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DER ERSTE SCHRITT ZUM ATOMAUSSTIEG 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf

BAYERISCHE SCHRIFTEN für soziale Demokratie Editorial | Markus Rinderspacher, MdL

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir würdigen mit dieser Sonderschrift den erfolgreichen Wider- stand gegen die WAA Wackersdorf von Bürgerinnen und Bürgern vor allem aus der Oberpfalz, aber auch darüber hinaus aus ganz Bayern, aus Deutschland und sogar aus Österreich. Sie kamen aus allen gesellschaftlichen Bereichen und vereinigten sich im Kampf gegen den Atomstaat und für die Bewahrung unserer Heimat: Männer und Frauen aus allen Generationen, Mitglieder von Parteien, von Kirchen, von Umwelt- und Naturschutzgruppen sowie von Studenten- und Schülervereinigungen. Die rote Sonne auf gelbem Grund als Symbol des Widerstandes gehört fest zur Geschichte dieses Landstrichs. Sie soll uns immer Mahnung sein und Ansporn für die Gestaltung einer atomfreien Zukunft. 25 Jahre nach dem Baustopp an der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf halten wir es für richtig und notwendig, an die Ereignisse von damals zu erinnern. Und jenen Wiedergutma- chung zuteilwerden zu lassen, die sich damals als Staatsfeinde, Chaoten, Kommunisten, als Anarchisten und Spinner haben dif- famieren lassen müssen, obwohl sie lediglich dafür eingetreten sind, auf friedvollem Wege ihre Heimat zu schützen. Sie haben Mut und Bürgersinn bewiesen und ihren Beitrag geleistet, unser Land vor dem Schlimmsten zu bewahren. Ihnen gilt unser Res- pekt und unsere Hochachtung und unser ausdrücklicher Dank.

Markus Rinderspacher, MdL Vorsitzender der BayernSPD-Landtagsfraktion

| BayernSPD-Landtagsfrak- tionschef Markus Rinder- spacher betrachtet Protest- „Der Freistaat“ ist eine Schriftenreihe der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag. banner, die heute im Haus Die Serie beleuchtet historische, gegenwärtige und zukünftige gesellschaftspolitische der Bayerischen Geschichte Themenfelder und vermittelt Positionen aus Politik, Kultur und Wissenschaft. aufbewahrt werden.

12/2014 DER FREISTAAT 3 Bayerische Schriften für soziale Demokratie 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf Inhalt

Inhalt

3 Editorial Markus Rinderspacher, MdL Vorsitzender der BayernSPD-Landtagsfraktion

6 „Wir bleiben dran!“ Markus Rinderspacher, MdL Vorsitzender der BayernSPD-Landtagsfraktion

18 „Aus der Wut wurde aber nicht Ohnmacht, sondern Kampf“ Franz Schindler, MdL Verfassungs- und rechtspolitischer Sprecher der BayernSPD-Landtagsfraktion

28 Das Lehrstück WAA. Hans Schuierer erinnert an das „Aus“ Hans-Peter Kastenhuber Artikel aus den „Nürnberger Nachrichten“ vom 13.06.2009

34 „Mir san die Chaoten“ – Der Widerstand in Wackersdorf Bernd Siegler Artikel aus der „taz“ vom 31.05.1989

46 Acht Jahre WAA Wackersdorf: Eine politische Zäsur Natascha Kohnen, MdL Energiepolitische Sprecherin der BayernSPD-Landtagsfraktion und Ingrid Pflug, Politikwissenschaftlerin

64 Ein weiter Weg: Vom Desaster Wackersdorf bis zur nach Fukushima Harry Scheuenstuhl, MdL Umweltpolitischer Sprecher der BayernSPD-Landtagsfraktion

73 Nachruf Wir gedenken Erna Sielka, Alois Sonnleitner und Johann Hirschinger

4 DER FREISTAAT 12/2014 12/2014 DER FREISTAAT 5 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Bayerische Schriften für soziale Demokratie „Wir bleiben dran!“ | Markus Rinderspacher, MdL „WIR BLEIBEN DRAN!“ Markus Rinderspacher, MdL Vorsitzender der BayernSPD-Landtagsfraktion

Rede vom 30. Mai 2014 anlässlich der Gedenkveranstaltung „25 Jahre Baustopp WAA“ in Schwandorf

Vor einem Vierteljahrhundert verfügten die Behörden den Baustopp für die WAA. Dies war das offizielle „Aus“ für eines der umstrittensten und größenwahnsinnigsten Atomprojekte der Bundesrepublik.

„Stoppt den WAAhnsinn, WAA niemals“ wieder ein attraktiver Ort, mitten im Grünen, schallte als Schlachtruf aus den Oberpfälzer ein Teil der Urlaubsregion Oberpfälzer Seen- Wäldern, so laut, dass auch in München jeder land im Herzen Ostbayerns. hören konnte, was Sache war. Eine „strahlen- de Zukunft“ wurde den Oberpfälzern von Die WAA, das war ein Angriff auf unsere dort verheißen. Doch sehr schnell durch- Heimat. Sie spaltete ein ganzes Land. schauten sie den faulen Zauber. Unter der roten Sonne auf gelbem Grund, Symbol der Ein Wahnsinnsprojekt mit unvorstellbaren Anti-AKW-Bewegung, war ganz Ostbayern Dimensionen. 5 Milliarden Euro an veran- im Widerstand gegen die Atomfabrik vereint. schlagten Kosten, 800.000 gefällte Bäume, Wackersdorf, die 5.000-Einwohner-Gemein- 130 Hektar gerodetes Gelände, was einer de bei Schwandorf wurde zum Synonym für Fläche von 186 Fußballfeldern entspricht, die Gefahren der Atomtechnik, aber auch mitten im Taxöldener Forst, einer bis dahin zum Symbol des Widerstands gegen den idyllischen Waldlandschaft. Das Baugelän- Atomstaat. Die Oberpfalz war damals Schau- de geschützt wie ein Hochsicherheitstrakt platz eines der heftigsten Konflikte zwischen mit einem 4 Meter hohen Betonwall, über Staatsmacht und Zivilgesellschaft. Ein gan- 4,8 Kilometer lang, ein Stahlgitterzaun zer Landstrich glich zeitweise einem Heerla- bewehrt mit spanischen Reitern, Stachel- ger aus Polizei und Bundesgrenzschutz. Heu- drahtrollen und Überwachungskameras. te erinnert in Wackersdorf so gut wie nichts Die gesamte Baustelle eine Festung. So gut mehr an die geplante WAA. Wackersdorf ist gesichert ist nicht einmal Fort Knox.

6 DER FREISTAAT 12/2014 12/2014 DER FREISTAAT 7 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Bayerische Schriften für soziale Demokratie 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf „Wir bleiben dran!“ | Markus Rinderspacher, MdL

| Errichtung eines Kreuzes am „Platz des Gorlebener Gebets“ vor der Baustelle des vorgesehenen Endlagers am 27. Mai 1988. Der Kreuzweg von Wackersdorf nach fand vom 27. März bis zum 29. Mai 1988 statt.

881.000 Einwendungen gegen die WAA, David gegen Goliath. Hier die Anti-AKW- 23 Millionen verteilte Flugblätter des Protests. Bewegung, dort die geballte Staatsmacht Rund 1,2 Milliarden Euro wurden sinnlos in mit der Atomlobby vereint. Der WAAhnsinn den Oberpfälzer Sand gesetzt. Milliarden- sollte über Jahre andauern und einer ganzen beträge verpulvert für Rodung, Bauzaun, Region den Ausnahmezustand bescheren. Baugruben, die Eingangshalle für die Brenn- stäbe, erdbebensicher, als einziges Gebäude Die Ängste der Menschen vor der Atomfa- fertig gebaut. Bereits der Sicherheitszaun, brik waren seit Harrisburg 1979 und spä- der an ein Straflager erinnerte, verschlang testens seit Tschernobyl 1986 mehr als real. die Summe von 7,5 Millionen Euro. Noch gar Über einen riesigen Kamin sollte die kon- nicht einkalkuliert die enormen Kosten der taminierte Abluft in die Atmosphäre ent- Polizeieinsätze rund um das Baugelände und weichen. Es drohten die Verseuchung des bei den bayernweiten Demonstrationen. Grundwassers, Unfälle beim Transport der Allein im Jahr 1986 erhöhten sich die im Brennstäbe, wiederaufbereitetes hochgifti- bayerischen Staatshaushalt veranschlagten ges und atomwaffenfähiges Plutonium, es Ausgaben für überörtliche Polizeieinsätze drohte ein GAU in der Anlage selbst, und die von 1,25 Millionen auf 25,3 Millionen Euro. im Wiederaufarbeitungsprozess anfallenden radioaktiven Abwässer sollten tatsächlich Die Proteste gegen die geplante Atomfabrik einfach über die Naab entsorgt werden und zogen sich durch die gesamten 80er-Jahre. das im Bereich des größten Trinkwasser- Zehn Jahre Widerstand – davon dreieinhalb reservoirs der Oberpfalz, der Bodenwöh- Jahre intensive Auseinandersetzung am Bau- rer Senke. Radioaktives Jod und Strontium zaun – zwischen zwei ungleichen Gegnern. wären in die Nahrungskette gelangt. Erhöhte

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Krebsraten in der einheimischen Bevölke- verkauf ihrer Heimat. Auf dem Höhepunkt rung, wie sie auch in der Umgebung von der Proteste gegen die WAA war eine deut- La Hague und Sellafield, den französischen liche Mehrheit der Oberpfälzer gegen die und englischen Wiederaufbereitungsanla- Atomfabrik. gen, festgestellt wurden, wären wohl die Folge gewesen. Für Franz Josef Strauß war „die WAA so sicher wie eine Fahrradspeichenfabrik“. In einer Gewiss, die WAA sollte Wackersdorf und den Regierungserklärung sprach Strauß im umliegenden Gemeinden Gewerbesteuer- November 1982 von „verantwortungslosen einnahmen in Millionenhöhe bringen. Für Demagogen“, die „irrationale Ängste“ die strukturschwache Region verlocken- gegen die WAA schürten. Das Feindbild de Aussichten. Die mittlere Oberpfalz litt von der fünften Kolonne Moskaus wurde damals nach Schließung des Braunkohle- bedient. Die Protestler seien von weit her ange- tagebaus unter hoher Arbeitslosigkeit, die reiste Chaoten aus dem linksextremistischen Quote lag im Arbeitsamtsbezirk Schwandorf Lager. Für Strauß waren die Demonstranten bei 19,1 Prozent, auch die Maxhütte durch- von kommunistischen und anarchistischen lief 1987 ihren ersten Konkurs. Und nun Gruppen unterwandert. Immer wieder stellte sollten über 1.000 neue Arbeitsplätze durch er die WAA-Gegner in eine Reihe mit RAF- die Atomfabrik auf einen Schlag entstehen. Terroristen. Die CSU übte sich in Schwarz- Doch für die entlassenen Kohlekumpel und Weiß-Malerei, „ihr die Bösen, wir die Guten“. | Trotz Demonstrationsverbot versammelten sich nach Stahlwerker war das trotzdem keine gute Doch die Staatsmacht hatte sich mit dem Pfingsten 1986 mehr als 30.000 Menschen am Bauzaun. Alternative. Ihr Motto lautete „Maxhütte JA, WAA-Standort Wackersdorf vom ersten WAA NEIN!“. Sie widersetzten sich dem Aus- Tage an verkalkuliert. Sie ging davon aus,

die Oberpfälzer würden schon stillhalten, genes Wohlergehen, sondern auch um die niemals aufbegehren. Strauß erwartete, Gesundheit ihrer Kinder und Kindeskinder. die Standortentscheidung für die Ober- Vom Facharbeiter bis zum Studienrat, pfalz würde – Originalzitat – eine „rasche von der Hausfrau bis zum Schüler, sie alle und ungestörte Realisierung des Projekts waren friedlich vereint im Protest gegen garantieren“. Welch Fehleinschätzung, auch dieses Monstrum mit drei Buchstaben: WAA. von Leuten wie August Lang, selbst aus der Der gewaltfreie Widerstand war geprägt von Oberpfalz kommend, damals bayerischer In- regelmäßigen Sonntagsspaziergängen am nenminister und damit verantwortlich für die Bauzaun, Menschenketten wurden gebildet, Polizeieinsätze. Die kreuzbraven Oberpfälzer bayernweit etliche Kundgebungen abgehal- wagten tatsächlich den Aufstand. Sämtliche ten. Bereits im Oktober 1981 formierte sich Einschüchterungsversuche verfingen nicht. die erste Bürgerinitiative. Viele weitere sollten folgen. Die erste Großdemonstration fand im Die Ablehnung der WAA, der offene Wider- Februar 1982 mit 15.000 Teilnehmern statt. stand reichte bis tief in sogenannte bürger- liche Kreise. Den Menschen ging es um ihre Mit im Boot der Anti-AKW-Bewegung: Heimat. Sie fürchteten nicht nur um ihr ei- große Naturschutzverbände wie der Bund

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Naturschutz, viele kirchliche Gruppen, Gewerkschafter, Jugend- „Man verbände, Schülerinitiativen. Und es gab eine gemeinsame kul- versuchte turelle Avantgarde gegen die WAA. Musiker, Künstler, Kabaret- tisten, Literaten machten auf kreative Art mächtig Front gegen den mich auch WAAhnsinn. Ein lautstarkes Zeichen setzten bekannte Bands und Interpreten wie die Biermösl Blosn, die Toten Hosen und psychisch Haindling beim Anti-WAAhnsinns-Festival in Burglengenfeld im fertig- Juni 1986 vor über 100.000 Besuchern. Die einheimische Bevöl- zumachen. kerung, sie stellte sich gegen die WAA. Mutige Männer und Frauen der Kirche unterstützten ebenso Das zeigt die aktiv den Protest. Erinnert sei an den katholischen Pfarrer von Brutalität Penting, Richard Salzl. Genauso engagiert der Pfarrer von Nitte- nau, Leo Feichtmeier. Als Religionslehrer wurde Herr Feichtmeier dieser wegen seines Engagements gegen die WAA vom Kultusministe- politischen rium mit einem Disziplinarverfahren belegt. Führung.“ Am Franzikusmarterl in der Nähe des Bauzauns versammelten sich ab Mitte der 80er-Jahre jeden Sonntag gläubige Christen - Hans Schuierer zum ökumenischen Gottesdienst. Strauß äußerte sich ver- ächtlich über diese christliche Form des Widerstands: „Die De- monstranten besorgen dort nicht das Werk Gottes, sondern des | „Wo Unrecht zu Recht wird, Teufels.“ Noch heute ist die Marterlgemeinde dankenswerterweise wird Widerstand zur Pflicht.“ aktiv. Enorme Unterstützung gab es aus unserem Nachbarland (Bertolt Brecht) Österreich. Mit dem Bundesland Salzburg schloss sich eine ganze Region dem Widerstand an.

Beistand erhielten die Demonstranten vom ersten Tag an von- seiten der Opposition im Bayerischen Landtag. Am 13. Oktober 1983 bestimmte die WAA erstmals die Debatte im Landtag. SPD-Landtagsabgeordnete, ab Herbst 1986 auch die Grünen, stellten über Jahre hinweg eine Vielzahl von Anfragen zur WAA, brachten Dringlichkeitsanträge ein und versuchten auf parlamentarischem Wege den Baustopp oder zumindest ein Moratorium zu erreichen. Nach der Katastrophe von Tschernobyl brachte die SPD die Interpellation „Bayerns Ausstieg aus der Kernenergie“ ein. Der damalige Fraktionsvorsitzende Karl-Heinz Hiersemann lieferte sich einen heftigen Schlagabtausch mit einer am Atomkurs strikt festhaltenden CSU-Fraktion. 1988 konnte die SPD per Verfassungsklage endlich einen Untersuchungsaus- schuss zur WAA durchsetzen.

