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Plenarprotokoll 18/120

Deutscher

Stenografischer Bericht

120. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 9. September 2015

Inhalt

Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): (SPD) ...... 11631 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Monika Grütters, Staatsministerin BK . . . . . 11632 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Bundes- Sigrid Hupach (DIE LINKE) ...... 11634 A haushaltsplans für das Haushaltsjahr 2016 (Haushaltsgesetz 2016) (SPD) ...... 11635 A Drucksache 18/5500...... 11603 A (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 11636 D b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Finanzplan des Bundes Rüdiger Kruse (CDU/CSU) ...... 11637 D 2015 bis 2019 (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 11639 B Drucksache 18/5501...... 11603 B Dr . Eva Högl (SPD) ...... 11640 A

Einzelplan 04 Einzelplan 05 Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt Auswärtiges Amt Dr . (DIE LINKE) ...... 11603 B Dr . Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . 11642 B Dr . , Bundeskanzlerin ...... 11609 A (DIE LINKE) ...... 11645 C Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ Dr . (CDU/CSU) ...... 11646 C DIE GRÜNEN) ...... 11614 C (DIE LINKE)...... 11647 B (SPD) ...... 11619 A Heike Hänsel (DIE LINKE)...... 11647 D (CDU/CSU) ...... 11622 A Dr . (BÜNDNIS 90/DIE Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 11625 B GRÜNEN) ...... 11649 C

Volker Kauder (CDU/CSU) ...... 11625 D (SPD) ...... 11651 A

Bettina Hagedorn (SPD) ...... 11625 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 11652 B

Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) ...... 11627 C Jürgen Hardt (CDU/CSU) ...... 11653 C

Martin Gerster (SPD) ...... 11630 A Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). 11655 C II Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . , Mittwoch, den 9 . September 2015

Dr . (BÜNDNIS 90/ Einzelplan 23 DIE GRÜNEN) ...... 11655 D Bundesministerium für wirtschaftliche Zu- (SPD) ...... 11656 C sammenarbeit und Entwicklung Dr . Gerd Müller, Bundesminister BMZ . . . . . 11678 D (CDU/CSU) ...... 11657 C (CDU/CSU) ...... 11659 A Michael Leutert (DIE LINKE) ...... 11681 B (SPD) ...... 11682 C

Einzelplan 14 Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ Bundesministerium der Verteidigung DIE GRÜNEN) ...... 11683 D

Dr . , Dagmar G . Wöhrl (CDU/CSU) ...... 11685 A Bundesministerin BMVg ...... 11661 A Michael Leutert (DIE LINKE) ...... 11663 D Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 11686 D Karin Evers-Meyer (SPD) ...... 11665 A Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 11688 B

Dr . Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11666 B DIE GRÜNEN) ...... 11689 D

Henning Otte (CDU/CSU) ...... 11667 D Jürgen Klimke (CDU/CSU) ...... 11691 B

Dr . Alexander S . Neu (DIE LINKE) ...... 11669 C (SPD) ...... 11693 A (SPD) ...... 11671 B (CDU/CSU) ...... 11694 C Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ Stefan Rebmann (SPD) ...... DIE GRÜNEN) ...... 11672 D 11696 A Ingo Gädechens (CDU/CSU) ...... 11674 A Nächste Sitzung ...... 11697 D (SPD) ...... 11675 B

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) ...... 11676 B Anlage Dr . (SPD) ...... 11677 C Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . 11699 A Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11603

(A) (C)

120. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 9. September 2015

Beginn 9 .00 Uhr

Präsident Dr. : Das wollte ich Ihnen nur vorher schon sagen, damit Sie Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet . Gu- nicht falsch strahlen . ten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! (Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gysi, Ei- Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesordnungs- telkeit kennt keine Grenzen!) punkt 1 – fort: Aber kommen wir einmal zu der Frage, wie die Welt heute aussieht . Ich glaube, die Situation ist sehr ernst . Wir a) Erste Beratung des von der Bundesregierung stehen vor gewaltigen Problemen . Kriege und kriegsähn- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die liche Auseinandersetzungen finden in Syrien, im Jemen, Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das im Irak, in der Türkei, in der Ukraine und in anderen Län- Haushaltsjahr 2016 (Haushaltsgesetz 2016) dern statt . Kriege töten, vernichten und zerstören, und die Drucksache 18/5500 Menschen fliehen, um nicht getötet, nicht vernichtet zu werden . (B) Überweisungsvorschlag: (D) Haushaltsausschuss Wie sehen die Staaten aus, in denen auch der Westen Krieg geführt hat? Afghanistan – eine einzige Katastro- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- phe: Armut, undemokratische Verhältnisse, terroristische gierung Selbstmordanschläge und zunehmend Flüchtlinge . Alle Finanzplan des Bundes 2015 bis 2019 anderen Fraktionen waren für den Krieg in Afghanistan, nur die Linke war dagegen und hat vor den Folgen ge- Drucksache 18/5501 warnt . Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ( [SPD]: Das ist momen- tan das Wichtigste, was zu klären ist!) Für die heutige Aussprache haben wir gestern eine Re- dezeit von insgesamt achteinhalb Stunden beschlossen . Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Wir hatten recht . Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich der Bun- (Beifall bei der LINKEN – Thomas deskanzlerin und des Bundeskanzleramtes, Einzel- Oppermann [SPD]: Mit Ihnen wäre das alles plan 04. nicht passiert!) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Glücklicherweise hat sich Deutschland nicht unmit- Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke . telbar an den Kriegen gegen den Irak und gegen Libyen (Beifall bei der LINKEN) beteiligt, aber die USA, Großbritannien, Frankreich und andere Länder . Hussein war schlimm und ist weg . Aber ist die Situation jetzt besser? Gaddafi war schlimm und Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): ist weg . Aber ist die Situation jetzt besser? Krieg muss Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und überwunden werden, wenn man ernsthaft will, dass Men- Herren! Zunächst muss ich Ihnen natürlich eine falsche schen diesbezüglich nicht gezwungen werden, zu fliehen. Hoffnung nehmen: Es ist nicht meine letzte Rede als (Beifall bei der LINKEN) Fraktionsvorsitzender im Bundestag . Sie müssen mich schon noch einmal ertragen . Deutschland ist aber der drittgrößte Waffenexporteur der Welt und verdient an jedem Krieg . Waffen werden (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: auch an Diktaturen wie Saudi-Arabien und Katar ver- Oh! – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) kauft . Saudi-Arabien führt einen Krieg gegen Jemen, 11604 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Dr. Gregor Gysi (A) bezieht dennoch Waffen aus Deutschland . Diese unheil- unserer Bevölkerung . Inzwischen verdienen sie sieben- (C) volle Politik muss überwunden werden . Verhindern Sie mal so viel . doch wenigstens Waffenverkäufe an Diktaturen und in Ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland besitzt Krisengebiete . 32 Prozent des gesamten Vermögens, und die finanziell (Beifall bei der LINKEN) schwächere Hälfte der Haushalte, also 50 Prozent unse- rer Haushalte, besitzt ein Prozent des Vermögens . 50 Pro- Das ist doch nur ein Minimum . Wenigstens die Sozialde- zent besitzen ein Prozent des Vermögens! Das Interes- mokratische Partei Deutschlands müsste darauf bestehen . sante ist: 1998 besaß diese Hälfte noch vier Prozent des Wir erleben darüber hinaus eine Entstaatlichung von Vermögens . Aus vier Prozent werden nicht fünf Prozent Staaten . Wir haben zunehmend Länder, in denen Re- und dann sechs Prozent und sieben Prozent, sondern aus gierung, Polizei, Justiz, Bildung und Gesundheitswesen vier Prozent wird ein Prozent . Das ist eine Katastrophe . nicht funktionieren . Oft ist es die Folge der vom Westen Damit machen Sie die Gesellschaft kaputt . geführten Kriege . Wenn es keine funktionierenden Re- (Beifall bei der LINKEN) gierungen gibt, gibt es auch keine Verhandlungspartner, die etwas durchsetzen können . Die Bürgerinnen und Ein Staat, der selbst so ungerecht verteilt, kann sich auch Bürger können so nicht geschützt werden . Entstaatlich- nicht weltweit wirksam gegen Armut einsetzen und orga- te Staaten sind Syrien, Libyen, Irak, Jemen, Somalia . In nisiert mithin schon wieder Flüchtlinge . den ersten vier Ländern sind inzwischen 9 000 Schulen Nachgewiesen wird von der OECD übrigens auch, geschlossen worden. Lehrerinnen und Lehrer fliehen, wie schädlich für die Binnenwirtschaft die Schwächung und auch die Eltern mit ihren Kindern fliehen, weil die- der Kaufkraft eines großen Teils unserer Bevölkerung ist . se ohne Schulbildung in ihrem Leben chancenlos wären . Der Generalsekretär der OECD sagte – ich zitiere wört- Was tut die Bundesregierung dagegen? Ich bin gespannt lich –: auf Ihre Antwort, Frau Bundeskanzlerin . Und warum er- fahren wir eigentlich in den Medien so wenig über die Der Kampf gegen Ungleichheit muss in das Zent- mörderischen Auseinandersetzungen in diesen Ländern? rum der politischen Debatte rücken . Ich finde, dass Information wichtig ist. Die Linke wird genau das versuchen . Ich wiederhole mich: Jährlich sterben auf der Erde (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg . etwa 70 Millionen Menschen. Die häufigste Todesursa- Johannes Kahrs [SPD]) che ist der Hunger . Jährlich sterben etwa 18 Millionen Menschen auf der Erde an Hunger . Wir haben aber welt- Weltweit muss auch ein entschiedener Kampf gegen Rassismus geführt werden . Sinti und Roma sind zum (B) weit eine Landwirtschaft, die die Menschheit zweimal (D) ernähren könnte . Menschen, die Angst haben, zu verhun- Beispiel die in vielen europäischen Ländern erheblich gern, fliehen. Was tut die Bundesregierung dagegen, dass benachteiligten Teile der Bevölkerung. Sie fliehen in der Profit von Konzernen Vorrang vor dem Überleben der Hoffnung, endlich irgendwo hinzukommen, wo sie von Menschen hat? Auch darauf, Frau Bundeskanzlerin, gleichberechtigt behandelt werden . Gerade in diesen viel müssten Sie eine Antwort geben . diskutierten westlichen Balkanländern findet eine men- schenrechtsverletzende und menschenrechtsverachtende Not, Elend, also Armut, nehmen weltweit ebenso zu, Politik gegenüber Sinti und Roma statt . Außerdem ist die wie der Reichtum anwächst . Nur ganz wenige Zahlen: Politik von Orban in Ungarn schlicht indiskutabel . Dage- Seit 2008 hat sich die Zahl der Milliardäre auf der Erde gen muss ganz entschieden Stellung genommen werden . verdoppelt . Die reichsten 80 Personen auf der Erde besit- (Beifall bei der LINKEN) zen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit, das heißt wie 3,5 Milliarden Menschen . 80 Menschen Wenn die Bundesregierung nicht ernsthaft beginnt, die besitzen genauso viel wie 3,5 Milliarden Menschen! Vor Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen, die Weltproble- fünf Jahren waren es noch 388 Personen . Interessant ist: me ernsthaft anzugehen, werden sie täglich verschärfter Aus 388 Personen werden nicht 400, 500 und dann 600, zu uns kommen, bis sie unbeherrschbar sind . Natürlich, sondern daraus werden 80, weil der Reichtum sich ganz Frau Bundeskanzlerin, können Sie das nicht allein . Das anders konzentriert . Eine Milliarde Menschen haben ein erwartet auch niemand . Aber was bereden Sie eigentlich Einkommen von einem Dollar pro Tag . Armut, bittere auf den G-7-, G-8- oder G-20-Gipfeln? Warum drängen Armut führt ebenso zur Flucht . Sie nicht darauf, wirksam gegen Krieg, Hunger, Not, Elend, Armut und Rassismus vorzugehen? Das wäre Dagegen unternimmt die Bundesregierung nichts . doch wohl das Mindeste . Denn auf wesentlich höherem Niveau passiert in Euro- pa und Deutschland das Gleiche . Die OECD stellte jetzt (Beifall bei der LINKEN) fest, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutsch- Nun erwarten wir in diesem Jahr 800 000 Flüchtlin- land sich deutlich vergrößert hat, übrigens immer mit ei- ge in Deutschland, die eigentlich kein Problem, sondern ner SPD in der Regierung; ich kann es doch nicht ändern . eine Chance sind . (Unruhe bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) – Sie müssen es sich einfach anhören . – Die reichsten Ich begrüße es ausdrücklich, Frau Bundeskanzlerin, dass zehn Prozent der Bevölkerung verdienten Mitte der Sie für die Flüchtlinge in Ungarn hier die Türen geöffnet 80er-Jahre fünfmal so viel wie die ärmsten zehn Prozent haben . Aber ich sage: Auch die Zustände in Ungarn müs- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11605

Dr. Gregor Gysi (A) sen ganz deutlich verbessert werden . Dazu komme ich bewusst Kinder in die Welt setzen können . Massenhaft (C) noch . Also: Es ist eigentlich fantastisch, dass viele Tau- kriegen junge Leute nur befristete Arbeitsverträge von sende Menschen zu uns kommen, aber es ist noch fantas- einigen Monaten . Sie wissen nicht einmal, was aus ihnen tischer, wie viele Tausende Menschen, die ehrenamtlich wird, geschweige denn, was aus ihren Kindern werden aktiv sind, sie begrüßen und sie unterstützen . Ich glaube, soll . All das sind die Ursachen dafür . das hätte es so vor zehn Jahren noch nicht gegeben . Das Aber selbst wenn wir – das muss ich so deutlich sa- ist eine sehr gute Entwicklung . gen – Flüchtlinge wirtschaftlich nicht brauchten, sind wir (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- verpflichtet, sie anständig zu behandeln, sie anständig neten der SPD) unterzubringen und sie zu integrieren . Aber man darf das auch nicht überziehen . Auch ehren- (Beifall bei der LINKEN) amtliche Helfer sind irgendwann müde, sind irgendwann abgespannt . Das heißt, der Bund muss eingreifen und vor Deshalb ist es gut, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie im allen Dingen die strukturellen Probleme lösen . kommenden Jahr sechs Milliarden Euro im Bundeshaus- halt dafür einsetzen wollen . Das ist ein Schritt in die rich- Auf der anderen Seite haben wir einen rechtsextremen tige Richtung . Aber das Geld genügt nicht, und vor allem Mob, der rassistisch hetzt, hasst und Flüchtlingsunter- ist das keine strukturelle Lösung . Deshalb sage ich Ihnen künfte in Brand setzt . Ich sage Ihnen: Dagegen müssen noch einmal: Wir müssten den Solidaritätszuschlag nicht wir geschlossen auftreten, egal wie groß ansonsten unse- abschaffen, sondern beibehalten und das Aufkommen da- re Meinungsunterschiede sind . raus gerecht unter den 16 Bundesländern verteilen, damit (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- diese die Aufgaben bei der Unterbringung und bei der neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Integration der Flüchtlinge meistern können . GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Aber es gibt auch Menschen, die Ängste damit verbin- Das Asylverfahren ist übrigens Bundesrecht . Insofern den, die glauben, dass es ihnen besser ginge, wenn es we- müssen die Kosten meines Erachtens auch vom Bund niger Flüchtlinge gäbe . Ich habe sie gefragt, ob es ihnen getragen werden, aber nicht von den Ländern und Kom- besser ging, bevor die Flüchtlinge kamen . Das mussten munen . sie verneinen . Es ist überhaupt kein logisches Argument, aber wir sind trotzdem verpflichtet, diese abstrakten Es ist richtig, dass Sie mehr Deutschkurse anbieten . Ängste abzubauen. Und wir sind verpflichtet, mehr so- Ihre Überlegungen, Flüchtlinge schneller loszuwerden, ziale Gerechtigkeit herzustellen . Ich sage Ihnen: Wenn gehen aber eindeutig in die falsche Richtung . (B) Verhältnisse so sozial ungerecht sind, dann nutzt das der (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (D) Rechtsextremismus aus, um Leute für sich zu gewinnen mit schlichten rassistischen und anderen Losungen . Also Sie erweitern die Zahl sicherer Herkunftsländer, um kämpfen wir nicht nur aus materiellen Gründen, sondern schneller abschieben zu können . So soll nun der Koso- auch aus wichtigen ideellen Gründen für deutlich mehr vo ein sicheres Herkunftsland sein, wenn ich Sie richtig soziale Gerechtigkeit in Deutschland . verstanden habe . Sie begründen uns doch immer die Not- wendigkeit der im Kosovo damit, dass es (Beifall bei der LINKEN) dort so unsicher ist . Was stimmt denn nun? Braucht man Im Übrigen: Der ärmere Teil der Bevölkerung ist der dort die Bundeswehr, oder ist das ein sicheres Land? Sie Teil, der immer seltener zur Wahl geht . Das ist demo- müssen auch einmal Logik in Ihre Politik bringen . kratiegefährdend . Wir müssen also auch mehr soziale (Beifall bei der LINKEN) Gerechtigkeit gestalten, damit diese Menschen wieder die Demokratie begrüßen und sich an Wahlen beteiligen . Übrigens: Der Vorschlag, Bargeld für Flüchtlinge abzuschaffen und durch Gutscheine zu ersetzen, wider- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- spricht einer Entscheidung des Bundesverfassungsge- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) richts . Gehen Sie doch keinen grundgesetzwidrigen Weg . Die Flüchtlinge sind schon deshalb eine Chance, weil Er ist immer falsch . uns immer mehr Arbeitskräfte fehlen . Der Arbeitgeber- (Beifall bei der LINKEN) präsident begrüßt deshalb den Zustrom an Flüchtlingen . Jedes Jahr sterben bekanntlich mehr Deutsche als gebo- Flüchtlinge sollen nach drei Monaten Aufenthalt ren werden . Da es ja handwerklich nicht verlernt wor- Leiharbeit verrichten dürfen . Sie wollen also einen neuen den ist, müssen wir uns doch einmal Gedanken darüber Sektor für Niedriglohn eröffnen . Auch das ist indiskuta- machen, woran das liegt . Ich sage Ihnen: Das liegt dar- bel. Darunter sind übrigens oft viele qualifizierte Kräfte. an, dass wir keine kinderfreundliche Gesellschaft sind . Mir wird immer gesagt, dass man nicht weiß, ob die Qua- Es liegt daran, dass wir ein Bildungssystem aus dem lifikation stimmt. Mein Gott, wir haben doch immer eine 19 .Jahrhundert haben, dass es keinen chancengleichen Probezeit . Da weiß beispielsweise ein Arzt sofort, ob die Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur bei Kindern gibt . Qualifikation stimmt oder nicht stimmt. Hier müssen wir Von einem solchen Zugang kann nicht einmal im Ansatz einmal etwas lockerer, etwas unbürokratischer werden die Rede sein . und dafür sorgen, dass die Menschen so schnell wie mög- lich Beschäftigung finden. Die umfassende prekäre Beschäftigung dank Agenda 2010 verhindert, dass die Menschen verantwortungs- (Beifall bei der LINKEN) 11606 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Dr. Gregor Gysi (A) Sechs osteuropäische Länder erklärten, niemals mit und haben alles gemacht, was sie wollte . Wir haben da- (C) Flüchtlingsquoten einverstanden zu sein: Tschechien, die durch deutliche Wirtschaftseinbußen . Ich kenne mittel- Slowakei, Polen, Ungarn, Litauen und Lettland . Nun bin ständische Unternehmen, die an Russland geliefert haben ich auch gegen Quoten, weil es sich nämlich um Men- und jetzt nicht wissen, wie sie die Insolvenz verhindern schen handelt und nicht um Sachen; die kann man nicht sollen . einfach verteilen . Nun lese ich, dass nach russischen Angaben der Handel (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) zwischen den USA und Russland um sechs bis elf Pro- zent zugenommen hat . Ich meine, es wäre doch eine sa- Aber eine gerechte Kostenverteilung innerhalb der genhafte Frechheit, von uns Sanktionen zu verlangen und Europäischen Union halte ich für zwingend erforderlich . selbst den Handel zu steigern . Deshalb sage ich Ihnen: Wenn dann Länder, die kaum Flüchtlinge aufnehmen, Hören Sie endlich damit auf! Sie müssen eine eigenstän- nicht bereit sind, ihren Kostenanteil zu zahlen, müssen dige Interessenpolitik machen . Es gibt keinen Frieden in ihnen die Zuschüsse von der EU entsprechend gekürzt Europa ohne oder gegen Russland . Das müssen wir be- werden . Da muss man jetzt einmal mehr Mumm zeigen, achten . Frau Bundeskanzlerin . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Noch etwas: Jetzt höre ich plötzlich, dass Russland Übrigens erklärt die polnische Regierung, dass Polen Waffen und Truppen um Syrien zusammenzieht . Dann für muslimisch gläubige Flüchtlinge ungeeignet sei . Nun lese ich, das sei alles mit den USA abgestimmt . Dann ist dieses Land bekanntlich schwer katholisch geprägt . lese ich wiederum, dass die US-Regierung die russische Es kann doch nicht wahr sein, dass ich denen jetzt schon Regierung warnt . Jetzt frage ich mich: Ist die Warnung wieder die Bergpredigt von Jesus Christus erklären muss . auch abgestimmt, indem man sagt: „Macht das mal, aber (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN – wir müssen so tun, als ob wir dagegen sind“? Ich hoffe, Zuruf von der SPD: Das ist aber peinlich!) Frau Bundeskanzlerin, Sie können uns einmal aufklären und sagen, wie es da wirklich aussieht . Es wird Zeit, dass Wenn diese Mitglieder der polnischen Regierung zur unsere Bevölkerung diesbezüglich informiert wird . Beichte gehen, müssen sie so viele Rosenkränze beten, dass sie gar nicht mehr aus der Kirche herauskommen . (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich kann nur sagen: Führen Sie mit denen mal eine schar- Noch etwas: Ich verstehe sehr gut, dass man Assad fe und deutliche Auseinandersetzung . nicht mag; das kann ich alles nachvollziehen . Er verletzt (Beifall bei der LINKEN) Menschenrechte in vielfacher Hinsicht . Aber man wird (B) einen Frieden ohne Assad doch wirklich nicht finden. Ist (D) Ungarn . Orban schafft Schritt für Schritt die Demo- die Friedensfrage nicht wichtiger als die Frage, wen man kratie ab und strebt eindeutig autoritäre Strukturen an . aus Menschenrechtsgründen ablehnt oder nicht ablehnt? Das verkündet er sogar . Die USA haben bereits Sankti- onen ausgesprochen . Und was macht unsere Bundesre- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Gilt das auch für gierung? Sie mault etwas vor sich hin . Das reicht nicht . andere? – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Hier müssen wirklich Maßnahmen ergriffen werden, Sehr eigenartig!) aber nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch Letztlich müssen wir begreifen und danach handeln: von der EU . Frieden und Sicherheit brauchen wir überall auf der Erde . (Beifall bei der LINKEN) Deutschland darf nicht der drittgrößte Waffenexporteur der Welt sein . Und noch etwas, das interessiert mich, Frau Dr . Merkel, Herr Kauder und Frau Hasselfeldt . Orbans Par- (Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs tei ist Mitglied der konservativen Fraktion im Europäi- [SPD]: Wenn Sie jetzt hier Assad verteidigen, schen Parlament . Das heißt, die Abgeordneten der CDU dann wird es grenzwertig!) und der CSU sitzen gemeinsam in einer Fraktion mit den Türkei . Es gab einen Friedensprozess zwischen der Mitgliedern von Orbans Partei . Meinen Sie nicht, es ist Regierung der Türkei und den Kurdinnen und Kurden . höchste Zeit, diese Partei aus Ihrer europäischen Fraktion Dann hat sich die Regierung entschieden, gegen die PKK rauszuschmeißen, und zwar achtkantig? Krieg zu führen . Jetzt sagt Erdogan, es gibt für ihn nur (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- noch eine militärische Lösung . Er marschiert sogar in neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den Irak ein . Aber gerade die syrischen und irakischen Kurdinnen und Kurden, wenn ich darauf einmal hinwei- Insgesamt sieht man die unzureichenden Strukturen sen darf, führen den einzig wirklich wirksamen Kampf der EU . Nichts Wirksames geschieht gegen Orbans un- am Boden gegen den „Islamischen Staat“ . Die werden erträgliche Politik . jetzt aber bekriegt, und zwar von einem NATO-Partner . Russland . Russland ist eine Weltmacht, und nicht, wie Und was machen Sie dagegen? Nichts . Geben Sie doch einmal dieses Schweigen auf und suchen Sie die wirk- Obama meinte, eine Regionalmacht . Russland ist eine liche Auseinandersetzung mit Erdogan, weil das nicht Vetomacht . Russland ist das militärisch stärkste Land in mehr hinnehmbar ist! Europa . Obama verlangte Wirtschaftssanktionen durch die EU, auch durch die Bundesrepublik . Wie immer sind (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sie den Forderungen der US-Administration artig gefolgt neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11607

Dr. Gregor Gysi (A) Griechenland . Herr Schäuble, vielleicht haben Sie Ihr ligt, und man kann nichts mehr machen . Es gibt kein wei- (C) Ziel erreicht, und die linke Regierung ist gestürzt . Wir teres Gericht, weder ein deutsches noch ein europäisches . warten das Ergebnis der Wahlen ab . Die eigenen Unternehmen müssen bis zum Europäischen Gerichtshof oder bis zum Bundesverfassungsgericht ge- ( [SPD]: Das ist ja großzügig! – hen, um irgendetwas durchzusetzen . Das ist wiederum Volker Kauder [CDU/CSU]: Was ganz Neu- eine schwere Benachteiligung . es!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinn!) Aber eines hat die linke Regierung von Griechenland erreicht: eine Diskussion in ganz Europa über den Euro Ich weiß, dass die Wirtschaft für ein Freihandelsab- und über die EU-Strukturen, wie wir sie noch nie hatten . kommen ist . Wir sagen dazu Nein . Ich weiß auch, welche Jetzt stellt sich die Frage, ob die EU weiter in Richtung Kritik Sie daran üben, und die sollten Sie ernst nehmen . Demokratie- und Sozialabbau oder endlich umgekehrt in Drittens . Richtung mehr Demokratie und mehr soziale Gerechtig- keit gestaltet wird . Wir brauchen die EU für den Frieden (Ulli Nissen [SPD]: Jetzt mal was Neues!) in Europa, aber eben auch für mehr Demokratie und so- Das für uns entscheidende Kriterium ist das Verbot von ziale Gerechtigkeit . Investitionshemmnissen . Ich bitte Sie: Wissen Sie, was (Beifall bei der LINKEN) das heißt? Das heißt Folgendes: Ein amerikanischer Kon- zern gründet zu irgendeinem Zeitpunkt, als es eine be- Ich sage Ihnen, Herr Schäuble, Sie haben leider mit stimmte rechtliche Situation gab, seinen Sitz in Deutsch- Ihrer Politik erreicht – Sie natürlich auch, Frau Bundes- land . Danach gibt es Neuwahlen in der Bundesrepublik kanzlerin –, dass der Rechtspopulismus und der Rechts- Deutschland, und – sagen wir einmal – es entsteht eine extremismus, die zu den alten Nationalstaaten zurück- vernünftige Regierung, also aus oder mit Linken; nur ein- wollen, in den europäischen Ländern Erfolge zeigen . mal angenommen . Schon das müsste Sie wachrütteln und die Politik gänz- lich ändern . (Dr . [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie selber wollen würden! (Beifall bei der LINKEN) Aber Sie wollen es selber nicht! – Zuruf von TTIP . Wir haben immer die mangelnde Transparenz der CDU/CSU: Träumer!) bei dem sogenannten Freihandelsabkommen, das da zwi- – Ja, man darf doch träumen, das ist doch nicht ver- schen den USA und der Europäischen Union verhandelt boten .– Passen Sie auf: Jetzt erlaubt diese Regierung wird, kritisiert . Es hat sich ein kleines bisschen verbes- sich, die Mitbestimmung in Unternehmen zu erweitern, sert, aber nicht viel . Jetzt nenne ich Ihnen drei Probleme: (B) vielleicht sogar ein kleines bisschen die Steuern für die (D) Erstens . Wir kennen ein Vorsorgeprinzip, das in den Konzerne zu erhöhen . Und dann sagen die: Das verstößt USA unbekannt ist . Die kennen ein Nachsorgeprinzip . gegen das Verbot von Investitionshemmnissen .– Wenn Das heißt, wenn man in Deutschland ein neues Lebens- Sie das unterschreiben, dann sagen Sie, dass eine Poli- mittel auf den Markt bringen will, muss man beweisen, tik in einer bestimmten Richtung verboten ist und dass dass das nicht schädlich ist . die Verhältnisse nur noch reaktionärer werden dürfen . Da kann doch die Sozialdemokratische Partei Deutsch- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: lands in Anbetracht ihrer Geschichte eigentlich niemals Quatsch!) zustimmen; aber Sie organisieren das Ganze noch . Dass wir da manchmal falsche Beweise kriegen, ist eine (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei andere Frage . Man muss es aber beweisen . In den USA der SPD) ist es genau umgekehrt . Da kann man jedes Lebensmittel auf den Markt bringen . Wenn man dann aber Schaden Ich komme zur prekären Beschäftigung . Wir haben in anrichtet, wird man irgendwann zu ein paar Milliarden Deutschland nach wie vor den größten Niedriglohnsektor Schadenersatz verurteilt . Das ist eine völlig umgekehrte in Europa . Wir hatten einmal – vor 20 Jahren – 26 Milli- Herangehensweise . onen Menschen in Vollzeitbeschäftigung, jetzt nur noch 22 Millionen . Der Anteil der prekären Beschäftigung, (Thomas Oppermann [SPD]: Das stimmt das heißt erzwungenen Teilzeit, Befristung, Leiharbeit nicht mit der Wahrheit überein!) und geringfügigen Beschäftigung, ist um 70 Prozent ge- Die mittelständischen Unternehmen sagen mir, sie liegen stiegen und beträgt jetzt 21 Prozent aller Beschäftigungs- damit zwei bis drei Jahre zurück und haben dadurch ei- verhältnisse . Ich sage Ihnen ganz klar: Leiharbeit ist für nen ganz großen Nachteil . Das sollte Sie doch eigentlich mich eine moderne Form der Sklaverei und muss verbo- interessieren . ten werden . (Johannes Kahrs [SPD]: Ich weiß nicht, was (Beifall bei der LINKEN) Sie uns hier erzählen wollen!) Aber wenn Sie schon Ausnahmen machen, dann müs- Zweitens . Die Schiedsgerichte sind abenteuerlich . Sie sen Sie wenigsten dafür sorgen, dass eine Leiharbeiterin müssen sich einmal Folgendes überlegen: Da kommt ein oder ein Leiharbeiter ab der ersten Stunde der Beschäf- kanadischer oder amerikanischer Konzern, klagt vor ei- tigung Anspruch auf 110 Prozent des Lohnes hat, den nem Schiedsgericht und bekommt dann 200 Milliarden ein anderer Beschäftigter in dem Unternehmen für die Euro Schadenersatz durch die Bundesregierung zugebil- gleiche Tätigkeit bezieht, damit diese Leiharbeit endlich 11608 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Dr. Gregor Gysi (A) zur Ausnahme wird und nicht zu einem Nötigungsmittel, öffentlicher Nahverkehr . Aber was haben Sie stattdessen (C) um der eigenen Belegschaft das Weihnachtsgeld, das Ur- vor? Erzählen Sie es uns . laubsgeld und vieles andere zu entziehen . Zweitens . Die CSU ist ein besonders trauriger Fall . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Dr . Befristung darf es nur noch mit Sachgrund geben und Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht – wie heute – willkürlich . NEN] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Das sagt der Richtige! – Widerspruch der Abg . [CDU/CSU]) Auch die erzwungene Teilzeit müssen wir loswerden . Wenn es Teilzeit schon gibt, dann muss sie freiwillig – Ja, Frau Hasselfeldt, ich muss es Ihnen sagen . Sie hat- sein, aber mit dem Recht auf Rückkehr zur Vollbeschäf- ten aus Ihrer Sicht zwei tolle, aus meiner Sicht zwei ganz tigung . Übrigens, die Frauen trifft es besonders hart . besonders blöde Projekte . Das war einmal das Betreu- Die Vollzeitbeschäftigungsquote bei Frauen sank von ungsgeld, mit dem Sie Eltern dafür bezahlten, dass sie 55 Prozent auf 40 Prozent, und die Zahl der Teilzeitjobs das Lernen ihrer Kinder in Kindertagesstätten unterbin- für Frauen nahm zu von 3,8 auf 6,3 Millionen . Ich sage den . Ihnen: Armut ist immer weiblich . Deshalb war der Streik der Erzieherinnen und Erzieher und der Sozialarbeite- (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: So ein rinnen und Sozialarbeiter so wichtig, um wenigstens zu Quatsch!) erreichen, dass diese klassischen Frauenberufe endlich nicht mehr so grottenschlecht bezahlt werden, wie das Wir haben Ihnen gesagt, dass es grundgesetzwidrig ist . gegenwärtig der Fall ist . Wir brauchen gleichen Lohn für Sie haben es uns nicht geglaubt . Inzwischen hat es das gleichwertige Arbeit . Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt . (Beifall bei der LINKEN) ( [CDU/CSU]: Das stimmt ja nicht! Das müssten Sie ja als Jurist wissen, Übrigens, Frau Nahles, wann setzen Sie Ihre – aus Herr Dr . Gysi!) unserer Sicht völlig unzureichenden – Gesetze zur Be- grenzung von Leiharbeit und gegen den Missbrauch von Und dann die Maut! Liebe CSU, ich habe Ihnen ge- Werkverträgen endlich um? Das wird Zeit, das kann man sagt, mit Tricks kann man Europarecht nicht umgehen . doch nicht bloß beschließen . Sie wollten es mir nicht glauben und mussten nun alles (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das stoppen, nachdem in der EU ein Verfahren gegen unser (B) ist die Rede vom letzten Mal!) Land eingeleitet wurde . Ich werde Sie nicht inhaltlich (D) überzeugen können . Also, ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden einen ent- schiedenen Kampf gegen die prekäre Beschäftigung und (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Traut den Niedriglohnsektor in Deutschland führen . bloß den Eltern nicht!) Ich komme zum Schluss und sage Ihnen Folgendes: Aber glauben Sie mir: Wenn Sie diesbezüglich nicht über (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) solche Mitglieder verfügen, müssen Sie sich wenigstens Beraterinnen und Berater suchen, die sich im Europa- – Ich will Ihnen zwischendurch auch mal eine kleine recht und im Grundgesetz auskennen . Glauben Sie mir Freude machen . - das! (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Su- (Beifall bei der LINKEN – Ulrike per!) Gottschalck [SPD]: Aber nicht in Leiharbeit!) Wenn wir jetzt über die Halbzeit der Großen Koalition Drittens: die SPD . Die SPD sitzt, auch wenn sie es reden, dann darf ich doch drei Dinge bewerten: gelegentlich vergisst, ebenfalls in der Bundesregierung . Erstens . Immer wieder wird behauptet, dass Sie, Frau Viel zu spüren ist das allerdings nicht . Dr . Merkel, die CDU sozialdemokratisiert haben . Wel- ches Bild muss inzwischen eigentlich von der Sozialde- (Ulli Nissen [SPD]: Das sehen Sie völlig mokratie herrschen, wenn Ihre Politik als sozialdemokra- falsch!) tisch gilt? Sie stehen vor einer spannenden Frage: Wollen Sie ein (Beifall bei der LINKEN) Anhängsel der Union bleiben oder doch zu einem Ge- genüber werden? Aber ich frage mich, welche Projekte Sie eigentlich in den nächsten zwei Jahren anfangen wollen . Leider glaube ich (Ulli Nissen [SPD]: Wer hat denn die Miet- nicht, dass Sie wirksam die Fluchtursachen bekämpfen, preisbremse gemacht?) die Rüstungsexporte wesentlich und deutlich beschrän- ken, einen Kampf führen gegen den Niedriglohnsektor, Die Depressionen bei Ihnen gehen ja schon so weit, dass gegen die prekäre Beschäftigung und gegen die Altersar- in Ihren Reihen, lieber Herr Gabriel, diskutiert wird, ob mut und endlich eintreten für Chancengleichheit, insbe- man überhaupt noch eine eigene Kanzlerkandidatin oder sondere für Kinder beim Zugang zu Bildung, Kunst und einen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellen sollte . Mein Kultur . Dazu gehört übrigens auch ein deutlich billigerer Gott! Wann kehrt in die Sozialdemokratie endlich mal Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11609

Dr. Gregor Gysi (A) wieder Leidenschaft, Kampfgeist, und zwar für Frieden zent – immer noch zu hoch, aber immerhin – die nied- (C) und soziale Gerechtigkeit, zurück? rigste Erwerbslosigkeit unter den Jugendlichen in der Europäischen Union . (Beifall bei der LINKEN – Ulli Nissen [SPD]: Was meinen Sie, was wir für Leidenschaft ha- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben mehr Geld ben in unserer Politik! – Zuruf von der CDU/ in der Tasche . Seit Amtsantritt dieser Bundesregierung CSU, an die SPD gewandt: Der macht sich sind die Löhne in jedem Quartal stärker gestiegen als die echt Sorgen um euch!) Inflation. Die deutschen Exporte erreichen einen neuen Mein letzter Satz: Viel Hoffnung für die Bevölkerung Höchststand . Das alles geschieht in einem Umfeld, das ja entsteht durch die – übrigens wegen der großen Mehr- bei Weitem nicht nur als stabil bezeichnet werden kann . heit – demokratiegefährdende Große Koalition für die Die Weltwirtschaftslage ist nicht völlig ohne Risiken . nächsten beiden Jahre nicht, aber wer weiß, was 2017 Die Schwellenländer gehen durch eine schwierige Phase . passiert! Aber wir als Bundesregierung rechnen mit einem Wirt- schaftswachstum von 1,8 Prozent in diesem und auch im (Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs nächsten Jahr . [SPD]: Solange Ihr Verein so politikunfähig ist, wird das mal nichts!) Solide Finanzen – das zeigt sich in diesen Tagen – machen es möglich, dass wir auf plötzlich auftretende neue Herausforderungen reagieren können, wie jetzt im : Präsident Dr. Norbert Lammert Haushaltsplan für 2016 . Es sind sechs Milliarden Euro Das Wort erhält nun die Bundeskanzlerin . Mehrausgaben vorgesehen, davon drei Milliarden Euro (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- für den Bund und drei Milliarden Euro für die Unterstüt- ordneten der SPD) zung von Ländern und Kommunen . Nachhaltige Haushaltspolitik – das hat sich in den ver- Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: gangenen Jahren gezeigt – eröffnet eben auch Spielräu- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und me, Möglichkeiten für zukunftsorientierte Investitionen . Kollegen! Meine Damen und Herren! Unsere Wirtschaft Wir haben wichtige Impulse gesetzt: in der Infrastruktur, ist stark, unser Arbeitsmarkt robust . In vielen Branchen bei Forschung und Entwicklung, in der Energie- und Kli- werden Fachkräfte sogar regelrecht gesucht . Das heißt, mapolitik und im digitalen Umbau von Wirtschaft und man kann sagen, Deutschland ist in diesen Monaten in Gesellschaft . Vor allem die Verkehrsinvestitionen sind guter Verfassung . deutlich erhöht worden . Wir geben in dieser Legislatur- periode fünf Milliarden Euro zusätzlich für Verkehrsin- (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (D) ordneten der SPD) frastruktur aus . An einigen Stellen sind die Planungen noch gar nicht so weit fortgeschritten, dass das Geld auch Ein entscheidender Grund – bei Weitem nicht der ein- ausgegeben werden kann . Aber es gibt Bundesländer, die zige –, warum Deutschland stark ist, liegt in der soliden Reserven haben . Finanz- und Haushaltspolitik dieser Bundesregierung . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Hinzu kommen weitere 4,35 Milliarden Euro aus dem Investitionspaket 2016 bis 2018 . Wir sind den Weg der wachstumsorientierten Konsoli- dierung gegangen, und er hat sich bewährt . Das gibt uns Wir haben 2009 die Breitbandstrategie der Bundesre- den nötigen Rückhalt und macht uns voll handlungsfä- gierung gestartet, und sie zahlt sich aus: Fast 70 Prozent hig . Wir haben im vergangenen Jahr mit dem Haushalt der Haushalte haben heute Bandbreiten von mindestens für 2015 einen historischen Wendepunkt erreicht: keine 50 Megabit pro Sekunde – Anfang 2010 waren es nur neuen Schulden . Und das gilt auch weiter für die mittel- 39 Prozent –, und bis 2018 wird es eine flächendeckende fristige Finanzplanung . Breitbandversorgung geben, auch im ländlichen Raum . Das heißt, Deutschlands Finanzen stehen auf einem Meine Damen und Herren, wir haben nicht nur an soliden Fundament . Das ist wiederum einer der Gründe Bundesinvestitionen gedacht . Wir wissen, dass die Kom- dafür, dass sich auch die wirtschaftspolitische Halbzeit- munen die wichtigste Ebene für öffentliche Investitionen bilanz der Bundesregierung mehr als sehen lassen kann . sind . Die Kommunen haben auch Steuermehreinnahmen, Die Wirtschaft wächst deutlich . Wir haben eine Rekord- aber die Finanzlage der Kommunen insgesamt ist unter- beschäftigung . Die Zahl der Erwerbstätigen ist im Juli schiedlich . Deshalb unterstützen wir die Kommunen so auf knapp 43 Millionen Personen gestiegen . Das waren sehr, wie das nie zuvor geschehen ist . Aber wir haben 160 000 mehr als im Vorjahr . Was ich besonders bemer- noch einen besonderen Schwerpunkt gesetzt: Der Bund kenswert und wichtig finde: Der Anstieg geht auf mehr wird gerade die finanzschwachen Kommunen mit einem sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zurück. Das Sonderfonds für Zukunftsinvestitionen unterstützen . Für ist ja genau unser Ziel . die Jahre 2015 bis 2018 sind dafür, zusätzlich zu den normalen und für alle Kommunen geltenden finanziellen Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 1991 nicht Hilfen, 3,5 Milliarden Euro vorgesehen . Ich glaube, das mehr . Die bundesweite Arbeitslosenquote lag im August ist ein absolut richtiger Akzent . bei 6,4 Prozent und damit 0,3 Prozentpunkte unter dem Vorjahresniveau . Wir haben mit einer Quote von 7,7 Pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 11610 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Eines der zentralen Vorhaben dieser Bundesregierung als noch vor einem Jahr, und insbesondere reformstarke (C) ist und bleibt die Energiewende . Wir haben mit dem Ka- Euroländer wie Spanien und Irland wachsen überdurch- binettsbeschluss vom 1 . Juli dieses Jahres wichtige Wei- schnittlich . Spanien wächst jetzt so schnell, wie es vor chen gestellt, damit die Energiewende erfolgreich umge- der Krise gewachsen ist . Man kann hier nur sagen, dass setzt werden kann . Wir haben den Strommarkt zu einem sich der Reformweg gelohnt hat . Strommarkt 2 0. weiterentwickelt . Wir haben klare Ent- scheidungen getroffen und damit auch für Berechenbar- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- keit der Investitionen bezüglich des Netzausbaus gesorgt . ordneten der SPD) Wir haben mehr finanzielle Mittel für den Klimaschutz Ermutigend ist, dass die sogenannte Staatsschuldenquote bereitgestellt und die entsprechenden Weichen gestellt, 2015 erstmals abnehmen wird, im Euroraum auf 94 Pro- um unsere Klimaziele zu erreichen . Und wir haben im zent des BIP, im gesamten EU-Raum auf 88 Prozent des Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Kernener- Bruttoinlandsprodukts . Wenn wir uns die Vorgaben des gie noch einmal deutlich gemacht, dass die Sicherheit während der Restbetriebslaufzeit und beim Abbau von Stabilitäts- und Wachstumspakts anschauen, müssen wir Kernkraftwerken unbedingt zu gewährleisten ist . Das ehrlich sagen: Auch Deutschland hat noch eine Wegstre- gilt auch für die Entsorgung radioaktiver Abfälle . Die cke vor sich . Länder wie Polen, Schweden und Däne- Bundesregierung geht dabei vom Grundsatz aus, dass die mark haben wesentlich weniger Schulden im Verhältnis Kosten von den Verursachern zu tragen sind . zum Bruttoinlandsprodukt als wir . Also müssen auch wir uns weiter anstrengen . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich halte es zur Schaffung von Wachstumsvoraus- Unbeschadet aller uns in diesen Tagen beschäftigenden setzungen für absolut wichtig, dass wir die Freihandel- Herausforderungen dürfen wir nicht vergessen, dass wir sabkommen intensiv weiterverhandeln . Wir sehen die einen qualitativen Wandel unseres Arbeitslebens, unseres gesellschaftlichen Lebens durchlaufen, und zwar durch Chancen dieser Freihandelsabkommen mit den Verei- die Digitalisierung . Und die Bundesregierung antwortet nigten Staaten von Amerika und Kanada . Ich will dar- darauf . Wir wissen, dass das Wirtschaft und Gesellschaft auf hinweisen, dass wir Punkt für Punkt – das ist hier gleichermaßen betrifft . Mit dem Regierungsprogramm nicht der Rahmen dafür – all das, was darüber erzählt „Digitale Agenda 2014–2017“ wird die Bundesregierung wird, entkräften . Es handelt sich um ein Freihandelsab- den digitalen Wandel aktiv mitgestalten . Wir werden auf kommen zwischen zwei Wirtschaftsräumen der Welt mit der Kabinettsklausur am Dienstag der kommenden Wo- den höchsten Standards, sowohl was Verbraucherschutz che die Digitalisierung als Schwerpunkt haben und über als auch was Umweltschutz anbelangt . Wenn diese Re- Themen wie Industrie 4 0,. automatisiertes Fahren, Cy- gionen es schaffen, ein faires gemeinsames Abkommen (B) (D) bersicherheit und E-Health sprechen wie über viele an- zu schließen, wird dies Wirkung haben auf alle anderen dere Themen . Handelsabkommen weltweit, die sich heute fast gar nicht Nur wenn wir wirklich verstehen, was durch die Digita- um Verbraucherschutzstandards, um soziale Standards lisierung passiert, wird es auf Dauer gelingen, hochpro- oder um Umweltschutzstandards kümmern . Das könnte fitable Wertschöpfungsketten in Deutschland zu halten. ein Freihandelsabkommen der Zukunft sein, weil es dar- Unser Plus in diesen Tagen ist, dass der Anteil der in- in nicht einfach nur um Zölle geht, sondern um sehr viel dustriellen Produktion in Deutschland im internationalen mehr . Damit können wir Maßstäbe setzen . Maßstab nach wie vor vergleichsweise hoch ist . Aber in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zukunft werden sich die Wertschöpfungsketten ändern . ordneten der SPD) Die Frage der Datenverarbeitung wird eine wesentliche Rolle spielen . Wenn wir diesen Prozess der Wertschöp- Auch wenn wir viel über Infrastrukturprojekte spre- fung aus Daten nicht zeitnah mitgestalten, wenn wir nicht chen, über die Energiewende, über die Digitalisierung die richtigen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dann und über die Bewältigung der europäischen Staatsschul- laufen wir Gefahr, mit unserer industriellen Produktion denkrise, so steht doch im Zentrum unserer Politik immer zu einer verlängerten Werkbank zu werden, und das muss auch die Frage: Was bedeutet das für die Menschen? Der verhindert werden . Ich glaube, das können wir schaffen . einzelne Mensch in seiner Lebenssituation in unserem Auf der europäischen Ebene werden mit der Daten- Land zählt für uns . Deshalb möchte ich heute ein Thema schutzgrundverordnung, die jetzt beraten wird, wichtige herausgreifen, bei dem die Große Koalition exemplarisch Weichen gestellt . Im Übrigen brauchen wir eine europä- gezeigt hat, dass sie sich gerade auch um die Sorgen und ische Strategie für die Digitalisierung . Glücklicherweise Nöte der Menschen kümmert. Es geht um die Pflege al- gibt es auch diesbezüglich erste Fortschritte . ter oder kranker Menschen, die – das gilt für fast jede Wir arbeiten genauso beharrlich daran, die europä- Familie – die Angehörigen vor gewaltige Herausforde- ische Staatsschuldenkrise zu überwinden . Wir haben rungen stellt. Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz, in diesem Sommer ein umfassendes Programm auf den das zum 1 .Januar dieses Jahres in Kraft trat, einen ersten Weg gebracht, das Griechenland eine Chance bietet, in Schritt gemacht . Damals haben wir unter anderem deut- der klassischen Herangehensweise – Solidarität und Ei- liche Verbesserungen im Bereich der ambulanten Pflege genverantwortung – wieder zu Wirtschaftswachstum und beschlossen . mehr Beschäftigung zu kommen . Wenn wir auf den Eu- roraum insgesamt blicken, können wir sagen: Es gibt eine Jetzt unternehmen wir einen zweiten Schritt, und das wirtschaftliche Erholung, die Wirtschaftslage ist besser ist ein revolutionärer Schritt . Viele werden sich erinnern, Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11611

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) wie lange wir über den neuen Pflegebegriff diskutiert ha- politische Phase gekommen ist, was Verfassungsände- (C) ben . rungen anbelangt, was die Frage von Lokalwahlen anbe- langt . Wir sind da längst nicht über den Berg . Aber wir (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE werden in unseren Bemühungen nicht nachlassen, weil GRÜNEN]: Zehn Jahre!) wir nur diesen diplomatischen Weg sehen, meine Damen – Richtig .– Es war eine lange, ausführliche Diskussi- und Herren, und den zu gehen müssen wir immer und on – einen Teil der Verzögerungen nehme ich auf meine immer wieder versuchen . Kappe –, weil uns wichtig war, dass wir sicherstellen, dass der neue Pflegebegriff körperliche, geistige und psy- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie chische Einschränkungen gleichermaßen berücksichtigt . bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir hatten ja schon einen ersten Schritt im Hinblick auf Demenzerkrankungen gemacht . Aber genauso wichtig Ich möchte mich in diesem Zusammenhang auch bei war mir und uns, dass niemand durch den neuen Pflege- der OSZE bedanken . Die Beobachter der OSZE leisten begriff in eine Situation kommt, in der er sich schlechter hier eine herausragende Arbeit . Manch einer hatte die stellt und nicht versteht, warum wir eine Pflegebedürf- Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit schon tigkeit gegen eine andere ausspielen . Das haben wir ein bisschen sozusagen in die Reihe der auslaufenden sorgsam geprüft, und jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, Organisationen gestellt . Ich kann nur sagen: Wenn wir der mit Sicherheit für alle, die der Pflege bedürfen, eine sie nicht hätten, wären wir in diesem Prozess mit der Verbesserung mit sich bringt . Wir haben dafür auch eine Ukraine längst nicht an dem Punkt . Deshalb ist es auch Beitragserhöhung von 0,2 Prozent beschlossen . Aber ich gut, dass Deutschland im nächsten Jahr den Vorsitz über- glaube, das ist gut investiertes Geld für Menschen in ei- nimmt . Wir arbeiten heute schon mit der Schweiz und ner schwierigen Lebenslage und ihre Familien . Deshalb Serbien in der Troika zusammen und werden das nächs- halte ich das für einen ganz wichtigen Schritt . tes Jahr fortsetzen . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- wie bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stelle überhaupt nicht in Abrede, dass noch viel zu tun ist in Deutschland . Meine Damen und Herren, trotz dieses tiefgreifenden Aber wenn wir sehen, was um uns herum in der Welt Konflikts mit Russland gibt es in diesem Jahr in der inter- passiert, dann möchte ich heute hier auch einmal sagen: nationalen Politik auch manches, das positiv überrascht Es ist ein Privileg, und es ist ein Glück, in guten demo- und das Mut macht, zum Beispiel die Einigung der E3+3, kratischen Verhältnissen zu leben und über einen Haus- also unter Beteiligung Russlands und Chinas, mit dem (B) haltsentwurf wie diesen zu sprechen . Ich sage das auch Iran auf einen gemeinsamen umfassenden Aktionsplan (D) mit Blick auf 25 Jahre deutsche Einheit, meine Damen im Zusammenhang mit dem Nuklearprogramm . Dieser und Herren . Aktionsplan beruht nicht auf Vertrauen oder der Vermu- tung, wie der Iran in zehn oder 15 Jahren aussehen könn- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) te, sondern auf sehr detaillierter Kontrolle, um den Weg Das ist wirklich nicht überall auf der Welt so . Denken Irans zu einer Nuklearwaffe zu stoppen . wir zum Beispiel nur an die Lage vor unserer eigenen Ich möchte an dieser Stelle unserem Außenminister Haustür, nämlich in der Ukraine, die uns unverändert Dr . Frank-Walter Steinmeier ganz herzlich danken . Er Sorgen macht . Die Achtung des Rechts ist unabdingbare hat wirklich Stunden und Aberstunden und Tage in Genf Voraussetzung für ein friedliches und partnerschaftliches verbracht . Danke für Ihr Mittun . Zusammenleben . Durch die Annexion der Krim und den von Russland unterstützten Separatismus in der Ostuk- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem raine hat Russland diese Ordnung fundamental verletzt . BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der LINKEN) Wir haben uns in den letzten Monaten immer und im- mer wieder dafür eingesetzt, dass die Krise in der Uk- Positives sehen wir auch bei den Vereinten Nationen; raine auf diplomatischem Weg gelöst werden kann . Das denn die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben Ziel dabei ist, dass die territoriale Integrität der Ukraine sich in New York auf eine 2030-Agenda für eine nach- wiederhergestellt werden kann . Das Maßnahmenpaket haltige Entwicklung verständigt . Übernächste Woche von Minsk wurde im Februar beschlossen . Es ist nach sollen die Texte von den Staats- und Regierungschefs wie vor Richtschnur auf diesem Weg . Wir haben seit An- offiziell verabschiedet werden. Erstmals haben wir einen fang September nach vielen Rückschlägen einen immer universell gültigen Aktionsplan mit 17 konkreten Zielen . noch fragilen, aber etwas verbesserten Waffenstillstand . Armutsreduzierung wird mit dem Ziel weltweiter nach- Aber wir wissen, wir sind längst nicht am Ziel . haltiger Entwicklung verbunden . Das ist ein Fortschritt . Ich darf Ihnen sagen, dass die Bundesregierung, der Ich glaube, gerade diese Verabschiedung der Bundesaußenminister und auch ich, gemeinsam immer 2030-Agenda gibt auch einen Impuls zu einer anderen und immer wieder – auch im Normandie-Format – zu- wichtigen internationalen Tagung in diesem Jahr, näm- sammen mit dem französischen Außenminister und dem lich der Klimakonferenz in Paris . Hier arbeiten Deutsch- französischen Präsidenten darüber wachen werden und land und Frankreich sehr eng zusammen . Wir wollen Anstrengungen unternehmen werden, um diesen Prozess alles tun, damit die französischen Gastgeber eine erfolg- voranzubringen, der jetzt auch in eine entscheidende reiche Konferenz durchführen können . Nach Kopenha- 11612 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) gen brauchen wir diesen Erfolg . Auf der Welt geschieht sagt: Das ist eine nationale Aufgabe . Am 24 . September (C) vieles, was uns optimistisch stimmt . werden wir dann eine Sonder-MPK mit der Bundesregie- rung durchführen, auf der wir hoffentlich die notwendi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gen Beschlüsse fassen . ordneten der SPD) Die Koalition hat im Koalitionsausschuss am Sonntag Aber die wenigen internationalen Lichtblicke können gemeinsame Positionen erarbeitet, wie wir die richtige nun wirklich nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Antwort auf die augenblickliche Asyl- und Flüchtlingssi- Jahr 2015 für so viele Länder und vor allen Dingen für tuation geben . Es ist klar: Wir werden nicht einfach wei- so viele Menschen bislang ein furchtbares Jahr ist . Nur termachen können wie bisher, sondern wir werden Re- wenige Flugstunden von Europa entfernt gibt es Krieg, gelungen überdenken müssen, wir werden Regelungen Terror, Tod und Verzweiflung. Nie nach dem Zweiten zeitweise außer Kraft setzen müssen, wir müssen Abläu- Weltkrieg hat es so viele Flüchtlinge weltweit gegeben fe verbessern, wir müssen Entscheidungen schneller fäl- wie im Augenblick . In Syrien hat der Krieg inzwischen len . Wir brauchen uns auch nicht gegenseitig die Schuld 250 000 Menschenleben gekostet . Innerhalb des Landes zuzuschieben, wer dies und jenes noch nicht gemacht sind über sieben Millionen Menschen auf der Flucht . hat, sondern wir müssen jetzt einfach anpacken und alle Vier Millionen Syrer haben in den Nachbarländern, in konkreten Hindernisse aus dem Weg räumen, um den Jordanien, im Libanon, in der Türkei, Zuflucht gefunden. Menschen, die zu uns kommen, zu helfen und ein friedli- Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ kontrol- ches Zusammenleben in unserem Land zu gewährleisten . liert weite Gebiete im Osten Syriens und im Nordwesten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- des Iraks . Deutschland hat hier Verantwortung übernom- wie bei Abgeordneten der LINKEN und des men . Ich erinnere an unseren Beschluss, den Peschmerga BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) im Norden des Iraks zu helfen . Das war ein völlig neuer Schritt in unserem Herangehen, weil wir nicht die Au- So wie wir schnell auf die Finanz- und Wirtschaftskri- gen verschließen konnten vor der Verfolgung der Jesi- se reagiert haben, werden wir auch schnell – das ist mit den, vor der Verfolgung anderer, auch vor der Verfolgung den Fraktionen besprochen – auf die Herausforderungen von Muslimen . Wir haben uns entschlossen, zu helfen, in diesem Zusammenhang reagieren . Wir wollen noch und diese Hilfe wird auch anerkannt . 3 000 irakisch-kur- im Oktober dieses Jahres das Paket beschließen, das die dische Sicherheitskräfte wurden ausgebildet . Sicherlich notwendigen Rahmenbedingungen schafft . Ich will hier werden wir in Zukunft auch weiter über Möglichkeiten nicht die einzelnen Maßnahmen referieren; die kennen der Ausbildung sprechen . Sie . Wichtig ist, dass wir in dieser Situation über ein paar grundsätzliche Gedanken sprechen . Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ ist eine (B) der großen Herausforderungen . Es ist noch nicht sicher, Erstens . Diejenigen, die als Asylsuchende zu uns (D) dass er erfolgreich sein wird, aber wir müssen daran ar- kommen oder als Kriegsflüchtlinge anerkannt werden, beiten . Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ bringt brauchen unsere Hilfe, damit sie sich schnell integrieren uns auch immer wieder in Erinnerung, dass Kämpfer können . Sie brauchen Hilfe, um schnell Deutsch zu ler- dort aus unseren Ländern kommen, aus den Ländern nen. Sie sollen schnell eine Arbeit finden. Viele von ihnen Deutschland, Großbritannien, Frankreich, aus europäi- werden Neubürger unseres Landes werden . Wir sollten schen Ländern . Das heißt, wir können nicht sagen: „Das aus den Erfahrungen der 60er-Jahre, als wir Gastarbeiter ist da irgendwo ein Problem“, sondern es beschäftigt zu uns gerufen haben, lernen und von Anfang an der In- auch uns . Das ist ein Element davon, dass wir insgesamt tegration allerhöchste Priorität einräumen . nachdrücklich spüren, dass diese Konflikte in Syrien, im (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Irak nicht irgendwo stattfinden, sondern letztlich vor den bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Toren Europas. Diese verheerenden Konflikte sind nicht GRÜNEN) etwas, das man nur im Fernsehen sieht, sondern ihre Fol- gen erreichen uns . Wenn wir es gut machen, dann birgt das mehr Chancen als Risiken . Eine dieser Folgen ist, dass voraussichtlich bis zu 800 000 Menschen einen Antrag auf Status als Bürger- Zweitens . Diejenigen, die nicht vor politischer Verfol- kriegsflüchtling oder auf politisches Asyl stellen werden. gung oder Krieg flüchten, sondern aus wirtschaftlicher Das wäre die höchste in Deutschland jemals registrier- Not zu uns kommen, werden nicht in Deutschland blei- te Zahl . So weit die Zahlen . Doch dahinter stehen ja ben können . Schicksale . Wir alle verfolgen, welche Tragödien sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- abspielen, ob es Fotos von toten Kindern sind, die auf ordneten der SPD) entsetzliche Art und Weise umgekommen sind, oder ob es das entsetzliche Leid und der Tod der Menschen in So schwer ihr persönliches Leben auch sein mag, so ge- dem Lkw waren . Sie stehen exemplarisch für viele, viele hört dies dennoch zur Wahrheit, und wir sprechen sie Schicksale . auch aus . Wir werden die Anerkennungs- und Regist- rierungsverfahren und auch die Rückführungen deutlich Deshalb sind wir in der Verantwortung . Diese Verant- schneller und konsequenter durchführen müssen als bis- wortung nehmen wir wahr . Sie fordert uns . Bund, Länder lang . und Kommunen wollen das in guter Zusammenarbeit schaffen und arbeiten daran. Heute findet ein weiteres Drittens . Ein Land, das viele, die neu zu uns kommen, Bund-Länder-Treffen statt . Wir haben bereits im Juni ge- willkommen heißt, das auch viele willkommen heißt, Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11613

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) die aus ganz anderen Kulturkreisen kommen, muss auch mit der Türkei intensivieren müssen . Denken wir nur ein- (C) deutlich machen, welche Regeln bei uns gelten . Auch das mal an die Route, die von der Türkei in Richtung Ungarn gehört zu einer offenen Gesellschaft . Wir dürfen nicht und dann nach Österreich und Deutschland führt . wegsehen, wenn sich Milieus verfestigen, die Integration Ich habe gestern mit dem türkischen Ministerpräsi- ablehnen, oder wenn sich Parallelgesellschaften heraus- denten telefoniert . Wir werden die Gespräche fortsetzen . bilden . Hier darf es keine Toleranz geben; auch das müs- Donald Tusk ist heute als Ratspräsident in der Türkei, um sen wir von Anfang an sagen . Gespräche mit dem Präsidenten Erdogan und mit dem (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ministerpräsidenten zu führen . Hierbei wird es auf der einen Seite darum gehen, zu sagen: „Ja, die Türkei hat in Viertens . Wir werden nicht zulassen, dass unsere den letzten Jahren sehr viel Verantwortung übernommen, Grundwerte und unsere Menschlichkeit von Fremden- und vielleicht haben wir das auch für selbstverständ- feinden verraten werden . Abstoßend und beschämend lich genommen und einfach gedacht, das werde schon ist es, wenn Flüchtlingsheime angegriffen werden, wenn so weitergehen“, auf der anderen Seite müssen wir aber Menschen angepöbelt werden, wenn Menschen angegrif- auch eine vernünftige Kooperation mit der Türkei in der fen werden und wenn dumpfe Hassbotschaften wo auch Flüchtlingsfrage finden. Denn es kann nicht sein – die immer verbreitet werden . Wir werden mit der ganzen Türkei und Griechenland sind NATO-Mitgliedstaaten –, Härte des Rechtsstaates dagegen vorgehen – auch im In- dass Schlepper sozusagen das bestimmende Element in ternet, was der Justizminister jetzt ja tut . einer Region sind, in der diese beiden Länder ihre Grenze (Beifall im ganzen Hause) haben . Das muss verändert werden . Fünftens . Die Bewältigung der aktuellen Flüchtlings- (Zuruf der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE]) krise gelingt nicht allein auf nationaler Ebene . Sie ist eine Wir brauchen innerhalb Europas natürlich Solida- Herausforderung für die Europäische Union, für jeden rität . Zur Stunde hält Jean-Claude Juncker seine Rede Mitgliedstaat in der Europäischen Union, und das nicht zur Lage der Union . Er wird Vorschläge für einen ers- nur in praktischer Hinsicht, weil wir vielleicht sagen: Wir ten Schritt der fairen Verteilung unterbreiten . Insgesamt haben sehr viele Flüchtlinge und andere wenige .– Nein! brauchen wir aber eine verbindliche Einigung über eine Wenn Europa in der Flüchtlingsfrage versagen würde, verbindliche Verteilung von Flüchtlingen nach fairen dann ginge ein entscheidender Gründungsimpuls eines Kriterien zwischen allen Mitgliedstaaten, also eine an- geeinten Europas verloren, nämlich die enge Verbindung dere Verteilung als jetzt noch . Es wäre ja schon ein mit den universellen Menschenrechten, die Europa von wichtiger Schritt, wenn wir das erreichen würden, was Anfang an bestimmt hat und die auch weiter gelten muss . Jean-Claude ­Juncker heute vorschlägt, zum Beispiel eine Dafür werden wir gemeinsam kämpfen, meine Damen erste Diskussion auf dem Rat der Innen- und Justizminis- (B) und Herren . (D) ter am nächsten Montag . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir können nicht nur sagen: „Wir verteilen eine be- Deshalb müssen wir in Europa zu tragfähigen und stimmte Zahl von Flüchtlingen“, sondern wir müssen solidarischen Lösungen kommen . Die Westbalkankonfe- auch überlegen, wie wir mit den Flüchtlingen, die bei uns renz in Wien vor wenigen Tagen war ein guter Beitrag . ankommen, umgehen . Man kann hier keine Höchstgren- ze setzen und sagen, dass man sich darüber hinaus nicht Tragödien, wie die erstickten Flüchtlinge, die in einem darum kümmert, Lkw in Österreich gefunden wurden, dürfen sich nicht wiederholen . Wir müssen die Situation auf dem Mittel- (Dr . [DIE LINKE]: Sehr meer, aber auch die zwischen der Türkei und Griechen- richtig!) land viel besser unter Kontrolle bekommen . Wir müssen sodass dies die Sache von zwei, drei oder vier Ländern effektiv gegen Schlepperbanden vorgehen . Hierfür gibt ist, sondern es muss hier eine europäische Verantwortung es jetzt den Einstieg in die zweite Phase der entsprechen- geben . Nur so werden sich alle Mitgliedstaaten auch um den Operationen auf dem Mittelmeer . die Behebung von Fluchtursachen und internationalen Die deutschen Schiffe haben sich an der Rettung Konflikten kümmern. Auch das ist eine Gemeinschafts- von Flüchtlingen beteiligt, und ich möchte den Solda- aufgabe . tinnen und Soldaten der Marine, die bereits mehr als (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie 7 200 Flüchtlinge aus Seenot gerettet haben, ausdrück- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE lich einen herzlichen Dank sagen . GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Sechstens . Die geopolitische Situation, ob es der Bür- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- gerkrieg in Syrien ist, ob es der islamistische Terror im geordneten der LINKEN) Nordirak ist, ob es die politischen Systeme in Eritrea Wir müssen viel enger mit den Transit- und Her- oder Somalia sind, wird sich nicht über Nacht ändern . kunftsstaaten zusammenarbeiten . Auch sie müssen sicht- Selten haben wir in diesem Haus gespürt, wie eng die bar Verantwortung übernehmen . Wir werden im Novem- Innenpolitik, die Entwicklungspolitik und die Außen- ber einen Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs mit politik zusammenhängen . In Europa wird oft gesagt, es den Vertretern der Afrikanischen Union auf Malta haben gebe keinen Unterschied mehr, ob die europäische Po- und darüber reden . Die Europäische Kommission wird litik ein wenig mehr Innen- oder mehr Außenpolitik ist . das vorbereiten . Daneben werden wir auch das Gespräch Die Globalisierung bringt uns in eine Situation, in der wir 11614 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) plötzlich merken: Wenn wir – auch über die europäischen Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Grenzen hinaus – außen- und entwicklungspolitisch et- NEN): was nicht tun, dann kann das innenpolitisch gravierende Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle- Folgen haben . Das – davon bin ich zutiefst überzeugt – gen! Bevor ich auf die Flüchtlinge in unserem Land und wird die Realität des 21 .Jahrhunderts sein . Das ist der in Europa und ihre Situation zu sprechen komme, will Anfang und nicht das Ende einer Entwicklung, und wir ich gern auf zwei Dinge eingehen, Frau Bundeskanzle- müssen lernen, darauf zu reagieren . Daran arbeiten wir . rin, die Sie hier in Ihrem Rechenschaftsbericht erwähnt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie haben und die vielleicht wenigstens eines Faktenchecks bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE bedürfen . GRÜNEN) Der erste Punkt . Sie haben gesagt, die Bundesregie- Siebtens . Wir erleben immer wieder, dass es in Europa rung hätte einen Schwerpunkt auf Investitionen gelegt . Herausforderungen gibt, bei denen es ganz besonders auf Wir haben in der Tat einen gigantischen Investitionsstau uns ankommt, auf Deutschland, auf Deutschlands Kraft in unserem Land . Schienen, Straßen, Brücken, Schulen und auf Deutschlands Stärke . Sehr oft haben wir diese und vieles andere liegen im Argen . Diese Last wird vor Herausforderungen zusammen mit Frankreich bewältigt . allen Dingen von den Kommunen und Ländern getragen . Auch jetzt haben wieder der französische Präsident und Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich Ihren Haushalt an- ich, nach Vorarbeit der Innenminister, Vorschläge an die schauen und wenn Sie sich die mittelfristige Finanzpla- Kommission gemacht, wie wir die Flüchtlingssituation nung anschauen, dann sehen Sie: Investitionsquote unter besser meistern können . Aber wir erleben auch Situa- 10 Prozent mit sinkender Tendenz bis 2019 . Sie sollten tionen wie jetzt am Wochenende, als wir zum Beispiel hier ehrlich sein, Frau Bundeskanzlerin . gemeinsam mit Österreich eine Entscheidung gefällt ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben . Und wir haben diese Entscheidung aus humanitären Gründen gefällt . Der zweite Punkt . Sie haben sich in einem Nebensatz regelrecht verraten, indem Sie gesagt haben, TTIP wäre Wir wissen: Auch in der Euro-Krise haben wir nicht jetzt in diesem Haus nicht das Thema . immer alle zusammengestanden, sondern da stand Deutschland manchmal ganz schön alleine da, so jeden- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES falls meine Erinnerung . Aber was wir immer wieder er- 90/DIE GRÜNEN) lebt haben – das sollte uns Mut machen –, ist, dass es Den Eindruck haben wir auch . Die Unterlagen zu den genau diese Bereitschaft und diese Kraft Deutschlands Verhandlungen zum Freihandelsabkommen sind nämlich sein kann, die schließlich den Weg für eine europäische keinem einzigen Bundestagsabgeordneten zugänglich . (B) (D) Lösung freimacht . Aber 139 Personen können diese Unterlagen im Auftrag (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Bundesregierung in der amerikanischen Botschaft einsehen . Das verstehe ich nicht unter Parlamentarismus, Nicht, wenn wir uns verweigern, wird es wahrscheinlich, und das verstehe ich nicht unter Transparenz . Dann müs- dass wir eine europäische Lösung finden. Vielmehr wird sen Sie sich nicht wundern, wenn die Leute dagegen auf es dann, wenn wir mutig sind und manchmal vorange- die Straße gehen . hen, wahrscheinlicher, dass wir eine europäische Lösung finden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir erleben in Deutschland derzeit ein echtes Septem- Das ist aller Anstrengungen wert . bermärchen: Am Münchner Hauptbahnhof, in Dortmund, Liebe Kolleginnen und Kollegen, so groß die Her- in Saalfeld ausforderung auch ist – diese Herausforderung ist lang (Ulli Nissen [SPD]: In Frankfurt!) andauernd, und sie ist groß; ich mache mir da über- haupt keine Illusionen –, so sehr bin ich überzeugt, dass Und auch in vielen anderen Orten stehen Menschen an Deutschland sie bewältigen kann . Mehr noch: Ich bin den Bahnsteigen mit Essen und Trinken, mit Rat und Tat . überzeugt, dass wir es nicht nur können, sondern dass Wir sind plötzlich Weltmeister der Hilfsbereitschaft und wir, wenn wir es gut machen, wenn wir es mutig ange- Menschenliebe . „Die Welt zu Gast bei Freunden“ – das hen, wenn wir nicht verzagt sind, sondern Ideen suchen, bekommt plötzlich eine ganz andere Bedeutung . Und ich wenn wir kreativ sind, letztlich nur gewinnen können . kann zum ersten Mal sagen, dass ich uneingeschränkt Das sollte uns leiten bei der Bewältigung dieser Heraus- stolz auf mein Land bin, wären da nicht schon wieder forderung . Unterkünfte angezündet worden . Doch die Nazis sind in der Minderheit, und sie bleiben es auch . Herzlichen Dank . Was mich bewegt, ist der Ruck, der durch die Zivilge- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU sowie sellschaft geht . Es gibt Menschen, die bei der Bereitstel- bei Abgeordneten der SPD) lung von Unterkünften anpacken und Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen – wie unser Kollege . Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie bringen ihnen Deutsch bei, vermitteln sie in Arbeit Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin ­Göring-Eckardt und binden sich sogar lebenslang mit Bürgschaften . Sie für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . zeigen, dass Deutschland ein starkes und funktionsfähi- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11615

