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Analysen

/// Eine „Revolution von oben“ Die nach Fukushima

Siegfried Balleis /// Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima hat Bundes­ kanzlerin eine derart massive Kurskorrektur in der Atompolitik voll­ zogen, die nur als „Revolution von oben“ bezeichnet werden kann. War kurz zuvor noch eine deutliche Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke beschlossen worden, so fiel der Ausstiegsbeschluss aus der Kernenergie umso radikaler aus. Dass dieser Kurswechsel bisher zu keinen Blackouts geführt hat, ist nur der geogra- phischen Lage Deutschlands im Herzen Europas zu verdanken, durch die ein inten- siver Stromaustausch mit den Nachbarländern erfolgen kann. In den vergangenen fünf Jahren hat Deutschland aber tatsächlich einen bemerkenswerten Vorsprung bei Einsatz und Ausbau der regenerativen Energien errungen. Damit kann das Land durchaus zu einer Modellregion der Energiewende in der Welt avancieren.

Die energiepolitische Diskussion in der litische Diskussion enorm zugespitzt. Bundesrepublik Deutschland war seit Gegner haben seit dem Jahr 1977, als Beginn der 70er-Jahre in hohem Maße der Beschluss zur Prüfung der Eignung von einer Kontroverse zwischen Atom- als Endlager erfolgte, militant gegen die kraftbefürwortern und Atomkraftgeg- Endlagersuche in gekämpft.1 nern gekennzeichnet. Spätestens mit der Ähnliches gilt für die massiven Proteste Suche nach einem Atommüllendlager in in Form von Bauplatzbesetzungen in Gorleben hatte sich die gesellschaftspo- 1975 und in 1976. Diese massiven Maßnahmen gegen die Ener- giepolitik haben u. a. zu einem Erstar- ken der Grünen geführt.2

Der Protest der Atomkraftgegner Bürgerkriegsähnliche nahm seit den 70er-Jahren Auseinandersetzungen in massiv zu. Gorleben und Wackersdorf 1979 zählte man bei den Protesten in Gorleben schon bis zu 100.000 De- monstranten. Es kam auch viele Jahre

468/2016 // PoLITISCHE STUDIEN 53 choenen R / Daniel S OKE Quelle: mauritius images / imageBR Seit der Reaktorkastrophe in Fukushima im März 2011, die letztendlich zur absoluten Kehrtwende in der Haltung der Bundesregierung zur Atomenergie führte, ist der gesellschaftliche Widerstand gegen Kernkraftwerke deutlich gestiegen.

später immer wieder zu nahezu bürger- Sensationell war dann aber das Ende kriegsähnlichen Zuständen, um den der Auseinandersetzung um die WAA, Transport von Atommüll, der in Castor- als Bennigsen-Foerder, ein VEBA-Ma- behältern nach Gorleben verbracht wer- nager, für die Energieversorgungsbran- den sollte, zu blockieren. Eine weitere che erklärte, dass man auch auf Wa- Eskalation erlebte die Diskussion um ckersdorf verzichten könne, da die An- die friedliche Nutzung der Kernenergie teilseigner der zukünftigen Betreiberge- mit der Planung der Wiederaufberei- sellschaft einen Vertrag mit der franzö- tungsanlage in Wackersdorf (WAA). sischen Cogema unterzeichnet hatten, 1985 beschloss die Bayerische Staatsre- auf deren Basis sie die französische gierung, im Norden der Oberpfalz, in Wiederaufbereitungsanlage in La Hague der Nähe von Schwandorf eine Anlage nutzen konnten. zur Wiederausbereitung abgebrannter Kernbrennstäbe zu errichten. Gegen Die Reaktorkatastrophe von dieses Projekt entwickelten sich massive Tschernobyl Bürgerproteste, sowohl seitens der Be- Die Diskussionen um die Wiederaufbe- völkerung der betroffenen Region als reitungsanlage in Wackersdorf wurden auch von Kernkraftgegnern aus der ge- überlagert von der Reaktorkatastrophe samten Bundesrepublik Deutschland.3 in Tschernobyl, die sich am 26. April