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In der Region wurden standhaf- der Kernenergie waren innerhalb der SPD bereits damals in te Bürgermeister, Gemeinderäte, der Mehrheit. 1986 hat die SPD auf ihrem Bundesparteitag in Kreisräte und ein Landrat aktiv, Nürnberg den Atomausstieg beschlossen. Eine der zentralen der zum Helden der Oberpfalz Figuren des Widerstands, die hier besonders hervorgehoben aufstieg. Die umliegenden Ge- werden soll, war ohne Übertreibung Hans Schuierer, der da- meinden, bis auf das SPD-regierte malige Landrat von Schwandorf. Wie ein Löwe stemmte er sich Wackersdorf selbst, lehnten die gegen den Bau der WAA. Er versuchte alles, was in seiner Macht WAA mehrheitlich ab. WAA-Geg- stand, um das unheilvolle Projekt doch noch zu stoppen. Dafür ner mit CSU-Parteibuch befanden boykottierte er den Bau im Rahmen des rechtlich Möglichen. sich in einem besonderen Zwie- spalt. Auf sie wurde Druck aus- Durch seinen unermüdlichen Widerstand war der rote Landrat geübt, bis hin zur Androhung des der CSU stets ein „Dorn im Auge“. Von Strauß als Kommunist Parteiausschlusses. beschimpft, wurde er mit Dienstaufsichtsbeschwerden durch die Bayerische Staatsregierung belegt, weil er an einer nicht Es demonstrierte auch ein junger genehmigten Demonstration im Taxöldener Forst teilgenom- Anwalt und SPD-Kreisrat aus men hatte. Sein Landratsamt wurde durch die sogenannte „Lex Schwandorf mit am Bauzaun. Schuierer“ entmachtet. Sie war fortan als Genehmigungsbehör- Mein Fraktionskollege Franz de für die WAA nicht mehr zuständig. Schindler, Vorsitzender der Ober- pfälzer SPD und seit 1990 Mitglied des Landtages. Heute ist er Vorsit- „Ich sage immer, die gesamte Wiederauf- zender des Ausschusses für Recht und Verfassung im Bayerischen bereitungsanlage Wackersdorf ist ein einziges Landtag. Dass ausgerechnet er Lügenpaket vom Anfang bis zum Ende.“ – der einst als Chaot verächtlich gemachte Widerständler am Bau- - Hans Schuierer zaun – eines der herausragenden parlamentarischen Ämter inne- Die CSU-Mehrheit im Landtag beschloss das sogenannte hat, über Fraktions- und Parteig- „Selbsteintrittsrecht des Staates“. Seitdem können Entschei- renzen hinweg hoch angesehen dungen auch gegen den Willen und die rechtlichen Bedenken ist und gar von politischen Mit- des von der Bevölkerung direkt gewählten Landrates durchge- bewerbern als „Mr. Rechtsstaat“ zogen werden. Per Dekret wurde ein vom Volk direkt gewählter | Weihnachtsandacht respektiert wird, das ist ein durchaus genugtuendes Momen- Landrat entmachtet, weil er sich offen gegen den Kurs der am 24. Dezember 1984 tum der Geschichte. Staatsregierung stellte. Dieses Gesetz ist als „Lex Schuierer“ in die am Franziskusmarterl. Annalen der bayerischen Verfassungsgeschichte eingegangen. Doch nicht alle Sozialdemokraten fanden sich in den Reihen Nach Inkrafttreten der „Lex Schuierer“ im Oktober 1985 erteilte der Anti-AKW-Bewegung wieder. Der Riss, das Für-und-Wi- die Regierung der Oberpfalz die wasser- und baurechtliche Ge- der-WAA ging quer durch die Familien und die Parteien, auch nehmigung zum Bau der WAA. durch die SPD. Der damalige Bürgermeister von Wackers- dorf war bis zuletzt ein Unterstützer, andere spielten eine Meine Fraktion unternahm 2012 im Bayerischen Landtag den herausragende Rolle im Lager des Widerstands. Die Gegner Versuch, die „Lex Schuierer“, übrigens seit damals nie wieder

14 DER FREISTAAT 12/2014 12/2014 DER FREISTAAT 15 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Bayerische Schriften für soziale Demokratie 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf „Wir bleiben dran!“ | Markus Rinderspacher, MdL

umgesetzt, als letztes Relikt der WAA-Zeit abzuschaffen. Doch die schwarz-gelbe Mehrheit lehnte den SPD-Entwurf dazu ab. Hans Schuierer ist auch heute noch die SPD-Symbolfigur des da- maligen Widerstands.

Das Aus für die Atomfabrik kam für viele überraschend. Es war ein Vertreter der Atomlobby, der mit seiner Ankündigung das Ende der WAA einläutete. Der Chef von VEBA, Rudolf von Bennigsen-Foerder erklärte im Frühjahr 1989: Alle Brennstäbe, eine Kapazität von 600 Tonnen pro Jahr, aus den AKWs der VEBA sollen in der Anlage im französischen La Hague wiederaufberei- tet werden. Erst als sich das widersinnige Projekt für die Atom- industrie nicht mehr rechnete, kam das Aus.

Heute sind wir beim Ausstieg aus der Atomenergie sicher einen deutlichen Schritt weiter, aber immer noch nicht da, wo wir sein wollten. Es ist wertvolle Zeit in Bayern vertan worden, um die Energiewende voranzutreiben. Stattdessen wird sie immer blockiert. Noch im Frühjahr 2011, unmittelbar vor Fukushima, forderte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, die Laufzeiten der Atommeiler in Deutschland auf unbegrenzte Zeit zu verlängern.

Die Länderöffnungsklausel für die sogenannte 10H-Regelung bei der Windkraft ist ein Fehler. Sie soll ausschließlich in Bayern Anwendung finden, die anderen 15 Bundesländer werden davon keinen Gebrauch machen. In den Anhörungen im Deutschen Bundestag haben alle Experten deutlich gemacht, dass dies ein großer Blockadenonsens ist. Die Seehofer’sche „10H-Regel“ nimmt dieser bedeutsamen erneuerbaren Energie regelrecht

die Luft zum Atmen. Nur auf 0,05 Prozent der Fläche Bayerns können neue Windräder gebaut werden, also praktisch keine mehr. Damit verhindert die CSU auch ein Konjunkturprogramm für den ländlichen Raum, der seine Energie doch zumindest in großen Teilen selbst herstellen könnte, am besten in Bürgerge- nossenschaften. Dann bliebe auch das Geld in der Region.

Auch in anderen Bereichen macht die Staatsregierung hartnäckig ihre Hausaufgaben nicht.

Aber: Wir bleiben dran!

| Altlandrat Hans Schuierer, SPD-Fraktions- chef Markus Rinderspacher, WAA-Veteran und SPD-Rechtspolitiker Franz Schindler am 16 DER FREISTAAT 12/2014 Franziskusmarterl am 30. Mai 2014. 12/2014 DER FREISTAAT 17 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Bayerische Schriften für soziale Demokratie „Wir bleiben dran!“ | Markus Rinderspacher, MdL „AUS DER WUT WURDE ABER NICHT OHNMACHT, SONDERN KAMPF“

Franz Schindler, MdL Verfassungs- und rechtspolitischer Sprecher der BayernSPD-Landtagsfraktion Rede vom 30. Mai 2014 anlässlich der Gedenkveranstaltung „25 Jahre Baustopp WAA“ in Schwandorf

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Chaoten,

Franz Josef Strauß würde im Grab rotieren, wenn er wüsste, dass wir für die heutige Veranstaltung vom Haus der Bayerischen Geschichte Original-Trans- parente der Bürgerinitiativen gegen die WAA ausgeliehen haben, weil sie dort als Dokumente der bayerischen Geschichte eingelagert sind.

Der jetzige Ministerpräsident spielt mit jahrelangen Kampf gegen die WAA heute dem Instrument der Volksbefragung, um zu keine 4.000 Arbeitsplätze in Wackersdorf und demonstrieren, dass er eine permanente kein Oberpfälzer Seenland gäbe, sondern ein Koalition mit dem Volk eingehen möchte. Vor riesiges Sperrgebiet mitten in der Oberpfalz. 30 Jahren hätte sich der damalige Minister- präsident sicher nicht getraut, eine Volks- Schade, dass nach dem Aus für die Maxhütte befragung zum Thema WAA durchzuführen, und die BBI (Bayerische Braunkohlen weil das Ergebnis eindeutig gegen die WAA Industrie AG) erst der Umweg über eine gewesen wäre. WAA gegangen werden musste, bevor Arbeitsplätze neu geschaffen worden sind. Gut, dass der Kampf gegen die WAA schon Geschichte ist und dass es schon eine ganze Schade auch, dass viele von den damaligen Generation gibt, die davon nur aus Erzählun- Mitstreitern heute nicht mehr dabei sein gen weiß. Umso wichtiger ist es, Geschichts- können. Aus der großen Zahl fallen mir spon- klitterungen gar nicht erst aufkommen zu tan Menschen ein wie Mariele Müller, die die lassen und den jungen Leuten, die heute heute gezeigten Transparente geschrieben Magister-, Diplom- und Doktorarbeiten über hat; Michael Meier, dem Grundstücke in den Widerstand gegen die WAA Wackersdorf unmittelbarer Nähe des WAA-Geländes schreiben, klarzumachen, dass es ohne den gehört haben und der sich nicht hat kaufen

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| Demonstrant am lassen, sondern bis zum Schluss als Kläger gegen die WAA auf- Maschinencamp an getreten ist; der Chemieprofessor Dr. Armin Weiß, Ute Kirch aus Pfingsten 1986. Nabburg, der Solarpapst und Mitglied des Bundestages , Dr. Walter Angebrand, Dr. Uwe Dams und Toni Seitz, von denen jede und jeder an ihrer und seiner Stelle wichtig für den gemeinsamen Erfolg war.

Die wenigsten der Zigtausenden von Oberpfälzern, die von 1981 bis 1989 gegen den Bau einer atomaren WAA ge- kämpft haben, waren Anfang der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts schon überzeugte Atomkraftgegner, und die meisten hatten die Vorgänge um die gescheiterte Errich- tung einer WAA in Gorleben nur aus der Ferne und in der Tagesschau mitverfolgt.

Es musste also erst einiges passieren, bis aus kreuzbraven Leuten, von denen einige Anhänger der CSU, andere An- hänger der SPD oder der Grünen, die meisten aber partei- politisch ungebunden waren, leidenschaftliche Kämpfer gegen die Errichtung einer atomaren WAA in Wackersdorf geworden sind.

Die erste Skepsis trat auf, als die Staatsregierung Gerüchte, dass nach dem Aus für eine WAA in Gorleben bei uns in der Boden- wöhrer Senke ein Standort für eine WAA gesucht werde, demen- tiert hat (Dezember 1980, Umweltminister Dick: „Wiederaufar- | Der Polizeihubschrauber beitung im Raum Schwandorf-Wackersdorf ist abwegig“). Edelweiß2 löscht ein Feu- er auf dem Gelände vor Die Skepsis wurde zum Schock, als derselbe Minister im September dem Bauzaun. Am 07. Sep- 1981 auf Anfrage des damaligen Abgeordneten Dietmar Zierer tember 1986 verunglückt eingeräumt hat, dass die Staatsregierung auch Wackersdorf als er bei der Verfolgung von Demonstranten bei einer möglichen Standort für eine WAA vorschlagen werde. Kollision mit einem Schie- nenbus der Deutschen Die erste Wut kam auf, als immer deutlicher wurde, dass die Bahn auf der Bahnstrecke Staatsregierung den Landkreis Schwandorf gerade deshalb als Schwandorf-Cham. Standort für eine WAA vorgesehen hatte, weil dort die Not der Ein Mensch stirbt. Menschen nach dem Aus für die BBI und der Stilllegung der Maxhütte am größten schien.

Aus der Wut wurde aber nicht Ohnmacht, sondern Kampf Es begann der Kampf um die Köpfe: Die Atomindustrie über- schüttete den Landkreis und die gesamte Oberpfalz mit bunt

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parente gemalt, der juristische Widerstand Je mehr sich die Menschen informiert hatten, organisiert und Anwälte beauftragt. desto mehr lehnten sie den Bau einer WAA ab Die Staatsregierung machte Druck auf die An dieser Stelle ganz herzlichen Dank auch Genehmigungsverfahren und verstärkte die an Claus Bößenecker, der als juristischer Staatsanwaltschaft in Amberg und erweiter- Staatsbeamter am Landratsamt Schwandorf te vorsorglich das Amtsgericht in Schwandorf. unheimlich viel geleistet und dafür gesorgt Die CSU im Landtag verabschiedete eine hat, dass die Rechte der Nachbarn und der „Lex Schuierer“ und die DWK ließ 400 Hektar Gemeinden in den vielen Genehmigungsver- Wald roden und planieren und mit einem fahren gewahrt und erste Demos organisiert meterhohen Stahlzaun umwehren. Diese wurden. Staatsregierung leistete jegliche erdenkliche

| Publikum beim Anti-WAAhnsinns- festivals am 15. August 1986.

bebilderten Hochglanzprospekten über die Parallel dazu formierten sich überall Bürger- Vorzüge einer WAA, transportierte jeden, der initiativen gegen die WAA, zuerst in Schwan- wollte, per Flugzeug nach La Hague und ver- dorf, dann im Städtedreieck. Bei dieser Ge- suchte, ganze Zeitungsredaktionen für sich legenheit ist mir übrigens zum ersten Mal einzunehmen. Herzlichen Dank deshalb un- ein damals junger Studienrat namens Volker seren Lokalzeitungen in Schwandorf und den Liedtke aufgefallen, der dann nach dem Aus damaligen Chefredakteuren Hans Kalischek für die WAA Bürgermeister in Burglengenfeld von der „Mittelbayerischen Zeitung“ und Wolf- und dann als Nachfolger von Hans Schuierer gang Houschka vom „Neuen Tag“, dass sie das Landrat geworden und seit ein paar Tagen Ansinnen der DWK (Deutsche Gesellschaft für auch schon „Altlandrat“ ist. Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen) sofort zurückgewiesen und vom ersten bis Es wurden Informationsveranstaltungen, zum letzten Tag äußerst korrekt und damit kri- zunächst sogar zusammen mit Befürwor- | Protest gegen das Vermummungsverbot am Zaun tisch berichtet haben. tern organisiert, Flugblätter gedruckt, Trans- des Maschinencamps am 08. Februar 1986.

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| Bürgerkriegsähnliche Zustände Unterstützung, ließ Hüttendörfer räumen, hat junge Polizei- am Pfingstdienstag 1986. In der anwärter missbraucht und vorsätzlich gegen die WAA-Gegner Luft ein Hubschrauber vom Typ aufgehetzt, hat WAA-Gegner denunziert, eingeschüchtert und Puma, von dem aus die CS-Gas- Granaten abgesetzt wurden. kriminalisiert, ließ Tausende von WAA-Gegnern von der Polizei abtransportieren und erkennungsdienstlich behandeln, hat V- Leute in die Kreise der WAA-Gegner eingeschleust (siehe Verfas- sungsschutzbericht 1986) und die Polizei mit Wasserwerfern und CN- und CS-Gas aufgerüstet.

Dennoch, es hat nichts geholfen: An Ostern 1986 beteilig- ten sich 100.000 Menschen an einer Demo gegen die WAA. Erstmals setzte die Polizei hierbei in der BRD CS- und CN-Gas ein. Es war schlimm, kilometerlang unter tieffliegenden Po- lizeihubschraubern zum Kundgebungsort ziehen und mit- erleben zu müssen, dass Wasserwerfer nicht differenzieren können und wollen und dass auch die friedlichsten Demons- tranten einem CS-Gas-Nebel ausgesetzt worden sind.

„Der Widerstand war es, der damals diese Wiederaufbereitungsanlage verhindert hat, nicht die Finanzen.“ - Hans Schuierer

Und dann passierte Ende April 1986 auch noch die Katas- trophe in Tschernobyl, mitten an einem warmen und son- nigen Wochenende, während wir dabei waren, ein kleines Musikfestival am Murner See zu organisieren.

Die Stimmung in der Bevölkerung und in den Bürgerinitia- tiven schwankte zwischen Angst, Resignation und großer Wut. Viele hatten Angst, überhaupt noch aus dem Haus zu gehen, weil ein Gutteil der Radioaktivität aus Tschernobyl auch bei uns niedergegangen war.