Katrin Göring-Eckardt (A) ges Land ist . Davon, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie der irgendwie begleichen . Das ist eine wirklich große (C) die ganze Zeit geredet; aber eigentlich müssten diese Aufgabe . Menschen Sie auch beschämen . Denn ohne die tausend- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fache Hilfe, die gerade landauf, landab geleistet wird, wären wir nicht in der Lage, die Flüchtlinge angemessen Es ist nicht einfach . Zu uns kommen Menschen, die zu versorgen . einen Bürgerkrieg, Diktatur und Verfolgung erlebt haben, Menschen aus anderen Kulturen, mit einem viel strenge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren Religionsverständnis, mit Vorstellungen zu Gleich- sowie der Abg . [DIE LIN- stellung und Homosexualität, die nicht die unsrigen sind . KE]) Heute geht es darum, winterfeste Quartiere zu organisie- ren, aber morgen schon darum, zu vermitteln, was unser Sie bemühen sich hier, den Eindruck zu erwecken, als Grundgesetz ausmacht . Ja, wir werden auch über unsere hätten Sie alles im Griff, als würde der Innenminister ei- Werte, über unsere Identität diskutieren müssen . Und wir nen guten Job machen, als hätten die Koalitionspartner werden klarmachen müssen: Unsere Gesetze gelten in an diesem Wochenende weitreichende Beschlüsse ge- diesem Land . fasst, als könnten Sie die Defizite im Umgang mit den Flüchtlingen sozusagen „wegmerkeln“ . Doch Sie ste- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cken in einem echten Dilemma und in einer Politikkrise . Integration, das geht nicht per Koalitionsbeschluss an Anders kann man es nicht bezeichnen . einem Wochenende . Deutschland funktioniert auch nicht Frau Bundeskanzlerin, Sie waren vor Heidenau kein nach dem Motto „Alte Bundesrepublik, neue Bundeslän- der und Flüchtlinge – und das war’s dann“ . Unser Land einziges Mal in einer Flüchtlingsunterkunft . Ich gebe wird sich verändern, und es hat sich schon verändert . zu, ich konnte es gar nicht glauben, dass Sie bis dahin Heute haben bereits 30 Prozent der Kinder und Jugend- einen Bogen um die Schicksale derer gemacht haben, lichen einen Migrationshintergrund, und dabei habe ich deren Verwandte im Mittelmeer ertrunken sind, deren die „Ossis“ noch nicht mitgerechnet . Geschwister in Aleppo sitzen und am Telefon Schüsse hören . Welche Aufmerksamkeit, welche Energie und welche Ressourcen lassen wir denen zukommen, die heute schon Sie haben, als Sie in der Schweiz diskutierten, spät, in unserer Gesellschaft chancenlos sind? Auch diese Fra- sehr spät, aber dann die richtigen Worte gefunden – auch ge müssen Sie beantworten . An den Langzeitarbeitslosen zum Islam in unserem Land und zum Christentum . Vie- in unserem Land droht der Zug der Koalitionsbeschlüsse le sehen das Filmchen jetzt im Internet . Sie haben letzte nämlich gänzlich vorbeizuziehen . Ich halte das für un- (B) Woche Worte gefunden und am Wochenende auch deut- verantwortlich mit Blick auf den Zusammenhalt in der (D) lich gemacht: Wir sind aufnahmebereit . Als ich Sie heute Gesellschaft . hier gehört habe, habe ich gedacht, dass Sie schon wie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der im Verwaltungsmodus sind . Jetzt müssen aber Taten folgen, deutsche Flexibilität, ja, aber noch viel wichtiger Frau Merkel und die Koalition, Sie haben ein So- deutsche Schnelligkeit . Es kann nicht sein, dass jetzt wie- fortprogramm vorgelegt . Aber das reicht nicht . Bei der Wochen verstreichen, bis verhandelt wird . Migration und Integration geht es um eine gesamtge- sellschaftliche Aufgabe . Deswegen brauchen wir mehr: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir brauchen einen nationalen Flüchtlingspakt . Setzen sowie der Abg . Halina Wawzyniak [DIE LIN- Sie sich mit allen zusammen, die Verantwortung haben KE]) und übernehmen: mit den Ländern, den Kommunen, den Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen Packen Sie bitte in die Konzepte für morgen nicht und den Arbeitgebern! Es muss jetzt um die Frage ge- schon wieder die Rezepte von gestern: Sachleistungen in hen, wie Deutschland in 20 Jahren aussieht und was un- Erstaufnahmeeinrichtungen . Ja, sollen denn demnächst sere Identität ausmacht, statt darum, zu verwalten und zu tatsächlich Drogeriegutscheine, Fahrkarten oder Ziga- „merkeln“ . retten als Sachleistung ausgegeben werden? Haben die Helfer denn wirklich nichts anderes zu tun, meine Damen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Herren? sowie der Abg . Halina Wawzyniak [DIE LIN- KE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Warum – diese Frage muss ich stellen, weil ich finde, sowie bei Abgeordneten der SPD und der aus der Vergangenheit zu lernen, kann auch einen Erfolg LINKEN) für die Zukunft bedeuten – sind wir jetzt in diesem Kri- Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt: Wir stehen senmodus? Wegen der 800 000 Menschen, die dieses vor einem Problem von der Dimension der deutschen Jahr zu uns kommen sollen, wie der Innenminister pro- Einheit . Da gebe ich Ihnen auch recht . Deshalb dürfen gnostiziert? Vermutlich werden es mehr sein, wie Han- wir aber die Fehler von damals nicht wiederholen . Der nelore Kraft zu Recht sagt . Ja, aber diese Menschen sind Osten besteht heute nicht nur aus blühenden Landschaf- schon lange unterwegs . Nur ist das der Bundesregierung ten, und es hat auch mehr als ein paar Pfennige gekostet . nicht aufgefallen . Genauso wenig lässt sich die Flüchtlingshilfe jetzt mit Ich greife willkürlich ein Jahr heraus: 2008 verzeich- einer Einmalzahlung von 3 Milliarden Euro an die Län- nete Deutschland 28 000 Anträge auf Asyl . So viele kom- 11616 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Katrin Göring-Eckardt (A) men derzeit in drei Tagen zu uns . Für 2008 meldete der Migration und Flüchtlinge . Hinter jedem dieser Anträge (C) UNHCR 42 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht . steht ein Mensch, der nicht weiß, was die Zukunft für ihn Heute sind es 60 Millionen . Sie hätten es sehen können . bringt . Dieses Versagen von Verwaltung, diese Langsam- keit und dieses Sich-nicht-darum-Kümmern, dass Men- Frau Bundeskanzlerin, die Flüchtlingspolitik ist in schen dort eingestellt oder dahin versetzt werden – das der Krise . Aber Sie haben den Grund dafür bisher nicht müssen Sie sich sagen lassen, Herr Innenminister –, hat benannt . Deswegen will ich das tun: Das deutsche diese Krise, in der wir sind, und die Schwierigkeiten, in Sankt-Florians-Prinzip ist in sich zusammengebrochen . denen die Länder und Kommunen jetzt sind, verstärkt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) herbeigeführt . Das Prinzip, Flüchtlinge sollten möglichst weit weg von (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist doch Deutschland bleiben, am besten in den Herkunftsländern, Quatsch!) deren Nachbarländern oder jedenfalls in den Staaten der Wenn Sie jetzt nicht umkehren und nicht ganz schnell EU-Außengrenzen, ist wie ein Dominospiel zusammen- dafür sorgen, dass Hunderte zusätzliche Entscheider geklappt . beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Be- Bevor Deutschland in die Krise kam, haben wir ande- arbeitung der Anträge eingestellt werden, dann werden re Staaten in dieselbe geschickt . Im Libanon ist heute je- wir in eine zunehmend schwierigere Situation kommen . der vierte Einwohner ein Flüchtling . In der Türkei leben Das wird dann auf dem Rücken der Flüchtlinge sowie der fast 2 Millionen Flüchtlinge . Als Sie mit Herrn Erdogan Kommunen und Länder ausgetragen . Das geht so nicht . geredet haben, Frau Merkel, haben Sie, hoffe ich, auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN etwas zum Umgang mit der Halkların Demokratik Partisi sowie der Abg . Halina Wawzyniak [DIE LIN- (HDP) und den Kurden gerade in diesem Land gesagt . KE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es geht um Flexibilität, wie die Bundeskanzlerin ge- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sagt hat . Ja, ich bin dafür . Ich bin dafür, Standards abzu- Bei uns wird ein Flüchtling auf 100 Einwohner kom- senken, wenn es um den Bau von Quartieren geht . Das men . Wie lange konnte dieses Ungleichgewicht noch ist nun einmal so in dieser Situation, auch wenn uns das weitergehen? Dieser Dominostein kippte als erster . Im nicht gefällt und das nicht von Dauer sein darf . Bund und letzten Jahr kamen schon 170 000 Flüchtlinge nach Ita- Länder sollen nun 3 Milliarden Euro bekommen . Wofür lien und 43 500 nach Griechenland . Das war ein Anstieg soll das eigentlich reichen? Mit welchen Flüchtlingszah- um 280 Prozent . Jedem kritischen Beobachter war klar: len rechnet man? Soll dieser Betrag für 150 000 Flücht- Hier bahnte sich ein Kollaps an, und das europäische linge, für 300 000 Flüchtlinge, von denen wir zu Beginn (B) und deutsche Asylsystem kann nicht mehr funktionieren . dieses Jahres ausgingen, oder für 800 000 bzw . 1 Million (D) Hier kippte der nächste Dominostein . Flüchtlinge, von denen andere ausgehen, reichen? Was wir jetzt brauchen, ist Verlässlichkeit . Die Kommunen Ich will daran erinnern, was die Antworten des Innen- müssen wissen, welchen Betrag pro Flüchtling sie erhal- ministers waren: mehr Frontex, mehr scheinbar sichere ten und dass sie diesen Betrag vom Bund auf jeden Fall Herkunftsstaaten und eine tödliche lange Zeit keine Un- bekommen, egal wie viele Flüchtlinge kommen; darauf terstützung der italienischen Marine bei Mare Nostrum­ kommt es jetzt an . Es darf kein Geschenk geben, nur weil und der Seenotrettung . Es mussten erst an einem Wo- alle wieder einmal laut schreien . Wichtig ist Verlässlich- chenende 1 000 Menschen ertrinken, bevor die Bun- keit . Diese kann man von der Bundesregierung erwarten . desregierung bereit war, Schiffe und Bundesmarine zu mobilisieren . Das war beschämend . Daran muss erinnert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden, damit es nie wieder passiert, auch wenn die Bil- Sie haben die Entwicklungen in Europa und die au- der von den ersten Seiten der Zeitungen verschwinden . ßenpolitische Situation angesprochen . Aber es kann doch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht sein, dass wir noch immer keine sicheren Wege nach sowie der Abg . Ulli Nissen [SPD]) Europa haben . Es kann doch nicht sein, dass man noch immer einem Schlepper 1 000 oder sogar 4 000 Euro zah- In dieser Zeit wurde übrigens auch nicht über gerechte len muss, obwohl ein Flug von Bodrum nach Berlin nur Verteilung innerhalb Europas diskutiert . Ich will Sie nur 77 Euro kostet . Schlepperbekämpfung betreibt man am daran erinnern: 2013 konnte man sich nicht einigen, ob besten mit sicheren Wegen . Das macht man nicht, indem man in Deutschland nun 5 000 oder 10 000 Flüchtlinge man nur so tut, als würde man Schlepper bekämpfen, aus Syrien aufnimmt . Wer heute mit dem Finger auf an- aber letztendlich „Schiffe versenken“ spielt . Schlepper dere Länder zeigt, darf sich zumindest daran erinnern . bekämpft man, indem man sichere Wege nach Europa Hat sich eigentlich das Bundesinnenministerium je- schafft und diesem Unwesen endlich ein Ende setzt . mals gefragt, was passiert, wenn dieser Asylschutzschirm (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zusammenbricht, den Sie über Deutschland gespannt hat- und bei der LINKEN) ten? Wie haben Sie die Länder und Kommunen in der Vorbereitung unterstützt? Welche Krisenpläne hatte das Ich will noch ein Wort zu den sogenannten Anreizen BMI eigentlich ausgearbeitet? Die Antwort ist ein vielfa- und zur CSU sagen, die von dieser fixen Idee nicht lassen ches Nichts . Stattdessen hat Deutschland gerade einmal will . Ob nun Zäune errichtet werden, Gutscheine einge- so viele Entscheider für Asylverfahren wie die Nieder- setzt werden oder abgelehnte Asylbewerber schlechter lande: 500 . 250 000 Anträge liegen im Bundesamt für behandelt werden – ich glaube übrigens, dass dieser Vor- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11617

Katrin Göring-Eckardt (A) schlag verfassungswidrig ist –, all das ist den Kriegs- Herr Kollege Straubinger, Ihnen kann ich nur sagen: (C) und Armutsflüchtlingen keinen einzigen Gedanken wert. Gehen Sie doch rüber . Gehen Sie einmal nach Damaskus, Wenn einmal mit den Flüchtlingen in den und schauen Sie sich an, wie es sich dort gerade lebt . Erstunterkünften gesprochen hätte, wüsste er das . Ange- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Warum? Er ist sichts der Äußerungen der CSU am Wochenende habe Deutscher!) ich mich gefragt: Warum steht der bayerische Minis- Treffen Sie doch einmal ein paar Flüchtlinge, statt vom terpräsident eigentlich nicht am Hauptbahnhof in Mün- Schreibtisch aus die Welt zu erklären . Jetzt zu sagen, man chen? Gibt es momentan wichtigere Aufgaben als das? könne auch nach Syrien abschieben, das finde ich der Si- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tuation nicht angemessen. Ich finde, das ist den Flüchtlin- sowie bei Abgeordneten der SPD und der gen gegenüber eine Katastrophe . Sie schüren Unsicher- heit, und Sie schüren damit zugleich noch Ressentiments . LINKEN) Hören Sie damit sofort auf! Herr Steinmeier, im April letzten Jahres – ich habe das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN extra nachgeschaut – haben wir Sie auf den Schwarzhan- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten del mit Visa in Beirut aufmerksam gemacht . Seither ist der SPD) die dortige Visastelle etwas ausgebaut worden . Das, was uns die Bürgerinnen und Bürger jetzt gerade (Dr . Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Etwas?) vormachen, können wir nutzen, etwa als Aufbruch . Ich meine die Humanität, die Freundlichkeit und auch die Aber die Wartezeit auf ein Visum beträgt in Beirut noch Bereitschaft, etwas über die eigene Kraft hinaus zu tun . immer ein halbes und in Ankara fast ein ganzes Jahr . Hier Wir können es aber auch nutzen, um klarzumachen: Das geht es um Familienzusammenführung und Menschen, geht weiter . Ja, wir brauchen ein modernes Einwande- die unter fürchterlichen Bedingungen leben und zu uns rungsgesetz, damit die Neubürger, von denen Sie gespro- kommen dürfen . Sie müssen warten, weil die Adminis- chen haben, Frau Bundeskanzlerin, irgendwann zu Mit- tration nicht funktioniert . Ich akzeptiere das nicht und bürgerinnen und Mitbürgern werden können . Ich frage erwarte von Ihnen, dass Sie dort Abhilfe schaffen . mich, wie viel Unterstützung hat eigentlich Ihr General- sekretär dafür? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, so Frau Bundeskanzlerin, in der Finanzkrise haben Sie groß Ihr Fortschrittsvorsprung gefühlt auch sein mag, bemerkenswerte Ruhe und Schnelligkeit – darauf haben leider ist Ihnen recht spät aufgefallen, dass Sie wenigs- (B) Sie selbst hingewiesen – an den Tag gelegt . Aber dann tens ein „Einwanderungsgesetz light“ wollen . Lieber (D) kam erst einmal nichts, keine Bankenregulierung und , da müssen Sie sich vielleicht fragen: WwTSt? – Was würde Til Schweiger tun? Wir werden keine effiziente Aufsicht. Kurze Zeit später stolpert Eu- einen entsprechenden Entwurf hier noch einmal zur Ab- ropa in die Griechenland-Krise . Beispiel Atomausstieg: stimmung stellen, und dann können auch Sie für ein Ein- Unter dem Eindruck der Ereignisse in Fukushima korri- wanderungsgesetz stimmen . gierten Sie Ihren Fehler beim Atomausstieg . Aber seither dümpelt die Energiewende vor sich hin . Ich kann nur hof- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fen, dass es diesmal anders ist und dass Sie nun voraus- Meine Damen und Herren, Flüchtlingspolitik, ja, das schauend und auf Dauer handeln . ist eine europäische Aufgabe . Wir sind das potenteste Land in Europa, und aus dieser Stärke folgt dann eben Ein starkes Land wie unseres kann die Aufnahme von auch Verantwortung . Die Verantwortung darf aber eben Schutzsuchenden stemmen . Wir können das Zusammen- nicht heißen: „Was ist gut für Deutschland?“, sondern leben organisieren und die Menschen mit ihren Befürch- muss heißen: Was ist gut für Europa? Das ist der qualita- tungen und Ängsten mitnehmen . Aber dafür braucht es tive Schritt, um den es geht . Wir können hier nicht über mehr als technokratisches Administrieren, nämlich Em- die Lasten der Flüchtlingsaufnahme stöhnen und weiter pathie, Überzeugungskraft und eine entschlossene Hal- jeden Elan bei der Bekämpfung der Fluchtursachen ver- tung gegenüber fremdenfeindlichen Tendenzen, wie Sie missen lassen . selber gesagt haben . Ich hoffe sehr, dass das so bleibt . Das gilt aber übrigens auch für die Bekämpfung der Dafür kann ich Ihnen auch die Mitarbeit der Grünen zu- Fluchtursachen auf dem europäischen Kontinent . Wer sagen . Geld in Staaten mit korrupter Verwaltung gibt, muss kon- trollieren, wo und wie dieses Geld ankommt, und zwar Da gibt es ein paar Grundsätze: Jede und jeder hat erst recht, wenn es um die Verbesserung der Situation der das Recht, überprüfen zu lassen, ob er oder sie Anspruch Schwächsten, nämlich der Roma in einigen Balkanstaa- auf Asyl hat . Weil es dieses Grundrecht gibt, meine Da- ten, geht . men und Herren, kann es schon rechtslogisch gar keinen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Asylmissbrauch geben . Deswegen: Hören Sie auf, solche sowie der Abg . Dr . [DIE LINKE]) Worte zu benutzen . Wer, wie Herr Juncker das getan hat, das Signal an den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Westbalkan sendet, dass Europa nicht dorthin kommt, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) muss sich nicht wundern, dass sich die Menschen auf- 11618 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Katrin Göring-Eckardt (A) machen, um in dieses Europa zu kommen . Deswegen ist sem Haushaltsentwurf wieder und wieder Milliarden für (C) der Arbeitsmarktzugang für diese Menschen so wichtig . umweltschädliche Subventionen . Energiewende im Ver- Wir helfen an dieser Stelle ja gern mit Ideen . Haben Sie kehrsbereich? Anstieg statt Reduzierung des Verbrauchs! sie aufgenommen? Ich hoffe, Sie setzen sie auch so um, Nur halb so viel Strom aus Erneuerbaren – nicht wie wir, dass es nicht nur bei Überschriften bleibt, die eine Beru- wie Sie sich vorgenommen haben –, ja, hat das irgend- higungspille sein sollen . was mit Energiewende zu tun? Das ist das Gegenteil von Herr Gysi, vielleicht können Sie das Ihrer Fraktion Energiewende! als Abschiedsgeschenk ins Stammbuch schreiben: Wer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Europa immer nur schlechtredet, kann auf der anderen Seite nicht an die europäische Solidargemeinschaft ap- Wenn man das Klimaschutzprogramm der Bundes- pellieren . regierung liest, dann muss man Aktionen schon mit der Lupe suchen . Prüfauftrag, Prüfauftrag, Gutscheine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für Sprit-Spar-Training bei Neuwagenkauf – eine wirk- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und lich sehr schöne Maßnahme . Wen soll das eigentlich der SPD und der Abg . Halina Wawzyniak beeindrucken? Stattdessen subventionieren Sie weiter [DIE LINKE]) Kohledreckschleudern, obwohl die ordentlichen Gas- Es ist immer viel leichter, das Böse in den USA zu se- kraftwerke dastehen . Das ist eine Subvention der Koh- hen, als sich selber Gedanken über Fluchtursachen und leindustrie . Das hat nichts mit Versorgungssicherheit über eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europa für die Menschen und Stromkunden zu tun, sondern mit zu machen . Versorgungssicherheit für die Kohleindustrie, meine Da- (Ulli Nissen [SPD]: Sehr gut!) men und Herren . Nein, wir werden dieses Thema nicht vergessen Meine Damen und Herren, vor eineinhalb Jahren be- gann die Debatte über mehr Verantwortung in der Welt . (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schön!) Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung war das und werden Ihnen immer wieder sagen: Sie haben auch sehr schnell eine Debatte über den Einsatz militärischer hier eine Verantwortung . Mittel . Da passt es ja ganz prima, wenn der Wirtschafts- minister munter im Namen der Wirtschaftsförderung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rüstungsgüter in autokratische Staaten und in Krisen- Ich bleibe dabei, trotzdem: Die Flüchtlingsfrage wird regionen exportiert . Ich weiß, dass Sie das nervt, Herr die größte Aufgabe sein und bleiben . Ich habe mir den Gabriel . Ich werde es trotzdem immer wieder sagen . Ich Clip angeguckt, Frau Bundeskanzlerin . Sie haben in (B) werde es auch laut sagen, weil Sie sich an dem messen (D) lassen müssen, was Sie selber überall versprechen und Zürich, als Sie über den Islam sprachen, auch über das wie einen heiligen Gral mit sich herumtragen . Christentum geredet und beklagt, dass man in Deutsch- land zu wenig Kenntnisse darüber habe, was das Pfingst- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fest bedeutet . Diese Chance kann ich mir jetzt nicht ent- Dazu gehört es auch, dass wir mit unseren Expor- gehen lassen . tüberschüssen verhindern, dass schwächere Länder eige- (Dr . Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Ich ne rentable Wirtschaftsstrukturen aufbauen können; viel- weiß es!) mehr zerstören wir vielerorts die kleinbäuerliche lokale Landwirtschaft und lassen durch unser „Geiz ist geil“ – Dass Sie es wissen, ist mir klar . im Fleischkonsum ganze Weltregionen über die Klinge (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie auch! Das springen . wissen wir auch!) Vielleicht hoffen Sie ja, dass angesichts der gegenwär- Als der Heilige Geist erschien, begannen die hebrä- tigen Situation und wegen der Aufnahme der Flüchtlinge isch sprechenden Jünger, plötzlich fremde Sprachen zu die Klimakrise aus dem Blick gerät . Falsch! Während verstehen . Ich schlage vor: Wir nehmen dieses Bild für Barack Obama trotz des beginnenden Wahlkampfes sein politisches Gewicht mit Blick auf die Klimaschutzab- genau das, was Deutschland als Vision gut gebrauchen kommen in die Waagschale wirft, verharrt die Bundesre- kann . Wir verstehen einander: unterschiedliche Kultu- gierung im Mittelmaß . ren, Religionen, Herkunft, Geschichten . Damals war es der Geburtstag der Kirche . Ehrlich gesagt, wenn wir es Es gibt viele Lichtblicke auf der Welt .– Das haben Sie, schaffen könnten, das Ganze jetzt als Chance zu betrach- Frau Bundeskanzlerin, vorhin gesagt . Das stimmt – nur ten, dann wäre das vielleicht der Geburtstag eines neuen leider nicht bei uns . Auf dem internationalen Parkett re- Deutschland – den Sie von Klimaschutz, aber dann vergessen Sie auf dem Heimweg immer, dass Sie zu Hause auch liefern (Volker Kauder [CDU/CSU]: Neues Deutsch- müssen . Jetzt ist die Gefahr riesig, dass Paris auf die letz- land, das hatten wir mal! Das war nichts!) te Minute ein unbefriedigendes Ergebnis erzielt, weil es wenn Sie es ernst meinen, wenn Sie es tun und wenn Sie eben nicht ordentlich vorbereitet ist . es nicht nur verwalten . Sie reden von Dekarbonisierung der Wirtschaft, aber Vielen Dank . Sie scheinen davon auszugehen, dass das irgendwie von allein passiert. Stattdessen finden sich auch in die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11619

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: sie versorgt werden können, bis sie weiterverteilt wer- (C) Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann den. Ich finde, das ist großartig. für die SPD-Fraktion . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Volker In der Griechenland-Krise haben wir gelernt, wie un- Kauder [CDU/CSU]) erlässlich ein funktionierendes Staatswesen ist . In der Flüchtlingskrise sehen wir jetzt, wie unschätzbar wert- Thomas Oppermann (SPD): voll eine mitfühlende, aktive und gut organisierte Zivil- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe gesellschaft ist . Katrin Göring-Eckardt, ich fand nicht alles falsch, was (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sie als Kritik gesagt haben, aber angesichts der Größe der Aufgabe, mit der wir es zu tun haben, fand ich Ihre Diese Hilfsbereitschaft gehört zu den wertvollsten Tu- Kritik insgesamt doch ein bisschen kleinteilig . genden, zu den wertvollsten Ressourcen unserer Gesell- schaft . Sie macht unser Land stark, sie hält es zusam- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) men, und sie zeigt uns allen: Wir können es schaffen . Ich bin überzeugt: Auf Dauer kann diese Kraft weit über die Vor allen Dingen habe ich vermisst, dass Sie wenigstens Flüchtlingsfrage hinaus unser Land positiv verändern . an einer Stelle sagen: Wir schaffen das .– Diese Aufgabe ist so groß, dass auch die Opposition mithelfen muss . (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Deutschland ist gewiss ein starkes Land . Daraus er- GRÜNEN]: Das habe ich gesagt! Da haben wächst eine besondere Verantwortung . Wir werden auch Sie wieder nicht zugehört!) in Zukunft mehr Flüchtlinge aufnehmen als andere . Aber zu einer realistischen Bewertung unserer Kräfte gehört Meine Damen und Herren, was wir in diesem Som- auch, dass wir sagen: Allein mit Schweden und Öster- mer, was wir insbesondere am letzten Wochenende erlebt reich an unserer Seite können wir es nicht schaffen . Ganz haben, das wird uns noch lange in Erinnerung bleiben . Europa muss sich der Verantwortung für die Flüchtlinge Nachdem Tausende von Flüchtlingen tagelang, zum Teil stellen . Das können nicht einzelne Länder schaffen . ohne Trinkwasserversorgung, in Budapest auf öffentli- chen Plätzen und Bahnhöfen ausharren mussten, immer (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) verzweifelter wurden, einige sich schon aufgemacht Ich finde, der schwedische Premierminister Stefan hatten, um in Fußmärschen über die Autobahn nach Löfven, der gestern bei der Kanzlerin war, hat recht, (B) (D) Deutschland und Österreich zu kommen, hat die Bundes- wenn er sagt: Die Flüchtlingskrise ist eigentlich in Euro- regierung die Entscheidung getroffen, diese Flüchtlinge pa keine Flüchtlingskrise, sondern eine Verantwortungs- aufzunehmen. Ich finde, das war eine absolut richtige, krise . das war die einzig mögliche Entscheidung, die getroffen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden konnte . der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jedem muss doch klar sein: Wenn sich die Europäische Volker Kauder [CDU/CSU]: Möglich waren Union nicht auf eine faire Verteilung der Flüchtlinge nach noch andere, aber richtig war es!) festen Quoten einigen kann, dann steht eine der größten 20 000 Flüchtlinge an einem Wochenende! Ich finde, Errungenschaften dieser Union infrage, nämlich die offe- München hat diese Situation hervorragend gemeistert . nen Grenzen . Wir wollen die offenen Grenzen verteidi- Während in Budapest das Chaos und die Hilflosigkeit gen . Aber dafür brauchen wir eine gemeinsame europäi- dominierten, gab es aus München Bilder der Hilfsbereit- sche Flüchtlingspolitik, meine Damen und Herren . schaft, der Solidarität und des gegenseitigen Respekts . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich möchte mich bei allen Mitarbeitern des öffentlichen Zehntausende Flüchtlinge auf der Balkan-Route, über- Dienstes und bei allen Ehrenamtlichen, die das geleistet füllte griechische Inseln – all das zeigt: Die alte Ordnung haben, ganz herzlich bedanken . funktioniert nicht mehr, und zwar nicht erst, seitdem (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Deutschland die Anwendung von Dublin III auf syrische LINKEN) Flüchtlinge ausgesetzt hat . Es ist doch schon länger klar, dass die Ankunftsländer wie Italien, Griechenland oder Dank dieser Helfer zeigt sich Deutschland in diesen Ta- jetzt auch Ungarn damit überfordert sind, die große Zahl gen der ganzen Welt von seiner besten Seite . der Flüchtlinge allein zu bewältigen . Darüber – das muss (Beifall bei Abgeordneten der SPD) man ehrlicherweise sagen – haben wir selber lange genug hinweggesehen . Als am Sonntagmorgen um 6 Uhr ein Zug aus Mün- chen mit 900 Flüchtlingen in Braunschweig ankam, hat- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten Stunden zuvor schon die Malteser, die Johanniter, das Ein erster richtiger Schritt ist es jetzt, dass die EU Auf- Rote Kreuz und die freiwillige Feuerwehr aus den Braun- nahmezentren zur Registrierung der Flüchtlinge in den schweiger Ortsteilen mitten in der Nacht dafür gesorgt, Ankunftsländern zusammen mit dem UNHCR aufbaut . dass die Flüchtlinge aufgenommen werden können, dass Aber im Grunde genommen brauchen wir einheitliche 11620 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Thomas Oppermann (A) Asylregeln in ganz Europa; denn nur wenn Flüchtlin- Unterbringung der Flüchtlinge verbessern und die Asyl- (C) ge innerhalb Europas gleichbehandelt werden, wird der verfahren beschleunigen . Unser Ziel ist es, dass nur noch Verschiebebahnhof für Flüchtlinge in Europa enden . Ich Flüchtlinge mit Bleibeperspektive auf die Kommunen finde, dieser Verschiebebahnhof muss aufhören, meine verteilt werden, damit sich diese von Anfang an voll und Damen und Herren . ganz auf die Integration konzentrieren können . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir werden neue Erstaufnahmeplätze finanzieren und der CDU/CSU) das Abweichen von Baustandards erlauben, um jetzt schnell handeln zu können . Am wichtigsten ist natürlich, Ich glaube auch, dass Deutschland mit seinem mu- dass wir die Länder und Kommunen mit 3 Milliarden tigen Vorgehen viele in Europa wachgerüttelt hat . Vie- Euro unterstützen . Denn wir dürfen die Sorgen der Men- le Menschen schauen auf Deutschland und fragen sich: schen, die hier leben, nicht vergessen . Die Kommunen Warum sind unsere Regierungen nicht dabei? Immerhin müssen trotz der Aufnahme von Flüchtlingen handlungs- will jetzt auch David Cameron Flüchtlinge aufnehmen: fähig bleiben . Das ist der entscheidende Faktor für den 20 000 Syrer in vier Jahren, so viel wie am vergangenen sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft . Wochenende in München angekommen sind. Ich finde, das darf nicht das letzte Wort von David Cameron sein . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir haben am Sonntag auch entschieden, dass unser Mit aller Entschlossenheit müssen wir jetzt auch die Bildungssystem und der Arbeitsmarkt für die Flüchtlin- Fluchtursachen bekämpfen; denn Menschen auf der ge schnell geöffnet werden müssen . Das ist von großer Flucht in Europa Asyl zu gewähren, ist immer nur die Bedeutung . Wir dürfen die Fehler nicht wiederholen – zweitbeste Lösung . Die bessere Lösung ist, dafür zu sor- darauf hat die Bundeskanzlerin auch hingewiesen –, die gen, dass sie gar nicht erst fliehen müssen. wir bei den Gastarbeitern gemacht haben . Bei ihnen ha- Dabei brauchen vor allem die Anrainerstaaten der ben wir auf schnelle Integration verzichtet in dem Glau- Herkunftsländer dringend Hilfe . In Jordanien, im Liba- ben, sie würden uns bald wieder verlassen . Das war ein non, in der Türkei verlassen jeden Tag Tausende Men- schwerer, ein folgenreicher Irrtum . schen die Flüchtlingslager, weil dort katastrophale Ver- Auch die meisten Flüchtlinge aus Kriegsgebieten wer- hältnisse herrschen . Das UN-Flüchtlingswerk braucht den auf Dauer bei uns bleiben . Das dürfen wir nicht nur in diesem Jahr 4,5 Milliarden Euro, um die Menschen als Belastung sehen . Das müssen wir auch begreifen als in den Lagern um Syrien herum angemessen zu versor- eine große Chance für eine alternde Gesellschaft, junge gen . Aber im Augenblick stehen nur 1,7 Milliarden Euro Fachkräfte zu gewinnen . (B) zur Verfügung . Wenn der UN-Flüchtlingskommissar aus (D) Finanznot die Lebensmittelrationen kürzen muss, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dürfen wir uns nicht wundern, wenn immer mehr Flücht- der CDU/CSU) linge aus diesen Lagern weiterziehen nach Europa . Wenn wir es dieses Mal besser machen, dann können (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht nur die Flüchtlinge von Deutschland, dann kann der CDU/CSU) auch Deutschland von den Flüchtlingen profitieren. Diese Lücke muss die internationale Staatengemein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schaft schließen . Ich bin froh, dass die Koalition dafür Deshalb müssen wir jetzt unsere volle Konzentration 400 Millionen Euro bereitstellen will . Aber das wird richten auf Kita, Schule, Spracherwerb, Ausbildung, Be- nicht reichen . Deshalb bitten wir den Entwicklungshil- schäftigung . Bei den Flüchtlingen, die ohne Ausbildung feminister, zu prüfen, welche Umschichtungen in sei- zu uns kommen, ist es genauso wie bei denen, die bei uns nem Etat möglich sind . Dieser wächst in diesem Jahr leben und keine Ausbildung haben . Ich bin davon über- um 880 Millionen Euro . Aber für die Sonderinitiative zeugt, dass sich jeder Euro, den wir heute in Ausbildung „Fluchtursachen bekämpfen“ sind bisher nur 40 Millio- und Qualifizierung stecken, in Zukunft um ein Vielfaches nen Euro zusätzlich vorgesehen. Ich finde, wir müssen in auszahlen wird . Die Frage, wie lebenswert Deutschland der Entwicklungspolitik einen deutlich stärkeren Akzent in 10 oder in 20 Jahren sein wird, hängt davon ab, wie wir auf die Fluchtursachen setzen . heute mit den Flüchtlingen umgehen, wie wir sie aufneh- (Beifall bei der SPD) men und wie wir sie integrieren . Meine Damen und Herren, mit ihrer großartigen Hilfs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bereitschaft sind die Menschen in Deutschland in den der CDU/CSU) vergangenen Wochen und Monaten bei der Flüchtlings- Zur Wahrheit dieses Sommers gehört aber auch, dass aufnahme quasi in Vorleistung gegangen . Jetzt müssen nicht nur Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte zu auch die notwendigen staatlichen Entscheidungen getrof- uns kommen, sondern auch viele Menschen, insbeson- fen werden . Wir müssen zeigen, dass der Staat die Lage dere aus dem Balkan, die Arbeit und ein besseres Leben im Griff hat und fähig ist, die Aufnahme der Flüchtlinge suchen . Dafür habe ich ganz viel Verständnis . Aber diese so zu gestalten, dass der soziale Zusammenhalt unserer Leute haben keine Chance, bei uns Asyl zu bekommen . Gesellschaft nicht verloren geht . Deshalb, finde ich, ist es auch ein Gebot der Fairness, Deshalb hat die Koalition am vergangenen Wochen- ihnen das ganz klar zu sagen, damit sie nicht weiterhin ende ein kräftiges Paket beschlossen . Wir werden die immer wieder ihre gesamten Ersparnisse den Schleusern Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11621

Thomas Oppermann (A) anvertrauen . Deswegen ist es auch richtig, dass wir über tigen Menschen wurden in Sachsen viel zu lange allein- (C) die Anträge aus diesen Ländern in einem vereinfachten gelassen . Ich hoffe, das ändert sich jetzt . Verfahren entscheiden . (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Dr . Bei der Frage der sicheren Herkunftsländer geht Dietmar Bartsch [DIE LINKE]) es nicht darum, die Flüchtlinge in gute und schlechte Auch wenn die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit Flüchtlinge einzuteilen, sondern es geht um unterschied- im Augenblick der Flüchtlingsfrage gilt, dürfen wir da- liche Grade der Schutzbedürftigkeit . Weil wir nicht alle rüber die anderen politischen Fragen nicht vergessen . aufnehmen können, müssen wir uns auf die besonders Deutschland ist ein Land mit stabilem Wachstum . Wir Schutzbedürftigen konzentrieren . haben die niedrigste Arbeitslosenquote und den höchsten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Stand der Beschäftigung seit der deutschen Einheit; wir haben wachsende Steuereinnahmen . Aber die Börsentur- Die richtige Antwort ist deshalb ein Einwanderungsge- bulenzen in China zeigen, wie schnell die internationale setz, konjunkturelle Lage sich ändern und wie schnell damit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch die deutsche Exportwirtschaft unter Druck geraten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kann . Deshalb ist es gut, dass wir in dieser Koalition mit dem Mindestlohn, mit den hohen Tarifabschlüssen ein Einwanderungsgesetz, mit dem wir die Nachfrage nach gut ausgebildeten Arbeitnehmern steuern können . ( [DIE LINKE]: Das haben Ich bin froh, dass wir uns immerhin darauf verständigt Sie aber nicht gemacht!) haben, in begrenzter Zahl Arbeitsvisa für qualifizierte und mit Investitionen eine starke Binnenwirtschaft als Arbeitnehmer aus dem Westbalkan zu vergeben, die in zweites wirtschaftliches Standbein geschaffen haben . Deutschland einen tarifgebundenen Arbeits- oder Ausbil- Der Export bleibt natürlich für unser Land eminent wich- dungsplatz haben . Auch wenn es in der Koalition noch tig; aber wir haben jetzt durch wachsende Kaufkraft eine keine Einigung über ein Einwanderungsgesetz gibt – das starke Binnenwirtschaft, und das hilft uns sehr . ist ein erster Schritt in die richtige Richtung . Mit unserem Haushaltsentwurf für 2016 zeigen wir, dass (Beifall bei der SPD) diese Koalition die Infrastruktur unseres Landes weiter Sosehr uns die Hilfsbereitschaft in unserem Land in im Auge hat . Wir investieren in Verkehrswege, in schnel- den letzten Wochen beeindruckt hat, so besorgt macht le Netze, in unsere Kommunen, in die Sicherheit, und ich uns die rechte Hetze, die sich derzeit in den Kommunen hoffe, dass sich die Bundesregierung bei ihrer Klausur und in den sozialen Medien ausbreitet . Das ist unerträg- in Meseberg auch darauf verständigen kann, dass wir (B) lich, und dagegen müssen wir mit aller rechtsstaatlich die Finanzierung von jungen, wachsenden Unternehmen (D) gebotenen Härte vorgehen. Ich finde gut, dass Heiko verbessern . Berlin ist inzwischen bei Unternehmensgrün- Maas, unser Justizminister, jetzt auch die Hetzparolen im dungen dynamischer als London . Aber mit der Gründung Internet zum Thema gemacht hat . Facebook und Twitter ist es nicht getan . Die Unternehmen brauchen auch Kapi- müssen stärker prüfen, was gelöscht werden muss . tal, um sich zu größeren mittelständischen Unternehmen entwickeln zu können . Das Wachstum neuer Ideen ist (Volker Kauder [CDU/CSU]: Freiheit im von entscheidender Bedeutung für unsere Wettbewerbs- Netz!) fähigkeit, und deshalb müssen wir dringend etwas tun, Das Internet darf nicht zu einem Ort des Hasses und der um diese Start-ups auch in späteren Phasen gut mit Ka- Hetze gegen Ausländer werden . pital auszustatten . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) der CDU/CSU) Die Chancen, rechtsextreme Gewalttäter in Deutsch- Der Haushaltsentwurf 2016 ist der dritte ausgegliche- land politisch zu isolieren, sind heute größer als vor ne Haushalt in Folge . Wir sind zuversichtlich, dass das 20 Jahren . Die ganz überwiegende Mehrheit der Deut- auch am Ende des Jahres so bleibt . Das zeigt, wie richtig schen empfindet eine tiefe Abscheu gegen Menschen, es war, in guten Jahren für einen ausgeglichenen Haus- die Brandsätze in Flüchtlingswohnheime werfen . Viele halt zu sorgen . Damit sind wir heute in der Lage, zusätz- dieser Gewaltakte werden von der NPD organisiert oder liche Herausforderungen wie die Ankunft der Flüchtlinge gefördert . Das sollte sorgfältig dokumentiert werden, da- ohne neue Schulden zu bewältigen . Das schafft Spielräu- mit bei den anstehenden Verhandlungen vor dem Bun- me, die wir nutzen können . Wirtschaftliche Stärke schafft desverfassungsgericht keine falschen Vorstellungen über Kraft für Solidarität. Ich finde, diesen Weg sollten wir den gewalttätigen Charakter dieser Partei existieren . weitergehen . Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Aber es genügt natürlich nicht, nur die NPD zu ver- Präsident Dr. Norbert Lammert: bieten . Jeder einzelne von uns muss sich den Rechts- Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/ extremen entgegenstellen, so wie es der Bürgermeister CSU-Fraktion . von Heidenau gemacht hat, als der rechte Mob durch die Straßen seiner Stadt zog und Polizei und Asylbewerber (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . bedrohte . Das ist ein vorbildliches Verhalten . Solche mu- Ewald Schurer [SPD]) 11622 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

(A) Volker Kauder (CDU/CSU): Griechenland anbelangt, ist schon eine Aufgabe, aber (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! das, was bei der Flüchtlingsthematik auf uns zukommt, Die Haushaltsplanberatungen für den Haushalt 2016 ste- könnte eine noch wesentlich größere Herausforderung hen ganz im Zeichen der vielleicht größten Herausforde- werden .– Dies trifft jetzt ja auch zu . Aber wir können rungen, die wir im Nachkriegsdeutschland zu bewältigen es schaffen . Ja, ich bin sicher, dass wir dies in der Gro- haben. Der Bundesfinanzminister hat gestern darauf hin- ßen Koalition zusammen mit den Bundesländern und der gewiesen, dass dies nun die Priorität der nächsten Zeit Opposition – ich finde, bei den ganz großen Fragen sollte ist, der wir uns zuwenden müssen . In der Vergangenheit sich auch eine Opposition nicht verweigern, wenn es um wurde er manchmal kritisiert: Er sehe nur die schwarze eine gesamtpolitische, gesamtgesellschaftliche Aufgabe Null, er sehe nur Haushaltskonsolidierung . Aber heute, geht – schaffen können . auch in dieser Debatte, nehme ich wahr, dass alle froh Ich finde, es müssen ein paar zentrale Botschaften ge- sind, dass wir in dieser Koalition die Voraussetzungen sagt werden: dafür geschaffen haben, jetzt nicht kleinkariert über das notwendige Geld reden zu müssen, sondern das Geld zu Erstens . Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, einen haben, das notwendig ist, und zwar als Ergebnis einer Asylgrund haben und damit über eine längere Zeit in un- hervorragenden Haushalts- und auch Wirtschaftspolitik . serem Land bleiben werden, müssen nicht nur menschen- würdig in der Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) werden, sondern es muss auch alles getan werden, damit Gestern habe ich die eine oder andere Stimme gehört, sie sehr schnell den Weg mitten in unsere Gesellschaft die sagte, das sei das Ergebnis einer gut laufenden Wirt- und auf den Arbeitsmarkt schaffen . Das ist die große He- schaft . Dazu muss ich sagen: Ja, wir haben eine stabile rausforderung . Konjunktur, und die Wirtschaft ist stark . Aber: Wenn wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- einen Blick in die Welt werfen, dann sehen wir: Wenn ordneten der SPD) die Rahmenbedingungen nicht stimmen, dann kann die Wirtschaft auch keine richtigen Ergebnisse produzieren . Die zweite Botschaft . Thomas Oppermann hat es auch Wenn daher der Satz fällt, ein Teil des Ergebnisses, das klar gesagt: Man kann ja aus persönlichen Gründen ver- wir haben, sei bedingt durch eine florierende Wirtschaft, stehen, wenn der eine oder andere sagt: Ich suche mir ein dann möchte ich, dass wir auch in Zukunft und gerade Land, in dem ich mit meiner Familie größere Chancen jetzt, da die Herausforderungen groß sind und wo es habe als in meiner Heimat .– Ich weiß, wovon ich rede: nicht nur eine gesamtpolitische, sondern eine gesamt- Vor über 100 Jahren sind die Menschen aus der Schwäbi- gesellschaftliche Aufgabe gibt, zu der die Wirtschaft ge- schen Alb nach Amerika ausgewandert, weil die Scholle (B) hört, alles dafür tun, dass diese Wirtschaft entsprechende sie nicht mehr ernährt hat . Aber es ist auch klar, dass wir (D) Rahmenbedingungen hat und dass sie weiter so erfolg- sagen müssen: Diejenigen, die keinen Asylgrund haben reich arbeiten kann . und trotzdem kommen, müssen so schnell als möglich wieder in ihre Heimat zurückkehren .– Diese Botschaft (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- muss klar sein, und da darf man auch keine Kompromis- ordneten der SPD) se machen . Um diejenigen, die einen Grund haben, zu Das heißt, dass es nun ernst wird mit dem von uns auf den bleiben, kümmern wir uns mit ganzer Kraft, und die an- Weg gebrachten Bürokratieabbau . Da sollten wir jetzt die deren können eben nicht in diesem Land bleiben . – Chance nutzen, die diese Herausforderung bietet, und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- überlegen, ob alles, was wir in der Vergangenheit an Bü- ordneten der SPD) rokratie aufgebaut haben, tatsächlich notwendig ist . Bei den jetzt anstehenden Gesetzesvorhaben – es sind ja eini- Das ist eine weitere Botschaft . ge bereits angekündigt: aus dem Arbeitsministerium, aus Drittens . Europa steht mit dieser Aufgabe vor einer anderen Ministerien – werde ich schon noch mal darauf noch größeren Herausforderung als wir in Deutschland . hinweisen: Wir haben den Grundsatz mit dem schönen, Denn da geht es nicht nur darum, ob Europa jetzt eine neuen deutschen Wort „One in, one out“ beschlossen . Aufgabe lösen kann, sondern es geht ganz konkret da- Wenn ein neues Gesetz mehr Bürokratie bringt, muss sie rum, ob wir alle den Eindruck gewinnen, dass Europa an anderer Stelle abgebaut werden . Da bin ich mal sehr nicht nur stark ist, wenn es um kleine Fragen geht, son- gespannt, liebe Kolleginnen und Kollegen in der Großen dern dass Europa auch gerade dann stark ist, wenn es um Koalition, ob wir dazu die Kraft haben . Wir müssen sie große Herausforderungen geht . haben, damit der Satz auch in Zukunft stimmt: Jawohl, es ist ein Gesamtergebnis – gute Haushaltspolitik und eine (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) funktionierende Wirtschaft –, das uns zum Erfolg bringt Ich kann nicht erkennen, dass sich bisher in Europa etwas und uns jetzt die Aufgaben lösen lässt, die wir haben . signifikant geändert hat. Jede kleinkarierte Frage, ob nun (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . etwas in einem Nationalstaat in Ordnung ist oder nicht, Thomas Oppermann [SPD]) wird von den Kommissaren verfolgt und vor Gericht ge- bracht. Ich finde aber, dass es jetzt nicht um die Frage Also: Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaf- geht, ob da ein bisschen mehr oder weniger an Bürokra- fen, bleibt ein zentrales Thema . tie oder an Konsequenzen zu fordern ist, sondern darum, Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich habe schon dass wir uns alle miteinander sagen: Dieses Europa ist in meiner letzten Rede darauf hingewiesen: Das, was nicht nur die größte Friedenssicherung, sondern dieses Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11623

Volker Kauder (A) Europa ist auch in der Lage, größte Herausforderungen Das stimmt; das wissen wir . Deswegen wollen wir mehr (C) zu bewältigen, für die der eine oder andere Nationalstaat Geld für Investitionen ausgeben, die notwendig sind, um vielleicht tatsächlich zu klein ist . unseren Wirtschaftsstandort voranzubringen . Aber ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass Investitionen von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ihrer Partei geradezu aufgehalten worden sind . Alle Plät- ordneten der SPD) ze für die Schnecke, und der Rest bleibt auf der Strecke – Und darum sage ich, dass es bei Europa um die Frage so hieß es doch immer, wenn wir über den Straßenbau geht, ob die Menschen den Eindruck gewinnen: Wenn es gesprochen haben . wirklich ernst und schwierig wird, dann ist dieses Europa (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – tatsächlich da . Beifall bei Abgeordneten der SPD) Viertens . Wir alle erkennen in diesen Tagen, dass au- Deswegen bin ich froh, dass Sie jetzt von diesem Pult ßenpolitische Konflikte und außenpolitische Fragen, die aus anmahnen, dass Investitionen schneller vorangetrie- wir als weit weg betrachtet haben, für die wir uns nicht ben werden müssen . Richtig! Ich hoffe, dass Sie bei den zuständig fühlten, auf einmal ganz nah an uns heranrü- Planungen für den Straßenbau und den Leitungsbau für cken und wir uns deshalb mehr um diese Fragen küm- schnelles Internet mit mir an der Spitze stehen, mern müssen . – Um diese vier Botschaften geht es in der nächsten Zeit . (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vergessen Sie nicht die Schiene, Lassen Sie mich auf die erste Botschaft zurückkom- Herr Kauder!) men: für die da zu sein, die ein Bleiberecht haben und über längere Zeit in Deutschland bleiben werden . Hier und zwar nicht, um die Proteste zu unterstützen, sondern geht es darum, dass wir die notwendigen Aufgaben ge- die Investitionen . Herzlichen Dank für diese Bereitschaft . meinsam lösen, und zwar jeder die Aufgabe, die er hat . (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben uns in der Großen Koalition zunächst einmal darauf verständigt, darüber zu sprechen: Was muss getan werden? Wer muss es tun? Welche Instrumente brauchen Vizepräsidentin : wir? Erst dann reden wir über das Geld . Ich muss schon Herr Kollege Kauder, die Kollegin Hänsel brennt dar- sagen: Vor diesem Hintergrund kann ich manche Ein- auf, Ihnen eine Frage zu stellen . lassung aus dem einen oder anderen Bundesland nicht nachvollziehen . Wir wollen uns doch auf dem Flücht- Volker Kauder (CDU/CSU): lingsgipfel von Bund und Ländern darüber verständigen, (B) Nein . (D) welche Aufgaben von wem erledigt werden müssen . Aber bevor darüber überhaupt eine Einigung erzielt ist, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: kommen schon einige und sagen: Die 3 Milliarden Euro Nein . – Gut . Dann haben wir das geklärt . reichen nicht aus .– Ja, woher wollen die das denn wis- sen? Wir müssen uns doch erst darüber verständigen, was gemeinsam zu tun ist . Im Übrigen: Nicht nur der Bund Volker Kauder (CDU/CSU): hat Steuermehreinnahmen, auch die Länder und Kom- Ich möchte darauf hinweisen, dass wir, um die anste- munen . Wenn es heißt: „Wir alle müssen uns konzentrie- henden Aufgaben zu bewältigen, nicht nur Bürokratie ren“, dann gilt das nicht nur für den Bund, sondern auch abbauen, sondern auch Standards senken müssen . Als ich für Länder und Kommunen . vor 35 Jahren im Landratsamt tätig war, stand ich vor ei- ner großen Aufgabe, als Hunderttausende von Menschen (Beifall bei der CDU/CSU sowie der zu uns gekommen sind . Auch damals mussten konkrete Abg . [SPD] – Katrin Aufgaben gelöst werden . Wir haben nicht danach ge- ­Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fragt, ob jemand hundertprozentig qualifiziert ist, etwa NEN]: Aber die Bundesländer machen das durch ein pädagogisches Studium, um Kinder zu betreu- schon! Die Länder machen das jeden Tag!) en oder Sprachkurse durchzuführen . Gestern Abend habe Ich bin mir sicher, dass wir darüber in den nächsten Ta- ich gehört, wir müssten schnellstens 20 000, 30 000 Leh- gen eine Verständigung erzielen werden . rer ausbilden . Ich kann nur sagen: So lange, bis diese Lehrer ausgebildet sind, können die Menschen, die jetzt Frau Göring-Eckardt, Sie haben darauf hingewiesen, Hilfe brauchen, nicht warten . Menschen, die bisher qua- dass alles viel schneller gehen müsse . lifizierten Sprachunterricht an einer Volkshochschule (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE gegeben haben, können doch auch Deutschunterricht in GRÜNEN]: Ja!) Integrationskursen geben . Sie müssen kein akademisches Studium absolviert haben . Da kann ich nur sagen: Ihre Partei ist in den vergangenen Jahren nicht gerade als diejenige Partei aufgefallen, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . alles viel schneller gemacht hat . Sie haben davon gespro- Thomas Oppermann [SPD]) chen, dass wir einen Investitionsstau haben . Ich bitte darum, dass wir die Standards auch in diesem (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Bereich reduzieren; denn wir brauchen jetzt eine große GRÜNEN]: Ja!) Kraftanstrengung . 11624 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Volker Kauder (A) Herr Kollege Oppermann, ja, wenn es um die Stär- Ich nehme die Meldung nicht besonders ernst; trotzdem (C) kung der Wirtschaft geht, muss auch die Frage „Wo be- möchte ich darauf hinweisen, damit nicht etwas Falsches komme ich qualifizierte Arbeitskräfte her?“ beantwortet auf den Weg gebracht wird: Ein Hilfsangebot aus der ara- werden . Jetzt muss ich aber einmal Folgendes sagen: bischen Welt, das da lautet: „Wir bauen in Deutschland Ich kann nicht verstehen, wenn jetzt, da in diesem Jahr 200 Moscheen“, können wir als Hilfe nicht akzeptieren . 800 000 Menschen erwartet werden – im letzten Jahr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sind 400 000 gekommen –, so getan wird, als seien unter diesen 800 000 Menschen keine 10 000, 20 000, 30 000 Wir brauchen schon ein bisschen mehr als so etwas . oder 40 000 Menschen, die in den Arbeitsmarkt integriert Eine Ausnahme muss man allerdings machen: Jor- werden können . Bevor wir uns lange Diskussionen und danien leistet einen großartigen Beitrag . Wir hatten in Kraftanstrengungen leisten, um auf der Welt Arbeitskräf- der letzten Woche den jordanischen Außenminister bei te zu suchen, ist es zuvörderst unsere Pflicht und Aufga- uns zu Gast . Er hat gesagt, was Jordanien trägt . Dieses be, uns darum zu kümmern, dass von den jungen Men- Land mit 6 Millionen Einwohnern hat dauerhaft bereits schen, die jetzt in unser Land gekommen sind, so viele 2,5 Millionen Palästinenser im Land und nimmt jetzt wie möglich in Arbeit kommen und qualifiziert werden. noch 1,5 bis 2 Millionen Flüchtlinge, vor allem aus Syri- Das ist die Aufgabe der Stunde . Darüber sind wir uns ei- en, auf . Das ist ein großartiges Beispiel dafür, dass auch nig . ein kleines Land – zwei Drittel des Landes sind Wüste – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- in der Lage ist, Flüchtlinge aufzunehmen . ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sicher sind wir uns auch darüber einig, dass noch eine ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ andere Aufgabe angepackt werden muss, die ich seit Jah- DIE GRÜNEN) ren anmahne und bei der es im Ergebnis nicht zu Ver- Jetzt komme ich zu einem wichtigen Punkt . Als ISIS letz- besserungen gekommen ist – und dafür ist, um es sehr tes Jahr im August die große Stadt Mosul gestürmt und vorsichtig zu formulieren, nicht der Bund zuständig . Ich eingenommen hat, als die Menschen zu Hunderttausen- finde, dass wir es nicht hinnehmen können, dass Jahr für den geflohen sind, als sie vertrieben wurden, vor allem Jahr etwa 70 000 junge Menschen aus unseren Schulen Christen und Jesiden – sie sind nach Kurdistan, insbe- ohne Abschluss in die Gesellschaft entlassen werden . sondere nach Erbil und Dohuk, gegangen –, war ich in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dieser Region . Ich habe Tausende von Menschen in der ordneten der SPD) katholischen Kirche und noch viel mehr in den Regionen vor Dohuk gesehen . Diese Menschen – Sie saßen dort Jeder weiß: Wer bei uns keinen qualifizierten Abschluss (B) in Zelten bei Hitze – haben gesagt, dass sie ganz genau (D) hat, hat bei uns kaum eine Chance . Das können Sie in wissen, dass sie in absehbarer Zeit nicht in ihre Heimat Thüringen ja jetzt besser machen . zurückkönnen . Sie haben gesagt, sie wünschten sich so (Zuruf von der LINKEN: Das machen wir sehr, dass sie eines Tages wieder in ihre Heimat können . auch!) Da war nicht pauschal die Rede von „Wir hauen alle ab“, sondern eher: Vielleicht können wir in unsere Dörfer Deswegen kann ich nur sagen: Bevor wir über Einwan- zurück . – Viele Fragen wurden diskutiert, auch Flugver- derung reden, sollten wir über diese 70 000 und über die botszonen . Aber sie haben auch gesagt – ich habe es hier Tausende, die jetzt in unser Land gekommen sind, reden . im Deutschen Bundestag gesagt; das war ein schwerfälli- Sie brauchen eine Chance, um auf eigenen Füßen stehen ger Gang –: Wenn wir in unseren Flüchtlingslagern keine zu können . Perspektive für ein einigermaßen angemessenes Leben (Beifall bei der CDU/CSU) sehen, dann machen wir uns auf den Weg . Wenn wir darüber reden, wer einen Beitrag leisten Ich war in Jordanien in dem großen Flüchtlingslager, kann, bin ich immer einigermaßen erstaunt darüber, dass in dem schon einige andere Kolleginnen und Kollegen die reichen arabischen Länder bisher nur einen geringen waren . Dort sind 80 000 bis 100 000 Menschen, viele Beitrag leisten . aus dem Süden Syriens, einfache Bauern, die sagen: Wir können mit unserer Qualifikation in Europa gar nicht viel ( [SPD]: Ja!) anfangen . Wir möchten wieder zurück . Wir warten hier In einem Filmbericht gestern Abend sagten Muslime in jetzt einmal .– Aber wenn die erkennen, dass die Versor- Ägypten: Gott sei Dank gibt es das christliche Deutsch- gung von Tag zu Tag schlechter wird, dann werden sie land; denn von unseren Glaubensbrüdern in der arabi- nicht dort bleiben . Deswegen kann ich nur sagen: Flücht- schen Welt werden wir nicht aufgenommen . – Dazu muss lingspolitik, die wir in unserem Land betreiben, kann ich sagen: Da müssen sich die islamischen Staaten ein- sich nicht darin erschöpfen, denen zu helfen, die da sind . mal etwas überlegen . Das ist kein gutes Bild in der Welt . Vielmehr müssen wir alle, die Weltgemeinschaft und Eu- Wenn ihre Glaubensbrüder sagen: „Außer dem christ- ropa, stärker als bisher dafür sorgen, dass die Menschen, lichen Europa hilft uns niemand in dieser Welt“, dann die zu Millionen in den Lagern sitzen, eine Perspektive muss in der arabischen Welt einmal darüber nachgedacht haben und sich nicht auch noch auf den Weg machen, werden, ob das der richtige Weg ist . liebe Kolleginnen und Kollegen . Auch dafür muss Geld zur Verfügung gestellt werden . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11625

Volker Kauder (A) In wenigen Tagen, Frau Bundeskanzlerin, tagt die Voll- tungsschmieden Deutschlands angesiedelt ist, nämlich (C) versammlung der UNO in New York . Vielleicht wäre es Heckler & Koch . auch einmal ein Thema, sich damit zu beschäftigen, dass (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Immer die Weltgemeinschaft hier Unterstützung leistet . die alte Leier! – Weitere Zurufe von der CDU/ Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich CSU: Oh!) müssen wir uns auch darum kümmern – deswegen wird Sie werden ja als Patron von Heckler & Koch genannt, Außenpolitik so wichtig –, dass die Bedingungen in ein- und die CDU in Ihrem Wahlkreis hat Tausende von Euro zelnen Staaten besser werden. Ich finde, wir dürfen nicht Spendengelder dieser Firma erhalten . Auch die gesamte mehr schweigen, wenn in Ländern, denen wir Entwick- Bodenseeregion strotzt nur so vor Rüstungsfirmen; der lungshilfe geben, die Bedingungen so miserabel sind, Wohlstand dort baut vor allem auf Rüstungsproduktion dass die Menschen das Land verlassen . Da müssen wir und Exporten auf . Wie kommen Sie dann eigentlich zu sagen: Jede Regierung, jeder Staatschef eines Landes, einer solchen Aussage? aus dem die Menschen weggehen, weil sie keine Pers- pektive haben, muss sich dafür schämen, dass das Land Ich möchte nachfragen, ob es eigentlich bei der CDU in einem solchen Zustand ist . Das muss einmal gesagt einen Erkenntnisfortschritt gibt, dass wir so nicht wei- werden . termachen können. Es gibt fast keinen Konflikt auf der Welt, bei dem nicht deutsche Waffen im Spiel sind . (Beifall bei der CDU/CSU) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Und russische!) Deswegen glaube ich schon, dass wir jetzt nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt vor einer gro- Auch Heckler & Koch, die Kleinwaffen produzieren, tra- ßen Herausforderung stehen . Ich bin sicher, dass wir sie gen weltweit dazu bei, dass Hunderttausende Menschen meistern werden . getötet werden . Die tödlichsten Waffen der Welt sind die Kleinwaffen . Ich hätte von Ihnen gerne einmal eine Ant- Zur Zeit der letzten Großen Koalition haben in einer wort darauf, ob Sie so weitermachen wollen wie bisher . Phase wie heute viele gefragt: Was macht ihr eigentlich noch in den nächsten zwei Jahren? Jetzt ist Halbzeit, und Nun noch zu Ihren Glaubensbrüdern . Sie haben er- ihr habt den Koalitionsvertrag abgearbeitet .– Als wenn wähnt, dass die Nachbarregionen keine Flüchtlinge sich eine Regierungskoalition ausschließlich darauf ver- aufnehmen wollen . Ich nenne hier vor allem Ihre Waf- ständigt, einen Koalitionsvertrag abzuarbeiten! Während fenbrüder in Saudi-Arabien . Saudi-Arabien ist ein Land, der letzten Großen Koalition kam die Finanz- und Wirt- das so gut wie überhaupt keine Flüchtlinge aufnimmt, im schaftskrise, und wir mussten handeln und haben, ohne Gegensatz zu den anderen arabischen Ländern . Ich hätte (B) dass es im Koalitionsvertrag stand, gemacht, was richtig von Ihnen gerne einen Kommentar dazu . (D) war und Deutschland wieder auf den Weg gebracht hat . (Beifall bei der LINKEN – Sabine Weiss Jetzt haben wir wieder eine Aufgabe, die wir uns nicht (Wesel I) [CDU/CSU]: Verhaltener Beifall!) gesucht haben, aber annehmen . Ich habe so manchen Ko- alitionsausschuss erlebt, nicht nur in der letzten Großen Koalition, sondern auch in der letzten kleinen Koalition, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: auch schon in dieser Großen Koalition, und ich muss sa- Herr Kollege Kauder . gen: Selten waren wir uns so einig wie am vergangenen Wochenende, was gemacht werden muss . Wenn dies in Volker Kauder (CDU/CSU): Zukunft so weitergeht, Thomas, dann bin ich ganz sicher, Sehr geehrte Frau Kollegin, Ihr Beitrag muss uns ei- dass wir sagen können: Wir schaffen es . gentlich in der jetzigen Stunde und Debatte sehr traurig (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – machen . Sie haben überhaupt nicht verstanden, worum Beifall bei der SPD) es geht . Bei Ihnen ist die große Herausforderung nicht angekommen .