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1986 in der Ukraine ereignete. Zum ers- Bundesländer und die Oppositionspar- ten Mal in der Geschichte war unmittel- teien im Deutschen Bundestag angekün- bar erlebbar, dass selbst über Tausende digt, Verfassungsklage gegen diesen Be- Kilometer Entfernung radioaktive Stoffe schluss des Bundestages und auch des die Menschen in ihrem Leben beein- Bundesrates einzureichen. trächtigen konnten. Die Reaktorkatast- rophe von Tschernobyl ließ bereits da- Die Reaktorkatastrophe von mals auch bei vielen Befürwortern der Fukushima friedlichen Nutzung der Kernenergie Eine absolute Kehrtwende in der ernste Zweifel aufkommen, ob man die Haltung der Bundesregierung zur Atomenergie auch wirklich technisch Atomenergie erfolgte nach der Reaktor- beherrschen könne. Ein gängiges Argu- katastrophe von Fukushima am ment war allerdings, dass man den rus- 11. März 2011. Innerhalb weniger Tage sischen Technikern nicht das Know- fanden intensive Verhandlungen zwi- how zutraute wie den Technikern in den schen den Parteivorsitzenden von CDU westlichen Industriestaaten. Dennoch / CSU und FDP, Angela Merkel, Horst entstand in den Jahrzehnten nach Seehofer und Philipp Rösler statt. In Tschernobyl in der Bevölkerung ein im- den jeweiligen Präsidien beziehungs- mer distanzierteres Verhältnis zur fried- weise später in den Parteivorständen lichen Nutzung der Atomenergie.4 wurde dann im Hinblick auf die anste- henden Landtagswahlen in Baden- Zick-Zack-Kurs in der Kernkraft­ Württemberg ein kompletter Rich- frage tungswechsel eingeleitet. Eine klare Zäsur stellte dann der Aus- stiegsbeschluss der rot-grünen Bundes- regierung aus der Kernenergie vom 17. Die Reaktorkatastrophe von Fukushima Juni 2000 dar. Dieser Beschluss, der mit im März 2011 brachte den sofortigen der Novellierung des Atomgesetzes vom Umschwung in der Energiepolitik. 22. April 2002 in Kraft trat, sah ein Ver- bot des Neubaus von kommerziellen Atomkraftwerken vor sowie eine Befris- In einer Sofortaktion wurden die sie- tung der Regellaufzeit bestehender ben ältesten Kernkraftwerke sowie das Atomkraftwerke auf durchschnittlich Atomkraftwerk Krümmel abgeschaltet 32 Jahre seit Inbetriebnahme.5 In der und der Beschluss gefasst, dass bis zum schwarz-gelben Koalition, die auf die Zieljahr 2022 ein kompletter Ausstieg große Koalition von 2005-2009 folgte, aus der Kernenergie erfolgen solle. Zeit- gab es dann eine äußerst kontrovers dis- gleich wurde durch die Bundesregie- kutierte Entscheidung im Deutschen rung eine Ethikkommission eingesetzt, Bundestag zur Verlängerung der Lauf- deren Auftrag es war, diesen Ausstieg zeit der Kernkraftwerke. Diese sollten aus der Kernenergie zu prüfen. Die entsprechend des Beschlusses des Deut- Kommission nahm am 4. April 2011 schen Bundestages vom 28. Oktober ihre Arbeit auf und legte bereits am 2010 um durchschnittlich zwölf Jahre 28. Mai 2011 ihr Ergebnis vor. Zentrale länger laufen als bisher geplant. Aller- Punkte waren die Einrichtung eines dings hatten Ende 2010 bereits neun „unabhängigen parlamentarischen Be-