Es hat sich niemand wundern müssen, dass es dann an Pfings- ten 1986 zur Eskalation gekommen ist. Es herrschte Bürgerkrieg mit Toten und Verletzten. Und dann das legendäre Anti-WAAhn-

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sinnsfestival im Juli 1986 in Burglengenfeld sind Teilgenehmigungen erteilt und Zu nennen sind hier u. a. die Pfarrer Leo Der Widerstand war erfolgreich und er war mit 600 Musikern und 100.000 Teilneh- riesige Bauten auf dem WAA-Gelände errich- Feichtmeier, Richard Salzl und auch Dr. nachhaltig mern, Einreisesperren für österreichische tet worden, bis Ende Mai 1989 schließlich Hans Hubert; die Romantiker, die jegliche Ohne den Widerstand stünde heute in Wa- WAA-Gegner, Blockadeaktionen, Verhaftun- Schluss war mit dem Spuk: Der Widerstand Großtechnologie ablehnten und den Wald ckersdorf eine atomare Anlage, kein Indus- gen und Ermittlungsverfahren gegen 4.000 war erfolgreich. retten wollten; die politisch Engagierten, die triegebiet mit Tausenden von Arbeitsplätzen. WAA-Gegner, wobei ca. 2.000 WAA-Gegner grundsätzlich gegen Atomenergie und den Es wäre unmöglich gewesen, zu Zeiten der zum Teil zu drakonischen Strafen wegen pas- „Widerstand“ ist ein großes Wort, es gibt Atomstaat kämpften; und die sogenannten rot-grünen Bundesregierung den Ausstieg siven Widerstands verurteilt worden sind. aber kein passenderes, weil die Aktionen Autonomen, die nicht nur die WAA, sondern aus der Atomenergie und den Einstieg in die Genügend Staatsanwälte und Richter waren gegen die WAA mehr waren als der übliche auch den Staat bekämpfen wollten. erneuerbaren Energien zu organisieren. ja schon vorsorglich bereitgestellt worden. Protest von „Wutbürgern“. Es war ein jahre- langer Kampf unter höchstem persönlichem Ich sage ganz bewusst, dass auch die soge- Wir haben nicht erst Tschernobyl oder gar Der Widerstand wurde stärker Einsatz, weil die Staatsregierung von Anfang nannten Autonomen, im Übrigen ganz nor- Fukushima gebraucht, um zu verstehen, dass Aber es half alles nichts, im Gegenteil: Der an nicht nur auf Verdummung, Desinformati- male Menschen, zum gemeinsamen Erfolg Atomenergie für die Umwelt, für den Rechts- Widerstand wurde stärker und noch bunter, on und Einschüchterung, sondern auch auf das beigetragen haben. staat und für die Demokratie schädlich ist. immer mehr Künstler beteiligten sich mit un- Mittel der Polizeigewalt gesetzt hatte. Der Wi- Dass diese Erkenntnis heute Allgemeingut ist, terschiedlichsten Aktionen am Widerstand. derstand war erfolgreich, weil es gelungen ist, Und es gab die eine Symbolfigur, die alles zu- ist auch das Verdienst der vielen Menschen, Herzlichen Dank an dieser Stelle an Klaus unterschiedlichste Menschen mit unterschied- sammengehalten hat, ohne zu kommandie- die hier gegen die WAA gekämpft haben. Caspers, der in der Kunstszene viel für unsere lichsten Motiven für den Widerstand zusam- ren: unseren Landrat Hans Schuierer. Sache getan hat. menzuschließen. Darauf können Sie, könnt Ihr, können wir Der jahrelange Widerstand gegen die stolz sein. Wir dürfen uns aber nicht aus- WAA war kein Zuckerschlecken und kein ruhen, Vorsicht ist weiterhin angebracht, Sonntagsspaziergang. Es gab unzählige insbesondere vor den vielen Wendehälsen, „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Verletzte, ja sogar Tote zu beklagen, er hat die nach Fukushima plötzlich zu uns überge- Widerstand zur Pflicht!“ zu erbitterten Streitigkeiten zwischen Nach- laufen sind. barn und sogar in Familien geführt, ließ aus - Bertolt Brecht Freundschaften Feindschaften werden, hat nicht wenige zum Verzweifeln an sich und diesem Staat gebracht und die Menschen Der juristische Kampf ging unvermindert Da gab es die Einheimischen, die sich für misstrauisch gemacht. weiter: 881.000 Einwendungen sind gegen dumm verkauft fühlten und Angst um ihre den Bau der WAA gesammelt worden. So vie- Heimat hatten: Ich nenne für alle anderen Und er hat die „Fratze“ des von Robert le wie noch in keinem Verfahren vorher und Irmgard Gietl, die zur Ikone des Wider- Jungk und Klaus Traube schon viel früher die Hälfte der Einwendungen kamen aus Ös- stands geworden ist, und Dieter Kersting, beschriebenen Atomstaats vorgeführt, die terreich. Herzlichen Dank deshalb an dieser den ersten Vorsitzenden der Schwandorfer Gefahr, dass ein demokratischer Staat we- Stelle unseren Mitstreitern aus Österreich, Bürgerinitiative. gen der Notwendigkeit, atomare Anlagen insbesondere aus Salzburg. wegen ihrer Gefährlichkeit und wegen der Da gab es die Natur- und Umweltschüt- Ablehnung durch die Bevölkerung bewa- Die Staatsregierung und die DWK hin- zer, die sich Sorgen um die Umwelt und die chen und sichern zu müssen, sich in ei- terließen bei dem wochenlangen Erör- Nachwelt machten, die religiös Motivierten, nen autoritären Polizeistaat verwandelt. terungstermin in Neunburg vorm Wald die die Atomenergie und die WAA als wi- Dieser Albtraum ist in Wackersdorf Wirklich- einen kläglichen Eindruck. Dennoch der die göttliche Schöpfung betrachteten. keit geworden.

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DAS LEHRSTÜCK WAA. HANS SCHUIERER ERINNERT AN DAS „AUS“

von Hans-Peter Kastenhuber Artikel aus den „Nürnberger Nachrichten“ vom 13.06.2009

SCHWANDORF — Hier sitzt jemand, der mit sich im Reinen ist. Vom Kaffeetisch auf der Terrasse aus blickt Hans Schuierer auf ein paar Hundert Quadratmeter gepflegtes Gartengrün. In Reichweite neben seinem Stuhl liegt das Fernglas. Vor allem in den Mor- genstunden kommen aus dem angrenzenden Waldstück alle möglichen Vögel zu Besuch. „Manchmal ist sogar ein Pirol dabei“, erzählt Schuierer.

Und ein zufriedenes Lächeln hellt das gebräunte die Auseinandersetzung um die WAA, die von Gesicht des unverschämt jung wirkenden beiden Seiten teilweise als Schlacht geführt Altlandrats auf. wurde. Dass am Ende Industrie und Politik den Nichts erinnert in diesem Moment an jenen Kürzeren zogen, dafür sorgte die stetig wachsen- Schwandorfer Landrat Hans Schuierer, der sich de Zahl friedlicher Gegner des Projekts. Die Ga- zum Leidwesen der deutschen Atomindustrie lionsfigur des Widerstands hieß Hans Schuierer. und der Staatsregierung in den 1980er-Jahren als einer der härtesten Knochen in der an Geheimtreffen im Hotel solchen Typen ohnehin reichen Oberpfalz Die Rolle hatte sich dem gelernten Maurer, der erwies. Ihn hatten weder die Bosse der Energie- als 25-Jähriger nach dem Vorbild des Vaters für konzerne noch der damals in Bayern regierende die SPD in die Kommunalpolitik eingestiegen Franz Josef Strauß auf der Rechnung, als sie im war, nicht aufgedrängt. „Ich hatte zunächst Taxöldener Forst bei Wackersdorf eine riesige keine Ahnung von Atomenergie“, gesteht er Fabrik zur Wiederaufarbeitung abgebrannter offen ein. 1979 waren erste vage Gerüchte um Brennstäbe bauen wollten. Acht Jahre dauerte eine Atomanlage in der Oberpfalz aufgetaucht.

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Irgendwann 1981 lädt Umweltminister Alfred Dick den Landrat zu einem Treffen in ein Regensburger Hotel. „Streng vertraulich“ wird Schuierer in die WAA-Pläne eingeweiht. „Er hat mir das in den schönsten Farben dargestellt und von 3.600 sauberen Arbeitsplät- zen gesprochen. Ich war begeistert.“

Lange hält die Euphorie nicht an. Der Landrat informiert sich. Er liest, spricht mit Wissenschaftlern und teilt bald nicht mehr die Meinung von Franz Josef Strauß, wonach so eine WAA „nicht gefährlicher als eine Fahrradspeichenfabrik“ sei. Misstrauisch wird Schuierer vor allem, als er merkt, „dass die uns nicht die Wahrheit erzählen“. Auf Plänen der „sauberen Fabrik“ entdeckt er einen fast 200 Meter | Hans Schuierer beim Tref- hohen Kamin. Als er die Vertreter der Betreiberfirma DWK fragt, fen mit den österreichischen wozu der gebraucht werde, sagt man ihm, „dass durch den die Atomkraftgegnern im Juni radioaktiven Schadstoffe gleichmäßiger verteilt werden sollen“. 1986 in Altenschwand. Rechts Heinz Stockinger, Salzburger Schuierer nimmt den Kampf gegen die WAA auf. Er unterstützt die Anti-Atom-Aktivist der ersten Stunde. Bürgerinitiative vor Ort, tritt als Redner bei Protestveranstaltungen auf – und er stellt sich als Chef der Genehmigungsbehörde quer. Das trägt ihm unter anderem ein Disziplinarverfahren und dem Freistaat eine „Lex Schuierer“ ein. Genervt vom widerspenstigen Schwandorfer Landrat verabschiedet die Landtags-CSU ein Gesetz,

| Hans Schuierer beim Tref- fen mit den österreichischen Atomkraftgegnern im Juni 1986 in Altenschwand.

| Hans Schuierer, umrahmt von seiner Frau und seiner Tochter, nach der Ein- stellung des Disziplinarverfahrens gegen ihn am 18. April 1989 in Regens- burg. Rechts sein Anwalt Albert Schmid, später SPD-Landtagsfraktionschef.

| Stehende Ovationen für Hans Schu- ierer bei der Gedenkveranstaltung „25 Jahre Baustopp WAA“ am 30. Mai 2014 in Schwandorf.

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das dem Staat über den Kopf eines Landrats hin- Atomstaat“ prophezeit hatte: dass sich Politik auch der Polizeiführung schwere Vorwürfe. „Da dem Bauzaun trafen sie sich, sangen „Großer weg bei Genehmigungsverfahren ein „Selbst- und Wirtschaft im Ringen um „technischen wurde das in der Genfer Konvention geächtete Gott, wir loben dich“, und sogar der knorrige eintrittsrecht“ sichert. Es gilt heute noch. Fortschritt“ plötzlich gegen die eigene Bevölke- CS-Gas gegen Demonstranten eingesetzt, und Hans Schuierer wagte ein Freudentänzchen. rung stellen. Beamte eines Sondereinsatzkommandos aus „Eine schwere Zeit“, erinnert sich Schuierer. Viel Berlin führten sich wie Totschläger auf.“ „Die Geschichte der WAA“, sagt der Pensionist Druck hat er damals auszuhalten. Gerne würde „Wie Totschläger“ heute, „ist ein Lehrstück.“ In den Schulbüchern ihm die Staatsregierung eine Verletzung seiner Am martialischen Bauzaun, draußen im Tax- Je härter sich die Staatsmacht in Wackersdorf müsse sie deshalb erzählt werden. Junge Leute Amtspflichten nachweisen. Und wenn der öldener Forst, zeigt sich diese Gegnerschaft aber zeigte, desto mehr Menschen schlossen könnten daraus lernen, „dass es nicht stimmt, „WAA-Rebell“ am Abend quer durch die von ihrer hässlichsten Seite. Bei Demons- sich der Parole an, die in der Oberpfalz bald wenn man immer sagt: Daran kannst eh nix Republik reist und Vorträge hält, weiß er stets trationen, an denen oft mehrere Zigtausend jeden Heuschober zierte: „WAA nie!“ Als vor ändern.“ Am Ende hat in Wackersdorf nämlich Kripobeamte oder Staatsschützer im Saal, Menschen teilnehmen, kommt es zu blutigen 20 Jahren überraschend vermeldet wurde, der kleine Mann gesiegt. die jedes Wort von ihm festhalten. Schuierer Szenen. „Natürlich“, sagt Hans Schuierer, dass die Atomwirtschaft ihr Milliardenprojekt erlebt am eigenen Leib, was der Zukunftsfor- „waren da auch Autonome dabei, denen es nur stoppen wolle, wussten die überglücklichen scher Robert Jungk 1977 in seinem Buch „Der um Krawall ging.“ Aber der Ex-Landrat macht WAA-Gegner, wo der Triumph zu feiern war. Vor

| Ansprache anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Bund Naturschutz am Franziskusmarterl 1988. Links der BN-Vorsitzende Hubert Weinzierl.

„Man kann was erreichen.“ - Hans Schuierer

| Hans Schuierer und der Vorsitzende des Bund Natur- schutz Hubert Weinzierl am 14. Juni 1986 bei einer gemein- samen Demonstration mit dem Bund Naturschutz Vorarl- berg in Altenschwand.

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Eine Chronologie des Widerstandes gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in der Oberpfalz bis zu dem gestern von der DWK verkündeten Baustopp – von Bernd Siegler Artikel aus der „taz“ vom 31.05.1989

„Warum muaß a grad i in der vordersten Reih stehn? Hintn möcht i stehn, ganz weit hintn, so weit hintn, daß mi koaner sicht, mittendrin im Wald. Jetzt muaß i mir des ois oschaugn aus nächster Näh. Unbeweglich schauns aus und trotzdem schiabn sie sich unaufhaltsam vor mit ihre Schilder und Knüppeln ...“ (Konstantin Wecker)

Seit dem 04.02.1985 war klar, dass sie sich Geschichte dieser Republik im Gespräch in Wackersdorf unaufhaltsam vorschieben gewesen. Schon am 9. Oktober 1981 wur- werden – Rodungsarbeiter, Baufahrzeuge de die Bürgerinitiative gegen die WAA in und Sondereinsatzkommandos. Zu diesem Schwandorf gegründet. Fast alle umliegen- Zeitpunkt fällte die Deutsche Gesellschaft zur den Gemeinden entschieden sich bereits Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen 1982 im Rahmen des von der DWK bean- (DWK) ihre Standortentscheidung zugunsten tragten Raumordnungsverfahrens gegen von Wackersdorf, dem 3.500 Einwohner zäh- die WAA. Nur das SPD-regierte Wackersdorf lenden Ort am Rande des Taxöldener Forsts, nicht. Dort war nach der Schließung der örtli- drei Kilometer von Schwandorf entfernt. chen Braunkohleindustrie die Arbeitslosigkeit Die Oberpfälzer reagierten schon zwei Wo- auf über 20 Prozent geklettert. Doch an Wa- chen später mit einer Großdemonstration, ckersdorf als möglichen WAA-Standort dach- an der sich 40.000 Menschen beteiligten. Sie te damals noch niemand. Gutachter hielten waren auf den Schritt der WAA-Betreiber gut diesen Standort für absolut ungeeignet, denn vorbereitet. eine Wiederaufarbeitungsanlage sollte nicht | Ehemals als „Chaoten“ ge- gerade auf dem größten Trinkwasserreservoir schmähte Widerständlerinnen Schon seit Jahren war ihre Region als Stand- der Oberpfalz, der sogenannten „Bodenwöh- bei der Gedenkveranstaltung ort für das teuerste Industrieprojekt in der rer Senke“, errichtet werden. „25 Jahre Baustopp WAA“ am 30. Mai 2014 in Schwandorf.