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vielen Dank .– Die Kollegin Hänsel hat jetzt das Wort ordneten der SPD) zu einer Kurzintervention . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Heike Hänsel (DIE LINKE): Vielen Dank .– Nächste Rednerin ist die Kollegin Danke schön, Frau Präsidentin .– Herr Kauder, ich Bettina Hagedorn, SPD-Fraktion . wollte doch noch einmal bei Ihnen nachfragen, weil Sie (Beifall bei der SPD) im Rahmen der Flüchtlingsdebatte gerade als vierte Er- kenntnis die Tatsache genannt haben, dass viele außen- Bettina Hagedorn (SPD): politische Konflikte, mit denen wir nichts zu tun haben, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ganz plötzlich für uns hier ein Problem werden . Auch die Lieber Herr Kauder, ich bin Ihnen ganz besonders dank- Kanzlerin hat ja gesagt, dass die Flüchtlinge jetzt eine bar dafür, dass Sie am Ende Ihrer Rede noch einmal sehr innenpolitische Herausforderung sind . nachdrücklich und deutlich darauf hingewiesen haben, Das wundert mich jetzt aber etwas, da gerade Sie aus dass es vor allen Dingen auch darum geht, mit noch mehr einem Wahlkreis kommen, in dem eine der größten Rüs- Nachdruck Fluchtursachen zu bekämpfen . Dem will ich 11626 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Bettina Hagedorn (A) mich – bestimmt mit dem ganzen Haus – anschließen . Herr Juncker stellte gerade einen Aktionsplan für (C) Aber weil Frau Göring-Eckardt vorhin auch davon ge- Flüchtlinge auf europäischer Ebene vor . Er hat vorhin sprochen hat, wie stolz sie und wir alle auf die Menschen gesagt: Flüchtlinge lassen sich nicht durch Grenzen und in Deutschland sind für das, was sie aktuell an Solidarität Zäune aufhalten .– Das stimmt . Es ist trotzdem so, dass leisten – das treibt einem als Politiker manchmal fast die die Europäische Union damals, 2006, angesichts der Zahl Schamröte ins Gesicht –, muss ich, um bei der Wahrheit von fast 10 000 Toten auf der Flucht nach Europa vor zu bleiben, sagen: Das ist natürlich bei der Bekämpfung allen Dingen eines gemacht hat: Sie hat Frontex aufge- der Fluchtursachen nicht anders . Denn wir haben es bei baut . Mit den Konsequenzen haben wir uns beschäftigt . dem Thema „Bekämpfung der Fluchtursachen“ ja nicht Der Aufbau von Frontex hat vor allen Dingen dazu ge- mit Neuigkeiten zu tun . Wir haben seit Jahren kein Er- führt, dass die Fluchtwege weiter geworden sind, dass kenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit, sie gefährlicher geworden sind, dass es noch mehr Tote (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES gegeben hat . Die Zahl derer, die sich in ihren Ländern 90/DIE GRÜNEN) voller Verzweiflung in Boote gesetzt und sich auf eine und zwar in Europa, weltweit und auch in Deutschland . gefährliche Reise begeben haben, wurde dadurch nicht einmal ansatzweise gesenkt . Vor diesem Hintergrund – Unser Fraktionsvorsitzender, Thomas Oppermann, hat wir wissen das alles ja nicht erst seit vorgestern – ist es darauf aufmerksam gemacht, dass der elementare Mitte- unglaublich wichtig, dass dem, was hier in vielen Reden laufwuchs im Entwicklungshilfeministerium – ich nen- benannt worden ist, nämlich Bekämpfung der Fluchtur- ne es jetzt einmal so verkürzt – im Jahr 2016 bisher nur sachen, endlich Taten folgen . zu einem Bruchteil zur Bekämpfung der Fluchtursachen eingesetzt werden soll . Da muss man sagen: Hier müssen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir unser Handeln verändern und dürfen nicht nur darü- der LINKEN) ber reden . Ich will mit Blick auf die erwähnte Reise noch daran (Beifall bei der SPD) erinnern: Wir waren auch in Flüchtlingslagern – einige Kollegen, die damals mit dabei waren, gehören dem Ich will einen kurzen Blick 35 Jahre zurück wer- fen . Damals hat Willy Brandt als Vorsitzender der Deutschen Bundestag noch an -; wir waren übrigens die Nord-Süd-Kommission einen berühmten Bericht vorge- ersten Abgeordneten aus einem europäischen Land, die legt . Er hat mit seiner Kommission – leider – sehr ge- überhaupt dort waren . Wir waren auch in Melilla, einer nau prognostiziert, wie reich die Nordhalbkugel werden Enklave in Nordafrika, wie viele von Ihnen wissen . Wer wird, wie arm die Südhalbkugel werden wird, was das an kann sich eigentlich noch an die Bilder von damals erin- (B) weiteren Konflikten, an Massenelend, an Hunger, an Not nern? Es war 2005, als 2 000 Menschen über die 12 Ki- (D) und damit natürlich auch an Flüchtlingsströmen mit sich lometer lange Grenze in Melilla, die schon damals durch bringen wird . All das ist heute längst eingetroffen . Ein einen Zaun gesichert war, geklettert sind; wir haben die Erkenntnisdefizit gab es also nicht, auch nicht im Deut- Bilder in den Nachrichten gesehen . Es hat dabei viele schen Bundestag . Todesopfer gegeben . Was war die Reaktion 2006? Der Zaun wurde auf 6 Meter erhöht . Geändert hat sich da- Für alle, die damals noch nicht dabei waren, sage ich: Ich bin im April 2007 mit Kolleginnen und Kollegen des durch nichts . Haushaltsausschusses, und zwar aus allen Fraktionen, (Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Leider, lei- in Spanien und Marokko gewesen . Der Titel der Reise der! – Dr . Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ja, das lautete: „Flüchtlingsproblematik aus Afrika im Mittel- stimmt!) meerraum“ . Das war das Thema, mit dem wir uns damals beschäftigt haben . Ich möchte jetzt aus einem Papier zi- Ich möchte jetzt auf das eigentliche Thema zu spre- tieren, das wir 2007 vom deutschen Botschafter vorge- chen kommen . Dieser Einstieg war allerdings, denke ich, legt bekommen haben . Darin heißt es: wichtig, weil es natürlich auch darum geht, was wir hier in Deutschland machen . Unser Handeln muss in eine Die Kanarischen Inseln sehen sich vor allem in den internationale und vor allen Dingen in eine europäische letzten fünf Jahren Verantwortung eingebettet werden . Wie glaubwürdig wir – also wohlgemerkt: seit 2002 – im Hinblick auf die Idee Europa in Zukunft weltweit da- mit einem zuvor nie erlebten Ausmaß an illegaler stehen werden, wird sich daran messen lassen müssen, Einwanderung auf dem Seeweg vom Nachbarkon- wie wir als Europäer mit dieser Herausforderung fertig- tinent Afrika konfrontiert . Einen Höhepunkt er- werden . reichten die Einwanderungsströme im Jahr 2006 . Es war im Jahr 2000, nach einem Brandanschlag auf Fast 32 000 Menschen haben in kaum seetauglichen die Düsseldorfer Synagoge, als Gerhard Schröder das Zi- Booten und den damit verbundenen Tragödien auf tat geprägt hat: hoher See mit schätzungsweise 9 500 Toten den Ar- chipel erreicht . Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen, wegschauen ist nicht mehr erlaubt . Das war 2007 . Wenn man diesen Bericht liest, dann er- schüttert einen schon, dass all das, was dort steht und was Es war Sigmar Gabriel, der 2015 bei der SPD-Veranstal- auch wir erfahren haben, so viel mit dem zu tun hat, was tung „Verantwortungsvolle Flüchtlingspolitik – Jetzt!“ wir heute immer noch erleben . daraus folgenden Ausspruch gemacht hat: Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11627

Bettina Hagedorn (A) Den Aufstand der Anständigen zu fordern, nützt nur eigentlich ziemlich sicher, dass es alle Kolleginnen und (C) dann was, wenn der Anstand der Zuständigen sicht- Kollegen im Haushaltsausschuss als ihre Hauptaufgabe bar wird . ansehen, dies zu ermöglichen, und dann werden wir diese Herausforderung auch gemeinsam bewältigen . Darum geht es jetzt in meiner Rede . Ich danke Ihnen allen herzlich für Ihre Aufmerksam- Es ist schon viel darüber gesprochen worden, was wir keit . in Deutschland tun wollen und was wir mit diesem Haus- halt nach den Haushaltsberatungen bewältigen werden . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ob die 6 Milliarden Euro, die in der letzten Woche ver- der CDU/CSU) einbart worden sind, letzten Endes ausreichen werden, kann heute noch niemand sagen . Ich danke aber allen, die Vizepräsidentin Ulla Schmidt: sich am Sonntagabend getroffen haben, weil von diesem Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht Treffen das starke Signal ausgegangen ist, dass all die jetzt die Kollegin Gerda Hasselfeldt . Menschen, die sich in Deutschland für die Flüchtlinge einsetzen, ob hauptamtlich oder ehrenamtlich, nicht al- (Beifall bei der CDU/CSU) leingelassen werden und dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden – darin sind wir uns einig –, um uns Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): diesen Aufgaben zu stellen. Am 24. September findet der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Flüchtlingsgipfel statt . Danach werden wir wissen – Sie Es ist in dieser Haushaltsdebatte unbestritten zum Aus- haben darauf hingewiesen –, ob das Geld reicht . druck gekommen: Die zentrale Herausforderung unserer Fakt ist – ich finde, das muss man noch einmal sa- Zeit ist die Bewältigung der Flüchtlingsströme . gen –, dass erst diese Große Koalition ein neues Asyl- Wir erleben in diesen Wochen und Monaten, speziell bewerberleistungsgesetz eingeführt hat . Bis dahin waren in den letzten Tagen, ein großartiges Engagement vieler ausschließlich die Länder und Kommunen in den ersten Menschen . Wir haben es am Wochenende gerade in Mün- vier Jahren für die Leistungen nach dem Asylbewerber- chen erlebt . Innerhalb von drei Tagen kamen 25 000 Men- leistungsgesetz zuständig . Den Bund hat das in dieser schen . Wir haben den Einsatz vieler ehrenamtlich Täti- Zeit kein Geld gekostet . Das ist noch nicht lange her . Erst ger, Frauen und Männer, erlebt, die spontan oder auch im 2012 hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass Rahmen ihrer Organisationen geholfen haben . Wir haben diese Situation – die Asylbewerber haben damals nur aber auch eine hervorragende Organisation erlebt . Die 60 Prozent der SGB-II-Leistungen erhalten – nicht ver- Zusammenarbeit von Beamten verschiedener Behörden, fassungskonform ist . Wir haben daraufhin in der Großen die Zusammenarbeit mit den Transportunternehmen, mit (B) Koalition eine neue Regelung mit den Ländern gefunden . der Bahn, hat reibungslos funktioniert . Wir erleben und (D) Es wurde vor allen Dingen geregelt, dass die Asylbewer- erlebten ein großartiges Engagement . Wir erleben ein ber viel früher einen Anspruch auf Sprachkurse und den sehr hohes Maß an Humanität und Solidarität . Dafür, lie- Zugang zum Arbeitsmarkt haben . Das kostet den Bund be Kolleginnen und Kollegen, möchte ich ganz herzlich selbstverständlich eine Menge Geld . Angesichts dieser danken . Flüchtlingsströme stehen wir natürlich vor der Heraus- forderung, dieses Geld auch bereitzustellen . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir in Bayern brauchen keinen Nachhilfeunterricht in Sachen Umgang mit Fremden . Noch vor wenigen Jah- Dabei wird es darauf ankommen, dass die Flüchtlinge, ren hatten wir eine Einwohnerzahl von 11 Millionen, die heute in Erstaufnahmeeinrichtungen sind, registriert, heute liegt sie bei fast 13 Millionen . Die Hälfte dieses erstversorgt und medizinisch betreut werden . Ein großer Zuwachses ist auf Menschen zurückzuführen, die aus an- Teil von ihnen wird vor dem Hintergrund dieses neuen deren Teilen Deutschlands zu uns kamen und kommen . Asylbewerberleistungsgesetzes schon bald vor unseren Die andere Hälfte sind Menschen aus anderen Ländern . Jobcentern und der Bundesagentur für Arbeit stehen . Die Integration funktioniert . Das ist eine großartige Leis- Ja, Herr Kauder, wir wollen, dass diese Menschen tung, eine Leistung der Menschen in Bayern, aber auch schnellstmöglich in Deutschland arbeiten können . Wir der Migranten, eine Leistung in den Kinderbetreuungs- wissen aber, dass vom Mathematikprofessor bis zum einrichtungen, in den Schulen und eine großartige Leis- Analphabeten die ganze Bandbreite der Gesellschaft tung auch in den Behörden . Das lassen wir uns auch nicht hierherkommt . Deswegen werden sie sehr individuelle kaputtreden . Angebote brauchen, um letzten Endes arbeiten zu kön- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nen, was sie auch ganz ausdrücklich wollen . Das wird ordneten der SPD) die Mitarbeiter in den Jobcentern jedoch vor ganz neue Herausforderungen stellen . Wir müssen hier zum einen Das, was wir zu bewältigen haben, ist eine große personell tätig werden . Vor allen Dingen aber müssen Aufgabe, eine Aufgabe aller politischer Ebenen, der des wir qualitätsvolle Bildungsangebote sicherstellen, die die Bundes, der Länder und der Kommunen . Wir spüren alle, Voraussetzung für Integration und Arbeit sind . An die- dass viele derjenigen, die hier aktiv mitarbeiten, hauptbe- ser Stelle wird sich zeigen, ob wir wirklich erfolgreich ruflich oder ehrenamtlich, an die Grenze ihrer physischen sind . Ich denke, die Haushaltsberatungen werden sehr und ihrer psychischen Leistungsfähigkeit gelangen . Wir stark von diesem Faktor getragen werden . Ich bin mir spüren auch, dass wir insgesamt an personelle, an or- 11628 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Gerda Hasselfeldt (A) ganisatorische und auch an finanzielle Grenzen kom- Wir müssen bei den Bürgerkriegsflüchtlingen – bei (C) men . Deshalb müssen wir diese Problematik sehr ernst denen, die tatsächlich verfolgt sind – dafür sorgen, dass diskutieren, auch differenziert diskutieren . Aber sie zu sie – mit Sprachkursen und am Arbeitsmarkt – schnell in verkürzen und in den Mittelpunkt womöglich noch die diese Gesellschaft integriert werden . Das ist unbestritten, finanzielle Situation zu stellen, das, meine Damen und und da geschieht auch vieles . Wir müssen aber, um dies Herren, wird der Bedeutung der Aufgabe mit Sicherheit sinnvoll und effizient zu gestalten, auch dafür sorgen, nicht gerecht. Ich finde, es ist viel zu kurz gesprungen, dass wir schnellere Asylverfahren bekommen . Das ist wenn man den Fokus nur auf die finanzielle Situation eine ganz große Notwendigkeit . zwischen Bund, Ländern und Kommunen legt . Deshalb (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ist es auch zu kurz gesprungen, jetzt nur die 3 Milliarden ordneten der SPD) Euro vonseiten des Bundes für die Kommunen und die Länder zu sehen . Dazu sind zusätzliche Stellen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge notwendig . Dazu ist auch die Es ist vorhin schon mehrfach angesprochen worden: Hilfe anderer Behörden notwendig . Ich bin sehr dank- Nicht nur der Bund hat zusätzliche Steuereinnahmen, bar, dass es zwischen dem Bundesfinanzminister und der sondern auch die Länder und Kommunen; auch darauf Bundesarbeitsministerin Gespräche gegeben hat, Teile will ich hinweisen . der Mitarbeiter des Zolls für diese Aufgabe, für diese Zum Zweiten will ich auf Folgendes hinweisen: Zu- neuen Herausforderungen, die wir zu bewältigen haben, nächst müssen wir uns fragen: Was ist an strukturellen zur Verfügung zu stellen und dafür auch so manche ande- Maßnahmen notwendig? Wie können wir die Menschen, ren bürokratischen Kontrollen – zum Beispiel beim Min- die hier bleiben, die also nicht mehr zurück in ihre Hei- destlohn – ein bisschen hintanzustellen . Das ist genau der mat können, weil dort Krieg herrscht, am schnellsten und richtige Ansatz . am besten integrieren? Wie schaffen wir es aber auch, (Beifall bei der CDU/CSU) dass diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben, in ihre Heimatländer zurückgeführt werden? Das ist die Zusätzlich müssen wir natürlich dafür sorgen, dass zentrale Aufgabe . Dann können wir uns auch über die die Menschen schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen, finanzielle Situation unterhalten. Wir vonseiten des Bun- wo immer es möglich ist, ihre Verfahren abgeschlossen des haben in den vergangenen Jahren mehrfach unter Be- bekommen, damit dann auch die Konsequenz daraus ge- weis gestellt, dass wir die Kommunen in ihrer Aufgaben- zogen wird, nämlich sie in ihre Heimatländer zurückzu- wahrnehmung unterstützen . Darauf können sie sich auch führen . Das, meine Damen und Herren, muss mit auf der künftig verlassen . Tagesordnung stehen, sonst bewältigen wir diese große Zahl von Flüchtlingen nicht . (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (D) ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, etwa 40 Prozent – das Ein Zweites gehört – neben den schnelleren Verfah- schwankt noch ein bisschen –, auf jeden Fall ein großer ren, es hängt aber auch ein bisschen damit zusammen – Teil derjenigen, die zu uns kommen, stammt aus den Bal- dazu . Wir brauchen eine Ausweitung der sogenannten kanländern . Wir in der CSU-Landesgruppe haben nicht sicheren Herkunftsstaaten . Das ist übrigens auch die nur angesichts der großen Zahl der Menschen, die in den Meinung von so manchen Kommunalpolitikern aus den letzten Wochen und Monaten zu uns gekommen sind, auf Reihen der Grünen wie beispielsweise des Oberbürger- ein Problem aufmerksam gemacht, sondern schon im Ja- meisters von Tübingen . All diejenigen, die sich ernsthaft nuar dieses Jahres auf einen Punkt hingewiesen . Wir ha- mit den Dingen beschäftigen und Erfahrungen aus der ben damals gesagt, dass wir differenzieren müssen zwi- Praxis einbringen, geben uns darin recht, übrigens auch schen denen, die wirklich schutzbedürftig sind, die aus der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flücht- Bürgerkriegsgebieten kommen und die persönlich ver- linge . Die Erfahrungen der letzten Monate haben auch folgt sind, und den anderen, die aus ganz anderen Grün- gezeigt, dass dies erstens dazu führt, dass das richtige den zu uns kommen: weil es ihnen bei uns wirtschaftlich Signal in diese Länder gesendet und ihnen aufgezeigt besser geht, weil sie hier sozial besser ausgestattet sind wird: Wir nehmen euch nicht die Arbeitskräfte weg, die und vieles andere mehr . ihr selbst zum Aufbau eures Landes braucht .– Zweitens ist das aber auch eine Grundlage für schnellere Verfah- Wir können das nicht in einen Topf werfen . Wir kön- ren, obwohl jeder Einzelne auch dabei sein persönliches nen die Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten nicht in Asylverfahren erhält . den gleichen Topf werfen wie diejenigen, die aus Wohl- standsgründen zu uns kommen, meine Damen und Her- Wir brauchen ein Drittes, um den Zustrom zu begren- ren . Wegen dieser Meinung sind wir im Januar dieses zen, und das ist, Fehlanreize zu verhindern . Wir wissen alle, dass gerade aus den Balkanstaaten viele zu uns kom- Jahres, wie Sie wissen, hart gescholten worden . Heute men, die mit den Sozialleistungen, die sie bei uns bekom- ist diese Grundüberzeugung – Gott sei Dank – Meinung men, besser leben, als wenn sie in ihren Heimatländern aller 16 Ministerpräsidenten, und es ist weitgehend Kon- arbeiten würden . Das ist Fakt . Alle Experten, alle, die sens in der Gesellschaft, dass diese Trennung auch vorge- etwas von der Sache verstehen, sagen uns: Das hat eine nommen werden muss . Sogwirkung . Deshalb, meine Damen und Herren, müs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . sen wir, wenn wir uns auf den Schutz derjenigen und die Thomas Oppermann [SPD]) Hilfe für diejenigen konzentrieren wollen, die tatsächlich Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11629

Gerda Hasselfeldt (A) verfolgt sind und unsere Hilfe brauchen – ich denke, das alle demokratischen Parteien stellen müssen . Ich bin alt (C) müssen wir –, auch dafür sorgen, dass wir keine zusätz- genug, um mich nicht nur als Beobachterin an den An- lichen Anreize für die Menschen geben, die nur aus wirt- fang der 90er-Jahre zu erinnern, sondern als jemand, die schaftlichen Gründen zu uns wollen . Dazu gehört auch, damals schon dabei war . Aus dieser Erfahrung heraus die Fehlanreize zu reduzieren und zu minimieren, wenn kann ich nur sagen: Wir werden rechtsradikale Tenden- wir sie schon nicht ganz abschaffen können . zen und Bestrebungen im Land nicht dadurch bekämp- fen, dass wir Dinge verschweigen und die Lebensrealität (Beifall bei der CDU/CSU) der Bevölkerung in den Städten und Gemeinden nicht Frau Göring-Eckardt hat vorhin davon gesprochen, wahrnehmen, genauso wenig, wie wir sie durch dumpfe Deutschland würde eine Art Sankt-Florians-Prinzip be- Parolen bekämpfen werden . Vielmehr werden wir sie nur treiben . Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen . dann bekämpfen können, wenn wir die Aufgabe lösen, Wenn mehr als 40 Prozent der Flüchtlinge, die in die den Problemen ins Auge sehen und die Herausforderung Europäische Union kommen, von Deutschland aufge- annehmen . Dazu gehört aber auch, dass wir die Men- nommen werden und noch mehr nach Deutschland kom- schen mitnehmen, dass wir ihre Sorgen und Ängste ernst men, dann weiß ich nicht, was das mit dem Sankt-Flori- nehmen und dass wir mit der nötigen Differenziertheit ans-Prinzip zu tun hat . Im Gegenteil: Wir brauchen eine diskutieren, handeln und entscheiden . gerechte, eine faire Verteilung in Europa . Das sind wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- übrigens auch den Menschen schuldig . Wir können nicht ordneten der SPD) alle Probleme der Welt nur auf deutschem Boden lösen . Wir sind für diese große Aufgabe und Herausforde- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rung meines Erachtens gut gewappnet . Die Bundeskanz- ordneten der SPD) lerin hat heute deutlich gemacht, dem Land geht es gut . Deshalb begrüße ich es sehr, dass auf europäischer Es gibt mehr als 43 Millionen sozialversicherungspflich- Ebene jetzt eine verstärkte Aktivität in der Flüchtlings- tige Beschäftigte, so viele wie noch nie . Die Konjunktur politik erkennbar ist . Wir sind damit noch nicht dort, wo läuft gut . Die Prognosen sind gut . Die Steuereinnahmen wir eigentlich hinmüssen, aber wir sind ein Stück wei- nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder und Kom- ter, als wir es noch vor einigen Monaten waren . Ich gehe munen sind gestiegen . Wir haben Handlungsspielräume so weit, zu sagen: Dieses Thema, der Umgang mit der nicht zuletzt aufgrund der soliden Politik der letzten Jah- Flüchtlingsproblematik, ist auch ein Stück Bewährungs- re . Das zahlt sich heute aus . In den Jahren 2008 und 2009 probe für ganz Europa . Hier zeigt sich, in welchem Aus- wären wir nicht in der Lage gewesen, die Herausforde- maß wir eine echte Wertegemeinschaft sind und wie es rungen, die sich uns heute stellen, zu meistern . Heute sind wir dazu in der Lage, weil wir solide gewirtschaf- (B) mit der Solidarität und im Übrigen auch mit dem Einhal- (D) ten der Regeln in Europa aussieht . Auch darauf müssen tet und solide Politik gemacht haben . Wir haben heute wir – genauso, wie wir es beim Euro gesagt haben – be- Handlungsspielräume nicht nur in finanzieller Hinsicht, sonders achten . sondern auch von der Stimmung in der Bevölkerung her . (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Ich will all das unterstreichen, was zur Bekämpfung der Fluchtursachen gesagt wurde . Auch das gehört in die- Ich sage das nicht, um uns in Zufriedenheit, schon gar sen Kanon . Ich glaube, es ist uns gerade in dieser Zeit be- nicht Selbstzufriedenheit zu wiegen . Vielmehr sage ich sonders bewusst geworden, dass Innenpolitik, Entwick- das in großer Dankbarkeit gegenüber allen Beteiligten in lungshilfepolitik und Außenpolitik zusammengehören unserer Gesellschaft, den Arbeitnehmern, den Tarifpar- und nicht getrennt werden können, dass außenpolitische teien und den Unternehmern, aber auch gegenüber denje- und entwicklungshilfepolitische Fragen Auswirkungen nigen, die politische Verantwortung getragen haben und auf unsere innenpolitische Situation und Debatte haben . weiterhin tragen . Deshalb darf dies in diesem Zusammenhang nicht außen Der vorliegende Haushalt setzt meines Erachtens vor gelassen werden . die völlig richtigen Prioritäten . Erstens . Wir nehmen Ich danke sehr herzlich der Bundeskanzlerin, dem die große Herausforderung, die die Bewältigung der Bundesaußenminister, dem Bundesinnenminister und Flüchtlingsströme darstellt, an . Zweitens . Es bleibt bei auch dem Bundesentwicklungshilfeminister für die Akti- der soliden Haushaltspolitik und der weiteren Entlastung vitäten und die vielen Gespräche auf europäischer Ebene der Kommunen . Drittens . Der Schwerpunkt bleiben die in diesem Bereich, bei denen es darum geht, dicke Bret- Investitionen in die Zukunft . Wir verstärken das bei der ter zu bohren, um die Gesamtverantwortung der freien Verkehrsinfrastruktur und der Breitbandinfrastruktur, um Welt zum Ausdruck zu bringen . nur zwei Bereiche zu nennen . Dazu gehören aber auch Bildung und Forschung. Viertens. Das Ganze findet in ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . nem völlig stabilen sozialen Umfeld statt . Wir vergessen Bettina Hagedorn [SPD]) nicht die Kranken und Schwächeren in unserer Gesell- schaft. Die Bundeskanzlerin hat bereits auf die Pflege- Meine Damen und Herren, ich will das Ganze neben versicherung und die entsprechenden Stärkungsgesetze den fachlichen Fragen auch in einen politischen Zusam- hingewiesen . menhang stellen . Es ist eine Gesamtverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden, die wir haben . Ich den- Ich möchte ergänzend auf das hinweisen, was wir für ke aber auch, es ist eine Gesamtverantwortung, der sich die Familien getan haben . Zum Betreuungsgeld kann ich 11630 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Gerda Hasselfeldt (A) nur sagen: Die bayerischen Familien können sich darauf einen und anderswo . Ihre Arbeit anzuerkennen, auch das (C) verlassen, dass sie auch künftig das Betreuungsgeld be- ist ein Signal, das von der Haushaltsdebatte heute ausge- kommen . hen sollte . (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Heinz Wiese (Ehingen) [CDU/CSU]) Das Bundesverfassungsgericht hat nicht, wie Herr Gysi behauptet hat, das Betreuungsgeld gekippt, sondern nur Wir in der Koalition wissen um die Bedeutung, um die Zuständigkeit moniert; ein bisschen Wahrheit muss die Dimension, um die Größe der Aufgabe . Wir leisten schon sein, Herr Gysi . unseren Beitrag . Wir haben das in der Vergangenheit ge- tan, auch in den letzten Haushaltsberatungen . Wir haben (Beifall bei der CDU/CSU) dafür gesorgt, dass beispielsweise das Bundesamt für Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist genau der Migration und Flüchtlinge immer mehr Stellen bekom- richtige Politikansatz, den wir in diesen schwierigen Ta- men hat, um die vielen Anträge entsprechend bearbei- gen brauchen . ten zu können . Wir wissen, dass wir da noch mehr tun müssen . Aber wir wissen auch, dass es letztendlich diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Entscheidung war, die ermöglicht hat, dass dieses Bun- ordneten der SPD) desamt immer mehr Standorte für die Bearbeitung dieser Anträge eröffnen konnte, dass mobile Teams gegründet Vizepräsidentin Ulla Schmidt: werden können und dass es letztendlich ein gutes Stück Vielen Dank . – Als Nächster hat der Kollege Martin vorangeht . Gerster, SPD-Fraktion, das Wort . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich freue mich, dass der Koalitionsausschuss zuletzt der CDU/CSU) ganz gezielt gesagt hat: Wir unterstützen die Länder und Kommunen mit einem großen Betrag . Wir haben aber (SPD): auch ganz klar gesagt: Für die fleißigen Mitarbeiter der Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bundespolizei, die vor Ort ihren Mann und ihre Frau Die Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag ist traditi- stehen, gibt es Unterstützung: 3 000 zusätzliche Stel- onell die Zeit und der Ort für zum Teil harte Auseinander- len . Ich glaube, das ist genau die richtige Botschaft . Wir setzungen sowie kontroverse Bewertungen von Einnah- müssen jetzt schauen, wie wir mit Hochdruck und mög- me- und Ausgabepositionen und der damit verbundenen lichst schnell die nötigen Arbeitskräfte finden und in den Schwerpunktsetzung auf politischer Ebene . Manche nut- Dienst bringen . (B) (D) zen diese Debatte auch zur Generalabrechnung . Aber in (Beifall bei der SPD) diesem Jahr ist es etwas anders, wie ich finde; denn wir führen in Anbetracht der vielen Millionen Flüchtlinge in Wir verstehen Flüchtlinge – das will ich noch einmal der Welt und der prognostizierten 800 000 Flüchtlinge, ganz klar sagen – in erster Linie nicht als Krise oder als die in Deutschland Schutz sowie eine neue Bleibe- und Problem, sondern als Herausforderung, die wir bewäl- Lebensperspektive suchen, die Haushaltsdebatte unter tigen können, die wir meistern können, und als Chance ganz anderen Vorzeichen . Jedenfalls sind wir gut bera- für dieses Land . Deswegen sage ich: Wir müssen auch ten, das so zu tun . Vor diesem Hintergrund steht es uns über den Tag hinausdenken . Das sollte auch in diesen gut an, den Menschen und die Menschlichkeit, aber auch Haushaltsberatungen verstärkt Berücksichtigung finden. den Umgang miteinander in den Vordergrund zu rücken . Ich denke an die Sprachförderung für diejenigen, die hier Wir sollten deutlich machen, dass wir auf der Seite der- ankommen . Ich denke an das Thema Integrationskurse, jenigen stehen, die Schutz sowie eine neue Bleibe- und für die wir mehr Plätze brauchen, weil es schon jetzt ein Lebensperspektive suchen . Rekordinteresse an diesen Plätzen gibt . Wir müssen auch einmal schauen, wie wir genügend Dozentinnen und Do- Ich will an dieser Stelle einfach sagen, dass ich nach- zenten für diese Integrationskurse bekommen; drücklich beeindruckt bin, fasziniert bin und dankbar bin – ich glaube, das geht vielen Kolleginnen und Kol- (Johannes Kahrs [SPD]: Anständig bezahlt!) legen so – von dieser Hilfsbereitschaft in unserem Land . denn beim jetzigen Anforderungsprofil und bei der Be- Es ist unglaublich, wie viele ehrenamtliche Helferinnen zahlung wird es in manchen Regionen schwierig sein, und Helfer unterwegs sind, die sich auch spontan in Ini- überhaupt noch jemanden zu finden, der diese Kurse ge- tiativen zusammenschließen . Ich verweise auf unsere Or- ben kann . ganisationen wie das THW, die Feuerwehren, das Rote Kreuz, die Johanniter, die Malteser, die zur Stelle sind, (Beifall bei der SPD – Bettina Hagedorn auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen [SPD]: Besser bezahlen!) Dienst des Bundes, der Länder und auf kommunaler Ich meine auch, dass wir schauen müssen, ob wir nicht Ebene . Überall leisten Menschen mehr, als sie eigentlich einen zusätzlichen Schwerpunkt beim Thema sozialer müssten . Ich denke, es steht uns gut an, hier einmal Dan- Wohnungsbau setzen; denn die Leute müssen ja auch ke schön zu sagen . Wenn ich das sage, denke ich insbe- irgendwo wohnen, die Leute sollen ja auch irgendwo ar- sondere an die fleißigen Leute der Bundespolizei und des beiten . Deswegen bin ich in der Tat der Meinung: Wir Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie auch müssen im Bereich Arbeit und Soziales noch einmal auf- an die Ehrenamtlichen in den Kirchen, in den Sportver- stocken, wir müssen mit der Bundesagentur für Arbeit ins Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11631

Martin Gerster (A) Gespräch kommen, wir müssen schauen, was wir für die Herzlichen Dank . (C) Kinderbetreuung, Stichwort „Kitaausbau“, tun . Natürlich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind auch Schule und Ausbildung ein Riesenthema . Ich der CDU/CSU) bin auch der Meinung, dass wir uns bei den Beratungen im Haushaltsausschuss noch einmal genau anschauen sollten, ob wir nicht noch mehr tun können, ob wir nicht Vizepräsidentin Ulla Schmidt: noch entschiedener vorgehen können gegen die Schleu- Vielen Dank .– Als Nächster hat der Kollege Ewald serbanden, gegen diese Schlepperorganisationen und ob Schurer, SPD-Fraktion, das Wort . wir das Bundeskriminalamt an dieser Stelle nicht etwas (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten besser ausstatten . der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Ewald Schurer (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele haben dieses Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen Thema in ihren Reden hier zuvor schon angesprochen: und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her- die Entwicklungszusammenarbeit . Ich lege hier schon ren! Der Generaldebatte, die jetzt zu Ende geht, liegt der Wert darauf, dass das Wort „Entwicklungszusammenar- Entwurf des Bundeshaushalts für 2016 zugrunde . Wer beit“ genannt wird und dass wir nicht weiter von „Ent- einen Haushalt richtig zu interpretieren weiß, der kann wicklungshilfe“ reden . Ich glaube, das macht einen gro- sich das vorstellen: Es ist eine Art politisches Lesebuch ßen Unterschied . einer Bundesregierung .– Dieser Haushalt setzt Priori- täten in vielen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen: Ich möchte aus heutiger Sicht schon etwas dazu sagen, Förderung von Kitas, Familienpolitik, Bildung, For- wie dieser Politikbereich in den Jahren der christlich-li- schung, Außenpolitik, Gesundheit, Pflege, Infrastruktur beralen Koalition, also der schwarz-gelben Koalition aus und jetzt aufgrund einer aktuellen gesellschaftlichen CDU, CSU und FDP, behandelt wurde . Da war ein Mi- Herausforderung ganz neu: Flucht, Asyl und Integration nister Niebel, von dem auch Sie bei der Union sich haben von Menschen, die zu uns kommen und dann nach der verleiten lassen, Entwicklungszusammenarbeit vor allem Anerkennung eine Chance haben sollen, über Arbeit, So- unter der Priorität zu definieren: Gute Entwicklungszu- ziales sozusagen voll in diese Gesellschaft aufgenommen sammenarbeit ist dann gegeben, wenn sie der deutschen zu werden und Teil dieser Gesellschaft zu werden . Es ist Wirtschaft nutzt .– Ich glaube, spätestens jetzt wäre der eine große Herausforderung . Den Zahlen – der Kollege Zeitpunkt gekommen, um sich davon abzuwenden und zu hat es bereits gesagt – stehen dann immer auch Schicksa- sagen: Gute Entwicklungszusammenarbeit ist vor allem (B) le und menschliche Entwicklungen in dieser Gesellschaft (D) dann gegeben, wenn sie Menschen Lebensperspektiven gegenüber . in ihrer Heimat gibt und somit Fluchtursachen minimiert Deutschland – das ist auch von Herrn Kauder her- werden können . – Wenn deutsche Unternehmen mit ihrer ausgearbeitet worden – macht das aus einer Position der Innovation, mit ihrer Technologie dazu beitragen kön- ökonomischen Stärke heraus . Es ist schon etwas Au- nen, dann ist es schön und gut, aber das darf nicht die ßergewöhnliches, dass wir nicht nur bei der Wertschöp- allererste Priorität sein, so wie dies in der Vergangenheit fung, bei der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, definiert wurde. im Bereich Arbeitsmarkt – mehr Arbeitskräfte denn je, geringere Arbeitslosigkeit denn je –, sondern auch in an- deren Bereichen der Gesellschaft eine sehr positive Ent- (Beifall bei der SPD) wicklung haben . Aus dieser ökonomischen Stärke – die Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube auch, korrespondiert mit den Zahlen des Bundeshaushalts – dass wir noch einmal genau darauf schauen müssen, ob erwächst eine besondere Verantwortung Deutschlands – wir genug tun, um diesem „Pack“ richtig etwas entge- nicht Deutschlands allein –, die Integration der Men- genzusetzen. Sigmar Gabriel, finde ich, hat es bei sei- schen positiv zu befördern . nem Besuch in Heidenau exakt richtig benannt: Das ist Überhaupt ist es so im Haushalt, meine lieben Kolle- ein Pack .– Es ist gut, dass wir in der Großen Koalition ginnen und Kollegen: Das Wollen ist die entscheidende schon in den vergangenen Haushaltsjahren im Etat von Frage . Will ich, dass die Menschen, die zu uns kommen Manuela Schwesig die Mittel für das Programm „Demo- und die Anerkennung bekommen, wirklich voll und ganz kratie leben!“ deutlich aufgestockt haben . Ich habe den in diese Gesellschaft integriert werden? Ich denke, bei Eindruck: Das, was wir da getan haben, ist noch nicht allen Akzentunterschieden hier im Parlament war heute genug . Deswegen müssen wir da noch einmal heran . Ich der Common Sense: Wir wollen, dass die Menschen voll glaube, das ist auch eine Geschichte, die wir in den Haus- und ganz integriert werden . haltsberatungen noch einmal besprechen müssen . Nur, an dieser Stelle mache ich mir schon Sorgen über (Beifall bei der SPD) den europäischen Prozess . Ich weiß, dass die Kanzlerin, das Kabinett, die Minister, dass alle alles tun, um hier Ich bin der Meinung: Wir dürfen im Kampf gegen auch in Europa den zerbrochenen Konsens wiederher- Rechtsextremismus und im Werben für Demokratie, für zustellen . Wir haben – das darf man in der Debatte im Toleranz, für Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde Deutschen Bundestag sagen – derzeit für Europa eine be- niemals nachlassen . Niemals! drohliche Situation . Es sind nicht die Menschen, die von 11632 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Ewald Schurer (A) Budapest über München zu uns kommen, sondern es ist aber auch mit einem starken Partner Frankreich können (C) der fehlende Konsens . Mir tut es im Herzen und im Glau- wir dieses Haus künftig gestalten . ben weh, dass die Staatschefs aus Polen, der Slowakei, Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die aus Tschechien und Ungarn, die sich am letzten Freitag Felder sind genannt worden . Der Bundeshaushalt leistet in Prag getroffen haben, im Brustton der Überzeugung unwahrscheinlich viel . Das ist in der Generaldebatte noch sagen, sie wollen sich an dieser Integrationsarbeit nicht nicht das Thema . Das kommt dann bei den Lesungen zu beteiligen . Das ist vor dem geschichtlichen Hintergrund den verschiedenen Einzelplänen . Wir haben eine Erwei- der 25 Jahre währenden Verantwortung des damaligen terung des Volumens von 302 auf 312 Milliarden Euro Westeuropas für die ehemaligen Staaten im kommunis- und in der mittel- bis langfristigen Projektion steigt es bis tischen Verbund eine ganz schwache Leistung, eine Be- 2019 auf 333 Milliarden Euro . Das zeigt, dass der Bund drohung für die Europäische Union . in den Sozialleistungsgesetzen, auch im investiven Ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten halten, in vielen Bereichen enorm viel Geld in die Hand der CDU/CSU) nimmt, um die Politikfelder gemeinsam mit den Länder- Deswegen möchte ich unterstreichen, dass wir in haushalten und den 12 500 Gemeinden in Deutschland Deutschland die Verantwortung haben und in der Lage nach vorne zu gestalten . Der Bund ist der wichtigste Ak- sind, diese Integrationsarbeit mit der ökonomischen Stär- teur . Aber genauso wichtig sind die Länder und natürlich ke, dem nötigen Willen und dem nötigen Geist zu leisten . auch die Kommunen . Aber es wird nicht gehen – wie schon gesagt –, wenn Wir haben bei der Stärkung der Investitionen noch nur Österreich und Schweden dies offensiv tun und an- Nachholbedarf; das ist bereits gesagt worden . Gerade die dere große Länder sagen: „Ich nehme 4 mal 5 000 in der Flucht-, Asyl- und Integrationsfragen, Frau Präsidentin, nächsten Dekade“, und glauben, sie könnten sich damit können nur gelöst werden, indem wir in Deutschland aus dem Gesamtwerk der Europäischen Union verab- Milliarden von privatem Kapital mit öffentlicher Unter- schieden . Das macht mir große Sorge . So stark wir öko- stützung für sozialen Wohnungsbau verwenden, der sich nomisch in Deutschland sind – das hat an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, egal ob die erwähnt –, so schwierig ist die makroökonomische Si- Menschen hier schon lange leben oder jetzt kommen . tuation in vielen anderen Ländern . Wir haben Handels- Hier werden wir im investiven Bereich auch in dieser bilanzüberschüsse, die sehr stark sind . Das liegt aber Koalition in den nächsten Jahren noch mehr tun müssen auch daran, dass unsere europäischen Partner zum Teil als bisher . leider ökonomisch schwach sind oder nicht so stark sind . Deswegen müssen wir über alle Herausforderungen hin- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit . weg versuchen – Griechenland, Ukraine kann man leider (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (B) nicht vergessen; es ist die größte Stellschraube bezüglich (D) der Bedrohung –, die anderen Länder einzubeziehen . Ich Vizepräsidentin Ulla Schmidt: denke hier auch an den Juncker-Plan mit den 300 Milli- Vielen Dank .– Für die Bundesregierung spricht jetzt arden Euro . Das darf nicht nur diskutiert werden, sondern die Staatsministerin Professor Monika Grütters . das muss im Europäischen Parlament mit den National- staaten umgesetzt werden . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Griechenland wird nach der 86-Milliarden-Euro-Ret- tung, womit man fiskalisch überhaupt erst die Grundla- ge für Wachstum geschaffen hat, Wachstumsprogramme Monika Grütters, Staatsministerin bei der Bundes- brauchen . Es wird sich in Griechenland nichts tun, wenn kanzlerin: nicht die Menschen vor Ort, die innovativ sind, mit Geld Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! in neue Existenzen investieren . Das Ganze gilt auch für 1,28 Milliarden Euro sieht der Haushaltsentwurf der die anderen europäischen Länder . Wir brauchen – das Bundesregierung im Jahr 2016 für Kulturausgaben vor . muss man in der Generaldebatte noch einmal unterstrei- Das sind 56 Millionen Euro mehr als im Regierungsent- chen – europäische Partnerländer, die sich ökonomisch wurf des Vorjahres . Ein starkes kulturpolitisches Signal . wieder erholen, die ökonomisch stärker werden und die Dennoch will ich eine andere Zahl, die uns alle be- von Wirtschaftswachstum getragen mit uns auf einer Au- wegt, in den Mittelpunkt meiner Haushaltsrede stellen . genhöhe als politische und ökonomische Partner in einer 800 000 Menschen suchen in diesem Jahr Zuflucht in wiedererstarkten EU sind . Die Europäische Union hat es Deutschland, 800 000 Menschen, die ihre Heimat zu- nämlich nötig . rückgelassen haben und mit nichts anderem als ihrer Ich freue mich über jede Erfolgsmeldung aus Spanien, Hoffnung auf Frieden und Freiheit, auf ein besseres aus Portugal, aus Irland oder anderen Ländern, dass nach Leben bei uns ankommen . Das ist die größte politische der gigantischen Wirtschaftskrise diese Länder langsam, Herausforderung in diesen Monaten und vielleicht auch aber sicher wieder in eine eigene Tragfähigkeit kommen Jahren . Das ist vor allen Dingen auch eine kulturpoliti- und in der Lage sind, das Konzert der 28 europäischen sche Herausforderung, zunächst einmal, weil kulturelle Länder positiv mitzugestalten . Davon leben wir . Darauf Teilhabe eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass muss man bei einer Haushaltsdebatte des Bundestages Zuwanderer in der Fremde ihre neue Umgebung verste- hinweisen . Nur aus der Interaktion aller europäischen hen und dass auch sie hier verstanden werden, weil kul- Länder mit einer ökonomischen Führung Deutschlands – turelle Teilhabe eben auch gesellschaftliche Teilhabe ist, das darf man hier sagen, ohne sich schämen zu müssen –, aber auch, weil die diffuse Angst vor den Fremden, wie Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11633

Staatsministerin Monika Grütters (A) wir sie mancherorts erleben, das große Bedürfnis nach Ob Poesie, ob Malerei, ob Film, Musik, Theater oder (C) Selbstvergewisserung unserer eigenen kulturellen Iden- Tanz, Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unter- tität einmal mehr deutlich offenbart, vor allem aber, weil schiedliche Begriffe sonst Missverständnisse verursa- kulturelle Vielfalt sowie die großartige Welle der Hilfs- chen . Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, bereitschaft, die wir aktuell erleben, ganz maßgeblich zu wo unterschiedliche Herkunft oft ab- oder ausgrenzt . dem Bild eines weltoffenen Deutschlands beiträgt, das Kunst kann uns helfen, zu verstehen, was uns ausmacht, wir all denen entgegenhalten müssen, die uns mit ihrer wer wir sind, als Individuen, als Deutsche, aber auch und Fremdenfeindlichkeit beschämen . insbesondere als Europäer . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kunst kann uns aber auch nötigen, einmal die Perspektive der SPD) zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen . Kultur ist Brückenbauerin und Türöffnerin, aber auch Dazu wird künftig auch das Humboldt-Forum beitra- Spiegel unseres Selbstverständnisses . 1,28 Milliarden gen . Vor kurzem, im Juni, haben wir zwei Jahre nach der Euro für 2016 sind gut angelegtes Geld, um die Kultur Grundsteinlegung Richtfest gefeiert . Das Humboldt-Fo- genau in dieser Rolle zu bestärken . Liebe Kolleginnen rum fördert neuartige Kunst- und Kulturerfahrung – das und Kollegen, deshalb bitte ich Sie herzlich um Ihre Zu- haben wir uns vorgenommen – und verfügt über Wis- stimmung zum Regierungsentwurf . sen – das ist der Kernbestand – über unterschiedliche, aber gleichberechtigte Weltkulturen . Aktueller hätte man Dieser sieht unter anderem mehr Unterstützung für die dieses größte Projekt der Kultur in der Bundesrepublik von meinem Haus geförderten Kultureinrichtungen vor, nicht planen können . insbesondere 38 Millionen Euro für zusätzliche Perso- nalausgaben zum Ausgleich von Tariferhöhungen . Dieses Projekt wird unsere kulturelle Identität ganz maßgeblich prägen und natürlich auch zeigen, dass Der größte Einzelbetrag – 12 Millionen Euro mehr als Deutschland sich als Partner in der Welt versteht . Denn im Vorjahr – kommt der Deutschen Welle – lieber Herr allein, dass wir im Herzen der deutschen Hauptstadt nicht Dörmann, dafür haben wir gemeinsam viel getan – zu- uns selbst in den Kulturmittelpunkt stellen, sondern dass gute . Sie ist als Botschafterin unseres demokratischen die Welt in Berlin ein Zuhause findet, dass Deutschland Rechtsstaats gerade in Krisenregionen und autoritär re- sich also statt in reiner Selbstbezüglichkeit mit einem gierten Staaten für viele Menschen die maßgebliche, für Blick nach außen empfiehlt, sagt, denke ich, viel über viele aber auch die einzige Verbindung in die freie Welt . das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland am (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Beginn des 21 . Jahrhunderts aus . (B) Vom Plus bei den Personalmitteln profitieren aber (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D) nicht nur die großen Einrichtungen . Vielmehr ist es erst- Mit Neil MacGregor konnte ich einen der weltweit re- mals gelungen, 2016 auch kleine und mittlere Häuser, die nommiertesten Museumsexperten nach Berlin holen . Ich wir nur dauerhaft über Projekte finanzieren, besserzustel- finde, dass das so ein bisschen etwas wie die schönsten len . Dafür bin ich besonders dankbar, vor allen Dingen Vorschusslorbeeren sind, die wir uns alle für das Hum- auch dem Finanzminister Schäuble, der dazu einen be- boldt-Forum wünschen konnten . Um die Bespielung rührenden Brief geschrieben hat . vorzubereiten, möchte ich im kommenden Jahr 3,5 Mil- Vielen ist gar nicht bewusst, wie viel unsere Kultur- lionen Euro für die Gründungsintendanz zur Verfügung einrichtungen landauf, landab – das heißt gerade auch stellen . jenseits der großen Metropolen – zum Umgang mit kul- Diese Beispiele illustrieren, wie wir die Mittel im tureller Vielfalt vor Ort beitragen . Haushalt – auch meines Hauses – im Sinne eines weltof- Wichtig ist es mir aber auch, den Mut zum Experi- fenen Deutschlands einsetzen . Kultur und Medien haben ment zu fördern, den, wie es Habermas einmal gesagt allein schon wegen ihrer herausgehobenen Rolle im öf- hat, avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen, mit der fentlichen Diskurs auch und ganz maßgeblich eine echte Kunst und Kultur notwendige gesellschaftliche Verände- Verantwortung dafür, wie kulturelle Vielfalt in Deutsch- rungsprozesse anzustoßen . land wahrgenommen wird: als fremd oder als vertraut, als einladend oder als trennend, als bedrohlich oder als Deshalb werde ich künftig, analog zum guten Beispiel bereichernd . in der Kino- und Musikbranche, auch einen Theaterpreis – die Theater sind wirklich die direkteste Verbindung vor Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich Ort mit den Bürgern – und einen Buchhandlungspreis verstanden werde . verleihen . Damit ermutigen wir die Überzeugungstäter Das hat einmal der große Philosoph Karl Jaspers gesagt . in den Branchen, die leidenschaftlichen Theatermacher, Ich bin überzeugt, dass Kultur und Medien mit ihrem Literaturliebhaber unter den Buchhändlern, die auch jen- Beitrag zum Verstehen und Verstanden-Werden denen, seits des Mainstreams, aber flächendeckend zu einem die gerade zu Hunderttausenden neu in unser Land kom- vielfältigen kulturellen Angebot beitragen . In diesem men, dabei helfen können, zeitweise oder dauerhaft in Zusammenhang will ich außerdem die kulturelle Film- Deutschland Fuß zu fassen, und denen, die diese gewal- förderung stärken . tige Entwicklung mit Sorge betrachten, vielleicht helfen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- können, sie als Chance zur Bereicherung unseres Mitein- ordneten der SPD) anders anzunehmen . 11634 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Staatsministerin Monika Grütters (A) In diesem Sinne: Vielen Dank . Aber sie ist auch nur möglich, wenn die Infrastruktur (C) und die Voraussetzungen dafür geschaffen werden . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Besonders positiv bewerten wir Linken zudem, dass Vizepräsidentin Ulla Schmidt: der größte Teil der 56 Millionen Euro in den Personal- Vielen Dank .– Nächste Rednerin ist die Kollegin bereich fließt und dass nun auch bei den überwiegend Sigrid Hupach, Fraktion Die Linke, projektfinanzierten Einrichtungen eine Anpassung an das Tarifrecht möglich ist . Das war mehr als überfällig . Hier (Beifall bei der LINKEN) stimmt also die Richtung . Zu tun bleibt dennoch genug . der ich an dieser Stelle noch einmal zu ihrem heuti- Ich erinnere dabei an die ungeklärte und prekäre Situa- gen Geburtstag gratulieren möchte . Herzlichen Glück- tion der vielen freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wunsch! an den Goethe-Instituten. Gerade für Freiberufler und für (Beifall – Sigrid Hupach [DIE LINKE]: Vie- kurzfristig beschäftigte Menschen im Kultur- und Krea- len Dank, Frau Präsidentin!) tivbereich brauchen wir dringend weitere Verbesserun- gen . Sigrid Hupach (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Drittens begrüßen wir die Herauslösung der Kul- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verfolgt man in den turförderfonds aus der Kulturstiftung des Bundes und die letzten Wochen und Monaten die Nachrichten – das Neueinrichtung des Fonds für zeitgenössische Musik . Ob wurde heute vielfach angesprochen –, erfährt man täg- die Finanzierung ausreicht, wird sich zeigen müssen . lich von neuem, unvorstellbarem Leid . Man erfährt, dass Menschen genötigt sind, ihre Heimat zu verlassen und Nach dem Lob nun aber auch etwas Kritik: Kriti- sich unter größten Gefahren allein, mit Kindern oder so- sche Töne sind auf jeden Fall angebracht, wenn es um gar als Minderjährige auf die Flucht zu begeben . die notwendigen Mittel für so dringliche Aufgaben wie Welche Relevanz hat die heutige Debatte um den Kul- die Digitalisierung und Sicherung des kulturellen Erbes, turhaushalt angesichts solcher Dramen? Ich meine, eine des schriftlichen Kulturguts und des Filmerbes geht . Wir sehr, sehr große . Gerade angesichts ganz existenzieller bleiben hier konsequent und fühlen uns durch die Ex- Probleme muss man sich mit Kultur beschäftigen . Man pertenanhörung im Kulturausschuss bestärkt . Es braucht muss Künstlerinnen, Künstlern und Kulturschaffenden eine nationale Digitalisierungsstrategie und die entspre- alle Möglichkeiten geben, diese gesellschaftlichen Wand- chenden Mittel dazu . 30 Millionen Euro sehen wir hier (B) lungsprozesse – herausfordernd, wie sie auch sind – kon- als nötig an . Die eingestellten 1,3 Millionen Euro sind (D) struktiv und kritisch zu begleiten . dieser Aufgabe ebenso wenig angemessen wie die 1 Mil- lion Euro, die im Haushalt für die Sicherung des Film­ (Beifall bei der LINKEN) erbes eingestellt ist . 10 Millionen Euro pro Jahr nennt Wir Linke fordern daher nicht nur die Verdoppelung der das Gutachten im Auftrag der Filmförderanstalt unter Mittel für das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ der Annahme, dass die digitalisierten Originale im An- und die Schaffung dauerhafter Strukturen im Kampf ge- schluss einfach entsorgt werden könnten . Was ist das für gen Rechtsextremismus, sondern wir wollen, dass der eine absurde Idee? Sicherung des Filmerbes heißt beides, Bund auch entscheidend mehr Geld für Soziokultur und die Digitalisierung und die Archivierung der Originale . kulturelle Bildung einstellt . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Selbst die 10 Millionen Euro können daher nur ein An- Kulturelle Bildung – davon bin ich fest überzeugt – fang sein, aber sie wären enorm wichtig . belebt die Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturel- len Hintergrund und mit kultureller Vielfalt . Sie befähigt Auch bei der Filmförderung besteht dringend Hand- dazu, die gesellschaftlichen Entwicklungen zu reflektie- lungsbedarf . Der Deutsche Filmförderfonds hat seine ren und selbstbestimmt mitzugestalten . Somit ist sie eben 50 Millionen Euro für dieses Jahr bereits jetzt aufge- auch Voraussetzung für eine gelingende Demokratie, erst braucht . Das ist ein deutliches Zeichen für die Unter- recht in einem Europa, dessen solidarische und humanis- finanzierung dieser wichtigen Kultur-, Regional- und tische Idee gegenwärtig von nicht wenigen infrage ge- Wirtschaftsförderung . stellt wird . Weiterhin ist zu fragen: Wo sind die in den letzten Mo- Auch aus diesem Grund möchte ich Ihnen, Frau naten zum Teil mit großer Geste angekündigten Mittel Staatsministerin Grütters, danken, dass es Ihnen erneut für die zukunftsweisende Kulturpolitik in den ländlichen gelungen ist, einen Aufwuchs im Kulturhaushalt zu er- Räumen, für den Erhalt der Welterbestätten, die Einrich- reichen . tung eines UNESCO-Kompetenzzentrums, die Auswei- (Beifall bei der LINKEN) tung des Kulturerhaltprogramms oder für die kulturelle Bildung? Ich danke Ihnen auch, dass Sie hervorgehoben haben, wie wichtig und notwendig kulturelle Teilhabe auch für Wir Linke sind fest davon überzeugt, dass wir vom die Menschen, die zu uns kommen, ist . Grundsatz her eine andere Kulturfinanzierung brauchen: Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11635

Sigrid Hupach (A) eine ohne Kooperationsverbot, eine als Gemeinschafts- der institutionellen und repräsentativen Kulturaufgaben (C) aufgabe und eine mit solide finanzierten Kommunen. des Bundes ist es wichtig, die Rahmenbedingungen für kreative Arbeit zu verbessern . Es ist unsere Aufgabe, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . zu verhindern, dass Kulturschaffende durch das soziale Ewald Schurer [SPD]) Netz fallen . Ich hoffe sehr, dass wir in den Haushaltsverhandlun- Der Entwurf für den Haushalt 2016 der BKM bietet gen zu entscheidenden Korrekturen kommen werden . eine gute Grundlage . Für die SPD-Bundestagsfraktion Die schockierenden Bilder von hasserfüllten Demonstra- will ich ausdrücklich positiv hervorheben, dass es er- tionen und erst recht von brennenden Asylbewerber- und neut gelungen ist, den Etatansatz für Kultur im Regie- Flüchtlingsunterkünften machen mehr denn je deutlich: rungsentwurf zu steigern, nämlich um knapp 4,5 Pro- Ja, Kultur kostet, aber Unkultur kostet noch viel mehr . zent . Darin enthalten sind auch die Aufwüchse bei den Vielen Dank . Personalmitteln, für die wir uns in den Beratungen zum (Beifall bei der LINKEN) Haushalt 2015 erfolgreich eingesetzt haben . Dass diese zusätzlichen Mittel für alle durch den Bund geförderten Kultureinrichtungen sowie die Deutsche Welle, die lange Vizepräsidentin Ulla Schmidt: überfällig waren, nun fortgeschrieben werden, begrüßen Vielen Dank .– Als Nächstes hat Burkhard Blienert, wir sehr . SPD-Fraktion, das Wort . (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auf diese Weise können die Einrichtungen die Tarifstei- gerungen auffangen, ohne dass Einsparungen bei Perso- nal, Programm oder Inhalt vorgenommen werden müs- Burkhard Blienert (SPD): sen . Andererseits wurden einige der Aufwüchse aus dem Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! parlamentarischen Verfahren zum Haushalt 2015 bedau- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die aktuelle erlicherweise nicht fortgeschrieben . Wir werden uns in Situation gebietet auch meinerseits die folgende Anmer- den jetzt anstehenden Beratungen gemeinsam anschauen kung, die mir persönlich wichtig ist: Deutschland ist in müssen, was dort zu tun ist . vielerlei Hinsicht ein reiches und starkes Land, und wir können, sollten und müssen uns die größtmögliche Hu- (Beifall des Abg . Martin Dörmann [SPD]) manität erlauben . Mir geht es dabei im Wesentlichen um Auch diejenigen Kulturschaffenden, die von den Ta- den kulturellen Reichtum in unserem Land, ein kulturel- rifsteigerungen nicht profitieren, müssen wir im Blick ha- (B) les Erbe, geprägt von einer reichen Sprache, vielfältiger ben, allen voran die freiberuflich tätigen Kulturschaffen- (D) Literatur, Musik und Kunst . Es ist im Übrigen ein kultu- den, deren Zahl in den letzten Jahren stetig angestiegen relles Erbe, das uns in doppelter Hinsicht zur Humanität ist. Freiberufliche Leistungen im Kulturbereich unterlie- verpflichtet. Es ist ein kulturelles Erbe, das sich durch gen keinen gesetzlichen Vorgaben . Einige Berufsverbän- Heterogenität und Verschiedenheit überhaupt erst entwi- de haben Honorarempfehlungen oder Handreichungen ckelt hat und entwickelt . Wir wollen es erhalten, demo- zur Berechnung freiberuflicher Arbeit erstellt. Dieser kratisieren und vielen Menschen zugänglich machen . Weg muss konsequent weitergegangen werden . Hier Die Menschen, die nun zu uns kommen, bringen etwas trägt auch die öffentliche Hand eine Verantwortung, Bereicherndes mit, nämlich ihre vielfältigen kulturellen wenn es darum geht, dass in der Kulturförderung faire Traditionen und Identitäten . Dies müssen wir als das se- Vergütungen und Honorare gezahlt werden . hen, was es ist: eine fruchtbare Bereicherung für unsere (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gesellschaft und unsere Kultur . Wir müssen eine Zweiklassengesellschaft von denen, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in den vom Bund geförderten Einrichtungen von Tarif- der CDU/CSU) steigerungen profitieren, und denen, die auf der Basis Ich begrüße daher ausdrücklich die Initiativen aus dem von Projektförderung künstlerischer und kreativer Arbeit kulturellen Bereich unterschiedlicher Art und Weise wie nachgehen, vermeiden . zum Beispiel die des deutschen Buchhandels zur Unter- Von existenzsichernder Wichtigkeit für viele freibe- stützung der kulturellen Angebote insbesondere für Asyl- rufliche Kulturschaffende ist nach wie vor die Künstler- suchende und Flüchtlinge, die unter der Schirmherrschaft sozialversicherung . Wir haben einen weiteren Anstieg von Navid Kermani steht . Es ist Navid Kermani, der uns des Abgabesatzes verhindert, für eine gerechtere Lasten- im letzten Jahr am 23 .Mai in seiner Rede zum 65 .Jah - verteilung gesorgt und die Künstlersozialversicherung restag des Grundgesetzes so eindrücklich zu einer Kultur auf sichere Beine gestellt . der Anerkennung und des Respekts ermahnt hat . Die Arbeitsverhältnisse von Kulturschaffenden sind Das war schon sehr beeindruckend . Er hat uns noch besonderen Umständen unterworfen . Das gilt insbeson- mal ins Stammbuch geschrieben, was unsere Aufgabe ist . dere für den Erwerb des Anspruches auf ALG I . Da die Die Kulturförderung des Bundes trägt neben der Kul- aktuell gültige Regelung für kurz befristet Beschäftigte turförderung der Kommunen und Länder wesentlich Ende 2015 ausläuft, müssen wir noch in diesem Jahr eine dazu bei, die kulturelle Vielfalt zu fördern . Ich möchte Entscheidung treffen . Davon sind viele Kulturschaffende hier einige Aspekte herausstellen . Neben der Erfüllung betroffen . Wir brauchen eine Anschlussregelung, die die 11636 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Burkhard Blienert (A) Besonderheiten in der Kultur- und Kreativwirtschaft be- für das Filmerbe keine entsprechenden Mittel . Aber das (C) rücksichtigt . ist angesichts der aktuellen Situation auch schnell erklärt . Bevor sich nun der Bund verpflichtet, müssen wir die an- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Grundlage kreativer deren mit an Bord nehmen, die auch Verantwortung tra- Erwerbsarbeit sind geistige Schöpfungen . Deshalb müs- sen wir eine angemessene Vergütung für die Nutzung gen . Das sind vor allem die Länder und die Filmbranche . kreativer Leistungen sicherstellen und geistiges Eigen- Die dazu notwendigen Gespräche werden bereits geführt . tum vor Rechtsverletzungen im digitalen Raum schützen . Ich bin zuversichtlich, dass wir im kommenden Jahr ein Dazu brauchen wir ein faires und zeitgemäßes Urheber- entsprechendes Programm auf den Weg bringen werden, recht, das die Interessen von Urhebern, Verwertern, Nut- um auch hier dafür zu sorgen, dass unser reiches kulturel- zern und Konsumenten ausgleicht . les Filmerbe erhalten und zugänglich bleibt . Im Mittelpunkt müssen jedoch weiterhin der Urheber (Beifall bei der SPD) und sein kreatives Schaffen stehen; denn sie schaffen den Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe meine Inhalt, den Content . Mit der bevorstehenden Reform des Rede mit einem Appell . Wenn wir die kulturelle Vielfalt Urhebervertragsrechts wollen wir die strukturell schwä- unserer Gesellschaft als Chance nutzen wollen, müssen chere Position des Urhebers im Verhältnis zum Verwerter wir die kulturelle Bildung fördern . Kulturelle Bildung verbessern . Die Erfahrungen seit der letzten Anpassung bietet ein großes Potenzial, um mit den Menschen, die in des Urheberrechtsgesetzes 2002 haben gezeigt, dass dies unser Land kommen, ins Gespräch zu kommen, um uns auch wirklich nötig ist . für ihre und sie für unsere Kultur zu öffnen . Viele Kul- (Beifall bei der SPD) tureinrichtungen widmen sich bereits jetzt mit großem Engagement der kulturellen Bildungsarbeit mit Flücht- Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in der Filmpo- lingen, allen voran mit Kindern und Jugendlichen . Dies litik hatten wir uns für die laufende Wahlperiode einiges ist der richtige Weg, den wir in Zukunft noch viel konse- vorgenommen . Wir haben die Digitalisierung unserer Ki- quenter und energischer gehen müssen . nolandschaft mit dem erfolgreichen Digitalisierungspro- gramm abgeschlossen . Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit . Wir haben die zeitliche Befristung des Deutschen Film- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) förderfonds aufgehoben und damit die Förderung der Filmwirtschaft auf Dauer gestellt . Sicherlich: Als Kultur- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: politiker hätte ich mir gewünscht, dass wir das auf dem Vielen Dank . Das war wirklich eine Punktlandung . – alten Niveau hätten fortsetzen können . Umso mehr freue Das Wort hat jetzt Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen . (B) ich mich über die Initiative von Bundeswirtschaftsminis- (D) ter Sigmar Gabriel, die Förderung der Filmwirtschaft mit ( [SPD]: Gute Hambur- Mitteln aus seinem Etat zu ergänzen . Ich begrüße das; gerin!) denn nur so können wir unsere kulturpolitische Zielset- zung in der Filmpolitik erreichen . Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unser Ziel ist die Sicherung einer breiten Vielfalt Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und beim Filmschaffen in Deutschland . Dafür ist neben Wirt- Herren! Ich möchte über das Projekt „Museum der Mo- schaftsförderung weit mehr erforderlich . Wir müssen derne“ sprechen, wofür wir im vergangenen Haushalt auch verstärkt etwas dafür tun, dass in Deutschland mehr 200 Millionen Euro bereitgestellt haben; das kommt Filme entstehen können, bei denen die künstlerische nicht jährlich vorkommt . Qualität nicht zu kurz kommt . Deshalb sollten wir unser Frau Grütters, wir sind uns zumindest in einem Punkt gesamtes Fördersystem von Bund und Ländern in den einig: Dieses Museumsprojekt mit der Aussicht ganz Blick nehmen, um hier nach Möglichkeiten zu suchen, wunderbare Kunstobjekte zu präsentieren, hat eine ganz mit denen wir den künstlerischen Output im deutschen große kulturelle Bedeutung für unsere Hauptstadt . Des- Filmschaffen nachhaltig stärken können . Die anstehende wegen möchte ich es in den Mittelpunkt meiner Rede Novelle zum Filmförderungsgesetz (FFG) bietet hierzu stellen . genügend Ansatzpunkte und Möglichkeiten, das auch umzusetzen . Wir Grüne – das will ich hier auch betonen – sind Un- terstützer dieses Projektes und wollen es auch bleiben . Wenn wir die Vielfalt des deutschen Films sichern wollen, dann müssen wir uns auch um unser großes und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN großartiges Filmerbe kümmern; denn vieles droht in der sowie bei Abgeordneten der SPD) Versenkung zu verschwinden oder gar unwiederbringlich Aber – und das gehört zur Ehrlichkeit dazu –: Vergan- verloren zu gehen . Mit der Digitalisierung der alten Fil- gene Woche ist der Ideenwettbewerb von Ihnen in der me können wir altes, vom Verfall bedrohtes Filmmaterial Öffentlichkeit präsentiert worden, und er beginnt jetzt . retten, wir können beschädigte Kopien restaurieren, und Frau Grütters, wie war das öffentliche Echo auf dieses ei- vor allem können wir unser Filmerbe auf völlig neuen gentlich so gewinnende Projekt? Das öffentliche Echo in Distributionswegen verfügbar machen . den Medien, ob Süddeutsche Zeitung, ob Die Zeit, ob die Obgleich wir im parlamentarischen Verfahren für Berliner Zeitung oder andere, war – wenn man es freund- 2015 1 Million Euro für das Filmerbe bereitgestellt ha- lich ausdrückt – bescheiden . Wenn man die Artikel mit ben, enthält der vorliegende Haushaltsentwurf für 2016 Interesse liest, muss man feststellen: Das Echo war von Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11637

Anja Hajduk (A) viel Unverständnis für Sie geprägt, Frau Grütters, wie Sie sagt, man müsse nun – Zitat – „volles Risiko gehen – und (C) das Projekt jetzt auf die Spur gesetzt haben . vielleicht dann feststellen, dass man hier nicht bauen kann“ . Man muss wissen, dass an dem Standort, von dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Grütters sagt, dass es der einzig richtige ist, eine Ich zitiere Die Zeit vom 27 .August 2015, Herrn Rau- Starkstromleitung verläuft, sodass die wichtige, absolut terberg: notwendige Verbindung zur Neuen Nationalgalerie zu- Eigentlich geht es in einem ersten Schritt . . darum, mindest in den nächsten 15 Jahren gar nicht möglich ist . Ideen zu sammeln . Die Architekten sollen ihre Fan- Eine aus europäischer Sicht wichtige Starkstromleitung tasie spielen lassen, sollen zeigen, was überhaupt wird nämlich deswegen nicht verlegt . Wenn das, was möglich wäre, wenn denn alle, der Bund und das Frau ­Lüscher sagt, ernst zu nehmen ist, dann verantwor- Land Berlin, das Kulturforum endlich ernst nähmen . ten Sie, Frau Grütters, wenn dieses Museumsprojekt eine sehr lange Zeitspanne für die Verwirklichung braucht, Und weiter zu Ihnen, Frau Grütters, schreibt er: etwas, was Sie immer verhindern wollten . Sie wagt nicht die Offenheit, die es braucht . Sie lässt Im Namen meiner Fraktion möchte ich einen letzten den Architekten nicht die Freiheit, die für eine sol- Punkt ansprechen . Ich sage Ihnen schon heute ganz klar: che Aufgabe nötig ist . Gegen alle Ratschläge, gegen Wir werden nicht akzeptieren, dass es eine investoren- die Proteste der wichtigsten Architektenverbände getriebene Architektur gibt, weil Sie das als PPP bauen und die Einwände vieler kluger Einzelstimmen . . wollen . hat sie sich festgelegt: Das neue Museum kann nur an einem Ort entstehen, an der Potsdamer Straße . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Ich muss es Ihnen deutlich sagen, Frau Grütters: Ich LINKEN) finde, Sie haben ein falsches Rollenverständnis. Sie sind die Kulturstaatsministerin . Es ist lobenswert, wenn Sie Ich finde es mehr als bemerkenswert, ich finde es so ein Projekt nach vorne bringen; aber Sie sollten Ar- unfair und unangemessen, dass Sie das Bundesamt für chitekten und Städteplaner so mitwirken lassen, dass die Bauwesen und Raumordnung ständig schlechtreden und städtebaulich beste Entwicklung an diesem weltweit be- behaupten, das Bundesamt könne das nicht unter Einhal- deutenden Standort möglich ist . tung des Kostenrahmens bauen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dass Sie sagen: „Ich entscheide“, halte ich für falsch, für eine politische Hybris . Das wird auch von vielen an- Ich wünsche mir, dass Frau Hendricks sich das nicht (B) deren so gesehen . bieten lässt . So einseitig kann man nicht vorgehen . (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen rufe ich Sie auf, Frau Grütters: Passen Sie auf, dass Sie nicht die Unterstützer verlieren . So ein Pro- Ich finde es dreist, wenn Sie das auch noch damit jekt braucht eine faire öffentliche Beteiligung und faire rechtfertigen, dass der Bund Mittel für den Museumsbau Mitsprachemöglichkeiten für Experten . In diesem Sinne zugesagt habe, nicht aber für städtebauliche Visionen . haben Sie umzusteuern . Dies ist ein Ort, an dem der Städtebau mitgedacht wer- den muss . Die Situation im Haushaltsausschuss dazu war Schönen Dank . schon absurd . An dieser Stelle muss ich die Kollegen der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Regierungsfraktionen einmal in Schutz nehmen . Sie ha- sowie bei Abgeordneten der SPD) ben tapfer darum gekämpft, dass offenbleibt, an welchen Standort wir gehen . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) Vielen Dank . – Jetzt hat Rüdiger Kruse, CDU/ Das ist aber von oben durchgezogen worden . Der CSU-Fraktion, das Wort . Haushaltsausschuss hat die städtebauliche und kulturelle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Diskussion offenhalten wollen; aber die Kulturstaatsmi- sowie des Abg . Johannes Kahrs [SPD]) nisterin sagt: Bums, das mache ich so .

