an dieser Stelle vor allem die Forderung heit nicht gegeben. wiederholen, die Polizeipräsenz vor Ort zu verstärken und die Beschleunigung der Strafverfahren endlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) möglich zu machen. Wir müssen jetzt alles tun, um der Ginge es nach den Parteitagsbeschlüssen der SPD, bedrohlichen Entwicklung der Kriminalität entschlos- würde Deutschland auf einen Sonderweg und damit, sen entgegenzutreten; denn auch das hat sehr viel was für unsere geographische Lage das Schlimmste damit zu tun, ob unsere Mitbürgerinnen und Mitbür- ist, ins Abseits geraten. Sie wissen dies ganz genau ger diesen Staat als handlungsfähig, als ihren Staat und fassen trotzdem derar tige Beschlüsse, weil Sie erkennen. Wir alle tragen dabei gemeinsam Verant- glauben, damit bei der Wahl politische Geschäfte wortung. Der Rechtsstaat darf vor Verbrechen nicht machen zu können, oder weil Sie damit innerparteili- zurückweichen. che Gegensätze zudecken wollen. Ich finde, es bringt uns auch nichts, wenn wir wie Meine Damen und Herren, hat Ihnen in auch in anderen Feldern Verantwortung sozusagen einer wichtigen Stunde Ihrer Parteigeschichte zugeru- hin- und herschieben. Die Verfassungsordnung ist fen, daß die Sozialdemokraten keine Weltmacht seien klar: Die Länder sind weitgehend für Polizei und Justiz und daß sich die Welt nicht nach der Beschlußlage von zuständig. Sie müssen sicherlich mehr als bisher dazu SPD-Parteitagen richtet. Genau das ist der Fall. Auf beitragen, die innere Sicherheit zu gewährleisten. diesem Weg werden Sie inte rnational eben nicht Wenn wir ja sagen — wir tun dies aus Überzeugung regierungsfähig. zur föderalen Ordnung —, muß sich die föderale Ordnung auch in einer solch schwierigen Frage (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. bewähren. Ich kann für die Bundesregierung nur noch — Zurufe von der SPD) einmal betonen, daß wir jede nur denkbare und Ich kann nur sagen: Herr Ministerpräsident Klose — mögliche Zusammenarbeit wünschen. — Entschuldigung! Herr Klose, aber Sie waren dies ja Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, unser auch einmal; es ist also verständlich, wenn ich Ihren Land braucht klare Zukunftsperspektiven gerade in Namen nenne. — Herr Ministerpräsident Scharping, einer Zeit von Rezession und Strukturwandel. Des- Sie sollten hier nicht nach Tagesmehrheiten schielen, halb haben wir in der Bundesregierung Anfang Sep- sondern sich an dem orientieren, was der frühere tember den Bericht zur Zukunftssicherung des St and- Hamburger Bürgermeister und jetzige Kollege Klose orts Deutschland vorgelegt. Wir haben hierüber vor dazu gesagt hat. gut einem Monat debattiert und berichtet. Die Diskus- Meine Damen und Herren, auf Ihrem Parteitag gab sion ist erfreulicherweise weiter in G ang gekommen es wieder das ebenso bösartige wie absurde Gerede ungeachtet der Einwände, die ich heute auch hier von der Bundeswehr als Interventionsarmee. gehört habe. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Pfui!) Herr Kollege Klose, diese Frage aber ist schon berechtigt: Was hat Ihre Partei auf Ihrem Parteitag zu Der humanitäre Einsatz unserer Soldaten in Somalia dieser Debatte beigetragen? hat dazu beigetragen, hungernden Menschen zu helfen. Wenn diese Hilfe nun von einer Sprecherin der (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr wahr! — SPD als „Abenteuer" und „Farce" bezeichnet wird, ist Zuruf von der SPD) das nicht nur, wie bei dieser Dame nicht anders zu — Wir müssen nicht da gewesen sein. Man kann Sie in erwarten, ein Ausdruck unerhörter Arroganz und dem, was Sie tun, auch begreifen, wenn man nicht menschlicher Kälte, sondern auch eine Beleidigung dabei ist, meine Damen und Herren. des Dienstes unserer Soldaten. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der der F.D.P.) F.D.P.) Die Zusammenfassung ist relativ einfach: Notwen- Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, in allen dige Einsparungen, die die Bundesregierung vorsieht Reden — das ist auch gut so — wurde zu Recht die und die in Wahrheit jeder von Ihnen für sich allein Frage der inneren Sicherheit angesprochen. Der — ob in jedem Detail, will ich jetzt gar nicht untersu- Vorsitzende der SPD-Fraktion, Herr Klose, hat am chen, aber im Prinzip — für richtig hält, werden heutigen Tag die Mordtat von Mölln und all das, was pauschal als Sozialabbau abqualifiziert. Damit wir als geschehen ist, in Erinnerung gerufen. Ich stimme ihm Bundesregierung nicht ganz allein auf der Anklage- ausdrücklich zu, gerade bei einer solchen Gelegen- bank sitzen, wird der Bundesbank bescheinigt, daß sie heit nicht nur darüber zu reden, sondern das Men- die Wirtschaft zurückgeworfen habe. Übrigens fühle schenmögliche zu tun, damit Gewalt in Deutschland ich mich auf der Bank gemeinsam mit der Bundesbank keine Chance hat. sehr wohl. Auch das sage ich gern einmal bei dieser Meine Damen und Herren, die Bürger erwarten zu Gelegenheit. Recht, daß wir alle — hier sind vor allem Bund und Unsere Antwort an Sie ist ziemlich klar: Mit Umver- Lander gemeinsam gemeint — die innere Sicherheit teilungsdiskussion und Sozialneid läßt sich der St and- als ein zentrales Thema begreifen. Der Bundesinnen- ort Deutschland nicht sichern. Das war in den ganzen minister, Manfred Kanther, hat in dem von ihm 80er Jahren so, und das gilt auch heute. Daß das Ihr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16561

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Wahlkampfthema ist, kann jeder voraussehen; aber dazu verleitet haben, notwendige Anpassungen an Sie werden damit keine großen Erfolge haben. veränderte Wettbewerbsverhältnisse zu unterlassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Zuruf von der SPD: Hört, hört!) — Zuruf von der SPD: Abwarten!) Heute müssen wir diese Veränderungen, ob es uns — Aber, meine Damen und Herren, ich warte es ja ab. paßt oder nicht, unter schwierigeren Bedingungen in Sie warten ja auch ab, und jetzt warten Sie beinahe einem schmerzhaften Prozeß vornehmen. Das bedeu- zwölf Jahre! So ist das im Leben. tet: Auf einen konjunkturellen Aufschwung zu warten reicht allein nicht aus. Wir müssen jetzt und heute (Heiterkeit bei der CDU/CSU) erstarrte Strukturen aufbrechen. Dazu ist zunächst die Fähigkeit zum Umdenken notwendig, und zwar nicht Sicherung vorhandener In Wahrheit weiß jeder: Die nur beim anderen, sondern auf jeder Seite. und die Schaffung neuer Arbeitsplätze sind eine gemeinsame Pflicht des Landes. Es geht hierbei nicht (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE nur um Ökonomie. Es geht um die Betroffenen, die GRÜNEN]: Energiekonsens!) arbeitslos sind, die aus dem Ablauf ihres normalen Lebens herausgeworfen werden. Es geht nicht nur um Zweitens. Wir müssen in Deutschland vorrangig den einzelnen, es geht natürlich immer auch um die Arbeitsplätze sichern und neue Beschäftigung schaf- betroffenen Familien. f en. Zu dieser Frage hat auch der Sachverständigenrat klare Aussagen gemacht. Es heißt dort: Zur Sicherung der Zukunft unseres Landes müssen wir uns die Aufgaben jetzt nicht nur stellen und Die Tarifpolitik darf die Einkommenswirkung des definieren, sondern sie lösen. Ich sehe vor allem zehn Lohns für alle, die sichere Arbeit haben, nicht in Aufgaben. den Vordergrund stellen. Im Interesse all derer, die keine Arbeit haben oder deren Arbeitsplätze Erstens. Wir müssen die Rezession überwinden. Die gefährdet sind, gebührt jetzt der Beschäftigungs- Wirtschaftsexperten beurteilen die Konjunkturaus- wirkung der Vorrang. sichten unterschiedlich. Die Forschungsinstitute sa- gen in ihrem Herbstgutachten für das nächste Jahr in Ich finde, diesen Sätzen ist nichts hinzuzufügen. Es ist den alten Bundesländern ein Wachstum von 1 % so: Die Nachfrage nach Arbeitsplätzen — Herr Klose, voraus. Der Sachverständigenrat rechnet mit einem da sind wir, glaube ich, nicht weit voneinander Nullwachstum. Auf jeden Fall bleibt der Aufstieg aus entfernt — hängt sicher nicht allein, aber doch ganz dem Konjunkturtal beschwerlich. Der wichtigste wesentlich von Arbeitskosten ab. Löhne, Arbeitszei- Grund liegt darin, daß unsere konjunkturelle Situa- ten, Maschinenlaufzeiten — all diese Kostenfaktoren tion deutlich von den strukturellen Problemen überla- werden in Tarifverträgen geregelt. Die Tarifverträge gert wird. tragen bekanntlich zwei Unterschriften. In erster Linie wird in solchen Verträgen über Chancen von Arbeits- Der Kollege Klose als jemand, der lange in einem plätzen und Beschäftigung in Deutschl and bestimmt. Bundesland Verantwortung ge tragen hat, weiß, wie Ich sage das nicht in billiger Weise, indem ich auf die Etatlage aussieht. Als jemand, der sich in der Gewerkschaften zeige oder auf die Wirtschaft. Wirtschaft auskennt, wissen Sie, daß an diesen struk- turellen Problemen — ich wiederhole, was ich kürzlich Meine Damen und Herren, wir haben damals dar- hier in der Debatte gesagt habe — alle beteiligt sind. über diskutiert: Wenn man noch einmal die Lohn- Diese Probleme sind nicht gestern und vorgestern runde im öffentlichen Dienst, die damals zu Streiks gewachsen, sondern in einer langen Zeit. Natürlich ist führte, rekapituliert, muß doch jeder von uns, der die jetzige Bundesregierung genauso daran beteiligt heute nüchtern die Lage be trachtet, erkennen, daß die wie frühere Bundesregierungen, wie Landesregierun- damalige Höhe des Abschlusses ein Fehler war. Ob gen, man das mag oder nicht, das war so. (Unruhe bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — wie Kommunalpolitiker, wie Wirtschaft und Gewerk- Hans-Ulrich Klose [SPD]: Dazu hat Mölle- schaften. Dies ist doch eigentlich in einer seriösen mann beigetragen!) Diskussion heute überhaupt nicht mehr zu bestreiten. — Ich sage das, Herr Kollege Klose, obwohl ich meine Deswegen sollten wir uns die Zeit sparen, darüber zu Zustimmung gegeben habe und die Bundesregierung reden. mit unterschrieben hat. Ich drücke mich ja nicht vor (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Verantwortung. Aber wir müssen doch fähig sein, im nachhinein zu erkennen, daß wir einen Fehler Es gilt auch die zweite These, daß diese Struktur- begangen haben. probleme Probleme der alten Bundesrepublik sind und nicht mit der deutschen Einheit zu tun haben. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sollten damit aufhören, in der Bevölkerung in West- Hans-Ulrich Klose [SPD]: Der Wirtschaftsmi- deutschland den Eindruck zu erwecken, das sei alles nister hat dazu beigetragen! — Ing rid Mat- eine Folge der deutschen Einheit. thäus-Maier [SPD]: Die Zahlen hat Herr Möl- lemann genannt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Sie können Herrn Möllemann vieles vorwerfen. Wahr ist, daß die Boomjahre mit hohen Wachstums- Aber er hat doch nicht für den öffentlichen Dienst raten im vergangenen Jahrzehnt in vielen Bereichen Verantwortung getragen. Sie brauchen Ihre alten 16562 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Vorurteile doch jetzt nicht an diesem Punkt abzu- Das neue Arbeitszeitgesetz, mit dem wir flexiblere reagieren, verehrte Kollegen. Arbeitszeiten und längere Maschinenlaufzeiten er- möglichen, liegt jetzt dem Hohen Hause vor. Wenn es (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und intelligent und konsequent genutzt wird, ist natürlich der F.D.P.) zusätzliche Beschäftigung bei geringeren Produkti- Die 80er Jahre haben gezeigt, wie eine maßvolle onskosten möglich. Das muß jetzt geschehen. Ich kann Tarifpolitik und eine solide Wirtschafts- und Finanz- nur hoffen, daß der Appell an die Tarifparteien Frucht politik Millionen Arbeitsplätze neu schaffen können. trägt, erfolgreich ist und diese neuen Modelle schon Herr Abgeordneter Klose, es geht doch darum: Es war 1994 in die Praxis umgesetzt werden können. nicht nur die Bundesregierung, es war die Wirtschaft, es waren die Gewerkschaften, die uns in den 80er Drittens. Wir müssen den Aufbau Ost und damit den Jahren durch gemeinsame Arbeit die erstaunlich gute Aufholprozeß der neuen Lander weiter vorantreiben. Wir alle wissen, daß dieser Prozeß teurer und langwie- Zahl von drei Millionen neuer Arbeitsplätze gebracht haben. Deshalb ist es, so glaube ich, jetzt wichtig, daß riger wird, daß er von den Menschen in den neuen wir uns orientieren, damit wir erkennen, was wir Ländern ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft, an Mut und Zuversicht und eine Eingewöhnung in damals richtig gemacht haben, und aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen versuchen. völlig veränderte Verhältnisse abverlangt. Wir wis- sen, daß daraus auch verständliche Sorgen, verständ- Es nützt uns auch nicht, nach utopischen Patentre- liche Ängste und Nöte entstehen. zepten zu suchen. Aber es nützt uns wohl, ausgetre- tene Pfade zu verlassen und neue, vielleicht auch Aber zu einem wirklichen und realistischen unkonventionelle Lösungen zu suchen. Einer meiner Deutschlands in den neuen Ländern gehört die objek- Vorredner hat gerade über Arbeitszeitmodelle ge- tive Wahrnehmung dessen, was bisher an Fortschrit- sprochen. Meine Damen und Herren, es hat lange ten erreicht wurde. Es ist an der Zeit, daß wir all denen gedauert, bis wir uns in dieser Frage in Bewegung entgegentreten, die ihre billigen politischen Ge- gesetzt haben. schäfte in diesem Bereich mit Miesmacherei betrei- ben. Ich begrüße es, daß jetzt auch in den Gewerkschaf- ten die Erkenntnis gewachsen ist, daß das, was bisher (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) als unverrückbar und als ein sozialer Abstieg galt, neu So kommt der Sachverständigenrat in seinem jüng- überprüft werden muß, auch um dem Willen der sten Gutachten zu dem Ergebnis — ich zitiere —: Betroffenen zu entsprechen. Denn die Umfragen bele- gen doch, daß eine große Mehrheit die Sicherung von Die Wirtschaftslage in den neuen Bundesländern Arbeitsplätzen und Beschäftigung ganz hoch einord- hat sich auch unter den erschwerten Bedingun- net. gen einer Rezession in Westdeutschland weiter Stellen Sie sich einmal vor, was in diesem Haus verbessert. passiert wäre, wenn ich dies vor zwei Jahren an Der Sachverständigenrat erwartet für dieses Jahr in diesem Pult gefordert hätte. Wenn vernünftigerweise den neuen Ländern ein Wirtschaftswachstum in der jetzt ganz offen, auch in Gewerkschaftskreisen, vom Größenordnung von 6,5 %. Für das nächste Jahr nennt Verzicht auf Einkommenszuwächse gesprochen er die Zahl 7,5 %. wird Ich glaube, es ist wichtig, in diesem Zusammenhang (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Bei Arbeitszeit einmal darauf hinzuweisen, welche enormen öffentli- verkürzung!) chen und privaten Aufwendungen hinter diesen Zah- — das können Sie doch drehen und wenden, wie Sie len stehen. Das wird erst dann deutlich, wenn man in wollen; es geht um einen Verzicht auf Einkommens- Rechnung stellt, daß die notwendigen Mittel in Höhe zuwächse —, dann sind wir doch endlich auf einem von dreistelligen Milliardenbeträgen weiter aufge- vernünftigen Weg. Denn es geht doch darum, Arbeits- braucht werden, und das, obwohl wir in Westdeutsch- losigkeit zu bekämpfen. land konjunkturelle Schwierigkeiten ersten R anges haben und obwohl Erträge, Wachstum und Reallöhne (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rückläufig sind. Durch flexiblere Arbeitszeitregelungen ist es auch Wenn wir diese unterschiedliche Situation in Ost- möglich, die Teilzeitarbeit erheblich auszuweiten. und Westdeutschland insgesamt betrachten, dann Wieso tun wir hier nicht mehr? Wieso ;st es möglich, wird auch klar — das sollte dankbar hervorgehoben daß wir als eines der wichtigsten Länder in Europa werden —, in welch großem Ausmaß Bürgerinnen und unter den Zwölf der Gemeinschaft in der Frage der Bürger und nicht zuletzt auch die Wirtschaft in Teilzeitarbeit immer noch auf dem letzten Platz ran- Deutschland wirkliche Solidarität praktizieren. gieren? Das zeigt doch, daß auf den verschiedensten Seiten Notwendiges versäumt wurde, zumal wir wie- Dies geschieht in einem Umfang, der bis an die derum wissen, daß nicht wenige, die auf dem Arbeits- Grenze des wirtschaftlich und finanzpolitisch Mach- markt sind, und auch die, die einen Arbeitsplatz baren geht. Deswegen — das will ich ganz klar suchen, durchaus bereit wären, Halbtagsarbeit anzu- sagen — ist es für uns in der Koalition und in der nehmen. Die alten Ausreden, daß diese Sache für die Bundesregierung nicht möglich, weitere Wohltaten in Bürokratie des jeweiligen Unternehmens nicht mehr Aussicht zu stellen, von denen kein Mensch weiß, wie zumutbar sei, können doch im Computerzeitalter sie erwirtschaftet und bezahlt werden können. Was - nicht mehr gelten. jetzt absoluten Vorrang haben muß, sind die Siche- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16563

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl rung von Arbeitsplätzen und die Beschaffung neuer Ich freue mich und erwähne dies lobend, daß jetzt, Arbeitsplätze und Beschäftigungsmöglichkeiten. soweit ich es erkennen kann, alle alten Länder endlich bereit sind, die Präferenzregelungen bei öffentlichen Herr Klose, Sie haben mich in diesem Zusammen- Aufträgen zugunsten der ostdeutschen Betriebe zu hang angesprochen — was mich bei Ihrem Informa- übernehmen. Ich hoffe, daß damit, verehrter Herr tionsstand wiederum erstaunt hat —, was den Absatz Kollege Klose, Ihr Einwand beantwortet werden ostdeutscher Produkte betrifft. Die von mir zu Anfang konnte. dieses Jahres initiierte Einkaufsoffensive neue Bun- desländer des Bundesverbandes der Deutschen Indu- Meine Damen und Herren, was jetzt — ich sage es strie und der Treuhandanstalt ist doch in Schwung noch einmal — Vorrang haben muß, ist die Sicherung gekommen. Das Einkaufsvolumen der beteiligten der Arbeitsplätze und die Schaffung neuer Beschäfti- Unternehmen wird noch in diesem Jahr auf mehr als gungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten: Die Fort- 13 Milliarden DM steigen. Die Unternehmen halten setzung dynamischer Investitionstätigkeit ist daher an dem vorgegebenen Ziel fest, bis 1995 eine Verdop- der Dreh- und Angelpunkt schlechthin. Wenn die pelung auf 26 Milliarden DM zu erreichen. Natürlich Investitionen — auch das wird oft verschwiegen und gab es enorme Anfangsschwierigkeiten, denen sich muß hier gesagt werden — pro Kopf der Bevölkerung nicht zuletzt die Lieferanten aus den neuen Ländern heute in Ostdeutschland höher liegen — und das muß ausgesetzt sahen. Natürlich gab es in einzelnen Berei- so sein — als in Westdeutschland, so zeigt dies, daß chen auch einen brutalen Verdrängungswettbewerb. trotz des ganz schwierigen Aufholprozesses eine posi- Nicht jeder hat dabei jene Solidarität praktiziert, die in tive Entwicklung in G ang gekommen ist. Wir müssen einer solchen Situation unseres Volkes eigentlich zu alles daransetzen, national wie international, daß erwarten war und ist. weitere Investoren mit ihrem Kapital und ihren Absatzmärkten den Weg in die neuen Bundesländer Wir in der Bundesregierung helfen den Unterneh- finden. Ich bin nach den Erfahrungen weniger men bei Marketing und Qualitätssicherung ihrer Pro- Wochen im übrigen der Auffassung, daß die Entschei- dukte, bei Messebeteiligung im In- und Ausland und dung der Europäischen Gemeinschaft für den Sitz der bei Vermarktungskampagnen auf den Auslands- Europäischen Zentralbank in Frankfurt eine durch- märkten. Zum Thema Listung ostdeutscher Produkte aus positive Wirkung auch für Investitionen in den beim Handel will ich nur sagen, daß der Bundeswirt- neuen Ländern haben wird. schaftsminister dazu eine ganze Reihe von Handels- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gesprächen geführt hat. Die Handelsunternehmen werden verstärkt Ostbeauftragte einsetzen. Vor allem Viertens. Meine Damen und Herren, die mittelfri- bei einigermaßen vergleichbaren Preisen und Quali- stige Haushaltskonsolidierung muß fortgesetzt wer- täten wollen sie verstärkt Produkte aus den neuen den. Der Bundesfinanzminister hat dazu gestern das Ländern einführen. Notwendige gesagt. Mit einem Sparprogramm von über 20 Milliarden DM ist ein wichtiges Zeichen Dies gilt selbstverständlich auch für den Einkauf gesetzt worden. Hinzu kommen noch die Einsparun- ostdeutscher Produkte durch die Bundesbehörden, gen von 5 Milliarden DM nach dem Beschluß des also bei öffentlichen Aufträgen. Wir haben hierzu Haushaltsausschusses. Dies ist ein Einsparvolumen folgende Maßnahmen ergriffen: Die ostdeutschen von rund 5 % des Bundeshaushalts. Alle, die das in Unternehmen erhalten besondere Startvorteile. Durch Stadt und Land kritisieren, sollen das jeweils in ihrem die sogenannte Präferenzregelung, die jetzt noch eigenen Bereich nachmachen, meine Damen und einmal bis Ende 1995 verlängert wurde, können Herren, und dann diskutieren wir weiter. beispielsweise ostdeutsche Anbieter in das Angebot einer westdeutschen Firma eintreten, wenn ihr Ange- Aber die Frage an die Sozialdemokratie ist doch bot nicht mehr als 20 % darüber liegt. Kleinere und schon berechtigt. Wenn Einsparungen von 25 Milliar- mittlere Unternehmen sollen dabei besonders geför- den DM natürlich unpopulär sind und Sie diese dert werden. Gegenüber dem Vorjahr sind die öffent- ablehnen, was wollen Sie an Stelle dessen, was lichen Aufträge der Bundesministerien an ostdeutsche notwendig ist, tun? Firmen um gut ein Drittel auf jetzt 20 % des öffentli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen Auftragsvolumens des Bundes gestiegen. Im ersten Halbjahr sind dadurch gut 6 Milliarden DM an Wenn Sie die Haushaltskonsolidierung auf eine mit- öffentlichen Aufträgen in die neuen Länder geflossen. telfristige Perspektive verschieben, dann wird das Ich lade alle Kollegen aus den westlichen Bundeslän- nichts bringen. Wenn jetzt „hohe Privateinkommen" dern herzlich ein, in ihren Parteigremien — das gilt für und „große Vermögen" stärker besteuert werden alle — gelegentlich auch mit den Landespolitikern sollen — alles ganz alte Ladenhüter —, dann werden darüber zu sprechen, daß es richtig ist, bei solchen genau diejenigen besteuert, von denen wir jetzt Entscheidungen eine neue Prioritätenliste aufzustel- Investitionen für Arbeitsplätze erwarten. len. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Im Bundeswirtschaftsministerium kümmert sich der Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen sehr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Göhner als Ver- dankbar, Herr Ministerpräsident, wenn Sie uns, da die gabebeauftragter Ost, ebenso wie die Beauftragten in geheime Kommandosache bis zu uns nicht vorgedrun- den anderen Ressorts, darum, daß wir diese Zahlen gen ist, sagen würden: Was ist das eigentlich für eine noch verbessern, ganz im Sinne von Herrn Dohnanyi, Einkommensgröße, die Sie meinen? Liegt sie bei 5 000 den Sie hier erwähnt haben, der sich für die Treuhand- DM, gilt sie für gehobene Facharbeiter, oder wo anstalt um die Absatzförderung kümmert. beginnen die „hohen Einkommen"? 16564 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Dann haben Sie auch noch die Chance, eine andere wichtige Vereinbarung zur Bahnreform erreicht. Wir Frage zu beantworten. Wie wollen Sie in dem jetzt haben große Anstrengungen unternommen — das will immer intensiver werdenden gemeinsamen Markt ich dankbar erwähnen, auch an die Adresse der Europa mit offenen Grenzen, wo wir in einem offenen Bundesländer, auch an Sie, Herr Ministerpräsident Wettbewerb leben — und unser Ziel ist, die weltwirt- Scharping als Vorsitzender der Ministerpräsidenten- schaftliche Dimension in diesem Sinne zu entwik- konferenz —, daß die Bahnreform zum 1. Januar 1994 keln —, Kapitalinvestitionen und Arbeitsplätze si- in Kraft gesetzt wird. chern, wenn Sie beispielsweise die, die dieses Kapital Jetzt höre ich Stimmen — übrigens aus den ver- besitzen, veranlassen, in andere Länder zu gehen? schiedensten politischen Lagern — — Der Vergleich, meine Damen und Herren, mit sozial- demokratisch geführten Regierungen im übrigen (Zuruf von der SPD) Europa muß Ihnen doch zeigen, daß Sie hier wie- — Das ist nicht auf eine Seite beschränkt; Sie müssen derum auf dem Holzweg sind. Andere sind längst nicht aus Ihrer Hamburger Sicht immer nur das eine einen ganz anderen Weg gegangen. Bundesland nennen. Sie können in diesem Fa ll auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) das Land Hamburg nehmen. — Jetzt höre ich Stim- men, die den Kompromiß so nicht mehr wollen. Ich Im übrigen, meine Damen und Herren: Mit der sage aber ganz einfach: Wir haben verhandelt, wir Verdoppelung der p rivaten Vermögensteuer ab 1995 haben abgeschlossen, und dabei bleibt es. Wir können sind wir doch schon bis an die Grenze des Vertretba- nicht dauernd neu verhandeln. Das würde die Glaub- ren gegangen. würdigkeit unserer Politik zunichte machen. Ich kann knapp zusammenfassend sagen: Wer jetzt, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) statt das Problem der Arbeitslosigkeit und der Kon- junkturschwäche mit praktischen und greifbaren Bei der Postreform geht es wahrlich nicht um eine Maßnahmen anzugehen, auf Sozialneid setzt, ge- technisch-administrative Veränderung. Wenn die winnt vielleicht kurzfristig Wählerstimmen. Aber das Telekom international leistungsfähig und konkur- Land wird Arbeitsplätze, Investitionen und Zukunft renzfähig werden will, müssen wir jetzt diese Ent- verlieren. Und das ist doch das Entscheidende. scheidung treffen. Jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, weiß, daß es hier um Zehntausende und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aberzehntausende neuer Arbeitsplätze der Zukunft Es gibt keinen einfachen Ausweg aus der Rezession, geht, hochqualifizierte Arbeitsplätze, und daß wir, vor allem nicht angesichts der aufgestauten Notwen- wenn wir jetzt nicht handeln, aus dem weltweiten digkeiten des Strukturwandels. Wettbewerb ausscheiden werden. Trotz der unbes treitbaren Konjunkturschwäche, Deswegen bitte ich alle Beteiligten, auch die Kolle- trotz der notwendigen Investitionen in die deutsche gen innerhalb der SPD, die dafür besondere Verant- Einheit, die wir gern leisten, und trotz der notwendi- wortung tragen — da gibt es nicht wenige, denen ich gen finanziellen Unterstützung der Reformstaaten in in diesem Zusammenhang auch Dank schulde, was Mittel-, Ost- und Südosteuropa ist es gelungen, im ich gern einmal sage —, daß sie sich jetzt einen Ruck Vergleich mit anderen Ländern — das ist kein Trost geben, damit diese Entscheidung möglich wird. und vor allem keine Nachricht, die es rechtfertigt, in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Anstrengungen nachzulassen — bei der Kredit- aufnahme im Mittelfeld der Industrienationen zu sein. In den neuen Bundesländern ist die Privatisierung Stabilität der D-Mark, aufwärtsgerichtete Aktien- der Kombinate und der volkseigenen Betriebe ein kurse und ungewöhnlich niedrige Zinsen am Kapital- großes Stück vorangekommen. Weltweit, Herr Kol- markt signalisieren doch bei der Unbestechlichkeit lege Klose, wird diese enorme Privatisierungsleistung internationaler Kapitalanleger, daß die Bundesrepu- von mehr als zehntausend Unternehmen anerkannt. blik offensichtlich günstig abschneidet. Dies sind Auch wenn wir wissen, daß bei einer solchen gewal- Tatsachen, die auch zum Standort Deutschland gehö- tigen Aufgabe Fehler und Unterlassungen vorgekom- ren und auf die wir stolz sein können. men sind, will ich dennoch sagen: Es ist eine große Leistung, und diejenigen, die dort arbeiten, haben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) unseren Dank verdient. Bei der Vorbereitung dieser Rede dachte ich gestern Zu dieser Privatisierung gehören Zusagen von auch darüber nach, was wohl heute in der Debatte 180 Milliarden DM an Investitionen und die Siche- angesichts der Rezession, die wir jetzt haben, gesche- rung von 1,5 Millionen Arbeitsplätzen. Wir müssen hen würde, wenn wir Ihren Ratschlägen gefolgt wären uns schon die Frage stellen: Wo stünden wir heute, wo und eine schnelle Wiedereinführung des Solidaritäts- stünden die neuen Bundesländer, wenn man damals zuschlags vorgenommen hätten. Dann hätten Sie uns prinzipiell gesagt hätte: Sanierung grundsätzlich vor heute gesagt: Weil Sie diesen Fehler gemacht haben, Privatisierung? Wie würden wir zehntausend Betriebe sind wir in diese Rezession geraten. So wäre Ihre dieser Art in der jetzigen Rezessionsphase überhaupt Aussage gewesen. als Staatsbetriebe halten können? (Zustimmung bei der CDU/CSU — Wider Deswegen ist es wichtig, daß wir das Menschen- spruch bei der SPD) mögliche tun, auch jetzt mitten in dem Konjunkturtief, Meine Damen und Herren, fünftens: Wir müssen um die Chancen, Investoren und Absatzmärkte für unsere Privatisierungsvorhaben fortsetzen. Ich nenne diese Unternehmen zu gewinnen, zu unterstützen. hier vor allem Wir Daß jetzt nach meiner Reise in die Volksrepublik Bundesbahn und Bundespost. - haben vor zwei Wochen eine, wie ich glaube, gute und China auch Betriebe aus den neuen Ländern zum Zug Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16565

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl kommen, freut mich dabei ganz besonders. Im übri- wird, ist eigentlich ein Beispiel, das längst alle Bun- gen möchte ich bei allem Parteienstreit doch sagen, desländer hätten übernehmen können. daß alle Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- in dieser zentralen Frage der Privatisierung auch in ordneten der F.D.P.) schwierigsten Zeiten Kurs gehalten und ihre Zustim- mung gegeben haben. Neuntens. Wir müssen den Forschungsstandort Deutschland weiter stärken. Ich habe mir inzwischen, Sechstens. Wir müssen die staatliche Bürokratie Herr Kollege Klose, die Zahlen kommen lassen. Ich weiter zurückdrängen und zu einer wirksamen De- kann nicht verstehen, wie Sie zu diesem Vorwurf regulierung kommen. Wir haben im Investitionser- kommen. Wir haben an Bundesausgaben insgesamt leichterungs- und Wohnbaulandgesetz demonstriert, für Forschung und Technologie und für Wissenschaft was zu tun ist. Wir wollen im Bereich von Planungs- außerhalb der Universitäten 1990 7,98 Milliarden DM, und Genehmigungszeiten noch vieles verkürzen und 1991 11,29 Milliarden DM, 1992 12,13 Milliarden DM, verändern. Aber, meine Damen und Herren, wir 1993 12,26 Milliarden DM und 1994 12,33 Milliarden haben nicht viel Zeit. Für das Bundesland Mecklen- DM aufgewandt bzw. sehen das vor. burg-Vorpommern ist es eben ganz entscheidend, daß Ich bin mit Ihnen einverstanden, daß wir versuchen die Ostseeautobahn nicht in 15 Jahren, sondern jetzt müssen, diese Ausgaben noch zu erhöhen. Aber dann kommt, und zwar ohne weiteres Abwarten. müssen wir in vielen anderen Bereichen bei der Kürzung zu ganz anderen Dimensionen kommen. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) werden ja beispielsweise nicht bestreiten — um ein Beispiel zu nennen, das in allen Teilen des Hauses Siebtens. Wir müssen den Sozialstaat durch Umbau unterschiedlich gesehen wird und wo ich mir über die sichern. Sozialstaat und sozialer Ausgleich sind Realitäten vor allem außerhalb der kohlefördernden Wesenselemente unserer Verfassung. Sie sind die Länder ziemlich im klaren bin —, daß der riesige Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft. Wahr ist Brocken Steinkohleförderung eben gewaltige Sub- aber, daß das bei uns erreichte hohe Niveau sozialer ventionssummen notwendig macht. Dennoch be- Sicherung und des sozialen Ausgleichs nur möglich ist kenne ich mich aus einer Reihe von Gründen dazu. auf der Grundlage hoher wirtschaftlicher Leistungs- kraft. In einer Güterabwägung jedoch, Herr Kollege Klose, muß man einfach zugeben, daß wir, da wir das Meine Damen und Herren, die Gesamtheit aller Geld nur einmal ausgeben können, bei der Umschich- Sozialleistungen hat im vergangenen Jahr erstmals tung immer nur Schritt für Schritt vorgehen können. die Grenze von einer Billion DM überschritten. Das ist Ich finde, die Steigerung von 1990 bis jetzt von 7,98 auf ein Drittel unseres Sozialprodukts. Angesichts dieser 12,33 Milliarden DM ist immerhin eine Steigerung, Größenordnung muß doch klar sein, daß der Anteil die sich sehen lassen kann, obwohl ich zugebe: Noch jetzt nicht mehr gesteigert werden kann. mehr, vernünftig angewandt, wäre noch besser. Aber, meine Damen und Herren, daß diese Spitzen- Eine weitere Aufgabe, die zusätzlich bewältigt leistungen in Forschung und Technik eine wesentli- werden muß, ist die Pflegeversicherung, deren Finan- che Voraussetzung für zukunftssichere Arbeitsplätze zierung nicht zu einer Mehrbelastung der Wirtschaft sind, steht außerhalb jeder Diskussion. Daß in den führen darf. Ich hoffe sehr, daß es in den nächsten Forschungslabors und wissenschaftlichen Einrichtun- Tagen möglich sein wird, hier abschließend zu ver- gen über die Arbeitsplätze von morgen entschieden nünftigen Lösungen zu kommen. wird, ist auch unstreitig. Achtens. Wir müssen Bildung und Ausbildung (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin- zukunftsorientiert gestalten. Wir wissen, daß beides, gen] [F.D.P.)) Bildung und Ausbildung, Standortfaktoren allerersten Wir brauchen neue Produkte und Dienstleistungen, Ranges sind. Alle müssen dabei zusammenwirken, mit denen wir im Wettbewerb bestehen können. Nur Bund, Länder, Wirtschaft, Gewerkschaften, Hoch- so können wir als Hochlohnland konkurrenzfähig schulen, Verbände. bleiben. Aber auch das ist ein Bereich, der längst hätte Das Grundsatzgespräch, das am 11. November im verbessert werden können, d. h. wir hätten auf diesem Bundeskanzleramt stattgefunden hat, hat mich sehr Feld gar nicht so weit herunterkommen dürfen. Wir ermutigt, auf diesem Weg voranzugehen. Wir sind brauchen vor allem wieder ein forschungs- und tech- dabei, im Bereich des bewährten, international hoch- nikfreundliches Klima. angesehenen beruflichen Bildungssystems an Attrak- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tivität zu verlieren. Die Zahl der Studenten — es ist oft Dieses technikfeindliche Klima ist nicht über Nacht genug gesagt worden — ist stark gestiegen; die Zahl entstanden. Es ist ein Klima, das in einem Teil der der Lehrlinge deutlich gesunken. Das ganze Qualifi- Medien und in nicht wenigen Schulstuben gefördert kationssystem ist aus dem Lot geraten. worden ist, wo eine ganze Generation in Technik- Wir brauchen jetzt neue Konzeptionen, und zwar feindlichkeit oder Technikangst großgezogen wurde. schnell, um vor allem die berufliche Ausbildung Wenn ich das sage, ist das keine blinde Fortschritts- attraktiver zu machen, attraktiver auch für Abiturien- gläubigkeit. Ich weiß, daß das sofort wieder unterstellt ten, und zwar als Vollausbildung und nicht nur als wird. Durchgangsstation zum Studium. Was seit Jahren in Am Ende dieses Jahrhunderts wissen wir, daß nicht Baden-Württemberg mit großem Erfolg praktiziert alles, was wissenschaftlich gemacht, geforscht und 16566 Deutscher Bundestag — 12. 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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl erprobt werden kann, auch ethisch vertretbar ist. Aber daß wir es schaffen können. Es ist heute hier in einer dennoch kann man nicht das Forschungsland Num- anderen Rede schon der Vergleich zur Aufbaugene- mer eins, zwei oder drei in der Welt sein wollen und ration in den 50er Jahren gezogen worden. Wenn wir gleichzeitig zulassen, daß in Teilen der jungen Gene- die Maßstäbe von damals in einer ganz anderen Welt ration ein Klima erzeugt wird, das forschungsfeindlich mit anderen psychologischen Gegebenheiten rekapi- ist. Das kann man relativ rasch ändern, wenn man sich tulieren und auf unsere Zeit übertragen, bin ich sicher: in allen entscheidenden Führungsbereichen unserer Wenn wir die Armel hochkrempeln, werden wir das Gesellschaft zu dieser Notwendigkeit bekennt. Ziel erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich bitte Sie darum, daß wir möglichst gemeinsam mit Zuversicht und Wagemut diese Aufgabe angehen, Wir müssen vor allem — ich denke, da sind wir nicht daß wir etwas jetzt auf den Weg bringen, was viele in auseinander — versuchen, die Forschungspolitik bes- der Welt von uns erwarten, von den Deutschen der ser zu bündeln. Es ist wahr, Herr Kollege Klose, es gibt 90er Jahre, daß sie wie die Deutschen der 50er Jahre zu viele Programme bei Bund und Ländern, in den einen zweiten großen Aufbruch im heute glücklicher- Gesellschaften, die von Staatsgeldern unterstützt wer- weise wiedervereinigten Deutschland ermöglichen. den, die aber natürlich kaum miteinander koordiniert Die Koalition von CDU, CSU und F.D.P. und die sind. Bundesregierung stellen sich dieser Aufgabe. Ich Wir haben jetzt in der Europäischen Gemeinschaft möchte Sie alle dazu einladen, mitzutun. mit diesem Thema zu tun. Wir werden in ein paar (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Wochen darüber in Brüssel zu reden haben. Ich finde, der F.D.P.) es ist hohe Zeit, vielleicht zunächst einmal auf dem Weg eines Experiments, begrenzt auf ein paar Jahre, die notwendigen Kräfte zusammenzubringen. Wenn Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat nun das dann ein Technologierat ist und er wirklich der Ministerpräsident des L andes Rheinland-Pfalz, vernünftig ist und etwas bringt, bin ich der allererste, Rudolf Scharping. der sich dafür ausspricht. Zehntens. Ohne die Offenheit der weltweiten Han- Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland- delsbeziehungen wird ein Land wie die Bundesrepu- Pfalz): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen blik Deutschland im Nerv getroffen. Der erfolgreiche und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie wie andere haben auf den sozialdemokratischen Parteitag in Abschluß der GATT - Verhandlungen ist deshalb von größter Bedeutung. Der Abschluß der Beratungen im mehrfacher Hinsicht Bezug genommen. Ich finde das amerikanischen Kongreß über die nordamerikanische angemessen; Freihandelszone, NAFTA, ist, wie ich denke, ein gutes (Beifall bei der SPD) Signal. nicht nur, daß Sie mit uns rechnen müssen, sondern Ich habe Präsident Clinton dazu gratuliert, und zwar auch vor dem Hintergrund, daß Parteien wie die in der Hoffnung, die ich auch als Erwartung zum Union oder die F.D.P., die zusammen in der Bevölke- Ausdruck brachte, daß damit aus amerikanischer rung — hier in diesem Hause schon noch — keine Sicht der Weg zum Abschluß der Uruguay-Runde Mehrheit haben, sich mit denen auseinandersetzen, geebnet wird. die mehrheitliches Vertrauen in der Bevölkerung genießen. Das ist durchaus richtig. Ich sage hier noch einmal: Beim GATT geht es nicht (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ nur um uns, um die großen Industrieländer, es geht CSU und der F.D.P. — Zurufe von der F.D.P.: nicht zuletzt um die Länder der Dritten Welt und ihre Wo? Wo denn?) Zukunftschancen. Der Welthandel ist in einem viel größeren Maße, als viele dies begreifen, eine Quelle Ich füge allerdings hinzu, Herr Bundeskanzler: Das für Wachstum und Beschäftigung. ist ja zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Debatte nicht das Zentrale. Das Zentrale ist, daß Sie in den letzten Die OECD — man muß sich die Zahlen einmal vor vier Jahren seit dem Fall der Mauer das große Kapital Augen halten — hat die Auswirkungen eines erfolg- an Hoffnung, an Mut, an Freude, an Engagement, an reichen Abschlusses der Uruguay-Runde so bewertet, Bereitschaft zum gemeinschaftlichen Einsatz fast voll- daß der Wohlstand für die gesamte Welt im Jahre 2002 ständig verwirtschaftet haben. um rund 270 Milliarden DM größer sein wird als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gegenwärtig. Das heißt, hier geht es um Arbeitsplätze DIE GRÜNEN) für die Zukunft. Wenn eine solche Generalaussprache, Herr Bun- Meine Damen und Herren, aus meiner Sicht sind deskanzler, der Linie der Politik gelten soll, dann muß diese zehn Aufgaben wesentlich für die Zukunftssi- man wohl zwei Dinge tun, nämlich über das reden, cherung des Standorts Deutschland. Es geht um ein was die derzeit Regierenden in den letzten Jahren wirtschaftlich starkes und wettbewerbsfähiges getan haben, und über das reden, was in der Zukunft Deutschland. Es geht dabei immer um zukunftssi- notwendig ist. Diese Bundesregierung jedenfalls ver- chere Arbeitsplätze, um soziale Sicherheit. Und es mittelt nicht das, was Deutschland am dringendsten geht insgesamt um eine gute Zukunft für unser braucht, nämlich Orientierung, klare Zielsetzung und Land. das Einfordern einer gemeinschaftlichen Aufbaulei- Wenn wir dies wollen und entsprechend handeln, stung in Deutschland. Das vermitteln Sie nicht. auch gemeinsam handeln, habe ich keinen Zweifel, (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. 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Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) Ich erinnere an die Aussprache bei der ersten Mich regt das auf, weil ich weiß, was es für die Gelegenheit hier und bleibe dabei, daß man sich Fähigkeit bedeutet, den eigenen Wert selbst zu erfah- zunächst einmal mit Fragen auseinandersetzen muß, ren und selbst mit anderen gemeinsam zu bestim- die die Menschen in Deutschland, ihre konkreten men. Lebensumstände, ihre Schicksale betreffen. Diejenigen, die immer von Leistung reden und Man darf sich nicht wundem, wenn in der einen davon, daß sie sich wieder lohnen müsse, müssen sich oder anderen politischen Floskel, die da so geäußert fragen lassen, wie viele Bedingungen sie eigentlich wird, der Familienvater, der mit 1 700, 1 800 DM im setzen, daß viele, viele Menschen in diesem L and die Monat seine Familie mit zwei Kindern ernähren soll, Erfahrung eigener Leistung gar nicht mehr machen sich nicht mehr wiederfindet, weil er das Gefühl können. haben muß, daß diese Lebensumstände bei denen, die (Beifall bei der SPD) da als Regierende politisch reden, völlig unbekannt Wenn es Sie nicht aufregt, mich regt es auf, daß in geworden sind diesem Land über 100 000 Menschen mit Kindern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ obdachlos sind, kein anständiges Dach mehr über DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Hans dem Kopf haben. Es regt mich auch auf, daß Sie die Modrow [PDS/Linke Liste]) Absicht haben, den 48jährigen Stahlarbeiter, Bergar- beiter, sonstigen Arbeitnehmer, der unverschuldet und keine Vorstellung mehr davon besteht, was arbeitslos wird, jetzt zum Sozialamt zu schicken. normales Leben eigentlich bedeutet. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Wenn ich dann Bemerkungen höre, die mit dem Arbeitsmarkt, mit der sozialen Gerechtigkeit, mit der Mich regt das auf. Situation des Wohnens in Deutschl and zu tun haben, dann finde ich das alles bestätigt. Wer so kühl, nur in (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gre- der Bilanz und nur in der Statistik über das Leben von gor Gysi [PDS/Linke Liste] und des Abg. Menschen redet, der entfremdet sie der Politik und der Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Notwendigkeit einer gemeinsamen Kraftanstren- GRÜNEN]) gung. Genau das tun Sie. Das, meine Damen und Herren, ist nicht nur eine Frage des eigenen persönlichen Aufregens, sondern (Beifall bei der SPD) vor allen Dingen eine Frage, ob man noch das Gefühl Da Sie, Herr Bundeskanzler, von der Besichtigung dafür behält, was in einem L and politisch und sozial blühender Landschaften im Osten zurückkommen, und kulturell angerichtet wird, wenn solche Verhält- kann ich Ihnen nur empfehlen, das sehr praktisch zu nisse regelmäßig mißachtet werden. studieren. Das sind dann zwar keine blühenden Land- schaften, aber Menschen, die genau denselben (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Klaus- Anspruch darauf haben — ganz unabhängig davon, Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] — daß Ihre China-Reise als Erfolg bezeichnet werden Widerspruch bei der CDU/CSU und der kann —, daß Sie sich ihnen mit der gleichen Zeit, mit F.D.P.) der gleichen Aufmerksamkeit, mit derselben Konse- Sich hierhinzustellen, Herr Bundeskanzler, und in quenz zuwenden. besorgten und berechtigten Worten über das (Beifall bei der SPD) Anwachsen von Enttäuschung oder über rechten, meinethalben auch linken Radikalismus zu räsonie- Davor drücken Sie sich. ren, das ist die eine Sache; in berechtigten und begründeten Worten. Aber die andere Sache ist die (Widerspruch bei der CDU/CSU) Frage danach, was man selbst tut, um solche Verhält- Dasselbe gilt für die vielen Tausende junger Leute, nisse zu mildern oder um sie zu fördern. die im Bergbau, bei den Werften, in der Stahlindustrie (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der oder an anderer Stelle heute in einer Ausbildung CDU/CSU) stecken, von der sie genau wissen, daß sie keine berufliche Chance bedeutet. Wenn wir die Zukunft — Es freut mich, daß ich Sie wachgemacht habe. dieses Landes sichern wollen, dann werden wir viel mehr dafür tun müssen, daß junge Leute eine (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Wider- Zukunftschance haben, die etwas mit Ausbildung, spruch bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Beruf, Familienleben und sicheren materiellen Ver- Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: hältnissen zu tun hat. Aber die Methode war trotzdem nicht gut!) (Beifall bei der SPD) — Wir werden gleich noch sehen, Herr Kollege, ob die Methode gut war. Wir werden ganz sicher noch in eine Wenn Sie soziale Verhältnisse nicht mehr aufregen, ganze Reihe von interessanten Erörterungen kom- mich regen sie auf. Mich regt auf, daß in diesem Land men. eine Million Kinder die Erfahrung macht, mit den Eltern gemeinsam von und mit Sozialhilfe leben zu Aber ich sage Ihnen eines: Wenn in diesem L and müssen. von den Regierenden wie den Opponierenden, dem Bund wie den Ländern und auch den Gemeinden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht sehr konkret eine Perspektive entwickelt wird, DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Hans wie man den Menschen Arbeit, den Frauen Chancen- Modrow [PDS/Linke Liste]) gleichheit und den Jugendlichen eine Zukunft geben 16568 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) kann, dann, fürchte ich, werden alle Beteiligten davon setzt wird, dann hätten wir mit Steinen statt mit Brot den Schaden haben. gehandelt. Spätestens im Ruhrgebiet werden wir es (Zurufe von der CDU/CSU: Sagen Sie sie dann alle zu spüren bekommen. doch! — Nur heiße Luft!) (Beifall bei der SPD) — Ihre Ungeduld ist unbegründet. Ihre Fragen wer- Ich will folglich nicht nur sagen, daß wir Wachs- den noch beantwortet werden, keine Sorge. tumsfelder zu bestimmen haben und daß es in der Ich wollte deutlich machen, daß ich es für dringend Europäischen Gemeinschaft dafür entsprechende erforderlich halte, daß wir nicht nur über den Indu- Initiativen geben muß, sondern auch etwas zur deut- striestandort Deutschland reden, sondern beginnen, schen Situation sagen. Ich will eine Firma zitieren, auch über den Lebensstandort Deutschland zu reden, gegen die Sie ganz sicher nichts einzuwenden haben. um dieses Wort aus der Evangelischen Kirche einmal Es gibt eine Studie der Unternehmensberatungsge- aufzugreifen. sellschaft McKinsey. Sie weist darauf hin, daß Fragen der Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland im Ver- (Beifall bei der SPD — Hermann Rind gleich zu anderen Volkswirtschaften sehr klare [F.D.P.]: Ist doch dasselbe! Ist doch kein Ergebnisse haben. Unterschied!) Denn innerer Frieden und Gerechtigkeit gehören (Michael Glos [CDU/CSU]: Dafür können wir zusammen. uns nichts kaufen!) Dann sagen Sie, die Sozialdemokraten schüren den — Herr Kollege Glos, bei der Frage, wie man einzelne sozialen Neid und schützen das Anspruchsdenken. politische Sachverhalte bewertet, ist ihre Kenntnis durchaus hilfreich. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Ich will Ihnen folgendes sagen. Es gibt in diesem L and welche, die bieten ein Vorbild, und es gibt welche, die Sie kennen doch den schönen alten Satz, daß vor dem verweigern das Vorbild. Es ist ganz und gar richtig, Kehlkopf der Kopf kommt. daß auch bei deutlichem umweltverträglichem Wachstum, mit dem wir im nächsten Jahr leider nicht (Heiterkeit bei der SPD) rechnen können, auch wenn man die günstigsten Zwei Drittel der japanischen Kostenvorteile stam- politischen Rahmenbedingungen dafür schaffte, der men aus überlegenem Management, einer effizienten hohe Sockel an Arbeitslosigkeit nicht oder nur unmaß- Produktion und einer vorzüglichen Arbeitsorganisa- geblich abgebaut werden kann. tion. (Michael Glos [CDU/CSU]: Woran liegt Die Schweizerische Bankgesellschaft, auch kein es?) sozialdemokratisches Institut, Vor diesem Hintergrund wird es nicht nur darum (Zuruf von der CDU/CSU: Das weiß m an gehen, Felder zu bestimmen, auf denen Wachstum nicht!) stattfinden kann, sondern auch darum, die Organisa- tion und die Verteilung der Arbeit zu verändern. Der weist in einer Studie nach, daß unter jetzt 38 mitein- Bundeskanzler redet von der Europäischen Gemein- ander konkurrierenden Industriestaaten Deutschl and schaft, es gibt Vorschläge des Präsidenten Jacques zur Zeit hinter den USA, der Schweiz, Japan und Delors, es gibt Vorschläge anderer Regierungen. Ich Belgien auf Platz 5 der Wettbewerbskraft liegt. Nach habe, Herr Bundeskanzler, hier ein Wo rt zu der der Prognose der Schweizerischen Bankgesellschaft Notwendigkeit vermißt, auch in der Europäischen wird, verändert sich nichts, die Wettbewerbsfähigkeit Gemeinschaft zu einer gemeinsamen Initiative für der deutschen Wirtschaft bis zum Jahr 2005 auf den umweltverträgliches Wachstum und für Beschäfti- 18. Platz der 38 Nationen abgefallen sein, dann hinter gung zu kommen. Korea, China, Israel, Singapur, Japan und Hongkong, die auf den ersten sechs Plätzen sein werden. (Beifall bei der SPD) Diese Frage wird in der zweiten Dezemberwoche (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist Ihr beim Europäischen Gipfel eine Ro lle spielen. Es ist Regierungsprogramm!) durchaus interessant zu wissen, ob die Bundesregie- Das, meine Damen und Herren, zitiere ich deshalb, rung bereit ist, in ihrer eigenen Politik und in der weil ich, und ich könnte Ihnen noch viele andere Europäischen Gemeinschaft das zu tun, was jetzt mit Zahlen nennen Hilfe der Europäischen Gemeinschaft getan werden kann, nämlich Wachstumsfelder zu bestimmen, Inve- (Zurufe von der CDU/CSU) stitionen zu fördern. Ich wi ll Ihnen die auch nennen: — wehren Sie sich doch nicht gegen Informatio- Das hat etwas mit Umwelttechnologie, mit einem nen! —, europäischen Verkehrssystem, der europäischen Luft- und Raumfahrt und anderem zu tun. Wenn sich (Zuruf von der CDU/CSU: Lesen können wir die Bundesregierung hier auf etwas versteift, wie sie selber!) es in der bedrohten Br anche des Stahls leider getan fünf Maßnahmen für dringend notwendig halte. hat, wo sie um den Preis der notwendigen Hilfe für EKO-Stahl in dafür gesorgt hat, daß der Erstens. Wir müssen dafür sorgen, daß im industri- völlig unfaire Subventionswettbewerb in der Europäi- ellen Bereich, in der industriellen Fertigung kürzer schen Gemeinschaft auf der Ebene des Stahls fortge- gearbeitet werden kann. Und in der gegenwärtigen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16569

Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) Situation gehört die ungeschminkte Wahrheit dazu: men, auch unter dem Gesichtspunkt der Reform und Mit vollem Lohnausgleich wird das nicht gehen. der dauerhaften Sicherung des Sozialstaates dringend geboten ist, nicht alles über Beitragszahlungen der (Beifall des Abg. Dr. Hermann Otto Solms Arbeitnehmer zu finanzieren, sondern die Gemein- [F.D.P.] — Zuruf von der CDU/CSU: Auch schaft insgesamt zu beteiligen, wenn es um allge- nicht mit halbem Lohnausgleich!) meine Interessen geht. Das zweite ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie das mit der Laufzeit der Maschinen ist. Ich will (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner nicht all das wiederholen, was ich in der ersten Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Debatte gesagt habe, aber im Kontext der industriell NEN]) organisierten Arbeit, der Arbeitszeit, der gerechteren Ich weiß, das wollen Sie nicht. Sie reden auch an Verteilung der Arbeit gibt es — so kann man sagen — anderer Stelle viel und gerne von Wettbewerbsfähig- ein Vorbild. Dieses Vorbild setzen Arbeitnehmerin- keit, von der Bedeutung von Forschung und Techno- nen und Arbeitnehmer und Gewerkschaften. Denn logie, Bildung und Wissenschaft und dergleichen mir erscheint es durchaus bemerkenswert, daß der mehr. Ich will Ihnen dazu nur folgendes sagen: Das Betriebsrat des Volkswagenwerks in ganzseitigen Institut für Wirtschaftsforschung kommt zu dem Anzeigen dafür unter der Überschrift „Lieber kürzer Ergebnis, daß die technologische Wettbewerbsposi- arbeiten als lange arbeitslos!" wirbt, in Verantwor- tion der deutschen Industrie bröckelt, daß der Anteil tung vor Familien, vor Kindern, vor Kolleginnen und der internationalen Patentanmeldungen deutlich zu- Kollegen. Ich würde mir wünschen, man könnte von rückgegangen ist und daß die Forschungsaufwendun- dieser Bundesregierung sagen, daß sie in irgendei- gen in den Unternehmen und beim Staat — leider — nem Bereich ähnlich vorbildlich agiert wie beispiels- stagnieren. Wir geben insgesamt 2,6 % unseres Brut- weise die Betriebsräte des Volkswagenwerkes. tosozialproduktes aus, unsere Hauptwettbewerber (Beifall bei der SPD — Dr. Hermann Otto das gleiche oder mehr. Sohns [F.D.P.]: Das ist aber der Betriebsrat, Es ist also nicht nur eine Frage der Steigerung von nicht die Gewerkschaft!) Haushaltszahlen. Verehrter Herr Bundeskanzler, die Das dritte ist, daß lohnintensive Bet riebe entlastet Zahlenreihe, die Sie hier aufgemacht haben, zeigt mit werden müssen, denn sonst werden dort S trategien ihren mageren Steigerungsraten in diesen Jahren der Arbeitszeitverkürzung immer auch zu einer Erhö- überdeutlich, daß bei den Forschungs- und Technolo- hung der Arbeitskosten führen! gieaufwendungen ein schweres Versäumnis für die (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist richtig!) Zukunft liegt, übrigens auch in den Unternehmen. Denn das, was ich hier beschreibe, ist nicht nur ein In diesem Zusammenhang ist es dringend notwen- Mangel an Tatkraft und Phantasie in der Politik, dig, die sozialen Sicherungssysteme endlich aus ihrer sondern genauso ein Mangel an Tatkraft und Phanta- Funktion als Lastesel und Finanzier der deutschen sie in vielen Bereichen des deutschen M anage- Einheit zu befreien. ments. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Es sind die Zahlen des Bundesarbeitsministers und Man wird also, wie das — Sie haben Baden- viele andere, die darauf hindeuten, daß man in dieser Württemberg zitiert; das tue auch ich einmal — zur Situation die Solidarität im deutschen Volk genauso Zeit in Baden-Württemberg vorbildlich gemacht wird, beschädigt wie die Wettbewerbschancen der lohnin- gerade mittelständische Industrie sowie mittlere und tensiven Betriebe, wenn man nur über die Sozialver- kleinere Unternehmen in einer gemeinsamen Aktion sicherungssysteme mit Beiträgen der Arbeitnehmer zusammenholen, um Qualität in der Produktion zu finanzieren läßt, was von allen gemeinsam in Deutsch- sichern und die Information zu schaffen über das, was land geleistet werden muß. mit heute geltenden Tarifverträgen in der Organisa- tion der Arbeit überhaupt möglich ist. Der schlimmste (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mangel ist ja, daß auf der Ebene der Politik darüber des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit sehr deutlicher ideologischer Schlagseite disku- Deshalb ist es besonders erstaunlich, daß von dieser tiert wird, während auf der Ebene der Unternehmen Bundesregierung überhaupt keine Ini tiative kommt, und des Managements eine ganz und gar unzurei- wohl aber der höchst widersprüchliche Satz, daß die chende Information darüber besteht, was mit Lohnnebenkosten zu hoch seien, während sie auf der Betriebsvereinbarungen auf der Grundlage geltender anderen Seite eine Politik be treibt, die genau diese Tarifverträge schon heute möglich wäre, urn die Lohnnebenkosten in ungeahnte Höhen ge trieben hat. Laufzeit von Maschinen zu verlängern und Arbeit Das ist das Ergebnis Ihrer Politik! flexibler und intelligenter zu organisieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie haben zweimal mit einem Seitenhieb gesagt: Ich nenne diesen zweiten Punkt auch vor dem Jetzt haben Sie Helmut Schmidt an der Seite. Sie Hintergrund, daß sich das Volumen der bezahlten werden es mir nicht übelnehmen: Ich habe Helmut Arbeitsstunden in Deutschland fast unabhängig vom Schmidt lieber an der Seite als manchen von Ihnen. Konjunkturverlauf immer bei etwa 46 Milliarden Stunden pro Jahr eingependelt hat. Das signalisiert, (Beifall bei der SPD — Peter Harry Carsten- daß es in einer Gesellschaft, in der die Jüngeren sen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das wäre aber - prozentual abnehmen, die Älteren prozentual zuneh besser gewesen!) 16570 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) Auch das ist eine Frage der Informa tion und Sach- Nein, ich verspüre keinen Neid. Aber ich appelliere an kunde. die, die stark und mächtig und kräftig in dieser Gesellschaft sind, ihren Beitrag dazu zu leisten, daß Da ich von den Vorbildern und den verweigerten diese Gesellschaft gemeinsam vorankommen kann, Vorbildern gesprochen habe, will ich Ihnen noch anstatt sich in Winkeln zurückzuziehen und ihre etwas zu dem sagen, was Sie hier angeprangert Besitzstände zu verteidigen. haben: Nach meinem Empfinden haben wir nicht nur einen Mangel in der Politik. Sie reden immer gern von (Beifall bei der SPD) Eliten, von den „Leistungsträgern", von denen, an denen die zukünftige Entwicklung hängt. Das nenne ich das eigentliche Anspruchsdenken: daß es in einer Zeit, in der sich wirklich vieles ( [Nordstrand] [CDU/ verändert und m anches dramatisch verändert hat, in CSU]: Die sollten Sie nicht verteufeln!) unserem Volk gerade bei den Einflußreichen, den Mächtigen und den Einkommensstärkeren eine Hal- — Nein, die verteufle ich überhaupt nicht. tung gibt, die besagt: Ich muß in meinem Leben nichts Ich fordere nur etwas ein, und zwar gemeinsam mit verändern; ich will auch nicht. Das ist die schlimmste vielen klugen Unternehmern genauso wie mit vielen Haltung überhaupt. in den beiden christlichen Kirchen und anderen, Die Amerikaner sagen etwas spöttisch: Das sind die nämlich das bisher verweigerte Vorbild der Eliten. Nimbys, „not in my backyard". Sie haben eine sehr Ich muß Ihnen sagen: Sie tun leider nichts dazu, daß ausgeprägte Neigung, Abkürzungen zu finden: die sich dieser Zustand des verweigerten Vorbildes Dinks, „double income, no kid", die Yuppies, die ändern könnte. Im Gegenteil: Sie verschärfen die „young urban professional people", und jetzt die Situation noch, wenn Sie den Eindruck erwecken, die Nimbys, „not in my backyard" . Es soll sich nichts in Gesundung des Gemeinwesens, eine neue Hoffnung meinem eigenen Hinterhof verändern. für Deutschl and, die gemeinsame Kraftanstrengung hingen davon ab, daß man den Schwächeren am Dann gerät eine Gemeinschaft auf die schiefe Bahn, intensivsten in die Tasche greift. Sie verschärfen wenn sie erst die Schwächeren weiter schwächt und diesen Prozeß noch. das Vorbild, die Mitbeteiligung und die Solidarität der Starken nicht einfordert. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Peter Harry Carsten- Die Ungeniertheit, mit der Sie das tun, steht in einem sen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Auch wenn so eklatanten Widerspruch zu Ihrer Angstlichkeit, Sie es zehnmal behaupten, wird es nicht dieses Vorbild einzufordern, daß man dahinter leider wahrer!) mehr System als Unfähigkeit vermuten muß. — Sie müssen es von mir ja nicht akzeptieren; das will (Beifall bei der SPD — Michael Glos [CDU/ ich Ihnen gerne konzedieren. CSU]: Sie waren auch gerade kein Vorbild der Wahrheit!) Aber lesen Sie doch bitte einmal, was in beiden großen Kirchen, in der katholischen Soziallehre, in Was habe ich in dieser Debatte für unerträglich den evangelischen Kirchen und an anderen Stellen zu billige Hinweise gehört, diesem Thema gesagt wird! Lesen Sie doch einmal, was in nachdenklichen Unternehmerkreisen zu die- (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ sem Thema gesagt wird! Das ist doch keine Propa- CSU]: Ein leuchtendes Beispiel steht da ganda der Sozialdemokratie oder der Gewerkschaften vorn!) nach dem Motto „Schutzmacht der kleinen Leute", als wollten wir irgend jemandem seine Lebensmög- sondern mittlerweile die Grundüberzeugung der mei- lichkeiten beschneiden, als wollten wir die Investi- sten in diesem Lande. tionskraft der deutschen Wi rtschaft schwächen! Nein, Ihr politisches Versäumnis besteht darin, daß Sie wir wollen ausdrücklich, daß Investitionen steuerlich weder 1990 noch heute die Fähigkeit und den Mut begünstigt werden, daß das Unternehmensteuerrecht haben, dieses Vorbild einzufordern. Das ist ein ganz entsprechend gestaltet wird. Wir haben genau aus zentrales Versäumnis. diesem Grunde darum gekämpft, daß im Rahmen des Standortsicherungsgesetzes keine Verschlechterung (Beifall bei der SPD) — jedenfalls keine wirklich spürbare — der Abschrei- Meine Damen und Herren, ich weiß, daß solche bungsbedingungen eingetreten ist. Politik immer mit allen möglichen Hinweisen in ein Indem wir das tun, fordern wir gleichzeitig von den Abseits gerückt werden kann. Ich mache Sie aber Leistungsstarken, den Eliten, sich in Deutschland darauf aufmerksam: Wer wirklich politisch verant- vorbildlich zu verhalten. Ich sage auch hier den Satz: wortlich agiert, der sollte gerade in diesen Fragen den Wenn ein Mensch die Möglichkeit hat, im Monat Konsens suchen. Hier bestehen die größten Unter- 2 000 DM Steuern zu zahlen, dann wirft es ihn und schiede, und zwar nicht in einer einzelnen politischen seine private Lebensgestaltung nicht um, wenn er in Entscheidung, in einer einzelnen sozialpolitischen Zukunft 2 200 DM zahlt. Das wirft ihn nicht um. Maßnahme, sondern in einer Grundüberzeugung von dem, was Gemeinschaft, Solidarität und Zusammen- (Beifall bei der SPD) halt in einer Gesellschaft ist. Sie schwächen das. Wir wollen es stärken. Wir sollten uns endlich davon freimachen, zu behaupten, das sei das Schüren des Sozialneides. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16571

Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen dann eini- Dazu: Die SPD hat doch den Untersuchungsausschuß ges zu den vielen Ablenkungsmanövern, die stattfin- beantragt. Ich will Ihnen eines sagen, und ich sage das den. in aller Offenheit: Ich finde vieles davon bedrük- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wann kend, kommen denn die Vorschläge?) (Zuruf von der CDU/CSU: Das sollte Sie auch — Sie können nicht zuhören. Ich habe Ihnen vorge- aufregen!) schlagen, die sozialen Sicherungssysteme zu entla- und ich bin sicher, wir würden vernünftiger miteinan- sten und eine intelligente Organisation der Arbeit zu der reden, wenn Sozialdemokraten — wenn Sie mal verwirklichen. Ich habe Ihnen vorgeschlagen, die zuhören könnten — zu diesem Teil sagen könnten, Modernisierung des Sozialstaates mit einer aktiven daß sie das bedrückend und schwierig finden, und die Arbeitsmarktpolitik zu verbinden. Und so weiter, und Christdemokraten zu den Ministergehältern in Sach- so weiter. sen - Anhalt dasselbe sagen könnten. (Zuruf von der CDU/CSU: Wie denn?) (Beifall bei der SPD) — Ich nenne Ihnen jetzt nur noch die Stichworte. Ich Dann wäre das eine glaubwürdige Operation. bin ja gerne bereit, im Zweifel hier noch einmal eine Stunde zu reden. Aber zunächst einmal möchte ich (Zurufe von der CDU/CSU) mich Ihnen zuwenden und dem, was Sie an Politik — Ja, Entschuldigung! In einem Land wie Sachsen- betreiben. Anhalt — da lachen Sie möglicherweise, aber das ist dann auch wieder ein Punkt, wo es mir persönlich ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bißchen mehr als nur unter die Haut geht —, in einem Es gibt eine dreifache Ablenkung von Ihrer Seite Land wie Sachsen-Anhalt mit diesen riesigen Proble- — dann werden Sie gleich auch wieder Vorschläge men solche Gehälter für die westdeutschen Minister hören —: Die erste Ablenkung ist die sogenannte und den Ministerpräsidenten zu zahlen, das finde ich Wertediskussion, die zweite Ablenkung ist die Flucht unanständig, um es ganz deutlich zu sagen. Das ist in das Nationale, und die dritte Ablenkung ist das unanständig! bewußte Inkaufnehmen von Angst. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Dietmar DIE GRÜNEN — Zurufe von der CDU/ Kansy [CDU/CSU]: Wieder keine Vor CSU) schläge!) Das eigentlich Interessante wäre doch, wenn nicht nur Zum ersten Punkt, was die Werte angeht: Sie sagen: wir die Kraft aufbringen könnten, zu sagen: Jawohl, es Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Fleiß, Sparsamkeit, gibt auch in der Sozialdemokratie — wer wollte das Leistung, das alles seien gute Werte. Ich bestreite das bestreiten— Schwierigkeiten. Und ich füge hinzu, wir nicht; natürlich sind sie das. Dagegen ist nichts einzu- sind auch noch nicht so gut, wie wir sein möchten. wenden. In der politischen Diskussion allerdings ist zu Aber Ihre Rede würde glaubwürdiger, wenn Sie zu fragen, wer diese Werte beschwört. Ihren eigenen Schwierigkeiten auch mal etwas sagen (Michael Glos [CDU/CSU]: Lafontaine! — würden, anstatt ständig einen politischen Prozeß vor- Zurufe von der CDU/CSU: Helmut Schmidt! anzubringen, der nur in gegenseitigen Vorwürfen — Engholm!) besteht, anstatt eine Linie aufzuzeigen, längs derer man sich bewegen kann. Bei der Ehrlichkeit und der Glaubwürdigkeit fällt mir im Zusammenhang mit der deutschen Einheit und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dieser Bundesregierung eine Menge ein. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben noch nicht (Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Dietmar einmal zugehört!) Kansy [CDU/CSU]: Uns auch!) Dann sagen Sie — wir sind ja noch bei der Werte- Das sind ja Chiffren für ein Problem, wie Sie alle sehr diskussion —, Leistung soll sich lohnen, die Leistungs- genau wissen: „Blühende Landschaften", „Nieman- träger usw. Dann erklären Sie mir bitte mal, was diese dem wird es schlechter gehen, vielen bald besser", allgemeine Rede Ihrer Politik eigentlich bedeutet, „Keine Steuererhöhungen" usw. Ich habe nichts wenn Sie jetzt jungen Gesellen durch die Änderungen dagegen, daß Sie die Tugenden der Ehrlichkeit, der im Arbeitsförderungsgesetz den Weg zum Meister- Glaubwürdigkeit, der Wahrhaftigkeit proklamieren. brief versperren werden. Dann erklären Sie mir das Ich hätte noch viel mehr Sympathie, wenn Sie sie bitte mal! praktizierten. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Davon zu reden, Herr Bundeskanzler, wir hätten zu DIE GRÜNEN) viele Studenten und zuwenig Lehrlinge, das ist ein Dann haben Sie hier einiges über Schleswig- Punkt, der Gruppen gegeneinander ausspielt und Holstein und Herrn Engholm gesagt. Ich will Ihnen übrigens an den Notwendigkeiten eines technolo- auch dazu etwas sagen. Ich finde, das ist aufklärungs- gisch hochentwickelten Landes vorbeigeht. bedürftig und wird auch aufgeklärt. Aber im übrigen wird Ihre Rede nicht dadurch (Zuruf von der CDU/CSU: Das wird auch glaubwürdiger, daß Sie die mangelnde Zahl der langsam Zeit! — Dr. Wolfgang Schäuble Lehrlinge beklagen und gleichzeitig Zukunftschan- [CDU/CSU]: Na, gelogen wird, daß sich die cen gewerblich-technischer Berufe mit Blick auf den - Balken biegen!) Meisterbrief und mit Blick auf die Fachhochschulen 16572 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) zuschütten. Wenn Sie das eine beklagen, dürfen Sie Ich kann mit dem Vorwurf leben, und ich füge hinzu: das andere nicht tun. Persönlich angreifen und herabsetzen möchte ich Herrn Heitmann gar nicht. Mir geht es um etwas ganz (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ anderes, nämlich um die Art und Weise, wie in diesem CSU: Ihre Rede wird nicht glaubwürdiger!) Land mit dem Amt des Bundespräsidenten in den Und was die Leistung angeht, meine Damen und letzten Monaten umgegangen wurde. Herren: Ich habe ja schon auf die großen christlichen Kirchen und die Soziallehre der katholischen Kirche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie die Diakonie der evangelischen hingewiesen. Sie DIE GRÜNEN) haben hier das Stichwort von der Raffgesellschaft Mir wäre Herr Heitmann nicht eingefallen. Daß er aufgegriffen. Ich sage Ihnen eines ganz deutlich: Sie wissen ja, wo das Wort steht. Sie wissen also auch, Ihnen eingefallen ist, ist auch ein Signal, ein Sym- gegen wen Sie sich wenden. Ich versage mir, nach- bol. dem ich gehört habe, wie unangenehm das manchem (Beifall bei der SPD) Beteiligten war, aus der Rede des Präses Beier zum Ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler, genauso deut- 3. Oktober 1993 hier noch einmal zu zitieren. Aber ich lich: Das Problem ist nicht der Kandidat, sondern sind mache darauf aufmerksam: In dem Augenblick, wo die Strukturen, in denen er benannt worden ist, und Sie sich gegen die Sozialdemokratie wenden, weil sie der politische Wille, der dahintersteht. Das ist das die katholische Soziallehre, weil Sie die evangeli- eigentliche Problem. schen Kirchen und andere verantwortliche Kräfte bis hin zu den Gewerkschaften zitiert, wenden Sie sich (Beifall bei der SPD) nicht nur gegen die Sozialdemokratie, sondern zugleich gegen alle diese Kräfte, und das werden Sie Wenn wir schon über Symbole reden — und für mich irgendwann auch als Quittung zurückbekommen. ist das ein Symbol —, könnte ich vieles hinzufügen. Ich lebe lieber mit solchen Symbolen, wie sie im Umfeld (Beifall bei der SPD) der Sozialdemokratie entstanden sind. Aus meiner Ich habe davon gesprochen, Herr Bundeskanzler, Sicht ist nicht nur der im Warschauer Getto knieende daß das große Kapital an Mut, Hoffnung und Engage- Willy Brandt ein gutes Symbol, sondern auch Joh an ment weitgehend verwirtschaftet ist. -nes Rau für das Zusammenwachsen und das Zusam- menhalten in Deutschland. (Zuruf von der CDU/CSU: Wann kommen die Vorschläge?) (Beifall bei der SPD) Vor diesem Hintergrund sage ich dann auch etwas Das zweite Ablenkungsmanöver ist die Flucht in — Sie haben darum gebeten — zu Symbolen. das Nationale. Sie findet unterschiedlich stark statt, in (Zuruf von der SPD: Zuhören!) der CSU sicherlich etwas stärker als in der CDU und dort in manchen Teilen stärker als in anderen. Insge- Man kann lange darüber streiten. Ich habe nicht die samt aber geht diese Entwicklung voll zu Lasten einer Absicht gehabt und habe sie auch in Zukunft nicht, möglicherweise sehr schlichten, dennoch zutreff en- Herrn Heitmann zu verletzen. Aber er ist zu einem den Erkenntnis: Keines der großen Zukunftsprobleme Symbol geworden, und das reicht doch bis weit in Ihre ist noch national beantwortbar. Wer ins Nationale Partei hinein. Da bringt m an sich hier und da mal ein flieht, flieht zugleich vor der Lösung dieser Zukunfts- paar Zitate und Presseausschnitte mit, in der Erwar- probleme. tung, daß zu dem Thema etwas gesagt und möglicher- (Beifall bei der SPD) weise auch geantwortet werden müsse. Mich stimmt es bedenklich, wenn der Vorsitzende Nichts, weder in der Umweltpolitik noch in der des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Industriepolitik, weder in der Verkehrspolitik noch in Bubis, Herrn Heitmann vorwerfen muß, daß er zur anderen Bereichen, schon gar nicht die globalen Enttabuisierung bei Themen beitrage, bei denen es Themen von Frieden und Entwicklung, läßt sich noch keine Enttabuisierung geben dürfe, weder gegenüber national lösen. ausländischen Mitbürgern noch gegenüber der Ver- Vor diesem Hintergrund ist es ein ungewöhnlich gangenheit, für die ja viele keine Schuld, der gegen- bedenkliches Zeichen für die geistige Situa tion der über wir alle aber gemeinsam Verantwortung haben. Zeit und die geistige Situation, in der Sie sich befin- Ich könnte Ihnen auch vorlesen, was Herr Eylmann zu den, daß Sie Orientierung und Führung auch insoweit diesem Thema gesagt hat, nämlich daß Herr Heit verweigern, als Sie den Menschen vorzugaukeln mann keine Integrationsfigur sei. Ich könnte auch beginnen, man könne mit den Mitteln des nationalen zitieren, was ich an anderer Stelle von anderen Staates die großen Lebensprobleme und Zukunftsauf- Abgeordneten und anderen Bürgerinnen und Bürgern gaben noch lösen. dieses Landes bis weit in die Reihen Ihrer Partei hinein lese. (Beifall bei der SPD) Schauen Sie, Sie können mir vorwerfen, daß ich mich scharf ausgedrückt habe. Mit diesem Vorwurf Ich füge ausdrücklich hinzu, daß ich die Differenzen kann ich leben. in der Union sehr wohl sehe. Ich füge an dieser Stelle hinzu, daß ich ausdrücklich die Europapolitik des (Michael Glos [CDU/CSU): Wollen Sie sich Bundeskanzlers in der langen Linie — Einzelheiten - entschuldigen?) kann man immer diskutieren — unterstütze. Es wäre Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16573

Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) vielleicht nicht schlecht, wenn die CSU das von sich Rühe, es wäre durchaus reizvoll, aber ich lasse das auch sagen könnte. jetzt einmal weg. — Ich will auf einen ganz anderen Punkt hinweisen, der auch etwas mit der geistigen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Helmut Situation der Zeit zu tun hat. Ich versuche, mir Schäfer [Mainz] [F.D.P.]) vorzustellen, welche Debatten in Deutschland ent- Es ist ja nicht so, daß wir aus zum Teil sehr standen wären, wenn die Hilfsorganisationen gesagt erheblichen Meinungsverschiedenheiten und aus hätten: Verehrte Bundesregierung, gebt uns bitte politischer Gegnerschaft eine gewissermaßen prinzi- 500 Millionen DM, damit wir den Menschen in Soma- pielle Feindschaft machen müßten. Es ist auch nicht lia wirksam helfen können. Ich versuche, mir das so, daß Übereinstimmung in manchen Fragen, die vorzustellen! man aus Gründen des überragenden allgemeinen Interesses für wichtig hält und anstrebt, immer wieder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sofort in alle möglichen parteipolitischen Kästen ein- DIE GRÜNEN) sortiert werden müßte. Ich weiß, die Versuchung ist groß, nicht nur bei Journalisten, sondern auch bei Ich bitte Sie, auch einmal zu überlegen, ob es nicht ein solchen, die davon parteipolitisch leben. auch für Sie bedenkliches Zeichen sein müßte, daß eine solche Frage vermutlich ein eher homerisches Dennoch füge ich hinzu, daß man auch im Bereich Gelächter ausgelöst hätte, wir aber in der Lage sind, der internationalen Politik schon wegen der dauerhaf- zur angeblichen Versorgung von— ich weiß nicht, wie ten Berechenbarkeit eines L andes überall da, wo es vielen — indischen Soldaten — garantiert nicht annä- möglich ist — notfalls auch einmal unter einer gewis- hernd so vielen, wie es hätte sein sollen — beizutra- sen Anstrengung —, Gemeinsamkeit anstreben gen. sollte. Vor diesem Hintergrund — ich sage das in diesem (Vors i t z : Vizepräsident Dieter-Julius Cro- Zusammenhang ausdrücklich so — seien Sie mir bitte nenberg) nicht böse, wenn ich sage, daß Herr Ministerpräsident Ich frage Sie, ob Sie nicht bei der auch aus unserer Stoiber bezüglich der Rolle der Bundeswehr — man Sicht unbestreitbar notwendigen Mitwirkung rventions- kann darüber streiten, wie das mit der „Inte Deutschlands an humanitären Aktionen, an Blau- armee" ist — unstreitig ist aus sozialdemokratischer helmaktivitäten einschließlich ihres Schutzes, auch Sicht, daß die Bundeswehr ein Mittel der Landesver- des Schutzes ihres Auftrages bei Embargomaßnah- teidigung ist und unsere volle Unterstützung hat; men, also an allem, was die Vereinten Nationen in den (Beifall bei der SPD) letzten Jahren gemacht haben und in den nächsten das kann Ihnen seit dem Godesberger Programm Jahren vermutlich tun werden — unbeschadet der eigentlich nicht mehr neu sein — bei einem Truppen- Soldaten und des Respekts ihnen gegenüber —, am besuch in Roth das Wort „Interventionsarmee" aus- Ende mit dieser Art von Einsatz dem Ziel, das verfolgt drücklich als einen Ehrentitel bezeichnet hat. Ich werden soll — nicht dem humanitären, sondern dem knüpfe daran zunächst einmal keine weiteren Schluß- politischen —, eher Schaden zugefügt haben. Dies ist folgerungen. Ich denke nur, es wäre gut, wenn Sie sich mein Eindruck. auch damit auseinandersetzten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Im Zusammenhang mit Somalia und den Vereinten DIE GRÜNEN) Nationen sage ich Ihnen: Herr Kollege Schäuble hat mir bei der ersten Lesung dieses Haushaltes — neben Ich füge hinzu, daß angesichts dieser Entwicklung einigen anderen interessanten Erfahrungen — auch für meine Begriffe mancher vordergründige S treit gesagt, ich hätte ihm einen interessanten Zwischen- — soweit er ein vordergründiger ist — beerdigt bericht von den Vorarbeiten für den Parteitag der SPD werden könnte, wenn denn alle Beteiligten wollten. gegeben. Jetzt könnte ich Ihnen, Herr Kollege Schäuble, einen Abschlußbericht liefern. Ich weiß, Sie haben etwas zum Doppelbeschluß der NATO daß Sie dies nicht freuen würde. Ich weiß auch, daß Sie gesagt. Man kann dessen Wirkungen so oder so mit dieser Art von Abschlußbericht gar nicht gerech- beurteilen. Die deutsche Einheit auf die Durchsetzung net haben. Das aber ist nun wirklich Ihr Problem! des Doppelbeschlusses zurückzuführen, halte ich frei- lich für eine gerade bei Historikern gefährliche Ver- Ich will im Zusammenhang mit internationaler kürzung. Politik und den Vereinten Nationen nur zwei Sätze sagen. Der eine ist mehr prinzipieller Natur: Es ist (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad völlig unbestritten, daß die Bundesrepublik Deutsch- Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- land mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen die NEN]) Rechte und Pflichten der Charta übernommen hat. Genauso muß es unbestritten bleiben, daß in den Ohne das Bild vollständig machen zu wollen, aber einzelnen Fragen und, wenn Sie so wollen, für jede um es — jedenfalls in Umrissen — vollständiger zu Partei entschieden wird, wie man dieser internationa- zeichnen, sage ich: Wir sollten nicht vergessen, daß len Verpflichtung gerecht werden will. die große Chance der deutschen Einheit uns auf der Grundlage mehrerer Entwicklungen und politischer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Entwicklungslinien erreicht hat. Dazu gehört ganz des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sicher die Politik Willy Brandts und Helmut Der konkrete Satz bezieht sich auf den Einsatz in Schmidts. Somalia. — Herr Kollege Kinkel und Herr Kollege (Beifall bei der SPD) 16574 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) Dazu gehört ganz sicher die Politik des Michail Da mein Stichwort aber die Angst war, möchte ich Gorbatschow. an dieser Stelle noch einmal betonen, daß eine Moder- (Beifall bei der SPD) nisierung des Sozialstaates mit der Überprüfung a ller seiner Leistungen, aller seiner Freibeträge nicht Und, Herr Bundeskanzler, ich stehe in diesem Hause dadurch begonnen werden kann, daß man schema- nicht an, neben vielem, was ich zu kritisieren habe, tisch da wegschneidet, ohne andere zur Leistung mit auch zu sagen, daß im Zusammenhang mit der staat- heranzuziehen. Das genau verursacht die Angst, die lichen Einheit der Deutschen ganz sicher Sie, Ihre Depression, die Wut, die Enttäuschung, am Ende den Bundesregierung und der Herr Bundesaußenminister wachsenden Radikalismus. ebenfalls Verdienste haben. Das ist genauso unbe- streitbar. Das ist vielleicht ein in Ihren Augen scharfer, aus meiner Sicht absolut begründeter Vorwurf. Im Kern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sorgen Sie selbst mit für die wirtschaftlichen und der CDU/CSU) sozialen Ursachen wachsender Angst, wachsender Orientierungslosigkeit und auch wachsenden Radika- Aber es ist für meine Beg riffe weder für die politi- lismus in diesem Lande. sche Kultur dieses Landes noch für die Auseinander- setzung zwischen Parteien hilfreich, wenn diese (Beifall bei der SPD) schlichten, unbestreitbaren Tatsachen immer wieder Ein zweites Stichwort in diesem Zusammenhang ist dadurch in Abrede gestellt werden, daß man sich nur die Staatsverschuldung. Der Herr Bundesfinanzmini- auf einen einzigen Punkt konzentriert, um gewisser- ster redet ja immer davon, daß die Konsolidierung maßen die eigene Durchsetzungsstärke zu demon- fortgesetzt werde. Und so wird ein Haushalt mit einer strieren. Nein, es war mehreres, das Zusammenwir- enormen Schuldenlast, wie im Jahre 1994 beabsich- ken vieler Faktoren, vieler Politikerinnen und Politi- tigt, ebenfalls am Ende wieder zu einem Haushalt der ker, vieler politischer Kräfte. Das sollte man ausdrück- Konsolidierung. Das ist eigenartig. Das entwertet ja lich anerkennen. nicht nur die Worte, sondern führt im Kern auch dazu, daß viele Leute nicht mehr glauben, was mit diesen (Beifall bei der SPD) Worten eigentlich verbunden ist. Ein dritter Hinweis ist die Frage nach dem Ablen- (Beifall bei der SPD) kungsmanöver bei der Flucht in die Angst. Einige von Ihnen sagen: Die Sozialdemokraten mit ihrer Mehr- Sie reden von der Entgeltfortzahlung und meinen die heit im Bundesrat blockieren. Lohnkürzung. Sie reden von der Konsolidierung und meinen die wachsende Verschuldung — Orwell läßt (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das stimmt grüßen. ja auch!) Diese Frage steht auch im Zusammenhang mit Ich habe mir die Abstimmungen über den Haushalt politischer Kultur und mit den Realitäten, die angeschaut und, da ich solches in der Regel gründlich dahinterstecken. Ich beschränke mich auf einen ein- mache, auch die verschiedenen Erklärungen, die zigen Satz: Ich hätte Ihre Reden von diesem Pult hören dazu abgegeben worden sind. Ich habe also nicht nur wollen, wenn sich irgendein sozialdemokratischer die Reden gelesen, sondern auch nachgesehen, was Finanzminister eine solche Haushalts- und Finanzpo- die einzelnen sonst noch schriftlich erklären, in der litik geleistet hätte, wie Sie sie sich in den letzten Hoffnung, es fällt nicht so auf. Jahren geleistet haben. (Beifall bei der SPD) Da ist eine relativ große Zahl von Mitgliedern der Unionsfraktion, die bei der Abstimmung im Deut- Gegenüber dem, was Sie hier dann vermutlich zum schen Bundestag erklärt haben, erstens hätten sie besten gegeben hätten, ist alles das, was die Kollegin erhebliche Bedenken gegen den Inhalt des Haushalts, Ingrid Matthäus-Maier sagen kann, ein sanftes Säu- insbesondere der Begleitgesetze, zweitens würden sie seln. zustimmen, drittens täten sie das in der Erwartung, Das sachliche Problem allerdings ist wesentlich daß über den Vermittlungsausschuß von Bundesrat ernster. Am Ende des Jahres 1994 wird der Bund und Bundestag Verbesserungen erreicht werden — vorausgesetzt Ihre Zahlen und Ihre Planungen könnten. träten denn ein; vermutlich treten sie ja eher nicht ein — einen konsolidierten Schuldenstand von fast (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) 750 Milliarden DM haben. In den Schattenhaushalten Sie müssen sich schon entscheiden, welcher Logik Sie steht noch einmal fast dieselbe Summe. Man kann eigentlich folgen wollen. Entweder sagen uns 60 oder lange darüber reden, ob die Höhe der Staatsschuld 70 Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion: Liebe Sozi- insgesamt schon problematisch ist. Aber eines ist aldemokraten, verhindert mit eurer Mehrheit im Bun- unbestreitbar: Das Tempo, mit dem Sie die Staats- desrat das, was wir hier im Deutschen Bundestag, mit schuld wachsen lassen, ist ganz und gar unverant- schlechtem Gewissen freilich, beschließen, oder aber wortlich. Sie sagen uns, es sei Blockade. Wenn wir es einmal (Beifall bei der SPD) etwas spöttisch formulieren dürfen: Ich meine, es ist Vor diesem Hintergrund gibt es aus der sozialdemo- nichts anderes als der Versuch, den Wünschen Ihrer kratischen Bundestagsfraktion heraus eine Reihe von Sozialausschüsse gerecht zu werden, und dagegen Vorschlägen. Es gab sie übrigens auch bei dem kann doch ein vernünftiger Christdemokrat nichts Föderalen Konsolidierungskonzept. Es war für mich einwenden! eine der interessantesten Erfahrungen überhaupt, daß (Beifall bei der SPD) weiterreichende Vorschläge der sozialdemokrati- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16575

Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) schen Ministerpräsidenten und anderer auf Abbau man etwas dagegen tun kann. Mittlerweile hat sich von Subventionen und Steuervergünstigungen bei die Argumentation gewendet. diesem Bundesfinanzminister keine Gnade gefunden haben, (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Jetzt meinen Sie, Sie können uns treiben?!) (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das ist — Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Ich bin an ja nicht zu fassen!) der Lösung eines Problems interessiert, Herr Kollege obwohl er ansonsten natürlich sehr viel von Konsoli- Schäuble. So taktisch, wie Sie denken, will ich gar dierung redet. nicht denken. (Beifall bei der SPD) (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Da meint man wirklich, Sie seien nicht dabeige Herr Kollege Solms, zu Ihrem Geburtstag, zu dem wesen!) ich herzlich gratuliere, hätte ich gerne etwas Freund- licheres gesagt, als in diesem Zusammenhang gesagt — Herr Kollege Waigel, ich kann Ihnen das auch werden muß. gerne noch einmal im einzelnen vorführen, will aber (Heiterkeit bei der SPD) jetzt mit Rücksicht auf die Zeit darauf verzichten. Nur, fragen Sie sich als liberale Rechtsstaatspartei, (Hermann Rind [F.D.P.]: Weil nichts da ist!) soweit Sie das noch sind, einmal, ob die Zielsetzungen des Schutzes von Freiheitsrechten — hier geht es um — Entschuldigung, ich kann Ihnen das noch einmal den Schutz von Freiheitsrechten — und der Gewähr- mit den globalen Zahlen belegen: Wir haben dem leistung der Stabilität demokratischer Institutionen Bundesfinanzminister eine Liste mit Maßnahmen des nicht gerade bei einem liberalen Rechtsstaatspolitiker Subventionsabbaus vorgelegt, die Posten in der Grö- vollen Anklang finden müßten. ßenordnung von etwa 11 Milliarden DM umfaßte. Akzeptiert hat er 800 Millionen DM. Ich weiß, daß da manches schwierig ist. Aber ich will Ihnen ganz deutlich sagen, daß sich die Mütter und (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Luft Väter des Grundgesetzes vermutlich nie haben vor- buchungen!) stellen können, welche Entwicklung organisierte Kri- — Herr Kollege Waigel, da haben Sie allerdings Recht: minalität in Deutschland haben würde. Vieles von dem, was wir als Alltagskriminalität wahrnehmen, ist Sie sind der Berufenste überhaupt, wenn es darum geht, von Luftbuchungen zu reden. Das will ich nicht nichts anderes als Kriminalität mit organisiertem Hin- tergrund. Das wissen Sie, das weiß ich, und das wissen bestreiten. alle, die sich mit dem Thema beschäftigen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In diesem Zusammenhang mache ich mir enorme DIE GRÜNEN) Sorgen, wenn auch nicht so sehr über das, was der Ein Bundesfinanzminister, der vor einem Jahr progno- Kollege Glos hier gesagt hat. Er redet über Drogen — stiziert hat, er werde im Jahr 1994 die Nettoneuver- wir haben ein insgesamt gutes Konzept, das übrigens schuldung des Bundes auf unter 30 Milliarden DM nach Meinung aller Fachleute ein geschlossenes und drücken, und der am Ende mit 70 Milliarden DM das beste aus dem Bereich der Politik zur Bekämpfung herauskommt, darf nicht mehr über Luftbuchungen von Kriminalität in Deutschland ist — und verbindet reden und über Seriosität von Finanz- und Haushalts- das mit Bemerkungen zum Rechtsgefühl. Das finde politik erst recht nicht. ich interessant. Darüber kann m an auch diskutie- ren. (Beifall bei der SPD — Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie müssen sehen, was sich Beziehen wir aber in die Diskussion folgendes ein: verändert hat!) Was wird im Rechtsgefühl der Bürgerinnen und Bürger angesichts eines Vorganges, der sich mit dem — Ich weiß, was sich verändert hat. Ich weiß auch, was Namen Schalck-Golodkowski verbindet, angerich- ich als Regierungschef in einem Bundesland zu tun tet? habe. Da werden jedenfalls die Zahlenvorgaben unse- res gemeinsamen Finanzplanungsrates befolgt. Das (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad hat durchaus schmerzhafte Entwicklungen und Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schmerzhafte Entscheidungen zur Folge. Aber ich NEN]) sage Ihnen auch an dieser Stelle: Wenn Sie in der Lage Ich will jetzt nicht über die privaten B riefe an den wären, nicht nur auf die Schwächeren und Benachtei- Kollegen Schäuble reden; auch dazu könnte m an ligten in der Gesellschaft zu schauen, sondern alle ins etwas sagen, auch zu der Frage, wie das in anderen Visier zu nehmen, dann gäbe es in diesem Land nicht politischen Mehrheitsverhältnissen zu einer Debatte nur mehr soziale Gerechtigkeit, sondern auch solidere geführt hätte. Finanzen. (Beifall bei der SPD) (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Was soll denn das, was Sie hier machen?) Sie sagen mehreres — im Sinne einer Ablenkung — zur inneren Sicherheit. Es verändert sich eigenarti- — Das wissen Sie ganz genau, was das soll, Herr gerweise etwas: Vorher haben Sie geglaubt, mit Bundeskanzler. Ich möchte darauf aufmerksam diesem Thema die Sozialdemokraten treiben zu kön- machen, daß mit Blick auf das Rechtsgefühl von - nen. Die Kriminalität steigt — die SPD verhindert, daß Bürgern ein solcher Umgang mit einem — aus meiner 16576 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) Sicht jedenfalls — wesentlichen Problem unangemes- auf Art. 14 des Grundgesetzes, hingewiesen habe, so sen ist. wie er in allen seinen Absätzen und in seiner rechtli- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad chen Interpretierung besteht, und daß ich dabei nur Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ gesagt habe, daß Sie bereit sind, mit Ihren Beschlüs- NEN]) sen auf dem Parteitag von Wiesbaden diesen Eigen- Für das Rechtsgefühl der Bürger ist die Art und tumsartikel, so wie er besteht und auch in der Recht- Weise, wie mit Herrn Schalck-Golodkowski in der sprechung interpretiert ist, zu ändern und das Eigen- tumsrecht auszuhöhlen? Vergangenheit umgegangen wurde und möglicher- weise in Zukunft umgegangen werden wird, vermut- lich wesentlich gravierender als die ernsthafte Diskus- Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland- sion über die Frage, ob m an im Bereich der Drogen- Pfalz): Herr Kollege Solms, niemand in der Sozialde- kriminalität nicht endlich dazu kommen kann, ein mokratie denkt an eine Aushöhlung des Eigentums- wirksames Instrumentarium gegen skrupellose und rechtes, wohl aber daran, daß bei begründetem Ver- das Leben und die Gesundheit von Menschen gefähr- dacht des kriminellen Erwerbs eines Vermögens die- dende Geschäftemacher in die Hand zu bekommen ses Vermögen eingezogen werden kann. und die Konsumenten nicht ständig über das Straf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten recht zwangsläufig zu Verbündeten eben dieser skru- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) pellosen Geschäftemacher zu machen. Darüber muß Sie werden sonst niemals in die Lage kommen, das man wenigstens einmal reden können. organisierte Verbrechen im Kern zu treffen, nämlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bei seinen finanziellen und wirtschaftlichen Anrei- DIE GRÜNEN) zen. Da wir ja von einem vereinten Europa reden und in (Beifall bei der SPD) einem zusammenwachsenden Europa miteinander Da Sie, Herr Kollege Solms, Fachmann auf dem verhandeln, werden Sie sicher Verständnis dafür Gebiet sind, wissen Sie, daß ein kriminell erworbenes haben, daß ich Sie gerade in diesem Zusammenhang Vermögen nach einem Strafverfahren und einer ent- auch auf andere inte rnationale Erfahrungen hin- sprechenden Verurteilung in sehr engen Grenzen weise. beschlagnahmt werden kann. Am meisten bedenklich finde ich, Herr Kollege Was wir wollen, ist, daß in der Regel mit den Sohns, was Sie zu diesem Thema gesagt haben. Denn Gründen, die für den Haftbefehl oder die Erhebung über den Eigentumsschutz zu reden, der Anklage ausreichen, vorher auch beschlagnahmt (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Eigen werden kann. Stellt sich heraus, daß es unberechtigt tumsgarantie!) war, dann bekommt der Mensch selbstverständlich sein Vermögen zurück. Stellt sich heraus, daß es den Art. 14 GG zu zitieren und die Gemeinwohlver- pflichtung des Eigentums aus Art. 14 GG schlicht zu berechtigt war, dann hat er während der laufenden vergessen, Strafverfolgung keine Ch ance, mit diesem Vermögen noch weiter Schaden anzurichten. Darum geht es. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NEN]) DIE GRÜNEN) das finde ich schon sehr beachtlich. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Darf ich (Hermann Rind [F.D.P.]: Das ist eine Unter unterstellen, daß Sie, Herr Ministerpräsident, bereit stellung!) sind, eine weitere Frage zu beantworten? — Nein, das ist keine Unterstellung; denn wenn Sie den absoluten Eigentumsschutz auch auf kriminell Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland- erworbenes Vermögen ausdehnen wollen, dann miß- Pfalz): Wenn wir es dabei belassen könnten, gerne. achten Sie genau die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums. (F.D.P.): Ja, natürlich. — (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Hermann Otto Solms Ich hatte mich gemeldet, bevor Sie soeben Ihre DIE GRÜNEN) Ausführungen machten, will aber trotzdem darauf hinweisen, daß Ihnen sicher bekannt ist, daß im Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mini- Strafrecht die Möglichkeit der Vermögenseinziehung sterpräsident, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeord- bereits geregelt ist. neten Solms zu beantworten? (Zuruf von der SPD: Das hat er doch gesagt!) Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland- Pfalz): Aber gerne. Deswegen frage ich Sie, ob Sie tatsächlich der Mei- nung sind, daß eine Vermögenseinziehung auch schon im Falle des reinen Verdachtes stattfinden soll, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte oder ob Sie nicht der Meinung sind, daß es in einem sehr. Rechtsstaat üblich ist und auch üblich sein muß, daß es zu solchen Maßnahmen erst kommen darf — denn Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Herr Ministerprä- schon mit dem Einzug ist ja eine Vermögensverlet- sident, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich zung verbunden —, wenn es zu einer richterlichen in meinen Ausführungen auf den Eigentumsartikel, Entscheidung, zu einer Schuldentscheidung über - Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16577

Dr. Hermann Otto Solms denjenigen, der unter Verdacht steht, gekommen nicht von dem bösen Wort „Interventionsarmee" ist. einschüchtern. Die Bundeswehr als Interven- tionsarmee ist für mich kein Schimpfwort, son- dern ein Ruhmestitel. Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland- Pfalz): Herr Kollege Solms, ich habe hierzu drei (Lachen bei der SPD) Hinweise zu geben. Die Bundeswehr interveniert für den Frieden in Erstens glaube ich nicht, daß die Vereinigten Staa- der Welt, sie interveniert für die Sicherheit der ten von Nordamerika in diesem Bereich weniger Heimat, sie interveniert nicht zum Kriege. rechtsstaatlich sind als die Bundesrepublik Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei d. Aber sie verhalten sich konsequenter. lan der SPD) Das zweite ist: Ich habe den ganz sicheren Eindruck, daß für diese Position alle sachlichen Gründe spre- chen. Ich habe nicht vom bloßen Verdacht gespro- chen, auch nicht vom Anfangsverdacht, sondern von Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland- den Gründen, die in der Regel für einen Haftbefehl Pfalz): Herr Kollege Glos, ich bin Ihnen für die oder die Erhebung der Anklage ausreichen. Davon Verlesung des Zitates schon deshalb dankbar, we il Sie habe ich gesprochen. damit klargemacht haben, daß der Kollege Stoiber mit den Worten vom Schützen, Retten, Bergen etc. der (Zurufe von der F.D.P.) Bundeswehr die Beschreibung einer bewaffneten — Moment! Sie wissen doch ganz genau, daß es Feuerwehr zugemessen hat — wenn Sie sich damit zwischen dem Anfangsverdacht und dem Verdacht, auskennen. der die Anklageschrift begründet, einen Unterschied (Heiterkeit bei der SPD — Zurufe von der gibt. CDU/CSU) Mein dritter Hinweis, Herr Kollege Solms, ist fol- gender. Ich muß Ihnen mit vollem persönlichen — Nein, mit Verlaub: Wenn das Zitat unvollständig Respekt ehrlich sagen: Ich habe schon gesehen, daß war, nehme ich die Korrektur gern zur Kenntnis und das F.D.P.-Präsidium das Bedürfnis hatte, Herrn Kin- füge hinzu: Wenn der Kollege Stoiber davon gespro- kel den Rücken zu stärken. Warum eigentlich?, fragt chen hat, daß die Bundeswehr nicht im Sinne von man sich. Krieg intervenieren solle, dann frage ich mich, wieso eigentlich Sie noch Kritik an der Sozialdemokratie (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) äußern, die genau diese Grenze für Ihre politische Man muß einmal fragen, wie dieses Bedürfnis eigent- Willensbildung formuliert hat. Das müssen Sie mir lich entsteht. Nur, daß Sie mir jetzt diese Frage stellen, einmal erklären! der Sie doch immer kräftig dafür geworben haben, (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: daß bei Art. 13 GG etwas geschehen müsse, we il die Hättest du doch geschwiegen!) F.D.P. sonst in eine schlimme Lage komme, und der Sie im F.D.P.-Präsidium möglicherweise anders Lassen Sie mich mit Rücksicht auf die Zeit — es ist votiert haben, jedenfalls öffentlich anders agieren, ist durch die Zwischenfragen etwas länger geworden — für mich schwer nachvollziehbar. Ich habe diese zusammenfassend folgendes sagen: meine Meinung immer offen geäußert Wir, die Sozialdemokratie in diesem Haus und (Beifall bei der SPD) überhaupt, treten dafür ein, daß eine dynamische und versucht, sie durchzukämpfen. Ihr Problem ist Wirtschaftspolitik mit einer aktiven Arbeitsmarktpoli- folgendes: Sie haben es nicht durchkämpfen können tik verbunden wird, daß die Entlastung von Arbeits- oder nicht durchkämpfen wollen. Jetzt suchen Sie kosten und die Wiederherstellung der sozialen einen Ablenkungsschauplatz. Das ist alles. Gerechtigkeit, auch die Herstellung gleicher Rechte von Frauen und Männern, als Leitbild zur Reform, zur (Beifall bei der SPD) Modernisierung des Sozialstaats gilt und nicht zum Unterfall der wirtschaftlichen Entwicklung gemacht Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mini- werden darf. sterpräsident, der Abgeordnete Glos bittet ebenfalls, (Beifall bei der SPD) eine Frage beantwortet zu bekommen. Wir treten dafür ein, daß das Zusammenwachsen und Zusammenhalten zwischen Ost und West in Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland- Deutschland zum Leitbild der deutschen Einheit Pfalz): Wenn Sie es auch noch einmal versuchen gemacht wird und nicht zum Unterfall der ökonomi- wollen, gerne. schen Entwicklung gemacht werden darf. (Heiterkeit bei der SPD) Wir treten dafür ein, daß die ökologische Erneue- rung unserer Volkswirtschaft und eine intelligente Organisation der Arbeit das Leitbild der Modernisie- (CDU/CSU): Herr Ministerpräsident, Michael Glos rung unserer Volkswirtschaft werden und nicht der ich möchte fragen, ob Sie bereit sind, nachdem Sie den Unterfall irgendeiner Art von Konjunkturpolitik. bayerischen Ministerpräsidenten zitiert haben, sein Zitat vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Er hat bei (Beifall bei der SPD) dieser von Ihnen angesprochenen Rede gesagt: Schließlich treten wir dafür ein, daß Effizienz und Die Mission der Soldaten im 21. Jahrhundert Rationalität im staatlichen Handeln genauso wie heißt: schützen, retten, helfen. Lassen Sie sich erweiterte Möglichkeiten der Beteiligung von Bür- 16578 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz) gern an politischen Entscheidungen zum Leitbild durch Steuern oder durch Kredite, finanziert werden zukünftigen staatlichen Handelns gemacht werden. soll. Ich frage: Woher soll das eigentlich finanziert Herr Bundeskanzler, Sie haben davon gesprochen: werden? Wer soll eigentlich die Wachstumsfelder, von Dieses Land braucht Zukunftsperspektiven. — Das denen Sie gesprochen haben, bestimmen? Ich frage stimmt. Ich bestreite nicht, daß Sie in manchen Fragen Sie vor allem, ob Sie auch die letzten Anregungen aus auch für die Sozialdemokratie unterstützenswerte der Kommission aufgreifen wollen, nämlich über Politik oder Initiativen verfolgt haben. Im Kern aller- Abwertung der Währungen, über Wechselkursanpas- dings haben Sie insbesondere in den letzten drei, vier sungen die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirt- Jahren die Bundesrepublik Deutschland in eine Rich- schaften zu verbessern. Wenn Sie das wollen, sagen tung gesteuert, die für das Land zu einem großen Sie das bitte hier! Sagen Sie bitte auch dem deutschen Problem geworden ist. Ich habe Ihnen bei der ersten Sparer, daß Sie eine Abwertung der D-Mark empfeh- Lesung dieses Haushalts gesagt, Herr Bundeskanzler: len! Wir setzen nicht auf Ihren Niedergang, sondern auf Zweite Anmerkung: Sie haben die Studie der eine sachlich begründete, von den Bürgern akzep- Schweizerischen Bankgesellschaft erwähnt. Sie ha- tierte engagierte Alternative. ben sie sehr verkürzt erwähnt, Herr Ministerpräsi- Dieser Staat besteht in seinen verschiedenen Aus- dent. Das verdient diese Studie eigentlich nicht. Was prägungen seit ca. 44 Jahren. 13 Jahre davon haben Sie zur Rangfolge angegeben haben, ist richtig. Alle Sozialdemokraten als Bundeskanzler amtiert, und die Voraussetzungen, die dazu genannt worden sind, mit den Namen von Willy Brandt und Helmut Schmidt haben Sie nicht erwähnt und konnten Sie wahrschein- verbindet sich die Politik des Friedens und der Ent- lich auch nicht erwähnen. Aber ich will doch sagen, spannung, die Politik innerer Reformen. daß das kein Schicksal ist, sondern daß Deregulie- rung, Privatisierung, Flexibilisierung der Arbeits- (Zuruf von der CDU/CSU: Und der hohen märkte, Abschaffung von Erhaltungssubventionen Verschuldung! — Lachen und Zurufe von der Voraussetzungen sind, mit denen man eine solche SPD) Entwicklung auch nach Auffassung dieser Studie der — Nach dieser Pointe, Herr Kollege, suche ich nach Schweizerischen Bankgesellschaft verhindern kann, keiner mehr. Denn mehr Gelächter und Freude kann Voraussetzungen, zu denen allerdings die Sozialde- ich in der SPD-Fraktion nicht erzeugen. — Nein, mit mokratische Partei bisher ihre Zustimmung niemals diesen 13 Jahren verbindet sich die Entspannungs- gegeben hat, sondern an deren Schaffung sie uns und Friedenspolitik, die Politik innerer Reformen und immer gehindert hat. das kluge, konsequente und kompetente Durchsteu-- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ern zweier weltwirtschaftlicher Krisen. ten der CDU/CSU — Anke Fuchs [Köln] (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr rich [SPD]: Alte Hüte!) -tig!) Es war auch bei uns so, daß es Rückschläge und Fehler Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile gegeben hat. Wer wollte das bestreiten. Aber im Ke rn nunmehr dem Abgeordneten Dr. Wolfg ang Schäuble finde ich, daß wir den Mut haben können und berech- das Wort. tigt sagen können: Das waren im Verhältnis zu dem, was heute stattfindet, ganz sicher bessere Jahre. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsident! (Beifall bei der SPD) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Mini- Vor diesem Hintergrund, Herr Bundeskanzler: sterpräsident Scharping, Sie haben hier eine ganz Wenn das Haushaltsbuch die Bilanz des politischen merkwürdige Rede gehalten. Wollens ist, dann muß ich Ihnen sagen: Das ist eine (Lachen bei der SPD) Bilanz, die weder dem Arbeitsmarkt noch dem wirt- Sie haben lange davon gesprochen, daß m an über die schaftlichen Wachstum, weder der Reform des Sozial- Zukunftsprobleme unseres Landes reden solle, und staates noch der Konsolidierung der Finanzen in dann haben Sie am Schluß Ihrer Rede Ihren Regie- irgend einer Weise wirksam voranhilft. Und das kann rungsanspruch mit einem Vergleich der Regierungs- keine Zustimmung aus den Reihen der Sozialdemo- zeit in den siebziger Jahren mit der in den achtziger kratie finden. Jahren begründet. Das ist ja nun ein Anspruch auf (Langanhaltender Beifall bei der SPD) Regierungsverantwortung in den neunziger Jahren, der doch sehr rückwärtsgerichtet begründet wird. (Beifall bei der CDU/CSU — Helmut Wieczo Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer rek [Duisburg] [SPD]: Sie haben auch schon Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort. einen besseren Einstieg gehabt!) Im übrigen finde ich, daß wir den Vergleich zwi- schen den Erfolgen der Regierungstätigkeit in den Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Ministerprä- siebziger Jahren und denen in den achtziger Jahren in sident, Sie haben im ersten Teil Ihrer Rede die aller Ruhe be treiben können. Nur sollten wir es nicht Bundesregierung aufgefordert, die beschäftigungs- heute in dieser Haushaltsdebatte tun. Deswegen will politischen Anstöße oder Initiativen aus der Europäi- ich es auch nicht lange machen. Wir sind jetzt in den schen Gemeinschaft aufzunehmen. Ich nehme an, Sie neunziger Jahren. In der Zwischenzeit hat die Wieder- haben das Weißbuch, das in Kopenhagen vorgelegt vereinigung stattgefunden. Bei vielen Ihrer Argu- worden ist, gemeint. Darin ist ein 30-Milliarden- mente verdrängen Sie das und schieben es einfach ECU-Ausgabenprogramm enthalten, das staatlich, weg. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16579

Dr. Wolfgang Schäuble Ich finde, wenn Sie derar tige Diskussionsanforde- und nicht der Bundesregierung die Verantwortung rungen an andere stellen, sollten Sie übrigens auch zuschieben. Man meint ja geradezu, Sie würden sich dem Bundesfinanzminister nicht Luftbuchungen vor- darüber freuen, wenn Sie mit solcher Häme darüber werfen. Wenn sich die gesamtwirtschaftlichen Daten reden. bei den Einnahmen und bei den Ausgaben fundamen- Es ist doch traurig, daß die Ziele nicht besser tal verändert haben, verwirklicht worden sind. Aber das fundamentale (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Er Problem, um das es geht, ist, daß wir im Bündnis mit „waigelt" sich so durch!) anderen, im Atlantischen Bündnis, das ein Drittel der dann sind das keine Luftbuchungen, sondern bittere Delegierten Ihres Parteitags auflösen wollte, und in Konsequenzen aus wirtschaftlichen Entwicklungen, der Europäischen Gemeinschaft den Frieden in die in allen Industrieländern dieser Erde entgegen der Europa und darüber hinaus sichern müssen, und dies Annahme aller Sachverständigen der nationalen und besser, als er heute gesichert ist. Das wird nicht gehen der internationalen Ins titute schleppender verlaufen und nicht besser werden, solange das vereinte sind, als wir alle das gehofft haben. Das kann m an dem Deutschland, immer noch der größte Staat unter den Bundesfinanzminister nicht als Luftbuchungen anla- europäischen Staaten, seinen gleichberechtigten Bei- sten. trag mit Rechten und Pflichten nicht leistet. Das ist die fundamentale Frage für eine erfolgreichere Politik der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Friedenssicherung. Vor dieser Anforderung haben Sie Bei all Ihren Betrachtungen fällt mir auf, daß Sie im auch auf Ihrem Parteitag in Wiesbaden und in Ihrer Grunde noch immer ein schwieriges Verhältnis zur Rede vor dem Deutschen Bundestag versagt. deutschen Einheit haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Lachen bei der SPD) Ich will das zweite auch gleich dazusagen: Ich habe — Ja, das ist leider nicht zum Lachen. Ich finde es immer, im Jahre 1990 und seitdem, die Sorge gehabt, manchmal traurig. daß die vielen Veränderungen, die zwangsläufig auf Ich habe als Innenminister der damaligen Bundes- die Menschen zukommen — es sind nicht nur Verän- regierung damit zu tun gehabt, daß wenige Wochen derungen in Deutschland, im Ost-West-Verhältnis nach der Öffnung der Mauer der damalige Kanzler- und in Europa; der Eiserne Vorhang teilt uns nicht kandidat der SPD, Oskar Lafontaine, nichts Besseres mehr —, zu Verunsicherungen führen und daß dies in zu tun hatte, als die Abschaffung des Aufnahmever- - einer Gesellschaft, die durch 40 Jahre wachsenden fahrens für Übersiedler zu fordern. Die politischen Wohlstand und wachsende soziale Sicherheit ge- Auseinandersetzungen sind im Jahre 1990 zwischen kennzeichnet ist, wie wir es in der alten Bundesrepu- Regierung und Opposition so bitter geworden, weil blik hatten, nicht zu mehr Solidarität führt. Das ist Sie den sozialen Neid und soziale Ängste gegen die übrigens kein schichtenspezifisches Problem, wie ich deutsche Einheit geschürt haben. es bei Ihnen gehört habe. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ich bin sehr damit einverstanden, daß wir auch von ordneten der F.D.P.) den Leistungsstärkeren entsprechende solidarische Jetzt reden Sie hier von der Flucht ins Na tionale und Anstrengungen einfordern müssen. Das kann man sagen ganz richtig, daß viele Probleme im nationalen nicht dem einen oder anderen zuweisen. Da müssen Rahmen nicht mehr bewältigt werden können; in der alle ihren Beitrag leisten. Ich finde, von dieser Solida- Umweltpolitik nicht, in der Entwicklungspolitik nicht, rität in Deutschland bei allen Schichten unserer Bevöl- bei der Entschärfung der globalen Verteilungskon- kerung eher zuwenig als zuviel. flikte im Ost-West-Verhältnis und im Süd-Nord-Ver- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Geistig-mora hältnis nicht. Nur, Herr Ministerpräsident Scharping, lisch!) Herr Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei, das Problem, was am allerwenigsten national bewäl- — Ja, das macht man natürlich, wenn m an in der tigt werden kann, ist die Sicherung des Friedens. Opposition ist, bei der Regierung fest, Frau Fuchs. Sicherung des Friedens heißt, daß wir bündnisfähig Wenn man aber ernsthaft, wie es Ihr Parteivorsitzen- bleiben müssen. Mit dem Beschluß Ihres SPD-Partei- der gefordert hat, gemeinsam darüber nachdenkt, tags würde die Bundesrepublik Deutschland nicht dann hat es wahrscheinlich mehr damit zu tun, daß bündnisfähig bleiben, nicht berechenbar und nicht eine langanhaltende Pe riode von Wohlstand nicht friedensfähig sein. notwendigerweise zu Solidarität führt, sondern eher zu Besitzstandsdenken und zu Neid. Deswegen: Wenn wir im nationalen Rahmen unsere fundamentalen Probleme nicht bewältigen können, Diese Periode ist nun zu Ende. Die Veränderungen dann müssen Sie, um Regierungsverantwortung tra- sind unendlich viel größer, als wir das bis 1989/90 gen zu können, Ihre Position überprüfen. Wir werden noch gewohnt waren. Da sind wir schon wegen zwei den Frieden in Deutschland und in Europa nicht Stunden Ladenöffnungszeiten fast an den Rand der bewahren, wenn wir nicht gleichberechtigte, verläßli- Reformfähigkeit der Bundesrepublik Deutschl and che Bündnispartner sind. Der Friede ist gefährdet. Die geraten. Damit hat es sein Bewenden nicht. Verteilungskonflikte sind eminent. Weil dies aber so ist, war und bleibt meine Über- Über Somalia und darüber, daß sich nicht alle Ziele zeugung, daß wir der Grundlagen unserer Gemein- und Hoffnungen der Vereinten Nationen dort ver- schaft wieder sicherer werden müssen, als wir es wirklicht haben, kann man lange reden. Man sollte heute sind. Diese Grundlagen unserer Gemeinschaft, das nicht mit der Häme tun, mit der Sie es getan haben, die ja für die Menschen auch eine Legitimation sind, 16580 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Wolfgang Schäuble warum ihnen der Staat Leistungen abverlangen muß, Deswegen ist der Beitrag von Bärbel Bohley — ich warum er sie in die Pflicht nehmen muß, warum man weiß gar nicht, warum Sie auch noch die Schamlosig- Dienst leisten muß für diese Gemeinschaft, sind ein keit hatten, darüber zu lachen — so bedenkenswert: Grundbestand an Werten, an Tugenden, an Institutio- wie wenig unsere Landsleute aus den neuen Bundes- nen. Es ist aber auch die gemeinsame Identität, die ländern in unserer Art — manchmal habe ich auch das eine regionale, eine europäische und eine nationale Gefühl: in unserer Sprechblasenkultur, die wir im ist. Westen Deutschlands und in Bonn entwickelt haben — Diese Grundlagen unserer Identität und das Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) ständnis als Schutz- und Schicksalsgemeinschaft, die brauchen wir, um diese Veränderungen in demokra- verstanden werden. Das wird doch an solchen Beiträ- tischer Stabilität zu meistern. Der Prozeß der inneren gen sichtbar. Das ist nicht dem einzelnen anzula- Einheit Deutschlands ist noch nicht vollendet. sten. Herr Ministerpräsident Scharping oder Herr SPD- Deswegen, Herr Scharping, hätte es Ihnen besser Vorsitzender, so kommen Sie mit Ihrer Entgleisung angestanden, Sie hätten sich für Ihre Entgleisung von auf Ihrem Parteitag, mit dem, was Sie zu Steffen Wiesbaden hier entschuldigt. Sie können es ja noch Heftmann gesagt haben, hier nicht davon. Das geht nachholen. nun unter gar keinen Umständen. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- ordneten der F.D.P.) geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Wir haben uns nicht gegenseitig das intellektuelle Abgeordneten Schmude zu beantworten? Niveau zu bewerten. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Bitte. Wo kommen wir denn da hin? Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, (Joachim Poß [SPD]: Das machen Sie doch Herr Abgeordneter. jeden Tag!) — Nein, ich bewerte jetzt noch nicht einmal Ihren Dr. Jürgen Schmude (SPD): Herr Schäuble, halten Sie es eigentlich für zulässig, die gegen Herrn Heit Zwischenruf. - mann vorgebrachten Einwände als gegen die Bürge- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Der ist rinnen und Bürger in den östlichen Bundesländern nämlich zu blöd! — Eduard Oswald [CDU/ pauschal gerichtet zu bewe rten, obwohl doch auch CSU]: So ist es!) Ihnen aufgefallen sein muß, daß solche Einwände Aus den Reihen der Christlich-Demokratischen und gegen andere Persönlichkeiten, etwa Herrn Reich Christlich-Sozialen Union ist keine der Frauen und oder andere, überhaupt nicht vorgebracht werden keiner der Männer, die von anderen politischen Grup- und sie auch gar nicht treffen? pierungen für die Nachfolge des Bundespräsidenten (Beifall bei der SPD) vorgeschlagen worden sind, in irgendeiner Weise herabgewürdigt worden. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Kollege (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Woran liegt das Schmude, ich will versuchen, Ihnen zu erklären, denn?) warum ich über die Entgleisung von Herrn Scharping so empört bin. M an kann in vielen Sachfragen sehr Aber die Art, wie auch von Ihnen und unter Ihrer wohl unterschiedlicher Meinung sein. Man muß nicht Verantwortung als Vorsitzender der SPD der Kandidat jede Sachposition, die Steffen Heitmann vertreten hat, Steffen Heftmann behandelt worden ist, ist nicht nur teilen. Man kann sie kritisieren. Ich teile übrigens unfair, eine schlimme Entgleisung und eine Beschädi- manche Auffassungen von Herrn Rau gar nicht. gung des Amtes, sondern es ist ein Beitrag, die Es ist aber keine Frage des intellektuellen Ni- Mauern in Deutschland weiter aufrechtzuerhalten. veaus. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Zuruf von der CDU/CSU: Darum geht es!) ordneten der F.D.P.) Genau das wird vor diesem Hintergrund der Diskus- Es hat schon seinen guten Grund — dabei bleibe ich; sion als eine, wie ich finde, einheitsfeindliche Entglei- da kann man unterschiedlicher Meinung sein; ich sung Ihres Parteivorsitzenden verstanden. meine, es tut dem vereinten Deutschland gut —, wenn (Widerspruch bei der SPD) drei Jahre oder vier Jahre nach der staatlichen Einheit auch eine Frau oder ein Mann aus dem Teil Deutsch- — Doch. — Wenn sich einer in den Sprechblasen nicht lands, der bis 1990 DDR hieß, in ein führendes so äußert, wie es hier und insbesondere auf Ihren politisches Amt in dem gemeinsamen Deutschland Parteitagen Routine geworden ist, dann wird er kommen kann. bewußt mißverstanden und dann bescheinigt m an ihm hinterher ein geringeres intellektuelles Niveau. Die Art, wie bisher jeder, der in ein solches führen- Man kann anderer Meinung sein; man sollte aber des Amt gekommen ist oder auch nur kommen soll, im nicht sagen, er habe ein geringeres Niveau, zumal Westen zerredet, kaputtgeredet worden ist, ist für die man zuviel Anspruch darauf auch gar nicht hat. deutsche Einheit hinderlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ordneten der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16581

Dr. Wolfgang Schäuble Das ist der Punkt, Herr Schmude, warum ich sage: Das Ansehen der politischen Parteien, ohne die eine ist nicht in Ordnung. freiheitliche Demokratie nicht wirklich zu organisie- Im übrigen bleibe ich auch dabei: Die Maßstäbe ren und lebensfähig zu halten ist, nicht immer weiter sollten einigermaßen fair sein. Wären Oskar Lafon- Schaden nehmen. taine oder Manfred Stolpe nicht Mitglieder der SPD, Ich finde wirklich, daß Sie das Schachern um Posten sondern der CDU Deutschlands, wären sie nicht mehr und Positionen — Michael Glos hat Ihnen das vorge- Ministerpräsidenten. Das ist die Maßstabsungerech- halten — endlich aufgeben müssen. Sie fügen dem tigkeit in Deutschland. Rechtsstaat Schaden zu. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Bei- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wer sind Sie denn fall bei Abgeordneten der F.D.P. — Dr. Uwe eigentlich? — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Küster [SPD]: Und was ist mit Herrn Stoi- Haben Sie nichts anderes zu erzählen?) ber?) — Ich rede von der Stabilität unseres freiheitlichen Rechtsstaats. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sind Sie bereit, eine weitere Frage zu beantworten? Ich will in diesem Zusammenhang gleich hinzufü- gen: Die Antwort, die Sie auf die unglaublichen Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Ja. Vorgänge in Schleswig-Holstein gegeben haben, ist völlig ungenügend. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Herr Abgeordneter Schmude. ordneten der F.D.P.) Wir alle wissen, daß die für jedermann bedrücken- Dr. Jürgen Schmude (SPD): Herr Schäuble, mit den — — welchem Recht halten Sie die Schwierigkeiten, die Sie hier schildern, für ein Problem der Herkunft von Herrn (Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) Heitmann aus dem Osten, statt zu erkennen, daß es — Jetzt habe ich es Ihnen doch gerade gesagt. Sie ein Problem seiner Person und seines eigenen Verhal- haben hier im Saal inzwischen wirklich nicht mehr tens ist? Fraktionsstärke, was die Anwesenheit betrifft. Dann (Widerspruch bei der CDU/CSU) sollten Sie auch die Lautstärke entsprechend reduzie- ren. Das gilt auch für Sie, Frau Fuchs. - Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Kollege Schmude, Sie machen jetzt einen ziemlich untaugli- (Zustimmung bei der CDU/CSU) chen Versuch, von der Entgleisung Ihres Parteivorsit- Es nervt Sie möglicherweise: Die Vorgänge des zenden auf Ihrem Parteitag abzulenken. Jahres 1987 in Schleswig-Holstein sind für die Stabi- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das war keine lität unseres demokratischen Rechtsstaats und seiner Entgleisung!) Institutionen ein fortwirkender Schaden. Es sind ungeheure Beschädigungen entstanden. Nun erfah- — Ich habe Ihnen erklärt, warum ich es als eine ren wir Woche für Woche, daß in Schleswig-Holstein Entgleisung werte. Ich hätte mir gewünscht, daß wir durch die führenden Repräsentanten der Sozialdemo- diese Debatte nicht fortsetzen müssen, sondern daß kratischen Partei bis auf den heutigen Tag gelogen Herr Scharping hier ans Pult geht und sich dafür wird, daß sich die Balken biegen. entschuldigt. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist doch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ein Ablenkungsmanöver von Ihnen!) ordneten der F.D.P.) — Sie wollen ja gar nicht, daß man argumentiert. Da sind Sie — da hilft kein Ablenken und Auswei- Dafür, daß von Ihrer Fraktion nur noch zehn Abgeord- chen auf irgend etwas anderes — als Parteivorsitzen- nete hier sind, nachdem Ihr Parteivorsitzender gerade der gefordert, weil es um den Zustand der Republik fünf Viertelstunden geredet hat, machen Sie zuviel geht. Es geht doch nicht an, daß nach diesen entsetz- Lärm, gnädige Frau. Sie sollten ein bißchen ruhiger lichen Erfahrungen, von denen alle Parteien betroffen sein. sind, mit der Wahrheit immer noch nicht herausge- (Beifall bei der CDU/CSU) rückt wird. Ich erinnere mich noch daran, wie die Ich will Ihnen gleich noch etwas sagen. Es gehört zu heutige Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, den wirklichen Sorgen, — die wir uns doch gemein- Frau Simonis, geradezu flehentlich beschworen hat, sam machen müssen —, daß diese Verunsicherung daß nun alle die Wahrheit sagen mögen. Bis heute ist und die großen Veränderungen, die stattfinden, die das nicht der Fall, sondern es wird nach wie vor Stabilität unseres demokratischen Rechtsstaats nicht vertuscht und nur zugegeben, was schon bewiesen notwendigerweise gefördert haben. Ich unterstreiche, worden ist. was der Kollege Klose und der Bundeskanzler gesagt Inzwischen erfahren wir — es ist nicht mehr zu haben: Gerade in diesen Tagen müssen wir uns in bestreiten —, daß dieser unselige Mensch Pfeiffer all besonderer Weise unserer Verantwortung für die dies mindestens seit Juni 1987 mit Wissen und wohl im Stabilität unseres freiheitlichen Rechtsstaats und des- Auftrag führender Sozialdemokraten gemacht hat. sen bewußt sein, daß die Voraussetzungen durch das Schon damals ist gesagt worden, man brauche sich um richtige Tun und die richtigen verantwortlichen Ent- den Ausgang des Wahlkampfs keine Sorge mehr zu scheidungen bewahrt werden, damit in unserem machen, man habe einen entsprechenden Agenten in Lande Toleranz und Gewaltfreiheit erhalten bleiben der Staatskanzlei plaziert. Das alles läßt Sie unbetei- und damit die demokratischen Institutionen und das ligt, wenn es um den Zustand unserer Demokratie 16582 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Wolfgang Schäuble geht? Das kann so nicht sein. Da müssen Sie noch verfolgen und nehmen es daher aus der Strafbarkeit etwas machen. heraus, indem wir es entkriminalisieren, so ist das der falsche Weg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P. — Anke Fuchs [Köln] Wir müssen mit größerer Entschiedenheit für die [SPD]: Die Machenschaften stammen wohl Verbrechensbekämpfung eintreten und den Polizeien von Herrn Barschel!) die notwendigen gesetzlichen, sachlichen und perso- nellen Mittel an die Hand geben. Wir sind dabei, die Sie haben von der inneren Sicherheit und von der gesetzlichen Mittel zu schaffen. Für die sachlichen Notwendigkeit, mehr zu tun, gesprochen. Ich begrüße und personellen sind die Bundesländer zuständig. Da für meine Fraktion sehr, daß die Sozialdemokratische werden Sie in Ihrer Verantwortung als Ministerpräsi- Partei auf ihrem Parteitag im Grundsatz die Notwen- dent noch eine Menge zu tun haben. digkeit anerkannt hat, den Polizeibehörden von Bund und Ländern die erforderlichen gesetzlichen Instru- Ich kann Sie nur herzlich bitten, das Menschenmög- mentarien bei der Bekämpfung organisierter Krimi- liche dessen, was in Ihrer Verantwortung liegt, zu tun, nalität besser als bisher an die Hand zu geben. weil die Gefahr, daß ein größerer Teil unserer Bevöl- kerung an der Schutzfähigkeit unseres Rechtsstaats Es wird Ihnen — ich habe das schon bei früherer zweifelt und dadurch der Rechtsstaat Schaden nimmt, Gelegenheit gesagt — nicht gelingen, daraus ein Spiel groß ist. Deswegen ist es übrigens auch falsch, gegen mit der Koalition zu machen. Wir sind in einer Frage ein Mitglied der Bundesregierung, das für die innere innerhalb der Koalition noch unterschiedlicher Mei- Sicherheit zuständig ist, den Beg riff von „Law and nung. Die F.D.P. hat einen Parteitagsbeschluß getrof- order" quasi als Kampfbegriff zu verwenden. Wenn fen, von dem man weiß, daß Kollege Solms anderer jemand für Recht und Ordnung ist, dann ist das doch in Ansicht ist. Es muß doch nicht jeder mit jedem Ordnung. Es wäre schlimm, wenn das Gegenteil der Parteitagsbeschluß einverstanden sein. Es ist doch in Fall wäre. Ich hoffe, daß auch Sie dieser Meinung Ordnung, daß er dies vertritt, solange nicht ein Partei- sind. tag der F.D.P. etwas anderes beschließt. Das muß man ihm auch an seinem Geburtstag so bescheinigen. Von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge dieser Stelle aus auch herzlichen Glückwunsch, lieber ordneten der F.D.P.) Herr Sohns. Die wichtigste Frage, auf die wir uns im Augenblick (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) konzentrieren müssen, ist, die wirtschaftliche Ent- - wicklung zu verbessern, den Anstieg der Arbeitslo- All dies ändert aber überhaupt nichts daran, daß wir sigkeit zu bekämpfen und möglichst rasch zu einem in der Frage des Rechtsbewußtseins auf Ihrem Partei- Absinken der Arbeitslosigkeit zu kommen. Aber das, tag nach wie vor erhebliche Defizite erkennen. Es was Sie dazu an Vorschlägen auf Ihrem Parteitag wie geht nicht nur um die Freigabe von Drogen. Natürlich heute in Ihrer Rede eingebracht haben, hat mich kann man darüber streiten, ob die Freigabe ein wirklich überrascht. Das war nun wirklich — — Instrument ist, um die Beschaffungskriminalität stär- ker zurückzudrängen. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Null!) (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Entkriminalisie- — Nein, das war unter Null. Verzeihen Sie, Herr rung!) Kollege Rüttgers, das war wirklich unter Null; denn die Vorschläge der SPD werden nicht nur nichts Aber wenn man weiß, daß weltweit die Warnung und verbessern, nein, sie werden schaden. Aufklärung vor dem Gebrauch von Drogen das erfolg- reichste Instrument in der Bekämpfung der Drogen (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Jürgen ist und daß man eben gegen Warnung und Aufklä- Rüttgers [CDU/CSU]: Sie haben recht!) rung — — Sie haben eine neue Arbeitsorganisation vorge- schlagen. Die kann die Politik der Wirtschaft nicht (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wer bestreitet vorgeben. Sie haben davon gesprochen, die Versiche- denn das?) rungsbeiträge zu senken, was natürlich heißt, Steuern — Dann dürfen Sie den Drogenkonsum nicht freige- entsprechend zu erhöhen. Das ist kein geeignetes ben. Genau das ist der Punkt. Mittel, um die wirtschaftliche Lage zu verbessern. Im übrigen haben Sie am Schluß gesagt, das Tempo der (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Tut doch kei- Zunahme der Staatsverschuldung sei besorgniserre- ner!) gend, was eine nicht sehr gute Begründung dafür ist, Da genau handeln Sie gegenläufig. Deswegen warum Sie unsere Sparvorschläge ablehnen. Das eine bestreiten Sie es. geht nicht mit dem anderen zusammen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ich finde, Sie haben in Ihrer Oppositionstrategie ein ordneten der F.D.P.) merkwürdiges Dreieck. Sie sagen: Die Steuern sind zu hoch, die Verschuldung ist zu hoch, und die Ausga- Im übrigen: Indem Sie Massendelikte entkriminali- benkürzungen lehnen wir ab. Das geht auch mit sieren wollen, leisten Sie dem Rechtsbewußtsein auch 13 Jahren in sozialdemokratischer Gesamtschule keinen guten Dienst. nicht zusammen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und ordneten der F.D.P.) der F.D.P. — Dr. Wolfg ang Weng [Gerlingen] Wenn der Staat vor dem Verbrechen kapituliert, wenn [F.D.P.]: Das reicht nicht einmal zum Geld er sagt, wir können es strafrechtlich nicht mehr-drucken!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16583

Dr. Wolfgang Schäuble Es hilft doch gar nichts: Wir haben einen ungewöhn- Gelegenheit Ihre Mehrheit im Bundesrat dazu ausnut- lich engen Spielraum für unsere Finanz- und Haus- zen, weitere Forderungen zugunsten der Länder haltspolitik. Der Kollege Roth und der Bundesfinanz- durchzusetzen, die nun wirklich besser dastehen als minister haben es ja gestern beschrieben. Es hat doch der Bund insgesamt. gar keinen Sinn, darüber hinwegzureden. Es hat (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) keinen Sinn, die Lage schönzureden. Die Lage ist ungewöhnlich ernst, und die Anforderungen und Ich gebe zu: Manchmal ziehen die Landespolitiker da Anspannungen sind ungewöhnlich groß. Niemand an einem Strang, egal welches Parteibuch der jewei- kann Freude daran haben, daß wir mit so schmerzhaf- lige Repräsentant in seiner Jackentasche trägt. Inso- ten Spareingriffen die Neuverschuldung im Haushalt weit spreche ich Sie jetzt auch als Vorsitzenden der 1994 dennoch nur auf 70 Milliarden DM — man wagt Ministerpräsidentenkonferenz an. es ja kaum auszusprechen — begrenzen konnten, was zu hoch ist und was einen doch hindern muß, Spar- Sachverständigenrat, Bundesbank und alle wirt- vorschläge abzulehnen und gleichzeitig noch zusätz- schafts- und finanzwissenschaftlichen Institute haben liche Ausgabenforderungen zu stellen. klar erklärt, daß die Konsolidierungsanstrengungen beim Bund weitergetrieben sind als bei Ländern und (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Gemeinden, daß die Länder bei der Verteilung des Und zwar jede Menge!) gesamtstaatlichen Steueraufkommens sehr viel bes- ser behandelt werden als der Bund. Deswegen sollte Wir haben eine zu hohe Steuer- und Abgabenbela- der Versuch aufgegeben werden, zu Lasten des Bun- stung. Weil diese Steuer- und Abgabenbelastung des weitere Vorteile für die Länder durch die Bundes- insgesamt zu hoch ist, ist es Gift für wirtschaftliches ratsmehrheit herauszupressen. Ich will das mit allem Wachstum und Beschäftigung, wenn jetzt weitere Ernst sagen. Steuererhöhungen gefordert werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wir Das kann man nicht unter dem Stichwort einer sozia- machen das auch nicht mehr mit!) len Verteilung kaschieren. Ich glaube, der entscheidende Unterschied zwi- (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Sie erhöhen doch schen den Sozialdemokraten und uns ist: Sie glauben selber Steuern und Beiträge! Gegen wen noch immer an die Planbarkeit wirtschaftlicher Pro- fechten Sie denn?) - zesse durch den Staat und die Politik. — Herr Kollege Klose, das ist wahr. Aber wir beide (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) sinken in unserem Dialog normalerweise nicht auf das Sie vertrauen nicht auf den Markt. Niveau einer solchen Argumentation ab. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Alte Klamot Ich bestreite ja gar nicht — ich sage das noch ten holen Sie hier heraus! — Weiterer Zuruf einmal —: Die Neuverschuldung ist eher zu hoch. Die von der SPD: Das ist doch unter Ihrem Steuer- und Abgabenbelastung ist zu hoch. Niveau!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die höchste in — Lassen Sie mich doch einmal zwei Sätze in einem dieser Republik! Durch Sie!) Stück sagen. — Ja, Frau Matthäus-Maier. Aber Sie fordern weitere (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Allein auf den Steuern. Wir sagen: Wir haben bis an die Grenze Markt kann man auch nicht vertrauen!) dessen, was überhaupt noch verantwortbar und erträglich ist, Steuern und Abgaben erhöhen müssen. — Sehen Sie! Sie forde rn, wenn eine Stahlkrise Das Schlimme ist nur: Sie fordern weitere Steuererhö- herrscht, eine nationale Stahlkonferenz. Wenn wir hungen. Das ist das Schlimme, und dagegen wehre ich Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben, fordern Sie mich. einen Beschäftigungspakt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Im übrigen: Die ganze Rede von Herrn Scharping, soweit sie überhaupt sachlich einschlägig war, Herr Lafontaine hat auf dem Parteitag gesagt — ich bestand aus Forderungen an die Politik. kann das genau vorlesen; ich habe es dabei —: Wir müssen ganz massiv in konsumtive Ausgaben ein- (Zuruf von der CDU/CSU: An den Staat, schneiden, aber erst, wenn die Konjunktur wieder ja!) besser ist. — Er hat natürlich in Wahrheit gemeint: Wir In Wahrheit müssen wir die Wachstumskräfte der sagen erst nach den Wahlen, wo. Das hat er wohl Wirtschaft stärken, das heißt, die Freiräume für den gemeint. privaten Bereich von Angebot und Nachfrage verbrei- Aber ich sage Ihnen: Wir müssen, wenn die Kon- tern, die bei der zu hohen Steuer- und Abgabenquote junktur, wenn die Wirtschaftslage besser werden soll, zu eng geworden sind. den Kurs der Konsolidierung, den wir mit dem Haus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) halt 1994 beschreiten, durchsetzen und durchhalten. Deswegen werbe ich so sehr dafür, daß Sie im Das ist unser fundamental anderer Ansatz. Wenn Sie Bundestag nicht dagegenstimmen und daß Sie uns vor diesen Fehler weiterbegehen, dann werden Sie kei- allen Dingen im Bundesrat, Herr Ministerpräsident nen Zugang zu einer rational begründeten Wirt- Scharping, nicht blockieren, daß Sie nicht bei jeder schafts- und Finanzpolitik finden. 16584 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Wolfgang Schäuble Der Standort Deutschland ist im europäischen wie blik Deutschland nach wie vor völlig unverantwort- im weltweiten Wettbewerb schwächer geworden. Das lich. ist doch keine Frage. Es hat doch keinen Sinn, wenn man sich gegenseitig die Schuld zuweist oder wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) man sagt, wann und wie das entstanden ist. Die Wenn Sie in den Formulierungen Ihres Parteitags Ursachen haben sich in Jahrzehnten langsam ange- zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, für sammelt. Durch die besonderen Belastungen nach der die auch Sie inzwischen endlich eintreten, sagen, was deutschen Einheit und in einer aktuellen Konjunktur- dabei alles nicht berührt werden darf, dann sage ich krise der Weltwirtschaft insgesamt werden die struk- Ihnen voraus: Da geben Sie Steine statt Brot; da turellen Probleme, die in Jahrzehnten entstanden werden die Genehmigungsverfahren weiterhin so sind, wie in einem Brennglas deutlicher sichtbar. lange dauern. Sie bestehen darin, daß wir im Vergleich zu anderen Wenn wir Freiräume für p rivates Wachstum schaf- nicht nur höhere Lohn- und Lohnnebenkosten haben. fen wollen, dann ist der Weg der Privatisierung Wir wollen nicht auf das Niveau der Tschechischen richtig. Deswegen sollten Sie die Bahnreform nicht oder der Slowakischen Republik zurück. Wir wollen, länger blockieren und uns eine Postreform ermögli- daß sie möglichst rasch in die Nähe unseres wirtschaft- chen. lichen und sozialen Wohlstands kommen können. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Wir brauchen Sie ja zur Grundgesetzänderung. Wir haben also nicht nur höhere Lohn- und Lohnne- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Der Bahnreform benkosten. Auch unser Management ist nicht mehr so haben wir zugestimmt!) toll, wie uns die Größen der Wirtschaft, die über die Politik herziehen, immer gesagt haben. Ich sage — Nein, Sie haben da noch nicht zugestimmt, Frau deswegen nicht, daß wir besser sind; aber die sind Fuchs. leider auch nicht besser. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Stoiber hat nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Peter zugestimmt! Bei der Bahn haben wir gestern Conradi [SPD]: Dem ist lebhaft zuzustim- zugestimmt!) men!) — Na gut, wunderbar. Dann hoffe ich, daß wir da Wir sind aber z. B. bei den Energiepreisen teurer als zügig vorankommen. viele andere europäische Länder. Unsere Genehmi- Wir müssen dann noch bei der Postreform erreichen, gungsverfahren sind länger, schwerfälliger, kompli- daß wir auf dem Wachstumsmarkt der Kommunika- zierter, weniger kalkulierbar und damit im Ergebnis tionsindustrie im Zusammenwirken von Telekom und teurer als die in anderen Ländern. Warum werden großen, mittleren und kleinen Unternehmen der elek- denn zunehmend nicht nur Produktionsstätten, son- tronischen und Elektroindustrie eine bessere Chance dern auch Forschungsstandorte aus Deutschl and her- haben, Wachstumspotentiale für die deutsche Wirt- aus verlagert? Warum finden Absolventen eines Che- schaft zu erschließen. Das wird aber ohne eine wirk- miestudiums in Deutschland kaum noch einen quali- liche Privatisierung im Bereich der Post nicht möglich fizierten Arbeitsplatz? sein. Mit dem Postmonopol ist in dem sich schnell Wenn wir jetzt selbstkritisch fragen, was Politik zu verändernden größten Wachstumsmarkt nichts zu diesen Entwicklungen beigetragen hat, dann, Herr holen. Ministerpräsident Scharping, wird doch nicht zu Deswegen brauchen wir eben viel mehr Privatisie- bestreiten sein, daß das Nachgeben oder das Schüren rungen. Ich würde mir wünschen, daß Lander und oder das Ausbeuten von existentiellen Ängsten, das Gemeinden ihre Privatisierungspotentiale in der Ent- im Zeichen von Rot-grün mit vielen Entwicklungen sorgungswirtschaft, in der Energiewirtschaft und in moderner Wissenschaft und Technik in den letzten vielen anderen Bereichen erschließen. Ich bin davon Jahren und Jahrzehnten betrieben worden ist, natür- überzeugt, daß wir auch beim Bundesfernstraßenbau lich einer der Gründe ist, warum der Standort nicht ohne Privatisierungselemente werden auskom- Deutschland im wirtschaftlichen Wettbewerb schwä- men können, cher geworden ist und warum die Genehmigungsver- fahren bei uns länger dauern und teurer sind. (Zustimmung des Abg. [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) weil wir eben wissen, daß die Regelungsmechanis- Wenn wir das ändern wollen, dann müssen wir uns zur men von Angebot und Nachfrage sehr viel effizienter, Modernisierung, zum Fortschritt von Wissenschaft sehr viel kostengünstiger, sehr viel markt- und kun- und Technik, zu ihrer Anwendung und Umsetzung dennäher reagieren können als öffentliche Daseins- und auch zu moderner Forschung bekennen. vorsorge durch öffentliche Verwaltung, die eher inef- Zum Glück ist es gestern im Vermittlungsausschuß, fizient, schwerfällig und zu teuer ist. wenn ich richtig unterrichtet bin, im Zusammenhang (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ mit dem Einspruch des Bundesrats zur Novellierung CSU) des Gentechnikgesetzes zu einer Einigung gekom- men, die die Sache nicht wesentlich verschlechtert Das wissen wir aus vielen Bereichen. Das ist die hat. entscheidende Frage! Ihre Haltung in der Energiepolitik ist allerdings Die andere Frage, die mit dem Standort Deutsch- angesichts der Probleme des Standorts Bundesrepu- land zu tun hat, be trifft die Motivation der Menschen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16585

Dr. Wolfgang Schäuble der einkommensstärkeren wie der einkommens- Beschäftigten zu entlassen, kürzen wir für alle die schwächeren. Aber daß Eigenverantwortung und Lei- Arbeitszeit entsprechend anteilig. stungsbereitschaft die entscheidende Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie sind doch sind, das kann man durch keine Sozialverteilungsdis- für Teilzeitarbeit?) kussion beiseite schieben. —Ja, natürlich, das sage ich ja. Es wird niemand etwas (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Gegen wen reden dagegen haben, nur müssen dann die Löhne entspre- Sie eigentlich! — Weiterer Zuruf von der chend gekürzt werden. Herr Scharping hat aber mit SPD: Sie führen mit sich selber Dialoge!) Betonung gesagt, es könne natürlich nicht mit vollem Lohnausgleich gehen. Meine Damen und Herren, es — Verzeihen Sie, wir reden darüber, daß Sie uns mit kann auch nicht mit teilweisem Lohnausgleich zu demagogischen Argumenten angreifen, weil wir in Lasten der öffentlichen Kassen gehen. einer Zeit, in der die Realeinkommen der Arbeitneh- mer nicht mehr steigen können, natürlich auch die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Transferleistungen nicht real steigen lassen können. Das haben Sie in diesen Tagen mit demagogischen Wenn wir und solange wir — und das ist der Punkt, Argumenten angegriffen. Ich fürchte — die Woche ist warum es für den Standort Deutschl and und damit für noch nicht zu Ende —, Sie werden das noch fortsetzen. die Chancen für wirtschaftliches Wachstum und Und das ist falsch! Beschäftigung so gefährlich ist — weiterhin so reden, als sei nicht der einzelne in erster Linie selbst dafür Wenn Menschen in dem Fall, daß sie arbeiten — und verantwortlich, daß er einen Arbeitsplatz findet, und sei es Teilzeitarbeit oder saisonale Arbeit —, nicht ein als seien nicht in erster Linie die Tarifpartner verant- höheres Einkommen haben, als wenn sie nicht arbei- wortlich, werden wir weiterhin dem Zustand Vor- ten, dann wird die Mo tivation für Arbeit weiter mit schub leisten, daß insbesondere die Tarifpartner in Füßen getreten, und der wirtschaft liche Wohlstand ihrer Verantwortung nicht hinreichend die beschäfti- leidet Not. gungspolitischen Notwendigkeiten bedenken. Und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) das ist genau der falsche Weg. Wer immer a lles beim Staat und bei der Politik festmacht, der leistet einem Darauf müssen wir unsere Transfersysteme einrich- Denken Vorschub, das eben nicht hinreichend die ten. Wir haben erste Schritte eingeleitet, die in diese Eigenverantwortung in Anspruch nimmt, und kommt Richtung gehen, und die kann man nicht in der Art, zu einer Beschreibung der sozialen und wirtschaftli- wie Sie, Herr Scharping, es hier zu tun versucht haben, chen Lage in Deutschland, wie sie Herrn Scharping wegwischen und beiseite wischen, wenn man den etwas einseitig geraten ist. Standort Deutschland nicht weiter schlechterreden will. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) Wir haben ja auch nicht eine bestimmte Menge Niemand kann bestreiten, daß es soziale Not in Arbeit. Wenn ich Herrn Scharping und andere So- Deutschland gibt. Niemand kann leicht über das zialdemokraten von der „intelligenteren Verteilung Schicksal der Arbeitslosen und ihrer Familien hin- von Arbeit" reden höre, dann denke ich immer: Aha, weggehen. Aber zu einer wahrhaftigen Beschreibung die haben die Vorstellung, daß das definiert ist — er der Lage in Deutschl and insgesamt gehört eben schon hat ja sogar gesagt, wieviel Millionen Arbeitsstunden auch, daß eine große Zeitung in diesen Tagen das sind — und daß es unveränderlich ist. geschrieben hat, der Notstand sei ausgebrochen, weil In Wahrheit entsteht aber die Nachfrage nach über Weihnachten alle Flugreisen ausgebucht seien. bezahlter Arbeit und damit die Beschäftigung für Und zur Beschreibung der Lage in Deutschl and gehört Menschen eben auch, daß Sie in Westdeutschland und in Ost- deutschland für Bauhaupt- und Baunebengewerbe (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Durch An- keine Arbeitskräfte finden, gebot und Nachfrage!) (Zustimmung bei der CDU/CSU) durch den Austauschprozeß von Angebot und Nach- frage auf dem Arbeitsmarkt. Das hat auch mit dem in Baden-Württemberg nicht und in Mecklenburg- Preis zu tun, und es ist ein dynamischer Prozeß. Vorpommern nicht. Bei einer Arbeitslosenzahl von (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ja!) vier Millionen ist das nicht erklärbar. Und wenn wir weder in der Landwirtschaft noch im gastronomischen Wenn Arbeit immer teurer wird, weil m an sie anders Gewerbe Arbeitskräfte finden, verteilt, dann entstehen daraus nicht mehr Arbeits- plätze, sondern weniger, weil insgesamt die Nach- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) frage nach immer teurer werdender Arbeit zurück- geht. wenn Unternehmen im Bauhandwerk Beschäftigte aus Ungarn nicht mehr beschäftigen können und Herr Scharping, dann haben Sie davon gesprochen sagen, dann gehen wir nach Irland, das liegt innerhalb — das war auch so eine gefährliche Formulierung —, der EG, und holen dort Beschäftigte, weil wir deutsche wie intelligent und verantwortungsbewußt die Über- Arbeitskräfte nicht finden, dann ist doch in Deutsch- legungen beim Volkswagenwerk seien. Meine land etwas nicht in Ordnung, und das ist mit der Damen und Herren, niemand wird sich dagegen Diskussion von Herrn Scharping nicht erledigt. wenden, wenn Arbeitgeber und Belegschaft in einem Unternehmen sagen: Statt eine größere Zahl von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 16586 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Wolfgang Schäuble Und deswegen sage ich, daß der entscheidende stimme Herrn Scharping zu, daß deren Beitrag größer Punkt — — sein könnte und sein müßte, als er bisher gewesen (Peter Conradi [SPD]: Wer regiert denn seit ist. elf Jahren?) (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) — Ja, Herr Conradi, wer regiert? Es regiert der Ich habe von dieser Stelle aus und im anderen Bundeskanzler Helmut Kohl mit seiner Regierung, die Plenarsaal oft gesagt, daß die Eliten in unserem Lande von der Koalition von CDU/CSU und F.D.P. ge tragen eine herausgehobene Verantwortung wahrnehmen wird. und einen entsprechenden Einsatz leisten müssen. Sie müssen auch versuchen, Vorbild zu sein. (Peter Conradi [SPD]: Das war mir be- kannt! ) Aber nicht nur die Eliten sind gefordert, sondern jeder einzelne ist für sich und unsere Gemeinschaft — Ja, dann fragen Sie doch nicht, wenn Ihnen das bekannt ist; dann stellen Sie doch keine solchen ein ganzes Stück weit mitverantwortlich. Ich sage Fragen! noch einmal: Das Beispiel, daß wir in der ganzen Bauwirtschaft bei einer Arbeitslosigkeit von über (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) 4 Millionen keine deutschen Arbeitskräfte finden, Wir tun alles dafür, daß es dabei auch bleibt. zeigt, daß jeder für sich ein Stück weit umdenken muß. Wir machen in unseren politischen Diskussionen (Zurufe von der SPD) einen großen Fehler mit verhängnisvollen Folgen, — Jetzt lassen wir sie mal wieder schreien, zwischen- wenn wir die Diskussion so führen, wie Herr Schar- durch brauchen sie eine Pause, und mir tut es auch ping es hier getan hat, nämlich als sei nicht jeder gut. Die Mikrofonanlage ist so, daß man, wenn man einzelne ein Stück weit verantwortlich, sondern nur gestört wird, ziemlich laut reden muß. Das wissen Sie die Regierung. Damit schaffen wir nämlich nicht nur ja alle, und deswegen machen Sie es ja auch. Deswe- ein Alibi für eigene Verantwortungslosigkeit, sondern gen muß ich mich zwischendurch mal erholen; das wir leisten Widerstand gegen die Notwendigkeit des macht aber nichts. Umdenkens. Es muß aber in unserem Lande mehr umgedacht werden. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ich habe nachgelesen, wie oft Sie mich bei meiner (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Rede gestört haben, Herr Kollege! — Weitere Zurufe von der SPD) Ich bleibe dabei: Wir werden in unserem Lande eine gute Zukunft nur haben, wenn wir uns der Grundla- — Wann haben Sie denn geredet? gen unserer Gemeinschaft sicherer werden, wenn wir (Weitere Zurufe von der SPD — Glocke des die nationale Gemeinschaft stärken auf dem unum- Präsidenten) kehrbaren Weg zur europäischen Einigung, wenn wir die grundlegenden Normen, die unsere Freiheitsord- — Lassen Sie uns mit so billigen Mätzchen doch nicht nung prägen, bewahren und erhalten, wenn wir vom Ernst des Themas ablenken. wissen, daß ohne Leistungsbereitschaft, Fleiß und Die Tatsache, daß unser Land in Schwierigkeiten Eigenverantwortung wirtschaftlicher Wohlstand nicht ist, was die Bewahrung von Frieden und Freiheit für zu erzielen ist, ob das nun Sekundärtugenden sind die Zukunft betrifft — was uns mehr fordert als in der oder nicht. Herr Lafontaine redet jetzt immerhin schon Vergangenheit —, was die innere Sicherheit, die wieder davon, daß man die Treppe kehren muß. Das Kriminalitätsbekämpfung, die Stabilität unseres de- ist wenigstens ein Beweis dafür, daß er offenbar zu mokratischen Rechtsstaats, die wirtschaftliche Ent- gewissen Sekundärtugenden zurückkehrt, seit er 50 wicklung, die soziale Lage und die Perspektiven des geworden ist. Arbeitsmarktes be trifft, kann man doch gar nicht bestreiten. Das sollte man auch nicht tun. Diese (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ja, jedes Alter hat Schwierigkeiten sind nicht allein durch die Politik zu seine Weisheit!) beseitigen, selbst dann nicht, wenn — was wir nicht Aber das ist nicht so entscheidend. gern möchten und wofür wir alles tun, um es zu verhindern — Sie regieren sollten. Auch Sie könnten Wir müssen uns, wenn wir uns mit wenigen und es nicht ändern, weil es in der freiheitlichen Demokra- teuren Vorkommen an Rohstoffen und Energie an der tie und der Sozialen Marktwirtschaft nicht allein Spitze der Wohlstandspyramide in der Welt und im Aufgabe der Politik ist. Wir sind weder für alle guten europäischen Vergleich halten wollen, zur Moderni- Dinge noch für alle Fehlentwicklungen allein verant- sierung unserer Wirtschaft und unserer Produktion wortlich. bekennen. Wir brauchen eine andere Einstellung zur (Zustimmung bei der CDU/CSU) Technik und eine Bekämpfung der Ängste, die mit den Innovationen moderner Technik durchaus ver- Ich sage noch einmal: Es hat sich in unserem Lande bunden sind, eine Stärkung p rivater Freiräume, mehr — vielleicht zum größten Teil als Folge einer langen Privatisierung und eine Zurückdrängung des zu Wohlstandsperiode — m anches eingeschliffen, was hypertroph gewordenen Anteils kollektiver Systeme, wir jetzt in Zeiten größerer Herausforderungen korri- die unsere wirtschaftliche Dynamik zunehmend läh- gieren müssen. Deswegen ist die vom Bundeskanzler men. und der Bundesregierung eingeleitete Debatte über den Standort Deutschland richtig und notwendig. Es (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist wieder so muß einen Prozeß des Umdenkens bei allen geben, so ein Satz! — Weiterer Zuruf von der SPD: Eine auch bei den Eliten in Wirtschaft und Gesellschaft. Ich Wolke!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16587

Dr. Wolfgang Schäuble — Dann unterscheidet uns dies, Frau Fuchs. Dann Erstens. Ausbau und Vertiefung der europäischen wollen wir festhalten, daß Sie weiterhin darauf ver- Einigung bestimmen die Grundrichtung unserer trauen, daß uns die großen Kollektive wirtschaftlichen Außenpolitik. Wer einen Gegensatz zwischen den Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum bringen deutschen Interessen und Europa zu konstruieren werden. sucht, geht, wie ich meine, vor allem an drei Grund- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wer behauptet tatsachen vorbei. das denn?) 1. Als Land im Herzen des Kontinents mit mehr — Sie mit Ihrem Zwischenruf. Nachbarn als jedes andere europäische Land sind unsere Interessen mit denen unserer Nachbarn (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Quatsch!) zwangsläufig verflochten. Wir müssen immer wieder Ich sage Ihnen: Mit den Dinosauriern der großen gerade auf diese Verflechtung hinweisen. Im Allein- Kollektive werden Sie wirtschaftliches Wachstum gang werden wir überhaupt nichts erreichen, sondern nicht erzielen, Wohlstand nicht erhalten und die nur altes Mißtrauen neu beleben. soziale Sicherheit verspielen. 2. Die Einheit Deutschlands — sicherlich das höch- (Beifall bei der CDU/CSU) ste nationale Ziel, das wir hatten — wäre ohne die Deswegen sage ich Ihnen, daß eine Politik, die auf konsequente europäische Politik der vorangegange- Wachstum und Dynamik, auf Eigenverantwortung nen Jahrzehnte nicht denkbar gewesen. und Solidarität setzt, eine Politik auch für soziale (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Gerechtigkeit ist. Dafür wird diese Koalition weiterhin ten der CDU/CSU) arbeiten. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — 3. Man sollte auch deutlich und klar sagen: Wer Beifall bei der F.D.P.) eigene Interessen durchsetzen will — und das wollen wir ja —, muß die der anderen auch berücksichtigen. Wer hieran rüttelt, rüttelt an den Grundfesten der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort europäischen Friedens-, Stabilitäts- und Wohlstands- hat nunmehr der Bundesminister des Auswärtigen, gemeinschaft. Dr. Klaus Kinkel. An anderen Stellen in Europa toben barbarische Konflikte um nationalistische Ziele. Noch sind keine 50 Jahre vergangen, seit der Krieg — übrigens durch Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: - uns entfacht — auch diesen Teil Europas verwüstet Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will die hat. Dieser Hintergrund verdeutlicht, was es heißt, Blicke auf die Außenpolitik richten — wesentlich wenn wir heute mit gutem Grund sagen können: Gegenstand auch dieses Haushalts und für dieses Krieg ist jedenfalls unter den Mitgliedern der Euro- Land ja nicht ganz unwichtig. päischen Union nicht mehr vorstellbar. Meine Damen und Herren, kein anderes Land hat so viel vom Fortfall des Ost-West-Gegensatzes profitiert (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) wie Deutschland. 1990 hat sozusagen eine neue Zeit Ist uns eigentlich bewußt, wie sensationell diese begonnen. Mit dem Ende des Kalten Krieges leben wir Feststellung allein angesichts von Vergangenheit und in einer erneuten Nachkriegszeit. Die Welt ist leider Gegenwart ist? Ist uns allen bewußt, was es hieße, nicht friedlicher geworden, und die Aufgaben, die sich diese Union sozusagen wieder auf einen jederzeit heute der Außenpolitik stellen, sind nicht geringer als kündbaren Verein reduzieren zu wollen? Nein, das die vor einer Generation. Nach dem Kalten Krieg muß wollen wir nicht. die Völkergemeinschaft mit anderen Konflikten fertig werden, um heute eine solide Friedensarchitektur in (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Europa für die Welt aufzubauen. Es ist keine geringere ten der CDU/CSU) Aufgabe als nach dem Zweiten Weltkrieg, Strukturen Was dieses Europa anbelangt, müssen wir jetzt nach ganz speziell europäischer Sicherheit zu schaffen. vorn denken und die nächsten Aufgaben ins Auge Es gibt aber auch einige erfreuliche Entwicklungen; fassen, die vor dem Europäischen Rat im Dezember darauf sollte man hinweisen. Die Überwindung der liegen. Diese Aufgaben sind: antagonistischen Blöcke hat auch außerhalb Europas 1. Die Europäische Union muß neue Wachstumsim- neue Lösungsmöglichkeiten für alte Krisen geöffnet. pulse freisetzen, und Europa muß — das ist heute Im Nahen Osten können und müssen wir den hoff- schon wiederholt gesagt worden — wieder an die nungsvollen Friedensansatz mit allen Kräften unter- Spitze der technologischen Entwicklungen rücken. stützen. Im südlichen Afrika, wo ebenfalls eine erfreu- liche Entwicklung eingetreten ist, fördern wir zusam- Im Bereich der Europäischen Union sind 17 Millio- men mit unseren Partnern den neuen innenpolitischen nen Menschen ohne Arbeit. Vorhandene Arbeit Reformprozeß und hoffen auf freie Wahlen im näch- gerechter zu verteilen oder weniger zu arbeiten kann sten Jahr, auch darauf, daß Gewalt und Apartheid eben nur eine vorübergehende, keine dauernde endgültig ein Ende haben. Abhilfe sein. Wir brauchen neue, rentable, produktive Arbeitsplätze. Und Strukturkrisen überwindet m an, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- indem man die Strukturen verändert. Natürlich muß ten der CDU/CSU) ein solcher Strukturwandel sozialverträglich sein und Die Herausforderungen für die deutsche Außenpo- bleiben. Wo wir aber Altes subventionieren, geht dies litik sind vielfältig. Worauf müssen wir uns insbeson- zu Lasten des Neuen. Wo wir im Besitzstandsdenken dere konzentrieren? der Vergangenheit verharren, vertun wir — das muß 16588 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel deutlich gesagt werden — die Chancen der 5. Den weiteren Ausbau der Europäischen Union Zukunft. müssen wir in der Perspektive der bevorstehenden Erweiterungen gestalten. In gut einem Jahr — ich 2. Wir werden als Deutsche in Brüssel ganz beson- hoffe, daß vor unserer Präsidentschaft die griechische ders stark darauf hinwirken müssen, daß eine konse- Präsidentschaft die Erweiterungsverhandlungen quente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips statt- möglichst weit vorantreibt — wollen wir die vier findet. Es ist nun einmal so, daß überflüssige Regelun- EFTA-Länder in die Gemeinschaft aufnehmen. gen Initiativen verhindern und Kosten erhöhen. Das Danach muß die Revisionskonferenz 1996 genutzt Dickicht der europäischen Regelungen muß durchfor- werden, um die Union institutionell zu stärken. stet, totes Unterholz muß insoweit beseitigt werden. Es darf eben keine Europäische Union geben, die (Beifall bei der F.D.P.) sich als Wohlstandsclub abkapselt. Die gleichen Es muß aber auch darauf hingewiesen werden, daß Gründe, die vor 40 Jahren für die Gründung der vieles von dem, was aus Europa kommt, von hier aus, Europäischen Gemeinschaft sprachen, sprechen jetzt gerade aus der Bundesrepublik, angeregt worden ist. für ihre Erweiterung: Erstens. Kein L and muß so stark Es sieht immer so aus, als käme alles aus der Kommis- wie Deutschland bestrebt sein, den sogenannten sion. Wahnsinnig viel von dem, was auch an nicht Westen so weit und so rasch wie möglich nach Osten Notwendigem in Brüssel geregelt worden ist, kommt aszuweiten. aus der Bundesrepublik, aus Forderungen, die wir erhoben haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Was die Dieses Ziel gewinnt an Gewicht, wenn wir sehen, daß Regierung hier nicht durchsetzen kann, sich in Nordamerika und im Pazifikbecken mit der macht sie dann in Brüssel!) NAFTA und der APEC — siehe die letzten Abschlüsse bzw. Konferenzen — neue, ungeheuer leistungsfä- 3. Die beiden neuen Pfeiler der Europäischen hige, Europa viel Konkurrenz bringende Wirtschafts- Union, die im Vertrag von Maast richt vorgesehen räume gebildet haben. Auf diese Konkurrenz müssen sind, müssen zügig aufgebaut werden. Wir wollen wir uns in besonderem Maße vorbereiten. eben ein Europa der Bürger und nicht ein Europa der Mafia, wie es manchmal leider den Anschein zu haben Zweitens. Deutschland muß sich in besonderer scheint. Weise als Anwalt seiner östlichen Nachbarn und Partner verstehen. Es ist eine ganz neue, gigantische Natürlich darf auch Europa nicht in außenpolitische und für uns ungeheuer wichtige Aufgabe, Partner und Egoismen zurückfallen. Anwalt der Umbruchländer in Mittel- und Osteuropa (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- zu werden, in der politischen, wirtschaftlichen und ten der CDU/CSU — Dr. Hermann Otto sicherheitsmäßigen Heranführung an Europa. Solms [F.D.P.]: Sehr richtig!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Wir brauchen eine außenpolitisch handlungsfähige sowie bei Abgeordneten der SPD) Union und damit natürlich eine gemeinsame Außen- Gerade wegen unserer Vergangenheit, als Haupt- politik. Mit den Initiativen zum früheren Jugoslawien, profiteure der Umbrüche der letzten Jahre und wegen der Balladur-Initiative und der Entsendung von Wahl- unserer geographischen Lage, unserer Größe und beobachtern nach Rußland haben wir erste gemein- unserer Wirtschaftskraft sind wir verpflichtet, diese same Felder — wie im Maast richter Vertrag festge- Länder an Europa heranzuführen, sie zu integrieren. legt — für die europäische Außenpolitik gefunden. Wir sind besonders daran interessiert, ihre innere Wir haben als gemeinsame Aktionen auch vorgese- Stabilität zu gewährleisten, ihre wirtschaftliche hen, die erfreulichen Entwicklungen zu verfolgen, die Gesundung und ihre äußere Sicherheit mit zu garan- ich vorhin angedeutet habe, d. h. die Entwicklungen tieren. Wir können uns gegenüber unseren östlichen im Nahen Osten und im südlichen Afrika. Wenn dort Nachbarn — unsere einzigartigen Erfahrungen beim die Wahlen am 27. April nächsten Jahres hoffentlich Umbau in den neuen Bundesländern, bei den sozialen gut verlaufen, haben wir Europäer vor, durch eine Komponenten der Marktwirtschaft, auf allen anderen europäische regionale SADC-Konferenz mit Süd- Gebieten einbringend — wirklich helfend betätigen. afrika und der umliegenden Region zu zeigen, daß wir Es kann und darf nicht richtig sein, diese Länder über das belohnen wollen, was im südlichen Afrika und in Jahrzehnte nur aufgefordert zu haben, ja, sie dringend der Region geschehen ist, und daß wir uns dafür gebeten zu haben, sich vom kommunistischen System einsetzen, daß dort wirklich demokratische Struktu- freizumachen und sich unserem freiheitlichen, westli- ren unumkehrbar geschaffen werden. chen System anzuschließen. Nun haben sie es getan; jetzt dürfen wir sie nicht im Stich lassen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 4. Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion Wir müssen deutlich und klar sagen: Ohne die muß zügig Schritt für Schritt gegangen werden. Wir Einbeziehung der östlichen Hälfte bliebe Europa ein dürfen nicht vergessen: In gut einem Monat, am Torso. Der harte Aufeinanderprall von Arm und Reich, 1. Januar 1994, treten wir in die zweite Stufe der wie wir ihn gegenwärtig noch mitten in Europa Wirtschafts- und Währungsunion ein. Damit gelten für erleben, würde wieder — machen wir uns da nichts alle Mitgliedstaaten, natürlich auch für uns, beson- vor — auf Dauer zwangsläufig zu Spannungen führen dere Verpflichtungen zur Haushaltsdisziplin. müssen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16589

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Mit Privatisierung und politischem Pluralismus einreißen konnten, nicht an anderer Stelle in Europa allein ist es nicht getan. Jahrzehntelange Isolation und neu errichten. Indoktrination haben geistige und kulturelle Folgen hinterlassen, die oft schwieriger zu beheben sind als (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) alles andere. Im Augenblick haben wir diesen Län- Deshalb müssen natürlich auch die GUS-Staaten, dern gegenüber gerade auf kulturellem Gebiet eine insbesondere Rußland und die Ukraine, in diese riesige Chance. Es sollte uns wirklich zu denken Partnerschaft — nicht auf dieselbe Art und Weise, aber geben — ich sehe ein, daß es leider Gottes nicht anders doch durch Vereinbarungen anderer Art — einbezo- geht —, daß wir ausgerechnet im kulturellen Teil des gen werden. Haushalts des Auswärtigen Amtes streichen müssen. Die Chance, die wir als Buchnation im Augenblick für Auch in der WEU brauchen wir eine neue Vernet- unsere Sprache und auch sonst auf kulturellem Gebiet zung. Bei den trilateralen Gesprächen, die wir vor- durch die Öffnung hin zu diesen Ländern haben, ist so letzte Woche zusammen mit den Franzosen in Polen gewaltig, daß wir sie uns nicht entgehen lassen hatten, haben der französische Außenminister Main dürfen. Juppé und ich angeregt, ob man nicht an eine Asso- ziationspartnerschaft der Visegrad-Länder zunächst (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gegenüber der WEU denken könnte. Bitte helfen Sie mit, daß wir diese Chance wahrneh- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der men! CDU/CSU) Polen, die Tschechische Republik und Ungarn Wir haben das am vergangenen Montag bei der befinden sich bereits in einer wirtschaftlichen Konso- WEU-Ministerratstagung angeregt. Das ist nicht lidierungsphase. Dies gilt auch für die anderen Län- unproblematisch — ich weiß das sehr wohl —, auch der, für diese genannten etwas mehr. Polen wird in nicht unumstritten. Aber wir haben immerhin erreicht, diesem Jahr mit mehr als 4 % voraussichtlich die daß vorgesehen ist, das innerhalb der WEU zu über- höchste Wachstumsrate in ganz Europa aufweisen. legen. Es wäre ein weiterer Vernetzungsakt im Handel und Marktzugang werden für diese L ander Sicherheitsbedürfnis dieser Länder. entscheidender als Hilfe. Über die Kombination von Ich kann Ihnen nur sagen, dieses Sicherheitsbe- westlicher Technologie und östlichen Kostenvorteilen dürfnis ist gewaltig. Ich habe in den letzten Tagen kann sich eine Wirtschaftsdynamik entfalten, die mehrere Gespräche mit verantwortlichen Politikern jener in Ostasien im Grunde nicht nachzustehen aus diesen Ländern gehabt. Sie haben Angst und braucht. Freilich wird eine solche Dynamik den vor- sagen mit aller Deutlichkeit: Wir haben die revolutio- handenen Umstellungsdruck bei uns zunächst weiter nären Umbrüche herbeigeführt. Wir haben gedacht: verschärfen. Problem: Flucht in die Billiglohnländer, Wenn wir diese Umbrüche vollendet haben, dann eine Ausflucht, die wir bereits in der Europäischen werden wir wirtschaftlich, politisch und sicherheits- Gemeinschaft haben, die aber mit der Heranführung mäßig relativ schnell an dieses Europa herangeführt dieser Länder und der Öffnung der Märkte zwangs- werden, dann werden wir mit offenen Armen aufge- läufig verbunden ist. nommen werden. Wir sind in gewisser Beziehung Wir sollten auf der anderen Seite aber nicht überse- enttäuscht über die relativ langsame Art und Weise, hen, daß uns das ganz gewaltige Vorteile bringt. Ja, wie Europa das bewältigt, wie es die NATO bewältigt, wir müssen sehen, daß im Augenblick ein Stunden- wie es die WEU, wie es die Europäische Gemeinschaft lohn in und Leipzig gleich einem Tageslohn bewältigt. in Breslau ist und — vergessen wir das nicht — gleich Wir sagen allen Partnern: Wir verstehen das. Ihr einem Monatslohn in der Ukraine. Ich habe das in den müßt auf der anderen Seite aber auch die Sensibilität letzten Tagen noch einmal nachgeprüft. Das zeigt das sehen, die in diesen Fragen liegen. Ja, wir möchten Gefälle. Das zeigt, was uns, was die Billiglohnproble- euch heranführen. Wir möchten euch im Endeffekt matik anbelangt, bei der Arbeitslosigkeit bevorsteht. hereinführen. Aber wir dürfen keine neuen Brüche Es zeigt aber auf der anderen Seite auch, welche schaffen, nachdem wir die Ost-West-Auseinanderset- gigantischen Märkte uns zur Verfügung stehen. Es ist zung Gott sei Dank beseitigt haben. Wir müssen schon interessant, nachzulesen und nachzuprüfen, insbesondere auf Rußland und die Ukraine — ohne wie sich Export und Import mit diesen Ländern in den jedes Vetorecht — sensibel und vorsichtig Rücksicht drei letzten Jahren gewaltig verändert haben. nehmen. Denn Rußland und die Ukraine sehen ein näheres Heranrücken der NATO an ihre Grenzen Drittens. Meine Damen und Herren, es bedarf natürlich nicht gerade ohne Sensibilität. keiner besonderen Betonung: Außerordentlich wich- tig bleibt für uns ein intaktes atlantisches Verhältnis, Deshalb wird dem NATO-Gipfel im Januar eine so unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. große Bedeutung beikommen. Deshalb müssen wir ihn präzise und gut vorbereiten. Ich messe dieser Viertens. Dem Wunsch der Lander Mittel- und europäischen Sicherheitsarchitektur, die wir finden Osteuropas nach stärkerer sicherheitspolitischer An- müssen, eine weitere ganz, ganz große Bedeutung in bindung wird das Nordatlantische Bündnis bei dem der deutschen Außenpolitik zu. bevorstehenden Gipfel am 10. Januar des nächsten Jahres mit dem Vorschlag einer Friedenspartnerschaft Fünftens. Die Ausgestaltung des Verhältnisses zwi- entgegenkommen. Das würde dem Konzept erweiter- schen Europäischer Union, WEU und NATO einerseits ter Sicherheit entsprechen, wie ich es kürzlich defi- und dem östlichen Teil Europas andererseits muß sich niert habe. Wir dürfen Mauern, die wir 1989 endlich in einem umfassenden Sicherheitskonzept zusam- 16590 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel menfügen. Dabei müssen wir natürlich auch die KSZE I Recht weltweit zu stärken, bleibt eine zentrale Auf- mit ihren Möglichkeiten einbeziehen. gabe unserer dem Frieden verpflichteten Außenpoli- tik. Dies gilt auch und gerade nach den Erfahrungen in Sechstens. Wir alle wissen, daß Rußland am 12. De- Somalia, d. h. wir müssen die Rechte und Pflichten zember Wahlen hat und sich eine neue Verfassung — ich betone ausdrücklich die Pflichten; so hat es Herr geben will. Dies sind ganz entscheidende Weichen- Scharping auch getan —, die sich aus unserer Mit- stellungen für die Zukunft, die sich abzeichnen. Die gliedschaft ergeben, voll wahrnehmen. Für die Son- Bundesregierung hat konsequent den auf Reform, derrolle, die wir bisher spielen, schwindet das Ver- Liberalisierung und Stabilisierung gerichteten Kurs ständnis zunehmend, im Ausland, aber auch hier bei der russischen Regierung gestützt. Das war richtig. uns. Wir waren mit dieser Stütze nicht allein. Unsere wesentlichen und wichtigen Partner haben es Wir brauchen endlich die Grundgesetzänderung. genauso gesehen und haben es genauso get an wie Zum wiederholten Male appelliere ich an die SPD: wir. Geben Sie in diesem Zusammenhang Ihre Blockade auf und helfen Sie mit, daß wir außenpolitisch voll Noch vor Weihnachten werde ich im Dialog, insbe- handlungsfähig werden. sondere was die NATO-Erweiterung und die Sicher- heitsarchitektur anbelangt, mit dem russischen Kolle- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gen Kosyrew Fragen aufnehmen. Von nichts werden Sicherheit und Stabilität in Europa so stark abhängen Herr Scharping hat mich wissen lassen, daß er wie von der weiteren konsequenten inneren Transfor- wegen eines anderen wichtigen Termins während mation Rußlands und der Sicherheit, daß die Wege hin meiner Rede nicht anwesend sein kann. Ich verstehe zu demokratischen, marktwirtschaftlichen Strukturen das. Ich akzeptiere das auch, weil auch ich selber oft in dort endgültig unumkehrbar werden. Terminnöten bin. Aber ich würde ihm gerne sagen, jetzt über Sie, daß ich nicht nur ihn sondern schon Es war nicht umsonst so, daß die Welt und auch wir Herrn Engholm, als er noch Parteivorsitzender war, in Deutschland bei Ereignissen der letzten Zeit den vor geraumer Zeit darum gebeten habe, daß ich im Atem angehalten haben. Eines ist jedenfalls sicher: Präsidium der SPD in meiner Eigenschaft als Außen- Mit Mitteln von gestern läßt sich dort der Wohlstand minister dieses Landes vortragen kann, wie sich von morgen nicht schaffen. Diese Einsicht hat sich praktische Außenpolitik im Augenblick gestaltet und auch in Rußland durchgesetzt. Wir müssen allerdings welche Probleme sie im Zusammenhang mit dieser Rußland auf dem schwierigen Weg zur endgültigen verfassungsrechtlichen Bremse hat. Durchsetzung der Reformen weiter unterstützen. Das haben wir uns fest vorgenommen. Das werden wir (Karsten D. Voigt [Fr ankfurt] [SPD]: Das auch tun. tragen Sie mal im Verteidigungsministerium vor! Weitere Zurufe von der SPD) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Es ist mir leider bis heute nicht ermöglicht worden. Ich Ganz kurz zur Ukraine: Die geographische Lage, habe immer auf eine Antwort gewartet. Deshalb habe die Größe, die natürlichen Ressourcen und die Talente ich mir vorgenommen, daß ich das heute sage. der Bevölkerung der Ukraine sind ein bedeutendes Potential. Die inte rnationale Gemeinschaft ist ge- (Zuruf von der SPD) nauso wie bei Rußland bereit, die Ukraine zu unter- — Nein, ich nehme das sehr ernst. Bei den Koalitions- stützen. Ja, sie muß es, denn wirtschaftlich ist die partnern kann ich diese Schwierigkeiten vortragen. Ukraine in einer noch weit schlechteren Situation als Bei Ihnen konnte ich es bisher nicht. Ich bitte Sie Rußland. Die Ukraine braucht deshalb ganz beson- hiermit nochmals, daß ich möglichst bald in Ihrem ders unsere Unterstützung. Voraussetzung dafür ist, Präsidium über die außenpolitische Situation und wie daß sich die Ukraine ihren völkerrechtlichen Ver- sie sich im Augenblick mit der verfassungsrechtlichen pflichtungen auf dem Gebiet der nuklearen Abrü- Situation darstellt vortragen kann. Ich möchte Ihnen stung nicht entzieht. nämlich gern vor Augen führen, wie es tatsächlich in (Beifall des Abg. Dr. Wolfg ang Weng [Gerlin- der Praxis aussieht. Ich könnte mir vorstellen, daß gen] [F.D.P.]) mindestens einige von Ihnen dafür Verständnis haben. START I muß eben ohne Wenn und Aber ratifiziert und implementiert werden. Wir erwarten von Kiew, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) wenn wir es unterstützen, auch konsequentere Wenn es so bleibt wie bisher, dann muß ich Ihnen Schritte auf diesem Gebiet. Dazu gehört die Umset- allerdings — genauso wie der Bundeskanzler — zung des Lissaboner Protokolls und der Beitritt der entgegenhalten: Dann würden Sie, was Ihre Partei Ukraine zum Nichtverbreitungsvertrag. Wir stehen anbelangt, nicht dazu beitragen, daß wir bündnisfähig mit unserer Abrüstungshilfe bereit, diesen Ländern zu sind und bleiben, und dann zeigen Sie sich — auch das helfen. Es geht immerhin darum, 27 000 nukleare wiederhole ich — auch in dieser Frage einfach als Sprengköpfe und 40 000 t chemische Kampfstoffe zu nicht regierungsfähig. beseitigen. Die Mittel, die bei uns im Haushalt zur Verfügung gestellt werden, sind nicht gering, sind (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) aber noch zu gering, um wirklich in der Praxis etwas Herr Scharping hat stolz darauf hingewiesen — und erreichen zu können. das verstehe ich —, daß es ihm beim Parteitag gelun- Meine Damen und Herren, die Vereinten Nationen gen ist, in der ganz speziellen Frage der inneren und ihre einzigartige Verantwortung, Frieden und Sicherheit einen Durchbruch zu erzielen, zwar nur Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16591