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auftragten für die Energiewende beim den bayerischen Ministerpräsidenten Deutschen Bundestag“ und eines „nati- unterstützt, Verzögerungen beim Aus- onalen Forums Energiewende“. Bezeich- bau der erneuerbaren Energien ergeben. nenderweise sind diese beiden zentralen So wurde beispielsweise auf seine Initia- Empfehlungen niemals umgesetzt wor- tive hin die sogenannte 10-H-Regelung den.6 eingeführt, welche besagt, dass Windrä- der die zehnfache Entfernung ihrer Der Ausstieg aus der Höhe zur nächsten Bebauung einhalten Kernenergie konnte gar nicht müssen. Dieser Beschluss des Bayeri- schnell genug erfolgen schen Landtags, von den Oppositions- Bei der Beratung und Beschlussfassung parteien beklagt, wurde vom Bayeri- um den Ausstiegsbeschluss aus der schen Verfassungsgerichtshof am 8. Mai Kernenergie lieferten sich der Bayerische 2016 bestätigt. Dort wurde ausgeführt, Landtag beziehungsweise die Bayeri- dass die 10-H-Regelung eine Schutz- sche Staatsregierung und der Bundes- funktion für die betroffene Bevölkerung tag, beziehungsweise die Bundesregie- darstelle, von der vor Ort durch die je- rung, einen Geschwindigkeitswettlauf. weiligen politischen Gremien auch nach Die Bayerische Staatsregierung legte be- unten abgewichen werden könne.9 reits am 24. Mai 2011 ihren Ausstiegs- beschluss vor7 und die Bundesregierung folgte am 30. Juni/1. Juli 20118. Wenn In Bayern gab es starken man sich heute kritisch die Kürze der Widerstand gegen den Ausbau parlamentarischen Beratung einerseits alternativer Energien. und die Reichweite und Bedeutung der Beschlüsse andererseits betrachtet, kann man ohne Übertreibung von über- Eine Verzögerung des Ausbaus der hastetem Vorgehen sprechen. Dement- Übertragungsleitungen in Bayern ergab sprechend war es auch in den Folgejah- sich durch den Widerstand betroffener ren immer wieder notwendig, diese Be- Bürger und auch des bayerischen Minis- schlüsse nachzujustieren und das Er- terpräsidenten. In einem nahezu einein- neuerbare-Energien-Gesetz (EEG) im- halb Jahre dauernden Ringen gelang es mer wieder zu modifizieren. Aus heuti- dann aber am 1. Juli 2015 in einer Ver- ger Sicht kann festgestellt werden, dass einbarung der drei Parteivorsitzenden die Ausbauziele für die erneuerbaren doch, die unterirdische Führung der Energien in Einzelfällen sogar überer- Hochspannungsübertragungsleitungen füllt wurden. Ursächlich dafür waren durchzusetzen.10 und sind die enorm hohen Vergütungen, die für die verschiedenen erneuerbaren Warum eine „Revolution Energien gezahlt und werden. von oben“? Analysiert man heute die Entschei- Erste Bremsspuren dungssituation des Frühjahrs 2011 und Allerdings haben sich in der Folge, ins- die revolutionäre Kurskorrektur durch besondere im Freistaat Bayern und zwar Bundeskanzlerin Angela Merkel, so nicht nur aus der Bevölkerung heraus, gibt es dafür im Wesentlichen nur zwei sondern zum Teil sogar intensiv durch Interpretationen. Zum einen wollte

56 POLITISCHE STUDIEN // 468/2016 man offensichtlich durch eine Kehrt- Deutschen Bundestag zu erringen, so wende in der Kernenergiepolitik noch kann man mit Fug und Recht davon Schaden von den Unionsparteien bei ausgehen, dass diese Strategie der Bun- den bevorstehenden Landtagswahlen in deskanzlerin aufgegangen ist. Baden-Württemberg abwenden. Tat- sächlich verzeichneten die Grünen in Warum die „Revolution von oben“ Baden-Württemberg nach der Reaktor- überhaupt gelingen konnte katastrophe von Fukushima einen sen- Man kann die Beschlüsse der Bundesre- sationellen Zuwachs, stiegen zur zweit- gierung unter Führung von Angela Mer- stärksten Fraktion im Baden-Württem- kel vom 1. Juli 2011 aber auch deshalb bergischen Landtag auf und stellten als revolutionär bezeichnen, weil sie danach in einer Koalition mit der SPD- zum einen ohne jegliche Konsultation Fraktion den ersten grünen Minister- der Partner in der Europäischen Union präsidenten Deutschlands. Dass dies erfolgten, obwohl die Energiepolitik in keine Ausnahmeerscheinung war, wur- hohem Maße eine gemeinschaftlich ge- de spätestens bei den nächsten Land- tragene Politik ist, und zum zweiten, tagswahlen in Baden-Württemberg am weil ein solch radikaler Wandel in der 13. März 2016 deutlich, als es den Grü- Energiepolitik weltweit ohne Beispiel nen sogar gelang, mit einem Stimmen- ist. Erleichtert wurde dieser aber vor al- anteil von 30,3 % die traditionell stärks- lem durch die geographische Lage te Partei in Baden-Württemberg, näm- Deutschlands in der Mitte Europas. lich die CDU zu überflügeln und diese Dieser Umstand ermöglicht unserem unter ihrem Ministerpräsidenten Man- Land einen Stromaustausch mit acht fred Kretschmann in eine Juniorfunkti- unmittelbar angrenzenden Nachbarlän- on in einer grün-schwarzen Koalition dern. In der geographischen Lage Groß- zu drängen. britanniens, d. h. praktisch am Rande Eine zweite Interpretation des revo- der EU und auch durch eine Insellage lutionären Kurswechsels von Bundes- geprägt, wäre ein solches Experiment kanzlerin Angela Merkel könnte aber niemals technisch umsetzbar gewesen. auch darin liegen, dass sie erkannte, Diesem Umstand hat es die Bundesre- dass die Atompolitik über Jahrzehnte publik Deutschland also zu verdanken, hinweg die bundesdeutsche Bevölke- dass dieser radikale Kurswechsel in den rung total polarisierte. Es ist durchaus vergangenen fünf Jahren zu keinem vorstellbar, dass ihre Entscheidung Blackout geführt hat, weil ein entspre- letztlich einem machtpolitischen Kalkül chender Austausch zwischen Stroman- entsprang, nämlich, die Union wieder dauerhaft mehrheitsfähig in der Bundes- republik Deutschland und strukturell für atomkraftkritische Bürger wählbar zu machen. Betrachtet man das sensati- Deutschlands geographische Lage onell gute Abschneiden der Unionspar- machte die Energiewende erst teien in den Bundestagswahlen vom 22. möglich. September 2013, in der es der Union ge- lang, mit 310 von 630 Mandaten nahezu die absolute Mehrheit der Mandate im