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rüdiger Kruse (CDU/CSU): sowie bei Abgeordneten der SPD) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Man muss sich einmal fragen: Welche Rolle spielt Herren! Zurzeit strömen Hunderttausende Menschen eigentlich Berlin dabei? Dazu muss ich sagen – Frau nach Europa, und wir sind irgendwie überrascht . Ange- Grütters ist die wirkliche Berlin-Expertin ‑: Berlin hat sichts der europäischen Geschichte ist es verständlich, die Planungshoheit und hält sich seltsamerweise zurück . dass wir überrascht sind; denn über Jahrhunderte haben Als Vollstrecker des Bundeswillens hält sich der Senat wir selbst Migranten produziert durch Krieg, Vertreibung in Berlin zurück . Ich bin mir nicht sicher, ob das ange- und Verfolgung . Jetzt ist offenbar ein Bild von Europa sichts des langen Planungsverfahrens, das vor uns liegt, entstanden, das so attraktiv ist, dass nun Menschen aus am Ende gutgehen wird . Senatsbaudirektorin Lüscher anderen Regionen aus den gleichen Gründen, aus denen hat nun anscheinend, wenn der Bericht aus der Berliner Menschen aus Europa geflohen sind, nach Europa flie- Zeitung von Herrn Bernau richtig ist, letzte Woche ge- hen . 11638 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Rüdiger Kruse (A) Dass wir so überrascht sind, hat auch etwas damit zu Wir brauchen ein Mehr an Kultur, und wir brauchen (C) tun, dass wir kein geschlossenes Selbstbild von Euro- bessere Zugänge dazu . Es reicht nicht, dass wir neue pa haben, ein Problem, das wir Deutschen gut kennen . Museen bauen und alte erhalten und zudem durch Tari- Wenn man kein eigenes Selbstbild hat, dann wundert fangleichung dafür sorgen, dass die Leute, die morgens man sich erst recht über das Fremdbild, auch wenn man das Licht an- und abends wieder ausschalten, anständig es als Kompliment annehmen darf, wenn Menschen bezahlt werden . Das kriegen wir hin . Was wir zurzeit sagen: Dort wollen wir hin . Es wäre also sinnvoll, ein nicht hinkriegen, sind Ausstellungen von Weltrang, die Selbstbild zu finden, es zu definieren. richtig spannend sind . Wir kriegen es nicht hin, dass wirklich breite Bevölkerungsteile in Ausstellungen ge- Das haben wir auch in der Finanzkrise gesehen . Es ist hen und dann heftig darüber diskutieren . Wir brauchen nicht möglich, Europa nur mit Zahlen zu bauen . Das hält Skandalausstellungen . nicht zusammen . Das würde nicht funktionieren . Wenn Europa eine Holding wäre, dann hätte man viele Länder (Dr . Frank-Walter Steinmeier, Bundesminis- nach drei Monaten auf Verkauf gestellt . Das entspräche ter: Was?) aber nicht der europäischen Idee . Wir brauchen Ausstellungen, die uns betreffen, über die Was ist jetzt die Chance? Die Chance ist in etwa so, als wir auch in der Politik reden und mit denen wir uns aus- wenn Sie Besuch haben oder jemand neu in Ihre Firma einandersetzen . Wir haben ganz gute Ansätze gewählt, kommt, der Ihre Stadt nicht kennt . Dann haben Sie die wo wir Dinge verstärken . Wir machen ja inzwischen Chance, Ihre Stadt selber kennenzulernen, indem Sie sie auch mehr . Wir machen sogar offene Projekte; ich denke da an das Haus der Kulturen der Welt . Aber wir brau- ihm zeigen . Wenn jemand kommt und Ihre Kultur nicht chen deutlich mehr, und deswegen ist ein Aufwuchs von kennt, Sie aber die Erwartung haben, dass er sich in diese 4 oder 5 Prozent noch zu wenig . Kultur integriert, dann sollten Sie zumindest wissen, wel- che Kultur Sie denn meinen . Das, glaube ich, ist unser Es geht auch überhaupt nicht, dass da, wo wir als Auftrag . Bund für einen Aufwuchs sorgen, Länder und Kommu- nen zurückfahren . Die Staatsministerin hat gesagt, dass wir Projekte und Initiativen stärken müssen, die sich mit der kulturellen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Einbindung von Migranten beschäftigen . Das ist sehr Man muss bei all den Debatten, die wir führen, auch ein- wichtig . Aber das wäre zu wenig; denn dann hätten wir, mal daran erinnern, dass nicht nur der Bundeshaushalt wenn es richtig gut läuft, bloß 1 Million Menschen mehr, mit Steuermehreinnahmen gesegnet ist; vielmehr ist es die die deutsche oder europäische Kultur kennen . Das so – Sie kennen die Verteilung ‑: Wenn wir mehr kriegen, (B) heißt, an die – geschätzt – 50 Millionen in Deutschland kriegen auch die Länder und Kommunen mehr . Zudem (D) kennen sie immer noch nicht; denn wir haben das Prob- hat der Bund sehr viele Entlastungsschritte in diese Rich- lem, dass Kultur derzeit eine Angelegenheit ist, die ver- tung unternommen . Deshalb muss man in den Verhand- erbt wird . Sind Ihre Eltern ins Theater gegangen, ist die lungen mit den Ländern und Kommunen auch einmal Chance sehr hoch, dass Sie das irgendwann auch einmal sagen: Dafür, verdammt noch mal, verlangen wir, dass mussten . Das mussten Sie dann so oft, bis Sie Gefallen ihr euren Kulturetat nicht kürzt, sondern ihn aufstockt! daran gefunden haben . Das ist so ähnlich wie beim ersten Bier: Hat irgendjemandem sein erstes Bier geschmeckt? Herfried Münkler, der sich mit Deutschland als Macht in der Mitte beschäftigt hat, hat in seinem Buch ein Kapi- Nein, natürlich nicht . Das erste Bier schmeckt nicht . Sie tel der kulturellen Macht gewidmet, die er dann als „Soft trinken es aus Gruppengefühl . Power“ bezeichnet . Er sagt, dass diese kulturelle Macht Jetzt will ich nicht weiter über diese legale Droge wahrscheinlich die kostengünstigste Möglichkeit ist, Po- reden . Ich will aber sagen: Sie müssen irgendwie die pulismus entgegenzuwirken . Das gilt auch für das, was Chance bekommen, diesen ersten Schluck von Kultur ja ebenfalls gefordert worden ist: den Kampf gegen Ex- zu nehmen . Diese Chance müssen nicht nur die Migran- tremismus . Extremismus entspringt aus Unkenntnis und ten bekommen . Da ist es sehr naheliegend . Da ist auch aus Angst, Angst vor dem Fremden zum Beispiel . Ein eine große Neugier da . Das ist der große Vorteil . Aber schöner und erfolgreicher deutscher Film, ein kulturell wir müssen natürlich auch etwas dafür tun, dass die brei- wertvoller deutscher Film war Angst essen Seele auf . Die te restliche Bevölkerung, die wir seit der Gründung der Angst vor dem Fremden kann man durch die Neugier auf Bundesrepublik immer noch nicht mitgenommen ha- das Fremde überwinden . Das wiederum weckt Kultur . ben, nun mitkommt . Das nennt man Demokratisierung Daher macht es sehr viel Sinn, wenn wir uns in diesem der Kultur . Das muss unser Antrieb sein, weil wir sonst Bereich stärker engagieren . jedes Mal, wenn wir einen Haushalt beraten – und sei Wir müssen natürlich eines wissen – auch das sagt der Anteil des Kulturhaushalts am Bundes- oder Lan- Münkler -: Politiker machen keine Filme; sie können deshaushalt auch so verschwindend gering, dass es sich es auch nicht . Wenn sie ganz besonders waren, sind sie überhaupt nicht lohnt, über Kultur zu reden –, bei der vielleicht einmal ein Motiv für einen Film oder für ein Auflistung von unnötigen, überflüssigen und Luxuspro- Buch . Wir sind Handwerker . Wir müssen die Rahmenbe- jekten die Kultur weit vorne haben und die meisten Leute dingungen schaffen, damit andere das machen . Wir müs- der Ansicht sind, würde man bei der Kultur sparen, hätte sen sie jetzt auch so schaffen, dass das auf europäischer man schon den halben Haushalt saniert . Das also wollen Ebene möglich ist . Wir müssen dafür sorgen, dass es in wir nicht . der Finanzkrise nicht zu Kürzungen im Bereich der Kul- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11639

Rüdiger Kruse (A) tur kommt – bei anderen Ländern kann ich das viel mehr die Aufregung groß . Die Feuilletons waren voll davon . (C) verstehen, wenn sie sehr viel kürzen müssen -; denn dann Da stellt man sich die Frage: Warum war das so? Weil un- wären das unattraktive Ruinen . Das heißt, wir brauchen sinnige Neuregelungen bei Künstlern und Sammlern Pa- eine europäische Initiative . nikreaktionen ausgelöst haben . Es ging um private Leih- Wir sollten den Ansatz finden, eine europäische gaben in öffentlichen Museen, es ging um die Rechte auf Renaissance einzuleiten . Das Wesen der Renaissance be- Zutritt zu privaten Sammlungen . Diese Regelungen, Frau steht aus zwei Dingen: aus der Rückbesinnung, also aus Staatsministerin, befanden sich in einem Referentenent- der Beschäftigung mit dem, was vorher war – nicht in wurf Ihres Hauses . Jetzt müssen Sie unter Hochdruck einem konservativen Sinne, sondern in einem, dass man, nachbessern . Da sage ich Ihnen: Das war nicht nur hand- wenn man es kennt und sich damit auseinandersetzt, werklich ganz schlecht, sondern das hätte Ihnen so auch Neues entwickeln kann –, und aus einer starken Verbrei- nicht passieren dürfen . terung des kulturellen Austausches . Eigentlich war das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) damals unvorstellbar . Einmal ganz abgesehen von Ihrer miserablen Kommu- Wir können ja einmal versuchen, den Künstler El nikation . Es bei einem so hart umkämpften Gesetz zu Greco zuzuordnen . Er wurde in Griechenland geboren . versäumen, das Warum und das Wie von Regelungen Angefangen hat er auf Kreta, dann ist er nach Venedig verständlich zu erklären, war ein eklatanter Fehler . Sie gegangen und dann nach Rom . Später war er in Tole- haben unnötig Öl ins Feuer der Händlerlobby gegossen . do bestimmender Meister des spanischen Manierismus . Ich weiß jetzt nicht, ob das nun ein griechischer, spani- Hier hätte ich mir von einer Staatsministerin – das muss scher oder italienischer Künstler ist . Von der Geburt her ich ganz ehrlich sagen – mehr Weitblick und einen pro- ist es eindeutig . Seine Kunst ist international . Was die fessionelleren Umgang erwartet . damals an gegenseitiger Beeinflussung geschafft haben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können wir heute doch viel leichter . Wir sollten die Aus- tauschmöglichkeiten nutzen und stärken und im Sinne Mit massivem Widerstand durch die Händlerlobby einer europäischen Kulturpolitik dahin gehend wirken, war zu rechnen; das haben Sie gewusst . Das hat bereits dass wir unsere Maßstäbe auch nach außen senden . die Umsetzung des Kulturgüterrückgabegesetzes 2007 gezeigt . Die wichtigen Fragen, zum Beispiel unter wel- Man muss auch den Menschen, die hierherwollen, sa- chen Voraussetzungen Kulturgut zukünftig als national gen, dass sie alles an Kreativität mitbringen dürfen, aber wertvoll eingetragen wird, lassen Sie weiter offen . Hier die gesamte Engstirnigkeit bitte zu Hause lassen und bestätigt sich Ihre Vorgehensweise: Großes ankündigen, überwinden . Es gibt nicht die Einladung, dass diejenigen, nicht entsprechend inhaltlich nachliefern . (B) die von Ignoranten vertrieben worden sind, ihre eigenen (D) Ignoranzen hier ausleben . Zur Vermeidung dessen brau- Noch ein Thema der Kategorie „Schöner Plan – feh- chen diese Menschen ein positives politisches und kul- lendes Konzept“ steht auf der kulturpolitischen Agenda: turelles Bild von Europa, und wir müssen uns um dieses das Humboldtforum; Sie haben es eben wieder erwähnt . Bild bemühen . Dafür ist es notwendig, dass wir nicht nur Auch hier hören wir von der Bundesregierung vor allem unseren eigenen Etat deutlich stärken, sondern als Deut- euphorisierte Superlative . Mit dem Gründungsintendan- sche maßgeblich auf eine europäische Kulturinitiative ten Neil MacGregor steht uns herausragende Kompetenz hinwirken; denn das ist eine der günstigsten Möglichkei- zur Verfügung; ganz ohne Frage . Das ist gut, aber das ten, etwas für Freiheit und Recht in dieser Welt zu tun . reicht ja nicht aus . Danke schön . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- Bis heute haben Sie konzeptionell immer noch nichts wie bei Abgeordneten der LINKEN und des Substanzielles geliefert . Offen bleibt neben dem Inhalt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) außerdem die zukünftige Finanzierung . Auch bei TTIP sind wir Zeuginnen und Zeugen einer Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Kulturpolitik, die Großes verkündet und erst dann schaut, Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Ulle Schauws, wohin die Reise geht . Sie behaupteten, Frau Staatsmi- BÜNDNIS 90/Die Grünen . nisterin, die Kultur könne von den Verhandlungen durch eine Generalklausel ausgenommen werden . Haben Sie Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): konkret etwas dazu gemacht? Wir haben seitdem nichts Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- mehr von Ihnen dazu gehört . nen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Kulturpolitisch war in letzter Zeit viel von großen Plänen und Namen Das Gutachten unserer Fraktion zu den möglichen zu hören, leider weniger von handwerklich guten Kon- Auswirkungen von TTIP auf den Kulturbereich hat ge- zepten oder nachhaltigen Strukturlösungen . Aber es kann zeigt: Die Verhandlungsstrategie der USA lässt eine sol- und darf bei dem Auftrag, den die Bundeskulturpolitik che Ausnahme überhaupt nicht zu . Ich sage Ihnen: So be- hat, nicht nur um schnelle Erfolge und leere Ankündi- deutende Verhandlungen können Sie nicht laufen lassen gungen gehen . nach dem Motto „Wird schon gut gehen“ . Das reicht uns, das reicht auch den Kulturleuten nicht aus . Ein erstes Paradebeispiel ist die ausstehende Novellie- rung des Kulturgutschutzgesetzes . Hier war im Sommer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 11640 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Ulle Schauws (A) Was wir von einer Kulturstaatsministerin erwarten – Terrormiliz „Islamischer Staat“ ging dieser Kulturschatz (C) und zu Recht erwarten können –, sind eine nachhaltige für immer verloren . Diese Tragik kann man, glaube ich, Kulturpolitik und eine Vision für morgen . Meine Damen nicht genügend betonen . Es ist wichtig, dass wir bei der und Herren von der Bundesregierung, ich frage Sie: Wo Diskussion über die Lage in der Welt immer auch die finden wir die im Koalitionsvertrag angekündigte kon- Kultur im Blick haben; denn sie sagt etwas über die Lage zeptorientierte Kulturförderung, wo die Analysen und in der Welt aus . Statistiken einer verstärkten Kulturpolitikforschung Darüber hinaus wirkt Kultur nach innen, und darü- und die angekündigten Maßnahmen zu Inklusion, Ge- ber reden wir in unserer Debatte heute ja auch sehr viel . schlechtergerechtigkeit und interkultureller Öffnung von Kultur ist ein Ausdruck unserer Werte . Sie schafft Zu- Kulturbetrieben? Gerade jetzt, da uns alle das Thema sammenhalt und Identifikation. Kultur fördert das ge- „Flucht vieler Menschen“ beschäftigt, da es uns alle an- sellschaftliche Miteinander, und sie schafft auch für die geht – viele von Ihnen haben es heute erwähnt –, ist auch Menschen, die zu uns kommen – das ist heute schon er- die Kulturpolitik der Regierung gefordert, ihren Beitrag wähnt worden –, Teilhabe, Entfaltungs- und Ausdrucks- zu leisten . Ich hoffe, dass wir Ihre Konzepte dazu bald möglichkeiten und nicht zuletzt für uns alle Freude an bekommen werden . Ich sage noch einmal: Große Plä- Schönem und Wunderbarem . ne brauchen gute und nachhaltige Konzepte . Das ist im BKM eine große Leerstelle . Darum, Frau Grütters: Ma- Aus diesem Grunde ist es richtig und wichtig, dass chen Sie Ihre Hausaufgaben! Sie haben nur noch zwei wir weiterhin intensiv in Kultur und kulturelle Projekte Jahre Zeit . investieren . Ich sage das ganz besonders vor dem Hinter- grund, dass es in diesen Tagen bei den Haushaltsberatun- Vielen Dank . gen darum geht, unsere gemeinsamen Anstrengungen in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Versorgung und Betreuung der Flüchtlinge zu inves- tieren . Das geht aber nicht gegeneinander, sondern das Vizepräsidentin Ulla Schmidt: erfordert eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen . Hier brauchen wir auch Inves- Vielen Dank .– Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die titionen in Kultur, und deswegen freue ich mich über die Kollegin Dr . Eva Högl . Steigerung des Kulturetats . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU)

Dr. Eva Högl (SPD): Ich möchte auch noch einmal deutlich sagen, dass wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier es sind, die trotz (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (D) Kollegen! Zum Ende unserer Debatte – wir haben jetzt einer guten Vorlage – natürlich von Frau Grütters – im- fast vier Stunden diskutiert – und zum Ende unserer kul- mer noch eine Schippe drauflegen. Ich verspreche mir turpolitischen Debatte möchte ich Sie alle ganz herzlich das selbstverständlich auch von den weiteren Haushalts- einladen, einen übergeordneten Blick auf die Rolle der beratungen . In der Vergangenheit sind das Denkmal- Kultur zu werfen, gerade auf die Bedeutung der Kultur- schutz-Sonderprogramm und die Aufstockung der Mittel politik im Zusammenhang mit der außenpolitischen Situ- für die Deutsche Welle im parlamentarischen Verfahren ation, mit der Situation von Flüchtlingen . erreicht worden . Dies waren gute Signale für die Ausstat- tung von Kultur und Medien . Ich möchte darauf hinweisen, dass Kultur in zwei Richtungen wirkt und beide Richtungen gleichermaßen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wichtig sind: CDU/CSU) Kultur hat ganz starke Signalwirkung nach außen; ich Vier Themen möchte ich kurz ansprechen, liebe Kol- halte es für sehr wichtig, dass wir das auch in dieser De- leginnen und Kollegen: batte betonen . Investitionen in Kulturgüter und kulturelle Erstens . Ich beginne – wie könnte es anders sein – mit Projekte entfalten ihre Ausstrahlungskraft weit über die der Hauptstadtkulturförderung . Als Berlinerin mit dem Grenzen Deutschlands hinaus . Durch seine Kultur prä- Wahlkreis Berlin-Mitte liegen mir diese Projekte natür- sentiert sich Deutschland, und zwar weltoffen, und heißt lich sehr am Herzen . Sie liegen aber auch dem ganzen Menschen willkommen . Der Umgang einer Nation mit Haus am Herzen, und deswegen hoffe ich natürlich, dass ihren Kulturschätzen zeichnet sie auch aus . wir die Hauptstadtkultur auch weiterhin gut fördern; denn Berlin repräsentiert die Kultur Deutschlands und Ich möchte heute ein Beispiel nicht unerwähnt lassen, exemplarisch auch die kulturelle Vielfalt in unserem das uns alle erschüttert hat, als wir es vernommen ha- Land . Hier gibt es kein Gegeneinander der Fläche und ben – der Umgang mit Kultur in dieser Region erschüt- der Hauptstadt, aber das bedarf einer gesonderten Finan- tert uns ja seit Wochen und Monaten -: die Zerstörung der zierung und eines besonderen Augenmerks . Deswegen antiken Grabstätten in der syrischen Oasenstadt Palmyra . hoffe ich, dass wir bei der Finanzierung der Hauptstadt- Das ist ein tragischer Verlust einmaligen und nie wieder- kultur auch weiterhin gemeinsam gute Wege gehen und herzustellenden Kulturguts . Palmyra war ein Treffpunkt Berlin entsprechend ausstatten, sodass es diese Aufgabe der Kulturen . Palmyra steht für multikulturelles Mitei- übernehmen kann . nander, griechisch-römische Architektur, orientalisch verziert . Die Stadt wurde 1980 zum UNESCO-Weltkul- Ich möchte daran erinnern, dass es in Berlin viele turerbe erhoben . Durch die gezielte Zerstörung durch die Leuchtturmeinrichtungen gibt, die wir mit Bundesmitteln Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11641

Dr. Eva Högl (A) unterstützen: die Berlinale, den Martin-Gropius-Bau, die dass er eine Ausstrahlungskraft auf das gesamte Areal hat (C) Akademie der Künste oder auch das Haus der Kulturen und auch die Möglichkeit beinhaltet, das Kulturforum der Welt . Das kennen und schätzen wir alle . Sie alle ha- städtebaulich zu verbessern und aufzuwerten; ben eine große Bedeutung . (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte hervorheben, dass zum Beispiel der Mar- NEN]: Und warum schränken Sie es ein?) tin-Gropius-Bau aus der Projektmittelförderung heraus- denn das ist dringend erforderlich . Wenn wir aber das und in die institutionelle Förderung hineingekommen ganze Areal städtebaulich aufwerten wollen, wie uns ist . Ich denke, das ist ein guter Weg, den wir auch weiter das wahrscheinlich gemeinsam vorschwebt, müssen wir beschreiten sollten . noch deutlich mehr Geld in die Hand nehmen . Zweitens . Keine Rede zur Kultur ohne die Erwähnung (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- des Humboldt-Forums! Der Bau des Humboldt-Forums NEN]: Das ist doch eine totale Ablenkungs- ist auf einem guten Weg . Jetzt kommt es auf die inhaltli- diskussion!) che Ausgestaltung an . Ich möchte aber noch einmal ganz deutlich machen, dass die Baustelle des Humboldt-Fo- Dafür reichen die 200 Millionen Euro für den Museums- rums in Berlin – darauf sind wir alle sehr stolz – unsere bau nicht aus . Ich lade herzlich ein, dass wir uns über Vorzeigebaustelle ist . Das ist ja nicht bei allen Baustellen diesen Ideenwettbewerb für den Bau hinaus gemeinsam der Fall, aber das Humboldt-Forum ist unter guter Regie Gedanken machen, auf einem guten Weg; es ist im Kosten- und Zeitplan . Wir (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- alle freuen uns schon auf die Eröffnung . NEN]: Das werden wir auch!) Jetzt geht es natürlich darum, das Humboldt-Forum wie wir das Kulturforum aufwerten können . inhaltlich gut auszugestalten . Das Humboldt-Forum liegt im Herzen von Berlin und – Frau Grütters hat es eben Für die SPD-Fraktion jedenfalls sage ich, dass wir den schon gesagt – soll die Kulturen der Welt anziehen und Standort des Museums der Moderne an der Potsdamer sie im Herzen von Berlin vertreten und widerspiegeln . Straße richtig finden. Darüber werden wir miteinander sprechen und das gut (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausgestalten . NEN]: Das stimmt doch gar nicht! Das gilt Ich freue mich ganz besonders, dass wir bei der letz- doch gar nicht für alle SPDler!) ten Sitzung des Stiftungsrates des Humboldt-Forums Das ist der geeignete Standort . Dahin gehört das Muse- entschieden haben, dass ein Vertreter des Auswärtigen um . Aber ich bin natürlich auch dafür, dass in dem Ide- (B) Amts Mitglied des Stiftungsrates wird, weil es natürlich enwettbewerb darüber gesprochen wird, wie man den (D) ein wichtiges Signal ist, dass wir das Auswärtige Amt an Standort im Einzelnen ausgestaltet . Ich hoffe sehr, dass Bord haben und auch die Auswärtige Kulturpolitik ein- wir dann auch im Kosten- und Zeitplan bleiben, sodass beziehen können . wir uns auf eine wunderbare Museumseinweihung im (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Jahr 2021 freuen können . CDU/CSU) (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Drittens . Ebenfalls im Herzen von Berlin wird das NEN]: Nein!) Museum der Moderne geplant . Frau Hajduk hat ja ihre Eine Bemerkung zu der Frage, wie das Museum ge- gesamte Redezeit auf das Museum der Moderne ver- baut wird und welche Form der Projektsteuerung wir wandt und einiges kritisch angemerkt . Auch ich möchte wählen . Ich will auch für die SPD-Fraktion ganz offen ein paar Worte dazu sagen und an der einen oder anderen sagen, dass wir ein großes Fragezeichen hinter die inten- Stelle einen anderen Akzent setzen . sive Überlegung machen, das Projekt in öffentlich-priva- Zunächst einmal ein herzliches Dankeschön an alle im ter Partnerschaft zu realisieren . Haushaltsausschuss, die das Museum der Moderne durch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Bereitstellung der Mittel in Höhe von 200 Millionen Euro möglich machen . Es wird eine wichtige Ergänzung Ich möchte mich ganz deutlich dafür aussprechen, dass der Neuen Nationalgalerie werden, und wir werden die wir ernsthaft und konzentriert überlegen und am Ende – Chance bekommen, im Herzen von Berlin die Sammlun- das wäre mir die liebste Variante – dazu kommen, das gen Pietzsch, Marx und das Archiv Marzona zu zeigen . Projekt in öffentlicher Verwaltung durchzuführen . Das ist eine wirkliche Bereicherung für die gesamte Kul- Ich denke, das wäre für dieses Museum das Richti- turlandschaft und natürlich auch für die Berliner Kultur . ge . Dass wir das können, zeigt das Humboldt-Forum; Ich bin sehr optimistisch, liebe Kolleginnen und Kol- ich habe es eben schon erwähnt . Es ist ein exzellentes Beispiel dafür, dass wir in der Verantwortung der öffent- legen, dass wir dieses Ziel mit einem Ideenwettbewerb lichen Verwaltung schöne Gebäude errichten können gut erreichen; denn es ist ein offener Ideenwettbewerb . Von diesem Ideenwettbewerb verspreche ich mir natür- (Bettina Hagedorn [SPD]: Bundesinnenmi- lich genauso wie Sie, Frau Hajduk, nisterium!) (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und dabei im Kosten- und Zeitplan bleiben . Deswegen NEN]: Sie kennen das Problem!) bitte ich darum, diese Überlegungen ernsthaft zu prüfen . 11642 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Dr. Eva Högl (A) Ich wäre sehr froh, wenn wir dazu kämen, den Bau in ich, ein Jahr sein wird, das ähnlich mit Krisen und Kon- (C) der Verantwortung der öffentlichen Hand durchzuführen . flikten gefüllt sein wird. Sie werden nicht viel weniger werden . (Beifall bei der SPD) Damit wir, obwohl wir uns berechtigte Sorgen ma- Meine vierte und letzte Bemerkung bezieht sich auf chen, nicht verzweifeln und daran glauben und daran ar- die Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes . Diese No- beiten, dass eine Veränderung möglich ist, will ich mit ei- vellierung ist dringend erforderlich, weil wir nämlich im nem positiven Bild einsteigen – einem Bild, das gerade in nationalen und internationalen Rahmen – ich habe zu Be- dieser Krisenzeit Hoffnung macht . Für viele von uns war ginn meiner Rede im Zusammenhang mit Palmyra von es, wenn ich das sagen darf, ein fast unerwartetes Bild internationaler Kultur gesprochen – einen Beitrag für den von riesiger Anteilnahme und großer Solidarität . Es gibt verantwortungsvollen Umgang mit Kulturgütern leisten eine Riesenanzahl von Deutschen, die in diesen Tagen müssen . Es geht sowohl um die Ausfuhr als auch um die hinausgehen und mithelfen, Menschen aus den Krisenre- Einfuhr von Kultur . Wir brauchen dringend neue Rege- gionen bei uns Zuflucht zu geben. Es ist eine große Hilfs- lungen . Deswegen ist ein neues Kulturgutschutzgesetz bereitschaft vorhanden . Darüber können wir uns freuen . ganz wichtig, um im internationalen Kontext bessere und Dafür will ich am Anfang allen – ob Freiwilligen oder richtige Regelungen zu bekommen . denjenigen, die es von Berufs wegen tun – ganz herzlich Dass im Vorfeld Kritik geäußert wurde, hat uns si- Dank sagen . cherlich alle, vor allem hinsichtlich der Deutlichkeit, (Beifall im ganzen Hause) überrascht . Es war von „Bedrohung des deutschen Kunstmarktes“ und „Enteignung“ die Rede . Ich bin der Diese Mitmenschlichkeit ist genau die Basis – davon bin Auffassung, dass ein Teil dieser Kritik deutlich überzo- ich überzeugt –, die wir brauchen, damit wir mit dieser gen war . Man kann sie aber aus dem jeweiligen Interesse riesigen Herausforderung fertigwerden . heraus verstehen . Ich habe letzte Woche in Brüssel gesagt: Man hat im- Ich kann zusagen, dass wir dieses Gesetzesvorhaben mer den Eindruck, dass die Probleme, an denen man ar- sehr sorgfältig prüfen und uns die Details anschauen . beitet, die größten sind, die man zu bewältigen hat . Wir Aber ich sage es noch einmal: Wir brauchen bessere Re- haben das bei Griechenland gedacht . Die Herausforde- gelungen für die Einfuhr; das scheint mir ziemlich unum- rung Migration wird für uns und für ganz Europa noch stritten zu sein . Hinsichtlich der Kritik an den Ausfuhr- viel größer sein . regelungen – Stichwort „Enteignung“ – werden wir uns Damit die Hilfe aber funktioniert, brauchen wir die- ganz genau ansehen, welche Regelungen wir brauchen . se Basis von Mitmenschlichkeit, die ich eben gezeich- (B) Aber darüber, dass wir auch da Regelungen brauchen, net habe . Uns in der Politik muss aber auch klar sein: (D) um nationales Kulturgut zu schützen, sind wir im Haus Diese Bereitschaft und diese Mitmenschlichkeit brau- sicherlich einer Meinung . chen einen Rahmen . Wenn die Fragen jetzt noch nicht Herzlichen Dank . Ich freue mich auf die weiteren Be- gestellt werden, so werden sie irgendwann – auch von ratungen . denjenigen, die jetzt helfen – gestellt werden: Wie viel kann Deutschland leisten? Was muss am Ende gesche- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) hen, damit wir diese Herausforderung auf lange Sicht bewältigen werden? Vizepräsident : Ich will versuchen, in meiner Rede drei Antworten zu Vielen Dank . – Weitere Wortmeldungen zu diesem geben bzw . zu beschreiben, welche drei Dinge jetzt zu Einzelplan liegen nicht vor . Wir schließen deshalb die tun sind . Beratungen zu diesem Einzelplan damit ab . Erstens . In einer Haushaltsdebatte geht es natürlich Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Auswär- auch um Geld, selbst wenn wir nicht immer nur darüber tigen Amtes, Einzelplan 05. reden . Ich bin froh, dass die Bundesregierung am Wo- Bevor wir damit starten, warten wir noch ein bisschen, chenende ein Maßnahmenpaket für Bund, Länder und bis alle Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte Kommunen verabredet hat . Für das Auswärtige Amt ge- hört zu diesem Paket, dass wir eben – insbesondere in teilnehmen wollen, ihren Platz eingenommen haben . – den Herkunfts- und Transitländern – neue Anstrengun- Das Wort erteile ich als erstem Redner dem Bundesmi- gen unternehmen und dank der Unterstützung auch un- nister Dr . Frank-Walter Steinmeier . ternehmen können . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Migrationswel- der CDU/CSU) len beginnen ja nicht am Ostbahnhof in Budapest und auch nicht am Strand von Kos – den Eindruck könnte Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des man gewinnen, wenn man abends Fernsehen schaut –, Auswärtigen: sondern dort, wo die Konflikte toben, wo schon Nach- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die barländer nicht mehr in der Lage sind, die menschlichen Welt ist aus den Fugen, habe ich vor ungefähr einem Jahr Notlagen in den Griff zu bekommen, und wo Schlep- hier von diesem Pult aus gesagt . Ich befürchte, davon perbanden – auch das gehört zur Wahrheit – ihr großes ist nichts zurückzunehmen . Wir bereiten jetzt mit dem Geschäft wittern . Dort setzen wir mit den Möglichkeiten Haushaltsentwurf das nächste Jahr vor, das, so befürchte des Auswärtigen Amtes an . Wir werden dank der Ver- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11643

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) abredungen im Koalitionsausschuss in diesen Regionen teuropäische Aufgabe ist . Deshalb würde ich zunächst (C) helfen können und mehr Stabilität in den Herkunfts- und einmal allen diejenigen, die darüber zu reden haben, vor- Transitländern – ich nenne die riesigen Flüchtlingslager schlagen, im Zusammenhang mit Flüchtlingen, die vor in Jordanien, im Libanon und in der Türkei – schaffen . Verfolgung oder aus einem Bürgerkrieg fliehen, nicht Den Binnenvertriebenen, ob in Syrien oder im Irak, müs- von einem Problem und insbesondere nicht von einem sen wir helfen, damit sie in ihren Heimatregionen lang- deutschen Problem zu reden . Denn dies ist nicht ein sam wieder eine Perspektive entwickeln können . deutsches Problem, sondern es ist zunächst einmal eine humanitäre Pflicht. Es ist zudem nicht nur eine deutsche Deshalb kann ich an dieser Stelle erst einmal nur mei- Pflicht, sondern es eine europäische Verantwortung. nen Dank dafür aussprechen, dass wir schon so weit ge- kommen sind . Das wird uns helfen, die Migrationswelle Ich glaube, hier wird sich beweisen – wir streiten nicht besser zu bewältigen . Es wird vor allen Dingen den Men- umsonst so hartnäckig darüber wie in der vergangenen schen in den Regionen helfen, meine Damen und Herrn . Woche beim europäischen Außenministertreffen in Brüs- sel –, ob Europa in Fragen, in denen es nicht nur um Geld (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) geht, in der Lage ist, nicht nur von gemeinsamen Werten Für uns heißt das vor allen Dingen, direkte humanitäre zu reden, sondern den Schutz vor Verfolgung auch als Hilfe zu leisten . Das ist aber nur der kleinere Teil . Dazu gemeinsamen europäischen Wert anzuerkennen und da- gehört vor allen Dingen auch die Ertüchtigung der inter- nach zu handeln . Hier muss sich Europa beweisen und nationalen Hilfsorganisationen, insbesondere der Verein- zeigen, dass in dieser Situation nicht nur Zusammenhalt, ten Nationen, deren Hilferufe in den letzten Wochen und sondern auch Handlungsfähigkeit gewährleistet ist . Wir Monaten auch die Regierungschefs erreicht haben, ohne arbeiten daran, und dies ist unter Beweis zu stellen, liebe dass der notwendige Erfolg wirklich eingetreten ist . Kolleginnen und Kollegen . Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Skandal, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie dass der UNHCR in diesen Tagen der größten Flücht- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE lingsbewegung so unterfinanziert ist, dass die Essensra- GRÜNEN) tionen in den Flüchtlingslagern im Irak und im Libanon Ich darf noch eines zu Europa sagen – Frau Bundes- halbiert werden müssen . Das können wir so nicht ertra- kanzlerin, ich glaube, das ist Ihnen auch nicht anders ge- gen und erst recht nicht erdulden . gangen -: Im Sommer gab es Situationen, da waren wir (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem alle nicht sehr amused, dass wir auf der einen Seite Bil- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- der von Flüchtlingen in Griechenland sahen, die keinen geordneten der LINKEN) Schluck Wasser hatten, und auf der anderen Seite euro- päische Unterstützung – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt (B) Für die Migration, über die heute Morgen schon viele (D) -nicht sichtbar geworden ist . Deshalb haben wir von gesprochen haben, heißt das: Wenn es bei dieser Unterfi- deutscher Seite aus sehr frühzeitig in den Sommermo- nanzierung bleibt, hat das nicht nur Folgen für die Men- naten Vorschläge unterbreitet, weil zu ahnen war, dass schen, die in den Lagern leben, sondern dann treibt das danach gefragt würde, wie europäische Antworten auf auch eine neue Dynamik in der Migrationsbewegung an . diese Herausforderung aussehen . Deshalb gibt es einen doppelten Grund, dass wir uns Ich glaube, wir dürfen von unserer Seite, vonseiten der beteiligen – und nicht nur wir . Wir müssen eine bessere deutschen Regierung, durchaus sagen, dass die Vorschlä- Finanzierung des UNHCR sicherstellen . Denn nur dann, ge, die wir dazu öffentlich gemacht haben, inzwischen in wenn wir dies tun, werden wir auch andere glaubwürdig das europäische Handeln eingeflossen sind. Wer die Rede auffordern können, sich mit eigenen Mitteln und den ei- von Kommissionspräsident Juncker verfolgt hat, hat ge- genen Möglichkeiten an der Hilfe zu beteiligen . merkt, dass vieles von dem, was von hier ausgegangen Ich werde jedenfalls – das mag im Rahmen unserer und in das gemeinsame deutsch-italienisch-französische zu Ende gehenden G-7-Präsidentschaft noch möglich Papier vom vergangenen Wochenende eingeflossen ist, sein – während der Generalversammlungswoche zu einer sich in Junckers Rede vor dem Europäischen Parlament kurzen Sitzung nicht nur mit den G-7-Staaten, sondern wiederfindet, auch die Passagen über eine fairere und ge- auch mit den arabischen Nachbarn einladen, um zu sa- rechtere Verteilung von Flüchtlingen . gen: Wenn uns das Schicksal dieser Menschen wirklich Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Es kann nicht gemeinsam am Herzen liegt, dann sorgt wenigstens da- sein, dass weniger als eine Handvoll Länder in Europa für, dass der UNHCR das notwendige Geld bekommt, das gesamte Flüchtlingsproblem bewältigen, sondern um ihnen die tägliche Essensration zu geben! Das ist hier müssen sich alle beteiligen . Hier müssen Europäer notwendig . zusammenstehen . (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Selbst wenn wir im Augenblick noch weit entfernt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- von der Akzeptanz einer Quote sind, so zeigen die De- geordneten der LINKEN) batten, die am vergangenen Wochenende geführt wur- Zweitens . Wir können, glaube ich, das Problem nicht den, und die sichtbaren öffentlichen Reaktionen, die wir nach dem Muster „Jeder für sich allein“ bewältigen – das aus Großbritannien vernehmen – es gibt auch ein wenig kann auch der größte und wirtschaftlich stärkste Staat in Bewegung in Polen und Frankreich –, dass man einfach Europa nicht –, sondern wir werden den Verfolgten nur nicht aufgeben darf, dass sich auch in diesem Punkt Be- dann Schutz gewähren können, wenn dies eine gesam- harrlichkeit lohnt . Selbst wenn wir nicht zu einer Quote 11644 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) und damit zu einer vollkommen gerechten Verteilung dürfen ein bisschen stolz darauf sein, dass wir Gehhilfe (C) kommen, glaube ich, dass wir uns auf eine gerechtere auf dem letzten Wegstück leisten konnten, indem wir die Verteilung beim Flüchtlingsproblem hinbewegen, als das verfeindeten Konfliktparteien aus Libyen – Sie dürfen in der jüngeren Vergangenheit der Fall war . Die gerechte nicht vergessen, dass diese noch nie an einem Tisch ge- Verteilung bleibt ein dickes Brett . Aber ich verspreche sessen hatten – nach Berlin eingeladen und anderthalb für die Bundesregierung: Wir werden es weiter bohren . Tage mit ihnen gesprochen und verhandelt haben . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich glaube, wir sind gerade hier in Berlin natürlich Drittens . Es geht um die Lösung der Krisen . Das ist dank der unermüdlichen Arbeit des EU-Sonderbeauf- vielleicht das Zentrale; denn die Flüchtlingsströme, über tragten Bernardino León ein entscheidendes Stück wei- die wir zu Beginn geredet haben, werden kein Ende neh- tergekommen. Wir haben den Konfliktparteien hier in men, wenn wir das Übel nicht an der Wurzel packen und Berlin immer wieder gesagt: Nur wenn ihr mithelft – am wenn es nicht endlich mehr Sicherheit und Stabilität in Anfang muss eine Regierung der nationalen Einheit ste- den Regionen gibt, aus denen Menschen flüchten. Das hen –, diesen zerstörten Staat mit erodierenden admi- betrifft den ganzen Krisenbogen, beginnend in Afgha- nistrativen Strukturen, mit gegeneinander kämpfenden nistan bis hin nach Libyen . Die Lage ist schwierig und Milizen – manche sprechen von Hunderten – wieder auf- verfahren – das ist keine Frage –, gerade in Syrien – viele zubauen, dann haben auch wir, Deutsche und Europäer, von Ihnen haben das angesprochen –, wo der Bürgerkrieg einen Ansatzpunkt, diesen Aufbauprozess tatsächlich zu im fünften Jahr ist, was bislang zu 12 Millionen Flücht- unterstützen und funktionierende Staatlichkeit langsam lingen und Vertriebenen sowie mehr als 250 000 Toten wieder aufzubauen . geführt hat . Genauso schwierig ist die Lage in Libyen, Ich glaube, dass wir ein Stück vorangekommen sind . wo die staatliche Funktionsfähigkeit völlig zerstört ist . Ich würde mich wirklich freuen, wenn wir es innerhalb An weiteren Beispielen fehlt es leider nicht . der nächsten vier Wochen zustande brächten, trotz dieser Die Lage ist schwierig . Trotzdem weigere ich mich völlig zerfahrenen, völlig verworrenen Lage, in der täglich gleichzeitig, anzunehmen, dass alle außenpolitischen viele sterben und über die nur wenig berichtet wird, we- Bemühungen aussichtslos oder vergeblich sind. Ich fin- nigstens den Rumpf dieser Regierung der nationalen Ein- de – Frau Merkel, Sie haben das heute Morgen angespro- heit aufzustellen . Ich spreche über Libyen, und ich müsste chen –, gerade das Beispiel Iran zeigt, dass man selbst eigentlich viel mehr zu Syrien sagen, zu einem Land, bei über zehn Jahre nicht die Geduld und vor allen Dingen dem wir ja nicht nur aus politischen, sondern mit Blick auf nicht die Beharrlichkeit verlieren darf . Man braucht ein die Zahlen, die ich vorher genannt habe, auch aus morali- Fenster der Geschichte, in dem nicht neue Vorschläge schen Gründen verpflichtet sind und in der Verantwortung (B) plötzlich die Wende bringen, sondern in dem veränderte stehen, dem Morden dort ein Ende zu setzen . (D) Interessenkonstellationen in Zusammenhang mit schon Bei Syrien ist die Lage eigentlich nicht anders als bei auf dem Tisch liegenden Vorschlägen ein Abkommen Libyen . Eigentlich schafft das Abkommen mit dem Iran wie das mit dem Iran ermöglichen . Dieses Abkommen hier auch eine Chance . Wenn sich der Iran aus der Rolle schließt nicht nur den Griff des Iran nach der Atombom- zurückziehen würde, Konfliktparteien finanziell und mit be dauerhaft und nachprüfbar aus . Vielmehr weise ich Waffen zu unterstützen, und andere es gleichtäten, dann darauf hin, dass dieses Abkommen, wenn es gut geht, eröffnete sich zum ersten Mal eine Chance, auch in Syri- eine völlig neue Perspektive in die Gesamtarchitektur en weiterzukommen . des Mittleren Ostens und in die Verhältnisse der dortigen Staaten zueinander bringen kann . Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen Staf- fan de Mistura, mit dem ich heute Morgen telefoniert Als wir in Wien die Unterschrift unter das Abkommen habe, hat in Genf und an anderen Stellen 42 Gespräche setzen konnten, habe ich gesagt: Mit dieser Unterschrift mit unterschiedlichen Parteien geführt, um zu sondieren, endet nicht die Verantwortung der E3+3 bzw . der Fünf- wo der kleinste gemeinsame Nenner liegt, von dem aus plus-eins-Staaten . Das Wiener Abkommen ist nicht das man die Plattform zimmert, auf der der gemeinsame Weg Ende unserer Diplomatie, sondern im Grunde genommen Richtung Entschärfung des Konfliktes und dann nach erst der Anfang . und nach hin zu politischen Lösungen möglich ist . Wir Ich bitte, in diesem Sinne meine erste Reise in den sind nicht weit; aber wir waren noch nie so weit wie im Iran, die gerade vorbereitet wird, zu verstehen . Auf die- Augenblick . Deshalb sehe ich, ganz ehrlich gesagt, mit ser Reise geht es nicht darum, irgendetwas abzufeiern . einiger Bestürzung die Nachrichten der letzten Tage: dass Sie dient vielmehr der Prüfung, ob der Iran bereit ist, Großbritannien, dass Frankreich sich stärker militärisch eine neue verantwortliche Rolle in dieser friedlosen Re- engagieren werden und dass vor allen Dingen Russland, gion des Mittleren Ostens tatsächlich anzunehmen und so sagen jedenfalls die Pressemeldungen, im Augenblick Verantwortung zu übernehmen . Entscheidend ist: Es dabei ist, mehr Militärmaterial nach Syrien zu schaffen muss sich zeigen, ob das Modell, das geholfen hat, den als in der Vergangenheit, mit welchem Zweck auch im- Iran-Konflikt zu lösen, tauglich ist, einen der nächsten mer . größeren Konfliktherde anzugehen. Ich habe gestern mit dem amerikanischen Außenmi- Ohne allzu optimistisch zu sein, bin ich, ehrlich ge- nister gesprochen; ich werde heute mit dem russischen sagt, der Meinung, dass die letzten Entwicklungen in Außenminister sprechen . Es kann nicht sein, dass in Libyen die kleine Hoffnung begründen, dass wir doch dieser Situation, in der wir vielleicht zum ersten Mal ei- einen Schritt weitergekommen sind . Wir in Deutschland nen Ansatzpunkt haben, mit dem Syrien-Konflikt anders Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11645

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) umzugehen, wichtige Partner, die wir brauchen, auf die Michael Leutert (DIE LINKE): (C) militärische Karte setzen und Verhandlungslösungen, die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zum ersten Mal möglich sind, zerstören . Sehr geehrter Herr Minister, der Haushaltsvorschlag, den (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Sie vorgelegt haben, ist leider nicht ausreichend . Er ist bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE keine angemessene Antwort auf die vor uns liegenden GRÜNEN und des Abg . Stefan Liebich [DIE Probleme . Damit meine ich im Übrigen nicht bloß die LINKE]) finanzielle Ausstattung des Auswärtigen Amts, sondern ich meine auch die inhaltliche Dimension . Es fehlen ein- Dieser Syrien-Konflikt ist wirklich eine Geschichte der fach die Konzepte hinter den Zahlen . ausgelassenen Chancen, die ich jetzt nicht referieren will . Aber ich sage noch einmal: Aus politischen und morali- Wir haben – Sie haben das alles angesprochen – noch schen Gründen dürfen wir diese Chance nicht auslassen . immer die Ukraine-Krise . Wir haben Krieg in Syrien . Wir haben Krieg im Irak, in Libyen . In Afghanistan herr- Letzter Punkt: Ukraine-Krise . Auch hier könnte ich schen katastrophale Zustände . Die vielen destabilisierten sagen: Das Minsker Abkommen, über das wir Stunden Staaten in Afrika sind zu nennen . Diese Krisenherde sind und Tage verhandelt haben, ist auch nicht das Ende von der Grund für die enorme Flüchtlingsbewegung, die wir Diplomatie, sondern der Anfang von etwas Neuem, der derzeit erleben . Anfang von Verantwortung . Wenn der Waffenstillstand offensichtlich gebrochen wird – vorletzte Woche gab es Aber Antworten darauf, wie wir mit diesen Krisen entsprechende Bilder in den Medien –, wenn es zu unser umgehen wollen, kann man in diesem Haushalt nicht aller Bedauern wieder zu Toten und Verletzten kommt, finden. Was sind die Konzepte des Auswärtigen Amts zu diesen Krisen? Mit welchen Instrumenten wollen wir die dann kann ich verstehen, wenn angesichts der damit ver- Not der Flüchtlinge lindern? Welche Idee hat die Bun- bundenen Bilder viele sagen und schreiben: Minsk ist desregierung zur Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien zu Ende . Noch einmal: Ich kann das verstehen . Aber ich und des Terrors im Irak? Wie geht es eigentlich weiter kann es nicht wiederholen; denn meine Aufgabe ist nicht, mit Afghanistan? einen Konflikt zu beschreiben, sondern meine Aufgabe besteht darin, einen Zustand, der außer Kontrolle gerät, Herr Minister, ich weiß, Sie sind unermüdlich und mit möglichst wieder unter Kontrolle zu bringen . vollem Einsatz an den meisten Brennpunkten der Welt . Aber Sie sind immer nur als Feuerwehr im Einsatz . Wenn Wir haben deshalb sozusagen nicht eingestimmt in wir hier 4,3 Milliarden Euro beschließen sollen, dann den Versuch, Minsk als gescheitert zu erklären, sondern müssen wir schon wissen, mit welchen Konzepten Sie wir haben schlicht und einfach mit den Beteiligten inten- die Krisen lösen oder wenigstens eindämmen wollen . (B) siv gesprochen, sie gemahnt und gedrängt, Einfluss zu (D) nehmen und die Gewaltsamkeit wieder zurückzuführen . Vor einem Jahr haben wir hier den Haushalt 2015 Ich habe mit den Außenministern gesprochen, Frau Bun- beraten . Wir alle haben damals betont, dass die vielen deskanzlerin mit ihren Kollegen . Konflikte in der Welt, mit denen wir konfrontiert sind, nicht irgendwo weit weg sind, sondern dass sie direkt Jetzt mag man sagen: Was sind das schon für Instru- vor unserer Haustür stattfinden, nicht weit entfernt von mente? Aber immerhin: Seit dem 1 . September haben den Stränden, an denen auch deutsche Touristen so gern wir einen Waffenstillstand, der weitgehend respektiert Urlaub machen . Niemand wäre damals auf die Idee ge- wird . Deshalb sage ich: Das Scheitern ist leicht erklärt . kommen, dass sich die Lage so dramatisch zuspitzt, wie Nur, ich rate aus eigener Erfahrung dazu, Instrumente wir es heute erleben . Heute haben sich die Menschen aus nicht für gescheitert zu erklären, solange man keine an- diesen Krisengebieten zu Tausenden als Flüchtlinge auf deren in der Hand hat . Deshalb sage ich für die Bundes- den Weg gemacht und sind jetzt bei uns, auch in unserem regierung: Wir werden auf diesem Weg weiterarbeiten . Alltag, angekommen . (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Liebe Kolleginnen und Kollegen, spätestens seit letz- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . ter Woche Mittwoch hat das unendliche Leid dieser Men- Stefan Liebich [DIE LINKE]) schen auch einen Namen und ein Gesicht . Es ist Aylan Ich darf Ihnen ganz herzlich danken, meine Damen Kurdi . Der kleine dreijährige kurdische Junge aus Koba- und Herren, und bitte Sie mit Blick auf ein Jahr, das vor ne lag an einem der Strände, wo normalerweise Touris- uns liegt und nicht einfacher werden wird, um Zustim- ten sind – ertrunken, gemeinsam ertrunken mit seinem mung zu unserem Haushalt . fünfjährigen Bruder und seiner Mutter . Das Bild, welches von diesem kleinen leblosen Körper um die Welt ging, ist Ganz herzlichen Dank . so unfassbar grausam, dass es einen nicht einfach kalt- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie lassen kann. Ich finde, wir sollten alles dafür tun, dass bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE solche Bilder nicht mehr entstehen können . GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und der Abg . Dr . Franziska Vizepräsident Johannes Singhammer: Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege Aus diesem Grund müssen wir jetzt anfangen, grund- Michael Leutert . legend umzudenken . Wir müssen jetzt anfangen, andere (Beifall bei der LINKEN) Schwerpunkte zu setzen, und wir müssen jetzt auch an- 11646 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Michael Leutert (A) fangen, unmenschlichen Worten und Taten entgegenzu- Aber nicht nur das: Ich würde mich sehr freuen, wenn (C) treten . sich Deutschland endlich auch mit einer verbindlichen Quote dauerhaft am Resettlement-Programm des ­UNHCR Ich weiß, wir stehen in Europa vor schwierigen Auf- beteiligen würde . In diesem Programm werden besonders gaben und dürfen kein Öl ins Feuer gießen . Aber wenn schutzbedürftige Flüchtlinge, zum Beispiel Familien mit ich, das Bild von dem Jungen vor Augen, aus Ungarn Kindern, die auch in ihrem Fluchtland keine Perspektive Sätze höre wie „Das sind keine Flüchtlinge; das ist eine mehr haben, in dem jeweiligen Programmland aufgenom- Invasion“, dann macht mich das wütend . Wenn ich höre, men . Wir könnten uns jährlich mit 7,2 Prozent – das ist die dass Orban überlegt, die Armee gegen Flüchtlinge einzu- Prozentzahl, mit der wir uns normalerweise an UN-Frie- setzen, dann macht mich das nicht nur wütend, sondern denseinsätzen finanziell beteiligen – am Resettlement-Pro- auch ratlos . Was will er denn tun? Auf Flüchtlingsfamili- gramm beteiligen und Plätze zur Verfügung stellen . Der- en schießen lassen? zeit verfügt UNHCR nur über 80 000 Plätze . Der Bedarf Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Worte und liegt allerdings bei 800 000 Plätzen . So, liebe Kollegin- Gedanken, die im Europa des 21 . Jahrhunderts nichts nen und Kollegen, lieber Herr Minister, könnte Deutsch- verloren haben . land international mit gutem Beispiel vorangehen, und so könnten wir auch mehr Verantwortung auf internationaler (Beifall bei der LINKEN) Ebene übernehmen . Herr Außenminister, ich bitte Sie dringend, das so deut- (Beifall bei der LINKEN) lich gegenüber der ungarischen Regierung zu formulie- ren und dem im Zweifelsfall auch Taten folgen zu lassen . Vizepräsident Johannes Singhammer: Wenn der sozialdemokratische Ministerpräsident der Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr .Franz Slowakei meint, sein Land hätte die humanitäre Kata­ Josef Jung . strophe nicht zu verantworten, weil sein Land in den (Beifall bei der CDU/CSU) Staaten keinen Krieg geführt hätte, weshalb es keine Verantwortung für die Flüchtlinge übernehmen müsste, dann ist das unterirdisch . Ich bitte Sie, ihn freundschaft- Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU): lich daran zu erinnern, dass die Slowakei sehr wohl mit Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Soldaten an der Koalition der Willigen beteiligt gewe- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist sen ist, als in den Irak einmarschiert wurde . Und wenn zutreffend, dass die Situation der Flüchtlinge nicht nur Tschechiens Präsident sagt, man hätte die Flüchtlinge eine humanitäre Antwort, nicht nur eine innenpolitische (B) nicht eingeladen, dann ist das an Zynismus nicht mehr Antwort von Bund, Ländern und Gemeinden erforderlich (D) zu überbieten . Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist macht, sondern dass sie auch eine Herausforderung für geistige Brandstiftung, die den europäischen Gedanken die Außenpolitik darstellt . Der Außenminister hat auf ein nachhaltig beschädigt . Dem müssen Sie, Herr Minister, paar Akzente hingewiesen . Ich möchte das noch einmal und wir alle mit aller Kraft entgegentreten . unterstreichen, auch und gerade im Hinblick auf die eu- ropäische Situation . (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, es ist meine felsenfeste Europa muss eine solidarische Gemeinschaft sein . Überzeugung, dass Europa auch in Zukunft seinen Bei- Das ist klar . Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße . trag zur friedlichen Entwicklung nur leisten kann, wenn Wenn wir uns in der Europäischen Union untereinander wir auch in schwierigen Zeiten zusammenstehen und noch nicht einmal über solch simple Dinge wie beispiels- keine einseitige Lastenverteilung vorgenommen wird . weise die Flüchtlingsfrage einigen können: Wie wollen Europa hat zusammengestanden bei der Bewältigung der wir dann eine Abstimmung mit Russland zu noch viel Finanzkrise und im Hinblick auf die Ostukraine, als es schwierigeren Fragen bewerkstelligen? Auch zur Lösung um Sanktionen ging. Ich finde, Europa muss auch jetzt des Syrien-Konfliktes – Sie haben es angesprochen – zusammenstehen, wenn es darum geht, die Bewältigung werden wir Russland brauchen . Putin unterstützt, so die der Flüchtlingssituation in Deutschland zu meistern . Pressemeldungen, derzeit in aller Ruhe militärisch das (Beifall bei der CDU/CSU) Assad-Regime, also den Hauptverantwortlichen für diese Katastrophe . Nur weil vor vier Jahren Jugendliche Paro- Meine Damen und Herren, aber auch bei der Bewäl- len gegen sein Regime an Hauswände gesprüht haben, tigung der Fluchtursachen ist eine weitere europäische hat Assad sein Land in Not und Elend gebombt . Jetzt sind Komponente gefordert . von 21 Millionen Syrer 12 Millionen auf der Flucht . Zu Recht – die Bundeskanzlerin hat heute Morgen dem Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur ein klei- Außenminister dafür gedankt – ist auf die Initiative E3+3 ner Ausschnitt der Realität, dem sich unsere Außenpoli- und insbesondere auf das deutsche Engagement hingewie- tik heute stellen muss . Sie haben es selbst angesprochen, sen worden, als es darum ging, dazu beizutragen, dass es Herr Minister, und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar: Das im Iran nicht zu einer atomaren Bewaffnung kommt . Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, Meine Damen und Herren, wir sollten eine solche Initi- ist derzeit an seiner Belastungsgrenze angelangt . Wir ative auch mit Blick auf Syrien vorantreiben . Wir brauchen müssen das UNHCR als zentralen Akteur stärken und mit eine Perspektive, dass dieser Krieg in Syrien endlich been- den notwendigen Mitteln ausstatten . det wird und dass es wieder zu einer friedlichen Entwick- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11647

Dr. Franz Josef Jung (A) lung kommt . Es gibt Signale; sie gehen nicht nur vom Si- – Ich komme auf Ihre Frage noch zu sprechen . (C) cherheitsrat aus, sondern auch von Russland und vom Iran . Für umso wichtiger erachte ich es allerdings, dass ge- Ich kann nur unterstreichen, dass wir alle Bemühungen gen diese verbrecherischen Schleuser wirkungsvoll vor- darauf ausrichten müssen, dass es in Syrien möglichst bald gegangen wird . Was dort betrieben wird, ist Menschen- zu einer Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzung handel mit Inkaufnahme von Todesfolge . Die Menschen und zu einer friedlichen Entwicklung kommt . Dies ist ein in solche Nussschalen zu setzen und letztlich auch dem entscheidender Beitrag, Fluchtursachen zu verhindern . Risiko des Todes auszusetzen, halte ich für unverant- (Beifall bei der CDU/CSU) wortlich . Meine Damen und Herren, ich denke, es ist notwendig Dagegen wirkungsvoll vorzugehen, gegebenenfalls und richtig, dass wir selbst aktiv sind . Wir müssen aber auch auch mit militärischer Unterstützung, halte ich im In- den UN-Beauftragten Bernardino León unterstützen, wenn teresse der Humanität und im Interesse der betroffenen es um Libyen geht . Wenn es darum geht, Fluchtursachen zu Menschen für sinnvoll und notwendig . beseitigen, ist es meines Erachtens entscheidend, für eine Entwicklung in Libyen hin zur Stabilität zu sorgen . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Libyen ist als Failing State zurzeit eine der Hauptur- sachen für die Schleuserkriminalität im Mittelmeerraum . Vizepräsident Johannes Singhammer: Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, alle Anstrengungen Herr Kollege Dr . Jung, auch die Kollegin Hänsel würde zu unternehmen, um diese kriminellen Aktivitäten, diesen gerne eine Zwischenfrage stellen . brutalen Menschenhandel, der von libyscher Seite ausgeht, zu unterbinden und gegebenenfalls mit neuen Maßnahmen (Zurufe von der CDU/CSU: Och nö!) wie EUNAVFOR MED aktiv zu werden . Ich glaube, wir sind es den Menschen schuldig, alles zu unternehmen, eine Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU): derartige kriminelle verbrecherische Schleuseraktivität im Eine lasse ich noch zu . Mittelmeer zukünftig zu verhindern .

(Beifall bei der CDU/CSU) Heike Hänsel (DIE LINKE): Wenn wir über Fluchtursachen sprechen, müssen wir Herr Dr . Jung, vielen Dank, dass Sie auch meine Frage natürlich auch einen vernetzten Ansatz im Blick haben . zulassen . Ich möchte noch einmal nachhaken . Sie spra- Dazu gehört natürlich auch eine entwicklungspolitische chen davon, Schlepperbanden würden unter Inkaufnah- Komponente im Hinblick auf die Rückführung von me des Todes ihr Geld machen . Wie bewerten Sie dann (B) Flüchtlingen, wenn sich beispielsweise Staaten weigern, eigentlich Rüstungsexporte? Ich habe das heute Morgen (D) die Menschen wieder aufzunehmen . schon thematisiert . Wie bewerten Sie deutsche Rüstungs- exporte in die Krisengebiete dieser Welt, wo auch unter Vizepräsident Johannes Singhammer: Inkaufnahme des Todes Geschäfte gemacht werden? Ist Herr Kollege Dr . Jung, gestatten Sie eine Zwischen- das weniger verbrecherisch? frage des Kollegen Liebich? Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU): Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich habe eben zum Thema Libyen, zur Bitte sehr . Frage des Failing State und zur Frage der Bekämpfung der verbrecherischen Schleuserkriminalität gesprochen . Das hat mit dem Thema Rüstungsexporte nun wahrlich Stefan Liebich (DIE LINKE): gar nichts zu tun . Wir sollten uns darauf konzentrieren, Herr Jung, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen . gegen diese verbrecherischen Aktivitäten aktiv vorzuge- Sie haben vorhin über die Mission gesprochen, die die hen, die teilweise mehr Geld einbringen als der Drogen- Europäische Union verabredet hat, um gegen die soge- handel und die Menschenleben vernichten . Die Schleu- nannten Schlepper militärisch vorzugehen . Stimmen Sie ser nehmen dabei in Kauf, dass die Menschen in diesen mir nicht zu, dass das, solange es keine legalen Wege für Nussschalen im Mittelmeer dem Tod ausgesetzt sind . die Flüchtenden nach Europa gibt, ein Kampf ist, der nie Deshalb halte ich die Mission EUNAVFOR Med, die gewonnen werden kann? Solange die Grenzen geschlos- jetzt geplant ist, für sinnvoll und notwendig . sen sind, wird es immer wieder Menschen geben, die versuchen, auf anderen Wegen hierherzukommen . Das (Beifall bei der CDU/CSU) heißt, der Einsatz von Soldaten dagegen ist nicht nur äu- Da 40 Prozent der Flüchtlinge aus dem Westbalkan ßerst riskant, sondern auch im Ergebnis zwecklos . kommen, müssen wir weiterhin dafür sorgen, dass sich die Lage in dieser Region stabilisiert . Wir müssen außer- Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU): dem für eine wirtschaftliche und auch für eine europä- Ich halte es für richtig und notwendig, dass unsere ische Perspektive sorgen . Auch das hat etwas mit dem Bundeswehr Menschen im Mittelmeer rettet, damit das Thema „Beseitigung von Fluchtursachen“ zu tun . Mittelmeer nicht zum Friedhof wird . Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen . Ich (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das war nicht denke, auch der Kampf gegen den ISIS-Terror hat etwas die Frage!) mit dieser Frage zu tun . Wenn die Menschen, die vor 11648 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Dr. Franz Josef Jung (A) dem ISIS-Terror fliehen, keine Perspektive mehr haben be, es ist notwendig und richtig, dass Russland endlich (C) und keine Möglichkeit mehr sehen, aus den Flüchtlings- mit der Destabilisierung der Ostukraine aufhört . lagern in ihre Heimat zurückzukehren, dann werden sie (Beifall bei der CDU/CSU) sich auch weiterhin für die Flucht nach Europa entschei- den . Deshalb ist es notwendig und sinnvoll, dass wir den Ich denke, dass es auch im Interesse Russlands wäre, zu Kampf gegen den ISIS-Terror entsprechend unterstützen . einer anderen Politik zurückzukehren, damit wir poten- ziell wieder zu einer friedlichen Entwicklung in der Uk- Die einzelnen Maßnahmen, die aus der Luft erfolgen, raine insgesamt kommen . mögen okay sein . Ich bin aber der felsenfesten Überzeu- gung, dass es am wirkungsvollsten ist, vom Boden aus Das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ver- gegen die ISIS-Terroristen vorzugehen . Es ist deshalb pflichtet uns auch im Interesse einer Annäherung an Eu- sinnvoll, dass wir die Peschmerga unterstützen und Aus- ropa, den Reformprozess zu unterstützen . Die beschlosse- bildungsmaßnahmen im Irak ergreifen . Auf diese Weise ne Verfassungsreform und die damit im Zusammenhang leisten wir einen Beitrag dazu, dass die Terroristen zu- notwendige Dezentralisierung sind eine Stärkung der rückgedrängt werden und die Menschen wieder die Per- Demokratie in der Ukraine und zeigen den richtigen spektive haben, in Zukunft in ihre Heimat zurückkehren Weg . Deshalb kann man überhaupt kein Verständnis für zu können . gewaltsame Proteste gegen diese Verfassungsreform ha- ben, bei denen drei Polizisten zu Tode gekommen sind . (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen deutlich machen, dass wir diesen extremis- Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die der tischen Kräften mit Nachdruck entgegentreten . Sie scha- ISIS-Terror verursacht, erfordern, wie ich finde, unsere den der Ukraine, sie spielen den Destabilisierungsaktivi- Schutzverantwortung . Gerade letzte Woche hat unser täten Russlands in die Hände, und sie sind kein Beitrag Fraktionsvorstand ein Gespräch mit dem jordanischen zu einer positiven Entwicklung in der Ukraine, ganz im Außenminister geführt – darauf wurde heute schon hin- Gegenteil . Deshalb muss diesen Kräften mit Nachdruck gewiesen –, der deutlich gemacht hat, dass die Muslime entgegengetreten werden . selbst den Kampf gegen die ISIS-Terroristen führen müs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sen . Ich glaube aber, es ist auch notwendig und sinnvoll, ordneten der SPD) dass wir sie in diesem Kampf unterstützen und sie aus- rüsten . Die Bundeswehr hat zudem Einheiten von Jesi- Ich sage auch: Wir haben im Hinblick auf das Assozi- den, die stark unter dem brutalen ISIS-Terror gelitten ha- ierungsabkommen deutlich gemacht, dass sich dies nicht ben, entsprechend ausgebildet . So besteht nun erstmals gegen Russland richtet und dass wir durchaus weiterhin die Möglichkeit, dass sich die Jesiden dem Terror wir- ein Interesse an normalen Beziehungen zu Russland ha- (B) kungsvoll entgegenstellen können . Somit haben sie auch ben . In der Frage der internationalen Sicherheit haben (D) selbst wieder die Perspektive, friedlich in dieser Region das Iran-Abkommen und das Beispiel Syrien dies deut- leben zu können . lich gemacht . Es wäre durchaus sinnvoll, insgesamt zu einer partnerschaftlichen Situation zu kommen . Lassen Sie mich noch eines sagen: Ein Soldat der Bundeswehr, der als Ausbilder im Nordirak eingesetzt Damals in der Zeit, als wir noch gemeinsam die Au- ist, hat es so formuliert – ich zitiere -: Das hier ist das ßen- und Verteidigungspolitik zu vertreten hatten, waren Sinnvollste, das ich in sieben Auslandseinsätzen bisher wir innerhalb der NATO auf dem Weg, die Frage der getan habe .– Das zeigt, wie sinnvoll und notwendig es partnerschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb Europas ist, die Unterstützung von unserer Seite zu leisten, um voranzubringen . Leider Gottes haben sich die Dinge völ- dem ISIS-Terror wirkungsvoll entgegenzutreten . Ich lig zerschlagen, aber ich bin der felsenfesten Überzeu- möchte allen Soldatinnen und Soldaten herzlich danken, gung, dass es auch im Interesse Russlands wäre, wieder die einen Beitrag zur Ausbildung im Irak, zu einem wir- zu partnerschaftlichen Beziehungen mit Europa zurück- kungsvollen Entgegentreten gegen den ISIS-Terror und zukehren . Dies wäre nicht nur im Hinblick auf die wirt- somit zur Beseitigung von Fluchtursachen leisten . schaftliche Situation, sondern auch im Hinblick auf die Gesamtsituation in Russland zwingend notwendig und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sinnvoll . Deshalb kann ich nur hoffen und wünschen, ordneten der SPD) dass Russland im eigenen Interesse in Zukunft einen an- Wenn ich von der Außenpolitik spreche, dann darf ich deren Weg einschlägt; denn die Beziehungen zu Europa natürlich nicht die Situation der Ostukraine auslassen; sind ein Beitrag zu einer positiven Entwicklung in Russ- der Außenminister hat sie gerade eben angesprochen . land . Ich halte es für gut und wichtig, dass in einem Schulter- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . schluss mit Frankreich das Minsk-II-Abkommen erreicht Dr . Rolf Mützenich [SPD]) worden ist . Auch wenn es im Februar beschlossen wur- de und der erste Schritt die Waffenruhe war, müssen wir Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nur noch leider feststellen, dass diese eben nicht über die gesamte schlagwortartig sagen: Wir haben in diesem Jahr 60 Jah- Zeit eingehalten wurde . Aber seit dem 1 . September gibt re NATO gefeiert . Das unterstreicht unsere transatlanti- es wieder einen Waffenstillstand, und ich kann nur hof- schen Beziehungen . Die transatlantischen Beziehungen fen und wünschen, dass auch die weiteren Schritte erfol- sind weiterhin der Grundpfeiler unserer Außenpolitik . gen: dass die schweren Waffen abgezogen werden, dass Wir dürfen nie vergessen, dass die Sicherheitsgarantien die Reformmaßnahmen umgesetzt werden und dass die der NATO, aber auch die Sicherheitsgarantien der Ver- OSZE die Möglichkeiten zur Kontrolle erhält . Ich glau- einigten Staaten von Amerika letztlich die Vorausset- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11649

Dr. Franz Josef Jung (A) zungen dafür geschaffen haben, dass wir in diesem Jahr tur für den Nahen Osten zu entwickeln, bei der das Exis- (C) 25 Jahre deutsche Einheit in Frieden und Freiheit feiern tenzrecht des Staates Israel im Vordergrund steht . können . Daher sollten wir die transatlantischen Bezie- All das sind Punkte, die letztlich unsere Außenpolitik hungen weiterhin positiv entwickeln . prägen . Man darf aber nicht verkennen, dass es die Bür- (Beifall bei der CDU/CSU) gerinnen und Bürger zurzeit als besonders wichtig und notwendig ansehen, einen Beitrag zur Beseitigung der Meine Damen und Herren, bei aller Unterschiedlich- Fluchtursachen zu leisten . Deshalb sollten wir alle Akti- keit der Positionen im Einzelnen denke ich, dass die ge- vitäten, gerade im Bereich der Außenpolitik, auf diesen meinsamen Werte von Freiheit, Demokratie und Rechts- Bereich konzentrieren . Es ist eine große Herausforde- staatlichkeit uns gemeinsam tragen . Dies sollte sich auch rung; aber ich glaube, wenn wir zusammenstehen, kön- in Zukunft in den Beziehungen widerspiegeln . nen wir diese Herausforderung gemeinsam bewältigen . Meine Damen und Herren, wir feiern in diesem Jahr Herzlichen Dank . 70 Jahre Vereinte Nationen . Der Außenminister hat eini- ges zu den Aktivitäten gesagt . Ich will hier sagen: Mit der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wurde für die Weltgemeinschaft ein verbindliches Wer- Vizepräsident Johannes Singhammer: tefundament geschaffen . Der damalige Generalsekretär Nächster Redner ist der Kollege Dr . Frithjof Schmidt, Hammarskjöld hat einmal formuliert: BÜNDNIS 90/Die Grünen . Die Vereinten Nationen wurden nicht gegründet, um uns in den Himmel zu bringen, sondern um uns vor Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Hölle zu retten . NEN): Wenn man an die aktuelle Situation denkt, kann man das Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sehr deutlich nachvollziehen und verstehen . Kollegen! Uns erschüttern die Nachrichten und die Bil- der zur Situation der Flüchtlinge auf dem Weg zu uns, auf Seit zehn Jahren gibt es eine Schutzverantwortung dem Mittelmeer, auf dem Balkan und auch anderswo . Ein der Vereinten Nationen, die sogenannte Responsibility Satz, den die Außenpolitiker immer wieder parteiüber- to Protect . Deshalb ist es richtig, dass es Friedenssolda- greifend gesagt haben, bestätigt sich jetzt viel dramati- ten gibt, die ein durchschlagsfähiges Instrument gewor- scher, als die meisten gedacht haben: Wir können und den sind . Ich glaube aber, dass wir als Bundesrepublik dürfen die Kriege und Krisen der Welt und insbesondere Deutschland die Friedenstruppen der Vereinten Nationen in unseren Nachbarregionen nicht ausblenden; denn sie (B) noch stärker unterstützen müssen . Wir belegen zurzeit werden über kurz oder lang buchstäblich nach Europa (D) Platz 59 von 126 truppenstellenden Nationen, das ist un- kommen . serem Land nicht angemessen . (Beifall der Abg . (Augsburg) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Genau das passiert jetzt . Hier sollten wir einen weiteren Beitrag leisten, um die Friedenstruppen der Vereinten Nationen zu unterstützen . Die postkoloniale Ordnung löst sich in großen Teilen des Nahen Ostens, des nördlichen Afrikas und der Sa- Meine Damen und Herren, im Rahmen dieser Schutz- helzone auf . Die Europäische Union und, ich glaube, verantwortung ist es auch notwendig, zu einer schnel- wir alle haben darauf noch keine nachhaltige politische leren Reaktionsfähigkeit zu kommen . Deshalb wäre es Antwort gefunden . Sicher ist aber, dass es dafür keine sinnvoll, wenn die ständigen Mitglieder des VN-Sicher- schnellen Lösungen gibt und wir uns gemeinsam auf die heitsrates bei Abstimmungen über Maßnahmen zur Be- Suche nach solchen Lösungen machen müssen . Das ist kämpfung von Völkermord und Verbrechen gegen die eine große Aufgabe, und das müssen wir den Menschen Menschlichkeit auf ihr Vetorecht verzichteten . Denn wir in unserem Land auch so sagen . haben zu oft erlebt, dass es Blockadesituationen gab und dann nicht entsprechend wirkungsvoll geholfen werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) konnte . Diese Herausforderungen werden uns noch lange be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der schäftigen, und wir suchen noch nach Lösungen . SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) Umso wichtiger ist jetzt schnelle Hilfe für die flüchten- den Menschen, die auf dem Weg zu uns sind bzw . hier Deshalb wäre ein solcher Verzicht auch ein Schritt zu ei- ankommen . Herr Außenminister, deshalb unterstützen ner besseren Umsetzung der Menschenrechte . wir nachdrücklich die Erhöhung des Etats für humanitäre Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren . Seit Hilfe . Wir glauben, dass hier auf lange Sicht noch viel 50 Jahren unterhalten wir diplomatische Beziehungen zu mehr Mittel benötigt werden, als Sie bisher eingeplant Israel . Für uns ist das Existenzrecht Israels ein Ausdruck haben . Ich will Sie daran erinnern, dass Sie diesen Etat unserer Staatsräson . Hier wäre es klug und sinnvoll, vor einem Jahr um 40 Prozent kürzen wollten . Setzen Sie wenn wir in dem Format, das sich bewährt hat, nämlich den Etat dieses Mal realistischer an . Deswegen schlagen E3+3, gemeinsam versuchten, eine Sicherheitsarchitek- wir Ihnen vor, hierfür weitere Mittel einzustellen . Es ist 11650 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Dr. Frithjof Schmidt (A) ja jetzt von weiteren 400 Millionen Euro für Flüchtlinge Im Jemen sind inzwischen weit über 1 Million Menschen (C) die Rede . auf der Flucht . Diese deutsche Politik, Herr Außenminis- ter, darf so nicht fortgesetzt werden . (Frank Schwabe [SPD]: Auf einen schon erhöhten Ansatz!) Natürlich können wir die aktuellen Probleme nicht al- Sie werden sie brauchen . Unsere Unterstützung dafür lein lösen, aber wir sollten in diesen Fragen eine klare hätten Sie jedenfalls . Haltung und eine klare Linie haben . Die vermisse ich bei der Bundesregierung und bei Ihnen, Herr Außenminister . Es gibt in diesem Zusammenhang etwas, das Sie schnell ändern müssen . Es geht um die Möglichkeit, ei- Noch ein Wort zur Seenotrettung im Mittelmeer . Es nen Antrag auf ein Visum zu stellen, um durch Familien- war ein schwerer Fehler, dass die erfolgreiche italieni- zusammenführung nach Deutschland zu kommen . sche Mission Mare Nostrum nicht von der Europäischen Union übernommen und fortgeführt wurde; denn sie hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vielen Menschen das Leben gerettet . Wir haben damals sowie bei Abgeordneten der LINKEN) über eine zweistellige Millionensumme geredet . Flüchtlinge, die alle Papiere zusammenhaben, müssen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei unseren Konsulaten und Botschaften auf einen Ter- min für die Antragstellung teilweise zwischen sechs und Es ist gut, dass die Schiffe von EUNAVFOR Med sich neun Monaten warten . Es geht hier um Tausende Men- jetzt vor allem an der Seenotrettung beteiligen . Wir begrü- schen, die stranden . Ich glaube, Kolleginnen und Kolle- ßen ausdrücklich, dass die Bundeswehr mit zwei Schif- gen aus allen Fraktionen kennen solche Härtefälle und fen dabei ist . Wir würden auch ein stärkeres Engagement empfinden sie als skandalös. bei der Seenotrettung unterstützen . Aber ich halte die Annahme für falsch, dass eine Militäraktion in den Ge- Nun haben Sie im Nachtragshaushalt 2015 und im wässern vor Libyen oder an Land in diesem Zusammen- vorliegenden Entwurf für 2016 insgesamt 50 neue Stel- hang etwas Positives bewirken kann . Frau Mogherini­ len beantragt . Das reicht doch in dieser Lage nicht! Ich betreibt das ja energisch, und die Bundesregierung sollte frage Sie: Warum erst jetzt, und warum so wenig? Das dem eine klare Absage erteilen . Das Flüchtlingsdrama im müssen Sie zur Chefsache machen und beschleunigen . Mittelmeer lässt sich nicht militärisch lösen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) und bei der LINKEN sowie der Abg . Dr . Ute Es ist wirklich höchste Zeit dafür . Finckh-Krämer [SPD]) (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle sprechen jetzt Angesichts der dramatischen Lage an den europäi- (D) darüber, dass es darum gehen muss, Fluchtursachen zu schen Außengrenzen treten viele andere Themen in den beseitigen . Dazu müssen in der Außenpolitik die Kon- Hintergrund . Ich möchte aber noch ein wichtiges Poli- fliktprävention und die Entwicklungspolitik Hand in tikfeld ansprechen . Was die Gespräche über das Transat- Hand gehen . Das muss der Außenminister zu seiner Sa- lantische Handels- und Investitionsabkommen betrifft: che machen . Da geht es natürlich auch um eine zentrale Frage unserer Gestatten Sie mir hierzu zwei Bemerkungen . Es ist Beziehungen zu den USA . Das fällt auch in Ihr Ressort, gut, wenn es in diesem Haushalt deutlich mehr Mittel Herr Steinmeier; auch wenn Sie häufig den Anschein für die Entwicklungspolitik gibt . Aber es fehlt jede kon- erwecken, als hätten Sie mit dem Thema eigentlich gar krete Überlegung, wie das 0,7-Prozent-Ziel bei der Ent- nichts zu schaffen . wicklungsfinanzierung durch Deutschland mittelfristig Da wird unter der Überschrift „Regulatorische Koope- erreicht werden soll . Es gibt keinen Aufholplan zur Ein- ration“ über eine Art Handelsverträglichkeitsprüfung für haltung unserer internationalen Verpflichtungen im Rah- jede ordnungspolitische Maßnahme in der EU und den men der UNO . Da geht es auch um die Beseitigung von USA verhandelt . Das kann die systematische Unterord- Fluchtursachen . Da tauchen Sie als Außenminister weg . nung von Standards unter Handelsinteressen bedeuten . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die vorgesehenen außergerichtlichen Schiedsgerichts- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten verfahren mit wechselseitigen Schadenersatzklagen ge- der SPD) gen neue Gesetze würden in der Bevölkerung in Europa und in den USA eine zerrüttende politische Wirkung für Außerdem möchte ich die Politik in Bezug auf die die transatlantischen Beziehungen haben . Sie sollten da- Waffenexporte ansprechen . Das hat für die Krisenpräven- rüber einmal mit amerikanischen Gewerkschaftlern und tion große Bedeutung . Da werden weiter schwere Fehler Gewerkschaftlerinnen reden . gemacht . Nehmen wir das Beispiel Saudi-Arabien – das ist von zentraler Bedeutung für den Nahen Osten ‑: Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liefern Waffen, wir bilden immer noch die Polizei der sowie bei Abgeordneten der LINKEN) diktatorischen Monarchen aus, und es gibt von der Bun- Es ist auch eine außenpolitische Aufgabe, das zu verhin- desregierung keine klare Kritik an den Flächenbombar- dern . dements im Jemen durch Saudi-Arabien . Ich danke für die Aufmerksamkeit . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11651