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel knapp, aber immerhin aus seiner Sicht ein beachtli- Somalia insgesamt 133 Millionen DM, und bilateral cher Erfolg. Wenn er jetzt noch hier wäre, hätte ich ihm haben wir in den letzten dreieinhalb Jahren für gern gesagt, daß für mich die Relationen nicht stim- humanitäre Hilfe rund 900 Millionen DM aufge- men. Es wäre von der Bedeutung her unvergleichlich bracht. wichtiger gewesen, er hätte sich in der anderen Frage, (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Es geht nämlich der Frage der Out-of-area-Einsätze, der Auf- um den militärischen Einsatz, Herr Kinkel!) fassung von Herrn Klose angeschlossen und sich in dieser für unser Land so wichtigen Frage — um Das heißt also, wir haben, was Somalia anbelangt, im Klassen wichtiger als die andere Frage — durchsetzen humanitären Bereich wie in anderen Bereichen, und können. auch im früheren Jugoslawien, wahrhaftig gezeigt, daß wir unseren Mann stehen, und es wird weltweit (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — anerkannt, was wir auf diesem Gebiet finanziell Zurufe von der SPD) geleistet haben. Also bitte bringen Sie uns nicht das — Ich spiele die Problematik der inneren Sicherheit finanzielle Argument in der Somaliafrage. Dort haben nicht herunter. Im Gegenteil: Ich weiß, welche Sorgen wir wirklich alles getan, was wir nur tun konnten. und Nöte wir in diesem L and haben. Aber Sie kennen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — unsere Auffassung. Herr Scharping hat das angespro- Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Aber chen. Ich bleibe dabei: Die Frage, ob wir nach einer 300 Millionen haben Sie verpulvert für Grundgesetzänderung außenpolitisch voll hand- nichts! Verpulvert für nix!) lungsfähig wären und werden oder nicht, ist für dieses Land von grundsätzlicher Bedeutung, von einer ganz — Nicht verpulvert für „nix". 350 Menschen sind dort entscheidenden und wichtigen Bedeutung. Wenn Sie den Hungertod gestorben, bevor der UNO-Einsatz in der SPD nicht den Schritt finden, bei diesem kam. Zum Schluß waren es mehrere hundert am Tag. Fähigmachen deutscher Außenpolitik in allen Fragen Es gibt keine Hungersnot mehr in Somalia. Ist das mitzumachen, nicht nur in den Rechten, sondern auch nicht auch etwas, was betont werden muß? in den Pflichten, dann werden Sie sich das in den (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wahlkämpfen vorhalten lassen müssen und dann werden wir jedenfalls nach draußen sagen, daß Sie Nein, wir lassen uns den Einsatz in Somalia von insoweit weit davon entfernt sind, regierungsfähig zu Ihnen nicht zerreden. Sie waren dagegen. Der Einsatz sein. hat etwas gebracht, sogar sehr viel. Er hat Menschen direkt geholfen, Menschen, die in tiefster Not waren. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Wenn Sie auf die Frage, ob wir das hätten lassen sollen Zurufe von der SPD) und nicht hätten helfen sollen, die Antwort „Ja" Zu Somalia. Dieser Einsatz ist nicht so gelaufen, wie geben, dann sagen wir: Nein. Es war richtig, daß wir wir uns das vorgestellt haben und wie sich die dort hingegangen sind. Dazu stehen wir auch heute Vereinten Nationen das vorgestellt haben. Wir haben noch. Verantwortung übernommen, wir haben unsere Lei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stung erbracht. Die Vereinten Nationen haben perso- nelle, strukturelle und andere Schwierigkeiten. In Lassen Sie mich zum Schluß noch auf die schreck- einer solchen Situation war es wohl richtig, daß wir liche Situation im früheren Jugoslawien eingehen. uns nicht auf uns selber fokussiert haben, sondern Wir stehen dort vor einem furchtbaren Winter. Zirka gestern im Kabinett die notwendige Reduzierung, die 4 Millionen Menschen sind wirklich vom Tode geschehen muß, weil die indischen Truppen nicht, wie bedroht, wenn es uns nicht gelingt, dort doch noch zu ursprünglich zugesagt, in Belet Uen angekommen einer Lösung zu kommen. Das hat den französischen sind, zu beschließen, und zwar im Einvernehmen mit Außenminister Alain Juppé und mich veranlaßt, eine den Vereinten Nationen. Initiative zu ergreifen, die sich auf drei Punkte bezieht: (Zuruf von der SPD) Erstens ist es der Versuch, die humanitäre Hilfe in Die Frage, ob, wie und wann ein endgültiger Abzug dieser schrecklichen Winterzeit dort zu den Menschen stattfindet, wird Mitte des Monats Dezember zu ent- zu bringen durch die Absicherung von Korridoren, scheiden sein, ich hoffe, dann wieder im Einverneh- durch die Öffnung des Flughafens von Tuzla men mit unseren Partnern und den Vereinten Natio- nen, weil wir außenpolitisch zuverlässig bleiben müs- (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) sen, gerade bei der verfassungsrechtlichen und son- und durch erhöhte finanzielle Mittel. stigen Situation und den Bremsen, die wir haben. Zweitens sind wir der Meinung, daß m an in der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Krajina vor einer kriegerischen Auseinandersetzung steht. Wir wollen durch einen Modus vivendi versu- Lassen Sie mich noch auf einen Punkt eingehen, chen, zu einer Lösung zu kommen. den Herr Scharping angesprochen hat. Er hat gefragt, ob man wohl, wenn diese Frage gekommen wäre, Drittens sind wir der Meinung, daß es nicht richtig beispielsweise im humanitär-technischen Hilfsbe- sein kann, daß man in Genf auseinandergegangen ist, reich 500 Millionen DM zur Verfügung gestellt hätte. weil die moslemische Seite, die Schwächsten, damals Ich darf Herrn Scharping sagen, wie die Summen erklärt hat, daß sie zu wenig Gebiet aus den von den aussehen, die wir bilateral und multilateral über die Serben eroberten und besetzten Gebieten bekommt, Europäische Gemeinschaft zur Verfügung gestellt um zu überlegensfähigen eigenen Territorien zu haben. Es sind allein in der humanitären Hilfe für gelangen. 16592 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Der Ansatz ist richtig. Wir wollen versuchen, diesen Interesse daran hätte, möglichst schnell viele deut- Ansatz am Schopf zu packen, und wir zwölf europäi- sche Soldaten an alle möglichen Fronten der Welt zu schen Außenminister wollen uns am kommenden schicken, ist ein Irrglaube. Montag mit den Konfliktparteien — ich hoffe, daß sie (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das kommen; ich gehe davon aus, daß sie sich uns nicht will niemand! — Weitere Zurufe von der verweigern können — zusammenzusetzen, um viel- CDU/CSU und der F.D.P.) leicht doch noch — ich sage es noch einmal — vor einem wahrscheinlich schrecklichen Winter mit nicht — Okay, das nehme ich interessiert und mit Befriedi- wiedergutzumachenden Schäden eine Lösung zu gung zur Kenntnis. erreichen. Ich bin nicht absolut optimistisch, aber es ist Drittens. Ich wollte eine Bemerkung zu Ihren uns, Juppé und mir, gelungen, die Europäer am Bemerkungen, Herr Kollege Schäuble, machen, und Montag davon zu überzeugen, daß die schreckliche zwar zur Wohlstandsgesellschaft: affluent society, wie Lage dort jedenfalls den Versuch rechtfertigt. die Engländer sagen. Ich glaube auch, daß die Fähig- Halten Sie uns die Daumen, daß es gelingt. keiten einer Wohlstandsgesellschaft zur Reform begrenzt sind. Ich muß aber um der historischen Vielen Dank. Wahrheit willen eines hinzufügen: Es ist jedenfalls (Anhaltender Beifall bei der F.D.P. und der meine Auffassung, wenn die Bundesregierung, wenn CDU/CSU) insbesondere der Herr Bundeskanzler unmittelbar nach dem Fall der Mauer den Menschen gesagt hätte, dies wird schwierig, das wird uns große Opfer abver- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile langen —, nunmehr dem Abgeordneten Hans-Ulrich Klose das Wort. (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl [CDU/ CSU]: Hat er ja gesagt! — Zuruf von der SPD: (Ina Albowitz [F.D.P.]: Der kriegt auch nicht Blühende Landschaften!) genug!) — dann glaube ich, wäre mehr möglich gewesen. Ich bin zudem davon überzeugt, Herr Bundeskanzler, Hans-Ulrich Klose (SPD): Herr Präsident! Meine wenn Sie mit diesem Anspruch vor die Wähler getre- Damen und Herren! Um aus der Debatte eine wirkli- ten wären und nicht mit dem falschen Versprechen, che Debatte zu machen, muß ich ein paar Punkte Steuererhöhungen nicht zu machen, hätten Sie außer- auf greif en. - dem noch ein besseres Wahlergebnis bekommen. Der erste: Herr Bundeskanzler, wenn es richtig ist, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Er hat es ein was Sie angedeutet haben, daß nämlich im Falle mal versucht!) Südkoreas gewisse Anmutungen an uns gestellt wor- Davon bin ich fest überzeugt. Und diesen Punkt den sind und daß wir diese nicht erfüllen wollten, dann möchte ich nicht ganz untergehen lassen. reduziere ich meine Kritik, weil es keinen Sinn macht, auf einer solchen Basis Kritik zu üben. Viertens. Ich glaube auch, daß manches, was im Zusammenhang mit der Präsidentschaftskandidatur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und von Heitmann gesagt und geschrieben wird, kampag- der F.D.P.) neartige Ausmaße annimmt. Aber: Ich finde, es ist Zweite Bemerkung: Sie wissen, daß ich in der Frage nicht akzeptabel, unter eine solche Überschrift einen der künftigen Rolle der Deutschen in der Welt und in Kritiker wie Ignaz Bubis zu stellen. der Frage des Bundeswehreinsatzes eine andere Posi- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aber tion habe als meine Partei. Man kann für seine Scharping!) Positionen nicht immer Mehrheiten gewinnen. Wir sind eine demokratische Partei. Da muß man auch — Ich rede jetzt von Ignatz Bubis. Von wem ich rede, unterliegen können. Aber gerade weil ich eine andere müssen Sie mir schon überlassen, Herr Kollege Position habe, möchte ich in einem wichtigen Punkt Schäuble. einer Legendenbildung vorbeugen: Die sozialdemo- Eines möchte ich jedenfalls festhalten: Woran kratische Partei und die sozialdemokratische Bundes- immer es liegen mag — ich will das im einzelnen nicht tagsfraktion stehen ohne Wenn und Aber zu den verfolgen—, Tatsache ist, daß dieser Kandidat spaltet, Bündnispflichten, die wir im Rahmen der NATO weil er sich mindestens mißverständlich ausdrückt. übernommen haben. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU] meldet (Beifall bei der SPD) sich zu einer Zwischenfrage) Ich möchte das einfach festhalten, denn es geht Ich halte fest, daß es ihm offenbar schwerfällt zu heute darum, und es wird darüber diskutiert, ob dieses begreifen, daß er mit seinen Äußerungen Mißver- Bündnis in Zukunft zusätzliche andere Aufgaben ständnisse auslöst. Ich würde es für klug halten, Herr erfüllen muß; nach meiner Einschätzung ja. Der Streit Kollege Schäuble, diese Aussage nicht weiter zu geht nicht um die Erfüllung jetzt vorhandener Bünd- vertiefen. nisverpflichtungen, sondern es geht um die zukünf- tige Entwicklung des Bündnisses. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Lassen Sie Auch aus meiner Position will ich jedenfalls eines trotzdem eine Zwischenfrage zu? hinzufügen: Ich bin, was konkrete militärische Aktio- nen angeht, durch die Erfahrung der letzten Monate und Jahre eher skeptischer geworden. Zu glauben, Hans-Ulrich Klose (SPD): Nein, weil ich das nicht für daß ich als einer, der eine andere Position hat, ein klug halte, kann ich sie nicht zulassen. Da würde ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16593

Hans-Ulrich Klose mir selber widersprechen. Das müssen Sie einse- Erstens. Wann immer es in den vergangenen Jahren hen. — ich rede jetzt von der alten Bundesrepublik — Strukturkrisen gegeben hat, sind wir nie nach der (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie Devise verfahren: Das regelt a lles alleine der Markt, müssen mich entscheiden lassen, was ich für sondern wir haben immer interveniert, um diese klug halte!) Strukturkrisen, bei denen ja immer auch Menschen — Ja gut, da wir uns aber in einem Dialog befinden, betroffen sind, sozial beherrschbar zu halten. Das müssen beide Seiten entscheiden. Wenn wir unter- allerdings ist sozialdemokratische Grundüberzeu- schiedlicher Auffassung sind, kann ich entscheiden, gung, und an der halten wir fest. ob ich antworte oder nicht. (Beifall bei der SPD) Fünftens: Die Freigabe von Drogen. Was in unse- Insofern glauben wir nicht an umfassende staatliche rem Beschluß steht, ist völlig klar. Wir sind dafür, daß Interventionsfähigkeiten, aber schon an staatliche die kleinen Haschischkonsumenten in der Tat entkri- Verantwortung. minalisiert werden. Wir halten das für völlig richtig. Die zweite Anmerkung, die ich machen muß: Ich bin (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sehr für Privatisierung. Um es jetzt einmal klarzustel- len: Die SPD-Bundestagsfraktion hat gestern der Bun- Bei den anderen geht es darum, ob es nicht besser desbahnreform in der Fraktion mit großer Mehrheit wäre, Ersatzdrogen unter medizinischer Aufsicht an zugestimmt. Diejenigen, die jetzt noch Widerstand bestimmten festgelegten Stellen abzugeben, statt leisten, sind nicht Sozialdemokraten — das wissen Sie diese Menschen ständig weiter in die Beschaffungs- auch genau —, sondern das sind die Länder, denen es kriminalität hineinzudrücken. wieder einmal um Geld geht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Zurufe von der CDU/CSU) Ich möchte gern, daß dieser Unterschied ganz deutlich — Stoiber auch! Seit wann ist Stoiber denn Sozialde- wird, damit sich in der Öffentlichkeit keine weitere mokrat? Hören Sie mal! Lesen Sie doch einmal die Legende bildet. heutigen Tickermeldungen. In dem Punkt, wenn es um das Geld geht — das wissen wir doch alle —, sind (V o r s i t z : Vizepräsident Helmuth Becker) die Herren Ministerpräsidenten sich alle einig, egal in welcher Partei sie sind. Aber Sie können sich jeden- Sechstens. Ich habe es Ihnen schon beim letztenmal falls nicht hinstellen und sagen, es seien die Sozialde- entgegengehalten, Herr Kollege Schäuble, Sie kön- mokraten. Das stimmt einfach nicht. Ich habe Ihnen nen nicht mit der Behauptung auftreten, Sozialdemo- den Zettel vorhin gezeigt, Herr Kollege Sohns. kraten seien nicht bereit zu sparen. Wir sagen zu wesentlichen Sparvorschlägen, die Sie machen, nein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Wir haben unsererseits auch ein Sparpaket vorgelegt Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Ich habe mit einem Volumen von reichlich 20 Milliarden DM. mich auf Herrn Eichel bezogen!) Es kann sein, daß Ihnen dieses Sparpaket nicht gefällt, — Ja gut, aber wenn Sie die Wahrheit sagen wollen, aber Sie können nicht behaupten, daß wir keine dann müssen Sie sich auf die Ministerpräsidenten Vorschläge gemacht hätten. beziehen. Es ist eben nicht nur Herr Eichel, sondern es sind auch die anderen. Es gehört dazu, wenn man die (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Wahrheit sagen will, daß man die Wahrheit vollstän- Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das dig sagt, sonst wird sie nämlich schief. Ich lege Wert ist überhaupt kein Sparpaket! Das ist ein Steuererhöhungspaket!) darauf, daß die Wahrheit vollständig gesagt wird. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das kommt Ein weiteres werde ich Ihnen auch immer wieder auf die Mehrheitsverhältnisse an!) vorhalten, auch wenn es Ihnen nicht gefällt: Die Einnahmesituation des Bundes wäre besser gewesen, Ich bin also sehr für die Privatisierung der Bundes- und zwar konjunkturunschädlich, wenn Sie den ein- bahn. Ich bin auch sehr dafür, daß wir die Postre- mal eingeführten Solidaritätszuschlag, am besten in form II zustande bringen. unserer Form der Ergänzungsabgabe, durchgehalten (Beifall des Abg. Dr. Hermann Otto Solms und nicht nach einem Jahr wieder aufgegeben hätten, [F.D.P.]) nur weil Sie sich nicht ein weiteres Mal zu öffentlichen Äußerungen, die Sie zu den Steuern vorher gemacht Wir werden darüber wahrscheinlich in der nächsten haben, in Widerspruch setzen wollten. Woche in der Fraktion beraten. Nur, eines muß ich Ihnen auch sagen: Es kann nicht nach der Devise (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gehen, daß es die Privatisierung sein muß, wie Sie sie sich vorstellen. Nächste Bemerkung. Herr Kollege Schäuble, es ist eine Legende, es stimmt einfach nicht, daß Sozialde- (Beifall bei der SPD) mokraten überzeugt wären, man könne die Wirtschaft Dahinter steckt nämlich wieder einmal dieses stän- planen, und wir wollten das alles irgendwie von Staats dige Imponierverhalten: Alle unsere Pläne sind richtig wegen steuern. Nein, nein, das ist nicht so. und wahr, und das, was andere denken, ist unwahr. Wir behalten uns vor, Herr Kollege Schäuble, schon (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber ein sehr sorgfältig und im Detail zu prüfen, ob wir diese bißchen!) Art der Postreform, die da ausgehandelt worden ist, Aber zwei Anmerkungen muß ich dazu machen: mitmachen können oder nicht. 16594 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Hans-Ulrich Klose Nächste Bemerkung: Bauarbeiter. Es gibt arbeits- Einbeziehung der USA erfolgen könnte, weswegen lose Bauarbeiter. Das ist die erste Anmerkung. Die ich glücklicher wäre, sie würde sich auf der Ebene der zweite ist diese: Es gibt natürlich einen unglaublichen NATO vollziehen als auf der Ebene der Westeuro- Druck, deutsche Bauarbeiter nicht mehr zu beschäfti- päischen Union. gen, sondern nur noch ausländische. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf von der SPD: Ja! Ja!) Sie wissen auch genau, warum das so ist. Daß das dazu Das wollte ich angemerkt haben, damit es bedacht führt, daß die deutschen Arbeitnehmer nicht mehr ins werden kann. Baugewerbe gehen, dafür habe ich ein gewisses Im Zusammenhang mit dem Stichwort „Rußland" Verständnis. habe ich eine Bitte; ich gehe davon aus, daß der (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das hat Kollege Rühe vielleicht noch spricht. Es wird relativ aber mit dem AFG nichts zu tun!) wenig über das, was man die neue russische Militär- Stichwort: Technikängste. Herr Kollege Schäuble, doktrin nennt, geschrieben. Was ich dazu gelesen ich sage Ihnen: Technikängste, die es gibt — ich will habe, führt bei mir zu einigen Fragen. Wenn ich es auch gar nicht leugnen: Politik, auch sozialdemokra- recht verstanden habe, nimmt Rußland eine Art von tische, hat dazu beigetragen, daß sie eher größer Interventionsrecht, die Funktion einer Ordnungs- geworden sind —, werden noch größer, wenn man oder Schutzmacht für sich in Anspruch, jedenfalls Gefahren leugnet, verharmlost und die notwendige gegenüber den Nachbarn, an denen es aus ethnischen Aufklärung unterläßt. Gründen ein besonderes russisches Interesse gibt. Es mag sein, daß ich das falsch sehe. Das müßte jeden- (Beifall bei der SPD) falls geklärt werden. Daß Gentechnik auch immer etwas Gefährliches ist, (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Ich gebe das können Sie schlechterdings nicht leugnen. Es Ihnen demnächst den Text!) heißt ziemlich großzügig mit Risiken umgehen, sich so vehement für Kernenergie stark zu machen ange- — Okay, das Angebot nehme ich gern an. Sie sagen sichts der Tatsache, daß das Entsorgungsproblem immer, ich sei so gut informiert; in dem Punkt bin ich weder in Deutschl and noch in irgendeinem Land der nicht so gut informiert, weil ich das bisher nicht Erde wirklich gelöst ist. Das finde ich ziemlich kühn, gelesen habe. Ich würde es gern lesen. Herr Kollege Schäuble. Jedenfalls wollte ich in dem Zusammenhang daran (Beifall bei der SPD) erinnern, daß es sinnvoll wäre, wenn die deutsche Nun muß ich noch einige ganz kurze außenpoliti- Außenpolitik größere Anstrengungen unternähme, sche Bemerkungen anfügen. Ich finde richtig, daß die um aus der KSZE ein handlungsfähiges politisches Bundesrepublik Deutschland sich um die osteuro- Instrument der inneren Konfliktlösung zu machen. päischen Länder kümmern muß, aber wenn es geht, immer in guter Zusammenarbeit mit den westeuropäi- (Beifall bei der SPD) schen Partnern, und zwar insbesondere deshalb, weil Mein Eindruck ist, daß die Anstrengungen da in der wir uns nicht überheben sollten. Meine Angst ist ein letzten Zeit nicht ganz so gewesen sind, wie sie hätten bißchen, daß deutsche Außenpolitiker allzu großzügig sein sollen. in Osteuropa herumreisen und allen versprechen, wir würden in besonderer Weise Anwalt sein und ihnen Nun zum Stichwort „Somalia". Damit das klar ist helfen. — es gibt wiederum Legendenbildung —: Ich und (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da hätten viele in der SPD-Bundestagsfraktion waren am Sie heute mal dem Kanzler zuhören sol- Anfang eher für den Einsatz in Somalia. Es stimmt len!) einfach nicht, wenn gesagt wird, es waren alle dage- gen. Aber ich sage Ihnen: Die Situation in Somalia hat Hinterher werden wir möglicherweise bittere Enttäu- sich so entwickelt, wie man befürchten mußte — sehr schungsprozesse auslösen, weil wir das nicht einhal- ungut. Ich denke, daraus müssen die Konsequenzen ten können. Ich wäre also sehr dankbar, wenn diese gezogen werden. besondere Anwaltschaft unseren Möglichkeiten ent- spräche. Jedenfalls ist die Position des Außenministers, der in Ich bin wie die Sozialdemokratische Partei insge- Wahrheit darauf hinauswill, den Bundeswehreinsatz samt dafür, mittel- und osteuropäische Lander in die in Somalia politisch zu instrumentalisieren, nicht bestehenden Systeme der Sicherheit aufzunehmen, akzeptabel. Wir können die Bundeswehr nicht nur wohlüberlegt und wohldosiert, aber in dem Bewußt- deshalb länger in Somalia lassen, um uns gegenüber sein, daß man ein sicherheitspolitisches Vakuum nicht der UNO als verläßlich zu erweisen, damit die Forde- bestehenlassen sollte, rung nach dem ständigen Sitz im Sicherheitsrat grö- ßeres Gewicht erhält. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) weil es Gefahren mit sich bringt. Wir sind uns darüber (Beifall bei der SPD) einig, und man braucht nicht lange darüber zu reden, Ich bitte Sie um Entschuldigung, Herr Bundeskanz- daß dies nicht in der Weise geschehen darf, daß sich ler. Sie schütteln den Kopf. Aber so hat der Außenmi- dabei eine neue Konfliktlinie, etwa zu Rußland, bildet. nister argumentiert. Mir läge sehr daran, wenn eine solche Erweiterung in engster Abstimmung und mit Zustimmung und unter (Widerspruch bei der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16595

Hans-Ulrich Klose Das ist nicht akzeptabel; jedenfalls können das So- Wir sollten mit dieser Debatte verantwortlicher umge- zialdemokraten nicht akzeptieren. hen, als Ihr Parteivorsitzender damit umgegangen (Beifall bei Abgeordneten der SPD — ist. Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Das haben (Beifall bei der CDU/CSU) Sie falsch verstanden!) Ich möchte bei dieser Gelegenheit einen Punkt Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und hinzufügen. Das Kontingent der Bundeswehr hat in Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Diet rich Somalia einen präzise beschriebenen Auftrag. Mit Austermann. diesem Auftrag hat die Bundesregierung auch vor dem Bundesverfassungsgericht argumentiert. Ich Dietrich Austermann (CDU/CSU): Herr Präsident! weiß, wovon ich rede; ich war dabei. Da hieß es: einen Meine Damen und Herren! Der Anlaß für die Kurzin- logistischen Versorgungsauftrag für 4 000 Mann tervention unseres Fraktionsvorsitzenden war einer, überwiegend indische Truppen. Die sind dort nicht der sich in dieser Debatte bisher mehrfach wiederholt hingekommen. Infolgedessen wird dieser Auftrag hat. Es wurde mit Unterstellungen gearbeitet, die dem nicht erfüllt. Ich finde, schon der Respekt gegenüber von der politisch anderen Seite nahegelegt haben dem Bundesverfassungsgericht, das nur eine vorläu- oder zugemutet haben, er sei nicht in der Lage oder fige Entscheidung getroffen hat, gebietet es, daß bereit, bestimmte Dinge zu tun oder zu wollen. daraus die Konsequenzen gezogen werden. Dieses Kontingent dort zu lassen, nachdem die USA abgezo- (Freimut Duve [SPD]: Wir sind in der Haus gen sind, halte ich für ganz und gar unverantwortlich, haltsdebatte!) und ich sage Ihnen: Jedenfalls in diesem Punkt steht Ich komme auf das Thema Haushaltsdebatte die SPD-Bundestagsfraktion auf seiten des Verteidi- zurück, aber zunächst auf das, was der Bundesvorsit- gungsministers und nicht des Außenministers. zende der SPD hier gesagt hat. Ich meine die Feststel- (Beifall bei der SPD) lung, es regte ihn auf, daß es soundso viele Kinder in Familien von Sozialhilfeempfängern gibt, oder die Feststellung, wie es mit der Arbeitslosigkeit bestellt Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und ist. Auch Herr Klose hat dies in seiner ersten Rede zum Herren, jetzt erhält zu einer Kurzintervention nach Thema Arbeitslosigkeit aufgenommen. Damit wurde § 27 unserer Geschäftsordnung unser Kollege der Eindruck erweckt, alle anderen, die nicht dieser Dr. Wolfgang Schäuble das Wort. - Partei angehören, seien bösen Willens in der Frage, soziale Arbeit zu leisten oder etwas für den Abbau von Arbeitslosigkeit zu tun. Dies weise ich als eine üble Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsident! Verdächtigung zurück. Diesen Schuh darf sich keiner Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol- von uns anziehen. lege Klose, ich habe Herrn Bubis überhaupt nicht kritisiert. Deswegen finde ich es schon bemerkens- Wenn es darum geht, Verbesserungen in Deutsch- wert, daß Sie auf meine Bitte an Herrn Scharping, sich land durchzusetzen, mehr zu tun, um neue Arbeits- für seine Entgleisung zu entschuldigen, damit argu- plätze zu ermöglichen, wird diese Koalition und diese mentieren, man könne doch Herrn Bubis nicht kriti- Regierung von niemandem übertroffen. Ich sage das sieren. Das zeigt für mich, daß Sie meine Bewertung auch in bezug auf die Haltung und die Entscheidun- teilen, daß sich Herr Scharping für seine Entgleisung gen der SPD in den früheren Jahren ihrer Regierung, noch zu entschuldigen hat. weil vorhin das Thema Verschuldung eine Rolle gespielt hat. Es geht um die Frage, wer hat was und (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der wieviel erreicht. Also ganz klar, Frau Matthäus-Maier: SPD: Das ist Ihre Interpretation!) Von 1969 bis 1982 haben sich die Ausgaben verzwei- — Sonst hätte er doch nicht mit Herrn Bubis geant- einhalbfacht, in unserer Zeit trotz Wiedervereinigung wortet. Verzeihen Sie, Ihr Zwischenruf ist so albern, nur verzweifacht. Die Schulden haben sich in dersel- wie er nur sein kann. ben Zeit bei Ihnen um das 6,8fache erhöht, bei uns Zweite Bemerkung. Sie haben von „Spalten" trotz Wiedervereinigung nur um das 2,4fache. Man gesprochen. Es betrifft Steffen Heitmann nicht als sollte sich genau überlegen, was man erzählt. 300 Mil- einzigen. Alle, die in der früheren DDR gelebt haben, liarden DM Schulden, die Helmut Schmidt hinterlas- werden, wenn sie sich politisch äußern, bei uns häufig sen hat, waren ohne Wiedervereinigung aufgelaufen nicht leicht verstanden bzw. leicht mißverstanden. und belasten den Bundeshaushalt auch heute noch. (Zuruf von der SPD: Meinen Sie Herrn de (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Maizière?) Meine Damen und Herren, nun hat die SPD den Ich möchte Sie gern daran erinnern, daß Ihr stellver- Eindruck vermittelt, man müsse sie nur werkeln tretender Fraktionsvorsitzender Thierse, als Herr lassen, dann werde es mit Deutschland vorangehen. Momper zurückgetreten war, aufgefordert war, den Sie vertraut offensichtlich auf ein fehlendes Langzeit- Vorsitz in der Berliner SPD zu übernehmen, und daß er gedächtnis der Bürger in diesem Land. 1982 hat die es sich nicht zugetraut hat, sich in der Westberliner Schmidt-Regierung ein Desaster hinterlassen mit SPD hinreichend Gehör zu verschaffen. Deswegen: Rezession, Rekordzinsen, 9%iger Arbeitslosigkeit. Man sollte ihm nicht vorwerfen, daß er spaltet. Viel- (Zuruf des Abg. Freimut Duve [SPD]) mehr ist noch zuviel Teilung in Deutschland. Herr Duve, wenn Sie die Entwicklung bis 1989 mit (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Schlechtes Bewußtsein verfolgt haben, werden Sie doch nicht Beispiel!) bestreiten können, daß es auf allen Feldern aufwärts- 16596 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dietrich Austermann ging und daß die finanziellen Verpflichtungen des Beispiel, das allzu leicht vergessen wird, ist das Thema Staates durch die Wiedervereinigung eine ganz Asyl. Die hohe Zahl der Asylbewerber in den letzten andere Situation auch bei der Frage der Neuverschul- Jahren hat uns Jahr für Jahr 20 Milliarden DM dung geschaffen haben. Es gab 1982 ungesicherte gekostet, wovon der wesentliche Teil von den Bundes- Sozialfinanzen, die Renten waren nicht mehr sicher, ländern getragen wurde. Mit diesen 20 Milliarden DM es gab Technologiefeindlichkeit und ideologische hätte man viele andere Dinge anfangen können. Aber Barrieren. Dies alles muß m an immer wiederholen. diese Verzögerung ist ein Beleg dafür, daß die SPD immer zwei Jahre später kommt, als es eigentlich Wenn Sie dann die Frage stellen, wer mehr getan nötig wäre, um Entscheidungen zu treffen. hat und wer im Bereich der Arbeitsmarktpolitik mehr tut, dann sage ich Ihnen, daß 1982 bei einer höheren Die SPD plädiert für wettbewerbsfähige Arbeits- Arbeitslosigkeit in den alten Bundesländern 9,1 Milli- plätze. Wie sieht es denn da mit ihrer Bereitschaft aus? arden DM bereitgestellt wurden, während es in die- Nein, sie verweigert im Energiekonsens die günstigen sem Jahr bei 1,9 Millionen Arbeitslosen in der alten Strompreise vor allen Dingen durch das Thema Ke rn Bundesrepublik — — -energie. Da kann man auch nicht auf die ungelöste Entsorgungsfrage zurückgreifen, wenn die, die dar- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wieviel über entscheiden, SPD-regierte Bundesländer sind. hatten wir 1982, wieviel haben wir heute? Sie sind einer, der die Zahlen verfälscht!) Ich nehme ein anderes Beispiel: das Investitionser- — Moment, Sie können doch nicht die Arbeitslosen leichterungs- und Wohnbaulandgesetz Ost. Es aus den neuen Bundesländern ganz einfach oben konnte mit Mühe und Not nach langem Fingerhakeln drauf addieren. Die Situation der letzten Westzahl im Bundesrat durchgesetzt werden. Für den Westen habe ich dargestellt. Für aktive Arbeitsmarktpolitik würden wir gern das gleiche tun. wird in diesem Jahr ein Be trag von 60 Milliarden DM Ich will das an einem Beispiel demonstrieren: In bereitgestellt, davon 41 Milliarden DM für die neuen Mecklenburg-Vorpommern geht im Frühjahr 1994 Bundesländer. Ich glaube, deutlicher kann man nicht der Bau der A 20 los. Was tut die Landesregierung in zeigen, daß wir es ernst meinen mit ganz konkreten Schleswig-Holstein, um zunächst einmal eine Pla- Maßnahmen. nungsbürokratie zu schaffen oder Privatfirmen zu Lassen Sie mich noch einmal das Thema Sozialaus- nutzen? Für das, was in Mecklenburg-Vorpommern in gaben aufnehmen. Auch hier wurde ja der Eindruck einem halben Jahr passiert, braucht m an in Schles- erweckt, wir täten nicht genug, wir seien aus sozialer wig-Holstein zehn Jahre. Ich glaube, das macht deut- Härte nicht bereit zu helfen. Die Sozialausgaben in lich, wo die Blockade liegt, wer sich der Zukunft Deutschland stiegen seit 1982 auf 1 Billion DM. Das ist verweigert und daß die SPD noch einiges nachzuho- ein Drittel des Bruttosozialprodukts. Wenn wir davon len hat, insbesondere wenn es um konkrete Entschei- mit unserer Aktion, die wir in diesem Jahr durchfüh- dungen geht ren, 1,5 % einsparen, dann kann man doch nicht von Es wird der Eindruck erweckt, wir täten zuwenig für sozialem Raubbau, Kaputtsparen oder sozialer De- Luft- und Raumfahrt. Der Kollege Opel, Ihr Abrü- montage reden. Wer das tut, hat offensichtlich jedes stungsexperte, saß vorhin mit einem Button, was für Maß für eine vernünftige Bewertung verloren. dieses Haus etwas ungewöhnlich ist, und wollte damit In keiner sozialdemokratischen Regierung wurde wohl dafür demonstrieren, daß wir etwas mehr für die ein Betrag von 13 000 DM pro Person für soziale Luftfahrt oder vielleicht auch für die Raumfahrt tun Leistungen ausgegeben. Selbst wenn man es auf das sollten. Gebiet der alten Bundesrepublik beschränkt, ist nicht (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Für zu bestreiten, daß heute immer noch etwa 1,5 Millio- Lemwerder!) nen Leute mehr als 1982 Arbeit haben, was dadurch zu erklären ist, daß in den letzten Jahren 3 Millionen — Lemwerder ist ein Unternehmen der DASA. Die Menschen in Deutschland Aufnahme gefunden DASA lebt im wesentlichen von Staatsaufträgen, auch haben, daß also jetzt in Deutschl and 3 Millionen von Rüstungsaufträgen. Menschen mehr leben, wovon ein großer Teil Arbeit Die Ministerpräsidenten aus DASA-Standort-Län- gefunden hat. Wenn man sich Gedanken über die dern — fast ausschließlich Sozialdemokraten — tref- Zukunft macht, dann gehört auch dazu, daß man die fen sich, um deutlich zu machen, daß man für den Tatsachen richtig erkennt. Bereich der Rüstung mehr tun müßte. Frau Simonis Lassen Sie mich etwas zu der Frage sagen, welche bittet für Wedel und Herr Schröder für Lemwerder um Entscheidungen jetzt notwendig sind. Ich sage ganz Rüstungsaufträge, aber Sie haben gestern hier den eindeutig: weder höhere Sozialleistungen noch Antrag gestellt — der Kollege Strube wird nachher höhere Steuern. Jeder Mensch weiß, daß es leichter darauf eingehen —, die Ausgaben für Rüstung, vor ist, einen Kampfhund an einer Bockwurst vorbeizu- allen Dingen für Forschung im Bereich der Rüstung, führen als die SPD am Geld anderer Leute. Aber wir um 970 Millionen DM zu reduzieren. Wie paßt das werden diesen Fehler mit höheren Steuern nicht denn zusammen? Ich glaube, das macht deutlich, daß machen, sondern wir werden dafür sorgen, daß das Sie zwar möglicherweise schöne Beschlüsse fassen, Geld dort bleibt, wo es am vernünftigsten angelegt ist: aber in der Realität, wenn es konkret wird, eindeutig bei den Menschen, damit sie selber es vernünftiger versagen. Das gilt auch für die Frage der persönlichen ausgeben als der Staat. Alternativen. Es muß erneut darauf hingewiesen werden, daß die Ich will mir verkneifen, auf das, was Ihr Bundesvor- SPD bei einer Fülle von Fällen blockiert. Ein typisches sitzender auf Ihrem Parteitag zur Person unseres Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16597

Dietrich Austermann Bundespräsidentenkandidaten gesagt hat, entspre- Im Westen machen sich Sünden der vergangenen chend zu erwidern. Aber es fällt einem, wenn man Jahre bemerkbar. Noch vor einem Jahr klapperte die diesem Hause länger angehört, schon auf, daß der ÖTV für zweistellige Lohnerhöhungen mit dem Müll- Mensch, der heute unter dem Motto „Versöhnen statt kasten. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchge- Spalten" antritt, in der politischen Geschichte der setzt, daß über die Verhältnisse zu leben vor allen Bundesrepublik auf sich aufmerksam gemacht hat mit Dingen heißt: Weniger erwirtschaften als erhalten. einem „Wörterbuch zur Wende", mit einer Auf- Wir wollen mehr tun für mehr Arbeitsplätze und auch schwunglüge, mit der peinlichen Anzeige „Den für der Zukunft zugewandte Arbeitsplätze. Anstand wahren" und mit der Behauptung, daß, wenn Da der Herr Kollege Klose eben davon sprach, daß wir 1987 die Wahl gewinnen, der Krieg über das Land man die Ängste der Bürger vor neuen Technologien in hereinbricht, daß er neben dem Motto „Versöhnen Bereichen wie z. B. der Kernenergie ernst nehmen will statt Spalten" kräftig geholzt und gleichzeitig mit — ich will dies gerne tun —, frage ich einmal: Ist die Verdächtigungen gearbeitet hat, daß der gleiche Angst begründet, wenn m an den Transrapid quer Mann — Sie nennen sich die Partei der Einheit; da durch Deutschl and führen will? Gibt es eine Rechtfer- lachen ja die Hühner —1987 bei der Bundestagswahl tigung dafür, Widerstände anzumelden und zu sagen, gesagt hat, er nehme Abschied von dem Wort „Wie- dies sei etwas, was den Bürgern nicht zumutbar sei? dervereinigung" — ich zitiere —: Überall dort, wo es um Schlüsseltechnologien geht, Ich weiß nicht, ob meine Zukunftsvision für ir- haben Sie sich in den vergangenen Jahren verwei- gendeinen Zeitpunkt noch mit dem Wort „Wie- gert. dervereinigung " richtig umschrieben ist. Ich glaube, daß man unterstreichen muß, daß wir Oder: eine ganze Menge erreicht und getan haben. Von dem Erfolg der Chinareise des Bundeskanzlers über die Wer glaubt, das Zueinander sei über eine Staats- Erhöhung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe, auflösung der DDR zu erreichen, der irrt. die aktive Arbeitsmarktpolitik und das Standortsiche- Ich glaube, dieser Mann ist wirklich ungeeignet, das rungsgesetz bis zu den 3,5 Milliarden DM der Treu- Volk zu versöhnen, statt es zu spalten. Das gilt um so handanstalt für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gibt mehr für seine Position in Fragen wirtschaftlicher es eine Fülle von Entscheidungen für neue Arbeits- Kompetenz. All die Krisenbranchen, über die wir plätze, während man Ihrem Programm dazu wenig heute reden müssen, haben ihren Sitz in Nordrhein- entnehmen kann. Der Staat transferiert gewaltige Westfalen, von der Kohle bis zum Stahl. Die meisten Beträge in die neuen Bundesländer. Die Arbeitneh- Probleme, die wir zur Zeit diskutieren, können mit mer teilen durch ihre hohen Sozialbeiträge. Dafür ist dem Namen Rau verbunden werden. ihnen zu danken. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bin der Meinung, jetzt ist es an der Zeit, aus dem Zehn-Punkte-Papier, das der Bundeskanzler heute Er ist immerhin Ministerpräsident. Ich glaube, deswe- entworfen hat, ein weiteres Papier mit konkreten gen ist es erlaubt, dies hier zu sagen. In den persönli- Entscheidungsvorschlägen und Erfolgskontrolle für chen Bereich werden wir uns bei der Beurteilung die nächsten zwölf Monate zu entwickeln. selbstverständlich nicht abdrängen lassen. Da der Außenminister vor kurzem gesprochen hat, Lassen Sie mich noch wenige kurze Beispiele noch wenige Sätze zum Thema außenpolitische Ent- anführen, die besonders deutlich machen, wer für scheidungen. welche Position arbeitet. Wir arbeiten für stabiles (Zuruf des Abg. Horst Jungmann [Wittmoldt] Geld. Wir tun dies mit Erfolg. Der Rekord von 5,6 % [SPD]) Inflationsrate von Helmut Schmidt steht noch immer unangefochten im Raum. Wir haben bei den Haus- — Man möchte, Herr Kollege Jungmann, wohl die haltsberatungen im Haushaltsausschuß 28 Milliarden Frage stellen: Was heißt denn der Beschluß, den die DM eingespart. SPD auf ihrem Bundesparteitag zu Blauhelmeinsätzen getroffen hat, konkret? Haben Sie deswegen Ihre (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: An wel- Klage gegen AWACS-Einsätze zurückgenommen? cher Stelle?) Es hieß eben: Man entzieht sich nicht den Verpflich- Dort sind wir von niemandem, auch nicht von Ihnen, tungen gegenüber der NATO. Wie sieht es denn in überholt worden, der vielleicht mehr dafür tun wollte, diesem Falle aus? Das ist eine Verbindlichkeit der daß man die Neuverschuldung weiter herunterbe- NATO, die dort von Bundeswehrsoldaten in AWACS- kommt. Die Tatsache, daß es dem Bundeskanzler Maschinen beibehalten wird. Haben Sie Ihre Klage gelungen ist, das Europäische Währungsinstitut und zurückgenommen? — Das haben Sie nicht. künftig die Zentralbank der EU nach Frankfurt zu Haben Sie Ihre Klage gegen die Schiffchen in der holen, spricht dafür, daß unserer Politik das Vertrauen Adria zurückgenommen? — Das haben Sie nicht. für stabile Finanzen auch von seiten der Europäischen Union entgegengebracht wird. Haben Sie Ihre Verfassungsbeschwerde zum Soma- lia-Einsatz, bei dem Sie selber nicht mehr bestreiten, Weiterer Punkt: Situation auf dem Arbeitsmarkt. daß es kein kriegerischer ist, zurückgenommen? — Manch einem im Osten fehlt die Erinnerung, warum Das haben Sie nicht. der wirtschaftliche Zustand so ist, wie er ist. Na gut, manch einen von uns, auch von den eigenen (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Dann Kollegen, stört es, daß der Bundesaußenminister und sagen Sie es ihm!) der Bundesverteidigungsminister öffentlich be- 16598 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dietrich Austermann stimmte Positionen diskutieren. Aber es ist doch nicht Scharping — vom WSI des DGB — leugnen heute zu bestreiten — daß muß jedermann erkennen —, daß überhaupt noch eine strukturelle Gefährdung. Die ein Außenminister Klose mit seiner Position, die er SPD kommt bei den Problemen, die es heute in vertritt, nicht einmal in der Lage wäre, seinen eigenen Deutschland gibt, wie eine Schnecke daher: immer Regierungschef hinter sich zu behalten. hinterher, immer zu spät. Sie bietet außer plakativen Wenn man hier sagt, das könnte alles mit Geld Aussagen nichts an. gemacht werden, dann muß man vielleicht einmal an Wer sich nach den Erfahrungen der letzten Jahre die Situation im Frühjahr 1991 erinnern, als uns die Frage stellt: Wer ist geeignet, die Probleme unse- vorgeworfen wurde: Ihr löst das Problem der Golfin- res Landes zu lösen?, muß bestätigen, was wir tun. Wir tervention mit Geld. — Heute aber soll genau die sagen: Wir stimmen der Regierungspolitik zu, wir gleiche Position in einem anderen Fall vertreten stimmen dem Einzelplan des Bundeskanzlers zu, weil werden. wir der Auffassung sind: Nur er ist in der Lage, dieses Land durch die schwierige Sitution zu führen. Stimmen Sie der Grundgesetzänderung zu, dann erweisen Sie sich als handlungsfähig. Solange das Herzlichen Dank. nicht der Fall ist, kann man Sie so nicht nennen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Wir haben auch Entscheidungen zum Thema Ver- Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Tolle brechensbekämpfung getroffen. Erst hieß es auf Ihrer Aussagen! Hätten wir von Ihnen gar nicht Seite, das Thema großer Lauschangriff sei nicht das erwartet!) zentrale Thema; es gehe um die Kriminalität vor Ort. Heute kommt der Scharping hierher und sagt, es ginge doch darum, weil irgendwie alles mit organi- sierter Kriminalität zusammenhänge. Auch der kleine Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Spitzbube, der ein Auto knackt, wird angeblich fe rn Herren, nächster Redner ist unser Kollege Ortwin -gesteuert. Lowack. Ich glaube, man muß hier ganz konkret die Frage stellen: Wie sieht es mit Ihrer Bereitschaft aus, unser Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 mitzutragen? Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! Hier können Sie sich entscheiden, hier können Sie Meine Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bun- Farbe bekennen. destag! Meine Damen und Herren! Diese Haushalts- debatte scheint mir kaum geeignet, das Mißtrauen, Wollen Sie, was wir wollen, daß auch rechtsextreme das draußen in der Bevölkerung besteht, zu beseiti- Gewalt, daß Gewalt überhaupt stärker bestraft wird, gen. dann können Sie hier im Bundestag die Nagelprobe bestehen. Ich staune manchmal, in welcher Art und Weise die Bundesregierung hier in die Rolle der Opposition Beim Thema Rechtsstaatlichkeit ist es, glaube ich, schlüpft, um damit ihrer Verantwortung zu entgehen; nicht einzusehen, daß sich die SPD aus reiner Berech- eine Reihe von Fragen stellt, Aufforderungen an das nung verweigert, die Stelle des Generalbundesan- Parlament richtet, aber dabei verschleiert, daß eigent- waltes wieder zu besetzen. Da geht es doch wohl um lich sie selber in der Verantwortung steht, diese Verbrechensbekämpfung, insbesondere um die Be- Probleme zu lösen. kämpfung des organisierten Verbrechens. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Wie sieht das mit der Stelle beim Rechnungshof aus? Die kann den Bürgern viel Geld ersparen. Sie sollten Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist eine Ihre eigenen Positionen überprüfen. ungewöhnliche Art für einen Finanzminister, vor einem Jahr einen Haushalt 1993 vorzulegen und sich Ich glaube, auch bei anderen Positionen müssen wir damit zu brüsten, daß die Neuverschuldung gerade feststellen, daß sich in Deutschland in den letzten zehn einmal bei 38 Milliarden DM liegen würde, dies Jahren Gewaltiges ereignet hat. Auch heute noch ist wenige Wochen später in der Vorbereitung eines die Bundesrepublik eines der reichsten Länder der Nachtragshaushaltes auf 68 Milliarden DM zu korri- Erde, was unsere Außenpolitiker manchmal leider gieren und, wie wir wissen, letztlich einen Haushalt überschätzen, wenn sie ins Ausland fahren. vorzulegen, der mit 68 Milliarden DM Neuverschul- Fast alle Länder in unserer Nachbarschaft würden dung längst noch nicht das hat, was eigentlich dahin- gerne mit unserer Situation tauschen. Man leugnet die tersteckt, d. h. durch Verschiebungen in das neue Jahr Probleme nicht, die in unserem Land bestehen, wenn in Wirklichkeit eine größere Neuverschuldung zu man dieses feststellt. Unsere Bürger befinden sich verschleiern. aber auch in einer Wahrnehmungskrise, bedingt Es ist eine Unverfrorenheit, wenn dieser Finanzmi- durch die Medien, so daß gelegentlich darauf hinge- nister jetzt einen Haushalt für 1994 mit einer Neuver- wiesen werden muß. schuldung von 70 Milliarden DM vorlegt, und alle Jedermann muß deutlich werden, daß die Partei, die Experten wissen längst, daß die Verschuldung bei in den letzten Jahren immer zwei Jahre zu spät kam über 100 Milliarden DM liegen wird, und dazu noch — Pflegeversicherung, Bundeswehreinsätze, Ge- verschleiert, daß spätestens mit der Überführung der sundheitsreform, Bahn- und Postreform, Gentechno- Haushalte aus der deutschen Einheit in die allgemei- logie, Unternehmensentlastung, Haushaltseinsparun- nen Haushalte ab 1. Januar 1995 ungefähr eine halbe gen —, wohl kein Garant für Aufwärtsentwicklung Billion DM, 500 Milliarden DM, auf den Haushalt sein kann. Die wirtschaftlichen Berater von Herrn zukommen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16599

Ortwin Lowack Meine sehr verehrten Damen und Herren, ohnehin gleichzeitig 93,3 Milliarden DM in den europäischen scheint mir das Rechnen eine der großen Schwächen Topf einzahlt. dieser Bundesregierung zu sein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht ja (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Sehr weiter. Der Adhäsionsfonds und andere Strukturfonds gut!) geben uns überhaupt keine Gelegenheit mehr, zu überprüfen, was mit den Geldern geschieht; denn die Da fährt der Bundeskanzler nach China und hat von Länder, die das abrufen, haben überhaupt keinen Tuten und Blasen keine Ahnung. Ich kann das deswe- Begründungszwang. Sie h andeln das ausschließlich gen sagen, weil ich weiß, woher er seine Informatio- mit der Europäischen Gemeinschaft aus. Der deutsche nen über China bekommt, nämlich aus dem Auswär- Steuerzahler und das deutsche Parlament können das tigen Amt. Wenn im Auswärtigen Amt nachgefragt überhaupt nicht mehr beeinflussen. wird, was eigentlich China ist und ob es da nicht wenigstens noch ein zweites gebe, nämlich das Klein- Auch Maastricht, meine sehr verehrten Damen und China oder Taiwan-China, dann kriegt man von dort Herren, kann doch nicht die Konsequenzen haben, die keine Antworten, sondern diese Anfragen landen in der Brüsseler Gipfel mit der maßgeblichen Beteili- der Regel bei mir. Ich weiß also, wovon ich rede. Dann gung des Bundeskanzlers haben durfte. hätte nämlich der Bundeskanzler bei seiner Fahrt Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich festgehal- nach Peking zumindest einplanen müssen, daß dort ten, daß es keine Europäische Union gibt, sondern ein kleines chinesisches Volk, 20 Millionen Einwoh- einen Staatenverbund. Es hat ausdrücklich festgehal- ner, wirtschaftlich unglaublich stark arbeitet, das ten, daß dieser Deutsche Bundestag — und zwar nicht gleiche Bruttosozialprodukt erwirtschaftet wie auf Grund eigener Machtvollkommenheit, sondern 580 Millionen Festlandschinesen und vor allen Din- als Beauftragter des Souveräns, des deutschen Vol- gen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung ganz kes — die Aufgabe hat, eine Mindestsubstanz an Chinas durch hohe Investitionen hat. Rechten deutscher Rechtsstaatlichkeit zu erhalten Jetzt kommt die Rechnung. Der Bundeskanzler läßt und eine Kontrollfunktion über den Ministerrat und sich dafür feiern, daß er Aufträge — und ich muß Europa zu bewahren. einmal die Wahrheit sagen — bisher überhaupt nur in Wenn der Bundeskanzler das in Brüssel vergißt, einer Größenordnung von etwa 2 Milliarden DM dann muß er vom Deutschen Bundestag eine klare einigermaßen gesichert nach Hause bringt und unsi- Aufforderung bekommen, daß er deutsche Interessen cher vielleicht noch ein paar Milliarden DM mehr. zu wahren und sich zuallererst an die Entscheidung Und was ist die Bilanz? Hätte man am 28. Januar des Bundesverfassungsgerichts zu halten hat. dieses Jahres zugestimmt, daß deutsche Werften Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Unterseeboote ohne Bewaffnung — die wir ja nicht überhaupt manchmal den Eindruck, daß die ord- machen —, Fregatten ohne Bewaffnung — die wir nende Hand an der Spitze dieser Regierung fehlt. Es auch nicht gemacht hätten — geliefert hätten, wäre gibt Ressortdenken. Da werden Dinge kurzfristig das ein Auftrag von 12 Milliarden DM für die deutsche gelöst, weil sie ins Ressort passen, aber die ordnende Werftindustrie gewesen, zuzüglich etwa 17 Milliarden Hand, die koordiniert, daß man z. B. bei Zukunftsin- DM Folgeaufträge auch für Frachtschiffe und letztlich dustrien nichts streichen darf, daß man bei For- auch für den ICE in Taiwan. schungsvorhaben nichts streichen darf, alle Resso rts (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause aufeinander abstimmt, weil wir sonst unsere Zukunft [Bonese] [fraktionslos]) verbauen, fehlt vollkommen. In dieser Richtung geschieht überhaupt nichts. Wenn ich das zusammenzähle, dann ergibt das ein Zehnfaches von dem, was der Bundeskanzler aus Ich stimme dem Kollegen Solms zu, der gesagt hat, China mitgebracht hat. Aber er läßt es eben als großen es gelte, die Agonie der Gesellschaft — so hat er es Erfolg verkaufen. formuliert — zu überwinden. Ich weiß nicht, ob der Kollege Solms wirklich wußte, was er mit diesem Eine weitere Sache, meine sehr verehrten Damen Begriff zum Ausdruck gebracht hat, denn „Agonie" und Herren, über die wir uns in den nächsten Monaten bedeutet „Todeskampf " . „Phlegma" hätte man besser mit aller Klarheit hier im Parlament unterhalten müs- verstehen können. sen: Die Deutsche Bundesb ank hat in den letzten Tagen verstärkt gefordert, daß endlich die Finanzie- Er hat aber recht: Der gesamte Mittelstand befindet rung der Europäischen Gemeinschaft auf den Prüf- sich, mit wenigen Ausnahmen, heute bereits in einer stand kommt. Die Deutsche Bundesb ank befürchtet Auseinandersetzung mit einem Gestrüpp von Geset- nämlich, daß wir weit mehr, als unserer wirtschaftli- zen, Vorschriften und Maßnahmen, die ihm von der chen Kraft entspricht, an Beiträgen an Europa zah- Politik auferlegt werden. Wir werden in fünf bis sieben len. Jahren 30 % weniger Mittelstand haben, weil das niemand mehr aushält. Der Todeskampf vieler Ich halte es schon für einen Skandal — und ich Betriebe hat längst begonnen. Die hohe Fremdkapi- wundere mich, daß hier im Parlament überhaupt talfinanzierung, die heute bei vielen Be trieben festzu- niemand diese Sache auch nur antippt —, daß die stellen ist, drückt vielen Bet rieben bereits die Gurgel neuen Bundesländer, die das strukturschwächste zu. Gebiet in Europa sind, 50 % in der Wirtschaftskraft unter Griechenland liegen, nur deshalb Strukturmittel Nichts, aber auch gar nichts vermag ich in diesem bis 1999 in einer Größenordnung von 27 Milliarden Haushalt zu erkennen, was wirklich wegweisend ist, DM bekommen, weil der deutsche Steuerzahler was ihn wirklich aus der Misere herausführen kann. 16600 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ortwin Lowack Man soll kluge Menschen zitieren. Deshalb darf ich land müsse nach der Einheit in der NATO verbleiben. jemanden zitieren, nämlich den Kollegen Michael Er wußte von einer Kommission der Fraktion, die Glos. 14 Tage vorher in Moskau war, längst, daß diese (Zuruf des Abg. Rudi Walther [Zierenberg] Zustimmung vorlag. Was er hier hochgespielt hat, ist [SPD]) eigene Propaganda, sonst nichts. Er war derjenige, der aus der Forderung der Sowjets Anfang Juni 1990, — Er ist ein vernünftiger Mann, Rudi; du hast völlig 4 Milliarden DM für den Rückzug der sowje tischen recht. Ich darf ihn zitieren: Truppen aus Deutschland zu verlangen, ein Paket von Bundeskanzler und Bundesregierung sind nach 84,4 Milliarden DM — ohne Beteiligung des Parla- unserer Verfassung verpflichtet, diese Bundesre- ments im ganzen ersten halben Jahr — gemacht hat. publik zu regieren. Diesem Auftrag des Grundge- Das ist die Wahrheit. Das muß hier einmal gesagt setzes kommen sie nicht nach. Offensichtlich werden, damit die Sachen zurechtgerückt werden. meinen sie, es genüge wie im alten Rom, das Volk mit Zirkusspielen zu unterhalten. Der bisherige Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Gang der Haushaltsberatungen innerhalb des ten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Regierungslagers ist ein unserer Bürger unwürdi- Kollegin Andrea Lederer das Wort. ges Schauspiel. Unser Volk erwartet von seiner Regierung geistige Führung. Es erwartet, daß die (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Regierung kraftvolle Entscheidungen trifft, die Andrea Lederer Meine Damen und Herren! Es ist immer ein bißchen endlich die notwendige Wende für eine gesi- schwierig, wenn zwar heftige Kritik an der Bundesre- cherte Zukunft herbeiführen. Statt dessen wird gierung formuliert wird, die Grundlage und vor allem zuerst mit kraftmeierischen Erklärungen viel die Stoßrichtung aber, wie es weitergehen soll, eigent- Staub aufgewirbelt, und anschließend werden lich die Beschreibung eines Kurses ist, die noch das, Entscheidungen vertagt, wird lediglich die Exi- was die Bundesregierung mit ihrer Politik schon stenz der Koalition durch Nichtregieren gesi- angerichtet hat, noch verschärft. chert, statt die Existenz unseres Volkes zu sichern. Dabei weiß die Regierung genau, daß sie Ich will auf verschiedene Beiträge eingehen — und die Probleme nur noch kurze Zeit vor sich her- zu Beginn eine Passage des Bundeskanzlers zum schieben kann und ihre Beschlüsse neu korrigie- Stichwort Chinareise in Erinnerung rufen. Zitat: ren muß. Jetzt bestand eine der letzten Chancen, Dieser riesige Kontinent, in dem der größte Teil die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen, der Weltbevölkerung lebt, und der angrenzende um unser Staatswesen wieder auf eine gesunde pazifische Raum werden in den nächsten Jahr- finanzielle Grundlage zu stellen. Dazu fehlt aber zehnten zu einem Gravitationszentrum der Welt- der Mut. Statt dessen wird das Vertrauen der politik und ganz gewiß der Weltwirtschaft wer- Menschen in die politische Führung zerstört und den. Dieses große Land befindet sich gegenwär- werden letztlich Tendenzen gefördert, sich von tig in einem gewaltigen Aufbruch und Umbruch. unserem freiheitlichen Staatswesen enttäuscht Die Volksrepublik China will sich von Grund auf abzuwenden. modernisieren und sucht den Anschluß an die Jawohl, recht hatte Michael Glos. Er hat — das internationale wirtschaftliche und technische möchte ich fairerweise sagen — diese Presseerklä- Entwicklung. Die Modernisierung wird einen rung am 2. September 1981 als damaliger Vorsitzen- riesigen Markt öffnen und der Unternehmenszu- der des Arbeitskreises Wirtschaft der CSU-Landes- sammenarbeit auch zwischen den Firmen der gruppe abgegeben. Bundesrepublik und der Volksrepublik China ein weites Feld bieten. Die mich begleitenden füh- An der Richtigkeit dieser Aussage hat sich nichts renden Repräsentanten der deutschen Indust rie verändert. Ich fordere dieses Parlament auf. Die konnten Abschlüsse in der Größenordnung meh- Regierung ist längst nicht mehr in der Lage, ihre rerer Milliarden DM tätigen oder die Abschlüsse Aufgabe zu erfüllen. Sie nimmt längst Zuflucht zu jedenfalls vorantreiben. allen möglichen Entschuldigungen. Sie stellt Forde- Soweit der Bundeskanzler. rungen auf, die sie über Jahre selbst nicht erfüllt hat. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist. Dies stammt aus der Rede, die vor neun Jahren vom Die Stabilitätspolitik dieser Bundesregierung ging Bundeskanzler nach seiner ersten Chinareise gehal- mit Finanzminister Stoltenberg zu Ende. Als er als ten wurde. Ich finde, vom Wortlaut her ist eine möglicher Gegner des Kanzlers ausgedacht war, Identität mit dem, was heute erklärt wurde, festzustel- mußte er von der Bildfläche verschwinden. len. Dies ist wirklich erstaunlich. Das ist ein Beitrag zu einer Entwicklung, die uns alle Herr Bundeskanzler — er ist nicht mehr da —, Ihre leider in unglaubliche Schwierigkeiten und Zukunfts- Regierung ist reichlich in die Jahre gekommen. Sie belastungen geführt hat. Ich möchte heute keine haben längst angefangen, sich zu wiederholen, immer näheren Aussagen zu den unglaublichen Fehlern im dasselbe zu erzählen, bewegen aber tut sich so gut wie Zuge der deutschen Einheit machen, die unnö tig nichts — jedenfalls nicht für die 4 Millionen Arbeits- waren. losen, für die 6 bis 8 Millionen Sozialhilfeempfänge- Ich möchte nur eines feststellen: Der Bundeskanzler rinnen und -empfänger und Armen in diesem Land. hat vor der Enquete-Kommission in Berlin die absolute Die Anschaffungstouren beispielsweise nach China Unwahrheit gesagt, als er meinte, er sei derjenige nützen sicherlich dem nationalen Exportkapital; das gewesen, der Gorbatschow überzeugt habe, Deutsch- will ich gar nicht bestreiten. Es geht auch nicht darum, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16601

Andrea Lederer grundsätzlich wirtschaftliche Kooperation in Abrede Land keine Chance habe. Das ist eine Verhöhnung a ll zu stellen. Ich will auch nicht bestreiten, daß Sie ein derer, die seit drei Jahren — bei ständig steigender ganz hervorragender Kanzler sind im Hinblick darauf, Brutalität — Opfer des Rechtsextremismus geworden den großen deutschen Unternehmen Aufträge zu sind, eine Verhöhnung der inzwischen rund 80 Men- verschaffen. Ein Kanzler für die Arbeitslosen, für die schen, die seit der deutschen Wiedervereinigung sozial Schwachen, für die Obdachlosen, für die aus infolge rassistischer und rechtsextremistischer Ge- ihrem Beruf gedrängten Frauen, für die Jugendlichen, walttaten ermordet wurden. für Ausländer und Ausländerinnen, die in diesem Die Liste des Innenministers nennt lediglich 30 Op- Land leben, denen Sie mit Ihrer Politik die Zukunft fer - die 30 Opfer zuviel sind —, aber es gehört eben nehmen, das alles sind Sie allerdings nicht. auch zur Politik der Bundesregierung, zu verharmlo- Darüber kann auch ein Blendwerk nicht hinweg- sen, herunterzudrehen und nicht einmal die Fakten täuschen, das regelmäßig nach den Reisen vor den genau zu benennen, um darüber hinwegzutäuschen, Fernsehkameras veranstaltet wird. Ich finde, die Bun- daß sie mit ihrer Politik genau dafür mit eine Ursache desregierung hätte wirklich wenig Anlaß, weiterhin geboten hat. Das Schlimme ist tatsächlich, daß diese so selbstgefällig aufzutreten, wie sie das getan hat. Gewalttäter annehmen können, sie hätten hier eben doch eine Chance. Wenn die Regierung Ende nächsten Jahres, nach zwölf Jahren, von Ihnen, Herr Bundeskanzler, verlas- Der Kommentar des Bundeskanzlers zum Rechtsex- sen werden muß — ich nehme einmal an, daß es so tremismus ist schon weniger als dürftig. Diese Dürf- kommen wird, weil nach meinem Eindruck alles auf tigkeit kann auch gar nicht mehr als Zufall angesehen eine große Koalition zusteuern wird; der SPD-Partei- werden. tag ist hier ja mehrfach erwähnt worden —, dann Was ich aber für noch viel katastrophaler halte, ist hinterlassen Sie, dann hinterläßt die Bundesregierung das, was Herr Glos heute morgen geboten hat, der ja der Bundesrepublik über 4 Millionen Arbeitslose, für die CDU/CSU — nicht nur für die CSU — gespro- reichlich mehr als doppelt so viele wie bei Ihrem chen hat. Er hat tatsächlich so getan, als müsse er hier Amtsantritt — eine wirtschaftliche Wüste in den neuen mit einer Partei konkurrieren, die möglicherweise Bundesländern, die sich immer mehr in die alten — hoffentlich nicht — im nächsten Bundestag sitzen Bundesländer hinein ausbreitet. wird. Er hat so get an, als müsse er die Wähler und Wenn der Kollege Schäuble hier heute allen Ernstes Wählerinnen auf der rechten Seite durch möglichst erklärt, die Landwirtschaft sei nicht mehr in der Lage, rechte, rechtsradikale Äußerungen gewinnen. ausreichend Arbeitskräfte zu finden, dann kann ich Es ist wie so häufig: Wo die Politik im eigenen L and ihn wirklich nur auffordern, sich einmal nach Meck- in sozialer und kultureller, d. h. auch in demokrati- lenburg-Vorpommern zu begeben, wo nicht etwa scher Hinsicht einen Scherbenhaufen ange richtet hat, Arbeitskräfte gesucht werden, sondern wo ein Bet rieb sucht die Regierung die Flucht in die Außenpolitik. nach dem anderen dichtmachen muß und eine Land- Wenn man diese aber von ihren Ergebnissen und flucht größten Ausmaßes eingetreten ist, weil die weniger von Reiseerzählungen her beurteilt, die hier Menschen in diesem Bereich gar keine Arbeit mehr abgeliefert werden, dann bietet auch das wirklich finden. keinen farbenfrohen Anblick. Dabei geniert sich der Bundeskanzler gar nicht, Ich will auf die leidige Debatte unter den Stichwor- rechnerische Verdrehungen anzustellen, um die Lage ten Handlungsfähigkeit, Bündnisfähigkeit, Europa- schönzureden. Herr Ministerpräsident Scharping hat fähigkeit eingehen, die ja nun zum ich weiß nicht das Beispiel der Forschungspolitik bereits angespro- wievielten Male in mehreren Reden wieder veranstal- chen. Es gibt einen sinkenden Anteil und keine tet worden ist. Was haben Sie eigentlich für Beg riffe? Steigerung, wie es darzustellen versucht wurde. Was verstehen Sie eigentlich unter diesen Beg riffen? Der Bundeskanzler redet auch allen Ernstes davon, Wenn hier die Logik aufgemacht wird, daß der, der daß von den Menschen viel Anpassungsbereitschaft bereit ist, sich an Kampfeinsätzen zu beteiligen, h and- im Osten, in den neuen Bundesländern, abverlangt lungsfähig ist, was verstehen Sie dann eigentlich worden ist. Das ist sicher richtig so. Ich glaube, die unter Handlung? Welche Handlung planen Sie Menschen sind einigermaßen überstrapaziert, was die eigentlich? Immerhin geht es hier um Fragen eines Anforderungen an Anpassung etc. anbelangt. militärischen Einsatzes. Was ich vermißt habe, ist ein klares Wort dazu, daß Wenn Sie weiterhin sagen, wer auf diese Weise die Menschen in den neuen Bundesländern auch mit handlungsfähig ist, ist auch bündnisfähig, was verste- einigermaßen Selbstbewußtsein tatsächlich in dieser hen Sie dann eigentlich unter einer bündnisartigen Gesellschaft leben, mit ihrer Geschichte umgehen Partnerschaftskooperation, unter einem gemeinsa- können, auftreten und agieren können und Bestand- men Agieren verschiedener Staaten in Bündnissen? teil dieser Gesellschaft sind. Die Politik der massiven Was ist das für ein verquerer Begriff, wenn damit Ausgrenzung sollte endlich ein Ende haben, mit der wiederum gemeint ist, Bündnisfähigkeit erweise sich die Stimmung, die Sie auf der anderen Seite wieder dadurch, daß man militärisch überall da mitmacht, wo beklagen, produziert und verursacht worden ist. sich in der Welt Fronten bilden, wo gemeint wird, m an müsse intervenieren, wo versucht wird — was ohnehin Die Folge der Politik der Bundesregierung ist auch, nicht geht —, Konflikte militärisch zu lösen? daß sie der Ausbreitung des Rechtsextremismus Vor- schub leistet. Da findet der Bundeskanzler in seiner Dann führen Sie weiter aus: Wer auf diese militäri- heutigen Rede als einzigen, wirklich einzigen Kom- sche Art und Weise handlungs- und bündnisfähig ist, mentar einen Satz, nämlich, daß Gewalt in unserem ist dann auch europafähig. Das heißt, Sie versuchen 16602 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Andrea Lederer auch noch zu suggerieren, die europäische Idee solle Bereitschaft ziviler Organisationen, die Wasserversor- sich darüber verwirklichen, daß Sie im Grunde gung, den Straßenbau, den Bau von Krankenhäusern, genommen auf militärischer Ebene eine Kooperation Schulen etc. zu organisieren, erkundet hat. Ich wurde bis hin zum Aufbau einer Euroarmee etc. vorantrei- darauf verwiesen, daß 150 Männer vom Technischen ben. Hilfswerk dort hingeschickt werden, und das sei ausreichend. Der Rest müsse unbedingt militärisch, Das entlarvt auch die schönen Wo rte, die in der durch die Bundeswehr, erledigt werden. Sie erzählen Europadebatte vor einigen Wochen vorgeführt wor- hier jedesmal wieder, daß die zivilen Organisationen den sind, so daß eigentlich alle hellhörig werden nicht dazu in der Lage seien. müßten, was in dieser Richtung noch geplant ist. Der Verteidigungsminister hat — ich glaube, es war Der eigentliche Auftrag ist flötengegangen — er hat in der vorletzten Haushaltsdebatte — hier schon sowieso nie richtig bestanden —, die Inder sind dort einmal deutlich dargestellt, wie wunderbar die Annä- nicht eingetroffen. Das, was dort gemacht wurde, herung zwischen Ost und West im deutsch-deutschen hätte billiger und für die somalische Bevölkerung Verhältnis in einem Leopard-Panzer vonstatten gehe; ohnehin besser durch zivile Organisationen erledigt das sei ein Beispiel dafür, wie im Grunde genommen werden können. Und dann stellen sich Herr Kinkel und Herr Möllemann obendrein in der letzten Debatte auch Völkerverständigung betrieben werden könne. Er hat weiter gesagt, daß das ein Beispiel sei, wie auch hier hin und erklären, der Einsatz sei deshalb ein auf europäischer Ebene eine solche Politik verwirk- Erfolg, weil man bewiesen habe, daß Rechte und licht werden kann. Pflichten aus der UNO-Charta wahrgenommen wer- den und man jetzt einen Anspruch auf einen ständi- Wenn das der Ke rn dessen ist, was Sie unter gen Sitz im UNO-Sicherheitsrat anmelden könne. Europapolitik, unter Bündnispolitik und Handlungs- fähigkeit verstehen, kann ich nur sagen: Ich wünschte Das heißt also, daß die 1 700 Bundeswehrsoldaten mir, die Bundesregierung wäre weitaus weniger offenkundig zu dem einzigen Zweck nach Somalia handlungsfähig, als sie es leider ist; denn sie hat mit all geschickt worden sind — und einer erheblichen den Militäreinsätzen innerhalb der letzten Monate Gefahr ausgesetzt worden sind —, um vor der Welt- Fakten geschaffen, die in der Öffentlichkeit im öffentlichkeit den Anspruch auf einen Sitz im UNO- Grunde genommen viel weniger Widerspruch ge- Sicherheitsrat deutlich zu machen. Ich halte dies nicht weckt haben, als es nötig gewesen wäre. nur für einen akuten Mißbrauch der Bundeswehrsol- daten, die davon betroffen sind, sondern auch für eine Ich will noch einmal dieser endlosen Legendenbil- akute Verletzung des Anspruchs der Öffentlichkeit dung entgegentreten, daß die UNO-Charta und der auf Aufklärung und Information darüber, was die vorbehaltlose Beitritt zu den Vereinten Nationen wahren Absichten und die wahren Ziele der Bundes- automatisch die Verpflichtung eines Mitgliedstaates regierung sind. Was da betrieben wird, ist ganz nach sich zögen, an militärischen Einsätzen teilzu- eindeutig Volksverdummung. nehmen. Sie verkaufen die Bevölkerung wirklich für dumm. Ich muß das so sagen. Sie verschweigen Ich will noch kurz auf einen anderen Punkt zu sowohl die rechtlichen Grundlagen, die Gesetzestex- sprechen kommen — Stichwort Wertediskussion. te, als auch das, was in der UNO Fakt ist, nämlich daß Diese ist inzwischen hier sehr beliebt. Es ist, so glaube es diese Verpflichtung so nicht gibt. Sämtliche Mit- ich, kein Zufall, daß diese Diskussion seit der deut- gliedstaaten können sehr wohl souverän entscheiden, schen Einheit ganz massiv stattfindet. Es werden ob sie sich militärisch engagieren oder ob sie dies nicht Tugenden neu definiert, angebliches Fehlverhalten tun, ob sie sich im Rahmen von Blauhelmaktionen mit disqualifiziert und in einer Weise diskreditiert, daß Kampfeinsätzen beteiligen oder ob sie ihre wirtschaft- einem fast schlecht werden kann. Die Rede des liche Potenz dafür einsetzen, auf friedliche Art und Kollegen Glos war dafür wieder ein ganz drastisches Weise Konflikte zu lösen. Genau das verschweigen Beispiel: Pazifismus ist ein Schimpfwort; Gesamtschu- Sie, weil Sie weiterhin die Stimmung, die Bereitschaft len müssen überwunden werden. In der Diskussion in der Bevölkerung erzeugen wollen, daß Kampfein- um die innere Sicherheit soll das Stichwort der De- sätze gebilligt und mitgetragen werden. eskalation möglichst kein Begriff mehr sein. Die ganze Debatte um die Rolle der Frauen etc. wird neu Ich kann nur sagen: Wir werden alles daransetzen, entfacht. Die Frauen sollen an Heim und Herd zurück- dies zu entlarven. In der Aktuellen Stunde zu Somalia geschickt werden, was sie sich hoffentlich — ich bin haben Sie Ihr Vorgehen genauso bewiesen. Nun überzeugt, daß es so sein wird — nicht bieten lassen haben Sie diesen Einsatz in Somalia, der überflüssig werden. war und 500 Millionen DM kostet, zu verantworten. Herr Kinkel hat heute nicht auf Fragen zum Einsatz Neben den katastrophalen sozialen, wirtschaftli- ziviler Organisationen geantwortet. Die Bundesregie- chen, demokratischen Auswirkungen der Regie- rung hatte es abgelehnt, zivile Organisationen mit rungspolitik sollen die wenigen, von Kräften der humanitären Aufgaben zu beauftragen — — Studenten-, der Friedens-, der Frauen-, der Ökologie- bewegung erreichten emanzipatorischen Fortschritte (Staatsminister Helmut Schäfer: Das stimmt im gesellschaftlichen Bewußtsein mit über den Tisch doch gar nicht! Dummes Zeug!) gehen. Sie wollen das zurückdrehen. Sie wollen im — Natürlich stimmt das. Grunde genommen einen Kurs einschlagen, der nichts dazu beiträgt, nicht nur einen Industriestandort, Wir hatten eine gemeinsame Sitzung im Ausschuß. sondern auch — wie dies Herr Scharping heute Ich habe danach gefragt, ob die Bundesregierung die sagte — einen Lebensstandort zu entwickeln. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16603

Andrea Lederer Es geht hier um ein ganz bestimmtes Klima, das ihres politischen und ökonomischen Gewichts in der geschaffen werden soll. Dazu gehört auch, überhaupt Lage sind, ihre Besitzstände gegen die unberechen- auf die Idee zu kommen, einen Mann wie Steffen baren und riskanten Einflüsse anderer Staaten inner- Heitmann mit seinen Auffassungen als Bundespräsi- halb und erst recht außerhalb der Union zu schützen. dentschaftskandidaten vorzuschlagen. Es hilft über- Als Argument dafür wird angeführt, ohne Stabilität haupt nichts, wenn Sie hier noch Bärbel Bohley ins gäbe es keine Wachstums- und Währungssicher- Feld führen, die Herrn Heftmann in Schutz genommen heit. hat. Es ändert nichts daran, daß Kernpunkt der Kritik Das Wort von der Stabilität suggeriert, in altherge- die geäußerten Auffassungen von Herrn Heitmann brachter Weise einen Zustand aufrechterhalten und sind. verteidigen zu können, der längst nicht mehr vorhan- Wenn Herr Schäuble hier vorhin in der Kurzinter- den ist. Aber das Beispiel des bereits beerdigten vention noch anführt, die Menschen aus dem Osten Zeitplans für die Einführung der Währungsunion würden hier im Westen manchmal nicht so richtig zeigt, wie illusorisch das ist. Da die selbstgewählten verstanden, dann kann ich ihm aus meinen Erfahrun- Stabilitätskriterien nicht erfüllt werden, ist alles gen aus den neuen Bundesländern eines mitteilen. andere als Selbstgefälligkeit angebracht. Die Menschen dort haben in einer ganz überwältigen- den Mehrheit eines klipp und klar geäußert und Kennzeichnend für die heutige Situation ist eher die äußern es noch: Einen Herrn Heitmann auch noch als Instabilität, ein wirtschaftliches Strukturproblem, hin- Beispiel eines Ostdeutschen als Bundespräsidenten ter dem eine Wachstumskrise der westeuropäischen können sie sich nicht vorstellen. Im Gegenteil, sie Wohlstandsgesellschaften steht. Diese Krise ist durch fühlen sich ein Stück weit beleidigt, daß dieser Vor- untaugliche Versuche verstärkt worden, mittels EG- schlag so gekommen ist. Protektionismus und Expansion auf dem Weltmarkt die eigene Schwäche zu verbergen. Handelsbarrie- Wenn Frau Bohley äußert, wie in der Presse nach- ren, mehr oder minder offenkundige Preisdiktate und zulesen war, Herr Heitmann habe schon ein Problem- die rücksichtslose Verwüstung der Natur durch Roh- bewußtsein, doch es mangele ihm an der Fähigkeit, es stoffraubbau in den Entwicklungsländern haben kata- gut herüberzubringen, kann ich nur sagen: Gott sei strophale politische und wirtschaftliche Folgen. Statt Dank mangelt es ihm auch noch an dieser Fähigkeit. sie wahrzunehmen und ihre Ursachen durch eine Denn es wäre noch katastrophaler, wenn diese Auf- andere Wirtschaftspolitik zu bekämpfen, wird diesen fassungen auch noch gut herübergebracht werden Folgen durch Abschottung der Festung Europa würden. Ich finde auch nicht wie Frau Bohley — Bür- begegnet. gerrechtlerin hin oder her —, daß Herr Heitmann viele richtige Fragen aufgeworfen hat: zu den Aufgaben der Nicht nur in den bisher unzureichenden Weichen- Mutter, zum Nationalbewußtsein und zum europäi- stellungen für die Europäische Union wird dieser schen Einigungsprozeß. Ich finde, Herr Heftmann hat Abschottungsreflex seitens der deutschen und der einen großen Beitrag dazu geleistet, daß eine Rena- EG-Politik deutlich. Verstärkt wird er noch durch die tionalisierung in der Europapolitik offen diskutiert drastischen Einschnitte im Asylrecht, die Einschrän- werden kann, daß Frauen an Heim und Herd zurück- kung bei der Flüchtlingsaufnahme und die Ableh- geschickt werden sollen und daß Ausländerinnen und nung einer geregelten Einwanderung und nicht Ausländer auf ein Klima in diesem Land und auf zuletzt durch den diplomatisch kaschierten Wider- massive Angriffe treffen, die ihnen das Leben absolut stand gegen die zügige Einbindung der mittel- und schwer und unerträglich machen. osteuropäischen Nachbarn in die europäische Inte- Infolgedessen muß in diesem Zusammenhang hier gration. offen über einen solchen K andidaten diskutiert wer- Allen Argumenten in Richtung einer Renationalisie- den. rung oder von Ausstiegsoptionen aus der Euro- Ich danke. päischen Union ist die gegenseitige Bedingtheit von Vertiefung und Erweiterung entgegenzuhalten. Dies (Beifall bei der PDS/Linke Liste) gilt für die politische wie für die wirtschaftliche Ebene und bedeutet, über den formalen Abschluß von Asso- Vizepräsident Helmuth Becker: Nun hat unser Kol- ziationsverträgen hinaus, auch die schnellstmögliche lege Gerd Poppe das Wort. Öffnung der westlichen Märkte für die ost- und mitteleuropäischen Staaten und deren unverzügliche Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Einbeziehung in eine gemeinsame Außen- und Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte Sicherheitspolitik. Dabei spielt das Verhältnis zu Ruß- über den Haushalt wird einmal mehr durch erhebliche land eine wesentliche Rolle. So wichtig die Beziehun- konzeptionelle Mängel der Politik der Bundesregie- gen zu Rußland sind, und so richtig es war, Jelzin rung, auch ihrer Außenpolitik, geprägt. Um das zu gegen die rotbraunen Reaktionäre zu unterstützen — illustrieren, greife ich zwei in jüngster Vergangenheit eine Rußland-Politik über die Köpfe der Višegradstaa- häufig strapazierte Beg riffe heraus: den Beg riff der ten hinweg darf es nicht geben. Stabilität, die gesichert werden müsse, und das Wort Das zweite eingangs erwähnte Stichwort „Normali- von der sogenannten Normalisierung, die auf Grund sierung" unterstellt, nach dem Zweiten Weltkrieg der deutschen Einheit erreichbar wäre. — der mitunter samt seiner Folgen wie eine Art Im Zusammenhang mit der Europäischen Union Naturkatastrophe behandelt wird — sei im Westen wurde und wird häufig vom sogenannten Stabilitäts- Deutschlands die übliche Politik nationaler Interes- anker gesprochen. Was ist damit gemeint? Offenbar senvertretung nicht mehr möglich gewesen; nun aber, ein Kern reicher westeuropäischer Staaten, die wegen nachdem der Sozialismus verschwunden sei, könne 16604 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Gerd Poppe sie wieder aufgenommen werden. Die von der veröf- Hilfe für die hungernde und frierende Zivilbevölke- fentlichten Meinung kolportierte Diskussion be- rung verlängere den Krieg. schränkt sich dann häufig darauf, Varianten zwischen Ein minimaler Verzicht auf erobertes Gebiet reicht erklärtem nationalem Alleingang und deutscher aber für eine auch nur par tielle Rücknahme des Dominanz in Europa gegenüberzustellen. Embargos gegen Serbien keinesfalls aus. Diese muß Nun sollte gerade die deutsche Politik einen auf die auch voraussetzen, daß die ethnischen Säuberungen Zeit bis 1945 bezogenen Kontinuitätsanspruch aus- sofort beendet werden. drücklich ablehnen. Es gibt keinerlei Anlaß und Weiter muß endlich auch der Druck auf Kroatien Rechtfertigung, auf einen Bedeutungszuwachs für die erhöht werden, um dessen Einfluß auf die bosnischen deutsche Nation zu bestehen. Kroaten zu nutzen, um endlich die Blockade der Noch wird die immer lautstärker geäußerte Auffas- Hilfslieferungen zu beenden. sung, eine rein nationalstaatlich dominierte Politik sei Daß eine europäische politische Initiative die Reste in Europa wieder möglich und auch wünschenswert, des multiethnischen, -kulturellen und -religiösen von deutlichen Mehrheiten in den demokratischen Modells Bosnien-Herzegowina erhalten könnte, ist Parteien zurückgewiesen. Aber selbst die — ver- wohl kaum noch zu hoffen, zumal da nach wie vor mit gleichsweise aufgeklärtere — Regierungspolitik ist in einem einheitlichen Vorgehen der Europäischen weiten Teilen nur eine nationale Politik im euro- Union nicht zu rechnen ist. Wahrscheinlich wird nur päischen Gewand. Auch sie bedient sich jener provin- ein weiteres Mal das Versagen vor dem gewalttätigen ziellen bis nationalistischen Stimmungen, die in Nationalismus durch verbale Selbstberuhigung ver- Gestalt von Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhaß schleiert. daherkommen. Die politische Instrumentalisierung solcher Stimmungen, selbst wenn sie oftmals nur Zurück zu den grundsätzlichen Erfordernissen Ausdruck der Verunsicherung über den Zusammen- deutscher Außenpolitik. Nicht die Durchsetzung ver- bruch der gewohnten Weltordnung sein mögen, darf meintlicher nationaler Interessen, sondern die Über- nicht hingenommen werden. Sie wird auch nicht tragung staatlicher Souveränitätsrechte auf Interna- dadurch entschuldbar, daß nationalistische Tenden- tionale Institutionen und deren Demokratisierung ist zen europaweit zu registrieren sind. die notwendige Antwort auf die Herausforderungen am Ende des 20. Jahrhunderts. Welche sollten denn Den Ostblock gibt es nicht mehr. Aber auch jener diese nationalen Interessen sein? Das der deutschen Westen, der sich durch Abgrenzung gegenüber einem - Atomindustrie an Absatzmärkten in Tschechien oder klaren Feindbild im Osten definierte, ist damit ver- Bulgarien? Das der Rüstungsindustrie an Exporten in schwunden. Nationalstaatliche Regelungen sind aber internationale Krisengebiete? Das eines deutschen dadurch keineswegs erfolgsversprechender gewor- Vetorechts im Sicherheitsrat gegen Frankreich oder den, wie u. a. das Negativbeispiel der deutschen die USA? Asylregelungen zeigt. Ein Kordon sogenannter siche- rer Drittstaaten mußte eingerichtet werden, um Es ließen sich weitere solcher offensichtlichen Para- Flüchtlingsströme aus Krisengebieten abzuwehren. doxien aufzählen. Heraus käme insgesamt eine Eine solche Politik der nationalen Abgrenzung ist Mischung von „Weiter so" und „Wir sind wieder wer", nicht nur diskriminierend, sondern auch völlig aus- von Besitzstandswahrung, Großmachtträumen und sichtslos und auf groteske Weise anachronistisch. Abgrenzung, alles andere jedenfalls als ein außen- Noch deutlicher wird das im Falle der fast 10 % der politisches Konzept, das den Anforderungen an eine Menschen, denen die staatsbürgerlichen Rechte der politische Perspektive nach dem Ende des Kalten Bundesrepublik Deutschland weiter verweigert wer- Krieges und der Erkenntnis von der Begrenztheit den, obwohl sie zum Teil seit Jahrzehnten mit uns ungehemmten Wachstums gerecht werden könnte. zusammenleben. Scheinbar bestätigt die Entwicklung in Ost- und Gerade wer den weiteren Zerfall oder das Wegwan- Südosteuropa auch die Forderung einer sicherheits- dern der politischen Mitte verhindern will, muß immer politischen Kontinuität. Dies will die trotz Verlustes wieder deutlich machen, daß Bürgerrechte aus den ihrer ursprünglichen Legitima tion strukturell immer Menschenrechten und nicht aus der ethnischen Zuge- noch unveränderte NATO mit ihrer Suche nach neuen hörigkeit abgeleitet werden. Aufgaben glauben machen. Angesichts der nationalistischen Tendenzen in Im Falle des Aufnahmewunsches ost- und mitteleu- Deutschland und vielen anderen europäischen Staa- ropäischer Staaten bleiben die Aussagen des Westens ten muß sich deutsche und europäische Politik vor bisher eher unbestimmt. Meist begnügt er sich mit allem daran messen lassen, inwieweit es gelingt, diese vagen Versprechungen einer WEU-Assoziierung. Tendenzen zurückzudrängen. Politiker aus östlichen Nachbarstaaten — wie bei- (V o r s i t z: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) spielsweise gestern der tschechische Außenmini- ster — äußern sich denn auch eher skep tisch über Wir haben den Völkermord in Bosnien ständig vor Zustandekommen und Zuverlässigkeit westlicher Augen, und wenn Europa weiter versagt, wird der Sicherheitsgarantien. Einerseits sind die Ängste vor Versuch, gewaltsam ethnisch homogene Na tional- imperialen russischen Ansprüchen noch l ange nicht staaten zu erzwingen, Nachahmer finden. beseitigt, haben durch die neue russische Militärdok- Die aktuellen deutsch-französischen Vorschläge für trin sogar neue Nahrung erhalten. Andererseits bleibt die Durchsetzung humanitärer Hilfe heben sich zwar auch die Erinnerung an die westliche Appeasement deutlich von Lord Owens Zynismus ab, der meint, die politik von 1938 noch lebendig, nicht zuletzt aufgrund Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16605