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die Kompetenzen des Schwandorfer Land- bedienen konnten. Zur Großdemonstration rats Hans Schuierer, eines erklärten WAA- zwei Tage später am 14. Dezember 1985 Gegners, zu beschneiden, verabschiedet der ziehen 40.000 nach Wackersdorf. Schikanöse Landtag das Gesetz über das sogenannte Kontrollen und lange Fußmärsche können „Selbsteintrittsrecht“, die „Lex Schuierer“ den Zug zum Baugelände und die Besetzung genannt wird. In Zukunft kann die Behörde des Bauplatzes nicht verhindern. Das erste wichtige Entscheidungen über den Kopf des Hüttendorf im Taxöldener Forst entsteht. Landrats anordnen. Am nächsten Tag knallen die Sektkorken. Die Am 12. Oktober 1985 endet die Demonstration Devise des Bayerischen Innenministeriums, von 50.000 WAA-GegnerInnen in München dass kein Platz oder Haus im Freistaat länger in blutigen Auseinandersetzungen zwischen als 24 Stunden besetzt sein sollte, ist damit Polizei und DemonstrantInnen. Im Stadtteil durchbrochen. Etwa 1.000 WAA-GegnerIn- Haidhausen werden 200 Menschen fest- nen übernachten bei klirrendem Frost im genommen. Später sollte es sich herausstellen, Hüttendorf, tagsüber halten sich 4.000 Men- dass die Krawalle von Zivilbeamten provoziert schen im Wald auf. Am 16. Dezember 1985

„Wackersdorf muss ein Lehrbeispiel sein, was in einer Demokratie niemals vorkommen darf. Und dafür müssen wir auch in Zukunft sorgen.“ - Hans Schuierer | „Kinderfest“ im zweiten Hütten- dorf im Januar 1986.

worden waren. Der Versuch, am Beispiel räumt ein Großaufgebot von 3.700 Polizisten Haidhausens den Widerstand zu diskreditieren und Bundesgrenzschützern das Hüttendorf. und zu spalten, schlägt jedoch fehl. 869 WAA-GegnerInnen werden vorüberge- Obwohl schon am 27. März 1982 anlässlich zur Behandlung der 53.017 Einwendungen Der VGH in München gibt am 10. Dezember hend festgenommen. Schon am 21. Dezem- des Raumordnungsverfahrens 15.000 Men- gegen die erste Teilerrichtungsgenehmigung. 1985 den Weg für die Rodungsarbeiten frei. ber 1985 stehen die ersten Hütten wieder. schen gegen die WAA demonstriert hatten, Schon nach drei Tagen ziehen die WAA-Geg- Im Eilverfahren schmettert er die von An- Bei Minusgraden in Eis und Schnee feiern die argumentiert Bayerns Ministerpräsident nerInnen unter Protest aus dem Saal aus. liegern des WAA-Baugeländes beantragte WAA-GegnerInnen im zweiten Hüttendorf Franz Josef Strauß beim Gerangel um den Daraufhin erteilt das Umweltministerium einstweilige Anordnung gegen den Bebau- Weihnachten und Silvester. Oberpfälzer WAA-Standort mit der vermeintlich größeren am 24. September 1985 die erste Teilerrich- ungsplan ab. Schon einen Tag später fällt um Bürger versorgen die BesetzerInnen mit Akzeptanz einer WAA in der Oberpfalz. Doch tungsgenehmigung (TEG), die schließlich am 10.35 Uhr der erste von einer halben Million Lebensmitteln, vermitteln Wasch- und die Bayerische Staatsregierung sollte sich mit 02. April 1987 vom Bayerischen Verwaltungs- Bäumen dem WAAhnsinnsprojekt zum Duschgelegenheiten, richten Pendeldienste ihrer Einschätzung von der Oberpfalz als einer gerichtshof aufgehoben wird. Opfer. Vor Ort hatten bereits die ganze Nacht ein. Nach einer Anordnung des Innenmi- ruhigen Provinz gründlich täuschen. hindurch in eisiger Kälte WAA-GegnerInnen nisteriums wird das zweite Hüttendorf am Am 07. Februar 1984 beginnt in Neunburg Im Sommer 1984 beginnen die regelmäßigen auf die Rodungsarbeiter gewartet, die nur 07. Januar 1986 geräumt und dem Erdboden vorm Wald der erste Erörterungstermin Sonntagsspaziergänge gegen die WAA. Um unter massivem Polizeischutz ihre Sägen gleichgemacht.

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Die eingesetzten BGS-Beamten sind mit Maschinenpistolen ausgerüstet, die Anti-Terror-Truppe GSG 9 steht bereit, kommt jedoch nicht zum Einsatz. 762 auswärtige PlatzbesetzerInnen werden vorläufig festgenommen, die einheimischen lässt man laufen, um die Polizeistatistik im Sinne der „angereisten Chao- ten“ manipulieren zu können. Mit diesen Polizeiaktionen ist die weitere Eskalation vorprogrammiert.

Nach einem bunten Faschingstreiben im Wald, an dem sich 6.000 WAA-GegnerInnen am 06. Februar 1986 beteiligen, muss ein Demonstrant mit einer Schädel- und Halswirbelprellung mit dem Helikopter ins Krankenhaus geflogen werden. Am 12. Febru- ar 1986 entscheidet der Atomsenat des VGH in München erneut gegen einen beantragten Baustopp. Nicht zum letzten Mal resü- miert Klägeranwalt Baumann: „Die Rechtsordnung wird ständig der WAA angepasst und nicht umgekehrt.“

| Haupteingang des 2.000 WAA-GegnerInnen kehren am 02. März 1986 betroffen zweiten Hüttendorfs, und wütend vom Sonntagsspaziergang zurück. Nach einem 06. Januar 1986. Gerangel mit Polizisten stirbt die 61-jährige Erna Sielka aus Wackersdorf noch am WAA-Bauplatz an Herzversagen. Der damalige Oberpfälzer Polizeipräsident Friker beklagt dagegen eine „unheimliche Solidarisierung der Oberpfälzer mit den Auswärtigen“. Schon lange bezeichnen sich die „Einheimischen“ selbst voller Stolz als „Chaoten“.

Noch rechtzeitig vor Ostern – die Friedensbewegung hatte zum Ostermarsch nach Wackersdorf geladen – erschrecken Schlagzei- len wie „Wackersdorf im Visier der RAF“ die Oberpfälzer. Gerhard Boeden, Vizepräsident des Bundeskriminalamtes, bringt den Widerstand gegen die WAA mit der RAF in Verbindung – eine Li- nie, die sich später vor jeder Großaktion bis heute fortsetzen soll- te. Bundesinnenminister Zimmermann verweist auf „Erkenntnis- se“, wonach Ostern mit einer Teilnahme von Personen zu rechnen

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| Der „undurchdringbare“ Bauzaun.

wäre, die „selbst vor einem politischen Mord nicht zurückschre- cken“. Noch bevor sich am 31. März 1986 100.000 Menschen „Nicht zur bisher größten Demonstration gegen die WAA versammelt bitten, haben, hat die Polizei ein Zeltlager und mehrere Übernachtungs- quartiere abgeräumt. Über Ostern sind 10.000 Beamte und nicht 41 Wasserwerfer aus der ganzen Bundesrepublik im Einsatz. Am Ostermontag um 14.51 Uhr findet in Wackersdorf die bundes- betteln, deutsche CS-Gas-Premiere statt. Wenige Stunden später stirbt in nur mutig unmittelbarer Nähe ein 38-jähriger Ingenieur an einem Asthma- Anfall. Der Münchener Toxikologe Max Daunderer hält einen Zu- gestritten, sammenhang mit dem international von der Genfer Konvention geächteten „Kotzgas“ CS für wahrscheinlich. Am nächsten Tag es kämpft appelliert der Bayerische Rundfunk an die WAA-GegnerInnen, sich nicht ihre verseuchte Kleidung schleunigst zu waschen und nicht zum Trocknen in geschlossenen Räumen aufzuhängen. Im Oktober schlecht 1988 hebt der VGH in München die gegenteilige Entscheidung des Regensburger Verwaltungsgerichts auf, und erklärt den für Heimat „innerstaatlichen“ CS-Gas-Einsatz für rechtens. und Recht.“ Schon eine Woche nach Ostern betrauern die Einsatzkräfte der Polizei ein Loch in dem endgültigen, als unbezwingbar angekün- - Hans Schuierer digten, millionenschweren Sicherheitszaun aus Spezialstahl. Eine Serie von Anschlägen auf Hochspannungsmasten in und um Wackersdorf läutet die nächste Runde ein. Nach dem GAU im sowjetischen Reaktor Tschernobyl am 26. April 1986 verhärten sich die Fronten in der Oberpfalz. An den darauffolgenden beiden Pfingsttagen demonstrieren 50.000 WAA-GegnerInnen. Bereits am Sonntagabend war der Gesamtbestand des Freistaats an CN- und CS-Gas aufgebraucht. CS-Gas-Kartuschen werden aus Hubschraubern direkt in die Menschenmenge abgeworfen, selbst Rot-Kreuz-Fahrzeuge bleiben davon nicht verschont. Über 600 Menschen werden teilweise schwer verletzt. Die Demons- trantInnen reagieren. Ein Mannschaftswagen der Polizei geht in Flammen auf. Danach herrscht Ausnahmezustand in der Region. Polizeikontrollen und Hausdurchsuchungen sind an der Tages- ordnung. Das Gebiet um die WAA wird zur demonstrations- freien Bannmeile erklärt, die Baustelle zur Festung ausgebaut. Trotz dieses Kesseltreibens stehen bereits eine Woche später wieder 10.000 am Zaun.

Am 01. Juni 1986 werden 3.000 Österreicher auf dem Bahn- hof in Schwandorf euphorisch begrüßt, der WAA-Widerstand

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wird grenzüberschreitend. Trotz Verbots werden am 12. September 1986 fünf kommen am 07. Juni 1986 30.000 Menschen vermeintliche Steinewerfer von der Pfingst- zum Bauzaun, 700 Österreichern wird von demo gesucht. bayerischen Grenzpolizisten die Einreise in Bei den Landtagswahlen am 12. Oktober 1986 den Freistaat verweigert. Zwei Tage vorher verliert die CSU in der Oberpfalz zwar zwei- wird der bisherige Polizeichef Friker we- stellig, muss bayernweit jedoch nur 2,5 Pro- gen „halbherzigen Vorgehens“ geschasst. zent einbüßen. Vier Tage danach starten die Von nun an operiert die Polizei außerhalb ersten Blockadetage in der Oberpfalz. Um die des Bauzauns mit im Wald versteckten Infrastruktur der WAA zu treffen, werden drei Sondereinsatzkommandos und Greiftrupps. Tage lang Straßen und Firmenzufahrten blo- Der neue Polizeichef Wilhelm Fenzl erlebt ckiert. Die Polizei reagiert nervös. In Schwan- seine Feuerteufe beim Anti-WAAhnsinnsfes- dorf wird eine Demonstration eingekesselt, in tival in Burglengenfeld am 26./27. Juli 1986. Burglengenfeld fahren Wasserwerfer auf dem 100.000 kommen in die Oberpfalz und tanzen Marktplatz auf, in Ponholz wird eine Terroris- gegen den WAAhnsinn, obwohl kurz vor- tenfahndung inszeniert. Insgesamt werden her der Einsatz von Distanzwaffen in Bayern 505 WAA-GegnerInnen festgenommen.

„Jeden Tag, wenn ich die Zeitung aufgemacht habe, war von Chaoten, von Rechtsbrechern, von Terroristen die Rede. ‚Steigbügelhalter‘ bin ich einmal genannt worden, Steigbügelhalter des 26. Dezember 1986 zum Bauzaun. Polizisten vom 08. bis 11. Oktober 1987 groß. Die Poli- kontern Schneeballwürfe mit Knüppelein- zei versucht, die Kommunikationsstrukturen Kommunismus [...].“ satz. Am 02. April 1987 hebt der Bayerische des Widerstands lahmzulegen und räumt VGH die erste Teilerrichtungsgenehmigung jeweils die Abendplena zum Teil mit brutaler - Hans Schuierer auf. Trotzdem wird weitergebaut. Gewalt ab. Am 10. Oktober 1987 schließlich Vereinzelt kommt es bei den Demonstrati- ziehen trotz Verbot und Absperrung etwa genehmigt worden war. Die Polizei, mit ins- Zum ersten Mal seit ihrem Bestehen wird onen an Ostern und Pfingsten mit jeweils 35.000 WAA-GegnerInnen nach einer Kund- gesamt 6.000 Mann vor Ort, kontrolliert vor, die für November in Regensburg geplante mehreren Tausend Teilnehmern zu Ausei- gebung zum Bauzaun. Dort veranstaltet die während und nach dem Festival 30.000 Autos Bundeskonferenz der Anti-AKW-Initiativen nandersetzungen mit der Polizei. Die Lage Polizei, darunter die Berliner Spezialeinheit und durchsucht 74.000 Festivalteilnehmer. (Buko) verboten. Trotz einer Treibjagd quer bleibt ruhig, die Polizei startet ihre „Gewalt – EbLT (Einsatzgruppe für besondere Lagen und Noch bevor Franz-Josef Strauß am 29. Sep- durch die Oberpfalz fällt sie den Beschluss, Nein danke“-Aktion und wird aufgerüstet und einsatzbezogenes Training), eine wahre Prü- tember 1986 bei seinem stark bewachten auch die nächste Konferenz in Bayern abhal- personell aufgestockt, die Gerichte ersticken gelorgie. Alle Verfahren gegen Polizeibeamte Wahlkampfauftritt im Schwandorfer Stadion ten zu wollen. Während der bayerische In- in einer Flut von WAA-Verfahren. Einen Tag werden später klammheimlich eingestellt. vieldeutig ankündigt „Auf uns könnt ihr Ober- nenstaatssekretär Gauweiler Weihnachten vor den zweiten Herbstaktionen entdeckt der Am 29. Januar 1988 erklärt der VGH in pfälzer euch verlassen“, reiben sich die Ober- zusammen mit 1.000 Beamten in einem Zelt bayerische LKA-Präsident eine „klare Linie von München den WAA-Bebauungsplan für nich- pfälzer bei ihrem freitagabendlichen „Akten- auf dem Bauplatz verbringt und 2.000 frische den Zielsetzungen der RAF unmittelbar zum tig. Aufgrund von Einzelbaugenehmigungen zeichen XY“-Vergnügen erstaunt die Augen. Weißwürste spendiert, ziehen trotz Bann- militanten Widerstand gegen die WAA“. Trotz- wird weitergebaut. Stolz stellt am 04. Fe- Mit Belohnungen von jeweils 10.000 DM meile etwa 3.000 WAA-GegnerInnen am dem ist die Beteiligung an den Aktionstagen bruar 1988 Innenstaatssekretär Gauweiler

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seine neue Polizeitruppe, die sogenannten Unterstützungskom- Am 26. März 1989, dem Ostersonntag, spazieren etwa 5.000 mandos (USK) der Presse vor. 10 Tage später erleben 5.000 bunt zum Bauzaun, die Lage ist entspannt. Im Eilzugtempo peitscht maskierte WAA-Faschings-DemonstrantInnen den Ersteinsatz der Wackersdorfer Gemeinderat am 25. März 1989 zehn Ein- der Polizei-Schlägertruppe. Zu dieser Zeit checken Mitarbeiter zelbaugenehmigungen, darunter für das Herzstück der WAA, des Verfassungsschutzes die Meldekartei u. a. der Gemeinde das Hauptprozessgebäude, durch. Bisher zum letzten Mal Bruck nach WAA-GegnerInnen durch. Wegen der Herausgabe spricht Polizeipräsident Fenzl am 03. April 1989 von einer einer Anti-WAA-Zeitung müssen sich fünf Oberpfälzer seit dem „RAF-Sympathisantenszene“ in der Oberpfalz. 07. Juni 1988 vor dem Obersten Landesgericht in München wegen Am 12. April 1989 platzt die „Bombe“: Verhandlungen der VEBA mit des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung der französischen Firma COGEMA über eine Wiederaufarbeitung verantworten. Das Verfahren wird eingestellt. in La Hague werden bekannt. Zwei Tage später signalisiert das Der Erörterungstermin für die 2. Teilerrichtungsgenehmigung Bayerische Innenministerium die Zustimmung zur Einstellung des startet am 11. Juli 1988 in Neunburg. 881.000 Einwendungen Disziplinarverfahrens gegen Landrat Schuierer. gegen die WAA liegen vor. An 23 Verhandlungstagen wird 180 Stunden lang erörtert. Um den Flurschaden zu begrenzen, Die Baueinstellung erfolgt am 30. April 1989. bricht das Umweltministerium den Erörterungstermin am 12. August 1988 abrupt ab. Nur einer von 60 Punkten ist behandelt worden, nur 150 Einwender sind zu Wort gekommen.

