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GRENZÜBERSCHREITENDE ZUSAMMENARBEIT:

Von der Information über Konsultation zur Kooperation

Als sich 1987 in Kehl der Widerstand gegen die von der Landesregierung geplante Sondermüllverbrennungsanlage im Kehler Hafen formierte und sich den Demonstrationen auch Bürgerinnen und Bürger aus Straßburg anschlossen, ahnte wohl kaum jemand, dass der gemeinsame Protest die Grundlage für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den beiden Städten legen würde. Doch die Erfah- rung, den Sondermüllofen gemeinsam verhindert zu haben, beflügelte Vereine und Institutionen ebenso wie die Stadt- regierungen auf beiden Rheinseiten: Wenn man gemeinsam etwas verhindern konnte, musste man doch auch gemein- sam etwas realisieren können. Das konzertierte Engagement gegen die Sondermüllver- brennung, das bis in die Straßburger Stadtspitze hinein- reichte und auch die damalige Oberbürgermeisterin und heutige Europaabgeordnete Catherine Trautmann mobili- Der gemeinsame Protest von Keh- sierte, war umso erstaunlicher, weil noch ein Jahr zuvor so getan wurde, als respektierten lern und Straßburgern gegen die Schadstoffe in der Luft die französische Staatsgrenze. Während nämlich in Folge der Kern- vom Land Baden-Württemberg schmelze im Reaktorblock 4 im russischen Tschernobyl der Salat auf der deutschen Rheinseite geplante Sondermüllverbren- untergepflügt wurde, konnte dieser jenseits des Rheins offenbar bedenkenlos verzehrt werden. nungsanlage im Kehler Hafen legte die Grundlage für die grenz- Die Anfänge der grenzüberschreitenden Kooperation überschreitende Zusammenarbeit. Fragt man heute Akteure der grenzüber- 1982 Empfehlung zur gegenseitigen Unterrichtung über neue Projekte greifenden Kooperation nach den Ursprün- im Zuständigkeitsbereich der gen, so wird immer wieder die Zeit Ende der Deutsch-Französisch-Schweizeri- 1980er-Jahre genannt: Die Bürgerinitiative schen Regierungskommission für Umweltschutz knüpfte damals die ersten nachbarschaftliche Fragen Kontakte über den Rhein, die Kirchen eben- 75 1984 Empfehlung der gegenseitigen so, die beiden Kirchen gründeten sogar eine Unterrichtung über Planungs- grenzüberschreitende ökumenische Umwelt- und Umweltschutzmaßnahmen Arbeitsgruppe. Die Städte Kehl und Straßburg im Zuständigkeitsbereich der feierten 1987 und 1988 ihre ersten gemeinsa- Deutsch-Französisch-Schweizeri- men Rheinfeste – für die Festbesucher war es schen Regierungskommission für nachbarschaftliche Fragen die Sensation, sich von den französischen Pio- nieren mit Landungsbooten an ungewohn- 1996 Empfehlung der Deutsch- ter Stelle und ganz ohne Ausweiskontrollen Französisch-Schweizerischen ans andere Rheinufer übersetzen zu lassen. Regierungskommission über die An einen gemeinsamen Park oder gar eine Zusammenarbeit bei umweltrele- vanten Vorhaben am Oberrhein Fußgänger- und Radfahrerbrücke über den Grenzfluss dachte damals noch niemand. 2005 Leitfaden zur grenzüberschreiten- Am Vorabend des Rheinfestes 1988 trafen die den Behörden- und Öffentlich- Gemeinderäte von Kehl und Straßburg zu- keitsbeteiligung bei umweltrele- sammen und ließen sich von der Straßburger vanten Vorhaben am Oberrhein Stadtverwaltung vor allem über Umweltthe- >> men informieren. Die Stadtgemeinschaft Straßburg war damals dabei, die Hausmüllverbren- nungsanlage mit einer Rauchgaswaschanlage auszustatten; die Kläranlage für die Großstadt, welche die Einleitung der Schmutzwasserfracht in den Rhein von 80 auf vier Prozent reduzieren sollte, stand kurz vor der Inbetriebnahme. Die Information der Kehler Räte geschah auf freiwilli- ger Basis – eine förmliche Beteiligung der Stadt Kehl war damals nicht vorgesehen.

Die Zusammenarbeit im Bereich Umweltschutz

Nachdem der Kampf gegen die Sondermüllverbrennung das Thema Luftverschmutzung in den Vordergrund gerückt hatte – Kehl galt damals als die Stadt mit der am stärksten belaste- ten Luft in Baden-Württemberg – begann die Zusammenarbeit der Städte Straßburg und Kehl 1990 folgerichtig in einer Arbeitsgruppe für Umwelt. Erstes großes gemeinsames Projekt war der Luftreinhalteplan Straßburg-Ortenau, der von der Stadt Kehl und der Stadtgemeinschaft Straßburg (CUS) initiiert und vorbereitet wurde. Im April 1993 unterzeichneten das französi- Anstoßen auf gelungene sche Umweltministerium, das Umweltministerium des Landes Baden-Württemberg, die Stadt- Zusammenarbeit: Mit Robert gemeinschaft Straßburg, der , die Stadt und die Stadt Kehl den Vertrag Grossmann als Präsidenten der über die Erstellung des Luftreinhalteplanes. Das 800 000 Mark teure Projekt wurde zur Hälfte Stadtgemeinschaft Straßburg von der Europäischen Union mit Mitteln aus dem ersten Interreg-Programm kofinanziert. Für war die Kooperation mit Kehl die Stadt Kehl und die CUS war es das erste Interreg-Projekt – am Oberrhein gehörte der zunächst ins Stocken geraten. Luftreinhalteplan zu den ersten grenzüberschreitenden Projekten überhaupt. Dass dieses grenzübergreifende Vorhaben zur damaligen Zeit außerordentlich war, zeigte sich auch darin, dass der ehemalige Kehler Beigeordnete Jörg Armbruster den Luftreinhalteplan zusammen mit dem heutigen Präsidenten des elsässischen Regionalrates Philippe Ri- An diesen durch den Interreg-Fonds der Europäischen Union mit mehr als neun chert (er war damals Präsident der elsässi- Millionen Euro geförderten Projekten war schen Luftreinhalteorganisation ASPA) im die Stadt Kehl in den vergangenen 20 Jah- französischen Parlament in vorstellen ren beteiligt: durfte. Ziel des Luftreinhalteplanes, der 1995 vorgelegt wurde, war es nicht nur, flä- · Luftreinhalteplan Straßburg/Ortenau · Untersuchungen für ein deutsch- chendeckend Immissionserhebungen für die französisches Touristikbüro im Raum hauptsächlichen Luftschadstoffe vorzuneh- Kehl/Straßburg men, sondern auch Maßnahmen zu entwi- · Gründung der grenzüberschreitenden ckeln, welche die Luftqualität verbessern Einrichtungen INFOBEST Kehl-Stras- sollten. Nachdem der Straßenverkehr als ein bourg, Euro-Institut und Euro-Info 76 Verbraucher wesentliches Problem identifiziert worden · Machbarkeitsstudie für die Tram über war, vereinbarte man, Straßenbauvorhaben den Rhein genau auf ihre Auswirkungen auf die Luft- · Altenarbeit Kehl/Straßburg belastung zu prüfen (die heutige Pflimlin- · Touristische Zusammenarbeit Unter- Brücke war damals ein kontrovers diskutier- Elsass/Ortenau · Jugendkulturwerkstatt Zig-Zack tes Projekt), alle Möglichkeiten zu nutzen, · Garten der zwei Ufer um den öffentlichen Nahverkehr zu fördern · Planung der Passerelle des deux Rives und Bürgerinnen und Bürger für die durchs · Bau der Passerelle Autofahren verursachten Probleme zu sen- · Einrichtung des Kompetenzzentrums sibilisieren (Jobticket, Fahrgemeinschaften, für grenzüberschreitende Fragen · Vorprojektplanung für die grenzüber- mehr Wege mit dem Rad zurücklegen). schreitende Tram Großes Thema in der Umwelt-Arbeitsgruppe · deutsch-französische, grenzüber- der Städte Straßburg und Kehl war auch die schreitende Kinderkrippe Geruchsbelästigung in Kehl, die immer wie- · Städtebaulicher Wettbewerb für die der von Industriebetrieben im Straßburger beiden Zollhöfe · Bau der grenzüberschreitenden Tram Südhafen ausgelöst wurde. Zwar waren die >> in die Luft entlassenen Stoffe nicht giftig, der Geruch war aber so unangenehm und stark, dass er bei manchen Menschen Würgereiz auslöste. Das Trocknen von Wäsche im Freien war an solchen Tagen nicht zu empfehlen. Damit die Verursacher des Gestanks identifiziert werden konnten, wurden die Kehlerinnen und Kehler aufgefordert, sich als Schnüffler zu betätigen, üble Gerüche möglichst rasch bei der Feuer­wehr zu melden und so genau wie möglich zu beschreiben. Die Straßburger schlos- sen sich der Aktion an, forderten ihre Bürgerinnen und Bürger ebenfalls auf, die Nasen in den Wind zu halten und richteten ein Geruchstelefon ein. Die Angaben von beiden Rheinseiten deckten oder ergänzten sich – je nach Windrichtung – und so konnten die Hauptverursacher der üblen Gerüche ausgemacht werden. Unter Beteiligung des SPPPI (Secrétariat Permanent pour la Prévention de la Pollution Industrielle = Sekretariat zur Vermeidung von Umweltver- schmutzung durch die Industrie) konnten die Städte mit Firmen auf beiden Rheinseiten eine sogenannte Geruchscharta aushandeln. Die Unternehmen verpflichteten sich darin, die Ge- Ein eingespieltes grenzüber- ruchsquellen zu minimieren und in dem Fall, dass doch übelriechende Luft entweicht, die Stö- schreitendes Team: die Ober­ rung unverzüglich zu beseitigen. Die Geruchscharta, aber auch die Einstellung der Zellulose- bürgermeister Günther Petry und Produktion beim Straßburger Papierhersteller Stracel sowie die Umstellung der Produktion in Roland Ries. der hefeverarbeitenden Industrie im Straßburger Südhafen haben zu einer deutlichen Verbes- serung der Situation geführt. Die Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe Umwelt hat zwischen Kehl und Straßburg immer funktioniert – unabhängig davon, welcher politischen Partei die Oberbürgermeister und ihre Beigeordneten jeweils angehörten. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit funktioniert dann am besten, wenn die Partner durch ein grenzübergreifendes Projekt ein gemeinsames Prob- lem lösen können.

Vom Garten der zwei Ufer zum Eurodistrikt

Eine nie gekannte Intensität hat die Zusammenarbeit zwischen Kehl und Straßburg mit dem Beginn der Planungen für den Garten der zwei Ufer und der Passerelle angenommen. Die Ver- waltungen arbeiteten gemeinsam die europaweit ausgelobten Wettbewerbe für Garten und Brücke aus, die gewählten Vertreter wählten in tagelangen gemeinsamen Jurysitzungen die Wettbewerbssieger aus und brachten damit die größten grenzüberschreitenden Projekte in der gesamten Oberrhein-Region auf den Weg. Zwar wurde in der schwierigen Zeit nach dem Der Bau der Passerelle des deux Amtsantritt des konservativen Tandems Robert Grossmann/Fabienne Keller auch der Garten Rives und des Gartens der zwei der zwei Ufer infrage gestellt und zunächst auf Eis gelegt. Doch ungeachtet all dieser Schwie- Ufer legten den Grundstein für den rigkeiten, welche der Wechsel von einer sozialistischen zu einer konservativen Stadtregierung 77 Eurodistrikt -Ortenau. im Frühjahr 2001 mit sich brachte, ist heute klar, dass das erfolgreiche Ringen um den Garten der zwei Ufer, die Passerelle und die gemeinsam gefeierte Gartenschau die Basis für den Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau bereitet hat. Am 22. Januar 2003, am 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags, riefen Bundeskanzler Gerhard Schröder und der französische Staatspräsident Jacques Chirac zur Gründung eines Eurodistriktes Stras- bourg-Kehl auf – ohne dass die Oberbürger- meister oder die Gemeinderäte der beiden Städte davon etwas wussten. Sie erfuhren erst durch nachfragende Journalisten von diesen Plänen. So unscharf die Konturen dieses neuen Ge- bildes waren, das da gegründet werden soll- >> te, so schwierig und holprig gestaltete sich der Weg hin zum Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau. Gleichzeitig mit der Eröffnung der grenzüberschreitenden Gartenschau am 23. April 2004 sollte der Gründungsakt mit deutscher und französischer Politprominenz gefeiert werden. Doch daraus wurde nichts: Während die deutschen und französischen Partner gelernt hat- ten, konkrete Projekte gemeinsam zu realisieren, stritt man sich bei dieser neuen Einrichtung, deren Aufgaben und Kompetenzen nicht klar zu definieren waren, über Formalitäten: In wel- chem Land sollte der Eurodistrikt seinen Sitz und wo sein Sekretariat haben? Weil diese Fragen unlösbar schienen, unterzeichneten der Landrat und die Oberbürgermeis- ter der fünf großen Kreisstädte für die deutsche Seite, die Oberbürgermeisterin der Stadt Straßburg und der Präsident der Straßburger Stadtgemeinschaft für die französische Seite am 17. Oktober 2005 eine Vereinbarung, in der man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt hatte: Der Eurodistrikt wurde von einem deutsch-französischen Sprecher- Duo geleitet und von zwei Sekretariaten – einem beim Landratsamt in Offenburg und einem bei der Stadtgemeinschaft Straßburg – verwaltet. Wenn auch in dieser Zeit nicht allzu viele grenzüberschreitende Projekte umgesetzt werden konnten, angestoßen und durch die Akteu- re vermittelt wurden dennoch einige Kooperationen, die bis heute bestehen. Vor allem aber erreichte der Eurodistrikt eines: dass die Kontakte unter den Verwaltungsmitarbeitern durch eine vergrößerte Themenpalette auf eine viel breitere Ebene ausgedehnt wurden. Mit der Gründung eines Europäischen Verbundes für Territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) am 4. Februar 2010 hat der Eurodistrikt nicht nur ein Sekretariat im Kehler Torbogengebäude mit einer Generalsekretärin und vier hauptamtlichen Mitarbeitern bekommen, sondern auch eine Art grenzüberschreitendes Parlament: Der nach französischem Recht verfasste Zweck- verband ermöglicht es den 24 deutschen und 24 französischen Mitgliedern des Eurodistrikt­ rates, Mehrheitsentscheidungen zu fällen und – im Prinzip – politische Allianzen über die Landesgrenze hinweg zu bilden. Was in der Theorie verlockend erscheint, findet in der Realität allerdings kaum statt – aufgrund der kulturellen Unterschiede. Weil in Frankreich das Mehr- heitswahlrecht sowohl im Gemeinderat der Stadt Straßburg als auch im Rat der CUS für sta- bile Mehrheiten sorgt, sind es die französischen Mitglieder im Eurodistriktrat gewöhnt, ihrem Oberbürgermeister oder Präsidenten zu folgen und nichts zu sagen, sofern sie der Mehrheit angehören. Nur von französischen Oppositionspolitikern werden abweichende Meinungen Die deutsch-französische geäußert. Darüber hinaus zeigt die Zusammenarbeit im Eurodistrikt, dass die Schwierigkeiten Kinderkrippe stellt die kompli- in der Kooperation mit der Zahl der Partner und der Größe des Gebietes wachsen, weil biswei- zierteste Form grenzüberschrei- len widerstreitende Interessen auf einen Nenner zu bringen sind. tender Zusammenarbeit dar: Elemente aus dem französischen Die Werkzeuge der grenzüberschreitenden Kooperation und dem deutschen System 78 werden zu einer ganz neuen Die Städte Kehl und Straßburg haben sich in mehr als 20 Jahre währender grenzüberschrei- Einrichtung vereint. tender Zusammenarbeit nicht damit aufgehalten, die unterschiedlichen Rechts- und Verwal- tungssysteme zu beklagen, sondern früh erkannt, dass man sich die Verschiedenheit der Systeme auch zunutze machen kann. So hat es sich inzwischen eingespielt, dass städtebauliche Wettbewerbe – wie der für den Garten der zwei Ufer oder für die bei- den Zollhöfe – nach deutschem Recht aus- geschrieben werden. Nach französischem Wettbewerbsrecht müsste man den Sieger­ entwurf umsetzen, nach deutschem Recht kann man aus den Preisträgerentwürfen auswählen – auch Kombinationen sind >> möglich. Die Rheinbrücke für die Tram wurde dagegen nach französischem Recht ausge- schrieben, weil dieses die Möglichkeit bot, die Kosten zu deckeln und das Kostenrisiko auf den Auftragnehmer zu verlagern. Schon bevor es das Karlsruher Übereinkommen gab, schlossen die beiden Städte einfache Verwaltungsvereinbarungen, die regeln, dass die Buslinie 21 der Straßburger Verkehrsbetrie- be (CTS) die Verbindung zwischen der Kehler Stadthalle und der heutigen Endhaltestelle der Tram herstellt und wie das Defizit zwischen Straßburg und Kehl aufgeteilt wird. In einem ebensolchen Vertrag ist festgelegt, dass die Kosten für die zweisprachigen Animateure in den Kehler Freibädern (die Konflikte unter Jugendlichen möglichst im Vorfeld verhindern oder aber schlichten sollen) hälftig geteilt werden. Das Karlsruher Übereinkommen aus dem Jahr 1996 hat es den beiden Städten ermöglicht, die Kooperationsvereinbarungen zur Vorprojektplanung für die Tram, für den Bau der Tram oder für den Bau und den Betrieb der deutsch-französischen, grenzüberschreitenden Kinderkrippe zu schließen. Was sich einfach anhört, erweist sich in der Praxis dennoch als recht kompliziert: Bei der Erarbeitung der Verträge im Zusammenhang mit der Verlängerung der Straßburger Tramlinie D nach Kehl saßen bisweilen sieben Juristen gleichzeitig am Tisch – die meisten mit deutsch-französischer Zulassung. Der baden-württembergische Während das Ziel – der Bau eines gemeinsamen Parks, einer Brücke, einer Tramlinie, einer Kin- Europaminister Peter Friedrich derkrippe – auf beiden Seiten identisch ist, ist die Herangehensweise eine andere: Nach mehr (Mitte) hält beim Rheinfest 2013 als 20 Jahren grenzüberschreitender Zusammenarbeit verfestigt sich der Eindruck, dass die die Festrede zum 50. Jahrestag französischen Partner eher nach einer konkreten Ermächtigung für ihr Handeln suchen, wäh- der Unterzeichnung des Elysée- rend die deutsche Seite sich für ermächtigt hält, sofern kein ausdrückliches Verbot besteht. Vertrags. Mit hohem Engage- ment setzt er sich dafür ein, dass Die interkulturellen Unterschiede die Stadt Kehl die Zuschüsse sowohl für den Bau der Tram als Während die Akteure in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit über viele Jahre hin- auch der deutsch-französischen weg überzeugt waren, es reiche aus, das Rechts- und Verwaltungssystem des Partners auf Kinderkrippe erhält. der anderen Rheinseite zu kennen, und zu überspielen versuchten, dass man eigentlich auf verschiedene Weise dachte, werden die interkulturellen Unterschiede seit fünf, sechs Jah- ren bewusst thematisiert. Die entsprechenden Seminare des Euro-Instituts haben sich zum Renner entwickelt und wer über eine Kooperation nachdenkt – sei es die Arbeitsverwaltung oder die Polizei – lässt sich zunächst in Bikulturalität schulen. Doch trotz allem Wissen, das sich ansammeln lässt, ist die Qualität der Kooperation in der grenzüberschreitenden Zusam- menarbeit – viel stärker als in anderen Bereichen – von den handelnden Personen abhängig. Wenn der Wille vorhanden ist, wenn man bereit ist, die Geduld und Energie aufzubringen, auch schier unüberwindlich scheinende Schwierigkeiten anzugehen, können auch komplizier- 79 te grenzüberschreitende Projekte gelingen.

Die Grenzen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit

Die Grenzen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Straßburg und Kehl so- wie im Eurodistrikt zeigen sich ausgerechnet in den Bereichen, die das Gerechtigkeitsemp- finden der Bürgerinnen und Bürger verletzen oder stetige Ärgernisse mit sich bringen: Wenn Fahrer von Autos mit französischem Kennzeichen auf der deutschen Rheinseite zu schnell fahren, verhindert ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich, dass sie Bußgelder unter 70 Euro bezahlen müssen. Das Gleiche gilt für deutsche Autofahrer auf der französischen Rheinseite. In der Praxis führt dies dazu, dass bis zu 60 Prozent der von den stationären Anlagen geblitzten Autofahrer in den Ortsdurchfahrten Marlen und Goldscheuer ungeschoren davonkommen. Gerade mal etwas mehr als ein Drittel der Halter von franzö- sischen Fahrzeugen bezahlt die Strafzettel fürs Falschparken – ein Kumulieren der Mandate, >> bis die Summe von 70 Euro überschritten ist, ist nicht zulässig. Also bleibt der Stadt nur, diejenigen Falschparker abzuschleppen, die ihre Autos in Brandschutzzonen abstellen oder so parken, dass sie den Verkehr behindern oder gefährden. Dass es in Kehl – auf die Einwohnerzahl bezogen – so viele Geld- spielgeräte gibt wie nirgendwo sonst in Deutschland, ist ebenfalls der Nachbarschaft zu einer französischen Großstadt geschuldet. Weil in Frankreich Geldspielautomaten nur in Casinos erlaubt sind, ist der überwiegende Teil der Spieler in den Kehler Spielhallen und Automaten-Bistros französischer Nationalität. Automatenaufsteller und Bistro-Betreiber haben schnell erkannt, dass hier gute Geschäfte zu machen sind. Der Kehler Gemeinderat hat Resolutionen verfasst, Oberbürgermeister Günther Petry hat ungezählte Briefe geschrieben, der Vorstand des Eurodistrikts hat diskutiert, aber es zeigt sich: Diese Alltagsprobleme im Kehl-Straßburger Grenzgebiet sind zu groß für den Eurodistrikt und zu klein, um die Nationalstaaten zu interessieren. Die Hauptstädte – Paris, Berlin, Stuttgart – sind weit weg von der deutsch-französischen Grenzregion. Wie groß die Entfernung tatsächlich ist, wird in Landesentwicklungs- oder Regionalplänen deutlich: Die Landesgrenze verläuft in der Mitte des Rheins – dahinter öffnet sich das Nichts, dargestellt durch eine weiße Fläche. Für Kehl ist das mehr als nur ein grafisches Problem: Weil die Großstadt Straßburg im Landesentwicklungsplan nicht exis- tiert, gilt Kehl als ländlicher Raum. Das wiederum bedeutet, dass auch das Kehler Polizeire- Dass auf Landesentwicklungs- vier so mit Beamten ausgestattet wird, als gäbe es die Großstadt Straßburg nicht. Dass die oder Regionalplänen in der Mitte Kriminalitätsrate in Großstädten höher ist als in ländlichen Gebieten, ist eine Tatsache, die des Rheins das weiße Nichts nichts damit zu tun hat, ob diese Großstadt in Deutschland oder Frankreich liegt. Wäre indes beginnt, führt dazu, dass Kehl als Straßburg eine deutsche Großstadt oder läge Kehl vor den Toren Stuttgarts, hätte der Leiter ländlicher Raum eingestuft wird – des Kehler Polizeireviers rund 120 Beamte zur Verfügung – statt 86 Stellen im Plan, von denen so als würde der Ballungsraum nicht einmal alle besetzt sind. Auch bei der Verlängerung der Straßburger Tramlinie D nach Straßburg mit seinen 500 000 Kehl hätte die Plangrafik zum Verhängnis werden können: Straßenbahnprojekte werden näm- Einwohnern nicht existieren. lich grundsätzlich nur in Verdichtungsräumen und keinesfalls im ländlichen Raum gefördert. Ausnahmsweise wurden Kehl in diesem konkreten Fall die Merkmale eines Verdichtungsrau- mes zuerkannt. Die französischen Kollegen kämpfen mit den gleichen Problemen: Dass ausgerechnet die Eu- ropastadt Straßburg 20 Jahre länger als andere französische Großstädte auf die Anbindung 80 ans TGV-Netz warten musste, war nur ihrer Grenzlage geschuldet. Von Paris aus betrachtet, lagen direkt hinter Straßburg nur der halbe Rhein und eine weiße Fläche. Als die französische Eisenbahngesellschaft SNCF wenige Monate nach der Inbetriebnahme der TGV-Strecke Paris– München in einer Pressemitteilung die hohen Auslastungsquoten für die Hochgeschwindig- keitszüge bekannt gab, konnte man zwischen den Zeilen das Erstaunen darüber herauslesen, dass es tatsächlich Fahrgäste gab, die hinter Straßburg noch weiterfuhren.

Fazit

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist bisweilen mühsam. Doch jedes erfolgreiche Projekt ebnet den Weg für neue Projekte und schafft neue Verbindungen zwischen den Menschen diesseits und jenseits des Rheins. Je enger Deutsche und Franzosen am Oberrhein miteinander verwoben sind, desto besser für ein friedliches Zusammenleben – ganz im Geiste des Elysée- Vertrags, dessen 50-jähriges Bestehen wir in diesem Jahr gefeiert haben. 81

GRENZÜBERSCHREITUNG IN ALLEN LEBENSLAGEN

Wer in Kehl lebt, kann an seinem Wohnort die Vorteile zweier Länder nutzen und das so- zusagen in allen Lebenslagen. Die Durchlässigkeit der deutsch-französischen Grenze und die Errungenschaften der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit können Kehlerinnen und Kehler ein Leben lang begleiten.

Geburt

Als die Geburtshilfe im Kehler Krankenhaus 2012 wegen ihres Defizits von der Schließung bedroht war, richtete sich der Blick nach Frankreich: Hätten Straßburger Gynäkologen als Belegärzte im Kehler Krankenhaus Straßburger Kindern auf die Welt helfen können, hät- te die Auslastung deutlich erhöht und die Geburtshilfe vielleicht gerettet werden können. Doch die Zeitspanne zwischen der Ankündigung der Schließung und deren Vollzug war zu kurz, um ein solches Modell durchdenken und umsetzen zu können.

Inzwischen wird die umgekehrte Variante vorstellbar: Auf der Straßburger Rheinseite wird in unmittelbarer Nachbarschaft zum Garten der zwei Ufer bis Ende 2016 für fast 100 Millio­nen Euro ein neuer Klinikkomplex mit 376 Betten, mehr als 20 Operationssälen und einer Geburtshilfe mit sieben Kreißsälen errichtet. Das neue Krankenhaus mit dem klangvollen Namen Tamaris entsteht aus dem Zusammenschluss dreier gemeinnütziger Straßburger Kliniken: Adassa (jüdisch), Diaconat (evangelisch) und Ste Odile (katholisch).