Gerd Poppe der aktuellen britischen und französischen Haltung tenrechten muß endlich ein Schwerpunkt deutscher zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Außenpolitik werden. (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions- Das Beispiel des Verhältnisses der Bundesrepublik los]: Sehr richtig!) zu China belegt die anhaltende Notwendigkeit dieser Forderung. Vor wenigen Tagen diktierte der amerika- Da der Westen mit immer mehr Gremien und nische Präsident der chinesischen Regierung erfolg- Institutionen versucht, Osteuropa in Diskussionspro- reich die an der Beachtung der Menschenrechte zesse einzubinden, ohne sich in irgendeiner Weise orientierten Bedingungen für die Beibehaltung der festzulegen, ist der Wunsch der Višegradstaaten nach Meistbegünstigungsklausel für den chinesisch-ameri- baldiger NATO-Zugehörigkeit nur allzu verständlich. kanischen Handel im Rahmen der asiatisch-pazifi- Das aber genügt nicht, so berechtigt die Sicherheits- schen Wirtschaftskooperation. Fast gleichzeitig aber interessen dieser Staaten sind. Eine bloße Osterweite- diktieren die chinesischen Gastgeber dem deutschen rung der alten NATO hilft lediglich, die historischen Bundeskanzler die Bedingungen für die meistbegün- Konfrontationsstrukturen in Europa festzuschreiben. stigte Öffnung des chinesischen Marktes für deutsche Waren. Europäische Sicherheitspolitik darf keine Politik ohne oder gar gegen Rußland sein. Sie darf aber auch Übrig bleiben bedingungslose deutsche Milliarden- keine Politik ohne die USA werden. Nicht eine Groß- offerten und die verschämte Überreichung einer Liste macht Westeuropa mit der WEU als militärischem Arm mit 20 verurteilten Dissidenten an den Schlächter vom darf das Ziel sein, sondern es muß die Schaffung neuer Tienanmen-Platz. Höflich, aber auch resigniert gesamteuropäischer Strukturen mit zivilen Konfliktlö- bezeichnete gestern der Außenminister der tibeti- sungsmechanismen in enger Zusammenarbeit mit schen Exilregierung das Einknicken der Bundesregie- den USA und mit Rußland sein. Statt um wie auch rung als kontraproduktiv für die versprochene Unter- immer geographisch definierte Militärbündnisse muß stützung bei der Bewahrung der tibetischen Identi- es um kollektive Sicherheitssysteme gehen. tät. Meine Damen und Herren, wirtschaftliche oder Statt sich hinter der WEU zu verschanzen, sollte Bündnisinteressen dürfen nicht dem Schutz der Men- Westeuropa die mangels Verbindlichkeit immer noch schenrechte übergeordnet werden. Diese sind eben- ohnmächtige KSZE als nach wie vor einzige gesamt- sowenig ein konjunkturabhängiger Luxus wie die europäische Institution stärken. Erhaltung der Umwelt. Nationale Beschränktheit bie- - (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tet auf Dauer weder in Deutschl and noch woanders eine Garantie für Stabilität und Frieden. In einem solchen Rahmen könnte möglicherweise die Zukunft einer zum gesamteuropäischen Sicherheits- (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions system reformierten NATO liegen. los]: Das will doch gar keiner!) Ich danke für die Aufmerksamkeit. Jenseits solcher, zugegeben, diskussionsbedürfti- gen Perspektiven können aber kurzfristig wich tige (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ außenpolitische Akzente gesetzt werden. Zum Bei- NEN) spiel sollte sich die Bundesregierung für ein völker- rechtlich verbindliches weltweites Verbot aller ABC- Waffen und für ihre komplette Vernichtung unter Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht UNO-Aufsicht einsetzen. Es ist wenig überzeugend, der Kollege Ernst Waltemathe. wenn die Ukraine kritisiert wird, andere Staaten aber sogar Atomwaffenversuche wiederaufnehmen. Ein positives Signal deutscher Außenpolitik wäre auch der Einsatz für eine Demokratisierung und Ernst Waltemathe (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist das Schicksal von Haus- Aufwertung der UNO im Rahmen ihrer Reform. haltsberatungen, daß über den Haushalt selber zu Gleichberechtigung muß sich nicht in dem Anspruch einem Zeitpunkt geredet wird, wo der Saal sich auf Teilnahme an überholten Strukturen wie der des gegenwärtigen Sicherheitsrates ausdrücken. merklich geleert hat. Das macht uns, glaube ich, nichts aus. Aber es muß doch nicht nur über die weltweiten Ein Beitrag zur Friedenssicherung und -erhaltung außenpolitischen Aspekte geredet werden, sondern wäre schließlich nicht etwa die Erleichterung von auch über die Finanzierung von Außenpolitik. Ich will Rüstungsexporten, wie es der Kollege Lamers gefor- einen kleinen Versuch dazu unternehmen, ohne allzu dert hat, sondern ihre Einschränkung mit dem Ziel viele Zahlen zu nennen und ohne auf Vollständigkeit ihres Verbots sowie die Förderung von Projekten zur zu bestehen. Rüstungskonversion in Deutschland, aber auch in Ich will vorweg sagen, daß ich das sechste Mal für Osteuropa. meine Fraktion der Berichterstatter für den Etat des (Zuruf von der F.D.P.: Hört sich gut an, ist Auswärtigen Amtes gewesen bin. Ich kann also die aber Unsinn!) Entwicklung seit dem Haushalt 1989, d. h. vor der Vereinigung und nach der Vereinigung, beurteilen. Neben supranationaler Integration und ziviler Kon- Wenn ich davon ausgehe, daß es keinen Nachtrags- fliktschlichtung ist eine dritte Säule zeitgemäßer haushalt mehr geben wird, ist das gleichzeitig das Außenpolitik deren Orientierung an den Menschen- letzte Mal, daß ich in einer ordentlichen Haushaltsbe- rechten. Der Schutz von Menschen- und Minderhei ratung zum Haushaltsplan 1994 die Aufgabe für die 16606 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ernst Waltemathe SPD-Fraktion wahrgenommen habe, weil ich dem von Kürzungen im Etat stark be troffen sind. Es ist nächsten Bundestag nicht mehr angehören werde. deshalb die Frage zu stellen, ob wir uns dies politisch leisten können. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Schade! — Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Etwas Besseres (Beifall der Abg. Ing rid Matthäus-Maier kommt nicht nach!) [SPD]) — Ja, ich höre die empörten Rufe. Sie tun mir natürlich Unabhängig davon, daß ich meine Schwierigkeiten sehr gut. Ich weiß ja, daß ich unübertrefflich bin, aber habe, beurteilen zu sollen und zu können, wer eigent- so überheblich bin ich mm auch wieder nicht. lich die Außenpolitik dieser Bundesregierung be- stimmt: ist es nun der Bundesminister Kinkel oder der Ober die deutsche Außenpolitik ist in der Debatte Verteidigungsminister Rühe oder der Bundeskanzler heute morgen und bis jetzt bereits vieles gesagt oder — wir werden es gleich von Herrn Rose hören — worden. Ich will nicht behaupten, daß der Stellenwert vielleicht die CSU, der Außenpolitik innerhalb des Bundeshaushalts nur an Zahlen abgelesen werden kann. Würde man sich (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Diese auf die Etatansätze im Einzelplan 05, der jetzt aufge- Schwierigkeiten haben wir auch! — Gerlinde rufen ist, allein beziehen, so müßte sogar festgestellt Hämmerle [SPD]: Oder Staatsminister Schä werden, daß sich der Stellenwert des Auswärtigen fer!) Amtes und seines Haushalts auf Talfahrt begeben wäre doch die Antwort fällig, was nun die heutige hat. Rolle Deutschlands in Europa und in den internatio- Der Einzelplan des Auswärtigen Amtes machte vor nalen Beziehungen sein soll. fünf Jahren in der alten Bundesrepublik etwa 1 % des Ich habe den Eindruck, daß ein Jahr nach Mölln und Gesamthaushalts aus, nämlich rund 3 Milliarden DM ein halbes Jahr nach Solingen durch innenpolitische bei einem damaligen Gesamtetat in Westdeutschland Entwicklungen unseres Landes Ängste und Ressenti- von etwa 300 Milliarden DM. Jetzt, drei Jahre nach ments gegen Deutschland wieder anwachsen. Auf der der Vereinigung, ist ein Einzelplan mit 3,8 Milliarden anderen Seite wird in diesem Kontext durchaus nicht DM zu gewichten; 3,8 Milliarden DM innerhalb eines unbedingt Begeisterung hervorgerufen, wenn sich Gesamthaushalts von annähernd 480 Milliarden DM. Deutschland in bestimmten Bereichen stärker enga- Das sind etwa 0,8 %. gieren will. 8 Promille sind im Straßenverkehr viel. Das ist das - Auch außenpolitisch ist deshalb die Frage zu stellen, Zehnfache dessen, was noch gerade zugelassen ist. ob es unserem Ansehen in der Welt dienlich ist, wenn Aber 0,8 % bedeuten, am Gesamthaushalt gemessen, aus dem Verteidigungsauftrag an Bundeswehr und nun nicht gerade einen überragenden Haushalt. NATO ein Interventionsauftrag abgeleitet wird und Ich wiederhole: Ich behaupte nicht, daß es immer wenn Interventionen als humanitäre Hilfe umfirmiert einen festen Prozentsatz oder einen bestimmten werden. Zweifel muß es wohl auch innerhalb der Anteil geben muß. Ich behaupte auch nicht, daß man Koalition geben, wenn ich daran erinnern darf, daß es die außenpolitischen Beziehungen nur aus dem Etat kontroverse Abstimmungen im Kabinett und eine des Auswärtigen Amtes ableiten kann. Uns ist auch Klage des Koalitionspartners F.D.P. gegen Beschlüsse bewußt, daß zu einem großen Teil dieser Etat ein in bezug auf den Einsatz der Bundeswehr im Zusam- Verwaltungsetat ist, ein Personaletat, mit verhältnis- menhang mit dem ehemaligen Jugoslawien gegeben mäßig wenig operativen Mitteln. hat. In Wahrheit ist auch gegenüber dem laufenden Jahr (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ungewöhn 1993 die Manövriermasse für außenpolitische Aktivi- lich!) täten gesunken. Im Haushaltsentwurf der Bundesre- gierung stand einem nominalen Anstieg um 200 Mil- Jetzt fragt m an sich verwundert, welche Rolle und wie lange noch — — lionen DM allein schon eine Erhöhung unseres Pflicht- beitrags an die UNO um mehr als 205 Millionen DM (Zurufe von der SPD und der CDU/CSU) gegenüber. Nur dadurch war überhaupt ein scheinba- — Die SPD ist nicht an der Regierung. Die ist Oppo- rer Anstieg des auswärtigen Etats von 3,6 auf etwa sition. Aber daß innerhalb des Bundeskabinetts Mehr- 3,8 Milliarden DM zustande gekommen. heitsbeschlüsse gefaßt werden und die Minderheit vor Da aber — wie gesagt — der Aufwuchs allein durch das Verfassungsgericht zieht, das hat es noch nie den knapp 9 %igen Anteil, den Deutschland als Ver- gegeben. pflichtung an die UNO zahlt, verursacht ist, ergibt sich Jetzt fragt man sich also verwundert, welche Rolle schon aus dem Regierungsentwurf, daß operative die Bundeswehr wie lange noch in Somalia zu spielen Mittel zurückgefahren werden. hat. Vorhin hat Herr Klose in einer Replik auf die Rede Auch wenn sich der Stellenwert deutscher Außen- von Herrn Schäuble dazu bereits Stellung genommen. politik nicht an Haushaltszahlen allein ablesen läßt, so Er hat wörtlich gesagt, wenn ich das richtig im Ohr kann doch festgestellt werden, daß notwendige Maß- habe, er stehe in dieser Frage auf der Seite seines nahmen im Bereich der Abrüstungshilfe für die Ver- Wahlkreisgegners Rühe. nichtung von chemischen und atomaren Waffen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, daß zwei- (Staatsminister Helmut Schäfer: Voreilig!) tens dringend erforderliche humanitäre Hilfsmaßnah- Ich will diese Themen, die ja in den Debatten des men und daß drittens die auswärtige Kulturpolitik heutigen Tages schon eine umfangreiche Rolle von Unterdotierungen im Haushaltsansatz oder sogar gespielt haben und weiter spielen werden, nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16607

Ernst Waltemathe weiter vertiefen. Wohl aber habe ich den Eindruck, nen für die arabischen Flüchtlinge aus Palästina jetzt daß es das oberste Ziel des Bundesaußenministers ist, gekürzt, obwohl dies angesichts der schwierigen, aber für Deutschland einen Sitz im Sicherheitsrat der UNO doch zu großer Hoffnung Anlaß gebenden Verhand- zu erstreiten und diesem Ziel alles andere unterzuord- lungen zur Herstellung und Sicherung von Frieden nen. zwischen Israel und der PLO überhaupt nicht in die politische Landschaft paßt. (Zurufe von der F.D.P.: Der streitet nicht!) Auch der Ansatz für humanitäre Hilfsmaßnahmen — Zu ermöglichen. Ich möchte hier gar nicht mißver- wird erneut nicht ausreichen. standen werden. Darüber kann m an sich ja unterhal- ten. Dringend notwendige, auf völkerrechtlich verbind- In manchem Verdacht mag ich ja stehen; aber ich lichen bilateralen Abkommen beruhende konkrete stehe bestimmt nicht in dem Verdacht, daß ich ein Hilfe für die Beseitigung gefährlicher Waffen in der Nationalist oder nationalistischer Umtriebe verdäch- GUS kann mit einem Ansatz von lediglich 10 Millio- tig sei. nen DM bei weitem nicht finanziert werden. Hier hat vorhin der Bundesaußenminister, Herr Kinkel, gerade Dennoch sage ich: Nur mit Wohlverhalten und zu diesem Thema ausgeführt, wie wichtig es sei, daß vorauseilendem Gehorsam wird man dieses Ziel nicht Deutschland da verstärkt seinen Beitrag leistet, und erreichen. Also sage ich im Umkehrschluß: Man kann wie gefährlich es wäre, wenn diese Waffen in der nicht alles diesem einen Ziel unterordnen. Ukraine oder in Rußland entweder unbeaufsichtigt Da spielt der Somalia-Einsatz eine Rolle, aber auch bleiben oder sogar z. B. in Schwarzmärkte abwandern die Angst, berechtigte finanzielle Forderungen an die würden. UNO unseren Verpflichtungen bei der Beitragszah- Während für NATO-Verteidigungshilfe — für lung gegenüberzustellen. Ich werde den Verdacht Materiallieferungen an Griechenland und die Tür- nicht los — vom Berichterstattergespräch über Bera- kei — nach wie vor 60 Millionen DM zur Verfügung tungen im Haushaltsausschuß bis zum heutigen stehen, sammeln wir anderswo halbmillionenweise Tage —, daß alles an Argumenten zusammengesucht Beträge ein, die die Haushaltsnotlage zwar nicht worden ist, um bloß nicht das im Geschäftsleben und beseitigen, aber unserem Ansehen großen Schaden auch im öffentlichen Leben Übliche, nämlich die zufügen. Möglichkeit der Verrechnung von Forderung und Gegenforderung, stattfinden lassen zu müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Die NATO-Hilfe Nun will ich auch keinen Zweifel daran lassen: Die ist vertraglich auf drei Jahre festgelegt; das Bundesrepublik Deutschland muß ein zuverlässiger weiß jeder!) und pünktlicher Beitragszahler an die UNO sein und bleiben. Dies sind nur einige Beispiele dafür, daß angesichts außenpolitisch zu setzender Prioritäten die Architek- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) tur des Bundeshaushalts und des Einzelplans 05 nicht Allein der UNO-Pflichtbeitrag ist von rund 330 Mil- stimmt. lionen DM auf rund 536 Millionen DM angestiegen. Die Bundesrepublik Deutschland bedient sich inbe- Das ist eine ganze Menge Holz. sondere im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik Dahinter verbirgt sich der sogenannte normale nicht nur ihrer Beamten und ihrer Diplomaten, son- deutsche Anteil für die Finanzierung der UN, aber dern wichtiger Mittlerorganisationen. Das ist sehr auch die Finanzierung von zehn Aktionen von UNO- vernünftig. Wenn gespart werden muß, kann bei Friedenstruppen in unterschiedlichen Regionen und diesen Organisationen, die haushaltstechnisch Zu- Ländern dieser Erde. Es besteht kein Zweifel: Wir sind wendungsempfänger sind, kein Wachstum erfolgen. verpflichtet, diese 536 Millionen DM zu zahlen. Das ist selbstverständlich. Es ist jedoch das verkehrte Signal, im auswärtigen Kulturbereich überproportio- Aber es wäre doch ganz normal, die Zahlung von nal zu kürzen. Aber genau das geschieht. Forderungen aus der deutschen Beteiligung an UNO- Aktionen in Somalia, Kambodscha und dem ehemali- Die Koalition hat in den Beratungen des Haushalts- gen Jugoslawien hartnäckig in Gegenrechnung zu ausschusses vom ohnehin geschmälerten Kulturetat stellen. Es wäre auch im internen Haushaltsgebaren knapp 40 Millionen DM zusätzlich gestrichen. Nun des Bundeshaushalts insgesamt erforderlich, einen kommt noch die 10%ige Haushaltssperre von Zuwen- Saldo zu erstellen, dungen und Zuschüssen zum Erreichen der globalen Minderausgabe im Gesamthaushalt in Höhe von (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Ing rid 5 Milliarden DM hinzu. Es wird also im Etat des Matthäus-Maier [SPD]: Bravo!) Auswärtigen Amtes insbesondere den Kulturhaushalt damit, meine Damen und Herren, nicht der Auswär- mit bis zu 70 Millionen DM zusätzlich treffen kön- tige Etat mit mehr als einer halben Milliarde DM nen. belastet wird, während Einnahmen in anderen Einzel- Denn den vorhin erwähnten Beitrag an die UNO plänen zu Buche schlagen. Alle Versuche, hier zu — auch ein sogenannter 6er Titel; es steht vorne also einer korrekten Verrechnung und Berechnung zu eine 6 — von über 536 Millionen DM kann man wohl kommen, sind bislang fehlgeschlagen. nicht zum Einsparziel heranziehen. Bei der humanitä- Auf der anderen Seite werden besondere Hilfen zur ren Hilfe, deren Ansatz ohnehin nicht ausreicht, kann Linderung der Flüchtlingsnot im Nahen Osten und man auch nichts einsparen. Also werden erneut die der Beitrag zum Hilfsprogramm der Vereinten Natio- Sprachförderung, das Auslandsschulwesen, Stipen- 16608 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ernst Waltemathe dienprogramme, Wissenschaftleraustausch usw. blu- Deutschland im Jahr 1989, nämlich mindestens ten müssen, und das auch angesichts der Rede, die 100 000 auf DDR-Seite, 500 000 auf seiten der Bundes- Herr Kinkel hier vorhin gehalten hat. Er sagte, wie republik, nur noch 370 000 übrigbleiben sollen? wichtig die kulturelle Arbeit sei, auch im Hinblick auf Dies ist aus meiner Sicht, die durchaus auch durch Osteuropa. Damit wird also die ohnehin schon falsche die pazifistischen Bewegungen in der ehemaligen Architektur des Etats des Auswärtigen Amtes zusätz- DDR bestimmt ist, im Ke rn richtig. Ich bitte Sie, dies zu lich in eine Schieflage geraten. akzeptieren. Übermitteln Sie dies bitte Ihrem Vorsit- Meine Damen und Herren, bei einer parlamentari- zenden! Werben Sie bitte in Ihrer Fraktion darum, daß schen Demokratie halte ich es an sich für eine Tugend diese richtige Politik unterstützt und nicht kleingere- und für erstrebenswert, in der auswärtigen Politik det wird! einen Konsens herzustellen. Wir haben als Opposi tion (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) versucht, durch konstruktive Anträge Mittel so umzu- schichten, daß für die heute notwendigen Prioritäten in den auswärtigen Beziehungen Manövrierfähigkeit Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ebenfalls zu einer hergestellt worden wäre, ohne den Haushalt aufzu- Kurzintervention Frau Kollegin Matthäus-Maier. blähen. Es hat keine Bereitschaft bei der Koalition (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Muß das sein? — gegeben, solche Umschichtungen vorzunehmen. Klaus Lennartz [SPD]: Die Wahrheit muß Der jetzt vorliegende Einzelplan kann deshalb man im Parlament formulieren dürfen!) unsere Zustimmung leider nicht finden. Vielen Dank. Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Zur Frage „Muß das (Beifall bei der SPD) sein?" : Herr Koppelin, ohne diese Inte rvention hätte es nicht sein müssen. Herr Haschke, das, was Sie gesagt haben, kann ich Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer praktisch von vorne bis hinten unterschreiben. Es war Zwischenbemerkung hat der Kollege Haschke. Herr Scharping, der heute ausdrücklich darauf hinge- wiesen hat — übrigens an mehreren Stellen —, wo er mit dem Kanzler einig ist. Es war nie das Thema, daß in (Jena) (CDU/CSU): Frau Präsidentin, Udo Haschke der Frage der staatlichen, der ich danke Ihnen. Ich habe hinsichtlich meiner Zwi- nationalen Einheit dieser Bundeskanzler nicht gut gehandelt hat. Dies schenbemerkung bei der Rednerliste bewußt den gilt insbesondere, wenn man liest, daß z. B. Frau Kollegen Waltemathe abgewartet, weil ich ihn als Thatcher in ihren Memoiren schreibt, sie war gegen einen sehr sachlichen Kollegen aus der Opposi tion die Einheit. Unser Thema war das nicht, und er hat das schätzengelernt habe. Ich möchte diesen Kollegen heute morgen gesagt. herzlich bitten, lieber Ernst: Mach deinen Einfluß geltend, damit die Opposition historische Wahrheiten Aber jetzt frage ich Sie. Als jemandem, der die endlich zur Kenntnis nimmt, akzeptiert und die daraus deutsch - deutsche Währungsunion im Januar 1990 zu resultierenden Probleme realistisch mit anfaßt! Ich einem Zeitpunkt verlangt hat, wo nachweisbar der sage das in bezug auf die Rede Ihres Parteivorsitzen- Bundesfinanzminister wegen der Forderung, die den, des Ministerpräsidenten Scharping. westdeutsche Mark solle auch nach Ostdeutschland kommen, öffentlich gesagt hat — fast wörtlich - , ich (Klaus Lennartz [SPD]: Das hat er hervorra- hätte sie nicht mehr alle, hat mir wegen der Fehler, die gend gemacht!) zum 1. Juli 1990 gemacht worden sind, das Herz Er hat gesagt, die Politik der Bundesregierung in den geblutet. Denn es war klar, daß mit der Währungs- letzten drei bis vier Jahren wäre im Kern falsch union und diesem Umtauschkurs eine ganz große gewesen. Ich nenne jetzt einfach einmal einige Daten. gemeinsame ökonomische Anstrengung verbunden Ich nenne diese Daten als Thüringer Abgeordneter, sein mußte, weil es natürlich eine massive Aufwertung als ein Abgeordneter aus dem Teil Deutschlands, der der Ost-Mark sein würde. War es nicht ein Fehler, dort bis 1989 noch „DDR" hieß. Am 28. November 1989 hat — gegen unseren Willen — „Rückgabe vor Entschä- der Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden die digung" zu vereinbaren? 10 Punkte zur Wiederherstellung der deutschen Ein- (Widerspruch bei der CDU/CSU) heit verkündet. War das im Kern falsch? Am 3. Okto- ber 1990 haben wir endlich die deutsche Einheit — Der Deutsche Industrie- und Handelstag hat vor herstellen können. War das im Kern falsch? kurzem gesagt: 200 Milliarden DM p rivate Investitio- nen in der Pipeline wegen dieser Eigentumsregelung. (Dr. Hartmut Soell [SPD]: Das hat er ausge- — War es nicht ein Fehler, daß nicht bereits zum 1. Juli nommen!) 1990 die Investitionszulagen für die privaten Investi- Vom 21. bis 23. Oktober 1991 war Boris Jelzin hier tionen da waren? Sie kamen erst ein halbes Jahr in Bonn, in Deutschland. War es im Kern falsch, daß später. War es nicht ein Fehler, daß das große Infra- wir das endlich schaffen? Ist es gut, ist es im Kern nicht strukturprogramm noch nicht da war? War es nicht ein doch richtig, wenn der Bundeskanzler bei seinem Fehler, daß der Kanzler nicht gesagt hat, wir müssen letzten Besuch bei Bo ris Jelzin sagt, wir wollen den gemeinsam durch ein tiefes Tal der Tränen, aber wir Tag des Abzugs des letzten russischen Sodaten aus werden es schaffen, wir werden dafür die Steuern Deutschland im Jahr 1994 gemeinsam feiern? Ist das anheben müssen? im Kern falsch? Alles das hat er nicht getan. Das hat Scharping Wenn wir bei Soldaten, wenn wir bei Armee sind: Ist gemeint, und da hat er recht. So wie er es in der es im Kern falsch, daß von 600 000 Soldaten in staatlichen Einheit gut gemacht hat, so miserabel hat Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16609

Ingrid Matthäus-Maier dieser Bundeskanzler die ökonomische und soziale Drittens. Was über Schwarzarbeit geleistet werden Einheit betrieben. kann, wird leider immer mehr außerhalb der gewerb- ang- (Beifall bei der SPD — Udo Haschke [Jena] lichen Wirtschaft geleistet. Viertagewoche und L zeitarbeitslosigkeit werden dazu führen, daß wir [CDU/CSU]: Kommen Sie bitte einmal zu mir immer mehr zu einer qualifizierten Schwarzarbeit nach Thüringen, und schauen Sie sich die kommen, die keine Lohnnebenkosten, keine Sozial- furchtbar vielen Tränen über die deutsche abgaben und keinen Steuerbeitrag für die gesamte Einheit an!) Volkswirtschaft liefert. Wann soll dieser Selbstlauf gestoppt werden? Bei Der nächste Rede- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: 10 Millionen Arbeitslosen, bei 20 Millionen oder beitrag, der Beitrag unseres Kollegen Dr. Klaus Rose, wann? Jeder, der politische Verantwortung trägt oder wird zu Protokoll gegeben*). Sind Sie damit einver- tragen will, muß sagen, wie lange diese Rahmenbe- standen? — Einverstanden. dingungen bleiben sollen. Dann komme ich zum nächsten Redner, Dr. Krause. Welche konkreten nationalökonomischen Teilfra- gen müssen für jeden Wirtschaftszweig und für jede Region beantwortet werden, wenn Arbeitslosigkeit Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Frau beseitigt werden soll? Ich stelle hier nach den vielen Präsidentin! Meine Damen und Herren! Haushaltsde- Stunden Debatte fest: Bisher sind sie von niemandem batten sind politische Grundsatzdebatten. Am Ende beantwortet worden. Erstens: Wo soll produziert wer- der elften Legislaturperiode st and die Vereinigung den? Zweitens: Was? Drittens: Für welchen Markt? Westdeutschlands mit dem Gebiet der ehemaligen Viertens: Gegen welche Konkurrenz? Das heißt fünf- DDR, obwohl das niemals Ziel einer vorherigen Regie- tens: Welche Kosten müssen unterboten werden? rungserklärung gewesen war. Sechstens: Wie sollen diese Kosten unterboten wer- Die Bilanz der Regierung dieser Legislaturperiode den? Durch höhere Produktivität? Die deutsche Wirt- besteht in dreierlei: erstens einem sehr starken, schaft ist nicht schlechter geworden, aber die anderen bedrohlichen Anwachsen von Arbeitslosigkeit und sind besser geworden. Höhere Produktivität allein Betriebszusammenbrüchen, nicht nur in Mittel- wird also unsere Arbeitsplätze nicht zurückgewinnen. deutschland, zweitens in einer galoppierenden Die anderen können nachziehen. Staatsverschuldung, die der Kollege Walther mit 2 150 Niedrige Löhne. Wieviel niedriger? Niedriger als Milliarden DM bereits angegeben hat — ich möchte Polen? Niedrige Lohnnebenkosten heißt niedrige diese Zahl nur so im Raum stehenlassen —, und Sozialleistungen. Wie niedrig denn? Wie Argentinien drittens in einer Kriminalitätsexplosion, die, wenn oder andere Länder? Schließlich: Durch höhere Sub- man die 20 % im vorigen Jahr nimmt, in dieser ventionen? Zu wessen Lasten denn? Zu Lasten der Regierungsperiode wahrscheinlich weit über 50 % anderen Wirtschaftszweige? Wie lange soll dieser betragen wird. Selbstlauf gehen? Oder — das sage ich als Alternative, Lassen Sie mich aber bitte nur zum wichtigsten die im Detail für jeden Wirtschaftszweig geprüft nationalen Problem sprechen: zur Arbeitslosigkeit, werden muß — einen Protektionismus, wie ihn die die auch die Außenwirtschaftspolitik dominieren Landwirtschaft in Europa bisher hat? muß. Was sind Arbeitslose? In Mitteldeutschland haben 4,5 Millionen Menschen, darunter 3 Millionen Die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern ist Frauen, die Arbeit verloren. Zusätzlich werden über — einmal von der Bauwirtschaft abgesehen; das ist ein 2 Millionen Arbeitslose in Westdeutschland gezählt. anderes Feld — der einzige produktive Wirtschafts- Das sind zusammen bereits 6,5 Millionen. Arbeitslose zweig, der einen gesicherten Absatz hat. Warum hat sind nicht nur die, die Arbeitslosengeld und Arbeits- er diesen Absatz? Weil es einen Protektionismus auf losenhilfe bekommen, sondern auch die, die in Kurz- europäischer Ebene gibt. arbeit, in Umschulung, in Vorruhestand, in ABM oder Welche Ziele soll nach meiner Auffassung eine in Sozialhilfe sind. Es sind auch die arbeitswilligen nationalökonomische Politik zur Beseitigung der Ehepartner von „Nocharbeitsplatzbesitzern" und die Arbeitslosigkeit haben? Kleineigentümer ohne Arbeit und Einkommen, die in den nächsten Jahren einen großen Teil der Bevölke- Erstens. Schutz unserer Arbeitsplätze ist konkret rung in Mitteldeutschland ausmachen werden. der Schutz des Binnenmarktes vor Billigkonkurrenz. Im Selbstlauf und bei Fortbestehen des Freihandels Zweitens. Soziale Marktwirtschaft nach innen muß gehen Wirtschaft und Arbeitslosigkeit in drei Richtun- von einem gezielten branchenspezifischen Protektio- gen, wenn die Politik nicht gegensteuert: nismus nach außen begleitet sein. Mitterrand wurde Erstens. Was importabel ist, wird eingeführt oder ins hier zitiert: Staat ist eine nationale Sozialgemein- Ausland verlagert. Billigimporte sind nationalökono- schaft. Deswegen müssen wir darüber nachdenken, misch gesehen legalisierte Schmugglerware und sind ob die Grenzen des Protektionismus nicht identisch verantwortlich für die steigende Arbeitslosigkeit. sein müssen mit den Grenzen dieser nationalen Sozi- algemeinschaft. Wenn die Grenzen um ganz Europa Zweitens. Was automatisierbar ist, kann in Markt- sind, aber die Grenzen der Sozialgemeinschaft nur um nähe bleiben, wenn konkurrenzfähige Maschinen- Deutschland, dann ist hier eine Diskrepanz, die besei- laufzeiten gesichert sind. Aber auch dies führt zu tigt werden muß. einem Verlust heimischer Arbeitsplätze. Drittens. Was in Deutschl and hergestellt werden *) Anlage 2 kann, darf nicht zu Dumpingpreisen importiert wer- 16610 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. 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Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) den, wenn wir die deutsche Konkurrenz erhalten schen Wirtschaft erlaubt sein. Das ist hier im Detail wollen. schon angesprochen worden. Ich kann mir sparen, Viertens. Umweltabgaben und geplante Energie- weiter darauf einzugehen. steuern im Inneren müssen durch Umweltzölle und Drittens. Importabschöpfungen und Exporterstat- Energiezölle gegen Billiganbieter kompensiert wer- tungen analog der Landwirtschaft für alle die Wirt- den. schaftszweige, die es zu schützen oder wiederherzu- stellen gilt. Hier geht es nicht um ein Entweder-Oder, Das heißt fünftens Abschaffung jeder Eigendiskri- sondern wir müssen der Bevölkerung, wir müssen den minierung der deutschen Wirtschaft. Das heißt auch arbeitslosen Frauen klar sagen, wann sie wieder Abschaffung jeder grünen Eigendiskriminierung. Hemden werden nähen können und wann nicht. Aber es wird noch beim Tagesordnungspunkt über Ansonsten muß man sagen: Solange ihr lebt und den Umwelthaushalt Gelegenheit sein, darüber zu solange es dieses Bündnis zwischen Bundestag und sprechen. Bundesrat gibt, wird es keine Änderung geben. M an Schließlich sechstens — das ist hier schon gesagt muß das klar sagen. worden — Umbau des sozialen Finanzierungssystems Viertens. Protektionismus nach außen muß mit von Sozialabgaben auf die Arbeit in Deutschland sozialer Marktwirtschaft nach innen verbunden sein. — wie zu Bismarcks Zeiten und noch heute — zu Das heißt konkret: Chancengleichheit für den lei- Sozialsteuern auf den Verbrauch in Deutschl and. stungsfähigen Wettbewerb nach innen muß mit Niemand soll sich durch Kauf ausländischer Waren Schutz vor Wettbewerbsverzerrung von außen ein- aus der sozialen Verantwortung stehlen können. hergehen. Herr Scharping hat heute zum erstenmal hier ähn- Fünftens. Ich will keinen neuen Sozialismus — daß liches gesagt: daß wir davon abkommen müssen, das ganz klar ist —, schon gar keinen nationalen. allein die Arbeitnehmer in Deutschland mit Sozialab- Aber: Arbeit für Deutschland muß das Ziel einer gaben zu belasten, sondern wir müssen das gesamte deutschen Regierung sein und Priorität haben vor Volk und, meine ich, das gesamte Käuferpotential in Gewinnen für das internationale Freihandelskapital. Deutschland zu einer Sozialsteuer heranziehen, nicht Sechstens und letztens. Der Abgeordnete Walther zusätzlich, sondern an Stelle der Sozialabgaben. — sicher ein Fachmann — will keine nationalen, (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Man sondern einen europäischen Beschäftigungspakt. kann sich seine Verbündeten leider nicht Angesichts von sechs bis acht Millionen real existie- aussuchen!) renden Arbeitslosen in Deutschland sind das sehr offene Worte. Ich stimme denen aus der Regierungs- Zum letzten Kapitel: Wirtschaftspolitische Ziele koalition zu, die sagen: Nach der heutigen Debatte hat deutscher Europapolitik. die SPD keine konkrete Alternative gegen Arbeitslo- Erstens. Gleiche Pflichten für alle Länder Europas. sigkeit gebracht. Das heißt, wenn wir eine gemeinsame EG mit offenen Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Keine deutsche Grenzen haben, müssen wir fordern: gleiche Sozial- Regierung darf die Interessen des deutschen Volkes ausgaben, gleiche Einwanderungsquoten, gleiche auf dem Altar Westeuropas oder gar des Freihandels Umweltauflagen, gleiche Art der Strafverfolgung und opfern, heute nicht und auch in Zukunft nicht. Demo- einen gegenseitigen Warenaustausch ohne Wettbe- kratie heißt, daß das deutsche Volk Herr sein muß im werbsverzerrung, d. h. natürlich auch eine Subven- eigenen Haus. tionsgleichstellung. Wer das nicht will, betreibt einen Danke schön. Antiprotektionismus zum Schaden der deutschen Wirtschaft. Zweitens. Solange solche Ungleichgewichte inner- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht halb Europas bestehen, brauchen wir zum Schutz der der Abgeordnete Dr. B riefs. deutschen Wirtschaft und der deutschen Arbeit einen sozialen Protektionismus auch innerhalb Europas. Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Frau Präsidentin! Was verstehe ich unter „Antiprotektionismus"? Meine Damen und Herren! Das, was wir gerade 1981 — Sie entsinnen sich — kam es zu großen gehört haben, hatte für mich Züge eines Manifests des Stahlstreiks in Lothringen. Es gab ein Übereinkom- ökonomischen Wahnsinns. Das will ich einmal ganz men zwischen Schmidt und seinem Freund Giscard klar sagen. d'Estaing. 200 DM wurden aus einem gemeinsamen (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Aber da Stahlfonds je Tonne gezahlt: nach Belgien, Großbri- war es sehr konsequent!) tannien, Italien und Frankreich. Das meiste bezahlte Mehr lohnt es sich darüber, glaube ich, nicht zu Deutschland. Damals begann es, daß selbst Rheinhau- sagen. sen als modernstes Werk nicht mehr wettbewerbsfä- hig war. — Sie sehen, daß auch die Fernseh- und Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, es ist Rundfunkhörer in Mitteldeutschland schon damals fast eine Legislaturperiode seit der Vollendung der sehr gut informiert waren. deutschen Einheit — wie es ebenso schön wie falsch heißt — vergangen. Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen. (Uwe Lühr [F.D.P.]: Ist es denn wahr!) Die politische Bilanz Deutschlands und die Bilanz Zu Waffengeschäften: Ich muß sagen, der Empfän- dieser Koalition und dieses Bundeskanzlers im Jahre 4 ger ist entscheidend. Was Frankreich, den USA und nach der Wiedervereinigung sehen jedoch düster aus: England erlaubt ist, muß in Zukunft auch der deut- Fast vier Millionen Arbeitslose sind bei den Arbeits- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16611

Dr. Ulrich Briefs ämtern erfaßt. In Wirklichkeit fehlen ca. sieben Mil- politik, sind Absprachen, sind verbindliche, abge- lionen Arbeitsplätze. Jede Hoffnung auf die Wieder- stimmte Verhaltensweisen von Staat, Wirtschaft, erlangung der Vollbeschäftigung ist geschwunden, Gewerkschaften, Verbraucher- und Umweltverbän- ich fürchte, für immer. den zur Lösung von Problemen, die eben einen breiten Konsens in der Gesellschaft voraussetzen, wie dem Der Osten Deutschlands gleitet weiter in die Situa- Abbau der Massenarbeitslosigkeit und wie insbeson- tion einer völlig perspektivlosen Industriebrache ab. dere auch der Lösung ökologischer Probleme. Zwei bis drei Millionen Wohnungen fehlen. Obdach- losigkeit und Armut sind wieder zum Massenschicksal Der Verzicht der einen, der abhängig Beschäftigten, geworden. Besonders betroffen sind inzwischen Mil- muß aber insbesondere ergänzt werden durch den lionen Kinder, die unter Sozialhilfebedingungen und Verzicht der anderen, der Reichen und der wirtschaft- unter sonstigen Armutsbedingungen leben, leben lich Mächtigen. Aber dazu brauchen wir eine auf müssen. soziale Gerechtigkeit angelegte Finanz-, Steuer- und Die seit Ende der 80er Jahre zu erwartende Wirt- Haushaltspolitik und nicht die unsoziale Umvertei- schaftskrise — so ganz unerwartet ist die Entwicklung lungspolitik von unten nach oben dieser Bundesre- nicht gekommen, und sie ist deshalb wohl so tiefgrei- gierung. Weiter von unten nach oben umverteilen, das fend, weil vorher über lange Jahre ein besonders geht nicht mehr, nachdem Millionen von Beziehern starker Boom war, der noch dazu durch den Wieder- von kleinen, zum Teil sehr kleinen, und mittleren vereinigungsboom verstärkt wurde — wird nunmehr Einkommen bereit sein müssen, Einkommensverzicht genutzt, um Eckpfeiler insbesondere der gewerk- zu üben. schaftlichen Tarifpolitik zum Einsturz zu bringen. Eine wichtige Finanzmasse, die zur Disposition So positiv die Bereitschaft zur Arbeitszeitverkür- steht und stehen muß, ist der Rüstungs-, der soge- zung ohne Lohnausgleich ist, es besteht die Gefahr nannte Verteidigungshaushalt. Nicht nur daß Rüstung wie in England, wie in Frankreich, daß das gesamte auch schon im Frieden tötet, nach dem ersatzlosen Gebäude von Schutzvorkehrungen und Rechten, die Wegfall des traditionellen Feindes im Osten ist doch die Gewerkschaften in den Nachkriegsjahrzehnten einfach der Grund für die weitere Hochrüstung, wie erkämpft haben, ins Rutschen kommt und einstürzt. wir sie jetzt auch in diesem Haushalt betreiben, entfallen. Wozu brauchen wir denn in der Zukunft Angesichts der Radikalität, mit der diese Koalition 370 000 Soldaten? Wozu neues, immer raffinierteres und die in ihr dominierenden Marktradikalen ihre Gerät zum Töten von Menschen? Gegen wen soll sich Politik des Sozialabbaus betreiben, muß man sagen: das denn eines Tages einmal richten? Dem muß jetzt und ganz intensiv vorgebaut wer- den. Nein, die riesigen Mittel für die weitere Rüstung müssen in einem geordneten, planmäßigen, mittelfri- Es sei daran erinnert, daß die Deregulierungsoffen- stig organisierten Prozeß der Abrüstung für andere sive am Arbeitsmarkt und in anderen Bereichen noch Zwecke freigemacht werden, freigemacht werden für kommen wird. Den Kolleginnen und Kollegen in den den Arbeitsmarkt, für ökologische Maßnahmen, für Betrieben sei gesagt: Sie können selber bei den den Ausbau der Hochschulen, für wirklich wirksame Wahlentscheidungen des nächsten Jahres darüber Hilfe für die sogenannte Dritte Welt. mitbestimmen, ob diese Politik weitere vier Jahre so betrieben werden kann. 20 % des Rüstungshaushalts reichen, um die staatli- Resignation und Verdrossenheit, Wahlenthaltung che Entwicklungshilfe auf den seit langem von der dagegen nutzen in Deutschland allein den Rechten. UNO geforderten Satz von 0,7 % des Bruttosozialpro- Italienische Verhältnisse wird es bei den Wahlen hier dukts anzuheben. nicht geben, wird es wohl nie geben. In diesem wieder Gefährlich ist die weitere Hochrüstung aber auch nationalbewußt werdenden Lande gehen derartige deshalb — das ist ja mehrfach in der Debatte ange- Prozesse allemal nach rechts los. Das muß man mit sprochen worden —, weil sie deutsche nationale sehr viel — ich fürchte, begründeter — Furcht Großmachtbestrebungen unterstützt. Das Leitbild der sagen. Politik muß nicht ein technologisch und militärisch Die Gewerkschaften, zuerst die traditionell kampf- hochgerüstetes Großdeutschland sein, sondern ein bereite IG Medien, haben ein ganz wichtiges Signal abgerüstetes friedliches Land, das insbesondere bei gesetzt, nämlich die Bereitschaft zum Verzicht, um allen humanitären Aktionen in der Dritten Welt, in etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit und für die Katastrophenfällen, bei der Lösung ökologischer Pro- vielen arbeitslosen Menschen zu tun. Ob es aber dazu bleme auf diesem Pl aneten einen Spitzenplatz ein- kommt, daß wirklich etwas zu deren Gunsten nehmen will. Da müssen wir bestrebt sein, Spitzen- geschieht, ist insbesondere auch eine Frage des poli- plätze einzunehmen. tischen Managements, der politischen Führung. Die Politik dieser Bundesregierung, dieses Bundes- Ob der Verzicht der abhängig Beschäftigten, deren kanzlers, ist deshalb im Ansatz falsch, und nicht nur Monatsnettoeinkommen — das sei einmal erwähnt — falsch, sie ist gefährlich, sie führt dieses L and womög- bei durchschnittlich 2 600 DM liegt, zu mehr Arbeits- lich in neue Abenteuer, in neue nationale, in neue plätzen führt, ist davon abhängig, ob so etwas wie militärische Abenteuer. Sie führt auch in die Verschär- Industriepolitik realisiert werden kann, eine intelli- fung der ökologischen Probleme und nicht zu ihrer gente, sensible, moderne Industriepolitik, die neue Lösung. Sie ist insbesondere gefährlich, weil sie die Chancen erkennt und nutzt. Nicht staatlicher Dirigis- alte/neue deutsche Rechte bestätigt, bestärkt, wieder mus ist Industriepolitik, Industriepolitik ist Konsens- hochkommen läßt. Hoyerswerda, Rostock, Mölln, 16612 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Ulrich Briefs Solingen sind viel zu schnell aus dem praktizierten politische, wirtschaftliche und technologische politischen Bewußtsein verschwunden. Beziehungen zu sprechen. Die neue Rechte, inzwischen in der CSU wohl Und: mehrheitsfähig und bis weit in die CDU hineinrei- Es wäre wirklich verhängnisvoll, wenn diese .. . chend, schickt sich an, Europa und die europäische Debatte ... nur ein Ritual wäre, mit dem wir die Integration Deutschlands in Frage zu stellen. Der Bundeskanzler — das sei an der Stelle anerkennend Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Frie- gesagt — leistet dem Widerstand, nur, wie lange noch dens sozusagen abhaken würden. hat er in dieser Frage die Mehrheit in der CDU hinter Genau das hat nun aber der Bundeskanzler und sich? Vorsitzende der CDU getan: Er hat das Massaker auf In jedem Fall hat die Politik dieser Bundesregierung dem Platz des Himmlischen Friedens abgehakt. Denn erheblich zum Prozeß der Renationalisierung des der Bundeskanzler ist in China nicht in die Gefäng- Bewußtseins der Bevölkerung in Deutschland beige- nisse und Arbeitslager gegangen, hat keine Gefange- tragen. Und das ist ein völlig verantwortungsloses nen befreit, hat nicht die verfolgten Ch risten und Spiel mit einem Feuer, das schnell zu einem Flächen- unterdrückten Minderheiten besucht, hat den kom- brand werden kann. munistischen Ungeist nicht angeprangert. Er ist nicht in Tibet gewesen, wo ein ganzes Volk von den Die Politik ist gefordert, die Voraussetzungen für chinesischen Kommunisten versklavt wird. Er hat eine offene, eine im wohlverstandenen Sinne liberale, nicht über Menschenrechte für das chinesische Volk eine nicht aggressive und solidarische Gesellschaft zu verhandelt, sondern über Geschäfte. Er hat sich mit schaffen. Sozialdarwinismus in der Wirtschaft — das Mördern an einen Tisch gesetzt und mit ihnen Bezie- an die Adresse der F.D.P. —, Kürzungen, zum Teil hungen angeknüpft. Auf dem Platz des Himmlischen Kahlschläge in zukunftsorientierten Etatbereichen Friedens, wo 1989 in einem blutigen Massaker tau- wie Forschung und Technologie, Bildung und Wissen- sende chinesische Oppositionelle ermordet wurden, schaft, Umverteilung von unten nach oben, die Hoch- feuerten nun Soldaten Salut für Herrn Kohl. rüstung, das Dulden von Rechtsradikalismus, Natio- nalismus und Antisemitismus wirken in die entgegen- (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro gesetzte Richtung. nenberg) Insbesondere auch deshalb muß alles getan wer- Es ist nicht bekanntgeworden, daß der deutsche den, um 1994 im demokratischen Willensbildungspro- Bundeskanzler dort einen Kranz für die kommunisti- zeß, der ja viele Etappen haben wird, die Vorausset-- schen Gewaltopfer niedergelegt hätte. zungen für den notwendigen Wandel zu schaffen. Es In der schon erwähnten Debatte am 15. Juni 1989 darf — das ist mein ganz deutliches Gefühl, das ich seit hat über den ungeheuerlichen Zynismus geraumer Zeit habe, insbesondere aus den Erfahrun- der chinesischen Führung gesprochen. Sie zitierte gen aus einigen Berichterstattergesprächen und aus damals Deng Xiaoping, der gesagt hatte — ich der Tätigkeit im Haushaltsausschuß heraus — einfach zitiere —: nicht so weitergehen wie bisher unter dieser Koalition. Dafür muß im kommenden Jahr alles getan werden. 200 000 Tote sind nicht zuviel für mich, um Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. 20 Jahre Stabilität in der Zukunft zu garantie- ren. Und: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht unser Kollege Konrad Weiß. Was sind schon 1 Million Tote bei einer Bevölke- rungszahl von 1 Milliarde?

Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Einen der damals Verantwortlichen, den chinesi- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundes- schen Ministerpräsidenten Li Peng, hat Herr Kohl nun kanzler Kohl hat mit seiner Chinareise dem Ansehen nach Deutschland eingeladen. Des Bundeskanzlers des deutschen Volkes schweren Schaden zugefügt. Geschäftspartner soll es jetzt schon wissen: Er wird in Auf unerträgliche Weise hat sich wieder einmal der Deutschland nicht willkommen sein und keine ruhige altbekannte Ausspruch des Vespasian bewahrheitet, Minute haben. Wir haben nicht 1989 Herrn Krenz daß Geld nicht stinkt, woher es auch kommen möge. verjagt, der die Morde auf dem Platz des Himmlischen Bundeskanzler Kohl und sein Troß haben in China Friedens bejubelt hatte, um nun zu dulden, daß einer Geschäfte mit Kommunisten gemacht, für die Men- der Mörder der tapferen chinesischen Bürgerrechtler schenrechte nach wie vor ein Dreck sind. willkommener Gast in Deutschl and ist. Das BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN mißbilligt die Verhandlungen, Die Menschenverachtung, die die Bundesregierung die die Bundesregierung in China geführt hat, und und die Vertreter der deutschen Industrie dabei an fordert den Bundeskanzler auf, die Einladung an den Tag gelegt haben, ist erschreckend. Am 15. Juni Herrn Li Peng zurückzunehmen. 1989 hatte der Deutsche Bundestag das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) urteilt. In der Debatte sagte damals der Vorsitzende Die Vorstellung der Bundesregierung, man könne des Auswärtigen Ausschusses, Dr. Hans Stercken durch wirtschaftliche Verbindungen den Menschen in — ich zitiere —: China helfen, ist eine fatale und gravierende Fehlein- Aber ich weiß, daß ich mich mit den für diese schätzung. Mit jeder Mark, die aus Deutschland nach Massaker Verantwortlichen nicht an einen Tisch China fließt, mit jedem Geschäft, das deutsche Unter- setzen werde, um mit ihnen über kulturelle, nehmen mit China abschließen, wird das kommunisti- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16613

Konrad Weiß (Berlin) sehe Regime gestärkt, werden die Entmündigung, die Plankommission unterstützt. Das ist nun wirklich Unterdrückung und das Leid der Bürgerinnen und aberwitzig. Wissen CDU und F.D.P. wirklich nicht, Bürger Chinas verlängert. — Die Bundesregierung ist was für ein Instrument das ist? Vielleicht fragen Sie dabei, den Fehler zu wiederholen, den sie vor zehn einmal Ihre Kollegen aus den Blockparteien. BÜND- Jahren mit der Vergabe des Milliardenkredites an die NIS 90/DIE GRÜNEN jedenfalls wird diese deutsche DDR gemacht hat. Auch damals wurde in ein System Beihilfe zur Rettung des Kommunismus nicht mittra- investiert, das nicht reformfähig ist; das gilt auch für gen. China. — Auch Rezession und Arbeitslosigkeit in Andere Projekte, die in China aus Mitteln der Deutschland rechtfertigen diese Geschäfte nicht. Es Entwicklungspolitik oder durch Bundesbürgschaften ist ein Verbrechen, wenn deutscher Wohlstand mit realisiert werden sollen, drohen zur verantwortungs- dem Blut des chinesischen Volkes bezahlt wird. losen Verschleuderung von Steuergeldern zu entar- Aber das weiß auch die Bundesregierung. Warum ten. So ist das hochgepriesene U-Bahn-Projekt in hätte sie sonst veranlaßt, daß die Mittel für China am Kanton, das die deutschen Steuerzahler 700 Millionen 30. September in aller Eile und Stille durch den DM — nach Schätzung des „Handelsblattes" sogar Haushaltsausschuß um 350 Millionen DM aufgestockt 1 Milliarde DM — kosten wird, mit hohen Risiken worden sind, ohne zuvor den zuständigen Fachaus- belastet. Der Bundeskanzler hat deutsche Steuergel- schuß, den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenar- der für ein Projekt zugesagt, für das es bislang kein beit, zu hören? Ich bedaure, daß auch die SPD dem überzeugendes Betriebskonzept gibt, dessen weitere zugestimmt hat. Finanzierung unklar ist und dessen technologische Parameter ebenfalls unklar sind. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist nach wie vor der Auffassung, daß die Zustände in China eine wirt- Während die chinesischen Kommunisten deutsche schaftliche oder entwicklungspolitische Zusammen- Steuergelder kassieren, unterstützen Sie gleichzeitig arbeit nicht rechtfertigen. Die Menschenrechtsverlet- die schlimmsten und menschenverachtendsten Re- zungen dauern unvermindert an. In China werden gime in aller Welt mit Millionenbeträgen oder durch auch weiterhin politische Prozesse durchgeführt und Rüstungsexporte. vorbereitet, die gegen grundlegende Bürgerrechte BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwartet von den verstoßen. So ist kürzlich in der zentralchinesischen demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag, Stadt Wuhan der Führer einer von den Kommunisten daß sie die Verhandlungen der Bundesregierung mit unabhängigen Republikanischen Partei zu fünf Jah- den chinesischen Kommunisten mißbilligen und ren Haft verurteilt worden. In Peking ist der Arzt Kan keine Mittel freigeben, die das Leiden des chinesi- Yuchun am 8. Mai 1992 wegen „konterrevolutionärer schen Volkes und der von China unterdrückten Völ- Verbrechen" verhaftet worden und seither in Haft, ker verlängern würden. Wir beantragen, die freiwer- ohne daß gegen ihn Anklage erhoben wurde oder denden Mittel für solche Entwicklungsprojekte zu seine Eltern ihn gesehen oder mit ihm hätten Briefe verwenden, die die Menschenrechte achten und die austauschen können. Er sowie der Student Lu Zhi- sich demokratisch entwickeln. Wir fordern die Bun- gang und drei weitere Persönlichkeiten werden desregierung auf, ihre Politik zur Rettung des Kom- beschuldigt, 1991 die Chinesische Fortschrittsallianz munismus in China umgehend zu beenden. gegründet zu haben, eine von den Kommunisten unabhängige Partei, die zur Beendigung der kommu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nistischen Diktatur aufgerufen hat. Sechs weitere Politiker, die die Liberal-Demokrati- sche Partei Chinas begründet und zum Sturz des Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort kommunistischen Regimes aufgefordert haben, sind hat Minister Bohl. seit über einem Jahr in Haft; ihnen soll der Prozeß gemacht werden. Andere Dissidenten, auch katholi- sche Priester, sind wegen ihrer Überzeugung und ihres Glaubens verurteilt. Mehr als 1 000 Oppositio- Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- nelle sitzen ohne Anklage im Gefängnis. gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Herr Präsi- Nach wie vor wird in China gefoltert und exekutiert; dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich jährlich werden mehr als 5 000 Menschen hingerich- sehe mich veranlaßt, nach diesem Redebeitrag von tet. Den Hingerichteten werden Organe entnommen, Ihnen, Herr Kollege Weiß, das Wort für die Bundesre- ohne daß sie oder ihre Verwandten zuvor ihre Einwil- gierung zu nehmen. ligung hätten geben können. Flüchtlinge, die aus Man mag ja in außenpolitischen Fragen unter- China nach Deutschland kommen, berichten von schiedlicher Auffassung sein. Man mag auch unter- vielfältigen Diskriminierungen und Mißhandlungen schiedlicher Auffassung in der Frage der Chinapolitik von Minderheiten und Andersdenkenden. sein. Das ist sicherlich allen Fraktionen und Gruppen, allen Mitgliedern dieses Hohen Hauses unbenom- Hält angesichts all dieser Barbarei der Bundeskanz- men. Ich muß aber doch mehr als meine Verwunde- ler die Übergabe einer Liste mit den Namen von rung darüber zum Ausdruck bringen, mit welcher 20 Oppositionellen wirklich für eine Heldentat? Wortwahl Sie den Besuch des Bundeskanzlers von Ich frage mich auch, wie die Bundesregierung auf diesem Podium aus begleitet haben. Ich muß sagen, die törichte Phrase von einer sozialistischen Markt- das ist völlig inakzeptabel, und auch die Parallelen, wirtschaft hereinfallen kann und dieses Phantom u. a. die Sie zum Handeln des damaligen Politbüromit- auch noch durch Entwicklungshilfe für die Staatliche glieds herstellen, sind für mich eine 16614 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundesminister Friedrich Bohl unerträgliche Zumutung, die Sie uns angedeihen Denn ich frage mich: Wozu, lieber Herr Penner, sind lassen. Ich weise das mit Entschiedenheit zurück. wir eigentlich hier? Wir setzen uns über etwas ausein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — ander, und Sie werden es ebenso erleiden wie ich, Zuruf von der CDU/CSU: Nichts dazuge- wenn einer dabei obsiegt. Ich bin nicht versucht, in lernt! ) allen Positionen nun etwa auf einen Konsens zuzu- steuern. Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, daß gerade der Besuch des Bundeskanzlers sehr Ich möchte, weil ich so die Ausputzerrolle übernom- deutlich gemacht hat: Die Bundesregierung legt Wert men habe, doch noch einige Gedanken übermitteln, darauf, daß wir die Menschenrechtssituation in China die heute irgendwann einmal angetippt worden sind. natürlich ansprechen und darauf dringen, daß sich die Ich konnte daher leider auch kein Manuskript für das Situation weiterhin zum Guten und Besseren wen- Protokoll abgeben, weil ich es vorziehe, frei zu spre- det. chen. Sicherlich ist es aber auch ein Instrument dieses Bemühens und dieses Weges hin zu mehr Demokratie (Manfred Richter [Bremerhaven] [F.D.P.]: und Pluralismus, daß eine vernünftige internationale Das ehrt Sie!) politische, aber auch wirtschaftliche Zusammenarbeit — Das ist eine Temperamentsfrage. Es kommt einem mit der Volksrepublik China stattfindet. Das jeden- so oft mehr in den Kopf, als wenn man die Manuskripte falls ist das Bemühen der Bundesregierung und des der Ghostwriter abliest. Bundeskanzlers, und es verdient die Worte des Tadels, die Sie sich hier angemaßt haben, nicht. Im Ich halte es doch für erforderlich, daß wir in diesem Gegenteil, es verdient die Unterstützung des Hohen Haus ein Wort zu Italien sagen. Es haben sich schon Hauses, daß wir auf diesem Wege weitergehen. verschiedene Redner auf den durch die Wahlen ent- Herzlichen D ank. standenen Zustand in Italien bezogen. Das Versagen der politischen Mitte — einer Mitte, die auch in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Parlament erkennbar ist — ist der Grund dafür, daß das italienische Volk das Mittel einer Protestwahl Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort genutzt hat. Ich warne alle davor — ich sage dies, weil hat nunmehr der Abgeordnete Hans Stercken. das heute morgen schon anklang —, daraus den Rückschluß zu ziehen, daß der überwiegende Teil unserer italienischen Freunde inzwischen Marxisten Dr. Hans Stercken (CDU/CSU): Herr Präsident! oder Faschisten geworden wären. Meine Damen und Herren! Hier wurde schon auf die offenbar vorliegende Abstinenz in Sachen Außenpoli- (Beifall des Abg. Dr. [SPD]) tik an diesem Tag verwiesen. Man könnte das natür- Ich halte es für sehr wichtig, daß aus diesem Hause lich als ein Zeichen dafür werten, daß, abgesehen von eine solche Botschaft kommt. Denn wir wollen den einem Schlagabtausch, der heute morgen bereits europäischen Dialog, so denke ich, auch in dem Sinne stattgefunden hat, die außenpolitischen Kontroversen verstehen, durch unsere Möglichkeiten, durch unsere nicht so groß sind, als daß sie sich hier noch parlamen- Kontakte, durch unsere Bestärkung der Demokraten, tarisch vermarkten lassen würden. Wenn dies so wäre, die es in Italien gibt, dazu beizutragen, daß es dort könnte man daraus vielleicht sogar den Rückschluß bald wieder eine politische Mitte gibt und der Protest ziehen, daß wir nicht die Absicht hätten, unsere nicht weiter auf die Flügel der politischen Landschaft fundamentalen außenpolitischen Positionen in den in Italien ausweichen muß. Ich wünsche dies jeden- bevorstehenden 19 Wahlkämpfen des kommenden falls unseren italienischen Freunden. Jahres zur Handelsware zu machen. Ich möchte die letzte Gelegenheit in diesem Jahr Meine Damen und Herren, plötzlich steht Asien nutzen, uns allen nahezulegen, die Sensibilität, die für — schon heute morgen bei der großen Kontroverse uns alle in diesem Lande damit automatisch herauf- und jetzt noch einmal durch den Beitrag des Kollegen beschworen wird, die Rückwirkungen, die dies im Weiß — in der Mitte des außenpolitischen Teils der Ausland haben könnte, sehr wohl zu bedenken, wenn Debatte. Dazu möchte ich sagen: Ich stehe zu dem, wir die essentiellen Fragen bedenkenlos in den Wahl- was ich früher gesagt habe. Es ist nicht meine Absicht kampf des kommenden Jahres hineinrücken wür- gewesen, als der Auswärtige Ausschuß im Spektrum den. der Fraktionen entschied, eine gemeinsame Reise nach zu unternehmen, dies etwa vor dem Herr Waltemathe, dem ich mich jetzt gern zuge- China wandt hätte, ist nicht mehr erreichbar. Hintergrund zu tun, daß diese Gedanken obsolet seien. Das ist, so denke ich, bei allen Gesprächen in (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Wir einem hohen Maße zum Ausdruck gekommen. übermitteln es!) — Das ist gut. Übrigens waren unsere Partner die Parlamentarier. Wenn ich es richtig sehe, waren unsere Gesprächs- Die Frage des Konsenses, den er eingefordert hat, partner jene — von ihnen haben einige sehr offenher- um etwa auch einmal einem Haushalt des Auswärti- zige Bemerkungen auch zu diesen Ereignissen gen Amtes zuzustimmen, treibt mich natürlich sehr gemacht —, die ich in einer klugen, langfristigen um. Politik unterstützen möchte. Wir können ja diejeni- (Dr. Willfried Penner [SPD]: Man spürt es gen, die für Mord und Totschlag Verantwortung geradezu!) tragen, nicht sozusagen zum Alibi dafür nehmen, daß Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16615

Dr. Hans Stercken wir keine weiteren politischen Unternehmungen Amtes haben, ist, gemessen an anderen, etwa an der mehr andenken. vertraglich vereinbarten Waffenhilfe, verhältnismä- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ßig gering. Meine Damen und Herren, es gibt gele- gentlich schon einmal Geschäftsverteilungen. Sie wis- Da Sie das Wort in den Mund genommen Tibet sen, wie hoch die amerikanischen Zuwendungen für haben, möchte ich sagen: Wir sind dort gewesen; wir diesen Zweck sind. Sie wissen, daß wir in unserer sind sogar in einem Gefängnis dort gewesen. Debatte die Zusicherung bekommen haben, daß in (Zuruf des Abg. Konrad Weiß [Berlin] diesem Bereich im kommenden Rechnungsjahr damit [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gerechnet werden kann, daß das Verteidigungsmini- — Ja, ja. Das muß man einmal zur Kenntnis nehmen. sterium, so es erforderlich ist, überlegt, ob nicht in Die Parlamentarier machen ja gelegentlich auch ein- unserem wohlverstandenen — nicht nur deutschen, mal ein bißchen Politik; das soll schon einmal vorge- sondern auch europäischen und atlantischen — Inter- kommen sein. So haben wir das auch dort gehalten. esse eine Beschleunigung des Waffenvernichtungs- Diejenigen, die dabei waren, wissen, was wir im vorgangs möglich gemacht werden kann. Hinblick auf die Menschenrechte und auf die Entlas- sung einiger Inhaftierter erreichen konnten. Es ist für Meine Damen und Herren, das macht für mich die mich Bestandteil von Politik, daß ich etwas bewege Fußnote erforderlich zu sagen: Das alles wird beraten. und etwas ändere. Ich wäre dankbar, wenn die Fraktionen das, was beispielsweise bei uns im Ausschuß zu diesem Thema (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) beraten worden ist, gelegentlich überbringen, damit wir uns nicht nachher mit Fehlinformationen ausein- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- andersetzen müssen. geordneter Stercken, sind Sie bereit, eine Zwischen- frage des Abgeordneten Weiß zu beantworten? Eine ganz kurze Bemerkung zu einer Frage, die auch am heutigen Nachmittag mehrere Male in den Dr. Hans Stercken (CDU/CSU): Ja, bitte schön. Mittelpunkt gerückt worden ist: Wie sieht es mit der Sicherheit in Osteuropa aus? Wir hatten gerade im Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ausschuß den tschechischen Außenminister, der hier Herr Kollege Stercken, würden Sie bitte zur Kenntnis sehr besorgte Worte gesprochen hat, weil ihm eben- nehmen, daß ich nicht die Parlamentarierreise und die sowenig wie uns die Militärdoktrin behagen kann, die Reise des Auswärtigen Ausschusses kritisiert habe, vor zwei Wochen vom russischen Verteidigungsmini- sondern die Reise des Bundeskanzlers und das Ver- ster vorgetragen worden ist. Mir war jedenfalls bisher halten des Bundeskanzlers in China? Ich denke, es nicht klar, daß es eine so ausgesprochene Theorie des wäre für den Bundeskanzler doch wirklich einfach nuklearen Erstschlags gab. Die Frage, an wen sich gewesen, als Ermutigung für die chinesischen Oppo- diese Überlegung richte, hat bisher von meinen sitionellen nach außen hin deutlich zu machen, was Gesprächspartnern im Bereich Rußlands noch nie- wir als demokratische Parteien in Deutschland von mand befriedigend beantwortet. Sie problematisiert dem, was dort in China getan worden ist und immer vieles, was wir heute auch in der Wahrung der noch getan wird, halten. Meinen Sie das nicht Interessen der Allianz bedenken. Denn wenn es so auch? wäre, wie ein Journalist dort schrieb, daß sich das auch an die Adresse von asiatischen Nuklearstaaten richte, dann müssen wir im Kooperationsrat mit der NATO (CDU/CSU): Diese Bewertung Dr. Hans Stercken darüber nachdenken, wo denn durch unsere Zusam- hätten Sie dann auch unserer Reise zuteil werden menarbeit Sicherheit entstehen soll, mit wem oder lassen müssen. Denn in einem solchen Zusammen- möglicherweise auch gegen wen das zu geschehen hang stelle ich zunächst die Frage der politischen hätte. Klugheit in den Vordergrund. Was ist klug, wenn wir etwas erreichen wollen? Ich verstehe den Bundes- Hier ist die Bundeswehr als Feuerwehr in die kanzler genauso. Eine Regierung hat es allerdings Debatte eingeführt worden. Ich glaube, das vergessen wesentlich schwerer als ein parlamentarischer Ge- wir alle miteinander sehr schnell. Daß der Soldat sprächspartner. Aber ich stelle noch einmal in den — das ist auch meine persönliche Überzeugung — auf Vordergrund: Kommen Sie in den Ausschuß, und wir Dauer in unseren Gesellschaften eine ganz andere unterhalten uns darüber. Wir haben das zwischen den Funktion erhalten wird, als das in unserem bisherigen Fraktionen sehr lang miteinander bedacht. Sie wer- Denken der Fall gewesen ist, davon gehen nicht nur den dann sehen, daß es uns vornehmlich auf den viele bei uns aus, die nachdenken und wissen, daß die Effekt ankommt, den wir erreichen können, und nicht politischen Implikationen im Bereich der Sicherheit auf Prinzipien, die wir etwa in Kolloquien in Hoch- immer stärker werden. Das kann sicherlich auch im schulen anbieten können. Ich erinnere an das Wort Hinblick auf die Rolle des Soldaten nicht ausgeklam- Kiesingers, an dieser Stelle gesprochen: Wir lassen mert werden. Wer mit in Belet Uen war, weiß, daß die über vieles mit uns reden, wenn wir nur menschliche Soldaten nach dem von den Schweizern in die Entwicklungen fördern, wenn wir nur menschliche Debatte geworfenen Begriff des Miles protector auch Probleme damit lösen können. Bei dieser Grundein- Schutzfunktionen in unterschiedlichen Bereichen bis stellung bleibt es, glaube ich, bei den meisten. hin zur Ökologie — wie in Belet Uen erkennbar — Soeben ist von Herrn Waltemathe das Thema ange- übernehmen müssen. Deshalb sollten wir, meine ich, sprochen worden: Was tun wir bei unseren östlichen etwas anspruchsvoller über die Entwicklung dieser Nachbarn für die Erfüllung der Pariser Verträge? — Funktionen nachdenken, als dies durch die Bezeich- Der Titel, den wir dafür im Haushalt des Auswärtigen nung „Feuerwehr" möglich ist. 16616 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Hans Stercken Meine Damen und Herren, es ist von Begriffen die vermag mehr einzusehen, daß es in Bombay zwölf Rede gewesen, die unser politisches Leben dominie- europäische Konsuln gibt, die alle ein Visum nach ren könnten. Ich will die Wertedebatte von heute Europa ausstellen. Es ist ein Skandal, daß es bei der morgen nicht erneut aufgreifen, aber ich möchte nationalen Einstellung in vielen unserer europäischen sagen: Ein Begriff fehlt mir, wenn wir schon über Nachbarländer nicht möglich wird, den auswärtigen Außenpolitik sprechen, ganz und gar, nämlich der der und konsularischen Dienst so schnell miteinander zu Autorität. Ich kann aus der Ineffizienz verschiedener verschmelzen, wie dies von der Aufgabe der Gemein- unserer Handlungen nur schließen, daß die erforder- schaft her vorgegeben wäre. Ich wollte das nur anrei- liche Autorität und die sich daraus ergebenden Kon- ßen, ohne daß ich jetzt noch genauer darauf eingehen sequenzen nicht in wünschenswertem Maße zur Ver- kann. fügung stehen. Die letzte Zusage betrifft — da wende ich mich, Frau Wir haben hier eine UNO-Debatte geführt, und ich Staatsministerin, an Sie — die deutschen Bediensteten hoffe sehr, daß es nicht die letzte war; denn die bei den Vereinten Nationen. Ich kämpfe seit Jahr und Völkergemeinschaft hat schon etwas präziser festzu- Tag darum, daß dieser Nachholbedarf endlich erfüllt legen, wie sie denn solche Autorität — falls sie ihr wird. Ich habe mir den Vorschlag erlaubt, daß die zugewiesen wird — auch im Einzelfall durchzusetzen Bundesregierung nach dem Beispiel der Franzosen vermag. Das ist doch unser ganzes Leiden, etwa in der und vieler anderer verführe und eine zentrale Stelle Frage Bosnien. — nicht den auswärtigen Dienst, sondern den Regie- Vorgestern habe ich mit großer Aufmerksamkeit rungschef — mit dieser Aufgabe betraue. Ich habe einen „Zwischenruf" im ZDF von dessen Chefredak- vorgeschlagen, das an das Bundeskanzleramt zu dele- teur, der nicht im Verdacht steht, ein Rechtsausleger gieren. Aber es ist gesagt worden: Nein, wir wollen zu sein, gehört. Ich habe, nachdem ich festgestellt das weiter im auswärtigen Dienst behalten. habe, daß kaum jemand das gehört hat, mir vorge- Meine Damen und Herren, Deutsche bei den Ver- nommen, dies heute dem Hohen Hause zur Kenntnis einten Nationen, und zwar in sämtlichen Organisatio- zu bringen. nen: im Jahre 1985 890, am Jahrsende 1992 815, also ein Minus von 6,7 %. Das ist das Ende unserer Bemü- Allen ist klar, hungen zur Wahrung unserer Interessen in den Ver- — sagte Klaus Bresser — einten Nationen, denen wir so viele Aufgaben zuwei- daß Hilfstransporte jetzt wohl nur noch mit sen möchten, meine Damen und Herren. Gewalt ans Ziel gebracht werden können. Und (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Da was bitte tun Europas Politiker: Redend verschaf- haben Sie völlig recht! Und dann große fen sie sich ein Alibi — die Deutschen voran . . . Sprüche machen!) Die Franzosen sind nicht weniger um Eindruck Wir werden uns im Auswärtigen Ausschuß damit zu bemüht, aber konkrete Einsatzpläne gibt es auch beschäftigen haben, nicht nur in der Wahrung deut- bei ihnen nicht. Die Engländer, sie mahnen scher Interessen, sondern auch in Konsequenz all vornehm zur Zurückhaltung. Allein das kleine dessen, was wir da einfordern. Ich fordere ein, daß wir Holland ist bereit, für humanitäre Hilfe auch zu uns an dem beteiligen, zu dem die Vereinten Nationen kämpfen ... Nein, es geht nicht anders: Der Weg befähigt sein sollen, und folgere daraus dann unsere zu den hungernden und frierenden Alten, Kran- Forderung, an der Gestaltung der Sicherheitspolitik ken, Verwundeten und Kindern muß jetzt mit der Vereinten Nationen mitzuwirken. Aber dazu militärischen Mitteln freigemacht werden gegen sollten wir in den Institutionen der Vereinten Natio- Serben, die Hilfskonvois blockieren, und gegen nen auch hinreichend Personal besitzen. Kroaten, die auf Menschen schießen, die nach den aus der Luft abgeworfenen Lebensmitteln (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. suchen. Wer Nahrung, Medikamente und Brenn- sowie bei Abgeordneten der SPD) holz mit der Waffe in der H and zu den Menschen bringt, der führt ja noch nicht Krieg ... Er Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine versucht nur, Zivilisten vor dem Verrecken zu Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Bera- bewahren. tung des Einzelpans 14. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich erteile dem Abgeordneten Horst Jungmann das Meine Damen und Herren, Sie können sich un- Wort. schwer denken, warum ich das hier einmal vorgetra- (Zuruf von der F.D.P.: Ist das die Rede aus gen habe. Es treibt mich langsam wirklich um, daß dem letzten Jahr?) immer wieder angeklagt wird, ein Schuldiger da, dort oder wo immer gesucht wird. Ohne die Autorität für Horst Jungmann die Errettung der Menschen, auch diese Entschlossen- (Wittmoldt) (SPD): Wissen Sie, Herr Kollege Koppelin, ich würde heit zu besitzen, gibt es keine Alternative, um den an Ihrer Stelle ein bißchen zurückhaltender sein. Bosnien-Konflikt zu beenden. (Zuruf von der F.D.P.: Warum eigentlich?) Meine Damen und Herren, ich sehe, es steht nur noch eine Minute Redezeit zur Verfügung. Ich möchte Auf das, was Sie öffentlich ankündigen und tatsäch- sie nutzen, um ein Versprechen einzulösen. Wir wer- lich in politische Realität in diesem Plenum umsetzen, den uns in Kürze, möglicherweise sogar in einer komme ich in meiner Rede noch zurück. Anhörung, mit den neuen Strukturen für den auswär- (Beifall bei der SPD — Jürgen Koppelin tigen Dienst zu befassen haben. Denn keiner von uns [F.D.P.]: Ich bedanke mich jetzt schon!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16617

Horst Jungmann (Wittmoldt) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach- kann von Ihnen selbst nach dem, was der Haushalts- dem der Haushaltsausschuß in seiner letzten Sitzung ausschuß Ihnen auferlegt hat und in der zweiten und die weisen Beschlüsse der Koalitionsfraktionen dem dritten Lesung auch der Deutsche Bundestag mit der Plenum zur endgültigen Beratung vorgelegt hat, Mehrheit der Koalitionsfraktionen Ihnen auferlegen könnte ich mich beruhigt zurücklehnen und feststel- wird, nicht mehr überwunden werden. Die Zusagen len: Durch die globale Minderausgabe von insgesamt des Bundeskanzlers und der Verteidigungspolitiker 5 Milliarden DM muß der Verteidigungsminister aus Ihrer Fraktion vom Sommer dieses Jahres, den Plafond seinem Einzelplan 14 ca. 2,4 Milliarden DM einspa- nicht unter 48,6 Milliarden DM abzusenken, sind nach ren. dem, was Ihnen die Haushälter Ihrer Koalitionsmehr- heit ins Nest gelegt haben, nur Makulatur und nicht (Zuruf von der CDU/CSU: Vorsicht, Vor- mehr das Papier wert, auf dem sie geschrieben sind. sicht!) Die Beschlüsse der Mehrheit des Haushaltsausschus- Das bedeutet, daß die von Minister Rühe in der ersten ses haben zu einer Auflage geführt, die Sie, Herr Lesung des Haushalts am 18. September festgelegte Rühe, in eine schwierige Situation bringt. unterste Marge für den Plafond des Verteidigungs- etats zur Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit der (Bundesminister Volker Rühe: Das stimmt!) Streitkräfte von 48,6 Milliarden DM auf 46,1 Milliar- Meine Damen und Herren, es wird Sie nicht über- den DM reduziert wird. Damit, Herr Minister, sind alle raschen, daß wir diesem Verteidigungsetat so nicht Ankündigungen und Versprechungen gegenüber zustimmen können. Wir haben unsere eigenen reali- den Angehörigen der Bundeswehr, einen sozialver- stischen und sachbezogenen Kürzungsvorschläge träglichen Abbau und Strukturwandel für die Streit- eingebracht, denen Sie ohne Wenn und Aber folgen kräfte und das Zivilpersonal durchzuführen, über den sollten, denn die Koalitionsfraktionen haben in den Haufen geworfen. parlamentarischen Beratungen weder die Kraft noch Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat den Mut zu eigenen detaillierten Einsparungsvor- bei den vergangenen Haushaltsberatungen genauso schlägen aufgebracht. wie bei diesen — Herr Kollege Weng, wenn Sie bei (Beifall bei der SPD -- Abg. Dr. Wolfgang den Haushaltsberatungen zugehört hätten, hätten Sie Weng [Gerlingen] [F.D.P.] meldet sich zu gestern meinem Kollegen Wieczorek nicht den fal- einer Zwischenfrage) schen Vorwurf machen können, wir hätten keine Kürzungsvorschläge gemacht — — Lassen Sie mich diesen Gedanken noch zu Ende - bringen. (Ernst Waltemathe [SPD]: Er hört auch jetzt nicht zu!) Kommen Sie nicht mit den mageren 117 Millionen DM, die Sie unter schwierigen Bedingungen einge- Kürzungsanträge gestellt, die von Ihnen, meine lie- spart haben. Ich will mir dazu Aussagen ersparen. ben Kolleginnen und Kollegen von den Koalitions- fraktionen, immer als unrealis tisch abgetan worden Im übrigen widerspricht das, was Sie im Haushalts- sind. ausschuß gemacht haben, in eklatanter Weise dem (Zuruf von der CDU/CSU: Mit Recht!) Haushaltsrecht, der Haushaltsklarheit und Haus- haltswahrheit. Nachdem Sie in den Berichterstattergesprächen, Herr Kollege Strube, endlich einmal die Kraft aufgebracht (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: haben, mit mir gemeinsam z. B. bei der NATO- Dem Recht auf keinen Fall!) Infrastruktur 87 Millionen DM zu streichen, sind Sie, Im Haushaltsgesetz werden zur Deckung einer im nachdem Sie einen Anruf des Generalsekretärs der Einzelplan 60 ausgebrachten globalen Minderaus- NATO, des ehemaligen Verteidigungsministers Man- gabe von 5 Milliarden DM global 10 % aller Ausgaben fred Wörner, erhalten haben, bestimmter Titel gesperrt, die ein Vielfaches des im (Zuruf von der CDU/CSU: Der war sehr Haushalt ausgewiesenen Finanzierungsdefizits aus- überzeugend!) machen. Dabei sind auch Ausgaben gesperrt, die auf Grund von bestehenden gesetzlichen Verpflichtun- bei den abschließenden Entscheidungen im Haus- gen zu leisten sind oder durch bestehende Verträge haltsausschuß wieder umgefallen und waren nur zu bereits voll gebunden sind. Dies nenne ich schlicht einer mageren Kürzung von 37 Millionen DM bereit. unseriös. Wenn ich richtig informiert bin — und Sie haben ja (Zuruf von der SPD: Richtig!) Gelegenheit, Herr Strube, das nachher gegebenen- falls zu berichtigen —, ist der Ansatz für die NATO- Der Finanzminister wird ermächtigt, in derar tigen Infrastruktur nicht von der globalen Sperre ausge- Fällen einige Titel von der Sperre auszunehmen und nommen. Das heißt, daß der ursprüngliche Kürzungs- gegebenenfalls die Sperre zu verlagern. Von Klarheit betrag fast wieder erreicht wird. Haben Sie das Herrn und Wahrheit kann aber keine Rede sein. Vielmehr ist Wörner schon mitgeteilt? dies eine Bankrotterklärung der derzeitigen Regie- rungspolitik. (Ernst Waltemathe [SPD]: Herr Wörner spricht ja nur Englisch!) (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfg ang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Da klatschen noch wel Die von Herrn Rühe aufgebaute Meßlatte, einen che, ohne sich zu schämen!) Personalumfang von 370 000 Soldaten zu erreichen — darunter gehe nichts, wie er sagt — und einen — Wissen Sie, Herr Kollege Weng: Wenn Sie Ihre sozialverträglichen Umbau der Streitkräfte sowie eine Überheblichkeit einmal ein bißchen zurückstellen kontinuierliche Beschaffungspolitik durchzuführen, und auf den Boden der Realitäten zurückkommen 16618 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Horst Jungmann (Wittmoldt) würden, dann wüßten Sie, daß Sie selbst im Haus- Wenn das Parlament aber bei der Haushaltsfeststel- haltsausschuß globale Minderausgaben in einer viel lung in einer Größenordnung von 5 Milliarden DM niedrigeren Höhe kritisiert und als unparlamentarisch seine Verantwortung zum Haushaltsausgleich an den dargestellt haben. Finanzminister delegiert, der sich mit dem Haushalts- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: So ist ausschuß — und man höre und staune — noch es!) informatorisch ins Benehmen zu setzen, nicht aber seine Einwilligung einzuholen hat, und wenn Sie Jetzt tun Sie, als sei das alles rechtlich einwandfrei, immer wieder behaupten, das Parlament sei beteiligt, nämlich 5 Milliarden DM innerhalb von zwei Stunden als globale Minderausgabe einzusetzen. Nun fassen dann ist das tatsächlich eine Irreführung und politisch unveran Sie sich einmal an Ihre eigene Nase, überlegen sich, twortlich; denn Sie überlassen der Exekutive die Kürzungsmöglichkeiten und verzichten auf das was Sie sagen, und kommen dann wieder und melden sich zu Wort. Dann können Sie reden. parlamentarische Budgetrecht. Dies ist ebenfalls in allen haushaltsrechtlichen Kommentaren nachzule- (Beifall bei der SPD) sen, Herr Kollege Weng; damit Sie die Fundstellen auch finden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter Jungmann, diesen Gefallen tut er Ihnen Ich denke, ein Haushalt, der an Stelle gezielter nicht. Er bittet Sie, eine Frage zu beantworten. Ausgabenkürzungen ein Übermaß hoher globaler Minderausgaben vorsieht, kann nur formal, nicht aber materiell als ausgeglichen angesehen werden. Das Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Das werde ich tun. steht auch so in unserem Grundgesetz, nämlich in Art. 110. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Rechnerisch entfallen von den haushaltsgesetzli- geordneter Weng, Sie haben das Wort. chen Sperren auf den Verteidigungsetat 2,4 Milliar- den DM. Wie hoch der Betrag tatsächlich ist, um den Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Kol- der Verteidigungsetat gekürzt wird, weiß ich nicht. Ich lege Jungmann, nachdem ich mich an die Nase gefaßt glaube auch nicht, Herr Kollege Strube, daß Sie oder habe, gestatten Sie mir den Hinweis, daß meine Kritik Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen an globalen Minderausgaben zu Beginn einer Be- das wissen. handlung im Haushaltsausschuß nach meinem Dafür- (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Wir werden halten auch immer begründet war, daß sich aber in der das gemeinsam festlegen!) Endphase, in der wir auf Grund neuer Fakten zu dieser globalen Minderausgabe genötigt waren, der Sach- Auch der Verteidigungsminister weiß das zur Stunde verhalt anders darstellte. nicht. Deswegen gibt es erhebliche Unsicherheiten auch gegenüber den Menschen in der Bundeswehr. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Wir müs- Meine Damen und Herren, ich mache keinen Hehl sen uns jetzt das Fragezeichen hinzudenken. daraus, daß die Kürzungsanträge meiner Fraktion den (Zuruf von der CDU/CSU: Es war klar Verteidigungshaushalt auf etwa 47,2 Milliarden DM ersichtlich!) reduzieren würden. Weitere realistische Kürzungs- möglichkeiten sehe ich nur, wenn man nicht dogma- Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Ich habe das tisch an den 370 000 Soldaten festhält. schon verstanden. Ich kenne ihn ja etwas länger. Darüber hinaus gibt es natürlich noch Kürzungs- Herr Kollege Weng, wenn Sie sich einmal überle- möglichkeiten, die sich in späteren Haushaltsjahren gen, was in Art. 110 des Grundgesetzes steht, nämlich erst auswirken werden. Denn Versäumnisse und Feh- daß der Deutsche Bundestag in Einnahmen und ler, die Sie, Herr Rühe, und Ihre Vorgänger gemacht Ausgaben einen ausgeglichenen Haushalt zu verab- haben, lassen sich in ihren Folgen so schnell nicht schieden hat, dann kann Ihre Kritik, was globale korrigieren. Sie haben in der Beschaffungspolitik Minderausgaben anbetrifft, nicht am Beginn der Bera- teilweise an Planungen aus der Zeit des Kalten Krie- tungen stehen, sondern muß am Ende stehen. Denn ges festgehalten. die globale Minderausgabe ist haushaltsrechtlich und im Grundgesetz nicht vorgesehen. Sie hat sich in der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Haushaltspraxis als ein Instrument entwickelt, das Sie haben den Jager 90 nicht gestoppt. seine Berechtigung allenfalls nur in einer Größenord- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das will Herr nung hat, die erfahrungsgemäß als Bodensatz aller Schröder doch nicht!) nicht in Anspruch genommenen Ausgabenermächti- gungen verbleiben würde. Das stimmt hier nicht. — Auf Sie komme ich gleich noch zurück. Sie kriegen Wenn Sie mir das nicht glauben, Herr Kollege Ihr Fett auch noch ab, Herr Koppelin. Weng, dann lesen Sie die haushaltsrechtlichen Kom- (Heiterkeit bei der SPD) mentare nach. Da steht das alles unisono geschrieben. Die sogenannte Umorientierung auf den Das gibt Ihnen die Möglichkeit, endlich auf den Boden Euro- fighter 2000 gestaltet sich — und Sie wissen das, Herr der Realitäten zurückzukommen. Rühe — doch äußerst zäh. Die Kürzung des Jäger- (Beifall bei der SPD — Ernst Waltemathe Titels um 300 Millionen DM im letzten Jahr brachte [SPD]: Fünf, setzen!) natürlich keine Entlastung für das Programm. Sie Schon die globale Minderausgabe von 1,77 Milliar- müssen das Geld eben später mit Zins und Zinseszins den DM im Nachtragshaushalt 1993 war bedenklich. an die Rüstungsindustrie zahlen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16619