(A) Vizepräsident Johannes Singhammer: Finanziell beteiligen wir uns stärker, als wir das eigent- (C) Der Kollege Niels Annen spricht jetzt für die SPD . lich müssten, weil das notwendig ist . Deswegen erwartet dieses Haus – ich denke, das können wir gemeinsam so (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten festhalten –, dass sich die anderen europäischen Staaten der CDU/CSU) und weitere Länder an dieser Aufgabe, die bewältigt wer- den kann, beteiligen. Auch ich finde, dass sich die rei- Niels Annen (SPD): chen Golfstaaten einmal die Frage stellen sollten, ob sie Vielen Dank, Herr Präsident! -Meine sehr verehrten diese wenigen Milliarden Euro nicht aufbringen können, Damen und Herren! Lieber Herr Schmidt, Sie haben, um die Arbeit der Vereinten Nationen auszufinanzieren. wie ich denke, zu Recht, die Bekämpfung von Fluchtur- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- sachen angesprochen . Sie haben dabei den Außenminis- wie bei Abgeordneten der LINKEN und des ter angesprochen . Ich kann nur sagen: Die Bekämpfung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Fluchtursachen ist das Ziel der Bundesregierung . Ich finde, in der Rede von Frank-Walter Steinmeier ist Als Reaktion auf das Flüchtlingsdrama haben wir in sehr deutlich geworden, wie mühsam, wie mühevoll, den letzten Tagen Deklarationen zur Kenntnis genom- wie energieintensiv diese Arbeit ist und dass man einen men, auch von engen Verbündeten von uns, die angekün- langen Atem braucht . Aber dass die Bekämpfung der digt haben, sich stärker bzw . erstmals an Luftschlägen Fluchtursachen das zentrale Ziel der Regierungspolitik gegen ISIS zu beteiligen . Grundsätzlich bin ich der Mei- ist, steht, glaube ich, außer Zweifel . nung, dass ein größeres Engagement im Rahmen der An- ti-IS-Koalition etwas ist, was man begrüßen muss . Wir Wenden wir uns einmal in Richtung Syrien . Schau- werden diesen Konflikt nicht mit diplomatischen Mitteln en wir uns an, wie sich die Lage dort darstellt . Natürlich allein lösen können . Allein mit Luftangriffen werden wir gibt es in Syrien Regionen, die in den letzten Monaten diesen Konflikt aber auch nicht beseitigen können. Ich und Jahren im Wesentlichen nicht vom Krieg betroffen bin ein bisschen in Sorge, dass der Eindruck entsteht: Wir waren, in denen heute aber gekämpft wird . Das löst neue schicken ein paar mehr Flugzeuge, werfen Bomben über Fluchtbewegungen aus und hat Auswirkungen, und zwar von ISIS kontrolliertem Gebiet ab und leisten damit einen innerhalb Syriens, aber auch – das erleben wir täglich Beitrag zur Bekämpfung der Fluchtsituation . Das kann in unseren Wahlkreisen – auf die Situation in unserem sich sehr schnell als Irrtum herausstellen, auch weil ein Land . Großteil der Menschen, die zu uns nach Europa kommen Ich bin sehr dankbar dafür, dass in dieser Debatte oder in eines der Nachbarländer fliehen, nicht unbedingt deutlich geworden ist, dass es Entwicklungen gibt, die nur vor ISIS fliehen, sondern auch vor den Fassbomben, (B) wir nicht unmittelbar beeinflussen können. Dafür brau- die Assad jeden Tag einsetzt, vor den Chemiewaffen, die (D) chen wir – Stichwort Bekämpfung der Fluchtursachen – er einsetzt, vor der Brutalität seiner Sicherheitskräfte . den langen Atem, und den haben wir in dieser Großen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Koalition . DIE GRÜNEN) Es gibt aber auch Elemente, die wir direkt beeinflus- Deswegen brauchen wir am Ende eine politische sen können . Deswegen bin ich froh darüber, dass wir in Entwicklung, die doch nur dazu führen kann, dass alle diesem Hause darüber reden – denn das ist in der Tat ein Akteure in Syrien selber, aber auch diejenigen, die dort Skandal –, dass die Weltgemeinschaft es nicht schafft, direkt und indirekt Einfluss nehmen, die Regionalmächte diese wenigen Milliarden zusammenzukratzen, derer Saudi-Arabien und der Iran, aber auch unser Verbünde- es bedarf, um die Operationen des Welternährungspro- ter, die Türkei, die dort bestenfalls eine ambivalente Rol- gramms, des UNHCR und des Palästinensischen Flücht- le spielt, Russland und die Vereinigten Staaten und auch lingshilfswerks der Vereinten Nationen auszufinanzieren. wir hier in der Europäischen Union dafür sorgen, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des keine dieser Kriegsparteien mehr der Illusion erliegt, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den Konflikt militärisch gewinnen zu können. Solange irgendjemand das noch glaubt, wird dieser Krieg nicht Ich bin in den letzten zwei Jahren mehrfach in diesen enden . Flüchtlingslagern gewesen . Die Menschen haben sich nach zwei, drei Jahren Krieg damit abgefunden, dass sie Deswegen bin ich dem Außenminister sehr dankbar, nicht in wenigen Monaten in ihr Land zurückgehen kön- dass er so energisch und engagiert die Vereinten Natio- nen . Diese Hoffnung gab es ja . Auch viele von uns haben nen und den Sonderbeauftragten de Mistura dort unter- gedacht, dass Assad relativ schnell stürzen würde und stützt; denn das ist am Ende die einzige Möglichkeit, die man das Land dann wieder betreten könnte, um sich eine wir haben . Ich glaube, dafür brauchen wir nicht nur die Existenz aufzubauen . Wenn man mit diesen Familien ge- Unterstützung dieses Hauses, sondern der gesamten Eu- sprochen hat, merkte man, dass sie sich im wahrsten Sin- ropäischen Union und der Weltgemeinschaft . ne des Wortes eingerichtet haben – mit der Hilfe der in- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ternationalen Gemeinschaft, auch mithilfe des deutschen der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Steuerzahlers . Heute bekommen sie kein Geld mehr . An DIE GRÜNEN) wen sollen sie sich eigentlich wenden? Das ist etwas, was wir mit beeinflussen können. Das spiegelt sich auch Lassen Sie mich am Ende meiner Redezeit noch etwas in diesem Etat wider. Ich finde, das ist die eigentliche zur Ukraine sagen . Auch bei uns, in der Öffentlichkeit Botschaft: Ja, Deutschland übernimmt Verantwortung . und unserer Mediengesellschaft, ist alles sehr kurzlebig . 11652 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Niels Annen (A) Man hat manchmal den Eindruck, es gibt nur noch ein Weil es ein Schweigen über so viele Untaten ein- (C) Thema . Vor wenigen Monaten gab es nur das Thema schließt! „Beziehungen zu Russland und zur Ukraine“ . Deswegen Mahnt uns das? Mahnt uns das nicht, Schweigen über will ich die Gelegenheit nutzen, ohne hier Euphorie ver- Untaten? Reden wir doch einmal darüber, dass weltweit breiten zu wollen, noch einmal darauf hinzuweisen, dass 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind . 60 Milli- im Gegensatz zu dem, was uns viele aufgeschrieben und onen weltweit! Reden wir darüber, dass jeden Tag auf gesagt haben, das Minsker Abkommen weiterhin eine der Erde 57 000 Menschen verhungern . Die Erde wäre Grundlage dafür bildet, mit den Konfliktparteien einen reich genug, um alle ernähren zu können . Reden wir Prozess zu bestreiten, und dass die Diplomatie Erfolge darüber, dass durch schlechte Wasserversorgung, auch vorzuweisen hat – nicht die Lösung des Problems, aber durch Privatisierungen, jedes Jahr 100 000 Menschen Erfolge vorzuweisen hat: Der Waffenstillstand, der ver- sterben . Fluchtursachen muss man bekämpfen und nicht handelt worden ist, wird weitgehend eingehalten . Es ist die Flüchtenden . unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das so weitergeht . (Beifall bei der LINKEN) Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass auch die Unter- stützung für die Kräfte in der Ukraine vernehmlich arti- Wir haben es zu tun mit einem Krieg der Reichen gegen die Armen dieser Welt . Auch das muss man aus- kuliert wird, die sich ja – Kollege Jung hat darauf hinge- sprechen, wenn man über alternative Außenpolitik nach- wiesen – nicht nur einer erbitterten Opposition, sondern denkt . sogar terroristischer Mittel erwehren müssen . Wir müs- sen die ukrainische Politik und die Gesellschaft auf die- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sem Weg unterstützen . Die Entscheidungen in der Rada Die Kriegstoten, die Flüchtenden, die Verhungernden sind ein ganz wichtiger Schritt in diese Richtung . Auch sind Opfer einer kannibalischen Weltordnung . Es ist die da, glaube ich, gibt es eine breite Unterstützung in die- Unordnung der Macht des Profits, des Kapitalismus. Ein sem Hause . Bruch mit der Macht des Kapitalismus, mit der Macht In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerk- transnationaler Konzerne ist nötig, wenn die Menschheit samkeit und freue mich auf die weiteren Beratungen . überleben soll . Vielen Dank . (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das erfordert auch weltweite Eingriffe in die Eigen- tumsverhältnisse, in die Verfügungsgewalt über Eigen- Vizepräsident Johannes Singhammer: tum, und das erfordert auch eine Unterbindung weltwei- (B) Der Kollege Wolfgang Gehrcke spricht jetzt für die ter Finanzspekulationen . Das sagt selbst der Papst . Das (D) Fraktion Die Linke . ist ja keine linke Erfindung. (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf des Abg . Dr . Rolf Mützenich [SPD]) Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten, in Kriegszei- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): ten, auch in Europa . Europa steckt in seiner schwers- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich ten Krise seit Ende des Systemkonflikts. Seitdem war denke, dass man nüchtern und traurig aussprechen muss, das Verhältnis EU-Deutschland-Russland noch nie so dass wir heute wieder in Kriegszeiten und nicht in Frie- schlecht wie heute . Für die Verschärfung der euroatlanti- denszeiten leben . Wir leben in Zeiten des Krieges . Kurze schen Großkonflikte, des ukrainischen Konfliktes inklu- Zeit schien es so, als ob man den Krieg endgültig von sive der gegenseitigen Drohungen der USA und Russ- lands mit Atomwaffen trägt auch die deutsche Politik mit unserer Erde verbannen könnte, zumindest von unserem Verantwortung . Sanktionen, Dialogverbote und primitive Kontinent . Kurze Zeit schien es auch so, als könnte man antirussische Propaganda sind keine Argumente, sondern Atomwaffen wirklich abschaffen . Eine Welt ohne Atom- zerstören die Grundlagen von Zusammenarbeit . Auch waffen! Es war leider nicht so . Das Gegenteil ist der Fall . das muss hier ausgesprochen werden . Ich spreche es nüchtern aus: Aus meiner Sicht ist heute das Überleben der Gattung Mensch und unseres Planeten (Beifall bei der LINKEN) infrage gestellt . Um nichts weniger geht es bei der Frage, Ich möchte an dieser Stelle mit wirklicher Trauer da- ob man aus diesen katastrophalen Entwicklungen einen rauf aufmerksam machen: In seinem letzten Dokument Ausweg finden kann. hat Egon Bahr mit dem Willy-Brandt-Kreis der SPD an (Beifall bei der LINKEN) uns alle appelliert, sich auf eine gemeinsame europäische Friedensordnung zurückzubesinnen . Ich denke, dass man Mir sind dieser Tage immer wieder einige Zeilen von von der Bundesregierung fordern muss: Macht uns die Bertolt Brecht durch den Kopf gegangen . Ich will sie Ih- Russen nicht zu Feinden . NATO-Manöver und damit nen nicht ersparen . Brecht schreibt in seinem Gedicht An auch deutsche Soldaten an der Westgrenze Russlands, die Nachgeborenen: das ist eine unvorstellbar kaputte Politik . In diesem Jahr Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! haben bereits 16 solcher Manöver stattgefunden . . . . Deutschland muss überhaupt aus dem ganzen Kriegs- Was sind das für Zeiten, wo getöse aussteigen, denke ich . Hören Sie einmal in die Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Friedensbewegung hinein . Sie waren ja früher einmal Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11653

Wolfgang Gehrcke (A) sehr eng mit der Friedensbewegung verbunden; lang ist arbeiten . Das wäre eine Grundlage der Zusammenarbeit, (C) es her . Die Losung „Deutsche Waffen, deutsches Geld die ich mit ganzem Herzen bejahen würde . morden mit in aller Welt“ finde ich begründet und be- Danke . weisbar . (Beifall bei der LINKEN – Dr . Rolf (Beifall bei der LINKEN) Mützenich [SPD]: Das ist nur selbstgerecht!) Es sollte für uns eine Schande sein, wenn man zu solch einer Feststellung kommt . Vizepräsident Johannes Singhammer: Syrien, Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, in Euro- Der Kollege Jürgen Hardt spricht jetzt für die CDU/ pa der Krieg in Jugoslawien und jetzt in der Ukraine – CSU . in diesen Kriegen haben 350 000 Menschen ihr Leben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- verloren . An vielen dieser Kriege war Deutschland di- ordneten der SPD) rekt oder indirekt beteiligt . Ich möchte wissen, was die Bundesregierung in der Auseinandersetzung mit dem ­NATO-Partner Türkei macht, dem sie ja die Patriot-Ra- Jürgen Hardt (CDU/CSU): keten vor die Tür gestellt hat, um zu verhindern, dass es Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und in der Türkei zu einem Bürgerkrieg kommt . Das ist doch Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede als ein Problem, über das auch in der NATO debattiert wer- neuer außenpolitischer Sprecher meiner Fraktion sagen, den muss und mit dem man sich auseinandersetzen muss . dass ich gerne, auch im Namen der Außenpolitiker der Union, die Tradition meiner Vorgänger fortführe und den Herr Außenminister, Herr Steinmeier, Sie haben ein- konstruktiven Dialog innerhalb der Koalition, mit der mal formuliert, dass Deutschland die Weltpolitik nicht Regierung, aber natürlich auch mit der Opposition su- von der Außenlinie betrachten soll . Meine Überlegung che . Es ist ein echtes Asset der deutschen Außenpolitik, ist: Besser an der Außenlinie der Weltpolitik stehen blei- dass wir in ganz vielen Fragen bzw . in den großen Fra- ben, als ein Teil der Kriege dieser Welt zu werden . Das ist eine andere Politik, und darüber muss man streiten . gen einen weit über die Parteigrenzen hinausgehenden Konsens haben . Damit können wir für unser Land, für (Beifall bei der LINKEN – unsere Bürgerinnen und Bürger, aber eben auch in der [CDU/CSU]: Dazwischen gibt es auch noch Weltgemeinschaft mehr erreichen, als wenn wir uns aus anderes!) ideologischen Gründen streiten . In diesem Sinne, glaube Ich sage sehr offen, weil immer wieder darüber speku- ich, sollten wir die Arbeit hier in diesem Hause fortset- liert wird: Die Außenpolitik der Linken geht nicht mit der zen . Dass wir den Weltkommunismus in unsere Überle- (B) Außenpolitik der SPD und dieser Regierung zusammen . gungen zur Lösung der Konflikte auf dieser Erde mögli- (D) Dazwischen liegen Welten . Ich bin stolz darauf, dass cherweise nicht einbeziehen, Herr Gehrcke, werden Sie Welten dazwischen liegen . mir nachsehen . (Dr . Rolf Mützenich [SPD]: Wem sagen (Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei Sie das jetzt? – Dr . Tobias Lindner [BÜND- Abgeordneten der SPD) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist die Katze aus Der Beitrag des Weltkommunismus zum Weltfrieden ist dem Sack!) vergleichsweise gering, wenn man ihn allein daran misst, – Ich sage es euch und der Öffentlichkeit, weil ich von was die Bundesregierung zu leisten in der Lage ist . euch erwarte, dass ihr endlich eure Außenpolitik verän- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Es ehrt dert und zu einer Außenpolitik, wie Egon Bahr sie be- mich, wenn ich der Vertreter des Weltkommu- trieben hat, wie andere sie betrieben haben, zurückkehrt . nismus bin!) (Dr . Rolf Mützenich [SPD]: Wollen Sie ihn Wir sprechen in diesen Tagen viel über die Sympto- auch noch vereinnahmen?) me der Erschütterungen der Welt in Form von Flücht- Das wäre vernünftig . Besinnt euch auf Willy Brandt, und lingen, die bei uns anlanden, zu uns kommen und Hilfe lernt endlich wieder von einer solchen Außenpolitik . suchen . Wir reden auch über die großartigen Leistungen, die dabei erbracht werden: von Beamten, von Angestell- (Beifall bei der LINKEN) ten, von zivilen Hilfskräften, aber auch von ganz vielen Ich komme zum Schluss . In diesem sehr schönen Ge- Ehrenamtlichen . Sache der Außenpolitik ist es, sich den dicht von Bertolt Brecht gibt es einen Rat an uns alle, den Ursachen zuzuwenden . Was die Ursachen der Flucht ich bitte zu beherzigen . Brecht schreibt: angeht, sind der IS-Terror, die religiös verbrämte Bewe- gung IS und alle, die ihr in Zentralafrika, im Norden Af- Ich wäre gerne auch weise . rikas und in anderen Ländern der Welt nacheifern, natür- In den alten Büchern steht, was weise ist: lich ein entscheidender Punkt . Ich möchte zum deutschen Beitrag im Kampf gegen den IS nur sagen: Wir leisten Sich aus dem Streit der Welt halten . . mit unserer Ausrüstungs- und Ausbildungsunterstützung So weit Brecht . Die deutschen Außenpolitik sollte weise für die kurdischen Peschmerga im Norden Iraks einen sein, sich aus dem militärischen Streit der Welt heraus- hervorragenden Beitrag . Er wird allgemein anerkannt . Es halten, nicht aufrüsten und nicht Soldaten in alle Welt ist auch keine kleine Sache, mit Soldaten dort vor Ort zu schicken, sondern still und beharrlich für den Frieden sein und diese Hilfe zu leisten . 11654 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Jürgen Hardt (A) Dem einen oder anderen, der darauf hinweist, dass an- tung der Menschenrechte überall auf der Welt einzuset- (C) dere Staaten Luftschläge gegen IS-Stellungen, von denen zen . Deswegen, glaube ich, sollten wir das auch deutlich Bedrohungen für den Irak ausgehen, durchführen, sage machen . ich: Deutschland fährt gut mit der Maßnahme, die wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dort ergreifen, nämlich mit der Ausbildungs- und Aus- ordneten der SPD) rüstungsunterstützung . Für den Fall, dass die Regierung zu dem Ergebnis kommt, vielleicht mehr tun zu müssen, Das zweite Prinzip . Wir suchen in Deutschland immer wird sich der Bundestag sicherlich offen zeigen, darüber den integrierten Ansatz . Wir scheuen nicht davor zurück, zu reden . Aber ich denke, dass es bei der Unterstützung gegebenenfalls auch zu robusten Mandaten zu greifen – der kurdischen Peschmerga bleiben sollte und dies unser daran ist der Bundestag ja maßgeblich beteiligt –, aber großer und zentraler Beitrag ist . wir sehen auch, dass für eine nachhaltige Lösung der Probleme das Zusammenspiel von zivilen, militärischen, Weitere Fluchtursachen, die mittel- und langfristig diplomatischen und sozialen Initiativen unverzichtbar ist anzupacken sind, sind Dürre, Hunger und Armut in der und dass man einen langen Atem braucht . Welt, ausgelöst durch schlechte Regierungen, aber auch ausgelöst durch Klimaveränderungen . Mit Blick auf Afghanistan – darüber werden wir in den nächsten Monaten ja sicherlich auch diskutieren – Es gibt ein großes Projekt, Herr Außenminister, das haben wir mit der Mission Resolute Support einen am- in diesem Jahr nicht nur, aber auch ein außenpoliti- bitionierten Plan, aber ich glaube schon, dass wir uns sches Thema ist: Wir müssen uns bemühen, den Pari- möglicherweise von dem starren Zeitplan lösen und be- ser UN-Klimagipfel zu einem Erfolg zu führen . Denn reit sein sollten, über den bisher vorgegebenen Zeitplan dann sind wir in der Lage, einen Beitrag zu leisten, die hinaus in Afghanistan engagiert zu bleiben – auch außer- Fluchtursachen, insbesondere was Afrika angeht, mittel- halb Kabuls –, weil es eben im Sinne der Nachhaltig- und langfristig zurückzudrängen . Ich kann Sie nur un- keit nicht gut wäre, wenn wir dort vorzeitig die Flinte ins terstützen und ermutigen, alles zu tun, um hier zu einem Korn werfen würden . Wir sollten mit unseren Partnern in Erfolg zu kommen . Die Situation sieht ja besser aus, als der Welt ganz konkret darüber reden, was nach Resolute es der eine oder andere vielleicht noch vor einem Jahr Support kommt und wie ein modifiziertes Mandat mög- erwartet hat . licherweise aussieht . Auch wenn wir den Bürgerinnen und Bürgern ein Ge- Klar ist aber auch, dass wir das gemeinsam machen . fühl dafür geben wollen, dass wir mit der außenpoliti- Wir sind in Afghanistan gemeinsam engagiert . „Gemein- schen Aufgabe der Bekämpfung der Fluchtursachen ver- sam rein, gemeinsam raus“ war immer unser Grundsatz . antwortungsvoll umgehen, werden wir ihnen natürlich (B) nicht für jedes Problem eine Lösung servieren können . Das Dritte ist – darauf habe ich im Zusammenhang mit (D) Aber wir können ihnen sagen, nach welchen Prinzipi- Afghanistan eben schon hingewiesen –, dass Deutsch- en wir unsere Außenpolitik ausrichten . Ich glaube, das land keine außenpolitischen Alleingänge macht, sondern erste Prinzip, das man nennen muss, lautet: Deutschland dass wir uns immer in partnerschaftlichen Organisatio- hält sich an Recht und Gesetz im Rahmen der Völker- nen engagieren . gemeinschaft und im Rahmen der Charta der Vereinten Wir haben Formate gefunden, in denen Deutschland Nationen . Das schließt allerdings auch ein, dass wir an massiv und erfolgreich wirkt . Das E3+3-Format ist ein der Weiterentwicklung der Völkerrechtsordnung und der Beispiel dafür . Ich möchte alle Kolleginnen und Kollegen Vereinten Nationen aktiv mitwirken . Deutschland ist be- ermutigen, auch mit den Kollegen aus Israel darüber zu reit, in einem zu reformierenden UN-Sicherheitsrat Ver- reden, dass wir Deutschen der Meinung sind, dass das eine antwortung zu übernehmen . deutliche Erhöhung der Sicherheit Israels bedeutet, was Ein Kollege hat es schon angesprochen: Wir würden für uns Deutsche Staatsräson ist . In den Gesprächen, die uns wünschen, dass es zumindest gelingt, auf der Basis wir mit den israelischen Kolleginnen und Kollegen führen, einer freiwilligen Erklärung von den Vetomächten des sollten wir immer wieder versuchen, sie davon zu über- UN-Sicherheitsrates die Zusage zu bekommen, dass sie zeugen, dass von diesem Abkommen keine Bedrohung für ihr Veto dann nicht einlegen, wenn es um Völkermord Israel ausgeht . Das ist mir ein wichtiges Anliegen . und Vertreibung geht, sodass wir die Dinge, die wir in Wir haben zwei Partner, mit denen wir seit Jahrzehn- Bezug auf Syrien erlebt haben – hier sind wir letztlich ten und für Jahrzehnte eng verbunden sind: vier Jahre lang nicht zu einem Konsens gekommen, was wir in der Völkergemeinschaft tun können –, für die Zu- Das ist zum einen die Europäische Union, die sich kunft ausschließen . gegenwärtig auf den Weg der Erarbeitung einer außen- und sicherheitspolitischen Strategie begibt . Von vielen Wenn es um Recht und Gesetz geht, geht es auch um Seiten wird davon nicht viel erwartet . Ich sage: Gerade Menschenrechte . Ich möchte an dieser Stelle ausdrück- mit Blick auf die Flüchtlinge und die Fluchtursachen lich loben, dass sich, wenn es zum Beispiel um verfolg- haben wir die Chance, auf dem EU-Gipfel im nächsten te Christen geht, insbesondere der Fraktionsvorsitzende Jahr diesbezüglich einen mächtigen Akzent zu sehen und der CDU/CSU, aber auch viele andere Kollegen für die diejenigen positiv zu überraschen, die sich von der Euro- Durchsetzung der Menschenrechte überall auf der Welt päischen Union in diesem Punkt nicht so viel erwarten . einsetzen . Jeder von uns hatte in seiner politischen Arbeit schon mit diesem Thema zu tun . Für viele war es eine Zum anderen haben wir eine Verbindung zu den Ver- Motivation, in die Politik einzutreten, sich für die Einhal- einigten Staaten von Amerika, die transatlantische Part- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11655

Jürgen Hardt (A) nerschaft . Sie bewährt sich in ganz vielen Feldern . Eines Jürgen Hardt (CDU/CSU): (C) möchte ich nennen, nämlich den Ukraine-Konflikt. Es Herr Trittin, Antiamerikanismus bei amerikanischen gibt einen ganz engen Schulterschluss Nordamerikas mit Arbeitnehmern habe ich bei meinen Besuchen in Ame- dem, was die Europäer für richtig halten . Sie unterstützen rika nicht beobachten können . Ich möchte aber dennoch das, was wir dort tun, und wir sind gemeinsam der Mei- sagen: Es geht darum, dass wir uns bei diesem Abkom- nung, dass es eine diplomatische Lösung geben muss und men an die konkreten Fakten halten, dass wir vor dem dass das völkerrechtswidrige Handeln Russlands durch Hintergrund, dass wir ein solches Abkommen wollen, für Sanktionen beantwortet werden muss . uns, für Europa und für Nordamerika das beste Ergebnis Es ist aber mehr als eine Sicherheitspartnerschaft . Es erlangen . Dabei hilft es überhaupt nicht, Behauptungen ist eine Wertepartnerschaft und natürlich auch eine Wirt- aufzustellen, die nicht belegt und unwahr sind; Stichwort schaftspartnerschaft . Deswegen kommt dem Handelsab- „Intransparenz von Schiedsverfahren“ . kommen TTIP eine große Bedeutung zu . Ich kenne das Schiedsverfahren, wie es bei CETA vor- Ich glaube, der Kollege Schmidt hat es eben angespro- gesehen ist . In diesem Abkommen ist bei diesem Verfah- chen: Wenn Gewerkschaften, deren Mitglieder in expor- ren Transparenz explizit vorgesehen . Sie kennen den Be- tintensivsten Industrieunternehmen arbeiten – zum Bei- schluss des Europaparlaments, der als Leitplanke für die spiel die IG Metall –, undifferenziert gegen ein solches Verhandlungen der EU-Kommission dienen soll . Auch in Handelsabkommen sprechen, dann ist das ein Grad an diesem Beschluss ist bei diesem Verfahren Transparenz Irrationalität, den ich nicht nachvollziehen kann . Es wird vorgesehen . Ich bitte diejenigen, die TTIP infrage stellen, so getan, als seien Verabredungen getroffen worden . Es anzuerkennen, dass es über bestimmte Dinge, die als ge- gibt aber überhaupt noch keine Vereinbarung . Im Übri- geben in den Raum gestellt werden, längst Klarheit gibt gen müssen der Deutsche Bundestag und das Europäi- und dass es kein intransparentes Schiedsverfahren geben sche Parlament zustimmen . Ich kann die Gewerkschaften wird . Dass im Übrigen die regulatorische Kooperation nur dringend auffordern, im Interesse ihrer Mitglieder die die Rechtsetzungsmöglichkeiten der Parlamente der teil- Chancen dieses Abkommens zu begreifen und sich eben nehmenden Staaten nicht außer Kraft setzt, können Sie nicht auf die Seite derer zu schlagen, die aus dumpfem im Text zum CETA-Abkommen, bisher nur in der engli- Antiamerikanismus gegen dieses TTIP-Abkommen sind . schen Fassung, nachlesen . (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf vom (Beifall bei der CDU/CSU) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Ich glaube, dass wir mit diesem Abkommen die große Vizepräsident Johannes Singhammer: Vielen Dank, Herr Kollege Hardt . Damit ist Ihre Re- (B) Chance haben, strategisch weiterzukommen . Wenn wir (D) unsere Maßstäbe in Bezug auf den fairen Welthandel dezeit beendet . durchsetzen, dann ist das besser, als wenn wir uns von (Beifall bei der CDU/CSU) der Entwicklung in der Welt treiben lassen . Nächster Redner ist der Kollege Dr . Tobias Lindner für BÜNDNIS 90/Die Grünen . Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Hardt, gestatten Sie zum Ende Ihrer Re- dezeit noch eine Zwischenfrage des Kollegen Trittin? Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihnen, Herr Kolle- Jürgen Hardt (CDU/CSU): ge Hardt, auch von unserer Seite aus alles Gute in Ihrem Ja . neuen Amt und viel Glück dabei . Wenn Sie die Koopera- tion der grünen Fraktion bei der Kontrolle der Bundesre- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gierung suchen, dann sind wir dazu gerne bereit . Herr Kollege Hardt, da Sie Kritiker aus den Gewerk- Ich weiß nicht, ob Sie Zugang zu diesem ominösen schaften, die zum Beispiel die intransparenten Schieds- Datenraum in der US-Botschaft haben . verfahren und die regulatorische Kooperation beanstan- den, mit dem Begriff des „dumpfen Antiamerikanismus“ (Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Ich bin angemel- belegt haben, det!) ( [CDU/CSU]: Stimmt leider!) – Sie sind angemeldet! Sehen Sie: Vielleicht können wir ins Geschäft darüber kommen, was das Thema Transpa- würden Sie diesen Begriff dann auch auf jene Gewerk- renz bei gewissen Dokumenten betrifft, und dann eine schafter in den USA anwenden, die dieses Abkommen ehrliche Debatte über das Freihandelsabkommen TTIP aus exakt den gleichen Gründen, nämlich aus der Be- führen . fürchtung heraus, dass im Zusammenhang mit diesem Abkommen die Demokratie vermindert und Arbeitneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) merrechte abgebaut werden könnten, ablehnen? Sind die- Lassen Sie mich aber, da wir in einer Haushaltsdebat- se amerikanischen Gewerkschaften auch von „dumpfem te sind, etwas zum Etatentwurf des Auswärtigen Amtes Antiamerikanismus“ geprägt? sagen . Ja, Herr Minister, es ist richtig, Ihre Ausgaben (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- steigen erneut um 15 Prozent . Das ist nicht nichts, wenn SES 90/DIE GRÜNEN) man sieht, dass von diesen 670 Millionen Euro, um die 11656 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Dr. Tobias Lindner (A) der Etat steigt, 500 Millionen Euro an die Vereinten Na- Ich komme zum letzten Punkt . Sie haben sich beim (C) tionen gehen . Das ist zwar richtig und notwendig, liebe Koalitionsgipfel – das habe ich zumindest den Papieren Kolleginnen und Kollegen . Aber da wir in dieser Debatte entnehmen können – darauf geeinigt, die Mittel für Kri- beispielsweise auch über das UNHCR gesprochen haben, senprävention um 400 Millionen Euro zu erhöhen . Noch wird es, denke ich, eine Aufgabe für die Haushaltsbera- ist nicht klar, in welche Bereiche genau diese Gelder tungen sein, zu schauen, ob an dieser Stelle mehr Mittel fließen werden. Ich habe immer die Auskunft erhalten: notwendig sind; denn das Geld wäre hier gut angelegt . Das ist eine politische Vereinbarung, die wir umsetzen müssen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns diese Das, worüber wir uns gestern in der allgemeinen Fi- Arbeit verrichten und schauen, wo Bedarfe gestiegen sind . nanzdebatte einig waren, dass dieser Bundeshaushalt wie Lassen Sie uns schauen, wo sich mehr Verantwortung kaum ein anderer Haushalt zuvor im Beratungsverfahren Deutschlands in der Welt auch im Haushalt niederschlagen massive Veränderungen erfahren wird, gilt natürlich erst muss . Lassen Sie uns vor allen Dingen die Diskussion füh- recht für den Haushalt des Auswärtigen Amtes . Ja, für ren, wie dieses Geld – von den Strukturen bzw . Projekten die humanitäre Hilfe erhöhen Sie die Mittel signifikant. her – am sinnvollsten ausgegeben werden kann . Wir Grü- Aber gerade in der Außenpolitik sollten Verlässlichkeit, ne werden dazu in den kommenden Wochen unsere Vor- Verbindlichkeit und Angemessenheit wichtige Maßstäbe schläge machen . Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung . sein . Sie, Herr Steinmeier, haben vorhin, als der Kollege Schmidt dies erwähnte, noch den Kopf geschüttelt . Vielen Dank . Ich habe mir aber die Zahlen gerade bestätigen lassen: Im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Haushaltsentwurf für dieses Jahr, also für 2015, sollten die Mittel für humanitäre Hilfe erst um 38 Prozent abge- Vizepräsident Johannes Singhammer: senkt werden . Zum Glück ist es in den Haushaltsberatun- Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für gen gelungen, die Mittel doch wieder aufzustocken . Jetzt die SPD . wächst dieser Titel wieder . Nun wird es erneut auf das Parlament ankommen, diese Mittel in einem auskömm- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lichen Bereich weiter aufzustocken, weil wir realisie- der CDU/CSU) ren, dass sich der Bedarf an humanitärer Hilfe seit 2012 weltweit verdoppelt hat . Deswegen, liebe Kolleginnen Frank Schwabe (SPD): und Kollegen, sagen wir Grüne: Hier muss ein weiterer Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwerpunkt gesetzt werden . Hier braucht es mehr Geld, Auch wenn ich nur ganz wenig Redezeit habe, will ich (B) als im Etat vorgesehen ist . zumindest ein Land erwähnen, zu dem sonst kaum je- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mand schaut, das in Deutschland in den letzten Tagen aber ein bisschen mehr Aufmerksamkeit bekommen hat . Ein zweiter Punkt, bei dem Verlässlichkeit und Ver- Das ist aber eines der Beispiele, wo nicht alles gut ist, bindlichkeit wichtig sind, betrifft den Bereich der Kri- aber wo es Hoffnung gibt, nämlich Guatemala . Ich bin – senprävention . Ja, die Gelder bleiben bei 95 Millionen wie andere in diesem Hause auch – relativ häufig in Gu- Euro . Ich denke, auch hier sollten wir – zumal beim Koa- atemala unterwegs . Ich hätte nie gedacht, dass wir dort litionsgipfel vom Sonntagabend zum Ausdruck gebracht wieder eine lebendige Zivilgesellschaft erleben können . wurde, dass hier ein Schwerpunkt gesetzt werden soll – Es gab dort jetzt Präsidentschaftswahlen . Aus ihnen wird schauen, ob mehr gemacht werden kann . Denn es geht wahrscheinlich ein Präsident hervorgehen, mit dem man nicht nur um Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen, es auch nicht so richtig viel anfangen kann . Das ist es aber geht um die Strukturen, die dahinter stehen, um die Men- nicht, was ich meine . In Guatemala gibt es eine lebendi- schen, die mit diesem Geld dann auch Dinge verrichten ge Zivilgesellschaft . Es gibt dort engagierte junge Men- sollen . Da besteht Aufholpotenzial . schen bzw . Studenten, die friedlich auf die Straße gehen . Ich will Ihnen ein Beispiel geben . Bisher bewilligen Das macht auch Hoffnung für dieses Land in Zentrala- wir Gelder in diesem Bereich an NGOs bzw . an Dritte, merika . welche die Projekte ausführen, nur im Jahresrhythmus . Das Spannende, was wir vielleicht aus der schwieri- Das führt dazu, dass im Herbst bzw . im November teil- gen Debatte der letzten Tage und Wochen dauerhaft mit- weise Ortskräfte entlassen werden müssen und dass die nehmen können, ist das, was die Kanzlerin heute und was Organisationen ihre Aktivitäten drosseln bzw . herunter- auch Frank-Walter Steinmeier gesagt hat: Wir müssen be- fahren müssen, bis ein neuer Bundeshaushalt beschlos- greifen, dass das, was wir außenpolitisch bzw . entwick- sen wurde . Dann geht wieder alles von vorne los und lungspolitisch machen, etwas mit dem zu tun hat, was muss hochgefahren werden . Dagegen schaffen wir es im innenpolitisch in Deutschland sowie in anderen Teilen BMZ bereits, solche Bewilligungen für zwei oder auch Europas und der Welt passiert . Auch wenn das hier keine mehr Jahre auszusprechen . Ich denke, liebe Kollegin- entwicklungspolitische Debatte ist, wird klar, dass das, nen und Kollegen, an solchen Dingen sollte eine bessere was wir da tun, viel mehr darstellt als Almosen, sondern Krisenprävention Deutschlands nicht scheitern . Darauf das ist eine Entwicklungsfinanzierung im wohlverstan- sollten wir bei den Haushaltsberatungen auch ein Augen- denen eigenen Interesse . Und so müssen wir das, glaube merk richten . ich, auch in den nächsten Jahren miteinander diskutieren . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11657

Frank Schwabe (A) Das, was wir gerade erleben und was – wie ich finde, wie wir Flüchtlinge dazu bewegen können, in ihrer Her- (C) leichtfertig – als Völkerwanderung beschrieben wird, ist kunftsregion zu bleiben . keine Völkerwanderung . Ich weiß nicht, was noch alles (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommen mag . Für das aber, was wir gerade erleben, die der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Flucht von Menschen, gibt es zwei Gründe . Der eine DIE GRÜNEN) Grund ist die hoffnungslose Situation in Südosteuropa . Hier kann es nur über die Europäische Union gelingen, Vizepräsident Johannes Singhammer: den Menschen dort eine Perspektive zu geben . Der an- Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Detlef Seif . dere Grund ist das, was wir gerade in Syrien als Bürger- krieg erleben, von dem über 20 Millionen Menschen be- (Beifall bei der CDU/CSU) troffen sind und wo viele dieser Menschen im Land und außerhalb des Landes auf der Flucht sind . Detlef Seif (CDU/CSU): Folgender Satz – er fiel schon heute Morgen – muss Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Prog- auch gesagt werden: Wie man, wie Herr Straubinger, nose von bis zu 800 000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr auf die Schnapsidee kommen kann, syrische Flüchtlinge nach Deutschland kommen und Asyl beantragen könnten, beruht ganz wesentlich auch auf der bereits diskutierten nach Syrien zurückführen zu wollen, ist mir völlig schlei- Situation in Syrien . Die Hoffnung vieler Syrer auf ein erhaft . Obwohl es dort natürlich Gebiete gibt, die befrie- schnelles Ende des Bürgerkrieges ist in den letzten Mo- det sind, ist es auch logistisch vollkommen unmöglich, naten endgültig zerstört worden . Die kriegerischen Aus- Menschen dorthin zurückzuführen . Ich glaube, solche einandersetzungen zwischen der Assad-Regierung, Oppo- Debatten sollten wir nicht führen . sitionellen, der al-Nusra-Front, der Hisbollah-Miliz, ISIS (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und anderen – eine völlig undurchsichtige Situation – dau- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE ern unvermindert an . Die terroristische ISIS-Organisation GRÜNEN) verbreitet sich in der Region quasi wie ein bösartiges Ge- schwür: in Syrien, Irak und jetzt auch regional in Libyen . Dem Problem Syrien kann man sich nur stellen, wenn es erstens politische Initiativen gibt, von denen der Au- Rund 6 Millionen Syrer sind innerhalb ihres Landes auf der Flucht, über 4 Millionen außerhalb . Sie sind in ßenminister gesprochen hat, und wir zweitens wenigs- den Nachbarländern Türkei, Jordanien, Libanon, Irak tens dafür sorgen, dass die humanitäre Lage für die und Ägypten untergekommen . Flüchtlinge einigermaßen erträglich ist . Wir reden über zurzeit 60 Millionen Flüchtlinge weltweit; davon sind Es ist schon angesprochen worden: Der UN-Flücht- (B) (D) 12 Millionen Syrer . Ich bitte, auch die anderen 48 Milli- lingskommissar, António Guterres, hat letzte Woche ge- onen Flüchtlinge nicht zu vergessen . genüber der Washington Post gesagt: Diese Situation, die sich zurzeit abzeichnet, ist eine Tragödie, wie wir sie in Niels Annen hat es schon gesagt, und ich kann das diesem Ausmaß in den letzten Jahren nicht erlebt haben . nur bestätigen . Ich war vor zwei Wochen im Libanon . Weiter sagte er: Was die Unterversorgung der Flüchtlin- Dort sitzen einem Menschen gegenüber, denen die Nah- ge angeht, war in den letzten vier Jahren bereits nur die rungsmittelration zum dritten Mal gekürzt worden ist: Hälfte dessen verfügbar, was man eigentlich benötigt auf 13,50 Dollar pro Kopf und pro Monat . Wenn Sie hätte, um die Menschen vor Ort menschenwürdig zu ver- den Menschen gegenübersitzen, die Ihnen in die Augen sorgen . schauen und Sie fragen, was sie tun sollen, dann können Wir sollten aber an dieser Stelle sagen: Wenn alle Sie es mit Händen greifen, dass sie nicht nach Syrien zu- Mitgliedsländer der Vereinten Nationen einen ähnlichen rückkehren können und dass sie, wenn sie meinen, nicht Beitrag leisten würden wie die Bundesrepublik Deutsch- mehr dort bleiben zu können, nur eine Chance haben, land, dann wäre das Problem behoben . Ich spreche nicht nämlich sich in Richtung Europa aufzumachen . Deswe- dagegen, dass wir hier noch draufsatteln können, aber ich gen ist es auch in wohlverstandenem eigenem Interesse, spreche dafür, dass wir das Problem international ange- für eine vernünftige Finanzierung der humanitären Hilfe hen und auch alle anderen an ihre Verpflichtungen erin- dort zu sorgen . nern sollten . In diesem Zusammenhang muss ich sagen, Frithjof (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Schmidt: Die humanitäre Hilfe ist aufgestockt worden . Dr . Rolf Mützenich [SPD] und Claudia Roth Sie ist in den letzten Jahren zum Glück deutlich aufge- (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) stockt worden, weil das auch dringend notwendig ist . Wir Ganz wesentlicher Bestandteil deutscher Politik, aber haben jetzt einen Aufwuchs von 400 Millionen Euro, von auch deutscher Außenpolitik – das hat man früher nicht so denen der größte Teil für die humanitäre Hilfe vorgese- gesehen – ist die Bekämpfung von Fluchtursachen . Wenn hen ist . Das war dringend notwendig . jede Ursache im Ausland bekämpft wird, kommt uns das Frank-Walter Steinmeier hat es schon gesagt: Wir soll- menschlich, aber insbesondere auch finanziell zugute. Uns ten das von deutscher Seite ein bisschen als Hebel nut- muss viel daran liegen, die prekäre und fragile Lage ge- zen, um andere, auch arabische Staaten, zu motivieren, rade jetzt in den Nachbarländern Libanon und Jordanien Ähnliches zu tun . Dann hat, glaube ich, das Flüchtlings- (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ paket, wie ich es mal nenne, einen guten Anteil daran, DIE GRÜNEN]: Irak!) 11658 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Detlef Seif (A) durch massive internationale Unterstützung zu stabili- des CDU-Bundesfachausschusses „Außenpolitik“, bin (C) sieren . Diesen beiden Staaten müssen wir dankbar sein, ich der Meinung, dass Deutschland und die Europäische dass sie Flüchtlinge in einem Umfang aufgenommen Union eine von der Region mitverantwortlich getrage- haben, der einem Viertel ihrer Bevölkerung entspricht . ne Konferenz initiieren sollten, die, beruhend auf den Übertragen auf Deutschland bedeutet das – das ist unvor- Erfahrungen des KSZE-Prozesses, einen auf Nah- und stellbar ‑: Wir müssten 20 Millionen syrische Flüchtlinge Mittelost zugeschnittenen Ansatz entwickelt . Die Stärke aufnehmen, wenn wir im selben Maße Hilfe leisten woll- des ­KSZE-Prozesses lag gerade in der Führung vieler ten . Ganz wichtig ist zudem, dass humanitäre Korridore Gespräche in unterschiedlichen Formaten, um so Ver- und sichere Aufenthaltsorte für die Flüchtlinge in Syrien trauen aufzubauen . Die Ergebnisse sowie der Verhand- und im Irak sowie für den Roten Halbmond und das Rote lungs- und Erfolgsdruck waren dabei zweitrangig . Wir Kreuz geschaffen werden . Deutsche und die anderen Europäer sollten unbedingt Zählt man die Hohe Vertreterin für Außen- und Si- eine Initiative in diese Richtung auf den Weg bringen . cherheitspolitik mit, dann stellt man fest, dass zurzeit (Beifall bei der CDU/CSU) fünf EU-Kommissare für die Flüchtlingspolitik zustän- dig sind. Das führt natürlich dazu, dass wir zerfledderte Das Asylrecht und das Recht von Flüchtlingen und Men- Zuständigkeiten haben und dass die Arbeit vor Ort nicht schen, die im Bürgerkrieg bedroht sind, stehen nicht zur so effektiv ist, wie sie sein sollte . Bundesminister Gerd Disposition; ich glaube, darin sind wir uns alle in diesem Müller hat vorgeschlagen, einen EU-Sonderbeauftragten Haus einig . Die Frage ist nur: Wie kann man zukünftig zu berufen, der die Handlungsfähigkeit und die Sicht- sicherstellen, dass die Menschen den Schutz, den sie barkeit der Europäischen Union beim Umgang mit der suchen, in Europa finden? Das ist auch eine Frage der Flüchtlingskrise erhöhen soll . Meine Meinung ist, dass Kapazitäten . Deshalb müssen wir darauf achten, dass wir diesen Vorschlag mit allem Nachdruck aufgreifen und diejenigen, die Anträge missbräuchlich stellen, schnellst- den Minister dabei unterstützen sollten, die EU-Kommis- möglich einen rechtsmittelfähigen Bescheid in der Hand sion aufzufordern, unverzüglich einen EU-Sonderbeauf- haben und wissen, dass sie wieder zurückgeführt werden . tragten für Flüchtlingspolitik zu berufen . Das ist gerade im Interesse der Flüchtlinge und der Men- schen, die bedroht sind, wichtig . Es ist richtig – darüber haben wir bereits gespro- chen –, dass auch der Einzelplan 05 einen Aufwuchs von Auf europäischer Ebene ist ein wichtiger Schritt, eine 400 Millionen Euro nicht nur für humanitäre Hilfe, son- gemeinsame Liste sicherer Herkunftsländer umzusetzen . dern auch für Krisenprävention aufweist . Wir können da- Auch die Hotspots sind ein guter Ansatz . Sie müssten rüber streiten, ob das ausreichend ist . Wir werden sicher- dann aber in der Zuständigkeit des betroffenen Landes lich die Entwicklung beobachten müssen, um zu wissen, liegen . Gerade Personen mit offensichtlich unbegrün- (B) ob wir eventuell in einem Nachtragshaushalt nachbes- deten Anträgen müssen wissen, dass es sich nicht lohnt, (D) sern müssen . Aber an dieser Stelle muss man einräumen: einzureisen, da man zügig und unverzüglich zurückge- Es ist ein deutlicher Aufwuchs vorhanden . führt wird . Die regionalen Fluchtursachen im Mittleren Osten Die ausschließliche Zuständigkeit eines Landes führt kann man nur wirksam bekämpfen, wenn der IS-Ter- dazu, dass der Anreiz genommen wird, in andere Mit- rorismus ausgelöscht wird . Wir sprechen natürlich von gliedstaaten überzusiedeln . Sie werden jetzt sagen: Na ja, einer politischen Lösung . Aber mit dem IS-Terrorismus diese Zuständigkeit haben wir ja schon . Dublin III nennt werden wir keine politische Lösung hinbekommen . Um man das Ganze . – Aber, meine Damen und Herren, Dub- unser Ziel zu erreichen, ist es ganz wichtig, dass in Sy- lin III ist eine Schönwettervorschrift gewesen . Sie passte rien, dem Irak und Libyen stabile politische Verhältnis- bei geringen Flüchtlingszahlen . Eins zu eins umgesetzt se herrschen, dass die Menschenrechte vor Ort beachtet würde diese Vorschrift für Deutschland bedeuten – Herr werden und dass dem Bürgerkrieg ein Ende bereitet wird . Präsident, ich bemühe mich, gleich zum Schluss zu Aber bevor wir das machen können – ob mit oder ohne kommen –, dass wir 3 000 Flüchtlinge im Jahr hätten, Bombardierung –, ist entscheidend, dass alle Beteilig- während Griechenland 300 000 Asylanträge bearbeiten ten – außer natürlich ISIS – an der Erreichung des Ziels müsste . Das hat zu Verwerfungen geführt . mitwirken . Wir können jetzt darüber streiten, eine Solidaritätsde- Eine Einigkeit im Sicherheitsrat wird durch Russland batte führen und ein Vertragsverletzungsverfahren ein- und China blockiert . Auch wenn die bisherigen Friedens- leiten, wie Juncker es will . Viel wichtiger wird es aber bemühungen nicht sehr erfolgreich waren, dürfen wir sein, ein neues System auf den Weg zu bringen, das auch keine Gelegenheit auslassen, hier jeden Impuls zu setzen, von den Ländern, die zurzeit sehr intensiv belastet sind, der möglich ist . geschultert werden kann – personell, materiell und auch finanziell. Das muss auf den Tisch gelegt werden. Alle (Beifall bei der CDU/CSU) möglichen Streitigkeiten, Solidaritätsfragen usw . bringen Staffan de Mistura, der EU-Sonderbeauftragte für Sy- uns nicht weiter . Wir können anderen vorwerfen, euro- rien, ist unermüdlich dabei – der Kollege Jung hat das päisch oder uneuropäisch zu sein, wir werden aber die schon erwähnt –, Gespräche zu führen und für eine Frage, die jetzt ansteht, so nicht lösen können . Befriedung zu sorgen . Aber zurzeit scheint das Format Vielen Dank . nicht gegeben zu sein, das geeignet ist, hier tatsächlich eine Befriedung herbeizuführen . Gemeinsam mit unse- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rem Kollegen , dem Vorsitzenden ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11659

(A) Vizepräsident Johannes Singhammer: Allerdings, meine Damen und Herren, ist es kein (C) Vielen Dank, Herr Kollege Seif .– Ich bewundere Ihre Grund zu großer Freude, wenn unsere Haushaltspositio- Gabe, im Rücken den Blick der Sitzungsleitung zu er- nen anwachsen, insbesondere bei der humanitären Hilfe; spüren . denn wir wissen: Wenn die Ansätze für die humanitäre Hilfe steigen, dann korrespondiert das damit, dass Not, Abschließender Redner in der Debatte zu diesem Elend und Leid in anderen Ecken der Welt herrschen . Wir Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alois Karl für die reden im Zusammenhang mit unseren Haushaltsansätzen CDU/CSU . darüber und versuchen, das einzudämmen . (Beifall bei der CDU/CSU) Das Anwachsen des Haushalts zeigt auch eine gewisse Verantwortung für andere in der Welt . Wenn irgendwo Alois Karl (CDU/CSU): heute Konfliktherde sind, räumlich oft weit weg von uns, Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten wird uns das alsbald einholen . „Heraushalten ist auch Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen keine Alternative“, hat die Bundeskanzlerin an diesem des Deutschen Bundestages! Wir haben jetzt viele inte- Platz einmal gesagt, und recht hat sie . ressante Reden gehört über die deutsche Außenpolitik, So ist unser Thema, sehr geehrter Herr Außenminister, über ihre Inhalte, über ihre Ziele, über ihre Absichten . die verantwortungsvolle Außenpolitik . Es gilt, Außenpo- Ich möchte meine Rede mit verschiedenen Danksa- litik in Verantwortung zu betreiben für Deutschland, für gungen beginnen, zunächst einmal an Sie, lieber Herr Europa, zusammen mit den europäischen Ländern und Kollege Lindner von den Grünen . Sie werden überrascht den USA . sein, dass man sich bei Ihnen bedankt; aber ich sage Außenpolitik werden wir nicht isoliert sehen kön- trotzdem: Sie haben als Einziger Inhalte des Haushaltes nen; denn sehr bald holen uns außenpolitische Konflikte des Auswärtigen Amtes angesprochen . Sie haben Zahlen auch in der Innenpolitik ein . Die Wanderungsbewegun- angesprochen, und darum geht es ja; darüber werden wir gen sind von fast allen Rednern angesprochen worden . uns in den nächsten Monaten unterhalten . 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, ha- Lieber Herr Außenminister Steinmeier, jetzt füge ich ben wir gehört . Seien wir ehrlich: Nur ein kleinerer Teil meinen Dank an Sie an . Es wird vielleicht auch Sie über- kommt nach Europa; Europa hat nur einen kleineren Teil raschen, dass ein CSUler sich bei Ihnen bedankt . Aber es dieser weltweit so beachtenswerten und beängstigenden ist in der Großen Koalition in der Tat nichts Ungewöhnli- Entwicklung zu schultern . Es ist richtig, was Sie, Herr ches, dass wir, die Partner, uns gut gefunden haben . Außenminister, gesagt haben und was du, lieber Franz Josef Jung, gesagt hat: dass es in der Tat eine europäische (B) (Dr . Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE Aufgabe ist, dieses Problem anzugehen und dieses Prob- (D) GRÜNEN]: Herr Steinmeier, den Tag müssen lem zu schultern . Sie im Kalender rot anstreichen!) Viktor Orban hat gewiss nicht recht, wenn er sagt, das Dies ist eine politische Konstellation, die uns in Bayern sei ein deutsches Problem . Wir machen unseren Job, in durchaus versagt ist . So wie es dort nicht nötig ist, über den letzten Wochen und in den letzten Tagen in außer- Große Koalitionen nachzudenken, ordentlichem Engagement und mit außerordentlicher (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, Hingabe . Wir erfüllen unsere Aufgabe . Aber ich meine der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE schon, dass wir uns hier auch ehrlich machen müssen, GRÜNEN) dass wir hier nicht jedes Jahr 800 000 oder 1 Million Flüchtlinge, Bürgerkriegsflüchtlinge vertragen können, so ist es hier angebracht, für die gute Zusammenarbeit dass das in der Tat eine europäische Aufgabe ist . mit Ihnen persönlich, mit Staatsminister Roth, mit der Kollegin Professor Böhmer und anderen zu danken . Sie Sie hatten recht, Herr Bundesaußenminister, als Sie alle haben uns bis dato gute Informationen geliefert . Da- bei der Konferenz der deutschen Botschafter vor weni- rauf werden wir in den nächsten Monaten in der Tat auf- gen Tagen gesagt haben, dass die Staaten des Balkans – bauen, und wir werden zu guten Ergebnissen kommen . Albanien, Kosovo, Montenegro – zu den sicheren Her- kunftsstaaten gehören müssen . Wenn die auf der einen Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit unserem Seite den Antrag stellen, in die Europäische Union auf- Haushalt, dem Haushalt des Auswärtigen Amtes, bewe- genommen zu werden, aber auf der anderen Seite Verfol- gen wir uns in der Tat auf einem spannenden Terrain . gerstaaten sein sollen, dann passt das nicht zusammen . Wir befinden uns sozusagen im Schnittpunkt zwischen Das müssen wir hier auch klar und deutlich sagen . Haushaltspolitik und Außenpolitik, also den Main Points unserer politischen Gestaltung . (Beifall bei der CDU/CSU – Zustimmung der Abg . [SPD]) Wir wissen, dass all dies, das, was heute schon vor- getragen worden ist, und das, was noch hinzukommt, Wenn 99 Prozent der Flüchtlinge von dort keine Aner- kennung erhalten – weniger als 1 Prozent ist die Aner- auch finanziert werden muss. Es ist davon gesprochen kennungsquote –, dann ist das in der Tat massenhafter worden, dass wir ein Aufwachsen unseres Haushaltes Missbrauch, von dem vorhin schon gesprochen worden von 3,7 Milliarden Euro in diesem Jahr auf 4,4 Milliar- ist . den Euro im nächsten Jahr sehen . Wenn dann noch die Zuschläge dazukommen, über die am Sonntag verhandelt Auch das, was vorhin zu den Hilfsmaßnahmen in an- worden ist, dann wird das noch mehr werden . deren Ländern zur Bekämpfung der Fluchtursachen ge- 11660 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Alois Karl (A) sagt worden ist, ist von niemandem zu bezweifeln . Heute nicht ausschlagen . Darin sehen wir eine Wertschätzung (C) früh hat im Morgenmagazin des deutschen Fernsehens unserer Politik . ein Herr Kleinschmidt gesprochen, der Leiter einer gro- ßen Flüchtlingsauffangstation in Jordanien gewesen ist . Meine Damen und Herren, zufällig werden im nächs- Er sagte: Mit 3 Milliarden Euro – das ist der Beitrag, den ten Haushalt 20 Millionen Euro auch wieder frei . Dieser wir seit Sonntag aus dem Bundeshaushalt leisten wollen; Betrag war als unser Beitrag für unsere G-8-Präsident- 3 weitere Milliarden gibt es für die Bundesländer – könn- schaft in den Haushalt eingestellt. Ich finde es richtig, ten wir die Menschen in Syrien wieder so weit ernähren, dass sich die Staats- und Regierungschefs auf Schloss dass sie nicht auf die Idee kommen, wegzugehen und den Elmau in Oberbayern getroffen haben und in der Öf- gefährlichen Weg nach Europa einzuschlagen . fentlichkeit und nicht hinter verschlossenen Türen tagen konnten . Ein Punkt, meine Damen und Herren, ist meines Er- achtens etwas zu kurz gekommen . Wir haben in den Ich sage auch in diesem Zusammenhang ein Wort des vergangenen Jahren manche Länder als Failed States, Dankes, nämlich an unsere Polizeieinheiten aus ganz als gescheiterte Staaten, bezeichnet . Ich habe mit dem Deutschland, die unter der Polizeiführung Bayerns die- Bundesaußenminister und auch mit dem Minister Gerd sen Gipfel so wundervoll friedlich über die Bühne haben Müller darüber gesprochen . Zum Beispiel Eritrea wird gehen lassen . Auch das trägt zu einem hellen und positi- von uns seit Jahren nicht beachtet . Eine große Flücht- ven Deutschlandbild bei . Es ist nicht eine Fensterschei- lingswelle kommt aus Eritrea nach Deutschland . Na- be zu Bruch gegangen . Wenn ich mir dagegen anschaue, türlich herrschen da keine Verhältnisse wie bei uns . De- wie wenige Wochen vorher die Europäische Zentralbank mokratie, Rechtsstaatlichkeit, freie Meinungsäußerung, freie Presse, das alles ist nicht gegeben . Aber wenn wir in Frankfurt eingeweiht worden ist: Dort haben bürger- denen mit unserem Geld auf die Sprünge helfen würden, kriegsähnliche Zustände geherrscht . glaube ich, hätten wir vieles erreicht . (Dr . Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE Meine Damen und Herren, um die Flüchtlingsfrage abzu- GRÜNEN]: Das trotz CDU-Regierung!) schließen: Manchmal meine ich, wir sind in Europa auch In Bayern war es so, lieber Herr Lindner, dass man die- etwas geschichtsvergessen . Wir sind geschichtsverges- sen Gipfel mit einem Kaffeekränzchen hätte verwechseln sen, weil wir uns nicht mehr darauf besinnen, dass sich können . Dort müssen Sie mal hinfahren und nicht nur Europa aus den Idealen der Aufklärung und der Französi- nach Jordanien, in den Libanon oder sonst wo hin . schen Revolution – Humanität, Achtung der Menschen- rechte – entwickelt hat . In der Französischen Revolution (Beifall bei der CDU/CSU) ist neben der „liberté“, der Freiheit, und der „égalité“, der (B) Gleichheit, auch die „fraternité“, die Brüderlichkeit, be- Es ist bemerkenswert, dass unsere Polizeieinheiten das (D) schworen worden . „Brüderlichkeit“ sagt man heute nicht so hervorragend geschafft haben . mehr, man sagt: Solidarität . Zu dieser Solidarität gehört Meine Damen und Herren, wir pflegen unsere Bezie- auch ein gemeinschaftliches Zusammenstehen . hungen zum Ausland . Wir sind gute Nachbarn in Europa . In der Tat: Es ist eine europäische Aufgabe . Versagt Wir wirken an der Gestaltung des friedlichen Zusam- hat nicht Europa mit seinen Institutionen . Im Gegenteil: menlebens mit . Wir treiben eine gestaltende Außenpoli- Der oft gescholtene Jean-Claude Juncker hat manches tik . Ich danke all denen herzlich, die daran mitgewirkt Positive gesagt, zuletzt heute Vormittag . Versagt haben haben, und freue mich auf die nächsten Monate, wo wir oft die europäischen Länder, die sich weigern, Flücht- in intensiven Verhandlungen den Haushalt aufstellen linge anteilig aufzunehmen . Es ist für mich ein Skandal, werden, damit wir auch im nächsten Jahr unseren Beitrag dass von den 28 EU-Ländern 22 keinen Finger rühren für Frieden und Freiheit in Europa und darüber hinaus wollen, um dieses Problem, das ein europäisches Prob- leisten können . lem ist, zu lösen, sondern dass das sechs Länder alleine schultern sollen, ganz wesentlich Deutschland . Vielen herzlichen Dank . (Beifall bei der CDU/CSU – Zustimmung der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Abg . Doris Barnett [SPD]) ordneten der SPD) Meine sehr geehrten Damen und Herren, man müsste vieles Weitere über die Außenpolitik sagen . Die OSZE Vizepräsident Johannes Singhammer: feiert ihren 40 .Geburtstag . Über die OSZE ist auch das Danke .– Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzel- Minsker Abkommen, an dem Frau Merkel beteiligt war, plan liegen nicht vor . Deshalb verlassen wir den Ge- verhandelt worden . Wir sind sehr dankbar, dass damit zu- schäftsbereich des Auswärtigen Amtes . mindest ein erster guter Schritt gemacht worden ist . Es handelt sich dabei um einen labilen Frieden; er ist nicht Wir widmen uns jetzt dem Geschäftsbereich des stabil . Das wissen wir . Bundesministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14. Wir freuen uns, dass wir für das nächste Jahr den Ich bitte die Kollegen, die an diesem Teil der Ausspra- Vorsitz in der OSZE übernehmen sollen . Das kostet uns che teilnehmen wollen, ihre Plätze einzunehmen . Dieje- 20 Millionen Euro . Man könnte sagen: Gut, das Geld nigen Kolleginnen und Kollegen, die diesem wichtigen könnte man auch für etwas anderes ausgeben .– Aber es Teil der Aussprache nicht folgen wollen, bitte ich, den ist in der Tat wichtig, dass wir dieses ehrenvolle Angebot Plenarsaal zu verlassen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11661

Alois Karl (A) Das Wort hat zu Beginn die Bundesministerin unsere Ausbildungsmission im Nordirak . Frank-Walter (C) Dr .Ursula von der Leyen, der ich hiermit das Wort er- Steinmeier hat zu Recht von der Beharrlichkeit gespro- teile . chen, die wir an den Tag legen müssen . (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Mir ist voll und ganz klar, dass man mit Militär nicht Bärbel Bas [SPD]) Fluchtursachen bekämpfen kann . Aber wir haben nicht vergessen, wie letztes Jahr, genau um diese Zeit, der Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der „Islamische Staat“ den Norden des Iraks quasi zu über- Verteidigung: rennen drohte und die Jesiden ins Sindschargebirge ge- Vielen Dank .– Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und trieben hat . Damals war es richtig und heute ist es nach Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das wie vor sinnvoll, beherzt einzugreifen, die Peschmerga Flüchtlingsthema dominiert zu Recht diese Haushaltsde- auszurüsten und auszubilden, damit sie Raum schaffen batte . Mitten im Herzen Europas erleben wir unmittel- können, um die Flüchtlinge zu schützen, aber vor allem bar, wie rings um das Mittelmeer Tausende Menschen ihr um ihr Staatsgebilde aufrechtzuerhalten . Insofern ist Leben riskieren, um aus den Krisenregionen zu flüchten. auch dieser Einsatz sinnvoll und mit großem Bedacht Hier im Land erleben wir eine überwältigende Hilfsbe- weiterzuführen . reitschaft, mit der diese Menschen aufgenommen wer- (Beifall bei der CDU/CSU) den . Das Gleiche gilt für EUTM Mali, wo im Juli gerade Auch die Bundeswehr möchte ihren Beitrag dazu ein deutscher General die Missionsführung übernommen leisten . Wir haben allein in den letzten Wochen über hat . Und es gilt natürlich auch für EUNAVFOR Med, un- 14 000 Unterkunftsplätze in 41 Liegenschaften geschaf- seren Einsatz im Mittelmeer . fen . Allein in den letzten vier Tagen, als die Flücht- lingszahlen noch einmal deutlich angestiegen sind, sind Sie alle wissen, dass wir seit Mai zwei Schiffe im Mit- 4 000 Unterkunftsplätze aus dem Boden gestampft wor- telmeer im Einsatz haben . Im Augenblick sind das die den: in Hessen, in Sachsen, in Thüringen, in Bremen, in „Schleswig-Holstein“ und die „Werra“, die bisher über Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen . Und jeden 7 200 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet und ihnen Tag kommen neue Anfragen . somit das Leben gerettet haben . Ich bin besonders dankbar für das freiwillige Engage- Meine Damen und Herren, ich bin voller Hochachtung ment unserer Männer und Frauen in der Bundeswehr . vor der deutschen Marine, die bei diesem Einsatz, der ihr Unendlich viele helfen . Es haben sich allein 350 Ange- weiß Gott nicht ins ursprüngliche Lastenheft geschrieben war, über sich hinauswächst . Was die Marine dort leistet, (B) hörige der Bundeswehr gemeldet, um im Bundesamt für (D) Migration und Flüchtlinge Amtshilfe zu leisten . Ganz ist außergewöhnlich . viele helfen unter dem Stichwort „Helfende Hände“, sei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- es am Dortmunder Bahnhof oder in Thüringen, von wo ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ kurzfristig Hilfsanfragen kommen . Viele unterstützen bei DIE GRÜNEN) der allgemeinen Versorgung und Betreuung, aber auch beim Transport . Busse und Busfahrer werden von der Ja, wir sind in der ersten Phase der Seenotrettung, und Bundeswehr gestellt . Geholfen wird beim Aufbau der es wird einen Übergang in die zweite Phase geben . Wir Unterkünfte . Es werden Zäune errichtet und Zufahrtswe- werden im September gemeinsam ein Mandat dazu er- ge geschaffen . Wir helfen mit Zelten, mit Betten, mit Kü- arbeiten . Ich sage ganz deutlich: Die Seenotrettung geht chengeräten und mit mobilen Röntgengeräten . Sanitäter weiter und hat oberste Priorität . sind dabei, und zehn Ärzteteams sind aufgestellt worden . Ich möchte aber mit Blick auf die zweite Phase einen Meine Damen und Herren, ich glaube, ich spreche im Punkt aus der Debatte von heute Morgen ansprechen . Die Namen des Hohen Hauses, wenn ich sage: Für dieses Fraktionsvorsitzende der Grünen hat im Zusammenhang verlässliche, schnelle und unkomplizierte Anpacken dan- mit der Schlepperbekämpfung gesagt, wir sollten nicht ken wir von Herzen unseren Soldatinnen und Soldaten „Schiffe versenken“ spielen . Meine Damen und Herren, sowie den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern . ich finde, das Thema in solch einer Tonart zu diskutieren, ist vollkommen unangemessen . Das ist kein Spiel; das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bitterer Ernst . bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg . Michael Leutert [DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) LINKE]) Wir werden das ausführlich diskutieren . Mir ist aber Die Bundeswehr ist natürlich maßgeblich auch au- wichtig, dass Sie sich wie auch ich in den letzten Wo- ßerhalb unseres Landes engagiert, in Missionen, die mit chen und Monaten informieren über die Art dieser Mis- großer Mehrheit hier im Hohen Hause legitimiert wor- sion, über die Erkenntnisse, die wir inzwischen gewon- den sind . Das gilt für Resolute Support in Afghanistan, nen haben, über die Netze organisierter Kriminalität der wo wir mit großer Behutsamkeit und lageabhängig die Schlepper und Schleuser, die dort ihr Unwesen treiben . zeitliche Dauer besonnen betrachten müssen . Das gilt für Es ist natürlich nicht die Lösung, damit sind natürlich KFOR auf dem Balkan . Das gilt natürlich aber auch für nicht die Fluchtursachen beseitigt, aber es ist ein gewich- die Regionen, die oft Ursprungsländer für die derzeitigen tiges Mittel, da die Schlepper und Schleuser im System Flüchtlingsbewegungen sind . Ich nenne zum Beispiel organisierter Kriminalität brutalst vorgehen und Milliar- 11662 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) den verdienen . Das können wir nicht einfach geschehen Die Modernisierung der Bundeswehr geht aber in vie- (C) lassen . Dagegen müssen wir vorgehen . len Feldern weiter . Gerade wenn wir spüren, wie sich das sicherheitspolitische Umfeld und damit natürlich auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) unser Auftrag ändert, gerade in solchen Zeiten dürfen wir uns nicht nur auf die neuen Herausforderungen konzen­ Meine Damen und Herren, ohne das Engagement der trieren – das ist die Hauptaufgabe –, sondern müssen wir Bundeswehr könnte Deutschland auf viele politische auch immer eine kritische Nabelschau anstellen, damit Zusagen weltweit keine Taten folgen lassen . Ich möch- wir sehen, ob wir auch gut genug aufgestellt sind . te hier noch einmal betonen, dass Diplomatie und wirt- schaftliche Zusammenarbeit immer Vorrang haben . Ich Das sage ich natürlich ganz bewusst . Wir haben näm- bin der festen Überzeugung: Diplomatie hört nie auf, nie . lich im letzten Jahr einen ersten groben Blick auf das Aber wenn wir einmal gerufen werden – und alle hier Personalstrukturmodell bzw . den sogenannten Personal- im Raume wissen, dass es entsprechende Momente im körper der Bundeswehr – 250 000 in der Zielstruktur – letzten Jahr gab –, wenn wir einmal gefordert sind, dann geworfen . Sie wissen, dass wir die Schichtung zwischen setzt sich die Bundeswehr auch gleichermaßen beherzt Berufs- und Zeitsoldaten mit einem Plus von 5 000 Be- und besonnen ein . rufssoldaten bereits in einem ersten Schritt angepasst haben . Es gab auch ein Plus von 1 000 zivilen Beschäf- Wir nehmen zusätzlich zu den mandatierten Einsätzen tigten . Dennoch müssen wir jetzt im Detail gucken, ob natürlich auch viele Verpflichtungen wahr, die nicht man- der Personalkörper richtig dimensioniert und richtig datiert sind, sei es die schnelle Speerspitze der NATO, sei geschichtet ist, ob also die Fachkräfte und die Gruppen es die OSZE-Beobachtermission in der Ukraine, seien es in der Anzahl und ihrer Aufstellung so sind, wie wir sie Daueraufgaben wie die Luftraumüberwachung im Balti- angesichts unserer Aufgaben brauchen . Wir müssen beim kum . Allein dadurch sind insgesamt 13 500 Soldatinnen freiwilligen Wehrdienst unbedingt genauer hinschauen, und Soldaten gebunden, und es wird nicht ruhiger . Bernd nämlich beim Verhältnis zwischen fixen Dienstposten Ulrich hat es in der Zeit sehr plastisch ausgedrückt, in- und flexiblen Dienstposten. Da die Nachfrage sehr viel dem er schrieb, die Krise sei heute das Normale, und von größer ist, werden wir die Zahl der fixen Dienstposten der Gleichzeitigkeit der Krisen, ihrer Geschwindigkeit erweitern; aber wir müssen uns auch verstärkt mit der und der Haltlosigkeit sprach . Das stimmt . Die Felder, auf Qualität der freiwillig Wehrdienst Leistenden beschäf- denen wir für Frieden und Freiheit kämpfen, werden un- tigen . Wir müssen schauen, ob diese hochmotivierten endlich viel komplexer, die Vorwarnzeiten immer kürzer . Menschen, die freiwillig kommen, ihre Aufgaben sinn- Und neben vielen Instrumenten, die eben auch in dieser voll erfüllen können, ob sie bei uns tatsächlich das fin- ausgezeichneten Debatte vor der Beratung unseres Haus- den, was sie suchen . Das ist die vor uns liegende Aufgabe (B) haltes diskutiert worden sind, brauchen wir dazu auch (D) der nächsten Wochen und Monate . Streitkräfte, die modern aufgestellt, vielseitig einsetzbar und vor allem solide finanziert sind. Im Verteidigungsministerium werden wir mit Blick (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- auf die nachgeordneten Behörden prüfen, wie die Aufga- ordneten der SPD) ben verteilt sind, ob Strukturen, Aufgaben, Personalzu- ordnung und -bedarf zueinanderpassen . Ich sage das sehr Wir haben in diesem Hohen Hause sehr wohl die bei- bewusst, weil wir in den letzten Monaten gemeinsam den Pfeiler besprochen, auf denen unsere Arbeit ruht: erlebt haben, dass sich uns viele Fragen gestellt haben: einerseits für das Personal die Agenda Attraktivität und Warum sind Prozesse so langsam? Warum dauert es so andererseits im Bereich Rüstung die Agenda Rüstung . lange, bis wir eine konsistente Information oder Entschei- Wir haben jetzt über die Hälfte der 30 untergesetzli- dung hinbekommen? Das hat auch damit etwas zu tun, chen Maßnahmen mit der Agenda Attraktivität ganz oder dass nach der Neuaufstellung, die in ihrer Grundstruktur teilweise umgesetzt . Man spürt, dass sich etwas verän- richtig ist, jetzt der Blick auf die Prozesse schärfer wird: dert . Die Bewerberquote ist spürbar gestiegen . Schon im Wie arbeiten die einzelnen Ebenen zusammen? Wie ist letzten Jahr haben sich 59 000 Menschen um militärische die Abstimmung? Wer hat welche Rolle? Wir sehen hier Dienstposten beworben . Allein in der ersten Jahreshälfte einiges, das überarbeitet werden muss . Das heißt, wir 2015 waren es bereits über 36 000 Bewerbungen . Mei- werden eine Organisationsanalyse durchführen, und wir ne Damen und Herren, gerade in einer Zeit, in der es in werden dieser einen Aufgabenkritik anschließen . Deutschland so viele offene Stellen, so viele Angebote Wenn auf Dauer unser oberstes Ziel ist, einsatzbereit, zur Ausbildung gibt wie nie zuvor, bestärkt uns das, dass stark und den Aufgaben gewachsen zu sein, dann müssen wir hier auf dem richtigen Weg sind . wir unseren Personalkörper so aufstellen, dass die Men- Die Agenda Attraktivität wirkt inzwischen im Alltag schen diese Aufgaben auch bewältigen können . Das ist der Truppe . Die ersten Satellitentelefone sind im Einsatz . das Ziel dieser neuen Aufgabe, die vor uns liegt . Seit dem 1 .Juli können die Soldatinnen und Soldaten der Eine zweite entscheidende Voraussetzung für die eben ersten seegehenden Einheiten damit grundsätzlich kos- skizzierten Themen ist eine professionelle Ausrüstung . tenlos telefonieren . Wir haben die Agenda Rüstung gemeinsam viel disku- Seit dem 22 . Mai ist auch, wie wir alle wissen, das tiert . Hier ist noch eine lange Strecke zu gehen, aber die Artikelgesetz in Kraft . Ich möchte mich an dieser Stelle ersten Schritte sind gemacht . Wir entscheiden . In der ers- bei Ihnen für Ihre Unterstützung gerade auch bei diesem ten Hälfte der Legislaturperiode haben wir 18 sogenann- Artikelgesetz von ganzem Herzen bedanken . te 25-Millionen-Euro-Vorlagen auf den Weg gebracht . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11663