Was die Staatsbürgerschaft angeht, ist die Geburt auf der anderen Rheinseite kein Problem: Ein Kind, das mindestens einen deutschen Elternteil hat und in Straßburg zur Welt kommt, erhält dort eine internationale Geburtsurkunde, die es als deutschen Staatsbürger aus- weist. Wenn die Eltern eine deutsche Geburtsurkunde möchten, können sie in Deutschland einen Antrag auf Nachbeurkundung stellen. Ein Kind, das keinen französischen Elternteil hat, aber in Straßburg geboren wird, erwirbt nicht die französische Staatsbürgerschaft.

Mehr als 20 Operationssäle, sie- ben Kreißsäle, 800 Beschäftigte: Am Rande des französischen Teils des Gartens der zwei Ufer entsteht ein riesiger Klinikkomplex.

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Babys und Kleinkinder

Für Babys ab einem Alter von zehn Wochen und Kleinkinder bis drei Jahren errich- ten die Städte Straßburg und Kehl derzeit gemeinsam eine deutsch-französische und grenzüberschreitende Kinderkrippe auf dem Gelände der Rheinhafen-Schule gleich hinter der Europabrücke. In der Einrichtung, die am 31. März 2014 ihren Betrieb auf- nehmen soll, werden je 30 Kinder aus Kehl und Straßburg gemeinsam aufwachsen. Ein zweisprachiges Team wird die Kleinen nach einem pädagogischen Konzept betreuen, das deutsche und französische Elemente vereint. Eltern, die ihre Kinder in der deutsch- französischen Krippe anmelden möchten, wenden sich an die Stadt Kehl.

Kindergarten – Ecole Maternelle

Eltern, deren Kinder die deutsch-französische Krippe besucht haben, können im An- schluss wählen, ob ihr Kind die deutsch-französische Ecole Maternelle in der Straßbur- ger Rheinhafenschule oder einen (deutsch-französischen) Kindergarten in Kehl besu- chen soll. Aber auch Kinder, die ihre Krippenjahre nicht in der grenzüberschreitenden Die Oberbürgermeister von Einrichtung verbracht haben, kommen in allen Kehler Kindergärten mit der französi- Straßburg und Kehl, Roland Ries schen Sprache in Kontakt. Ein bis eineinhalb Stunden pro Woche führen Honorarkräfte und Günther Petry, unterzeichnen die Kinder in den meisten Kindergärten an die französische Sprache heran, zwei Kin- die Baupläne der deutsch-franzö- dergärten – die Kindertagesstätte Vogesenallee und der Kindergarten St. Josef – sind sischen, grenzüberschreitenden bilinguale Einrichtungen, in denen französische Erzieherinnen zum Team gehören. Kinderkrippe, die anschließend in den Grundstein eingemauert wer- den. Wilderich von Droste-Hülshoff Erzieher im anderen Land: „Der Unterschied ist gewaltig“ (rechts) überbringt stellvertretend für Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer den Bescheid über den Zu- Wenn Christophe Frattini und Stéphanie die Kinder machen, was sie wollen“. Tatsäch- schuss zu den Baukosten der Stadt Schmidt sich morgens auf den Weg zur Arbeit lich gilt in den Kehler Kindergärten das Prin- Kehl in Höhe von 360 000 Euro. machen, dann überqueren sie beide den Rhein: zip der Offenen Arbeit, es gibt keine festen Der Erzieher, der bei der Stadt Kehl angestellt Gruppen, sondern verschiedene Angebote ist, pendelt nach Straßburg; für Kinder aller Altersstufen seine Kollegin, die für die – die Entscheidung, was sie Stadt Straßburg arbeitet, fährt machen möchten, liegt ganz über die Grenze in die Kehler bei den Jungen und Mäd- Kindertagesstätte Vogesen- chen. „Der Unterschied zum allee. Sie machen die Kinder Kindergarten in Frankreich mit der Sprache und Kultur ist gewaltig“, stimmt Chris- des Nachbarn vertraut – und tophe Frattini seiner Kollegin erleben dabei einen sehr un- aus Kehl zu. terschiedlichen Arbeitsalltag. Obwohl sie beide Systeme „In Frankreich ist der Kinder- gut kennen, können die zwei garten viel strukturierter“, Stéphanie Schmidt Erzieher nicht pauschal sa- sagt Stéphanie Schmidt, „das gen, welche Pädagogik die ist fast wie ein Stundenplan, bei dem von größeren Vorteile bietet. „Das kommt auf den acht bis neun Uhr alle eine bestimmte Ak- Charakter des Kindes an“, meint Stéphanie tivität machen und von neun bis zehn die Schmidt. „Für manche ist der Kindergarten nächste“. In Deutschland hingegen „dürfen in Frankreich vielleicht zu streng, für andere >> 83

ist er hier in Deutschland zu Ähnlich sieht es am Arbeits- frei.“ Auch das Alter spiele platz von Christophe Frattini eine Rolle, findet Christophe in der Rue de Bâle aus. „Man- Frattini. „Für die Kleinen sind che der Eltern sind deutsch- vielleicht strukturierte Grup- sprachig oder auch deutsch- pen besser, für die Großen stämmig. Wenn ein Elternteil ist es aber die Offene Arbeit, deutsch ist, sprechen die Kin- weil sie dann schon selbst- der fast nur Deutsch mit mir“, ständig entscheiden kön- sagt er. Denjenigen Jungen nen, was sie gerne machen und Mädchen hingegen, die möchten“, sagt der deut- Zuhause ausschließlich Fran- sche Erzieher, der im Jardin zösisch sprechen, bringt er d’enfants in der Straßburger Christophe Frattini die deutsche Sprache durch Rue de Bâle arbeitet. „ständige Wiederholung“ nä- her. „Wir beginnen mit einfa- Ob sie an den Französisch-Aktivitäten, die chen Sachen wie Tiernamen, Zahlen, Farben Stéphanie Schmidt täglich im Kindergarten Vo- und der Begrüßung. Das wird immer wieder- gesenallee anbietet, teilnehmen, können sich holt, bis es irgendwann klappt und ich nicht die Kinder ebenfalls aussuchen. In ihrem Mor- mehr übersetzen muss.“ genkreis werden französische Lieder gesun- gen, sie spielt französische Spiele mit den Jun- Doch die Idee, die hinter dem schon seit gen und Mädchen und liest aus französischen 1992 bestehenden Austausch der Erzieher Büchern vor. Vor allem aber spricht Stéphanie zwischen Kehl und Straßburg steht, um- Schmidt grundsätzlich Französisch – auch fasst mehr als nur das Erlernen der Spra- dann, wenn die Kleinen sie etwas auf Deutsch che des Nachbarn. Genauso geht es darum, fragen. Gibt es Verständnisschwierigkeiten, so die Kinder mit der Kultur auf der anderen sagt sie einen Satz zuerst auf Französisch und Rheinseite vertraut zu machen. Jeden Monat direkt hinterher noch einmal auf Deutsch, das gibt es deshalb eine gemeinsame Dienstbe- ist für sie zur Routine geworden: „Ich merke sprechung, an der Mitarbeiter beider Kin- gar nicht mehr, dass ich immer doppelt spre- dergärten teilnehmen. Dann wird geplant, che“, sagt sie schmunzelnd. Bei rund 20 bis welche Projekte in nächster Zeit zusammen 30 Prozent der Kinder ist diese Sofort-Über- organisiert werden. „Einmal im Monat gibt es setzung überhaupt nicht notwendig, weil sie auch für die Kinder einen Austausch“, erklärt mindestens einen französischen Elternteil Christophe Frattini. Dann fährt die Grup- haben und zweisprachig aufwachsen. pe aus Straßburg beispielsweise nach Kehl,

Französisch sprechen ist ange- sagt, wenn Stéphanie Schmidt mit den Kindern in der Kinder­ tagesstätte Vogesenallee bastelt.

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um – genau wie die Kinder aus dem Kinder- garten Vogesenallee – an den dortigen Wald- tagen teilzunehmen. „Auch Sankt Martin oder Fastnacht, also typisch deutsche Bräuche, bieten sich für die Austauschtage an“, sagt der 35-jährige Erzieher. In den Austausch werden auch die Eltern miteinbezogen: Zwei- bis dreimal pro Jahr findet ein grenzüber- schreitender Elternabend statt; Tradition hat inzwischen ein Bastelabend mit Eltern und Kindern, bei dem kurz vor Sankt Martin in Kehl Laternen gestaltet werden.

Andersherum fährt Stéphanie Schmidt, die 41 Jahre alt ist und fast von Anfang an an dem Austausch-Projekt beteiligt war, ein- mal pro Monat mit den Kehler Kindern nach Straßburg, um deren Altersgenossen zu tref- fen. Zusätzlich besichtigt sie mit den jungen leitet. Die Gruppe – damals gab es in Keh- Tiernamen, Zahlen, Farben, Kehlerinnen und Kehlern die Stadt, besucht ler Kindergärten noch feste Gruppen – sei Begrüßungsformeln: Durch mit ihnen den großen Weihnachtsmarkt, be- von allen sozialen Schichten sehr gut nach- ständige Wiederholung bringt obachtet die Tiere in der Orangerie oder lädt gefragt gewesen. Aus Platzmangel wurde Christophe Frattini den Kindern die Kinder zur Entdeckertour im Vaisseau, sie irgendwann in den Kindergarten in der im Jardin d’enfants in der Straß- dem Wissenschaftsmuseum für Kinder und Oberländerstraße verlegt. Als dieser von der burger Rue de Bâle Deutsch bei. Jugendliche, in Straßburg ein. Evangelischen Kirchengemeinde übernom- men wurde, wechselte der Partner für die Die Kooperation zwischen den Kindergärten Straßburger Rue de Bâle ein zweites Mal: Die Vogesenallee und Rue de Bâle ist in ihrer Wahl fiel auf den Kindergarten Vogesenallee. Intensität bislang einzigartig in der Grenzre- gion. Cornel Happe, der 1992 als Leiter des Während die Eltern auf beiden Rheinseiten neuen Kindergartens Kreuzmatt für die Stadt die deutsch-französische Ausrichtung ihrer Kehl arbeitete, erinnert sich an ihre Anfänge: Kindergärten begrüßten, war es – zumindest „In der Kreuzmatt waren früher die franzö- auf deutscher Seite – nicht immer leicht, sischen Streitkräfte untergebracht, deshalb Personal für den Austausch zu finden, sagt lebten Anfang der 90er-Jahre viele deutsch- Cornel Happe: „Wir haben mehrfach und französische Familien in dem Viertel.“ Als auf regionaler Ebene suchen müssen.“ Bis die Stadt das Kindergartengebäude erwarb, Christophe Frattini den Job vor acht Jahren habe der damalige Beigeordnete Jörg Arm- annahm. Der 35-jährige Erzieher, der selbst bruster die Idee gehabt, „eine echte deutsch- mehrsprachig aufwuchs, seine Kindheit in französische Kindergartengruppe“ in der Frankreich verbracht hat und seit 13 Jahren Kreuzmatt einzurichten – mit Pendant in in Kehl lebt, hat nicht lange gezögert: „Ich Straßburg und inklusive Erzieheraustausch. habe die Chance sofort genutzt, weil ich „Die Projektidee war klasse“, sagt Cornel Hap- etwas Neues kennenlernen wollte.“ Er finde pe, „denn so wurde die Kultur des Nachbarn es wichtig, dass die Kinder möglichst früh in in den Kindergarten gebracht“. Kontakt mit der anderen Rheinseite kommen: „Wir sind hier Grenzgänger, die Kinder soll- Auch die Eltern waren von dem neuen An- ten mit beiden Sprachen aufwachsen“, sagt gebot begeistert. „Das war der Renner“, er- er. „Dann können sie später problemlos im innert sich der damalige Kindergarten-Chef, Europa ohne Grenzen arbeiten. Das sind tolle der heute die Gemeinwesenarbeit Kehl-Dorf Möglichkeiten.“ >> 85

Schulzeit

Rund 400 Kehler Kinder – gut die Hälfte davon von französischen Eltern, die ihren Wohnsitz in Kehl haben – besuchen Schulen in Straßburg. Die meisten Kinder und Jugendlichen sind in der Straßburger Europaschule (von der Vorschule bis zum Abitur Züge, in denen eine Sprache verstärkt unterrichtet wird), in der internationalen Schule (von der Vorschule bis zum Abitur Züge in verschiedenen Sprachen) oder in Mittelschu- len und Gymnasien angemeldet, die zum Abi/Bac führen. Gut 100 Kinder aus Straßburg sind im Gegenzug Schülerinnen und Schüler in Kehler Schulen – vor allem in der Fal- kenhausenschule und im Einstein-Gymnasium.

In Kehl gibt es zwei Grundschulen, die den Unterricht paritätisch in deutscher und französischer Sprache gestalten. Von den 344 Grundschülern der Falkenhausenschule nutzen 202 dieses Angebot. In der Grundschule Sundheim sind im Schuljahr 2013/14 78 Jungs und Mädchen in den paritätischen Klassen eingeschrieben. In der Werkreal- schule Nord-Ost (Kork-Bodersweier) besteht ein freiwilliges Französisch-Angebot für Schülerinnen und Schüler ab Klasse fünf, das wöchentlich drei Unterrichtsstunden in der Sprache des Nachbarn umfasst. In den Klassenstufen neun und zehn können die Jugendlichen an einer Sprachprüfung teilnehmen; sie erhalten dann ein Zusatzzer- tifikat zum Prüfungszeugnis. In der Werkrealschule Wilhelmschule sieht es ähnlich aus: In den Klassenstufen fünf/sechs, sieben/acht und neun/zehn nehmen jeweils acht bis zehn Schülerinnen und Schüler am freiwilligen Französischunterricht teil. In der Werkrealschule Hebelschule können die Schülerinnen und Schüler Französisch in einer dreistündigen Arbeitsgemeinschaft lernen. Insgesamt 75 Kinder und Jugendliche nut- zen dieses Angebot.

Die Kinder der bilingualen Klassen der Falkenhausenschule fühlen sich in zwei Kulturen zu Hause: Im Hanauer Museum haben sie Mützen von Marianne und Michel gebastelt.

In einem Brückenkurs können die Fünft- und Sechstklässler in der Tulla-Realschule auf ihr Grundschul-Französisch aufbauen. Wer möchte, kann dann in Klasse sieben Fran- zösisch als Wahlpflichtfach aussuchen und bis zur Mittleren Reife fortsetzen. Etwa 20 von rund 100 Realschülern pro Jahrgang gehen diesen Weg. Im Einstein-Gymnasium haben die Fünftklässler die Möglichkeit, den zweisprachigen Zug zu wählen, der sie zum deutsch-französischen Abi/Bac führt. Jährlich machen zwölf bis 15 Jugendliche diesen Doppelabschluss. Im Schuljahr 2013/14 haben von 122 Zehn- und Elfjährigen 48 die zweisprachige Gymnasiallaufbahn eingeschlagen. >> 86 Im Elsass hat sich die Zahl der Kinder, die in der Vor- oder Grundschule zur Hälfte in französischer und zur Hälfte in deutscher Sprache unterrichtet werden, innerhalb von zehn Jahren (2002 bis 2012) von 7730 auf 21 517 verdreifacht. Im Département Unter-Elsass bieten derzeit 23 Collèges zweisprachige Züge an, im Ober-Elsass 26. Die Schülerzahl in diesen paritätischen Klassen hat sich im genannten Zehnjahreszeitraum mehr als vervierfacht: von 806 auf 3700 Jugendliche. Nimmt man die Schülerinnen und Schüler noch hinzu, die zwar nicht in paritätischen Klassen lernen, aber dennoch am regulären Deutschunterricht teilnehmen, so erwerben 55 Prozent der Jugendli- chen im Elsass Kenntnisse in der deutschen Sprache. Und die Zahl der zweisprachigen Klassen wächst weiter: Zum Schuljahresbeginn 2013/14 sind im Unter-Elsass 29 neue Klassen eröffnet worden, im Ober-Elsass 24. Am 50. Jahrestag der Unterzeich- nung des Elysée-Vertrags am Wer sich einen Überblick über die Schullandschaft im Grenzraum verschaffen will, hat 22. Januar formen Schülerinnen es schwer: Zwar arbeitet die Bildungsregion Ortenau an einem Online-Bildungsatlas und Schüler der Falkenhausen- (www.bildungsatlas-ortenau.de), doch der wird sich zunächst nur auf Kindertages- schule ein deutsch-französisches einrichtungen und Schulen in der Ortenau beschränken – geplant ist, ihn später auf Herz im Garten der zwei Ufer. den Eurodistrikt auszudehnen. Im Internet findet sich auch eine Liste der Schulen im Elsass, geordnet nach Städten kann man sich die Profile der öffentlichen und privaten Schulen anschauen. Wer Schulen mit deutsch-französischen Klassen sucht, muss sich mühsam durchklicken.

Berufliche Ausbildung

In zahlreichen Lehrberufen besteht die Möglichkeit, die Berufsschule im eigenen Land zu besuchen und die praktische Ausbildung im Lehrbetrieb auf der jeweils anderen Rheinseite zu absolvieren. Weil dies jedoch wenig bekannt und die Berufsausbildung in Deutschland und Frankreich sehr unterschiedlich organisiert ist, nehmen bislang nur vereinzelt Jugendliche diese Chance wahr. Auch die Ausbildung zum Einzelhan- delskaufmann kann grenzüberschreitend absolviert werden: Drei junge Leute – zwei Deutsche und eine Französin – gehen derzeit in Frankreich und Deutschland in die Berufsschule und machen am Ende den deutsch-französischen Doppelabschluss Bac Pro Commerce/Einzelhandelskaufmann.

Französisch als Kernprofil: Berufliche Schulen setzen auf Zweisprachigkeit

„Prima, das habt ihr super gemacht“, sagt Niveau eins, mit Bravour bestanden. Das Prüferin Ursula Méliani, Französischlehrerin freut nicht nur die Schüler, sondern genauso an den Beruflichen Schulen Kehl (BSK), und die beiden Lehrer, die ihre Schützlinge moti- vergibt viermal die volle Punktzahl. Stefanie viert haben, die Zusatzqualifikation „Fran- Mack, Steffen Rohrbeck, Tanja Braun und zösisch im Beruf“ zu erwerben – auch, wenn Aileen Bernhardt haben ihr und dem zweiten das für die Jugendlichen Intensiv-Unterricht Prüfer Bernd Rother auf Französisch einiges zu viert am Freitagnachmittag bedeutete. über sich, ihre Hobbys und ihre Ausbildungs- betriebe erzählt und in fiktiven Verkaufsge- „Wir versuchen, alle Schüler für die franzö- sprächen aus dem Bereich Spedition mitein­ sische Sprache zu begeistern“, sagt Bernd ander verhandelt. Damit ist die mündliche Rother und Michael Eberhardt, bis Juli 2013 Prüfung für das KMK-Zertifikat Französisch, Schulleiter der BSK, bestätigt: „Die Sprach- >> 87 kompetenz steht an allerers- Das ist wichtig, denn an der ter Stelle bei uns. Wir sind im Kehler Berufsschule gilt: Egal, Gegensatz zu allen anderen welchen Beruf man anstrebt, Berufsschulen auf die franzö- Französisch ist Pflicht. Un- sische Sprache ausgerichtet. terschiede gibt es nur in der Das ist unser Kernprofil, un- Intensität und dem Niveau. ser Alleinstellungsmerkmal.“ „Als Lehrer im Unterricht Das KMK-Zertifikat, das die müssen wir je nach Franzö- vier angehenden Logistik­ sisch-Niveau einer Klasse assistenten bestanden haben, umschalten“, sagt Bernd Ro- können Schüler an den Beruf- ther. „Es ist ja auch klar, dass lichen Schulen in den Ausbil- ein Mechatroniker nicht un- dungsberufen Einzelhandel, Bernd Rother bedingt ein Sprachgenie sein Spedition, Gastronomie und muss, sondern eben eher ein KFZ-Mechatroniker absolvieren, und zwar Techniker.“ Was sie an der Schule an Sprach- in den Stufen eins bis drei. „Damit sind wir kenntnissen erworben haben, setzen viele der landesweit Spitze, das Niveau drei in Fran- Auszubildenden an ihrem Arbeitsplatz direkt zösisch im Bereich Spedition bieten wir sogar um. „Wir bilden sie so aus, dass sie in Kehler als einzige Berufsschule an“, sagt Michael Betrieben arbeiten können, da ist Französisch Eberhardt, „da bin ich stolz drauf“. in fast allen Branchen gefragt“, sagt Michael Eberhardt. Außerdem absolvieren die Schüler Die französische Ausrichtung der Kehler Be- Praktika im Nachbarland und besuchen dor- rufsschule fängt schon bei der Auswahl des tige Berufsschulen. „Wir versuchen, so viele Personals an: „Jeder Lehrer hier ist in irgend- Azubis wie möglich möglichst zweimal nach einer Weise mit Frankreich verknüpft“, sagt Frankreich ins Praktikum zu schicken, für der langjährige Schulleiter, entweder durch mindestens drei Wochen.“ Denn das sei die ein Französisch-Studium, durch ein Aus- Voraussetzung, um mit dem Schulabschluss landssemester oder durch das trinational anerkannte Euregio-Zertifikat, private Beziehungen. „Die- eine Art Zusatz-Diplom, zu erhalten. Anders- se Verbindung muss da herum nehmen die BSK französische Schüler sein“, nur dann sei die Mo- auf, die ein Praktikum in einem Betrieb auf tivation der Lehrkräfte für der deutschen Rheinseite machen. die notwendige Mehrarbeit sichergestellt. Die Mehrar- Dabei geht es nicht ausschließlich um beit beginnt damit, die fran- sprachliche, sondern auch um interkulturelle zösische Sprache attraktiv Kompetenz. „Die Arbeitsweise in Frankreich zu machen, denn viele Ju- ist eher hierarchieorientiert“, meint Michael gendliche können noch gar Eberhardt, „deshalb sollen unsere Jugendli- kein Französisch, wenn sie chen auch den Betriebsablauf dort kennen- Michael Eberhardt sich bei den BSK anmelden. lernen“. Um die Schüler auf kulturelle Unter- „Es ist schwierig, Schüler zu schiede vorzubereiten, mit denen sie sich im finden, die auch nur Grundkenntnisse haben“, Auslandspraktikum konfrontiert sehen könn- sagt Michael Eberhardt. Deshalb lassen sich ten, werden im Unterricht an den Beruflichen die Lehrer so einiges einfallen: „Zum Beispiel Schulen Kehl in Rollenspielen Verkaufsge- sind wir mit Einzelhandelsklassen nach Paris spräche geübt. So lernen die Jugendlichen, gefahren, damit sie sehen, wie Einzelhan- wie sie einen Kunden auf Französisch höflich del dort funktioniert“, erzählt Bernd Rother. bedienen können und worauf Franzosen in „Wenn sie sich dafür begeistern können, be- der Geschäftswelt Wert legen. „Die Kultur ginnen sie auch, sich für die Sprache zu inte- hat dort einen ganz anderen Stellenwert“, ist ressieren.“ der langjährige Schulleiter überzeugt, das >> 88 fange schon beim Mittagessen an. „Bei uns ab. Für den Ausbildungsbetrieb bedeutet das pfeift man sich schnell einen Döner rein und zwar zunächst eine Einschränkung, weil die drüben wird heftig diskutiert, damit es in der Jugendlichen mehr Zeit an der Schule verbrin- Mensa innerhalb von vier Wochen bloß keine gen als andere Auszubildende: „Die Betriebe Wiederholung auf der Speisekarte gibt.“ leisten Pionierarbeit, weil sie voll bezahlen, die Azubis aber nur zur Hälfte dort sind“, sagt Mit sechs Partnerschulen in Frankreich ko- Bernd Rother. Letztendlich ist ein doppelt operieren die Beruflichen Schulen Kehl. „Das qualifizierter Lehrling aber ein Aushänge- geht nicht ohne dauernde Kontakte“, sagt Mi- schild für das Unternehmen, ist sich der Leh- chael Eberhardt. Für jede französische Schule rer an den Beruflichen Schulen sicher. Noch gibt es an der Kehler Berufsschule deshalb mehr profitieren die Schüler, die die doppelte einen Beauftragten, einen festen Ansprech- Prüfung bestehen. „Wer die deutsch-franzö- partner. Die Zusammenarbeit ermöglicht sische Ausbildung macht, hinterlässt quasi nicht nur Schüleraustausche sondern viele eine Visitenkarte beim Betrieb“, meint Bernd weitere grenzüberschreitende Aktivitäten: Rother. Ein Absolvent habe beispielsweise bei Gemeinsam mit ihren Partnerklassen reali- einer Firma gelernt, die später eine Filiale in sieren die Kehler Schüler im Tandem Projekte, Frankreich eröffnete – und bekam dort den beispielsweise untersuchen angehende In- Job des Filialleiters. „Er hatte bewiesen, dass dustriekaufleute mit den Schülern des Lycée er mit der Doppelbelastung umgehen konnte“, René Cassin in Straßburg Marketingstrate­ erklärt Michael Eberhardt. gien für ausgewählte deutsche und französi- sche Backwaren und einige Kehler Auszubil- Obwohl die duale Ausbildung, die Mischung dende nehmen jährlich an der „Mondial des aus Schulbesuch und praktischer Lehre in Métiers“ teil, einer Messe für Berufsorientie- einem Betrieb, in Frankreich ebenso existiert rung und Berufsbildung in Lyon. „Es laufen wie in Deutschland, gebe es „einen Unter- ständig grenzüberschreitende Aktionen“, schied wie Tag und Nacht“ zwischen beiden fasst Michael Eberhardt zusammen, „ich Systemen, sagt der langjährige Rektor: „Hier könnte jeden Tag irgendetwas nennen“. steht bei der Ausbildung ganz klar der Be- trieb im Vordergrund, dort gilt das Vertrauen Sozusagen die Kür der grenzüberschreiten- in erster Linie der Schule.“ Wie wichtig es ist, den Ausbildung ist der doppelte Abschluss, neben den Fremdsprachenkenntnissen auch den künftige Einzelhändler seit 2009 an den über solche Unterschiede in der Arbeits- und Beruflichen Schulen Kehl und dem Lycée Ausbildungswelt des Nachbarlands Bescheid Oberlin in Straßburg erwerben können: Sie zu wissen, versuchen die Lehrer der BSK ihren besuchen den Unterricht auf beiden Seiten Schülern ebenfalls zu vermitteln, sagt Micha- des Rheins und legen am Ende ihrer dualen el Eberhardt: „Das ist unsere Aufgabe, ihnen Ausbildung die Prüfung zum Einzelhändler das klar zu machen und das ist eine ewige wie zum französischen „Bac Pro Commerce“ Aufgabe.“ Die Beruflichen Schulen Kehl kooperieren mit sechs Partner- schulen in Frankreich: Jeden Tag laufen grenzüber- schreitende Aktionen.