„Wir alle haben die Verpflichtung und stehen in der Verantwortung, dass wir das alles, was in Wackersdorf passiert ist, nicht in Vergessenheit geraten lassen.“ - Hans Schuierer

Im Rahmen der dritten Herbstaktion ziehen 50.000 WAA- GegnerInnen am 15. Oktober 1988 zum Bauzaun. Zum ersten Mal seit Pfingsten 1986 ist wieder eine Demonstration zum Zaun genehmigt worden. Die „Latschdemo“ erhält Lob von der Polizei, die Veranstalter sind ebenfalls zufrieden. Auch am 26. Dezember 1988 wird die Demo zum Zaun genehmigt. Am Faschingssonntag, dem 05. Februar 1989 gehen USK- Einheiten mit brutaler Härte gegen die Träger eines 30 Meter langen Transparents vor. Eine Frau erleidet einen Nasenbein- bruch. Im Rahmen der NATO-Stabsrahmenübung „WINTEX“ wird in der Oberpfalz ein Attentat auf Landrat Schuierer und ein Angriff von Wackersdorfer Bürgern gegen Anti-WAA-Demons- trantInnen durchgespielt.

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„Divide et impera“ – das Strategievorbild „Teile und herrsche“ von Niccolò Machiavelli muss wohl Franz Josef Strauß in den 80er-Jahren zur Durchsetzung der Wiederaufbereitungsanlage im oberpfälzischen Wackersdorf als Inspiration gedient haben.

Wackersdorf steht am Ende jedoch für gelun- „Il Principe“ („Der Fürst“). Es sollte sich jedoch genen Bürgerwiderstand und als Lehrstück, zeigen, dass in einem demokratischen wie politische Führung in einer Demokratie Freistaat Bayern Strategien der Fürstenherr- nicht aussehen darf, will sie erfolgreich sein. schaft ausgedient hatten. Strauß setzte auf Desinformation und schließ- lich auf Eskalation. Die acht Jahre währen- WAA, der Mythos: den Auseinandersetzungen um Wackersdorf Ökonomie versus Sicherheit? bescherten der politischen Kultur in der Legendär wurde der Satz von Strauß bei Nachkriegszeit unseres Landes Superlative: Bekanntgabe der Pläne für die WAA, die Der als weltweit größten geplanten Wieder- Wiederaufbereitung von Kernbrennstäben aufbereitungsanlage für Kernbrennstäbe sei „nicht gefährlicher als eine Fahrradspei- stand der zähe Widerstand von engagier- chenfabrik“. Die Region um Wackersdorf war ten Bürgerinnen und Bürgern entgegen, durch Braunkohleförderung reich geworden, mit der größten Anzahl von Einsprüchen, doch 1982 waren die Gesamtkohlevor- die es je in einem rechtsstaatlichen Verfah- räte erschöpft. Die 80er-Jahre wurden eine ren in Deutschland gegeben hat und einer schwierige Zeit für den Landkreis: Tausende Solidarität, die über die deutschen Grenzen Arbeitsplätze gingen verloren, und die hinausreichte. Die traurige Kulmination: Arbeitslosigkeit in Wackersdorf stieg auf rund ein brutales Vorgehen vonseiten der Polizei 20 Prozent. Befürworter wie Strauß verspra- und des Grenzschutzes und der erste Einsatz chen sich von der Wiederaufbereitungsanlage von CN- und CS-Gas gegen Bürgerinnen und einen großen Schub für die Wirtschaft in Bürger in der Geschichte der Bundesrepublik. der Region. In der Münchner Staatskanzlei Auch wenn die Zustände damit zeitweise als glaubte man deshalb, die „industriegewöhn- bürgerkriegsähnlich galten, blieben die sich ten Oberpfälzer“ würden den Bau ohne Widersetzenden beim Nein gegen die WAA. großes Aufbegehren schlucken. Am Ende siegten alle, die eine nachhaltige Franz Josef Strauß sollte sich gewaltig täu- ACHT JAHRE WAA Zukunft für ihre Heimat wollten und im Mai schen. Bewusst getäuscht hatte er wiederum 1989 gab die DWK (Deutsche Gesellschaft für die Oberpfälzerinnen und Oberpfälzer zu den WACKERSDORF: Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen) Risiken der Anlage, denn zu diesem Zeitpunkt das Aus für den weiteren Bau der Anlage war die Wiederaufbereitung als gefährlichster EINE POLITISCHE bekannt. Schritt im Atomkreislauf bereits bekannt. ZÄSUR

„Divide et impera“ war von Machiavelli als In der britischen Wiederaufbereitungsanlage Natascha Kohnen, MdL Ratschlag zur Steigerung der Macht gemeint. Sellafield ereignete sich 1957 der weltweit Es entstammte einem seiner Hauptwerke, erste schwere Atomunfall. Radioaktive Ver- Energiepolitische Sprecherin der BayernSPD-Landtagsfraktion

Ingrid Pflug 46 DER FREISTAAT 12/2014 12/2014 DER FREISTAAT 47 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Politikwissenschaftlerin Bayerische Schriften für soziale Demokratie 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf Acht Jahre WAA Wackersdorf: Eine politische Zäsur | Natascha Kohnen, MdL, und Ingrid Pflug, Politikwissenschafterlin

werden zwischengelagert, in La Hague geschieht dies in belüfteten Schächten, bis geeignete Endlager gefunden werden. Auch das Uran wird zunächst zwischengelagert. Das Plutonium kann mit Uran zu einem neuen Brennstoff gemischt werden: MOX, kurz für Mischoxid. Wegen des Plutoniumgehaltes sind Gewinnung und Transport von MOX-Brennelementen ein hochbrisantes Kapitel der Atomindustrie.

Auch fast 30 Jahre nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl sind im Oberpfälzer Wald Pilze oder auch Wild noch radioaktiv belastet. Wissenschaftler der Gesellschaft für Strahlenschutz e. V. führen auch eine Reihe von genetischen Schäden auf radio- aktive Strahlung zurück: So wurden in Bayern nach Tschernobyl signifikant mehr Kinder mit Lippen-Gaumenspalten und anderen Fehlbildungen wie Spina bifida (offener Rücken) geboren. Rund um die Wiederaufarbeitungsanlagen im britischen Sellafield und im französischen La Hague wurde eine deutlich höhere Leukämie- rate bei Kindern und Jugendlichen nachgewiesen.

Die WAA wäre zudem mitten im größten Trinkwasserreservoir der Oberpfalz, der Bodenwöhrer Senke, gestanden. Es wurden also zusätzlich Fragen zur Grundwasser-Verseuchung aufgeworfen. Im Gegensatz zu den Wiederaufarbeitungsanlagen in La Hague und Sellafield liegt Wackersdorf nicht am Meer. Die Entsorgung radioaktiver Stoffe ins Meer ist bereits skandalös genug – in der | Protestbanner, aufge- seuchungen waren bis nach Irland nachzuweisen. Seitdem rei- Oberpfalz wären die Abwässer schlicht in den Fluss Naab geleitet hängt bei einer Sonntags- ßen die Schlagzeilen über Pannen in Sellafield nicht ab. Entgegen worden und das kontaminierte Wasser wäre von dort zur Donau andacht am Franziskus- der Bezeichnung haben Wiederaufbereitungsanlagen nichts mit geflossen. marterl 1986. Recycling zu tun. Im Gegenteil: Verglichen mit Kernkraftwerken geben Wiederaufarbeitungsanlagen erheblich größere Mengen Dem Sozialdemokraten Hans Schuierer, damals Landrat von radioaktiver Substanzen ab, und die Prozesse finden wegen der Schwandorf, wurden diese gesundheitlichen Gefahren nach eige- erheblich größeren Strahlenbelastung teilweise vollautomatisch nen Angaben erstmals richtig bewusst, als ihn die Verantwortli- hinter meterdicken Betonwänden statt. Aus dem hoch radioakti- chen der DWK über den Bau eines 200 Meter hohen Abluftkamins ven abgebrannten Kernbrennstoff werden in heißer Salpetersäu- informierten. „Auf die Frage, wofür man so einen hohen Turm re die wiederverwertbaren Bestandteile Plutonium und Uran he- brauche, hieß es, dass die radioaktiven Schadstoffe so möglichst rausgelöst, um sie von Neuem zu Kernbrennstoff zu verarbeiten. breit verteilt werden könnten. Da habe ich gedacht, wenn das Übrig bleiben 95 Prozent Uran, 4 Prozent Endmüll und 1 Prozent schon im Normalfall gefährlich ist, um wie viel gefährlicher ist es, waffenfähiges Plutonium. Dieses Detail verleiht den WAAs zu- wenn ein Ernstfall eintritt. Das war einer der Aspekte, der mich zu sätzlichen politischen Sprengstoff. einem entschiedenen WAA-Gegner werden ließ.“ (Interview mit Der Endmüll ist „hochradioaktiv“, nicht weiter verwendbar der „Mittelbayerischen Zeitung“ vom 20.05.2014) und wird in flüssigem Glas eingeschmolzen. Diese Behälter

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Die argumentativen Trümpfe der WAA-Befür- de Wackersdorf gehört jetzt zu den reichen Wackersdorf, die dadurch entstand, dass man Technikfeindschaft. Wer sich „progressiv“ und worter lagen im ökonomischen Gewinn für Kommunen in Bayern. Im Haushalt 2013 nach dem Ende der Braunkohle zu Beginn der „links“ fühlte, kritisierte die Bundesregierung die Region. Etwa die Gewerbesteuer, die in wurde ein Gewerbesteueraufkommen von 80er-Jahre die ehemaligen Tagebaugruben dafür, dass sie die Energie der Zukunft nicht der damaligen Berichterstattung auf 20 bis 16,8 Millionen Euro verbucht. mit Wasser füllte. schnell genug vorantreibe. Die Kerntechnik 30 Millionen Mark im Jahr geschätzt wurde. Der Internetauftritt des Innovationsparks war bis dahin eine charismatische Zukunftsvi- („Die Zeit“ 1988) Wackersdorf wirbt explizit mit der hohen Doch nicht nur die Touristen wären sion und auf den ersten Blick „sauber“ im Ver- angesichts der WAA ausgeblieben, auch die gleich zur Kohlegewinnung. Die skeptischen Einheimischen wollten weg. 5.000 Menschen Stimmen fand man damals bei erfahrenen „Ich glaube, dass damals nicht nur die waren es schon während der Bauphase. Es Ingenieuren und bei der Spitze von RWE, des liegt nahe, dass sich diese Verödung der mit Abstand größten Stromproduzenten der Gesundheit unserer Menschen und der Natur Region mit der Fertigstellung der Anlage BRD. In den 50er- und 60er-Jahren hatte RWE schlechthin gefährdet waren, sondern es waren weiter fortgesetzt hätte. In der Berichterstat- am Niederrhein große Braunkohlefelder er- tung zum Rückblick anlässlich von 25 Jahren schlossen und Kernenergie war somit ein po- auch damals die Demokratie und unser seit dem WAA-Aus kommt beispielsweise tenzieller Vorteil der Konkurrenz. (Joachim ein Sternekoch zu Wort: Hubert Obendorfer Radkau, Die Ära der Ökologie – die Anti-Atom- Rechtsstaat gefährdet.“ betreibt das Vier-Sterne-Hotel „Birkenhof“, kraftbewegung; Bonn 2011, S. 209ff) - Hans Schuierer das er 1997 hoch über Hofenstetten eröffnet hat. „Wer würde schon in einer Gegend Urlaub Deutschland wurde später die kritische machen, in der eine Wiederaufarbeitungsan- Haltung zur Atomkraft aus Gründen der Aus heutiger Sicht relativieren sich diese Aus- Lebensqualität in der Region: „Die Oberpfalz lage steht“, wird er zitiert. „Höchstens ein paar Romantik und der deutschen Ängstlichkeit sagen stark, denn nach dem Aus für die WAA ist aber nicht nur ein leistungsfähiger Wirt- Sensationstouristen, die aber gleich wieder unterstellt – der Begriff „German angst“ wird war Wackersdorf durch den Jahre andauern- schaftsstandort, die Region bietet darüber abreisen würden.“ Und er beschreibt, wie er bis heute mit der deutschen Anti-Atomkraft- den medialen Fokus bundesweit bekannt. hinaus unzählige Möglichkeiten zur aktiven seine Pläne für das Hotel bei Bekanntgabe des bewegung verbunden. Aber die Tradition der Das Gelände hatte bereits eine sehr gute Freizeitgestaltung. Das sportive Angebot WAA-Baus verschoben hatte und zunächst ins Vorsicht findet man genauso bei den Tech- Infrastruktur und viele hofften, sich zu güns- reicht von spritzigen Wasserskirunden im Ausland ging. „Als klar war, was kommt, war nikern beziehungsweise Ingenieuren selbst, tigen Konditionen niederlassen zu können. Oberpfälzer Seenland, Tauchen, spannen- das Thema erst mal durch“, erzählt der mit wie auch bei den Technikgegnern. „Atom- In heutigen Interviews erinnert sich Rudolf den Kanutouren auf Naab und Regen über einem Michelin-Stern ausgezeichnete Koch. kraft“, das bundesdeutsche Standardwerk der Reger, der Experte für Wirtschaftsförde- Mountainbiking und Trekking, Klettern in den Der Triumph des Bürgerwiderstandes ermög- 50er-Jahre über den Reaktorbau, stammt von rung beim Landratsamt Schwandorf: Über Jurakalkwänden des Laabertales bis hin zum lichte also heimatverbundenen Oberpfälzern Friedrich Münzinger, einem deutschen Kraft- 100 Anfragen erreichten den Ansiedelungs- Langlaufen und Skifahren im Bayerischen und überhaupt wieder das Zuhause. („Mittelbaye- werksbauer, der auch bei AEG den Kesselbau experten bereits in den Tagen nach dem Aus Oberpfälzer Wald. Außerdem laden zahlreiche rische Zeitung“ vom 20.5.2014: „Drei Buchsta- auf eine wissenschaftliche Grundlage stellte. („Mittelbayerische Zeitung“ vom 20.05.2014). romantische Burgen, eine reizvolle Landschaft ben, zwei Lager, ein Wunder“) Sein Werk ist voll von Warnungen vor den Ausgerechnet für den Landstrich, für den und viel beachtete Festspiele ein.“ Risiken der Kerntechnik. Er bezeichnete die sich in den Jahren zuvor kein einziges Unter- Der Tourismus als Wirtschaftszweig wäre Rückblick: Die zivile Nutzung der Atomkraft atomare Euphorie der 50er stellenweise sogar nehmen erwärmen konnte, außer der Ato- mit einer Wiederaufbereitungsanlage in als Verheißung der Progressiven als „Atomkraft-Psychose“ und „Verheißungen“, mindustrie. Allein der Automobilhersteller der Region undenkbar – heute boomt er. In In den 60er-Jahren galt gerade den dass „die Atomkraft das Los des kleinen BMW sicherte sich 50 Hektar Gelände. Der den 1980er-Jahren konzentrierten sich die „kritischen“ Intellektuellen die Kernenergie Mannes bald in unerhörter Weise erleichtern Innovationspark Wackersdorf entstand – Gästeströme vorwiegend auf die Region als fortschrittlich. Auch Ernst Bloch – um 1968 werde“, wertete er als „durch Sachkenntnis heute arbeiten dort über 2.000 Menschen, Schönsee, heute spricht man vom Touris- ein Mentor von Rudi Dutschke – schwärmte nicht getrübte Flunkereien“. Als erfahrener die Arbeitslosenquote in der Region beträgt musgebiet Seenland. Gemeint ist eine von den Segnungen der Kernenergie und Bauleiter von Großkraftwerken war ihm nur wenig über drei Prozent. Die Gemein- Seenlandschaft zwischen Schwandorf und attackierte die angebliche spätbürgerliche bewusst, dass es dort Risikodimensionen gab,