Horst Jungmann (Wittmoldt) Zusätzlich ist zu befürchten, daß auch im Jahre 1994 Steigen Sie aus! Ersparen Sie dem deutschen Steuer- die von Ihnen der Industrie präsentierte Rechnung zahler viel Geld für ein Jagdflugzeug, das im Jahre höher ausfallen wird, als Sie kalkuliert haben. Die 2002 eine Leistungsfähigkeit von Flugzeugen haben ganz große Rechnung kommt erst viel später. Der wird, die heute schon auf dem Markt zu kaufen Rechnungshof hat Ihnen ja in seinem Bericht ange- sind! deutet, was die Entwicklungskosten nach Auffassung (Beifall bei der SPD) des Rechnungshofes am Ende der Entwicklung betra- gen werden, nämlich 9,5 bis 10 Milliarden DM und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- nicht 5,85 Milliarden DM, wie das von Ihnen ange- geordneter Jungmann, der Abgeordnete Koppelin kündigt worden ist. möchte eine Zwischenfrage stellen. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Richtig, abgerechnet wird am Schluß!) Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Darf ich einmal einen Gedanken und einige Dinge im Zusammen- Leider werden wir auch noch mit den Kosten der Entwicklung — das habe ich gerade schon angedeu- hang darstellen? Sie haben ja nachher — wenn ich das richtig gesehen habe — auch noch Gelegenheit, Herr tet — große Regierungsversäumnisse mit einem hohen Preis bezahlen müssen, weil nicht rechtzeitig Koppelin, etwas zu sagen. aus dem Programm, als noch Geld hätte gespart werden können, ausgestiegen worden ist. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Es ist Ihr gutes Recht, Zwischenfragen nicht zuzulassen. (Beifall bei der SPD) Ich nehme an, Herr Kollege Weng und Kolleginnen Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Wir werden uns und Kollegen von der F.D.P., daß Sie es, wenn Sie das damit auseinandersetzen müssen, daß die derzeitige Desaster bei der Entwicklung und Erprobung des Bundesregierung der Industrie bei der Beschaffungs- Jäger 90 jetzt sehen, jetzt schon bedauern, so lange, politik die falschen Signale gegeben hat, daß sie nicht viel zu lange das Jäger-Programm gestützt zu durch eine wohlüberlegte Konversionspolitik die Wei- haben. chen in die richtige Richtung gestellt, sondern bei der Nun fordert der Herr Kollege Koppelin auch noch Beschaffung Erwartungen geweckt hat, die sich als öffentlich einen Untersuchungsausschuß unerfüllbar erweisen. Wenn jetzt Rüstungsaufträge ausbleiben, können (Zuruf von der SPD: Wofür?) die von Ihnen fehlgeleiteten Unternehmen kaum für ein Entwicklungs- und Erprobungsprogramm, das anders als mit Entlassungen reagieren, die den Sozial- mit seiner Stimme vor zwei Jahren im Verteidigungs- haushalt über Gebühr belasten werden. Damit dürfte ausschuß hätte zu Fall gebracht werden können. der Sozialhaushalt wohl bei der Deckung der globalen (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Aha! — Jürgen Minderausgabe weitgehend ausscheiden. Koppelin [F.D.P.]: Das ist nicht korrekt!) Da auch der zweitgrößte Einzelplan, nämlich der Schuldendienst, keinen Beitrag zur Deckung der — Wir können ja im Protokoll nachlesen, ob das globalen Minderausgabe leisten kann, wird dem Ein- korrekt ist. zelplan 14 ein auch von Ihnen immer wieder, Herr (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: So ist das Kollege Strube, vehement abgelehntes Sonderopfer mit der Glaubwürdigkeit!) auferlegt. Was mit dem Untersuchungsausschuß ist, das müs- Ich wiederhole: Ich weiß nicht, welcher Betrag dem sen Sie einmal mit Ihrer eigenen Fraktion abklären. Einzelplan 14 zur Deckung der im Einzelplan 60 Ich glaube, Ihre Fraktion hat in diesem Fall so ein veranschlagten globalen Minderausgabe abverlangt großes Interesse an einem Untersuchungsausschuß wird. Es werden wohl mehr sein als die von mir wie Sie nicht, weil sie nicht vorgeführt werden will, beantragten 770 Millionen DM. Es können auch welche Fehler in der Beschaffung beim Jäger 90 1,5 Milliarden DM sein, Herr Rühe, oder aber auch die gemacht worden sind. rechnerisch möglichen 2,4 Milliarden DM. Niemand in diesem Haus kann das heute eindeutig sagen. (Beifall bei der SPD — Abg. Jürgen Koppelin (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Unmöglich!) [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischen- frage) Das hat mit Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit bei der Verabschiedung eines Bundeshaushalts über- Herr Rühe, ich gebe Ihnen den guten Rat — ich rede haupt nichts zu tun. ja heute genauso wie mein Kollege Waltemathe auch zum letzten Mal —: (Beifall bei der SPD) Einem solchen Haushalt, dessen verfügbarer Pla- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch gut fond bei 48 oder bei 47 oder bei 46,1 Milliarden DM so!) oder einer beliebigen Zahl irgendwo dazwischen Ehe Sie in die Produktionsreife einsteigen, ist die liegen kann, wollen Sie die Zustimmung geben? Mit letzte Möglichkeit, aus der Beschaffungsphase auszu- den Stimmen meiner Fraktion können Sie selbstver- steigen. Dies ist die erste und letzte Möglichkeit. ständlich nicht rechnen. Wenn Sie die Produktionsphase eingeleitet haben, ist (Dr. Willfried Penner [SPD]: Richtig! Besser der „point of no return " — wie das immer so schön in kann man es nicht formulieren!) Neudeutsch heißt — erreicht. Bei der ersten Lesung des Einzelplans 14 am 8. Sep- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) tember 1993 haben Sie, Herr Kollege Strube, beklagt, 16620 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Horst Jungmann (Wittmoldt) daß die Struktur des Einzelplans 14 nicht mehr gesund ten Aktionismus angerichtet haben. Das nenne ich sei, daß die Betriebsausgaben im Verhältnis zu den vorausschauende Politik. investiven Ausgaben viel zu hoch seien. Insoweit Ein praktisches Beispiel hat der Verteidigungsaus- stimme ich Ihnen zu, aber die Lösung haben Sie und schuß am 29. September 1993 geliefert. Ich will darauf Ihre Freunde zwischen der Haushaltsberatung am nicht im Detail eingehen. 8. September und heute nicht gefunden. Im Gegensatz zu früher sehe ich nur den stellvertre- (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Kleiner An- tenden Generalinspekteur hinter der Regierungsbank satz!) sitzen; früher saßen da auch noch die Inspekteure. Ich Sie stecken wie weiland Vogel Strauß Ihre Köpfe in denke, es muß eine große Freude sein, jetzt auf der den Sand, lassen das Jahr 1994 mit aller Ungewißheit Hardthöhe einen Bundeswehrplan aufzustellen. Ich auf sich zukommen und tun nichts. wünsche Ihnen viel Vergnügen dabei, unter den Prämissen des Haushalts 1994 die Zukunft der Bun- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Der Vogel deswehr zu gestalten, für eine kleinere, aber feinere heißt jetzt Stoiber!) Bundeswehr eine auf neue Aufgaben optimierte, Sie entscheiden nach dem Motto „Mehrheit ist Mehr- Krisenreaktionskräften angemessene Ausrüstung zu heit", ohne die praktischen Auswirkungen auf die planen, wenn die Eckdaten nicht stimmen, wenn die Menschen zu berücksichtigen. Zahl von 370 000 Soldaten für den Friedensumfang ein Tabu ist. (Beifall bei der SPD) Richtig ist, Herr Rühe, daß sich auch die Bundes- Die Folgen für die Beschäftigten in der Bundeswehr wehr stetig und systema tisch an die veränderten sind Ihnen völlig egal. Damit tragen Sie zur Verunsi- Rahmenbedingungen und neuen Aufgaben anpassen cherung in den Streitkräften bei. Das haben die muß und dazu keine sich überholenden Reduzie- Menschen in der Bundeswehr nicht verdient. Sie rungsmodelle, keine immer neuen Umgliederungen, haben in schwierigen Zeiten die deutsche Einheit in kein permanentes Hin und Her bei der Stationierung, den Streitkräften unter schwierigen Bedingungen keine Spekulationen über die Änderung der Wehr- vollendet und in anerkennenswerter Weise vollzo- form, sondern Ruhe und Planungssicherheit benötigt. gen. Aber dies hat zur Voraussetzung, daß die Eckdaten Wahrscheinlich ist Ihnen jetzt auch schon gleichgül- realistisch, d. h. finanzierbar sind. Die Bundeswehr tig, was aus dem Jahre 1995 wird, wenn Sie auf der braucht also ein wohlüberlegtes, aufgabengerechtes Oppositionsbank sitzen und wir die von Ihnen einge- und finanzierungsfähiges Reduzierungsmodell sowie brockte Suppe auslöffeln dürfen. So sieht es doch eine optimale Stationierungsplanung. aus. Auch bestimmte Standorte dürfen nicht — das sage (Beifall bei der SPD — ich hier bewußt; ich habe es in den letzten vier Jahren [CDU/CSU]: Nie!) bei der Standortdebatte immer wieder gesagt — tabuisiert werden. Sie wissen, wo die größten Statio- — Man sollte im Leben, Frau Kollegin, nie nie sagen; nierungen sind: Sie sind im Süden Deutschlands. das kann einen schon morgen einholen. Dann können Sie mit dem Finanzminister — — Durch Ihre, eine völlige Ratlosigkeit offenbarende (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sie sollten nicht Reaktion auf die jüngsten Steuerschätzungen, d. h. hierhin, sondern zur SPD gucken! — Helmut durch die 10 %-Sperre auf die Ausgaben auch der Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Er kann guk- Obergruppe 55, also der verteidigungsinvestiven ken, wohin er will! — Ingrid Matthäus-Maier Ausgaben, verändern Sie die Struktur des Verteidi- [SPD]: Sie sollten ihm ins Auge schauen!) gungshaushaltes weiterhin in die verkehrte Rich- tung. — Herr Kollege Koppelin, wissen Sie, wenn ich dem Verteidigungsminister etwas sage, dann mache ich es Ich darf Ihnen vorrechnen, was geschieht, wenn der im Gegensatz zu vielen anderen Leuten so, daß ich ihn Verteidigungshaushalt, was zu befürchten ist, voll von angucke, egal wer da oder dort sitzt. der Haushaltssperre getroffen wird. Der Anteil der Betriebsausgaben steigt von 78,1 % auf 80,3 %. Der Herr Minister, noch einmal: Auch Standorte dürfen Anteil der verteidigungsinvestiven Ausgaben sinkt nicht tabuisiert werden. von jetzt 21,9 % auf nur noch 19,7 %. Dabei halten Sie Das Haushaltsgesetz sieht auch eine zusätzliche — so haben Sie es in der ersten Lesung gesagt — ein Sperre von 5 % bei den Reisekosten vor. Ich hoffe, Verhältnis von 30 % Investitionen zu 70 % Betriebs- Herr Rühe, daß diese Kürzung dazu dient, Ihre Reise- ausgaben für einen einigermaßen gesunden Ansatz. tätigkeit in Zukunft drastisch einzuschränken und daß Ich frage mich, was an dem Haushalt noch gesund Sie die Zeit sinnvoll nutzen können, um ein finanzie- ist. rungsfähiges Reduzierungsmodell für die Bundes- wehr zu erarbeiten, es sei denn, Sie haben mit Ihrer Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie politischen Laufbahn als Minister schon abgeschlos- waren nicht gut beraten, als Sie Ihren Beschlußantrag sen und überlassen die schwierigen Aufgaben den nach der Rasenmähermethode eingebracht haben, Sozialdemokraten. dessen Folgen auf den Verteidigungshaushalt Sie wohl überhaupt nicht bedacht haben. Aber so pflegen Die Ausgaben, die für die Verteidigung bewilligt Sie es ja zu halten: zuerst einmal handeln, und erst, werden sollen, sind nicht hinreichend fest bestimmt, wenn sich negative Folgen zeigen, fangen Sie an, Herr Minister. Mit Ausnahme der Personalausgaben, darüber nachzudenken, was Sie mit Ihrem unüberleg- die über 52 % des Etats ausmachen, unterliegen alle Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16621

Horst Jungmann (Wittmoldt) Ausgaben einer Sperre von mindestens 10 %, es sei Was meine Partei dazu zu sagen hat, ist hier schon denn, der Finanzminister läßt Ausnahmen zu und ausgeführt worden. erwirtschaftet die globale Minderausgabe an anderer Stelle. Diese Vorgabe gestattet keine ordnungsge- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: mäße Haushaltsführung. Die gesetzlichen und auch Aber nicht das letzte Wort!) die vertraglichen Zahlungsverpflichtungen können Maßstab dessen dürfen nicht Kampfeinsätze sein, Sie vielleicht noch erfüllen. Aber ob die Bundeswehr sondern Maßstab dessen soll die humanitäre Hilfe und ihren gesetzlichen Auftrag und ihre Bündnispflichten die Hilfe für das Leben der Menschen sein. Meine noch erfüllen kann, erscheint mir recht fraglich. Partei hat sich bewegt. Um einen verfassungspoliti- schen Konsens zu finden, muß man aufeinander Den Ausgaben liegt keine realistische Planung zugehen und kann nicht nach der Methode „Alles zugrunde. Wichtige Vorhaben der Bundeswehrpla- oder nichts" verfahren. Wer a lles will, bekommt am nung sind Makulatur. Selbst Rüstungskooperationen Ende nichts. sind gefährdet. Sie werden tiefe Eingriffe in die Übungsplanung vornehmen müssen. Die Ausbildung (Beifall bei der SPD — Jürgen Koppelin wird zurückgeschnitten werden müssen. Die Infra- [F.D.P.]: Die SPD sollte sich bewegen!) strukturplanung wird desolat sein. Den Entwurf des Bundeswehrplans 1995, den Sie dem Parlament im Meine Damen und Herren, der Verteidigungshaus- Dezember vorlegen sollen, können Sie gleich dem halt ist der Ausdruck einer verfehlten, nicht zu Ende Reißwolf überantworten. Er ist nämlich nicht mehr das gedachten Verteidigungspolitik, die nicht der realen Papier wert. Umwelt gerecht wird. (Beifall bei der SPD) (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Rich tig! ) Zu Somalia ist heute schon viel gesagt worden. Die Entscheidung, die die Bundesregierung damals Die Bundesregierung läuft Gefahr, in diesem Bereich getroffen hat, sich an der UNO-Mission in Somalia zu den Rest ihrer Glaubwürdigkeit, falls sie überhaupt beteiligen, war meiner Auffassung weniger von der noch eine hat, zu verlieren. Der Verteidigungsmini- Überzeugung der Notwendigkeit des Einsatzes ster müßte nach dem, was er in der ersten Lesung bestimmt. Sie diente vielmehr innenpolitisch dazu, gesagt hat, eigentlich seinen Hut nehmen, wenn Fakten zu schaffen. Dabei ist am Ende ein ungeord- dieser Haushalt in der zweiten und dritten Lesung so neter, zwischen dem Verteidigungs- und dem Außen- - beschlossen wird. minister strittiger Rückzug herausgekommen, (Beifall bei der SPD) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Leider wahr!) Ich wiederhole: Meine Fraktion stimmt diesem nach der nicht dazu geeignet ist, das Ansehen der Bundes- meiner Auffassung gegen das Grundgesetz versto- republik zu stärken. ßenden Verteidigungshaushalt nicht zu. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das kann tionen, Sie haben beim Haushalt 1993 schon einmal man wohl sagen!) eine Beschlußempfehlung der Mehrheit im Haus- Herr Minister, ziehen Sie die Soldaten so schnell wie haltsausschuß in der zweiten Lesung an den Haus- möglich ab! haltsausschuß zurücküberwiesen. Da ging es um die (Beifall bei der SPD) Personalstruktur. Damals waren Sie guten Argumen- ten zugänglich und haben eingesehen, daß dies, auch Sie haben das vor. Der Außenminister sollte Sie nicht wenn Sie es im Plenum des Deutschen Bundestages daran hindern. Denn 300 Millionen DM könnten beschließen würden, nicht realisierbar wäre. Deswe- sinnvoller und effektiver für humanitäre Hilfe einge- gen gebe ich Ihnen den guten Rat und die Empfeh- setzt werden, wie z. B. auf dem Balkan oder in lung: Verfahren Sie genauso wie damals mit der Kambodscha. Beschlußempfehlung heute mit dem Bundeshaushalt 1994 in seiner Gesamtheit und überweisen Sie ihn an Den Soldaten ist wegen der Entscheidung der den Haushaltsausschuß zurück, damit gegebenenfalls Bundesregierung überhaupt kein Vorwurf zu machen. auf der Basis eines neuen Regierungsentwurfs das Sie haben aus der von der Regierung verfahrenen Parlament, seiner verfassungsmäßigen Aufgabe ent- Situation das Beste gemacht. sprechend, einen in Einnahmen und Ausgaben aus- geglichenen Bundeshaushalt feststellen kann. Mein besonderer D ank gilt vor allem den Piloten und Besatzungen der Transall-Maschinen, Es würde diesem Hause gut anstehen, wenn politi- sche Entscheidungen, die zum Haushaltsausgleich (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der notwendig sind, vom Parlament ge troffen und nicht F.D.P.) ohne Not der Exekutive überlassen werden. die fast täglich unter Lebensgefahr Lebensmittel und (Beifall bei der SPD) Medikamente nach Sarajevo einfliegen und gemein- sam mit Franzosen und Amerikanern über Bosnien Sie haben dazu nicht mehr die Kraft. Das Ende Ihrer abwerfen. Koalition beginnt damit. Schönen D ank für die Aufmerksamkeit. Wir müssen endlich eine politische Lösung für den Einsatz der Bundeswehr unter UNO-Befehl finden. (Beifall bei der SPD) 16622 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Flexibilität bei der Haushaltsdurchführung, die es der nun dem Abgeordneten Hans-Gerd Strube das Regierung im Benehmen mit uns gestattet, alle unab- Wort. weisbar notwendigen Ausgaben zu leisten und dabei der Entwicklung der finanziellen Rahmenbedingun- gen Rechnung zu tragen. Hans-Gerd Strube (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Natürlich kann niemand erwarten, der Verteidi- Horst Jungmann, ich habe mich bei Ihrer Rede gungsbereich könne voll entlastet werden. Aber, gefragt: Was hätten Sie bloß heute gesagt, wenn wir meine Damen und Herren, ebenso kann niemand die 5 Milliarden DM nicht global gesperrt hätten? Es erwarten, daß der Verteidigungsminister die Hälfte muß doch ein ganz besonders hervorragendes Gefühl der globalen Minderausgaben erbringt. Auch ohne für Sie gewesen sein, einmal in eine andere Rolle Berücksichtigung dieser haushaltsgesetzlichen schlüpfen zu dürfen. Sperre haben wir der Bundeswehr mit dem Verteidi- gungshaushalt einen so engen Anzug geschneidert, (Ernst Waltemathe [SPD]: Ach, Sie haben ihm daß er nicht nur kneift, sondern eine Schlankheitskur die Rede ermöglicht? Das war der eigentliche erfordert. Grund?) Der Verteidigungshaushalt 1994 sieht nach den Die Bundeswehr muß schlanker werden. Der Frie- Empfehlungen des Haushaltsausschusses Ausgaben densumfang wird bis Ende 1994 auf 370 000 Soldaten in Höhe von rund 48,5 Milliarden DM vor. Das sind reduziert. Nur, ganz verzichten können wir auf eine etwa 1,4 Milliarden DM weniger, als der Plafond für einsatzfähige, entsprechend den Erfordernissen im 1993 ausweist, bzw. rund 1 Milliarde DM weniger, als Bündnis ausgerüstete Bundeswehr nicht. Denn auch der Verteidigungsminister nach Abzug der im Nach- wenn sich die Aufgaben im Bündnis w andeln und eine tragshaushalt ausgebrachten Sperren und Verstär- große Konfrontation mit dem Osten weniger aktuell kungen für die Lohnrunde 1993 in diesem Jahr aus- ist, so müssen wir doch feststellen, daß zahlreiche geben kann. Konfliktherde mit allen ihren Risiken weiter bestehen, Nach Abschluß der Beratungen im Haushaltsaus- ja, noch neu entstehen. Das Bündnis der NATO ist für schuß mußten die Steuereinnahmeschätzungen nach unsere nationale Sicherheit unverzichtbar. Es steht unten korrigiert werden; denn auch die „fünf Weisen" nicht zur Disposition. des Sachverständigenrates sehen für 1994 noch keine Konjunkturbelebung. Da wir einen ausgeglichenen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Haushalt zu verabschieden haben und uns nicht noch höher verschulden können, müssen die Staatsausga- Aus Anlaß der ersten Lesung des Haushalts 1994 ben in größtmöglichem Umfang eingeschränkt wer- habe ich beklagt, daß der Regierungsentwurf ein den. Deshalb haben wir im Bundeshaushalt eine weiteres Absinken der Investitionen um rund 1,6 Mil- globale Minderausgabe von 5 Milliarden DM vorge- liarden DM auf einen Anteil von nur noch knapp sehen, zu der auch der Verteidigungshaushalt seinen 21,5 % am Verteidigungshaushalt vorgesehen hat. Ich Beitrag leisten muß. habe angekündigt, daß wir bei den Beratungen im Haushaltsausschuß auf eine Verbesserung der Situa- Im Haushaltsgesetz haben wir vorgesehen, daß alle tion achten würden. In Höhe von rund 300 Millionen Sachausgaben, aber auch alle militärischen Beschaf- DM konnten wir eine Strukturverbesserung durch fungen, Entwicklungen und Infrastrukturausgaben in Umschichtung aus dem Betriebsbereich in die Investi- Höhe von 10 % gesperrt werden. Dies — das sei tion erreichen und damit den Anteil der Investitionen eingeräumt — würde eine überproportionale Beteili- am Verteidigungsplafond auf rund 21,9 % verbessern. gung der Verteidigungsausgaben an der Erbringung Ich räume ein: Es ist ein bescheidener Erfolg. Doch der globalen Minderausgaben bedeuten und, wäre auch wir haben bei den Beratungen der Tatsache dies das letzte Wort, zugleich unvertretbare Ein- Rechnung tragen müssen, daß die Bet riebskosten schnitte in Betrieb und Struktur der Bundeswehr nicht beliebig abgesenkt werden können und daß notwendig machen. langfristige rechtliche Verpflichtungen in vielfältiger (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sehr Hinsicht bestehen, die erfüllt werden müssen. mutig!) Durch das Haushaltsgesetz wollen wir aber den Der Gestaltungsmöglichkeit unter Beibehaltung Finanzminister ermächtigen, im Benehmen mit dem der bisherigen Eckdaten sind enge Grenzen gesetzt. Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages Aus- Ohne eine einschneidende Neustrukturierung der nahmen zuzulassen, damit rechtliche Verpflichtun- Bundeswehr werden die Probleme wohl nicht zu gen erfüllt und zukunftsorientierte Politikschwer- meistern sein. punkte beibehalten werden können. Hier ist also zunächst die Regierung gefordert, mit Augenmaß und (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Jetzt nicht mit der Rasenmähermethode zu agieren. geben Sie mir doch recht, Herr Kollege Strube!) (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Die soll das bringen?) Der Verteidigungshaushalt 1994 ist auch ohne Nun mag man uns vorwerfen, wir selbst hätten uns Berücksichtigung der haushaltsgesetzlichen Sperre des Rasenmähers bedient und unser Budgetrecht ein Sparhaushalt, der den Verteidigungsminister aufgegeben. Dies ist nicht der Fall. Ohne parlamenta- zwingt, die Umstrukturierung der Bundeswehr voran- rische Beteiligung läuft nichts. Aber wir erhalten eine zutreiben. Der Verteidigungshaushalt 1994 ist als ein Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16623

Hans-Gerd Strube weiterer Übergangshaushalt für die Bundeswehr auf Beschaffungen für die Bundeswehr eingeleitet wer- ihrem Weg zu ihrer neuen Gestalt zu werten. den, die für ihren Einsatz als Krisenreaktionskräfte von großer Wichtigkeit sind. Ich denke hier besonders (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das ist an die Führungsmittel, z. B. Heros oder die Funkge- schon der vierte Übergangshaushalt!) räte SEM 93, Satellitenanlagen, aber auch an die Meine Damen und Herren, es sollte nicht hinge- Sanitäts- und Bekleidungsausstattung für humanitäre nommen werden, daß sich die Sanierung der Bundes- Einsätze. wehrliegenschaften in den neuen Bundesländern Gestatten Sie mir noch ein abschließendes Wort: verzögert. Bei Planungssicherheit könnte hier sehr Wenn auch Verteidigungsaufträge kein Mittel zur wohl privates Kapital eingesetzt werden. Der Bund Struktur- und Beschäftigungspolitik sein sollen, so müßte dann lediglich den vereinbarten Mietzins zah- darf ihre Wirkung auf Beschäftigung und Konjunktur len. doch nicht unterschätzt werden. Ein mehr oder weni- Bei den militärischen Beschaffungen müssen auch ger totaler Auftragsstopp wirkt kontraproduktiv. laufende Verträge auf ihre Strukturgerechtigkeit hin Nicht nur beeinflußt er den Arbeitsmarkt und die überprüft werden. Wenn ohne wirtschaftliche Nach- Konjunkturlage negativ, sondern er kann auch den teile möglich, sollten auch Stückzahlen neu überdacht Rückzug der deutschen Industrie vom Rüstungsmarkt werden. bedeuten. Das, meine Damen und Herren, können wir nicht wollen. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das kommt aber sehr spät!) Die Bundesrepublik Deutschland muß an einer deutschen Rüstungsindustrie festhalten und alles tun, Denn unabdingbar notwendig scheint mir zu sein, daß um die Dialogfähigkeit im Bündnis zu erhalten. Ich die Ausrüstung der Bundeswehr auf ihren künftigen bin davon überzeugt, daß es dem Verteidigungsmini- Einsatz als Krisenreaktionskräfte hin optimiert wird. ster gelingen wird, trotz der knappen Haushaltsmittel In diesem Zusammenhang muß auch beklagt wer- die Bundeswehr angemessen für ihren Auftrag auszu- den, daß sich bisweilen die Neuordnung von Verträ- statten und ihr eine Struktur zu geben, mit der sie im gen besonders im Bündnis nur schleppend gestalten Bündnis leistungsstark bleibt. läßt. Ich möchte mich herzlich bei den Beamten des Hauses und bei Ihnen, Herr Verteidigungsminister, Die vom Verteidigungsminister angestrebte Um- für die gute und konstruktive Zusammenarbeit orientierung beim neuen europäischen Jagdflugzeug bedanken. Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Einzel- hat immer noch keine befriedigende Gestalt ange- plan 14 ihre Zustimmung geben. nommen. Meine Damen und Herren, da dies vermutlich (Zustimmung bei Abgeordneten der F.D.P. meine letzte Etatrede zum Verteidigungshaushalt und der SPD) war, Die Einbindung in die europäische Partnerschaft (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wer erfordert eine zeitraubende Rücksichtnahme. Ich bin bleibt denn bei Ihnen überhaupt?) aber sicher, daß sich die von uns gesetzten Zeichen möchte ich mich auch ganz herzlich bei den Mitbe- auszahlen werden und daß am Ende ein der veränder- richterstattern bedanken, bei Hans-Werner Müller, ten Sicherheitslage angepaßtes und auch finanzierba- Carl-Ludwig Thiele, Horst Jungmann und Rudi Wal- res Jagdflugzeug entwickelt sein wird. Es ist hochin- ther. Wir haben in der Sache sehr oft gestritten, aber teressant, daß auch die SPD durch Herrn Schröder ich meine, wir haben an der Sache orientiert gearbei- nunmehr signalisiert, daß sie bereit ist, dieses Flug- tet, wenn auch aus verschiedenen Aufgabenstellun- zeug möglicherweise mitzutragen. Man staunt und gen heraus. Herzlichen Dank für die gute und kolle- staunt, was man vor Wahlen nicht alles zum Ausdruck giale Zusammenarbeit! bringen kann. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Wegen der Kosten für die Entwicklung des Jagd- SPD) flugzeuges wird der Anteil der Forschung und Ent- wicklung am Verteidigungsplafonds trotz Absinkens des nominalen Ansatzes von 5,0 auf 5,2 % anwachsen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Die Ansätze sind nach meiner Überzeugung an der nunmehr dem Abgeordneten H ans Modrow das untersten Grenze der Tragbarkeit angesiedelt. Wei- Wort. tere Kürzungen würden unsere Dialogfähigkeit im Bündnis einschränken Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das Meine Damen und Herren! Haushaltsdebatten sind haben Sie auch im letzten Jahr schon Stunden der Wahrheit. Geprüft wird nicht nur das gesagt!) Kassenbuch der Bundesregierung, sondern auch deren Politik. und den Standort Deutschland für die Verteidigungs- In der Debatte zum Haushalt des Auswärtigen industrie in Frage stellen. Amtes und zum Verteidigungshaushalt ist vor allem Der Verteidigungshaushalt 1994 sieht, wenn die zu fragen: In welchem Verhältnis zueinander stehen Folgen der haushaltsgesetzlichen Sperre ausgeklam- Absichtserklärungen der deutschen Außenpolitik und mert bleiben, für die Beschaffungen einen Anteil von ihre tatsächlichen Schritte? Wird die Außenpolitik der noch 12,2 % vor. Mit diesem Ansatz — obwohl über heutigen Bundesregierung den neuen Herausforde- 1 Milliarde DM unter dem Ansatz von 1993 — können rungen gerecht oder nicht? 16624 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Hans Modrow Das Fazit lautet, daß „die deutsche Außenpolitik zu tung eines guten deutsch-russischen Verhältnisses einer Sammlung guter Vorsätze erstarrt, hinter der oder etwa die Beziehungen zum Baltikum geringzu- man verbirgt, daß sie gar nicht stattfindet" — Zitat aus schätzen. Hier würden wir uns vor allem wünschen, der „Welt", der man gewiß nicht nachsagen kann, daß daß die Bundesregierung wirklich dem ganzen Spek- sie PDS-Nähe demonstriert. trum der Hauptkräfte des riesigen Landes die gebüh- In der Tat vermag m an in der deutschen Außenpo- rende Beachtung entgegenbringt. litik beträchtliche Aktivitäten auszumachen, dafür um Hier sind heute vom Herrn Bundeskanzler auch so weniger konstruktive Ergebnisse, aber zugleich Bemerkungen gemacht worden, daß der Niedergang viel Ungereimtes und viele Fragezeichen. der Sowjetunion und der anderen ehemaligen sozia- Das ist schon deshalb nicht verwunderlich, weil es listischen Staaten Mittel- und Osteuropas besonders bisher seit 1990/91 keine wirklich grundsätzliche auf den NATO - Doppelbeschluß von 1983 zurückzu- führen sei. Das war noch die Zeit der westlichen Diskussion zur Neubewertung der Außen - und Ver- teidigungspolitik des größeren Deutschland gegeben Hochrüstung und der östlichen Totrüstung. Der hat. Es müßten endlich Richtlinien für eine Außenpo- Westen braucht keine solche Hochrüstung mehr und litik erlassen werden, damit das größere Deutschland klagt nun über Rezession, und der Osten leidet weiter seine wiedergewonnene Souveränität und seine inter- an der Totrüstung, insbesondere die Staaten der nationale Verantwortung wahrnimmt, indem es sein ehemaligen Sowjetunion. politisches, ökonomisches, wissenschaftlich-techni- Die Probleme Osteuropas und damit Europas liegen sches und geistiges Potential ausschließlich auf zivile somit auch in der Ukraine und in Weißrußland, Polen, Weise nutzt und einsetzt. Der Bundesrepublik würde Tschechien, der Slowakei, Rumänien, Bulgarien, es gut anstehen, nicht im alten und traditionellen Ungarn, Albanien; vom ehemaligen Jugoslawien und Sinne zu einem „normalen" Staat zu werden, der der unrühmlichen Rolle deutscher Außenpolitik bei wiederum wachsende militärische Stärke an die Seite der Beschleunigung seines Zerfalls einmal ganz abge- seiner wirtschaftlichen Macht stellt und auf diese sehen. Hier gibt es — ich wiederhole den Vorwurf — Weise erneut großmachtpolitische unheilvolle Ver- kein tragfähiges Konzept, weder für eine solide wirt- gangenheit heraufbeschwört. schaftliche Zusammenarbeit und Einbeziehung noch Der in London, Pa ris, Prag und anderswo gehegte hinsichtlich eines alle Staaten einbindenden euro- Argwohn ist doch nicht aus der Luft gegriffen, und päischen Sicherheitssystems. schon gar nicht läßt er sich — wie immer wieder Offensichtlich glaubt man, mit der Aufnahme eini- versucht wird — als bloßer Neid auf deutsche Tüch- ger osteuropäischer Lander in die NATO bzw. die tigkeit abtun. WEU alles in den Griff zu bekommen. Mir scheint, hier Ich nehme dabei zu drei Hauptbereichen besonders wiederholt sich die gleiche Leichtfertigkeit wie bei der Stellung: deutschen Vereinigung, die man zunächst auch aus Erstens. Schaut man nach Westeuropa, so haben der Portokasse zu begleichen hoffte. Aber dann trotz der erneuten Bekenntnisse des Bundeskanzlers betrieb man doch eine falsche Politik, die alles in die Krise steuerte. Es geht darum, gemeinsam mit diesen wie des Außenministers zum europäischen Integra- tionsprozeß eine große Widersprüchlichkeit und Ver- Staaten dauerhafte politische und ökonomische unsicherung Platz gegriffen. Sie beruhen darauf, daß Lösungen zu suchen. es in dieser Bundesrepublik Kräfte gibt, die auch Der KSZE, der man einen politischen Dornröschen- immer prononcierter auftreten, die eine deutsche schlaf verordnet hat, muß dabei eine wichtige Rolle Vormachtrolle ohne irgendeine vertragliche Einbin- zukommen, und zwar mit all ihren Körben. Nicht dung durch eine europäische Außen- und Wirtschafts- einmal die vorhandenen Streitschlichtungsmittel wer- politik gesichert sehen wollen. Die konzeptionellen den heute genutzt. Das Forum für Sicherheitskoope- Mängel von Maastricht haben ihnen noch Vorschub ration trägt zwar einen wohlklingenden Namen; für geleistet. Frühere Versäumnisse der Bundesregierung substantielle Verhandlungen über denkbare An- im europapolitischen Bereich tun das Ihre. Wer unter schlußverträge wird es jedoch nicht genutzt. Hier läge Europapolitik in erster Linie die Schaffung einer aber ein weites Feld für praktische Initiativen der westeuropäischen Armee versteht, wer der Wirt- deutschen Außenpolitik, damit dieses Forum aller schafts- und Währungsunion Vorrang vor einer So- europäischen Staaten, der USA und Kanadas nicht bei zialunion einräumt, der eigenen Bevölkerung eine Maßnahmen hauptsächlich deklaratorischen Charak- Mitsprache in allen Europa betreffenden Fragen im ters stehenbleibt. Grunde vorenthält und mehr verbal als ernsthaft für Was den ökonomischen Bereich betrifft, geht es eine Stärkung des europäischen Parlaments eintritt, nicht nur schlechthin um die Ausweitung der Han- der muß sich nicht wundern, wenn diese Saat aufgeht, delsbeziehungen, sondern um eine wirkliche Öffnung wenn der deutsche Nationalismus wieder sein Haupt des EG - Marktes. Es ist doch geradezu tragisch und erhebt und der Revanchismus befördert wird. beschämend, wenn z. B. für ein so kleines Land wie Zweitens. Nimmt man die Osteuropapolitik, gibt es Bulgarien die Inkraftsetzung des Interimsabkommens nicht weniger Appelle. Aber man vermißt ein wirkli- immer noch weiter herausgezögert wird. Den interes- ches Konzept. Urteilt man nach dem Kalender der sierten Staaten muß eine klare Perspektive des Bei- diplomatischen Aktivitäten, scheint es überhaupt nur tritts zur Europäischen Union eröffnet werden. Das den Präsidenten Jelzin zu geben. Die einstige Sowjet- wäre auch wirtschaftlich, sozial, umweltpolitisch usw. union bestand aber nicht nur aus Rußland und viel- von Vorteil, denn sie würden um so schneller an leicht noch aus Kaliningrad und den baltischen Staa- dieselben Standards, Handelsvorschriften, Steuerge- ten. Natürlich sind wir weit davon entfernt, die Bedeu- setze, Umweltschutzbedingungen u. ä. herangeführt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16625

Dr. Hans Modrow Dies wäre für diese Länder politisch ohnehin nur Anlage und in seinen Eckpunkten ebenso falsch wie akzeptabel, wenn es im Zusammenhang mit der der von der Regierung vorgelegte Gesamthaushalt. Vergrößerung der europäischen Einigung ge- Die verfehlte Wirtschafts - und Finanzpolitik der schieht. Regierung hat zu schwerwiegenden Konsequenzen, Drittens. Angekündigt wurden ein großes Paket von zu Massenarbeitslosigkeit im ganzen Land, zur Zer- Reformvorschlägen für die UNO und ein entspre- störung der ostdeutschen Industrie, Wissenschaft und chend aktiver Beitrag zu seiner Umsetzung. In der Forschung geführt. Um die sozialen und politischen UNO registriert man tatsächlich aber nur eines: ein Folgen zu mildern, sieht sich die Regierung jetzt aufdringliches Begehren nach einem ständigen Sitz gezwungen, umfangreiche, wenn auch bei weitem im Sicherheitsrat, vom Außenminister persönlich nicht ausreichende Mittel einzuplanen. Dabei ist es überall vorgetragen, und den hektischen Bundes- geradezu ein Hohn, daß diese Mittel — neben der wehreinsatz in Somalia, der offensichtlich das Ein- weiteren kollossalen Neuverschuldung — vor allem trittsgeld dafür darstellen soll. durch die Opfer dieser Politik erbracht werden sol- len. Statt nennenswerter Initiativen zur Erleichterung und Lösung der Probleme der Dritten Welt erreicht die Einigen in dieser Regierung ist offensichtlich jedes deutsche Entwicklungshilfe heute aber nicht einmal Gefühl und jedes Gespür für die Sorgen und Nöte, das von der UNO beschlossene Minimum. Dafür aber auch Ängste der Menschen, vor allem der lohn- werden um so mehr Steuergelder zum Fenster hinaus- abhängigen Beschäftigten, der Arbeiterfamilien, der geworfen, wenn es darum geht, verfassungswidrige Rentner, der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger Auslandseinsätze der Bundeswehr zu finanzieren. Der und der Alleinstehenden verlorengegangen. Zur Somalia-Einsatz ist inzwischen gründlich gescheitert. Kasse gebeten werden die Armen und Ärmsten dieser Die indischen Soldaten, die man angeblich nicht Gesellschaft, während die Reichen, die Vermögenden schnell genug unterstützen konnte — drei sollen ein weiteres Mal ungeschoren davonkommen. Hier gesehen worden sein —, treffen im Aktionsraum der stellt sich die Frage: Soll dieser Vorgang der soziale Bundeswehr nicht ein. Umbau sein, von dem heute der Herr Bundeskanzler gesprochen hat? Es bedarf wohl keines weiteren Kommentars, wenn Die PDS/Linke Liste bekräftigt deshalb ihre Forde- der Generalinspekteur der Bundeswehr vergangene rung, für die Reichsten dieses Landes endlich eine Woche mahnte — ich zitiere —: Vermögensbesteuerung einzuführen. Immerhin ver- Die Entscheidung über den weiteren Einsatz der fügen sie allein über ein Vermögen von etwa 4 Billio- Bundeswehr darf und kann nicht bestimmt wer- nen DM. den von Fragen wie die der Bewerbung im (Zuruf von der CDU/CSU: Mit oder ohne UNO-Sicherheitsrat. PDS?) Zur Entschuldigung sagt der Außenminister: Es ist Interessant ist, daß Georg Kronawitter, der frühere nicht alles so gelaufen, wie wir es uns gedacht haben. SPD-Oberbürgermeister Münchens, zu den gleichen Hingehen war, glaube ich, falsch. Hingeben der Ergebnissen und Forderungen kommt, wie in dieser 400 Millionen oder 500 Millionen DM für Unterstüt- Woche in einem Nachrichtenmag azin nachzulesen ist. zung und Entwicklungshilfe wäre dann schon richti- Ich habe kein Problem, mich in diesem Zusammen- ger gewesen. hang auf seine absolut logische Darlegung zu bezie- Eine andere Bemerkung möchte ich hier einfügen: hen. Ob das alle in diesem Haus können, ist eine Nicht zum erstenmal wird angemahnt, die neue inter- andere Frage. nationale Rolle Deutschlands müsse im Land selbst Nur 10 % der Haushalte vereinen die Hälfte des beginnen. Noch immer sind Tausende von qualifizier- Gesamtvermögens dieser Bundesrepublik auf sich. ten Mitarbeitern des außenpolitischen Dienstes der 1 % davon verfügt sogar über 23 % des Vermögens. Es DDR politisch und beruflich ausgegrenzt. Das gereicht ist deshalb höchste Zeit, daß endlich die relativ kleine dem internationalen Ansehen der Bundesrepublik Gruppe der wirklich Vermögenden zur Bewältigung nicht zur Ehre. der Finanzkrise herangezogen wird, Nun hat Herr Genscher als früherer Außenminister (Zuruf von der CDU/CSU: Besser, es geht kürzlich vor der Enquete-Kommission eingeräumt, allen unterschiedlich gut als allen gleich daß es an der Zeit sei, diese Haltung zu überdenken schlecht!) und Abhilfe zu schaffen. Es wäre demzufolge an der Zeit, dazu auch hier im Bundestag ein klärendes Wort statt die Lohn- und Gehaltsempfänger immer uner- zu sprechen. Ich fordere die Bundesregierung in träglicher zu belasten. diesem Zusammenhang auf, eine Kurskorrektur vor- Bei einer Vermögensteuer von etwa 15 % bis 20 % zunehmen und damit ein Zeichen für eine neue könnten dem Haushalt 600 Milliarden DM zugeführt Haltung im Zusammenwachsen der alten und der werden, die — bis zur Jahrtausendwende verteilt — neuen Bundesländer zu setzen, ein Zeichen, wie man einen jährlichen Beitrag von rund 75 Milliarden bis der neuen Verantwortung nach innen wie nach außen 80 Milliarden DM in die Kassen des Finanzministers gerecht werden will. fließen lassen würden. Für die Reichsten wird also das Die PDS/Linke Liste kann diesem Haushalt, der Nötige getan. eine in wesentlichen Aspekten verfehlte Außen- und Auf alle Fälle ist es notwendig, daß die vergleich- Verteidigungspolitik finanzieren soll, ihre Zustim- baren Opfer, die hier sozial gefordert werden, einmal mung nicht geben. Dieser Etatentwurf ist in seiner genauer in Augenschein genommen werden. Die 16626 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Hans Modrow Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes Deutschland ein normales Mitglied der Völkerge- wird das mit Recht erwarten. Die Regierung sollte meinschaft mit allen Rechten und Pflichten werden über den eigenen Schatten springen. muß und daß es einen deutschen Sonderweg nicht Die PDS/Linke Liste wird deshalb diesem Haus- noch einmal geben darf. haltsentwurf nicht zustimmen. Sie wird beantragen, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ihn erneut in die Ausschüsse zurückzuüberweisen und bei der Überarbeitung einen völlig neuen Ansatz Sehr geehrte Damen und Herren, auf Grund unserer zu wählen. Geschichte werden wir auch zukünftig von der Welt kritischer be trachtet werden als andere L ander. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Hierin liegt aber auch eine enorme Chance. Wir haben die Möglichkeit, unsere Erfahrungen, die die Bundes- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile republik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nunmehr dem Abgeordneten Carl-Ludwig Thiele das und dem Nationalsozialismus gemacht hat, als Aktiv- Wort. posten in die Vereinten Nationen einzubringen. Dies geht aber nur, wenn wir gleichberechtigt sind; denn — das sage ich ausdrücklich an die Adresse der SPD — Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Sehr geehrter Herr wer meint, er müsse die Vereinten Nationen ändern, Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Jahr muß zunächst feststellen, daß dieses allein überhaupt 1994 ist für die Bundeswehr und für Deutschland nach nicht geht, sondern nur gemeinsam mit anderen der Wiedervereinigung ein besonderes Jahr. Im Zwei- Staaten. Worin aber andere Staaten ihre Gemeinsam- plus-Vier-Vertrag hatten wir uns verpflichtet, bis keit mit Deutschland sehen sollten, wenn Deutschland Ende 1994 die Anzahl der Soldaten der Bundeswehr die von der SPD geforderte Sonderrolle in den Verein- auf 370 000 zu reduzieren. Diese völkerrechtlich bin- ten Nationen einnimmt, vermag ich nicht zu sehen. dende Vereinbarung wird von uns eingehalten. Sie ist mit schmerzlichen, aber notwendigen Veränderun- Die F.D.P. wünscht sich, daß Deutschl and die Mög- gen für die Soldaten, die Zivilmitarbeiter der Bundes- lichkeit erhält, stärker als bisher in der internen wehr und die Angehörigen dieser Personen, aber auch Willensbildung in den Vereinten Nationen tätig zu mit erheblichen strukturellen Veränderungen der werden. Dies setzt aber gerade gleiche Rechte und betroffenen Regionen verbunden. gleiche Pflichten wie bei jedem anderen Mitglied der Ich möchte an dieser Stelle für die F.D.P. den Vereinten Nationen, also bei den skandinavischen Soldaten und Mitarbeitern für ihr Verständnis für die - Ländern, bei Österreich, bei der Schweiz und auch bei getroffenen Entscheidungen ausdrücklich danken. sozialistisch bzw. sozialdemokratisch regierten Län- dern Europas, voraus. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P.) Dieses Verständnis ist nicht selbstverständlich, wenn Wenn wir von den Vereinten Nationen gebeten man sich vor Augen führt, daß allein in den Jahren werden, in einem bef riedeten Gebiet in Somalia 1993 und 1994 jeweils etwa 28 000 Stellen von Berufs- humanitär tätig zu werden, und Zeitsoldaten abgebaut werden. Um so höher ist ( [SPD]: Auf Inder zu warten! — diese zu werten. Akzeptanz Gegenruf von der CDU/CSU: Die Inder sind (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: zuverlässiger als die SPD!) Vor allem, wenn man andere Bereiche und wenn der Deutsche Bundestag dies dann anguckt!) beschließt, halte ich es für richtig, daß ein Abzug nur — Das stimmt allerdings auch. im Einvernehmen mit den Vereinten Nationen Ich bedauere manchmal, daß der Eindruck entstan- geschieht. den ist, es sei die Aufgabe der Bundeswehr, nur noch (Rudolf Bindig [SPD]: Ihr Inderlein kommet, o im Ausland, wie in Kambodscha und Somalia, tätig zu sein. Dies läßt sich auch nicht damit begründen — wie kommet doch all!) es im Haushaltsausschuß getan wurde —, daß diese Dieses partnerschaftliche Verhältnis schließt ja Tätigkeit mehr Sex-Appeal für die Öffentlichkeit gerade ein, daß wir gegenüber den Vereinten Natio- habe. nen unsere Interessen klar und in Freundschaft arti- Ich möchte an dieser Stelle deshalb neben dem kulieren, und dieses ist gerade für die Sicherheit Dank an die dort diensttuenden Soldaten auch den unserer Soldaten ein ganz wichtiger Aspekt; aber Soldaten und Mitarbeitern, die ihren Dienst und ihre doch, bitte schön, gemeinsam mit den Vereinten Pflichten in der Bundeswehr in Deutschland tun, um Nationen und nicht wieder als Sonderweg. Die die Verteidigung des Landes und im Bündnis sicher- Methode ,,Nix wie hin und nix wie weg!" schadet zustellen, für ihren Einsatz danken. unserer Glaubwürdigkeit im Inland und im Aus- land. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zu den im Ausland diensttuenden Soldaten möchte (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ich anmerken, daß diese Soldaten hervorragende ten der CDU/CSU — E rnst Waltemathe Botschafter eines friedlichen und friedliebenden [SPD]: Wem werfen Sie das jetzt vor? Herrn Deutschlands sind und waren. Dies ist gerade in der Rühe?) heutigen Zeit mit ihren schlimmen Übergriffen auf Die Beratungen des Verteidigungsetats gestalteten Ausländer, die auch im Ausland wahrgenommen sich in diesem Jahr außerordentlich schwierig. Dies ist werden, besonders wichtig. Das zeigt aber auch, daß auch verständlich; denn der Ausgabenkritik muß die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16627

Carl-Ludwig Thiele Aufgabenkritik vorangehen. Das Verteidigungsmini- Verteidigungsetat, wenn Sie nur die Obergruppe 55, sterium ist aufgefordert, konkret zu sagen, wofür die „Militärische Beschaffung, Forschung und Entwick- Bundeswehr gebraucht wird. Darüber muß ein parla- lung" betrachten, eine Kürzung in Höhe von 1,5 Mil- mentarischer Konsens hergestellt werden. Wir Libera- liarden DM. len wollen uns gerne an dieser Diskussion über die brennenden konzeptionellen Fragen beteiligen. Aber dann muß auf der Hardthöhe endlich auch das ent- Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Kollege Jungmann, ich sprechende Denkverbot fallen. bin nicht nur bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Wir (Ernst Waltemathe [SPD]: Aha!) haben diesen Antrag ja schließlich im Haushaltsaus- schuß verabschiedet. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, kann genauer gesagt werden, wieviel Mann und welche (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sie sind Ausrüstung die Bundeswehr benötigt. auch noch stolz darauf!) (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: So ist es!) — Moment, ich bin mit meiner Rede doch noch nicht Aber das heißt auch, daß im Verteidigungsministe- fertig. Zu diesen Punkten komme ich doch gleich rium die Hausaufgaben gemacht werden müssen. noch. Aber ich freue mich, daß Sie aufgepaßt haben und dies dem Parlament so sachkundig darlegen (Beifall bei der F.D.P.) konnten, wie ich das auch in meinen Ausführungen Ich wiederhole: Der Aufgabenkritik muß die Aufga- gleich noch machen werde. benkritik vorangehen. So ist es absolut unverständ- lich, daß bei der Umstrukturierung der Bundeswehr (Ernst Waltemathe [SPD]: Er ist noch besser z. B. die Mammutbehörde des Bundeswehrbeschaf- als Oppositioneller als Sie!) fungsamtes in Koblenz wohl noch nicht der entspre- Zum Ende der Beratungen im Haushaltsausschuß chenden Aufgabenkritik unterzogen wurde. wurde Bilanz gezogen und von den Koalitionsfraktio- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der nen einvernehmlich festgestellt, daß sich die Situation SPD) des Haushaltes — bei Steuermindereinnahmen des Bundes von 3 Milliarden DM und Mehrausgaben für Zu Beginn der Haushaltsberatungen ist es uns die Bundesanstalt für Arbeit von fast 9 Milliarden gelungen, in erheblichem Umfange Verschiebungen DM — gegenüber dem Regierungsentwurf um 12 Mil- im Verteidigungsetat in den investiven Bereich vor- liarden DM verschlechtert hatte. Angesichts der zunehmen. Gleichwohl war es klar, daß die Bundes- - schwierigen Situation der Staatsfinanzen wurde des- wehr, die auch in den vergangenen Jahren schon in halb nach Gesprächen mit dem Bundesfinanzminister erheblichem Umfange zur Sparsamkeit des Haushal- vom Haushaltsausschuß der Beschluß gefaßt, daß tes beigetragen hat, ebenso wie die anderen Einzel- weitere 5 Milliarden DM aus dem Haushalt 1994 pläne in die gesamte Sparlinie mit einbezogen werden einzusparen sind. Unsere Auffassung war und ist, daß mußte. nicht nur über Sparen geredet werden darf, sondern In den Beratungen des Haushaltsausschusses ist der daß auch konkret gespart werden muß. Verteidigungsetat von 48,6 Milliarden DM auf (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Rasen 48,5 Milliarden DM gekürzt worden. Der Verteidi- mäher!) gungsetat ist damit gegenüber dem Soll 1993 um 2,7 % gesunken. Hierbei schlägt der Personalabbau natür- Deshalb war dies ein richtiger Schritt. lich besonders zu Buche. Der Verteidigungsetat des Festzulegen, wie die zusätzliche Minderausgabe Jahres 1994 beträgt damit etwa 10 % des Gesamtetats. von 5 Milliarden DM erbracht wird, ist Aufgabe des Der Opposition muß ich sagen, daß 10 % des Gesamt- Finanzministers, der dieser Aufgabe mit den anderen etats nicht die Möglichkeit bieten, durch eine weitere Ressortkolleginnen und -kollegen nachgehen wird. Es Reduzierung die Gelder freizubekommen, die benö- ist deshalb keineswegs ausgemacht, daß der Verteidi- tigt werden, um das Anwachsen der Sozialausgaben gungsetat um weitere 2,4 Milliarden DM absinken auf 130 Milliarden DM, auf 27 % des Gesamtetats im muß, wie dies in der Öffentlichkeit, auch von Ihnen, Einzelplan des Bundesministers für Soziales zu finan- Herr Kollege Jungmann, behauptet wurde. zieren. Wir müssen sehen, daß diese Sperre von 10 % 30 Milliarden DM erbringt. Um aus diesen 30 Milliar- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- den DM die 5 Milliarden DM aufzubringen, die geordneter, der Abgeordnete Jungmann möchte benötigt werden, muß der Betrag, der von der Sperre Ihnen gerne eine Frage stellen. Wenn Sie bereit sind, erfaßt ist, separat betrachtet werden und dann dieser dieselbe zu beantworten, kann er das tun. Betrag herausgezogen werden. Durch das Wort „ins- besondere" — Sie kennen den Antrag, Herr Kollege Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Gerne, wenn mir die Jungmann — ist sichergestellt, daß keine Verschie- Zeit nicht angerechnet wird, wovon ich ausgehe. bungen erfolgen können, die gewisse Bereiche, die unsere politische Priorität haben, in totale Schwierig- Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Kollege Thiele, keiten bringen. sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Aber es darf über Sparen nicht nur geredet werden. Haushaltsausschuß dem Plenum einen Beschlußvor- Es muß gespart werden. Herr Lafontaine hat auf Ihrem schlag vorgelegt hat, in dem steht, daß alle Ausgaben hervorragenden Parteitag in Wiesbaden gesagt: Spa- der Obergruppen 51 bis 55 und der Hauptgruppe 6 mit ren durch Abschaffung von Steuersubventionen. Las- einer 10 %igen Sperre und einer Kürzung in Höhe von sen Sie uns ehrlich sein und das nicht „Sparen" 5 Milliarden DM belegt werden? Das bedeutet für den nennen, sondern dann sagen Sie, Sie wollen die Steuer 16628 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Carl-Ludwig Thiele erhöhen. Das ist genau die gleiche Aussage, nur ein Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Die Uhr bißchen ehrlicher und nicht ganz so nett verbrämt. läuft nicht. Sie können ganz beruhigt sein. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Frau Matthäus-Maier möchte noch einmal fragen. CDU/CSU — Ernst Waltemathe [SPD]: Wir wollen Kapitalflucht verhindern!) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege, ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Aber wären Sie so nett, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was Sie als Ihren alten Herr Ab- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Vorschlag präsentieren, nämlich die Auszahlung des geordneter Thiele, das veranlaßt die Abgeordnete Kindergeldes über das Finanzamt, eine Anregung ist, Frau Matthäus-Maier, sich durch eine Frage bemerk- die seit Jahrzehnten der Deutsche Bundestag, und bar zu machen. — Bitte schön. zwar mit Stimmen sowohl von F.D.P., der CDU/CSU (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Du hast den als auch der SPD gemacht hat? Parteitag angesprochen, jetzt melden sich alle! — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Frau Kollegin, dann [F.D.P.]: Sie ist ex tra zur SPD gegangen, um frage ich mich nur eines. Wie ich der Presse entneh- falsche Politik weiterzumachen!) men kann, hat die SPD-Bundestagsfraktion gute Kon- takte zu SPD-geführten Landesregierungen. Wenn Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Es scheint Grund zu diese Anregung vom Bundestag nicht eingebracht bestehen, Herr Kollege Strube! wird und Sie diese Forderung nach wie vor für richtig halten— ich ebenso; es freut mich, daß wir da auf einer Linie sind, und zu nahe getreten sind Sie mir in keiner Nun wol- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Weise —, dann laßt uns konkret handeln, len wir die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier fragen lassen. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gern! Aber Sie sind doch die Regierung!) (SPD): Herr Kollege, wollen und wir haben eine gute halbe Milliarde DM aus dem Ingrid Matthäus-Maier ma. Herzlichen Sie mir vielleicht zustimmen, daß Sie nicht ernsthaft Bundesetat gestrichen. Das ist ganz p ri Dank! behaupten können, daß Sie je nach der Struktur einer Entlastung, sei es über einen offenen Zuschuß oder (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin gen] [F.D.P.] sowie des Abg. Claus Jäger über einen Steuerfreibetrag, die Frage abhängig - machen können, ob es Sparen ist oder nicht. Ich will es [CDU/CSU]) am folgenden Beispiel erläutern. Wir haben im Fami- Von den verteidigungspolitischen Entwicklungs- lienlastenausgleich beim Kindergeld ein duales und Beschaffungsvorhaben wird auch in der Bevölke- System, zum Teil Kindergeld, zum Teil Kinderfreibe- rung insbesondere der Jager 90 heftig diskutiert. trag. Wollen Sie ernsthaft behaupten, das Kürzen Hierbei muß zunächst festgestellt werden, daß eine beim Kindergeld sei erlaubtes Einsparen, aber wenn Entscheidung für den Bau des Jäger 90 noch nicht ich gleichzeitig den Kinderfreibetrag kürze, sei das getroffen worden ist. Wir befinden uns noch im per se verboten, weil das eine Steueranhebung sei, Zeitpunkt der Entwicklung des Jäger 90. Da wir nur weil das zwei unterschiedliche Instrumente bindende internationale Verträge zur Entwicklung sind? des Jäger 90 abgeschlossen haben, sind wir Liberalen immer dafür eingetreten, als rechtstreuer Staat einer Änderung dieser Entwicklungsverträge nur im Ein- Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Frau Kollegin Mat- thäus-Maier, ich habe überhaupt kein Verbot ausge- vernehmen mit unseren Vertragspartnern zuzustim- sprochen. Es steht mir auch nicht an, Ihnen irgendeine men. Denkrichtung zu verbieten. Das habe ich überhaupt Das Ziel des Verteidigungsministers, die Entwick- nicht gemacht, ich hatte nur darauf hingewiesen, wo lung des Jäger 90 zu ändern, erfolgte vor allem aus Sie sparen wollen. Wenn Sie beim Abbau von Steuer- finanziellen Zwängen. Nicht alles Wünschenswerte ist vergünstigungen sparen wollen, dann sparen Sie realisierbar. Das gilt gerade in der heutigen Zeit. Am nicht, dann erhöhen Sie die Steuereinnahmen. Damit Ende der geänderten Entwicklung soll nach Auffas- belasten Sie den Bürger stärker. sung des Verteidigungsministers ein Jagdflugzeug stehen, welches als Systempreis nicht mehr als 90 Mil- (Beifall des Abg. Hans-Werner Müller [Wa- lionen DM kosten darf. dern] [CDU/CSU]) (Manfred Opel [SPD]: Einschließlich Mehr Ich würde mich allerdings freuen, wenn die SPD und wertsteuer!) die SPD-geführten Länder meinem alten Vorschlag zustimmen könnten, die Auszahlung des Kindergel- Im Zuge der Entwicklung ist es allerdings schon des über das Finanzamt erfolgen zu lassen. Das würde erstaunlich, daß die Indus trie erhebliche Mehrforde- im Bundeshaushalt Einsparungen von 550 Millionen rungen stellt, obwohl wesentliche Entwicklungsziele DM bringen. noch gar nicht erreicht sind. So sollte der Prototyp zunächst im April 1992 starten. Dieser Start ist auf (Beifall des Abg. Hans-Werner Müller [Wa- April 1994 verschoben worden. Auch jetzt kann noch dern] [CDU/CSU]) keiner garantieren, ob der Prototyp dann wirklich Bislang muß es durch die Bundesanstalt für Arbeit fliegt. Wer bei einem solchen Überschreiten der Ent- geschehen. wicklungszeiten Mehrkosten in Höhe von Hunderten Herr Präsident, vorhin ist die Uhr von zehn auf neun von Millionen DM fordert, setzt sich dem Risiko aus, Minuten gesprungen. überhaupt nicht mehr verstanden zu werden, und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16629

Carl-Ludwig Thiele zwar weder von der Bevölkerung noch vom Bundes- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die tag noch von der Bundesregierung. Insofern bin ich Situation im ehemaligen Jugoslawien ist nach wie vor gespannt, welcher Be richt uns über die Gespräche außerordentlich bedrückend. In meiner Heimatstadt demnächst zugeleitet wird. Osnabrück sind britische Einheiten stationiert, die Noch faszinierender ist allerdings die Situation in gerade nach einem längeren Aufenthalt nach der SPD. Ich habe in diesem Haus schon mehrfach Deutschland zurückgekehrt sind. Von den Briten Debatten über den Jäger 90 geführt. Die SPD hat wurde zu Recht die Aussage getroffen: Kein normaler immer wieder erklärt, daß sie den Jäger 90 sowie auch Mensch dort will den Krieg. Leider gibt es in Westju- die Entwicklung des Jäger 90 kategorisch ablehnt. goslawien einige Scharfmacher, die dazu noch über die entsprechenden Möglichkeiten verfügen, ihre (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Entwick- Auffassung mit Waffengewalt durchzusetzen. Wir alle lung ist jetzt zu spät!) sind aufgefordert, diese Kriegstreiber inte rnational zu — Ja, aber Sie lehnen das doch kategorisch ab. ächten. Um so größer war das Erstaunen über die Äußerung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) des Ministerpräsidenten Schröder in Niedersachsen, der ein Überdenken der Position der SPD zum Deshalb begrüße ich ausdrücklich, daß in Den Haag Jäger 90 angesichts bedrohter Arbeitsplätze in Lem- der internationale Strafgerichtshof für das ehemalige werder fordert. Ich habe den Eindruck, daß hier von Jugoslawien eingerichtet wurde. Ferner begrüße ich, Herrn Schröder billigster Populismus bet rieben daß auf Grund des unermüdlichen und beharrlichen wird. Drängens von Außenminister Klaus Kinkel weitere Schritte unternommen werden, um zu einer Beendi- Angesichts der klaren Position zum Jäger 90 könnte gung dieses Bürgerkrieges zu kommen. Wir alle man davon ausgehen, daß diese Bundestagsfraktion können nur hoffen, daß diese Gespräche zum der SPD sich ausdrücklich von diesen Äußerungen des erwünschten Erfolg führen und nicht auch in diesem Herrn Schröder, der auch Mitglied des Bundesvor- Winter wieder Zehntausende von Menschen erschos- standes der SPD ist, distanziert. sen werden, erfrieren oder verhungern müssen. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist doch Ich möchte allerdings denjenigen, die ein militäri- beschlossen! Auf dem Parteitag!) sches Eingreifen in Restjugoslawien fordern, entge- Ich habe allerdings den Eindruck, daß diese Hoffnung genhalten, daß es relativ leicht ist, einzumarschieren. trügt und die SPD-Bundestagsfraktion bei diesem Aber wie und wann sollten die Truppen wieder Thema abtaucht. Von Herrn Jungmann habe ich abziehen können? Welches politisch konkret tragfä- gerade nichts gehört. hige Ziel sollte verfolgt werden? Hat uns nicht gerade (Zuruf des Abg. Horst Jungmann [Wittmoldt] die Entwicklung in Somalia gezeigt, daß eine relativ [SPD]) einfach erscheinende Mission, verglichen mit der Situation in Jugoslawien, unverhofft zu erheblichen — Er hat doch Herrn Schröder bezüglich seiner Schwierigkeiten führen kann? Es muß aber etwas Äußerungen nicht kritisiert, aber vielleicht habe ich gleich die Möglichkeit, das von Herrn Kolbow gleich weiter geschehen, und es geschieht auch etwas. Die internationalen Sanktionen sind richtig und müssen noch deutlicher zu hören. fortgesetzt werden. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Alter U-Boot-Mann!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Jahr 1994 ist auch deshalb für unser Land so wichtig, weil sich die Sowjetunion verpflichtet hatte, bis Ende 1994 Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- alle Soldaten in Deutschland abzuziehen. Diese Ver- geordneter Thiele, gestatten Sie eine Zwischenfrage pflichtung wird schon im August 1994 erfüllt sein. des Abgeordneten Jungmann? Dieses hat natürlich Folgen für die Sicherheit (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Danke Deutschlands. Deutschland ist nicht mehr bedroht, schön! Ich mache nachher eine Kurzinter- aber die Welt ist auch nicht frei von Risiken. Wir vention!) brauchen deshalb weiter die Bundeswehr. Aber was für eine Bundeswehr? Bislang habe ich mich zur Bundeswehr nach 1994 (F.D.P.): Einverstanden. — Ich Carl-Ludwig Thiele noch nicht geäußert, denn ich wollte keine zusätzliche habe allerdings den Eindruck, daß diese Hoffnung Unruhe in die Bundeswehr bringen, sondern zunächst trügt und die SPD-Bundestagsfraktion bei diesem abwarten, wie sich die sicherheitspolitische Lage Thema abtaucht. entwickelt, zumal die Situation in der Bundeswehr Apropos abtauchen: Die SPD-Bundestagsfraktion durch den drastischen Abbau der Bundeswehr außer- fordert immer wieder eine strikte Begrenzung von ordentlich schwierig ist. Rüstungsexporten. Auch diese Position hindert den Ministerpräsidenten Schröder in keiner Weise daran, Mit der Verabschiedung des Haushaltes 1994 sind sich unter Umgehung sämtlicher Gremien für die wir alle aufgefordert, uns Gedanken über die Bundes- Exporte von U-Booten stark zu machen. wehr ab 1995 zu machen. Der Auftrag, die Bundesre- publik direkt vor Angriffen aus dem Osten zu schüt- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) zen, stellt sich derzeit nicht, auch wenn wir weiter Was hilft denn auch Grundsatztreue, wenn bei kon- Risikovorsorge für unser Land betreiben müssen. kreten Entscheidungen das Gewissen gleich an der Diese erfreuliche Entwicklung muß dazu führen, daß Garderobe mit abgegeben wird? über die Aufgaben der Bundeswehr weiter nachge- 16630 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Carl-Ludwig Thiele dacht wird. Dabei müssen wir einfach feststellen, daß Ich könnte das fortführen. Aber ich bitte Sie, das es eine Bedrohung Deutschlands nicht gibt. Die Risi- Protokoll nachzulesen. Da steht noch mehr d rin. ken müssen allerdings gesehen und sorgfältig analy- Und wenn Sie auf den Ministerpräsidenten des siert werden. Hierbei ist festzustellen, daß sich die Landes Niedersachsen, meinen Parteifreund Schrö- Risiken, gegen konventionelle Waffen verteidigen zu der, hingewiesen haben, dann gibt es zu dem, was er müssen, glücklicherweise erheblich reduziert ha- gesagt hat und was Sie ihm unterstellt haben, einen ben. eindeutigen Parteitagsbeschluß aus der letzten Wo- Der Sicherheitsgürtel zum Osten hin umfaßt Polen, che, der eine Nichtbeschaffung des Jägers 90 vorsieht die baltischen Staaten, Weißrußland sowie die und nicht das, was Sie hier fälschlicherweise behaup- Ukraine. Im Zuge unserer eigenen Sicherheitspolitik tet haben: daß die SPD-Fraktion auf Tauchstation sind wir aufgefordert, diese Länder wie auch Rußland geht. Die SPD-Fraktion hat es nicht nötig, in dieser und die anderen GUS-Staaten weiter als befreundete Frage auf Tauchstation zu gehen. Nationen zu erhalten und entsprechende Anstrengun- (Zuruf von der F.D.P.: Er hat gar nicht vom gen zu unternehmen. Parteitag gesprochen, er hat von Herrn Es stimmt allerdings, daß es atomare Risiken gibt. Schröder gesprochen!) Dazu müssen wir aber feststellen, daß unsere Bundes- Sie haben nämlich in dieser Frage herumgeeiert und wehr nicht in der Lage war und ist, uns wirksam und haben den Verteidigungsminister, als er den Jäger 90 mit Sicherheit gegen solche Risiken zu verteidigen. stoppen wollte, von Bayern bis zur F.D.P. verlassen Bei diesen Waffen ist es vielmehr angezeigt, daß wir und ihm nicht geholfen und haben dem Jäger 90 am unseren Beitrag dazu leisten, daß diese möglichst Ende zugestimmt, obwohl Sie öffentlich — gerade Sie, schnell weiter reduziert und vernichtet werden. Herr Koppelin — immer etwas anderes behauptet (Beifall bei der F.D.P.) haben. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: Entsprechend hat sich ja auch der Außenminister Was sagt der Genosse Schröder?) heute hier geäußert. Sehr verehrte Damen und Herren, aus dieser Risi- Zur Erwi- koanalyse komme ich für mich zu dem Schluß, daß Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: unsere Bundeswehr im Jahr 2000 keine 370 000 Mann derung erteile ich dem Abgeordneten Carl-Ludwig mehr benötigt. Thiele das Wort. (Zuruf von der SPD) (F.D.P.): Herr Kollege Jung- Dabei müssen wir ja auch sehen, daß die Ist-Stärke Carl-Ludwig Thiele mann, ich habe hier festgestellt, daß Herr Schröder der Bundeswehr Ende 1994 auch nicht 370 000 Mann beträgt, sondern nach bisheriger Planung 365 000 Aussagen getroffen hat, die im Widerspruch zu den Mann mit weiterer Schwankungsbreite nach unten. bisherigen Aussagen der SPD-Bundestagsfraktion Ich bin deshalb dafür, daß die Bundeswehr sich bis stehen, zum Jahr 2000 auf 300 000 Mann behutsam verrin- (Zuruf von der CDU/CSU: Und das ist immer gert, hierbei aber ihre Aufwuchsfähigkeit erhält. noch so!) (Zuruf von der SPD) und ich habe darauf verwiesen, daß Sie in Ihrer Rede auf diesen Widerspruch nicht aufmerksam gemacht Die Zahl 370 000 markiert also die Obergrenze, die haben und sich nicht von Herrn Schröder distanziert aber nicht eingehalten werden muß. haben. In einer Zeit, in der die Welt im Umbruch ist, wird die (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das Bundeswehr davon besonders betroffen. Deshalb ist alles können Sie im Protokoll nachlesen!) die Beratung dieses Etats auch so schwierig, deshalb Ich nehme allerdings zur Kenntnis, Herr Jungmann, ist sie aber auch so notwendig. Die F.D.P. stimmt dem daß Sie — und da habe ich jetzt auch die Wortmel- Verteidigungshaushalt zu. dungen Ihrer anderen Kollegen, z. B. von Frau Mat- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) thäus-Maier — für sich und die SPD-Bundestagsfrak- tion hier ausdrücklich erklären, daß Sie sich von dieser Position des Ministerpräsidenten Schröder ausdrück- lich und mit Nachdruck distanzieren. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Horst (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) Jungmann das Wort. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun kann ich dem Bundesminister der Verteidigung, Herrn Rühe, das Wort geben. Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Herr Kollege Thiele, Sie haben gerade behauptet, ich hätte in meiner Rede nichts zum Jäger 90 gesagt. Vielleicht Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: waren Sie gerade durch die lauten Zwischenrufe Ihrer Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Kollegen abgelenkt. Aber ich habe, zum Verteidi- mich zunächst bei den beiden Berichterstattern, die gungsminister gewandt, gesagt: „Sie haben den ausscheiden werden, für ihre Arbeit und für ihre Jager 90 nicht gestoppt. Die sogenannte Umorientie- Reden bedanken. Ich darf mit Hans-Gerd Strube rung auf den Euro-Fighter 2000 gestaltet sich, wie Sie anfangen. Er war immer ein wirklicher Freund der wissen, doch äußerst zäh." Bundeswehr und hat viel für die Soldaten getan. Ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16631

Bundesminister Volker Rühe kann es ein bißchen nachempfinden, wenn er jetzt, Beginns, standen wir vor solchen Herausforderungen, gegen Ende seiner Tätigkeiten, manchmal noch in nämlich daß sich so viel auf einmal ändert. Wir einer sehr schwierigen Situation, in einem Gewissens- reduzieren um fast die Hälfte. Deswegen habe ich konflikt arbeiten muß. Ich glaube, wir hätten ihm alle mich immer über diejenigen gewundert, die gesagt gewünscht, daß ihn das nicht ereilt hätte. Bei mir ist haben: Da muß noch etwas draufgesattelt werden. Das das nicht so schlimm. Ich bin ja erst am Anfang. Aber muß noch übersteuert werden. Ich sage: Das ist eine wenn man am Ende in eine so schwierige Situation gewaltige Leistung. Wer weiß denn schon, daß seit kommt, ist das etwas anderes. 1990 266 Einheiten der Bundeswehr in Westdeutsch- land aufgelöst wurden? Im nächsten Jahr werden noch (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wie geht es dann einmal 66 Einheiten aufgelöst. weiter?) (Gerlinde Hämmerle [SPD]: D ann brauchen — Die F.D.P. ist beunruhigt, daß ich erst am Anfang wir gar keinen Verteidigungsminister mehr! bin. Warten Sie einmal ab. — Gegenruf von der F.D.P.: Ein sehr guter Ich bin sicher, lieber Hans-Gerd Strube, daß du bis Beitrag!) zur letzten Minute dafür kämpfen wirst, daß die — Es bleiben schon noch Einheiten übrig, gnädige Bundeswehr einen vernünftigen Finanzrahmen be- Frau. kommt. (Beifall bei der CDU/CSU) Viele Verbände werden in neue Standorte verlegt. Die Bundeswehr soll gleichzeitig eine neue Struktur Zum Kollegen Horst Jungmann: Bei ihm möchte ich bekommen. Sie soll eine wegweisende Rolle im Ein- mich ebenfalls für seine Rede bedanken. Es ist heute heitsprozeß spielen. Ich glaube, daß sie das bisher mit nicht nur von einer Seite Richtiges über den Haushalt Bravour gemacht hat. gesagt worden. Es war ja ein bißchen Ball paradox. Sie als Beschützer der Bundeswehr zu sehen, erinnert (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mich ein wenig an den Ball paradox im Café Keese. Schließlich wird die Bundeswehr auf neue Aufgaben Einen Augenblick lang habe ich mich geärgert, dann ausgerichtet. Sie hat ebenfalls gezeigt, daß sie inter- habe ich aber gesagt: Im Grunde genommen hat er das national solidarisch handeln kann. aber auch verdient. Er war als Seemann immer ein Freund der Bundeswehr und hatte viel unter den Parallel dazu muß sich die wehrtechnische Indu- Genossen zu leiden, strie dem verringerten Bedarf und den finanziellen Bedingungen anpassen. Das habe ich nun wirklich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) noch nicht gehört, Herr Kollege Jungmann, daß ich zu die ihm in den vergangenen Jahren diese Rolle nicht wenig in die Rüstungspolitik eingegriffen hätte. Das zugebilligt haben. Jetzt ernsthaft: Auch Ihnen vielen habe ich von der ersten Minute an gemacht, indem ich Dank für die Arbeit, die Sie immer geleistet haben. gesagt habe: Keine Mark mehr gegen die alten Bedrohungen, sondern jede Mark jetzt für die neue (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Situation. SPD) Bisher wurden schon über 100 000 Arbeitsplätze Ich weiß nicht, ob Rudi Walther da ist. Ich habe es abgebaut. Es ist ja richtig, daß ein Sozialdemokrat wie ihm auch schon persönlich gesagt. E r hat als Vorsit- Herr Schröder angefangen hat, sich darüber Sorgen zender des Haushaltsausschusses und auch als zu machen. Es ist wichtig, daß Sie einmal eine Berichterstatter immer sehr viel für die Bundeswehr einhellige Meinung herstellen, daß ein Bet riebsrat getan. Er hat ebenfalls die schwierigsten Kämpfe von Ihnen genau dasselbe sagt wie ein Ministerpräsi- geführt; das sind nämlich immer die in der eigenen dent oder auch ein Bundestagsabgeordneter. Klar ist: Partei. Das weiß ich besonders zu schätzen. Wir brauchen Stetigkeit und Verläßlichkeit. Sonst Es ist richtig, daß der Verteidigungsminister heute kann man keine Bundeswehrplanung machen. keine Klarheit über seinen Haushalt hat und auch am (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ende der Woche nicht haben wird. Ich rede immer so, wie es ist. Das ist natürlich eine ungewöhnliche und Sonst gibt es auch keine Grundlage für die Indust rie, schwierige Situation. Aber klar ist aus meiner Sicht an der sie sich orientieren könnte. Genau darum habe ebenfalls, daß es nicht zu diesen Einsparungen kom- ich mich bemüht. Ich glaube, wir haben auch für mehr men wird, die hier genannt werden. Wir müssen um Stetigkeit und Ruhe gesorgt. Aber ein Schlüsselfaktor eine Schadensbegrenzung kämpfen, denn es gibt ist natürlich der Verteidigungshaushalt, der die Min- keine weiteren Möglichkeiten zu sparen mehr, ohne destbedürfnisse unserer Sicherheit und unserer inter- daß großer Schaden in der Bundeswehr ange richtet nationalen Handlungsfähigkeit erfüllen muß und der würde. Wenn es zu dieser Einsparung käme — aber die Voraussetzung für die mittelfristige Planungssi- der Finanzminister hat schon deutlich gemacht, daß cherheit ist. das nicht der Fall sein wird —, bestünde die Gefahr Wir haben nach den kurzfristigen Einschnitten vor eines inneren Kollaps der Bundeswehr. Monaten, am Anfang des Jahres, Verhandlungen in Ich will noch einmal schildern, wie die Entwicklung der Regierung geführt mit genau diesem Ziel, zu einer ist. Wir haben in den letzten Jahren rund 7 Milliarden Verstetigung der Ausgaben zu kommen. Das Ergeb- DM eingespart. Wir hatten noch vor wenigen Jahren nis war ein harter Sparhaushalt: 48,6 Milliarden in einen Anteil von 18 % am Bundeshaushalt und sind diesem Jahr und dann schon in der mittelfristigen jetzt bei 10,5 % angelangt. Niemals zuvor in der Finanzplanung für drei Jahre festgelegt: 47,5 Milliar- Geschichte der Bundeswehr, mit Ausnahme des den DM. 16632 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundesminister Volker Rühe Im Haushaltsausschuß waren nach wochenlangen Natürlichste der Welt, daß wir versuchen, auch dieses Beratungen ganze 117 Millionen DM strittig. Dann europäische Jagdflugzeug auf den Weg zu bringen. kam der Beschluß, dessen Auswirkungen wir im einzelnen noch nicht kennen. Ich möchte jedoch alle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aufrufen, daran mitzuwirken, den Schaden zu begren- Im Moment gibt es aber technische Schwierigkeiten; zen und das, was der Verteidigungshaushalt zusätz- das ist überhaupt keine Frage. lich erbringen muß, möglichst stark herunterzudrük- ken. Ich möchte jetzt noch kurz etwas zu Somalia und zu den internationalen Einsätzen sagen. Herr Thiele, ich Nun haben Sie gesagt, Sie hätten die Befürchtung, wollte es eigentlich nicht. Aber ich muß doch ein Wort ich würde das in die Zukunft verschieben und Sie zu Ihnen sagen, weil ich das zurückweisen muß, was müßten vielleicht darunter leiden. Da kann ich Sie in Sie sagen: nichts wie weg aus Somalia. zweifacher Hinsicht beruhigen. Erstens werden Sie nach dem nächsten Oktober nicht in der Situation (Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker) sein, daß Sie ein solches Erbe übernehmen müssen, Ich kann das nicht erkennen. Sie müssen doch zur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kenntnis nehmen, daß die Bundeswehr all ihre Ver- der F.D.P.) pflichtungen gegenüber den Vereinten Nationen erfüllt hat. Wir sind mit der Pünktlichkeit eines Inter- und zweitens — und das ist noch viel wichtiger — city in Somalia gelandet. Nur der Gegenzug ist nicht werde ich in dem Moment, in dem wir die abschlie- eingelaufen. Daraus kann man uns keinen Vorwurf ßenden Zahlen kennen, sehr schnell die notwendigen machen. kurzfristigen Entscheidungen treffen. Ich werde ohne Rücksicht auf innenpolitische Termine die notwendi- Im übrigen haben andere Länder wie die Vereinig- gen Entscheidungen im nächsten Jahr treffen, und ich ten Staaten, wie Frankreich und Belgien einseitige werde auch ohne Rücksicht auf innenpolitische Ter- Entscheidungen getroffen, die uns bestimmte Grund- mine die Zukunftssicherung der Bundeswehr auf der lagen weggenommen haben. Die Vereinten Nationen Basis, die dann gegeben ist, betreiben. haben auch die Geschäftsbedingungen geändert. Wenn ich in der Situation nicht nur als Minister, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — sondern auch als Inhaber der Befehls- und Komman- Zurufe von der SPD) dogewalt nun mit sehr großer Sorgfalt darauf achte, Sie sollten mich eigentlich soweit kennen, daß Sie daß unsere Soldaten nicht in eine gefährliche Situa- wissen, daß ich das sehr ernst meine. Ich sage hier tion kommen und daß wir alles Material rechtzeitig noch einmal, weil ich schon im Frühjahr Hunderte von aus Somalia herausbringen, dann entspricht das — so Abgeordnetenbriefen bekommen habe, als wir noch glaube ich — meiner Verantwortung. Ich weise das eine bessere finanzielle Grundlage hatten und eine zurück, wenn gesagt wird: Es handelt sich um eine schwierige Stationierungsdebatte führten: Es gibt „Nichts-wie-weg-Haltung". keinen Spielraum mehr für Rücksichten, die die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Strukturpolitik betreffen. der F.D.P.) Die Bundeswehr hat nicht die Hauptaufgabe, statio- niert zu sein. Mit dem, was jetzt an neuen finanziellen Damit hat das nichts zu tun. Belastungen auf uns zukommt, muß ich mich aus- Im übrigen bin ich mit dem Außenminister einig, schließlich an der militärischen Leistungsfähigkeit der daß wir noch im Monat Dezember die Entscheidung Bundeswehr orientieren. Das werde ich auch machen über die Frage des Rückzugs treffen, und das ist und die Zukunftssicherung der Bundeswehr betrei- ausreichend für die Soldaten. Aber das muß auch ben. Denn für alles andere gibt es in diesem Haushalt geschehen, damit wir hier nicht in eine schwierige keinen Spielraum mehr. Lage kommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zu den Sozialdemokraten: Es ist eben richtig, daß Wichtig ist, daß die Sparbelastungen so abgesenkt sie mit ihren Parteitagsbeschlüssen nicht bündnisfä- werden, daß wir kontinuierlich an dieser Planung hig sind, wobei das eigentliche Problem nicht Einsätze arbeiten können und daß es nicht zu sofortigen und wie in Somalia oder Kambodscha sind — da kann m an heftigen Einbrüchen kommt. Daher ist meine Bitte an ja oder nein sagen; man muß nur im Prinzip dazu alle Beteiligten, sich in diesem Sinne einzusetzen. bereit sein —, sondern das eigentliche Problem sind die NATO-Einsätze. Daraus ergibt sich die Bündnis- Jetzt hat das Jagdflugzeug eine Rolle gespielt. Ich unfähigkeit. verstehe im Augenblick die Aufregung nicht. Wir sind dabei, die Umstellung international auszuhandeln. Ich war Anfang der Woche bei dem AWACS- Daß das schwer ist, ist klar. Es gibt aber auf dem Weg Verband in Geilenkirchen, wo zwölf Nationen ein Erfolge. Im Augenblick hat das Flugzeug technische Flugzeug betreiben. Wenn die NATO im Auftrag der Schwierigkeiten. Kein Verteidigungsminister der UNO diese Flugzeuge einsetzt und wir nicht in der Welt kann es den Technikern abnehmen, daß das Lage sind, uns zu beteiligen, wie elf andere Nationen Flugzeug fliegt. auch, dann werden wir bündnisunfähig. Dann kommt es zu einer Renationalisierung der Verteidigungspo- Wir werden 1995 sehen: Erfüllt es die technischen litik. Das ist ein riesiger Schaden, der dort eintreten Voraussetzungen, erfüllt es die finanziellen Voraus- würde. setzungen; wenn das der Fall ist, dann ist es doch das (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16633

Bundesminister Volker Rühe Wenn der Ministerpräsident Scharping vor einer Bundeswehr und wenn diesem Dank auch das Geld Renationalisierung allgemein gewarnt hat, dann kann folgen würde bei den Haushaltsberatungen. ich nur sagen: Eine solche Art der Integration wie in Vielen Dank. diesem Flugzeug oder wie in den integrierten NATO- Stäben, an denen wir eben auch mitwirken können (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. und müssen, oder bei anderen NATO-Einsätzen gibt sowie des Abg. Horst Jungmann [Wittmoldt] es nirgendwo anders auf der Welt. Das ist der eigent- [SPD]) liche qualitative Fortschritt, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa erreicht worden ist. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Wenn wir nicht dieselben Einsatzbedingungen ten Damen und Herren, ich habe eine Bitte. Der haben wie andere Nationen auch, müßten wir aus Kollege Müller (Wadern) möchte gerne seine Rede zu diesen integrierten Stäben ausscheiden — im Augen- Protokoll geben.*) blick haben wir ja auch entsprechende Probleme —, (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr vernünftig! dann müßten wir aus solchen integrierten Verbänden Wer noch?) wie bei AWACS ausscheiden. Dann kann es keine deutsch-französische B rigade, kein Eurocorps auf die Gibt es Bedenken? — Ich höre und sehe keinen Dauer geben. Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich möchte Sie dann noch darauf aufmerksam Hier stellt sich die Frage der Bündnisfähigkeit, und hier liegt der eigentliche Grund dafür, warum es eben machen, daß nach dem Debattenverlauf kurz vor nicht reicht, daß wir Blauhelm-Soldaten schicken. Wir 20 Uhr die namentliche Abstimmung über den Haus- halt 04 stattfinden wird. müssen vielmehr in der Lage sein, genau das zu tun, was die anderen NATO-Staaten auch tun. Nun erteile ich das Wort unserem Kollegen Walter Kolbow. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nun hat Herr Klose gesagt, Sie stünden ja zu den jetzigen Bündnisverpflichtungen, aber nicht zu den Walter Kolbow (SPD): Herr Präsident! Meine sehr zukünftigen der NATO. Er übersieht aber, daß die verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal zukünftigen Verpflichtungen sozusagen schon zu den möchte auch ich dem Kollegen Horst Jungmann, der jetzigen geworden sind. Die NATO ist schon mitten im Haushaltsausschuß Berichterstatter für den Einzel- drin in der neuen Zeit. Ohne das NATO-Hauptquar- plan 14 ist, für die freundschaftliche, sachkundige und tier, ohne die NATO-Flugzeuge — AWACS und der Bundeswehr dienliche Zusammenarbeit dan- Jagdflugzeuge — gäbe es überhaupt keine Möglich- ken. keiten der Vereinten Nationen, in Jugoslawien einzu- (Beifall bei der SPD) greifen. Das sind die wahrscheinlichsten Einsätze der Horst, du wirst uns fehlen. nächsten Jahre, und daran müssen wir auch teilneh- men. Ich möchte aber auch sagen — nicht weil ich das vorhin erfahren habe, Herr Kollege Strube, sondern Es nützt überhaupt gar nichts, wenn Sie sagen: weil die Debatten über den Verteidigungsetat dies Wir stehen zu den alten Bündnisverpflichtungen. immer wieder deutlich gemacht haben —, daß wir Dabei handelt es sich um die unwahrscheinlichsten Ihnen danken für die Sachlichkeit und auch für die Situationen, nämlich die Frage eines Großangriffs auf Klarheit der Ausführungen, die Sie zu dem Einzel- die NATO. Wer soll das eigentlich durchführen? plan 14 im Rahmen der Berichterstattung, aber auch Wer also die Existenzsicherung der NATO auch in als engagierter Streiter im besten Sinne des Wortes für der Zukunft betreiben will, der muß auch zu diesen unsere Bundeswehr gemacht haben. Gelegentlich neuen Aufgaben stehen. Deswegen ist es richtig: Sie werden wir bei uns, wenn Ihr Nachfolger spricht, werden bündnisunfähig, wenn Sie nicht bereit sind, darauf hinweisen können: Das hätte der Kollege über Blauhelm-Missionen hinauszugehen. Darüber Strube sicherlich etwas anders formuliert. sollten Sie noch einmal sehr gründlich nachdenken. Ich weiß nicht, ob die Auffassung, die Sie heute Herr Präsident, meine Damen und Herren, gestatten geäußert haben, daß die Bundeswehr schlanker wer- Sie mir am Schluß auch ein Wort des Dankes an alle den muß und daß, was auch der Kollege Thiele Angehörigen und Mitarbeiter der Streitkräfte, an die eingebracht hat, die Streitkräfte nicht auf einer Stärke Soldaten und die zivilen Mitarbeiter. Ich weiß, daß sie von 370 000 Mann bestehen können, die Mehrheits- in schwierigen Zeiten ihren Dienst machen, daß wir fähigkeit bei der Koalition hat. Ein Denkprozeß hat bei ihnen auch einiges durch schnell aufeinanderfol- Ihnen aber für eine Position, die wir in Wiesbaden gende politische Entscheidungen zumuten. beschlossen haben, ersichtlich begonnen. Ich fordere Sie auf, weiterhin diesen Dialog mit uns zu führen. Aber ich meine, daß wir alle in dem Urteil überein- Denn es muß — auch wenn wir darüber noch nicht stimmen, daß sie eine große Leistung erbracht haben, einer Meinung sind — ein Ergebnis sein, daß Sicher- daß es nicht selbstverständlich ist, mitten in diesem heit, aber auch Streitkräfte legitime Mittel des Aus- schwierigen deutschen Einigungsprozeß eine Füh- drucks eines souveränen Staates sind. rungsrolle zu übernehmen, wie die Bundeswehr das Meine sehr verehrten Damen und Herren, der gemacht hat, und gleichzeitig neue internationale Kollege Jungmann hat profund den Bundesminister Aufgaben zu übernehmen. der Verteidigung angesprochen. Bevor ich auf Sie, Ich denke, es wäre angemessen, wenn das ganze Parlament einen Dank aussprechen würde an die *) Anlage 3 16634 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Walter Kolbow Herr Bundesminister, eingehe, will ich mir im Rahmen des Außenamts auf eine deutsche Beteiligung am meiner Redezeit erlauben, einen Punkt anzuspre- Somalia-Abenteuer drängte. Ohne klare rechtli- chen, der mir außerordentlich am Herzen liegt, auch che Grundlage, ohne ein tragfähiges Einsatzkon- nach den Besuchen, die wir in Belet Uen und in Phnom zept wurde die Bundeswehr ans Horn von Afrika Penh gemacht haben. Ich möchte darauf hinweisen, entsandt. Es ging Rühe dabei weder um humani- daß wir auch national bei uns zuwenig tun, keine täre Hilfe noch um eine wirkliche militärische Vorausschau getroffen haben und auch kein Projekt Aufgabe. Der verhinderte Außenpolitiker wollte haben, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein Signal setzen: Wir sind wieder dabei — auf zur Erhöhung der Sicherheit der Bevölkerung in Biegen oder Brechen. Nun ist die Verfassung ehemaligen Bürgerkriegsgebieten vor Gefahr durch verbogen, die UN-Mission zerbricht, Minen und andere gefährliche Munition. — wie wir sehen — (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Minister will seine Soldaten lieber heute als Ich bin froh, daß am 19. September in Belet Uen ein morgen zurückholen: Prothesenhilfsprogramm begonnen worden ist, mit dem 100 Minenopfern geholfen wird. Wir wissen, daß — da stimmen wir zu — in dem orthopädischen Zentrum in Battampang in Vorwärts, Kameraden — wir müssen zurück! Phnom Penh auch mit der Unterstützung von deut- scher Seite 2 000 Minenverletzte von Ap ril bis Okto- So der Kommentar aus der „Augsburger Allgemeinen ber behandelt worden sind. Dies reicht aber nicht aus. Zeitung", Herr Kollege Rossmanith, die nun nicht im Deswegen, meine ich, müssen wir hier für Angola, Verdacht steht, sozialdemokratischen Umtrieben Mosambik, Afghanistan, aber auch für Kambodscha empfänglich zu sein. und Somalia ein Projekt miteinander entwickeln, das (Beifall bei der SPD — Kurt J. Rossmanith die Minengefahr beseitigen hilft und womit wir für die [CDU/CSU]: Darm hätten Sie auch sagen Menschen vor Ort dann auch konkret Lebensrettung sollen, wer ihn geschrieben hat!) betreiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Für uns jedenfalls — da komme ich Ihnen wieder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten näher, Herr Kollege Rühe — steht die Sicherheit der CDU/CSU) unserer Soldaten in Somalia an erster Stelle. Dies Ich glaube, daß auch bei den Finanzdiskussionen heißt, daß wir uns aus Somalia zurückziehen müssen um Somalia so manch einer oder eine sagen wird: und daß — das sagt, wie nachzulesen ist, heute auch Manche Mark aus Deutschland wäre für ein solches Kollege Hornhues —, wenn die Amerikaner heraus- Minenhilfsprogramm, für ein solches Projekt, bei der gehen, wir wegen der Sicherheit unserer Soldaten UNHCR, also bei der UNO angesiedelt, gut angelegt vorher herausgehen müssen. Wenn wir dann geordnet gewesen. Wir wollen — das liegt uns auch nicht; dazu, abziehen, so muß man jetzt damit anfangen. Die meine ich, leisten unsere Soldaten in Somalia zu gute Entscheidung im Kabinett, die Sie gestern abend Arbeit, auch in Phnom Penh haben sie das getan, getroffen haben, stellt den kleinsten gemeinsamen solange sie dort waren —, so wie der Außenminister Nenner zwischen Außenminister und Verteidigungs- das heute gesagt hat, diesen Einsatz nicht miesma- minister dar. Hier rufe ich Sie nachdrücklich auf: chen. Darum geht es nicht. Wir müssen ihn analysie- Setzen Sie sich im Kabinett einmal durch, und sorgen ren, und wir müssen ihn politisch bewerten. Sie dafür, daß dieser Beschluß gefaßt wird! Herr Holtz sagt im ZDF zum deutschen Einsatz: Auch nicht im Kabinett durchgesetzt, jedenfalls bis jetzt und auch in der Vergangenheit nicht, Herr Er wird als das riesengroße Somalia-Windei in Kollege Rühe, haben Sie sich bei den Mitteln, die die Erinnerung bleiben. Diese indische Brigade, der Bundeswehr gerade jetzt in schwierigen Haushaltssi- die deutschen Soldaten angeblich zur Hand tuationen braucht. Es ist schon merkwürdig. Wir

gehen sollten, geistert wie der Fliegende Hollän- haben rechtzeitig einen Abrüstungs - und Rüstungs- der durch die Träume der deutschen Politiker. In kontrollansatz gehabt. Wir haben gesagt, wir können der Wirklichkeit taucht sie niemals auf. Aber der den Umfang der Bundeswehr reduzieren. Wir haben deutsche Drang nach Afrika entstand schließlich uns, noch in der Jacobsen-Kommission, sogar auf nur aus politischem Antrieb. Die Bundesregie- gemeinsame Eckwerte verständigt, weil wir — das ist rung strebt nach einem Dauersitz im Sicherheits- für die Opposition nicht so einfach wie für die Regie- rat der Vereinten Nationen, und dorthin kommt rung — die Kassenlage nicht genau kennen konnten. einer nur mit Helm. Ohne Militäreinsatz kein Als wir dies erkannt haben, haben wir aus dem Prestige. rüstungs- und abrüstungskontrollpolitischen Ansatz Das ist der Punkt, an dem wir ansetzen und bei dem heraus und auch wegen der Notwendigkeiten, die wir der Meinung sind, daß wir Ihnen das nicht jetzt von Ihnen von der Finanzseite her kommen, ersparen können. Die „Augsburger Allgemeine Zei- gesagt: Reduziert den Umfang auf 300 000 Mann! Es tung", Herr Rühe, schreibt unter der Überschrift — die sind auch andere Zahlen genannt worden, die ich ich mir in der abendlichen Stimmung nicht vollinhalt- persönlich für falsch halte. Der Wiesbadener Parteitag lich zu eigen machen möchte — „Rühe wird zum hat diese 300 000 beschlossen. Herr Thiele, dies ist der Reinfall" das folgende: Anfang einer Kooperation in der Sache — über anderes habe ich nicht zu spekulieren; darüber wird Auch wenn es der allzeit bereite Wehrminister der Wähler zu entscheiden haben —, für schlankere heute eher ungern hört — vor allem er war es, der Streitkräfte, die Sicherheit garantieren. Diese S treit- vor Jahresfrist gegen anfänglichen Widerstand kräfte müßten dann aber optimiert sein und auch die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16635