>> 89 „Deutsche Lehrer sind viel lockerer“: Eine Grenzgängerin über ihre duale Ausbildung

paweit 11 000 Mitarbeitern, und besucht die Beruflichen Schulen Kehl.

Inzwischen ist die 23-Jährige im dritten Lehrjahr, nach ihrem Abschluss darf sie sich „Kauffrau für Spedition und Logistik-Dienst- leistung mit Zusatzqualifikation Französisch“ nennen. Damit hat sie einen ähnlichen Weg eingeschlagen wie ihr Vater, der ebenfalls im Logistik-Bereich tätig und – genau wie ihre Mutter – ebenfalls ein Grenzgänger ist. An den Beruflichen Schulen ist sie als einzige Französin Teil einer 13-köpfigen Klasse, in der jeder die Zusatzqualifikation Französisch anstrebt. „Es gab schon Vorurteile“, erinnert sie sich an die ersten Schultage. Die Mit- schüler hätten wohl gedacht, sie nehme den Auf französische Käseprodu- Cyrielle Matterer aus Rountzenheim im El- deutschen Auszubildenden einen Platz weg. zenten hat sich das Auenheimer sass, heute 23 Jahre alt, hatte schon früh „Aber dann haben alle schnell gemerkt, dass Logistik-Unternehmen Nagel eine Idee, welchen Beruf sie einmal ausüben es gut passt“, sagt sie, und fügt schmunzelnd Albatros Speditions GmbH könnte: Deutschlehrerin. Mit ihren Eltern hinzu: „Außerdem brauchen sie kein Wör- spezialisiert. Die Elsässerin sprach sie zu Hause Elsäs- terbuch im Französisch-Un- Cyrielle Matterer macht dort sisch, die Ferien verbrachte terricht, wenn ich dabei bin.“ ihre Ausbildung. sie mit ihnen in Deutsch- land oder Österreich. Doch Ihre Erwartungen haben die im Deutsch-Studium an der Beruflichen Schulen Kehl – im Universität in Straßburg positiven Sinne – nicht erfüllt. merkte sie, dass die Arbeit „In Frankreich hat man das mit Kindern doch nicht ganz Bild im Kopf, dass die Schule ihre Sache war. Sie erwarb ih- in Deutschland viel strenger ren Bachelor und wollte sich ist“, sagt sie. „Ich war über- dann umorientieren. Bei der rascht, denn tatsächlich sind Berufsberatung sagte man die deutschen Lehrer viel ihr jedoch, dass sie mit 21 zu Cyrielle Matterer lockerer als die in Frankreich, alt sei für eine Ausbildung in dort gibt es gar keinen per- Frankreich. „Da habe ich beschlossen: Wenn sönlichen Kontakt zwischen Lehrern und man mich in Frankreich nicht will, gehe ich Schülern.“ Die Lehrer in Kehl hülfen bei Fra- eben nach Deutschland“, sagt die Elsässe- gen und Problemen, sogar Späße im Unter- rin. Sie machte einen Test, um herauszufin- richt seien hin und wieder erlaubt. „Solange den, wo ihre beruflichen Interessen liegen, man respektvoll bleibt, ist alles in Ordnung.“ verschickte zehn Bewerbungen und einen Einer ihrer Lehrer habe einmal seine Tochter Monat später stand fest: Cyrielle Matterer mit an die Schule gebracht, erzählt sie, und macht ihre Ausbildung bei der Nagel Alba- die Überraschung darüber ist ihr noch immer tros Speditions GmbH in Auenheim, Teil der anzusehen: „So etwas würde es in Frankreich international tätigen Nagel-Group mit euro- nicht geben.“ >> 90 Nicht nur die Berufsschule an sich, sondern – gerade in dem Auenheimer Logistik-Unter- das ganze Ausbildungssystem unterschei- nehmen, das sich auf französische Käsepro- det sich. Während Cyrielle Matterer immer duzenten spezialisiert hat. „Unser Kunden- abwechselnd einen Tag oder zwei Tage pro stamm kommt zu 70 Prozent aus Frankreich, Woche die Beruflichen Schulen Kehl besucht wir sprechen weitgehend Französisch mit und den Rest ihrer Ausbildungszeit bei der den Kunden.“ Auch viele Mitarbeiter im Nagel-Group verbringt, liegt der Schwer- Betrieb unterhielten sich grundsätzlich auf punkt in Frankreich auf der Schule, die Pra- Französisch. Dass die Sprache zumindest xisphase erfolgt als Praktikum im Block. „Da verstanden werde, sei eine Voraussetzung werden die Azubis ins kalte Wasser gewor- für die Einstellung, sagt Yves Debruyne, Vor- fen“, sagt die Elsässerin. Auch ihr Ausbilder, stellungsgespräche würden auf Deutsch und Yves Debruyne, hat diese Erfahrung mit auf Französisch geführt. französischen Praktikanten gemacht. 2012 absolvierte ein Austauschschüler sein Prak- Auch wenn sie ihre Ausbildung abgeschlos- tikum in der rund 100 Mitarbeiter starken sen hat, möchte Cyrielle Matterer nach Niederlassung in Auenheim. „Er wusste zwar, Möglichkeit weiterhin in Auenheim arbei- was ich meine, wenn ich ihm einen Auftrag ten. Sie hängt an der Grenzregion, in der gegeben habe, aber er hatte Schwierigkei- sie aufgewachsen ist und „in der man die Amine fand nach der Schule ten es umzusetzen. Das waren Welten im Vorteile beider Länder nutzen kann“. Sollte in Straßburg weder Job noch Vergleich zu unseren Azubis“, sagt er. Was sie irgendwann doch wieder in Frankreich Ausbildungsplatz: Jetzt ist er den Wechsel zwischen Schule und Betrieb arbeiten wollen, seien ihre Chancen auf ei- glücklich, dass er bei der BAG ein betrifft, halte er die deutsche Variante für nen dortigen Arbeitsplatz inzwischen wie- Einstiegsqualifizierungsprakti- die geschicktere: „Man kann besser mit den der gestiegen, glaubt sie. „Die Ausbildung kum absolvieren kann, das ihm Azubis planen und der Stoff bleibt ihnen in in Deutschland hat in Frankreich einen sehr die Chance auf eine Ausbildung Erinnerung, wenn nicht so lange Pause zwi- guten Ruf.“ Ihr Ausbilder Yves Debruyne ist zum Facharbeiter eröffnet. schen Theorie und Praxis ist.“ ebenfalls davon überzeugt, dass sie keine Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben wird: Bei der Nagel Albatros Speditions GmbH ist „Unser Ziel ist es, Lehrlinge so auszubilden, Cyrielle nicht die einzige Französin. „Für die dass sie nach drei Jahren loslegen können grenzüberschreitenden Geschäfte ist es im- ohne den Gedanken ‚Schaffe ich das auch?‘ mer wichtig, Mitarbeiter zu haben, die ande- – und zwar sowohl in Deutschland als auch re Sprachen sprechen“, sagt Yves Debruyne in Frankreich.“

Um der Jugendarbeitslosigkeit auf der französischen Rheinseite ebenso zu begegnen wie dem Fachkräftemangel auf der deutschen, startet die BAG (BSW Anlagenbau und Ausbildung GmbH) im Juli ein Projekt, bei dem junge arbeitslose Franzosen über ein Einstiegsqualifizierungspraktikum die Chance bekommen, in ein festes Ausbildungs- verhältnis übernommen zu werden.

Warum sich französische Jugendliche nicht so einfach exportieren lassen

„Noch“, sagt Bernd Wiegele, „noch haben wir der BAG-Geschäftsführer, warum sich das genügend Bewerbungen in allen Bereichen“. Unternehmen auch um Auszubildende von Die Badischen Stahlwerke und ihre Anlagen- der anderen Rheinseite bemüht. Sechs jun- bau und Ausbildung GmbH (BAG) profitieren ge Franzosen haben im Juli ein zweitägiges von ihrem guten Ruf in der Region. „Trotzdem Schnupperpraktikum absolviert und sind im wollen wir schon jetzt etwas tun“, erklärt Oktober für ein Einstiegsqualifizierungsprak- >> tikum zurückgekehrt, das voraussichtlich ihrer Muttersprache ablegen können“, meint 91 bis Juli 2014 dauern wird. Ziel ist es, dass sie er. So wie man auch die theoretische Führer- anschließend eine dreieinhalbjährige gestuf- scheinprüfung beispielsweise in Türkisch ma- te Ausbildung bis zur Fachkraft für Metall- chen kann. Dass sich hier etwas ändert, dafür technik oder zum Facharbeiter durchlaufen. will er sich einsetzen. „Dann wäre eine riesige Während dieser Zeit sind sie verpflichtet, an Hürde weg.“ einem sozialpädagogischen Betreuungspro- gramm und an Stützunterricht teilzunehmen Die sechs jungen Männer mussten erst wie- – in ihrer Freizeit. der lernen, sich an Regeln zu gewöhnen. Zum Beispiel daran, pünktlich am Arbeitsplatz ein- Amine (19), Mahmut (17), Dejvid (23), Pierre zutreffen. Während einer schon eineinhalb (18), Kévin (21) und Romain (20) haben nach Stunden vor Arbeitsbeginn im Auto auf dem dem Collège keinen Ausbildungsplatz und Parkplatz wartete – vor lauter Angst, zu spät keinen Job gefunden, waren arbeitslos. Sie zu kommen –, hatten andere das Problem, kommen alle aus Straßburger Stadtvierteln, dass sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln die im Ruf stehen, sozial schwierig zu sein – zwar bis zum Kehler Bahnhof, nicht aber bis da ist die Adresse schon das erste Hindernis zur BAG in die Weststraße gelangen. Die jun- bei einer Bewerbung. Trotzdem war es schwer, gen Leute oder ihre Familien verfügten nicht berichtet Aurore Wenger von der Maison über ausreichend Geld, um sich ein Fahrrad de l’Emploi (Arbeitsagentur) in Straßburg, leisten zu können. Deshalb hat die Région Al- die Jungs als Kandidaten zu gewinnen. Das sace den Jungs die Räder gekauft – die Hälf- Projekt, das von der Maison de l‘Emploi zu- te des Kaufpreises wird ihnen in Raten vom sammen mit der BAG, der Bundesagentur Praktikantenlohn abgezogen, den sie wäh- für Arbeit, der Stadtgemeinschaft Straßburg, rend des Einstiegsqualifizierungspraktikums der Mission Locale, der Région und bekommen. unterstützt von EU-Mitteln entwickelt wur- de, heißt REVE – Traum. Ob sich der Traum „Mir gefällt es sehr gut hier“, sagt Amine und von der abgeschlossenen Berufsausbildung strahlt. „Wir machen hier richtige Arbeit und Zahlreiche Partner und ein Jahr und einem Arbeitsplatz im Anschluss erfüllt, alle sind nett zu uns. Die machen uns nicht so Vorbereitungszeit waren not- „werden wir erst 2018 wissen“, sagt Bernd einen Druck.“ Von sich aus wäre weder Ami- wendig, bis Pierre und Romain Wiegele. „Aber man muss mal anfangen, um ne noch Kévin auf die Idee gekommen, sich in die Arbeitskleidung der BAG der Region zeigen zu können, es funktioniert auf der deutschen Rheinseite nach einem schlüpfen durften. so – oder auch nicht.“ Arbeitsplatz umzuschauen – über die Berater von der Mission Locale in ihrem Stadtviertel Viereinhalb Jahre wird es dauern, bis wurden sie auf das Projekt aufmerksam ge- die jungen Männer den Facharbeiter- macht. Während Kévin schon etwas Deutsch Abschluss in der Tasche haben. kann, muss Amine die Sprache von Grund auf Könnten sie besser Deutsch, lernen. Sechs Wochen Deutsch-Kompaktkurs könnten sie dem Unter- haben die sechs Jugendlichen bereits hinter richt in den Beruflichen sich, bis zum Ende ihrer Ausbildung bekommen Schulen in Kehl fol- sie weiterhin wöchentlich Deutsch-Stunden gen, würde ein Jahr – „anwendungsbezogen“, sagt Bernd Wiege- eingespart. Bernd le, und finanziert von der Région Alsace. In Wiegele versteht der Werkstatt haben die Ausbilder Fotos von nicht wirklich, wa- den wichtigsten Werkzeugen mit der deut- rum das so sein schen Bezeichnung darunter aufgehängt. muss: „Es müsste doch möglich sein, „Für die Jugendlichen war der Gedanke, in dass diese Jugendli- Deutschland zu arbeiten, beängstigend“, chen ihre Prüfung in weiß Vincent Horvat von der Maison de >> l’Emploi. Weder die Sprache, noch das Sys- land geht, hat er zwar einen Job aber keine 92 tem zu kennen, nicht wirklich zu wissen, wo- Aufstiegschancen.“ rauf sie sich einlassen, mit administrativen Problemen konfrontiert zu sein, wie zum Bei- „Eigentlich müsste es einen kulturellen Vor- spiel dem, dass man ein Konto bei einer deut- spann geben“, findet auch Bernd Wiegele, schen Bank benötigt – „das war alles nicht so eine Möglichkeit für die Jugendlichen, mehr einfach“. Doch das Versprechen, dass sie bei über Deutschland und die Gepflogenheiten der BAG nicht nur eine Ausbildung machen auf der anderen Rheinseite zu erfahren. Auch können, sondern, wenn sie diese mit guten Er- für ihn ist manche Erfahrung neu: „Die Jungs gebnissen abschließen, auch Aussicht auf ei- stehen auf, wenn der Chef reinkommt“, hat nen unbefristeten Arbeitsvertrag haben, hat er festgestellt, und wundern sich, wenn er an die Jungs im Projekt REVE wirklich träumen der Werkbank „einfach so“ mit ihnen spricht. lassen. „Für uns ist das eine große Chance“, sind sich Kévin und Amine einig. Wenn alles Dazu kommt, dass die betriebliche Ausbildung, gut läuft, könnte im September eine weite- der Lehrberuf im Allgemeinen, in Frankreich re Gruppe von französischen Jugendlichen ein schlechtes Ansehen genießt, was selbst el- ein Einstiegsqualifizierungspraktikum nach sässische Politiker wie Regionalrats­präsident Mahmut und Dejvid gehören zu gleichem Muster beginnen – Vincent Horvat Philippe Richert bedauern. Michaël Schmidt, den sechs Straßburger Jugend- und Bernd Wiegele arbeiten daran. Auf jeden Straßburger Gemeinderat zuständig für grenz- lichen, die über das Projekt Fall wird jede Phase, welche die sechs Jungs überschreitende Zusammenarbeit, berichtet REVE zu den BAG kamen. Den durchlaufen, genau evaluiert. „Vielleicht von Inhabern florierender Handwerksbetriebe Deutschkurs für die jungen Män- kann man das als Modell weitertragen“, hofft im Elsass, die trotz hoher Arbeitslosigkeit im ner finanziert die Région Alsace. Bernd Wiegele, vielleicht kann es ein Modell eigenen Land keinen Nachfolger finden. „Die für andere Betriebe, ja für den gesamten Jungen lassen sich lieber von einem Wach- Oberrhein werden. dienst anstellen, als eine Ausbildung in einem Die wichtigsten Werkzeuge Beruf zu beginnen, bei der sie sich die Hände haben die Ausbilder fotografiert Ein Jahr intensiver Vorbereitung hat es be- schmutzig machen.“ und mit ihren deutschen Namen durft, bis die erste Gruppe starten konnte. an die Pinnwand geheftet. Erfahrungen, die zeigen, wie viele Hürden Über viele Jahre hinweg hat sich die franzö- zu überwinden sind, bis französische Ju- sische Regierung bemüht, mög- gendliche eine Ausbildung in Deutschland lichst viele Schü- beginnen können. 23 Prozent arbeitslose lerinnen und Jugendliche im Elsass, Betriebe, die keine Schüler bis zum oder nicht genügend Auszubildende finden Abitur (auch zum in Baden – warum die Gleichung nicht auf- berufsbezogenen) geht, liegt für Jean-Claude Haller von der zu führen. Inzwi- Straßburger Industrie- und Handelskammer schen schließen 80 auf der Hand: Für elsässische Jugendliche ist Prozent jedes Jahr- Deutschland „Volksmusik, dm, Bierfest, Kehl gangs ihre schu- und vielleicht noch Offenburg“, sagt er beim lische Ausbildung Eurodistrikt-Forum über Zweisprachigkeit mit der Reifeprü- und berufliche Ausbildung am 5. November. fung ab – bevorzu- Wer elsässische Jugendliche für eine Ausbil- gen die „formation dung auf der deutschen Rheinseite gewinnen d’excellence“ gegen- wolle, müsse die Eltern sensibilisieren – deren über einer klassischen Deutschland-Bild sei jedoch in den 1970er- Lehre. Nur 25 Prozent und 1980er-Jahren verhaftet. Den elsässi- der elsässischen Ju- schen Grenzgänger sähen sie immer noch als gendlichen lassen sich Fließband- oder Hilfsarbeiter. Die Eltern sag- noch für Lehrberufe ten sich: „Wenn mein Junger nach Deutsch- begeistern. >> Hochschule Kehl 93 Über das Wirtschaftsrecht, das Verfassungsrecht und sogar das Kommunalrecht hat das Europarecht Einzug gehalten in die Vorlesungen an der Kehler Hochschule für Ver- waltung. „Die Hochschule bildet in Sachen Europa aus und fort“, sagt Professor Gert Fieguth und verweist auf das Wahlpflichtfach Europa. Hieraus könnte sich ein Berufs- feld für die Hochschulabsolventen entwickeln: Immer mehr große Kreisstädte stellen Europa-Beauftragte ein. Zusammen mit der Universität Straßburg hat die Hochschule Kehl multinationale Seminare entwickelt, die Studierende aus verschiedenen Ländern mit Bezug zur Verwaltung zusammenbringen – auch mit Studenten aus Großbritanni- en, Togo und Schweden.

„Stark internationales Studienangebot“ an der Kehler Hochschule

Grenzüberschreitende Projekte und gemeinsa- zum anderen versprechen sich die beiden me Exkursionen, Auslandsaufenthalte, Pflicht­ kooperierenden Hochschulen einen Syner- module an der Straßburger Universität und seit gie-Effekt. Die Universität Straßburg ist eine 2012 ein gemeinsamer Studiengang mit dem der größten Universitäten Frankreichs mit Straßburger ITI-RI (Institut für Dolmetscher, Exzellenz-Status. Die Unterrichtsmethoden Übersetzer und internationale Beziehungen): an der französischen Universität bieten eine Wer an der Kehler Hochschule für Verwaltung hohe Qualität an theoretischem Wissen, wäh- studiert, hat viele Möglichkeiten, die Koope- rend wiederum die Hochschule Kehl bekannt rationen mit der Hochschul- dafür ist, eine hervorragende landschaft auf der anderen Ausbildung im Verwaltungs- Rheinseite für sich zu nutzen. bereich mit einem markanten Teil an Berufspraxis zu leisten. Die engste Zusammenarbeit besteht im Master-Studien­ Derzeit stehen die Chancen gang „Management von für die zukünftigen Absol- Clustern und regionalen venten, später eine Arbeits- Netzwerken“ der Kehler Hoch- stelle zu finden, sehr gut, ist schule und des Straßburger Professor Hansjörg Drewello ITI-RI. Derzeit sind zehn Stu- überzeugt. Die Qualifika­tion, denten in dem im September über die die Studierenden 2012 angelaufenen Studien- nach dem Abschluss verfü- gang eingeschrieben, etwa Professor Drewello gen, eröffne ihnen gleich in zur Hälfte Deutsche, zur Hälf- mehreren Ländern Zugang te Franzosen. Die meisten kommen aus Fa- zum Arbeitsmarkt. Beispielsweise könnten milien mit sowohl deutschem als auch fran- sie dazu eingesetzt werden, Netzwerke in zösischem Elternteil. Die Entscheidung, aus öffentlich-privater Kooperation zu gestal- dem Studiengang eine grenzüberschreitende ten und zu verwalten. Dem zugute komme Kooperation zu machen, habe gleich meh- der hohe internationale Bedarf an Cluster- rere Gründe gehabt, wie Professor Hansjörg Managern, was sich bereits heute im Prakti- Drewello, Studiendekan und Verantwortlicher kumsangebot für das vierte Semester nieder- des grenzüberschreitenden Studiengangs auf schlägt. „Unternehmensnetzwerke bis hoch deutscher Seite, sagt: Zum einen sei der Be- nach Rotterdam bieten unseren Studenten darf an grenzüberschreitenden Netzwerken solche Plätze an, um sich den eigenen Nach- seit der Grenzöffnung immens gestiegen, wuchs zu ziehen“, erzählt der Studiendekan. >> Einen weiteren Master-Studiengang mit immer gut besucht, hinzu komme ein großes grenz­übergreifender Ausrichtung – „Euro­ Angebot an Exkursionen nach Straßburg so- 94 pean Administration“ – bietet die Kehler wie das mittlerweile stark internationale Stu- Hochschule bereits seit mehreren Jahren dienangebot, sagt der Studiengangleiter. an. Die Studenten besuchen unter anderem Pflichtmodule wie „European Public Policy“ Geht es nach Professor Hansjörg Drewello, an der Universität Straßburg und darüber so wird die Zusammenarbeit mit Straßburg hinaus auch freiwillige Veranstaltungen, fortgesetzt und ausgebaut: „Grenzüber- beispielsweise vergleichende Verwaltungs- schreitende Kooperationen sind immer loh- rechtswissenschaften, die auf der anderen nenswert, gerade im Hinblick auf die konflikt­ Rheinseite angeboten werden. reiche Vergangenheit, die wir in Europa im vergangenen Jahrhundert hatten.“ Derzeit Außerdem gibt es an der 1971 gegründeten seien die Kehler und Straßburger Hochschu- Kehler Hochschule, an der derzeit 1020 Stu- len dabei, gemeinsam mit der Westschweiz dierende eingeschrieben sind, die Möglichkeit, ein Forschungszentrum für Clustermanage- während des Studiums eine gewisse Zeit im ment aufzubauen. Ziel dieser Forschungs- Der französische Arbeitsminister Ausland zu verbringen, beispielsweise um ein gruppe soll die wirtschaftliche und politische Michel Sapin und seine deutsche dreimonatiges Praktikum zu machen. Dem Vernetzung der Oberrheinregion sein, damit Kollegin Ursula von der Leyen Studierenden entstehen dadurch keine zeitli- auch einzelne Unternehmen von einem kommen extra nach Kehl, um chen Nachteile, da die Praktikumszeit im Aus- Synergie-Effekt profitieren können. Denn die Servicestelle für deutsch- land auf den regulären Praxisblock angerech- gerade auf internationaler Ebene sei das Bil- französische Arbeitsvermittlung net wird. Finanzielle Unterstützung können den wirtschaftlicher Netzwerke noch sehr zu eröffnen. die Studenten in Form von Erasmus-Förder- schwierig und gehe nur schleppend voran, geldern über die Europäische Union erhalten. meint der Studiendekan, der die Nähe zu Straßburg sehr schätzt, insbesondere was den Hinzu kommen einige Projekte an Hoch- französischen Einfluss auf die Gestaltung der schulen in Straßburg, die für alle Kehler Stu- Hochschule Kehl angeht. „Sie ist ein interes- dierenden geöffnet sind. So bietet das IEP santer Mehrwert, der genutzt werden muss.“ Strasbourg (Institut für Politikwissenschaften) Projekte zu Fragen des grenzüberschreiten- So ist bereits ein weiterer Master-Studien- den Verkehrs und Transports in der Oberrhein- gang an der Kehler Hochschule genehmigt, region an, das ITI-RI veranstaltet UN-Simula- der die grenzüberschreitende Kooperation tionen für Studierende beiderseits des Rheins. im Titel trägt: Der Master „Governance und Darüber hinaus finden regelmäßig gemeinsa- Nachhaltigkeit in der Entwicklungszusam- me Studien­fahrten der Universität Straßburg menarbeit und der grenzüberschreitenden und der Hochschule Kehl zum Beispiel nach Kooperation“ ist als Fernstudium konzipiert Brüssel statt. Durch diese Kooperationen und soll voraussichtlich 2014 anlaufen. kommen die deutschen und französischen Studierenden Die Kehler Hochschule für miteinander und der jeweils Verwaltung bietet ihren Studie- anderen Kultur in Kontakt. Für renden viele Möglichkeiten, die Professor Hansjörg Drewello Kooperationen mit der Hoch- ist dies besonders wichtig: Er schullandschaft auf der Straß- stellt unter den Studierenden burger Rheinseite zu nutzen. von beiden Rheinseiten noch einige Berührungsängste fest. Die Hochschule arbeite des- halb daran, diese Ängste ste- tig abzubauen. Die angebo- tenen Französischkurse seien >> Grenzüberschreitende Fortbildung

Die grenzüberschreitende Fortbildung – vor allem von Mitarbeitern von Gebietskörper- 95 schaften, Behörden und anderen staatlichen Einrichtungen am Oberrhein ist die Haupt- aufgabe des 1993 gegründeten Euro-Instituts, das von deutschen und französischen Partnern getragen wird. Durch unzählige Fortbildungsveranstaltungen hat das Euro- Institut in den vergangenen 20 Jahren dazu beigetragen, dass sowohl die politischen Akteure als auch die Praktiker der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den Ver- waltungen Vorurteile ab- und bikulturelles Verständnis aufbauen konnten. Durch seine Kompetenz in der Wissensvermittlung über die Strukturen in beiden Ländern, der Organi- sation und Moderation bikultureller Veranstaltungen sowie in der Erarbeitung zahlreicher Studien auf diesem Gebiet genießt das Euro-Institut heute europaweit großes Ansehen in europäischen Netzwerken und anderen Grenzregionen. Kooperationen bestehen auch mit dem Europarat, dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission.

Schon sehr früh hat das Euro-Institut durch maßgeschneiderte Seminarangebote die Ko- operation zwischen deutschen und französischen Partnern erleichtert: So war das Semi- nar über die außerschulische Kinderbetreuung in beiden Ländern die Grundlage für den Austausch der Erzieher zwischen Kindertageseinrichtungen in Kehl und Illkirch-Graffen- staden. Mit Seminaren über Kulturpolitik und grenzüberschreitende Kulturpro- jekte sowie über die Gesundheitssysteme in Frankreich und Deutschland hat das Euro-Institut dazu beigetragen, den Weg für die Zusammenarbeit in diesen Bereichen vorzubereiten – um nur einige Beispiele zu nennen. Mit inzwischen etwa 150 Fortbildungs- und mehr als 270 Beratungstagen pro Jahr stößt das Euro-Institut mit seinen 13 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich zwölf Vollzeitstellen teilen, an seine Kapazitätsgrenzen.