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welche die Physiker in ihren Labors mangels Erfahrung nicht ein- z. B. die amerikanische Anti-AKW-Bewegung in den 60er-Jahren. berechneten. Er war der Meinung, dass die Kenntnis des Risikos In den 70ern waren in den USA die großen Auseinandersetzun- zur Kompetenz des Ingenieurs gehöre und diesen vor dem Laien gen bereits abgeebbt. Dies lag allerdings schlicht daran, dass dadurch auszeichne. (Radkau, Die Ära der Ökologie, S. 223f) unter der Präsidentschaft von Jimmy Carter de facto keine neuen Kraftwerke mehr gebaut wurden. Hauptgrund waren die hohen Nicht von Anfang an war die Anti-AKW-Bewegung Bestandteil Kosten und die Gefahr, dass sich durch die Wiederaufbereitung oder gar Katalysator einer breiteren Umweltbewegung – schon atomwaffenfähiges Plutonium verbreiten könnte. (Unter der einfach deshalb, weil es zeitaufwendig war, sich in die Details Präsidentschaft von Jimmy Carter wandte sich die US-Regierung der Kerntechnik einzuarbeiten. Als die Kernkraft jedoch Realität gegen schnelle Brüter und WAAs, um das Nuklearwaffenmonopol wurde, wurden auch die Gefährdungen für die Menschen konkret. der Atommächte aufrechtzuerhalten). | Die Ostseite des Baugelän- des. Der Bauzaun wurde mit Die deutsche Anti-Atomkraftbewegung ist zweifellos internatio- Die erste europäische Großdemo gegen ein geplantes Kernkraft- einem Trockengraben versehen, damit er nicht untergraben nal die erfolgreichste. Allerdings zählte sie nicht zur Avantgarde werk fand in Frankreich statt, am 12. April 1971 im elsässischen werden konnte. der Bürgerbewegungen in dieser Hinsicht. Viel früher dran war Fessenheim; danach folgte eine große Demo an der Rhone. Aber

„Wir haben Jahre geopfert, um gegen diese Anlage zu kämpfen. Zum Schutze unserer Heimat, zum Schutze unserer Natur, aber auch, um unseren Kindern und Enkelkindern eine gute Zukunft zu sichern.“ - Hans Schuierer

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im Ergebnis war die Opposition in Frankreich Mit den Aussichten auf eine „blühende weniger erfolgreich: Frankreich ist einerseits Landschaft“ dank Atomkraft in der Ober- dünner besiedelt, es verfügte über weitaus pfalz wollte Franz Josef Strauß jedoch gegen geringere Kohlevorräte und sah in der Kern- Sicherheitsbedenken immun machen und die kraft die große Chance, den Industrieländern wirtschaftlichen Vorteile gegen die Aussicht Großbritannien und Deutschland Konkurrenz auf Risiko ausspielen. zu machen. Zum Dritten war Frankreich Atom- macht. Von daher stand der Nukleartechnik Nachträglich stellt sich die große Frage, wie ein ganz anderer organisatorischer Apparat sich jemand mit dem politischen Instinkt zur Verfügung, mit dem sich die Deutsche eines Franz Josef Strauß so gravierend Atomkommission nicht vergleichen konnte. hinsichtlich der Stimmung und der politi- Und nicht zuletzt war der französische Zen- schen Überzeugungen der Menschen in der tralismus entscheidend: Das bundesdeutsche Oberpfalz irren konnte. Genehmigungsverfahren hatte mit den lokalen Erörterungsterminen ein dezentrales Im Unterschied zu fast allen Umweltproble- Element. Damit gab es ein Forum für men, die damals Schlagzeilen machten, ging Kritiker, die sich mit Kernkraftwerken in es um eine unsichtbare Gefahr – das Risiko nächster Nähe auseinandersetzen mussten. war für die meisten noch hypothetisch. Der (Radkau, Die Ära der Ökologie, S. 209ff) Umgang mit dieser Art Risiken erfordert einen neuen Politikstil: den Bürgerdialog Mag sein, dass diese Entwicklungen im zur Ermittlung dessen, was die Gesellschaft | Eine schriftliche Solidaritätsbekundung an die Bewohner des zweiten Hüttendorfs, Ausland die Protagonisten der Staatsregie- akzeptiert. Dies galt damals für die Atom- der „Freien Republik Wackerland“ (26. Dezember 1986 – 07. Januar 1989). rung in Bayern dazu verführten, die Lage im kraft wie heute für die grüne Gentechnik. Freistaat falsch einzuschätzen. In den vorangehenden Jahrzehnten hatte Linksintellektuellen strömten in die Umwelt- wachsenden Widerstand der Bevölkerung Historische Fehleinschätzung in der aber gerade die unsichtbare Dimension der initiativen hinein. (Der amerikanische Earth nur zunehmende Repressalien und eine politischen Führung Risiken zur Folge, dass man sie unterschätzte Day 1970 oder der Stockholmer Umweltgip- wachsende Spirale staatlicher Gewalt als Am 05. November 1978 hatte die Mehrheit – und die Atomkraft als Energieträger über- fel von 1972 führten zur Umweltpolitik als Antwort. An vielen Stationen hätte sie er- der Österreicher in einer Volksabstimmung höht wurde. Die politischen Lager pro und internationalem Anliegen) Wenn auch die kennen können, dass ihr Bild der „Chaoten“ das Aus der Kernenergie in ihrem Land ent- contra Atomkraft waren nicht in einer Aus- umweltpolitischen Diskurse nicht aus der auf der einen Seite und der „Befürworter des schieden. Kurz darauf erreichte 1979 die einandersetzung „Konservativ gegen Links“ 68er-Bewegung stammten, der Stil der Aus- technischen und wirtschaftlichen Fortschrit- bundesdeutsche Anti-AKW-Bewegung mit zu identifizieren. Möglicherweise verleitete einandersetzungen mit großen Demos und tes“ auf der anderen Seite von Anfang an der Demonstration vom 31. März ihren Hö- diese Gemengelage aus den vorangegangenen Platzbesetzungen, bei denen man es auf Zu- nicht stimmte. hepunkt, als an die 100.000 Kernkraftgeg- Jahrzehnten Strauß respektive die CSU dazu, sammenstöße mit der Polizei ankommen ließ, ner nach Hannover zogen. Beim Protest den politischen und sozialen Widerstand in der tat es. Als Strauß und Co. die Demonstrieren- 1979 versetzte eine Nachricht aus dem gegen die Kernkraftwerke stand am Anfang Oberpfalz falsch einzuschätzen. den in Wackersdorf diffamierten und ver- amerikanischen Harrisburg im Bundesstaat die Bürgerbewegung, nicht die Politik. Es suchten, ihnen ein „Chaoten-Image“ zu ver- Pennsylvania die Welt in Unruhe: Aus dem ging zu Beginn um die technische Sicherheit Feldzug gegen die „Chaoten“: Die bayerische passen, setzten sie wohl auf Ablehnung des Kernkraftwerk Three Mile Island wurde ein und die menschliche Gesundheit. Erst später Eskalationstaktik gegen ihre Bürger 68er-Milieus in der bayerischen Bevölkerung, Unfall im Kühlsystem gemeldet. Zum Zeit- kam beim Kampf gegen die Kerntechnik die In den 70er-Jahren wurde die Umweltpolitik besonders im ländlichen Bereich. Über Jahre punkt des Vorfalls im März 1979 tagte unter Ökologie bei den Argumenten ins Spiel. zu einem internationalen Anliegen und die fand die Staatsregierung offenbar auf den Vorsitz von Carl Friedrich von Weizsäcker das

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internationale Symposium von Gorleben. wonach in Wackersdorf eine WAA errichtet ausscheiden würde: Wer errichtet schon eine in Neunburg vorm Wald statt. Nach drei Es endete mit dem Rückzieher der niedersäch- werden solle. derartige Anlage auf dem größten Trinkwas- Tagen verließen die WAA-Gegner unter sischen CDU-Regierung von dem WAA-Projekt Am 09. Oktober 1981 gründete sich in Schwan- ser-Reservoir der Oberpfalz …? Protest den Saal. Das Umweltministerium in jenem Bundesland. Es galt als politisch dorf die erste Bürgerinitiative gegen das Der zuständige SPD-Landrat Hans Schuie- erteilte die erste Teilerrichtungsgenehmi- nicht durchsetzbar. Projekt. Der Widerstand in der Bevölkerung rer weigerte sich, die Pläne für die Anlage zu gung. Im Sommer 1984 begannen die regel- manifestierte sich damit bereits vor Baube- unterschreiben. Der Bayerische Landtag mäßigen Sonntagsspaziergänge gegen die Dafür erklärte der bayerische Ministerpräsi- ginn. Über 15.000 Teilnehmer protestieren im verabschiedete daraufhin ein Gesetz, das Anlage. dent Strauß am 03. Dezember 1980 vor dem Folgejahr gegen das Raumordnungsverfahren die Rechte der Landräte beschnitt – und als Landtag die Bereitschaft der Bayerischen für die WAA. Im Juni 1982 stimmte der „Lex Schuierer“ in die bayerische Geschichte Am 04. Februar 1985 entschied sich die DWK, Staatsregierung, zu prüfen, ob ein geeigneter Wackersdorfer Gemeinderat unter bestimm- einging. ein Zusammenschluss der zwölf größten Ener- Standort für eine Wiederaufarbeitungs- ten Auflagen für eine Errichtung im Ge- gieversorger der Bundesrepublik, endgültig für anlage in Bayern vorhanden sei. Im Landkreis meindegebiet. Man ging jedoch davon aus, Der erste Erörterungstermin mit über den Standort Wackersdorf. Schwandorf tauchten erste Gerüchte auf, dass der Standort ohnehin als ungeeignet 53.000 Einwendungen fand im Februar 1984 Einen Tag nach Freigabe der Rodungsarbeiten

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durch den Verwaltungsgerichtshof in München begannen am 11. Dezember 1985 die Bauarbeiten für die Anlage, in der nach Fertig- stellung 500 Tonnen Atommüll pro Jahr bearbeitet werden soll- ten. Wenige Tage später zogen knapp 40.000 Menschen zur Groß- demonstration nach Wackersdorf.

Die Schwandorfer reagierten auf die Rodung der ersten Waldstücke mit der Errichtung von Hüttendörfern. Etwa 1.000 Menschen übernachteten bei klirrender Kälte, tagsüber hielten sich 4.000 Menschen im Wald auf. Die Devise des Bayerischen Innenministe- riums, wonach kein Platz oder Haus im Freistaat länger als 24 Stun- den besetzt sein sollte, war durchbrochen. Am 16. Dezember 1985 wurde beim bis dahin größten Polizeieinsatz Bayerns das Gelände von 3.700 Polizei- und Bundesgrenzschutzbeamten geräumt. Hun- derte Personen wurden vorübergehend festgenommen. Bereits am 21. Dezember stand das zweite Hüttendorf. Die Bewohner riefen die „Freie Republik Wackerland“ aus. Bei Minusgraden in Eis und Schnee feierten die WAA-Gegner im zweiten Hüttendorf Weih- nachten und Silvester. Oberpfälzer Bürgerinnen und Bürger sorgten für Lebensmittel, vermittelten Wasch- und Duschgelegenheiten und richteten Pendeldienste ein. Am 26. April 1986 sorgten dann Meldungen vom Atom-GAU im sowjetischen Reaktor von Tschernobyl für Angst und Schrecken. Ein breiter Widerstand gegen die WAA entstand. In den Monaten zuvor wurde in Wackersdorf die Eskalationstaktik in brutale Realität umgesetzt: Die Friedensbewegung hatte zum Ostermarsch nach Wackersdorf geladen – prompt brachte der Vizepräsident des Bundeskriminal- amtes den Widerstand gegen die WAA mit der RAF in Verbindung. Bundesinnenminister Zimmermann verwies auf „Erkenntnisse“, wonach Ostern mit einer Teilnahme von Personen zu rechnen wäre, die „selbst vor einem politischen Mord nicht zurückschre- cken“ (siehe Rückblick in der „taz“ vom 31.05.1989: „Mir san die Chaoten – Der Widerstand in Wackersdorf). Als Ostern 100.000 zumeist friedliche Demonstranten zur Baustelle zogen, die von 5.000 Polizisten gesichert wurde, kam es zur grausamen Premiere: Am Ostermontag um 14.51 Uhr wurde in Wackersdorf CS-Gas ein- gesetzt. Wenige Stunden später starb in unmittelbarer Nähe ein 38-jähriger Ingenieur an einem Asthma-Anfall. Toxikologen hiel- | Typisches Szenario am Baugelände: Ein Demonstrant wird festgenommen und zur erken- ten einen Zusammenhang mit dem international von der Genfer nungsdienstlichen Behandlung abgeführt; Februar 1986. Konvention geächteten „Kotzgas“ CS für wahrscheinlich.