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gebot und Stromnachfrage mit den Eine weitere Verschärfung dieses Nachbarländern technisch machbar Prozesses wird durch die sogenannte war. Merit-Order erzeugt. Diese besagt, dass Begünstigend kommt hinzu, dass diejenigen Kraftwerke zuerst Strom lie- die beiden im Süden der Bundesrepublik fern können, wenn der Bedarf nicht Deutschland liegenden Länder Öster- durch die regenerativen Energien ge- reich und Schweiz in hohem Umfang deckt werden kann, die den Strom zu über Pumpspeicherwerk verfügen, die den niedrigsten Kosten bereitstellen in der Lage sind, Überschussstrom aus können. Zu diesen können aber gerade regenerativen Quellen Deutschlands zu jene Kraftwerke produzieren, die bereits nutzen. Indem Wasser in die Oberbe- weitgehend abgeschrieben sind, und cken gepumpt wird, wird dieser Strom dies sind i. d. R. alte Kohle- bzw. Braun- speicherbar und die bundesdeutschen kohlekraftwerke, die wiederum extrem

Unternehmen und Haushalte können viel CO2 und sonstige Schadstoffe emit- dann zu entsprechend höheren Kosten tieren.12 den Strom importieren, wenn wenig re- generative Energien in Deutschland zu Parteipolitische Ursachen der Verfügung stehen. Verletzung der Klimaschutzziele In diesem Zusammenhang ist es aber Energiewende verletzt notwendig, darauf hinzuweisen, dass Klimaschutzziele diese paradoxe Situation zum Teil auch Gegenwärtig haben wir aber die parado- politisch überlagert wird. Insbesondere xe Situation, dass in Deutschland nach das SPD-regierte bevölkerungsreichste Abschaltung der Kernkraftwerke, die ja Bundesland der Bundesrepublik

ihrerseits CO2-neutral waren, mehr Deutschland, nämlich Nordrhein-West- CO2 produziert wird als noch vor Fuku- falen, hat größtes Interesse daran, dass shima. Damit steht der Ausstieg aus der die fossilen Kraftwerke weiter betrieben Kernenergie im Widerspruch zur Ein- haltung der Klimaschutzziele. Denn in Zeiten, in denen wenig Strom aus rege- nerativen Energien zur Verfügung steht, muss in Deutschland Strom aus Kohle- Die Umsetzung der Energiewende oder Braunkohlekraftwerken, fallweise erfolgt in den einzelnen auch aus Gaskraftwerken hergestellt Bundesländern sehr unterschiedlich. werden. Diese fossil betriebenen Kraft-

werke emittieren aber neben CO2 in er- heblichem Umfang auch weitere Schad- stoffe. Eine wesentlich deutlichere Ge- fährdung der Klimaschutzziele ist aller- dings durch den enormen Energiehun- werden können. Ähnliches gilt für das ger der Entwicklungs- und Schwellen- ebenfalls SPD-regierte Bundesland länder zu erwarten, bei denen sich mit Brandenburg mit den entsprechenden zunehmender wirtschaftlicher Entwick- Braunkohlekraftwerken in der Lausitz.