Während die Nachfrage nach Fortbildung bei Behörden und öffentlichen Einrichtungen ungebrochen hoch ist, läuft die Kooperation der Volkshochschule zwischen Kehl und Straßburg eher auf Sparflamme: Zwar werden Dozenten und Kursideen ausgetauscht und gegenseitig die Programme ausgelegt – gemeinsame Projekte gibt es jedoch derzeit keine.

Arbeitsleben

420 000 sozialversicherte Beschäftigte gibt es in der Ortenau und im Bezirk von Pôle de l’Emploi Straßburg, 150 000 davon auf der deutschen Rheinseite. Während die Arbeitslo- senquote im Großraum Straßburg mehr als doppelt so hoch ist wie in der Ortenau, fehlen in deutschen Unternehmen vielfach Fachkräfte. 63 000 Grenzgänger gibt es im Elsass, dennoch geht ihre Zahl stetig zurück: In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Arbeitnehmer aus dem Elsass in badischen Betrieben um 18 Prozent gesunken – obwohl der grenzüberschreitende Alltag leichter geworden ist. Fachleute auf beiden Rheinseiten gehen davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzt: Der Großteil der in den deutschen Be- trieben verbliebenen Grenzgänger ist zwischen 40 und 60 Jahre alt; der Nachwuchs bleibt aus. In der Vergangenheit haben zahlreiche Grenzgänger in der industriellen Produktion gearbeitet, wo ein hohes Sprachniveau nicht gefordert war. Heute suchen die deutschen Betriebe Fachkräfte in Bereichen, in denen sehr gute Sprachkenntnisse unverzichtbar sind. Die 2013 eingerichtete Servicestelle für deutsch-französische Arbeitsvermittlung sowie 15 Beraterinnen und Berater aus den Arbeitsverwaltungen und von den Sozialpartnern, die seit vielen Jahren am trinationalen Netzwerk Eures-T Oberrhein mitwirken, beraten >> Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Suche nach Arbeitskräften oder Arbeitsplätzen. Die Eures-T-Berater geben darüber hinaus Auskunft über den Arbeitsmarkt, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in beiden Ländern, beantworten Fragen zur Sozialversicherung 96 oder zum Arbeits- und Steuerrecht und ergänzen dabei den Service, den die Grenzgän- ger-Beratungsstelle INFOBEST bietet. Beraten können jedoch alle grenzüberschreiten- den Einrichtungen nur auf der Basis der bestehenden Rechtslage – und hier hemmen jahrzehntealte Abkommen die grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitnehmer oder erschweren den grenzüberschreitenden Arbeitsalltag.

Gegen Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel: Anne François Die deutsch-französische Arbeitsvermittlung

Franzosen, die sich vorstellen können, in Rheinseite“, erläutert Horst Sahrbacher. Eine Deutschland zu arbeiten, Deutsche, die be- Steue­rungsfunktion sollen die Arbeitsver- reit sind, auch in Frankreich zu arbeiten – das mittler dabei bewusst nicht übernehmen. sind die Kunden der ersten Servicestelle Eu- ropas für grenzüberschreitende Arbeits- „Die Profile sind ganz unterschiedlich, es vermittlung, die im Februar 2013 feierlich kommen sowohl Handwerker, Verkäu- von Bundesarbeitsministerin Ursula von der fer als auch Manager zu uns“, erklärt Leyen und dem französischen Arbeitsminis- Anne François, die für die französi­sche ter Michel Sapin in den Räumen der Arbeits- Arbeitsagentur Pôle de l’Emploi agentur Kehl eingeweiht wurde. Täglich set- in der Arbeitsvermittlungsstelle zen sich zwei deutsche und zwei französische arbeitet, „und sie kommen von Mitarbeiter mit Arbeitnehmerprofilen und überall aus dem Grenzgebiet, Stellenangeboten von beiden Rheinseiten auseinander. Nach 200 Tagen betreuten sie bereits 230 Arbeitssuchende und hatten 121 Menschen wieder zu Arbeit verholfen, 78 auf der deutschen Rheinseite, 36 auf der fran- zösischen und den Übrigen in der Schweiz, in Luxemburg und in Italien. 41 Arbeitssu- chende hatte die Servicestelle direkt und erfolgreich bei neuen Arbeitgebern platziert. Ziel der deutsch-französischen Servicestelle ist es, Menschen in Arbeit zu bringen. Ganz egal, ob es sich um deutsche oder französi- sche Arbeitssuchende handelt, wird versucht, sie in der Region Straßburg/Ortenau zu ver- mitteln, stellt Horst Sahrbacher, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Offenburg, klar. „Wir zeigen die Möglichkei- ten auf der deutschen Seite auf, aber auch im Elsass.“ Die Arbeitsvermittler müssen dafür den Arbeitsmarkt auf beiden Rheinsei- ten kennen. Sie müssen nicht nur die Funk- tionsweise verstehen, sondern auch wissen, „was macht der Industriemechaniker auf der deutschen und was auf der französischen >> um nach einem Job zu suchen“. Die meisten umkehren: „In den nächsten 15 Jahren wer- hätten aus den Medien von der neuen Service- den knapp 23 Prozent der Beschäftigten im stelle erfahren und sich direkt gemeldet, weitere Ortenaukreis in den Ruhestand gehen“, weiß Arbeitssuchende hätten über andere Arbeits- Horst Sahrbacher, gleichzeitig sinke die Zahl 97 vermittlungsstellen aus der Region den Weg der jungen Menschen, die eine Ausbildung nach Kehl gefunden, erklärt Elke Phillips, die beginnen, ebenfalls um 30 Prozent. Im Elsass als deutsche Mitarbeiterin bei der grenzüber- nehme zwar die Zahl der älteren Menschen schreitenden Vermittlungsstelle beschäftigt ist. ebenfalls zu, dafür betrage der Anteil der jungen Menschen an der Gesamtbevölke- Die deutschen Mitarbeiter sind bei der Arbeits- rung aber 33 Prozent, im Vergleich zu 26 Pro- Elke Phillips agentur angestellt, die französischen bei Pôle zent im Ortenaukreis. Für den Arbeitsmarkt de l’Emploi. „Hier arbeiten zwei autonome bedeute dies, dass auf der französischen staatliche Institutionen zusammen“, macht Rhein­seite ein ausreichendes Angebot an Ar- Horst Sahrbacher deutlich, „wir bieten einen beitskräften vorhanden sein werde, auf der gemeinsamen Service unter Wahrung aller deutschen Rheinseite kündige sich der Man- nationalen rechtlichen Vorschriften“. Weil die gel bereits an. EDV-Systeme nicht kompatibel sind, müssen die Arbeitsvermittler die Bewerber in beiden Um die Erwartungen der Arbeitnehmer und Systemen erfassen, alle Beratungsvermerke Arbeitgeber aus dem Nachbarland besser ver- und alle Abmeldungen doppelt eingeben. „Je- stehen zu können, haben die zwei deutschen der Vermittler hat zwei PC auf dem Schreib- und zwei französischen Arbeitsvermittler tisch stehen“, bedauert Horst Sahrbacher an einem interkulturellen Training des Euro- und setzt eine gemeinsame Datenbank ganz Instituts teilgenommen. Unterschiede zwi- oben auf die Wunschliste. Dass die deutschen schen der deutschen und der französischen Mitarbeiter 41 Stunden pro Woche arbeiten, Arbeitswelt gibt es nämlich zuhauf. Schon die die französischen Kollegen 35 und die Feier- Bewerbungsunterlagen haben in beiden Sys- tage nicht alle deckungsgleich sind, sind im temen verschieden auszusehen: Ein ausführ- Vergleich dazu vernachlässigbare Probleme. liches Arbeitszeugnis gibt es zum Beispiel in Frankreich nicht. Die Chance eines Kandida- Seit dem Start des Services für grenzüber- ten, ohne Arbeitszeugnis einen Job zu finden, schreitende Arbeitsvermittlung Strasbourg/ ist in Deutschland jedoch eher gering. „Des- Ortenau im Februar 2013 konnten die deut- halb ist es sehr wichtig, die deutschen Arbeit- schen und französischen Mitarbeiter statis- geber über die französische Vorgehensweise tisch betrachtet an jedem zweiten Tag einem zu informieren“, erklärt Anne François. Auch Arbeitssuchenden einen Job verschaffen. Bewerbungsfotos sind in Frankreich nicht üb- Ferner werden im Durchschnitt rund 230 lich: „Wenn man französische Arbeitnehmer Bewerber umfassend beraten. Eine deutliche nach einem Bewerbungsfoto fragt, kommen Mehrheit der Arbeitnehmer stammt dabei aus sie oft mit einem Passfoto oder einem ausge- Frankreich. Während die Arbeitslosenquote schnittenen Ferienfoto wieder“, berichtet Elke im Elsass 2012 bei etwa 9,5 – in Straßburg bei Phillips lächelnd. „Dann raten wir ihnen, bei 10,6 – Prozent lag, betrug sie in der Ortenau einem Fotografen in Deutschland ein profes- um die vier Prozent. Außerdem arbeiten seit sionelles Bewerbungsfoto machen zu lassen.“ Jahren mehr Elsässer in Baden als Badener im Elsass: Während aus Frankreich 23 000 Einmal vermittelt, ist der Kulturschock für die Arbeitnehmer täglich auf die deutsche Rhein- französischen Arbeitnehmer in der deutschen In den Räumen der Bundes­ seite pendeln, sind es nur rund 300 Badener, Arbeitswelt nicht mehr allzu groß: Dank eines agentur für Arbeit ist seit Februar die ihren Arbeitsplatz im Elsass haben. von Pôle de l’Emploi organisierten „Ortenau- die Servicestelle für deutsch- Workshops“ wissen sie schon vor Arbeits- französische Arbeitsvermittlung Im Moment sieht es nicht danach aus, als beginn in etwa, was auf sie zukommt. „Viele untergebracht. könnte sich das Verhältnis in naher Zukunft haben auch schon vorher Arbeitserfahrung >> in Deutschland gesammelt“, berichtet Anne takt – per Telefon, E-Mail oder im persönlichen François. Sprachlich gebe es allerdings manch- Gespräch. Da die zu betreuende Arbeitneh- mal Schwierigkeiten, denn selbst wenn das nö- merzahl im Vergleich zu einer normalen Ar- tige Sprachniveau von dem gesuchten Job ab- beitsvermittlungsstelle niedriger ist, haben 98 hänge, sei eine solide sprachliche Grundlage die deutschen und französischen Vermittler auf jeden Fall notwendig. Wer beide Sprachen die Möglichkeit, den einzelnen Bewerbern in- fließend beherrscht, habe einen großen Vorteil: dividuell mehr Zeit zu widmen. „Der Kontakt „Das macht einen Kandidaten in der Grenzre- zu den Menschen ist direkter und intensiver“, gion sehr attraktiv“, sagt Anne François, viele sagt Vermittlerin Elke Phillips. Außerdem Unternehmen aus verschiedenen Bereichen habe die Arbeit in der deutsch-französischen seien an solchen Bewerbern interessiert. Servicestelle einen weiteren, entscheidenden Vorteil, meint ihre Kollegin Anne François: „Die Mit den registrierten Arbeitssuchenden hal- Motivation der grenzüberschreitenden Kandi- ten die Vermittler regelmäßig direkten Kon- daten ist riesengroß.“

Ein Gewinn für beide Seiten: Ein junger Straßburger lernt in Kittersburg Klaus Egg (rechts) beschäftigt in seiner Firma in Kittersburg be- Ein Kehler Unternehmen, das die Vorteile 50 Prozent des Arbeitnehmerbruttoge- reits seit 1987 Elsässer. Seit Juli des grenzüberschreitenden Arbeitsmark- halts sowie die Lehrgangskosten erstattet. zählt auch Gaetan Kuhn dazu. tes in der Region sehr schätzt, ist die auf Im Gegenzug bietet das Unternehmen dem Sanitär- und Heizungsanlagen sowie er- Arbeitnehmer einen unbefristeten Arbeits- neuerbare Energien spezialisierte Firma vertrag. „Wir haben Schwierigkeiten, qua- Egg in Kittersburg: Drei ihrer elf Mitar- lifizierte Fachkräfte zu finden und drüben beiter kommen aus dem Elsass. „Wir sind stehen die Jugendlichen ohne Ausbildung viel in Frankreich beschäftigt“, sagt Ge- da“, sagt Klaus Egg, „deshalb ist dieses schäftsführer Klaus Egg, „deshalb haben Programm für beide Seiten sinnvoll“. wir schon 1987 erstmals Elsässer einge- stellt“. Bei seinen Mitarbeitern lege er Wert Gaetan Kuhn, der in Straßburg wohnt, auf „das Menschliche, Ehrlichkeit, Zuver- kann sich noch entscheiden, ob er sich bei lässigkeit, Arbeitswille“ – die Nationalität der Ausbildung zum Anlagenmechaniker hingegen spiele keine Rolle. Aufgrund sei- in Kittersburg auf den Bereich Sanitär- ner guten Erfahrungen hat der Firmenchef und Heizungstechnik oder erneuerbare im Juli einen weiteren jungen Franzosen Energien spezialisieren will, beide Möglich- eingestellt, den die Kehler Servicestelle für keiten bietet ihm die Firma Egg. Sprachlich grenzüberschreitende Arbeitsvermittlung sei er froh, im Betrieb hauptsächlich an zu ihren erfolgreich vermittelten Arbeit- der Seite eines französischen Kollegen zu nehmern zählt. arbeiten, sagt er: „Das ist learning by do- ing.“ Deutsche Fachbegriffe lerne er nach Der 19-jährige Gaetan Kuhn nimmt an ei- und nach – was er nicht versteht, überset- nem Programm der AFPA Alsace teil, dem zen die anderen Mitarbeiter für ihn. Auch Verband für berufliche Erwachsenenbil- habe er festgestellt, dass in Deutschland dung im Elsass. Dabei erwerben junge manche Arbeiten anders ausgeführt wer- Elsässer den französischen Elektriker- den: „Das ist alles sehr genau, jedes Detail Abschluss und absolvieren anschließend ist wichtig“, meint Gaetan Kuhn, und sein in einem deutschen Betrieb sowie bei der Chef fügt ein erklärendes Beispiel hinzu: Berufsschule und der Gewerbeakademie „Auf gerade verlaufende Rohrführungen in Offenburg eine duale Ausbildung. Dem wird in Frankreich nicht unbedingt Wert Ausbildungsbetrieb werden vom Partner gelegt, schräge Anschlüsse kommen bei der AFPA, der Bundesagentur für Arbeit, uns hingegen gar nicht in Frage.“ >> BSW: Langfristige Personalplanung auch über die Landesgrenze hinaus

Die Badischen Stahlwerke (BSW) kooperieren zu finden – ein Umstand, den Michel Hamy, 99 mit Schulen in Straßburg und finanzieren eine Technischer Geschäftsführer bei den BSW und private Ingenieursschule mit. Das Unterneh- selber Grenzgänger, „sehr, sehr traurig“ findet. men und seine Anlagenbau und Ausbildung GmbH (BAG) In Deutschland gebe es einen stellen sich auf den Berufs- hohen Bedarf an Fachkräften bildungsmessen in Straßburg und Ingenieuren, in Frank- und Colmar vor; wenn Fach- reich eine hohe Arbeitslosig- kräfte gesucht werden, schal- keit, „aber das Elsass ist nicht ten die BSW auch Anzeigen in vorbereitet“. Ohne Deutsch- französischen Zeitungen. Al- Kenntnisse „haben Sie in lerdings in deutscher Sprache. Mittelstands-Firmen keine Chance“, weiß Michel Hamy Fachkräfte, vor allem Inge- auch von Geschäftsführern nieure, sind Mangelware anderer deutscher Unterneh- in Deutschland, doch Min- Michel Hamy men. Das Elsass und Baden destkenntnisse in Deutsch „werden nicht als gemeinsa- sind unverzichtbar, weiß Personalchef Tors- me Wirtschaftsr­egion gesehen“, bedauert ten Berger aus Erfahrung. Menschen aus Bernd Wiegele, Geschäftsführer der BAG. 18 Nationen arbeiten bei den BSW – einige „Wir wissen zu wenig voneinander.“ davon haben einen Teil ihres Studiums an ei- ner deutschen Universität absolviert. 1989 Der Versuch, eine deutsch-französische Meis- gehörten 110 Grenzgänger aus dem Elsass terausbildung zu installieren, ist mehr oder zur Stammbelegschaft der BSW, heute sind weniger an den Unterschieden im System ge- Wenn die Badischen Stahlwerke es noch 70 von insgesamt mehr als 850 Mit- scheitert. Französischen Jugendlichen, die in Fachkräfte suchen, schaltet das arbeitern, sagt Torsten Berger. Ein Gutteil der Frankreich auf dem beruflichen Gymnasium Unternehmen auch Anzeigen auf Grenzgänger ist bereits in Rente gegangen, ihr Fachabitur gemacht hatten, „war es schwer der französischen Rheinseite – bei anderen steht der Ruhestand kurz bevor. zu vermitteln, dass sie in Deutschland wieder allerdings in deutscher Sprache. „Da waren viele Meister dabei.“ Heute sind in die Berufsschule müssen“, hat Bernd Wie- die Grenzgänger eher unter den Hilfskräften gele festgestellt. Einer von zehn Teilnehmern hat es am Ende zum Meister geschafft. „Das deutsche System der dualen Ausbildung ist perfekt“, sagt der Franzose Michel Hamy. Die französischen Jugendlichen hätten im Gegen- satz zu ihren deutschen Altersgenossen mit 18 oder 19 Jahren keinerlei Praxiserfahrung.

Die BSW engagieren sich seit Jahren in der ECAM Strasbourg-Europe, einer privaten technischen Hochschule, direkt in der Aus- bildung junger Studenten des Ingenieur- wesens. Seit Juni ist Michel Hamy der neue Präsident. „Wir sind als Stahlindustrie nicht sexy“, sagt der Geschäftsführer, dennoch wissen die BSW, was sie zu bieten haben: Ei- ner ECAM-Studentin hat das Unternehmen >> angeboten, ihre Diplom-Arbeit in den USA stellt Torsten Berger klar. 40- bis 45-jährige zu schreiben, auch Aufenthalte in Mexiko Betriebszugehörigkeit ist bei den BSW eher die oder Australien haben die BSW angehenden Regel als die Ausnahme – von vielen der rund Ingenieuren schon ermöglicht. Michel Hamy 1400 Mitarbeitern in den zwölf zur Firmen- nimmt junge Ingenieure mit auf Auslands- gruppe der BSW gehörenden Unternehmen 100 reisen, „um die Attraktivität des Berufes zu „hat der Großvater schon hier gearbeitet“, weiß zeigen“. Mehrsprachige Mitarbeiter mit in- der Personalchef. Die Fluktuation ist gering, terkulturellen Fähigkeiten sind für das Unter- „wer hier ist, hat gute Entwicklungschancen“. nehmen ein Gewinn. Damit das auch bei der sogenannten „Ge- Studenten und Auszubildende werden zudem neration Y“ so bleibt, für die nicht nur gute mit zusätzlichen Angeboten unterstützt wie Bezahlung, sondern auch ausreichend Frei- Teamtraining, Unterweisung in Präsenta­ zeit die Lebensqualität bestimmt, beschäf- tionstechnik, Training für freie Rede, Wie- tigen die BSW eine Gesundheitsmanagerin. derholung des Unterrichtsstoffs aus der Be- Die klärt nicht nur über gesunde Ernährung rufsschule für schwächere Schulabgänger, auf, die Auszubildenden kochen auch mal Sprachkurse. Ziel all dieser Aktionen ist zum gemeinsam oder fahren für einen Lehrgang Bernhard Honauer, Geschäfts- einen die langfristige Personalentwicklung, eine Woche lang zusammen in den Schwarz- führer von Press Control zum andern geht es darum, die qualifizierten wald – in ein Gebiet, wenn möglich, gänzlich (rechts), würde französische Fachkräfte an das Unternehmen zu binden, ohne Handy-Empfang. Mitarbeiter wie den elsässischen Ingenieur Guy Spohr gerne genauso einsetzen wie deutsche Hemmnis für den grenzenlosen Arbeitsmarkt: – doch das Grenzgänger- Grenzgänger-Abkommen „nicht mehr zeitgemäß“ Abkommen setzt nicht mehr zeitgemäße Schranken.

Techniker, Ingenieure, Projektplaner: Bernhard der Grenzzone eingesetzt ist. Wer für seinen Honauer, Geschäftsführer von Press Control, Betrieb häufiger Montage- oder Wartungsar- hat Mühe die offenen Stellen in der Firma mit beiten in anderen Teilen der Bundesrepublik deutschen Bewerbern zu besetzen. Deshalb oder in anderen europäischen Ländern aus- gibt das Unternehmen seine Jobangebote führt, der verliert den Grenzgängerstatus und auch an die Servicestelle für deutsch-franzö- muss seine Steuern in Deutschland bezahlen. sische Arbeitsvermittlung, deshalb sucht der Geschäftsführer Ingenieure auch mit Stel- Für die Betroffenen wird das teuer – die lenausschreibungen auf der französischen Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern zahlt in Rheinseite. Deutschland im Regelfall fast doppelt so viel Einkommenssteuer wie in Frankreich. Der Fran- Vier von 42 Mitarbeitern von Press Control zose, der in Deutschland besteuert wird, aber sind Franzosen – alle sind Elsässer, Verstän- in Frankreich lebt, muss zusätzlich die lokalen digungsprobleme gibt es kaum. Die Schwie- Steuern vor Ort entrichten. Größter Brocken rigkeiten mit der Beschäftigung französischer ist die Taxe d’habitation, die Wohnsteuer, die Techniker liegen für Bernhard Honauer auf von Hausbesitzern wie von Mietern zu zahlen einem ganz anderen Gebiet: Ihn – und sei- ist und mehrere Tausend Euro im Jahr aus- ne französischen Mitarbeiter – ärgert das machen kann. Bernhard Honauer hat deshalb deutsch-französische Grenzgänger-Abkom- Verständnis, wenn die französischen Mit- men. „Das ist nicht mehr zeitgemäß.“ Ein fran- arbeiter darauf achten, dass sie die 45-Tage- zösischer Mitarbeiter, der in Frankreich wohnt, Regelung einhalten. Für das Unternehmen ist zahlt seine Lohn- oder Einkommenssteuer in es jedoch problematisch: „Ich würde französi- Frankreich. Allerdings gilt das nur so lange, wie sche Mitarbeiter gerne genauso einsetzen wie er nicht mehr als 45 Tage im Jahr außerhalb die deutschen“, sagt der Geschäftsführer. >> Grenzgänger-Abkommen: Alle sechs Monate geht ein Brief ans Finanzamt

„Ich kann Ihnen sagen, das war sehr viel Geld“: Samstag als Arbeitstag gezählt worden – „da Michel Hamy, seit 2004 Technischer Geschäfts- hat es mich noch einmal getroffen“. Er wollte 101 führer bei den Badischen Stahlwerken (BSW), daraufhin seine Privilegien als Grenzgänger hat seine ganz persönlichen Erfahrungen mit aufgeben und grundsätzlich in Deutschland dem Grenzgänger-Abkommen gemacht, als steuerpflichtig werden – doch das ließ die das Kehler Finanzamt vor einigen Jahren zur französische Finanzverwaltung nicht zu. Kontrolle kam. Auch drei Ingenieure, die be- ruflich viel reisen mussten, waren betroffen. Seither beschäftigen die BSW zwei Wirt- schaftsprüfer, einen deutschen und einen „Wir haben die 45-Tage-Regelung sehr gut französischen, die das Unternehmen bera- gelernt“, erklärt der Geschäftsführer, der da- ten. Alle sechs Monate geht ein Brief ans Fi- mals 150 bis 160 Tage im Jahr unterwegs war – nanzamt, um nachzufragen, ob es in Sachen meist außerhalb der Grenzzone. Bei der nächs- Grenzgänger-Abkommen irgendwelche Än- ten Kontrolle, fünf Jahre später, sei auch der derungen gegeben hat.

70 000 grenzüberschreitende Beratungsgespräche in 20 Jahren

70 000 Menschen, Franzosen und Deutsche, Gründung 1993 beraten. In den Anfragen, die einen grenzüberschreitenden Alltag ge- die sich in den vergangenen Jahren bei mehr lebt haben oder sich darin versuchen wollten, als 4000 jährlich stabilisiert haben, spiegeln hat die deutsch-französische Beratungs- sich die aktuellen Probleme der Grenzgänger stelle INFOBEST Kehl-Strasbourg seit ihrer wider. Waren es in den 90er-Jahren vermehrt deutsche Staatsbürger, die sich wegen eines avisierten Umzugs nach Frankreich bera- ten ließen, hat sich diese Situation seit der Jahrtausendwende verändert: Seither ziehen deutlich mehr Menschen von der französi- schen auf die deutsche Rheinseite um.

In Krisenzeiten ist das INFOBEST-Team als Berater in Sachen Kurzarbeit und Ar- beitslosigkeit sehr gefragt, auch Sozialver­ sicherungsfragen, Kinder-, Erziehungs- oder Elterngeld sind Themen, bei denen sich für Menschen, die ihren Arbeitsplatz im einen, ihren Wohnort aber im anderen Land haben, bisweilen immer noch komplizierte Fragen stellen. Bereits seit vielen Jahren übersteigt Die Rehfus-Villa beherbergt seit der Anteil der französischen Ratsuchenden 20 Jahren grenzüberschreitende den der deutschen bei weitem. Das liegt Einrichtungen, die dazu beitra- einfach darin begründet, dass viel mehr gen, den Menschen im Grenzge- Menschen, die im Elsass wohnen, auf der biet den deutsch-französischen deutschen Rheinseite arbeiten, als dies um- Alltag zu erleichtern. gekehrt der Fall ist. >> Wirtschaft

Die wirtschaftlichen Verflechtungen über die Grenze hinweg sind vielfältig; die Wege, welche die Unternehmen wählen, unterschiedlich: Während Firmen wie der Wohnmo- bil-Hersteller Bürstner im Kehler Hafen und in Wissembourg produzieren, hat auch die Actimage GmbH (IT-Lösungen) neben der Dependance in der Kehler Kaserne eine 102 weitere in Straßburg. Die Dalim Software GmbH ist in Kellerräumen der Straßbur- ger Universität entstanden und agiert heute von Kehl aus weltweit; die Sparkasse Hanauer­land kooperiert mit der Caisse d’Epargne d’Alsace, die Volksbanken in der Region betreuen Kunden gemeinsam mit der Banque Populaire d’Alsace.