Walter Kolbow Beträge erhalten, die wir insgesamt vor dem Steuer- dies bis zum Jahre 2001 ebenfalls zu tun, tragen zahler verantworten können. erheblich dazu bei. Herr Bundesminister, es ist nun eine Aufgabe, die Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es uns Sie zu leisten haben, nicht unter die Kürzungsvor- aber nicht um die Kernfrage, ob der Bürger noch bereit schläge zu gehen, die wir bei einer Gesamtwertung ist, für den Schutz des Landes Pflichten zu überneh- des Haushalts und unter Berücksichtigung anderer men. Ganz im Gegenteil, der Bürger stellt fest, daß auf Prioritäten gefunden haben. Sie wissen, wir sind etwa die veränderte Lage durch die Politik nicht angemes- bei 800 Millionen DM. Auch ich bin der Meinung, daß sen reagiert wird. Er sieht nicht mehr den Sinn des es, wenn es tiefer geht, in die von Ihnen und auch vom zwölfmonatigen Opfers, wenn eine existentielle Kollegen Jungmann angesprochene Substanz geht. Bedrohung Deutschlands nicht mehr existiert, wie Sie Diese Summe ist das Mögliche, was wir noch machen selbst wiederholt festgestellt haben. können, mehr nicht. Ich sage Ihnen heute aber auch, Bei den Jugendlichen liegt die Quote der Ableh- daß Sie die Unterstützung der sozialdemokratischen nung der Wehrpflicht noch höher. Das ist meines Fraktion für das, was bei der Bundeswehr darüber Erachtens — das kommt zum Ausdruck, wenn man mit hinausgeht, bekommen. ihnen spricht — auch kein Wunder, wenn m an mit (Ina Albowitz [F.D.P.]: Na, na!) denen, die bereits ein Opfer für die Allgemeinheit bringen, so umgeht wie die Regierung. Wir sind — Wir kommen wieder darauf zurück, Frau Kollegin traurig darüber, daß wir das nicht haben verhindern Albowitz. So wie wir Sie beim Wort nehmen, können können und sind hier auch schuldhaft verstrickt mit im Sie auch uns beim Wort nehmen. Boot. Ich sage das ausdrücklich. Die Kürzung des Entlassungsgeldes um 18 % und die Kürzung des (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist ein Wort!) Verpflegungsgeldes sind wahrlich kein Ruhmesblatt Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn es in für uns alle hier im Deutschen Bundestag. der Bundeswehr eine solche Mißstimmung gibt, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht deshalb, weil die Planungssicherheit durch die der F.D.P.) Opposition nicht gegeben wäre, sondern weil der Bundesverteidigungsminister Planungsunsicherheit, Die SPD sieht die großen Vorteile der Wehrpflicht seitdem er im Amt ist, zu verantworten hat. und will sie deshalb, solange es möglich ist und Sinn macht, erhalten. Die Wehrpflicht, liebe Kolleginnen (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der und Kollegen, darf aber einer wünschenswerten und CDU/CSU) möglichen weiteren Reduzierung — davon ist heute Er hat es nicht geschafft, uns zur Sitzung des Vertei- auch gesprochen worden — nicht im Wege stehen; digungsausschusses am 8. Dezember und zur Bundes- denn die jetzige Zahl von Grundwehrdienstleistenden wehrplanungsklausur des Hauses am 7. Dezember die wird schon in Kürze nicht mehr zu bezahlen sein. Wir Bundeswehrplanung vorzulegen, weil sich die werden genau aufpassen, ob Sie die Zahl der Wehr- Finanzpolitiker und insbesondere der Finanzminister pflichtigen und die Manipulation mit dieser Zahl dazu eingeschaltet haben. Sie müssen doch dem General- benutzen, sich haushaltsmäßig in eine bessere Posi- inspekteur Abbitte leisten. Der Mann arbeitet sich tion als die zu bringen, in der Sie sind. zusammen mit den Teilstreitkräfteinspekteuren fast Die jetzt schon nicht mehr sicherzustellende Dienst- zu Tode, dann hat er ein Ergebnis, und dann kommen gerechtigkeit wird bei weiterem Personalabbau deut- die Finanzpolitiker wieder an und sagen: Ist nicht, lich abnehmen und damit zu einem verfassungsrecht- davon kommen 2,4 Milliarden DM herunter! — Dann lichen Problem. Bei Verringerung des Streitkräfteum- kann er das alles wieder in den Papierkorb der fangs um mehr als ein Drittel — darum kommen auch Hardthöhe schmeißen. Umsonst wird er Ihnen nicht Sie mit Ihren Sonntags- und Werktagsreden nicht einen persönlichen Vermerk in dieser Richtung herum — stellt sich unausweichlich die Frage der geschickt haben, denn er muß ja auch gegenüber Wehrform. Die Beibehaltung der Wehrpflicht wird seinen Soldaten auf der sicheren Seite sein. Das hat auch — das wissen zumindest die Verteidigungspoli- dieser Generalinspekteur, dem auch wir als Sozialde- tikerinnen und -politiker — von der weiteren Moder- mokraten in konstruktiver Kritik begegnen, nicht nisierung und Professionalisierung der kleineren verdient, meine Damen und Herren. Streitkräfte in Frage gestellt, weil diese eine längere (Beifall bei der SPD) und intensivere Ausbildung bedingen. Sagen Sie also die Wahrheit, gehen Sie zu den Gemogelt und nicht Sicherheit in die Gesellschaft Bürgerinnen und Bürgern und sagen Sie ihnen, daß und zu unseren jungen Menschen gebracht wird doch mit dieser Struktur nicht in das Jahr 2000 gegangen auch bei dem vollmundigen Bekenntnis zur Wehr- werden kann! Wenn Sie die Zukunftssicherung der pflicht ohne Wenn und Aber; denn gleichzeitig wird kräftig Hand an deren Legimitation gelegt, indem Bundeswehr unabhängig von Wahlterminen betrei- Grundwehrdienstleistende bei UNO-Missionen ein- ben wollen, was Sie, meine ich, auch tun müssen, dann gesetzt und aus Geldmangel kurzfristig 10 000 Wehr- werden Sie sagen müssen, daß Sie 370 000 bis 1996, pflichtige einfach nicht einberufen werden. 1998 oder spätestens 2000 nicht halten werden. Dann werden Sie sich letztlich dem anschließen, was der Die Zustimmung zur Wehrpflicht ist mit 29 % auf Bundeskanzler schon auf der Wehrkundetagung im einem Tiefpunkt angelangt. Ausländische Beispiele Februar 1993 gesagt hat, wobei ich mich immer wie die Abschaffung der Wehrpflicht in Belgien und wundere, daß Sie nach wie vor an 370 000 festhalten die Empfehlung des niederländischen Parlaments, und diese Eckwertposition nicht verlassen. Denn Sie 16636 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Walter Kolbow sind, wie Sie heute in der Debatte gemerkt haben, jeder, der hier in diesem Hause oder außerhalb auftritt Herr Rühe, auf der Verliererseite in bezug auf die und davon redet, die Verteidigungsausgaben seien Glaubwürdigkeit und auch die Konzeption. nach wie vor zu hoch, kennt sich in diesem deutschen (Beifall bei der SPD) Verteidigungsetat überhaupt nicht aus. Das hat die Bundeswehr nicht verdient. Auch wir (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Walter Franz — dort treffen wir uns — danken den Soldaten für das, Altherr [CDU/CSU]: Oder er sagt die was sie für den Frieden tun und was sie humanitär Unwahrheit!) leisten. Der Anteil des Verteidigungshaushaltes am Födera- Es besteht die Notwendigkeit und auch die politi- len Konsolidierungsprogramm der Bundesregierung sche Pflicht, den Soldaten für ihre Auslandsverwen- lag mit 863 Millionen DM bei 32 %. dungen Rechts- und Verfassungssicherheit zu geben, damit sie auch im Ausland besser Sicherheit produzie- Gleichzeitig befindet sich die Bundeswehr in einem ren können. schwierigen Anpassungsprozeß, der zunächst einmal darauf reagieren muß, daß der deutsche Bundeskanz- Ich danke für die Geduld. ler, daß Helmut Kohl — das war eine außerordentlich (Beifall bei der SPD — Manfred Richter erfolgreiche und geschichtlich großartige Leistung — [Bremerhaven] [F.D.P.]: Ihr seid in der Ver- es fertiggebracht hat, mit dem damaligen sowjeti- antwortung in dieser Frage!) schen Präsidenten Gorbatschow die Einigung zu erzielen, daß die Bundeswehr auf 370 000 Mann für die Zukunft im Vorgriff auf andere europäische Abrü- Meine sehr verehr- Vizepräsident Helmuth Becker: stungsverhandlungen reduziert wird und Deutsch- ten Damen und Herren, es gibt noch eine Verände- land gleichzeitig im westlichen Bündnis, in der NATO, rung. Nach der ausführlichen Debatte dieses Tages bleiben kann. verzichtet der Kollege Voigt auf seinen Redebei- trag. Das war eine hervorragende Vereinbarung, aber (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) das ist eine schwierige Belastung für die Bundeswehr — die Bundeswehr, die dabei ist, Standorte überall in Damit werden wir in etwa einer Viertelstunde zur Deutschland aufzugeben, die dabei ist, Standorte in namentlichen Abstimmung kommen. den neuen Bundesländern aufzubauen, die dabei ist, Ich erteile jetzt als vorläufig letztem Redner unse- Umzüge von Zigtausenden von Soldatenfamilien auf rem Kollegen Paul Breuer das Wort. sich zu nehmen und zu organisieren, die dabei ist, das ehemalige Material der Nationalen Volksarmee abzu- geben, das alles geräuschlos, eine Bundeswehr, die es Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn m an aus der Debatte über geschafft hat, die ehemaligen Soldaten der NVA in den Verteidigungsetat heute eines festhalten kann, den eigenen Reihen auf der Basis der freiheitlich dann ist das die gemeinsame Meinung: Zu erwarten, demokratischen Grundordnung unseres Grundgeset- zes zu integrieren. daß im Verteidigungsetat für die Zukunft noch wesentliche Einsparungen erzielt werden können, ist Wer in dieser Situa tion nach wie vor verächtlich nicht realistisch. Zum erstenmal seit langer, langer über die Bundeswehr redet, der kennt die Bundes- Zeit kann man das gemeinsam feststellen. Das ist eine wehr in dem, was sie leistet, nicht. gemeinsame Feststellung sowohl der großen Opposi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tionsfraktion SPD wie der Mehrheit des Hauses, d. h. der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. Gleichzeitig ist die Bundeswehr dabei, sich auf neu (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das hinzugewachsene Aufgaben Deutschlands in einer läßt hoffen!) veränderten Welt einzustellen, Aufgaben, die nicht nur militärisch fordern, sondern die zuerst einmal Unverkennbar hat der Verteidigungsetat in den politisch fordern. letzten Jahren in erheblicher Weise zur Konsolidie- rung des Bundeshaushaltes beigetragen. Der Kollege Wenn ich die Debatte heute mittag richtig verfolgt Volker Rühe, der Bundesverteidigungsminister, habe, dann hat der Ministerpräsident des L andes nannte vorhin die Zahlen aus den 80er Jahren und Rheinland-Pfalz, der SPD-Bundesvorsitzende Schar- verglich sie mit den heutigen Ansätzen. Er kam dabei ping, hier folgendes ausgeführt. Er hat gesagt, auch auf eine Einsparung von 7 Milliarden DM mittler- seiner Meinung nach sei Deutschland Mitglied der weile. Dazu muß gesagt werden, daß in den letzten Vereinten Nationen mit allen Rechten und Pflichten Jahren der Verteidigungsetat zusätzlich die Folgeko- — Mitglied der Vereinten Nationen mit allen Rechten sten der Lohn- und Gehaltsrunden aus eigener Kraft und Pflichten! zu erbringen hatte und darüber hinaus der Verteidi- Ich bin davon überzeugt, daß der Beschluß des gungsetat im laufenden Haushaltsjahr noch immer SPD-Parteitages zu allen Pflichten Deutschlands im mit ressortfremden Aufgaben in der Größenordnung Zusammenhang mit den militärischen Verpflichtun- von etwa 3 Milliarden DM belastet ist. Das wird in den gen innerhalb der Vereinten Nationen nicht ausreicht, kommenden Jahren ebenfalls so sein. um dies wahrzunehmen. Der Anteil des Verteidigungsetats am Bundeshaus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) halt lag 1963 bei einer Größenordnung von 33 % und im Jahre 1983 bei einer Größenordnung von über Ich weiß, daß die Kollegen innerhalb der SPD, die sich 19 %. Er liegt heute, gemessen am Gesamtetat, gerade mit diesem Bereich besonders beschäftigen, ebenfalls noch bei einer Größenordnung von 10,9 %. Das heißt, meiner Überzeugung sind. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16637

Paul Breuer Nach wie vor versucht die SPD in diesem Bereich, Und was Somalia angeht, Herr Kollege Klejdzinski, mit Formulierungsverkleisterungen darüber hinweg- so möchte ich Ihnen sagen: Die Bundeswehr — das ist zutäuschen, daß sie nicht dazu bereit ist, daß Deutsch- auch von Mitgliedern Ihrer Fraktion festgestellt wor- land alle Rechte und Pflichten in der UNO auch im den — hat in Somalia hervorragende Arbeit geleistet. militärischen Bereich wahrnimmt. Das politische Ziel der Vereinten Nationen in Somalia Der Verteidigungshaushalt für das Jahr 1994 befin- ist nicht erreicht. Das können wir gemeinsam feststel- det sich mit dem Plafond von 48,6 Milliarden DM — ich len. führte es eben im Zusammenhang mit den Relationen Ich stelle allerdings fest, daß dies nicht auf Grund aus — auf einem historischen Tiefpunkt. Er rechtfer- des deutschen Beitrags in Somalia so ist, sondern tigt sich in dieser geringen Höhe allein in der Verbin- dabei andere Gründe eine Rolle gespielt haben. Und dung mit dem Beschluß der Bundesregierung, den wenn Sie ständig versuchen, Ihre schlechte Politik Verteidigungshaushalt durch einen festgelegten Aus- gegenüber den Vereinten Nationen dahinter zu ver- gaberahmen für die kommenden Jahre zu versteti- stecken, daß die politischen Ziele in Somalia seitens gen. der Vereinten Nationen nicht erreicht werden kön- nen, dann reicht das für die deutsche Sozialdemokra- Vizepräsident Helmut Becker: Herr Kollege Breuer, tie nicht aus. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klejd- zinski? (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, der loyale Einsatz der Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Kollege, wenn Sie Bundeswehrangehörigen im Zusammenhang mit der mir zugestehen, daß ich diesen Gedanken zu Ende Aufgabenstellung und der veränderten Aufgabenstel- führe, dann will ich Ihnen gerne die Zwischenfrage lung, aber auch den vielen Veränderungen in erlauben. — Rationalisierungserfolge innerhalb des Deutschland ist beispielhaft für den gesamten öffent- Verteidigungsbereichs können damit für Umschich- lichen Dienst. Und wenn ich das hier einmal in dieser tungen in den investiven Bereich genutzt werden. Art und Weise sage, dann möchte ich erklären: Wir Wenn man sich den Etat, wie er heute zur Verab- müssen nicht nur den Bundeswehrangehörigen — ob schiedung steht, genau anschaut, wird man feststel- Soldaten oder zivilen Mitarbeitern — für ihren Dienst len, daß dies innerhalb des Ansatzes 1994 in der danken, sondern wir müssen ihnen für ihren loyalen Größenordnung von 300 Millionen DM bereits Dienst danken. Denn das, was dort getan wird, ist geschehen ist. Dies ermöglicht spürbare Strukturver- wirklich beispielhaft und erfolgt zum Teil unter aller- besserungen nach innen und den Erhalt sicherheits- schwierigsten Bedingungen. politisch notwendiger wehrtechnischer Fähigkeiten. (Beifall bei der CDU/CSU) In einer Phase des personellen und konzeptionellen Umbaus der Bundeswehr wird damit die Vorausset- Die Angehörigen der Bundeswehr zeigen, was es zung für eine zukunftsorientierte Bundeswehrkon- heißt, treu zu dienen. Die Einforderung dieses treuen zeption ermöglicht. Sie schafft Planungssicherheit für Dienens ist aber keine Einbahnstraße. Neben unse- einen überschaubaren Zeitraum und Freiräume für rem Dank verdienen sie unsere Solidarität in Wort und die dynamische Weiterentwicklung der konkreten Tat. Planungen. Ich darf mich noch einmal auf das beziehen, was der Nun, Herr Kollege Klejdzinski, bitte Ihre Zwischen- Bundesverteidigungsminister eben im Hinblick auf frage. die vom Haushaltsausschuß verhängte globale Min- derausgabe sagte. Die Bundeswehrangehörigen ver- Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD): Herr Kollege dienen die Solidarität auch der Bundesregierung Breuer, stimmen Sie mir zu, daß mein Ministerpräsi- dahin gehend, daß die Bundeswehrplanung im Hin- dent aus Rheinland-Pfalz, den Sie zitiert haben, nicht blick auf die vielen Veränderungen, die ich hier nur inhaltlich etwas zu Somalia gesagt hat, sondern angesprochen habe, in der Zukunft nicht unmöglich gleichzeitig auch erklärt hat, daß die 500 Millionen wird. Es ist auch die Pflicht des deutschen Parlaments, DM, die der humanitäre Einsatz in Somalia kostet, dies klar zu sagen. durch andere Organisationen erheblich billiger hätte erbracht werden können? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Pla- Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Kollege Klejdzinski, nungssicherheit wird in der Zukunft im Hinblick auf ich habe zunächst einmal davon gesprochen, daß der die vielen Veränderungen für die Bundeswehr nur Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz und dann erreichbar sein, wenn Planungsdynamik nicht SPD-Bundesvorsitzende heute mittag hier erklärt hat, im Widerspruch zu ihr steht. Wenn ich eben davon seiner Meinung nach bedeute die Mitgliedschaft sprach, daß es notwendig ist, innerhalb der Bundes- Deutschlands in der UNO eine Mitgliedschaft mit wehr zu rationalisieren, daß es notwendig ist, den allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten. Und investiven Anteil im Verteidigungshaushalt zu erhö- meine Feststellung ist dann, wenn es urn alle Pflichten hen, dann deshalb, weil damit die Frage verbunden geht, so gilt das auch für den militärischen Bereich, ist, wie moderne Streitkräfte in den nächsten Jahr- und dann kann die SPD nicht — wie sie das in den zehnten überhaupt bestehen können. Moderne S treit- letzten Monaten und Jahren getan hat und es auch auf kräfte werden nicht bestehen können, wenn wir bei diesem Parteitag fortgesetzt tut — ein Versteckspiel in einem Investitionsanteil in der Größenordnung von der deutschen Sicherheitspolitik be treiben. 20 % stehenbleiben. Moderne Streitkräfte können nur (Beifall bei der CDU/CSU) dann bestehen, wenn wir den Investitionsanteil in 16638 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Paul Breuer diesem Haushalt erhöhen. Die Zielmarke muß 30 % Kollege Jungmann, daß diese Vorschläge in der sein. Debatte des Verteidigungsausschusses sinngebend Das Ganze steht sicher auch im Zusammenhang mit eine große Rolle gespielt hätten. Wenn Sie sich dann der Fragestellung eines Fortbestehens der wehrtech- heute in die Beschützerrolle für die Bundeswehr nischen Industrie in Deutschland. Für den Fortbe- hineingeredet haben, dann ist das sehr vordergründig stand der wehrtechnischen Indus trie in Deutschland und im Prinzip, meine ich, gar nicht glaubwürdig. sprechen nicht nur industriepolitische Argumente; Denn Sie haben es in der Vergangenheit nicht verhin- dafür sprechen auch sicherheitspolitische Argu- dert, daß auf Ihren Bänken, insbesondere von der mente. Kollegin Matthäus-Maier, ständig von tiefgreifenden Einschnitten im Verteidigungsetat geredet worden ist, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ohne daß man die Situation innerhalb der Bundes- Das technische Know-how unseres Landes, einge- wehr berücksichtigt hätte. bunden in die europäische Integration, muß erhalten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) werden. Die Auseinandersetzung um das europäische In einer schwierigen Zeit der deutschen Finanzpoli- Jagdflugzeug, Herr Kollege Kolbow, muß auch vor diesem Hintergrund gesehen werden. Ich bin fest tik ist der Bundesminister der Verteidigung dabei, die davon überzeugt, daß die Planung oder die Entwick- Bundeswehr in die Zukunft zu führen — eine wahrlich nicht leichte Aufgabe. Er hat dabei die volle Unter- lung des europäischen Jagdflugzeuges ein wesentli- cher Meilenstein für die Erhaltung von technischem stützung der CDU/CSU-Fraktion. Wir danken ihm für Know-how für die europäische Luft- und Raumfahrt- seine schwierige Arbeit. industrie ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn ich die obskuren Vorschläge, die aus Ihrer Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Fraktion zu dieser Fragestellung kommen, beispiels- ten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen weise die MiG zu erwerben, genau werte, dann muß liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. ich sagen: Es geht nicht um die Erhaltung des techni- Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst schen Know-how in Rußland oder sonst irgendwo in über den Einzelplan 04 — Bundeskanzler und Bun- der ehemaligen Sowjetunion, sondern um die Erhal- deskanzleramt - in der Ausschußfassung. Die Frak- tung des technischen Know-how in Deutschl and und tion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich in Europa. - eröffne die Abstimmung. — (Beifall bei Abgeordneten der CSU/CSU) Meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich Es geht darum, den zukünftigen Aufgaben der Bun- fragen, ob alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimme deswehr in der europäischen Integration und im abgegeben haben. — Nordatlantikpakt gerecht zu werden. Ich möchte, daß Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß deutsche Soldaten mit einer überlegenen Bewaffnung alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben in zukünftige, leider nicht verhinderbare Einsätze haben, und schließe die Abstimmung. Ich bitte die hineingehen können. Es wäre unverantwortlich, deut- Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das sche Soldaten in einer unterlegenen technischen Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt- Position in derartige Konflikte hineingehen zu las- gegeben. * ) sen. Im Interesse des Fortgangs der Beratungen bitte ich (Beifall bei der CDU/CSU) Sie, Platz zu nehmen. Wir kommen zu einer Reihe von Dies hat ohne Zweifel seinen Preis. Ich weiß: Wenn Abstimmungen. ich von der Überlegenheit technischer Systeme hier Meine Damen und Herren, wir stimmen zuerst über vor zwei Jahren gesprochen hätte, wäre ich geprügelt den Einzelplan 05, Auswärtiges Amt, in der Ausschuß- worden, wahrscheinlich sogar noch vor einem Jahr. Es fassung ab. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe? — ist nicht verantwortbar, Kosten für den Menschen und Stimmenthaltungen? — Mit den Stimmen der Koali- Kosten für das Material gegeneinander auszuspie- tionsfraktionen ist der Einzelplan 05 angenommen. len. Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 14, Bundes- Lassen Sie mich mit einem Gedanken schließen, minister der Verteidigung, ab. Dazu liegt ein Ände- Herr Kollege Jungmann. Der Kollege Hans-Gerd rungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache Strube hat es eben schon gesagt. Was hätten Sie 12/6204 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer eigentlich heute gesagt, wenn die globale Ausgaben stimmt für den Änderungsantrag der SPD? — Gegen- sperre von 5 Milliarden vom Haushaltsausschuß nicht probe? — Stimmenthaltungen? — Mit den Stimmen verhängt worden wäre? Sie sind in der heutigen der Koalitionsfraktionen ist dieser Änderungsantrag Debatte und für den Beschluß, der hier zu fassen ist, bei zwei Enthaltungen abgelehnt. mit dem Vorschlag angetreten, den Etat nochmals um Wer stimmt für den Einzelplan 14 in der Ausschuß- 780 Millionen DM zurückzufahren. Wenn ich mir fassung? — Gegenprobe? — Stimmenthaltungen? — anschaue, auf welchen Positionen Sie das tun, Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ist der (Ina Albowitz [F.D.P.]: Der kann sich nur Einzelplan 14 angenommen. wundern!) Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 35, Verteidi- dann stelle ich nicht fest, daß Sie den besonderen gungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt Gegebenheiten innerhalb der Bundeswehr Rechnung tragen. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, *) Ergebnis Seite 10644 D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16639

Vizepräsident Helmuth Becker ausländischer Streitkräfte, in der Ausschußfassung In unserem eigenen Interesse als Exportnation und ab. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe? — Stimment- ganz besonders im Interesse der Entwicklungsländer haltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- müssen wir also auf einen Erfolg bei der GATT-Runde nen ist der Einzelplan 35 angenommen. setzen und hoffen, daß die protektionistischen Inter- Meine Damen und Herren, das Ergebnis der essen einzelner Industriestaaten nicht zum Tragen namentlichen Abstimmung über den Einzelplan 04 kommen. liegt noch nicht vor. Es wird noch einen Augenblick (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ dauern. Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind, CSU und der F.D.P.) daß wir schon den Einzelplan 23 aufrufen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann rufe ich auf: Im Zuge unseres Vereinigungsprozesses haben wir erkennen müssen, eines wie hohen finanziellen Auf- Einzelplan 23 wandes es bedarf, um die Lebensbedingungen der Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- Bevölkerung in den neuen Ländern schrittweise auf menarbeit und Entwicklung das Niveau der alten Bundesländer — obwohl es auch — Drucksachen 12/6021, 12/6030 — da regionale Unterschiede gibt — heranzuführen. Wenn wir für diesen Bereich mittelfristig einen jährli- Berichterstattung: chen Bedarf von mehr als 150 Milliarden DM feststel- Abgeordnete Helmut Esters len, dann kann jeder leicht ermessen, eine welch zu Dr. Christian Neuling vernachlässigende Größe der Beitrag der Bundesre- Werner Zywietz publik Deutschland mit rund 8,3 Milliarden DM für Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die alle Länder des Südens ist. Die große Mehrheit der Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und Bevölkerung auf unserer Erdkugel lebt nun einmal in sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so der südlichen Hemisphäre. beschlossen. Wenn wir nun bei der Beratung des Einzelplans 23 Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem berücksichtigen müssen, daß uns selbst, dem Bundes- unserem Kollegen Helmut Esters das Wort. ministerium und damit auch dem Parlament, ein nur (Unruhe) geringer Gestaltungsspielraum offensteht, dann auch deshalb, weil rund 35 % des Etatvolumens Ansätze Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, die notwen- sind, die durchlaufende Posten im Einzelplan 23 ohne dige Ruhe herzustellen, damit wir ordnungsgemäß Projektsteuerung durch das Ministerium darstellen. fortfahren können. Dies sind die Beiträge, die entweder durch Gesetz Kollege Esters, bitte. oder durch internationale Verabredungen, im Bereich der internationalen Banken, des Internationalen Wäh- rungsfonds — dieser wird vom BMF gesteuert —, der Helmut Esters (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Europäischen Gemeinschaft — dieser wird vom Bun- und Herren! Wenn wir jetzt zur Beratung des Etats des desminister für Wirtschaft ausgehandelt —, festge- Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit setzt sind. Damit begrenzt sich schon das Volumen, und Entwicklung kommen, muß uns dabei bewußt das für Ausgaben im bilateralen Bereich zur Verfü- sein, daß die öffentlichen Leistungen der Geberländer gung steht, ganz erheblich. gegenüber positiven Signalen aus dem Bereich der Von daher halte ich es für richtig, daß die Koalitions- GATT-Verhandlungen für die Lander der Dritten Welt fraktionen im Haushaltsausschuß deutlich gemacht nur eine periphere Bedeutung haben. Wenn die haben, daß sie den bilateralen Teil der Beiträge Länder der Dritten Welt mit ihren Produkten offenen — auch aus nationalen Eigeninteressen heraus — auf Zugang zu den Märkten der Industriestaaten bekä- einem bestimmten Niveau halten wollen und, bevor men, dann würde dies eine dauerhafte Verbesserung die Bundesregierung oder einzelne Bundesminister der Lebensbedingungen vieler Menschen in diesen im internationalen Bereich Zusagen geben, zunächst Ländern bedeuten. den Haushaltsausschuß über ihre Absichten unter- Ich wundere mich von daher schon seit einiger Zeit richten. über die allzu geringe Lautstärke der Proteste aus den (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Ländern des Südens gegen die lange Verhandlungs- F.D.P.) dauer der Uruguay-Runde und der nicht absehbaren Folgen eines Scheiterns dieser Veranstaltung. Denn in diesem Bereich ist es auch ein wichtiger Punkt, daß — folgt man den vielen Berichten, die m an (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: hin und wieder bekommt — die internationalen Orga- Resignation!) nisationen, einschließlich der europäischen, an die Wir wissen natürlich auch, daß der Marktzugang für Effektivität des bilateralen Bereiches bei uns bei Produkte aus den Ländern der Dritten Welt zwangs- weitem nicht herankommen. läufig auch zu Strukturveränderungen in den Indu- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Da gibt es striestaaten selbst führen wird. Wer aber für einen keine Kontrolle!) freien Welthandel eintritt, der muß den Strukturwan- del bei uns zugunsten der Dritten Welt bejahen; denn — Ja, sicherlich. — Dann ist es wichtig, daß wir für den auch das versteht man unter internationaler Arbeits- bilateralen Bereich entsprechende Möglichkeiten teilung in unserer einen Welt. offenhalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ F.D.P.) CSU und der F.D.P.) 16640 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Helmut Esters Die Bundesregierung hat im Laufe der letzten Jahre Ländern in bestimmten Sektoren schafft, damit sie wiederholt dargelegt, daß die Mittel für den Bereich dann auch entsprechende Investitionen tätigen, wenn der wirtschaftlichen Kooperation steigen werden, von den Rahmenbedingungen die Sicherheit gegeben auch nach dem Vereinigungsprozeß, wo anerkannter- ist, daß man in bestimmten Branchenbereichen maßen die Finanzlage für den Bund insgesamt bleibt. schwieriger geworden ist. Das ist allerdings an der Ich will hier auch sagen: Ich bin den Kolleginnen Regierungsvorlage nicht erkennbar. Nach den Bera- tungen im Haushaltsausschuß sind nochmals rund und Kollegen aus dem Ausschuß für wirtschaft liche Zusammenarbeit außerordentlich dankbar, die sich 26 Millionen DM heruntergenommen worden, so daß schon frühzeitig um die Wiederaufnahme der wirt- eine Erhöhung des Entwicklungsetats in diesem Jahr schaftlichen leider nicht möglich war. Das ist zu bedauern, zumal Kooperation mit Vietnam bemüht haben. Das ist jetzt endlich in Gang gekommen. wir damit von dem Ziel eines bestimmten Prozentsat- zes am Bruttosozialprodukt immer weiter wegkom- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ men. CSU und der F.D.P.) Dazu kommt noch ein anderes: Wenn der Entwick- Wenn wir in einem Land wie Vietnam — ich will im lungsetat auch noch von der 5-Milliarden-DM-Sperre, Moment dabei verweilen, weil ich dies in der augen- von der hier schon verschiedentlich die Rede war, in blicklichen Situation für wichtig halte — ungeheuer erheblichem Umfang betroffen wird — das wird ein viele Menschen haben, die in der früheren DDR Betrag von etwa 100 Millionen DM sein —, dann wird ausgebildet worden sind, dann ist es eine wichtige das bei den entsprechenden Titelgruppen zu folgen- Funktion, daß wir diesen Goodwill auch für die den Konsequenzen führen müssen. Wir unterhalten gesamte Bundesrepublik Deutschland erhalten. dann in wichtigen Bereichen unter Umständen den ganzen Personalapparat für den wesentlichen Bereich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Aus- und Fortbildung, haben aber keine operati- der F.D.P.) ven Mittel mehr, mit denen wir die entsprechenden Viele von ihnen sind an der damaligen Technischen Maßnahmen einleiten könnten. Hochschule für Verkehrswesen in Dresden ausgebil- det worden. (Beifall bei der SPD) Das wäre natürlich fatal. Es könnte z. B. sein, daß (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wir im Bereich der Journalistenausbildung zwar das Die hatten das mit der Teilung gar nicht Personal bei Deutscher Welle und Deutschlandfunk gewußt!) verfügbar hätten, aber mangels Masse niemanden Sie befinden sich jetzt in wichtigen Funktionen im mehr dorthin bringen könnten, der ausgebildet wird, ganzen Bereich des Eisenbahnwesens. oder wenn die Deutsche Stiftung für internationale Ich könnte mir vorstellen, daß man einmal hier im Entwicklung das Personal in Berlin speziell für den Parlament darüber nachdenkt, ob es nicht sinnvoll ist, Bereich der Schulung der Mitarbeiter für öffentliche daß man das, Herr Kollege Pinger, was wir im Bereich Verwaltungen vorhält, aber niemanden mehr einla- der Lokomotiven begonnen haben, fortsetzt und sagt, den kann, weil die operativen Mittel nicht da sind. Das kann so nicht gehen. über einen längeren Zeitraum von beispielsweise zehn Jahren werden wir uns in der Hauptsache auf (Beifall des Abg. Jochen Feilcke [CDU/ diesem Gebiet mit den Vietnamesen verständigen, CSU]) damit dies für uns im entwicklungspolitischen Bereich Ich wäre dem Finanzminister außerordentlich dank- eine Schwerpunktaktivität wird. Dann wird man auch bar, wenn er bei der Erstellung der entsprechenden die entsprechenden Zuliefererbetriebe aus der mittel- Liste auf diesen Teil besonderes Augenmerk legen ständischen Wirtschaft zu Investitionen in Vietnam und berücksichtigen würde, daß diese Bereiche auch bekommen, weil sie dann eine mittelfristige Sicher- in die Kategorie der zukunftsorientierten Politik der heit haben, daß es ihnen etwas bringt. Damit verbun- Bundesrepublik Deutschland fallen. Der Bundeskanz- den ist der ganze Teil, der mit der Aus- und Fortbil- ler selbst hat heute morgen nochmals eindrucksvoll dung zusammenhängt. dargelegt, daß speziell die berufliche Aus - und Fort- Ich könnte mir vorstellen, daß man sich auf so etwas bildung für ihn hohe Priorität hat. Dann kann ich mir — auch aus Gründen unseres nationalen Eigeninter- nicht vorstellen, daß die Administration des Finanzmi- esses; das darf man ruhig sagen — verständigen kann. nisteriums hingeht, lieber Herr Finanzminister, und Ich sehe allerdings kommen — dies ist eine Befürch- für die Durchführung keine operativen Mittel verfüg- tung, die ich habe —, daß die Institutionen, in denen bar hält. Das hat sicherlich auch die Koalition mit den andere überwiegend das Sagen haben — ich meine Sparbeschlüssen nicht gewollt. die Weltbank und die Asiatische Entwicklungs- ban (Beifall des Abg. Hans Georg Wagner k —, den Vietnamesen als erstes vorschlagen, sie [SPD]) sollten einen großen Highway von Saigon nach Hanoi bauen, damit Japan dann die Autos entsprechend Der Haushaltsausschuß ist weiterhin auf Vorschlag verkaufen kann und die Autos die jetzt vorhandenen der Koalition — auch dafür bin ich dankbar — davon Mopeds in dem Land ablösen. ausgegangen, daß es in Zukunft zu einer Konzentra- tion kommt. Ich verstehe darunter auch, daß man (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: mittel- oder längerfristige Schwerpunkte in ausge- Lieber im Intercity!) wählten Sektoren bildet, weil man dann vor allem der Nur, das werden dann auch wiederum die ersten sein, mittelständischen Wirtschaft Rahmenbedingungen in die dieses Land auf die Anklagebank des Pariser Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16641

Helmut Esters Clubs bringen, wenn dann eine entsprechende Schul- Da dies alle Fraktionen des Bundestages bewußt dentilgung ansteht, wo Inlandsdinge in dieser Form betreiben, müssen die Mittel hierfür zusätzlich kom- nicht devisenbringend ausgegeben werden. men, weil dieser Einzelplan das vom Volumen her nicht hergibt Da müssen wir, Herr Minister, aufpassen, daß wir dabei nicht in diese Richtung mitgehen. Wir wissen (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das ist doch aus der eigenen Erfahrung — ich bleibe bewußt richtig!) bei dem Thema —, wie schwierig es ist, wenn man und alles, was als Baransatz vorhanden ist, bereits dem Individualverkehr lange Jahre Vorfahrt gegeben gebunden ist. hat, auf den Schienenverkehr zurückzukommen. Hinzu kommt: Wenn es im Laufe des nächsten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahres zu von uns allen zu Recht verlangten Sofort- der F.D.P.) maßnahmen für Struktur- und Wiederaufbauhilfen in Konfliktregionen, vor allein in Ländern im Nahen Dies sehen wir bei der Bahnreform, die wir jetzt Osten, in Nordostafrika und im südlichen Af rika, haben. Daher halte ich es für wichtig, daß wir in diese kommt, dann sind hierfür in diesem Einzelplan keine Richtung gehen. Reserven vorhanden. Wenn die Bundesregierung Wichtig ist hierbei auch das Rückkehrerprogramm, oder der Bundestag etwas derartiges beschließen, durch das viele, die früher in der DDR im beruflichen müssen diese Mittel aus anderen Einzelplänen oder Bereich ausgebildet wurden, jetzt mit unserer Hilfe zu aus dem Gesamthaushalt — sprich: aus dem Einzel- entsprechenden klein- und mittelständischen Unter- plan 60 — aufgebracht werden. Denn diese Maßnah- nehmen wachsen. Dieses Programm ist in Vietnam, in men werden von uns allen gewollt. Wir halten sie für Eritrea und anderswo eines der erfolgreichsten, das ungeheuer wichtig. Dann muß das entsprechend wir überhaupt in Gang gesetzt haben. Deswegen muß anders finanziert werden. dies intensiv fortgesetzt werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir müssen allerdings auch sehen, daß die Entwick- lungsländer selbst die entsprechenden Rahmenbe- dingungen für privatwirtschaftliche Investitionen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- und, damit verbunden, den Ausbildungsbereich im ten Damen und Herren, der nächste Redner ist unser dualen System schaffen müssen. Wir können dies nur Kollege Dr. Christian Neuling. unterstützen. Dazu gehört, daß es Rechtssicherheit geben muß, Dr. Christian Neuling (CDU/CSU): Herr Präsident! daß man funktionierende öffentliche Verwaltungen Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! und ähnliches mehr braucht. Lieber Helmut Esters, ich möchte kurz ein Stichwort von dir aufnehmen, nämlich das der GATT-Verhand- Diese Aufgaben können wir lösen, wenn wir für lungen. Mit Sicherheit steht der Erfolg der GA TT diese Bereiche auch die entsprechenden operativen - Verhandlungen gleichzeitig für die Glaubwürdigkeit Mittel verfügbar haben. Es darf in diesem Bereich all dessen, was wir als westliche Industrieländer den auch ruhig Aufträge von anderen Ministerien im Entwicklungsländern predigen, nämlich Marktwirt- Bereich der früheren GUS-Staaten geben. Da die schaft, freier Handel und internationaler Wettbewerb. ob dies die Kredit- Durchführungsorganisationen — Wenn die GATT-Verhandlungen nicht zum Erfolg anstalt, die GTZ, die Deutsche Stiftung oder die kommen, ist gleichzeitig unsere Glaubwürdigkeit Carl-Duisberg-Gesellschaft ist — in anderen Berei- auch in der Entwicklugspolitik nicht nur gefährdet, chen über hervorragende Auslandserfahrungen ver- sondern im Prinzip gescheitert. Insoweit, glaube ich, fügen, brauche ich bei uns nicht zusätzliche Organi- ist es hier im Haus einvernehmlich, daß wir alle sationen zu etablieren. Dann darf auch ruhig eines der nachhaltig für einen Erfolg der GATT-Verhandlun- acht Ministerien, die jetzt noch dafür zuständig sind, gen eintreten. diese Institutionen beauftragen, auch wenn sie beim BMZ angesiedelt sind. Dann würde auch mit Sicher- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. heit erreicht, daß das große Durcheinander, das wir in sowie bei Abgeordneten der SPD) dem ganzen Bereich der Beratungshilfe haben und Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir bera- das im Haushaltsausschuß mehrfach diskutiert wurde, ten und verabschieden ja heute vermutlich zum letz- künftig vermieden wird. ten Mal in dieser Legislaturperiode den Einzelplan des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusam- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) menarbeit und Entwicklung. Bei der Enge dieses Etats und den im Zuge der (Rudolf Bindig [SPD]: Dieser Regierung!) globalen Minderausgabe von fünf Milliarden DM noch anstehenden Kürzungen müssen wir aber auch — Nicht so voreilig, lieber Kollege. So manch einer hat sehen, daß die Bemühungen, Wanderungsbewegun- zu früh „Hurra" geschrien und ist dann auf die Schnauze gefallen, wie wir in Berlin sagen; es ist etwas gen durch aktive Entwicklungspolitik einzudämmen und den Menschen Chancen zu geben, in ihrer burschikos, ich gebe das zu. Heimat ein menschenwürdiges Leben zu führen, aus Ich möchte meine Rede so anlegen, daß ich sage, diesem Einzelplan nicht mehr finanziert werden kön- daß wir in den letzten drei Jahren im großen und nen. ganzen eigentlich einvernehmlich über den Einzel- (Beifall bei der SPD) plan 23 gesprochen und wichtige Weichenstellungen 16642 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Christian Neuling vorgenommen haben und ich eigentlich gerade am Ich komme zweitens zu der Frage auch des multi- Schluß dieser Legislaturperiode bei der letzten Bera- lateralen Anteils der Entwicklungshilfe. Der Kollege tung ein bißchen Bilanz ziehen und Ausblick über die Esters hat schon die Entwicklung aufgezeigt, und ich zweite Hälfte der neunziger Jahre geben möchte. Das kann mich deswegen auf die Beschlußempfehlung hat sicherlich damit zu tun — der eine oder andere beschränken, die wir als Koalitionsfraktionen einge- weiß das —, daß ich zum letzten Mal zu diesem Etat bracht haben, und durch die wir die Bundesregierung Stellung nehmen werde. auffordern, den Anteil der multilateralen Zusammen- Ich möchte als ersten Punkt den Umfang der Ent- arbeit im Einzelplan 23 innerhalb der nächsten Jahre wicklungshilfe ansprechen, wie er sich anhand der wieder auf höchstens 30 % zurückzuführen. ODA-Quote, d. h. an der offiziellen Entwicklungs- (Helmut Esters [SPD]: Richtig!) hilfe, am Bruttoinlandsprodukt gemessen, darstellt. Dies würde in etwa ein Umschichtungsvolumen von Hier klaffen, meine sehr verehrten Kolleginnen und 1,5 Milliarden DM an der obersten Kante bedeuten. Es Kollegen, Anspruch und Wirklichkeit auseinander. kann aber gar kein Zweifel sein, daß gerade im Das ist so, und das muß man zugestehen, ganz egal, ob man in der Opposition oder in der Regierung ist. Interesse einer mittelfristigen Planungssicherheit bei den privaten Trägern und einer wirksamen Umset- Wir setzen das Ziel von 0,7 % des Bruttoinlandspro- zung eigener entwicklungspolitischer Ziele diesem duktes. Würde man das auf den Etat 1994 umlegen, Trend in die Richtung endgültig entgegengewirkt müßte der Etat des Bundesministers für wirtschaftli- werden muß, wohin wir die bilaterale Entwicklungs- che Zusammenarbeit und Entwicklung bei 17,2 Milli- hilfe bekommen wollen. Wir müssen auch in dieser arden DM liegen. Wir sind weit davon entfernt. Der Hinsicht wieder zu klaren Eckpunkten kommen. Finanzplanungsrahmen sieht vor, daß die ODA-Quote nicht etwa steigt, sondern unter 0,3 % sinken wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: So ist Drittens. Auch hier haben wir seitens der Koalitions- es!) fraktion einen Vorstoß gemacht, wir haben nämlich Ich meine, daß es mit der Aufstellung des Etats 1995 die Beteiligung des Parlaments bei finanziellen Zusa- Zeit wäre, hier einen realistischen Ansatz zu finden. gen bzw. vertraglichen Verpflichtungen seitens der Ich möchte sagen, daß die Forderung der SPD in ihrem Bundesregierung schlichtweg neu geregelt. Ich kann Gesetzentwurf zur Entwicklungspolitik, dieses Ziel das wie folgt in einem Satz sagen: Vor jeder entspre- schrittweise bis zum Jahr 2000 zu realisieren, schlicht chenden finanziellen Zusage ist zukünftig die Einwil- unsinnig ist. Das wissen Sie ja auch. Denn er müßte ligung des Haushaltsausschusses einzuholen. dann im Jahre 2000 bei 23 Milliarden DM liegen. Das ist nicht zu erreichen. (Zuruf des Abg. Dr. Winfried Pinger [CDU/ CSU]) (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das hat — Selbstverständlich haben wir auch die Kollegen aus der Kanzler doch gesagt!) dem Fachausschuß logischerweise eingebunden. — Wir führen ja hier eine sachliche Auseinanderset- Herr Kollege Pinger, das ist doch selbstverständlich. zung, Herr Kollege, wie wir es im Haushaltsausschuß In diesem Zusammenhang, und das war der Aus- eigentlich tun. gangspunkt der Diskussion, spielte die Entwicklung (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Der des Europäischen Entwicklungsfonds eine besondere Kanzler hat das doch erzählt!) Rolle. Hier gab es durchschnittliche Steigerungsraten Ich bitte, zu bedenken, daß wir einmal überlegen von ca. 12 % in den letzten acht Jahren als Beitrag zum müßten, ob wir uns nicht mit dem Etat 1995 als EEF, das ist der europäische Entwicklungsfonds, wäh- Richtlinie vornehmen müßten, eine ODA-Quote von rend der Etat selbst nur um ca. 3 % in diesem Zeitraum 0,35 %, das ist der Durchschnitt der westlichen Geber- gestiegen ist. Dies ist schlichtweg eine Fehlentwick- länder, zu erreichen. Dies würde natürlich eine lung. gewisse Prioritätenveränderung innerhalb der einzel- Wir müssen uns politisch entscheiden, was wir nen Etats und innerhalb dieses Bundesetats zur Folge wollen. Legen wir, wie z. B. die Japaner, den Schwer- haben. Dies würde schlichtweg bedeuten, daß ca. punkt unverändert auf den bilateralen Bereich, dann 3 Milliarden DM in den Jahren 1995 bis 1997 auf müssen wir uns dazu aufschwingen, endlich auch diesen Etat zukommen würden. Das ist nicht die bestimmte Grenzen zu akzeptieren, auch dann, wenn Fraktionsmeinung. es schwierig wird, sie durchzuhalten. Das ist übrigens Meine persönliche Meinung ist, daß auf Grund der grundsätzlich auch eine Frage der politischen Glaub- gewachsenen Aufgaben, die wir international haben, würdigkeit. insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer interna- (Beifall der Abg. Jochen Feilcke [CDU/CSU] tionalen Vernetzung mit außenwirtschaftlichen Ge- und Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] sichtspunkten, gerade im Bereich der Entwicklungs- [F.D.P.]) politik eine derartige Neustrukturierung sinnvoll Viertens. Wir haben gefordert, daß im Interesse wäre. einer Steigerung der Effektivität schlichtweg die Mit- Ich sage noch einmal in die Richtung des Kollegen tel konzentriert werden müssen. Derzeit haben wir an aus dem AWZ der SPD: Dies ist der Versuch eines Entwicklungshilfe in über 100 Ländern fast 9 000 sachlichen Beitrages, sich mit dem Problem auseinan- Projekte in 18 Sektoren. Der Bewilligungsrahmen je derzusetzen, und es ist überhaupt nicht geeignet für Projekt bewegt sich dabei von 1 000 DM bis zu irgendwelche polemischen Äußerungen. dreistelligen Millionenzahlen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16643

Dr. Christian Neuling Wir müssen uns auch hier, wie üblich, entscheiden, rell werden genannt: Energie, Telekommunikation ob das nun im beruflichen Leben, in der Familie oder und Verkehr. Ich füge hinzu: Abfallwirtschaft ist auch in der Politik ist. Deutsche Entwicklungshilfe genauso wichtig. Bei der Akquisition derartiger Pro- muß sich wieder auf ihre eigenen Stärken besinnen jekte herrscht ein globaler, brutaler, harter Wettbe- und konzentrieren. Das ist in erster Linie — so habe ich werb, bei dem oftmals staatlich geförderte Finanzie- immer gesagt — die duale berufliche Ausbildung, die rungsinstrumente über die Auftragsvergabe mitent- Förderung von Existenzgründungen, die Schaffung scheidend sind. von mittelständischen Strukturen und die Durchfüh- Wir haben deshalb eine Erweiterung im Haushalts- rung von Infrastrukturvorhaben. gesetz vorgenommen, um im Rahmen einer soge- Wir müssen weg von der breitgestreuten Vielzahl an nannten Mischfinanzierung staatlich abgesicherte Projekten, wie ich immer sage: vom Angorakaninchen Darlehen mit günstigen Zinskonditionen zu ermögli- bis hin zum Zitrusanbau. Wir müssen die Mittel im chen. Der Gewährleistungsrahmen ist zunächst mit Interesse des Erfolgs dieser Projekte konzentrieren. 500 Millionen DM eingesetzt worden. Nach meiner Ich sage noch einmal: Letztendlich verwalten wir die persönlichen Meinung muß er in den kommenden Steuergelder auch des einzelnen Steuerzahlers. Der Jahren erheblich aufgestockt werden. hat ein Recht darauf, daß wir mit den Mitteln vernünf- tig umgehen. Mit dieser Maßnahme wollen wir entwicklungs- und außenwirtschaftspolitische Aspekte koppeln. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und unterstützen unsere exportorientierte Wirtschaft z. B. der F.D.P.) in einem so dynamischen Wachstumsmarkt wie Asien, Wir haben der Bundesregierung deswegen aufer- in dem mit ca. 3 Milliarden Menschen knapp 60 % der legt, die Anzahl der Partnerländer weiter zu reduzie- Weltbevölkerung leben. Meine lieben Kolleginnen ren und die Anzahl der Projekte um 30 bis 40 % und Kollegen, wir sichern mit einer derartigen Maß- abzubauen, gleichzeitig die Zusammenarbeit in den nahme zudem Arbeitsplätze bei uns in Deutschl and. großen Regionen auf ca. vier bis fünf Sektoren zurück- (Beifall des Abg. Jochen Feilcke [CDU/ zuführen und eine verbesserte Erfolgskontrolle bei CSU]) den Projekten durchzuführen. Deswegen finde ich es auch richtig, daß man einmal Im fünften Punkt spreche ich die konsequente weg von dem Schubladendenken und hin zu ressort- Abstimmung der bilateralen Zusammenarbeit mit übergreifenden Ansätzen in der Politik kommt. Dies den internationalen Organisationen an. Um eine Grö- wird in den nächsten Jahren noch öfters nötig sein. ßenordnung zu nennen: Die weltweit geleistete Ent- wicklungshilfe liegt derzeit bei über 100 Milliarden Siebentens. Auf die besondere Rolle der europäi- DM. Die multilateralen Organisationen, und hier schen Entwicklungspolitik ist schon eingegangen insbesondere die Weltbankgruppe und die Europäi- worden. Es stört hier schlichtweg die traditionelle sche Union, sind die größten Geberorganisationen. Ausrichtung gerade bestimmter Mitglieder der Euro- päischen Union auf ihre ehemaligen Kolonien, was Wir müssen unabhängig von der Größenordnung, bedeutet, daß bestimmte Entwicklungsländer zu kurz des Betrags, den wir selbst z. B. über den Einzel- kommen, z. B. in Asien und Lateinamerika. Hier plan 23 über 2 Milliarden DM in diese internationalen müssen wir in Zukunft auf eine wesentlich stärkere Organisationen zahlen, ganz offensichtlich bei der Ausgewogenheit achten. Das wird unsere Aufgabe Kreditvergabe und bei der Projektdurchführung sein. Reformen einleiten. An dieser Stelle möchte ich nur für die Insider an Wir haben deswegen auch im Haushaltsausschuß beschlossen, daß die Bundesregierung bis zum den Wapenhans - Bericht und an den Prüfungsbericht des Europäischen Rechnungshofs erinnern. Das, was 30. April einen Bericht vorzulegen hat, wie diese wir im bilateralen Bereich, im nationalen Bereich Abstimmung in Europa effektiver gestaltet werden feststellen, gilt für die internationalen Organisationen kann und wie insbesondere der deutsche Anteil an Lieferungen und Leistungen von derzeit ca. 11 % auf genauso. 20 % angehoben werden kann. Dies ist unverändert Effektivität ist da nicht immer angesagt, und wir eine hohe Diskrepanz, wie sie bei Italien, Großbritan- haben die Pflicht und Schuldigkeit, gerade im Bereich nien und Frankreich nicht auftritt. der internationalen Organisationen mehr Effektivität sicherzustellen und uns dafür einzusetzen. Ich finde, nur eine selbstbewußte Vertretung deut- scher Interessen innerhalb der Europäischen Union (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kann der wachsenden Skepsis gegenüber der für den der F.D.P.) einzelnen kaum noch durchschaubaren EG-Bürokra- Wir müssen zu ressortübergreifenden Ansätzen tie nützlich sein, um ihr wirksamer zu begegnen. auch in der Entwicklungspolitik kommen. Ich meine, (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin- liebe Kollegen Helmut Esters und Werner Zywietz, gen] [F.D.P.]) hier haben wir eine wichtige Weichenstellung bei der Haushaltsberatung erreicht. Das hat nichts mit einer übertriebenen nationalen Einstellung zu tun. Es ist bekannt, daß die Schwellenländer, aber auch die bevölkerungsreichen Länder wie China und Achtens. Wir haben eine besondere Verantwortung Indien, einen hohen Nachholbedarf an Infrastruktur- für die neuen unabhängigen Staaten und für die vorhaben haben. Bekannt sind die vier Felder. Gene- Staaten in Mittel- und Osteuropa. Hierüber, Helmut 16644 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Christian Neuling Esters, hast du schon kurz gesprochen. Dies ist einver- Last but not least muß unserer Entwicklungspolitik nehmlich unstrittig. in der zweiten Hälfte der 90er Jahre nach meiner persönlichen Meinung im Gesamtetat eine deutlich Ich möchte nur hinzufügen, weil diese Zahl oftmals höhere Priorität eingeräumt und die wesentlichen auch bei uns gar nicht mehr in Erinnerung ist: Seit finanziellen Eckwerte im Einzelplan neu festgelegt 1990 haben wir als Deutschland ca. 90 Milliarden DM werden. für die neuen unabhängigen Staaten an Hilfe bereit- gestellt. Wir sind weitaus der größte Geber. Ich würde Soweit die zehn Punkte. mir eigentlich wünschen, daß die Industrie langsam Lassen Sie mich zum Abschluß noch sagen: Ich aufwacht und im Einvernehmen mit der Politik auch bedanke mich recht herzlich auch bei den Berichter- entsprechende Konsequenzen in diesen Staaten sucht stattern Werner Zywietz und Helmut Esters — bei dir und sich nicht immer heimlich versteckt. Es ist ein persönlich, Werner, habe ich immer ausgesprochen Trauerspiel, wenn man erkennt, wie wenig diese die Kunst bewundert, wie du rhetorische Oppositions- Chancen begriffen werden. übungen verbunden hast mit deinen, wie wir alle (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wissen, sehr realitätsnahen Überlegungen; es ist schon eine Meisterleistung gewesen — und bei den Beratungshilfe darf nicht zu einem Förderungspro- Kollegen vom AWZ sowie auch bei den Kollegen gramm für deutsche Beratungsunternehmen degene- respektive Mitarbeitern des BMZ. Sehr geehrter Herr rieren, wie ich sage, sondern sie muß vielmehr die Bundesminister Spranger, stellvertretend habe ich Grundlagen für eine möglichst schnelle wirtschaftli- immer den hohen Einsatz respektiert. Ich habe auch che und politische Umgestaltung in diesen Ländern viel gelernt, habe zwar nicht immer die Meinung schaffen. vertreten, sondern habe mir durchaus die Freiheit (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — genommen, eigene Schlußfolgerungen zu ziehen. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Aber es war immer ein besonderes Vergnügen, mit Sehr wichtige Anmerkungen!) Ihren Mitarbeitern zu diskutieren. Neuntens. Ich trete unverändert für einen progressi- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: ven Kurs bei Umschuldungswünschen und für einen Deine Entscheidung wird bedauert!) restriktiven Kurs bei dem Erlaß von Schulden ein. Insoweit möchte ich sagen: Halten wir uns an eines: Angesichts unserer eigenen finanziellen Situation Mit Humor geht vieles leichter im Leben. In diesem haben wir keinen Grund, großzügig mit Schulden- Sinne: Tschüs und alles Gute! erlassen zu sein. Wir haben allen Grund, großzügig (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. bei Umschuldungswünschen zu sein, aber nicht bei sowie bei Abgeordneten der SPD) dem Erlaß. Dies ist auch meine Meinung zu diesem Thema. Zehntens. Es gilt, die neuen Gestaltungsräume in der Entwicklungspolitik nach Beendigung des Ost- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und West-Konflikts zu nutzen. Herren, bevor ich weiter das Wort erteile, will ich das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermit- Im Verlauf dieser Debatte ist schon des öfteren auf telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die weitreichenden Auswirkungen in vielen Feldern den Einzelplan 04, Geschäftsbereich des Bundeskanz- der Politik nach Beendigung des Ost-West-Konflikts lers und des Bundeskanzleramtes, auf den Drucksa- hingewiesen worden. Dies gilt in besonderem Maße chen 12/5500, 12/5870, 12/6004 und 12/6030 bekannt- auch für die Entwicklungspolitik. geben. Abgegebene Stimmen: 517. Mit Ja haben Eine Vielzahl von neuen Entwicklungsländern ist gestimmt: 320. Mit Nein haben gestimmt: 197. Stimm- hinzugekommen. Wir müssen unsere Mittel konse- enthaltungen: keine. quent konzentrieren und Prioritäten setzen. Abstim- Endgültiges Ergebnis Blank, Renate mungsprozesse auf nationaler wie auf internationaler Dr. Blens, Heribert Ebene sind mehr denn je erforderlich. Abgegebene Stimmen: 535; Bleser, Peter davon: Dr. Blüm, Norbert Das aus den 60er und 70er Jahren bekannte Aus- Börnsen (Bönstrup), Wolfgang spielen der beiden Blöcke Ost gegen West hat ausge- ja: 339 Dr. Bötsch, Wolfgang Bohl, Friedrich spielt. Wir müssen verstärkt Kooperationsmodelle auf nein: 196 internationaler Ebene entwickeln, um die in vielen Bohlsen, Wilfried Borchert, Jochen Ländern anstehenden gewaltigen Transformations- Brähmig, Klaus prozesse wirksamer unterstützen zu können. Ja Breuer, Paul Brudlewsky, Monika Weltweit ist ein gnadenloser Kampf um die neu CDU/CSU Brunnhuber, Georg entstandenen Märkte entbrannt — z. B. in China und Büttner (Schönebeck), in Indien, aber auch in Lateinamerika. Wir werden in Dr. Ackermann, Else Hartmut Adam, Ulrich Buwitt, Dankward diesem harten Wettbewerb nur bestehen können, Dr. Altherr, Walter Franz Carstens (Emstek), Manfred wenn Wirtschaft und Politik gemeinsam ihre Kräfte Augustinowitz, Jürgen Carstensen (Nordstrand), bündeln. Wir müssen auch Abschied nehmen vom Austermann, Dietrich Peter Harry Schubladendenken und nach neuen ressortübergrei- Bargfrede, Heinz-Günter Dehnel, Wolfgang fenden Ansätzen suchen — z. B. in der Vernetzung Dr. Bauer, Wolf Dempwolf, Gertrud Baumeister, Brigitte Deres, Karl von Entwicklungspolitik mit der Außen-, Wirtschafts- Belle, Meinrad Deß, Albert und Forschungspolitik. Bierling, Hans-Dirk Diemers, Renate Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16645

Vizepräsident Helmuth Becker Dörflinger, Werner Köhler (Hainspitz), Dr. Ramsauer, Peter Graf von Waldburg-Zeil, Alois Doss, Hansjürgen Hans-Ulrich Rau, Rolf Dr. Warnke, Jürgen Dr. Dregger, Alfred Dr. Köhler (Wolfsburg), Rauen, Peter Harald Dr. Warrikoff, Alexander Echternach, Jürgen Volkmar Rawe, Wilhelm Werner (Ulm), Herbert Ehlers, Wolfgang Dr. Kohl, Helmut Reddemann, Gerhard Wiechatzek, Gabriele Eichhorn, Maria Kolbe, Manfred Regenspurger, Otto Dr. Wieczorek (Auerbach), Engelmann, Wolfgang Kors, Eva-Maria Reichenbach, Klaus Bertram Eppelmann, Rainer Koschyk, Hartmut Reinhardt, Erika Dr. Wilms, Dorothee Erler (Waldbrunn), Wolfgang Kossendey, Thomas Repnik, Hans-Peter Wilz, Bernd Eylmann, Horst Krause (Dessau), Wolfgang Dr. Rieder, Norbert Wimmer (Neuss), Willy Eymer, Anke Krey, Franz Heinrich Dr. Riedl (München), Erich Dr. Wisniewski, Roswitha Falk, Ilse Kriedner, Arnulf Riegert, Klaus Wissmann, Matthias Dr. Faltlhauser, Kurt Dr.-Ing. Krüger, Paul Dr. Riesenhuber, Heinz Dr. Wittmann, Fritz Feilcke, Jochen Krziskewitz, Reiner Ringkamp, Werner Wittmann (Tännesberg), Dr. Fell, Karl H. Lamers, Karl Rode (Wietzen), Helmut Simon Fischer (Hamburg), Dirk Dr. Lammert, Norbert Rönsch (Wiesbaden), Wohlrabe, Jürgen Fischer (Unna), Leni Lamp, Helmut Hannelore Wonneberger, Michael Fockenberg, Winfried Lattmann, Herbert Romer, Franz Wülfing, Elke Francke (Hamburg), Klaus Dr. Laufs, Paul Dr. Rose, Klaus Würzbach, Peter Ku rt Frankenhauser, Herbe rt Laumann, Karl-Josef Rossmanith, Kurt J. Yzer, Cornelia Dr. Friedrich, Gerhard Lehne, Klaus-Heiner Roth (Gießen), Adolf Zeitlmann, Wolfgang Fritz, Erich G. Dr. Lehr, Ursula Rother, Heinz Zöller, Wolfgang Fuchtel, Hans-Joachim Dr. Lieberoth, Immo Dr. Ruck, Christian Ganz (St. Wendel), Johannes Limbach, Editha Rühe, Volker Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Link (Diepholz), Walter Dr. Rüttgers, Jürgen F.D.P. Geiger, Michaela Lintner, Eduard Sauer (Salzgitter), Helmut Geis, Norbert Dr. Lippold (Offenbach), Sauer (Stuttgart), Roland Albowitz, Ina Dr. Geißler, Heiner Klaus W. Schätzle, Ortrun Dr. Babel, Gisela Dr. von Geldern, Wolfgang Dr. Lischewski, Manfred Dr. Schäuble, Wolfgang Baum, Gerhart Rudolf Gibtner, Horst Löwisch, Sigrun Schell, Manfred Beckmann, Klaus Glos, Michael Lohmann (Lüdenscheid), Scheu, Gerhard Dr. Blunk (Lübeck), Michaela Göttsching, Martin Wolfgang Schmalz, Ulrich Bredehorn, Günther Götz, Peter Louven, Julius Schmidbauer, Bernd Cronenberg (Arnsberg), Dr. Götzer, Wolfgang Dr. Luther, Michael Schmidt (Fürth), Christian Dieter-Julius Gres, Joachim Maaß (Wilhelmshaven), Erich Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke), Eimer (Fürth), Norbert Grochtmann, Elisabeth Männle, Ursula Joachim Engelhard, Hans A. Gröbl, Wolfgang Magin, Theo Schmidt (Mülheim), Andreas van Essen, Jörg Grotz, Claus-Peter Dr. Mahlo, Dietrich Schmidt (Spiesen), Trudi Dr. Feldmann, Olaf Dr. Grünewald, Joachim Marienfeld, Claire Schmitz (Baesweiler), Friedrich, Horst Günther (Duisburg), Horst Marschewski, Erwin Hans Peter Gallus, Georg Frhr. von Hammerstein, Marten, Günter von Schmude, Michael Gries, Ekkehard Carl-Detlev Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Dr. Schockenhoff, Andreas Grünbeck, Josef Harries, Klaus Martin Graf von Schönburg - Grüner, Martin Haschke (Großhennersdorf), Meckelburg, Wolfgang Glauchau, Joachim Günther (Plauen), Joachim Gottfried Meinl, Rudolf Frhr. von Schorlemer, Dr. Guttmacher, Karlheinz Haschke (Jena), Udo Dr. Merkel, Angela Reinhard Hackel, Heinz-Dieter Hasselfeldt, Gerda Dr. Meseke, Hedda Dr. Schulte (Schwäbisch Hansen, Dirk Haungs, Rainer Dr. Meyer zu Bentrup, Gmünd), Dieter Dr. Haussmann, Helmut Hauser (Esslingen), Otto Reinhard Schulz (Leipzig), Gerhard Heinrich, Ulrich Hauser (Rednitzhembach), Michalk, Maria Schwalbe, Clemens Dr. Hirsch, Burkhard Hansgeorg Michels, Meinolf Dr. Schwörer, Hermann Dr. Hitschler, Walter Hedrich, Klaus-Jürgen Dr. Mildner, Klaus Seehofer, Horst Homburger, Birgit Heise, Manfred Dr. Möller, Franz Seesing, Heinrich Dr. Hoth, Sigrid Dr. Hellwig, Renate Molnar, Thomas Seibel, Wilfried Dr. Hoyer, Werner Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Müller (Kirchheim), Elmar Seiters, Rudolf Irmer, Ulrich Hinsken, Ernst Müller (Wadern), Sikora, Jürgen Kohn, Roland Hörster, Joachim Hans-Werner Skowron, Werner H. Koppelin, Jürgen Dr. Hoffacker, Paul Müller (Wesseling), Alfons Sothmann, Bärbel Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Hollerith, Josef Nelle, Engelbert Spilker, Karl-Heinz Lüder, Wolfgang Dr. Hornhues, Karl-Heinz Dr. Neuling, Christian Spranger, Carl-Dieter Lühr, Uwe Hornung, Siegfried Neumann (Bremen), Bernd Dr. Sprung, Rudolf Dr. Menzel, Bruno Hüppe, Hube rt Niedenthal, Erhard Steinbach-Hermann, Erika Mischnick, Wolfgang Jäger, Claus Nitsch, Johannes Dr. Stercken, Hans Nolting, Günther Friedrich Jaffke, Susanne Nolte, Claudia Dr. Frhr. von Stetten, Otto (Frankfurt), Dr. Jahn (Münster), Dr. Olderog, Rolf Wolfgang Hans-Joachim Friedrich-Adolf Oswald, Eduard Stockhausen, Karl Paintner, Johann Janovsky, Georg Otto (Erfurt), Norbert Dr. Stoltenberg, Gerhard Peters, Lisa Jeltsch, Karin Dr. Päselt, Gerhard Strube, Hans-Gerd Dr. Pohl, Eva Dr. Jobst, Dionys Dr. Paziorek, Peter Stübgen, Michael Richter (Bremerhaven), Dr.-Ing. Jork, Rainer Pesch, Hans-Wilhelm Dr. Süssmuth, Rita Manfred Dr. Jüttner, Egon Petzold, Ulrich Tillmann, Ferdi Rind, Hermann Dr. Kahl, Harald Pfeifer, Anton Dr. Töpfer, Klaus Schäfer (Mainz), Helmut Kalb, Bartholomäus Pfeiffer, Angelika Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Schmalz-Jacobsen, Cornelia Kampeter, Steffen Dr. Pfennig, Gero Uldall, Gunnar Schmidt (Dresden), Arno Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Dr. Pflüger, Friedbert Verhülsdonk, Roswitha Dr. Schinieder, Jürgen Karwatzki, Irmgard Dr. Pinger, Winfried Vogel (Ennepetal), Friedrich Dr. Schnittler, Christoph Kauder, Volker Dr. Pohler, Hermann Vogt (Düren), Wolfgang Schüßler, Gerhard Keller, Peter Dr. Probst, Albert Dr. Voigt (Northeim), Schuster, Hans Kittelmann, Peter Dr. Protzner, Bernd Hans-Peter Sehn, Marita Klein (Bremen), Günter Rahardt-Vahldieck, Susanne Dr. Waffenschmidt, Horst Seiler-Albring, Ursula Klinkert, Ulrich Raidel, Hans Dr. Waigel, Theodor Dr. Semper, Sigrid 16646 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Vizepräsident Helmuth Becker Dr. Solms, Hermann Otto Klappert, Marianne Tappe, Joachim PDS/Linke Liste Dr. Starnick, Jürgen Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Terborg, Margitta Thiele, Carl-Ludwig Klemmer, Siegrun Dr. Thalheim, Gerald Bläss, Petra Timm, Jürgen Klose, Hans-Ulrich Thierse, Wolfgang Dr. Enkelmann, Dagmar Türk, Jürgen Dr. Knaape, Hans-Hinrich Titze-Stecher, Uta Dr. Fischer, Ursula Walz, Ingrid Kolbe, Regina Toetemeyer, Hans-Günther Dr. Fuchs, Ruth Dr. Weng (Gerlingen), Kolbow, Walter Vergin, Siegfried Dr. Gysi, Gregor Wolfgang Koltzsch, Rolf Dr. Vogel, Hans-Jochen Henn, Bernd Wolfgramm (Göttingen), Kubatschka, Horst Voigt (Frankfurt), Karsten D. Dr. Höll, Barbara Torsten Kuessner, Hinrich Wagner, Hans Georg Jelpke, Ulla Würfel, Uta Dr. Küster, Uwe Wallow, Hans Dr. Keller, Dietmar Zurheide, Burkhard Kuhlwein, Eckart Waltemathe, Ernst Lederer, Andrea Zywietz, Werner Lange, Brigitte Walter (Cochem), Ralf Dr. Modrow, Hans von Larcher, Detlev Walther (Zierenberg), Rudi Philipp, Ingeborg Leidinger, Robert Wartenberg (Berlin), Gerd Dr. Schumann (Kroppenstedt), Dr. Leonhard-Schmid, Elke Dr. Wegner, Konstanze Fritz Lörcher, Christa Weiermann, Wolfgang Dr. Seifert, Ilja Nein Lohmann (Witten), Klaus Weiler, Barbara Dr. Lucyga, Christine Weis (Stendal), Reinhard BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD Maaß (Herne), Dieter Weisheit, Matthias Marx, Dorle Weißgerber, Gunter Dr. Feige, Klaus-Dieter Adler, Brigitte Matthäus-Maier, Ingrid Weisskirchen (Wiesloch), Gert Köppe, Ingrid Mattischeck, Heide Dr. Wernitz, Axel Bachmaier, Hermann Poppe, Gerd Meckel, Markus Wester, Hildegard Barbe, Angelika Schulz (Berlin), Werner Mehl, Ulrike Westrich, Lydia Bartsch, Holger Dr. Ullmann, Wolfgang Becker (Nienberge), Helmuth Dr. Mertens (Bottrop), Wettig-Danielmeier, Inge Weiß (Berlin), Konrad Becker-Inglau, Ingrid Franz-Josef Dr. Wetzel, Margrit Bernrath, Hans Gottfried Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Weyel, Gudrun Beucher, Friedhelm Julius Mosdorf, Siegmar Dr. Wieczorek, Norbert Fraktionslos Bindig, Rudolf Müller (Pleisweiler), Albrecht Wieczorek (Duisburg), Helmut Bock, Thea Müller (Völklingen), Jutta Wiefelspütz, Dieter Dr. Briefs, Ulrich Dr. Böhme (Unna), Ulrich Müller (Zittau), Christian Dr. de With, Hans Dr. Krause (Bonese), Börnsen (Ritterhude), Arne Neumann (Bramsche), Volker Wittich, Berthold Rudolf Karl Brandt-Elsweier, Anni Neumann (Gotha), Gerhard Wolf, Hanna Lowack, Ortwin Dr. Brecht, Eberhard Dr. Niehuis, Edith Büchler (Hof), Hans Dr. Niese, Rolf Büchner (Speyer), Peter Odendahl, Doris Bulmahn, Edelgard Oesinghaus, Günter Damit ist der Haushalt des Bundeskanzlers und des Caspers-Merk, Marion Oostergetelo, Jan Bundeskanzleramtes angenommen. Conradi, Peter Opel, Manfred Daubertshäuser, Klaus Ostertag, Adolf Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt als Dr. Diederich (Berlin), Nils Dr. Otto, Helga nächster Rednerin unserer Frau Kollegin Dr. Ursula Diller, Karl Palis, Kurt Fischer das Wort. Dr. Dobberthien, Marliese Paterna, Peter Duve, Freimut Dr. Penner, Willfried Dr. Eckardt, Peter Peter (Kassel), Horst Dr. Ehmke (Bonn), Horst Dr. Pfaff, Martin Eich, Ludwig Pfuhl, Albert Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Dr. Elmer, Konrad Dr. Pick, Eckhart dent! Meine Damen und Herren! Am 30. Januar 1991 Erler, Gernot Poß, Joachim hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung Esters, Helmut Purps, Rudolf verkündet: Ewen, Carl Reimann, Manfred Ferner, Elke Rennebach, Renate Wir werden als vereinigtes Deutschland unsere Fischer (Gräfenhainichen), Reuter, Bernd Entwicklungshilfe auch in Zukunft steigern. Evelin Rixe, Günter Fischer (Homburg), Lothar Schaich-Walch, Gudrun Die Realität sieht bekanntlich ganz anders aus. Auch Fuchs (Köln), Anke Schanz, Dieter in der zweiten und dritten Lesung des Haushaltsge- Fuchs (Verl), Katrin Scheffler, Siegfried Fuhrmann, Arne Schily, Otto setzes 1994 bietet der Einzelplan 23 ein besorgniser- Ganseforth, Monika Schloten, Dieter regendes Bild. Schon der erste Entwurf dieses Einzel- Gansel, Norbert Schluckebier, Günter planes war völlig unzureichend. Daran haben auch Gilges, Konrad Schmidbauer (Nürnberg), die anschließenden Beratungen in den Ausschüssen Graf, Günter Horst Haack (Extertal), Schmidt (Aachen), Ursula recht wenig ändern können. Karl Hermann Schmidt-Zadel, Regina Unsere Kritik gilt unverändert der Tatsache, daß die Habermann, Michael Dr. Schmude, Jürgen ihren hohen Ansprüchen von Hacker, Hans-Joachim Dr. Schnell, Emil Entwicklungspolitik Hämmerle, Gerlinde Schöler, Walter Armutsbekämpfung nicht genügt, weil sie die Ursa- Hampel, Manfred Schreiner, Ottmar chen für Massenarmut und Massenflucht nur einseitig Hanewinckel, Christel Schröter, Gisela benennt und demzufolge auch nicht bekämpfen Dr. Hartenstein, Liesel Schütz, Dietmar kann. Hasenfratz, Klaus Schwanitz, Rolf Heistermann, Dieter Seidenthal, Bodo Entwicklungspolitik in ihrem bisherigen konzeptio- Huonker, Gunter Seuster, Lisa nellen Verständnis kann bestenfalls nur einen Bruch- Ibrügger, Lothar Sielaff, Horst Jäger, Renate Simm, Erika teil dessen abfangen, was die Weltwirtschaft in der Dr. Janzen, Ulrich Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Mehrzahl der Entwicklungsländer anrichtet. Solange Jungmann (Wittmoldt), Horst Dr. Sonntag-Wolgast, Corneli die diskriminierenden weltwirtschaftlichen Rahmen- Kastner, Susanne Sorge, Wieland bedingungen weiter bestehen, werden sich die bereits Kastning, Ernst Dr. Sperling, Dietrich Kemper, Hans-Peter Steen, Antje-Marie gravierenden globalen Probleme und Gegensätze Kirschner, Klaus Dr. Struck, Peter immer weiter zuspitzen. Diese Probleme gefährden Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16647

Dr. Ursula Fischer die Existenz der gesamten Menschheit. Das ist Meine Damen und Herren, wenn die kritische bekannt. Beurteilung der Effizienz von multilateraler Entwick- lungszusammenarbeit durch Koalition und SPD Nur entschlossenes Handeln in Nord und Süd berechtigt ist, wovon ich ausgehe: Wie kann dann eine könnte noch eine Wende bringen. Diese Einsicht Umverteilung von 300 Millionen DM für multilaterale schien in Rio selbst Politikern der Industrieländer Zwecke vorgenommen werden? Natürlich muß die gekommen zu sein. Bei der Erarbeitung des vorliegen- Bundesregierung internationale Verpflichtungen er- den Haushaltsentwurfs für 1994 haben die Erkennt- füllen, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit nisse von Rio jedoch offensichtlich keine Rolle darf darunter jedoch nicht leiden. Ich habe sehr gespielt. aufmerksam zugehört und auch die Forderungen hinsichtlich der Koalitionsparteien gehört. Man wird Die auf dieser Weltkonferenz vom Bundeskanzler - sehen, wie sich das weiterentwickelt. Ich bin da erneut bekräftigten 0,7 % des Bruttosozialprodukts, keinesfalls so optimistisch wie mein Kollege. die für Entwicklungshilfe aufgewendet werden sollen, rücken weiter in die Ferne. Ich nehme an, das gilt für Bezeichnend ist auf jeden Fall, auf wessen Kosten andere Haushalte ebenfalls. Noch gerade 0,36 % sind die unter Sparzwang stehende Bundesregierung die es, die die Bundesrepublik 1994 für Armutsbekämp- katastrophale Haushaltslage entspannen will. Im fung aufzubringen bereit ist. Es ist nicht immer Inland trifft es die ohnehin sozial Schwachen und Armutsbekämpfung, was hier gemacht wird. Die Benachteiligten, deren Zahl mit einer solchen Politik, Bundesrepublik wird mit diesem Entwicklungshaus- wie sie im Moment betrieben wird, überdies nur halt weder ihren internationalen Verpflichtungen steigen kann; nach außen geht militärisches und noch den objektiven Notwendigkeiten der Weltent- wirtschaftliches Imponiergehabe vor solidarische Un- wicklung gerecht. terstützung. Mit 48,6 Milliarden DM bleibt der Einzelplan 14, der Meine Damen und Herren, völlig unverständlich ist Verteidigungshaushalt, der fünftgrößte Einzelhaus- mir, daß ausgerechnet im Ausschuß für wirtschaftliche halt. Wenn die Bundesregierung im Sinne von Frie- Zusammenarbeit alle Vorschläge der Oppositionspar- den, Entwicklung, sozialer Gerechtigkeit und Armuts- teien abgelehnt werden, die dazu beitragen könnten, bekämpfung aktiv werden wollte, wäre genau an die magischen 0,7 % des Bruttosozialproduktes für dieser Stelle Gelegenheit gewesen, deutliche Zeichen Entwicklungshilfe zu verwenden. Wer, wenn nicht die zu setzen. Das ist bestimmt auch in diesem Jahr nicht Entwicklungspolitiker, soll denn dafür sorgen, daß zufällig ausgeblieben. Regierungserklärungen nicht nur Makulatur sind? Meine Damen und Herren, auch der vorliegende Es ist erschreckend, feststellen zu müssen, daß die Haushalt 1994 des BMZ wird den Erfordernissen der Behandlung des Haushaltes auch diesmal in den Zeit nicht gerecht. Daher kann die PDS/Linke Liste gewohnten Bahnen abläuft. Wie bereits in den Vor- nicht zustimmen. jahren begann nach Bekanntwerden der Haushalts- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei planung für Bundesminister Spranger das Fettreden Abgeordneten der SPD) der mageren Ergebnisse. Selbst sein Begriff der Null- runde muß kritisch hinterfragt werden. Erstens sinken Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und die Ausgaben im Einzelplan um 30 Millionen DM; das Herren, nun hat unser Kollege Werner Zywietz das ist also ein absoluter Rückgang. Zweitens sinkt der Wort. Anteil des Entwicklungsetats am Gesamthaushalt, denn dieser steigt um 4,8 %. Es ist also auch ein Werner Zywietz (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe Kol- relativer Rückgang zu konstatieren. Von einer Null- leginnen und Kollegen! Ich meine, die letzten Wo rte, runde kann folglich keine Rede sein. die wir zum Thema der wirtschaftlichen Zusammen- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Eine Mi arbeit gehört haben, waren sehr realitätsfern. nusrunde!) (Beifall bei der CDU/CSU — Rudolf Bindig [SPD]: Die waren sachkundig!) Das Regierungskonzept für 1994 auf diesem Gebiet ist Die Worte allerdings, die wir eingangs vom Kollegen eine eindeutige Minusrunde. So sehe ich das auch. Helmut Esters gehört haben, waren sehr realistisch Zwar weist der Bundesminister darauf hin, daß die und machten eigentlich das gute Klima der Beratun- wenigen Mittel nun konzentriert und kontrolliert gen im Haushaltsausschuß zwischen den Fraktionen eingesetzt werden müssen. 1993 bestand das Problem, der Opposition und der CDU/CSU- und der F.D.P.- wenige Mittel auf eine größere Zahl von Empfängern Fraktion mit einem sehr guten Dialog mit dem Hause aufteilen zu müssen. Heute entfallen auf nur zehn von deutlich. Das, was der Kollege Helmut Esters gesagt über 100 Ländern, unter ihnen die Türkei, Israel, hat, war zu meinem eigenen Erstaunen kein Klagelied China, Indonesien und Indien, allein 53,3 % der über den stagnierenden Haushalt, sondern eine sehr geplanten Zusagen der finanziellen Zusammenarbeit. realistische Darstellung, was wir aus der Leistungs- Auf die Tatsache, daß ein und derselbe Kriterienka- kraft der Bundesrepublik Deutschland heraus zur talog des Hauses Spranger für einige Länder die Unterstützung anderer Länder auf diesem Globus im Streichung der Entwicklungshilfe motiviert, während Moment anbieten können. er eine intensive Zusammenarbeit mit Ländern wie Beim zugrundeliegenden Haushalt für das Jahr der Türkei und Indonesien ermöglicht, möchte ich an 1994 geht es um einen Haushalt, der sich auf dem dieser Stelle nicht weiter eingehen; leider habe ich Niveau des Jahres 1993 bewegt. Das ist eine Tatsache. nicht soviel Zeit. Aber man muß sich im klaren sein, wie der Hinter- 16648 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Werner Zywietz grund der Leistungsmöglichkeiten aus dem Einzel- Orientierungen unterstützen. Ebenso können wir plan 23 aussieht. Dies war eigentlich der Leitfaden der Motivationen für die Möglichkeiten zur Selbsthilfe Debatte seit gestern mittag. Der immense Aufwand, unterstützen. Ein Bedienen von Erwartungshorizon- der sich durch den Zusammenbruch der kommunisti- ten schlichtweg mit geldlichen Mitteln kann nicht der schen Staaten in Osteuropa ergeben hat, und die Sinn von Entwicklungshilfe sein. Kosten der deutschen Einheit liegen in der Tat sehr viel höher, als wir noch vor drei Jahren angenommen (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause haben. Dies müssen wir bei der Bemessung der [Bonese] [fraktionslos]) Leistungen für die wirtschaft liche Zusammenarbeit berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund bin ich sehr sicher, daß die hier erwähnte Akzentverschiebung, bei der multilate- Wenn man auf Reisen ist und mit Entwicklungs- ralen Hilfe vorsichtiger zu sein, ausgesprochen richtig politikern anderer Länder spricht, stellt man fest, daß ist. Ich will nicht unbedingt unbesehen dem japani- einige erstaunt sind, daß wir trotz des immensen schen Beispiel folgen, aber ich habe gelesen, daß die Aufwands, den wir im wiedervereinigten Deutschland Japaner 80 % für die bilaterale Hilfe und nur 20 % für zu leisten haben, ein entwicklungspolitisches Niveau die multilaterale Hilfe ausgeben. Wenn wir uns mit halten können, wie wir es auch zuvor gehabt haben. unserem Beschluß auf eine Relation 70:30 zubewe- Denn der Transfer innerhalb Deutschlands, die Kosten gen, ist das, glaube ich, eine sehr vernünftige Grund- für den Aufbau in den fünf neuen Bundesländern und entscheidung. auch die Ausgleichsleistungen sind doch viel höher, als wir angenommen haben. Das ist doch seit gestern (Beifall bei der F.D.P., bei Abgeordneten der mittag erneut deutlich geworden. Dennoch leisten wir CDU/CSU und des Abg. Dr. Rudolf Karl unseren Beitrag gegenüber der Dritten Welt. Ich finde, Krause [Bonese] [fraktionslos]) das ist äußerst positiv, und für mich verbietet es sich herumzumäkeln, ob da noch 100 oder 200 Millionen Das wird zur Folge haben, daß wir unsere Leistun- DM an Steigerungsraten fehlen. Ich persönlich und gen an einzelne UNO-Organisationen stärker darauf- die F.D.P. finden, daß dies ein ganz besonders erfreu- hin zu überprüfen haben, was versprochene Beiträge, licher Tatbestand ist. was verankerte Pflichtbeiträge und was freiwillige (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Beiträge sind; denn ohne eine solche Analyse werden wir auch keine Umsteuerung erreichen. Wir müssen Wir alle müssen davon abrücken, in Ressortkatego- uns erst einmal Klarheit über den Gestaltungsspiel- rien zu denken. Entscheidend für die Hilfe gegenüber raum schaffen. Dritten ist doch, daß man zur Hilfe auch materiell imstande ist. Alle, die hier sitzen, und andere haben Bei dem Stichwort UNO-Organisationen sage ich doch eine hohe Verantwortung, die Leistungsfähig- auch ganz deutlich: Keiner ist durch seine Bezeich- keit der Volkswirtschaft der Bundesrepublik nung, durch die Titulierung unantastbar oder heilig- Deutschland auf hohem Niveau zu halten. Denn nur gesprochen. Auch eine Organisation wie die UNICEF, wenn wir das tun, wenn das eigene Haus zumindest die zweifelsohne viel Gutes auf der Welt leistet, muß ökonomisch in Ordnung ist, können wir etwas für sich genauer befragen lassen — und wir werden das andere tun. Ansonsten bleiben es doch nur freundli- tun —, ob sie in der Zwischenzeit nicht reichlich viele che Worte, aber keine konstruktiven, unterstützenden Rücklagen bilden konnte, während sie immer noch Taten mehr. Deswegen sind auch alle, die ein beson- höhere Beiträge verlangt und keine Rechenschaft deres Interesse an der Hilfe für die Dritte Welt haben, darüber gibt, was sie mit dem gehorteten Geld aufgerufen, auch ihren Teil für eine funktionierende anfängt. Wirtschaft und für erhaltbare soziale Netze im eige- nen Land zu leisten. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das soll ja keine Sparkasse sein!) (Zurufe von der PDS/Linke Liste) — Ja, weil Sie früher viel zuviel verwirtschaftet haben. — So ist es. Es sollte eine Hilfsorganisation sein und Diese Mehrkosten, die in den letzten drei, vier Jahren keine Sparkasse, die — wie der Rechnungshofbericht aufzuwenden waren, sind genau das, was zu einem festgestellt hat — in der Größenordnung von mehre- gewissen Teil der Dritten Welt entzogen wurde. Wäre ren hundert Millionen DM Gelder mit Zinsen parkt. dieser Aufwand nicht so groß, hätten wir hier mögli- Hilfe sollte sie leisten mit den Beiträgen, die ihr von cherweise ein Stück mehr leisten können. Das ist auch anderen gegeben werden. ein Stück der Wahrheit, so wie sie sich entwickelt hat. Die Beiträge an die UNO-Organisationen belaufen sich auf über 1 Milliarde DM. Aus einem Haushalt von Aus dieser Ausgangsposition heraus sind wir also 8,4 Milliarden DM ist das schon ein gutes Stück. Auf gehalten, die Steigerung der Effizienz im Bereich der eine knappe Milliarde, auf etwas unterhalb dieses Entwicklungshilfe noch stärker in den Mittelpunkt Niveaus, belaufen sich die Beiträge, die wir an die unserer Anstrengungen zu stellen als zuvor. Den europäischen Organisationen geben. Sowohl unsere Geldappetit von außen können wir gewiß nicht aus- eigenen Recherchen als auch Prüfungsberichte haben reichend stillen. Was wir allerdings können, ist, offenbart, daß eher die Bürokratie wächst, daß ten- gesellschaftliche Infrastrukturen, die selbsttragend denziell der administrative Aufwand wächst, und wirken, aufbauen zu helfen und zu unterstützen. Wir immer weniger für die Projekte übrigbleibt. Auch das können auch Einsichten in demokratische, in plurali- kann nicht im Sinne des Erfinders sein. Wir werden stische Entwicklungen und marktwirtschaftliche stärker unser Augenmerk darauf zu richten haben, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16649