lung ein dramatischer Anstieg der CO2- Die aktuelle Situation 2016 stellt sich im Emissionen ergeben wird.11 Hinblick auf die Energiewende in den

58 POLITISCHE STUDIEN // 468/2016 einzelnen Bundesländern deshalb au- von fünf großen Kernkraftwerken. Im ßerordentlich differenziert dar. Nach- Rahmen des Energiedialogs wurde dem Baden-Württemberg und Bayern deutlich, dass in Bayern eine ausschließ- vor Fukushima in hohem Maße, d. h. lich auf regenerativen Energien beru- über 50 % bei der Stromproduktion von hende Stromversorgung praktisch nicht der Kernenergie abhängig waren, muss darstellbar ist. Denn insbesondere in hier der Ausstieg aus der Kernenergie bis Zeiten ungenügender Verfügbarkeit re- zum Jahr 2022 mit doppelt so großem generativer Energien, d. h. in wind- und Tempo erfolgen wie in den anderen Bun- sonnenarmen Zeiten und in der Dunkel- desländern.13 flaute im November, muss ebenfalls Strom produziert und zur Verfügung Anderweitig politisch motivierte gestellt werden. Dafür ist es erforder- Verzögerungen lich, dass beispielsweise durch Gas- Die notwendige Reaktion in beiden Bun- kraftwerke binnen kürzester Zeit der desländern müsste also darin bestehen, notwendige Strom erzeugt werden die regenerativen Energien mit höchster kann. Geschwindigkeit auszubauen. Aller- dings wurde, wie bereits erwähnt, im Intelligente Speichertechnologien Freistaat Bayern dieser Ausbau zumin- Eine weitere Lösung besteht in der Spei- dest im Bereich der Windkraft massiv cherung von Strom. Derzeit stehen aber abgebremst, weil man zum einen auf die nur relativ wenige Pumpspeicherwerke Belange der betroffenen Bürger Rück- zur Verfügung und auch die Speiche- sicht nehmen wollte und zum anderen rung in Batterien ist momentan bei wei- das bayerische Alpenvorland als Land- tem nicht ausreichend. Es wird deshalb schaft schützen wollte. Andererseits unabdingbarbar sein, im großtechni- wurde in den Jahren 2013 bis 2015 auch schen Umfang Strom chemisch zu spei- der Ausbau der Übertragungsleitungen chern. Dafür bietet sich beispielsweise verzögert. Dies hat zur Folge, dass nun- die Wasserstofftechnologie an, mit de- mehr mit hohem Tempo die unterirdisch ren Hilfe aus Wasser elektrolytisch zu verlegenden Hochspannungsübertra- Wasserstoff und Sauerstoff gewonnen gungsleitungen vorangetrieben werden wird. Der Wasserstoff wird dann entwe- müssen, wenn Bayern und Baden-Würt- der mit CO2 zu Methan fusioniert, oder temberg nicht in massive Versorgungs- aber in einem niedrigen einstelligen Pro- probleme geraten wollen. zentsatz mit Erdgas gemischt und in das Gasnetz eingeleitet. Ergebnisse des bayerischen Die wissenschaftliche Erforschung Energiedialoges dieser Speichertechnologie ist bereits Der von der bayerischen Staatsministe- sehr weit vorangeschritten, wenngleich rin für Wirtschaft und Energie, Ilse Aig- die großtechnische Anwendung noch zu ner, geleitete Energiedialog hatte zum wünschen übrig lässt. Die Audi AG hat Ergebnis, dass in Bayern ab dem Jahr beispielsweise eine vorbildliche Power- 2022 eine Kapazitätslücke von circa 5 to-Gas-Anlage in Werlte im Emsland GW besteht und bei der Strommenge realisiert. Dort wird aus Überschuss- eine Deckungslücke von 40 TWh.14 strom aus Offshore-Windanlagen elekt- Dies ist das Äquivalent einer Leistung rolytisch Wasserstoff gewonnen und