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) Dahinter stehen Rüstungsprojekte mit einem Haushalts- Schlussendlich noch zwei Themen . Wir werden (C) volumen von rund 5,2 Milliarden Euro . Strukturen innerhalb des Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr Das und vieles mehr steckt in den für 2016 vorgese- (BAAINBw) verändern, weil wir erkannt haben, dass die henen 34,4 Milliarden Euro für den Einzelplan 14 .Er Großprojekte und die kleinen Projekte über einen Kamm wächst damit gegenüber dem Regierungsentwurf 2015 geschoren werden, was die Projektorganisation angeht . um rund 750 Millionen Euro . Damit gelingt es uns, die Ob es der Stiefel ist oder der Eurofighter oder IT-Füh- jahrelange Abwärtsspirale zu stoppen und eine Trend- rungssysteme – one size fits all. Wir werden die drei wende einzuleiten . Das ist auch notwendig; denn wir großen neuen Projekte – MKS 180, TLVS/MEADS und haben einen enormen Nachholbedarf . Das wissen alle, die Euro-Drohne – innerhalb des BAAINBw mit einer die sich tiefer mit diesen Themen beschäftigt haben . Es eigenen Struktur und eigenem Personal einkapseln, da- gilt jetzt, diesen aufzuholen, insbesondere im Zusam- mit Juristen, Techniker, Wirtschafter konsequent dieser menhang mit dem Thema Materialerhalt . Die Mittel da- Struktur zugeordnet arbeiten können . Heute haben wir für steigen um 3,3 Prozent, zum Beispiel im Bereich der oft den Fall, dass die Aufgaben versäult sind und ein Ju- Luftfahrzeuge . rist zum Beispiel einmal 10 Prozent seiner Arbeitszeit für Wir wissen, wie mühsam diese Aufgabe ist; aber sie den A400M aufwendet, um dann am nächsten Projekt zu ist unerlässlich und schlichtweg eine Verpflichtung ge- arbeiten . Bei den großen Projekten brauchen wir in sich genüber unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch geschlossene Teams, die dann konzentriert an der großen unseren NATO-Verbündeten dahin gehend, dass sie sich Aufgabe arbeiten . Wir werden dort einen starken Projekt- auf uns verlassen können . leiter, vergleichbar mit dem Generalsrang, aufsetzen, der dann direkt im BAAINBw mit der Rüstungsstaatsekretä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rin die Dinge weiterentwickeln kann . ordneten der SPD) Damit dieser Rahmen aus Personal, Rüstung und den Vizepräsidentin : langfristigen Aufgaben und groß angelegten Projekten, Frau Ministerin, Sie haben Ihre Redezeit schon deut- den ich eben skizziert habe, nachhaltig solide finanziert lich überschritten . ist, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens müssen wir die aktuelle Linie von mindestens Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der 1,17 Prozent in Relation zum BIP halten . Dass wir das Verteidigung: erreicht haben, ist ein Erfolg . Gott sei Dank haben wir Ja, Sie haben recht . – Dann sage ich einen letzten Satz: eine starke Wirtschaft; diese führt zu einem starken BIP . Das eine war, wie wir es machen, das andere ist, mit wem (B) Das heißt: Wenn wir die Linie halten wollen, müssen wir wir es machen . Vielleicht spare ich mir das für die nächs- (D) uns noch mehr anstrengen . Das wissen wir . te Rede auf, die ich in diesem Hohen Hause halte . Zweitens müssen wir aber sicherstellen, dass wir mittel- fristig 20 Prozent dieser Mittel in unsere materielle Aus- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: stattung investieren können . Da sind wir beileibe noch Wunderbar . nicht . Das ist unverzichtbar; denn sonst haben wir nicht die Möglichkeit, die Ausrüstung der Bundeswehr, die sie Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der im Alltag in den Einsätzen braucht, zu regenerieren . Es Verteidigung: geht also um das Basisgeschäft, darum, dass sie für die Ich bitte Sie um Zustimmung zum vorliegenden Ent- Einsätze angemessen ausgerüstet ist . Ich spreche zum wurf . Beispiel von geschützten Fahrzeugen oder Funkgeräten . Vielen Dank . Wir brauchen aber auch die Mittelsicherheit, um lang- fristig geplante Rüstungsvorhaben finanzieren zu kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nen, mit denen wir Fähigkeitslücken schließen wollen; ich nenne das Stichwort „Aufklärung“ . Zudem brauchen Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: wir die Planbarkeit der Mittel, damit wir die Bundes- Als nächster Redner hat Michael Leutert von der Lin- wehr so aufstellen können, dass sie eine an den Aufga- ken das Wort . ben orientierte, strukturgerechte und bedarfsgerechte Ausstattung hat . Was verbirgt sich hinter diesem Satz? (Beifall bei der LINKEN) Dahinter verbirgt sich, dass wir gemeinsam beschlossen haben, das sogenannte dynamische Verfügbarkeitsma- Michael Leutert (DIE LINKE): nagement – alle hier im Raum wissen, was das ist – gar Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr nicht erst einzuführen, weil es eine Verwaltung des Man- geehrte Frau Ministerin! In der Türkei können wir derzeit gels ist . Das heißt aber, dass wir uns fragen müssen: Was beobachten, wie falsche politische Entscheidungen zu im- sind die Aufgaben? Was ist der Bedarf? Wie können wir mer komplexeren Problemen werden und geradezu in einem die teilweise hohlen Strukturen, die sich gebildet haben, Desaster enden können . Ich möchte einmal daran erinnern: auffüllen? Wir müssen also den Blick nach vorne richten Seit 2011 herrscht in Syrien Bürgerkrieg . Die Türkei unter- und für eine nachhaltige Finanzierung sorgen, damit wir stützte von Anfang an die syrische Opposition gegen Assad . das angelegte Konstrukt tatsächlich mit Leben erfüllen Dadurch kam es auch an der türkisch-syrischen Grenzen zu können . militärischen Zwischenfällen . Aus diesem Grund startete 11664 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Michael Leutert (A) im Januar 2013 eine NATO-Operation, und es wurden deut- Schauen wir auf einen anderen Krisenherd: Afghanis- (C) sche Soldaten zum Schutz des Bündnispartners in die Re- tan . 2002 ist die Bundeswehr nach Afghanistan gegan- gion geschickt . Im Grenzgebiet zwischen Irak, Syrien und gen . Die Begründungen für den Einsatz gegenüber der der Türkei leben die Kurden . Die Schwäche Assads führte deutschen Öffentlichkeit waren sehr vielfältig . Es ging dazu, dass die Kurden in Syrien gestärkt wurden – sehr zum um den Kampf gegen den Terror . Es ging darum, Frau- Missfallen der Türkei . Seit 2014 kämpft nun die Terroror- en- und Menschenrechte zu etablieren . Es ging darum, ganisation IS nicht nur gegen Assad, sondern auch gegen die Freiheit am Hindukusch zu verteidigen . Es ging dar- die Kurden . Deshalb unterstützte die Türkei nun auch den um, Stabilität zu schaffen usw . usf . Seit Ende 2014 ist der IS . Da der Westen aber wiederum den IS bekämpft, lieferte Kampfeinsatz beendet . Die Kosten nur des Kampfeinsat- die Bundeswehr Waffen an die Kurden, damit diese sich ge- zes belaufen sich auf ungefähr 6 Milliarden Euro . Ihr Mi- gen den IS verteidigen können . Und nun, im Sommer dieses nisterium gibt jedes Jahr zusätzlich 80 Millionen Euro für Jahres, eskalierte der Konflikt zwischen den Kurden und der den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte aus . Das Türkei . Erdogan bekämpft die Kurden nun militärisch im Auswärtige Amt gibt noch einmal jedes Jahr 180 Mil- eigenen Land und in den Nachbarländern Syrien und Irak . lionen Euro zur Stabilisierung und das BMZ 245 Mil- Gestern ist die türkische Armee erstmals auf irakisches Ter- lionen Euro für den Wiederaufbau . Das heißt also: Es ritorium vorgerückt . wird über eine halbe Milliarde Euro allein für den Auf- Unterm Strich heißt das: Die Armee des NATO-Mit- bau der Gesellschaft in Afghanistan ausgegeben . Und glieds Türkei kämpft gegen die Kurden, die Kurden was ist das Ergebnis? Das Ergebnis ist: Terror ist dort wehren sich, mit deutschen Waffen ausgestattet, und mit- Alltag, Frauenrechte werden nicht eingehalten, Presse- tendrin sind unsere Bundeswehrsoldaten . Somit sind wir und Meinungsfreiheit existieren nicht, Folter wird weiter Teil eines Konfliktes, dazu noch auf unterschiedlichen angewandt, und die Scharia ist gültige Rechtsgrundlage . Seiten, und dieser Konflikt ist die Ursache dafür, dass Auch hier bleibt uns im Nachgang nur die Möglichkeit, 12 Millionen Menschen auf der Flucht sind . Schadensbegrenzung für die Zukunft zu üben und die richtigen Lehren daraus zu ziehen . Man kann eine Ge- Ein Teil dieser Flüchtlinge versucht, mit Schlepperboo- sellschaft nicht von außen und erst recht nicht mit militä- ten über das Mittelmeer nach Europa zu kommen . Dort rischen Mitteln nach unserem Vorbild umformen . ist wiederum die Bundeswehr im Einsatz, um die Men- schen vor dem Ertrinken zu retten . Das ist doch ein ab- (Beifall bei der LINKEN) surder Zustand . Und gleich für die Zukunft – Sie hatten es angespro- (Beifall bei der LINKEN) chen, weil es diskutiert wird -: Man kann Europa nicht abriegeln, weder mit Stacheldraht noch mit Mauern – (B) Ich möchte an dieser Stelle ganz klar sagen: Ja, ich fin- und im Übrigen auch nicht mit einem Kampfeinsatz ge- (D) de es richtig, dass wir den Soldatinnen und Soldaten, die gen Schlepper . Diese Probleme sind nicht mit militäri- im Mittelmeer in Not geratenen Menschen unter hohem schen Mitteln zu lösen . So viel sollten wir mittlerweile persönlichen Einsatz helfen, danken . Ich will deutlich gelernt haben . unterstreichen: Es geht um jedes Menschenleben, das ge- rettet werden kann . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Angesichts der Erfahrungen und angesichts der gro- ßen Herausforderungen, vor denen wir derzeit stehen – Sehr geehrte Frau Ministerin, ich weiß, dass Sie für all die enormen Flüchtlingsbewegungen, Krieg in Syrien, diese Dinge nicht alleine verantwortlich sind – all das Terror im Irak, Instabilität in Afghanistan –, sollten wir hat der Bundestag beschlossen -; aber ich frage Sie, ob noch einmal darüber nachdenken, ob die Prioritäten hier Sie diese Situation nicht auch etwas absurd finden. Wenn richtig gesetzt werden . Wäre es jetzt nicht vielleicht man sich jetzt noch überlegt, dass der Bundeswehreinsatz sinnvoller und wichtiger, in diesen Regionen erst ein- in der Türkei bis zum Abzug 60 Millionen Euro gekostet mal für Stabilität zu sorgen und dafür die Mittel in die hat und die Waffenlieferungen noch einmal 70 Millionen Hand zu nehmen? Stattdessen soll der Verteidigungsetat Euro – das macht zusammen 130 Millionen Euro -: Glau- um 1,4 Milliarden Euro erhöht werden . Das, liebe Kol- ben Sie rückblickend nicht auch, dass es sinnvoller gewe- leginnen und Kollegen, ist der falsche Weg . Die Linke sen wäre, dieses Geld nur für die Rettung von Flüchtlin- will die Prioritäten anders setzen, und wir werden in den gen im Mittelmeer einzusetzen? kommenden Verhandlungen entsprechende Vorschläge (Beifall bei der LINKEN) unterbreiten . In der Türkei kann man jetzt nur noch Schadensbegren- Vielen Dank . zung üben, und das heißt ganz klar: Erstens . Es muss einen (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens sofortigen Abzug der Bundeswehrsoldaten aus der Türkei geben, nicht erst nächstes Jahr, wenn der Einsatz zu Ende [CDU/CSU]: Warum nicht jetzt schon?) ist; zu Weihnachten müssen alle gesund und munter zu Hause sein . Zweitens . Setzen Sie sich mit dafür ein, das Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: PKK-Verbot aufzuheben! Damit würde man gegenüber Vielen Dank .– Als nächste Rednerin hat Karin der Türkei ein deutliches Zeichen setzen, dass wir eindeu- ­Evers-Meyer von der SPD-Fraktion das Wort . tig an der Seite derjenigen stehen, die den IS bekämpfen . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11665

(A) Karin Evers-Meyer (SPD): litionärin, sondern auch, weil ich durchaus bereit bin, an (C) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Ministerin von der die Ernsthaftigkeit Ihres Tuns zu glauben . Leyen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu Be- Einen Wunsch hätte ich in diesem Zusammenhang ginn der anstehenden Haushaltsberatungen über den Ver- aber: Teilen Sie diese Einschätzung mit Ihren Leuten; teidigungsetat zwei Dinge klarstellen: Erstens . Eine gro- denn nach wie vor höre ich mir an, dass das Problem der ße Mehrheit der Kollegen hier im Parlament sieht sehr nicht abgeflossenen Haushaltsmitteln eigentlich Folge wohl die Notwendigkeit und ist auch bereit, die Bundes- der Jährlichkeit des Haushalts sei und dass die Haushäl- wehr und unsere Soldaten wieder vernünftig auszustat- ter doch endlich einmal mehr Flexibilität zeigen sollten . ten . Es gibt die Bereitschaft, Geld in die Hand zu nehmen Das, sehr verehrte Kollegen, weise ich hier ausdrücklich und zu investieren; denn für jeden ist offensichtlich, dass zurück . Ich bin die Letzte, die etwas gegen mehr Flexi- einige Sparentscheidungen der letzten Jahre schlichtweg bilität in der Verwaltung hätte; aber dass die A400M na- falsch waren . türlich völlig überraschend nicht ausgeliefert werden und Ich möchte hier ein letztes Mal das dynamische Ver- man in Sachen Regress mehr oder weniger in die leere fügbarkeitsmanagement nennen, bevor wir es – hoffent- Panzerröhre guckt, liegt nicht an der mangelnden Flexi- lich – endgültig zu Grabe tragen . Da müssen Soldaten bilität des Haushalts . Die Gründe dafür kennen wir alle: doch tatsächlich die ihnen verbliebene Ausrüstung quer langatmige Beschaffungsentscheidungen, Goldrandfan- durch die Republik fahren, damit alle Kameraden we- tasien, mangelndes Risikomanagement und schlechtes nigstens einmal im Jahr mit dem Gerät üben können, mit Vertragsmanagement . dem sie später, im Ernstfall, arbeiten sollen . Vielleicht Das Problem ist auch nicht, dass Rüstungsbeschaf- können wir irgendwann einmal darüber lachen; aber das fungen etwas Einzigartiges und Komplexes sind . Das war ernst gemeint . Das Schlimme ist: So etwas lässt sich würde ich nur gelten lassen, wenn sich die Probleme auf nicht über Nacht heilen . Die Liste, wo investiert werden dieses Feld beschränken ließen . Das lassen sie sich aber muss, ist lang . Die Kollegen aus der Fach-AG können nicht . Bei der Infrastruktur ist es doch genau dasselbe . das detaillierter und besser sagen als ich . Sie alle waren dankenswerterweise bei mir im Wahlkreis Ich komme deswegen direkt zur zweiten Sache . Es und haben sich beispielsweise die Feuerwehr des Jagd- gibt Probleme auf dieser Welt, die sich mit mehr Geld geschwaders in Wittmund angeschaut . Sie waren alle nicht lösen lassen . Das ist die Art von Problemen, bei de- schockiert, wie es dort aussieht . Man denkt nämlich, man nen mehr Geld das Leiden nur verlängert oder etwas ver- steht irgendwo in Moldawien und nicht an der deutschen tuscht, bei denen durch mehr Geld eigentlich gar nichts Nordseeküste . Trotzdem tut sich dort seit Jahren nichts . besser wird . So offensichtlich der Bedarf der Bundeswehr Und dann sitze ich in meinem Büro im Paul-Löbe-Haus, schaue in den Haushalt und sehe: Oh, das Ministerium (B) an Investitionen in Personal, Material und Infrastruktur (D) ist und so nachvollziehbar der Ruf nach mehr Geld ist, gibt Gelder für Infrastrukturmaßnahmen an den Finanz- so offensichtlich ist auch, dass ein großer Teil der Prob- minister zurück. – Ich finde, die Sanierung einer Kaser- leme hausgemacht ist . Hunderte Millionen Euro, die in ne ist kein Hexenwerk . Das Bauhandwerk ist eines der den letzten Jahren nicht ausgegeben wurden, sind der Be- ältesten Handwerke . Es gilt als weitgehend erprobt und weis. Ich stehe hier nicht mit dem erhobenen Zeigefinger verlässlich . und behaupte hämisch, dass die Bundeswehr dieses Geld Das Problem liegt, denke ich, auch hier in der Verwal- wohl nicht braucht; aber ich sage all denjenigen, die auch tung, also beim BMVg . Sie kennen die Ursachen; auch dieser Tage nach Milliarden für die Bundeswehr rufen: mir wurde das mehrfach erklärt . Ich kenne das Hin- und Bevor wir hier über deutlich mehr Geld vom Steuerzah- Hergeschiebe zwischen BMVg, BImA, Landesbehörden, ler sprechen, muss das Haus organisatorisch, prozessual staatlichem Baumanagement usw . Nur, gelöst ist das Pro- und konzeptionell in Ordnung gebracht werden . Es muss blem nicht . Die Soldaten vor Ort verstehen das nicht und wieder Vertrauen in das BMVg und seinen Umgang mit ich auch nicht . Sie sind nun in der Verantwortung, es zu den Finanzen geben . Das ist Voraussetzung . Dann kann lösen . man, wie ich finde, guten Gewissens wieder über mehr Investitionen sprechen . (Beifall bei der SPD) Liebe Frau von der Leyen, wenn ich mir vor diesem Wenn Sie also versprechen, das in Ordnung zu bringen, Hintergrund den Haushaltsentwurf und die Finanzpla- dann verspreche ich Ihnen ein offenes Ohr in Sachen Fle- nung des BMVg anschaue, habe ich den Eindruck, dass xibilisierung und Übertragbarkeit von Haushaltsmitteln . Sie diese Einschätzung teilen . Daher habe ich gewisse (Heiterkeit) Teile Ihrer Rede mit Freude vernommen . Warum denke ich das? Zum einen glaube ich, Ihre Forderungen wären Das ist aus meiner Sicht die richtige Reihenfolge, und sonst sicherlich höher ausgefallen, und zum anderen sind dann ziehen wir auch an einem Strang . Sie mit Ihrem Team seit einiger Zeit glaubhaft in den Tie- Damit das Thema Militärausgaben auch mittel- und fen der Ebene unterwegs und packen die notwendigen langfristig glaubhaft diskutiert werden kann, braucht es Prozesse an . Auch heute haben Sie in Ihrer Rede, wie ge- aus meiner Sicht neben der Ordnung im eigenen Haus sagt, deutlich gemacht, dass Sie die Probleme, etwa bei auch eine Perspektive, die über die Schreibtischkante großen Beschaffungsprojekten, realistisch sehen und Lö- hin­ausreicht . In Bezug auf den Militäretat und in Bezug sungen für diese Probleme wollen . Als Haushälter haben auf die Verteidigungsfähigkeit Westeuropas kann diese Sie uns dabei an Ihrer Seite . Wir wollen Sie dabei, wo es Perspektive nur europäisch sein . Das haben Sie auch oft geht, unterstützen . Das sage ich nicht nur als gute Koa- gesagt . Aber in den Hauptstädten Europas kommt das 11666 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Karin Evers-Meyer (A) nicht so richtig an, und um die müssen wir werben . Alle schlägen der Weise-Kommission umgehen wollen, sag- (C) in Europa müssen erkennen, dass die kostenintensiven ten Sie – so das Protokoll; ich zitiere ‑: militärischen Parallelstrukturen innerhalb der EU nicht Sie stellt klar, dass es keine Rüstungsagentur geben mehr zeitgemäß sind . Sie sind zu teuer, und sie gefähr- werde . den langfristig die Verteidigungsfähigkeit Europas . Wir kennen in Europa – das sage ich nur noch einmal, um Sie haben dann geantwortet, dass es darum gehen muss, sich das in Erinnerung zu rufen – trotz aller politischen die Prozesse im eigenen Haus zu verbessern, und – so Willensbekundungen zig nationale Programme für Pan- meine Erinnerung – gesagt: Ich muss eher schauen, dass zerfahrzeuge . Es gibt sechs verschiedene Programme für meine Rüstungsabteilung wie eine Agentur arbeitet . U-Boote, fünf für Kampfflugzeuge und weitere fünf für Ich nehme wahr, dass Sie anscheinend an einigen Stel- Boden-Luft-Raketen . Wir haben in Europa 28 nationale len umgedacht haben; Sie haben es „Kapseln statt Ver- Armeen mit ungefähr 1,5 Millionen Soldaten . Das Bud- säulen“ genannt und sich auf das BAAINBw bezogen . get beträgt rund 200 Milliarden Euro . Das ist immerhin Aber ich bin einmal gespannt, wie Sie es abkapseln, und mehr als ein Drittel des US-amerikanischen Verteidi- vor allem bin ich gespannt darauf, mit welchem Personal . gungsetats . Aber es gibt ja wohl niemanden, der behaup- Jetzt tun sich natürlich für die weiteren Haushaltsbera- ten würde, dass unsere Leistungsfähigkeit ebenfalls ei- tungen schon Fragen auf: Schaffen Sie nicht eine neue nem Drittel der Schlagkraft der USA entspricht . Parallelstruktur? Was sind die Vorteile? Wie sieht es mit Ich sage nicht: Lasst uns heute oder morgen nach Eu- dem lieben Geld und mit den Verantwortlichkeiten und ropa gehen, dann wird alles einfacher, besser und billiger . vor allem mit der parlamentarischen Kontrolle aus? Aber ich sage: Die Weichen dafür zu stellen, dass wir Deswegen werden wir als Opposition Sie bei Lern- irgendwann so etwas wie eine europäische Armee, einen prozessen gerne und konstruktiv begleiten, aber in den europäischen Ausrüstungsstandard und eine gemeinsame Haushaltsberatungen vor allem kritisch auf diese Struk- europäische Rüstungsindustrie haben, zumindest in Tei- tur schauen, sie erst einmal nicht vom Tisch wischen, len, ist nur möglich, wenn man überall, wo es nur geht, aber nachfragen und uns dann ein Urteil darüber bilden . gemeinsame Projekte mit unseren Nachbarn auf die Bei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ne stellt . [CDU/CSU]: Das ist auch eure (Beifall bei der SPD) Aufgabe!) Mit den Polen, den Dänen und den Nachbarn im Bal- Der zweite Punkt ist: Das löst natürlich nicht die enor- tikum klappt das . Aber es muss ein Ansporn sein, auch men Probleme, die es im Rüstungsbereich gibt . Es gibt (B) Partner wie Frankreich oder Großbritannien für gemein- drei neue Projekte, die sich gerade im Anlauf befinden (D) same Ideen zu gewinnen . Wenn das gelingt, dann haben und für die die Rechnung vermutlich erst zu einer Zeit, zu Sie nicht nur die Haushälter hier im Deutschen Bundes- der Sie nicht mehr in diesem Amt sein werden, endgültig tag auf Ihrer Seite . Dann – da bin ich sicher – werden wir vorliegen wird; ich denke hier an Dinge wie TLVS . Es ist sogar in der deutschen Bevölkerung eine Mehrheit für ein Leichtes, sie in einer Agentur oder in einer Kapselung eine Erhöhung des Etats gewinnen können . zu bündeln, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir nach wie vor – die Kollegin Evers-Meyer hat Vielen Dank . es angesprochen – enorme Managementprobleme im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rüstungsbereich haben: Dinge kommen gar nicht, zu der CDU/CSU) spät, mit Minderleistungen und vor allem zu teuer für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ich kann Sie nur auffordern, Frau von der Leyen: Vielen Dank .– Als nächster Redner hat Dr .T obias Bleiben Sie hart, wenn Sie mit der Industrie reden .– Ich Lindner von der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen das denke da an Luftfahrtunternehmen, wo sich zahlreiche Wort . offene Fragen auftun . Deutschland wird in diesem Jahr vielleicht einen oder auch gar keinen A400M mehr erhal- ten; von fünf war einmal die Rede . Mir und, ich denke, Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern fehlt jedes Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Liebe Kolleginnen Verständnis dafür, wenn wir an dieser Stelle lasch mit der und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Industrie umgehen . – Das ist im Interesse aller . Kapseln statt Versäulen, das war hier Ihre große Ankün- digung, Frau Ministerin . Während sich vielleicht viele (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hier im Hohen Hause oder zu Hause, die dieser Debatte Sie haben viel über Personal gesprochen, Frau Minis- lauschen, nicht recht vorstellen können, was sich dahinter terin, über Personalgewinnung, über Personalverwen- verbirgt, will ich Ihnen, Frau Ministerin, etwas aus mei- dung und über Attraktivität . Wenn wir eine Haushaltsde- ner Sammlung spontaner Reaktionen auf überraschende batte führen, dann dürfen wir eines nicht aus den Augen Ankündigungen der Verteidigungsministerin zeigen . Ich lassen: Die Personalausgaben waren in den vergange- habe Ihnen etwas mitgebracht, nämlich das Protokoll ei- nen Jahren in Ihrem Haushalt immer strukturell unter- ner unserer ersten Begegnungen in Ihrem Amt, nämlich finanziert. Wenn man sich die Istzahlen, quasi die Ab- des Berichterstattergesprächs mit den Haushältern im rechnung, die Ihr Haus vorlegt, anschaut, dann erkennt Frühjahr 2014 . Auf meine Frage, wie Sie mit den Vor- man, dass in den letzten beiden Jahren Gelder aus dem Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11667

Dr. Tobias Lindner (A) Rüstungsbereich, die nicht abgeflossen sind, verwendet über den Rüstungsbereich gesprochen, Sie haben über (C) wurden – ich will auch sagen: verwendet werden muss- Aufgaben gesprochen . Sie drehen an der einen Schraube ten –, um Personalausgaben zu decken . Als Grüner füge etwas, und Sie drehen an der anderen Schraube etwas . ich hinzu: Als politisches Konzept ist das durchaus gut Gleichzeitig machen Sie einen Weißbuchprozess . Unse- so . Aber ich fordere Sie im Sinne von Haushaltsklarheit re Fraktion, Frau Brugger und ich haben Ihnen in einer und Haushaltswahrheit auf: Dann geben Sie Träume, wie Kleinen Anfrage zahlreiche Fragen gestellt und wenige 20 Prozent des Haushalts in die Modernisierung der Aus- bis gar keine Antworten – teilweise auch eher erheitern- rüstung zu investieren, auf – ich weiß nicht, wie Sie das de, wenn das Thema nicht so ernst wäre – bekommen . im Investbereich darstellen wollen –, und sorgen Sie im Man kann den Eindruck haben, Sie und Ihr Haus wissen Vorhinein und nicht erst im Nachhinein, wenn sich Lü- im Moment selbst gar nicht – Sie haben ja auch heute cken auftun, dafür, dass die Personalausgaben auskömm- nichts dazu gesagt –, wohin dieser Weißbuchprozess füh- lich und angemessen finanziert sind! ren soll . Der nächste Punkt ist – das ist in dieser Debatte schon Was machen Sie stattdessen? Bevor das Ergebnis vor- angesprochen worden -: Kümmern Sie sich darum, dass liegt, gehen Sie her und verändern Strukturen, treffen es angemessene und ordentliche Unterkünfte gibt . Das Entscheidungen . Wir Grüne sagen: Das muss anders sein . Geld dafür steht bereit. Es ist vielfach zurückgeflossen. Wir müssen zuerst darüber reden: Welche Aufgaben hat Das ist nicht im Interesse der Menschen, die in Unter- die Bundeswehr, welche hat sie nicht? Wo macht mehr künften wohnen müssen . Diplomatie Sinn? Dann müssen wir die Frage beantwor- Ein letzter Punkt: das liebe Geld . Sie erhalten in die- ten: Welche Struktur und welchen Umfang braucht es sem Jahr – Sie sind darauf eingegangen – 1,2 Milliarden dafür? Am Ende müssen wir einen Strich unter die Rech- Euro mehr . Sie rühmen sich dessen . Sie sprechen von nung machen, wie viel Geld das kostet oder kosten kann . einer Trendwende im Haushalt . Die Kollegen der Uni- In diesem Sinne werden wir in die Haushaltsberatungen on beklatschen es . Dabei täuschen Sie darüber hinweg, gehen und unsere Vorschläge dazu machen . dass einmal eine Bundeswehrreform unter Herrn zu Gut- Ich danke Ihnen . tenberg und Herrn de Maizière mit dem erklärten Ziel, 8,3 Milliarden Euro einzusparen, angefangen wurde . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Immer wieder und wieder in den Vorjahren, wenn ich gefragt habe, ob diese Einspareffekte erreicht werden, Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: hat mir der damalige Staatssekretär Wolf in ellenlangen Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Henning Otte Tabellen vorgerechnet: Ja, ja, die ganzen Einspareffekte von der Fraktion der CDU/CSU das Wort . werden erreicht .– Heute ist kein Wort mehr von diesen (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Einspareffekten . Mit anderen Worten: Dieses große Ziel (D) der Bundeswehrreform, dass nämlich auch das Verteidi- gungsministerium seinen Beitrag zur Schuldenbremse Henning Otte (CDU/CSU): leistet, ist krachend verfehlt worden . Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist in guter Verfassung, so sagte es unsere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frau Bundeskanzlerin heute hier an diesem Rednerpult . [CDU/CSU]: Das war nie das Die guten wirtschafts- und finanzpolitischen Zahlen be- Ziel!) weisen dies . Die Welt um uns herum scheint aber aus den Sie geben sich noch einem anderen Trugschluss hin . Fugen geraten zu sein; so sagte es sinngemäß unser Au- Da kann ich Sie nur auffordern: Hören Sie mit dem gan- ßenminister Frank-Walter Steinmeier . Die Flüchtlings- zen Gerede vom 2-Prozent-Ziel auf! Sie haben eben ge- bilder in Deutschland beweisen dies . Die Krisenherde sagt: „Wir erreichen mit diesen Ausgaben 1,17 Prozent dieser Welt befinden sich am Rande des NATO-Gebie- des BIP“, und Sie erwarten, dass wir das in den kommen- tes: im Nahen Osten, auf dem Balkan, in Afghanistan, den Jahren konstant halten . Wenn Sie sich Ihre eigene im Norden Afrikas – alles im unmittelbaren Umfeld Eu- mittelfristige Finanzplanung anschauen, Frau Ministe- ropas . Dies sind Folgen oft jahrelanger Krisen, die sich rin, dann werden Sie sehen, dass das gar nicht erreicht in der Verzweiflung der Menschen ausdrücken. Terror, werden kann . Ich nehme nicht an, dass Sie Ihre eigene Krieg, Durst, Hunger lassen die Menschen in eine ver- mittelfristige Finanzplanung hier in diesem Haus infrage meintlich bessere Welt aufbrechen . stellen . Die Sicherheitspolitik muss heute vernetzt gesehen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage in aller werden . Justiz-, Innen-, Entwicklungs-, Außen- und eben Deutlichkeit: Angesichts der Herausforderungen, vor auch Verteidigungspolitik greifen immer mehr verzahnt denen wir in Deutschland und in Europa stehen, ange- ineinander . Dieser vernetzte Ansatz ist nicht nur national sichts der Flüchtlingskrise und der Tatsache, dass wir zu sehen, sondern er muss auch stärker europäisch ge- uns alle gestern einig waren, dass da mehr Geld fließen sehen werden . Dies muss mehr gelebt werden, und dies muss, sollten wir solche komischen Kriterien wie ein müssen wir politisch in der Zukunft stärker umsetzen . Ziel, soundso viel Prozent des BIP zu erreichen, bitte ad Der Verteidigungshaushalt umfasst für das Jahr 2016 acta legen . Nein, es macht keinen Sinn, hier mehr Geld 34,4 Milliarden Euro . Der mittelfristige Finanzplan sieht reinzupumpen . dabei eine Anhebung vor . Meine Damen und Herren, die- Ein letzter Punkt . Sie haben viel über Veränderung ge- se Anhebung ist notwendig . Sie ist richtig angesichts der sprochen . Sie haben über Personal gesprochen, Sie haben notwendigen und durchgeführten Modernisierung unse- 11668 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Henning Otte (A) rer Streitkräfte und der Zunahme der vielfältigen Aufga- währleisten . Hier will, muss und wird Deutschland auch (C) ben, die Sie alle kennen, auch angesichts der aktuellen weiterhin einen Beitrag leisten, gerade auch im eigenen sicherheitspolitischen Lage . Interesse unseres Landes . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Voraussetzung dafür ist eine finanzielle Absicherung der Aufgaben und eine personell und strukturell hinrei- Die Bundeswehr leistet wesentliche Beiträge zur Kri- chende Ausstattung, immer nach dem Grundsatz: Der senprävention, zur Kriseneindämmung und zur Krisen- bewältigung: im Kosovo, in Afghanistan, am Horn von Staat muss auf jede sicherheitspolitische Frage auch eine Afrika, in Somalia, in Mali, im Mittelmeer, im Nordirak, Antwort haben . – Die Bedrohungsszenarien sind dabei und zwar Ausbildungshilfe, Sanitätsdienst, Kampfeinsät- vielfältig: die konventionelle Bedrohung durch militäri- ze, Minenräumung, taktische Schulungen, Flüchtlings- sche Landnahme wie durch Russland in der Ukraine, der rettung aus Seenot – Frau Ministerin hat das dargestellt –, Vormarsch des IS-Terrors im Nahen Osten, Terrorstruk- um nur einige Aufgaben zu nennen . Dazu gehört als al- turen in Nigeria, zerfallende Staaten wie Libyen und Je- lererste Aufgabe immer noch die Landesverteidigung im men und eine zunehmende Cybergefahr durch Eingriffe Rahmen der Bündnisverteidigung der NATO . in und Angriffe auf digitale Versorgungs- und militäri- sche Sicherheitsstrukturen . Meine Damen und Herren, bei jeder großen nationalen Herausforderung kommt der Ruf nach der Bundeswehr: Deutschland tut alles, um die innere und äußere Si- Bitte um Unterstützung! Die Bundeswehr kommt dem cherheit unseres Landes zu gewährleisten . Eine absolute immer nach . Das ist auch ein Indiz für das Vertrauen der Sicherheit kann es bei diesen asymmetrischen Gefahren- Bevölkerung in unsere Bundeswehr und ein Beweis für strukturen nicht geben . Die Investitionen in die äußere die professionelle Arbeit unserer Soldatinnen und Solda- und auch in die innere Sicherheit sind aber gut investier- ten . Darauf können die Soldaten und ihre Angehörigen tes Geld; denn ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit, und zu Recht stolz sein . die Freiheit gehört zu unserem Land . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) ordneten der SPD) Auch und gerade jetzt stellt die Bundeswehr auch Meine Damen und Herren, was gehört zu den notwen- Liegenschaften und Manpower zur Unterstützung und digen wesentlichen Maßnahmen? Zuallererst gut mo- zur Bewältigung der Herausforderungen infolge der vie- tivierte, gut ausgebildete, professionell arbeitende und len Flüchtlinge hier in Deutschland . Als verteidigungs- loyale Mitarbeiter . Die Bundeswehr hat als größtes Un- politischer Sprecher der Unionsfraktion sage ich diese ternehmen solche Mitarbeiter: die Soldatinnen und Sol- (B) Unterstützung auch weiterhin zu . Die Flüchtlinge und daten und die zivilen Mitarbeiter . Mit dem Einsatzversor- (D) Asylbewerber in Deutschland müssen mit der gebotenen gungs-Verbesserungsgesetz, dem Reformbegleitgesetz Menschenwürde angenommen werden . Aber wir müssen und dem Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz zwischen den Schutzbedürftigen und den nicht Schutzbe- haben wir als Union viel dazu beigetragen, dass sich die dürftigen differenzieren . Den Schutzbedürftigen, die aus Arbeitsbedingungen verbessert haben . Verzweiflung vor Krieg und Terror fliehen, werden wir Sehr geschätzte Frau Kollegin Evers-Meyer, wir alle helfen . müssen stetig eine Überprüfung durchführen . Deswegen Ich danke an dieser Stelle auch allen Hilfsorganisa- war es auch gut, dass die vielen Privatisierungen des Mi- tionen und der Bundeswehr, die zum Beispiel auch in nisters Scharping jetzt zurückgenommen worden sind meinem Wahlkreis in einen tatkräftigen Beitrag zur und wir jetzt den Blick nach vorne richten und sagen: Unterbringung von Flüchtlingen geleistet und ihnen ein Erstens . Die sicherheitspolitische Entwicklung mit Dach über dem Kopf geschaffen haben .Herzlichen Dank einer Zunahme vielfältiger Aufgaben der Bundeswehr dafür . erfordert auch eine stetige Überprüfung, zum Beispiel (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der personellen Obergrenze, damit die Bundeswehr auch in Zukunft ein Garant für die Sicherheit in Deutschland Ich sage aber auch: Den nicht Schutzbedürftigen, die bleibt . nur zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage zu uns kommen, müssen wir auch durch das Vorzeigen unserer Zweitens . Die sicherheitspolitische Entwicklung eindeutigen Rechtslage sagen, dass sie in ihr eigenes erfordert auch eine Beibehaltung des breiten Fähig- Land zurückkehren müssen, notfalls auch unter Durch- keitsspektrums unserer Armee . Das Unvorhergesehene setzung des Rechts . Das wird nicht immer einfach sein, kommt immer unvorhergesehener, und darauf müssen ist aber unverzichtbar, auch und insbesondere zur Auf- wir eine Antwort haben – gerne im europäischen Ver- rechterhaltung der Akzeptanz der wirklich Schutzbedürf- bund dort, wo es funktioniert . Als Bottom-up-Prozess . tigen, denen wir helfen . Dabei müssen wir aber eben auch immer die Sicherheit unseres Landes fest im Auge haben . Meine Damen und Herren, wir müssen einen klaren Blick für die Ursachenbekämpfung behalten, gerade Drittens . Die sicherheitspolitische Entwicklung for- weil die Auswirkungen der weltweiten Krisen in unse- dert eine konsequente Modernisierung unserer Ausrüs- ren Städten und Dörfern sichtbar angekommen sind . Wir tung: eine neue Generation von Gewehren und neuen müssen es schaffen, vor Ort Sicherheit und Stabilität als Transport- und Kampfhubschraubern, ein Luftvertei- Basis für ein gesichertes Leben mit Perspektiven zu ge- digungssystem, ein Mehrzweckkampfschiff, ein neuer Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11669

Henning Otte (A) Schützenpanzer, ein zu entwickelnder Kampfpanzer . Das Worauf es ankommt, das soll das neue Weißbuch (C) alles ist eine große Aufgabe, die wir tatkräftig anpacken . als Richtschnur der deutschen Verteidigungspolitik ab- Viertens . Unsere Soldatinnen und Soldaten haben ei- bilden . Ich bin unserer Bundesverteidigungsministerin nen Anspruch auf das modernste Gerät, wenn sie für die dankbar dafür, dass sie diesen Prozess angeschoben hat . Sicherheit einer der führenden Industrienationen bereit Offenheit, Transparenz, der Mut zu notwendigen Ent- sind, Leib und Leben einzusetzen . Weil diese Ausrüs- scheidungen, das erwarten die Bürgerinnen und Bürger tung nicht herbeigezaubert werden kann, brauchen wir zu Recht von uns . eine leistungsstarke wehrtechnische Industrie, die genau Um in Einigkeit und Recht und Freiheit leben zu kön- solche komplexen, innovativen Systeme entwickeln und nen – ich schließe mit dieser Feststellung -: Es gibt keine produzieren kann . Freiheit ohne Sicherheit . Nur mit Sicherheit können wir (Beifall bei der CDU/CSU) in Freiheit leben . Dafür tragen wir als Deutscher Bundes- tag Verantwortung . Deswegen sollten wir diesem Haus- Hierbei sind sogenannte Schlüsseltechnologien, wie Sen- haltsentwurf für 2016 zustimmen . sorik, Schutz, Kommunikation und gepanzerte Fahrzeu- ge, von Bedeutung, um nicht abhängig zu werden und Herzlichen Dank . um die Souveränität unseres Landes zu gewährleisten . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Abwanderungstendenzen deutscher wehrtechnischer ordneten der SPD) Unternehmen ins benachbarte Frankreich sollten wir aus verteidigungspolitischer Sicht mit Skepsis betrachten . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Unter Berücksichtigung der eben genannten vier Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Dr . Neu Punkte gilt es fünftens, dass wir mit einer gesteuerten von der Fraktion Die Linke . Rüstungsunterstützung gerade auch den Ländern helfen können, bei denen wir meinen, dass sie die Stabilität und (Beifall bei der LINKEN) die Sicherheit ihres Landes gewährleisten können, um Perspektiven für Wirtschaft, Gesellschaft und Bildung zu Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): entwickeln . Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Präsidentin! Lassen Sie mich drei Anmerkungen zum Genau wie Saudi-Arabien!) Haushaltsplan für die Bundeswehr machen . Ein voranmarschierender IS-Terrorismus – Sie sagen es, Erste Bemerkung . Die Mittel in diesem Haushaltsplan (B) Frau Keul – muss mit allen Mitteln gestoppt werden . betragen realiter 36,6 Milliarden Euro, nicht 34 Milliar- (D) den Euro, nimmt man die Haushaltsposten aus den ande- (Beifall bei der CDU/CSU) ren Einzelplänen mit dazu . Das heißt letztendlich, dass Wir werden nicht alle Flüchtlinge dieser Welt aufneh- Deutschland mit dem Volumen des Einzelplans 14 plus men können . Wir wollen unsere Soldaten nicht in alle denen der anderen Haushaltstitel über den viertgrößten Krisenländer dieser Welt schicken. Dennoch profitiert NATO-Haushaltsplan verfügt . gerade Deutschland von offenen Wegen und einer offe- Es kommt noch besser . Weltweit belegt der Haushalt nen Gesellschaftsstruktur . Deswegen ist es hier unsere Aufgabe, mit einem vielfältigen Angebot unseren Beitrag der Bundeswehr den achten Platz . Das heißt, der Militär- zu leisten . haushalt der Bundeswehr ist der achtgrößte in der Welt . Wenn du die Herausforderungen und das Problem vor (Florian Hahn [CDU/CSU]: Quantitativ oder Ort nicht löst, dann kommt das Problem zu dir . Bei uns qualitativ?) sind es die Flüchtlinge, die ein sichtbares Zeichen dafür Damit gehört Deutschland weltweit zu den führenden sind, dass die Menschen vor Ort keine Perspektive mehr Militärkräften, soweit es die Militärausgaben betrifft . sehen . Es kommt eben darauf an, das zu tun, worauf es ankommt . (Florian Hahn [CDU/CSU]: Relativ oder pro Kopf?) Herr Leutert, als die Dörfer im Nordirak von IS-Ter- roristen angegriffen worden sind – das wissen Sie ganz Sehr geehrte Steuerzahlerinnen und Steuerzahler oben genau –, gab es nur ein Mittel, dagegenzuhalten . Jetzt zu auf den Tribünen, Sie zahlen im Jahr 2016 450 Euro pro behaupten, wir hätten die PKK mit Waffen ausgestattet, Nase in diesem Land für die Bundeswehr . ist entweder bewusst falsch dargestellt oder es ist einfach (Florian Hahn [CDU/CSU]: Ich glaube, das kaltschnäuzig, nach dem Motto: Man hätte mit ansehen schockiert die Leute nicht besonders! – Wei- müssen, wie die Kurden im Nordirak getötet worden wä- tere Zurufe von der CDU/CSU) ren . – Die Kurden haben sich dagegen gewehrt . Ich halte es für richtig, auch aus christlichen Gründen zu sagen: Während in diesem Lande Rentnerinnen und Rentner Wir helfen den Menschen, damit sie ihre Familien und Pfandflaschen einsammeln müssen, um zu überleben, ihre eigene Heimat beschützen können . während für die Sanierung von Schultoiletten kein Geld da ist, zahlen Sie 450 Euro für die Bundeswehr . (Beifall bei der CDU/CSU – [DIE LINKE]: Das PKK-Verbot (Rainer Arnold [SPD]: Nicht alles, was hinkt, aufheben!) ist ein Vergleich!) 11670 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Dr. Alexander S. Neu (A) Zweite Anmerkung . Die globalen Militärausgaben Die Linke hingegen fordert: Stoppen Sie das Durchfüt- (C) betrugen 2014 1,78 Billionen US-Dollar, das heißt tern der Rüstungsindustrie als einzigem Nutznießer der 1 780 Milliarden US-Dollar . Davon haben allein die angeblichen Bedrohungsszenarien! NATO-Staaten 942 Milliarden US-Dollar aufgewendet . (Beifall bei der LINKEN) Das heißt, von den weltweiten Militärausgaben haben die NATO-Staaten 60 Prozent ausgegeben . Investieren Sie die Steuergelder in zivile Infrastruktur an- statt in militärische Sandkastenspiele! Die Bundesregie- Das neue und beliebte Feindbild der Bundesregierung, rung macht seit Jahren genau das Gegenteil, aber nicht nur Russland nämlich, hat im Jahr 2014 84,5 Milliarden auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, son- US-Dollar für sein Militär ausgegeben . dern auch auf Kosten der inneren Sicherheit . Das vasal- ( [SPD]: Unsinn!) lentreue Mitmachen bei US-Kriegen und Regime-Change-­ Politik stellt eine wachsende Gefahr auch für die innere Das heißt, 9 Prozent dessen, was Russland ausgegeben Sicherheit dar, da Deutschland als Mitaggressor wahrge- hat – - nommen wird . Die Hochrüstung und die Nibelungentreue (Florian Hahn [CDU/CSU]: Nein! Andersher- gegenüber den USA schaffen entgegen Ihrer Behauptung um! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das ver- nicht mehr, sondern weniger Sicherheit für Deutschland . stehe ich jetzt nicht mehr!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Umgekehrt: Die NATO hat elfmal so viel wie Russland Dritte Anmerkung. Die flüchtenden Menschen aus Af- für den Militärhaushalt ausgegeben . rika und Nahost, die nach Europa kommen, symbolisie- Wir können gerne weiter vergleichen . Nehmen wir ren geradezu die zerstörerische Einmischungspolitik und China . China hat im Jahr 2014 216 Milliarden US-Dollar die Kriege des Westens unter US-Führung . Ich möchte für das Militär ausgegeben . Das sind 23 Prozent dessen, Ihnen ein Beispiel geben, wie verlogen diese Politik ist . was die NATO ausgegeben hat . Oder umgekehrt: Die Zwischen 1991 und 1998 starben laut UNICEF im Irak NATO hat viereinhalbmal so viel für ihr Militär ausge- 500 000 Kinder unter fünf Jahren aufgrund der UN-Sank- geben wie China . tionen, deren Aufhebung von den USA blockiert wurde . Zählt man die über fünfjährigen Kinder und die Erwach- (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das macht ins- senen hinzu, sind es weit über 1 Million Menschen, die gesamt? – Dr . Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/ im Irak aufgrund der Sanktionen ums Leben kamen . DIE GRÜNEN]: Bitte noch einmal wiederho- len! Ich kam nicht mit! – Florian Hahn [CDU/ Wie menschenverachtend diese Politik war, hat die CSU]: China hat auch einen echt transparen- damalige UN-Botschafterin und spätere Außenministerin (B) ten Haushalt!) der USA, Madeleine Albright, zum Besten gegeben . In (D) einem Interview mit dem US-Sender CBS sagte sie auf – Dazu komme ich gleich .– China und Russland kom- die Frage des Journalisten – ich zitiere ‑: „Wie wir hören, men damit auf 32 Prozent dessen, was für die NATO-Mi- Frau Albright, starben im Irak eine halbe Million Kinder . litärhaushalte ausgegeben wurde . Mit anderen Worten: Ist es den Preis wert?“ Frau Albright antwortete: „Ja, wir Die NATO hat das Dreifache dessen für Militär ausgege- glauben, es ist den Preis wert “. Das sollte uns zu denken ben, was China und Russland gemeinsam für ihr Militär geben, sehr geehrte Damen und Herren . ausgegeben haben . (Beifall bei der LINKEN) (Rainer Arnold [SPD]: Er kann sogar rech- nen!) Das sind die Verbündeten unserer Bundesregierung . Das sind die Werte, die wir mit den USA teilen . Das ist eine Daraus kann man schließen, dass die NATO den beiden Schande! Ländern China und Russland in militärischen Fragen weit überlegen ist, zumal die militärischen Fähigkeiten (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Frau Al- der Bundeswehr und der US-Streitkräfte denen der russi- bright ist schon lange nicht mehr Außenminis- schen und chinesischen überlegen sind . terin!) Dennoch wird hier in diesem Land – und in anderen Aber danach ging es – dagegen wirken die halbe Mil- NATO-Ländern – so getan, als seien China und Russ- lion fast wie „Peanuts“ – erst richtig los: Es gab Krieg land eine militärische Bedrohung für den Westen, nur um gegen Serbien, den Irak, Afghanistan und Libyen, und es langfristig die 2-Prozent-Marke in Bezug auf das Brut- gibt den derzeit verdeckten Krieg in Syrien . Den Tod von tosozialprodukt zu erreichen . Das hieße, in den nächsten Millionen Menschen als Kriegsopfer, Kriegsfolgeopfer Jahren werden wir irgendwann einmal bei 57 Milliarden und Sanktionsopfer durch NATO-Kriege und Kriege der Euro für die Bundeswehr liegen . USA im Rahmen der Koalition der Willigen kann man aber nicht verleugnen und auch nicht mehr verstecken . Die Bundesregierung und ihr Hauptverbündeter, die Auch die Flüchtlinge kommen mittlerweile zu uns . USA, bauen auf diese Weise einen Bedrohungspopanz gegenüber Russland und China auf, der auf Ihre Kosten Die Linke fordert hingegen: Stoppen Sie die Hoch- geht, sehr geehrte Steuerzahlerinnen und Steuerzahler . rüstung Deutschlands! Das heißt, wir brauchen keine Kampfdrohnen, wir brauchen keine neuen Panzer, auch (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn keine Fregatten und Transportflugzeuge. [CDU/CSU]: Das ist ein Popanz, den Sie auf- bauen!) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11671

Dr. Alexander S. Neu (A) Widmen Sie das Geld um in zivile Projekte für Menschen einen Konsens über unsere diplomatische, präventive (C) und Umwelt in diesem Land! Stoppen Sie die Teilnahme und finanzielle Verantwortung angesichts der Lage der an der Einmischungspolitik und der Regime-Change-Po- schutzsuchenden Menschen . Aber welche Rolle spielt litik gegenüber anderen Staaten! Das bedeutet einfach das Militär in diesem Zusammenhang? Dies ist letztlich nur, das internationale Recht, wie es die UN-Charta dar- nicht geklärt, auch wenn wir immer wieder in Einzelfäl- stellt, zu respektieren – nicht mehr und nicht weniger . len bei der Erteilung von Mandaten die Frage konkret beantworten . ( [CDU/CSU]: „Und befeh- len Sie Frieden!“) Es fehlt das grundsätzliche Verständnis, dass Streit- kräfte selbstverständlich nicht die Probleme der Welt Verhindern Sie den Missbrauch deutschen Staatsgebie- lösen können . Aber sie müssen Teil des vernetzten An- tes für die US-Kriegsführung! Stichwort Ramstein und satzes in der Welt sein . Denn die brutalen Mörderbanden die Drohnentötung, die über Ramstein läuft . Sagen Sie: und unmenschlichen Diktatoren sind nicht mit Worten zu Nein, wir wollen das von deutschem Gebiet aus nicht stoppen, sondern man muss sich denen leider auch mit mehr akzeptieren . Betreiben Sie aktiv Friedenspolitik Waffen entgegenstellen . für Europa unter Einschluss – nicht unter Ausschluss – Russlands! Das heißt, tragen Sie dazu bei, dass es einen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – ökonomischen und sicherheitskollektiven Raum von Lis- [DIE LINKE]: Wenn man sie sabon bis Wladiwostok gibt! vorher beliefert!) Das sind, sehr geehrte Damen und Herren, die Para- Weil das so ist, werden wir uns alle in der Politik und meter einer vernünftigen Außen- und Sicherheitspolitik . Gesellschaft darauf einstellen müssen, dass in den nächs- Das ist im Übrigen wesentlich kostengünstiger als das, ten Jahren die Außen- und Sicherheitspolitik stärker im was Sie uns vorschlagen . Fokus unserer Arbeit liegen wird, auch wenn dies nicht allen gefällt . Es wird so sein . Danke . Wir müssen uns auch darauf einstellen, dass wir eine (Beifall bei der LINKEN) Debatte brauchen: Müssen die Staatengemeinschaft und wir als Teil dieser Gemeinschaft bei erkennbaren Krisen Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: nicht früher entschlossener handeln und eingreifen, statt Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Rainer Arnold so lange zu warten, bis das unermessliche menschliche von der SPD-Fraktion das Wort . Leid in der Tagesschau abends wirklich von niemandem mehr übersehen werden kann? (Beifall bei der SPD) (B) Vor diesem Hintergrund diskutieren wir unseren Bun- (D) deshaushalt . Der Verteidigungsetat wächst leicht an . Das (SPD): Rainer Arnold ist gut, und es geht nach den Irrtümern der vergangenen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Jahre in die richtige Richtung . Verteidigungspolitiker sind es ja in unserem politischen Alltag gewöhnt, dass – das passiert fast jeden Tag – neue Aber wenn wir das ernst meinen – wir meinen es alle Probleme auf unseren Tisch hageln . Dabei handelt es ernst –, dass die Fluchtursachen langfristig nur in den sich um wichtige und weniger große Probleme . Eines Krisenregionen bekämpft werden können, dann müssen aber merken wir auch: Es relativiert sich alles, was wir wir uns auch dazu bekennen, dass alle Etats in unserem diskutieren, angesichts der gigantischen humanitären Haushalt, die sich um die internationale Verantwortung Katastrophe in vielen Ländern Afrikas, an den Rändern kümmern – humanitäre Hilfe, Polizeiausbildung, wirt- Europas und, ja, auch mitten bei uns in Europa . schaftliche Zusammenarbeit, aber auch der Etat für Ver- teidigung –, in den nächsten Jahren deutlicher anwach- Überall leistet die Bundeswehr ihre Beiträge – das sen müssen, um dieser Verantwortung gerecht zu werden . wurde heute auch schon ausgeführt -: In internationalen Dies alles gehört zusammen . Es geht nicht nur um den Friedens- und Stabilisierungsmissionen, aber auch bei Verteidigungsetat . der Unterbringung der Flüchtlinge hier in unserem Land arbeiten Soldaten neben den zivilen Helfern und den Hel- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fern aus den Rettungsdiensten . Das heißt, unsere Solda- Sehr geehrte Damen und Herren, diese Koalition, ten sind gute Staatsbürger in Uniform, und sie verdienen Abgeordnete und die Verteidigungsministerin haben in Dank und Respekt wie alle Helfer . den vergangenen zwei Jahren viel angestoßen und auf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie den Weg gebracht, auch vergangene Fehler korrigiert bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE und Gutes und Notwendiges für die Soldaten eingeleitet, GRÜNEN) insbesondere beim Attraktivitätsprogramm . Wir müssen jetzt allerdings aufpassen, dass wir die zivilen Beschäf- Spätestens angesichts dieser Katastrophe, die wir er- tigten nicht vergessen . leben, müssten eigentlich alle in der deutschen Gesell- schaft mit Ausnahme der Linken – das haben wir wie- (Beifall bei der SPD) der gemerkt; das gebe ich auf – verstehen, was mit der Der Wettbewerb um die klugen Köpfe gilt auch, wenn Forderung gemeint war: Deutschland muss mehr über es gilt, gute Beamte und Administratoren und insbeson- die deutsche Verantwortung und die deutsche Rolle in dere gute technisch Qualifizierte zu finden. Deshalb ist der Welt sprechen . Es gibt zum Glück in Deutschland das noch eine offene Baustelle . Sie haben unsere Unter- 11672 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Rainer Arnold (A) stützung, wenn wir mehr für die Interessen und Belange einer veränderten sicherheitspolitischen und technolo- (C) der Zivilbeschäftigten tun . gischen Welt für ein neues Produkt? Die Entscheidung, Sie sind dabei – das ist ein wichtiger Schritt –, die die nun getroffen wurde, ist richtig . Ich wünsche mir al- Anzahl der vorhandenen Großgeräte zu korrigieren . Sie lerdings eine Partnerfirma, die das alte, schlichte Prinzip haben den Begriff des sogenannten dynamischen Verfüg- von Kaufleuten und Selbstständigen befolgt: Der Kun- barkeitsmanagements selbst verwendet, Frau Ministerin . de ist König .– Ich habe nicht den Eindruck, dass dies Ich glaube, wir alle verstehen ihn nur noch eher ironisch; angekommen ist . Das macht es uns in diesem Bereich denn er kaschiert eigentlich nur den tatsächlichen Man- besonders schwer . gel . Zum Abschluss . Wie Sie bereits sagten, ist schon vie- Um das klar zu sagen: Angesichts der internationalen les auf den Weg gebracht worden . Wir wissen aber, dass Aufgaben, die die Bundeswehr hat, und angesichts der der Weg im Bereich der Verteidigungspolitik kein end- Tatsache, dass sich die NATO notgedrungen wieder stär- gültiges Ziel hat . Auf diesem Weg werden in den nächs- ker auf ihre Kernaufgaben der Bündnisverteidigung be- ten Monaten und Jahren noch viele Stolpersteine liegen . sinnt, darf die Bundeswehr keine Strukturen haben, die Uns ist auch klar, dass Verteidigungspolitik nicht nur als hohl und letztendlich nur auf dem Papier vorhanden sind . Reaktion auf Krisen zu verstehen ist; auch das muss ge- Die Menge an Großgerät wieder auf 100 Prozent aufzu- leistet werden . Aber Verteidigungspolitik ist mehr . Sie füllen, ist keine Aufrüstung . Vielmehr haben wir am Ende wird nur gut sein, wenn sie auf einer langen Zeitschiene die Strukturen, die wir tatsächlich brauchen . Wir haben Vorsorge für eine Welt trifft, deren Risiken in 20 oder dann nichts Neues oder Zusätzliches, sondern nur das 30 Jahren unbekannt sind . Aber wir wissen eines: Um Notwendige für die Soldaten und die deutsche Sicherheit dann gut aufgestellt zu sein, müssen in dieser Legislatur- verfügbar . Nur so werden wir die Glaubwürdigkeit des periode die notwendigen und richtigen Entscheidungen NATO-Bündnisses bei der Verteidigungsfähigkeit erhal- getroffen werden . Sie haben unsere Unterstützung auf ten und dafür sorgen, dass unsere osteuropäischen Part- diesem Weg . ner mit ihren Sorgen wissen, dass sie sich auf Deutsch- land und die NATO tatsächlich verlassen können . Herzlichen Dank . Frau Ministerin, es wäre gut, wenn im Zuge dieser (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Haushaltsberatungen ein Plan vorgelegt wird, aus dem hervorgeht, wann in den nächsten Jahren welches Gerät Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: in welcher Stückzahl beschafft und wie viel es kosten Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Doris Wagner wird . Darüber müssen wir zügig reden, damit es nicht von der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen das Wort . (B) bei der Ankündigung bleibt . Sie haben – das ist wichtig – (D) effizientere Strukturen bei der Rüstungsbeschaffung ein- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geführt . Es gibt nun ein Rüstungsboard, das die Proble- Doris Wagner me nicht unter dem Tisch hält, sondern sie auf den Tisch Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte Kolleginnen legt; das war ein ganz wichtiger Schritt . Die kommenden und Kollegen! Eigentlich hat diese Woche ganz erfreu- großen Projekte wie MEADS, die Drohnenentwicklung lich mit einer guten Nachricht angefangen: Die Bundes- und ein Mehrzweckkampfschiff werden hoffentlich nach regierung will künftig jedes Jahr 400 Millionen Euro neuen, besseren und effizienteren Verfahren durchgeführt mehr für die Bewältigung und Prävention von Krisen und zum Erfolg führen . ausgeben . 400 Millionen Euro mehr, das bedeutet eine Verfünffachung des bisherigen Haushaltsansatzes für die Nicht alles, was verändert werden muss, lässt sich aber zivile Krisenprävention . Das ist richtig, und das ist gut . in Gesetze und Verordnungen pressen . Vielmehr geht es auch um die Mentalität . Dabei spielt die Fehlerkultur, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in einem Haus herrscht, eine zentrale Rolle . Auch hier sowie bei Abgeordneten der SPD) wurden Veränderungen eingeleitet . Das zeigt sich exem- Doch die schlechte Nachricht ist: Dieses Geld ist gar plarisch beim G36 . Anstatt wie viele Jahre zuvor Kritik zu unterdrücken und die Menschen, die Kritik äußern, zu nicht in dem Haushaltsentwurf veranschlagt, den wir mobben – das alles hat es im Einzelfall gegeben –, haben heute debattieren . Die Entscheidung, die Mittel für die Sie jetzt die Probleme angenommen und offen benannt . zivile Krisenprävention kräftig aufzustocken, fiel kurz- Zusammen mit dem Verteidigungsausschuss haben wir fristig in einer Sitzung des Koalitionsausschusses am nun begonnen, das alles aufzuarbeiten . Wir sind gespannt Wochenende . Damit ist diese Entscheidung eben nicht auf die Ergebnisse der Arbeitsgruppen im Oktober . Wir Ausdruck grundsätzlicher politischer Einsichten oder werden diese sorgfältig betrachten und darüber diskutie- einer langfristigen Strategie; vielmehr offenbart die ren . Bundesregierung damit vor allem eines: Erst wenn die Folgen des Krieges unser Land erreichen, erst wenn in Wir müssen allerdings aufpassen, dass beim G36 Deutschland Flüchtlingsheime brennen, erst dann ist die- kein falscher Eindruck entsteht . Wenn ein Gewehr nach se Regierung bereit, Geld für Frieden in die Hand zu neh- 25 Jahren ausgemustert wird, dann geschieht das, nicht men und auszugeben . Mit einer konzeptionellen und stra- weil es Schrott ist, sondern weil seine Lebensdauer nur tegisch durchdachten zeitgemäßen sicherheitspolitischen 20 Jahre beträgt . Die Frage, die beantwortet werden Finanzplanung hat das in meinen Augen nichts zu tun . musste, lautete: Kaufen wir in den nächsten 30 Jahren neue G36 nach, oder entschließen wir uns angesichts (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11673

Doris Wagner (A) Frieden und Sicherheit sind vor allem mit einer vor- und Polizisten dienen vielerorts vor allem dazu, unbe- (C) ausschauenden, vorrangig zivilen und umfassenden Au- queme Oppositionelle zu bekämpfen . ßen- und Sicherheitspolitik zu erreichen . Dazu müssen Zweitens . Was wir als Sicherheit bezeichnen, wird in wir die verschiedenen Instrumente der Verteidigungs-, vielen europäischen Staaten gar nicht von Armee und Po- Entwicklungs- und Handelspolitik eng verzahnen; da bin lizei gewährleistet, sondern von zivilgesellschaftlichen ich ganz bei Ihnen, Herr Otte . Akteuren, von Menschen, die alle Bewohner einer Ort- (Henning Otte [CDU/CSU]: Ich freue mich!) schaft kennen und die deshalb Vertrauen, Ansehen und Autorität genießen . Doch diese mittlerweile selbstverständliche Erkennt- nis spiegelt sich in unserem Haushaltsentwurf 2016 lei- Drittens . Es gibt besonders in schwachen Staaten kei- der überhaupt nicht wider . nerlei Gewähr dafür, dass die Waffen, die wir ihnen lie- fern, nicht in dunklen Kanälen verschwinden . (Henning Otte [CDU/CSU]: Was?) Die sogenannte Ertüchtigung von Partnerstaaten setzt Statt einen konsequent umfassenden Ansatz zu verfol- also bei den falschen Akteuren an . Sie ist ein gefährliches gen, orientiert sich die Bundesregierung in ihrer Bud- Spiel mit dem Feuer . Wer Waffen liefert, schafft Gewalt getplanung an einem völlig veralteten Verständnis von und neue Fluchtursachen, statt sie zu beseitigen. Das fin- Sicherheitspolitik . Ich würde gerne zwei Beispiele dafür de ich absurd . anfügen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erstens . Sicherheitspolitik à la Schwarz-Rot bedeutet vor allem Frieden schaffen mit noch mehr Waffen . Kein Wenn wir Sicherheit und Frieden wirklich voranbrin- anderer Posten des Verteidigungshaushaltes wächst 2016 gen wollen, müssen wir aufhören, unser Geld vor allem so stark wie die militärischen Beschaffungen . 550 Milli- für neue Waffen auszugeben, und wir müssen damit an- onen Euro mehr will die Ministerin 2016 in Waffen in- fangen, unsere Unterstützung sehr viel stärker als bisher vestieren . auf gesellschaftliche Akteure auszurichten . Deshalb for- dere ich Sie auf, meine Damen und Herren auf der Regie- (Florian Hahn [CDU/CSU]: Weil wir zu we- rungsbank: Nutzen Sie den Ressortkreis Zivile Krisen- nig hatten in den letzten Jahren!) prävention, um die deutsche Sicherheitspolitik auf eine 550 Millionen Euro sind deutlich mehr als die eingangs umfassende, moderne Grundlage zu stellen . Investieren erwähnten 400 Millionen Euro für zivile Krisenpräven- Sie in Friedensforschung; denn nur wer die Ursachen tion . für die Konflikte kennt, kann sie auch beseitigen. Stel- len Sie diese 100 Millionen Euro, die zur Ertüchtigung (B) Zweitens . Außerdem ist die Bundesregierung nicht vorgesehen sind, dem Ressortkreis Zivile Krisenpräven- (D) bereit, ihre Zusage für die Stärkung der Entwicklungspo- tion zur Verfügung; dann könnten auch das BMZ und das litik einzulösen . 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkom- BMI dort Mittel beantragen, die der Stärkung der zivilen mens haben Sie versprochen; aber tatsächlich stagnieren Strukturen und Akteure dienen können . Bitte, drehen Sie die deutschen ODA-Mittel schon seit Jahren bei lediglich doch jeden Euro zweimal um, den Sie für neue Waffen 0,4 Prozent . ausgeben wollen . Das wird sich für uns alle auszahlen . Ich frage Sie: Tragen wir wirklich zur Stabilisierung Vielen Dank . unserer südlichen und östlichen Nachbarschaft bei, in- dem wir uns vor allem neue Waffen zulegen? Ich denke, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das ist nicht der Fall . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Ingo Viel besser wäre unser Geld doch investiert in Bildung, Gädechens von der CDU/CSU-Fraktion . in Infrastruktur, in Maßnahmen zur Reform des Sicher- heitssektors in unseren Nachbarregionen . Das ist moder- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ne Sicherheitspolitik . ordneten der SPD) Ein in meinen Augen völlig veraltetes Verständnis von (CDU/CSU): Sicherheit zeigt die Bundesregierung auch bei der soge- Ingo Gädechens nannten Ertüchtigung von Partnerstaaten . Für diese Er- Frau Präsidentin, liebe Frau Bulmahn, Sie haben mir tüchtigung sind im Einzelplan 60 erstmals 100 Millionen das letzte Mal erlaubt, dass ich hier Besuchergruppen be- Euro vorgesehen . Ganz ausdrücklich soll damit auch die grüße . Der Zufall will das immer so: Ich freue mich, dass Lieferung letaler Waffen an staatliche Sicherheitsstruk- die Spitze der Kreisjugendfeuerwehr Ostholstein hier ist, turen der Partnerländer finanziert werden. Damit läuft und ich freue mich, dass die neunten Klassen der Insel- die Bundesregierung endgültig Gefahr, dass sie mit ihrer schule Fehmarn – Fehmarn ist meine Heimatinsel – mei- Sicherheitspolitik nicht den Frieden, sondern, im Gegen- ner Rede hier live folgen dürfen . teil, eher den Krieg befördert . Das möchte ich Ihnen mit (Heiterkeit und Beifall – Henning Otte [CDU/ drei Gründen darlegen: CSU]: Schöne Grüße auch von uns!) Erstens . Viele Menschen außerhalb Europas erleben staatliche Strukturen wie Armee und Polizei gerade nicht Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: als Garant für ihre Sicherheit . Im Gegenteil: Soldaten Aha, gut organisiert . 11674 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