Werner Zywietz daß wirklich Hilfe geleistet und nicht nur Geld gezahlt Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wird. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kol- lege Rudi Walther, der Vorsitzende des Haushaltsaus- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der schusses, hat unlängst vorgeschlagen, mehrere Mini- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sterien zusammenzulegen und ihren Arbeitsbereich Ebenfalls darauf zu achten ist — auch das benenne anderen Ressorts zuzuordnen. Manchmal habe ich ich ganz deutlich —, daß unter einem wohlklingenden den Eindruck, daß dies ohnehin praktiziert wird. Vor europäischen Namen für einen Fonds, d. h. unter der Chinareise des Bundeskanzlers haben das Wirt- einem multilateralen Etikett, nicht doch sehr viel schaftsministerium und das Ministerium für wirt- getarnte nationale Hilfe und nationale Absichten schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in sel- abgewickelt werden. Auch das gehört zu einem Gut- ten schöner Eintracht kooperiert; jedenfalls muß ich teil der Wahrheit. das annehmen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: So selten Der sehr universell klingende Fondsname ist noch ist die gar nicht!) kein Beweis dafür, daß sich dahinter nicht allerlei nationale Egoismen verbergen. Denn trotz der allgemein angespannten Haushalts- lage und der Stagnation der Entwicklungshilfe wur- anbelangt — die Was unsere eigene bilaterale Hilfe den dafür eben mal 350 Millionen DM aus dem Hut technische Hilfe beläuft sich auf über 1 Milliarde DM gezaubert. Der Beschluß dazu wurde am 30. Septem- und die finanziellen Zuweisungen an andere Staaten ber im Haushaltsausschuß gefaßt. Nach meiner auf 2,7 Milliarden DM —: Auch hier ist eine Konzen- Kenntnis ist der zuständige Fachausschuß, der AWZ, tration, wie es die Kollegen Christian Neuling und zuvor weder informiert noch um Beratung oder Votum auch Helmut Esters angesprochen haben, vonnöten. gebeten worden. Wir geben bilateral, von Staat zu Staat, Budgethilfe an 66 Staaten. Das sind gewiß einige zuviel. Da auch (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Richtig!) andere Länder, insbesondere im Osten, der Hilfe Als Mitglied des Ausschusses für wirtschaftliche bedürfen, werden wir diese Zahl zu reduzieren haben. Zusammenarbeit und Entwicklung frage ich mich, Nach meiner Meinung führt daran kein Weg vor- warum wir uns überhaupt mit dem Haushaltsentwurf bei. für den Einzelplan 23 auseinandersetzen. Der Haus- Wir werden auch stärker darauf zu achten haben, haltsausschuß hat keine einzige Empfehlung des daß die finanzielle Hilfe eher in Aufträge und Projekte AWZ übernommen, dafür aber selbstherrlich dem mit einer sinnvollen Begleitung der technischen Bundeskanzler ein Gastgeschenk für die chinesischen Zusammenarbeit fließt. Wenn wir das duale System, Kommunisten genehmigt. Auf diese Weise werden d. h. Berufsausbildung, exportieren — das ist mit das doch die Beschlußempfehlungen des zuständigen Beste, was wir zur Entwicklungshilfe in der Welt Fachausschusses und das Bemühen um eine konditio- anbieten können —, dann sollten wir darauf achten, nierte Entwicklungspolitik zur Farce. daß dies angemessen geschieht. Der Haushalt des Bundesministers für wirtschaftli- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — che Zusammenarbeit und Entwicklung für 1994 Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das hat schon beläuft sich jetzt auf insgesamt 8,365 Milliarden der Kollege Neuling gesagt!) DM. — Sehr berechtigt. Ich habe schon einleitend gesagt, daß wir in der Grundanalyse und in dem, was erfor- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das derlich ist, inhaltlich sehr dicht beieinander sind. stimmt schon nicht mehr, Herr Kollege! Das ist die alte Zahl!) Herr Präsident, habe ich noch eine Minute? — Okay, dann hat sich das verändert. —Er ist dank der Korrekturen des Haushaltsausschusses jedenfalls Vizepräsident Helmuth Becker Nein, Ihre Redezeit nach meinen Informationen noch einmal um 26 Mil- ist längst überschritten. lionen DM gesunken. Allmählich muß man sich doch fragen, warum sich die Bundesrepublik Deutschl and noch den Luxus eines Entwicklungshilfeministeriums (F.D.P.): Dann möchte ich sagen, Werner Zywietz und den dazugehörigen Apparat leistet, wenn dessen daß wir diesem Haushalt zustimmen und davon aus- politische Konzeptionen und Entscheidungen in der gehen, daß in dem angedeuteten Sinne die Mittel so Regierungsrealität unberücksichtigt bleiben. verwendet werden — wir sind sicher, daß das Haus dies tut —, daß es in die Länder und in die Projekte Angesichts der weltweiten Wirtschaftsprobleme, geht, die eine große Eigenanstrengung zeigen. Aber der Verschuldungs- und Umweltkrise, der internatio- wir brauchen dabei nicht schamhaft zu verschweigen, nalen Probleme mit Kinderarbeit, Armut und Hunger, daß wir mit dem, was über diesen Haushaltsplan mit Wirtschaftskriminalität, Prostitution und Drogen- abgewickelt wird, auch einen gewissen Eigennutz konsum — darüber sind wir uns doch eigentlich alle verbinden. einig — muß die Entwicklungspolitik auch innerhalb (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der Bundesregierung aufgewertet werden. Die Kom- petenz und die Erfahrung der Entwicklungspolitiker müssen in den anderen Ministerien berücksichtigt Vizepräsident Helmuth Becker:Meine Damen und und Entwicklungspolitik muß endlich als Quer- Herren, nächster Redner ist unser Kollege Konrad schnittsaufgabe begriffen werden. Das wird ja längst Weiß. von allen gefordert, aber niemand realisiert es. 16650 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Konrad Weiß (Berlin) Der Haushaltsausschuß hat in seiner Sitzung am menarbeit, unser Kollege Carl-Dieter Spranger, das 30. September 1993 eine Reihe von Maßnahmen Wort. beschlossen, die, würden sie umgesetzt, System und Strukturen der bisherigen bilateralen Hilfe tiefgrei- fend verändern würden. Der Kollege Dr. Neuling hat Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirt- soeben die wichtigsten Vorgaben vorgetragen. Ich schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr kann mir die Wiederholung sparen. Präsident! Meine Damen und Herren! Konsequentes Diese Beschlüsse wurden von der Regierungsfrak- sparsames Wirtschaften und die Konsolidierung der tion eingebracht und im Haushaltsausschuß von der öffentlichen Finanzen sind die tragenden Prinzipien SPD unterstützt. Der zuständige Ausschuß für wirt- des Bundeshaushaltes 1994. schaftliche Zusammenarbeit wird auch hier selbstver- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) - ständlich, möchte ich fast sagen, gar nicht erst Ausgabendisziplin als Gebot der Stunde ist nicht befragt. allein eine Folge der enormen Lasten, die uns die Ich weiß nicht, ob das in den Fraktionen zwischen Bewältigung von vier Jahrzehnten kommunistischer Entwicklungspolitikern und Haushältern abgestimmt Mißwirtschaft im Osten auferlegt, sie ist auch der wurde; das mag ja sein. Zuständig für so weitrei- Preis, den wir heute zu entrichten haben, um den chende konzeptionelle Veränderungen der deut- Standort Deutschland, d. h. mit anderen Worten: das schen Entwicklungspolitik sind jedenfalls nach mei- Funktionieren der Wirtschaft und damit das Wohl nem Verständnis die Fraktionen nicht, sondern, wenn unseres Landes für morgen und übermorgen sicherzu- schon, die zuständigen Fachausschüsse. stellen. Keine Frage: Die Entwicklungszusammenarbeit Frau Fischer, Ihre Kritik an zu geringen finanziellen muß verbessert und bestehende Mängel müssen Mitteln beim Einzelplan 23 ist schon eine Dreistigkeit behoben werden. Wir alle kennen die Probleme im angesichts der Tatsache, daß wir sehr viel mehr multilateralen Bereich. Die mangelnde nationale Kon- Millionen zur Verfügung hätten, wenn nicht Ihre trolle hat z. B. bei der Weltbank oft zu Fehlentschei- Mutterpartei, die SED, so fürchterliche Verwüstungen dungen geführt. in der früheren DDR ange richtet hätte. Das haben Sie sich anrechnen zu lassen. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sieht gerade in der wachsenden Vernetzung der verschie- (Beifall bei der CDU/CSU — Kurt J. Rossma- denen Geber eine Chance für eine effizientere Ent- nith [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit! Das wicklungszusammenarbeit. Sich konterkarierende muß man immer wieder sagen!) Einzelprojekte müssen durch eine konstruktive und Kollege Weiß, ich freue mich sehr, daß Sie die ausgewogene Zusammenarbeit ersetzt werden. Zusammenarbeit innerhalb der Bundesregierung, Aber was sollen dabei die nach der Vorstellung des auch im Bereich der Entwicklungspolitik in bezug auf Haushaltsausschusses starr vorgegebenen Prozent- unsere Kooperation mit dem Wirtschaftsministe rium, sätze? Die Bundesregierung hätte mit dieser Zwangs- ausdrücklich betont haben. Das ist nicht zu kritisieren. jacke in Zukunft Schwierigkeiten, ihren internationa- Das hat auch in bezug auf China funktioniert, und len Aufgaben gerecht zu werden. zwar voll auf der Basis der Beschlüsse des Deutschen Bundestages, zuletzt des Beschlusses vom 10. Dezem- Die prozentuale Fixierung von sektoralen und pro- ber 1992. jektbezogenen Quoten ist nach meiner Überzeugung kein geeignetes Mittel. Die Entwicklungszusammen- Ich stimme im übrigen den weiteren Ausführungen arbeit muß sich neben der langfristigen Planung und über die Bedeutung der Entwicklungspolitik, die Sie Kontinuität auch an aktuellen Ereignissen und gemacht haben, durchaus zu. Bedürfnissen orientieren und auf veränderte Situatio- Meine Damen und Herren, die Entwicklungspolitik nen flexibel reagieren können. als Politik der globalen Zukunftssicherung kann sich Das Einfrieren des BMZ-Haushaltes und die rigiden den Erfordernissen zum Sparen nicht entziehen. Sie Vorgaben des Haushaltsausschusses sind nach mei- trägt ihren Anteil an der Gesamtverantwortung der ner Einschätzung nicht nur durch die angespannte Politik der Bundesregierung für unser Land, und zwar Haushaltslage verursacht. Sie signalisieren, so scheint nach außen wie im Inneren. mir, vielmehr den Beginn einer massiven Einschrän- Wir müssen daher akzeptieren, daß der Einzel- kung der deutschen Entwicklungshilfe. plan 23 im kommenden Jahr auf Grund der gegen- Wir Entwicklungspolitiker, meine Damen und Her- wärtigen Haushaltslage keinen Zuwachs verzeichnet. ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind dringend Um so wichtiger ist es, daß die Entwicklungszusam- aufgefordert, uns dagegen zu wehren. menarbeit als zukunftsorientierte Politik der Bundes- regierung in Übereinstimmung mit dem Haushalts- Vielen Dank. ausschuß von der haushaltsgesetzlichen Sperre aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genommen werden kann. Ich möchte dafür sehr um sowie bei Abgeordneten der SPD und der Ihre parlamentarische Unterstützung bitten. PDS/Linke Liste) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Helmut Esters [SPD] — Hans- Günther Toetemeyer [SPD]: Ein verzweifel- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und ter Hilferuf war das!) Herren, als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt — Gar kein verzweifelter Hilferuf; der Beifall hilft uns der Herr Bundesminister für wirtschaftliche Zusam sicherlich in den Beratungen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16651

Bundesminister Carl-Dieter Spranger Eine Nullrunde des Entwicklungsetats ist kein der Grad an Rechtssicherheit, die politischen Beteili- Grund zur Freude, aber angesichts der tiefgreifenden gungsmöglichkeiten der Bevölkerung, finanziellen Einschnitte bei den Ausgaben anderer Politikbereiche und der Tatsache, daß andere OECD- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Man sieht Staaten ihre Leistungen sogar reduzieren, ist dies es an China!) immer noch ein akzeptables Ergebnis, wie es auch eine marktfreundliche und soziale Wirtschaftsord- Kollege Zywietz dargelegt hat. nung und eine entwicklungsorientierte Regierungs- Mein ganz herzlicher Dank gilt deshalb den Kolle- führung die Gewähr für den erfolgreichen Einsatz ginnen und Kollegen des Ausschusses für wirtschaft- unserer Mittel und Beratungsleistungen bieten. liche Zusammenarbeit, Kollegen Pinger und den anderen Kollegen, den Kollegen des Haushaltsaus- (Beifall bei der CDU/CSU — Rudolf Bindig schusses und vor allem den Berichterstattern zum [SPD]: Was ist mit China?) Einzelplan 23. Sie haben sich in den vergangenen — Es sind fünf Kriterien, und Sie wissen genau, welche Jahren stets in vorzüglicher Weise für die Belange der wirtschaftliche Entwicklung in China in den letzten Entwicklungsländer eingesetzt und haben sich damit Jahren stattgefunden hat. Ich nehme erneut Bezug auf große Verdienste um die Menschen in den Entwick- den Beschluß des Bundestages vom 10. Dezember lungsländern erworben. 1992. Meine Damen und Herren, die Notwendigkeiten der Haushaltskonsolidierung treffen die Entwick- Partnerlände rn, die diese positiven politischen und lungszusammenarbeit in einer Zeit, in der sie mit rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen wollen, wachsenden Problemen und Aufgaben konfrontiert bieten wir dazu unsere Unterstützung an. Diese neue wird: In Asien, Lateinamerika und Afrika bleiben Art von Hilfe ist zu unserer traditionellen wirtschaftli- chen und sozialen Zusammenarbeit hinzugetreten. Armut und Umweltzerstörung die größten Herausfor- derungen. In Afrika, Nahost und Europa sind nicht Gegenüber den Planungen zum Haushalt 1993 hat zuletzt auf Grund der weltpolitischen Umwälzungen die Anwendung unserer Vergabekriterien im Etat- neue Krisenherde entstanden. Neue Risiken gehen entwurf 1994 zu einer Reduzierung der Zahl der einher mit neuen Chancen f riedlichen Wandels und Partnerländer in Afrika, Asien und Lateinamerika bei wirtschaftlichen Fortschritts, die es zu unterstützen den Neuzusagen geführt. Mehr als 60 % unserer gilt. Insbesondere in den 27 Ländern Osteuropas und Leistungen kommen ärmeren Ländern mit einem der GUS steht die Entwicklungszusammenarbeit vor Pro-Kopf-Einkommen unter 635 US-Dollar zugute, zusätzlichen Anforderungen. und allein 27 % gehen an die am wenigsten entwik- Bei der Umformung der gesellschaftlichen und kelten Länder, deren Einwohneranteil nur knapp politischen Systeme kann die Entwicklungszusam- 13 % der Weltbevölkerung beträgt. menarbeit ihre bewährten Instrumente zum Einsatz Zweitens tragen wir der immer stärker differenzier- bringen. Über die Beratungs - und Projekthilfe hinaus ten wirtschaftlichen Leistungskraft der Entwick- sind deshalb für den Osten im Einzelplan 23 für das lungsländer und dem Bedarf an neuen entwicklungs- kommende Haushaltsjahr erstmals auch 105 Millio- politischen Instrumenten durch den Ausbau unseres nen DM an finanzieller Zusammenarbeit vorgese- Instrumentariums Rechnung. Ich darf hierzu auf das hen. verweisen, was Kollege Neuling ausgeführt hat: Das Die globale Dimension von Umweltzerstörung, BMZ kann mit diesem Instrumenta rium in Zukunft Wanderungsbewegungen und Bevölkerungswachs- zusätzliche Marktmittel für die Entwicklungszusam- tum und das Verständnis von Sicherheit im weitesten menarbeit mobilisieren, und zwar, was ganz wichtig

Sinne drängen die Entwicklungspolitik in eine Rolle, ist, im Einklang mit den OECD - Richtlinien. der sie sich im Interesse unseres eigenen Landes und angesichts der gewachsenen Verantwortung Drittens wirken wir auf mehr Effizienz und qualita- Deutschlands in der Welt nicht entziehen kann. Wenn tive Verbesserungen bei der Durchführung der einzel- wir diese Aufgaben aufgreifen wollen, ohne gleichzei- nen Projekte und Programme der Entwicklungszu- tig über mehr Mittel zu verfügen, so müssen wir sammenarbeit hin. Im Bereich der bilateralen Zusam- Qualität und Effizienz der Entwicklungszusammenar- menarbeit geschieht dies durch ein verfeinertes Pla- beit noch weiter steigern. Die Weichen dafür sind in nungs-, Kontroll- und Evaluierungssystem. Eine ver- der entwicklungspolitischen Konzeption der Bundes- besserte Feinabstimmung zwischen technischer und regierung gestellt. Ich möchte dazu drei Ansätze finanzieller Zusammenarbeit, wie sie jetzt durch das auf greif en. Kooperationsabkommen zwischen GTZ und KfW erreicht wurde, ist das erste praktische Ergebnis Erstens. Seit Beginn der Legislaturperiode verfol- unserer Bemühungen um die sogenannte Vorfeld- gen wir die Linie, die Leistungen der deutschen optimierung, mit der wir die Leistungskraft der Entwicklungszusammenarbeit in regionaler und sek- Durchführungsorganisationen erhöhen. toraler Hinsicht zu konzentrieren und dadurch mehr Wirkung zu erzielen. Art und Umfang unserer Zusam- Nach dem Haushaltsentwurf 1994 werden unsere menarbeit werden nicht in erster Linie von den multilateralen Leistungen auf rund 35 % der Mittel des materiellen Möglichkeiten bestimmt, sondern richten Einzelplans 23 ansteigen. Diese 35 % liegen deutlich sich nach den entwicklungspolitischen Rahmenbe- über dem Orientierungsrahmen von 30 %. Die Steige- dingungen in unseren Partnerländern. Dies erlaubt es rung beruht im wesentlichen darauf, daß wir heute uns, uns schwerpunktmäßig auf Länder zu konzen- Zahlungsverpflichtungen zu bedienen haben, die trieren, in denen die Beachtung der Menschenrechte, unter anderen haushaltspolitischen Bedingungen ein- 16652 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundesminister Carl-Dieter Spranger gegangen wurden. Ich sage auch hier ganz offen: bereitgestellten Mittel wirksam zur Bewältigung der Diese Entwicklung ist alles andere als erfreulich. globalen Herausforderungen der Entwicklungspolitik einsetzen. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Da muß man einmal nein sagen!) Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu dem vorliegenden Entwurf. Deshalb muß unmißverständlich klargestellt werden: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Neue multilaterale Verpflichtungen haben sich an den veränderten haushaltspolitischen Eckdaten zu orientieren. Deshalb sieht der Finanzplan des Bundes Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- für die im kommenden Jahr anstehenden Verhand- che. lungen über den 8. Europäischen Entwicklungsfonds Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- keine Steigerung vor. Ich begrüße es ausdrücklich, plan 23, Bundesministerium für wirtschaftliche daß sich der Haushaltsausschuß und der Ausschuß für Zusammenarbeit und Entwicklung, in der Ausschuß- wirtschaftliche Zusammenarbeit künftig intensiver an fassung. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthal- der Meinungsbildung und auch an der Entscheidung tungen? — Der Einzelplan 23 ist angenommen. über neue multilaterale Verpflichtungen beteiligen wollen. Ich rufe den Punkt I 16 bis 18 auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Einzelplan 06 sowie des Abg. Helmut Esters [SPD]) Bundesministerium des Innern - Drucksachen 12/6006, 12/6030 — (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) Berichterstattung: Auch für den multilateralen Bereich gilt es, in Abgeordnete Karl Deres Zukunft stärker auf Qualität als auf Quantität zu Ina Albowitz setzen. Die weitgehende Übernahme der deutschen Rudolf Purps entwicklungspolitischen Kriterien und die verstärkte Einzelplan 33 Ausrichtung auf unsere Sektorschwerpunkte Armuts- bekämpfung, Bildungsförderung und Umweltschutz Versorgung durch die multilateralen Institutionen war ein wichti- — Drucksache 12/6026 — ger Schritt für eine Steigerung der Wirksamkeit. Berichterstattung: Zusätzlich ist aber erforderlich, die Koordination und Abgeordnete Arnulf Kriedner Aufgabenverteilung zwischen multilateraler und bila- Ina Albowitz teraler Entwicklungszusammenarbeit zu verbessern. Rudolf Purps Die deutsche Präsidentschaft in der Europäischen Einzelplan 36 Union wird uns im kommenden Jahr die Möglichkeit Zivile Verteidigung geben, unsere Vorstellungen deutlich zu machen. Ich — Drucksachen 12/6028, 12/6030 — bin auch hier besonders dankbar für jede Anregung Berichterstattung: und Unterstützung aus dem Deutschen Bundestag, die Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff uns hilft, die Abstimmungen zwischen multilateraler Ina Albowitz und bilateraler Entwicklungszusammenarbeit zu ver- Rudolf Purps bessern und die Effizienz der multilateralen Institutio- nen zu erhöhen. Zu den Einzelplänen 06 und 36 liegen drei Ände- rungsanträge der Abgeordneten Ingrid Köppe vor. Meine Damen und Herren, der Entwurf des Einzel- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die plans 23 ist Ausdruck unseres Willens, auch in Zeiten gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. äußerst begrenzter finanzieller Spielräume Deutsch- — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist lands Verantwortung für die wirtschaftliche und das so beschlossen. soziale Entwicklung und den Frieden in der Welt wahrzunehmen. Unsere Partner in den Entwicklungs- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- gen Rudolf Purps das Wort. ländern verstehen, wie ich aus vielen Gesprächen weiß, daß höhere Haushaltsmittel im Moment nicht zur Verfügung gestellt werden können und die Kon- Rudolf Purps (SPD): Herr Präsident! Meine Damen solidierung der öffentlichen Finanzen jetzt — auch zur und Herren Kollegen! Der Haushalt des Innenmi- Sicherung deutscher Leistungen in der Zukunft — nisters für das Jahr 1994 ist das in Zahlen gegossene Vorrang genießen muß. Sie wissen ebenfalls, daß die Eingeständnis von Hilflosigkeiten, von Pleiten und Bewältigung der Entwicklungsaufgaben vor allem Pannen, von ihren Eigenanstrengungen abhängt und Deutsch- (Beifall bei der SPD) land ihnen dabei auch unter schwierigen Bedingun- Unfähigkeiten, mangelnder Sensibilität und — in gen weiterhin zur Seite steht. einigen Punkten — schlichter politischer Dummheit. Am Ende der parlamentarischen Beratungen des Ich sage Ihnen: Auch wenn Sie, Herr Minister Einzelplans 23 für das Jahr 1994 danke ich dem Kanther, diesen Haushalt in der Aufstellung nicht zu Deutschen Bundestag und vor allem — nochmals — verantworten haben, so sind Sie doch die berühmten den Berichterstattern und den zuständigen Ausschüs- 100 Tage im Geschäft — Sie waren auch in den sen für die Unterstützung des Kurses der deutschen entscheidenden Beratungen des Haushaltsausschus- Entwicklungspolitik. Wir wollen dieses Vertrauen ses anwesend —, um für diesen ganzen Bereich die rechtfertigen und die vom deutschen Steuerzahler volle Verantwortung zu tragen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16653

Rudolf Purps Ich sage Ihnen: Was in den letzten Wochen aus Zweifel. Entscheidend ist, daß das hierfür notwendige Ihrem Hause an „Vergoldungsrichtlinien" für den Instrumentarium geschärft und effektiv und effizient Umzug der Beamten von Bonn nach Berlin gekom- arbeitsfähig eingesetzt wird. men ist, ist schlichtweg nicht mehr zu ertragen. Man muß schon die ausgesprochene Sensibilität eines Als Innenminister, der Sie für die innere Sicherheit Fleischerhundes haben, wenn man der Bevölkerung zuständig sind, haben Sie auch die Aufgabe, die ausufernde derartige Vergünstigungsregeln in einer Zeit zumu- Kriminalität in der Bundesrepublik zu bekämpfen. Aber seien Sie versichert — und auch Sie, tet, in der 6 Millionen Menschen arbeitslos sind, davon 4 Millionen real und die anderen in Umschulungen, in meine Damen und Herren von der CDU/CSU —: Sie werden es nicht erleben, daß wir dies auf das Problem der 1 Million Menschen auf Grund Ihrer hervorragen- des den Politik von Arbeitslosigkeit bedroht sind und in Abhörens von Schwerstkriminellen und krimi- der Industrie darüber verhandelt wird, ob die Leute nellen Vereinigungen begrenzen lassen. Auf dieses Ablenkungsmanöver werden wir nicht hereinfallen, möglicherweise mit einer Vier-Tage-Woche mit in diese Falle werden wir Ihnen nicht gehen. Gehaltseinbußen zwischen 10 % und 20 % zurecht- kommen müssen. Da kommt Ihr Haus hier her und legt Ganz im Gegenteil, wir werden Ihnen, die Sie 1983 so etwas auf den Tisch. Ich will Ihnen sagen: Es genügt die geistig-moralische Wende gefordert haben, einige nicht, dies zurückzuziehen. Da muß man sich auch Fragen stellen: Wieso wundert es Sie eigentlich, daß fragen, wie so ein Entwurf überhaupt entstehen kann; die Kriminalität zunimmt, wenn Sie bewußt die denn ganz ohne Billigung und Verständnis des Mi- Zweidrittelgesellschaft in Kauf nehmen und durch nisters kommt so etwas ja nicht zustande, Herr Kan- Ihre Maßnahmen auch noch stabilisieren? Was glau- ther. ben Sie denn wohl, was für Auswirkungen die Perver- tierung des Leistungsgedankens auf das Denken und Ich würde Ihnen lieber einen anderen Auftrag Fühlen von Menschen hat, die Sie in Null-Arbeit geben. Schauen Sie, Sie sind ja nicht nur Beamten-, schicken? sondern auch Organisationsminister. Nehmen Sie sich einmal diese vielen kleinen Minireferate, diese Unter- Das dumme Wort „Leistung muß sich wieder loh- abteilungen vor, alle hochbestückt mit B 3, B 6, B 9 nen" hat den Leistungsbegriff von der Verantwor- aufwärts, d. h. immer — das muß man deutlich tungsethik getrennt und ihn ausschließlich auf die sagen — Gehälter um 120 000 DM, ansteigend. Füh- individualistische, materialistische Denkweise ver- ren Sie eine Strukturveränderung durch, indem Sie kürzt. Dies ist eigentlich nicht das, was m an von einer einen Großteil dieser Minireferate und Unterabteilun- christdemokratischen Union erwarten sollte. gen einfach abschaffen! Das wäre eine Aufgabe, die (Freimut Duve [SPD]: Wenn man noch etwas des Schweißes der Edlen wert wäre. Wahrscheinlich müßten Sie aber einen Außenstehenden einschalten, erwartet!) McKinsey oder so; denn in Ihrem Haus wird nicht Oder schauen Sie sich bitte die Vielfalt der Medien- allzuviel dabei herauskommen, wenn Sie es ma- landschaft an, die Sie als kulturelles Ereignis gefeiert chen. haben. Ich frage mich: Welcher kulturelle Gewinn liegt eigentlich darin, wenn ich mich Abend für Abend Ich sage Ihnen in allem Ernst: Es wird die einzige mit der Fernbedienung durch 20 Möglichkeiten, Men- Chance sein, Herr Minister Kanther, im Zusammen- schen vom Leben zum Tode zu bringen, durchzappen hang mit dem Umzug nach Berlin eine Strukturreform kann? der Ministerialbürokratie durchzuführen. Denn wenn das nicht geschieht und Sie diese Systeme so, (Ina Albowitz [F.D.P.]: Mußt du ja nicht!) wie sie sind, über das Jahr 2000 hinaus auf die neuen Strukturen in Berlin übertragen wollen, dann wird der Was ist denn dies für ein mediales Ereignis, für eine kulturelle Vielfalt? Staat — das meine ich ganz ernst, meine lieben Kollegen — an den Gehältern und den späteren (Zuruf von der SPD: Das hat die CDU einge- Pensionszahlungen im öffentlichen Dienst zugrunde führt!) gehen. (Beifall bei der SPD) Haben Sie vielleicht einmal überlegt, wohin es bei den Betrachtern führt, wenn die Medienvielfalt sich zwi- Also: Nicht immer nur von der Wirtschaft „lean schen Sex und Crime und flachster B-Film-Unterhal- management" verlangen; ich sage: „lean adminis tra- tung abspielt? Und noch wichtiger: Welche Auswir- tion" und „lean government" . Das wäre etwas, worum kungen haben derartige Dinge insbesondere auf Sie sich kümmern sollten. junge Menschen? Zur inneren Sicherheit: Die Aufklärung der Vor- Ich frage Sie, ob das alles nicht etwas mit der gänge von Bad Kleinen, Herr Minister, wird noch Senkung der Hemmschwe lle bei Gewalt, mit Verro- einige Zeit in Anspruch nehmen. Man kann bis heute hung und mit einer immer weiter voranschreitenden mit Sicherheit nur eines sagen: Sie war zum Teil Akzeptanz von Gewalttätigkeit in unserer Gesell- dilettantisch vorbereitet und durchgeführt, und es schaft zu tun hat. bedarf nicht nur einer Versetzungsorgie im BKA und in Ihrem Hause, sondern auch einer erheblichen (Beifall bei der SPD — Wolfgang Lüder Verbesserung in Schulung und Ausrüstung beim BKA [F.D.P.]: Wieviel Programme dürfen es denn und bei der GSG 9. Wenn Sie hier den richtigen Weg sein?) beschreiten, werden Sie uns an Ihrer Seite haben; Hier stehen Sie in der medialen Verantwortung. Wir denn daß Terrorismus in jeglicher Form und aus auch, wir stehen auch in der medialen Verantwortung, jeglicher Richtung bekämpft werden muß, steht außer aber nicht wir sind es gewesen, die die hemmungslose 16654 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode - 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Rudolf Purps Ausbreitung der privaten Medien vielfach gefordert menhang. Das wissen auch Sie. Ich halte es daher für haben, vertretbar, die Grenzen mit modernster Technik und (Widerspruch bei der F.D.P.) Elektronik zu überwachen, um ein reibungsloses Aufgreifen der illegal die Grenze überschreitenden was zu dem Ergebnis geführt hat, das sich heutzutage Personen zu ermöglichen. auf dem Medienmarkt darstellt. Aber was tun Sie? — Sie leihen sich von der (Ina Albowitz [F.D.P.]: Dann rede mit Herrn Bundeswehr Wärmebildgeräte aus, von denen Fach- Rau!) leute selber sagen, daß sie für diesen Zweck eigentlich Wir werden es nicht zulassen, daß die Regierung überhaupt nicht geeignet sind. Sie leihen sich also ihre Verantwortung wegschiebt. etwas aus, was für diesen Zweck nur sehr bedingt geeignet ist. Diese Geräte reagieren auf Hitzequellen (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann doch wie Panzermotoren, aber nicht auf die leichte Wärme nicht wahr sein!) menschlicher Körper. Sie können jederzeit mit uns eine Regelung finden, (Karl Deres [CDU/CSU]: Das heißt aber nicht: wie wir die Schwerstkriminellen und die organisierte überhaupt nicht!) Kriminalität abhören, und zwar legal, unter bestimm- ten Beschränkungen. Wir werden etwas vorlegen, Sie Wenn es mit dem Einsatz soweit ist, sagen Sie: Wir sollten etwas vorlegen. Dann können wir das gemein- brauchen auch die Soldaten dazu. Sie haben sich eine sam aushandeln. Nur, eines tun wir nicht: Wir entlas- Rechtskonstruktion erstellt — ein Gutachten für oder - sen Sie nicht aus der Verantwortung für den gesell- gegen etwas bekomme ich überall —, nach der dies schaftspolitischen Rahmen, in dem diese Sumpfblüten zulässig ist. Wir Sozialdemokraten wollen das nicht. wachsen. Das werden wir nicht zulassen. Wir wollen nicht, daß die Grenze zwischen Bundes- wehr und Bundesgrenzschutz verwischt wird. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Freimut Duve [SPD]: Folgerichtig haben wir in den Bereichen der inneren Auch nicht an der Grenze!) Sicherheit — Bundeskriminalamt, BGS, Bereitschafts- Wir wollen auch nicht, daß Bundeswehrsoldaten in polizei der Lander — als SPD nicht einen Kürzungs- antrag eingebracht, weil wir zu dieser Verantwortung anderer Uniform Dienst tun. stehen. Sie, die Koalition, haben gekürzt. Dann erklä- Es wäre für Sie viel einfacher gewesen, Herr Mini- ren Sie bitte in Zukunft auch den Bereitschaftspoli- ster, wenn Sie die hierfür zuständigen BGS-Leute zur zeien der Länder, ob Sie die jahrzehntelang gewach- Bundeswehr geschickt hätten , sie die Bedienung der senen guten Beziehungen zwischen Bund und Bereit- Geräte hätten lernen und sie als originäre Grenzschüt- schaftspolizeien aufkündigen wollen. Wir jedenfalls zer an der Grenze mit diesen Geräten hätten arbeiten stehen für eine solche Politik nicht zur Verfügung. lassen, bis die neuen, besseren Geräte zum Einsatz kommen. Die Rechtskonstruktion, die Sie gewählt Besoldung beim BGS betrifft, möchte ich Was die haben — Überlassung von Personal der Bundeswehr sagen: Die lahmen Versuche, in der Beförderungspra- an den BGS für eine bestimmte Zeit —, halte ich für xis und in der Frage der zweigeteilten Laufbahn die verfassungsmäßig äußerst bedenklich und für prinzi- Verhältnisse beim BGS an die der Länderpolizeien piell nicht gewollt, jedenfalls nicht von der SPD. heranzuführen, sind mittlerweile langsam peinlich. Die von Ihnen hier vorgenommenen Maßnahmen in (Beifall bei der SPD) Form der berühmten „Echternacher Springprozes- Zu den Belangen des Sports wird einer meiner sion" können beim BGS nicht zur Zufriedenheit füh- Kollegen noch etwas sagen. Mir sei es gestattet, noch ren. Sie wissen genausogut wie ich, daß die Menschen einmal darauf hinzuweisen, daß die Förderung und erster Stelle stehen und erst dann die Ausstattung an der Aufbau des Sports in den neuen Bundesländern al wichtig ist. Sie können ein Optimum an mit Materi vom Bund nicht in dem Maße in Angriff genommen Leistung nur erhalten, wenn die Menschen auch ihrer werden, wie dies notwendig ist. Wir haben Ihnen bei Leistung entsprechend entlohnt werden und befördert den Sportstätten wiederum den Einstieg in den „Gol- werden können. Das ist zur Zeit beim BGS nicht der denen Plan Ost" vorgelegt. Die Koalition will dies Fall. Ich fordere Sie auf, einen vernünftigen Plan nicht; das ist Ihre Entscheidung. Die größte deutsche vorzulegen, in dem Sie feststellen, wie die Besoldung Bürgerinitiative, die in den Sportvereinen und Sport- beim BGS bis zum Jahre 1998 an die Struktur der verbänden zusammengeschlossenen Bürger dieses Länderpolizeien herangeführt werden kann, damit es Landes, werden das im nächsten Jahr wohl zu beloh- beim BGS wieder eine positivere Perspektive gibt. nen wissen. Nun zu einem Kuriosum, dem Einsatz der soge- Ein weiteres trauriges Kapitel dieser Bundesregie- nannten Wärmebildgeräte bei der Überwachung der rung betrifft die Frage der Förderung von Kultur, Grenzen. Es ist völlig klar, daß wir Grenzen überwa- insbesondere die Erhaltung der Substanz der Kultur in chen müssen. Wir können es nicht erlauben, daß den neuen Bundesländern. Wenn Sie pommersche zwischen der Bundesrepublik und den Nachbarlän- und schlesische Landesmuseen und anderes fördern dern ein ständiger illegaler Grenzverkehr stattfin- — das können Sie tun; Sie haben es so beschlossen —, det. dann ist nicht zu verstehen, warum Sie die Kulturför- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ru derung in den neuen Ländern, laut Einigungsvertrag dolf Karl Krause [Bonese] [fraktionslos]) für eine Übergangszeit zugestanden, zerschlagen und Das werden wir nicht zulassen; denn Illegalität und eine neue Konstruktion wählen, auf die ich gleich Kriminalität stehen schon in einem gewissen Zusam noch zu sprechen komme. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16655

Rudolf Purps Wir, die SPD, befürchten, daß Sie damit die Kultur in Klären Sie bitte folgende Merkwürdigkeit auf: Zwi- den neuen Bundesländern dem Kahlschlag preisge- schen Weihnachten und Neujahr 1991 haben Beamte geben haben. Wir haben Sie seit Jahren immer wieder eine Kassenanweisung über mehr als 30 Millionen auffordern müssen, die schon zweimal gestrichenen DM unterschrieben — man muß sich das einmal Mittel wieder einzusetzen. Ihr seid mir lieb, Ina und vorstellen: zwischen Weihnachten und Neujahr Karl. Aber in dieser Beziehung seid ihr ganz hart- haben Beamte gehandelt — und ohne eine bestimmte näckige Burschen. Zweckbindung und ohne das Vorhandensein eines fähigen Bewerbers, dem VDA überwiesen. Diese (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ich bin kein Bur Leute waren mit dem Geldgeschenk völlig überfor- -sche!) dert. Was haben sie gemacht? Sie haben es zum Teil zu Ihr habt es immer wieder herausgestrichen. Wir haben Festgeldzinsen angelegt; das ist auch ganz nett. Der es immer wieder hineinsetzen müssen, z. B. mit Hilfe Bund hat es nachher wiedergek riegt, sogar mit Zin- des Bundeskanzlers. Auch er hat nicht verstanden, sen. Aber das ist Dilettantismus. Oder es ist Absicht, was ihr eigentlich gemacht habt. Gegen die Unver- daß man einen bestimmten Verband mit einer Auf- nunft der meisten Haushälter mußten wir auf die gabe betrauen wollte, der, wie sich herausstellte, das Vernunft der Regierung setzen. Das muß einmal einfach nicht konnte. Das ist nicht sein Versagen, gesagt werden. Wir kommen sonst ja gut zurecht. sondern ist es das Versagen einer Minsterialbürokra- Aber in dieser Frage ist es ganz schrecklich mit tie, die glaubt, einen solchen Träger nehmen zu euch. müssen. In diesem Jahr machen Sie noch etwas viel Schlim- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) meres. Sie benutzen eine den neuen Ländern eh zustehende Geldquelle, widmen sie um und sagen: Dann sind wir Haushälter einmal mitgefahren. Uns Nun bekommt ihr das Geld. Aber wie kann ich ist manches, insbesondere in der Ukraine, aufgefallen. jemandem etwas geben, was ihm sowieso gehört, und Wir haben der Regierung, dem Kollegen Waffen- auch noch für die armseligen 250 Millionen DM gelobt schmidt, gesagt: Nehmt die dafür zuständigen, werden wollen, die Sie aus dem noch nicht erhaltenen bewährten Verbände in die Arbeit hinein, z. B. die Massenvermögen der Altparteien der DDR, aus den KfW oder die GTZ! Erst danach sind diese bewährten Teilen, die zu Unrecht erworben sind, bekommen Verbände eingeschaltet worden. Seitdem koordinie- wollen? ren sie das, und es läuft besser. Aber bitte, Herr Minister, wir würden sehr gerne (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wissen, wer damals veranlaßt hat, daß es zu diesem DIE GRÜNEN) Träger und diesen Schwierigkeiten kam. Wenn der Sie haben sie noch gar nicht. Sie kriegen sie wahr- Verantwortliche in Ihrem Hause auch ziemlich hoch- scheinlich auch gar nicht. Denn Sie müssen dazu das rangig sein mag: Feuern Sie ihn! So kann es jedenfalls Einvernehmen der Unabhängigen Kommission des nicht weitergehen. Bringen Sie diesen Bereich in Herrn Professors Papier haben. Ich habe hier ein Ordnung. Papier von Herrn Professor Papier. Das habt ihr sicher (Beifall bei der SPD) auch. Unter anderem steht da: Herr Minister, auch der Bereich der Zivilverteidi- Nach dem derzeitigen Meinungsstand in der gung obliegt Ihrer Fürsorge. Ich möchte dazu nur Unabhängigen Kommission und auf der Grund- folgendes bemerken. Sie haben die Verantwortung lage der bestehenden Rechtslage kann ich ein dafür erst seit kurzem. Was bisher aus Ihrem Hause an derartiges Einvernehmen nicht ohne weiteres in Neukonzeption gekommen ist, kann nur Kopfschüt- Aussicht stellen. teln ernten. Sie haben einen ersten Entwurf vorgelegt, Was haben Sie eigentlich in der Hand? — Nichts aber — jetzt zitiere ich —: haben Sie in der Hand! Sie wollen den Leuten das Der Entwurf enthält nur vereinzelt konzeptio- schenken, was ihnen laut Einigungsvertrag, Art. 35, nelle Ausführungen. Der Haushaltsausschuß for- zusteht, und wollen dafür auch noch gelobt werden. dert jedoch die Vorlage einer neuen Gesamtkon- Wissen Sie, was die Kultur- und Kunstschaffenden in zeption. Ausführungen zu den finanziellen Aus- den neuen Ländern tun werden? Sie werden Ihnen im wirkungen in kurz- oder mittelfristiger Sicht sind nächsten Jahr die Quittung für dieses Verfahren ebenfalls nicht enthalten. Ohne eine Übersicht geben. Davon bin ich überzeugt. über die finanziellen Auswirkungen kann ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ solcher Bericht für den Haushaltsausschuß aber DIE GRÜNEN — Dr. Nils Diederich [Berlin] keine Entscheidungshilfe sein. [SPD]: Nicht nur dafür!) Der Bundesrechnungshof hat in verschiedenen Herr Innenminister, Sie sollten sich auch noch um Berichten u. a. die Auflösung des Bundesverbandes für den Selbstschutz sowie des Technischen Hilfs- einige andere Fehlleistungen in Ihrem Hause küm- werks und die Übertragung der Aufgaben auf die mern, etwa um die Abrechnung der Mittel, die bezüglich der Errichtung der Wolgarepublik und der Feuerwehr gefordert. Diese Forderungen sind in cht ebenfalls nicht enthalten. Sie sind Hilfe in den MOE-Staaten und den Nachfolgestaaten Ihrem Beri jedoch unverzichtbar. der alten GUS über den Verein für das Deutschtum im Ausland geflossen sind. Presseberichten zufolge lie- Sie haben das Fehlen der Neukonzeption damit gen Beanstandungen des Rechungshofs in gravie- erklärt, daß es bisher keine ausreichenden Vorgaben rendster Form vor. Nur hört man aus Ihrem Flause für die Rückführung in den militärischen Bereich nichts dazu. gebe. Die Forderungen des Bundesrechnungshofs 16656 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Rudolf Purps datieren aber aus einer Zeit, in der die für die Spielchen spielen! Wir werden schon dafür sorgen, Sicherheit Deutschlands wich tigen Entwicklungen daß dies in Zukunft nicht mehr passieren kann. Sie — beispielsweise der Zerfall des Warschauer Pak- sorgen bitte dafür, daß Tierversuche in Ihrem Ressort tes — noch gar nicht absehbar waren. Ich bitte nicht mehr stattfinden. Ich wäre Ihnen sehr dankbar — deshalb, den Be richt neu zu fassen, unter Berücksich- und Millionen Deutsche auch. tigung nachfolgender Aspekte — Herr Kollege Uelhoff, das muß Ihnen eigentlich runtergehen wie Öl —: Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Purps, bitte noch einen Satz, denn Ihre Redezeit ist zu Ende. Beim Einzelplan 36 müssen alle nicht verteidi- gungsrelevanten Kosten eliminiert werden. Rudolf Purps (SPD): Ja, so ist es. — Bemühen Sie Die zu hohen Vorhaltungskosten im Zivilschutz sich also, die schlimmsten Dinge so schnell wie sind kräftig zu senken. Das Schwergewicht der möglich abzustellen — wenn es nicht anders geht, Verteidigung muß künftig bei den planerischen Herr Minister, auch einmal mit einem kräftigen Don- Maßnahmen liegen. Die Behördenstruktur muß nerwetter in Ihrem Haus —, damit 1994 wenigstens überprüft werden. Dienststellen und Einrichtun- eines läuft, nämlich eine geordnete Übergabe Ihres gen einschließlich des nachgeordneten Bereichs Hauses an die neue Regierung Scharping. sind auf wenige wirtschaftliche Organisa tions- Wir lehnen den Haushalt des Innenministers und einheiten zu konzentrieren. den Einzelplan für die zivile Verteidigung ab. Das, was ich gerade vorgetragen habe, stammt nicht (Beifall bei der SPD) von mir. Dies stammt wortwörtlich aus einem Schrei- ben des Bundesministers der Finanzen vom 17. Juni Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege dieses Jahres. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Karl Deres. Sorgen Sie dafür, daß diesen Dingen nachgegangen wird, Herr Minister, insbesondere im Interesse der Arbeitnehmer in diesem Bereich; denn die hängen seit Karl Deres (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr vier Jahren zwischen Baum und Borke und wissen verehrten Damen und Herren! Nach dieser oppositio- letztlich nicht, wo es hingehen soll. Dies ist kein nellen Symphonie mit dem Paukenschlag — und Zustand. So kann man mit Mitarbeitern nicht umge- Pauken haben den Nachteil, daß sie auf Grund der hen! geringen Schwingungszahl ganz schnell wieder leise (Beifall bei der SPD) werden—möchte ich mich ernsthaft und gelassen den schwerwiegendsten Problemen dieses Haushaltes Und sorgen Sie, Herr Minister Kanther, dafür, daß zuwenden. wir nicht noch einmal eine solch unsägliche Diskus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — sion wie in diesem Sommer über die völlig überflüssi- Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Jetzt gen — wie sich herausgestellt hat — und nutzlosen kommt die Abschiedssymphonie!) Tierversuche in der Katastrophenmedizin führen müssen. Das Verletzen, Verbrennen, Verätzen von Meine Damen und Herren, wenn der Präsident Tieren zum Zwecke der Erforschung von Gasvergif- gestattet, beginne ich mit einem Zitat: tungen oder Schocktherapien bei Mehrfachverletzun- Schwätzend, Kaugummi kauend, lärmen, rennen gen gehören nun meiner Erachtens wirklich der auf dem Flur, Vergangenheit an und sollten selbst durch noch so (Freimut Duve [SPD]: Das ist ja ungeheuer- ausgeklügelte Begründungen der an solchen Unter- lich!) suchungen interessierten Professoren nicht in Ang riff genommen werden. vordrängeln, unangemessene Kleidung und Ab- fall nicht in den Papierkorb werfen .. . (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das ist nicht Herr Kollege Hirsch, im Haushaltsausschuß wurden ein Teil der Tagesordnung der Haushaltsausschußsit- diese Mittel gegen die Stimmen der SPD entsperrt. zungen der vergangenen Wochen gewesen, sondern das ist die Aufzeilung einer „Hitliste" der Unartigkei- Erst als wir, die Sozialdemokraten — und besonders ich; das nehme ich einmal für mich in Anspruch —, ten amerikanischer Schüler im Jahre 1940. darauf hingewiesen haben, was da passieren sollte, Heute liegen die Probleme — auch bei uns — völlig hat Herr Minister Kanther reagiert. Ich verlange aber anders. von ihm, daß er agiert und nicht erst dann reagiert, (Freimut Duve [SPD]: Ja, wir sind jetzt mit wenn das Kind im Brunnen liegt. den Amerikanern verbündet! — Gegenruf des Abg. Erwin Marschewski [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD) Jetzt hören Sie doch mal mit Ihrem ständigen Ich denke, Herr Minister, man sollte dann aber auch Gequatsche auf! Das ist ja schlimm!) in Ihrem Hause aufhören, uns Haushälter an der Nase Von Unartigkeiten kann man da kaum noch sprechen. herumführen zu wollen, denn die drei Versuche Drogen- und Alkoholmißbrauch, Vergewaltigung, sollten 600 000 DM kosten. Jetzt gibt es nur noch einen Raub und Körperverletzung sind auch jetzt schon in Versuch — sieh an, es geht ohne Tierversuche —, aber unseren Schulen anzutreffen. Ich rede hier als Vater der kostet dann 600 000 DM. Achten Sie einmal in den von vier Kindern, als Elternbeiratsmitglied, als Eltern- entsprechenden Abteilungen darauf, daß man nicht beiratsvorsitzender und inzwischen auch als Großva- glaubt, man könne mit uns irgendwelche kleinen ter — damit Sie wissen, warum ich diese Veränderung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16657

Karl Deres einer „Hitliste" von 1940 zur jetzigen Situation auf- Noch einmal zurück zum Thema innere Sicherheit führe. als eine der zentralen Aufgaben in unserem Lande. Drogen fallen ja nicht vom Himmel. Sie werden von Gerade in dieser schwierigen finanziellen Lage skrupellosen Geschäftemachern unters Volk ge- beweisen wir politische und gesellschaftliche Gestal- bracht. Ohne diese kleinen Dealer, die Handl anger tungskraft und setzen Schwerpunkte. Daher kommt des Todes, könnten die großen Dealer ihre Millionen- für uns eine Mittelkürzung nach dem Rasenmäher- geschäfte nicht machen. prinzip hier nicht in Frage. An innerer Sicherheit haben wir jedenfalls nicht gespart. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollge Deres, der Kollege Duve würde gern eine Zwischenfrage stel- Das, was wir gestrichen haben, haben wir nämlich der len. inneren Sicherheit zur Verfügung gestellt. Nehmen wir den Bundesgrenzschutz: Die Ausga- ben für den BGS werden um beinahe 8 1/4% steigen— Karl Deres (CDU/CSU): Nein, er hat schon so viel und das nicht ohne Grund. Denn wir müssen im dazwischengeredet. Von ihm möchte ich keine Zwi- nationalen Interesse, aber auch im Interesse unserer schenfrage haben. Es war nämlich sehr unhöflich, was Nachbarn im Rahmen einer harmonisierten europäi- er soeben gemacht hat. schen Politik für eine wirksame Eindämmung der (Freimut Duve [SPD]: Aber ich hätte jetzt illegalen Zuwanderung sorgen, die vor allem über eine ganz höfliche Frage!) unsere Ostgrenze erfolgt. Hierzu hat der BGS u. a. neue Grenzschutzstellen an der Grenze zur Tschechi- Um an diese großen Dealer heranzukommen, müs- schen Republik und zu Polen errichtet. sen wir uns in diesem Hause jetzt schnell darauf einigen, wie wir die verfolgungsfreien Räume für die Und was die Wärmebildgeräte angeht, lieber Herr organisierten Verbrecher dichtmachen können. Dazu Kollege Purps: Da wissen wir, daß sie technisch nicht gehört auch das Abhören von Gangsterwohnungen das leisten können, was sie leisten sollen. Aber sie sind als ein wichtiges Mittel der vorbeugenden Verbre- ein guter Einstieg, und deshalb haben wir diesen chensbekämpfung. Gerade in solchen Gangsterwoh- Einstieg auch mitbeschlossen. Wir hoffen, daß mit nungen werden doch die millionenschweren Verbre- unseren Mitteln dann bald die besseren Geräte zur chen mit ihrem Opfer als tödlichem Ausgang geplant. Verfügung stehen. Und hier soll man nicht einschreiten dürfen? — Das Wir können aber auf eine verbesserte Personalaus- kann doch wohl nicht wahr sein! Verbrechen schon im stattung beim BGS nicht verzichten. Die Aufgaben Vorfeld zu verhindern, ist wichtiger, als nachher die sind sonst nicht zu bewältigen. Wir erhöhen deswegen Opfer zu beklagen, die es ja sonst vielleicht gar nicht — es klang eben alles so nach „absenken" und „zu gegeben hätte. wenig" — immerhin in dieser Situation die Einstel- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. lungsquote für Dienstanfänger von 1 250 auf 2 900. sowie bei Abgeordneten der SPD) Außerdem können jetzt 800 statt 550 sogenannte Dieses Beispiel zeigt, daß wirksame Verbrechens- Seiteneinsteiger eingestellt werden. 800 zusätzliche bekämpfung nicht ausschließlich davon abhängig ist, Planstellen stehen dem BGS mittelfristig für die Erfül- ob Jahr für Jahr mehr Geld dafür ausgegeben wird. lung seiner Aufgaben zur Verfügung. Wichtig ist vor allem auch die Anpassung von Recht (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr und Praxis an die gesellschaftliche und technische wahr!) in unserem Land. Realität Ein besonderes Anliegen ist es mir aber auch, die (Beifall des Abg. Dr. Nils Diederich [Berlin] Besoldungsstruktur beim BGS den Regelungen bei [SPD]) den Länderpolizeien anzunähern. Wir führen daher Meine Damen und Herren, hier schalte ich noch unser 93er Programm — Herr Kollege Purps, es gibt einmal einige Sätze zum BAFI und der heutigen also eines — fort und setzen weitere 500 Polizeivoll- Situation zwischen. Durch die Asylgesetzgebung zugsbeamtenstellen des mittleren Dienstes in solche konnten wir endlich den Kreislauf durchbrechen, des gehobenen Dienstes um. Es kann also selbst in während wir mit den Bewilligungen für das BAF1 Jahr dieser Zeit beim BGS noch befördert werden. für Jahr den ständig steigenden Asylbewerberzahlen (Beifall bei der CDU/CSU) immer nur hinterherhecheln konnten. Eine weitere Strukturverbesserung erreichen wir (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr wahr, durch die Anhebung von 480 A-7-Stellen nach A 8. sehr wahr!) Auch dies ist Anreiz und Motivation für junge Leute, Die Asylrechtsänderung schafft nicht nur vergleich- die sich in den wichtigen und verantwortungsvollen bare Maßstäbe in Europa, sie hat uns auch einen Aufgaben des BGS zu unser aller Wohl engagieren. beachtlichen Rückgang der Zuwandererzahlen ge- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein bracht. Eine Ausweitung der Mittel für das BAFl ist weiterer Schwerpunkt unserer diesjährigen Haus- daher nicht mehr nötig. Der Personalaufbau ist haltsberatung war die Frage der Kulturförderung gestoppt, der Sachmittelaufwand gebremst. Ich finde, durch den Bund. Bitte hören Sie jetzt einmal genau zu. ein solcher Erfolg darf ruhig einmal in unserem Lande Die Ansätze dafür sind von 570 Millionen im Jahre erwähnt werden, das fast nur noch von Chaosmeldun- 1993 auf ca. 700 Millionen DM im kommenden Jahr gen und Mißerfolgsberichten überzogen wird. angestiegen, ohne das Substanzerhaltungsprogramm (Beifall bei der CDU/CSU) zu berücksichtigen oder mit einzurechnen. In den 16658 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Karl Deres zehn Jahren von 1985 bis 1994 wurde hier — wieder bleibenden Zuwendungsempfänger für das Stiftungs- ohne die Übergangsfinanzierung — eine Steigerung modell eignen. von 490 Millionen DM erreicht, das sind 235 %. Ich Die im Einigungsvertrag vorgesehene sogenannte kann gar nicht verstehen, was wir uns in den letzten Übergangsfinanzierung der ostdeutschen Kultur hat Jahren von seiten der Opposition an Vorwürfen haben sich faktisch zu einer mittelfristigen Daueraufgabe bieten lassen müssen, wenn man sich einmal die entwickelt. Obwohl der Deutsche Bundestag letztes Mühe macht, solche Zahlen zusammenzustellen. Jahr bereits ein Auslaufen dieser Bundeshilfen zum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ende des Jahres beschlossen hat, sollen für 1994 noch ordneten der F.D.P.) einmal bis zu 250 Millionen DM bereitstehen. Jeder weiß: Die Kulturhoheit steht inklusive der Dieser Be trag soll nach Abstimmung mit den Län- Finanzierungsverantwortung natürlich den Ländern dern — und Herr Papier, Herr Kollege Purps, hat vom zu. Ich bekenne mich auch dazu, daß der Bund die derzeitigen Zustand gesprochen — und der Unabhän- Lander dort gezielt unterstützen soll, wo deren Kräfte gigen Kommission zur Überprüfung der Parteivermö- überfordert sind, wo es also um länderübergreifende, gen aus dem Treuhandtopf bereitgestellt werden. um national bedeutsame Dinge geht. Wir kommen Eventuell auftretende rechtliche Risiken werden bei allerdings nicht umhin, die finanziellen Realitäten dieser Lösung vom Bund abgedeckt. anzuerkennen. Es gibt Institutionen, die im Laufe der (Freimut Duve [SPD]: Abgelehnt oder abge- Zeit mehr oder weniger in die Bundesförderung linkt?) - hineingerutscht sind oder hineingerutscht worden — Abgedeckt. Wenn Sie höflich fragen, bin ich immer sind, weil es die Kassenlage des Bundes gerade gern bereit, Ihnen auch höflich zu antworten. erlaubte. Ab 1. Januar 1995 aber gibt der Bund z. B. 10 % seiner Mehrwertsteuereinnahmen an die Länder Das Innenministerium war schon im Regierungsent- ab. Kann er da dauerhaft weiter originäre Länderauf- wurf mit spürbaren Einsparungen konfrontiert. Wir gaben finanzieren? Ich halte das für unmöglich. Berichterstatter haben wegen der uns allen bekann- ten Mittelknappheit weitere Millionen von dem Kultur sollte nicht länger von der aktuellen Finanz- Ansatz herunternehmen müssen. In der abschließen- kraft der öffentlichen Haushalte abhängig sein. Das ist den Sitzung des Haushaltsausschusses wurde dann wenigstens meine Meinung. Sonst wird sie nach dem noch die globale Sperre, eine Notbremse, in den Motto „Wer das Geld gibt, bestimmt die Musik" 5er- und 6er-Titeln beschlossen, wobei die investiven nolens volens zur Staatskultur. Das will ich überhaupt Ansätze geschont werden sollen. nicht. Im BMI-Etat von insgesamt 8,5 Milliarden DM wird (Beifall bei der CDU/CSU) so immerhin knapp eine halbe Milliarde DM gesperrt; Daher werbe ich für ein Modell, das die Zuwendungs- einzusparen sind ca. 90 Millionen DM. Das mag empfänger auf Dauer unabhängig vom Bund macht. schwerfallen. Doch was ist die Alternative? Steuern Statt auf unabsehbare Zeit jährlich steigende erhöhen? Noch mehr Schulden machen? Heute ist das Zuschüsse bewilligen zu müssen, sollten wir Kapital schon eindeutig abgelehnt worden. Dann lieber spa- zum Aufbau von Stiftungsvermögen zur Verfügung ren und die vorhandenen Mittel effektiv einsetzen. stellen. Ist dies angesammelt, können die einzelnen Das gilt übrigens für alle Häuser, nicht für das BMI Empfänger, unabhängig von der Finanzkraft der allein. Dies sage ich explizit auch aus der Erfahrung öffentlichen Hände und befreit von einer bundeszen- als Vorsitzender des Rechnungsprüfungsausschusses. tralen Kulturbürokratie, ihre Arbeit tun. Ich lade Sie, meine Damen und Herren, alle ein, einmal so einen markanten Tag in diesem Ausschuß (Freimut Duve [SPD]: Das dauert bei Ihnen zu erleben. Dann würden Sie sich manche Begeiste- dann 35 Jahre!) rung für das eine oder andere Projekt, was Sie Ich nenne Ihnen ein Beispiel. In vier Kulturfonds begrüßen und fördern, vielleicht nehmen lassen. verfügen wir über eine Gesamtsumme von 4 Millionen (Zuruf des Abg. Ernst Kastning [SPD]) DM für ein Jahr. Dabei entstehen 850 000 DM an Verwaltungskosten. Das kann nicht der Sinn von — Ja, man kann dort auch arbeiten — das ist natürlich Kulturförderung sein. möglich —, nicht nur an anderer Stelle. Ich möchte mich am Schluß für die gute Zusammen- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr arbeit bei der Kollegin Ina Albowitz, genauso herzlich wahr!) bei Rudi Purps, bei der Arbeitsgruppe, bei den Helfern Auf Dauer ist das falsch. des Sekretariats, Herr Minister, nicht zuletzt bei Ihnen Meine Damen und Herren, mit einem solchen und Ihren Mitstreitern, besonders beim Haushalts- Modell entfällt das jährliche Bangen und Feilschen referat, bedanken. um die Fortführung der Bundeszuschüsse. Mit der „Stiftung Lesen" haben wir das Modell bereits erfolg- Vizepräsident Hans Klein: reich praktiziert. Die vier Fonds der Kulturstiftung der Herr Kollege Deres, Ihre Länder sollen folgen. Redezeit ist abgelaufen. Das BMI hat nach unserer Meinung gründlich und völlig unvoreingenommen zu prüfen, welche der Karl Deres (CDU/CSU): Wir haben uns ja, obwohl es beinahe unzähligen Institutionen und Projekte der ganz kurz vor der Berichterstatterrunde zu ersten Bund auch weiterhin fördern kann und soll. Ich rege Gesprächen kam, intensiv insbesondere auch in der dabei an zu berücksichtigen, inwieweit sich die ver- Frage der inneren Sicherheit abgestimmt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16659

Karl Deres Herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit und Auch der Etat des Bundesministers des Innern muß für Ihre Aufmerksamkeit. Guten Abend. in Anbetracht der zusätzlich erforderlichen globalen Minderausgabe und der erheblichen Stellenkürzung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) noch sparsamer gehandhabt werden, als es der Regie- rungsentwurf nach Beratung durch den Ausschuß vorsah. Vizepräsident Hans Klein: Wenn ich dem Kollegen Purps gleich ins Wort falle, wenn seine Redezeit Vor diesem Hintergrund begrüße ich die Entschei- abgelaufen ist, muß ich es beim Kollegen Deres auch dung von Herrn Kanther, der als Reaktion auf die tun. Das ist ganz klar. Ich habe damit nur auf eine erweiterten Sparbeschlüsse für sein Haus einen sofor- Kopfbewegung reagiert. tigen Einstellungsstopp mit Ausnahme des Bereichs innere Sicherheit angeordnet hat. Sie stellen sich Ich erteile der Kollegin Ina Albowitz das Wort. damit einer schwierigen Aufgabe, Herr Minister. Ich wünsche Ihnen dafür für meine Fraktion viel Erfolg.

Ina Albowitz (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Den wünsche ich Ihnen aber auch speziell bei den Kollegen! Ich mache jetzt eine Vorbemerkung zu dem Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst und sage Kollegen Rudolf Purps, den ich außerordentlich Ihnen die Unterstützung der Liberalen zu. Ich denke, schätze. Daraus mache ich überhaupt keinen Hehl; wir haben Einzelbewertungen vorzunehmen, um das das weiß er auch. Ganze auch nicht zu gefährden. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Du Meine Damen und Herren, daß die Beamten in einer weißt, wie eifersüchtig ich bin!) besonderen Treuepflicht zum Staat stehen, kann nicht — Ja, ich weiß das. Deshalb bin ich ja auch schon oft genug gesagt werden. vorsichtig. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr Was er heute hier abgeliefert hat, wahr!) (Freimut Duve [SPD]: War eine sehr gute Ich finde, es ist aber heute auch an der Zeit, einmal Rede! — Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Dank zu sagen; denn wir haben den Beamten beim Das war hervorragend!) Aufbau des demokratischen Rechtsstaats in den fand ich nicht so besonders gut. Vor allen Dingen fand neuen Bundesländern außerordentlich viel zu verdan- ich den Anfang nicht so gut. Denn hinsichtlich der ken. Liste aus dem Innenministerium, was den Umzug (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Bonn- Berlin betrifft, muß ich sagen: Wir haben uns als Haushälter — wir nehmen uns an sich immer sehr Deshalb bin ich mehr als verwundert, daß der ernst — noch nicht mit dieser Liste beschäftigt. Wir Kollege Struck — offensichtlich in Unkenntnis des haben sie auch nicht gesehen. Sie ist möglicherweise Verhaltens seiner Kollegen im Haushaltsausschuß — aus der Vorbereitung für ein Konzept für die Personal- die Sonderzulage für Osteinsätze in Frage stellt. Wir und Sozialkommission „durchgestoßen" worden haben für die rund 17 000 in den neuen Bundeslän- — die Insider wissen, was das heißt —, um so etwas dern tätigen Mitarbeiter, und zwar einvernehmlich, möglicherweise zu verhindern. die Aufwandsentschädigung für 1994 fast halbiert und Aber ich freue mich schon, wenn ausgerechnet die bis zum Jahresende 1994 befristet. Daß wir bis jetzt Sozialdemokratie mit den Personalräten und mit den jedes Jahr neu über diese Zulage entschieden haben, Vertretungen über all die Dinge diskutiert, die wir im ist offensichtlich dem Kollegen Struck entgangen. Zusammenhang mit dem Umzug zusammen zu Wenn man die Protokolle der letzten Beratungen des bewältigen haben. Gute Reise kann ich da nur wün- Ausschusses nachliest, wird man feststellen, daß schen. gerade die Abgeordneten der Sozialdemokraten die Auffassung vertreten haben, daß den betreffenden Meine sehr verehrten Damen und Herren, daß die Beamten längerfristige Perspektiven eröffnet werden Politik frei nach Max Weber das Bohren harter, dicker müßten. Wer es nicht glaubt: Ich habe sie mit. Sie Bretter bedeutet, wissen Haushälter am besten. können sie lesen. (Freimut Duve [SPD]: Das mußte einmal (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: werden!) gesagt Die SPD zerfleddert!) — Eben. So ist es. Daß in den finanzpolitisch schwierigen Zeiten alles (Zuruf von der SPD: Das kann man immer auf den Prüfstand gehört, ist eine Selbstverständlich- wieder sagen!) keit. Aber wenn Beschlüsse von großen Fraktionen Wir streiten uns mit der Regierung um jede Position noch nicht einmal eine Woche halten, finde ich das des Haushalts und müssen uns aber auch gerade bei außerordentlich bedenklich. den Beratungen der zur Debatte stehenden Einzel- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: pläne mit unglaublich vielen Interessenvertretern Zerfleddert!) auseinandersetzen. Das ist nicht immer einfach. Manchmal fühlt man sich als Berichterstatter wie der Aus den Reihen der Opposition ist uns vorgeworfen Akrobat auf dem Drahtseil. worden, dies sei in diesem Jahr kein ordentliches Haushaltsverfahren. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Ohne Drahtseil!) (Ernst Kastning [SPD]: Allerdings!) 16660 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ina Albowitz Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der SPD: Länder in ihren Haushalten ebenfalls eine solch Wie begründen Sie auf der einen Seite die Zusage eindeutige Prioritätensetzung vornehmen. Ihres Obmanns, an der Etatisierung der globalen Minderausgabe mitzuarbeiten, wenn Sie auf der (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr wahr, anderen Seite noch am letzten Tag der Bereinigungs- vor allen Dingen in Rheinland-Pfalz!) sitzung Erhöhungsanträge in Höhe von rund 2 Milli- — Ja, genau. arden DM stellen? Wer meinen Redebeitrag zur Einbringung des (Widerspruch bei der SPD — Zuruf von der Haushaltes verfolgt hat, weiß, daß ich mir die Kultur- CDU/CSU: Unglaublich!) förderung in den neuen Bundesländern besonders auf die Fahnen geschrieben habe. Ich hatte für eine — Wir können das alles auflisten. Fangen Sie mit mir moderate Fortführung der Übergangsfinanzierung nicht an zu spielen! Sie wissen, daß ich das möglicher- Kultur — allerdings ohne zusätzliche Mehrausga- weise besser weiß als Sie. ben — plädiert, obwohl sich das Engagement des (Zuruf von der CDU/CSU: Kollegin Albowitz Bundes im Bereich der Kulturförderung in Ost- hat recht!) deutschland insgesamt bereits bis heute in einer Höhe von rund 2,5 Milliarden DM manifestiert hat. Die Ich glaube, eine solche Finanzpolitik wird Ihnen auch Beratungen haben jedoch klargestellt, daß durch der Bürger auf der Straße nicht mehr abnehmen. Mittelumschichtung weder aus dem Einzeletat noch Im Bereich der inneren Sicherheit setzt der Regie- aus dem Gesamthaushalt eine Möglichkeit gefunden rungsentwurf zum Einzelplan 06 in der durch die werden konnte. Beratungen des Ausschusses konkretisierten Fassung Der Bundesminister der Finanzen hat dann nach die richtigen Schwerpunkte. Die wesentliche Marsch- langen Beratungen einen Vorschlag präsentiert, richtung ist im übrigen überfraktionell einheitlich. wonach zum Erhalt letztmalig 1994 Einnahmen aus Es ist kein hinnehmbarer Zustand, daß die Bür- der Unabhängigen Kommission Parteivermögen in gerinnen und Bürger in unserem Land heute zuneh- Höhe von 250 Millionen DM zur Verfügung gestellt mend verängstigt mit einer immer weiter ansteigen- werden könnten. Offensichtlich sind die neuen Bun- den Kriminalität leben müssen. Auf gutem Wege desländer und die Treuhand mit dieser Regelung befindet sich die Erarbeitung eines Sicherheitspakets, einverstanden. das die Innenpolitiker der Koalitionsfraktionen auf Ich hatte gestern Gelegenheit, diesbezüglich mit ihren Klausurtagungen in den letzten Tagen ange- dem Vorsitzenden der Kommission zu sprechen — be- gangen sind. zogen auf den Brief, aus dem der Kollege Purps eben Die Haushälter haben ebenfalls dazu einen Beitrag zitiert hat —, habe allerdings — das geht nun an den geleistet und trotz der rigiden Sparmaßnahmen die Finanzminister, Herr Staatssekretär — mit leichter personellen Kapazitäten des Bundeskriminalamts zur Verwunderung erfahren, daß dieser bisher lediglich Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität und der orga- aus der Presse von diesem Vorhaben Kenntnis erhal- nisierten Kriminalität weiter ausgebaut. Für beson- ten hat. Hier sind sicherlich — ich bitte, das jetzt im ders wichtig — wir können den Innenminister nur Sinne der Sache ganz ernst und ohne Polemik zu auffordern, zügig die Verhandlungen weiterzufüh- behandeln — noch weitere Gespräche erforderlich, ren — halten wir die Einrichtung von Europol. und sie sollten auch bald geführt werden. Im übrigen braucht die Kommission bis zu ihrer Sitzung Mitte Einen weiteren Schwerpunkt setzt der Etat im Dezember eine Vorlage, damit der Vorsitzende unse- Bereich des Bundesgrenzschutzes. Der Kollege Deres ren Vorschlag auf die Tagesordnung nehmen kann. ist eben schon darauf eingegangen. Wir haben in einem erheblichen Kraftakt den neuen Anforderun- Unabhängig von den Bemühungen des Bundes, hier gen Rechnung getragen und ein BGS-Paket von rund nochmals Hilfeleistung zu geben, gilt nach wie vor die 27 Millionen DM zusätzlich eingestellt. Forderung an die neuen Länder und Berlin, ihre eigenen Kulturkonzeptionen zu erarbeiten, um Wege (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr und Lösungen zu finden, hier auf eigenen und selb- gut!) ständigen Beinen stehen zu können. Wir sind damit weitestgehend den Vorstellungen von Aus der Presse habe ich gestern erfahren, daß der Herrn Kanther gefolgt. Kultursenator von Berlin offensichtlich ein gestörtes Verhältnis zum Geld hat. Obwohl er wußte, daß das Daß sich die Personalsituation beim BGS langsam entspannt, ist ein erfreuliches Zeichen. 480 Stellen im Substanzerhaltungsprogramm aus Sicht des Bundes Polizeivollzugsdienst sind angehoben, 500 Stellen 1994 eigentlich keine Fortsetzung mehr finden sollte, befördert worden. Herr Kollege Purps, wie können Sie hat er in den Etatentwurf seines Hauses 138 Millionen sich dann hier hinstellen und sagen, wir hätten nichts DM Bundesmittel eingestellt. Ich halte diesen Vor- an getan? Es mag ja sein, daß es dem einen oder anderen gang für unverantwortlich und kann nur dringend nicht ausreicht, aber in Anbetracht dessen, daß wir in ander appellieren, die Kultusminister der neuen L anderen Etats Stellenkürzungen vorgenommen ha- auch in Anbetracht der Aufstockung des Fonds Deut- ben, haben wir hier bei fast 1 000 Stellen zugelegt. sche Einheit für 1994 auf 10,5 Milliarden DM solch unseriöses Vorhaben zu unterlassen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, die Finanzsituation gibt Das Kapitel BGS schließt mit einem Volumen von uns ja nicht nur Anlaß zu jammern, sondern bietet uns rund 2,4 Milliarden DM ab. Ich wünsche mir, daß die auch die Chance, die vielfältigen Aufgaben neu zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16661

Ina Albowitz strukturieren. Wir werden 1994, was den gesamten Ressourcen entschärft. Jetzt aber fragt er — ich Kulturbereich angeht, im Hinblick auf die verfas- zitiere —: sungsrechtliche Lage und den 1995 beginnenden Was passiert eigentlich und wie geht man dem- neuen Länderfinanzausgleich außerordentlich nächst mit sozialen Konflikten um, wenn das schwierige Diskussionen zu führen haben. Allein im scheinbar effektivste Steuerungsmittel — das Einzelplan 06 gibt es 93 institutionell geförderte Geld nämlich — demnächst nicht mehr zur Ver- Die Frage, die sich stellt, ist, Zuwendungsempfänger. fügung steht? ob alles, was dort gefördert wird, noch sinnvoll ist bzw. ob wir nicht auf Projektförderung umstellen müssen, Oder — füge ich hinzu — wenn man es nicht mehr zur damit die institutionelle Förderung eine seltene Aus- Verfügung stellen will. nahme wird. Dabei schließen die Liberalen nichts und Dann müssen Sie sich niemanden aus dieser Prüfung aus. — beantwortet Heitmeier seine Frage selbst — Im Bereich des Zivilschutzes haben die Etatbera- tungen der Tatsache Rechnung getragen, daß die einmal damit auseinandersetzen, daß das Grund veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedin- muster dieser Gesellschaft zur Debatte steht . . . gungen eine Reduzierung der Vorkehrungen im Dieser Haushalt setzt Schwerpunkte, die die gesell- Bereich der zivilen Verteidigung erlauben. Das weiter be- Bedrohungsbild hat sich durch den Wegfall des Kalten schaftlichen Desintegrationsprozesse schleunigen werden. Krieges völlig verändert. Nicht ein flächendeckender - Landkrieg, sondern globale Risiken, punktuelle terro- (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) ristische Bedrohungen und grenzüberschreitende Unausgesprochen folgt die Regierung dem zitierten Katastrophen sind heute die Gefährdung. Sachverständigen und klopft die neuen Grundmuster Die im Bereich des Zivil- und Katastrophenschutzes der Gesellschaft im Haushalt fest: Finanzierung der getroffenen Einsparungen sind daher sachgerecht. Es neuen Mauern im Osten, Aufrüstung zur Abschottung bringt uns auch nicht weiter, wenn wir zukünftig nur auf High-Tech-Niveau, Einsatz von Hilfspolizei und durch prozentuale Kürzungen ohne grundsätzliche Armee gegen sogenannte Illegale. Das hat natürlich Neuregelungen haushalten. Der Zivilschutz des Bun- Folgen für die Bundesländer. Sachsen z. B. richtet des und der Katastrophenschutz der Länder müssen eine deutsch-tschechisch-polnische Polizeisonderein- die neuen, veränderten Bedrohungsfelder berück- heit ein. Der BGS patroulliert schon jetzt illegaler- sichtigen und sich auf diese Veränderungen einstel- weise auf tschechischem Gebiet. len. Ein neues Konzept ist daher dringend erforder- lich. Meine Fraktion hat hierzu bereits konstruktive Die Ausgaben für Soziales und Bildung werden Vorschläge gemacht. gnadenlos gestrichen. Das ganze Elend dieser Politik zeigt sich in Bildern wie diesem: An der deutsch- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: tschechischen Grenze heben Frauen mit ABM-Stellen Sehr richtig!) Wassergräben aus, um sogenannte Grenzkriminelle Mit Spannung erwarten wir den von Bundesinnenmi- an der Flucht zu hindern. nister Kanther angekündigten Bericht zum 31. De- zember 1994. Es gibt einen neuen Titel: Förderung der Tätigkeit deutscher Volksgruppen im Ausland. Zur Begrün- Meine Damen und Herren, zu den Einzelplänen 06 dung werden die deutschnationalen Töne zur inneren und 36 gäbe es noch viele Anmerkungen zu machen. Sicherheit aus dem Regierungslager immer lauter. Der Einzelplan 06 ist der vielfältigste Einzeletat und außerordentlich problematisch. Deshalb können wir Auf höchstem Niveau wird die in der Asyldebatte den Innenminister nur ermuntern, auf seinem bisher geübte Hetze gegen Ausländerinnen und Ausländer eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Wir unterstüt- fortgesetzt. Innenminister Kanther scheut sich nicht, zen Sie dabei, Herr Kanther. die Herausnahme der Sparte Ausländerkriminalität aus der Kriminalstatistik als Beschönigung, sprich: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Fälschung der Statistik hinzustellen. Derselbe Minister Kanther spricht davon, daß Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Kollegin „Pseudointellektuelle" und „Konfliktpädagogen" Ulla Jelpke das Wort. den Verlust an Rechtstreue, sprich: die Ursachen für wachsende Kriminalität herbeigeführt hätten. Er for- Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! dert das offene Bekenntnis dazu, daß die Zahl unbe- Meine Damen und Herren! Es ist in diesem Haus nicht rechtigter Asylbewerber Ursache für die Fremden- besonders beliebt, Sachverständigenanhörungen feindlichkeit sei. Alles andere, so Herr Kanther, sei auch wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Das war beim liberales Tabu. Schönhuber muß schon ziemlich nach- Asylverfahrensgesetz genauso der Fall wie beim denken, urn mit dieser Position noch als Original vor Gesetz zur organisierten Kriminalität. Ich will es seine rechtsextremistische Klientel treten zu kön- dennoch noch einmal versuchen. nen. Am 19. April 1993 fand im Innenausschuß eine Wir haben in der Asyldebatte nachgewiesen, daß Anhörung zum Thema „Politisch motivierte Gewalt in die Regierung Wort für Wort die Forderungen rechter Deutschland" statt. Bisher, so der Sachverständige und rechtsextremistischer Strömungen erfüllt, ja Heitmeier, der nicht im Verdacht allzu großer Nähe übererfüllt hat. Heute steht dieser Schulterschluß zur PDS steht, wurden größere soziale und politische konservativer und rechtsextremistischer Politik am Gewaltpotentiale durch Umverteilung finanzieller Anfang der Kampagne zur inneren Sicherheit. Unter 16662 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ulla Jelpke dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung werden Als habe es nie Untersuchungen über den Zusammen- Bürgerrechte abgebaut und im Gleichklang mit hang von Sucht, Beschaffungskriminalität und sozia- Rechtsextremisten autoritäre Staatsmodelle als innere lem Elend gegeben, sollen — im Unterschied zu Erneuerung der Demokratie verkauft. Ja sagen sollen Alkohol — Polizei und Strafjustiz das Problem die Republikaner zu dieser Politik. Das, meine Damen wegschließen. und Herren, ist ein eindeutiges Nein zu Bürgerrech- Meine Damen und Herren, auch im Innern gibt es ten, sozialer Sicherheit und Demokratie. die verschärfte Grenzziehung. Die Herausnahme der Herr Hintze soll ja Spezialist für die Programmatik Asylbewerberinnen und Asylbewerber aus dem So- der Republikaner sein. Ich fordere ihn hier auf — auch zialhilfesystem steigert nicht nur die Diskriminierung, wenn er nicht da ist —, der Öffentlichkeit am Wortlaut sondern bürdet auch den Kommunen zusätzliche des Republikanerprogramms zur inneren Sicherheit Kosten auf. Es sind politische Kosten, die in Kauf und des Sicherheitspaketes '94, vorgestellt von Herrn genommen werden, um die Abschreckungspolitik zu Kanther, Trennendes und Gemeinsames zu erläutern. demonstrieren. Sie werden feststellen, daß es nichts Trennendes Aber es ist ja noch viel schlimmer. Wir alle wissen, gibt. daß dieses neue Grundmuster im Lande entstanden ist Meine Damen und Herren, in einem Atemzug wird im Gefolge von Angriffen auf Bürgerinnen und Bür- Liebe gefordert zu diesem Staat, der gerade dabei ist, ger, als Folge von Pogromen und Anschlägen auf seinen Bürgerinnen und Bürgern das Geld aus der Leben und Gesundheit hier lebender Menschen. Tasche zu ziehen. Das nationale Element als Binde- Nicht genug damit, daß diese Regierung neurechte mittel, wie Herr Schäuble das nennt, Diskriminierung Denkschulen und Kaderschmieden mit Hunderttau- von Minderheiten und Hatz auf Ausländerinnen und senden von Mark finanziert, nicht genug damit, daß es Ausländer sind zwei Seiten einer Medaille. offensichtlich genügt, mit nebulösen Projekten für Rußlanddeutsche zu winken, um Millionen an Bun- 3 Millionen DM will diese Regierung ausgeben für destag und Gesetz vorbei lockerzumachen, wie im die Fortsetzung der Aufklärungkampagne „Extremis- Falle des Vereins für das Deutschtum im Ausland, mus/Fremdenfeindlichkeit". Rechnen wir gutmüti- darüber hinaus führt die Bundesregierung einen gerweise und wahrheitswidrig noch die 800 000 DM zähen Kampf um die Verharmlosung des Neofaschis- hinzu, die der „geistig-politischen Auseinanderset- mus. 79 Tote seit der Vereinigung sind der Regierung zung mit terroristischen und extremistischen Bestre- ein Anlaß, über den angeblich fehlenden rechtsextre- bungen" dienen — naiverweise könnte man ja den- mistischen Hintergrund bei dem größten Teil der ken, darunter würden Nazis verstanden —, dann Todesfälle zu räsonieren. macht die ganze Summe noch nicht einmal ein Drittel der Kosten aus, die der BGS allein für Wärmebildka- Noch immer weigert sich die Bundesregierung, meras ausgeben darf. Selbstverständlich wird die spürbare Erleichterungen bei der Einbürgerung und politische Bildung zusammengestrichen. die doppelte Staatsbürgerschaft zuzulassen. Die „weitestgehende rechtliche Gleichstellung von deut- Der Haushalt weist zudem nach, daß die Regierung scher und nichtdeutscher Bevölkerung" muß herge- selbst nicht an ihre Märchen von der umfassenden stellt werden. Das mag die Ausländerbeauftragte Wirksamkeit ihrer Abschottungspolitik glaubt. So immer wieder — wie nach Solingen — feststellen, die z. B. werden im Kap. 06 25 80prozentige Steigerungen Regierung hält unbeirrt an ihrer unseligen Abstam- der Rückführungsflüge für die nächsten Jahre vorher- mungslehre als Grundlage der Staatsbürgerschaft gesagt, weil die Zahl der sogenannten illegalen Ein- fest. reisen weiter ansteigen wird. Das vor drei Jahren begonnene Schlachtfest am Zwei Drittel der Waffen- und Gerätebeschaffung Grundgesetz geht weiter. Unsere schlimmsten Be- des BGS in diesem Kapitel gehen in die „Verdichtung fürchtungen haben sich fast alle bestätigt. Die Bun- der Grenzüberwachung". Die Verpflichtungsermäch- deswehr überwacht elektronisch gesicherte Grenzen. tigungen, d. h. die Festlegung von Millionensummen Der große Lauschangriff schließt die letzten verfas- für die Beschaffung von Waffen und Gerät des BGS in sungsmäßig vorgeschriebenen fahndungsfreien Zo- den folgenden Jahren, wurden in der Beschlußvorlage nen. Nachrichtendienste und Polizei verschmelzen auf fast 30 Millionen DM nur in einem einzigen ihre Arbeitsweise und Organisationen. Ersatz für Haushaltstitel noch einmal mehr als verdoppelt. Bürgerrechte und Existenzsicherung sollen Fleiß, Das alles ist nur ein winziger Teil dessen, was die Pflichtbewußtsein und Heimatliebe sein. Ohne uns! Bundesregierung unter dem M antel der verlogenen Danke. Kampagne zur inneren Sicherheit in die innere Auf- rüstung steckt. Die einfachsten Erkenntnisse über den ( [CDU/CSU]: Keiner da, Zusammenhang der Brotpreise mit der Kriminalität der klatschen kann!) — um es bildlich auszudrücken — werden nicht nur geleugnet, sondern bekämpft. Nicht Aufklärung, gezielt geschürte Angst ist die Ursache dafür, daß die Kriminalitätsfurcht in diesem Lande steigt, seit Regie- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin rung und Unionsfraktion mit ihrer Kampagne zur Ingrid Köppe. inneren Sicherheit begonnen haben. Unerbittlich wird am völlig unrealistischen Ziel der drogenfreien Gesellschaft festgehalten, Hauptsache, Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr es eignet sich zur Forderung nach härteren Gesetzen. Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16663

Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt die Haushaltsan- aufwenden, sondern ihr Refugium dem Vernehmen sätze in den Einzelplänen 06, 33 und 36 ab. nach sogar zu hohen Kosten noch weiter ausbauen. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das überrascht uns aber!) Sonst gäbe es einen Preisverfall bei Cham- pignons!) Denn in all diesen Bereichen fehlt es sowohl an deutlichen Signalen zur Haushaltskonsolidierung wie Solche Maßnahmen erscheinen angesichts allge- auch an perspektivisch notwendigen und nachvoll- meiner Sparappelle absurd. Die Aufwendungen ziehbaren Schwerpunktsetzungen. Es entsteht der wären zur Förderung des zivilen Wohnungsbaus Eindruck, daß die Bundesregierung und die Koali- jedenfalls sinnvoller angelegt. Daher bitten wir um tionsmehrheit statt dessen die Mittelansätze oftmals Zustimmung zu unserem Änderungsantrag, durch ganz isoliert von den politischen Rahmenbedingun- Streichung des Bunkertitels mit diesem Unfug ein für gen je nach Opportunität und nach dem Beharrungs- allemal Schluß zu machen. vermögen überkommener Strukturen festgesetzt ha- Zweiter Bereich: Einzelplan 06. Erstes Beispiel: Ich ben. Ich will dies im folgenden an Hand einiger bedaure die Kürzungen in der politischen Bildungs- Beispiele verdeutlichen. arbeit, vor allem bei der Bundeszentrale. Für den Bereich der zivilen Verteidigung weise ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf folgendes hin: Die Konsequenzen aus der verän- und bei der SPD) derten sicherheitspolitischen Lage sowie der ange- Die entstehenden Defizite können nicht durch die spannten Haushaltssituation sind hier noch immer vom Haushaltsausschuß noch vorgenommenen Auf- nicht gezogen worden. Bei dem im September 1991 stockungen der Zuwendungen an die Parteistiftungen vom BMI vorgelegten sogenannten Konzept zur Neu- aufgefangen werden. Auch bei Sondermaßnahmen, strukturierung des Bereichs handelt es sich in Wirk- vor allem der Förderung von Aufklärungsmaßnahmen lichkeit um eine gedankenlose Fortschreibung alter gegen Rechtsextremismus im Jugendbereich, muß Ideen. Auf die damalige heftige Kritik von in diesem mehr als bisher auf Zielgerichtetheit und Kontinuität Bereich engagierten Organisationen hin hat sich das der erforderlichen Förderungen geachtet werden. BMI nun endlich im vergangenen Monat in der Lage gesehen, eine abteilungsübergreifende Projekt- (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) gruppe zum Teilbereich Zivilschutz einzurichten. In diesem Zusammenhang sollte in nächster Zukunft In den vergangenen Jahren hat die Koalitionsmehr- ein vielversprechendes Aufklärungsprojekt gegen heit im Haushaltsausschuß davon abgesehen, Mittel Fremdenfeindlichkeit in die Förderung einbezogen zunächst grundsätzlich zu sperren und Bewilligungen werden, nämlich das Anti-Rassismus-Informations- von der Vorlage eines tragfähigen und zukunftsorien- Centrum NRW. tierten Reformkonzepts abhängig zu machen. Ent- (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) sprechend zahm formulierte Berichtsbitten gerieten beim BMI bis zum folgenden Etatentwurf prompt Zweites Beispiel: Der Bundesbeauftragte für die immer wieder in Vergessenheit. Wenn man die Ver- - Unterlagen muß in die Lage versetzt werden, säumnisse bei den seit Jahren überfälligen Reformen die Akten sicher zu lagern und zu verwalten. der Zivilverteidigung sowie diese Mahnungen der (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das vergangenen Haushaltsjahre berücksichtigt, dann können wir in dem Bunker machen!) sind die Kürzungen des Etatentwurfs durch den Haus- haltsausschuß um 15 Millionen DM noch sehr zurück- Das vom BMI bereits gebilligte mittelfristige Konzept haltend ausgefallen. für notwendige Baumaßnahmen ist leider unerträg- lich zusammengestrichen worden. Ich bitte daher um Daß dabei z. B. die Sachkostenansätze für den Zustimmung zu unserem Antrag, der Gauck-Behörde Regierungsbunker im Ahrtal um nur 140 000 DM die erforderlichen Mittel hierfür zu gewähren. zurückgekürzt wurden und somit noch immer über dem Vorjahresansatz liegen, bedauern wir. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer — wie der Bundeskanzler — die Aufarbeitung (Freimut Duve [SPD]: Brauchen wir diesen der Stasi-Tätigkeit jetzt beenden oder die Akten Bunker überhaupt?) zuklappen lassen möchte, stellt sich objektiv auf die Ich denke: Es ist doch der Öffentlichkeit heute kaum Seite der großen und kleinen Täter der Stasi. noch zu vermitteln, daß die Bundesregierung weiter- (Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!) hin darauf beharrt, sich in einem immer unwahr- scheinlicheren Krieg auf deutschem Boden in diesem Gleiches gilt für laufende Überlegungen der Fraktio- Objekt verkriechen zu wollen. nen, den Medien ihren Beitrag zu dieser notwendigen Aufklärung durch verschärfte Strafandrohungen zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erschweren. Dies jedenfalls ist mit uns nicht zu sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) machen. Landesregierungen wie die aus Baden-Württemberg Drittes Beispiel: Der höchst überflüssige Einsatz von oder Nordrhein-Westfalen haben ihre Bunker schon Bundeswehrsoldaten an der grünen Grenze in Ost- als Aktenlager umgewidmet oder über Immobilien- deutschland; das ist schon erwähnt worden. Ich finde makler Champignonzüchtern angeboten. Die Bun- es sehr erstaunlich, daß die Union dieses mit dem desregierung aber will nicht nur jährlich rund 30 Mil- Grundgesetz unvereinbare Vorhaben so fördert. Dies lionen DM geschätzte Unterhaltskosten weiterhin ist nur erklärlich mit dem Bemühen, der Bundeswehr 16664 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Ingrid Köppe neue Einsatzfelder erschließen zu wollen, und seien Aufklärungsquote von 1981 mit 45,3 % auf 1992 mit die Soldaten dort auch so fehl am Platze wie in 42,3 % zurückgegangen. Somalia. (Zuruf von der CDU/CSU: Das sagen Sie (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: So einmal den Ländern!) ein Schwachsinn!) — Wir kommen noch dazu, Herr Kollege. Denn der eigentlich zuständige Bundesgrenzschutz Diese Entwicklung hat dazu geführt, daß die Sorge an der Ostgrenze ist in letzter Zeit so verstärkt worden, um ihre Sicherheit und die Furcht vor Kriminalität in daß er seinerseits schon wieder Personal zur Verstär- der Bevölkerung ganz erheblich angestiegen ist. Einer kung in Westdeutschland abgeben kann. Auch für „ipos"-Umfrage zufolge wurde im Jahr 1991 eine weitere Auslandseinsätze des BGS scheint immer Bedrohung von 93 % der Befragten in den neuen genug Personal dazusein, nach dem Willen der Bun- Ländern und von 71 % der Befragten in der alten desregierung demnächst auch in Somalia. Bundesrepublik angegeben. Schließlich hat der BGS die Wärmebildgeräte, wel- Diese Zahlen sind ein Beleg dafür, daß sich die che nun durch Soldaten bedient werden sollen, in der Menschen in unserem Lande von Kriminalität bedroht Testphase ohne weiteres durch eigene Kräfte handha- fühlen und sich Sorgen um ihre Sicherheit machen. ben können. Warum soll dies nun auf einmal nicht Das ist ein Anliegen, das wir, die Politik, aufnehmen mehr gehen? Aus all diesen Gründen beantragen wir, müssen. Ich denke, die Bundesregierung ist gefordert, die Mittel für den Soldateneinsatz zu streichen. sich verstärkt mit dieser Thematik zu beschäftigen- Viertes Beispiel im BMI-Bereich: Die nochmalige und entsprechend zu h andeln. Kürzung der um fast die Hälfte Kulturförderung (Beifall bei der SPD — Ina Albowitz [F.D.P.]: gefährdet nicht nur den Erhalt des ostdeutschen Tut sie ja!) Kulturreichtums, was immerhin eine gesamtstaatliche Aufgabe wäre, sondern läßt auch eine Auseinander- Zehn Jahre nach der Ankündigung der geistig setzung mit den dortigen Besonderheiten vermissen. moralischen Wende durch den Bundeskanzler ist die Konkret: Es ist zu befürchten, daß es zu Entlassungen positive Wertorientierung in weiten Bereichen unse- z. B. am Bauhaus Dessau, zu Schließungen von rer Gesellschaft verlorengegangen. Theatern z. B. in Wittenberg und Halberstadt kom- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: men wird, daß Musikschulen und auch Bibliotheken Das ist auch wahr!) besonders auf dem Lande gefährdet sind. Es reicht heute nicht aus, wenn die Bundesregierung Daß der Finanzminister nun 250 Millionen DM aus diese Entwicklung mit Sorge sieht, andererseits aber dem Parteivermögen der DDR als Abfederungs- offenbar ihre bisherige gescheiterte Politik nahezu summe nachschießen will, ist ein Holm. Denn diese unverändert fortsetzt. Mittel stehen den ostdeutschen Ländern ohnehin zu, und zwar für wirtschaftliche und soziale Zwecke. (Zuruf von der CDU/CSU: M an sollte kein Diese Umwidmung kann den Bund nicht aus seiner Geld in die Schublade tun!) Verantwortung entlassen. Die Bundesregierung versucht, mit dem Hinweis auf Alles in allem sind die Haushaltsansätze dieser den gesamtgesellschaftlichen Werte- und Struktur- Einzelpläne daher für uns nicht akzeptabel. wandel von der eigenen Verantwortung abzulenken. Die Vordergründigkeit und die Ungeeignetheit dieses Ich danke Ihnen. Entlastungsversuchs liegen auf der Hand. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD) sowie des Abg. Freimut Duve [SPD]) Es ist in erster Linie die Politik der sozialen Kälte, die maßgeblich zu den Ursachen für viele gesellschaftli- che Verfallserscheinungen beigetragen hat. Die Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Günter bedrückende zunehmende Verarmung, die völlig Graf, Sie haben das Wort. unzureichende Wohnungsbaupolitik und die erfolg- lose Arbeitsmarktpolitik fordern einen hohen Preis, der sich u. a. auch in der aufgezeigten Kriminalitäts- belastung in diesem L ande ausdrückt. Deshalb braucht die Bundesrepublik Deutschland eine neue Günter Graf (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es bedurfte nicht erst Politik für die innere Sicherheit. der traurigen und teilweise auch beschämenden (Beifall bei der SPD) Begleitumstände von Bad Kleinen, um festzustellen, Diese Politik muß mit einer vernünftigen sozialen daß die Bundesregierung bei der inneren Sicherheit in Prävention beginnen, also mit einer Gesellschaftspo- ganz wesentlichen Bereichen versagt hat. litik, die u. a. den Weg in die Ellenbogengesellschaft Der Anstieg der Zahl der Straftaten in unserem stoppt und die vor allem Gestaltungsmöglichkeiten Land hat sich dramatisch zugespitzt. Waren es im und Stellenwert von Sozial-, Gesundheits-, Familien- Jahre 1981 insgesamt 4,97 Millionen Straftaten, so und Jugendarbeit deutlich erhöht, die sozialen Rah- waren es 1992 in den alten Bundesländern einschließ- menbedingungen entscheidend verbessert und Be- lich Gesamt-Berlins bereits 5,21 Millionen Straftaten. treuungsarbeit in ausreichendem Umfang ermög- Bezieht man die neuen Länder ein, so waren es licht. insgesamt 6,29 Millionen. Im gleichen Zeitraum ist die (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16665

Günter Graf Des weiteren, Kolleginnen und Kollegen, ist es diese Arbeiten genausogut von Angestellten erfüllt notwendig, daß Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, werden könnten. neue Armut, Orientierungs- und Perspektivlosigkeit (Ina Albowitz [F.D.P.]: Völlig richtig!) gerade bei den jungen Menschen wirksam bekämpft Wichtig ist — und darin stimmen wir sicherlich auch werden, überein —, daß die Polizei von polizeifremden Aufga- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Dann brauchen wir ben freigestellt werden muß. Dies gilt nicht nur für die auch keine Polizei mehr!) Länderpolizeien, sondern gleichermaßen auch für die Und was sagt diese Bundesregierung dazu? Ich darf Bundespolizei, den Bundesgrenzschutz. an Ihre Antwort auf Drucksache 12/5452 vom 20. Ju li (Ina Albowitz [F.D.P.]: Unbestritten!) dieses Jahres auf die Große Anfrage der SPD zur Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über neue Thematik „Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und Formen der Kriminalitätsverhütung sprechen, dann Massenkriminalität" erinnern. In der Vorbemerkung möchte ich nur stichwortartig auf einige Aspekte führt die Bundesregierung aus — ich zitiere —: hinweisen, die wir Sozialdemokraten für notwendig Die Bundesregierung kann zu den notwendigen erachten. Einerseits geht es darum, auch auf kommu- Korrekturen nur aufrufen und begleitend wirken, naler Ebene kriminalpräventive Arbeitskreise/Räte eingeleitet und vollzogen werden muß diese einzurichten, Entwicklung durch die Gesellschaft insgesamt. (Zuruf von der CDU/CSU: Räte?) Ich denke, Kolleginnen und Kollegen, dieser Satz die sich mit den Besonderheiten des Kriminalitätsge- spricht für sich und dokumentiert ein großes Stück schehens vor Ort befassen. Hilflosigkeit. Auch technische Prävention, z. B. Sicherungsein- Kolleginnen und Kollegen, innere Sicherheit ist richtungen in Neu- und Altbauten, Einbau von effi- heute in Teilbereichen schon zu einem Privileg der zienteren Sicherungsmaßnahmen im Bereich des Reichen geworden. Autos sowie das Versehen von Fahrrädern und sonsti- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: gen hochwertigen Gütern mit Registriernummern, um Leider!) eine bessere Zuordnung durchführen zu können, sind sicherlich in diesem Bereich zweckmäßige Maßnah- Das private Sicherheitsgewerbe boomt. men. Vor dem Hintergrund leicht möglicher Fälschun- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Leider!) gen von Geldscheinen mittels moderner Farbkopierer ist es notwendig, Kopierschutzmöglichkeiten zu Für die SPD-Bundestagsfraktion darf ich hier sagen, schaffen, die dies verhindern. Es ist auch daran zu daß wir diese Entwicklung stoppen werden. Es muß denken, der Kreditkartenkriminalität durch die Schluß damit sein, daß nach der Devise gehandelt Anbringung von Lichtbildern auf den Kreditkarten wird: Wer reich ist, schützt sich erster Klasse durch wirksamer als bisher zu begegnen. private Sicherheitsunternehmen, wer arm ist, bleibt weitgehend schutzlos, weil er auf die teilweise unzu- reichend ausgestatteten und überlasteten öffentli- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Graf, der chen Sicherheitsorgane angewiesen ist. Kollege Hirsch würde gern eine Zwischenfrage stel- len. (Beifall bei der SPD — Ina Albowitz [F.D.P.]: Sagen Sie das mal in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein!) Günter Graf (SPD): Ja, bitte sehr. — Wir sagen das in allen Ländern, wir sind auch mit den Ländern im Gespräch. Aber der Bund trägt ein Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege, die großes Stück Verantwortung. Darauf komme ich meisten Maßnahmen, die Sie aufzählen, liegen in der gleich noch zu sprechen. Verantwortung der Länder, die dafür nicht einmal Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir stimmen Gesetze brauchen. Sagen Sie uns doch bitte einmal, zumindest in einer Frage überein, und zwar in der warum die Innenminister der Länder, die zu Ihrer Bewertung, daß mit dem Anstieg und der Entwicklung Partei gehören, diese Maßnahmen nicht schon längst der Kriminalität weder die materielle noch die perso- verwirklicht haben. nelle Ausstattung der Polizei Schritt gehalten hat. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dies trifft sowohl den Bund als auch die Länder. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Ina Albowitz [F.D.P.]: Einverstanden!) Oder wenigstens jetzt verwirklichen!) Vielfach ersticken die Beamten an der Aktenflut und können die Aktenberge selbst bei durchrationalisier- Günter Graf (SPD): Herr Kollege Hirsch, wir haben ten Verfahren nicht mehr bewältigen. Moderne Kom- uns in der letzten Sitzung schon einmal über das munikationstechniken fehlen weitestgehend für die Thema unterhalten, und ich habe gesagt, wir sind mit polizeilichen Dienststellen. Dies g ilt natürlich auch für den Ländern im Gespräch und stimmen im wesentli- den Bundesgrenzschutz. Zum Teil muß man dort chen überein. Ich gehe einmal davon aus, daß es uns heute noch auf Schreibmaschinen, die 20 Jahre alt gelingen wird, künftig gemeinsam das Programm sind, die Berichte schreiben. innere Sicherheit, das ja auch der Kollege Solms heute morgen hier schon angesprochen hat, wieder in (Ina Albowitz [F.D.P.]: Leider ja!) eine Richtung zu transportieren, wie es sie lange nicht Für Verwaltung und Schreibarbeiten werden lange gegeben hat. Da übe ich auch ein Stück Kritik; das will und teuer ausgebildete Polizisten eingesetzt, obwohl ich zumindest persönlich nicht verhehlen. 16666 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Günter Graf Aber ich sage deutlich: Wir sprechen hier für die Bundesinnenministers gerecht. Vielmehr wäre es not- Bundesrepublik Deutschland, für den Bund, und von wendig gewesen, viel mehr in die Ausbildung insbe- der Verantwortung des Bundeskanzlers und des Bun- sondere im Osten hineinzustecken. desinnenministers, der daran einen großen Anteil hat: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 30 000 Polizeibeamte im Bundesgrenzschutz und über 4 000 Beamte beim Bundeskriminalamt sind ein Stück Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Graf, Ihre Verantwortung, bei der ebenfalls Maßnahmen not- Redezeit ist schon ein Stück überschritten. wendig sind, die bisher in der Form nicht durchgeführt wurden. Insofern gibt es da eine Verzahnung. Wenn Günter Graf (SPD): Ja, eine ganz kurze Bemerkung wir darüber reden, reden wir über Land und Bund; noch. aber ich beschränke mich hier im wesentlichen auf die Bundesseite. Vizepräsident Hans Klein: Aber nur noch einen (Joachim Clemens [CDU/CSU]: Das macht es Satz! auf jeden Fall einfacher!) Günter Graf (SPD): Einen weiteren Punkt zum Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben einige Bundesgrenzschutz wollte ich noch ansprechen, weil Dinge angemerkt, bei denen wir meinen, daß Maß- er hier schon genannt worden ist. Wir haben einfach nahmen notwendig sind, die so gut wie kein Geld festzustellen, daß das Personalstrukturgesetz von kosten. Aber ich denke, es ist ferner notwendig, daß 1975, welches vorgesehen hat, den Bundesgrenz- wir auch darüber nachdenken, wie wir den Opfer- schutz bezüglich der stellenplanmäßigen Obergren- schutz verbessern können. Es gibt eine Vielzahl von zen an die Länderpolizeien heranzuführen, sein Ziel Möglichkeiten. Stichworte wie Opferberatungsstellen nicht erreicht hat. Wenn wir den Bundesgrenzschutz sowie Wiedergutmachung von Schäden und Verbre- heute betrachten, so beträgt der Anteil des gehobenen chensfolgen zugunsten von Opfern vor Strafverfol- und des höheren Dienstes 9 % bis 10 %, wobei sich die gung sollen hier nur kurz angedeutet werden. Länder mittlerweile im Bereich — — Ich denke, auch darin, daß wir eine gute, modern ausgebildete und bürgernahe Polizei brauchen, stim- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Graf, diese men wir überein. Das ist von allen Seiten des Hauses Zeit geht dem Kollegen Duve von seiner Redezeit immer wieder betont worden. ab.