Ein weiteres Beispiel für grenzüberschreitende Verflechtungen ist die Firma Optronis: Das Unternehmen, das als Spin-Off einer französischen Forschungsgruppe der Uni Straßburg entstanden ist, entwickelt seit den 80er-Jahren Streakkameras. Heute sind Streakkameras, die kurze optische Impulse messen und in der Grundlagenforschung eingesetzt werden und Highspeed-Videokameras, die bis zu 1000 Bilder pro Sekunde aufnehmen und schnell laufende Produktionsprozesse sichtbar machen können, die Bei der Firma Nußbaum kommen beiden Standbeine der Firma. Mitarbeiter und Praktikanten von Optronis kommen von 500 Mitarbeitern 200 aus häufig aus dem Umfeld der Straßburger Universität. Das Unternehmen war bis Mit- dem Elsass. Ohne sie, sagt Firmen­- te 2013 in der Kehler Honsellstraße untergebracht. Inzwischen hat Optronis seinen chef Hans Nußbaum, wäre das Neubau in der Ludwigstraße im Gebiet des Kehler Hafens bezogen. Bei der von der schnelle Wachstum des Unter- Kehler Wirtschaftsförderung begleiteten Standortsuche ging es Geschäftsführer Pa- nehmens nicht möglich gewesen. trick Summ vor allem um eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr nach Straßburg und Offenburg.

Beim Hebebühnen-Hersteller Nußbaum in Bodersweier kommen von 500 Mitarbeitern 200 aus dem Elsass. Darunter seien gebürtige Elsässer, Franzosen aus Zentralfrank- reich und Franzosen aus den Maghreb-Ländern, berichtet Firmenchef Hans Nußbaum. „Wir sind dankbar und froh über diese Mitarbeiter – ohne sie wäre unser schnelles Unternehmenswachstum nicht möglich gewesen.“ Auch Hans Nußbaums Sekretärin und die Von 4282 Beschäftigten bei den Firmen im seines Sohnes sind Französinnen. Kehler Hafen kommen 683 aus Straßburg Die Kinder der französischen und dem Elsass. Bei der Hafenverwaltung Mitarbeiter absolvierten zwar selber arbeitet bislang nur ein Franzose als Praktika im Betrieb, um Ausbil- Umschlagsarbeiter. Schreibt die Hafenver- dungsplätze bewerben sie sich waltung eine Stelle aus, so geschieht das ak- jedoch nicht – zu groß sind die tuell nur in der Ortenau. Unterschiede in der Ausbildung, schätzt Hans Nußbaum. Unter den 50 Lehrlingen der Otto Nußbaum GmbH ist seit dem 26. August ein französischer Jugendlicher – und der ist über private Beziehungen ins Unternehmen gekommen. Seine theoretische Ausbildung macht er in Mulhouse in größeren Blöcken – das Lehr- lingsgehalt bezahlt in dieser Zeit die Région Alsace. Nach zwei Jahren bekommt er in Frankreich seinen Abschluss. Allerdings einen, der in Deutschland nicht anerkannt wird. Um sein Facharbeiter-Zeugnis zu bekommen, müsste der französische Jugendli- che seine Ausbildung um eineinhalb Jahre verlängern und in dieser Zeit die deutsche Berufsschule besuchen. Hans Nußbaum hofft nun, dass die Industrie- und Handels- kammer – vorausgesetzt, dass der junge Mann gute Leistungen erbringt – eine Aus- nahme zulässt. >> Die älteste grenzüberschreitende Liaison: Die Kooperation der Rheinhäfen Kehl und Straßburg

Von der breiten Öffentlichkeit ziemlich un- gibt. Technische Pannen oder kritische Situ- 103 bemerkt arbeiten die Rheinhäfen Kehl und ationen an Wochenenden, wenn Schiffe, die Straßburg seit 62 Jahren grenzüberschrei- beladen werden müssen, zu spät eintreffen. tend zusammen: geräuschlos und einmü- Die werden dann dort beladen, wo noch Mit- tig. Seit das Land Baden-Württemberg und arbeiter des Hafens zur Verfügung stehen. der vom französischen Staat ermächtig- „Es ist wichtig, dass wir gewisse Kapazitäten te Straßburger Hafen (Port Autonome de vorhalten.“ Preisabsprachen im Containerge- Strasbourg) am 19. Oktober 1951 das Kehler schäft gibt es nicht, sie würden sich, sagt der Hafenabkommen unterzeichnet und damit Kehler Hafendirektor, auch gar nicht lohnen, bestimmt haben, dass der Verwaltungsrat „weil der Hafen in diesem Bereich nicht viel der Kehler Hafenverwaltung paritätisch mit Geld verdienen kann“. Stattdessen suchen deutschen und französischen Mitgliedern die beiden Häfen aktuell lieber nach einer besetzt werden muss, wurden dem Gremium gemeinsamen Lagerfläche für Leercontainer. mehr als 2000 Vorschläge der Kehler Hafen- Für Karlheinz Hillenbrand ist das eine äußerst Direktion zur Entscheidung positive Entwicklung, die vorgelegt. Alle Beschlüsse von den Verfassern des Keh- wurden einstimmig gefasst. ler Hafenabkommens 1951 Im Straßburger Hafenrat, – Teile der Kehler Innenstadt wo drei deutsche Vertreter waren damals noch franzö- sitzen, ist es nicht anders: sisch – nicht so gedacht war. nur einstimmige Beschlüsse. Das damalige Abkommen, Die drei deutschen Mitglie- das aus der Hafenverwal- der im Straßburger Hafenrat tung Kehl eine Körperschaft verfügen ebenso über vol- öffentlichen Rechts machte, les Stimmrecht wie die drei hatte vor allem das Ziel, dass Straßburger Mitglieder im der Kehler Hafen nach dem Kehler Hafenrat. Und nicht Karlheinz Hillenbrand Krieg wieder aufgebaut und nur das: „Jeder kann dem an- verwaltet werden konnte. Am deren in alle Geschäftsvorfälle sehen, wenn 10. Mai 1994 wurde es durch ein vom Land er will. Jeder kann die Gewinn- und Verlust- Baden-Württemberg und dem französischen rechnung, alle Unterlagen einsehen“, erklärt Staat unterzeichnetes Abkommen ersetzt, der Kehler Hafendirektor Karlheinz Hillen- das die Fortsetzung der Zusammenarbeit re- brand. Was normalerweise unter das Stich- gelt und die wechselseitige Vertretung in den wort Geschäftsgeheimnis fällt, wird in den Aufsichtsgremien festlegt. Sitzungen der Hafenräte offen besprochen. Über die Jahre ist ein „enormes Vertrauens- In den vielen Jahren der vertrauensvollen verhältnis“ gewachsen – unabhängig von den Zusammenarbeit kann sich Karlheinz Hillen- Personen, welche die Ratssitze innehatten. brand nur an eine - kurzfristig – schwierige Konkurrenzdenken ist allen Beteiligten fremd: Situation erinnern: Als das Land Baden-Würt- „Es sind die Unternehmen, die sich Konkur- temberg Ende der 80er-Jahre im Kehler Hafen renz machen, nicht die Hafenverwaltungen.“ eine Sondermüllverbrennungsanlage errich- ten wollte, formierte sich auch auf der Straß- Die sind nach Aussagen von Karlheinz Hil- burger Rheinseite Widerstand gegen das lenbrand eher darauf aus, sich zu ergänzen Projekt. Als Körperschaft des Landes konnte und sich zu unterstützen, wenn es Ausfälle sich die Hafenverwaltung jedoch nicht gegen >> die Pläne der baden-württembergischen Re- spielt in der alltäglichen Zusammenarbeit kei- gierung wenden. Als der Vorvertrag für das ne Rolle. Karlheinz Hillenbrand beschreibt das Grundstück im Kehler Hafen auf der Tages- Verhältnis als „freundschaftlich, sachlich“, von ordnung des Hafenrates stand, meldete sich wechselseitigen Vorurteilen hat er in den ver- die damalige Straßburger Oberbürgermeis­ gangenen 30 Jahren nichts bemerkt. terin Catherine Trautmann kritisch zu Wort. 104 Um heftige Diskussionen oder gar Zwist zu Noch enger könnte die Kooperation der bei- ver­meiden, fand man schnell eine salomo- den Häfen durch die Mitarbeit im Transeu- nische Lösung: Das Thema wurde von der ropäischen Netzwerk der neun Oberrhein- Tagesordnung genommen. „Wir wollten auf Häfen werden: Ziel dieses Großprojektes ist keinen Fall stellvertretend für die großen es, Güterverkehr von der Straße aufs Wasser Entscheider den Zoff“, erinnert sich Karlheinz und auf die Schiene zu verlagern. Bei dem Hillenbrand, der Hafenrat wäre dafür der fal- von der EU-Kommission geförderten Projekt sche Platz gewesen. In all den Jahren war es sollen Probleme in den Häfen aufgezeigt und Die Sparkasse Hanauerland „der einzige Fall von gewissem Dissens“. Lösungen gesucht werden. Karlheinz Hillen- kooperiert seit 2009 mit der brand nennt ein Beispiel: Müsse ein Güterzug, Caisse d’Epargne d’Alsace. In den Sitzungen des Kehler Hafenrates wird der aus dem Kehler Hafen kommt, in Straß- Deutsch gesprochen, in den Sitzungen des burg noch zuladen, sei das zu langsam, zu Straßburger Hafenrates Französisch. Das kompliziert und damit zu teuer. „Es geht, es funktioniert inzwischen ganz selbstverständ- geht aber auch nicht“, beschreibt der Hafen- lich, auch an das „technische Französisch“, das direktor das Dilemma. nicht immer einfach ist, haben sich die deut- schen Mitglieder des Straßburger Gremiums In einer weiteren Studie werden Material- mittlerweile gewöhnt. Wenn es einen Wech- und Energieflüsse untersucht. Zwölf bis 18 sel bei den Vertretern gibt, wird es manchmal Firmen in den Häfen Kehl und Straßburg wer- schwierig: „Man muss halt immer Personen den dabei genauer unter die Lupe genommen. finden, die Französisch sprechen.“ Dass die „Es geht um Nachhaltigkeit“, erklärt Karlheinz Strukturen auf beiden Rheinseiten verschie- Hillenbrand, Ergebnis soll ein gemeinsamer den sind und „der Formalismus ein anderer ist“, Ressourcenplan sein. Trotz der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Banken bleibt das Europa-Konto noch Kooperation der Banken: Europa-Konto bleibt (noch) ein Traum ein Traum.

Seit 2009 arbeitet die Sparkasse Hanauer- beiden Sparkassen gemeinsame land mit der Caisse d’Epargne d’Alsace auf Themenabende, Seminare oder der Basis einer Kooperationsvereinbarung Veranstaltungen für Existenz- eng zusammen. In grenzüberschreitenden gründer und Unternehmen an. Finanzfragen haben deutsche und franzö- sische Kunden damit einen Ansprechpart- „Dieser grenzüberschreitende Ser- ner. Privat- und Firmenkunden werden von vice wird von unseren Kunden beiden Geldinstituten gemeinsam beraten; sehr positiv aufgenommen“, freut „die Kunden erhalten das für sie beste An- sich Hartmut Stephan. Gerne wür- gebot aus beiden Häusern“, erklärt Hartmut den die beiden Geldinstitute ihren Stephan, Abteilungsdirektor für den Bereich Kunden ein einheitliches Europa- Marketing bei der Sparkasse Hanauerland. Konto oder andere gemeinsame Durch ein Repräsentanz-Büro der Caisse Finanzprodukte anbieten – doch d’Epargne in den Räumen der Kehler Spar- bislang verhindern technische kasse verkürzen sich die Wege für die Kun- und rechtliche Restriktionen diese den erheblich. Darüber hinaus bieten die weitergehende Kooperation. >> Zwei Franzosen gehören seit langen Jahren reich“. „Es ist eine kleine Consulting-Gesell- zum Personal der Sparkasse Hanauerland. schaft für grenzüberschreitende Belange“, Zusammen mit vier deutschen Mitarbeite- sagt Claus Preiss, Vorsitzender des Beirats der rinnen, die in Frankreich leben, arbeiten sie VR-Kooperation und gleichzeitig Vorstands- als Sachbearbeiter im Auslandsgeschäft, als vorsitzender der Volksbank Bühl, zu der auch Service- und Kassenmitarbeiter sowie in die Kehler Filialen gehören. Das bedeutet: der Kundenberatung. Die Sparkasse sucht Möchte ein französisches Unternehmen in 105 aktuell nicht aktiv nach Mitarbeitern auf Deutschland investieren, ein elsässischer der französischen Rheinseite. Über interes- Privatkunde eine Immobilie in der Ortenau sierte Bewerber für die Ausbildungsjahre ab erwerben oder ein deutscher Handwerker in 2015 freut sich die Sparkasse Hanauerland Frankreich Aufträge akquirieren, so finden jedoch sehr. Von den 120 alle Drei bei der VR Koopera­ jungen Menschen, welche tion einen Ansprechpartner, die Sparkasse in den vergan- der sie berät und bei dem genen 14 Jahren ausgebildet Vorhaben begleitet. Angestellt hat, war ein Jugendlicher sind dort ein Geschäftsführer, Franzose – der Sohn einer Pierre Klein, und eine Assis- deutschen Mitarbeiterin, die tentin. Sie verfügen jeweils in Frankreich verheiratet ist. über ein Büro bei der Volks- Fünf Auszubildende kamen bank Baden-Baden/Rastatt und kommen aus deutsch- und bei der Banque Populaire französischen Familien, die in Straßburg. Neben der zwei- in Deutschland leben. Aus- sprachigen Beratung vermit- zubildende der Sparkasse teln sie bei Bedarf Kontakte Hanauerland profitieren von Claus Preiss zu Wirtschaftsprüfern, län- der grenzüberschreitenden derspezifischen Versicherern Kooperation, indem sie mehrere Praxiswo- oder Steuerrechtlern aus ihrem grenzüber- chen in Filialen der Caisse d’Epargne verbrin- schreitenden Expertennetzwerk. gen und damit neben interessanten berufli- chen Erfahrungen auch das Euregio-Zertifikat „Die Nachfrage ist da“, sagt Claus Preiss, seit der Industrie- und Handelskammer erwerben Gründung der VR Kooperation vor zehn können. Umgekehrt absolvierten schon viele Jahren werden insgesamt rund 12 000 Pri- junge Franzosen Praktika bei der Sparkasse. vatkunden und 1200 Firmenkunden grenz- überschreitend betreut. Aufgrund dieses Die unterschiedlichen Sprachen stellen im Erfolgs wurde 2013 eine Fortsetzung der Arbeitsalltag der Bank-Mitarbeiter keine VR Kooperation beschlossen, außerdem will Barriere dar, weiß Tanja Bender, Abteilungs- noch ein sechster Partner mit einsteigen: der leiterin Personal. Wer regelmäßig in der Baden-Württembergische Genossenschafts­ grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu verband. tun hat, kann auf Kosten der Sparkasse an professionellen Sprachkursen teilnehmen. Geplant ist zudem, dass Auszubildende von beiden Rheinseiten künftig gezielt an die Ein Jubiläum in der grenzüberschreitenden Partnerbanken im Nachbarland vermittelt Zusammenarbeit konnten die vier Volksban- werden. „Es wäre schlicht ein falsches Sig- ken , , Baden-Baden/Rastatt und nal, wenn wir die Europäische Union gerade Bühl sowie die französische Banque Popu- hier im Grenzbereich nicht leben würden“, laire d’Alsace mit rund 100 Filialen im Elsass bekräftigt Claus Preiss die Entscheidung. und Hauptsitz in Straßburg 2013 feiern: Seit „Die Zusammenarbeit ergibt sich per se. Als zehn Jahren gibt es die gemeinsam gegrün- Dienstleister müssen wir so etwas einfach dete „VR Kooperation Deutschland-Frank- anbieten.“ >> Die Nachwuchsförderung im Fokus: Das Handwerk setzt auf Kooperation

Mitten auf der Passerelle des deux Rives tref- fen sich am 10. Oktober 2013 deutsche und französische Handwerker. Sie haben die Brücke 106 als symbolträchtigen Ort ausgesucht, um ei- nen vorbereiteten Partnerschaftsvertrag zu unterschreiben. Die Innung Blechnerei, Sani- tär- und Heizungstechnik Kehl-Hanauerland- Lahr und die Innung der Klempner und Instal- lateure des Unter-Elsass (COPFI) halten fest, dass sie künftig gemeinsame Versammlungen abhalten, Informationsmaterial untereinander austauschen und vor allem: die grenzüber- schreitende Lehrlingsausbildung und Berufs- fortbildung fördern.

Schon seit rund 25 Jahren stehen die beiden Innungen in Kontakt. „Seitdem gab es hier ren Handwerksberufen gibt es Kooperatio- Ein Partnerschaftsvertrag mal ein Treffen und da mal ein Gespräch, in- nen in der Aus- und Weiterbildung. Die Hand- verbindet neuerdings die tensiviert hat sich die Kooperation aber erst werkskammer , der auch die Kehler Innung Blechnerei, Sanitär- in den letzten paar Jahren“, sagt Obermeister Betriebe angehören, organisiert seit 1998 und Heizungstechnik Kehl- Michael Pfütze von der Innung Kehl-Hanauer­ Umschulungs- und Weiterbildungskurse mit Hanauerland-Lahr und die land-Lahr. Das gemeinsame Interesse, den der AFPA, dem französischen Verband für be- Innung der Klempner und Nachwuchs zu fördern, die Ausbildung und rufliche Erwachsenenbildung. „Französische Installateure des Unter-Elsass. Qualifizierung zu verbessern, habe die beiden Arbeitnehmer können zum Beispiel unsere Innungen näher zusammengebracht. „Das Gewerbe-Akademie an allen drei Standorten liegt uns allen besonders am Herzen.“ Bei einer besuchen, um fit für den deutschen Arbeits- gemeinsamen Vorstandssitzung schlug die el- markt zu werden“, erklärt Martin Düpper sässische Innung deshalb den Partnerschafts- von der Handwerkskammer Freiburg. Aktuell vertrag vor. „Wir haben uns in verschiedenen würden Umschulungen im Elektro- und Sani- Berufsschulen und überbetrieblichen Ausbil- tärbereich speziell für Arbeitskräfte von der dungsstätten auf beiden Seiten getroffen, um anderen Rheinseite angeboten. zu sehen, wie die Ausbildung dort jeweils ab- läuft“, erzählt Michael Pfütze. Anschließend Außerdem gibt es – nach dem Start im Euro- sei das Abkommen erarbeitet worden. Danach distrikt Strasbourg-Ortenau – inzwischen in sollen junge Arbeitskräfte bei Bedarf gezielt der gesamten Oberrheinregion die Möglich- über den Rhein vermittelt werden oder zumin- keit einer grenzüberschreitenden Ausbildung dest zum Austausch in Betriebe des Nachbar- in insgesamt 19 Berufen. Ein entsprechendes lands gehen und sich auf diese Weise unterein- Abkommen wurde am 12. September 2013 ander kennenlernen. „Wenn man sieht, dass auf Initiative der Oberrheinkonferenz in Saint drüben genauso mit Wasser gekocht wird wie Louis von 28 deutschen und französischen hier, fällt es vielleicht leichter, die Sprache zu Institutionen unterzeichnet. Das bedeutet: lernen. Die Motivation ist größer, wenn der Kon- Ein junger Franzose kann eine betriebliche takt erst einmal da ist“, meint der Obermeister. Ausbildung in Deutschland machen, aber die Schule in Frankreich besuchen – oder anders- Nicht nur bei den Blechnereien, Sanitär- und herum. Dabei übernimmt die Région Alsace Heizungstechnikern, sondern auch in ande- für deutsche Unternehmen, die junge Elsäs- >> ser ausbilden, die Finanzierung der Berufs- www.transinfonet.org finden Betriebe aus schulkosten in Frankreich. „Damit so etwas Deutschland, Frankreich und der Schweiz aktu- funktioniert, mussten sich beide Seiten ein elle Informationen darüber, was sie beachten bisschen aufeinander zubewegen“, sagt Mar- müssen, wenn sie in einem der Nachbarländer tin Düpper, „denn unterschiedlichen Ausbil- aktiv werden wollen. „Wenn es eine Gesetzes- dungssysteme aufeinander abzustimmen ist änderung gibt, beispielsweise neue Mindest- manchmal schwieriger als die gemeinsame löhne, werden die Betriebe auf dem Portal um- Formulierung des politischen Willens“. Derzeit gehend informiert“, sagt Martin Düpper. „Für 107 gebe es zwar nur drei junge Menschen, die im jedes einzelne Unternehmen wäre es fast nicht Eurodistrikt den Weg der grenzüberschreiten- leistbar, sich ständig selbst auf den aktuellen den Berufsausbildung gewählt haben, „aber Stand zu bringen.“ Über hilfreiche Informa­ da kommt mit dem neuen Abkommen Bewe- tionen hinaus gibt es auf der Internetseite An- gung rein“, ist sich Martin Düpper sicher. Um sprechpartner in jedem der beteiligten Länder, das Abkommen bekannter zu machen, hat die bei Problemen weiterhelfen können. Das sich die Handwerkskammer Freiburg auf der Portal pflegen Vertreter der beteiligten Hand- Messe für Bildung und Beschäftigung, die werkskammern, die sich zwei- bis dreimal im Januar 2014 in Colmar stattfindet, einen pro Jahr treffen und noch deutlich öfter tele- Stand gesichert. „Dort wollen wir Jugendliche, fonisch miteinander in Kontakt stehen. „Der Eltern und Lehrer darüber informieren, wel- Austausch ist lebendig“, sagt Martin Düpper. che Möglichkeiten eine Ausbildung auf deut- scher Seite bietet“, sagt Martin Düpper. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist aus Sicht der Handwerkskammer ein gro- Neben dem Bereich Ausbildung arbeitet die ßes Plus – und zwar deshalb, „weil der Dialog Handwerkskammer Freiburg mit ihren Pen- auf Augenhöhe geführt wird“, wie Martin dants im Elsass, in der Pfalz, in so- Düpper es formuliert. Man müsse so zusam- wie mit der Wirtschaftskammer Baselland menarbeiten, dass es für beide Seiten von seit 1996 zusammen an einem grenzüber- Vorteil ist, „damit Vorurteile und Ängste wei- schreitenden Internetportal. Auf der Seite ter abgebaut werden“.

Wohnen

Die in der Europäischen Union geltende Freizügigkeit nutzen deutsche wie französische Bürgerinnen und Bürger: In Kehl leben 2258 Einwohner mit französischem Pass und 605 Kehlerinnen und Kehler mit deutscher und französischer Staatsangehörigkeit (Stand: Ende November); in der Stadtgemeinschaft Straßburg wird die Zahl der deutschen Ein- wohner auf 4000 bis 5000 geschätzt. Nach der grenzüberschreitenden Gartenschau 2004 ist die Zahl der Umzüge französischer Familien nach Kehl stark gestiegen: Acht von zehn zum Verkauf stehenden Immobilien in der Kernstadt wurden in den Folgejahren von Franzosen erworben. Entsprechend schnellten die Anfragen bei der deutsch- französischen Beratungsstelle INFOBEST Kehl-Strasbourg in die Höhe: Ließen sich vor 2004 noch annährend doppelt so viele Deutsche wegen eines Umzugs nach Frankreich beraten, wie Franzosen einen Umzug nach Deutschland ins Auge fassten, so kontaktier- ten in den Jahren ab 2005 jährlich mehrere Hundert französische Bürger die INFOBEST- Referentinnen wegen eines Umzugs auf die deutsche Rheinseite.

Inzwischen hat der Boom etwas nachgelassen: Der Anteil der Franzosen unter den Käufern von Häusern und Wohnungen in Kehl liegt konstant bei rund 40 Prozent, was >> sich auch in den Beratungsanfragen bei der INFOBEST niederschlägt: Mit 210 An- fragen pro Jahr machen die Umzugswilligen noch einen Anteil von fünf Prozent der Ratsuchenden aus. In den vergangenen zwei Jahren haben erste Umzügler aus dem Nachbarland ihre Häuser und Wohnungen in Kehl wieder verkauft (meist erneut an Franzosen). Der Hauptgrund: Französische Mitbürger, die in Kehl wohnen und in Straß- burg in der freien Wirtschaft arbeiten, zahlen ihre Lohn- oder Einkommenssteuer in Deutschland. Die direkten Steuern einer durchschnittlichen Familie mit zwei Kindern sind auf der deutschen Rheinseite etwa doppelt so hoch wie in Frankreich. Deshalb 108 arbeiten viele Franzosen, die in Kehl wohnen, im öffentlichen Dienst oder in Unterneh- men, die dem öffentlichen Dienst gleichgestellt sind. Dann bezahlen sie ihre Steuern nämlich weiterhin in Frankreich. Die INFOBEST organisiert seit vielen Jahren Steuer- sprechtage, bei denen bislang Vertreter der Finanzämter aus beiden Ländern die Ratsu- chenden gemeinsam beraten haben. Inzwischen ist die französische Finanzverwaltung aus der Beratung ausgestiegen. Als Grund wird Arbeitsüberlastung angegeben.

Bauvorhaben in Deutschland und Frankreich: Vieles ist ähnlich und doch ist alles anders

Verschiedene Regelungen, andere Normen, Meter. In Frankreich hat der Türrahmen eine unterschiedliche Auslegung europäischen lichte Höhe von 2,04 Meter. Und selbstver- Rechts: Als sich die Straßburger Wohnungs- ständlich sind auch die Breiten unterschied- baugesellschaft Habitation Moderne ent- lich. Damit entscheiden wenige Zentimeter schlossen hat, auf Kehler Territorium unweit darüber, dass sich ein französischer Schrei- der Europabrücke ein Gebäude mit 52 Woh- ner gar nicht erst um den Auftrag bemüht, nungen zu errichten, waren Generaldirektor den Habitation Moderne für das Gebäude Jean-Bernard Dambier und der technische Ecke Straßburger Straße/Schulstraße ausge- Leiter Jean-Marc Eich auf Komplikationen ein- schrieben hat. „Die französischen Handwer- gestellt. Dass es jedoch für ein französisches ker wollen das Risiko nicht eingehen“, sagt Unternehmen so schwierig werden könnte, Jean-Marc Eich und zeigt Verständnis: Jeder So wird sich der vom Kehler nur wenige Meter von der Grenze entfernt französische Handwerker hat seine Zuliefe- Architekturbüro Grossmann im vereinten Europa ein Bauprojekt umzu- rer, seine Einkaufskonditionen, seine Rabatte. geplante und von Habitation setzen, hätten sie sich nicht träumen lassen. Müsse er sich sein Material in Deutschland Moderne errichtete Neubau besorgen, müsse er mit ganz anderen Kosten in die Silhouette der Straß- In Deutschland sind Zimmertüren zum Bei- kalkulieren; schon die Erstellung des Ange- burger Straße einfügen. spiel entweder 1,98 Meter hoch oder 2,10 bots stelle ihn vor Probleme.