(A) Ingo Gädechens (CDU/CSU): Die Erhöhung um rund 1,4 Milliarden Euro ist ein wich- (C) Hervorragend, Frau Präsidentin . tiger Schritt und weist in die richtige Richtung . Sie be- weist, dass Deutschland seiner sicherheitspolitischen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr ver- Verantwortung gerecht wird . Von einer Friedensdividen- ehrten Damen und Herren! Der Verteidigungsetat – das de, so wie wir sie in vergangenen Debatten eingefordert machten die Wortbeiträge schon deutlich – ist ein beson- haben, kann keine Rede mehr sein . Nur der Teil auf der derer; denn wir entscheiden nicht nur darüber, wie viel linken Seite des Hauses redet immer wieder und gern von uns unsere Sicherheit wert ist, sondern es geht bei der der Abschaffung der Bundeswehr . Wertigkeit auch um Wertschätzung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz im schlimms- Nein, meine Damen und Herren, innere und äußere ten Fall ihr Leben riskieren . Dies unterscheidet unseren Sicherheit gibt es nicht umsonst. Die finanzielle Aus- Etat von anderen Etats des Haushalts . stattung, der Mittelansatz im Einzelplan 14, hat darüber hinaus eine hohe Symbolkraft, auch für die mit uns be- Der Verteidigungsetat ist vor dem Hintergrund der Viel- freundeten Nationen, gerade in Osteuropa . zahl an Krisen, die genannt wurden, und der wachsenden terroristischen Bedrohung gerade in diesen Tagen alles Die Bundeswehr hat sich in den vergangenen sechs Jahr- andere als trivial . Es geht um grundlegende Weichenstel- zehnten stark gewandelt . Von einer reinen Verteidigungs- lungen, mit denen Deutschland den sicherheitspolitischen armee ist sie zu einer Armee im Einsatz geworden . Ich Anforderungen und seinen Bündnisverpflichtungen -ge würde sogar so weit gehen und sagen: Die Bundeswehr recht werden will, ja gerecht werden muss . Diese Anforde- ist im 60 . Jahr ihres Bestehens zu einer Armee im Daue- rungen und Verpflichtungen sind im Vergleich zum letzten reinsatz geworden . Etat vor einem Jahr erkennbar größer geworden . (Zurufe von der LINKEN: Aha!) Nach wie vor sehen wir uns konfrontiert mit dem Kon- Man gewinnt den Eindruck: Überall dort, wo es flikt in der Ukraine, und wir sehen einen barbarischen brennt, wo deutsche Hilfe gebraucht wird, wo Deutsche Terror des „Islamischen Staats“ im Irak und in Syrien, helfen können und sollen, wird zuallererst die Bundes- geprägt von unbeschreiblicher Grausamkeit . Wir erleben wehr hingeschickt . Wir sehen es ganz aktuell an der eine gefährliche Zuspitzung der Weltlage, von deren Fol- Rettung von Flüchtlingen aus dem Mittelmehr durch die gen wir nicht unberührt bleiben . Wir erleben, wie aktuell Einheiten der Deutschen Marine oder an der Flüchtlings- Abertausende Menschen auf der Flucht vor Krieg und hilfe in Deutschland, welche Zelte und Unterkünfte zur Gewalt Zuflucht in Europa und ganz besonders bei uns Verfügung stellt . Die hohe Motivation, mit der sich die in Deutschland suchen . Angesichts dieser dramatischen Soldatinnen und Soldaten diesen immer neuen Heraus- Bilder bewegt es mich zutiefst, wie unser Land – auch forderungen stellen, ist bewundernswert und verdient (B) das wurde schon mehrfach deutlich – zusammensteht meinen besonderen Dank und unsere Anerkennung . (D) und Flüchtlinge freundlich empfängt . Dies hat uns im Ausland viel Respekt eingebracht und zeugt vom Mut Bei meinen Truppenbesuchen in der sitzungsfreien der Deutschen, sich mit Engagement dieser Flüchtlings- Zeit spürte ich einmal mehr, wie die Bundeswehr fester krise, diesen Flüchtlingsströmen zu stellen . Bestandteil unserer Gesellschaft ist . Dabei geht es nicht nur um das, was in der regulären Dienstzeit geleistet Meine Damen und Herren, Deutschland sendet mit wird, sondern es geht auch darum, wie sich Männer und seiner Politik eine klare Botschaft aus: Wir dürfen und Frauen der Bundeswehr – egal ob als aktive Soldaten, werden die Ausweitung der humanitären Katastrophe Zivilisten oder Reservisten – weit über das normale Maß nicht zulassen .– Ich sage aber auch: Wir brauchen ein in dieser Gesellschaft engagieren . Vielleicht spielt das starkes Bekenntnis in Europa, dass alle Länder Verant- innere Pflichtgefühl eine Rolle. Trotzdem ist es für mich wortung für Menschen übernehmen, die vor Verfolgung beispielgebend, wie in den Landeskommandos nach zu- und Krieg fliehen. sätzlichen Unterkünften gesucht wurde und unbürokrati- In Anbetracht des Ausmaßes der Flüchtlingsströme sche Hilfe geleistet wird, zum Beispiel im Materialdepot und des Leids der Menschen müssen wir eingestehen: Wester-Ohrstedt . Jeder kennt es . Wer ist dort noch nicht Krisen und Konflikte, die manch einer weit weg glaubte, gewesen? In Wester-Ohrstedt wurden sämtliche zur Ver- sind auf einmal ganz nah bei uns . Wir spüren seit Mona- fügung stehenden Zelte in Windeseile zusammengestellt, ten: Kein Staat, kein Bündnispartner kann und darf sich und dabei hat keiner der Soldaten oder der 120 zivilen wegducken . Ein freundliches Desinteresse hilft nicht Mitarbeiter auf die Uhr geschaut, sondern es war Hilfs- weiter . bereitschaft . In meinem Wahlkreis in Schleswig-Holstein wurden auf dem Truppenübungsplatz Putlos – die Bun- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Schwät- desministerin hat andere Länder genannt – sehr schnell zen auch nicht!) 900 Aufnahmeplätze bereitgestellt . Das alles ist wahrlich nicht selbstverständlich, und vielleicht sollten wir die Die Folgen der Brandherde in Syrien, im Irak, im Jemen, vielen positiven Beispiele einmal sammeln, um sie in ei- in Afghanistan und wo auch immer sind über kurz oder ner besonderen Weise zu würdigen . lang auch bei uns zu spüren . Meine Damen und Herren, die Vielzahl der nationa- Deshalb – angesichts der zunehmenden Krisen – und len und internationalen Einsätze erfordert nicht nur ein aus vielen anderen Gründen ist die Erhöhung der Vertei- ausgesprochen hohes Engagement der Kameradinnen digungsausgaben notwendig und wichtig . und Kameraden sowie der zivilen Mitarbeiter . Die unun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) terbrochene Einsatzbelastung fordert ihren Tribut beim Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11675

Ingo Gädechens (A) Material . Der Verschleiß ist höher, der Lebenszyklus wie es sein sollte, im Verteidigungshaushalt auftaucht . (C) der Systeme wird kürzer, gleichzeitig steigt der Bedarf Wir sollten dringend über gemeinsame Schritte reden . an Einsatzmaterial . Eine Erhöhung der Ausgaben für Wir alle wissen und haben es anhand vieler Beispie- Instandsetzung, Wartung und Betrieb ergibt sich daraus le in den vergangenen Monaten gesehen, wie verletzlich zwangsläufig. Denn die Einsatzbereitschaft der Bundes- eine moderne Industriegesellschaft ist . Es geht um Fra- wehr darf nicht durch Materialengpässe gefährdet wer- gen von Elektrizität . Es geht um Mobilität und Kommu- den . Man muss sich immer vor Augen führen: Die Bun- nikation . Das haben wir im Deutschen Bundestag selbst deswehr ist nur zu dem imstande, wozu wir sie befähigen schmerzhaft erfahren müssen . Der Cyberraum wird zu und wie wir sie finanziell ausstatten. Nur ein solides einem neuen Operationsraum, auch wenn es um Kriegs- Fundament für unsere Streitkräfte sichert Deutschlands führung, wenn es um Angriffe geht . Wir brauchen eine sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit . gesellschaftliche Debatte darüber und ein Bewusstsein Ich bin deshalb sehr froh, dass es unserer Verteidi- dafür, wie wir gemeinsam vorgehen wollen . gungsministerin gemeinsam mit dem Bundesfinanzmi- Das ist sicherlich nicht an vorderster Front Aufgabe nister gelungen ist, trotz Schuldenbremse eine Erhöhung des Verteidigungsministeriums . Es fallen uns ganz viele der Verteidigungsausgaben umzusetzen . Damit wird ein andere Ressorts ein, die dabei auch eine große Verant- deutliches Signal gesetzt . Die Bundeswehr hat einen ho- wortung haben . Wir müssen aber auch in der Sicherheits- hen Modernisierungsbedarf . Daher ist es besonders zu politik über die Frage der Cybersicherheit und über die begrüßen, dass auch das Investitionsvolumen in der Bun- Frage der Bedrohung im Cyberraum reden . deswehr deutlich erhöht wird . Ja, es ist richtig: Bei der gewünschten Quote von 20 Prozent an Investitionsaus- Frau Ministerin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie im Weißbuchprozess darauf einen Schwerpunkt legen . Hier- gaben sind wir noch lange nicht angekommen, aber eine zu findet in der nächsten Woche eine große Veranstaltung Trendumkehr ist sichtbar und ausdrücklich zu begrüßen . statt . Es wird darum gehen, gemeinsam zu analysieren, Angesichts der Vielzahl neuer Bedrohungen und Her- worin Bedrohungen liegen und welche Einsatzszenarien ausforderungen ist es richtig, die Ausgaben im Verteidi- infrage kommen . gungshaushalt zu erhöhen . Wir haben hier einen soliden, Sie haben die strategischen Leitlinien vorgelegt . Ich ausgewogenen und durchdachten Haushalt vorgelegt stimme diesen nicht in jedem Punkt zu . Es war aber ein bekommen . Die Bundesregierung handelt entschlossen, guter Aufschlag, dass die Debatte durch das Ministeri- und ich danke an dieser Stelle der Bundesministerin, die um eröffnet worden ist . Ich glaube, dass wir noch konse- ihren Worten stets auch Taten folgen lässt . quenter und noch schneller handeln und den Cyberraum (B) Herzlichen Dank . als Ebene der Außen- und Sicherheitspolitik erschließen (D) müssen . Das darf kein Modethema sein . Ich bin mir si- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- cher: Sicherheits- und Außenpolitik werden dadurch neten der SPD – [CDU/CSU]: dauerhaft und nachhaltig verändert . Dabei haben wir in Da hat er recht!) Deutschland großen Nachholbedarf . (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank .– Als nächster Redner hat Lars Klingbeil Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will fünf Felder von der SPD-Fraktion das Wort . nennen, über die eine Debatte in den kommenden Wo- chen meines Erachtens sehr wichtig ist: (Beifall bei der SPD) Das betrifft erstens den Schutz unserer kritischen Inf- rastruktur, den Schutz der Kommunikation . Dabei geht es (SPD): Lars Klingbeil darum, Angriffe im Inland abzuwehren . Es geht aber auch Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe um den Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten, wenn Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal sich diese im Auslandseinsatz befinden. Für diese muss ein Thema ansprechen, das in dieser Debatte bisher noch eine vertrauliche Kommunikation gewährleistet sein . Da- keine große Rolle gespielt hat, dem aber in der Verteidi- für brauchen wir die neuesten technischen Geräte, und wir gungspolitik, so denke ich, ein größerer Stellenwert ein- müssen schauen, wie die Ausrüstung aussehen kann . geräumt werden sollte, nämlich der Cyberpolitik . Der zweite Punkt betrifft die Aufklärung . Dabei geht Ich glaube, hier stehen wir vor Herausforderungen, es darum, dass wir eigenständig Lagebilder erstellen sodass wir in einer politischen Debatte Leitlinien festle- können müssen . Ich will das hier auch deutlich sagen: Ich gen müssen, sodass wir schauen müssen, wie wir agieren habe manchmal kein gutes Gefühl, wenn ich feststelle, wollen . Wir alle sollten uns gemeinsam bewusst machen, dass wir auf Informationen anderer Länder zurückgreifen dass dieses Thema in den nächsten Jahren massiv an Be- müssen . Da bestehen Abhängigkeiten . Wenn man sich deutung gewinnen wird . einmal anschaut, wie mit Informationen vielleicht auch In dieser Haushaltsdebatte müssen wir auch darüber falsche Informationen ins Spiel kommen, dann kommt reden, wie wir im Haushalt zu Verbesserungen kommen man zu dem Ergebnis, dass es gut ist, eigene Aufklä- können . Sehr geehrte Frau Ministerin, wenn man sich rungskapazitäten zu haben . Wir müssen schauen, wie das Ganze im Haushalt hinterlegt werden kann . den Einzelplan 14 anschaut, dann stellt man fest, dass das kein Thema ist, das in großer Breite und so angemessen, (Beifall bei der SPD) 11676 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Lars Klingbeil (A) Der dritte Punkt, über den wir reden müssen – ich telfristigen Finanzplanung hinaus . Das ist richtig, das (C) glaube, das wird die schwierigste Debatte hier im Haus –, ist gut, das ist notwendig, weil, wie wir sehen, unsere betrifft die Frage, wie es neben den abwehrenden mit Bundeswehr vor ganz neuen großen Herausforderungen den Offensivkräften aussieht . Was wollen wir da? Wie steht und wir diesem Umstand auch im Verteidigungsetat sieht es da im Cyberraum aus? Ich habe an vielen De- Rechnung tragen müssen . batten dazu teilnehmen können . Ich glaube, dass wir in Herrn Kollegen Neu würde ich gern erklären, wie Deutschland noch keine festgelegte Position dazu haben . der Anteil von 1,17 Prozent am BIP zustande kommt; Wir müssen aber dringend darüber reden, ob wir offen- er ist aber nicht mehr da . Ich kann mir jedenfalls nicht sive Fähigkeiten haben wollen und wie diese aussehen vorstellen, dass er etwa kritisieren wollte, dass in diese können, welche Maßnahmen es gibt und welche Akteure Prozentzahl auch noch die humanitäre Hilfe eingerechnet aktiv werden können . wird, die aus dem Topf des Auswärtigen Amtes finanziert Der vierte Punkt bezieht sich auf die Strukturen . Wenn wird – um nur ein Beispiel zu nennen . man sich die Bundeswehr anschaut, dann stellt man fest, Den Kollegen Dr . Lindner kann ich beruhigen . Ich dass es rudimentäre Strukturen im Cyberbereich gibt . weiß, dass es in den Kreisen der Fachpolitiker durch- Diese sind aber alle zersplittert . Wir müssen schauen, aus die Annahme gibt, dass man den NATO-Standard wie wir Strukturen bündeln können . Eine große Aufgabe in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes er- wird es sein, ausreichend Personal vorzuhalten, das über reichen sollte . Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das notwendige Know-how verfügt, im IT-Bereich unter- die Lücke zwischen 1,17 Prozent und 2 Prozent noch zu wegs zu sein . Zeiten meiner politischen Tätigkeit geschlossen werden Frau Ministerin, ich bin mir sicher: Wenn man einmal wird . in Ihrem Haus bzw . bei der Bundeswehr nachschauen Wir müssen mit dem Geld, das wir zur Verfügung würde, dann würde ein großer Bedarf an zusätzlichem haben, sehr gut umgehen, es sehr effizient einsetzen. Personal deutlich werden . Insofern müssen wir gemein- So müssen wir die Bündnisfähigkeit gewährleisten . Wir sam darüber reden, wie wir Personal gewinnen können . haben einen hohen Modernisierungsbedarf . Wir müssen Der letzte und fünfte Punkt, den ich ansprechen will, auch die Leistungsfähigkeit wie den Wirkungsgrad und gehört auch dazu . Dieser steht sogar im Koalitionsver- die Effizienz unserer Waffensysteme verbessern; das hat trag . Darin steht, dass wir uns das Völkerrecht anschauen etwas damit zu tun, dass wir mit weniger Personal die müssen . Wir müssen schauen, wie der Cyberraum hier Verteidigungsleistung und Schutzwirkung erzielen müs- vorgesehen ist, ob es zu einer Weiterentwicklung kom- sen, die wir brauchen . Wir brauchen eine Kompatibili- men muss . Wir müssen auch über so etwas wie eine ge- tät der Systeme innerhalb unserer Streitkräfte, aber vor (B) meinsame Abrüstungspolitik im Cyberraum reden . Das allen Dingen auch mit unseren Bündnispartnern . Auch (D) ist eine große gemeinsame Verantwortung, die wir in in- dies sind besondere Herausforderungen, damit wir Ko- ternationalen Gremien tragen . Auch das gehört zu dieser operationsfähigkeit beibehalten bzw . da, wo notwendig, Diskussion . wiederherstellen können . Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Mei- Wir wissen zugleich, dass es im Verteidigungsetat gro- nung, dass diese Debatte hier im Haus dauerhaft die ße Blöcke gibt, in denen ein Großteil der Mittel gebun- den ist . Wenn ich an die Personalausgaben in Höhe von Außen- und Sicherheitspolitik verändern wird . Auch im 11,4 Milliarden Euro und an die Versorgungsausgaben, Haushalt des Verteidigungsministeriums ist dieses The- für die ja 5,7 Milliarden Euro veranschlagt sind, denke, ma noch nicht ausreichend repräsentiert . Ich glaube, wir dann relativiert sich manches schon . müssen in einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu Ver- änderungen kommen . Insofern wünsche ich mir, dass wir Ich bin vor diesem Hintergrund sehr froh, dass wir in der nächsten Woche die Konferenz, aber insgesamt trotzdem bei den verteidigungsinvestiven Ausgaben noch auch die Haushaltsberatungen nutzen, um zu schauen, in eine Steigerung hinbekommen haben . So können wir welchen Bereichen wir vielleicht Nachholbedarf haben . dem Umstand Rechnung tragen, dass bestimmte Systeme demnächst – leider mit Verzögerung – zulaufen . Wenn sie Herzlichen Dank fürs Zuhören . zulaufen, müssen sie auch bezahlt werden . Wir stehen ja (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vor der Beschaffung großer und teurer Systeme . Vor der der CDU/CSU) Sommerpause haben wir – Frau Ministerin, Sie haben es vorhin angesprochen – eine Vielzahl von Entscheidungen Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: getroffen . Wir haben – Sie haben es schon gesagt – 18 so- genannte 25-Millionen-Vorlagen behandelt, die natürlich Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Bartholomäus finanzielle Auswirkungen im nächsten, übernächsten und Kalb von der CDU/CSU-Fraktion das Wort . weiteren Folgejahren zeitigen werden . Wir haben auch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) einige grundsätzliche weittragende Entscheidungen ge- troffen, etwa dass wir mit Frankreich bei Aufklärungs- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): systemen zusammenarbeiten wollen, oder auch hinsicht- lich Flugabwehr und taktischer Luftverteidigung – um Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- einige Beispiele hier zu nennen . legen! Der Verteidigungsetat steigt stärker, als zunächst vorgesehen, nämlich auf 34,4 Milliarden Euro . Wir ge- Auf der anderen Seite haben wir die Entwicklung, hen praktisch über die ursprünglichen Ansätze der mit- dass sich die Bedrohungsszenarien und damit unsere An- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11677

Bartholomäus Kalb (A) forderungsszenarien ständig ändern . Auch darauf müssen verlieren; denn wir brauchen sie dringend, wenn wir un- (C) wir eine Antwort geben, etwa im Bereich der Ausbildung sere Bundeswehr und unsere befreundeten Armeen auch und im Bereich der Ausrüstung . Hier stellt sich für die in der Zukunft mit hochwertigem Material und hochwer- Führung des Ministeriums und die Führung des Militärs tigen Einsatzmitteln ausstatten wollen . stets eine neue Aufgabe . Deswegen begrüße ich es sehr, dass die Bundesre- Die Neuausrichtung der Bundeswehr ist noch nicht gierung vor kurzem ein Strategiepapier vorgelegt hat . abgeschlossen . Wir haben im Frühjahr das Gesetz zur At- Offiziell heißt das Strategiepapier „Stärkung der Vertei- traktivitätssteigerung verabschiedet, das wir alle ja ins- digungsindustrie in Deutschland“ . Ich denke, es ist ein gesamt sehr begrüßt und unterstützt haben . Das heißt na- wichtiges Papier und eine wichtige Grundlage für weite- türlich, dass das, was im Gesetz beschlossen wurde, auch re Entscheidungen, die zu treffen sein werden . im Haushalt entsprechend umgesetzt werden muss, und es wird im Haushalt auch entsprechend umgesetzt . Ich Ich habe vorhin schon den Kollegen Gädechens an- weiß, dass der Kollege Gädechens als engagierter Vertei- gesprochen . Er hat der Bundesministerin dafür gedankt, digungspolitiker der Frau Bundesministerin noch weitere dass sie den Worten ständig Taten folgen lasse . Auch gute Vorschläge zukommen lässt . Das hat auch etwas da- wir Haushälter werden den Worten Taten folgen lassen: mit zu tun, dass wir jetzt in einer anderen Situation sind . durch eine intensive und sachgerechte Beratung des Ver- Wir haben die Wehrpflicht ausgesetzt. Wir müssen das teidigungsetats . Personal auf dem freien Markt gewinnen . Ich freue mich, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – dass – Sie haben es bestätigt, Frau Bundesministerin, Karin Evers-Meyer [SPD]: Gut gesprochen!) und ich konnte das auch im Rahmen meiner Sommerrei- se zu einigen Standorten feststellen – die Nachwuchsge- winnung erstaunlich gut läuft . Darüber können wir uns Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: freuen; denn die Bundeswehr braucht gute Leute . Das Vielen Dank .– Als letzter Redner in dieser Runde hat gelingt, wenn das Angebot und die Nachfrage gut sind . Dr . Felgentreu von der SPD-Fraktion das Wort . Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundes- (Beifall bei der SPD) wehr ist zurzeit an vielen Brennpunkten im Einsatz; das ist schon gesagt worden . Sie gibt Sicherheit, sie leistet Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Schutz und Hilfe, Danke sehr . – Frau Präsidentin! Meine Damen und (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Oh!) Herren! Im Verteidigungsetat 2016 wird sich deutlich niederschlagen, dass wir mehr für die Attraktivität der (B) und sie rettet Leben, wie wir es gerade im Mittelmeer er- Bundeswehr als moderne Freiwilligenarmee tun und auch (D) leben . Die Bundesministerin hat zu Recht darauf hinge- in Zukunft tun wollen . Allein für das mit dem wohlklin- wiesen: Dort konnten 7 200 Menschen gerettet werden . genden Etikett „Agenda Attraktivität“ versehene Maß- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wo denn?) nahmenpaket sind im Entwurf knapp 35 Millionen Euro vorgesehen . Dieses Geld soll für eine bessere Führungs- Ich denke, das ist eine ganz beachtliche Leistung . und Organisationskultur ausgegeben werden, für die Es ist keine Floskel, wenn fast jeder Redner von uns Vereinbarkeit von Familie und Dienst – sehr wichtig –, das hier zum Ausdruck bringt, sondern es ist uns ein Her- für planbare Arbeits- und Freizeit, für den Gesundheits- zensanliegen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, schutz am Arbeitsplatz und für moderne Unterkünfte . den Soldatinnen und Soldaten, aber auch den zivilen Mit- Hinzu kommen die direkten finanziellen Auswirkungen arbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr immer des Artikelgesetzes, das wir im Frühjahr beschlossen ha- wieder für ihre Arbeit und für ihren Einsatz vor allem ben . Darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden . Die in den besonderen Situationen herzlich zu danken . Wir SPD-Fraktion begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich . haben allen Grund, dankbar zu sein . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wenn einem Nur eine attraktive Bundeswehr wird als Freiwilligenar- nichts mehr einfällt, muss man das sagen! Das mee in einem Umfeld bestehen können, in dem Unter- ist ritualhaft, jedes Mal!) nehmen und öffentlicher Dienst in scharfer Konkurrenz um tüchtige Arbeitskräfte werben . Dieses Geld ist des- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir wegen gut angelegt, in die Sicherheit und in die Bündnis- stehen vor wichtigen Veränderungen . Wir müssen unsere fähigkeit unseres Landes . militärischen Fähigkeiten neu ausrichten . Vorhin war bei- spielsweise die Rede von den Schlüsseltechnologien, die Die Attraktivität des Dienstes, liebe Kolleginnen und für uns sehr wichtig sind . Viele Rüstungsunternehmen Kollegen, hat allerdings eine Dimension, die über die in arbeiten jetzt im europäischen Verbund . Sie sind gar kei- der Agenda zusammengefassten Maßnahmen hinausgeht . ne nationalen Unternehmen mehr oder werden es nicht Den meines Erachtens wichtigsten Beitrag dazu diskutie- mehr sein, sondern sie werden europäische Unternehmen ren wir, wenn es um die Ausrüstung geht . Mit „Ausrüs- sein . Wir haben in Deutschland aber neben den Schlüs- tung“ meine ich eben nicht nur die hochwertigen, großen seltechnologien in diesen Bereichen auch eine Vielzahl Waffensysteme . Natürlich, die Vollausstattung vom Pan- von Kernfähigkeiten, unter anderem durch unsere Inge- zer bis zur Luftabwehrrakete ist zu Recht ein wichtiges nieure und unsere Facharbeiter . Diese sollten wir nicht Ziel; Kollege Arnold hat gerade das Wesentliche dazu ge- 11678 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Dr. Fritz Felgentreu (A) sagt . Aber Ausrüstung – nicht wahr, Herr Gädechens? – Wir besprechen ein anderes Mal, wie es mit dem Tren- (C) fängt nun einmal bei den Socken an . nungsgeld und der Umzugskostenbeihilfe für Rückkeh- rer aus dem Ausland ist . (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ja!) Im Übrigen freue ich mich auf unsere Beratungen zum Für die Zufriedenheit in der Truppe sind die Socken Haushalt 2016 und danke Ihnen allen für Ihre Aufmerk- manchmal sogar wichtiger . samkeit auch noch für den letzten Redner in dieser Re- (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ja!) derunde . Denn daran, ob die Bundeswehr es schafft, den Soldatin- Danke schön . nen und Soldaten die Dinge in ordentlicher Anzahl und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Qualität zur Verfügung zu stellen, die sie für den tägli- chen Dienst brauchen, ermessen sie vom Gefühl her, wel- che Wertschätzung ihnen der Dienstherr entgegenbringt . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank, auch für die Rücksichtnahme .– Weitere (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen mir nicht der CDU/CSU) vor . Es kann nicht angehen, dass sich bei jedem Standort- Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun- besuch die Vertrauensleute bei mir darüber beklagen, dass desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit Kleidungsstücke, Nachtsichtgeräte oder Schutzwesten nicht und Entwicklung, Einzelplan 23. in ausreichender Menge zur Verfügung stehen . Es kann auch nicht so bleiben, dass ein Hauptgesprächsthema unter Sol- Können die Kolleginnen und Kollegen bitte zügig ihre datinnen und Soldaten gerade die Ausrüstungsgegenstände Plätze einnehmen? Dann können wir mit den Beratungen sind, die sie sich aus eigener Tasche selbst beschaffen, weil beginnen . – der Dienstherr damit nicht zu Potte kommt . Wir werden Als erster Redner in dieser Debatte hat der Bundesminis- deshalb in der parlamentarischen Beratung noch einmal ter für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sehr genau hinsehen, wie viel Geld und welche organisa- Dr . Müller das Wort . torischen Verbesserungen vorgesehen sind, damit die not- wendige Normalausstattung bei den Leuten auch ankommt . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Zweiter Punkt, der mir unter der Überschrift „Attrak- tivität“ sehr wichtig ist . Meine Gespräche mit Soldatin- nen und Soldaten mit Kindern – darunter übrigens viele Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche (B) Alleinerziehende – ergeben ein ganz klares Bild: Die Zusammenarbeit und Entwicklung: (D) Kinderbetreuung während der Dienstzeit ist für sehr vie- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! le Soldatenfamilien ein Riesenproblem und damit auch Jetzt ist die Stunde der Zusammenarbeit, um Kriege und ein Riesenanliegen . Als Familienvater weiß ich genau, Krisen zu verhindern und zu bewältigen . Das Auswärtige wie wichtig eine zuverlässige Kita ist . Ich bin mir ganz Amt, das Verteidigungsministerium, die Verteidigungs- sicher: Viele Soldatinnen und Soldaten werden auch un- ministerin und ich als Entwicklungsminister arbeiten bequeme Dienstzeiten gerne in Kauf nehmen, wenn sie gemeinsam erfolgreich an einem vernetzten Ansatz . Ent- wissen, dass ihre Kinder gleichzeitig in guten Händen wicklungspolitik ist Friedenspolitik . sind . Deshalb liegen die Standorte richtig, an denen es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Standortkitas gibt . Niemand versteht die Bedürfnisse von ordneten der SPD – Heike Hänsel [DIE LIN- Soldatenfamilien besser als Erzieherinnen und Erzieher, KE]: Aber ohne Militär!) deren Arbeitsplatz in der Kaserne liegt . Der Auf- und Ausbau von Standortkitas ist deshalb der richtige Weg . Bis zur Linken wird dieser Satz akzeptiert . Die SPD-Fraktion wird ihr Augenmerk darauf richten, (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ohne Militär! – welche Mittel der Haushaltsentwurf ganz konkret für die Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Einer fällt Verbesserung der Betreuungssituation vorsieht . immer raus!) Wir wollen einen Entwicklungsplan für die Kinderbe- Wir haben eben zu Recht den Dienst der Soldaten der treuung in Soldatenfamilien, der in absehbarer Zeit zu ei- Bundeswehr gewürdigt . Zehntausende zivile Expertin- ner bedarfsgerechten Versorgung mit Betreuungsplätzen nen und Experten sind in 80 Ländern der Welt, speziell in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz führt . Zumindest in Krisen- und Kriegsgebieten, im Einsatz . Dafür möchte an allen größeren Standorten halte ich die Standortkita ich allen meinen Dank und meine Anerkennung ausspre- für das beste Konzept . Wer sich selbst davon überzeugen chen . möchte, dem empfehle ich, die Julius-Leber-Kaserne hier in Berlin aufzusuchen und sich mal anzugucken, wie das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- da umgesetzt wird . wie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, die Zeit läuft mir davon . Wir haben viele Themen besprochen . Ich habe noch eines Die Entwicklungspolitik rückt vom Rand ins Zentrum auf der Liste, aber das streiche ich jetzt, um Ihre Geduld des politischen Geschehens – auch wenn mein Sitz irgend- nicht überzustrapazieren . wann einmal hinten an die Regierungsbank geklebt wurde . (Henning Otte [CDU/CSU]: Einer geht noch!) (Heiterkeit) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11679

Bundesminister Dr. Gerd Müller (A) Der Entwicklungsminister ist durch die Aufgaben, vor Das ist nicht die Lösung der Probleme . Da müssen die (C) denen wir stehen, mitten drin . Wir brauchen eine Verstär- Menschen doch zu uns kommen! kung der Entwicklungspolitik zur Lösung der Probleme . (Beifall im ganzen Hause) Die dramatischen Flüchtlingsströme, die uns fordern und erschüttern, haben nämlich Ursachen und Gründe . Ich un- Europa mangelt es an Entschlusskraft . Ich habe schon terstütze alles, was diskutiert und auf den Weg gebracht vor einem Jahr ein Not- und Sofortprogramm mit einem wird, von der Kommune bis zum Bund; aber nur innen- Volumen von 10 Milliarden Euro und einen Sonderbe- politisch zu reagieren, löst die Probleme in den Herkunfts- auftragten der Europäischen Union für Flüchtlingsfragen ländern nicht . Deshalb müssen wir weiter gehen und die gefordert, der die Maßnahmen der EU koordiniert, aber Ursachen der Probleme in den Herkunftsländern angehen . auch für Europa als zivile Friedensmacht in diesen Län- dern Flagge zeigt . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg . Dr . [DIE LINKE]) Jetzt können Tausende Menschenleben gerettet wer- den und Hunderttausende von der Flucht abgehalten Wir, aber auch die anderen Staaten Europas und die Welt- werden . Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Bilder gemeinschaft sind gefordert, unserer Verantwortung für von der Ankunft der Flüchtlinge in Deutschland – das ist Entwicklung, Stabilität und Sicherheit stärker als bisher großartig, herzlichen Dank; das ist praktizierte Huma- nachzukommen . nität! – werden in den Flüchtlingscamps millionenfach Ich komme gerade vom Afrika-Forum, das wir zu- angeschaut . Sie sind ein Signal: Wenn sie uns hier, im sammen mit der OECD ausrichten . Ich habe mich mit Nordirak, in Dohuk, in Mossul, in den verschiedenen dem Friedensnobelpreisträger Kofi Annan ausführlich Städten und Gebieten in der Türkei, alleinlassen, dann darüber unterhalten, wie wir in Syrien, im Irak und in müssen wir nach Deutschland, nach Europa aufbrechen, den afrikanischen Ländern die Ursachen dieser Fluchtbe- um unser Leben zu retten . wegungen bekämpfen können . Als Entwicklungsminister Deshalb brauchen diese Aufnahmeländer verstärkt möchte ich klar sagen: Das geht nur lokal, national und unsere Hilfe . Ich habe dies schon vor zwei Jahren ge- international . Das heißt, wir brauchen jetzt dringender als sagt . Zwischenzeitlich haben wir, das BMZ, mit unseren je zuvor einen neuen Vorstoß der internationalen Staaten- Organisationen – beispielsweise Welthungerhilfe und gemeinschaft . Wir brauchen einen Vorstoß der UN, um UNICEF, um zwei zu nennen – in nahezu 200 Hilfspro- den Krieg und das Morden in Syrien zu stoppen; auch jekten 1 Milliarde Euro eingesetzt . Wir haben zum Bei- darüber habe ich mit Kofi Annan gesprochen. spiel, um konkret zu werden, im Libanon Schulen für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- 80 000 Kinder gebaut . Ich kenne die Situation in deut- (B) ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ schen Schulen, wo bei 25 Kindern in einer Klasse in (D) DIE GRÜNEN) Zukunft 5 syrische Flüchtlingskinder mit unterrichtet werden müssen . Im Libanon sitzen aber neben 25 liba- Das sollten wir mit den Kolleginnen und Kollegen des nesischen Kindern 25 syrische – halbe-halbe . In Jor- Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsaus- danien gibt es Städte mit 60 000 Einheimischen und schusses besprechen . 60 000 Flüchtlingen . Wir brauchen wieder Strukturen und staatliche Insti- Wir sind aufgerufen, dort in Stabilität und in die Zu- tutionen in Libyen . Das Format der Iran-Verhandlungen kunft dieser Menschen zu investieren . Dank des Haus- könnte die Basis für einen neuen diplomatischen Verhand- haltsaufwuchses – dafür vielen herzlichen Dank – wer- lungsansatz sein . Millionen von Menschen, Familien in den wir unsere Maßnahmen gezielt verdoppeln . Neben Syrien, im Irak und in den umliegenden Ländern, befinden Investitionen in die Infrastruktur werden wir mit einer sich in einer dramatischen Situation: 12 Millionen Men- Ausbildungsinitiative einen neuen Schwerpunkt setzen . schen sind auf der Flucht, 500 000 sind in Deutschland Zunächst sollen fünf neue Berufsbildungszentren entste- angekommen, 800 000 Flüchtlinge sind prognostiziert . hen . Denn die Menschen sind Hunger, Tod, Elend, dem drohen- den Winter und unzureichender Versorgung ausgesetzt . Es Wir werden im BMZ auch Haushaltsumschichtungen fehlt an allem . Das kann so nicht bleiben . vornehmen . Darüber werden wir mit den Fachpolitike- rinnen und Fachpolitikern diskutieren; das haben wir im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Übrigen auch im letzten Jahr gemacht . Das habe ich auch ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Brüssel vorgeschlagen: Nehmt die Siebenjahrespläne DIE GRÜNEN) und konzentriert 5 oder 10 Prozent der Haushaltsmittel Es kann und darf doch nicht sein, dass das Welternäh- auf die aktuellen Herausforderungen . So ergäben sich 10 rungsprogramm die Nahrungsmittelversorgung für Ba- oder 15 Milliarden Euro in Brüssel . bys im Libanon und im Nordirak jetzt kürzen muss . Das Wir werden die erwähnte Umschichtung vornehmen, muss man sich einmal vorstellen: 100 000 Babys sind in ohne unsere klassischen Aufgaben zu vernachlässigen . diesen Ländern in den letzten zwei Jahren auf Zeltplanen Mit den von der Koalition am Wochenende beschlos- geboren worden, und weil wir, die Weltgemeinschaft, senen 400 Millionen Euro werden wir einen weiteren nicht genügend Geld zur Verfügung stellen, muss die Schritt unternehmen können, aber die Probleme werden Nahrungsmittelversorgung auf 1 000 und weniger Kalo- wir damit nicht lösen . Der Vorschlag ist, eine weitere rien pro Tag reduziert werden . Konzentration im BMZ vorzunehmen . Dabei können wir (Karin Binder [DIE LINKE]: Schande!) unsere klassischen Aufgaben aber nicht komplett ver- 11680 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Bundesminister Dr. Gerd Müller (A) nachlässigen . Wir konzentrieren unsere Mittel . Deshalb Wir brauchen eine neue EU-Afrika-Mittelmeerpartner- (C) können wir 1 Milliarde Euro für die Menschen in den schaft . Diese Länder brauchen den Zugang zu europä- Krisengebieten bereitstellen, für Unterkünfte, für Kinder, ischen Märkten . Sie brauchen deutsche, europäische für Schulen, für Krankenhäuser und – das ist mir beson- Investoren . Dazu benötigen wir auch neue Instrumente ders wichtig – für Traumaarbeit . Ich kündige nicht nur im steuerlichen Bereich, im Abschreibungsbereich, um an – ich stehe hier in Berlin, nicht in Brüssel –, sondern Investments oder Joint Ventures zu fördern . Diese Anrei- wir setzen auch um . Wir haben Traumazentren aufge- ze müssen wir entwickeln . baut . Sie arbeiten bereits . Die Frauen und Mädchen, aber Ich werde deshalb noch in diesem Jahr ein Zentrum auch die jungen Soldatinnen und Soldaten müssen eine für Wirtschaft und Entwicklung im Haus der Wirtschaft Unterstützung und eine Behandlung erhalten . eröffnen, um wirtschaftliche Partnerschaften zu fördern . Mit 1 Milliarde Euro in den Krisengebieten können 500 000 deutsche Unternehmen sind in der Welt enga- wir mehr bewegen als mit 10 Milliarden Euro hier . Ich giert, davon nur 1 000 in Afrika . Das müssen wir ändern . will nicht beides gegeneinander ausspielen . Die Hilfe Wir wollen mittelständische Betriebe, Kommunen, Kam- hier ist notwendig; aber mit 1 000 Euro kann das Über- mern, Verbände insbesondere an die nordafrikanischen leben einer Flüchtlingsfamilie im jordanisch-syrischen Märkte heranführen . Grenzgebiet ein Jahr lang gesichert werden, während da- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und für hier der 10-, 15- oder 20-fache Ansatz erforderlich ist . der SPD) Die Menschen aus den Krisengebieten – auch das möch- te ich sagen – wollen eigentlich nicht hierherkommen . Das Entwicklungsjahr 2015 ist auch ein Gipfeljahr . Sie müssen mit ihren Familien hierherkommen, aus Not Der G-7-Gipfel in Elmau war eine entwicklungspoliti- und Elend heraus, um zu überleben . Sie würden, wenn es sche Zeitenwende mit einem Bekenntnis zu fairen Wert- denn möglich wäre, viel lieber vor Ort bleiben . schöpfungsketten . Liebe Claudia Roth, wir zwei hätten uns das ein Jahr vorher überhaupt nicht vorstellen kön- Ich begrüße die Analyse und die Vorschläge von Kom- nen . Aber es kam, und diese Wende hat unsere Kanzlerin missionspräsident Juncker bezüglich eines Sonderpake- herbeigeführt . Elmau war ihr Erfolg, der Erfolg von Bun- tes von 1 Milliarde Euro . Es hat Monate gedauert, und deskanzlerin Angela Merkel . Wir haben ein Bekenntnis das Geld fließt noch nicht in die Projekte. Jetzt wurden zu fairen Wertschöpfungsketten . Wie wurde ich am An- 1,8 Milliarden Euro, vielleicht auch 1,85 Milliarden Euro fang kritisiert oder belächelt wegen unseres Textilbünd- für Afrika angekündigt . Das ist ein richtiger Schritt . nisses! Das ist eine Blaupause für den fairen Handel in Das ist aber absolut keine ausreichende Antwort . Wir der Welt – weg vom freien zum fairen Handel . brauchen ein Gesamtkonzept . Wir brauchen kurz-, mit- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (B) tel- und langfristige Maßnahmen, eine bessere Koordi- (D) nierung, einen EU-Koordinator, und wir brauchen einen ordneten der SPD) EU/UN-Vorschlag für den EU-Afrika-Gipfel . Natürlich Es gibt die Perspektive eines carbonfreien Jahrhun- müssen wir auch die afrikanischen Staaten in die Ver- derts – carbonfreies Jahrhundert! – und die Vision einer pflichtung nehmen. Ausbildung, Ausbildung, Ausbil- Welt ohne Hunger . Diese Vision werden wir zur Realität dung heißt die Devise für Afrika . Dies muss und wird der machen. Ferner gibt es die Verpflichtung zur Stärkung Schwerpunkt in den nächsten Jahren sein . Afrikas Jugend der Rechte der Frauen . braucht eine Perspektive, eine Lebensperspektive . Nun stehen wir vor den Gipfeln in New York und in Pa- Der afrikanische Kontinent – ich komme gerade tief ris . Deutschland hat auch mit Blick auf den Klimagipfel beeindruckt von den Gesprächen beim Afrika-Forum zu- in Paris mit seiner Nachhaltigkeitsagenda und mit der rück – wird sich bis 2050 bevölkerungsmäßig verdop- Ankündigung der Verdoppelung der Klimamittel vorge- peln . Es werden 2 Milliarden Babys geboren, 2 Milliar- legt . Warum sage ich das? Weil wir, das Entwicklungsmi- den Babys in den nächsten 30 bis 40 Jahren! Diese Kinder nisterium, das operative Klimaministerium sind . Wir set- brauchen später Arbeit, sie brauchen eine Zukunft, eine zen die Klimaverpflichtungen der Bundesregierung um. Lebensperspektive . Ansonsten machen sie sich später auf Wenn vom Fraktionsvorsitzenden der SPD und vielen über das Mittelmeer nach Deutschland, nach Europa . anderen gesagt wird, der Müller könne doch jetzt alles in Die Dynamik des afrikanischen Kontinents ist auch die Bekämpfung von Fluchtursachen investieren, muss eine große Chance . Europa muss – dies ist auch ein kon- ich sagen, dass das natürlich nicht geht . Wir müssen un- zeptioneller Vorschlag – dabei insbesondere den Blick seren klassischen Aufgaben gerecht werden sowie mittel- auf die nordafrikanischen Staaten richten . Wir Europäer und langfristige Ansätze weiterentwickeln . Dazu gehört sind nur einen Steinwurf über das Mittelmeer entfernt . natürlich auch die Umsetzung der Klimaverpflichtungen, Viele waren in Spanien und Gibraltar . Nur wenige Kilo- die sich in unserem Haushalt abbilden . meter davon entfernt ist Marokko . Auch Kos und andere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und griechische Inseln sind letztlich nur wenige Kilometer der SPD) von Afrika entfernt . Wir brauchen einen neuen Vorstoß, Wir setzen dies um . Beispielsweise habe ich vor den Mittelmeerraum als unseren politischen und wirt- 14 Tagen eine Vereinbarung in der Größenordnung von schaftlichen Partner zu begreifen . 500 Millionen Euro zum Tropenwaldschutz in Brasilien (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- geschlossen . In 14 Tagen unterzeichne ich ein Abkom- ordneten der SPD und des Abg . Dr . Diether men zum Ausbau der erneuerbaren Energien in Indien . Dehm [DIE LINKE]) Wir investieren in Waldschutz, in Aufforstung . Der Kli- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11681

Bundesminister Dr. Gerd Müller (A) maschutz ist für mich neben der Ernährungssicherung die Nun ist Erdogan so dumm, dass er ganz offen die Kon- (C) Überlebensfrage der Menschheit . frontation mit den Kurden im eigenen Land, aber auch in den Nachbarländern Syrien und Irak sucht und mili- Eine Welt ohne Hunger schaffen, Klima, Schöpfung tärisch gegen sie vorgeht . Dadurch besteht natürlich die und Umwelt bewahren, in Gesundheit und Ausbildung Gefahr, dass der Flächenbrand, der ohnehin schon vor- investieren – all dies schafft Zukunft für die Menschen handen ist, noch größer wird . Wir haben dazu allerdings in unseren Partnerländern . Wer Zukunft, Arbeit und Le- auch noch Waffen geliefert . Nach neuesten Informatio- bensperspektive für sich sieht, der begibt sich nicht in die nen ist Russland ganz klar an der Seite von Assad militä- Hände von Schleppern . Das muss ich sagen, wenn ich risch engagiert . die jungen Leute hier oben auf der Tribüne sehe . Das ist die Botschaft . Wir sind also in dieser Region weiter als je zuvor da- von entfernt, Frieden zu haben . Krieg ist Fluchtursache (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nummer eins . Deshalb ist die Befriedung dieser Region Deshalb ist jeder in Entwicklungspolitik investier- Grundvoraussetzung, um die sogenannte Flüchtlings- te Euro eine Investition in Zukunft und Frieden . Der krise lösen zu können . Die Befriedung dieser Region ist BMZ-Haushalt steigt um 14 Prozent, um nahezu 1 Milli- Grundvoraussetzung, damit sich wieder wirtschaftliche arde Euro . Dafür bin ich sehr dankbar . Das ist der höchste Entwicklung entfalten kann . Die Befriedung dieser Re- Aufwuchs der vergangenen Jahre oder Jahrzehnte . gion ist auch Grundvoraussetzung dafür, dass wir wieder mit der eigentlichen Entwicklungszusammenarbeit be- (Stefan Rebmann [SPD]: Wir haben schwer ginnen können, also mit dem Kerngeschäft Ihres Minis- dafür gekämpft!) teriums . Wie gesagt, leider sind wir davon sehr weit ent- Herzlichen Dank allen Kolleginnen und Kollegen! fernt . Wir müssen jetzt die Not der Flüchtlinge lindern, damit ihr Leben zumindest einigermaßen erträglich wird . Notwendig aber ist, den Herausforderungen jetzt mit Das können wir nicht nur tun, sondern das müssen wir einem globalen Gesamtkonzept, national, europäisch, in- tun. Das ist unsere humanitäre Pflicht. ternational, und einem Paradigmenwechsel zu begegnen, einem Konzept für einen fairen Welthandel, für eine neue Herr Minister, ich weiß: Sie sind mit Herz und Ver- Ressourcenpartnerschaft und für eine Vervielfachung stand bei der Sache, und Sie sind auch überzeugend . Aber privater Investitionen . Investitionen in Entwicklung si- ich verstehe nicht, warum wir angesichts der immensen chern Überleben, Frieden und Zukunft für unsere Kinder Herausforderungen nicht endlich die notwendigen Mittel und den Planeten . in die Hand nehmen, um effektiv und umfassend helfen zu können . Wann, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Vielen Dank . nicht jetzt wollen wir unserer internationalen Verpflich- (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tung nachkommen und 0,7 Prozent des BIP für die Ent- wicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen? Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Vielen Dank .– Als nächster Redner hat Michael NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Leutert von der Fraktion Die Linke das Wort . ten der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Der Winter steht vor der Tür, und die meisten Flücht- linge leben immer noch in Zelten . Selbst bei uns in Eu- Michael Leutert (DIE LINKE): ropa ist nicht überall vorgesorgt; ich erinnere nur an die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bilder, die uns aus Ungarn, Serbien oder Mazedonien er- Sehr geehrter Herr Minister! Ich könnte heute eigentlich reichen . Ich möchte einfach nicht – es gibt schon genug exakt die gleiche Rede halten, die ich hier vor einem Jahr Bilder von diesem Elend –, dass wir auch noch Bilder gehalten habe, als wir über den Haushalt 2015 beraten von erfrorenen Flüchtlingskindern sehen müssen . Ich haben . Seitdem hat sich nämlich nichts Fundamentales habe letztes Jahr darauf hingewiesen – ich tue es heute geändert . Wir stehen vor den gleichen Herausforderun- gern noch einmal –: Im Auswärtigen Amt stehen mittler- gen. Es sind die gleichen Konflikte, die gleichen Pro­ weile über 0,5 Milliarden Euro für die humanitäre Hilfe bleme und damit auch identische Aufgaben für uns, nur zur Verfügung, in Ihrem Ministerium für die Folgehilfe allerdings nur 220 Millionen Euro . Dort muss nachge- mit einem einzigen Unterschied: Alles ist noch viel grö- bessert werden . Das passt so nicht zusammen . ßer geworden . Schaut man sich jetzt die Dimension der gewaltigen Probleme an, dann weiß man auch: Dies ist Eine Ihrer Sonderinitiativen heißt „Fluchtursachen be- durch ein Land allein nicht zu bewältigen und erst recht kämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ . Dafür haben Sie nicht durch ein Ministerium allein . 110 Millionen Euro vorgesehen, aber global . Allein in Afghanistan gibt Deutschland jedes Jahr über 500 Mil- Wir haben Syrien heute mehrmals angesprochen: lionen Euro für den Wiederaufbau aus . Auch dort sind 21 Millionen Einwohner, davon 12 Millionen Flüchtlin- die Ergebnisse eher ernüchternd . Das zeigt doch, dass die ge. 4 Millionen davon befinden sich in den umliegenden Mittel hinten und vorn nicht ausreichen werden . Ländern, in Jordanien, in der Türkei, im Libanon . Das Nachbarland Irak ist instabil und wird ebenfalls von Ter- Klar ist natürlich, dass unsere finanziellen Möglich- ror und Krieg beherrscht . Die Terrororganisation „Islami- keiten immer beschränkt sein werden . Deshalb müssen scher Staat“ hält weiterhin große Landstriche in Syrien wir uns auf Schwerpunkte verständigen . Das wurde ver- und im Irak unter seiner Kontrolle . schiedenartig versucht, etwa durch regionale Schwer- 11682 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Michael Leutert (A) punkte mit dem Konzept der Ankerländer oder der Jetzt kommen wir wieder zur Tagesordnung . Die (C) Schwerpunktländer . Sie haben es mit einer thematischen nächste Rednerin ist für die SPD Sonja Steffen . Konzentration in Form der Sonderinitiativen versucht . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich glaube, man sollte beides miteinander kombinieren, der CDU/CSU) damit man zu Synergieeffekten kommt, und man sollte zuspitzen . Sonja Steffen (SPD): Eine thematische Kernaufgabe – Sie haben sie ange- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Mi- sprochen – ist derzeit natürlich die Flüchtlingshilfe . In nister, auch von den Haushaltspolitikern alles Gute zum diesem Zusammenhang bilden Syrien und die an Syrien runden Geburtstag! angrenzenden Länder den regionalen Schwerpunkt . Ich Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Wenn man finde, man sollte Prioritäten setzen, zuspitzen und sich in die schwierigen Haushaltsdebatten der letzten Tage ver- allererster Linie um die Familien mit Kindern kümmern . folgt hat, stellt man fest: Es gibt einen Grund zur Freude . Wenn wir es nicht schaffen, den Kindern – trotz widrigs- Es ist der folgende: Während die Entwicklungszusam- ter Umstände – Bildung mit auf den Weg zu geben und menarbeit in den letzten Jahren aus meiner Sicht doch ihnen so wenigstens einen Hauch von Perspektive zu eher ein Schattendasein führte, ist sie in diesen Debatten verschaffen, dann wird die nächste verlorene Generation zu einem überragend wichtigen Thema geworden . Das heranwachsen . hat mich sehr gefreut . Es freut mich auch, dass wir heute endlich einmal zu halbwegs prominenter Zeit über diesen Ich meine nicht, Herr Minister – das hatten Sie ange- Einzelplan reden . sprochen –, dass man die anderen Dinge nicht tun sollte . Wenn man in einem Flüchtlingslager hilft, muss zuerst (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der die Schule gebaut werden . Wenn die Schule gebaut ist, CDU/CSU) dann kann man auch die Straße bauen . Bei uns im Bundestag, aber auch innerhalb der gesam- (Beifall bei der LINKEN) ten Bevölkerung ist inzwischen deutlich geworden, dass die Entwicklungszusammenarbeit in der Zukunft mit Sie selbst haben erwähnt, dass es in den syrischen über das Schicksal der gesamten Menschheit entscheiden Flüchtlingslagern mittlerweile circa 100 000 Neugebo- wird . Es gibt eine aktuelle Studie von Emnid – sie ist ganz rene gibt . Liebe Kolleginnen und Kollegen, um diese neu –, die besagt, dass sich 81 Prozent der Deutschen – Kinder müssen wir kämpfen; ich glaube, es lohnt sich . das sind vier von fünf Deutschen – für die ODA-Quote Ansonsten haben sie keine Chance, und wir stehen in der aussprechen . 81 Prozent der Deutschen wollen mehr für (B) Zukunft vor noch größeren Problemen . die Bekämpfung der Armut und für Forschung und Ent- (D) wicklung in Bezug auf sogenannte Armutskrankheiten Wir Linken werden uns mit Vorschlägen, die in diese ausgeben, und, Herr Minister, rund jeder Zweite würde Richtung weisen, in die Beratungen einbringen . Ich freue Fairtrade-Produkte kaufen, und zwar nicht nur Schokola- mich auf die Diskussion, die wir in den nächsten Wochen de und Kaffee, sondern auch Textilien . darüber führen werden . Für das kommende Haushaltsjahr haben wir in unse- Vielen Dank . rem Einzelplan – das ist schon gesagt worden – 880 Mil- (Beifall bei der LINKEN) lionen Euro mehr als dieses Jahr . Das ist tatsächlich eine beispiellose Entwicklung . In den letzten zehn Jahren ist unser Einzelplan um fast 100 Prozent gewachsen . 2005 Vizepräsidentin Claudia Roth: waren es circa 3,8 Milliarden Euro, jetzt sind wir bei Vielen Dank, Kollege Leutert .– Ich wünsche Ihnen, 7,4 Milliarden Euro . Der große Sprung ist sehr erfreulich . liebe Kolleginnen und Kollegen, von meiner Seite aus Auf der anderen Seite müssen wir aber auch sehen, dass einen schönen, guten Nachmittag . sich beispielsweise die Zahl der Flüchtlinge in diesem Wenn ich schon einmal das Mikro habe, wünsche ich Zeitraum um 20 Millionen Menschen erhöht hat . dem Minister im Namen der Entwicklungspolitiker und Wir müssen uns auch der Frage stellen, ob die Ent- -politikerinnen und der Haushälter, die für diesen Be- wicklungszusammenarbeit in der Vergangenheit mög- reich zuständig sind, alles Gute zu seinem kugelrunden licherweise versagt hat . Diese Frage kann jedoch nicht Geburtstag . mit einem klaren Ja oder Nein beantwortet werden . Es gibt beispielsweise eine erfreuliche Zahl: Die Zahl der (Beifall) ärmsten Menschen – das sind diejenigen, die weniger als Wir wünschen Ihnen viel Kraft, die Sie angesichts des- 1,25 Dollar täglich zur Verfügung haben – hat sich welt- sen, was in der Welt los ist, sicher gebrauchen können . weit in den letzten 15 Jahren halbiert . An dieser Stelle können wir also sagen: Wir haben das Millenniumsziel, Ich begrüße den ehemaligen Vorsitzenden des Aus- das wir uns gesetzt hatten, erreicht . schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung, Thilo Hoppe, auf der Tribüne . Herzlich will- Wir müssen daneben auch bedenken, dass es Flucht und Migration schon immer gab – aus unterschiedlichen kommen, lieber Thilo! Gründen . Die Menschen wurden vertrieben, oder sie ha- (Beifall) ben sich selbst auf den Weg gemacht . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11683

Sonja Steffen (A) Ich habe mich heute Morgen sehr gefreut, als Kom- wichtig . Es geht um ganz wichtige Fonds wie GFATM (C) missionspräsident Juncker in seiner Grundsatzrede fol- und GAVI . Ich freue mich, dass GAVI in dem Haushalt genden Satz gesagt hat, den ich für sehr wichtig halte: 2016 mehr Geld erhält . Ich meine, wir müssen auch bei Wir alle sind Flüchtlinge . – Das galt bis 1989 übrigens GFATM noch einmal nachdenken, ob wir hier nicht noch auch für viele Osteuropäer . Es gab viele Flüchtlinge aus etwas drauflegen wollen. Osteuropa, und manchmal muss man glauben, dass die osteuropäischen Länder derzeit von einer gewissen Am- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nesie befallen sind, was sehr traurig ist . Es geht darum, die Erforschung von Armutskrankhei- Konflikte sind also die Hauptursache für Flucht und ten zu unterstützen . Es kann nicht sein, dass wir dem- Vertreibung . Nur ein Bruchteil der Menschen macht sich nächst wieder von einer Krankheit wie Ebola überrascht aus rein ökonomischen Interessen auf den Weg . werden und noch nicht einmal Impfstoffe zur Verfügung haben, um vorbeugend tätig zu werden . 55 Prozent der Flüchtlinge – das wurde schon gesagt – kommen aus fünf Kriegs- oder Krisenstaaten . Dazu ge- Es ist ganz wichtig, dass wir die gesundheitliche Ver- hören Afghanistan, Somalia, der Irak, Syrien und der sorgung in den Flüchtlingscamps vor Ort und in den An- Sudan . Wir müssen uns fragen: Wo kann die Entwick- rainerstaaten besser unterstützen . Ich weiß nicht, ob es lungszusammenarbeit ansetzen, um Fluchtursachen wir- bekannt ist: Die Krankheit Kinderlähmung, die wir mit- kungsvoll entgegenzutreten? Müssen wir vielleicht ande- hilfe unserer Impfallianzen schon fast ausgerottet hatten, re Prioritäten setzen? ist wieder ausgebrochen . In der Ukraine sind zwei neue Fälle von Kinderlähmung aufgetreten . Das liegt an den Wichtig ist, dass wir den Aufwuchs der Mittel, den wir widrigen Umständen in den Flüchtlingslagern . Da müs- jetzt zur Verfügung haben, diese 880 Millionen Euro, tat- sen wir unbedingt ran . sächlich wirkungsvoll einsetzen . Es darf nicht sein, dass wir nach dem Gießkannenprinzip vorgehen und jeden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Titel – oder auch jeden zweiten – mit etwas mehr Geld der CDU/CSU) ausstatten . Das geht so nicht . Wir brauchen einen kon- Zum Thema Bildung, Herr Minister, will ich nur noch zentrierten Ansatz und einen Fokus . Folgendes sagen: Es reicht nicht, nur Schulen zu bauen . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es ist zwar toll, wenn wir das machen . Aber es kann nicht sein, dass 90 Kinder in einer Klasse von einem Lehrer Auch ich bin der Meinung, dass wir diesen Fokus im unterrichtet werden . Diese Klasse ist am Anfang voll und kommenden Haushaltsjahr auf die Fluchtursachen rich- im Nullkommanichts wieder leer . Wir müssen auch die ten müssen . Lehrerausbildung fördern . Deshalb freue ich mich auch (B) Herr Minister, Sie haben ganz recht: Wir dürfen darü­ sehr, dass Sie vorhin die Ausbildungszentren angespro- (D) ber unsere anderen Aufgaben natürlich nicht vergessen . chen haben . Wir haben in dieser besonderen Situation jetzt aber die Nun bin ich, wie ich sehe, schon fast am Ende meiner Möglichkeit für besondere Maßnahmen . Redezeit angelangt . Mein Kollege Kahrs hat gestern schon den Vorschlag Mein dritter und letzter Punkt . Entwicklungsländer, gemacht, 560 Millionen Euro der 880 Millionen Euro – die Flüchtlinge in ihrer Region aufnehmen, müssen wir um diesen Betrag wurde die ursprüngliche Finanzpla- unbedingt stärker unterstützen . nung erhöht – für die Bekämpfung der Fluchtursachen einzusetzen . Ich kann mich ihm nur anschließen . Ich meine, wir haben in den kommenden Wochen noch viel zu tun . Lassen Sie uns einen besonderen Fo- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der kus auf die Mittel legen, die uns zusätzlich zur Verfügung CDU/CSU) stehen . Ich freue mich auf die Beratungen . Die Frage, die wir uns natürlich auch noch stellen Vielen Dank . müssen, ist: Wo können diese Mittel dann eingesetzt wer- den? Ich mache dazu einmal drei Vorschläge: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der erste Vorschlag betrifft präventive Aufgaben . Wir müssen die politische Beratung vor Ort stärken und dafür Vizepräsidentin Claudia Roth: sorgen, dass Bürgerkriege, Terrorismus und Korruption Vielen Dank, Kollegin Steffen .– Nächste Rednerin: schon an Ort und Stelle bekämpft werden . Dafür haben Anja Hajduk für Bündnis 90/Die Grünen . wir hier wirklich sehr gute Institutionen: unsere politi- schen Stiftungen, die Kirchen, die privaten Träger und Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den Zivilen Friedensdienst . Wir müssen aber auch Insti­ Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tutionen wie die Deutsche Welle stärker unterstützen, Herren! Ja, es ist richtig: Dieser Haushaltsplan im Be- weil sie vor Ort sehr wichtige Arbeit leisten können . reich Entwicklungszusammenarbeit steigt um einen er- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) heblichen Anteil – es ist ein zweistelliger Prozentsatz –, nämlich von 6,5 Milliarden Euro auf 7,4 Milliarden Euro . Ein zweites Handlungsfeld – das ist auch schon vom Herr Minister, das ist erst einmal eine frohe Botschaft . Minister angesprochen worden –: Wir müssen gezielt in Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft investieren . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Das Thema Gesundheit ist mir an dieser Stelle besonders ordneten der SPD) 11684 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Anja Hajduk (A) Aber man muss auch ganz nüchtern sagen: Das ist ab- fung der Steuervermeidung in Entwicklungsländern . Wir (C) solut notwendig . Ihr Etat hat einen Anteil von 2,2 Prozent können nicht immer nur über ODA-Mittel reden . Wir am Gesamthaushalt . Ich nehme einmal – ganz zufällig – müssen auch ernst nehmen, dass den Entwicklungslän- einen anderen Etat zum Vergleich: Der Etat für Verteidi- dern jährlich bis zu 1 Billion US-Dollar an finanziellen gung hat einen Anteil von 11 Prozent am Gesamthaus- Ressourcen durch illegale Kapitalabflüsse und auch halt . Wir leben in einem Zeitalter, in dem international durch legale Steuervermeidung internationaler Konzerne niemand infrage stellt, dass das eine Epoche ist, in der verloren gehen . Allein auf Afrika bezogen, sind das 50 wir das Ausmaß von globaler Flucht erleben – mit 60, 70 bis 60 Milliarden US-Dollar . oder 80 Millionen Menschen auf der Flucht . Diese Zahl Sie haben gerade über das Thema Fluchtursachen steigt in Zukunft vielleicht sogar noch an . Vor diesem gesprochen . Wenn die reichen Länder des Westens kei- Hintergrund ist es schlicht eine moralische Pflicht und ne internationale Steuerpolitik ermöglichen, die diese auch vernünftig, in den eigenen Haushalten völlig neue teilweise auch legalen Steuergestaltungsmöglichkeiten Akzentsetzungen vorzunehmen . verhindert, dann fehlt uns ein ganz wesentlicher Faktor (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES bei der Fluchtursachenbekämpfung . Und da müssen wir 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der heran . SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Da ist ein Anteil von 2,2 Prozent am Gesamtetat doch sowie bei Abgeordneten der SPD und der nicht genug . LINKEN) Deswegen sage ich Ihnen, Herr Minister: Die Erhö- Sie haben im Juli dieses Jahres eigentlich das Gegen- hung des Etats für das Jahr 2016 ist begrüßenswert; aber teil getan . Einerseits hat die Bundesregierung eine Initi- umso bedauerlicher ist es, dass die Langfristentwicklung ative – die Addis Tax Initiative – ins Leben gerufen, was stagniert . Das passt nicht zusammen . Sie haben mir ja richtig ist . Diese konzentriert sich darauf, die Steuerbasis gerade applaudiert aus den Koalitionsreihen, dass das der Entwicklungs- und Schwellenländer in Augenschein wohl richtig ist . Aber man muss sagen, dass es nicht in zu nehmen . Gleichzeitig haben Sie aber leider von die- Ordnung war, Herr Minister, als Sie im Mai dieses Jahres sem Ziel abgelenkt, indem Sie nicht zugelassen haben, mit den EU-Kollegen eine Vereinbarung getroffen haben, dass die internationale Gemeinschaft an die ursprüngli- die Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels erst für 2030 anzu- che Forderung nach einer Gesamtbesteuerung der akti- streben . Sie verantworten eine Finanzplanung, in der Ihr ven Konzerne herangegangen ist . Etat, also Geld für die Entwicklungszusammenarbeit, mit Insofern kann ich nur sagen: Wir sind enttäuscht, dass einem Anteil von 0,4 Prozent am Bruttoinlandsprodukt sich Deutschland in Addis Abeba dagegengestellt hat, die stagniert . Das passt nicht zusammen . Das ist nicht genug, (B) Vereinten Nationen bei der Diskussion um Reformen der (D) und da muss die Regierung nachbessern . internationalen Steuerpolitik mit einzubinden . Das muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN korrigiert werden; denn das untergräbt unsere Glaubwür- sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg . digkeit, wenn es um die Frage geht, ob wir an dieses The- Heike Hänsel [DIE LINKE]) ma wirklich herangehen wollen . Vor dem Gipfel in New York war dieses fehlende Signal (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Enttäuschung für die internationale Gemeinschaft . sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Da reicht der Hinweis auf den Gipfel in Elmau nicht aus . Herr Minister, wir sind bei Ihnen, wenn die Mittel in Es wird noch zwei Gipfel geben . Ich kann nicht erkennen, Ihrem Etat – das wird auch aus der SPD heraus vorge- dass Deutschland seine Verantwortung so wahrnimmt, schlagen – stärker auf Fluchtursachen konzentriert wer- dass international das Gefühl aufkommt: Mensch, die den . Wir müssen aber aufpassen, dass es keine Kanni- ziehen uns wirklich nach vorne .– Nein, das Gegenteil ist balisierung zulasten der besonders gering entwickelten der Fall: Enttäuschung . Länder gibt . Deren Anteil an der Hilfe – da sind wir uns, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) glaube ich, eigentlich auch einig – muss gesteigert wer- den . Insofern muss ich Sie bitten, an der Stelle auch vor- Ich will nicht sagen, dass international nicht auch an- sichtig vorzugehen . Es kann außerdem nicht sein, dass erkannt wird, was Deutschland leistet; wir brauchen aber die im Rahmen des Welternährungsprogramms gewährte eine andere Langfristplanung . Wir werden von grüner Unterstützung der syrischen Flüchtlinge im Libanon und Seite mit Blick auf eine wirklich integrierte Betrachtung, in Jordanien im Juni 2015 wegen knapper Finanzen ein- was den Einsatz von ODA-Mitteln für klassische Ent- gestellt werden musste . wicklungszusammenarbeit und für den internationalen Klimaschutz angeht, entsprechende Vorschläge während (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieser Haushaltsverhandlungen vorlegen . sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, bei Ich komme zu meinem allerletzten Punkt, wo wir, Herr dem ich glaube, dass wir wirklich auf einem falschen Weg Minister, Ihnen nicht folgen . Sie haben meiner Heimat- sind. Sie, Herr Minister, sollten darauf Einfluss nehmen. stadt Hamburg einen Besuch abgestattet und dort einen Darüber müssen Sie sich im Kabinett vielleicht richtig Vorschlag zu Rüstungsexporten gemacht . Sie haben dann streiten . Es geht darum, dass wir in einem Punkt, der in aber auch noch gesagt, dass Rüstungsausgaben an eine Addis Abeba als Ziel angestrebt wurde, einen wirklich Forderung nach einer Friedensdividende gekoppelt wer- großen Schritt weiterkommen, nämlich bei der Bekämp- den sollen . Dazu muss ich Ihnen klar sagen: Wir werden Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11685