Dies trifft natürlich in gleichem Maße - damit bin Günter Graf (SPD): Schönen D ank, ich muß das ich wieder beim Thema — für den Bundesgrenzschutz beenden. Es gäbe eine Menge mehr zu sagen, aber zu. Ich sage einfach einmal: Wir wissen es alle und dafür reicht die Zeit leider nicht. sprechen seit Monaten von dem erheblichen Fehlbe- darf beim Bundesgrenzschutz; die Zahl 5 000 geistert (Beifall bei der SPD) immer durch die Lande. Nun habe ich jüngst erfahren, Ich erteile dem Kollegen daß beim Bundesgrenzschutz erheblich mehr Perso- Vizepräsident Hans Klein: Erwin Marschewski das Wort. nal beschäftigt ist, als diese Zahl 5 000 aussagt. Beim Bundesgrenzschutz fehlen — das hat etwas mit dem (CDU/CSU): Herr Präsident! Haushalt zu tun — die Planstellen für die Beschäftig- Erwin Marschewski Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst ten. Das heißt, wir müßten im Grunde genommen die zwei Bemerkungen, erstens, zu Bad Kleinen. Herr Planstellen im Bundeshaushalt aufstocken, um das zu Kollege Graf, es ist richtig, daß da insbesondere im erreichen, was tatsächlich an Personal da ist. Das sind Bereich der Beweissicherung Dinge geschehen sind, ja nicht alles Beamte; ein Großteil ist im Angestellten- die nicht in Ordnung waren. Ich kann Ihnen sagen: bereich tätig. Das hat natürlich auch Auswirkungen Der Herr Bundesinnenminister wird daraus die Kon- auf Beförderungen und dergleichen mehr. Da besteht sequenzen ziehen. Falsch aber ist es, an der Tätigkeit erheblicher Nachholbedarf. des Bundeskriminalamtes ausschließlich Kritik zu Ich will an dieser Stelle nur noch einmal ein Thema üben. Die Damen und Herren des Bundeskriminalam- aufgreifen, über das wir auch schon gesprochen tes haben, meine Kolleginnen und Kollegen von der haben: Die Bundesregierung beabsichtigt, etwa SPD, ihre Pflicht get an. Sie haben mitgeholfen, die 465 Soldaten der Bundeswehr beim Bundesgrenz- Freiheit zu bewahren und die Demokratie zu sichern. schutz einzusetzen. Wenn m an über Kosten nach- Dafür sage ich ihnen ganz herzlichen Dank. denkt, muß man wissen, daß dieser geplante, mögli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- cherweise stattfindende Einsatz etwa 5 Millionen DM ordneten der F.D.P.) kosten wird, ganz abgesehen davon, daß in diesem Wissen Sie, wir sollten in einem Punkt einer Mei- Betrag die Reisekosten für die Beamten nicht enthal- nung sein: Der „Spiegel" hat sich auf einen Zeugen ten sind. Wenn man auf der einen Seite weiß — wenn berufen. Er hat sich zumindest bei der Bewertung der wir von einer gut ausgebildeten Bundespolizei spre- Aussage geirrt, wenn er nicht fahrlässig die Unwahr- chen —, daß durch diesen Haushalt Kürzungen von heit in Kauf genommen hat. Ich fordere den „Spiegel" 400 000 DM vorgenommen wurden mit der Folge, daß auf, den Zeugen zu benennen, meine Damen und die Anpassungslehrgänge im Osten, 14 an der Zahl, Herren! gestrichen werden mußten, und wenn wir auf der anderen Seite über den Einsatz der Bundeswehr mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. über 5 Millionen DM Kosten nachdenken, dann ist die sowie bei Abgeordneten der SPD) Welt an dieser Stelle ganz sicher nicht in Ordnung, Zweitens: Verbrechensaufklärung. Herr Kollege und das wird auch nicht der Verantwortung des Günter Graf, auch mich berührt es, daß die Aufklä- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16667

Erwin Marschewski rungsquote nur 42,3 % betragen hat. Ich wiederhole Verfassungsschutzes oder über eine Kronzeugenre- das, was Kollege Dr. Hirsch vorhin erfragt hat: Für gelung bei organisiertem Verbrechen — was wir diesen Bereich sind die Länder zuständig. In Rhein- gestern besprochen haben, Herr Kollege Dr. Hirsch — land-Pfalz hat sich die Aufklärungsquote verschlech- nachdenken, solange haben Sie kein Recht, irgend- tert. Für Rheinland-Pfalz haben Sie recht: Wer arm ist, welche Vorwürfe zu erheben. bleibt schutzlos. Das ist unser Problem, meine Damen und Herren. (Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Das sind doch Ablenkungsmanöver!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der werte Kollege Purps hat von der Abschaffung Zum Haushalt: Der Haushalt bietet in schwierigen des Rechtsbewußtseins gesprochen. Wissen Sie, es ist Zeiten immer Anlaß zur Kritik, was alles man hätte auch mein Problem, daß, vielleicht seit den siebziger anders machen können, hätte man ausreichend Mittel Jahren, das Rechtsbewußtsein gewissermaßen von zur Verfügung gehabt. Ich glaube aber, daß wir im oben nach unten abgeschafft worden ist. Wenn ich Bereich des Bundesministers des Innern alles ordent- den Leuten gestatte, im Kaufhaus zu stehlen, lich auf den Weg gebracht haben. Dem Bundesinnen- ministerium wurde mit diesem Haushalt die Voraus- (Zurufe von der SPD) setzung für die Fortsetzung seiner erfolgreichen Poli- wenn ich den Leuten sage, das Schwarzfahren sei eine tik gegeben. Bagatelle, wenn ich sage, der Diebstahl von Fahrrä- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dern bei jungen Leuten spiele keine Rolle, - Wenn ich von erfolgreicher Politik spreche, (Widerspruch bei der SPD) (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Haben Sie dem wenn ich sage, das Beschmieren von Hauswänden sei Kanzler schon gedankt, Herr Mar völlig gleichgültig, dann trage ich dazu bei, das schewski?) Rechtsbewußtsein von oben nach unten abzuschaf- darf ich zwei Dinge erwähnen, erstens die Änderung fen. des Asylgrundrechts. Nach jahrelangem Einsatz hat- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — ten wir im Sommer Erfolg. Wir haben auch jetzt Erfolg; Zuruf des Abg. Freimut Duve [SPD]) denn — ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen — im Oktober des letzten Jahres hatten wir fast 50 000 — Ja, ja, Herr Duve, Sie können sich gleich melden. Asylbewerber, in diesem Jahr im Oktober waren es Schnattern Sie nicht soviel dazwischen! noch 16 600. Ich denke, daß wir da gemeinsam Erfolg Ich sage Ihnen: Sie müssen diese Forderung auch an gehabt haben. Es war ein Erfolg unseres gemein- Ihre Ministerpräsidenten richten, meine Damen und samen beharrlichen Einsatzes; dies lassen Sie mich Herren. hier einmal feststellen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Ja, Sie haben ja nicht mehr so viele!) Damit meine ich auch Sie, meine Damen und Herren von der SPD. Ich wiederhole: Für die Polizei sind die Länder zuständig. Das wissen Sie. Und wir sind dafür zustän- (Zuruf von der CDU/CSU: Die SPD war aber dig, den strafrechtlichen und strafprozessualen Rah- verspätet!) men zu schaffen. Das werden wir im Verbrechensbe- Zweitens. Im Bereich der inneren Sicherheit haben kämpfungsgesetz 1994 auch tun. wir zwei Gesetze gemacht, die gut waren, und zwar Nun soll es etwas ruhiger vonstatten gehen. Wir das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Krimi- sollten auch über andere Bereiche reden, denn der nalität und das Geldwäschegesetz. Sie wissen aber, daß wir damit nicht zufrieden sind; denn gerade die Bereich der Innenpolitik ist weitreichender. Wir soll- ten über den Bereich des öffentlichen Dienstes, den Entwicklung der Kriminalität in den neuen, aber auch in den alten Ländern — in Rheinland-Pfalz, in Nieder- Bereich Sport und den Bereich Kultur reden. sachsen, in Hamburg und in Bremen, in Nordrhein- Die Kulturübergangsfinanzierung, meine Damen Westfalen — sagt uns, daß wir mehr brauchen. Eben und Herren, findet sich zwar nicht im Haushalt, aber deswegen wollen wir ein Verbrechensbekämpfungs- ich denke, daß wir trotzdem in den letzten Jahren gesetz 1994 auf den Weg bringen. unserer Verantwortung gerecht geworden sind. Frau (Beifall bei der CDU/CSU — Gerd Warten Kollegin Albowitz hat zu Recht gesagt: Wir haben berg [Berlin] [SPD]: Das wollen wir hier erst rund 2,5 Milliarden DM an Zuschüssen für die neuen einmal sehen!) Bundesländer im Kulturbereich geleistet. Ich sage noch einmal: Wir werden dies natürlich mit den 180 Ich sage Ihnen, daß die neuen Fahndungsmittel Millionen DM in diesem Jahr erneut tun. mithelfen werden, der erheblichen Kriminalitätsstei- gerung Herr zu werden. Das Problem ist einfach folgendes: Wir müssen uns auf das Grundgesetz besinnen, und darin steht, daß (Zurufe von der SPD) für die Kultur grundsätzlich die Länder zuständig sind. Sie rufen so oft dazwischen, deswegen zu Ihnen, Ich denke dennoch, wir sind sicherlich einer Meinung meine Damen und Herren von der SPD. Sol ange Sie — und Sie wissen, Herr Duve, daß wir uns da bemüht das Abhören in Gangsterwohnungen nur unter sehr haben —, daß die kulturell fortbestehende Einheit verzögernden Umständen mit knapper Mehrheit unseres Vaterlandes die formalstaatliche Trennung bejahen, solange Sie gar nicht über eine Erweiterung überwunden hat. Gerade die Kultur war ein wichtiger der Befugnisse des Nachrichtendienstes oder des Impetus für die Einheit Deutschlands. 16668 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Erwin Marschewski Ich wiederhole: Wir müssen uns darüber einig sein, den neuen Aufgaben des öffentlichen Dienstes befas- daß für die Kultur die Hoheit bei den Ländern liegt. So sen — das haben wir als Koalition getan —: Flexibili- steht es im Grundgesetz. Und ich fahre fort: So gilt es sierung und Stärkung von Leistungsgesichtspunkten. auch für den Sportbereich. Als immer noch aktiver Wir haben dies in der Koalition get an, und wir werden Sportler, Günter Graf, freue ich mich, daß wir im dies weiter konkretisieren. Wir warten auf Ihre Unter- Bereich des Sports die bisherige Förderung haben stützung. halten können. Das bedeutet für die Sportler, daß wir (Beifall bei der F.D.P. — Ina Albowitz ihnen die Möglichkeit einräumen, international mit- [F.D.P.]: Da warten wir lange!) zuhalten. Zum Schluß, meine Damen und Herren: Herzlichen Ich möchte gleichwohl an die Spitzenverbände des Dank den Beamten, die an der Formulierung des Sports appellieren, ein tragfähiges Konzept für die Haushaltes mitgewirkt haben. Aber ich darf an dieser Organisation der Sportleistungszentren zu schaffen. Stelle auch einmal sagen: Mein besonderer Dank gilt Der deutsche Sport muß seine Sportleistungszentren unserem Kollegen, unserem Freund Karl Deres, straffen. Er muß die Zusammenarbeit zwischen sport- (Beifall bei der CDU/CSU) wissenschaftlichen Einrichtungen, anwendungs- orientierten Zentren des Sports und Olympiastütz- der durch sein jahrelanges Wirken im Haushaltsaus- punkten effektiver und effizienter organisieren. schuß mitgeholfen hat, Innenpolitik zu gestalten. Auch wenn es nun, wie hier und heute, lieber Karl In Zeiten knap- Zum Schluß zum öffentlichen Dienst: Deres, wirklich nicht besonders einfach war: Dir noch per Haushalte wird immer wieder der Vorschlag einmal von dieser Stelle aus im Namen aller Innenpo- im öffentlichen Dienst zu gemacht, an den Beamten litiker ganz, ganz herzlichen Dank. sparen. Sparen ist sinnvoll, Herr Kollege Purps; aber ich denke, Sparen darf nicht zu Lasten nur einiger gehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Deswegen darf ich Sie an folgendes erinnern. sowie des Abg. Rudolf Purps [SPD]) In der Besoldungsrunde des vergangenen Jahres Meine Damen und Herren, die Unionsfraktion haben die Beamten durch eine Verschiebung der stimmt den Einzelplänen 06 und 36 zu. Besoldungsanpassung um vier Monate zur Konsoli- Herzlichen Dank. dierung der öffentlichen Haushalte mit einem Volu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) men von fast 1,6 Milliarden DM beigetragen. Damit erbringt dieser Personenkreis vergleichsweise mehr als die Tarifarbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Burk- deren Sozialversicherungsbeiträge einheitsbedingt hard Hirsch, Sie haben das Wort. erhöht wurden. Dies war auch 1992 so. Zu Ihnen von der SPD gewandt, sage ich: Die Beamtenschaft leistet damit auch einen größeren Beitrag, als das bei der Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Belastung mit einer von uns abgelehnten Arbeits- Damen und Herren! Ich bitte meine Stimmlage heute marktabgabe in Höhe von 1 % der Fall wäre. zu entschuldigen. Ich möchte zwei kurze Vorbemer- kungen machen. Die erste gilt dem Beamtentum: Es ist selbstverständlich — dies wird auch von der Beamte sind weder Goldhamster noch die Spar- Beamtenschaft akzeptiert —, daß der öffentliche schweine der Nation. Wir haben, Herr Marschewski, Dienst auch im Jahre 1994 seinen Beitrag zur Haus- die Besoldungsanpassung nicht nur einmal, 1993, haltskonsolidierung leisten muß. Allerdings, so meine sondern zweimal, auch 1991, abgekoppelt, jeweils mit ich, können weitere Sonderopfer der Beamten nicht in dem Volumen von etwa 1,5 Milliarden DM. Wir Frage kommen. müssen natürlich darauf achten, daß die Beamten der (Wolfgang Lüder [F.D.P.]: Richtig!) allgemeinen Einkommensentwicklung folgen und nicht übermäßig benachteiligt werden. Die Koalitionsfraktionen sind sich deswegen darüber einig, daß erstens eine Kumulation von Arbeitszeit- Aber man muß den Beamten auf der anderen Seite verlängerung und Nullrunde problematisch ist, auch ganz deutlich sagen: Zum Grundsatz der lebens- langen Verwendung gehört in unserer Zeit ein weit (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ja!) größeres Maß an Mobilität, als wir sie bisher gehabt daß zweitens eine dauerhafte Benachteiligung der haben. Beamten gegenüber dem Tarifbereich vermieden (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU werden muß sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nese] [fraktionslos]) der F.D.P.) Das umfaßt die Bereitschaft zur Versetzung, auch zu und daß drittens ein sozialer Ausgleich für besonders einem anderen Dienstherrn, und die Bereitschaft, eine belastete Gruppierungen ernsthaft zu prüfen ist. andersartige Tätigkeit anzunehmen. Wenn das nicht durchgesetzt wird, dann sind die Tage des Berufsbe- Meine Damen und Herren, wer einen leistungsstar- amtentums gezählt. Das muß man ganz deutlich ken öffentlichen Dienst wünscht, der darf nicht popu- sagen. listische, ungerechtfertigte Neidkampagnen führen. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — SPD sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause Zuruf des Abg. Freimut Duve [SPD]) [Bonese] [fraktionslos] —Dr. Wolfgang Weng — Ja, das ist ganz wichtig zu sagen, nach dem, was ich [Gerlingen] [F.D.P.]: Das ist auch ein Hinweis von Ihnen gelesen habe. — Er muß sich vielmehr mit auf die politische Führung!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16669

Dr. Burkhard Hirsch — Ja, selbstverständlich. sonders erleichterte Telefonkontrollen durch den Zoll bei der Vermutung illegaler Waffenlieferungen. Die zweite Bemerkung zum Bundeskriminalamt. Was wir, Herr Minister Kanther, in diesen Tagen zu Es soll noch eine ganze Reihe hinzukommen: Straf- den Ermittlungen in Solingen hören, beunruhigt uns bekämpfungsgesetz 1994 — wir arbeiten daran —, zutiefst. Das Bundeskriminalamt muß in der Lage sein mehr Verhaftungen, weitere Strafanhebungen, ein — wir bedenken es ja finanziell und personell groß- beschleunigtes Verfahren — was richtig ist und was zügig —, normale polizeiliche Arbeit einwandfrei zu ich sehr begrüße. Dabei habe ich noch nicht einmal die leisten. Das beziehe ich nicht nur auf Bad Kleinen, Polizeigesetze der Länder, die vielfältigen Verabre- sondern auch auf Solingen. Ich muß Sie dringend dungen über Dateien und über Wanzen zur Gefahren- bitten, dafür zu sorgen, daß wir unser Land nicht ein abwehr dargestellt. zweites Mal durch mögliche Fehler in der polizeili- Trotzdem haben wir eine steigende Kriminalität, chen Arbeit in große Probleme bringen. Das darf nicht und zwar insbesondere der Diebstähle und der Ein- vorkommen. Das muß man deutlich sagen. brüche — das ist das, was die Bürger in erster Linie Zum inneren Frieden unserer Gesellschaft gehört belastet —, weil hinter dem Schleier einer immer die Freiheitlichkeit unserer Rechtsordnung und die hektischer werdenden Gesetzgebungslawine die Sicherheit ihrer Bürger. Darum ist es für uns eine eigentlichen polizeilichen Probleme vernachlässigt selbstverständliche staatliche Verpflichtung, Krimi- worden sind, die wir mit der Fortschreibung des nalität so wirksam wie möglich und mit rechtsstaatli- gemeinsamen Sicherheitsprogramms des Bundes chen Mitteln zu bekämpfen. Es ist aber ein kardinaler und der Länder immer wieder und leider bisher - Fehler und eine Verschleierung der Wirklichkeit, zu erfolglos eingefordert haben glauben, das sei vorrangig das Problem immer neuer (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Gesetze. und die wir in unseren Thesen zur inneren Sicherheit In den vergangenen Jahren sind wir durch wirklich schonungslos genannt haben: mehr Polizeibeamte unermüdliche Betonköpfe von einem Reizthema zum — es muß mehr Streife gegangen werden —, bessere anderen gebracht worden, immer mit dem Argument: Sachausstattung auf den Wachen, Befreiung der Poli- Wenn nur das und das geregelt sei, dann würden die zei von fachfremden Aufgaben und von der Überbü- Straftaten wie Schnee in der Sonne verschwinden. rokratie bei Bagatelldelikten, bessere Ermittlungs- Wer irgendeinem Problem gegenüber nicht aufge- möglichkeiten in der ausländischen Wohnbevölke- schlossen war, der hat sich die Behauptung anhören rung, indem aus diesem Bereich Beamte eingestellt müssen, er schütze bewußt Verbrecher. werden, bessere internationale Zusammenarbeit we- Zu diesen Reizthemen gehört — das muß ich leider gen der Öffnung der Grenzen insbesondere zu unse- sagen — auch die Wanze. Wir wollen sie nicht, weil sie ren östlichen Nachbarn, endlich die Verwirklichung den entscheidenden Einbruch in die Privatheit vieler von Europol, internationale Zusammenarbeit im Menschen besiegeln würde. Der Zweck heiligt nicht Bereich der Rauschgiftverbindungsbeamten. jedes Mittel. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ist (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Horst genau unser Konzept!) Kubatschka [SPD]) Die Besoldungs- und Laufbahnstrukturen sind völ- Dem Bürger wird eingeredet, die Polizei stünde lig überholt, was dazu führt, daß mehr Polizeibeamte ohne Wanze nackt da. Das ist purer Unsinn. In freiwillig den Dienst verlassen, als aus Altersgründen Wirklichkeit hat die Gesetzgebung der letzten Jahre pensioniert werden, und daß nicht einmal die vorge- ohne exakte Erfolgskontrolle ein kaum noch über- sehenen Planstellen besetzt werden können. Es fehlt schaubares Arsenal geschaffen. Das muß man einmal die Zusammenarbeit der Polizei mit den Behörden im aufzählen: fälschungssicherer Personalausweis — wer kommunalen Bereich. Herr Graf hat das dargestellt. spricht darüber noch? —, Vermummung und passive Die Beratung der Bevölkerung ist unzureichend. Wir Bewaffnung als Straftat, Verschärfung des Tatbe- betreiben im wesentlichen eine Kriminalitätsbekämp- stands Landfriedensbruch, Anhebung zahlreicher fung am Symptom und nicht an der Ursache. Strafdrohungen und besonderer Verfahrensregeln gegen kriminelle Vereinigungen, gesetzliche Rege- (Beifall des Abg. Günter Graf [SPD]) lungen für polizeiliche Kontrolle, Rasterfahndung, Schließlich haben wir viel zu lange gerichtliche verdeckte Ermittler, Zeugenschutz, gesetzliche Re- Verfahren. Wenn das nicht geändert wird, meine geln für das heimliche Abhören des nicht öffentlich verehrten Kollegen, dann können Sie gesetzgeberisch geführten Gesprächs außerhalb von Wohnungen, für beschließen, was Sie wollen: Sie können sich das alles heimliches Fotografieren, für die sogenannte polizei- in die Haare schmieren. liche Beobachtung auch von Kontaktpersonen, der erleichterte Verfall vermuteter krimineller Gewinne, (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) die Einziehung des gesamten Eigentums eines Täters Wenn man die Wanzendiskussion dieser Tage hört, als Vermögensstrafe, die Geldwäsche — merkwürdi- dann kann man sich nur noch an den Kopf fassen. Wie gerweise nicht für die Wirtschaftskriminalität —, das lange soll es die Bevölkerung eigentlich noch hinneh- Gewinnaufspürungsgesetz, Online-Anschlüsse, harte men, daß die eigentlichen Probleme der Kriminali- Regelungen auch für die Ausweisung minderjähriger tätsbekämpfung nicht erkannt und nicht behandelt Ausländer, Polizeihaft unterschiedlicher Dauer, von 4 werden? Wir begrüßen es deshalb, daß die SPD wie bis 14 Tagen — man nennt das Unterbindungsge- zuvor die CDU unsere Thesen wie einen Steinbruch wahrsam —, Telefonkontrollen ohne zwingende ausgeschlachtet haben. Sie haben zahlreiche Forde- nachträgliche Benachrichtigung der Betroffenen, be rungen endlich in Ihre Beschlüsse aufgenommen. Der 16670 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Burkhard Hirsch Unterschied, meine sehr verehrten Kollegen, liegt im Nur die Art, wie jetzt der Abschied organisiert wird wesentlichen in dem Punkt, daß Sie beide in fast allen — in Wahrheit, wenn wir es uns genau ansehen — und Ländern den Innenminister stellen und diese Pro- nur in einem einzigen Bereich eben nicht, nämlich bei bleme längst hätten lösen können, weil sie außerhalb den Mitteln für die Vertriebenen, die zum Teil zur Zeit der Gesetzgebung und zu einem erheblichen Teil im ungeheuerliche Sachen in ihren Publikationen gegen finanziellen Bereich liegen. Die Innenminister können den inneren Frieden schreiben, dann — — nicht andauernd neue Gesetze fordern, solange sie sich von ihren Finanzministern daran hindern lassen, die Mindestvoraussetzungen für eine wirksame prak- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Duve, tische Polizeiarbeit wieder herzustellen. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Deres? Innere Sicherheit kostet Geld. Das müssen Sie, das müssen wir den Bürgern sagen. Das gemeinsame Ziel der inneren Sicherheit darf uns nicht entzweien, sollte Freimut Duve (SPD): Aber selbstverständlich, Herr uns einigen. Darum appellieren wir an Sie, allmählich Deres. Nachdem Sie vorhin so interessiert an meiner mit dem ständigen Herumfummeln an der Gesetzge- Frage waren, bin ich natürlich jetzt auch sehr an Ihrer bungsschraube aufzuhören und sich den praktischen Frage interessiert. Aufgaben der Polizei zu widmen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Karl Deres (CDU/CSU): Herr Kollege Duve, können ten der SPD) Sie sich daran erinnern, daß bei den vier Fonds, von - denen Sie eben gesprochen haben, der Fondsbildung Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege im ersten Jahr eine massive Erhöhung der Ansätze für Freimut Duve. diese Fonds vorausgegangen war? Das war nämlich der Grund, weiter über diese Fondsbildung, wie sie der Stiftung „Lesen" gemacht wurde, nachzuden- Freimut Duve (SPD): In kaum einer Haushaltsde- ken. batte, Herr Präsident, meine Damen und Herren, ist so häufig von der Frage des Wertes in unserer Gesell- schaft und der Überzeugung der Menschen gegen- Freimut Duve (SPD): Herr Deres, ich bin ein Freund über den tradierten Werten gesprochen worden wie Ihrer Idee. Ich halte das für eine richtige Idee, aber die heute. Es ist von fast jedem Redner angesprochen kann man nicht damit organisieren, indem man den worden. Es ist zugleich der Tag — jedenfalls für Leuten Jahr um Jahr aus ihrer Arbeit Geld wegnimmt mich —, an dem sich der Bund aus einem ganz und sagt, in 20 Jahren seid ihr selbständig. wesentlichen Gebiet im Grundsatz verabschiedet. Das Jetzt noch eine Bemerkung zu dem eigentlichen ist die genuine Bundesverantwortung für kulturpoli- Abschied, den wir heute nicht feiern, sondern betrau- tische Impulse. ern, nämlich dem Abschied aus der Verantwortung (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist doch nicht aus dem Einigungsvertrag. Das ist zu Ende. Wir haben wahr, Herr Kollege!) hier eine Art von öffentlicher — ich habe mich persönlich sehr dafür eingesetzt seit September Das ist der Abschied. 1989 — gemeinsamer Koalition aller Parteien im Herr Waigel hat in der „Frankfurter Allgemeinen Deutschen Bundestag für diese Aufgabe organisiert. Zeitung" programmatisch den Innenminister desa- Sie hat enorm positiv gewirkt. Niemand von uns war vouiert, den Bundeskanzler desavouiert, mit keinem damals, im Januar 1990, sicher, was aus den Kultur- seiner Kollegen vorher gesprochen und sich auf eine einrichtungen jener alten, gar nicht neuen, Kulturzen- angebliche verfassungsrechtliche Unmöglichkeit des tren der Deutschen in Mitteleuropa werden könnte, Bundes bezogen, solche Aufgaben wahrzunehmen, welchen Bedrohungen sie ausgesetzt sein könnten. die in den letzten 20 Jahren entwickelt worden Wir haben uns zusammengesetzt — alle Fraktionen — sind. und haben etwas zustande bekommen, zunächst ein- Herr Deres hat heute noch einmal gesagt, diese mal im Programm, und haben dann auch Druck auf Fondsgeschichte muß im Grunde genommen anders das Innenministerium ausgeübt. Große Leistungen gemacht werden. Herr Deres, Ihr Programm mit den — ich will Herrn von Köckwitz und Herrn Hieronymus Fonds — so wie Sie es machen: dem Fonds jedes hier ausdrücklich erwähnen — sind von einer ganz Jahr 25 % wegzunehmen und überhaupt nichts dazu- kleinen Schar von Beamten in einer Art von Aufgabe zugeben und zu sagen, diese 25 % sind die Stockbil- erbracht worden, die es in dieser Form für die Deut- dung —, bedeutet doch bei einem Fonds, daß er in schen noch nie gegeben hatte. 36 Jahren Kapital haben wird. Das heißt, eine perma- Nun kennen wir die Vorlage des Innenministeriums nente Reduzierung einer Verantwortung für genau aus dem Sommer, wo man sagte: Wir müssen weiter- jene Impulse — ich komme gleich auf den Osten zu machen, es geht sonst kaputt, es gehen dann sogar sprechen —, die aus der Frage der inneren Sicherheit Teile dessen kaputt, was wir bisher finanziert haben. die Aufgabe des inneren Friedens in der politischen Und der Herr Finanzminister macht sich zum Bundes- Kultur unseres Landes machen können. Das gehört kultur- oder Bundesunkulturminister und gibt eine dazu. Ich fand es manchmal nicht angemessen, daß im Erklärung ab, indem er sagt: Schluß! kw — Kultur Innenministerium Kultur und innere Sicherheit in weg. Und jetzt hat man diese Sache gefunden, aus einem Haus sind, aber man kann auch mit guten diesem Topf das Geld zu nehmen, das man noch nicht Argumenten — wir haben das hier manchmal einmal sicher hat und von dem man nicht weiß, ob m an gemacht — dafür sprechen und sagen, das ist sinnvoll. es bekommen wird. Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16671

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Duve — — gehalten, was in der Regierungsvorlage steht, sondern einiges sogar aufstocken können. Freimut Duve (SPD): Meine Redezeit ist zu Ende. Ein weiterer Punkt, der von uns deutlich gemacht (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Macht worden ist, ist, daß wichtige Strukturen des erweiter- nichts! Weiterreden lassen! Das ist so ten Katastrophenschutzes auch für Ostdeutschland schwach!) konsequent aufgebaut werden. — Ja, ja, wenn Sie noch einmal „schnattern" zu mir (Beifall bei der CDU/CSU) sagen, was meinen Sie, wie ich mit Ihrer Redeform und Auf diesem Hintergrund begrüße ich es natürlich, Ihrer wunderbaren Rhetorik dann counterrhetorisch daß es sogar gelungen ist, im Personalbereich das umgehe, mein lieber Marschewski. Minimum des Notwendigen — etwa für das Techni-

sche Hilfswerk — für Ostdeutschland möglich zu Vizepräsident Hans Klein: Aber von jetzt an wieder machen, auch mit der Mithilfe des Ministeriums und vom Platz aus! des nachgeordneten Bereichs des Bundesamtes für Zivilschutz, indem wir dort viele überflüssig gewor- Freimut Duve (SPD): Ich komme zum Schluß. dene Stellen zusammengefaßt oder auch gestrichen Es ist ein trauriger Abschied. Es ist anscheinend ein haben, aber — ich glaube — 34 neue Stellen zum endgültiger, wenn wir nicht nächstes Jahr die Regie- weiteren Aufbau des THW in Ostdeutschland bereit- rung übernehmen, was wir dann ja wahrscheinlich tun gestellt haben. Die gesperrten Stellen für das THW werden. Aber ich finde, daß die Bundesregierung hier werden wir natürlich sofort entsperren, wenn das ein außerordentlich schlechtes Bild abgegeben hat. Katastrophenschutzkonzept vorliegt. Deswegen auch Die Folgen werden in den neuen Ländern dramatisch in diesem Zusammenhang meine herzliche Bitte, zu spüren sein. dieser Ihrer Zusage mit der erwarteten und zugesag- Ich danke für die Aufmerksamkeit. ten Pünktlichkeit nachzukommen. (Beifall bei der SPD) Ich will noch abschließend zwei oder drei weitere Gedanken äußern. Vizepräsident Hans Klein: Kollege Dr. Klaus-Dieter Jede vernünftige Konzeption des Zivilschutzes muß Uelhoff, Sie haben das Wort. die Elemente Warnen, Schützen und Retten als Kern der Aufgaben ansehen. Leider gibt es auch heute noch Dr. Klaus-Dieter Uelhoff (CDU/CSU): Herr Präsi- so gut wie keine zuverlässigen Grunddaten, mit deren dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Von Hilfe sich der notwendige Umfang von Zivilschutz- den vermeintlichen Höhen der Kultur darf ich Sie für maßnahmen exakt berechnen läßt. einen Moment in die auch vermeintlichen Niederun- Beim System des Warndienstes wird eine Organisa- gen des erweiterten Katastrophenschutzes und des tion vorgehalten, die besonders starken Veränderun- Einzelplans 36 zurückholen. gen unterworfen ist. Die Aufgaben der Warnämter Herr Minister, wir sind froh über Ihre Zusage, die Sie müssen vor dem Hintergrund der nachgelassenen den Berichterstattern im Haushaltsausschuß gegeben militärischen Bedrohung neu definiert und, wie ich haben, daß das Zivilschutzkonzept nun bald vorge- meine, auf eine verringerte Zahl von Mitarbeitern legt wird. Wir erwarten es bis zum Jahresende, damit zugeschnitten werden. Da sich auch in Zukunft wir manches, was wir zum Einzelplan 36 beraten, Gefahrenlagen in ihren Auswirkungen nicht auf enge beschlossen und dann zum Teil auch gesperrt haben, Räume beschränken lassen, ist ein System der Daten- freigeben können. Denn der erweiterte Katastrophen- sammlung und -auswertung über Landesgrenzen hin- schutz ist auch in einer Zeit der Reduzierung der aus auch künftig unverzichtbar. Die Erfassung radio- konkreten Gefährdung, einer vermeintlichen Nicht- aktiver Strahlung für den Bundesumweltminister gefahr, immer von Bedeutung, wenn eben eine solche durch die Warnämter stellt, wie ich meine, eine Situation eintritt. sinnvolle friedensmäßige Nutzung der für den Vertei- Es ist wirklich an der Zeit, daß nicht der Rotstift des digungsfall ausgelegten Organisation dar. Aber Finanzministers — bei minus 13 % ist der Einzel- sowohl die technische als auch die personelle Ausstat- plan 36 der am meisten gebeutelte und reduzierte in tung ist hier zu überprüfen. diesem Haushalt — das Zivilschutzkonzept vorgibt, sondern daß der Sachverstand des Innenministeriums Vizepräsident Hans Klein: Darf ich Sie einen die Richtschnur für ein Zivilschutzkonzept, das sich Moment unterbrechen? den veränderten Gefährdungssituationen anpaßt, gibt. Dr. Klaus-Dieter Uelhoff (CDU/CSU): Bitte schön. Ich bin dennoch sehr froh, daß wir sagen können: Wir haben in zwei wichtigen Punkten deutlich gemacht, wo wir auch in der Zukunft wesentliche Vizepräsident Hans Klein: Daß in einem Plenum Aufgaben des erweiterten Katastrophenschutzes leise Gespräche geführt werden, das ist alles normal. sehen, nämlich einmal für den Bereich der ehrenamt- Ich finde es aber auch zu später Stunde nicht gut, lich Tätigen. Wir glauben in der Tat, daß diese — ob wenn die Kollegen Gespräche so führen, daß sie viele das das Technische Hilfswerk, der BVS, die Warnäm- Minuten lang dem Redner den Rücken zukehren. — ter oder, nicht zu vergessen, die Sanitätsorganisatio- Fahren Sie bitte fort. nen sind — auch künftig wesentliche Aufgaben im (Zurufe von der SPD: Aber wer macht denn so erweiterten Katastrophenschutz leisten können. Des- etwas? — Sie haben in die falsche Richtung halb haben wir in diesen Punkten nicht nur das gezeigt, Herr Vizepräsident!) 16672 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Dr. Klaus-Dieter Uelhoff (CDU/CSU): Danke schön, Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Klaus Loh- Herr Präsident. mann, Sie haben das Wo rt. Ich bitte den Bundesminister des Inneren zu prüfen — ich komme jetzt zu einem anderen Problem —, in Klaus Lohmann (Witten) (SPD): Herr Präsident! welchen Bereichen der Katastrophenschutz - Zentral- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ähnlich werkstätten Einsparungen vorgenommen werden dramatisch wie im Kulturbereich stellt sich die Situa- können und welche Bereiche möglicherweise unver- tion im Sportbereich dar. Vor genau einem Jahr hat zichtbar sind. Eine derartige Umstrukturierung muß der Deutsche Sportbund in Berlin den „Goldenen Plan natürlich sozialverträglich sein. Kündigungen sollten Ost" des Sportstättenbaus der Öffentlichkeit vorge- vermieden werden. Aus diesem Grunde begrüße ich stellt und die Bundesregierung und den Bund aufge- allerdings die Stellenbesetzungssperre, die das Mini- fordert, sich an diesem großen Aufbauwerk des Spo rts sterium aus eigener Initiative in diesem Zusammen- zur Beseitigung der Kriegsfolgeschäden und zur hang verfügt hat. In jedem Fall müssen die Mittel für Angleichung der Lebensverhältnisse im vereinigten die Wartung und Instandsetzung der Fahrzeuge und Deutschland, ähnlich wie im Bereich der Kultur, zu ihrer Ausstattung an anderer Stelle bereitgestellt beteiligen. werden, damit auch künftig eine ordnungsgemäße Was ist in diesem Jahr geschehen? Der Bund wei- Wartung möglich ist. Ich erwarte allerdings vom gert sich nach wie vor, an dieser zukunftsorientierten Ministerium, daß es in dem geforderten Bericht dar- und damit arbeitsplatzschaffenden Aufgabe mitzu- legt, wie die angestrebte Umstrukturierung durchge- wirken. Die SPD-Bundestagsfraktion hat daher in der führt werden soll. vergangenen Woche eine Große Anfrage zum „Gol- Die Katastrophenschutzschulen, die ja Gegenstand denen Plan Ost" eingebracht. Wir machen noch ein- eines z. T. erregten Briefverkehrs mit einigen Länder- mal auf die eigentlichen Ideen und Ziele dieses ministerien gewesen sind, halte ich in der bisherigen Sportstättenprojekts aufmerksam: Sportstätten als Form für nicht mehr notwendig. Auch hier sind Standortfaktor, Sportstättenbau als arbeitsmarktpoli- strukturelle Überlegungen geboten, und der Bund tische Maßnahme, Sportstätten als Voraussetzung für sollte prüfen, ob er die Ausbildung gegebenenfalls in den Aufbau von Vereinen und als wichtiger Beitrag eigener Regie übernehmen will. Er sollte prüfen, für den sozialen Frieden in den fünf neuen Bundes- ländern. inwieweit der Kreis der Auszubildenden auch an der hervorragend funktionierenden und in ihrem Bestand (Zuruf von der CDU/CSU: Sechs!) sicherlich unstrittigen Katastrophenschutzschule des Die Bestandszahlen des Deutschen Sportbundes für Bundes in Ahrweiler übernommen werden kann. Er die desolate Lage in den neuen Ländern werden von sollte ferner ebenfalls prüfen, ob nicht z. B. die Lan- keiner Seite angezweifelt. Die Notwendigkeit der desfeuerwehrschulen in der Lage sind, die erforderli- Maßnahme ist unzweifelhaft. Auch der Bundespräsi- chen Ausbildungskapazitäten zur Verfügung zu stel- dent hat sich in den letzten Tagen erneut für den len. Auch hier erwarten wir im Haushaltsausschuß, „Goldenen Plan Ost" ausgesprochen, nur die Bundes- daß uns in dem angekündigten Bericht eindeutige regierung bleibt bei ihrer sturen Absage. Aussagen, die mit den Ländern abgestimmt sind, Es war ein Fortschritt, den Sport in die Verwaltungs- vorgelegt werden. vereinbarung des FKP aufzunehmen. Für das Jahr Schließlich und endlich bei der Luftrettung halte ich 1994 stellt der Bund nach dem gegenwärtigen Haus- es für ausgeschlossen, daß sich der Bund von heute auf haltsansatz aber keinerlei zusätzliche Investitionsför- morgen aus dieser Aufgabe zurückzieht. Der Bund dermittel für den Sport in den neuen Ländern zur kann allerdings —ich ermuntere ihn geradezu dazu — Verfügung. mit den Ländern oder auch mit p rivaten Betreibern (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wo sollen wir das Vereinbarungen schließen, damit die notwendige hernehmen?) Aufgabe der Luftrettung von anderen, aber in dersel- — Herr Purps hat Ihnen vorgerechnet, wo wir es ben qualifizierten Weise übernommen wird. Bis dahin hernehmen können, selbstverständlich, ganz klar. sind jedoch in der mittelfristigen Finanzplanung aus- reichende Mittel vorzusehen, um das bewährte Gegenteilige Aussagen des Bundesinnenministers System der Luftrettung zu sichern. haben sich als Vorspiegelung falscher Tatsachen erwiesen. Ich gehe davon aus, meine Damen und Herren, daß Die SPD hat seit der Vereinigung Deutschlands in die notwendige Umstellung des Zivilschutzes in den allen Haushalten Mittel für den Sportstättenbau, nächsten Jahren große Anstrengungen von allen insbesondere für die überfällige Sanierung und Siche- Beteiligten erfordert. Sowohl die Planung als auch die rung von Sportstätten in den neuen Ländern, gefor- Durchführung werden dabei Zeit in Anspruch neh- dert. So geschieht das auch für den Haushalt 1994, men. Dabei darf aber das Ziel, nämlich der Schutz der wenn auch nicht in der Größenordnung, wie es vom Bevölkerung in Krisen- und Katastrophensituationen, deutschen Sportbund für notwendig erachtet wird. trotz aller finanziellen Erwägungen nicht aus den Wir sehen aber den Bund in der Pflicht, auf dem Feld Augen verloren werden. des Sportstättenbaus aktiv zu werden, und stellen Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit zu dieser daher für diesen Haushalt den Antrag, 100 Millionen späten Stunde. DM für den Sportstättenbau in den neuen Ländern einzurücken, und bleiben damit in einer Größenord- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie nung, die die sozialdemokratisch geführte Regierung bei Abgeordneten der SPD) ab Ende 1994 umsetzen wird. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16673

Klaus Lohmann (Witten) Diese Bundesregierung trudelt auch im Sportbe- nicht allzusehr mit den wiederkehrenden Behauptun- reich einfallslos vor sich hin, gelähmt und einfach gen zukünftiger Regierungsbildungen, Herr Kollege unsportlich. Purps. Das ist die weiße Salbe, die man sich als (Zuruf von der CDU/CSU) Oppositioneller aufträgt, damit es nicht allzusehr sengt. Davon habe ich 20 Jahre auf dem Buckel. Die Bundesregierung ist weder in der Lage, Konzepte Insofern können Sie noch ein Stück zulegen. Das alles zu entwerfen, neue Strukturierungen vorzuschlagen trägt zur Sache wenig bei. oder vorhandene Einrichtungen einer vernünftigen Bewertung mit dem Ziel von Einsparmaßnahmen zu Einzelne Punkte dessen, was Sie angesprochen unterziehen. Verfangen in dem Trott des „Weiter so" haben, und die eine Antwort verdienen, will ich gern greift niemand die Möglichkeiten der EG-Struktur noch aufnehmen. Für die Regierung ist im Bereich der fonds auf, was um so mehr verwundert, als die Innenpolitik der Sektor „Innere Sicherheit" in dieser Indikatoren in den fünf neuen Ländern zum Teil Zeit der herausragend wichtige. Wir werden wesent- katastrophaler aussehen als z. B. die bestimmter liche Initiativen vorlegen. Das in der Koalition bera- Regionen südeuropäischer EG-Staaten. tene Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 wird dazu Hier ist niemand innovativ und schöpft z. B. die die wichtigste sein und in vielen Jahren das bedeu- EG-Möglichkeiten im Bereich der Fremdenverkehrs- tendste Gesetzgebungswerk auf diesem Sektor, mit förderung für den Sport aus. Mehr noch: Durch die schnelleren Strafverfahren, verbessertem Haftrecht, Untätigkeit und den Lähmungszustand dieser Regie- mit Vorschriften zur Bekämpfung von Rechtsradika- rung wird vermutlich sogar die einstimmig von allen len, von Schleppern, mit einer im Bereich der organi- - 16 Bundesländern eingebrachte Initiative zur Be- sierten Kriminalität wichtigen Kronzeugenregelung standsicherung von innerstädtischen Sportplätzen der und mit an mehreren Punkten modernem Einsatz Diskontinuität anheimfallen. technischer Mittel im Bereich der Verbrechensbe- Seit zwei Jahren bewegt sich wenig auf diesem kämpfung. wichtigen Feld des Sports, werden sich Innen- und Es ist kein Zweifel, daß in der Koalition die Frage Umweltminister nicht einig. Ich erwähne das, um zu des Abhörens von Gangsterwohnungen als Mittel der zeigen, daß selbst dort, wo es nichts kostet, die Polizei streitig ist. Wir werden uns darüber weiter Regierung nicht handelt. unterhalten. Im Vorfeld des Haushalts 1993 gab es ein unwürdi- ges Spiel von angekündigten Kürzungen, Rücknah- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Unterhalten?) men der Kürzungen, Versprechungen und erneuten Ich teile nicht die Meinung, daß dem mit dem Beg riff Sperren. Dieses Spiel scheint sich 1994 zu wiederho- „Wanze", lieber Herr Hirsch, hinreichend Rechnung len. getragen wird. Der Finanzminister hat allen Ressorts eine 10 %ige Minderausgabe auferlegt. Wenn diese 10 %ige Kür- (Beifall bei der CDU/CSU) zung im Sport voll durchgezogen wird, wären das Es geht nicht um „Wanze gegen Bürger". Es geht um insgesamt 16 Millionen DM. Minister Kanther hat den Sportführern Hansen und Tröger dagegen nur ein elektronische Überwachung von Gangstern. Das ist Einsparvolumen von 12 Millionen DM genannt. Wie ein Unterschied. er auf diese Zahl kommt, weiß nicht einmal seine (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Fachabteilung im Innenministerium. Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD] — Dr. Burk- Wieder klafft eine Lücke zwischen den Vorgaben hard Hirsch [F.D.P.]: Sie sprechen von Men- des Finanzministers und den Aussagen des Innenmi- schen!) nisters. — Ja, natürlich sind Gangster auch Menschen, und deshalb werden die Gespräche von Menschen über- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lohmann, Ihre Redezeit ist abgelaufen. wacht. Kein Zweifel. Aber es sind eben schlechte Menschen, gegen die sich die Rechtsordnung wehren muß, (Witten) (SPD): Im Ruhrrevier ist Klaus Lohmann (Beifall bei der CDU/CSU) man fußballverrückt, Fußballkenner und notgedrun- gen manchmal auch Abstiegsexperte. Der Zustand und das tut sie mit den angemessenen Mitteln, und ich dieser Regierung ist so desolat, daß ein Trainerwech- überhöhe dies nicht, sondern ich sage: Ich kann sel nicht mehr ausreicht. Die ganze Mannschaft muß meinen Mitbürgern schlecht erklären, warum eine ausgewechselt werden. mögliche Maßnahme mit einem nützlichen Effekt (Beifall bei der SPD — Ina Albowitz [F.D.P.]: unterbleiben soll, wenn dies nicht anders als doktrinär Das war Abseits, Herr Kollege! Vom Fußball erklärt wird. Das kann ich schlecht erklären. verstehe ich auch etwas!) Aber ich kann umgekehrt sagen: Wenn ich z. B. nur dieses hätte, nur die Möglichkeit zum polizeilichen Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem Abhören von Gangsterwohnungen, dann wäre damit Bundesminister des Innern, Manfred Kanther. ja wohl nicht die innere Sicherheit gewährleistet; also bitte eine — relativ gesehen — wichtige Maß- Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: Herr nahme, Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist spät. Ich lasse das Manuskript und auch allzu grundsätzliche (Ina Albowitz [F.D.P.]: Aber nicht die wich- Erörterungen beiseite. Ich beschäftige mich auch tigste!) 16674 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Bundesminister Manfred Kanther aber doch bitte nicht der Königsweg in der Verbre- Etwas anderes ist es, wie Sie es pauschal tun, die chensbekämpfung. Dienstverhältnisse beim BGS ohne weiteres mit denen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU bei der Länderpolizei kurzzuschalten und zu sagen: sowie der Abg. Ina Albowitz [F.D.P.]) Da muß die gleiche Quote im gehobenen Dienst her. Das entspricht nicht den unterschiedlichen Aufgaben- Deshalb ein bißchen „down" mit den großen Sprü- stellungen im unterschiedlichen Polizeieinsatz. chen. (Günter Graf [SPD]: Das ist ein Bundesge- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Sehr gut!) setz!) Zur Sicherheit gehört Grenzsicherheit. Das ist ein — Natürlich. Annäherung sollte es hingegen sehr ganz wichtiger Punkt. Das ist ein wesentlicher Aspekt wohl geben, weil wir vermeiden müssen, daß gute der Durchführung des Asylkompromisses, der ja zwei BGS-Beamte, mühsam ausgebildet, zur Länderpolizei Seiten hat: die erfreuliche, die Herr Marschewski mit besseren Karriereaussichten abwandern; da sind soeben nannte, mit etwa der Halbierung der Zahl der wir dran. Zuzüge von unberechtigten Asylbewerbern. Wir Sie haben von Vergoldungsrichtlinien für haben aber eben auch immer noch die Tatsache zu Beamte verzeichnen, daß etwa 16 000 pro Monat ins Land gesprochen. Hier wurde schon gesagt, wie fehlerhaft kommen, von denen ganz, ganz wenige berechtigt es ist, hinter Beamten zur Hatz zu blasen. Das spüre ich unsere Grenzen übertreten. Deshalb ist Grenzsicher- aus solchen Bemerkungen. Das empfinde ich, lieber Herr Purps, als unangemessen. Vor allem ist es heit, zumal sich manches in der Problematik auch in - unangemessen, daraus dem amtierenden Minister die Kriminalität hinein verlängert, eine ganz wichtige einen Vorwurf machen zu wollen. Denn ich habe das, Sache. was für mich schräg in der Landschaft lag, als Arbeits- Deshalb ist jede Polemik, die sich dagegen wendet, entwurf kassiert. Ich habe doch gar keine Schwierig- Grenzsicherheit in Zeiten, in denen die Stellen beim keiten zuzugeben, daß, wenn so etwas geschieht, klar BGS noch nicht besetzt sind — durch Amtshilfe von gehandelt werden muß. In riesigen Verwaltungen Bundeswehrsoldaten in Uniform des BGS, in der kommt gelegentlich auch etwas ans Licht des Tages, Verantwortung des BGS; ohne Zugriffskompetenz, was besser nicht dorthin gekommen wäre. Dann ist es die nur BGS-Leute haben —, zu verbessern, fehl am die Aufgabe des Chefs der Verwaltung, es aus dem Platze. Verkehr zu ziehen und klarzumachen, daß anders Ich habe auch keinen einzigen Grund von Ihnen gedacht werden soll. Genau das, was Sie forde rn, ist gehört, warum das in der Sache schlecht sein soll. Ich geschehen. weiß nicht, welche Reminiszenzen Sie damit verbin- Sie sagen, an Gehältern wird der Staat zugrunde den, wenn die demokratischen Söhne der demokrati- gehen. Ich kann mit dieser Bemerkung allgemein schen Armee, zeitlich begrenzt, weil eine wichtige zunächst nichts anfangen. Ich frage daher zurück: Wo Aufgabe sich stellt, diese wahrnehmen. Wo sind da die sind denn die Bedenken der Sozialdemokraten gewe- Bedenken? sen, als sie den öffentlichen Dienst aus Gründen der (Freimut Duve [SPD]: Ein bißchen Ge Arbeitsmarktpolitik wie Sauerbier als Arbeitskräfte- schichtskenntnis wäre vielleicht ganz gut!) reservoir angeboten haben? Wo sind sie gewesen, als es um die Frage der Arbeitszeitverkürzung ging, die Polemik hilft nicht weiter, wenn Grenzsicherheit im öffentlichen Dienst in vielen Bereichen, vor allem gewährleistet sein muß. Die notwendige Zahl von in den Ländern, massenhaft Personal geschluckt hat? Polizisten ist jetzt noch nicht da. Da waren Sie doch an der Spitze der Fordernden. Zur Sicherheit gehört das Zusammenwirken von Machen Sie es sich bitte nicht so einfach. Bund und Ländern — hier richtig angesprochen —; Mit Versetzungsorgien beim Bundeskriminalamt mit nahezu allen Punkten, die Sie, Herr Hirsch, — wenn ich Sie recht verstanden habe — können Sie genannt haben, bin ich völlig einverstanden. Wir bei mir nicht landen, auch wenn es im Falle Bad werden ab morgen auf der Innenministerkonferenz Kleinen durchaus Mängel in der Arbeit gegeben hat. das Sicherheitsprogramm von 1974 in fortgeschriebe- Versetzungsorgien sind etwas Unsachliches, kommen ner Fassung weiter beraten. Auch die Länder geben aus dem Bauch. Die Dienstvorgesetzten von großen sich große Mühe in allen Fragen der inneren Sicher- Verwaltungen haben nicht aus dem Bauch, sondern heit. Die Ausbildungsstellen bei der Polizei können aus dem Kopf zu reagieren. jetzt wieder besetzt werden. Das ist ein erfreulicher Zustand gegenüber manchen früheren Jahren. Aber (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) natürlich müssen die jungen Polizeibeamten erst Wir haben nicht vor, die Bereitschaftspolizei aufzu- durch die Laufbahn wachsen, ehe sie wirklich voll kündigen, ich nicht, ich halte sie für ein notwendiges einsatzfähig sein werden. Instrument von Bund und Ländern. Wir haben in diesem Haushalt sehr viel für das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) getan, was dem Bund obliegt, sowohl beim BKA wie beim Bundesgrenzschutz. Wir haben gerade das, Herr Aber in Zeiten, in denen gespart werden muß, muß es Purps, was Sie gerügt haben — im Bundesgrenzschutz auch einmal möglich sein, an der Ausrüstung der nicht genügend Anreiz zu geben —, sehr ausdrücklich Bereitschaftspolizei zu sparen. Solange dies mit Maß getan: Wir haben 500 Stellen vorn mittleren in den und Ziel geschieht, ist dies mitzutragen. gehobenen Dienst gebracht. Es gibt 480 Beförderun- Ich sagte schon, daß wir in der glücklichen Situation gen von A 7 nach A 8. Das sind alles Schritte auf dem sind, beim Bundesgrenzschutz etwa 1995 wahrschein- Weg zur Strukturverbesserung beim BGS. lich alle Stellen besetzt zu haben, weil sich die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16675

Bundesminister Manfred Kanther nachwachsende Generation jetzt wieder für den Poli- Den Einrichtungen, den Orchestern und den Heimat- zeidienst zur Verfügung stellt. museen, die dieses Geld bekommen, ist es ganz egal, ob es aus diesem Haushalt oder aus dem SED- Ich komme zu einem Aspekt, über den wir uns im Parteivermögen kommt. Sie werden es für 1994 Ausschuß doch sehr sachlich unterhalten haben, Herr haben. Purps. Es geht um die Frage, ob die Auftragsvergabe (Beifall bei der CDU/CSU) in Rußland durch VDA in jeder Weise in Ordnung oder kritikbedürftig ist. Aber Sie werden mir doch zuge- Ich schließe mit dem Dank an Haushaltsausschuß ben, daß ich nicht auf Grund von Indiskretionen aus und Innenausschuß, auch was Verständnis dafür Berichten, zu denen die Regierung noch nicht Stel- angeht, daß es ein paar Fragen gibt, die von einem lung genommen hat, bereits Schlüsse ziehe. Aber ich neuen Minister nicht gleich beantwortet werden kön- habe ein übriges getan. Ich habe dafür gesorgt, daß nen. Ich schließe mit besonderem Dank an die Bericht- die Verwendungsnachweise im Bundesverwaltungs- erstatter und Herrn Kollegen Deres, dessen wohltu- amt und nicht im Ministerium geprüft werden. Sie ende Sachlichkeit und völlige Beschlagenheit in allen werden selbstverständlich einen ordentlichen Be richt Fragen dieses Haushalts ich dankbar kennengelernt im Haushaltsausschuß bekommen. Mich jedenfalls habe. verkennen Sie völlig, wenn Sie glauben, daß ich nicht als erster daran interessiert wäre, zu erfahren, wenn in Vielen Dank. der Verwaltung etwas nicht funktioniert. Ich bin nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dazu da, falls sich irgendwo in einer Verwaltung - schlechte Verhältnisse zeigen, es zuzudecken, son- dern ich bin dazu da, es aufzugreifen und zu ändern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Rudolf Purps [SPD]) Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- Aber ich bin nicht dazu da, mit Verdächten auf der che. Basis von Indiskretionen umzugehen. Das werde ich nicht tun. Wir kommen zur Abstimmung über Einzelplan 06, Bundesministerium des Innern. Dazu liegen zwei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Änderungsanträge der Abgeordneten Ingrid Köppe Freimut Duve [SPD]: Es geht manchmal nur vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für mit Indiskretionen! Die Diskretion führt mei Drucksache 12/6215? — Gegenprobe? — Der Ände- stens zum Verdecken!) rungsantrag ist abgelehnt. — Bei mir geht es schlecht mit Indiskretionen. Ich Wer stimmt für Drucksache 12/6216? — Gegen- lerne in diesen ersten Bonner Tagen, daß das ein ganz probe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist erbärmliches Mittel der Politik ist. Das ist meine ebenfalls abgelehnt. Meinung zu Indiskretionen aus den Verwaltungen. Wer stimmt für den Einzelplan 06 in der Ausschuß- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fassung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich Ich komme zu einem Bereich, in dem Sie mit Recht der Stimme? — Einzelplan 06 ist angenommen. Handlungsbedarf geltend machen. Wir stimmen über Einzelplan 33, Versorgung, in der Ausschußfassung ab. Wer stimmt dafür? —Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Einzel- plan 33 ist angenommen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, ich bin wieder in dieser komplizierten Situation. Sie Wir kommen zum Einzelplan 36, Zivile Verteidi- haben als Regierungsmitglied natürlich jederzeit gung. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Abgeord- Rederecht. Aber es gibt eine Verabredung unter den neten Ingrid Köppe auf Drucksache 12/6214 vor, über Fraktionen. Nach der wäre Ihre Redezeit jetzt abge- den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Ände- laufen. Wenn Sie darüber hinausgehen, kann die rungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält Opposition dann eine Verlängerung der Debatte sich seiner Stimme? — Der Änderungsantrag ist abge- beantragen. lehnt. (Freimut Duve [SPD]: Une minute!) Wer stimmt für den Einzelplan 36 in der Ausschuß- fassung? — Die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einzelplan 36 ist angenommen. Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: Des- liegen nicht vor. halb werde ich mich begrenzen. Ich kann dem Kolle- gen Purps und den Sprechern der Opposition und der Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Regierungskoalition nur recht geben: Im Bereich destages auf morgen, Donnerstag, den 25. November Zivilschutz, Katastrophenschutz besteht Handlungs- 1993, 9 Uhr ein. bedarf. Darum sind wir sehr bemüht. Die Sitzung ist geschlossen. In der Kulturpolitik für die östlichen Bundesländer werden wir 250 Millionen DM zur Verfügung stellen. (Schluß der Sitzung: 23.16 Uhr)

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16677*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Wollenberger, Vera BÜNDNIS 24. 11. 93 entschuldigt bis 90/DIE Abgeordnete(r) einschließlich GRÜNEN Augustin, Anneliese CDU/CSU 24. 11. 93 Zierer, Benno CDU/CSU 24. 11. 93* SPD 24. 11. 93 * Blunck (Uetersen), * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Lieselott lung des Europarates Böhm (Melsungen), CDU/CSU 24. 11. 93 * ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Wilfried Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 24. 11. 93 Clemens, Joachim CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 24. 11. 93 Anlage 2 Herta Ehrbar, Udo CDU/CSU 24. 11. 93 Zu Protokoll gegebene Rede Ganschow, Jörg F.D.P. 24. 11. 93 zu Tagesordnungspunkt I 12: Einzelplan 05 Auswärtiges Amt Gleicke, Iris SPD 24. 11. 93 Dr. Göhner, Reinhard CDU/CSU 24. 11. 93 Großmann, Achim SPD 24. 11. 93 Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Mit besonders gemisch- ten Gefühlen stehe ich jetzt am Rednerpult. Denn Dr. Herr, Norbe rt CDU/CSU 24. 11. 93 während wir hier im Warmen und in Sicherheit hehre Heyenn, Günther SPD 24. 11. 93 Außenpolitik formulieren, frieren und sterben weitere Hiller (Lübeck), Reinhold SPD 24. 11. 93 Hunderte und Tausende von Menschen in Bosnien. Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 24. 11. 93 Die Welt schaut zu, Europa schaut zu, Deutschland Jung (Düsseldorf), Volker SPD 24. 11. 93 schaut zu. Eine erfolgversprechende außenpolitische Junghanns, Ulrich CDU/CSU 24. 11. 93 Initiative gibt es nicht. Klaus Bressers Anklage vorge- Kiechle, Ignaz CDU/CSU 24. 11. 93 stern abend im deutschen Fernsehen ist zweifellos berechtigt. Seine Schlußfolgerungen einer einzigen Dr. Kolb, Heinrich L. F.D.P. 24. 11. 93 Lösung, nämlich eines militärischen Einsatzes, ver- CDU/CSU 24. 11. 93 Kraus, Rudolf steht jeder, man schreckt aber davor zurück. Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 24. 11. 93 Günther In einem neuen Buch von H ans-Peter Schwartz wird Kretkowski, Volkmar SPD 24. 11. 93 der fehlende Mut, der fehlende Wille der Deutschen zur Machtpolitik moniert. Deutschland sei zwar schon Kronberg, Heinz-Jürgen CDU/CSU 24. 11. 93 lange ein wirtschaftlicher Riese mit automatischer Dr. Matterne, Dietmar SPD 24. 11. 93 Macht. Aber mit der Rolle des politischen Zwergs Dr. Müller, Günther CDU/CSU 24. 11. 93 ** müsse es ein Ende haben. Weltmacht wider Willen Dr. Ortleb, Rainer F.D.P. 24. 11. 93 könne man auf Dauer nicht sein, der politische Gestal- Dr. Probst, Albert CDU/CSU 24. 11. 93 * tungswille müsse dazukommen. Rappe (Hildesheim), SPD 24. 11. 93 Ich höre jetzt natürlich den Aufschrei, daß die Hermann Deutschen wieder von einer großen Rolle in der Dr. Röhl, Klaus F.D.P. 24. 11. 93 Weltpolitik träumten. Nein, darum geht es nicht, Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 24. 11. 93 zumindest nicht um eine Alleinträumerei der Deut- Ingrid schen. In der Weltgemeinschaft, in der Europäischen Dr. Ruck, Christian CDU/CSU 24. 11. 93 Gemeinschaft und in manchen internationalen Gre- Schartz (Trier), Günther CDU/CSU 24. 11. 93 mien muß Deutschland seiner Bedeutung gerecht werden. Diese Bedeutung ist nach der Wiedervereini- Dr. Scheer, Hermann SPD 24. 11. 93 * gung naturgemäß anders als früher. Diese Neubewer- Schmidt (Salzgitter), SPD 24. 11. 93 tung deutscher Außenpolitik, diese Umorientierung Wilhelm muß jetzt endlich in der Praxis geschafft werden. Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 24. 11. 93 Deutschland muß sich sowieso darüber klar werden, Schröter, Karl-Heinz SPD 24. 11. 93 daß die Welt sich weiterdreht und daß wir sehr schnell Schwanhold, Ernst SPD 24. 11. 93 vom Rad geschleudert werden können. Bei der Ein- Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 24. 11. 93 bringungsrede des Haushalts im September 1993 Christian habe ich die Bedeutung einer deutschen Asienpolitik Dr. Soell, Hartmut SPD 24. 11. 93** herausgestrichen. Ich freue mich deshalb über den Spilker, Karl-Heinz CDU/CSU 24. 11. 93 Erfolg der Kanzlerreise nach China. Dr. von Teichman, F.D.P. 24. 11. 93 Über eines darf der Blick nach Asien nicht hinweg- Cornelia täuschen: Europa ist in großer Gefahr. Die Gefahr wird Vosen, Josef SPD 24. 11. 93 beim Blick auf die asiatische Weltkarte deutlich. Dort Wohlleben, Verena SPD 24. 11. 93 ist nämlich der Pazifikraum im Mittelpunkt und 16678* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993

Europa Randlage, wie wir es von Alaska oder von der außenpolitischer Goodwill offenbart. 1993 sind bisher Kamtschatka gewöhnt sind. Genau hier setzt das nahezu 500 Millionen DM für die humanitäre Hilfe Problem ein. eingesetzt worden, nicht bloß im Haushalt des Aus- Haben nicht vor wenigen Tagen der amerikanische wärtigen Amts, sondern auch beim BMZ, beim Innen- Präsident und verschiedene asiatische Regierungs- minister oder beim Verteidigungsminister. Dazu kom- chefs die Zukunftsrichtung der amerikanisch-pazifi- men die internationalen Beiträge. Beliebig ausweiten schen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) gewiesen? läßt sich der vom Steuerzahler finanzierte Anteil an Hat nicht mit der NAFTA der nordamerikanische den Hilfsmaßnahmen aber auch nicht. Dankbar regi- Wirtschaftsverbund den Wettbewerb mit der EG strieren wir daher die Spendenbereitschaft der Deut-. beschworen? Hat nicht der amerikanische Außenmi- schen insgesamt. Wir registrieren die wie Pilze aus nister Warren Christopher gestern im ZDF-Morgen- dem Boden geschossenen p rivaten Unterstützungsor- magazin bei der Formulierung der amerikanischen ganisationen für die Not in Rußland, in Rumänien oder Prioritäten die Stärkung der NATO erst an dritter in Bosnien. Wir registrieren die selbstlose Einsatz- Stelle genannt? Wir müssen erkennen, daß Europa freude vieler Menschen in Deutschland, wenn es um aufpassen muß, damit es nicht wirtschaftlich, militä- spontane Hilfsmaßnahmen geht. Da wird viel gutge- risch und finanziell zu einem unbedeutenden Markt macht, was durch andere Deutsche, ob glatzköpfige wird. Mit der neuen Versuchung von Kleinstaaterei ist Schläger oder hohlköpfige Schreibtischtäter, an uns allen nicht gedient. Schande über Deutschland gebracht wird.

Unverzichtbar ist für die EG und besonders für die Wegen der Sperren im Haushaltsgesetz und der Deutschen die Gewinnung der osteuropäischen Völ- Globalkürzung um 5 Milliarden DM, die anteilsmäßig ker für Demokratie und Marktwirtschaft. Deshalb auch den Etat des Auswärtigen Amts betreffen und hatte der Haushaltsausschuß die Idee der Bundesre- insgesamt 134 Millionen DM ausmachen könnten, gierung sehr begrüßt, mit der deutschen Beratungs- steht die Auswärtige Kulturpolitik noch mehr als hilfe zum Aufschwung beizutragen. Über verschie- früher im Mittelpunkt des Interesses. Im gewünschten dene Einzelpläne verteilt werden nächstes Jahr rund Ziel sind wir uns alle einig, nämlich möglichst viel und 300 Millionen DM eingesetzt. Es gibt am Ziel keinen möglichst effektiv, möglichst überall und möglichst Zweifel, denn der Aufbau von Forstverwaltungen, von ständig kulturell präsent zu sein. Es sind, das hat der Sparkassen oder von Konversionsprojekten bei frühe- ehemalige Präsident des Goethe-Instituts, Hans Hei- ren Rüstungsbetrieben kann nur unterstützt werden. gert, anerkannt, viele Milliarden DM in die bisherigen Es wäre aber falsch, wenn wir am gleichen Weg wie Kulturverbindungen mit dem Ausland gesteckt wor- bisher festhalten würden, nämlich alle Mittel an die den. Keinem fällt es leicht, wegen des allgemeinen Zentralregierungen zu geben. Sparzwangs bei diesen Kulturbeziehungen Abstriche Es ist eine Tatsache, daß z. B. die russische Wirt- zu machen. Es war immerhin der Bundeskanzler schaft nur dann umgestaltet werden kann, wenn man selbst, der mehrmals betonte, daß die deutsche Spra- das Potential der Regionen zur Wirkung bringt. Ich che im Ausland noch stärker gefördert werden sollte rede nicht einer politischen Dezentralisierung oder und daß mit einem Sonderprogramm „Deutsche Spra- Destabilisierung das Wort. Denn ein weiterer Zerfall che" besonders in Osteuropa zum Aufbau f riedlicher unter Krach und Donner ist nicht erstrebenswert. Eine Beziehungen beigetragen würde. Der Haushaltsaus- einheitliche Rubelzone, eine Art Länderfinanzaus- schuß jedenfalls hat diese Haltung respektiert und gleich wären das Ziel. Doch so viel Demokratie als versucht zu helfen, wo zu helfen war — ohne deshalb möglich, so viel föderative Strukturen als machbar die Arbeitslosenunterstützung im eigenen Land oder sollten von uns herauskristallisiert werden. Mich als manch unverzichtbare Investition in den neuen Bun- überzeugten Europäer, treuen Deutschen und begei- desländern zu gefährden. Von einer besonderen „Kul- sterten Föderalisten freut es jedenfalls, daß jetzt auch tur" zeugt daher nicht, wenn die Verantwortlichen des in der Republik Südafrika der deutschen Verfassung Goethe-Instituts in München bei einer Pressekonfe- ähnliche Strukturen eingeführt werden. Die GUS, renz im Oktober dieses Jahres wieder einmal glaub- aber auch die Einzelnachfolger der Sowjetunion soll- ten, von einer „Strafexpedition der Anti-Kultur-Politi- ten auf jeden Fall, so sie es wünschen, beim Aufbau ker in Bonn" reden zu müssen, weil auch das Goethe- nicht bloß von demokratischen und marktwirtschaftli- Institut einen Sparbeitrag zur allgemeinen Haushalts- chen, sondern auch von föderativen Strukturen unter- lage bringen muß. Am meisten wurde beklagt, daß stützt werden. vier Institute geschlossen werden müßten und daß damit erheblicher außenpolitischer Schaden einträte. Im Rahmen des auswärtigen Etats muß ein weiteres Wollen Sie die Namen dieser vier Institute hören? Es Thema angesprochen werden. Es geht um die Hilfe in handelt sich um Viña del Mar (Chile), Medellin Katastrophenfällen, bei Not und Flüchtlingselend, bei (Kolumbien), San Juan (Argentinien) und Malmö Bürgerkriegen, die wir trotz eigener Haushaltspro- (Schweden). Zumindest bei unseren schwedischen bleme nicht vergessen dürfen. Freunden habe ich bisher keinen Liebesentzug fest- Ich erkenne in diesem Zusammenhang gerne die stellen müssen, dafür freuen sich aber die Städte, die engagierte Leistung des Arbeitsstabs „Humanitäre bisher in der sozialistischen Abgeschiedenheit festge- Hilfe" im Auswärtigen Amt an. Mit der Soforthilfe, nagelt waren, wie St. Petersburg, Kiew, Minsk oder d. h. mit medizinischer Betreuung, Übergabe von Tiflis, auch Alma Ata und Hanoi, daß ein neues Nahrungsmitteln und Kleidung, Herstellung von Goethe-Institut dort hinkommt. Sollte etwa ein Spar- Notunterkünften oder Wiederherstellung von Strom-, zwang gar ein Anreiz zu neuem Denken sein? Ich Wasser-, Gasleitungen oder von Straßen und Brücken, kann nur ermuntern, auch stärker den europäischen wird viel Gutes geleistet, mit Sonderhilfen wird viel Verbund zu sehen. Gemeinsame deutsch-französi- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16679* sche Botschaften oder auch Kulturinstitute oder Die Beratungen waren aber schwierig, weil es halt zumindest ein gemeinsames Dach dafür könnte so immer schwierig ist, die Wünsche, so berechtigt sie manchen Anstoß zu mehr Effektivität auch in der auch sind, und die Realität in Einklang zu bringen, Kulturpolitik geben. Man ist noch lange kein Kultur wobei wir selbstverständlich den Weg des Ministers Muffel, wenn man sich Gedanken über das Aufbre- unterstützen, der durch energisches Sparen im chen verkrusteter Strukturen macht. Heilsam ist letz- Bereich der Betriebsausgaben der Bundewehr sich teres im gesamten staatlichen Haushalt. Freiräume zu schaffen sucht für neue Gestaltungs- möglichkeiten und planerische Initiativen. Wir gehen diesen Weg mit, Herr Minister, so wenn wir z. B. ca. 200 Millionen DM Betriebsausgaben sparen und dafür 200 Millionen DM investieren. Anlage 3 Es gibt einen militärischen Grundsatz, der da lautet: Entsprechend der Auftragserteilung sind die erforder- Zu Protokoll gegebene Rede lichen Mittel bereitzuhalten. Das heißt: Wenn wir über zu Tagesordnungspunkt I 13 die Auftragserteilung einig sind — und wir sind das in Einzelplan 14 der Union —, dann gilt dreierlei: Bundesministerium der Verteidigung Erstens. Wir brauchen eine Bestätigung der Vertei- Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): Unsere digungsausgaben in den nächsten Jahren, zumindest - Soldaten sind aus Kambodscha zurückgekehrt. für den Zeitraum des Finanzplanes, also bis 1997. Unsere Soldaten leisten humanitäre Hilfe in Somalia. Damit gibt man der Bundeswehr den Planungsrah- Es sind besonders viele aus den Standorten meiner men und die erforderliche Planungssicherheit. saarländischen Heimat dabei. Unsere Soldaten ver- Zweitens. Der Haushalt für 1994 für den Bundesmi- sorgen Teile der bosnischen Bevölkerung aus der Luft. nister der Verteidigung ist in dieser Größenordnung Unsere Soldaten erfüllen diese Aufträge mit hohem von etwas über 48 Milliarden DM ein Schritt in diese Verantwortungsbewußtsein und vorbildlicher Hal- Richtung. tung. Sie dienen dem Ansehen unseres Landes, dafür gebührt ihnen unser Dank. Unsere Soldaten können Drittens. Der Haushalt des Bundesministeriums der dies leisten, weil wir eine einsatzbereite, mode rn Verteidigung muß nach entsprechender Umschich- ausgestattete und bündnisfähige Bundeswehr haben, tung wiederum etwa 30 Prozent für Investitionen und auch weiter haben wollen. Dazu bedarf es erheb- enthalten. licher staatlicher Mittel, die im Einzelplan 14 des hier zu beratenden Haushaltes zur Verfügung gestellt Wir werden bald die Stärke von 370 000 Soldaten werden. erreicht haben. M an spricht von Zielstrukturen. Wir hatten einmal in der alten Bundesrepublik 490 000 Der 94er Haushalt für die Verteidigung steht im Soldaten. Trotz der zurückgehenden Zahl sollten wir besonderen Maße unter der Notwendigkeit substan- an der Wehrpflicht festhalten. Die Bundeswehr hat tieller Einsparungen, weil die Staatsfinanzen insge- damit einen ständigen Kontakt mit der jungen Gene- samt gesehen zu konsolidieren sind. Konsolidierung ration, einen Kontakt, der prägt. Nahezu die Hälfte der der Staatsfinanzen ist erfolgreiche Zukunftssicherung Zeit- und Berufssoldaten rekrutiert sich aus den Teil- Deutschlands. Dies ist oft genug gesagt worden. Im nehmern am Wehrdienst. Damit bleibt die Bundes- Wettbewerb um die knappen Ressourcen sind in der wehr ein attraktiver Arbeitgeber mit dem Angebot Öffentlichkeit gerade die Verteidigungsausgaben einer jährlichen Einstellung von rund 20 000 Soldaten besonders zu begründen. Werden doch rund 48 Milli- auf die Zeit von 4 Jahren und länger. Im nächsten Jahr arden ausgegeben, aber immerhin fast 3 Milliarden werden wir die Zielstruktur von 370 000 planmäßig weniger als 1992. Wir sind, um das gleich vorweg zu erreichen. Dies gilt sowohl für Umfang als auch für sagen, an eine Grenze gestoßen, die wir nicht mehr Qualität. unterschreiten dürfen, ohne das Ganze zu gefähr- den. Die Laufbahnentwicklung ist damit auch von beson- Im vergangenen Jahr wollte die SPD noch 5 Milli- derer Bedeutung. Attraktivität des Soldatenberufes ist arden aus dem Verteidigungshaushalt herausstrei- nämlich sehr wichtig. So haben wir in diesem Haus- chen, heute wird dieser Haushalt anders, wesentlich halt auch rund 3 000 Hebungen für Oberfeldwebel realistischer beurteilt; man läßt erkennen, durch und 1 000 Hebungen für Stabsunteroffiziere vorgese- einige Sprecher zumindestens, daß hier in diesem hen. Die Beförderungswartezeiten für Zeitsoldaten Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung werden radikal reduziert. Wir denken, daß auch dies nichts mehr zu holen ist. Ich meine dies ist ein in der Öffentlichkeit allgemein und bei den betroffe- Fortschrittt. nen Jugendlichen zu einer größeren Akzeptanz des Dienstes in den Streitkräften geführt hat. Deswegen Ich will auch sagen, daß in diesem Jahr die Bera- gehen die Quoten der Wehrdienstverweigerung auch tungen gerade dieses Haushaltes aus meiner Sicht zurück, obwohl von einer Trendwende noch nicht besonders schwierig waren, im Vergleich zu den gesprochen werden kann. früheren Jahren. Ich habe ja die Ehre, schon seit einigen Jahren diesen Haushalt zu bearbeiten. Ich Auch beim Zivilpersonal bauen wir im nächsten möchte mich an dieser Stelle auch ganz herzlich bei Jahr mehr als 8 500 Stellen ab. Dies geschieht aus- den Beamten des Verteidigungsministeriums für die schließlich durch Fluktuation des Personals. Kein gute Zusammenarbeit bedanken. Mitarbeiter wird entlassen. Die Sozialverträglichkeit 16680* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 kann durch Anwendung des Bundeswehrbeamten- Karl Feldmeier hat vor einigen Tagen in der FAZ anpassungsgesetzes voll gewährleistet werden. einen Artikel geschrieben mit der Überschrift „Wozu dient die Bundeswehr?" Er führt dort aus: „Maßge- In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal bend wird letzten Endes die Entscheidung darüber die Bitte vortragen, daß das Verteidigungsministe- sein, ob Politik und Gesellschaft Deutschlands die rium alsbald ein Personalstrukturmodell für die zivilen veränderte Wirklichkeit annehmen und ob sie den Bediensteten der Bundeswehr vorlegt, damit die Willen zur Selbstbehauptung aufbringen. Es geht Organisation nach neuen betriebswirtschaftlichen darum, ob Deutschland eine gleichberechtigte Macht Erkenntnissen gestaltet werden kann. Mit diesen im Kreise seiner Verbündeten sein oder zum Objekt wenigen Sätzen wollte ich darstellen, was wir u. a. mit der Macht anderer werden soll. Ohne den Willen zur diesen 48 Millionen DM im Bereich unserer Verteidi- Selbstbehauptung wären Streitkräfte überflüssig." gung machen. Soweit dieses Zitat. Ich möchte abschließend darauf hinweisen, daß die Wir, die wir uns mit diesem Haushalt intensiv befaßt Größe, die Struktur und der Auftrag sowie das Selbst- haben, sind davon überzeugt, daß wir mit unseren verständnis der Bundeswehr hier nicht nur allein Entscheidungen der Bundeswehr einen wesentlichen etwas mit Geld zu tun haben, sondern daß es auch um Beitrag zur Erfüllung ihrer vielseitigen Aufgaben eine politische Grundeinstellung geht. geliefert haben.