>> Was für die Türen 20 000 Euro hat Habitation Moderne allein gilt, ist bei den für die Ausschreibungen in den Zeitungen Fenstern nicht an- ausgegeben – trotzdem ist für vier Lose kein ders und auch unter einziges Angebot eingegangen. Für weite- behindertengerech- re fünf Lose hat das Unternehmen nur ein ten Wohnungen ver- oder zwei Angebote erhalten. „In Frankreich stehen der deutsche bekommen wir bei ähnlich großen Projekten und der französi- 150 bis 170 Angebote“, zieht Jean-Bernard sche Gesetzgeber Dambier den Vergleich. 109 etwas völlig ande- res. Während in Um Kostensicherheit zu bekommen, hat Deutschland gilt, Habitation Moderne alle Lose gleichzeitig dass bei Wohnge- ausgeschrieben und mit Kostengrenzen ver- bäuden mit mehr sehen. In Frankreich ist es durchaus üblich, als vier Wohnein- mit den Unternehmen Pauschalpreise zu heiten die Wohnun- vereinbaren. Gelingt es dem Auftragnehmer, gen eines Geschosses die Arbeiten kostengünstiger auszuführen, barrierefrei zu erreichen erhöht er seinen Gewinn, überschreitet er sein müssen, muss nach den Kostenrahmen, dann geht das zu seinen französischen Vorschrif- Lasten. Die deutschen Unternehmen zier- In den 52 Wohnungen mit einer ten jede Wohnung rollstuhlgerecht um- ten sich, aber „wir wollten uns nicht auf ein Grundfläche von 40 bis 118 zubauen sein, ohne dass eine Wand versetzt Abenteuer einlassen“, erklärt Jean-Bernard Quadratmetern sollen sich oder herausgebrochen werden muss. Wenn Dambier, warum Habitation Moderne lange sowohl deutsche als auch fran- in Frankreich ein Bauvorhaben mit den verhandelt hat, um auch bei den deutschen zösische Mieter wohlfühlen. städte­baulichen Vorgaben übereinstimmt, Partnern Pauschalpreise durchzusetzen. bekommt der Bauherr die Baugenehmigung. Dass in Deutschland detaillierte Pläne des Selbst ein Unternehmen für den Rohbau des Architekten Grundlage für die Erteilung der Großprojektes zu finden, war nicht einfach: Baugenehmigung sind, hat Jean-Marc Eich Acht deutsche Unternehmen hat das Archi- überrascht: „Es ist hinterher viel schwieriger, tekturbüro Grossmann im Auftrag von Habi- noch etwas zu verändern“, bedauert er. tation Moderne angeschrieben, zwei französi- sche hat die Wohnungsbaugesellschaft selber Nachdem die Ausschreibung der einzelnen kontaktiert. Am Ende sind zwei Unternehmen Lose nach europäischem Recht erfolgte, hät- übriggeblieben, mit denen weiter verhandelt te es eigentlich – könnte man meinen – keine wurde: ein deutsches und ein französisches. Probleme geben dürfen. Doch die deutsche Für die Klempner- und die Schreinerarbeiten Vergabeordnung Bau (VOB) ist „deutlich re- hat Habitation Moderne lange gar kein Un- striktiver als die französischen Regelungen“, ternehmen gefunden, das Gleiche galt für die musste Jean-Marc Eich feststellen. Um sich Eindeckung des Flachdaches. zurechtzufinden, hat Habitation Moderne eine deutsch-französische Rechtsanwalts- „Vieles ist ähnlich und doch nicht gleich“, sagt kanzlei beauftragt und die Vergabeordnung Jean-Bernard Dambier. „Man lernt viel“, fügt Bau ins Französische übersetzen lassen. „Das Jean-Marc Eich hinzu, leichte Resignation Recht ermöglicht allein schon viele Interpre- schwingt in der Stimme mit. Ob Habitation tationen“, seufzt Jean-Marc Eich, wenn dann Moderne noch weitere Projekte in Kehl ver- noch Anwälte aus zwei Ländern und unter- wirklichen wird – der Generaldirektor möch- schiedliche Sprachen hinzukommen, kann es te darüber erst mal nicht sprechen. Zunächst richtig kompliziert werden. So kompliziert, will er abwarten, wie sich die Bauphase ge- dass die Kosten allein für die Rechtsbera- staltet und wie sich die Wohnungen vermie- tung in die Zehntausende gehen. ten lassen. >> Ein Haus für deutsche und französische Mieter

52 Mietwohnungen in der Größe von 40 Den Verkehrslärm wollen die Planer mit bis 118 Quadratmetern Fläche errichtet die Hilfe von Lärmschutzfenstern und zur B28 Straßburger Wohnungsbaugesellschaft Ha- hin vorgehängten Laubengängen bannen. bitation Moderne auf dem Grundstück Ecke Straßburger Straße/Schulstraße. Mit den Der Gebäudekomplex mit der Fassade zur Abrissarbeiten des bestehenden Gebäudes Straßburger Straße wird vorrangig fertigge- an der B28, den Garagen und Kleinbauten stellt, damit die Sparkasse ihre neuen Räu- 110 im rückwärtigen Teil an der Schulstraße me so früh wie möglich – voraussichtlich im wird in den ersten September-Tagen begon- April 2015 – beziehen kann. In den Geschos- nen. Das Gebäude, in dessen Erdgeschoss sen darüber entstehen 20 Wohnungen plus die Sparkassenfiliale wieder einzieht, ist das ein Penthouse. Unter dem Gebäude wird erste Bauvorhaben, das die französische eine Tiefgarage mit 23 Stellplätzen angelegt. Wohnungsbaugesellschaft mit sozialem Auftrag auf deutschem Territorium verwirk- Im zweiten Gebäudeteil zur Schulstraße licht. Voraussichtliche Baukosten: rund elf hin, der eine Etage niedriger ist als der zur Millionen Euro. Straßburger Straße, sind 31 Wohnungen vorgesehen, ebenso wie 25 Stellplätze in 2010 ist die Stadt Kehl (Klein-)Aktionär bei der Tiefgarage. Das Parkplatzangebot wird Habitation Moderne geworden – mit dem durch etwa 20 oberirdische Stellflächen er- Ziel, gemeinsam mit dem Unternehmen, an gänzt. Sowohl bei der Größe als auch beim dem die Stadt Straßburg 52,75 Prozent der Zuschnitt der Wohnungen hat Habitation Anteile hält, Projekte auf Kehler Gemarkung Moderne einen deutsch-französischen Spa- realisieren zu können. Auch der mögliche gat versucht und hofft, einen Kompromiss Wissensaustausch zwischen Habitation gefunden zu haben, der sowohl Kehler als Moderne und der Städtischen Wohnbau auch Straßburger Mietern gefällt. Mehr als Kehl waren ein Grund für die städtische die Hälfte der Wohnungen (28) haben drei Beteiligung. Im Februar 2011 hat sich Ha- Zimmer und eine Grundfläche von durch- bitation Moderne um das damals ausge- schnittlich 75 Quadratmetern. Dazu kom- schriebene rund 2200 Quadratmeter große men 14 Zwei-Zimmer-Wohnungen (Wohn- Grundstück an der Ecke Straßburger Straße/ fläche um die 50 Quadratmeter), acht Vier- Schulstraße beworben und im April 2011 Zimmer-Wohnungen (Wohnfläche circa den Zuschlag erhalten. 95 Quadratmeter) und jeweils eine Fünf- Zimmer-Wohnung (118 Quadratmeter) so- Architekt Jürgen Grossmann hat Habitation wie ein Ein-Zimmer-Appartement mit 40 Moderne in der Folge den Auftrag erteilt, Quadratmetern. Alle Wohnungen bleiben im ein Gebäude zu planen, in dem sowohl Besitz von Habitation Moderne, Eigentums- deutsche als auch französische Mieter wohnungen sind nicht vorgesehen. gerne wohnen. Die Lage ist aus Sicht von Jean-Bernard Dambier, Generaldirektor des Straßburger Unternehmens mit 158 Mitar- beitern und einem Bestand von 8878 Wohnungen (davon 7787 mit sozialer Bindung) ideal: ge- genüber vom Kehler Bahnhof und in unmittelbarer Nähe zur künfti- Unter den beiden Gebäudekom- gen Tramhaltestelle auf dem grü- plexen entstehen Tiefgaragen nen Mittelstreifen der B28. mit insgesamt 48 Stellplätzen. >> Einkaufen und Gastronomie

Lange bevor jemand an den Euro dachte, hatten sich die Kehler Einzelhändler bereits auf die Kunden aus dem Nachbarland eingestellt: In den meisten Geschäften gab es Französisch sprechende Mitarbeiter; wer wollte, konnte fast überall in der Innenstadt mit Francs bezahlen und bekam auch das Wechselgeld in Francs zurück – dank eines Systems mit zwei Kassen. Der Binnenmarkt und damit der Wegfall der Zollkontrollen und noch stärker die Einführung des Euro, welche die Preise auf beiden Rheinseiten direkt vergleichbar machte, beflügelten die Kunden auf beiden Rheinseiten. Vor allem Kehl profitiert von dieser Entwicklung: Bis zu 45 Prozent der Kunden in der Innenstadt 111 sowie ein noch höherer Prozentsatz in den Märkten am Rande der Kernstadt kommen aus Straßburg und Umgebung. Die Einkaufsstadt Kehl erreicht Bindungsquoten, von denen andere Städte nur träumen können: Weil im Bereich Parfümerie/Drogerie die Preisunterschiede eklatant sind, wird hier eine Bindungsquote von mehr als 300 Pro­ zent erreicht. Der dm-Markt an der Straßburger Straße gilt – bezogen auf den Qua­ dratmeter Verkaufsfläche – als der umsatzstärkste in der gesamten Republik. Aber Bis zu 45 Prozent der Kunden, auch bei Schuhen und Lederwaren wird ein Wert nahe 250 Prozent erreicht, im Blumen- die in der Kehler Innenstadt und Zoohandel, bei Möbeln und Antiquitäten verfehlt die Bindungsquote knapp die einkaufen, kommen aus Frank- 200-Prozent-Marke. Mehr als 40 Prozent des Umsatzes in den Geschäften der Kehler reich. Sehr beliebt ist bei den Innenstadt stammt von französischen Kunden, wie ein 2012 erstelltes Gutachten des französischen Nachbarn auch Büros „Dr. Donato Acocella Stadt- und Regionalentwicklung“ gezeigt hat. der Kehler Wochenmarkt. Nicht viel anders stellt sich die Situation in der Kehler Gastronomie dar, auch in den Restaurants belegen die französischen Gäste einen Gutteil der Tische – genaue Zahlen gibt es hier allerdings nicht. Die Kehler Hoteliers profitieren in hohem Maße vom Sitz des Europaparlaments in Straßburg – in den Sitzungswochen sind die meisten Über- nachtungsmöglichkeiten ausgebucht, Ähnliches gilt für die fünf Wochen, in denen der Straßburger Weihnachtsmarkt stattfindet. Die EU-Parlamentarier und ihre Mitarbeiter haben ihren Anteil daran, dass Kehl hinter Rust mit dem Europapark mit Abstand die zweitgrößte Übernachtungs-Destination in der Ortenau ist. 206 390 Übernachtungen hat das Statistische Landesamt 2012 registriert. Viele Gäste, die in Ferienwohnungen unterkommen, werden dem Statistischen Landesamt allerdings gar nicht gemeldet; das Gleiche gilt für die Touristen, die auf dem Wohnmobilstellplatz einen Stopp über Nacht einlegen, so dass die tatsächliche Zahl der Übernachtungen vermutlich noch deutlich darüber liegt. Wegen des Preis-Leistungs-Verhältnisses oder weil sie nicht mit dem eigenen Auto nach Straßburg fahren möchten, ziehen es zahlreiche Touristen vor, in Kehl zu übernachten.

Europäischer Verbraucherschutz spielt eine immer größere Rolle

Das Zentrum für Europäischen Verbraucher- sowie der Online-Schlichter für die Bundes- schutz im Glasbau am Kehler Bahnhof ist in länder Baden-Württemberg, Hessen, Bayern, Europa einzigartig: Nur in Kehl finden sich Berlin und Rheinland-Pfalz. Entstanden ist zwei nationale europäische Verbraucherzen- das Zentrum für Europäischen Verbraucher- tren – nämlich das deutsche und das franzö- schutz vor 20 Jahren aus dem drei Mitarbeiter sische – vereint. Zu diesen von Brüssel un- zählenden Verein Euro-Info Verbraucher, der terstützten Einrichtungen kommen noch die im Flachbau an der Ecke Straßburger Straße/ E-Commerce-Verbindungsstelle Deutschland Kinzigstraße untergebracht war. Inzwischen >> arbeiten 40 zweisprachige Beschäftigte im gefolgt vom Wareneinkauf in einem anderen Zentrum – die meisten sind Juristen. europäischen Land. Immer häufiger geht es dabei um Schwierigkeiten mit Einkäufen im 64 000 Anfragen und knapp 15 000 Be- Internet – die bereits auf einen Anteil von 70 schwerden von Verbrauchern wurden 2012 Prozent angewachsen sind. vom Zentrum für Europäischen Verbraucher- schutz bearbeitet. Etwa 70 Prozent der Streit- Weil gerade die Jugendlichen, die sich häufig fälle konnten nach Intervention der Mitar- im Internet bewegen, die Gruppe sind, die beiter des Zentrums außergerichtlich gelöst sich am wenigsten mit den Verbraucher- werden. Dabei handelte es sich jedoch nicht rechten auskennt, hat das Zentrum für Euro­ 112 nur um Fälle im Kehl-Straßburger Grenzge- päischen Verbraucherschutz 2012 – unter­ biet – die in Kehl unter einem Dach vereinten stützt vom Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau französischen und deutschen europäischen – das Projekt „Verbraucherschutz macht Verbraucherzentren waren mit mehr als der Schule“ gestartet. Dabei werden Schulklas- Hälfte aller an das europaweite Netzwerk der sen auf der deutschen und der französischen von Brüssel unterstützten Verbraucherzen- Rheinseite zum einen über ihre Rechte als tren herangetragenen Streitigkeiten befasst. Verbraucher informiert, zum anderen für die Die beliebteste Kehler Freizeitein- Die Hauptthemen, mit denen sich die Ver- Risiken sensibilisiert, die sich durch die Preis- richtung bei den französischen braucherzentren mittlerweile auseinander­ gabe von Daten im Internet ergeben. Nachbarn: Bis zu 80 Prozent der setzen, sind Transport und Tourismus, dicht www.cec-zev.eu Besucher des Freibades kommen aus Straßburg und Umgebung.

Französische Lust auf Vollkorn: Dreher-Filiale mitten in Straßburg

Laugenbrezeln, Kürbiskernbrot, Vollkornge- Nähe von Kehl und Straßburg bietet und die bäck – made in Kehl – gibt es seit dem 25. Filiale zu eröffnen. Fünfmal täglich fährt ein September auch in Straßburg zu kaufen. Und Dreher-Auto nach Straßburg, um dort Brote, zwar in der besten Innenstadtlage in der Rue Patisserie und Teiglinge anzuliefern. Brezeln, des Grandes-Arcades. „Ich habe es noch kei- Brötchen, alle Kleinteile eben, werden vor Ort ne Stunde bereut“, sagt Thomas Dreher über gebacken – in einer Bäckerei muss es nach seine neue Filiale im Herzen der Europastadt, Frischgebackenem riechen, findet Thomas obwohl er, um den 50 Quadratmeter großen Dreher. „Das gehört zur Atmosphäre.“ Laden betreiben zu können, viele bürokrati- sche Hürden nehmen und eine französische Er selber und sein Sohn sind die Geschäftsfüh- Tochterfirma – Dreher (Straback) – gründen rer von Dreher (Straback), die acht Vollzeitmit- musste. „Man kann nicht immer nur sagen, arbeiterinnen in der Rue des Grandes-Arcades ich warte, bis der Markt zu mir kommt“ – nach kommen aus Straßburg und Umgebung, das 27 Jahren in Kehl kennt Thomas Dreher seine Tochter-Unternehmen zahlt seine Steuern in französische Kundschaft so gut, dass er weiß, dass sich die Ernährungsgewohnheiten auf der anderen Rheinseite gewandelt haben: Viele El- sässer suchen eine Alternative zum Weißbrot, wenden sich hin zu Körnern und Vollkorn.

Nachdem Sohn Benjamin in Paris studiert Nicht nur warten, bis die und in Frankreich als Boulanger (Bäcker) und Kunden nach Kehl kommen: Patissier (Konditor) gearbeitet hatte, war der Das Backhaus Dreher ist jetzt günstige Zeitpunkt gekommen, den Stand- auch in bester Straßburger ortvorteil zu nutzen, den die geographische Einkaufslage präsent. >> Frankreich. So wollte es Thomas Dreher. Die ihm eine Sommerterrasse mit 25 Sitzplätzen Zusammenarbeit mit der Stadt Straßburg, lobt genehmigt, fürs nächste Jahr ist eine Erweite- er, sei sehr gut gewesen. Unter anderem wurde rung in Aussicht gestellt.

Freizeit, Vereine und Tourismus

Die beiden Freibäder sind seit vielen Jahren unangefochten die Kehler Freizeiteinrich- tungen, die am meisten Bürgerinnen und Bürger aus dem Nachbarland anziehen: Etwa 80 Prozent der Besucher des Kehler Freibades sind Franzosen, im Auenheimer Bad beläuft sich ihr Anteil auf rund 70 Prozent. Darunter sind ab und an Gruppen von 113 wenig angepassten Jugendlichen, die auf unterschiedliche Weise für Unruhe sorgen. Um Ärger und Streit erst gar nicht aufkommen zu lassen, beschäftigen die Stadtge- meinschaft Straßburg und die Stadt Kehl seit dem Sommer 2000 an fünf Tagen in der Woche drei junge, zweisprachige Animateure, welche die Jugendlichen in den Bädern gezielt ansprechen, zu gemeinsamen sportlichen Aktivitäten auffordern oder schlich- tend eingreifen, wenn sich Schwierigkeiten anbahnen. Die Kosten für den Einsatz der Animateure übernehmen Straßburg und Kehl zu gleichen Teilen.

Auch in Kehler Vereinen – vor allem in Sportvereinen – sind die Nachbarn von der an- deren Rheinseite präsent. Der Kehler Fußballverein (KFV) und die Kehler Turnerschaft unterhalten, wie auch viele andere Kehler Vereine, Kooperationen oder Kontakte mit Gleichgesinnten auf dem Gebiet der Stadtgemeinschaft Straßburg. Seit zwei Jahren unterstützt der Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau Vereine, wenn sie grenzüberschreiten­ de Veranstaltungen planen. Über den sogenannten Mikro-Projekte-Fonds der Euro- päischen Union können Organisationen, Clubs und Vereine dann Zuschüsse erhalten, wenn sie dafür sorgen, dass sich Menschen von beiden Rheinseiten begegnen. Die be- vorzugte Freizeiteinrichtung für Kehler Familien und Schulklassen in Straßburg ist das Vaisseau: 2012 wurden dort 17 500 deutsche Besucher gezählt, darunter waren 150 Schulklassen mit insgesamt 4500 Schülerinnen und Schülern sowie Begleitpersonen.

Beliebt und häufig rasch ausgebucht sind geführte Straßburg-Touren zu bestimmten Themen – meist mit geschichtlichem Hintergrund –, die über die Tourist-Information von den Kehler Gästeführern angeboten werden. Auch geführte Radexkursionen in die Nachbarstadt werden von Kehlerinnen und Kehlern gerne genutzt, um weniger be- kannte Ecken Straßburgs kennen zu lernen. Wer Straßburger Ereignisse wie die Weih- nachtsmärkte oder die Münsterbeleuchtung und das sommerliche Licht- und Laser- Spektakel gerne in der Gruppe entdecken möchte, findet bei der Tourist-Information entsprechende Angebote.

Die Kehler Tourist-Information ist Anlaufstelle für Kehler und Straßburger gleichermaßen: Während sich die französischen Nachbarn für Kehler Speziali- täten interessieren, lassen sich Kehler von den Gästeführern gerne Straßburg erklären. >> Fußball, Zumba, Fahrradtour: Wie Kehler Vereine die Nähe zu Straßburg nutzen

„Eine Kooperation drängt sich geradezu auf“, schaffen, in der Oberliga-Mannschaft des meint Claus Haberecht, Präsident des Keh- KFV mitspielen – wiederum ein Vorteil für ler Fußballvereins (KFV). Im September 2013 beide Seiten. Um die neue Partnerschaft zu hat er gemeinsam mit dem Präsidenten und festigen, soll der nächste Elsass Spring Cup, dem Vereinsvorsitzenden des Straßburger das große europäische Jugendfußballturnier, Fußballclubs Racing, Marc Keller und Patrick das der KFV jährlich organisiert, gemeinsam 114 Spielmann, eine Vereinbarung unterzeich- mit Straßburg geplant werden und zum Teil net. Darin ist eine Exklusivpartnerschaft für im Meinau-Stadion stattfinden. Darüber hin- Jugendliche geregelt, von der sowohl die aus soll Racing ein Vorbereitungsspiel gegen Vereine als auch junge Fußballtalente aus einen anderen Club im Kehler Rheinstadion der Region profitieren. „Eine klassische Win- austragen: „So kann sich der Straßburger Wer Zumba-Kurse anbieten win-Situation“, freut sich der KFV-Präsident. Vorzeigeverein präsentieren und Fußball, der möchte, braucht eine spezielle in Straßburg gespielt wird, Ausbildung und eine Lizenz. Besonders talentierte jun- auch für die deutschen Zu- Auf der Suche nach Trainern ist ge Kehler Kicker haben nach schauer interessant werden.“ die Kehler Turnerschaft in Straß- der neuen Vereinbarung die burg fündig geworden. Möglichkeit, zwei- bis dreimal Eine Kooperation in der Ju- pro Woche in der anspruchs- gendarbeit mit einem größe- vollen Racing-Fußballschule ren Verein bestehe beim KFV in Straßburg mitzutrainieren. zwar schon länger, nämlich Sie können weiterhin beim mit dem Karlsruher SC, „aber KFV spielen oder dem fran- die Wege sind einfach zu zösischen Club beitreten. „Die weit“, sagt Claus Haberecht. Schule hat Bundesliga-Ni- Aufgrund der Entfernung veau“, sagt Claus Haberecht, hätten die Jugendlichen Pro- entsprechend groß sei die Claus Haberecht bleme, Schule und Training Chance für die Jugendlichen. unter einen Hut zu bringen. Wer fit genug ist für das Training, entschei- „Es ist ein großer Vorteil, wenn die Ausbil- den zum einen die Kehler Jugendtrainer, zum dung heimatnah möglich ist“, meint der anderen sogenannte Scouts, die den KFV und Präsident des Fußballvereins. Er rechnet da- weitere Vereine aus der Ortenau besuchen mit, dass fünf bis sechs junge Kicker von der und dem Straßburger Club auf diese Weise deutschen Rheinseite bald mit Racing trai- Zugang zu Talenten von der deutschen Rhein- nieren können. seite verschaffen. Dass es sprachlich auf dem Rasen keine Pro- „Bislang ist es ein letter of intent“, eine Ab- bleme gibt, zeigt die Erfahrung: Rund 40 der sichtserklärung, sagt Claus Haberecht. Nun 350 aktiven Jugendlichen im KFV sind Fran- komme es auf die Mitarbeit der Jugendabtei- zosen. „Fußballtechnisch funktioniert die lung inklusive der Trainer an, die die Verein- Verständigung in jedem Fall“, schmunzelt der barung mit Leben füllen und den Austausch KFV-Chef. Dass der neue Partner nicht nur im Detail ausarbeiten sollen. „Das muss von ein großer Verein ist, sondern auch auf der unten nach oben laufen, damit es funktio- anderen Rheinseite spielt, ist für Claus Ha- niert“, ist der KFV-Präsident überzeugt. An- berecht ein besonderer Vorteil. Der Präsident, gedacht ist ebenfalls, dass Racing-Fußballer, der sich bereits als langjähriger Vorstand des die es in Straßburg nicht in den ersten Kader Stadtjugendrings und als Präsident der grenz- >> überschreitenden Jugendkul­ ga, sondern nimmt als Gast- turwerkstatt Zig-Zack für mannschaft am deutschen deutsch-französische Jugend­- Ligabetrieb teil. Ihre Spiele projekte engagiert hatte, ist trägt sie auf dem Platz der überzeugt: „Beide Staaten Kehler Turnerschaft aus, zum sind Vorreiter für Europa, wir Teil trainiert sie auch dort. „In haben fast einen gewissen Frankreich müssten die Out- Auftrag, den Rhein als Binde- laws viel weitere Wege zu glied anzunehmen und nicht den anderen Spielorten zu- mehr als Grenze zu sehen.“ rücklegen“, begründet Klaus Die Region sei die Keimzelle Groß die Kooperation. Europas, meint er, und stellt 115 die rhetorische Frage: „Wenn Klaus Groß Ein großer Vorteil für die KT wir es hier nicht schaffen zu- war die Grenznähe, als der sammenzuarbeiten, wo denn dann?“ Trendsport Zumba vermehrt nachgefragt wurde. „Um das anzubieten, benötigt man Der KFV ist indes nicht der einzige Verein, der Trainer, die eine spezielle Ausbildung und den Blick auf die andere Rheinseite richtet: eine Lizenz haben“, sagt Klaus Groß. „Man Die Kehler Turnerschaft (KT) hat 2013 erst- kann nicht einfach rumhopsen und sagen: mals gemeinsam mit dem Verein Randon- ‚Das ist jetzt Zumba‘.“ Da der Trendsport in neurs de Strasbourg eine grenzüberschrei- Straßburg längst angekommen war, ging die tende „Vélo Tour“ organisiert, die es in den Kehler Turnerschaft eine Kooperation mit der vergangenen Jahren nur auf der französi- dortigen Association Boeneema Europe-Af- schen Rheinseite gab. Die Radler hatten die rique ein. So können in Kehl inzwischen vier Auswahl zwischen fünf verschieden langen Zumba-Kurse angeboten werden, die Trainer Strecken, die sowohl durch die Straßburger kommen allesamt von der anderen Rheinsei- Umgebung als auch durch die Ortenau führ- te. „Das hat eingeschlagen, die Stunden sind ten. Start und Ziel waren jeweils im Garten voll“, freut sich Klaus Groß über den Erfolg. der zwei Ufer. Die Fahrradtour, an deren Or- Auch der Trainer der ersten Handball-Mann- ganisation Vereinsmitglieder der KT wie der schaft ist ein Elsässer, zudem bietet die KT im Randonneurs beteiligt waren, wurde vom Fitnessbereich einen Afro-Aerobic-Kurs in Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau kofinanziert Zusammenarbeit mit einem professionellen und soll 2014 wiederholt werden. Musiker der Straßburger Gruppe Sokan an.