Anja Hajduk (A) Ihnen da nicht folgen . Wir wollen keine Friedensdividen- Wir leben in einer Zeit zunehmender Gewalt . Krisen (C) de bei Rüstungsausgaben, mit der man dann diesen auch und Konflikte spitzen sich immer mehr zu. Es gibt im- noch Freibriefe erteilt . Nehmen Sie bitte davon Abstand, mer mehr Vertreibung durch Terrorismus und ethnische und schalten Sie in den von mir gerade vorgetragenen Probleme, und vor allem auch immer mehr bittere Ar- Punkten um . Dann kämen wir einen erheblichen Schritt mut und Hunger, die die Menschen fliehen lassen. Das voran . Flüchtlingsthema hat also eine neue Dimension erreicht . Schönen Dank . Ich bin froh, dass wir die drei Sonderinitiativen haben, die von unserem Minister auf den Weg gebracht worden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind, nämlich „EineWelt ohne Hunger“, „Fluchtursachen bekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ und „Stabilisie- Vizepräsidentin Claudia Roth: rung und Entwicklung in Nordafrika und Nahost“, die es Vielen Dank, Kollegin Hajduk . – Nächste Rednerin ist schon vorher gab, und dass wir die Mittel von 200 Milli- Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-Fraktion . onen Euro auf 400 Millionen Euro verdoppeln konnten . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vielen Dank auch an die Haushälter über die Fraktions- ordneten der SPD) grenzen hinweg! Aber wir wissen, es wirkt immer alles wie ein Tropfen auf den heißen Stein . Wir würden uns in diesem Rahmen natürlich mehr wünschen . Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU): Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle- Fluchtursachen bekämpfen: Das ist zurzeit in al- gen! Wir wissen, die Haushaltsdebatte, die diese Woche ler Munde . Aber was sind Fluchtursachen? Ich habe es läuft, ist hauptsächlich von einem Thema beherrscht . Uns schon angesprochen: Wie würden wir dastehen, wenn allen sind die schrecklichen Bilder von im Mittelmeer wir in diesem Zusammenhang bisher nicht aktiv gewe- ertrunkenen Menschen vor Augen – inzwischen sind es sen wären? über 2 600 –, von Menschen, die in Europa in Lastwagen Für uns ist es wichtig, dass wir im Rahmen unserer erstickt sind, Flüchtlinge, die mit ihren Familien versu- Entwicklungszusammenarbeit es schaffen, Lebenspers- chen, an der ungarischen Grenze Stacheldrahtzäune zu pektiven in den Entwicklungsländern bzw . in den krisen- überwinden . geschüttelten Ländern zu verbessern . Das sind Länder, Ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche . die eine sehr junge Bevölkerung haben . In Afrika leben jetzt 1,2 Milliarden Menschen . 2100 soll Afrika 4,4 Mil- Es sind Bilder, die uns allen nicht mehr aus dem Kopf liarden Einwohner haben . Das ist fast das Vierfache . Über gehen . Vielen von uns standen die Tränen in den Augen, 50 Prozent sind junge Leute, die eine Perspektive brau- (B) als wir das Bild von Aylan gesehen haben . Aber es sind chen . Das sind junge Leute, die in ihrer Heimat bleiben (D) auch Bilder, die uns zum Handeln zwingen und die uns wollen . Es ist schließlich nicht so, dass sie ihre Heimat sagen: Wir müssen umdenken . Wir müssen in diesem gerne verlassen . Sie möchten zu Hause bei ihrer Familie Zusammenhang wieder verstärkt das Heft in die Hand bleiben: bei ihrer Schwester, bei ihrem Bruder oder bei nehmen . ihren Kindern . Wir müssen ihnen eine Chance geben . Sie Wir haben gehört, dass über 60 Millionen Menschen brauchen unsere Unterstützung, damit sie in ihrem Hei- auf der Flucht sind, darunter 38 Millionen Binnenflücht- matland und in ihrem Heimatort etwas bewegen können . linge . 86 Prozent der Menschen, die aus ihrem Heimat- Sonst werden sich viele von ihnen in Bewegung setzen . land fliehen, leben in Entwicklungsländern. Das heißt, Ich hoffe, dass wir auf dem Gipfeltreffen in Malta jeder 122 . Mensch auf der Welt ist auf der Flucht . Hier im Herbst geschlossen mit einer Stimme sprechen . Die sind auch wir gefordert, und zwar in vielfältiger Art und Europäische Union ist eine Macht, aber nur dann, wenn Weise . Gefordert, dass wir verhindern müssen, dass es sie auch zukünftig mit einer Stimme spricht . Die Staaten in den Ländern, in die die Flüchtlinge vor allem flie- müssen umdenken . Sie müssen mehr gemeinsam agieren hen – wie Jordanien oder den Libanon, wo inzwischen und auch einmal gegenüber den Regierenden in den af- 25 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge sind –, zu einer rikanischen Ländern mit der Faust auf den Tisch hauen, Destabilisierung kommt . nach dem Motto „So geht es nicht weiter“ . Sie müssen Ich bin froh, dass wir auch schon in der Vergangenheit wissen, dass sie in die Pflicht genommen werden, sie mit 170 verschiedenen Projekten im Rahmen der Syri- müssen wissen, dass sie selbst den Exodus der Einwoh- ner ihrer Länder verhindern müssen und dass sie aktiver en-Krise aktiv gewesen sind . Ich möchte nicht wissen, sein müssen als bisher . wo wir heute stünden, wenn wir nicht in der Vergangen- heit schon so aktiv unsere Entwicklungszusammenarbeit (Beifall des Abg . Martin Patzelt [CDU/CSU]) gestaltet hätten . Nichtsdestoweniger ist es für uns wichtig, auch wei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- terhin für die Ernährungssicherung zu sorgen, was wir ordneten der SPD) auch schon in der Vergangenheit gemacht haben: durch ländliche Entwicklung und Aufklärung der Frauen, damit Deswegen auch vielen herzlichen Dank an die vielen, die sie ihre Kinder ernähren können, und durch viele andere auch in der Vergangenheit mit aktiv gewesen sind! Ich Maßnahmen mehr . bin froh, dass wir jetzt durch das Aufstocken des Etats die Möglichkeit haben, in diesem Bereich noch stärker Bildung und Beschäftigungsförderung sind genauso aktiv zu werden . wichtige Themen wie die Rückkehr von Flüchtlingen . 11686 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Dagmar G. Wöhrl (A) Gesundheitszentren, die vernichtet wurden, müssen wie- Europa sollte – ich sage absichtlich: sollte – beim (C) der aufgebaut werden . Des Weiteren steht die Förderung Flüchtlingsthema eine Rolle spielen . Als die Euro-Krise von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Vordergrund . akut wurde, wurde ein Gipfel nach dem anderen – fast im In diesem Zusammenhang möchte ich mich besonders Tagesrhythmus – einberufen . Aber wo sind den jetzt die bei unseren politischen Stiftungen bedanken, die hier Gipfel und Zusammenkünfte im Tagesrhythmus, wenn hervorragende Arbeit leisten . Ich bin daher froh, dass es es um Flüchtlinge geht? Europa muss beweisen, dass es möglich war, den Etatansatz in diesem Bereich zu erhö- in der Lage ist, nicht nur von Werten zu reden, sondern hen . auch den Schutz von Flüchtlingen als gemeinsamen Wert anzuerkennen . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN) Europa hat den Friedensnobelpreis bekommen . Es muss Wichtig ist für uns, in Zukunft mithilfe präventiver jetzt aber beweisen, dass es diesen Friedensnobelpreis Ansätze noch mehr dafür zu sorgen, dass Konflikte erst tatsächlich verdient hat . Europa muss hier langsam in die gar nicht zustande kommen; das ist unsere primäre Auf- Puschen kommen . gabe . Wir dürfen nicht erst dann aktiv werden, wenn das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kind schon in den Brunnen gefallen ist . Vielmehr müs- ordneten der SPD) sen wir zukünftig noch mehr Präventionsmaßnahmen er- greifen . Dass wir uns um die Ausbildung von Richtern Ich bedanke mich ganz herzlich bei unserem Minister, und kommunalen Verwaltungsbeamten kümmern . Dass der das Ministerium sehr gut aufgestellt hat . Er ist au- wir funktionierende Justizsysteme in den betreffenden thentisch und ein Vordenker, der erkannt hat, dass sein Ländern aufbauen, damit die Menschen Gerechtigkeit Haus das Zukunftsministerium ist und noch mehr im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen wird . Wir, einfordern können und so nicht mehr zur Flucht gezwun- die wir im exklusiven Wohlstand leben, sitzen in einem gen sind . In den betreffenden Ländern müssen freie und Boot und haben gemeinsam Verantwortung . Ich möch- pluralistische Medienlandschaften entstehen, damit kor- te in diesem Zusammenhang auch das Auswärtige Amt rupte politische Führungen kontrolliert werden können . einbeziehen, das sich in vielen Bereichen in die richtige Wir müssen Maßnahmen zu Versöhnungsprozessen er- Richtung neu aufgestellt hat . Vielleicht schaffen wir es, greifen, um Konflikte zwischen verfeindeten Gruppen die Kräfte noch mehr zu bündeln und insbesondere bei und Ethnien zu beseitigen . der Verzahnung von humanitärer Hilfe und Übergangs- Ich möchte noch ein Wort zum Westbalkan sagen . Wir hilfe noch besser zusammenzuarbeiten . Ich glaube, das wäre in diesem Zusammenhang sehr gut . (B) wissen alle, dass es für die Flucht der Migranten vom (D) Westbalkan andere Ursachen gibt als für die Flucht der Wir alle sind gefragt, ob es die Industrieländer sind, ob Menschen aus Syrien oder Eritrea, wo eine Militärdikta- es die Schwellenländer sind . Aber vor allem müssen hier tur herrscht, oder aus Nigeria, wo Boko Haram sein Un- die Entwicklungsländer selbst aktiv werden . Wir haben wesen treibt . Aber wir müssen dafür sorgen, dass auch unterschiedliche Verantwortlichkeiten entlang der jewei- die Menschen vom Westbalkan eine wirtschaftliche und ligen Leistungsfähigkeit . Das ist ganz klar; das wissen soziale Entwicklung erfahren und eine Zukunft haben, wir alle . Entweder sind wir bereit, unseren Wohlstand und zwar unter klaren Bedingungen . Wenn man einmal mit anderen zu teilen, oder wir teilen mit anderen deren gesehen hat, unter welchen Bedingungen die Roma auf Schicksal . dem Westbalkan leben, dann weiß man, dass das kein Leben ist . Das ist menschenunwürdig . Man glaubt, im In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksam- schlimmsten Entwicklungsland in Afrika zu sein . Die keit . Roma haben keinen Zugang zu Arbeit und Gesundheits- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- systemen, teilweise keinen Zugang zu Schulen . Ange- ordneten der SPD) sichts dessen frage ich mich, was aus der EU-Konven- tion geworden und wohin das Geld geflossen ist, das die Vizepräsidentin Claudia Roth: betreffenden Länder für die Roma bekommen haben . Ich Vielen Dank, Dagmar Wöhrl . – Nächste Rednerin: glaube, in diesem Zusammenhang müssen wir den Fin- Heike Hänsel für die Linke . ger noch viel stärker auf die Wunde legen . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich bin dem Minister dankbar, dass er mit der GIZ Heike Hänsel (DIE LINKE): das DIMAK im Kosovo geöffnet hat . Das ist eine sehr Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gute Einrichtung, zu der die Menschen vor Ort hingehen Die Entwicklungspolitik ist ja jetzt plötzlich in aller und von der sie sich Hilfe und Beratung erbeten können . Munde . In jedem Beitrag heute kam irgendwie das The- Für die Verbesserung ihrer beruflichen Chancen in ihrem ma Entwicklungspolitik vor . Auch die Kanzlerin hat an Land . Dort werden ihnen aber auch legale Möglichkei- prominenter Stelle im Zusammenhang mit den Fluchtur- ten der Arbeitsvermittlung nach Deutschland aufgezeigt . sachen die Entwicklungszusammenarbeit genannt . Man Ich würde mich freuen, wenn wir auch in Albanien und kann sich also schon fast nicht mehr retten, wenn man anderen Ländern des Westbalkans nach Abschluss der Pi- nicht wahrnehmen möchte, dass der Fokus auf die Ent- lotphase dieses Projekt installieren könnten . wicklungszusammenarbeit gerichtet wird . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11687

Heike Hänsel (A) Ich möchte gleich dazusagen und auch warnen: Die letzten Jahren zur Vertreibung von insgesamt 3,4 Millio- (C) Entwicklungszusammenarbeit ist zwar ein wichtiges nen Menschen beigetragen hat . Ein Vertreter der Bundes- Element, aber sie kann nicht der Reparaturdienst für eine regierung sitzt im Executive Board der Weltbank . Dort absolut verfehlte Politik sein . muss er doch darauf reagieren . Wir haben dazu von Ihnen bis heute nichts gehört, was Sie da eigentlich anders ma- (Beifall bei der LINKEN) chen wollen . Das betrifft auch die Freihandelsabkommen Wenn zum Beispiel einem afrikanischen Kleinbauern in und die Freihandelspolitik . Ich habe von Ihnen gehört – Äthiopien das Land genommen wird, wenn er vertrieben das fand ich sehr gut; anscheinend haben Sie unseren wird, weil ein europäischer Konzern dort Palmöl an- Reden oft zugehört –: Fairer Handel statt Freihandel .– bauen will, dann nützt es ihm nichts, wenn er von der Bravo, sage ich nur . deutschen Entwicklungszusammenarbeit einen Traktor bekommt . Deshalb müssen wir an die Ursachen dieser (Beifall bei der LINKEN) verfehlten Politik herangehen, Wo ist denn dann, bitte schön, Ihr Protest gegen TTIP, (Beifall bei der LINKEN) CETA, TiSA, gegen sämtliche Freihandelsabkommen mit Afrika und Lateinamerika? Diese Abkommen bewir- und wir dürfen nicht annehmen, wir könnten durch Pro- ken doch das genaue Gegenteil . jekte diese Strukturen grundsätzlich ändern . Wir müssen unser Wirtschaftssystem und auch die Fi- Ich möchte auf das verweisen, was ich auf dem Trans- nanzstruktur, die wir nach wie vor stützen, grundsätzlich parent einer Flüchtlingsinitiative gelesen habe . Diese infrage stellen . Das wurde vorhin auch von der Kollegin Initiative hat im August vor dem Sitz von Rüstungskon- von den Grünen bereits angesprochen . Ich möchte dazu zernen in Baden-Württemberg, genauer: am Bodensee, noch eine Zahl nennen . Es wird weltweit doppelt so viel demonstriert . Auf diesem Transparent stand: „Wer Inst- Geld aus dem Süden Richtung Norden abgezogen, wie rumente der Gewalt produziert oder die Wirtschaft eines an Entwicklungsgeldern aus dem Norden in den Süden Landes ausbeutet, erntet Flüchtlinge.“ Ich finde, man hat fließt. Das heißt, auf 1 Dollar in der Entwicklungszu- es damit auf den Punkt gebracht . sammenarbeit kommen 2 Dollar an legalen und illegalen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Geldströmen, die wieder in den Norden zurückfließen. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir an diesen Strukturen nicht grundsätzlich etwas ändern, dann brauchen wir nicht vom Bekämpfen von Deshalb kann es bei den Rüstungsexporten in alle Welt Fluchtursachen zu sprechen . kein Weiter-so geben; ich habe heute mehrfach zu die- sem Thema nachgefragt . Es kann kein Weiter-so bei der (Beifall bei der LINKEN) (B) Beteiligung an Militärinterventionen der NATO geben . Hier haben Sie, Herr Müller, leider die völlig falsche (D) Wenn wir uns Länder wie Irak, Afghanistan, Libyen an- Entscheidung getroffen . Dass Sie sich der Initiative schauen, dann stellen wir fest: Das sind zerschlagene der Länder des Südens, die internationale Steuerpolitik Länder . Auch eine Friedenslösung in Syrien wird leider endlich bei den UN anzusiedeln, verweigert haben, das, schon sehr lange vor allem von den USA verhindert, weil muss ich sagen, spricht wirklich nicht für Sie als Ent- sie keine Beteiligung des Irans an solch einer Initiative wicklungsminister . wollten . (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie (Beifall bei der LINKEN) des Abg . Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE Vielleicht tut sich für eine Friedenslösung ein neues Zeit- GRÜNEN]) fenster auf . Wir müssen schauen, was passiert . Was gibt es jetzt an konkreten Vorstellungen der Bundes- Es kann auch bei der Rohstoffausbeutung kein Wei- regierung? Ich habe dazu nicht viel gehört . Ich habe heute ter-so geben . Wie viele Länder auf dem afrikanischen nur einen ganz abstrusen Vorschlag gelesen . Er kommt von Kontinent haben Rohstoffkonflikte und führen Rohstoff- Ihren Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, von der Frau Weiss kriege! Kongo, Mali, Zentralafrikanische Republik – es und dem Herrn Strobl . Diese fordern, dass Entwicklungs- gibt so viele Rohstoffkriege . Wenn wir darauf nicht wirk- ländern, die keine Flüchtlinge zurücknehmen, die Entwick- lich Antworten geben und nicht unsere Politik ändern, lungsgelder gestrichen werden sollen . Da frage ich mich dann bleibt es bei schönen Worten hier, und es ändert sich doch, Herr Müller: Unterstützen Sie tatsächlich einen derart nichts an der Bekämpfung von Fluchtursachen . abstrusen Vorschlag, eine solche Forderung, die Ursache und Wirkung vertauscht und die die ganze Verantwortung Das betrifft auch die Nahrungsmittelspekulation . Es jetzt den Ländern des Südens zuschiebt? kann doch nicht wahr sein, dass sich nach wie vor zum Beispiel die Deutsche Bank eine goldene Nase an den Wer ist denn verantwortlich zum Beispiel für Kli- steigenden Nahrungsmittelpreisen verdient, die in ande- maflüchtlinge, für den Klimawandel? Wer ist denn ver- ren Ländern zu Hunger und Elend führen . antwortlich für alle diese Vertreibungen, die in den Län- dern des Südens stattfinden? Da können Sie doch nicht (Beifall bei der LINKEN) allen Ernstes jetzt auch noch anfangen, eine Politik der Nahrungsmittelspekulation muss verboten werden; sie ist Erpressung gegenüber den Ländern des Südens anzudro- verbrecherisch . Das müssen wir so auch benennen . hen . Es ist wirklich, muss ich sagen, unanständig, was Sie hier vorschlagen . Die Weltbank, Herr Minister Müller, wird dafür ver- antwortlich gemacht, dass sie mit ihrer Politik in den (Beifall bei der LINKEN) 11688 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Heike Hänsel (A) Sie schlagen auch noch vor, Flüchtlinge militärisch zu zen der G 7 und der Konferenz von Addis Abeba? Ha- (C) bekämpfen, bzw . ben wir darin wirklich Verpflichtungen für die nächsten Jahre definiert, wie wir Entwicklungszusammenarbeit fi- (Henning Otte [CDU/CSU]: Was?) nanzieren wollen, oder sind darin noch sehr viele schöne die Boote der Flüchtlinge sollen militärisch bekämpft Absichtserklärungen enthalten? Ich glaube, es ist leider werden . Letzteres der Fall . (Henning Otte [CDU/CSU]: Dann müssen Sie Warum brauchen wir das? Wir haben es heute mehr- es differenzieren! Was reden Sie denn da?) fach diskutiert . Es ist über das Thema Flucht diskutiert worden . Wir müssen uns fragen: Stellt dieser Haushalt, Mir hat bis heute niemand die Frage beantwortet, wie er eigentlich Fischerboote, Flüchtlingsboote und Schlep- so wie er aufgestellt ist, ein Abbild dessen dar, was wir perboote unterscheiden will . auf die Herausforderungen der Zeit antworten müssen, ja oder nein? (Henning Otte [CDU/CSU]: Ja, Schlepper- boote! Das ist ja unerhört! – Sabine Weiss Wir haben über Fluchtursachen diskutiert . Es ist zu Recht (Wesel I) [CDU/CSU]: Du überziehst!) angesprochen worden: Da gibt es zwei Dinge, die wir tun müssten . Das eine ist die akute Hilfe für die Menschen, – Was passiert denn, wenn die Schlepperboote zerstört die unter ganz erbärmlichen Umständen in Flüchtlingsla- werden? Haben Sie einen anderen Vorschlag, wie Flücht- gern leben, nicht erst seit gestern, sondern über Jahre hin- linge hierherkommen können? Machen Sie doch mal ei- weg, und die dort zum Teil ohne Bildung, ohne Sanitär- nen Vorschlag, wie zum Beispiel die 30 000 Menschen, anlagen, ohne Gesundheitsvorsorge leben . Es sind ganz die derzeit auf der Insel Lesbos festsitzen, dann noch katastrophale Zustände . Die Situation ist nicht erst seit hierherkommen können! gestern so . Das wissen wir schon länger . Hier brauchen (Henning Otte [CDU/CSU]: Die armen Kin- wir akut Mittel und finanzielle Unterstützung. der, die in den Booten umkommen! Das ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unglaublich!) der CDU/CSU) Da gibt es überhaupt keinen Vorschlag von der Bundes- Wir brauchen aber auch, wenn wir über die viel zitier- regierung, weil Sie Ihre Politik nach wie vor darauf aus- ten Fluchtursachen reden, Mittel – das ist angesprochen richten, Flüchtlinge im Grunde von diesem reichen Land worden, das macht die Entwicklungszusammenarbeit –, abzuhalten, um Kriege gar nicht erst entstehen zu lassen, um Bürger- (Henning Otte [CDU/CSU]: Sie verrennen kriege zu verhindern, um den Ausbruch von Kriegen zu (B) sich jetzt völlig! – Sabine Weiss (Wesel I) verhindern und um den Zerfall von Staaten, die in sehr (D) [CDU/CSU]: Das ist eine Unverschämtheit!) schwierigen Situationen sind – gerade in Subsahara-Afri­ ka –, zu verhindern, damit die Menschen dort überhaupt und diese Politik werden wir nicht mitmachen . eine Lebensperspektive haben, Zugang zu Nahrung ha- (Beifall bei der LINKEN) ben, vielleicht einen Arbeitsplatz finden, um sich selbst ernähren zu können, und ein Mindestmaß an Sicherheit garantiert ist, damit sie ihr Leben auch gestalten können . Vizepräsidentin Claudia Roth: Wenn Staaten diese Basis nicht haben – finanziell und Vielen Dank, Heike Hänsel .– Nächste Rednerin in der institutionell –, dann ist die Flucht vorprogrammiert . Bil- Debatte: Dr. Bärbel Kofler für die SPD. den wir das wirklich mit diesem Haushalt ab? Ich bin der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ansicht, wir tun es leider nicht . der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) An diesem Rednerpult werden wir in 14 Tagen eine Dr. Bärbel Kofler (SPD): Regierungserklärung zum Thema „Nachhaltige Entwick- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! lungsziele“, das im September in New York eine Rolle Es ist mehrfach angesprochen worden: Wir diskutieren spielen wird, hören . Es sind gute Ziele, die dort verein- einen Entwicklungshaushalt mit einem durchaus erfreu- bart werden sollen . Es sind wichtige Ziele . Die extreme lichen Aufwuchs; das möchte ich am Anfang anmerken . Armut, die dazu führt, dass sich Menschen nicht mehr Ich freue mich über 880 Millionen Euro mehr . Ich möch- ernähren können, soll bis zum Jahr 2030 auf diesem Pla- te aber deutlich unterstreichen: Das darf kein haushal- neten ausgerottet werden . Aber bilden wir nur diese eine terisches Strohfeuer bleiben . Wir brauchen Kontinuität Forderung dieses Zielkataloges mit diesem Haushalt ab? im Aufwuchs der Haushaltsmittel für wirtschaftliche Zu- Ich glaube, nein . sammenarbeit und Entwicklung . (Beifall der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ähnlich ist es bei den Fragen bezüglich des Klima- wandels . Im Dezember werden wir eine Konferenz in Pa- Warum brauchen wir sie? Schauen wir uns an: Was ris haben . Auch diese Herausforderungen werden haus- steht in unserer eigenen mittelfristigen Finanzplanung, halterisch nicht abgebildet . noch von der Vorgängerregierung aufgestellt? Abgesenk- te Mittel, und daran bemisst sich der Aufwuchs, über den (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir reden . Was steht in den Ergebnissen der Konferen- NEN]: Richtig!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11689

Dr. Bärbel Kofler (A) Noch einmal: Ich freue mich, dass es seit mehreren Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, dass (C) Jahren der erste substanzielle Aufwuchs ist . Aber er darf wir mehr tun können, um Entwicklungszusammenarbeit nicht einmalig sein . Es muss uns allen klar sein, und zwar zur Konfliktprävention und zum Vorbeugen von Krisen, in allen Ressorts, dass dieser Aufwuchs in den nächsten Kriegen und Fluchtursachen zu nutzen . Es ist nur ein Jahren und Jahrzehnten verstetigt werden muss . kleines Beispiel, das keine Milliarden kostet, aber illus- triert, um was es gehen muss . Vor einem halben Jahr ha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben wir mit Institutionen und engagierten Menschen des der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Zivilen Friedensdienstes aus dem Libanon gesprochen . NISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Zivile Friedensdienst betreut fünf Kommunen, Das gilt für das viel zitierte 0,7-Prozent-Ziel, das wir in denen Flüchtlinge und Alteingesessene zusammenge- endlich einmal erreichen wollen und sollen; denn wir bracht werden, um Konflikte aufzuarbeiten, die erheb- werden es mit diesem Haushalt nicht erreichen . Es ist lich sind . Das kann man sich ja vorstellen . Das ist heute eine Frage der klassischen Entwicklungsfinanzierung. Es gilt aber auch – das ist von der Vorrednerin angespro- mehrfach angesprochen worden . Man kann sich durch- chen worden – für die Frage: Wie bekommen wir welt- aus vorstellen, dass es in einem Land wie dem Libanon, weit die Staatsfinanzen überhaupt in Ordnung, sodass in dem jeder vierte Einwohner ein Flüchtling ist, schwie- Entwicklungsländer eine Basis haben, in ihren Ländern rige Situationen gibt . Dabei geht es um den Zugang zu selbst Einnahmen zu erzielen? Hier geht es um nationa- Wasser, um die Energieversorgung, um den Schulbesuch, le Gesetzgebung . Wir wissen: Im September/ Oktober um Konkurrenz am Arbeitsmarkt usw . Es geht darum, legt die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zu- vor Ort mit den Beteiligten, mit den Kommunen zu klä- sammenarbeit und Entwicklung, Pläne vor, wie wir das ren, wie man diese Konflikte friedlich lösen und damit Thema Steuererosion verhindern können . Hier geht es Bürgerkriegssituationen vorbeugen kann . darum, dass Konzerne Steuer- und Gewinnverlagerun- Es gibt das Ansinnen von lokalen Partnern im Liba- gen vornehmen und dadurch weltweit Milliardenbeträ- non, die Zahl der Kommunen von 5 auf 20 auszuwei- ge im dreistelligen Bereich erzielen und somit den Ent- ten . Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das ma- wicklungsländern die Finanzbasis entziehen; übrigens chen müssen . Das ist eines der Beispiele dafür, wie wir nicht nur denen, auch uns . Wenn wir hier nicht begin- Konfliktbewältigung und Konfliktprävention betreiben nen, gemeinsam mit anderen Politikern – hier brauchen können . Insofern muss es bei Organisationen wie dem wir die Finanzpolitiker – eine wirklich konsistente ent- Zivilen Friedensdienst einen deutlichen Mittelaufwuchs wicklungsfördernde und armutsbekämpfende Politik zu gegenüber dem geben, was zurzeit im Haushaltsentwurf machen – auch in anderen Feldern des politischen Agie- steht . (B) rens –, dann werden wir scheitern . Wir brauchen diese (D) Zusammenarbeit . Wir brauchen dazu bei uns eine natio- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nale Gesetzgebung und müssen vor Ort anfangen . Ich nehme das Angebot sehr ernst, noch einmal über (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Ausgestaltung des Haushalts in diesem Bereich zu re- der CDU/CSU) den . Wenn der Bereich Bildung ernstgenommen werden soll, müssen wir auch im Bereich der globalen Partner- Ähnliches gilt für das Thema „Wirtschafts- und Han- schaft für Bildung mehr tun . 7 Millionen Euro aus deut- delspolitik“ . Es ist mehrfach angesprochen worden . Ich scher Hand für diesen Bereich sind beschämend . Wenn es sage es in jeder Rede: Wir brauchen verbindliche Stan- uns ernst damit ist, die Situation der Menschen in Afrika dards mit verbindlichen guten Arbeitsbedingungen, durch mehr Bildung zu verbessern und dafür zu sorgen, ILO-Kernarbeitsnormen, Gesundheitssysteme, soziale dass sie vor Ort etwas tun und selbst aktiv werden kön- Absicherung . Wir brauchen Transparenz bezüglich der nen, dann müssen wir uns an all diesen internationalen Rohstoffentnahmen von internationalen Konzernen, und Aktivitäten anders beteiligen . Das wünsche ich mir sehr . zwar mit verbindlichen Regeln, damit vor Ort die Basis für Wertschöpfung und wirtschaftliches Handeln ge- Wir müssen schnell handeln . Das ist völlig unumstrit- schaffen wird . ten . Wir dürfen darüber hinaus aber nicht vergessen, wel- ches die grundlegenden Aufgaben der Zusammenarbeit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind . Entwicklungspolitik muss in allen Ressorts gedacht der CDU/CSU) werden . Sonst werden wir unsere Aufgaben leider nicht Das heißt, wir brauchen eine Zusammenarbeit mit der erfüllen können . Finanzpolitik, mit der Wirtschaftspolitik, mit der Ge- Danke . sundheitspolitik . Unsere Zeit ist sehr schnelllebig . Vor einem Jahr standen wir hier, haben über Ebola debattiert (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und die Frage diskutiert, wie notwendig es ist, Gesund- heitssysteme weltweit aufzubauen . Genau das müssen Vizepräsidentin Claudia Roth: wir jetzt tun, und zwar mit allen Fonds und mit allen Ak- Vielen Dank, Bärbel Kofler. – Nächster Redner in der teuren, die es dafür gibt . Ich würde mir wünschen, unser Debatte: Uwe Kekeritz für Bündnis 90/Die Grünen . Haushalt würde den entsprechenden Aufwuchs abbilden, und zwar auch in unserer Zukunftsplanung . Das tut er Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): leider nicht . Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD) Selbst der Papst wird an der bisher größten UN-Ver- 11690 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Uwe Kekeritz (A) sammlung von über 190 Nationen teilnehmen, die am – Ja, bitte, das ist doch die Regierung . Das müssen die (C) 28 . September in New York 17 Nachhaltigkeitsziele ver- schon intern klären . abschieden wird . Die damit verbundene Erwartungshal- tung ist zu Recht sehr groß . Sie muss vor allen Dingen Ihre Verlässlichkeit war gerade das Thema; aber auch auch erfüllt werden; denn es gibt viel zu viele globale Ihre Entwicklungspolitik, Herr Minister Müller, wird aus und durchaus auch gefährliche Fehlentwicklungen . meiner Sicht immer fragwürdiger . In ihrem Afrika-Kon- zept von 2014 sagten Sie noch ganz klar: Wir müssen für Die Einkommensverteilungen in den Ländern haben afrikanische Probleme afrikanische Lösungen suchen . – sich sehr stark verschlechtert . Die Ernährungs- und Ar- Heute postulieren Sie leider das Gegenteil . Vorgestern mutssituation ist trotz zweifelhafter Statistiken von Welt- bank und FAO kaum besser geworden . Die Biodiversität haben Sie in der WDR-Dokumentation Hungrig nach schrumpft bedrohlich . Die Klimaveränderung und der Profit das Geschäft mit dem Hunger folgendermaßen er- Zerfall von Staaten werden immer gefahrvoller . Demo- klärt: Es ist doch zynisch, wenn wir in Afrika den Bauern kratische Strukturen werden zurückgedrängt . Autoritäre unser Wissen und Können, das wir in 100 Jahren erwor- Systeme werden stärker . ben haben, nicht vermitteln würden . – Was heißt denn das? Europäische Lösungen für afrikanische Probleme! Genauso entwickeln sich potenzielle Fluchtursachen . Letztendlich wollen Sie die europäische, die westliche Deshalb müssen die Ziele umgesetzt werden . Deshalb muss die Klimakonferenz in Paris ein Erfolg werden . Agrarstruktur nach Afrika exportieren . Die wichtigste Botschaft, die sich aus dem SDG-Pro- Herr Müller, haben Sie denn nicht gemerkt, dass ge- zess ergibt, ist für mich, dass alle Länder Entwicklungs- nau unser Agrarsystem ein verdammt krankes und kaput- länder sind, also auch Deutschland . tes System ist? (Beifall der Abg . Heike Hänsel [DIE LIN- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN KE]) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deutschland hat gemeinsam mit anderen Industrie- Sie sollten als Allgäuer einmal mit den Milchbauern re- staaten globale Entwicklungen vorangetrieben, die dem den . Das hilft manchmal . Sie sollten vielleicht auch ein- Prinzip der Nachhaltigkeit und der globalen Fairness ek- mal mit Ihrem Kollegen Christian Schmidt reden, der latant widersprechen . Dafür tragen wir Verantwortung . der Forderung nach Exportoffensiven im Bereich Milch Deshalb müssen wir Konsequenzen daraus ziehen . nicht massiv entgegentritt . Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass das in- (Dagmar G . Wöhrl [CDU/CSU]: So schnell ternationale Finanzsystem, die globale Agrarwirtschaft, wird das umgesetzt! Der Minister setzt sich (B) die Klimapolitik und die Handelsstrukturen verändert (D) werden . Zentral ist, dass die Strukturen verändert wer- neben den Staatssekretär Bleser!) den müssen. Wir müssen Wege dazu finden und gehen. – Na ja, der Staatssekretär kann ihm ja ausrichten, dass er Deshalb können wir durchaus sagen: Wir sind ein Ent- einmal dem Versuch, Exportinitiativen im Bereich Milch wicklungsland . voranzutreiben, entgegentreten sollte .– Wohin sollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denn diese Milchmengen exportiert werden? Nach Ka- sowie der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE]) merun, nach Uganda, nach Ghana? Nein, diese Länder haben selbst genug Milch, und Milch aus Deutschland Die 17 gar nicht so neuen Ziele haben genau diese große Schwäche . Sie stehen letztlich isoliert da und sind und Europa würde deren Entwicklungschancen weiter nicht in strukturelle Veränderungen eingebunden . Das schwächen . müssen wir ändern . (Zuruf des Abg . Charles M . Huber [CDU/ Erfolg in der Entwicklungspolitik setzt Verlässlich- CSU]) keit voraus . Bei diesem Begriff weiß natürlich Minister In der Dokumentation, Herr Minister, offenbaren Sie Müller sofort, dass er angesprochen ist . Ich freue mich ja auch einen wesentlichen und meines Erachtens schäd- auch, dass die Mittel steigen, aber auch die Zahl der Pro- lichen Ansatz Ihrer Politik: nicht nur, dass Sie mit dem blemfelder ist, wie Sie selbst vorhin gesagt haben, enorm gestiegen; die Probleme sind größer geworden, und es Übertragen des deutschen Systems nach Afrika in der sind neue hinzugekommen. Bärbel Kofler hat eine sehr Entwicklungspolitik auf den Stand der 60er-Jahre zurück- gute Zusammenfassung geliefert . Die Mittel – das sagen fallen, nein, Sie ergänzen diese Politik noch mit einem Sie selbst auch – reichen nicht . Es müssen mehr werden, Markterweiterungsprogramm für die deutsche Industrie . vor allen Dingen in der näheren Zukunft . Sie tragen das In der Sendung sagten Sie dann auch ganz offen, dass aber so vor, Herr Minister Müller, dass ich fast schon ein die deutsche Wirtschaft mit dem BMZ in die Entwick- schlechtes Gewissen bekomme . Wem machen Sie eigent- lungsländer geht und ihr Know-how einbringt . Glauben lich den Vorwurf, dass die Mittel nicht reichen? Ich hatte Sie denn wirklich, dass BASF, Bayer, Syngenta und Co . immer den Eindruck, dass Sie an der Regierung sind und als Entwicklungsorganisationen fungieren können, die dass Sie dafür die Verantwortung tragen . ihr Profitinteresse beiseitelassen und das Gemeinwohl, (Heiterkeit der Abg . Heike Hänsel [DIE LIN- die Menschenrechte und die ökologische Nachhaltigkeit KE] – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: ihren Zielen unterordnen? Herr Minister, so naiv sind Sie Herr Schäuble!) nicht . Ich glaube, Sie sind gerade dabei, immer mehr Ent- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11691

Uwe Kekeritz (A) wicklungsgelder in den Dienst der deutschen Industrie zu herausragenden Unterstützung der Bundeskanzlerin – (C) stellen und diese so zu Subventionen umzuwandeln . das muss man auch sagen – und des intensiven persönli- chen – lieber Kollege Kekeritz – und verlässlichen Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – satzes unseres Ministers Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Sie fördern mit öffentlichen Mitteln immer noch die German Food Partnership oder die New Alliance, die ist Deutschland jetzt mit voller Kraft auf dem richtigen nicht auf Ihr Geld angewiesen sind . Die Konzerne ha- entwicklungspolitischen Weg . Ich muss auch sagen: Der ben es aber mit Ihrer Unterstützung verdammt leicht, den starke Aufwuchs der Verpflichtungsermächtigungen um Weg in die Ministerien vor Ort zu finden, mit dem offizi- 1,8 Milliarden Euro schafft einen kreativen Spielraum ellen Logo und mit der Unterstützung der Regierung, der und einen Arbeitsraum für zukünftige Aufgaben . Sie angehören . Der Herr Minister ist im Moment nicht da . Auch Ihr Beispiel Textil schätze ich ganz anders ein . (Zurufe von der CDU/CSU) Wer uns glauben machen möchte, dass sich Produkti- onsbedingungen in den Textilfabriken durch freiwillige – Doch, Entschuldigung .– Ich hoffe doch sehr, dass das Absprachen dauerhaft verbessern lassen, der täuscht die nicht ein persönliches Geschenk zum runden Geburtstag Öffentlichkeit . Anstatt politisch begründete, verbindliche ist, sondern dass der Haushaltsaufwuchs und damit die Rahmen zu setzen, versuchen Sie plötzlich, hauptsäch- deutliche Unterstützung der Entwicklungszusammenar- lich den Konsumenten in die Verantwortung zu nehmen . beit in den nächsten Jahren wiederkehrende Maßnahmen Wer keine Strukturen ändern will, Herr Müller, darf sich sein werden . auch nicht darüber wundern, dass sich diese nicht ändern . Sie müssen auch aufpassen, Herr Müller: Ihr Kollege Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Jahr 2015 ist – Gabriel überholt Sie jetzt locker . Sie merken gar nicht, oder wird noch – ein besonderes Jahr für die Entwick- dass er auf jeder Veranstaltung, wenn die Möglichkeit lungszusammenarbeit . Die Millenniumsentwicklungs- besteht, darauf hinweist, dass er inzwischen für verbind- ziele der Vereinten Nationen werden ihre Erneuerung, liche Standards eintritt . ihre Überarbeitung und ihre Erweiterung erfahren und durch neue Ziele für den Zeitraum bis 2030 fortgeschrie- (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Und das ist auch ben werden . Mit den neuen Entwicklungszielen wollen gut so!) wir nicht nur Armut und Krankheiten bekämpfen, son- – Ja, das ist gut so . Er hat Sie da inzwischen abgehängt . dern wir wollen vor allen Dingen Globalisierung sozial (B) und ökologisch nachhaltig gestalten . Dies ist ein Ziel, (D) Ich komme zum Schluss . Ich bin insbesondere nach mit dem sich Deutschland besonders solidarisiert und bei den schockierenden Szenen in Heidenau und anderswo dem es eine besondere Verpflichtung verspürt. Ich selbst froh darüber, dass die deutsche Bevölkerung in ihrer gro- durfte mit einigen Kolleginnen und Kollegen des Unter- ßen Mehrheit heute die Flüchtlinge willkommen heißt . ausschusses Vereinte Nationen in den letzten Tagen in Aber ohne ein grundlegendes Umdenken des Nordens New York Gespräche zu diesem Thema führen . Ich glau- in der globalen Außen- und Entwicklungspolitik, in der be, dass wir mit den Sustainable Development Goals eine globalen Finanz- und Klimapolitik und in der Agrarpo- gute Arbeitsplattform für unsere nationale Entwicklungs- litik werden wir zukünftig nicht 80 Millionen, sondern politik erhalten haben . Ich unterstreiche es noch einmal: vielleicht 90 oder mehr Millionen Menschen haben . Es Der Aufwuchs im Haushalt bietet dafür jedenfalls eine ist deshalb unsere Verpflichtung, in Paris erfolgreich zu hervorragende Grundlage . sein . Es reicht nicht, 17 Ziele zu verabschieden, auch wenn sie den päpstlichen Segen haben . Wir müssen die Hervorzuheben ist zum Beispiel, dass die Bundes- Strukturen schaffen, damit sich diese Ziele verwirklichen kanzlerin persönlich am 24 .September hier von diesem lassen . Pult aus in einer Regierungserklärung über die Verab- schiedung der SDGs in der UN-Vollversammlung berich- Herzlichen Dank . ten wird . Dies zeigt den Stellenwert und wird von uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ausdrücklich begrüßt . Meine Damen und Herren, wie bereits im Rahmen der Vizepräsidentin Claudia Roth: Debatte erwähnt, finden die Haushaltsberatungen in einer Vielen Dank, Kollege Kekeritz .– Nächster Redner in Zeit statt, in der wir in Europa die Bedeutung nachhalti- der Debatte: Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion . ger Entwicklungspolitik auch an der Zahl der Flüchtlinge tagtäglich durch die mediale Berichterstattung und vor (Beifall bei der CDU/CSU) allen Dingen durch unsere persönlichen Erfahrungen in unseren Wahlkreisen vor Augen geführt bekommen . Wir Jürgen Klimke (CDU/CSU): stehen vor einer nationalen und europäischen Heraus- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! forderung, die seit der deutschen Einheit in dieser Form Meine Damen und Herren! Auch ich möchte es zu Be- nicht vorgekommen ist . Das ist uns inzwischen klar . Hier ginn noch einmal deutlich machen: Der Etat des Bun- liegt auch ein Teil der Erklärung, warum unsere Reakti- desentwicklungsministeriums steigt um 880 Millionen on auf diese Situation in den letzten Monaten teilweise Euro . Das ist ein Zuwachs um fast 14 Prozent . Dank der zu langsam und zu bürokratisch war . Die Dimension der 11692 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Jürgen Klimke (A) Flüchtlingskrise wird uns auch in der nächsten Zeit wei- – Ja, meinetwegen noch intensiver als im Moment, aber (C) ter beschäftigen . da wird schon sehr viel investiert .– Das duale System ist ein Exportschlager aus Deutschland . In Kooperation mit Eines ist klar: Mit den Mitteln der deutschen Entwick- Entwicklungsländern sorgen wir dafür, dass Menschen lungspolitik können wir nicht sämtliche Fluchtursachen vor Ort eine berufsnahe Ausbildung bekommen . in der Welt beseitigen . Sie ist aber in diesem Kontext ein ganz wichtiger Baustein, um die Dinge zu einem Besse- Die Einbindung der Privatwirtschaft, lieber Kollege ren zu wenden . Kekeritz, ist unabdingbar . Das Beispiel der CSR zeigt, dass es möglich ist, zu sozial fairen Bedingungen zu pro- Bei den Mitteln für die von Minister Müller initiierte duzieren und eine Win-win-Situation für alle Beteiligten Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen – Flücht- zu erreichen: für die Entwicklungsländer, für die Men- linge reintegrieren“ ist im aktuellen Haushaltsplan ein schen vor Ort, aber auch zum Beispiel für den deutschen Zuwachs von rund 57 Prozent zu verzeichnen; sie stei- Einkäufer, der etwas kauft, was „social made“ ist . gen auf 110 Millionen Euro im nächsten Jahr . Das sind Mittel, die angesichts der gegenwärtigen Situation nicht (Beifall des Abg . Bernhard Kaster [CDU/ nur notwendig sind – das brauchen wir nicht zu unter- CSU]) streichen –, sondern wahrscheinlich sogar noch erhöht Das Textilbündnis, Herr Minister, ist ein Beispiel werden müssen . dafür, wie soziale Verantwortung für den Verbraucher (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sichtbar wird. Die beteiligten Unternehmen verpflichten NEN]: Ja!) sich, durch die Gewährleistung von Sozial- und Umwelt- standards an den Produktionsstandorten Verantwortung Wie das Beispiel Syrien zeigt, haben aktuelle politische zu übernehmen . Das ist ein Beispiel für ein Engagement Entwicklungen großen Einfluss auf die Haushaltsplanung. von Unternehmen aus der Privatwirtschaft, lieber Kolle- Die Herausforderung besteht darin, angemessen zu reagie- ge Kekeritz . Damit senden wir ein deutliches Zeichen an ren und es in der Planung angemessen umzusetzen . Die Not den Steuerzahler: Das Geld ist im Entwicklungsbereich der Menschen im Nahen Osten, aber auch in anderen Kon- gut angelegt . fliktregionen, in denen Menschen auf der Flucht sind – diese müssen wir auch immer im Blick haben; Südostasien gehört Auch die Zusammenarbeit mit anderen Ressorts muss zum Beispiel dazu –, stellt die finanzielle Ausrichtung deut- gestärkt werden, etwa mit dem Innenbereich . Meine Da- scher Entwicklungspolitik vor hohe Anforderungen . Hier men und Herren, wir müssen eine rigorose Verfolgung geht es nicht nur um die Konsequenzen der Flucht vor Ort; und Bestrafung von Schleppern forcieren . Auch das ge- vor allen Dingen gehört auch die Hilfe für Staaten wie Jor- hört dazu . Ich sage es deutlich: Schlepper sind keine Gut- (B) danien oder Libanon dazu – es ist angesprochen worden –, menschen, Schlepper sind teilweise Mörder . (D) die in der unmittelbaren Nachbarschaft der Staaten liegen, aus denen die meisten Flüchtlinge kommen . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es stellt sich die Frage: Wie kann Entwicklungspoli- Ein weiterer Punkt, den ich noch kurz ansprechen tik unsere Flüchtlingspolitik unterstützen? Eine wichtige möchte: Antikorruptionsmaßnahmen in den Entwick- Aufgabe ist die Hilfe vor Ort . Wir müssen auf Partner- lungsländern fördern . Wir können es nicht akzeptieren, schaft setzen und nicht auf eine Geber-Nehmer-Situation wenn korrupte Machenschaften in diesen Ländern nicht zwischen den Ländern . Die Schaffung einer wirtschaftli- eliminiert werden . Ohne funktionierende EZ-Partner- chen Grundlage in den Entwicklungsländern ist ein wich- schaften und gutes Regieren wird es nicht möglich sein, tiges Instrument der Flüchtlingspolitik . Wer gute Arbeit in langfristig mit den Entwicklungsländern vernünftig zu- seiner Heimat hat und eben auch für seine Familie sorgen sammenzuarbeiten . Korruptionsbekämpfung ist ein ganz kann, der muss sich nicht auf eine gefährliche und teure wichtiger Punkt . Flucht begeben, deren Folgen, was die Zukunft betrifft, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eigentlich nicht absehbar sind . Wir müssen Perspektiven vor Ort aufzeigen . Nur in einem friedlichen Umfeld ha- Letzte Bemerkung – dann komme ich auch zum ben Menschen eine Chance, ihre Zukunft zu gestalten . Schluss –: Wir sind auf einem guten Weg . Das Auswärti- Deshalb ist das Engagement des Zivilen Friedensdienstes ge Amt verzeichnet einen Mittelzuwachs von 26 Prozent . auch in diesem Zusammenhang sehr wichtig . Das Umweltministerium erhält sehr viel mehr Mittel für den internationalen Klimaschutz . Das alles müssen wir (Beifall der Abg . Sonja Steffen [SPD]) zusammenfassen, dann haben wir einen super Mehr- Die Mittel für den Zivilen Friedensdienst in Höhe von wert im Entwicklungsbereich . Ich hoffe, dass das in den 42 Millionen Euro im kommenden Jahr sind sehr gut ein- nächsten Jahren so weitergeht . Wir jedenfalls werden uns gesetzt . dafür einsetzen . (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das ist zu wenig, Herzlichen Dank . Herr Kollege!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) – Na ja, gut, aber immerhin sind sie schon vernünftig ein- gesetzt . Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Klimke .– Sie überziehen Wir müssen Investitionen in Bildung tätigen . alle gnadenlos, aber Sie sehen mich heute gnädig . Das (Zuruf des Abg . Stefan Rebmann [SPD]) hat wahrscheinlich mit dem Thema zu tun . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11693

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Gabriela Heinrich ist die nächste Rednerin in dieser können . Entwicklungszusammenarbeit – auch das wurde (C) Debatte . schon gesagt – ist kein Allheilmittel, um Fluchtursachen zu beseitigen . Ich könnte auch gar nicht alle Fluchtursa- (Beifall bei der SPD) chen ordentlich benennen, an denen wir arbeiten müss- Das war jetzt aber keine Aufforderung, auch zu überzie- ten . hen . Die Menschen fliehen vor Bürgerkriegen, Gewalt (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Doch! Doch!) und Unterdrückung. Sie fliehen aufgrund fehlender Per- spektiven, häufig hervorgerufen durch Korruption und Gabriela Heinrich (SPD): organisierte Kriminalität, und sie fliehen eben nicht nur Frau Präsidentin, lassen Sie sich überraschen .– Herr aus Afrika, sondern auch aus Europa, wie das Beispiel Minister! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen und Albanien zeigt. Die Menschen fliehen auch verstärkt aus Kolleginnen! Im Moment – wir haben es schon gehört – den Flüchtlingslagern in den Aufnahmeländern, vor al- ist es relativ einfach, die Menschen in unserem Land lem dann, wenn die internationale Gemeinschaft Kriegs- davon zu überzeugen, dass die Entwicklungspolitik ein flüchtlinge nicht versorgen kann, es dort keine - Sicher wichtiges Thema ist und dass Entwicklungspolitik Geld heit gibt und die Kinder niemals eine Schule besuchen kostet, vielleicht noch sehr viel mehr kosten muss und können . Deswegen ist es wichtig, dass wir nicht nur die wird . Herkunftsstaaten, sondern auch die Aufnahmeländer un- terstützen . Das heißt konkret, dass wir die Infrastruktur Die Menschen sehen im Fernsehen die furchtbaren von Flüchtlingslagern und Flüchtlingsstätten stärken Bilder von Flüchtlingen, die verzweifelt versuchen, Sta- müssen, wie wir das vor kurzem, , in unserem cheldraht und Mauern zu überwinden, die sich schreiend Antrag „Entwicklungspolitische Chancen der Urbanisie- auf Bahngleise legen und unter unwürdigsten Bedingun- rung nutzen“ gefordert haben . Der Haushaltsaufwuchs ist gen im Freien kampieren, um auf ihre Chance zu warten, dafür eine große Chance . die Chance auf Europa . Wir werden in der Entwicklungszusammenarbeit Das alles kommt jetzt plötzlich auch in der deutschen Schwerpunkte setzen müssen . Das ist nicht so einfach, Öffentlichkeit an, nicht nur hier im Parlament . Es taucht weil es so viele Baustellen gibt und so viele Länder, die verstärkt die Frage auf, warum wir nicht genug in den Unterstützung brauchen . Schauen wir nach Nordafrika, Herkunfts- und Aufnahmeländern investieren, aus denen vor die Haustür Europas . Libyen ist ein Land, das im die Menschen zu uns kommen, warum wir nicht mehr Chaos versunken ist, mit unabsehbaren Folgen für die versuchen, die Fluchtursachen zu bekämpfen – irgend- Nachbarländer . Die Menschen in dieser Region brauchen (B) wie, aber auf jeden Fall mit deutlich mehr Engagement . dringend Stabilitätsanker in diesem Chaos . (D) Deshalb – das wurde heute ganz oft angesprochen – ist es natürlich ein gutes Zeichen, dass im Haushaltsentwurf Tunesien gibt Hoffnung, gilt als Leuchtturm für De- beim Etat des Ministeriums für wirtschaftliche Zusam- mokratie und Stabilität, ist aber massiv vom Terrorismus menarbeit und Entwicklung ein deutliches Plus zu ver- bedroht . Die entwicklungspolitische Unterstützung muss auch helfen, den Terror einzudämmen, um die Stabilität zeichnen ist, auch, aber nicht nur, für die Sonderinitiative zu fördern, „Fluchtursachen bekämpfen, Flüchtlinge reintegrieren“ . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Wir haben uns seit langem für die Stärkung des Ent- sowie der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD]) wicklungsetats eingesetzt, und der Aufwuchs ist sicher ein richtiges Signal . Aber – und das kann man auch heu- zum einen, indem wir mehr wirtschaftliche, soziale und te wieder erkennen – die meisten Entwicklungspolitiker gesellschaftliche Perspektiven für die Menschen schaf- haben Fusseln am Mund, wenn sie immer wieder darauf fen, zum anderen, indem wir die Demokratisierung wei- hinweisen, dass sich Deutschland international verpflich- terhin begleiten und unterstützen . tet hat, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Das Gleiche gilt für Marokko, das nicht so sehr im Fo- die Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen . Wir sind kus steht . Auch dieses Land ist stabil, braucht aber Unter- von diesem Ziel weit entfernt . Wir müssen das ändern stützung, um die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu und konsequent nachbessern . kriegen, braucht Unterstützung bei der regionalen Ent- Die Gelder der Industrienationen für Entwicklungszu- wicklung und bei den Demokratisierungsprozessen . Die sammenarbeit sind eine gute Investition in die Zukunft jetzt geplante Verdoppelung der Mittel für die Sonderi- von Millionen von Menschen . nitiative „Stabilisierung und Entwicklung in Nordafrika und Nahost“ kann durchaus ein wichtiger Beitrag dazu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sein . der CDU/CSU) Wir müssen wegkommen von der Sicht, dass Ent- Herr Klimke, ich kann Ihre Einschätzung nicht teilen, wicklungspolitik vor allen Dingen Geld kostet . Wir ha- dass der gute Aufwuchs, den wir jetzt haben, reichen ben es in einigen Beiträgen gehört . Das ist immer nur die wird, um uns den SDGs so zu nähern, wie wir dies alle halbe Wahrheit . Natürlich kostet das Geld, aber die Frage miteinander gerne möchten . ist doch – die müssen wir uns alle mit Blick auf unseren Wir sehen jetzt, dass alle, die es irgendwie schaffen Gesamthaushalt stellen –: Was kostet es uns, wenn wir können, vor der Situation in ihren Herkunftsländern flie- uns nicht den Ursachen von Flucht stellen, wenn wir Ent- hen, aber sie werden nicht alle nach Europa kommen wicklungsländer nicht dabei unterstützen, auf erneuerba- 11694 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Gabriela Heinrich (A) re Energien zu setzen oder den Verlust der Biodiversität Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) zu stoppen? Und was kostet es uns, wenn wir nicht dabei Danke, Frau Heinrich .– Nächster Redner: Volkmar helfen, in anderen Ländern demokratische Strukturen, Klein für die CDU/CSU-Fraktion . Verwaltungen und einen Rechtsstaat aufzubauen, vor (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- allen Dingen, wenn sie diese Hilfe von uns einfordern? ordneten der SPD) Diese Fragen müssen diejenigen im Hinterkopf haben, die das Erreichen der ODA-Quote immer noch für nach- (CDU/CSU): rangig halten . Volkmar Klein Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und Heike gen! Jetzt, gegen Ende der Debatte, wird klar, dass wir Hänsel [DIE LINKE]) die Herausforderungen annehmen, dass Deutschland zu seiner weltweit gewachsenen Bedeutung und Verantwor- Die Koalition hat vor ein paar Wochen im Parlament – tung steht . Genau das hat der Minister eben bereits sehr wir haben das gemeinsam gemacht – einen Antrag zur eindrucksvoll für uns alle unterstrichen . Urbanisierung verabschiedet – ich habe schon darauf hin- gewiesen –, auch weil das schnelle Anwachsen der Städ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- te und eine völlig ungeplante Urbanisierung unheimlich ordneten der SPD) viel Konfliktpotenzial bergen. Wenn, wie erwartet, im Es bleiben zwei klare Botschaften: Erstens . Wir küm- Jahr 2050 3 Milliarden Menschen unter katastrophalen mern uns um die Flüchtlinge in Lagern im Nahen Osten . Lebensbedingungen in einem Slum leben, dann werden Das ist auch wichtig . Wir müssen helfen, dass die Le- wir versagt haben . Das müssen wir uns heute deutlich bensbedingungen dort besser werden – im Übrigen nicht bewusst machen . nur als Nothilfe über das Auswärtige Amt, sondern so, (Beifall der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD] dass, realistisch betrachtet, diese Menschen dort auch einen längeren Zeitraum bleiben können . Dafür braucht sowie der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE]) man entsprechende Investitionen . Dafür braucht man Es gehört deswegen zur Prävention, dass wir betroffene entsprechende Infrastruktur, bis hin zu Bildung . Wenn Länder und Städte stärker bei der Stadtplanung unter- uns das nicht gelingt, dann werden sich die Menschen stützen . Wir reden immer alle von der ländlichen Ent- von dort auf den Weg machen . wicklung . Ja, dieses Thema ist wichtig, aber es gibt auch Die zweite Botschaft lautet: Chancen in den Heimat- andere wichtige Themen, Möglichkeiten, wie man wahn- ländern für die Menschen schaffen . Das ist ein Anlie- sinnig viele Menschen in diesen riesigen Molochen von (B) gen unserer Politik insgesamt und etwas, was in diesem (D) Städten auf einmal erreichen kann, wie man ihre Lebens- Haushaltsentwurf bereits ziemlich deutlich wird . Wir situation verbessern kann . Das gilt auch für die Dezent- müssen Chancen für die Menschen in ihrer Heimat schaf- ralisierung, den Aufbau kommunaler Selbstverwaltung, fen – auf dem Balkan und in Afrika . Zumindest müssen die Energie- und Wasserversorgung und die Infrastruk- die Menschen das Gefühl haben, dass sie in ihrer Heimat tur – bis hin zu Urbanisierungspartnerschaften. Ich fin- langfristig ihren Lebensunterhalt verdienen und ein gutes de es sehr begrüßenswert, dass wir im Haushaltsentwurf Leben führen können . eine Erhöhung der Mittel für die kommunale Zusammen- (Beifall bei der CDU/CSU) arbeit und die Städtepartnerschaften vorgesehen haben . Die Mittel sollen mehr als verdoppelt werden . Wenn wir nun dieses in dem vorgelegten Haushaltsent- wurf mit einem Plus von 880 Millionen Euro – das ist Genauso begrüßenswert finde ich das vorgesehe- im Vergleich zum laufenden Haushaltsjahr eine Steige- ne eigenständige Ziel mit Stadtbezug bei den globalen rung um 13,5 Prozent – unterstreichen, dann ist das gut . Nachhaltigkeitszielen . Das müssen wir um eine New-Ur- Gut ist das allerdings vor allem dadurch, dass wir diese ban-Agenda ergänzen, die auf der Habitat-III-Konferenz deutliche Steigerung ohne Aufnahme von neuen Schul- im kommenden Jahr beschlossen und umgesetzt werden den hinbekommen . Das wiederum ist ein gutes Signal für muss . Fluchtursachen und der Umgang der Städte mit diese Menschen, für die Länder, die unserer Hilfe bedür- Flüchtlingen werden dabei eine wichtige Rolle spielen fen; denn das macht klar: Auf der Basis dieser Solidität, müssen . dieser Stabilität wird sich unsere Wirtschaft auch künftig erfolgreich entwickeln . Dieser Erfolg wird uns auch in Entwicklungspolitik darf nicht nur auf Krisen reagie- Zukunft in die Lage versetzen, unsere internationale Ver- ren . Der Anspruch ist und bleibt, Krisen zu vermeiden antwortung wahrzunehmen . und die Lebensumstände von Menschen deutlich zu verbessern . Wir müssen diese Aufgabe mit den Investi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tionen, die ich erwähnt habe, angehen, um diese Krisen ordneten der SPD) zu vermeiden . Sie dürfen gar nicht erst entstehen . In den Wie genau dieser erhebliche Zuwachs um 880 Millio- letzten Wochen ist deutlich geworden, dass es dazu keine nen Euro im nächsten Jahr ausgegeben werden soll, das Alternative gibt . werden wir in den nächsten neun Wochen diskutieren . Die sogenannten vertraulichen Erläuterungen liegen ja Vielen Dank . noch nicht vor . Insofern ist das, was wir bisher haben, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) noch nicht ganz befriedigend, aber die richtige Diskus- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11695

Volkmar Klein (A) sionsgrundlage, um Einzelheiten in den nächsten neun Denn am Ende bleibt: Wer keine Perspektive auf einen (C) Wochen zu klären . Job hat, der wird, auch wenn er noch so gut ausgebildet Im Moment ist es vielleicht sogar noch ein bisschen ist und noch so gut gesundheitlich versorgt ist, in seinem zu wenig . Die Kollegin Sonja Steffen hat eben gesagt: Land nicht bleiben können, weil er keine Arbeitsgele- Verteilen nach dem Gießkannenprinzip reicht nicht . Die genheit hat und seinen Lebensunterhalt nicht erarbeiten Begründung, die ich im Haushaltsentwurf beispielswei- kann . Deswegen brauchen wir eine stärkere Kooperation se bei Titeln wie „Technische Zusammenarbeit“ oder auch mit der Wirtschaft in diesen Ländern . „Finanzielle Zusammenarbeit“ oder auch bei den Kir- (Beifall bei der CDU/CSU) chen und vielen anderen für Steigerungen sehe, nämlich „mehr wegen ODA-Aufwuchs“, ist natürlich ein biss- Hilfe ist ausgesprochen wichtig . Deswegen die Mit- chen zu wenig . Das heißt ja quasi, das Geld muss raus; telsteigerung, und deswegen sind wir so begeistert dabei, wir stecken das jetzt einfach mal da rein .– Das ist keine unsere Hilfe anzubieten und gemeinschaftlich einzubrin- Begründung, sondern das muss die Folge für die Aufga- gen . Wir wissen aber auch, dass in den meisten Ländern ben sein, die wir aus diesen Titeln finanzieren wollen. Afrikas die Hauptgründe dafür, dass die Menschen keine (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Chancen und keine Perspektiven haben, Misswirtschaft und – ich sage es einmal ganz diplomatisch – optimierba- Dabei ist es tatsächlich so, dass einige in Deutschland re Effizienz von Regierungshandeln sind. Dazu gehören weiterhin das schiere Ausgeben von Geld bereits für das natürlich auch – die Kollegin Hajduk hat es eben gesagt – Erreichen des Erfolgs halten . Aber wir wissen inzwi- effiziente Steuersysteme. Auch viele andere Dinge gehö- schen, dass das nicht der Fall ist . ren dazu . Möglicherweise kann auch eine intensivierte (Beifall bei der CDU/CSU – Heike Hänsel Zusammenarbeit mit den Kommunen in Deutschland [DIE LINKE]: Für die Linke nicht!) helfen, Erfahrungen weiterzugeben . Das alles ist wichtig . Wir müssen mit den noch ausstehenden vertraulichen Vielleicht sollten wir in der Entwicklungszusammen- Erläuterungen konkretisieren, was genau Chancen bringt arbeit ein bisschen von unseren Erfahrungen im Eu- und was genau Fluchtursachen bekämpft . ro-Raum lernen . Denn auch in einigen der Programm- Heute Morgen hat Thomas Oppermann eine weitere länder waren Defizite bei der Regierungsführung das Konzentration auf genau dieses Anliegen vorgeschla- Problem . Dort hat die Troika entscheidend dazu beige- gen, nämlich eine Umschichtung hin zu diesem Titel tragen, Verwaltungskompetenz zu stärken und vor allen für die Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen, Dingen Bremsklötze für eine erfolgreichere Entwicklung (B) Flüchtlinge reintegrieren“ . In der Tat wächst dieser Ti- wegzuräumen . Genau das braucht Afrika . Troikas für Af- (D) tel nur relativ gering auf, nämlich von 70 Millionen auf rika – das wäre der richtige Spruch . 110 Millionen Euro . Andererseits – das ist ja auch aus der bisherigen Diskussion hervorgegangen – ist ja ei- (Beifall bei der CDU/CSU – Uwe Kekeritz gentlich der gesamte Haushaltsplan des Ministeriums für [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der müssen wir diskutieren, ob das so ist! – Heike Versuch, Fluchtursachen zu bekämpfen und Chancen zu Hänsel [DIE LINKE]: Um Gottes willen!) geben . Keine Sorge, es geht nicht um eine Aufnahme in den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Euro-Raum, das ganz bestimmt nicht, aber sehr wohl um Stefan Rebmann [SPD]: Richtig! – Dr . Bärbel eine klare Konditionalität, um die Ansage: Wir geben Kofler [SPD]: Endlich hat er es verstanden!) Hilfe, aber wir erwarten eine bessere Regierungsführung . Genau das wird gebraucht . Dafür reichen einfach nur Dies müssen wir wahrscheinlich ein bisschen robuster Gesundheitsprogramme und Bildung, so wichtig dies angehen, als wir bisher bereit gewesen sind . auch ist, nicht aus . Dadurch allein bekommt nämlich in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Afrika noch niemand einen Job, hat noch niemand eine Perspektive zur Erarbeitung seines eigenen Lebensunter- Je besser wir das schaffen, desto mehr können wir mit halts in der Zukunft . Dafür müssen wir noch mehr tun . unseren Mitteln erreichen . Im Übrigen müssen wir uns Es gibt auch an den Universitäten Afrikas IT-Absolven- dafür ja auch gegenüber unseren Steuerzahlern verant- ten . Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Gründer- worten . zentren und Businessparks für diese Absolventen schaf- Wenn wir das schaffen, kann unser jetzt vorliegen- fen können . Das müssen wir uns auch für Handwerker überlegen . Es reicht nicht, auch wenn es gut gemeint ist, der Haushaltsentwurf eine wirklich hervorragende Aus- im Rahmen traditioneller Entwicklungszusammenarbeit gangslage für die weitere Diskussion in den nächsten Handwerker auszubilden . Ein Handwerker – das wissen neun Wochen sein . Damit können wir dann genau das er- wir; das ist auch in Deutschland so – muss nicht nur sein reichen, was Minister Gerd Müller in seiner hervorragen- Handwerk beherrschen, sondern er muss auch Unterneh- den Art überall kommuniziert . Wir können das erreichen, mer sein, wenn er Jobs schaffen will . Wir müssen in der wenn wir es gemeinsam wollen . Tat noch mehr deutsche Firmen dafür begeistern, in Afri- Wir schaffen es auf diesem Wege, Chancen und Per- ka Betriebe zu eröffnen . spektiven für die Menschen zu schaffen, nicht nur auf (Beifall bei der CDU/CSU) dem Balkan, nicht nur im Mittleren Osten, sondern auch 11696 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015

Volkmar Klein (A) in Afrika . Um das zu erreichen, sollten wir weniger Streit drückt sich auch in einem Haushalt aus, liebe Kollegin- (C) anzetteln und gemeinsam in diese Richtung arbeiten . nen und Kollegen . Herzlichen Dank . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- NISSES 90/DIE GRÜNEN) ordneten der SPD – Uwe Kekeritz [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch weniger?) Wir können in der Entwicklungspolitik, glaube ich, vieles erreichen und vieles auf den Weg bringen . Wir können aber nicht alle Probleme lösen . Ich habe es an Vizepräsidentin Claudia Roth: anderer Stelle schon einmal gesagt: Ich bin der Meinung, Vielen Dank, Kollege Klein . – Jetzt kommt die Krö- jeden Euro, den wir in zielgerichtete Entwicklungspoli- nung dieser Debatte, als letzter Redner Stefan Rebmann . tik investieren, bekommen wir zeitverzögert doppelt und (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der dreifach zurück . Ich glaube, angesichts der Herausforde- SPD) rungen, vor denen wir stehen, ist dieser Etat ein Schritt in die richtige Richtung . Aber er ist nicht ausreichend . Wir Ich hatte noch 30 Sekunden, aber ich gebe ihm die müssen ihn verstetigen . Wir müssen diesen Etat in den Redezeit, die eigentlich vorgesehen war . nächsten Jahren deutlich nach oben heben . Dafür werbe ich, nicht nur bei euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, Stefan Rebmann (SPD): sondern ganz besonders auch bei unseren Haushälterin- Herzlichen Dank .– Liebe Präsidentin! Liebe Kollegin- nen und Haushältern . nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Herren! Auch ich freue mich natürlich über einen ordent- Ich war im vergangenen Jahr mit der Kollegin Wöhrl lichen Aufwuchs in unserem Entwicklungsetat . Dieser in Jordanien und im Libanon . Wir haben dort mehrere Aufwuchs ist einer ganzen Reihe von Kolleginnen und Flüchtlingscamps besucht . Ich kann mich noch sehr gut an Kollegen zu verdanken, die in der Vergangenheit vehe- die Berichte der Flüchtlinge und an die aus Plastikplanen ment dafür eingetreten sind . Die einen oder anderen ha- und Säcken zusammengebauten Zelte erinnern . Unmittel- ben ihr Anliegen auch durch ihr Abstimmungsverhalten bar neben ihnen trieben Abwässer und Fäkalien von meh- dokumentiert, was nicht immer zu Beifallsstürmen bei reren Tausend Flüchtlingen vorbei; ich habe den Geruch den Haushältern und bei den eigenen Fraktionsspitzen noch sehr präsent in der Nase . Ich kann mich auch noch geführt hat . sehr gut an die junge Medizinstudentin aus meinem Wahl- kreis Mannheim mit enormem Engagement erinnern, die (B) Ich finde, die Richtung in diesem Etat stimmt. Es ist (D) aber auch klar: Unser Versprechen, 0,7 Prozent unseres in einem Zelt eine junge Frau behandelt hat . Vor dem Zelt Bruttoinlandsprodukts für Entwicklung zur Verfügung gab es eine Schlange, die gar nicht abreißen wollte . zu stellen, werden wir, anders als Schweden und Groß- Vor wenigen Wochen war ich mit ein paar Kollegen in britannien, nicht erreichen . Heute Morgen hat die Bun- Uganda . Wir haben uns dort vor Ort Forschungsprojekte deskanzlerin hier an dieser Stelle schon richtigerweise zu Aids, Tuberkulose und Malaria angeschaut . Auch dort betont, wie eng die Verzahnung zwischen Innen-, Außen- waren wir in sogenannten Testgemeinden . Wir haben ge- und Entwicklungspolitik ist . Sie hat auch darauf hinge- sehen, wie die Lebensbedingungen der Menschen sind . wiesen, welche Auswirkungen es hat, wenn wir in der Ich erzähle das nicht nur, um darauf hinzuweisen, wie her- Entwicklungspolitik etwas nicht tun . vorragend die Arbeit der zig Tausenden ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer ist, wie hervorragend die NGOs Wir Entwicklungspolitiker wissen nur zu gut, wozu ihre Helfer einsetzen und sich engagieren – ihnen sind wir Perspektivlosigkeit, Landraub, kein ausreichender Zu- zu Dank verpflichtet –, sondern ich sage das auch, weil gang zu Nahrung, kein Zugang zu sauberem Wasser, kei- ich der Meinung bin, dass wir viel mehr tun müssen . Wir ne ordentlichen Chancen auf Bildung, kein Zugang zu ei- müssen solche Projekte und Forschungseinrichtungen viel nem Gesundheitssystem und dergleichen führen können . mehr unterstützen, als wir es bisher tun . Auch dies – diese Das alles löst Wanderungsbewegungen aus, und das alles Bedingungen – führt nämlich dazu, dass sich Menschen begünstigt auch Konflikte, was wiederum dazu führt, dass auf den Weg begeben und eine bessere Zukunft suchen . sich Menschen schlichtweg in Sicherheit bringen wollen Ich sage noch einmal: Ich glaube, wir haben mit die- und flüchten. All das und vieles mehr – Konfliktminerali- sem Etat noch nicht das erreicht, was wir eigentlich dar- en, Lieferketten, keine ordentlichen Arbeitsbedingungen, stellen müssten . Kinderarbeit, Zwangsarbeit und dergleichen, keine fairen Handelsverträge – sind auch Fluchtursachen . Und wir In der letzten Haushaltsdebatte habe ich auf unsere diskutieren hier darüber, dass wir uns auf die Fluchtursa- Fehler und Versäumnisse bei der Ebolaepidemie hinge- chen konzentrieren sollten . wiesen . Heute wissen wir: Über 11 300 Menschen sind gestorben . Und wir wissen: Wir hätten es verhindern (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) können . Seit 2005 war ein Wirkstoff bekannt, der aber Es ist richtig gesagt worden: Der Gesamtetat, die nie getestet wurde . Warum? Weil das Geld dafür fehlte . gesamte Entwicklungspolitik ist in den Fokus zu neh- Dieses Problem haben wir nicht nur bei Ebola, son- men. Deshalb, finde ich, muss der Entwicklungspolitik dern auch bei Malaria, Tuberkulose und anderen armut- ein ganz anderer Stellenwert beigemessen werden . Das sassoziierten Krankheiten . Auch Polio – das haben wir Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11697

Stefan Rebmann (A) heute auch schon gehört – beginnt wieder auszubrechen, Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) weil die Schluckimpfungen ausbleiben . Nein, „gelegentlich“ wirklich nicht . Bitte komme zum Ende . Um es deutlich zu sagen: Das Geld, das wir hier in- vestieren, rettet Menschenleben, und das Geld, das wir (SPD): nicht investieren, nimmt Menschenleben. Ich finde, des- Stefan Rebmann Ja . – Es wird nicht ausreichen, nur die Krankheiten sen müssen wir uns bewusst sein . zu bekämpfen . Wir brauchen auch gute Arbeit, einen Zu- Ich muss schon sagen: Ich war etwas verwundert und gang zum Bildungssystem und dergleichen . verärgert, dass die Mittel für den Globalen Fonds zur Wir in Deutschland und in Europa machen den Wasser- Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria nicht hahn auf und bekommen sauberes Wasser . Wir haben Strom, erhöht wurden . Es ist nicht nur so, dass die Mittel im eine Heizung und Medizin, wann immer wir dies brauchen . letzten Haushalt zunächst von 245 Millionen Euro auf Wir haben einen vollen Bauch, wie man an mir ganz gut 200 Millionen Euro gekürzt werden sollten . Vielmehr sehen kann . Es ist die absolute Ausnahme, wie wir leben . sind auch die 220 Millionen Euro, auf die man sich auf- 73 Prozent der Menschheit haben diese Privilegien nicht . grund eines Kompromisses geeinigt hat, letzten Endes Seien wir dankbar, dass wir so privilegiert leben dür- auf 210 Millionen Euro zusammengestrichen worden . fen . Wundern wir uns nicht, dass die anderen 73 Prozent Gleichzeitig ist im Etat plötzlich ein Posten für irgend- der Menschheit auch so leben wollen und sich auf den eine Wirtschaftssache aufgetaucht, die mit keinem der Weg zu uns machen . Tun wir alles dafür, dass die Men- Entwicklungspolitiker verabredet war . schen in ihren Ländern, ihrer Heimat, eine Zukunft und die Chance haben, auch so zu leben . (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: So ist es!) Herzlichen Dank . – Und herzlichen Dank, Frau Präsi- Ich appelliere wirklich an die Haushaltspolitiker, beim dentin, für Ihre Geduld . Globalen Fonds und bei Gesundheit noch einmal genau (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) hinzuschauen – auch mit dem Blick auf die Fluchtursa- chen –, damit wir hier noch einmal entsprechend nachle- Vizepräsidentin Claudia Roth: gen können . Vielen Dank, lieber Kollege Stefan Rebmann .– Wei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen nicht der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- vor . (B) NISSES 90/DIE GRÜNEN) Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesord- (D) Das können wir auch, und wir können auch ganz genau nung angekommen . beweisen – die Zahlen belegen das –, wie gut der Glo- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- bale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und tages auf morgen, Donnerstag, den 10 . September 2015, Malaria arbeitet . Deshalb bitte ich, darüber noch einmal 9 Uhr, ein . nachzudenken . Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, der sich für Frau Präsidentin, ich komme gelegentlich zum Ende . Sie alle gut entwickelt . (Heiterkeit – Matthias W . Birkwald [DIE Damit ist die Sitzung geschlossen . LINKE]: Den Satz merke ich mir!) (Schluss: 18 .33 Uhr)

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11699

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ 09 .09 .2015 Klein-Schmeink, Maria BÜNDNIS 90/ 09 .09 .2015 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 09 .09 .2015 Kolbe, Daniela SPD 09 .09 .2015 Marieluise DIE GRÜNEN

Becker, Dirk SPD 09 .09 .2015 Lenkert, Ralph DIE LINKE 09 .09 .2015

Brand, Michael CDU/CSU 09 .09 .2015 Mihalic, Irene BÜNDNIS 90/ 09 .09 .2015 DIE GRÜNEN

Brandl, Dr . Reinhard CDU/CSU 09 .09 .2015 Mortler, Marlene CDU/CSU 09 .09 .2015

De Ridder, Dr . Daniela SPD 09 .09 .2015 Obermeier, Julia CDU/CSU 09 .09 .2015

Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/ 09 .09 .2015 Pfeiffer, Sibylle CDU/CSU 09 .09 .2015 DIE GRÜNEN

Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ 09 .09 .2015 Renner, Martina DIE LINKE 09 .09 .2015 DIE GRÜNEN

Groth, Annette DIE LINKE 09 .09 .2015 Röspel, René SPD 09 .09 .2015

(B) (D) Hartmann (Wackern- SPD 09 .09 .2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ 09 .09 .2015 heim), Michael DIE GRÜNEN

Hirte, Dr . Heribert CDU/CSU 09 .09 .2015 Schwarzelühr-Sutter, SPD 09 .09 .2015 Rita

Irlstorfer, Erich CDU/CSU 09 .09 .2015 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ 09 .09 .2015 DIE GRÜNEN

Kiziltepe, Cansel SPD 09 .09 .2015 Satz: Satzweiss.com, Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333