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mit CO2 aus an der benachbarten Bio- voran. Dies betrifft nicht nur die zuvor gasanlage fusioniert. Dieses so gewon- geschilderte Wasserstofftechnologie, nene Methan wird dann verflüssigt und sondern auch die Entwicklung organi- an Erdgastankstellen in der Bundesre- scher Fotovoltaikzellen, die via Druck- publik Deutschland transportiert, um verfahren auf beliebige Trägermateriali- als Treibstoff für gasbetriebene Fahrzeu- en aufgebracht werden können. Für die ge zu fungieren. Applikation dieser Folien können bei- spielsweise Häuserfassaden, Fenster und grundsätzlich auch Gewächshäuser dienen. Insgesamt ist in diesem Bereich eine weitere stürmische Entwicklung Förderung und Ausbau neuer der Solarzellenproduktion zu erwar- Speichertechnologien sind ten.16 notwendig. Im Bereich der Windkraft wurden die Anlagen in den vergangenen Jahren durch Effizienzsteigerungen bei der An- wendung leichterer Materialien und auch durch die systematische Erhöhung der Nabenhöhe der Rotoren immer wei- Eine komplett andere Technologie ter ausgereizt. haben Wissenschaftler an der Friedrich- Auch im Bereich der Wasserkraft Alexander-Universität Erlangen-Nürn- schreitet die technische Entwicklung berg unter Leitung von Professor Was- enorm voran. Wurde in der Vergangen- serscheid entwickelt. Dort wird gegen- heit immer wieder geklagt, dass die Tur- wärtig nicht nur im Labormaßstab, son- binen in Wasserkraftwerken außeror- dern auch in einem ausgelagerten kom- dentlich schädlich für die Wasserlebe- merziellen Unternehmen elektrolytisch wesen sind, so nimmt man heute immer gewonnener Wasserstoff mit einem Ka- mehr Abstand von den so genannten talysator an einen Liquid Organic Hyd- Francis-Turbinen, durch die Fische teil- rogen Carrier (LOHC) angereichert. weise filetiert wurden und ersetzt sie Dieses LOHC ist absolut ungefährlich, beispielsweise durch die Kaplan-Turbi- nicht entflammbar und kann problem- nen, die wesentlich fischverträglicher los wie Dieselkraftstoffe in Kesselwa- sind. Neuerdings kommen auch hoch- gen, Tanklastfahrzeugen etc. transpor- moderne Schachtkraftwerke zum Ein- tiert werden. Am Bestimmungsort ange- satz. Hinzu kommt, dass heute die Tiere kommen, kann dieses LOHC dann wie- durch dichte Gitter vor den Turbinen der „entladen“, d. h. dehydriert werden, geschützt werden und die Bereitstellung und für ein Verbrennungsfahrzeug als von Fischtreppen, die die Mobilität der Kraftstoff dienen.15 Fische in den jeweiligen Flussläufen ge- währleisten, ist bereits obligatorisch. Erfolge der Effizienzsteigerung Auch die Bioenergie hat eine syste- erneuerbarer Energien matische Effizienzsteigerung erfahren. Vor allem im Freistaat Bayern schreitet Sie hat ohnehin den enormen Vorzug, die Forschung und Entwicklung regene- dass sie nicht volatil wie Wind- oder rativer Energien außerordentlich rasch Sonnenenergie ist. Im Gegensatz zu die-

60 POLITISCHE STUDIEN // 468/2016 sen beiden regenerativen Energiearten ges Netz entstanden, das zeigte, dass ist Bioenergie nicht nur grundlastfähig, man eine regionale Selbstversorgung sondern beliebig regelbar, d. h. Bioener- mit Strom sicherstellen kann. Die An- gie kann auch dann Strom erzeugen, hänger dieses Ansatzes sind der Auffas- wenn die Sonne nicht scheint oder der sung, dass man langfristig auf großtech- Wind nicht weht. nische Stromübertragungsleitungen ver- Einen relativ bescheidenen Beitrag zichten kann. Diese Diskussion wurde im Rahmen der regenerativen Energien auch außerordentlich kontrovers im leistet die Tiefengeothermie. Geogra- Energiedialog im Freistaat Bayern ge- phisch betrachtet ist diese Energiequelle führt. Auch wenn nicht auszuschließen vor allem im Raum München verfügbar. ist, dass in einigen Jahrzehnten ein sol- Durch heißes Wasser, das aus dem soge- ches zellulares System vorstellbar ist, nannten Molassebecken hochgepumpt kann man heute noch nicht auf Übertra- wird, können viele Gemeinden rund um gungsleitungen verzichten. /// München bereits heute vorwiegend die- se Wärme nutzen und in geringerem Umfang auch Strom erzeugen.