Rund zehn Prozent der Vereins- Auch im sportlichen Alltag der KT wird die Schließlich gibt es Sportgruppen, die keine mitglieder der Kehler Turner- deutsch-französische Freundschaft gelebt. KT-Mitglieder sind, aber auf dem Platz des schaft sind Franzosen. „Wir haben ein gutes und herzliches Ver- Vereins trainieren. Dazu zählt eine Cricket- hältnis mit den Elsässern entwickelt“, meint Gruppe aus Straßburg, ebenso wie eine Ju- Klaus Groß, Vorsitzender des Sportvereins. gendfußballmannschaft des Eurokorps, die Zehn Prozent der Mitglie- sich als eingetragener Verein FC Eurodistrict der seien Franzosen, „das nennt: Die 40 bis 50 Kinder, zum Teil Deut- zieht sich durch alle Sport- sche, zum Teil Franzosen, treffen sich jeden gruppen durch“. Darüber Samstag in Kehl. Die Grenzüberschreitung hinaus gebe es zahlreiche sei völlig selbstverständlich geworden, sagt Kooperationen, beispiels- Klaus Groß. Die Grenze sei quasi gar nicht weise mit dem Baseball- mehr existent – ein Vorteil für den größten Partner aus Straßburg, Kehler Verein, ist der Vorsitzende überzeugt: den Outlaws. Die Mann- „Wir haben eine Großstadt nebenan. Dieses schaft spielt nicht in der Potenzial an Mitgliedern können wir uns französischen Baseball-Li- nicht entgehen lassen.“ >> Garten//Jardin setzt sich für die Tram ein

Kehl ohne Passerelle des deux Rives? Auch wenn man es sich heute nur noch schwer vorstellen kann: Vor elf Jahren war die Brücke, welche die beiden Teile des Gartens der zwei Ufer über den Rhein hinweg verbinden soll- te, höchst umstritten. 4000 Unterschriften hatten Kehler Bürgerinnen und Bürger gegen das von Marc Mimram geplante Bauwerk 116 gesammelt und die damalige, konservative Straßburger Stadtregierung hätte die Garten- schau lieber ohne Brücke gefeiert. In diesen bewegten Zeiten hat sich der Verein Garten// Jardin zusammengefunden und für die Passe- relle gekämpft. Zu einer kleinen Demo für die Brücke fuhren die Mitglieder sogar mit dem sischen Teils des Gartens der zwei Ufer empor Vor elf Jahren hat der Verein Kirchenschiff in die Nachbarstadt. Heute setzt wächst oder eben die geplante Verlängerung Garten//Jardin für die Passerelle sich der deutsch-französische Verein, dessen der Tramlinie D von der heutigen Endhalte- gekämpft, heute setzt er sich erste Mitglieder sich bei den Veranstaltungen stelle Aristide Briand bis zum Kehler Rathaus. für die Tram ein. Beim Rheinfest zur Bürgerbeteiligung zum Garten der zwei zeigten die Vereinsmitglieder eine Ufer und zur grenzüberschreitenden Garten- Wenn es die Windverhältnisse erlauben, heftet Ausstellung historischer Trambilder. schau kennen gelernt haben, für die Verlänge- Christel Schumm – Mitgründerin von Garten// rung der Straßburger Tramlinie D nach Kehl ein. Jardin – die Zeitungsartikel ans Brückengelän- der, die zu grenzüberschreitenden Themen in Jeden ersten Mittwoch im Monat von 16 Uhr den zurückliegenden Wochen in deutschen an treffen sich die badischen und elsässischen und französischen Zeitungen erschienen sind. Mitglieder von Garten//Jardin und ihre noch Darunter immer wieder Texte über die Fort- viel zahlreicheren Sympathisanten auf der schritte bei den Planungen für die Tram. Für Plattform der Passerelle. Ob Sonnenschein, Re- die Mitglieder und Sympathisanten von Gar- gen oder Schnee – das Rendezvous über dem ten//Jardin wäre die Tram über den Rhein nach Strom findet statt. Jeder bringt etwas mit; zu dem Garten der zwei Ufer und der Passerelle trinken und zu essen – vorwiegend Selbstge- die Erfüllung eines weiteren Wunschtraums. machtes – gibt es immer reichlich. Beim Pick- Wer mehr Informationen über die Aktivitäten nick tauscht man sich aus über alle Themen, des Vereins bekommen möchte, kann sich auf die grenzübergreifend interessieren – ob es die dessen Homepage unter www.gartenjardin.eu Entwicklung Straßburgs Richtung Rhein ist, das informieren oder sich unter gartenjardin@ neue Wohnquartier, das am Rande des franzö- yahoo.eu in die Rundmailliste eintragen lassen.

Deutsch-französischer Brunch beim Rheinfest im Garten der zwei Ufer: Wer etwas zum großen Buffet beisteuerte, konnte mitessen. Betreut wurde das Buffet von Mitgliedern von Garten//Jardin.

>> Kultur

Korrespondierende Kunstwerke und das Open-Air-Konzert der Straßburger Philharmo- niker im Garten der zwei Ufer, Kooperation des Kehler Kulturbüros mit dem Straßbur- ger Maillon-Theater, Straßburger Opern-Aufführungen im Kehler Theater-Abonnement inklusive Mitfahrgelegenheit – Kulturinteressierten eröffnet sich durch die Grenzüber- schreitung ein breites Spektrum. Vor allem durch das ge- meinsame Veranstaltungsprogramm, das Straßburg und Kehl für die grenzüberschreitende Gartenschau 2004 or- ganisiert haben, ist die Zusammenarbeit im Kulturbereich enger geworden. 117 Mit der Gartenschau hat grenzüberschreitende Kunst dau- erhaft Einzug in den Garten der zwei Ufer gehalten: Sylvie Blochers leuchtend gelb-orangene Ellipsen muten an wie fliegende Untertassen, sollen aber schwebende Inseln über dem Uferbereich darstellen, auf denen der Parkbesucher Zum Open-Air-Konzert der sitzend oder liegend die Aussicht über den Rhein genießen kann – idealerweise nimmt Straßburger Philharmoniker er dabei Blickkontakt zu einem Inselsitzer auf der französischen Rheinseite auf. Das zu- kommen alljährlich zwischen mindest ist die Intention der Künstlerin. Sitzen muss man dabei keineswegs allein: Bis 10 000 und 15 000 Besucher zu 18 Personen oder 1200 Kilogramm kann jede der Ellipsen tragen. Der ebenfalls in- von beiden Rheinseiten in den ternational renommierte Künstler Akio Suzuki hat zur Gartenschau im Straßburger Teil Garten der zwei Ufer. des Gartens ein Kunstwerk errichtet, das aus zwei wie Ohrmuscheln in einander ver- schlungenen Mauern besteht. Auf der deutschen Seite gibt es dazu drei kleine Platten mit Fußabdrücken – wer sich darauf stellt, soll den Garten und den Rhein in besonderer Weise hören können. Eine Grenzrose des Essener Künstlers Thomas Rother erinnert seit dem 28. Juni auf Höhe des Dammdurchbruchs in der Hagenstraße an die neun von den Nazis wenige Stunden nach der Befreiung Straßburgs am Kehler Rheinufer ermordeten Widerstandskämpfer des Réseau Alliance. Eine weitere Grenzrose hat Oberbürgermeister Günther Petry am gleichen Tag seinem Straßburger Kollegen geschenkt – sie soll auf der gegenüberliegenden Rheinseite ihren Platz finden.

2003 haben die Kehler Stadtbibliothek und die Médiathèque Sud in Illkirch-Graffen­ staden ein Partnerschaftsabkommen geschlossen. Mindestens einmal jährlich tauschen die beiden Einrichtungen rund hundert Medien (Kinder- und Jugendbücher und Kinder- hörbücher) aus. Zweimal pro Jahr liest eine Mitarbeiterin der Kehler Mediathek fran- zösischen Kindern aus deutschen Büchern vor, eine französische Kollegin revanchiert sich, indem sie Kehler Kindern Geschichten aus französischen Büchern erzählt. Zu den Veranstaltungen kommen jeweils um die 90 Schülerinnen und Schüler.

Seit 2005 konzertiert das Philharmonische Orchester alljährlich Ende Juni im Garten der zwei Ufer unter freiem Himmel und lockt jeweils 10 000 bis 15 000 Besucher von beiden Rheinseiten in den Park. In manchen Jahren haben die Städte Straßburg und Kehl das Konzert in ein zweitägiges, gemeinsames Rheinfest eingebunden, zu dem bei gutem Wetter mehrere Zehntausend Besucher in den Park strömten. Auch wenn die Philharmonie im Straßburger Musik- und Kongress-Zentrum konzertiert, kommen etwa 20 Prozent der Zuhörer von der deutschen Rheinseite; in der Rheinoper stellen die deutschen Opernfans einen Anteil von 15 Prozent an den 3700 Abonnenten und von 23 Prozent an den rund 100 000 Einzelkarten-Käufern. >> „Grenzüberschreibung“ ist mit Edelstahlplatten zugedeckt

Sie sollten die Grenze auslöschen, die Euro- geschlagen oder mit Farbe beschmiert. Die pabrücke zum Ort machen, an dem Europa Kabel, über die die Leuchtröhren im Innern sich konkretisiert, allen Europäern Heimat der Kästen mit Strom versorgt wurden, wur- geben: Mit solchen hehren Erwartungen ist den abgeschnitten und in den vergangenen das „Grenzüberschreibung“ genannte Kunst- Jahren – weil aus Kupfer – immer wieder werk aus 40 Edelstahlstelen mit Texten von gestohlen. Sogar die auf Platten gedruckten Autoren aus ebenso vielen europäischen Texte wurden entwendet. Ländern im Mai 1999 feierlich eingeweiht 118 worden. Seit mehr als einem Jahr sind die Weil nicht klar ist, wie das Kunstwerk auf Textfenster in den Säulen am Brückengelän- der Europabrücke so wiederhergestellt und der mit Edelstahlplatten abgedeckt. geschützt werden kann, dass es nicht gleich wieder zerstörungswütigen Zeitgenossen Zirkus auf französische Art oder Die Idee, dass 40 Autoren aus den damaligen zum Opfer fällt, haben sich die Städte Straß- modernes Tanztheater: Mitgliedsstaaten des Europarates zu dessen burg und Kehl auf eine Übergangslösung Das Programm des Straßburger 50. Geburtstag Texte in ihrer Muttersprache verständigt: Die Textkästen der Stelen wur- Maillon-Theaters zieht auch über die Grenze schreiben sollten, stammt den mit Edelstahlplatten verschlossen. deutsche Zuschauer an. von dem Straßburger Künstler Michel Krie- ger, der auch der geistige Vater des Gartens der zwei Ufer ist. Die Stelen hat der in Leip- zig geborene Designer Andreas Brandolini entwickelt – sie waren mit kleinen Neonröh- ren versehen und brachten die Texte in der Dunkelheit in allen Regenbogenfarben zum Das älteste grenzüberschreiten- Leuchten. Die Freude an dem symbolträchti- de Kunstwerk – die Grenzüber- gen Kunstwerk währte allerdings nicht lange: schreibung auf der Europabrücke Immer wieder wurden die Kunststoffplatten, – wurde immer wieder mutwillig welche die Texte schützten, zerkratzt, ein- zerstört.

Kultur auf der anderen Rheinseite oder: „Die Deutschen lachen an anderen Stellen“

Schwindelerregende Akrobatik, französischer zusammen an einen Tisch: Bernard Fleury, Zirkus und hochkarätige Theatergruppen – das Direktor des Straßburger Maillon-Theaters, Straßburger Theater Le Maillon bringt zeit- Stefanie Bade, Leiterin des Kehler Kulturbü- genössische Kunst auf die Bühne, die auch ros, sowie Mitarbeiter des Kulturbüros und deutsche Kulturliebhaber fasziniert. Rund 250 der Kunstschule Offenburg. Gemeinsam wird Abonnenten kommen inzwischen aus Deutsch- überlegt, bei welchen Stücken sich eine grenz- land, vorwiegend aus Kehl und der Ortenau – ein überschreitende Zusammenarbeit anbietet. Erfolg, der unter anderem der langjährigen Ko- „Wir legen immer Wert darauf, dass ein Zirkus operation zwischen dem Straßburger Theater darunter ist“, sagt Stefanie Bade, „weil fran- und dem Kehler Kulturbüro zuzuschreiben ist. zösischer Zirkus eine ganz besondere Sparte ist, viel poetischer und artistischer als Zirkus Wenn das Programm für die folgende Kultur- in Deutschland“. Eine Veranstaltung könne saison geplant wird, setzen sie sich alljährlich ein Konzert sein oder etwas Tänzerisches – >> „etwas, das wir hier in Kehl Offenburg und Kehl direkt nicht anbieten können“. Be- ins Maillon-Theater oder um­ sonders wichtig ist es ihr gekehrt auch Straßburger allerdings, dass die Kehler im zu Veranstaltungen auf die Straßburger Maillon in den Ge- deutsche Rheinseite. „20 nuss eines bedeutenden deut- bis 25 Kehlerinnen und Keh- schen, zeitgenössischen The- ler nutzen den Kulturbus im ater-Ensembles kommen, wie Durchschnitt, wenn er zu ei- beispielsweise der Volksbühne ner Zirkus-Aufführung nach Berlin, die schon öfters in der Straßburg fährt“, sagt Stefa- Nachbarstadt zu Gast war. nie Bade, bei Theaterstücken seien es weniger. Pro Saison Bernard Fleury „Wir laden regelmäßig deut- gibt es derzeit drei Veranstal- 119 sche Theatergruppen nach tungen im Maillon-Theater, Frankreich ein“, sagt Bernard Fleury, der das zu dem Kehler Kulturfreunde per Kulturbus Maillon-Theater seit 2002 leitet, „nicht nur anreisen können. aus Berlin, auch aus Dresden, Düsseldorf oder Köln“. Zu solchen Aufführungen kommen be- „Unser Publikum ist jetzt teilweise deutsch, das sonders viele deutsche Zuschauer, weiß der hat sich mit der Kooperation so entwickelt“, Maillon-Direktor aus Erfahrung. „So etwas freut sich Bernard Fleury. Von den 2800 Abon- gibt es in ihren eigenen Städten oft nicht“, nenten des Theaters seien rund 250 Deutsche. erklärt er und fügt schmunzelnd hinzu: „So „Das ist ein großer Anteil für ein Theater“, sagt gesehen hilft der Austausch an der deutsch- der Direktor. „Im Musikbereich sind solche französischen Grenze auch der Beziehung Zahlen natürlich ganz normal, aber im Theater- der Deutschen zum deutschen Theater“. und Tanzbereich mit zeitgenössischer Kunst ist das ein besonderer Erfolg.“ Der grenzüber- Der Austausch, von dem er spricht, besteht schreitende Kulturbus, der als Kooperation zum einen darin, dass die ausgewählten zwischen dem Maillon und der Kunstschule Of- Stücke in die Theaterprogramme in Kehl und fenburg entstanden ist und zeitweise vom Eu- Offenburg aufgenommen und vor Ort Karten rodistrikt Strasbourg-Ortenau gefördert wurde, dafür verkauft werden. Das Maillon-Theater habe dazu entscheidend beigetragen. „Ich weiß, sorgt außerdem – falls die Veranstaltung dass es Zuschauer gibt, die erst mit dem Kultur- es erfordert – für eine Untertitelung, da- bus gekommen sind und die sich inzwischen mit deutsche Besucher keine Verständnis- privat organisieren, um herzukommen“, erzählt schwierigkeiten haben. Zum anderen fährt Bernard Fleury. Durch die vielen Zuschauer bereits seit 2005 ein sogenannter Kulturbus von der anderen Rheinseite hat er inzwischen über den Rhein. Er bringt Interessierte aus auch gelernt: Die Deutschen haben einen an- deren Humor als ihre französischen Nachbarn. „Wenn wir ein volles Haus haben und ein Drit- tel des Publikums deutsch ist, dann ist es sehr lustig zu sehen, dass die Deutschen an ande- ren Stellen lachen. Und das liegt nicht nur an der zeitlichen Verzögerung durch die Überset- zung.“ Bernard Fleury wünscht sich, die grenz- überschreitende Zusammenarbeit noch weiter ausbauen zu können – sofern die finanziellen Unterhaltung fürs Auge: Mittel es erlauben. „Denn ich denke, dass sich Bei vielen kulturellen Veranstal- Europa auch über die Kultur entwickeln wird. tungen sind Fremdsprachen- Und das Maillon ist ein französisches Theater kenntnisse nicht vonnöten. mit einem europäischen Konzept.“ >> Medien

50 Jahre deutsch-französische Freundschaft, 20 Jahre offene Grenzen – eigentlich müsste man sich kennen. Das Nachbarland ist so nah – und doch ist alles anders. Die Unterschiede aufzuzeigen und zu erklären, dazu tragen auch die Medien der Region bei. Doch wie sieht die Berichterstattung abseits von festlichen Anlässen und Jahres- tagen aus?

Grenzüberschreitende Berichterstattung oder: Was interessiert den Nachbarn?

120 Der deutsch-französische Sender arte, der fallen Dinge raus, weil eine der beiden Seiten 2012 sein 20-jähriges Bestehen feierte, ver- sagt: Das versteht bei uns keiner. Oder: Das dankt dem grenzüberschreitenden Blick interessiert bei uns keinen.“ seine gesamte Existenz. Doch Themen aus John Reichenbach, stellvertreten- der Region sind – trotz artes Hauptsitzes Mit seinem Ansatz und seiner binationalen der Chefredakteur von 3: in Straßburg – nicht zwangsläufig die Regel. Entstehungsweise hat arte freilich eine Son- „Was wir über die andere Rhein- „Unsere Innenpolitik ist die Europapolitik“, derposition unter den Medien der Region. seite machen, interessiert in sagt Sinje Matzner, Leiterin der Nachrich- Meist sind die Themen am Quai du Chanoine Paris eher wenig.“ tensendung „arte journal“. Sprich: „Wenn Winterer planbarer, hintergründiger als bei der Euro gerettet werden muss, wenn Grie- den Mitbewerbern, die mehr auf lokale Aktu- chenland Hilfe braucht – das ist unser Kern.“ alität reagieren müssen. „Wenn ein schwerer Trotzdem wagt arte immer wieder den Blick Unfall passiert, wie zum Beispiel im Sommer vor die eigene Haustür, häu- auf der A5 bei Rust, holen wir fig in Fünf-Minuten-Repor­ uns selbstverständlich Bild- tagen am Sonntag. Da material von den Kollegen werden dann zum Beispiel vom SWR“, sagt John Rei- das Schicksal der Raffinerie chenbach, stellvertretender Petroplus in Reichstett the- Chefredakteur von France matisiert oder die Sparpläne 3 in Straßburg. „Auch die beim PSA-Werk (Peugeot/ Eröffnung eines besonde- Citroën) in Mulhouse. „Die ren Supermarktes kann ein Probleme sind oft beidseits Thema für uns sein“ – bis des Rheins die gleichen“, sagt hinunter nach Basel, denn Sinje Matzner. Insofern sei es Grenzen überschreitet man interessant, immer wieder in Sinje Matzner bei France 3 dreieckförmig diesen Mikrokosmos Straß- mit der Schweiz. Doch die burg-Ortenau hineinzuschauen, welche Ant- entsprechenden Inhalte werden weniger: Im worten sich hier für welche Fragestellungen Juni 2013 hat der Kanal seine Sendung „Deux ergeben. Generell liege für den Zuschauer Rives“ eingestellt – nach rund zwölf Jahren. der Reiz des „arte journals“ in der Erwar- Der Straßburger Gemeinderat nahm dies zum tung, etwas zu sehen, „was man zuhause in Anlass, in einer Resolution Ende September seinem nationalen Mediensystem nicht be- die Aufrechterhaltung des lokalen Formats zu kommt. Und das entsteht, weil Deutsche und fordern. Als festes Programmelement bleibt Franzosen gemeinsam in einer Redaktion „Rund Um“, ein montags bis freitags ausge- sitzen und stundenlang über Themen disku- strahltes Nachrichtenjournal mit Reportagen tieren.“ Das Ergebnis könne dann schon mal aus der Region. „Manchmal kaufen wir inte- „sehr speziell sein“, räumt sie ein. „Manchmal ressante Programminhalte aus Deutschland >> oder der Schweiz dazu“, sagt John Reichenbach. des gesellschaftlichen Auftrags. „Wir verkau- Er weiß aber auch: „Was wir über die andere fen keine Schuhe oder Currywürste. Eine Bei- Rheinseite machen, interessiert in Paris eher lage wie ,Salut Voisin’ machen wir nicht, da- wenig.“ Für Paris ist das Straßburger Studio mit sie gut ankommt. Sondern weil sie für das hauptsächlich wegen der EU-Institutionen Zusammenleben beider Nationen einen Sinn relevant. Trotzdem hat er das Gefühl, „dass ergibt.“ Dazu gehörte auch 2013 wieder eine wir uns unseren Nachbarn immer mehr öff- intensive Berichterstattung rund um die Bun- nen“. In seinen Augen nicht destagswahl, bei der während von ungefähr: „Die Elsässer der heißen Phase in der DNA sind vielleicht europäischer jeden Tag ein Leitartikel zu als der Rest Frankreichs.“ lesen war. Relevant seien The- men auch dann, wenn sie Ver- Vielleicht finden sie es aber gleiche zulassen, sagt Jean- auch einfach nur praktisch, Marc Thiébaut. „Wir schauen 121 in Deutschland einkaufen zu zum Beispiel regelmäßig, was können. Oder sie gehen gerne in Baden-Württemberg bes- ins Theater oder in eine Aus- ser läuft als bei uns und stellung. Viele Elsässer grei- erklären es unseren Lesern. fen dann zur DNA (Dernières Einen Artikel über das Schul- Nouvelles d’Alsace), die zwei- Jean-Marc Thiébaut system und die Sprachen mal im Monat ihre „Kultur­ kann man dann hervorragend agenda“ herausbringt: Zwei Seiten mit allen verbinden mit ökonomischen Fakten. Oder wichtigen Terminen zwischen Karlsruhe und wir schicken einen Mitarbeiter nach Freiburg Basel. Außerdem gibt es weitere Tipps und zur Eröffnung eines Öko-Viertels. Warum? Berichte in der Wochenendbeilage „Reflets“. Weil wir im Elsass auch Öko-Viertel haben.“ Bis 2012 hatte die DNA sogar eine deutsch- sprachige Ausgabe, die als „Straßburger Neu- „Unsere Berichterstattung hat sich verändert“, este Nachrichten“ bereits 1877 geboren wur- sagt Hubert Röderer von der Badischen Zei- de. Das Ende folgte nicht zuletzt aufgrund der tung, Redaktion Offenburg. „Spätestens seit strengen Sprachpolitik der französischen Re- dem Schengener Abkommen und der Tat- gierung, die es nicht erlaubte, bestimmte Teile sache, dass die Grenze heute kinderleicht der Zeitung auf Deutsch zu veröffentlichen. zu passieren ist, sind die Menschen von hier Heute erhalten die Abonnenten der zwei- neugieriger geworden auf ihre Nachbarn. Und sprachigen Ausgabe eine dünnere deutsche das ist gut so.“ Bei der BZ liefert eine Kor- Beilage mit der regulären DNA mitgeliefert. respondentin regelmäßig Berichte über das Eine deutschsprachige Internetseite gibt es Elsass, die teilweise nicht nur in der Offen- weiterhin. Der stellvertretende Chefredakteur burger, sondern gleich in der Gesamtausgabe Jean-Marc Thiébaut verweist auf besondere erscheinen. Jeden Samstag gibt es zudem die Projekte, wie „Salut Voisin“, um die mediale Rubrik „Blick ins Elsass“, mit „allen möglichen Verbundenheit beider Länder zu demons­ Terminen, vom historischen Dorffest über eine trieren. Eine der Geschichten in „Salut Voisin“ Theaterpremiere bis zum Fußballspiel im gro- handelt von zwei Reportern aus beiden Län- ßen Straßburger Stadion. Aber auch politische dern, die einen Tag am Rhein entlang spaziert Entwicklungen und Tourismus. Wir betrach- sind und ihre Eindrücke anschließend gemein- ten das als grundlegenden Service.“ sam aufgeschrieben haben. Solche journalis- tischen Gelegenheiten sind selten geworden Mit ihrem wöchentlichen Serviceteil kommen in einer Branche, die sparen muss. die Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) nach Aussage von Frank Löhnig von der Lo- Ob eine Geschichte gemacht wird oder nicht, kalausgabe Acher- und Bühler Bote gut an. ist für Jean-Marc Thiébaut allein eine Frage „Vor allem für die jugendliche Zielgruppe lie- >> SONDERBEILAGE MITTELBADISCHE PRESSE www.bo.de Mittwoch, 20. März 2013

fern wir grenzüberschreitend Infos, die rele- magazin“. Dabei handelt es vant sind.“ Dazu kommt einmal im Monat ein sich um Kooperationspro- Unsere Themen Blick auf das Straßburger Kulturprogramm. jekte mit der Wirtschafts- Freibad Wacken: »Nordisches« Becken erlaubt Themen, die für einen größeren Leserkreis region Offenburg/Ortenau, Nutzung das gesamte Jahr. wichtig sein könnten, wie etwa die Bebauung der Stadtgemeinschaft Straß­ Forscher von Weltruf arbeiten an der Universi- Straßburgs in Richtung Rhein, schafften es burg und dem Eurodistrikt, tät Straßburg. Europäische For- schungseinrich- auch in den Regionalteil der Zeitung. Generell mit denen auf Messen „die tung muss wohl Arbeit einstellen.