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Am nächsten Tag appellierte der Bayerische Stimmen, die Wackersdorf hautnah erleben Demonstranten stellte sich mit der Zeit der Folgen des Einsatzes von Tränengas besorgt Rundfunk an die WAA-Gegner, ihre verseuchte lassen und Details zu den Geschehnissen in Appell ein „Nicht schießen, Herr Hillermeier, hatten, wurden beschlagnahmt. Hinterlas- Kleidung rasch zu waschen und nicht dieser Zeit enthüllen. Es sind Lehrgeschichten der Chaot könnte ihr V-Mann sein!“. sen wurden Benachrichtigungen wie: „Ihre zum Trocknen in geschlossenen Räumen zu unserer Demokratie. Beispielsweise in In einer späteren Ausgabe des SPIEGEL im Sachen wurden vorübergehend sichergestellt aufzuhängen. Im Oktober 1988 hob der der 15. SPIEGEL-Ausgabe von 1986: Bauern Jahr 1986 (SPIEGEL Nr. 31, 1986) kommen Mit- und können beim Tor … abgeholt werden – Ihr Verwaltungsgerichtshof in München die erzählen, wie sie unter Beobachtung stehen, glieder der Hamburger „Arbeitsgemeinschaft Bundesgrenzschutz.“ gegenteilige Entscheidung des Regensburger ihre Höfe nach Kernkraftgegnern durchsucht kritischer Polizisten“ zu Wort mit konkreten Über diesen Einsatz kann man im SPIEGEL Verwaltungsgerichts auf und erklärte den „in- werden und Menschen, denen die Bauern Forderungen und Strategien, um ein Um- nachlesen: „Fünf Stunden lang setzten die nerstaatlichen“ CS-Gas-Einsatz für rechtens. Unterschlupf gewähren, verhaftet werden. denken bei Polizeieinsätzen im Rahmen von WAA-Verteidiger 41 Wasserwerfer – Reich- Pfingsten demonstrierten 50.000 Menschen Hubschrauber kreisen und filmen: „Selbst Demonstrationen zu bewirken. Sie appellieren weite knapp 70 Meter – auch gegen weit am Bauzaun. Die Gewalt eskalierte: CS-Gas- wenn du beim Holzschneiden bist, kommt an Beamte, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit entfernte Zuschauer ein, teilweise waren die Kartuschen wurden aus Hubschraubern der Hubschrauber, bleibt über dir stehen, von Einsätzen gegen Demonstranten haben, Wasserstöße mit chemischen Reizstoffen ver- direkt in die Menschenmenge abgeworfen, dann geht die Tür auf und der filmt, der knipst diese klar zu zeigen. mischt. Und zusätzlich prasselten Tränengas- selbst Rot-Kreuz-Fahrzeuge blieben davon alles.“ Die Wut der Bauern vor Ort kommt zu Auf der anderen Seite ließ sich der Strauß- granaten auf die Demonstranten nieder, die nicht verschont. Hunderte Menschen wurden Wort: „Ja, haben wir denn schon Russland?“ Vertraute Alfred Sauter im „Bayernkurier“ panikartig, weil von Geschossen getroffen, teilweise schwer verletzt. Die Demonstranten Oder noch direkter: „Was hier geschieht is a dazu hinreißen, gar ein „völliges Demons- die Flucht ergriffen. […] Dieses Szenarium reagierten und ein Mannschaftswagen der Schand für Deutschland, ein Schandstück für trationsverbot“ rund um die westdeutschen war nicht das von Bundesinnenminister Polizei ging in Flammen auf. Danach herrschte den Strauß und den Hillermeier“ (Anm.: der Kernkraftanlagen zu fordern. Friedrich Zimmermann (CSU) angekündigte Ausnahmezustand in der Region. Insgesamt damals zuständige bayerische Innenminister). Eine neue Dimension in der Gewalteskalation ,neue Schlachtfeld von Chaoten und Linksext- kamen zwei Demonstranten und ein Es wird geschildert, wie CSU-Mitglieder boten auf jeden Fall die Einsätze gegen die remisten‘, sondern ein Schauspiel polizeilicher Polizist bei den Protesten ums Leben. unter den Bauern aus der Partei austreten Demonstranten am Ostermontag 1986. Machtvollkommenheit und Überreaktion …“ Erstmals wurde beim Wasserwerfereinsatz („Vorzügliches Arrangement“, SPIEGEL Nr. 15 neben dem Reizstoff CN (Chloracetophenon) von 1986) auch die verwandte Substanz CS (Chlorbenzy- „Aber es war ganz wichtig, dass man nicht allein lidenmalodinitril) beigemischt. Damit hatten Als politisches Mittel versuchte man auch, war damals. Dass man auch Verstärkung gehabt hat die Amerikaner im Vietnamkrieg – in tödlicher mit konkreten Zahlungen die Gemeinden Dosierung – Vietcong-Stellungen angegriffen. vor Ort zu spalten. Schon während der Bau- aus dem kulturellen, aus dem musikalischen Bereich.“ Das Mittel war dafür bekannt, dass es zu zeit kassierte Wackersdorf jährlich 900.000 - Hans Schuierer Verkrampfungen der Lungenmuskulatur Mark zinslos, Bodenwöhr über 700.000 Mark. führte – und viele Demonstranten trugen Der Wackersdorfer Bürgermeister Josef Eb- neben der konkreten Körperverletzung auch ner überwarf sich sogar mit seiner Familie, Polizeikontrollen und Hausdurchsuchungen oder manche in den Dörfern überzeugt sind, entsprechend psychische Schocks durch die weil er die Atomfabrik als für die Region waren fortan an der Tagesordnung. Das Gebiet dass ihnen bei den Suchaktionen auf den Erfahrung davon. Der Tod des asthmakranken zwingend notwendig hielt – und fühlte sich um die WAA wurde zur demonstrationsfreien Höfen Dinge untergeschoben werden: Ingenieurs, der aus Gräfelfing zu den Demons- nach dem WAA-Aus brüskiert. Der Boden- Bannmeile erklärt. Trotzdem standen bereits „…wenn du was im Heu versteckst, findet das trationen angereist war, entzündete exakt die wöhrer Bürgermeister Josef Wiendl wurde eine Woche später wieder 10.000 am Zaun. ein Fremder nie.“ Diskussionen zum Gefährdungsgrad von CS, zu einem Sprachrohr der DWK und warb Und der Protest wurde grenzüberschreitend: Wie bei den gesamten Protesten waren die den die Toxikologen schon länger führten, für die sichere Atomkraft in Bayern. Er starb Am 1. Juni 1986 wurden 3.000 Österreicher immerwährend kreisenden Hubschrau- auch in der breiten Öffentlichkeit. noch vor dem Baustopp im Jahr 1988. Auch auf dem Bahnhof in Schwandorf euphorisch ber, die tieffliegend und filmend Menschen Ein besonders perfides Kapitel bei jenem Altlandrat Schuierer erinnert sich wie viele begrüßt. In der Presse finden sich besonders einschüchtern, wie auch das Thema Agent Polizeieinsatz: Die Wasserkanister, die ehren- andere bis heute über die tiefen Gräben in in den Jahren 1985 und 1986 viele individuelle Provocateur ein ständiges Thema. Bei den amtliche Helfer und Ärzte zur Linderung der der Gesellschaft. Sie gingen durch Familien,

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Vereine zerstritten sich, Stammtische lös- gen wurde weitergebaut. Der zweite Erörte- zer, wer diesen Sieg errungen hat. den politischen Weg für die Aufbereitung in ten sich auf. Die einen hofften auf sichere rungstermin im Juli 1988 wurde nach weni- La Hague frei und besiegelten so das Ende aller Arbeitsplätze, die anderen hatten Angst vor gen Stunden abgebrochen. Der Energiekonzern VEBA (heute E.ON) ließ Wiederaufbereitungspläne in Wackersdorf. den ungewissen Folgen. Beim gemeinsa- später verlauten, dass sich die Investition in Trotz des finanziellen Aufwandes, der in die men Mittagessen, bei Familienfeiern – die Bereits im Vorfeld entwickelten Teile des eine neue Anlage zur Wiederaufbereitung Region gepumpt wurde, dem Misstrauen, WAA war das ständige Thema. Wäre die WAA zuständigen Gerichtswesens ein gewis- nicht lohnen würde, da in Europa kaum noch der Angst und der Gewalt, die von staatlicher fertiggestellt worden, dann wäre diese Zerris- ses Bremspotenzial: Der Übergang zu ei- neue Atomkraftwerke gebaut würden. Die Seite in die Region getragen wurde: Die Men- senheit geblieben, ist er überzeugt. „Der Riss ner breiten Anti-AKW-Bewegung in der beiden vorhandenen Anlagen in Frankreich schen in der Oberpfalz wollten schlicht keine wäre sicherlich sogar noch tiefer geworden, Bevölkerung wird am Protest gegen das und in Großbritannien seien ausreichend. atomar verseuchte Heimat. Und sie blieben wenn die wirtschaftlichen Versprechen der im Bau befindliche Würgassen an der Der VEBA-Vorstandvorsitzende Rudolf von bei ihrem Nein, jahrelang, so lange und so DWK nicht eingetreten wären.“ Denn Schu- Oberweser festgemacht. Damals wur- Bennigsen-Foerder bewertete das Projekt als nachdrücklich es eben nötig war. ierer ist sich sicher, dass die Region mit der de jedoch noch hauptsächlich mit juristi- „zu langwierig, zu teuer“. Die Umweltminis- WAA noch immer von hoher Arbeitslosigkeit schen Mitteln gekämpft. Der Rechtsanwalt ter Töpfer und Fauroux machten am 06. Juni geprägt wäre. „Neben einer WAA hätten sich Horst Möller bewirkte beim „Würgassen- doch keine anderen Betriebe angesiedelt.“ Urteil“ von 1972, dass das Bundesverwal- („Mittelbayerische Zeitung“ vom 20.05.2014) tungsgericht das bundesdeutsche Atom- gesetz als Vorrang der Sicherheit vor der Der lange Atem der Demokratie zahlt sich aus Wirtschaftlichkeit interpretierte. Viele weite- Der Widerstand der Bürgerinnen und Bür- re Aspekte, die der Anti-Atomkraftbewegung ger ging auch in den nächsten Jahren weiter zur Hilfe kamen, werden in der nachträglichen und bekam prominente Unterstützung: Das Analyse aufgeführt: Der bundesdeutsche „5. Anti-WAAhnsinns-Festival“ lockte am Föderalismus etwa habe eine wirksame 26./27. Juni 1986 rund 100.000 Menschen Bonner Pro-Kernenergie-Politik behindert. nach Burglengenfeld. Herbert Grönemeyer, Oder auch am Beispiel von RWE, die Ener- Wolf Maahn, Rio Reiser, BAP, Udo Linden- giewirtschaft hätte nur latentes Interesse berg, Die Toten Hosen traten auf. Das Kon- gehabt: RWE habe z. B. aus Konkurrenzgrün- zert ging als eines der größten Open Airs der den den Bau eines großstadtnahen Werkes Bundesrepublik in die Geschichte ein. Die von BASF hintertrieben. Die Deutsche Atom- Dimension der Festivalbesucher war nicht kommission wird nachträglich als ein schlecht selbstverständlich angesichts der Tatsache, organisiertes Sammelsurium von Gremien dass kurz zuvor der Einsatz von Distanzwaffen gewertet, die sich aus ehrenamtlichen in Bayern genehmigt worden war und die Mitgliedern zusammensetzte und die Kern- Erfahrung mit polizeilicher Gewalt die energieentwicklung immer schlechter zu Demonstranten ständig begleitet hatte. steuern vermochten. (Radkau, Die Ära der Ökologie, S. 209ff) Im folgenden Jahr 1987 hob der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die erste Teilgeneh- Als jedoch am 12. Mai 1989 die DWK bekannt- migung auf. Der WAA-Bau ging dennoch gab „Die Erfolgsaussichten für die WAA sind weiter. Im Januar 1988 erklärte das Gericht gering“ und am 31. Mai die Motoren der Bau- den Bebauungsplan des Landratsamtes für stellenmaschinen in Wackersdorf stoppten, nichtig. Aufgrund von Einzelbaugenehmigun- wussten die Oberpfälzerinnen und Oberpfäl-

62 DER FREISTAAT 12/2014 12/2014 DER FREISTAAT 63 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Bayerische Schriften für soziale Demokratie 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf Ein weiter Weg: Vom Desaster Wackersdorf bis zur Energiewende nach Fukushima | Harry Scheuenstuhl, MdL

Franz Josef Strauß wurde gemeinhin ein politisches Gespür unterstellt. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, dass in der Energiepolitik dieses angebliche „politische Gespür“ völlig versagt hat.

Zu den Zeiten der Wiederaufbereitungs- gieträgern den Einstieg in den deutschen anlage (WAA) Wackersdorf wurden die Energiemarkt zu ermöglichen. demonstrierenden Bürger mit einem Im September des Jahres 2010 kam dann „Chaoten-Image“ versehen. Anstatt in sinn- der „Ausstieg aus dem Ausstieg“ höchst ab- volle Verhandlungen einzutreten, ging die rupt. Die schwarz-gelbe Bundesregierung Politik auf Konfrontation mit bürgerkriegs- beschließt in ihrem „Energiekonzept 2050“, ähnlichen Ausmaßen. Die Bevölkerung die Laufzeiten der Kernkraftwerke durch- hat damals durch ihren Protest eine schnittlich um zwölf Jahre zu verlängern. energiepolitisch historische Fehlentwicklung Der Ausstieg aus dem Ausstieg war Realität verhindert und die Atomkraft als Energie- und versetzte der wirtschaftlichen Zukunft ressource in ihrer Gefährlichkeit richtig der Erneuerbaren-Energien-Branche einen eingeschätzt. Bis zum Atomausstieg war es herben Rückschlag. Schließlich führte die jedoch immer noch ein weiter Weg. Reaktorkatastrophe in Fukushima im Jahr 2011 der Welt auf die schlimmste Art und Vier Monate nach dem Tschernobyl-Unglück Weise die Gefährlichkeit der Atomkraft im Jahr 1986 beschließt die SPD auf ihrem vor Augen. Der aufkommende öffentliche Parteitag in Nürnberg den stufenweisen Aus- Protest sowie der Druck durch SPD und Grüne stieg aus der Kernenergie. Die Position „Eine veranlasste sowohl die damalige schwarz- sichere Energieversorgung ohne Atomkraft“ gelbe Bundes- als auch die bayerische Landes- und eine „Änderung des Atomgesetzes mit regierung, ihre Irrfahrt in der Energiepolitik dem Ziel der Stilllegung aller Atomkraftwerke“ zu beenden und zum Atomausstieg zurück- wurden auf diesem Parteitag beschlossen. Es zukehren. bedurfte aber noch einiger Jahre und einer rot- grünen Bundesregierung, bis der Atomausstieg Der Energiemarkt verändert sich am 14. Juni 2000 in einem Koalitionsvertrag Aus einem staatlichen Monopol ist in den fixiert wurde. letzten 20 Jahren ein liberalisierter Energie- EIN WEITER WEG: Zwei Jahre später wurde der Konsens, die markt geworden. Energieerzeuger, Energie- Nutzung der Kernenergie geordnet zu versorger und Netzbetreiber wurden zum VOM DESASTER beenden, mit der Novelle des Atomgesetzes Großteil in privatwirtschaftliche Hände umgesetzt. Der vermeintlich endgültige überführt. Durch diese Liberalisierung und WACKERSDORF BIS Ausstieg war geschafft. Ausgehend vom Jahr die Europäisierung ist die Energiepolitik zu ZUR ENERGIEWENDE 2000 wurde die Energiewende in einem einem sehr dynamischen und komplexen zeitlich umsetzbaren Rahmen eingeleitet. Politikfeld geworden. Energie ist in der NACH FUKUSHIMA Im Jahr 2004 wird das erste Erneuerbare- heutigen politischen Landschaft ein Quer- Energien-Gesetz (EEG) erfolgreich auf den schnittsthema und hat direkte und indirekte Weg gebracht, um den nachhaltigen Ener- Auswirkungen auf das private Lebensum-

Harry Scheuenstuhl, MdL Umweltpolitischer Sprecher der BayernSPD-Landtagsfraktion 64 DER FREISTAAT 12/2014 12/2014 DER FREISTAAT 65 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Bayerische Schriften für soziale Demokratie 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf Ein weiter Weg: Vom Desaster Wackersdorf bis zur Energiewende nach Fukushima | Harry Scheuenstuhl, MdL

Energiewende“-Argument; 2013). Generati- Wie ernst sind Atomausstieg und Energie- onenübergreifend ist die Energiewende ein wende gemeint? lohnendes Geschäftsmodell mit einer volks- Diese Frage wird von Bürgerinnen und wirtschaftlichen Rendite von 4-7 Prozent Bürgern, in der Presse oder von Sachverstän- (vgl. Prof. Dr.-Ing. Michael Sterner et al.: Ener- digen immer wieder zu Recht gestellt. Am giewende in Bayern – Technische Potentiale, Anfang steht das Grundproblem der Netze und Speicher, Flächenverbrauch, Kos- Bayerischen Staatsregierung, dass die ten und volkswirtschaftlicher Nutzen; 2014). Energiewende ein Projekt ist, das die CSU Unser sozialdemokratisches Verständnis für wohl weniger aus Überzeugung als auf Druck nachhaltige Politik heißt, diese Herausforde- der Bevölkerung beschlossen hat. Die Par- rung anzunehmen. teitagsentscheidung für den Atomausstieg im Mai 2011 in Kloster Andechs war keine Unterirdische Energiequellen und Ressourcen einhellige Überzeugungstat. Laut den Medien (z. B. Kohle, Uran, Gas) müssen in eine wurde in sieben Stunden Ausstiegsdiskussion oberirdische Energieversorgung überführt lautstark gestritten. werden. Die Energieerzeugung und Versor- gung wird nun in Form von Windrädern, Bereits hier begann der Kurs des Minister- | Greenpeace-Aktivisten dringen am 27. Oktober 1988 in Solar- oder Biogasanlagen für die Bevölkerung präsidenten Seehofer, den man mit der das WAA-Gelände ein und besetzen einen Baukran. sichtbar und die persönliche Einbindung der „Fähnchen im Wind“-Politik beschreiben Bürgerinnen und Bürger steigt erheblich an. könnte. Dieser Kurs hält besonders in der feld der Bevölkerung. Der Energiemarkt ist Dieses Vorhaben wird von vielen Sachver- Umso mehr ist die Energiewende ein Gemein- Energiepolitik bis heute an. Es wurde 2011 von einem Markt mit wenig Beteiligten zu ständigen als das größte Infrastruktur- schaftsprojekt, bei dem Bürgerbeteiligung in den Zeitungen geschrieben, dass sich einem Markt gewachsen, zu dem jeder projekt Deutschlands nach der Wiederver- ein elementarer Bestandteil ist. Akzeptanz in Kloster Andechs in 37 Wortmeldungen Bürger eine persönliche Geschichte erzählen einigung bezeichnet. Wir machen uns auf entsteht durch Information, Aufklärung und 80 Prozent der CSU gegen den Ausstieg kann. Bürgerbeteiligung ist besonders in die Zukunft, um den Beweis anzutreten, Beteiligung. Diese Bürgerbeteiligung wird äußerten. Nicht verwunderlich – hatte sich deshalb zu einem elementaren Bestandteil dass eine ressourcenschonende Energiever- idealerweise in kleinen Einheiten durch- die gleiche Partei gerade noch im Herbst 2010 der Energiepolitik geworden. sorgung einer Industrienation möglich ist. geführt. Damit kommt den Kommunen eine für die Verlängerung der Laufzeiten stark Das bedeutet die Umstellung der gesamten Schlüsselrolle in der Energiewende zu. Hier gemacht. Die Energiewende – das größte Infrastruk- Energieversorgung von teuren, fossilen und entscheidet sich, ob die Energiewende als turprojekt seit der Wiedervereinigung nuklearen Energiequellen auf günstige und akzeptiertes Zukunftsprojekt oder als Belas- In den Medien wurde kein Hehl daraus Die Energiewende ist mehr als eine politische unerschöpfliche erneuerbare Energien. tung in der Bevölkerung gesehen wird. Es ist gemacht, dass diese Entscheidung weniger Entscheidung – sie erfordert das Umdenken Die Importe von Primärenergie wie Kohle, Öl Aufgabe der Landes- und Bundespolitik, die eine Überzeugungstat, sondern vielmehr einer ganzen Generation. und Gas verschlingen jährlich ca. 100 Milliar- Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die eine populistische Ausrichtung in Hinblick Es ist Ziel der SPD, bis 2050 die Stromprodukti- den Euro in Deutschland. Dadurch werden in Kommunen ein Klima der Akzeptanz für die auf die kommenden Landtagswahlen wa- on zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien 10 Jahren ca. 1.000 Milliarden Euro „ver- Energiewende erzeugen können. Dies alles ist ren. Der Atomausstieg mit gleichzeitiger zu bestreiten. Der Dreiklang aus Energie- brannt“. Sieht man diese Zahlen, ist klar, dass in der Theorie leicht erdacht. Leider zeigt die Energiewende ist jedoch ein Mammut- einsparung, Energieeffizienz und erneuer- Investitionen in Netze, erneuerbare Energien Praxis, dass die Energiepolitik der Staatsre- Projekt, für das es in der Energiepolitik ambi- baren Energien bildet dabei die Grundlage für oder Speicher als zukunftsfähige Kapitalanla- gierung in Bayern dieses Klima nicht fördert tionierte Überzeugungstäter braucht. die dezentrale Energiewende mit der Formel: gen bezeichnet werden können (vgl. Gerhardt, und es den Kommunen eher erschwert denn Die Wandlung der Regierungspartei vom Energiewende = Norman et al.: Geschäftsmodell Energiewen- erleichtert, die Akzeptanz der Bevölkerung zu Saulus zum Paulus in der Energiepolitik wur- Stromwende + Wärmewende + Mobilitätswende de. Eine Antwort auf das „Die-Kosten-der- erlangen. de im Jahr 2011 scheinbar angegangen:

66 DER FREISTAAT 12/2014 12/2014 DER FREISTAAT 67 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Bayerische Schriften für soziale Demokratie 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf Ein weiter Weg: Vom Desaster Wackersdorf bis zur Energiewende nach Fukushima | Harry Scheuenstuhl, MdL

Es wurde ein Konzept vorgestellt. Das Bayerische Energiekonzept ohne Steuermann und Ziel kann Riffe schwer umschiffen und „Energie Innovativ“ wurde am 28. Juni 2011 mit den Stimmen aller läuft Gefahr, zu sinken.“ Dies ist in den Jahren nach Fukushima Fraktionen im Bayerischen Landtag einstimmig beschlossen. in Bayern geschehen. Der Bayerischen Staatsregierung fehlen Laut Energiekonzept sollten die Anteile der erneuerbaren Energien die Daten als Ausgangspunkte der Energiewende und ein Plan, am Stromverbrauch in Bayern im Jahr 2021 wie folgt aussehen: in welcher Form die Energiewende in Bayern umgesetzt werden soll. Nicht verwunderlich – denn gesetzte Ziele werden nicht eingehalten oder im schlimmsten Fall ins komplette Gegenteil Wind Wasserkraft Photovoltaik Biomasse Geothermie verkehrt, wie das Beispiel der Windkraft in Bayern zeigt. Im August 2013 begann Ministerpräsident Seehofer, die Energie- wende zu sabotieren: Er erfand im Landtagswahlkampf die Soll-Zustand 10 % 17 % 16 % 9 % 1 % „10H-Regel“. Diese Abstandsregelung schreibt als Mindest- Ist-Zustand abstand zu Wohnsiedlungen die 10-fachen Windradhöhe vor. 1,6 % 14 – 15 % 9 % 8 % 0,3 % 2014 Anlagen neuerer Bauart können bis zu 200 Meter hoch gebaut werden. Rechnet man diese Höhe mal 10 so, dürfen in einem (Quellen: Bayerisches Energiekonzept, 2011; Landesamt für Statistik, Stand: 2012) dicht besiedelten Land wie Bayern die Windräder nicht näher als zwei Kilometer an einer Wohnbebauung stehen. Dieser Ab- stand wurde völlig willkürlich ohne wissenschaftliche Grundla- Energiepolitik ist aufgrund der Komplexität ein Feld, das über ge für Lärm-beeinträchtigung, Schattenwurf oder Ähnliches ge- Jahrzehnte gedacht werden muss und nicht bis zu den nächsten wählt. Es hätten auch ein Kilometer oder wie bisher 800 Meter Wahlen. Die Staatsregierung hat aber unter der Ära Seehofer sein können. neben dem „Fähnchen im Wind“-Kurs nun auch das undemo- Das Gesetz zur „10H-Regel“ wurde im Gesetzgebungsverfahren kratische Prinzip „Wer am lautesten schreit – der bekommt von Verbänden und Sachverständigen auf das Schärfste zuerst“ etabliert. Nur so ist es zu erklären, dass eine kleine Gruppe kritisiert. So sprachen sich in einer Landtagsanhörung elf von an solventen Windkraftgegnern in die Lage versetzt wird, ein zwölf Experten entschieden gegen das Gesetz aus. Ohne Erfolg parlamentarisches, demokratisches Energiekonzept zu kippen, – am 12. November 2014 wurde die „10H-Regel“ im Bayerischen dessen Ziele konsequenter politischer Entscheidungen und Landtag gegen den Widerstand der SPD-Landtagsfraktion, rascher Umsetzung bedurft hätten. vieler Verbände und den übrigen Oppositionsfraktionen mit den Stimmen der CSU-Mehrheitsfraktion verabschiedet. Somit Windkraft als Beispiel für ein geringes politisches Gespür der stehen laut Gutachten nur noch 0,05 Prozent der Fläche in CSU für Bürgerinteressen Bayern zur Verfügung, um darauf Windräder zu bauen. Praktisch Am 20. Dezember 2011 wurde ein Windenergie-Erlass des Bay- nichts! Damit scheint die Windenergie in Bayern beerdigt. erischen Umweltministeriums herausgegeben. Die Kommu- nen, Investoren und Bürger wurden aufgefordert, sich an dem Wie bereits erwähnt, bewirkt die Energiewende, dass die Ausbau der Windenergie in Bayern mit geballter Arbeitskraft, Energieversorgung an der Oberfläche sichtbar wird. Der unkoor- Geld und Zuversicht zu beteiligen. dinierte Ausbau der Windkraft durch eine Staatsregierung ohne Masterplan hat zur Folge, dass einige Bürgerinnen und Bürger Bereits innerhalb des Folgejahres 2012 stellte sich jedoch her- sehr viele Windkraftanlagen in ihrer Umgebung sehen. aus, dass Papier geduldig ist. Willenserklärungen und Konzepte Die Staatsregierung hätte nun knapp vier Jahre Zeit gehabt, die- sind schnell geschrieben, jedoch entwickelt sich das Projekt in sen Bürgerinnen und Bürgern den positiven Nutzen der Wind- der Praxis ohne einen Masterplan der Staatsregierung für die krafträder für die Energieversorgung ihrer Kinder zu erklären. Umsetzung der Energiewende unkoordiniert weiter. „Ein Schiff Stattdessen hat sich das Grundproblem aus Kloster Andechs, dass

68 DER FREISTAAT 12/2014 12/2014 DER FREISTAAT 69 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Bayerische Schriften für soziale Demokratie 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf Ein weiter Weg: Vom Desaster Wackersdorf bis zur Energiewende nach Fukushima | Harry Scheuenstuhl, MdL

die Energiewende eben keine Überzeugungstat ist, durchgesetzt. von Experten noch einmal ein Vielfaches der Baukosten beträgt, Wer kein Überzeugungstäter ist, neigt eher dazu, Dinge schlechtzu- sind in der Kalkulation noch gar nicht eingerechnet. reden, als die Herausforderung im positiven Sinne anzunehmen. Jeder Ökonom kann sich ausrechnen, dass die Atomenergie Heute wird von der Staatsregierung behauptet, eine kleine teuer ist und vor allem immer teurer wird. Der Umstieg auf Gruppe Windkraftgegner spräche für das bayerische Volk. Laut erneuerbare Energien ist deshalb kein Wunsch von Ökologie- dem Umfrageinstitut TNS Infratest schätzt die bayerische träumern, sondern basiert auf handfesten ökonomischen Bevölkerung einige Themen in Zeiten der Energiewende aber Dringlichkeiten. deutlich anders ein. Die Studie von TNS Infratest aus dem Jahr Investoren müssen aber sichere Rahmenbedingungen vorfinden, 2012 bringt klare Ergebnisse: damit sie in erneuerbare Energien investieren. Hier wird deutlich, welche fatale Auswirkung eine kleine „10H-Regel“ haben kann. ▪ Gegen die Rücknahme des Atomausstiegs und den Weiterbe- Bürgerinnen und Bürger, Kommunen und Unternehmen haben trieb der Atomkraftwerke über das Jahr 2022 hinaus sprechen nach dem „Windenergie-Erlass“ Millionen in die Planung von sich bis zu 67 Prozent der bayerischen Bevölkerung aus. Windkraftstandorten investiert, die durch die „10H-Regel“ nun ▪ Für den verstärkten Ausbau der Windkraft in Bayern an verbranntes Geld sind. Das Investitionsklima wird nachhaltig verschiedenen Standorten sind 76 Prozent der Befragten und gestört und die Windbranche in Bayern mit 11.900 Beschäftig- interessanterweise 77 Prozent der befragten CSU-Wähler. ten in den Bereichen Zulieferer, Projektierer, Hersteller, Planer, ▪ 68 Prozent der Befragten in Bayern und 66 Prozent der Servicebetriebe etc. verliert ihre wirtschaftliche Grundlage. befragten CSU-Wähler in Bayern sind der Meinung, dass der Eine ganze Branche in Bayern irgendwann wieder aufzubauen, Bau von Windkraftanlagen für das Gelingen der Energiewende könnte Jahre kosten, denn wie heißt es so schön: „Der Investor und damit für den Atomausstieg von zentraler Bedeutung ist wie ein scheues Reh, wird er einmal vertrieben, kommt er so ist. Sie sind außerdem der Meinung, dass eine mögliche schnell nicht wieder.“ Beeinträchtigung des Landschaftsbildes deswegen in Kauf genommen werden muss. Was will die SPD zukünftig in der Energiepolitik? Wir standen und stehen auch in Zukunft zu unserem klaren Nein Wie damals in Wackersdorf manövriert sich die Bayerische Staats- zur Atomkraft. In unserer Regierungsverantwortung haben wir regierung auch heute in eine folgenschwere politische Fehl- den Ausstieg aus der Atomenergie durchgesetzt. Diese Energie- einschätzung. Diese führt heute in umgekehrter Form dazu, dass wende ist aus ethischen Gründen ebenso richtig wie wirtschaft- Widerstand herbeigeredet wird. Dabei beginnen wir erst heu- lich, sozial und ökologisch vernünftig. Energieeffizienz, Verringe- te – 25 Jahre später – die Atompolitik aus den Zeiten von Wa- rung des Energieverbrauchs und erneuerbare Energien sind im ckersdorf zu spüren. Billige Energie brachte mittelfristig einen Dreiklang die energiepolitische Ausrichtung der SPD in Bayern. Aufschwung auf Pump. Welchen Preis wir und unsere Kinder Die Energiewende ist für uns mehr als eine reine „Stromwende“, für diesen Aufschwung noch zu zahlen haben, kann die heutige vielmehr muss sie alle Arten der Energie wie Wärme und Ener- Generation erst erahnen. Der französische Rechnungshof hat im gieträger wie Treibstoff in die Planungen und Maßnahmen Februar 2012 erstmals Zahlen zu den Kosten der Atomenergie gleichwertig miteinbeziehen. In der Stromproduktion sollen genannt. Demnach sollen in Frankreich seit dem Bau der ersten bis 2050 100 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien Atomkraftwerke 228 Milliarden Euro in die Atomenergie bestritten werden. Wir glauben, dass die Energiewende nur in geflossen sein. Mit 121 Milliarden Euro macht der Bau der Atom- Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern, Kommunen meiler fast die Hälfte aus. In Deutschland und besonders im und Wirtschaft zu schaffen ist. Unser Ziel ist es zu motivieren, Atomland Bayern dürften die Kosten anteilig ähnlich aussehen. diese große Herausforderung anzunehmen und für die nach- Der Rückbau von Atomkraftwerken und die Entsorgung bzw. folgenden Generationen eine riesige Chance zu nutzen! Endlagerung der genutzten Brennstäbe, was nach Schätzung

70 DER FREISTAAT 12/2014 12/2014 DER FREISTAAT 71 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Bayerische Schriften für soziale Demokratie 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf Nachruf

Wir gedenken

Erna Sielka Alois Sonnleitner Johann Hirschinger

Die 61-jährige Hausfrau Erna Sielka aus Wackersdorf verlor am 02. März 1986 am Bauzaun ihr Leben.

Am 31. März 1986 starb der 38-jährige Ingenieur Alois Sonnleitner aus Gräfelfing nach einem Asthmaanfall, vermutlich infolge des Tränengas-Einsatzes.

Infolge eines Unfalls am 07. September 1986, als ein Polizei- hubschrauber mit einem Schienenfahrzeug kollidierte, erlag der 31-jährige Kriminalhauptmeister Johann Hirschinger seinen schweren Brandverletzungen.

Wir gedenken Erna Sielka, Alois Sonnleitner und Johann Hirschinger in stiller Andacht.

72 DER FREISTAAT 12/2014 12/2014 DER FREISTAAT 73 Bayerische Schriften für soziale Demokratie Bayerische Schriften für soziale Demokratie Impressum

Herausgeber: BayernSPD Landtagsfraktion Maximilianeum | 81627 München Tel.: 089 - 4126 2050 | Fax: 089 - 4126 1351 [email protected]

V. i. S. d. P. Ulrich Meyer, Pressesprecher der BayernSPD-Landtagsfraktion Bildnachweis Fotos: Bernd Schweinar, Gerhard Götz, Bürgerinitiative gegen die WAA

Druck und Bindung: grafik + druck GmbH Satz & Layout: shot one GmbH

Dezember 2014 25 Jahre Baustopp WAA Wackersdorf Der Baustopp der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf (WAA) im Mai 1989 war in mehrerlei Hinsicht eine Zäsur für die Bundesrepublik Deutschland. Acht Jahre lang dauerte der zähe Widerstand von Anwohnern, Atomkraftgegnern, Um- weltschützern und Demonstranten aus ganz unterschiedli- chen gesellschaftlichen und politischen Lagern. Dem zivilen Ungehorsam der Protestierenden begegnete die Staatsge- walt mit bislang nicht gekannter Brutalität. Es kam erstmals in der Nachkriegszeit zum Einsatz von CS-Gas, mit der „Lex Schuierer“ wurden sogar demokratische Prinzipien außer Kraft gesetzt. Letztlich setzte sich Volkes Wille aber durch, die WAA wurde nicht gebaut. Der Einstieg in den Atomausstieg war geschafft.

Diese Schrift der BayernSPD-Landtagsfraktion zeichnet den damaligen Widerstand nach. Aus Sicht von Beteiligten und Betroffenen, vonseiten der Politik und der Medien. Heute, 25 Jahre nach dem Ende der WAA, ist das Thema Energiewende so aktuell wie eh und je, der Atomausstieg immer noch nicht gänzlich vollzogen.

bayernspd-landtag.de

BAYERISCHE SCHRIFTEN für soziale Demokratie