Neues Marktmodell Eine grundlegende Änderung des Marktmodells hat sich durch die Ener- giewende aber auch in Form einer Viel- zahl neuer Energieproduzenten ergeben. In den vergangenen Jahrzehnten gab es /// Siegfried Balleis ist Alt-OB der Stadt Erlangen, Vorsitzen- der des Universitätsbunds der FAU-Er- Die Forschung und Entwicklung langen / Nürnberg sowie Lehrbeauftrag- erneuerbarer und alternativer Energien ter am dortigen Lehrstuhl für Politische schreitet v. a. in Bayern rasch voran. Wissenschaften.

an Stromproduzenten im Wesentlichen Anmerkungen 1 Kohl, Helmut: Erinnerungen 1982-1990, Mün- nur die vier großen Energieversorgungs- chen 2005, S. 455. unternehmen E.on, RWE, EnBW und 2 Schrüfer, Gertrud: Die Grünen im Deutschen Bundestag – Anspruch und Wirklichkeit, Nürn- Vattenfall. Heute gibt es mehrere hun- berg 1985, S. 16. derttausend Betreiber von Fotovoltaik-, 3 Plettner, Bernhard: Abenteuer Elektrotechnik, und die Entwicklung der Elektrotechnik Windkraft- und Biogasanlagen. Dies seit 1945, München 1994, S. 454. hat zu einem vollkommen neuen Markt- 4 Beckurts, Karl Heinz: Nach Tschernobyl weiter?, in: Technischer Fortschritt – Herausforderung modell geführt. Früher transportierten und Erwartung, hrsg. von Dems., München 1986, wenige Erzeuger den Strom sternförmig S. 165 ff. 5 https://de.wikipedia.org/wiki/ zu den Kunden, heute erzeugen viele Laufzeitverl%C3%A4ngerung, Stand: 14.5.2016. Stromproduzenten den Strom nicht nur 6 Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung: Deutschlands Energiewende – Ein Gemein- selbst, sondern verbrauchen diesen zum schaftswerk für die Zukunft, Berlin 30.5.2011. Teil auch selbst, sind also „Prosumer“17. 7 https://www.bayern.landtag.de/www/ElanText Ablage_WP16/Protokolle/16%20Wahlperiode Dadurch ist ein neuartiges engmaschi- %20Kopie/16%20WP%20Plenum%20Kopie/

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079%20PL%20280611%20ges%20endg%20 Kopie.pdf, Stand: 14.5.2016. 8 http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/ 2011/34915890_kw26_angenommen_abgelehnt/ 205788, Stand: 14.5.2016. 9 10 H-Regelung verstößt nicht gegen die Bayerische Verfassung, in: Pressemitteilung des StMI vom 9.5.2016. 10 germanwatch.org/de/download/11754.pdf, Stand: 14.5.2016. 11 Vbw – Die bayerische Wirtschaft: Studie – Das neue energiewirtschaftliche Gesamtkonzept, München 2013, S. 25 ff. 12 Sachverständigenrat für Umweltfragen: Wege zur 100 % erneuerbaren Stromversorgung, Sonder- gutachten, Berlin 2011, S. 48 ff. 13 Bayerische Staatsregierung: Bayerisches Energie- konzept „Energie Innovativ“, von der Bayerischen Staatsregierung beschlossen am 24.5.2011, Mün- chen 2011, S. 4 ff. 14 Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft und Medien, Energie und Technologie: Energiedialog Bayern, Dialogpapiere, Maßnahmen und Schluss- folgerungen, München 2015, S. 50 ff. 15 Balleis, Siegfried: Power-to-Gas – So können wir Überschuss-Strom effizient in Erdgas umwandeln und speichern, in: Magazin für die Energiewirt- schaft in Gewerbe und Industrie 2/2015, S. 8 f. 16 Expertenkommission des Bayerischen Wirt- schaftsministeriums: Bayerische Allianz für Ener- gieforschung und -technologie, München 2011, S. 10. 17 Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft und Medien, Energie und Technologie: Bayerisches Energieprogramm – für eine sichere, bezahlbare und umweltverträgliche Energieversorgung, Mün- chen 2016, S. 21 ff.

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