ist die Aufteilung folgendermaßen: Die Lokal- Stärken und Chancen der Für die Kleinen: Am 27. und 30. März überreichen übergroße Oster- redaktion in Bühl betreut auf französischer Grenzregion präsentiert wer­ hasen auf dem Gutenbergplatz Seite Haguenau und das Umland. Von Achern den“, sagt Sigrid Hafner. kleine Geschenke. aus blickt man südlicher, auf Straßburg und Außerdem produziert Reiff Umgebung. Zu besonderen Anlässen kann die mit „Salut l’Ortenau“ und Berichterstattung im Lokalteil auch mal bis „Bienvenue – willkommen in ins elsässische Rosheim gehen, schließlich ist Straßburg“ zwei Magazine, 122 es die Partnerstadt von . die sich an französische Leser in den Randgemeinden Straß- Der regionale Bezug ist auch burgs beziehungsweise an Gleich in mehreren Magazinen für die Zeitungen der Mit- deutsche Leser im Verbrei- werden den Lesern die Besonder- telbadischen Presse (Reiff tungsgebiet der Mittelbadi- heiten auf der jeweils anderen Medien) mitunter ausschlag- schen Presse richten. „Salut“ Rheinseite nahegebracht. gebend, damit sie grenzüber- erschien erstmals 2003 und schreitend berichten. Häufig wird heute siebenmal pro werden dann Ereignisse von Jahr kostenlos verteilt. Den weiter weg lokal verortet, wie Schwerpunkt bilden Termine beim Besuch von Bundesprä- aller Art: Kulturelle Veran- sident Gauck in Oradour-sur- staltungen, Feste, verkaufs- Glane Anfang September, offene Sonntage. „Daneben wo im Zweiten Weltkrieg werden Land, Leute, Tradi­tio­- Hunderte Bewohner von der Sigrid Hafner nen, Brauchtum aber auch deutschen Waffen-SS getötet Neuigkeiten aus Politik und wurden. Auch elsässische Zwangsrekrutierte Wirtschaft thematisiert“ erklärt Sigrid Hafner. waren damals beteiligt – die Mittelbadische „Bienvenue“, ein Kooperationsprojekt mit der Presse hat das Thema deshalb anlassbezo- Händlervereinigung Vitrines de Strasbourg gen in der Region verankert. Wirtschaftsthe- und Reiff Medien, gibt es seit 2005. Es er- men spielen ebenfalls eine Rolle, wenn etwa scheint viermal jährlich und fußt auf einem das deutsche Sparkonzept Auswirkungen auf ähnlichen Prinzip wie sein Pendant. die Hochgeschwindigkeitstrasse für TGV und ICE hat. „Wir lassen immer wieder einfluss- „Verbraucherthemen gehen immer“, sagt reiche Persönlichkeiten aus Straßburg und Markus Knoll, der Geschäftsführer von Hit­ dem Elsass zu Wort kommen“, sagt Sigrid radio Ohr, das ebenfalls zu Reiff gehört. Ge- Hafner von der Mittelbadischen Presse, „von rade deshalb könnten die Medien auf der der Handwerks- zur Handelskammer, von der anderen Rheinseite in Bezug auf Deutsch- Straßburger Stadtführung bis zum Präsiden- land manchmal ein bisschen mehr machen, ten des elsässischen Regionalrats“. findet er. „Die Franzosen gehen heute bei uns essen und trinken – und vielleicht be- Neuland betrat Reiff vor einigen Jahren mit stellen sie sich einen deutschen Wein dazu, speziellen Magazinen über den Eurodistrikt was noch vor zehn Jahren undenkbar gewe- und die Metropolregion Oberrhein, die kom- sen wäre. Darüber könnten sie mehr berich- plett in deutscher und französischer Sprache ten.“ Seit sechs Jahren widmet sich Hitradio erscheinen, wie „360 Grad“ oder das „Metro­ Ohr jeden zweiten Sonntag in der Sendung >> SONDERBEILAGE MITTELBADISCHE PRESSE www.bo.de Mittwoch, 20. März 2013

MITTELBADISCHE PRESSE

www.bo.de Septembre 2013 „Bienvenue“ der Aufga- sere Nationen“, sagt Markus Knoll über die

Dans ce numéro be, den Deutschen ihre gebürtige Deutsche Wiebke Ecklé, die aber Unsere Themen Fête du vin Freibad Wacken: d’Offenbourg : französischen Nach- in Frankreich wohnt. „Ansonsten möchten »Nordisches« un moment ex Becken erlaubt ceptionnel avec- le Nutzung das couronnement de barn näherzubringen wir in den drei Stunden alles abbilden, was gesamte Jahr. la Reine des vins allemande Forscher von und umgekehrt – drei für einen Deutschen im Elsass relevant sein Weltruf arbeiten Saveurs autom - an der Universi- nales : les auber tät Straßburg. ges de vignerons- ouvrent leurs Stunden lang. Da werden könnte: Ausflugstipps, Politisches, bunte Europäische For- portes schungseinrich- tung muss wohl A Lahr, le festival dann zum Beispiel die Meldungen.“ Oft kämen die Anregungen für Arbeit einstellen. floral Chrysan thema est sur le- Für die Kleinen: point d’éclore Unterschiede zwischen Themen auch von den Hörern, sagt Wiebke Am 27. und 30. März überreichen übergroße Oster- hasen auf dem Abitur und Baccalaureat Ecklé. Und natürlich die Termine. „Anfangs Gutenbergplatz kleine Geschenke. erläutert oder Sommer- mussten wir uns die Quellen zusammen­ Sai son des vendan- ges : l’occasion- ferien im Schwarzwald suchen. Heute können wir uns kaum retten.“ de découvrir les marchés pays ans de la région- aus Sicht der Franzosen Wenn Infos besonders interessant oder wich- Festival « Rhein geflüster » à - Kehl : ambiance beschrieben. Es wird viel tig seien, schiebt Wiebke Ecklé sie auch mal garantie sur les rives du fleuve französische Musik gespielt, ihren Kollegen aus der Nachrichten­redaktion La Oberrhein messe fête son- 75e anniversaire was für zahlreiche Hörer zu. „Meine Informationen kommen aus dem 123 schon ein Wert an sich ist. gesamten Elsass, das kann schon mal 250 Außerdem verpacken Mar- Kilometer vom Sender in Offenburg entfernt kus Knoll und „Bienvenue“-Produzentin sein.“ Markus Knoll formuliert es so: „Es ist Wiebke Ecklé in ihrer eigenen Kult-Rubrik durchaus politisch gewollt, dass wir diese „Französisch mit Wiebke und Markus“ die Sendung machen. Als Medienschaffende feinen Unterschiede zwischen den Kultu- verstehen wir uns auch als Mittler zwischen ren. „Wir mokieren uns gegenseitig über un- den beiden Nationen.“

Kirchen

Seit etwa 25 Jahren pflegen die beiden großen Kirchen in Kehl Kontakte zu Partner- gemeinden in Straßburg. Daraus ist eine grenzüberschreitende Ökumene gewachsen.

Grenzüberschreitende Ökumene: „Es sind feste Brücken entstanden“

Ob bei der grenzüberschreitenden Garten­ Ökumene nicht mehr wegzudenken“, ergänzt schau oder beim Rheinfest der Städte Straß- Günter Ihle, der als Kehler Dekan von der burg und Kehl: Grenzüberschreitende öku- evangelischen Landeskirche in Baden eigens menische Gottesdienste waren und sind ein damit beauftragt ist, die deutsch-französi- Anziehungspunkt. Selbst in Zeiten, in denen schen Kontakte zu pflegen. die großen Kirchen über eine schwinden- de Zahl von sonntäglichen Kirchgängern Fragt man den katholischen Pfarrer im Ruhe- klagen, füllt sich das Rheinvorland, wenn stand danach, wann alles begonnen hat, muss die Menschen von beiden Rheinseiten zum er nicht lange nachdenken: Als sich Kehlerin- Open-Air-Gottesdienst eingeladen werden. nen und Kehler Ende der 80er-Jahre gegen die Doch auch über diese Gottesdienste hinaus vom Land im Kehler Hafen geplante Sonder- haben sich die Kontakte der Kirchen über die müllverbrennungsanlage wehrten, „haben wir deutsch-französische Grenze mit den Jahren uns mit der Bitte um Unterstützung auch an verfestigt. „Ein gemeinsames ökumenisches Frankreich gewandt“. Aus dieser Kontaktauf- Bewusstsein über den Rhein hinweg ist ent- nahme entstand eine gemeinsame, ökumeni- standen“, sagt Alban Meier. „Im kirchlichen sche Arbeitsgemeinschaft der Kirchen von bei- Leben in Kehl ist die grenzüberschreitende den Rheinseiten. Katholiken und Protestanten >> haben sich nicht nur Demonstrationen gegen Elsass und in Baden. Partnerschaften zwi- die Sondermüllverbrennungsanlage ange- schen evangelischen Kirchengemeinden auf schlossen, sondern sich in der Folge jahrelang beiden Rheinseiten sind ebenso entstanden abwechselnd in Kehl und Straßburg getroffen, wie eine gemeinsame Arbeitsgruppe, die der um über Umweltthemen aus theologischer gegenseitigen Information und Kontaktpfle- Sicht zu sprechen. Bei diesen Treffen ist die ge dient, die aber auch gemeinsame Vorha- Idee entstanden, jeweils am dritten Advents- ben plant. „Es ist einfach gut, wenn man sich sonntag um 16 Uhr im Straßburger Münster kennt und zueinander Vertrauen hat“, betont einen deutsch-französischen ökumenischen Günter Ihle, der selber das Leben an der Gren- Friedensgottesdienst zu feiern. Während sich ze als eine große Bereicherung empfindet. die Umwelt-Arbeitsgruppe nach der Garten- schau aufgelöst hat, wird der Advents-Got- Regelmäßig treffen sich zudem die Pfarre- tesdienst immer noch begangen. rinnen und Pfarrer der Dekanate Kehl und Straßburg, um sich über Themen auszutau- Ebenfalls in den 80er-Jahren hat die katholi- schen, die beide Seiten beschäftigen („Kirche 124 sche Kirche damit begonnen, die katholische und Diakonie“, „Aktive und passive Sterbehil- Gemeinde aus dem grenznahen Straßburger fe“, Vorbereitung des großen Taizé-Treffens). Die Arche bei der Gartenschau: Stadtteil Neuhof zum Fronleichnamsfest nach Ebenso wird ein regelmäßiger Gedankenaus- 171 Tage lang war das Kirchen- Kehl einzuladen. Dieser katholische Festtag tausch auf leitender Ebene zwischen beiden schiff ein Ort der grenzübergrei- wird heute noch gemeinsam gefeiert. Weil Kirchen gepflegt. fenden ökumenischen Begegnung. Fronleichnam im Elsass kein Feiertag ist, kön- nen daran jedoch nur die älteren Gemeinde- Die rheinübergreifenden Kontakte beider mitglieder teilnehmen, bedauert Alban Meier. Kirchen haben sich im Vorfeld der grenz- überschreitenden Gartenschau „wunderbar 1989 erwarb die evangelische Landeskirche bewährt“, sagt Alban Meier. Die Kirchen ver- der Pfalz die „Wichern“, verhalf damit Schif- anstalteten im Kehl-Straßburger Festsom- ferpfarrer Heino Pönitz zu einem Schiff und mer 2004 nicht nur ein halbes Jahr lang an schickte ihn an den Rhein. Die „Wichern“ war Sonntagen ökumenische Gottesdienste auf von Anfang an grenzüberschreitend gedacht, der Hauptbühne im Kasernenareal, sondern erklärt Heino Pönitz, der – des Französi- betrieben gemeinsam die „Arche“, die neben schen problemlos mächtig – auf dem Schiff der Passerelle vor Anker lag. Dieses speziell deutsch-französische Paare traute und auch für die Gartenschau erbaute Kirchenschiff französische Kinder taufte. Als nach den entwickelte sich während der 171 Tage zu Geblieben sind von der Garten- Kommunalwahlen in Frankreich 2001 das einem Ort der Begegnung und der Informa- schau 2004 der Biblische Garten Straßburger Tandem Fabienne Keller/Robert tion – Mitarbeiter der Kirchen waren immer und der grenzüberschreitende Grossmann die Führung im Straßburger Rat- vor Ort, mit zahllosen Veranstaltungen konn- Versöhnungsweg. haus übernahm und von der Idee des Gartens ten Tausende von Menschen erreicht werden. der zwei Ufer und der Passerelle anfangs we- „Die Landesgartenschau nig erbaut war, fuhr Heino Pönitz mit der „Wi- hat einen großen Schub chern“ mit Mitgliedern des Vereins Garten// gebracht“, erinnert sich Jardin über den Rhein, um am französischen Alban Meier. Auch Heino Ufer für die Passerelle zu kämpfen. Pönitz schwärmt heute noch von der damaligen 1994 hat die evangelische Kirche damit be- Gemeinschaft und der Be- gonnen, unter dem Titel „Zwei Ufer, eine geisterung fürs gemein- Quelle“ grenzüberschreitende Gottesdienste, same Arbeiten. Konzerte und Begegnungen zu organisieren. Der Titelsong dieses Treffens gehört heute Geblieben sind von der zum festen Bestandteil des gemeinsamen Gartenschau der Biblische Gesangbuches der evangelischen Kirchen im Garten, der von katho- >> lischen Gemeindegliedern regelmäßig ge- In einer Zeit, in der „allgemein eine gewisse pflegt wird, ebenso wie der grenzüberschrei- Europamüdigkeit zunimmt“ und die evange- tende Versöhnungsweg, der von Rothau lischen Kirchen hüben wie drüben aufgrund und Schirmeck in den Vogesen über Kehl bis ihrer Struktur- und Finanzprobleme „zu sehr nach Rastatt führt. Die Broschüre, welche mit sich selbst beschäftigt sind“, wünscht sich die Stationen der Erinnerungen aufführt und Dekan Günter Ihle, eine „breitere Basis“ für die beschreibt, sei immer noch sehr gefragt, be- flussübergreifenden Beziehungen, eine, die richtet Alban Meier. über „die Kreise von Freunden“ hinausgeht. Durch eine gegenseitige Repräsentanz in den Geblieben sind überdies zahlreiche priva- Gremien würde er gerne „die Verbindlichkeit te Kontakte, welche über die Jahre hinweg des Miteinanders“ erhöhen. Ansätze gibt es durch die grenzüberschreitende Kooperation schon: So ist zum Beispiel in der Kehler Regio­ entstanden sind. Über private Beziehungen nalsynode automatisch ein Mitglied der el- kam der elsässische Schriftsteller und Poet sässischen Schwesterkirche vertreten. Könnte André Weckmann in die Gottesdienste in Personal rheinübergreifend eingesetzt werden, der katholischen Gemeinde St. Maria, wo er könnten die Kirchen Synergien nutzen und 125 immer wieder elsässische Texte gelesen hat. über eine gemeinsame Jugendarbeit die künf- Wie der evangelische Straßburger Pfarrer tige Generation enger einbeziehen. Jean-Jacques Reutenauer hat auch André Weckmann beim Volkstrauertag in Kehl eine Dieses besondere Miteinander an der Grenze vielbeachtete Rede gehalten. „Man ist sich führt auch dazu, dass Kehl-Straßburg im- mit den Jahren nähergekommen“, sagt Alban mer wieder in den Fokus der großen Kirchen Meier, der regelmäßig seine engen freund- genommen wird – sei es bei einem ökume- schaftlichen Kontakte über den Rhein pflegt, nischen Fernsehgottesdienst in der Frie- „es sind feste Brücken entstanden, man be- denskirche, der in viele Teile der französisch- gegnet sich laufend“. Wenn er früher in Straß- sprachigen Welt übertragen wurde, sei es als burg gefragt habe: „Kennt ihr Kehl?“, habe er Veranstaltungsort des „Tages der Schöpfung“, meist zur Antwort erhalten: Ja, Aldi und Tan- den die christlichen Kirchen diesseits und jen- ken. „Dass hier auch Katholiken wohnen, war seits des Rheins in Kehl veranstaltet haben gar nicht im Blickfeld. Dass Begegnungen oder sei es als Gastgeberregion für das eu- heute häufig und selbstverständlich gewor- ropaweite Taizé-Treffen am Jahresende, das den sind, dazu denke ich, haben wir von kirch- sonst als Veranstaltungsorte eher Weltstädte licher Seite auch etwas beitragen können.“ wie Rom, Berlin oder Paris kennt.

Gesundheit

Bereits seit 2004 haben gesetzlich versicherte Patienten grundsätzlich Anspruch auf Kostenerstattung, wenn sie sich in einem anderen Land der Europäischen Union be- handeln lassen. Planbare Krankenhausaufenthalte müssen sie sich allerdings im Voraus von ihrer Krankenkasse genehmigen lassen. Das Zentrum für Europäischen Verbrau- cherschutz hat im Dezember 2012 eine Broschüre herausgegeben (www.cec-zev.eu), in der sich Patienten über ihre Rechte informieren können, wenn sie sich zum Beispiel im Nachbarland behandeln lassen möchten. Die zweisprachigen Juristen des Zentrums beantworten über die Broschüre hinausgehende Fragen oder helfen bei Erstattungs- problemen. Außerdem hat die Bundesrepublik eine Kontaktstelle bei der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland (DVKA) eingerichtet. Auf der Inter- netseite www.eu-patienten.de können sich Patienten ebenfalls über ihre Ansprüche und die Gesundheitsdienstleister im EU-Ausland informieren. Im März 2013 hat das Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz im Auftrag des Eurodistrikts Strasbourg- >> Ortenau eine umfangreiche Studie zum Thema Gesundheit vorgelegt. Diese umfasst nicht nur eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Situation (welche medizinischen Leistungen werden wo angeboten), sondern wartet zugleich mit Vorschlägen auf, wie

der Eurodistrikt zu einer Pilotregion für den Zugang zu grenzüberschreitenden medi- © Europäische Kommission Kommission Europäische © zinischen Leistungen werden kann. Der Eurodistriktrat hat daraufhin in seiner Sitzung im März die Absicht bekräftigt, eine solche Pilotregion einrichten zu wollen. Begon- nen werden soll mit Projekten im Bereich der Krebsbehandlung. Im September hat der Euro­distriktrat beschlossen, in folgenden Bereichen Kooperationen prioritär umzuset- zen: bei den bildgebenden Verfahren (zumindest im Bereich der Krebsbehandlung), in der ambulanten Chirurgie (Gastroenterologie, Hepatologie, Gynäkologie und Augen- heilkunde) sowie in der Notfallversorgung (im Bereich Neurologie).

- Aus der französischen Studie übersetzt ins Deutsche - Das Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz hat 2012 außerdem die Preise von mehr als 150 Medikamenten, davon 22 Generika, in Kehl und Straßburg verglichen. Unter die Lupe genommen wurden sowohl rezeptfreie als auch verschreibungspflichti- ge Medikamente, hierbei wiederum solche die nicht, teilweise oder komplett erstattet 126 werden. Das Ergebnis war eindeutig: Die Mehrzahl der verglichenen Arzneien war in Frankreich günstiger als in Deutschland.

Auch im Epilepsiezentrum der Diakonie Kork werden seit Jahren Patienten aus Frank- reich behandelt. Stationär waren 2012 13 französische Patienten in der Klinik aufge- nommen, 246 wurden seit 2009 im sogenannten SEEK-Projekt grenzüberschreitend behandelt. Von den 114 Schülerinnen und Schülern der Oberlinschule kommen 13 aus Frankreich. 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie sind französische Grenzgänger.

Neue Substitutionspraxis „auf richtig gutem Weg“

Die Begeisterung ist Michèle Falch-Knappe beginnen. Auch das Zusammenspiel der drei anzumerken: Die am 16. September eröffnete Ärzte – Patrick Gassmann aus Straßburg, Dr. Substitutionspraxis mit grenzüberschreiten- Frieder Baldner und Dr. Claus-Dieter Seufert dem Charakter und großer finanzieller Un- aus Kehl – klappt gut. Außerdem konnten die terstützung des Eurodistrikts (150 000 Euro, Patienten bereits die Vorteile nutzen, die das verteilt auf drei Jahre) ist gut angelaufen. nach Kehl importierte französische System „Wir sind auf richtig gutem Weg“, berichtet die der Microstructure bietet: Erste gemeinsame Leiterin der Jugend- und Dro- Gespräche mit Arzt, Patient, genberatungsstelle (DROBS). Psychologin und Sozialar- Das selbergesteckte Planziel beiterin haben bereits statt- von 20 Patienten nach drei gefunden, wie die Leiterin Monaten ist erreicht. Darun- der DROBS berichtet. An drei ter sind, was Michèle Falch- Tagen pro Woche ist zu den Knappe besonders freut, zwei Öffnungszeiten der Praxis Patienten, die bisher noch nie die Psychologin vor Ort, an in der Substitution waren. Die weiteren drei Tagen die Sozi- haben sich – unterstützt von alarbeiterin. Die jeweils an- ihren Familien – aufgrund dere Kollegin kann bei Bedarf der kurzen Wege entschie- hinzugerufen werden. (siehe den, mit der Substitution zu Michèle Falch-Knappe auch Chronik, Seite 49) >> Studie über die Schaffung einer Pilotregion für den Zugang zu grenzüberschreitenden medizinischen Leistungen im Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau „Es ist eine Mission, das zu machen“: Kooperation mit Straßburg bringt Korker Epilepsiekliniken auf europäisches Parkett

Endbericht Januar 2013 Korker Patienten in Straßburg, Straßburger können. Mit dieser Kooperation wollten die Patienten in Kork, „hochprofessionelle kli- Partner den Patienten lange Wege ersparen. nische Zusammenarbeit“, konzertierte Be- teiligung an internationalen Kongressen und Inzwischen ist die Zusammenarbeit erprobt gemeinsame Mitarbeit in einem europäischen und eingespielt und geht viel weiter: „Wir

Studie beauftragt durch den Projekt: Professor Dr. Bernhard Steinhoff, lei- haben ständig gemeinsame Besprechun- Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau Durchgeführt vom Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz e.V. tender ärztlicher Direktor der Epilepsieklinik gen“, berichtet Professor Steinhoff. Wenn ein der Diakonie Kork, wird regelrecht eupho- deutscher Patient entscheidet, sich in Straß- risch, wenn er über die grenzüberschreiten- burg operieren zu lassen, braucht er wegen de Zusammenarbeit mit dem Hôpital Civil in der fremden Sprache keine Angst zu haben: Straßburg spricht. „Es ist eine Mission das zu „Eine Oberärztin aus Kork fährt mit rüber.“ Zugang zu Gesundheitsleistun­ machen“, schwärmt er, „wenn man einmal Zwei Ärztinnen aus der Straßburger Unikli- 127 gen ist ein sehr wichtiges, weggeht und hat das nicht gemacht, dann nik haben in Kork gearbeitet, eine vier Jahre grenzüberschreitendes Thema kann man ja gleich aufhören“. lang, die andere im Rahmen einer Facharzt- geworden. Die Mitarbeiterinnen Rotation, jetzt sind beide wieder zurück auf und Mitarbeiter des Euro­ Es ist ein Kooperationsprojekt wie aus dem der französischen Rheinseite. Zwei Neuro- päischen Verbraucherzentrums Bilderbuch: 2008 haben die Straßburger psychologinnen, die bei Professor Steinhoff sind mittlerweile Experten Uniklinik und die Epilepsiekliniken Kork – mit gearbeitet haben, wurden in Straßburg mit auf diesem Gebiet. Unterstützung des Eurodistrikts – beschlossen, Arbeiten promoviert, die sie in Kork verfasst an Epilepsie leidende Patienten gemeinsam zu haben. „Die persönlichen Kontakte helfen, wir betreuen und zudem in der Forschung zusam- haben ziemlich viel bilinguales Fachpersonal“, menzuarbeiten. Das sogenannte SEEK-Projekt freut sich Bernhard Steinhoff. Die Patienten mit einem Volumen von 2,4 Millionen Euro reagieren auf die enge Kooperation und die wurde von 2009 bis 2012 von der Europäi- damit verbundenen Angebote „überwiegend schen Union mit 1,2 Millionen Euro aus dem positiv“, hat der Epilepsie-Professor festge- Interreg-Fonds gefördert. In diesen vier Jah- stellt. Insgesamt sind von 2009 bis Ende 2012 ren haben Bernhard Steinhoff und sein Straß- 246 Patienten im SEEK-Projekt grenzüber- burger Kollege Eduard Hirsch so viel erreicht, schreitend behandelt worden. dass auch nach dem Auslaufen der Förderung klar war: „Wir machen auf jeden Fall weiter.“ Allerdings muss in jedem Einzelfall mit den Krankenkassen noch über eine Kostenüber- Das Interreg-Projekt sah unter anderem vor, nahme verhandelt werden. Um diese Proze- dass Epilepsiekranke von der dur zu vereinfachen, arbeiten Straßburger Uniklinik nach die beiden Kliniken an einer Kork geschickt werden, damit grenzüberschreitenden Ver- dort durch sogenannte Ablei- einbarung, die das in Straß- tungen der Herd, welcher die burg und Kork zur Verfügung Anfälle auslöst, exakt lokali- stehende Programm in einer siert werden kann. Patienten deutschen und einer fran- aus Kork sollten die zur Ablei- zösischen Pauschale zusam- tung notwendigen Elektroden menfasst. Patienten mit einer in Straßburg eingesetzt wer- komplizierten Epilepsie sollen den, Patienten mit operablen „in dieses Programm eintau- Epilepsien aus Kork sollten in chen können“, wünschen sich Straßburg operiert werden Bernhard Steinhoff die Professoren Steinhoff >> und Hirsch, „egal, ob sie aus Deutschland litätsstandards für Epilepsie-Operationen er- oder Frankreich kommen“. arbeitet werden sollen. „Ohne die Verbindung der Straßburger Uniklinik zu Lyon wären wir Zusammen mit Kliniken aus Oslo, Athen, Bu- da gar nicht reingekommen“, ist sich Bern- dapest, Prag, Zagreb, Sofia und Lyon wird hard Steinhoff sicher. Ziel des Großprojektes, Kork mit hoher Wahrscheinlichkeit in ein für das europäische Fördergelder in Aussicht europäisches Modellprojekt aufgenommen gestellt sind, ist ein EU-Konsortium, sind Spit- werden, in dessen Rahmen verbindliche Qua- zenzentren für Epileptologie für ganz Europa.

Sicherheit und Ordnung

Als 1993 die Grenzen ge- und der europäische Binnenmarkt eröffnet wurden, machten sich dies auch Straftäter zunutze. Um auf diese neue Qualität grenzüberschreitender Kriminalität reagieren zu können, trafen sich Vertreter der lokalen und regionalen Po- lizeibehörden aus beiden Ländern bereits 1994 und 1995, um sich, begleitet vom Euro- Institut, über die unterschiedlichen Rechtssysteme, Befugnisse und Vorgehensweisen 128 auszutauschen. 1996 kamen bei einer weiteren Tagung Vertreter der Justiz hinzu. Die vom Euro-Institut organisierten und moderierten Seminare waren so erfolgreich, dass 1999 gleich zwei davon stattfanden und daraus im Jahr 2000 die deutsch-französische Fortbildungsreihe „Polizei- und Justizzusammenarbeit“ entwickelt wurde, die bis heute fortgesetzt wird. 180 bis 200 Polizei- und Justizbeamte nehmen jährlich an diesen Veranstaltungen teil. Außerdem moderieren Mitarbeiter des Euro-Instituts die Sitzun- gen des 1999 gegründeten Lenkungsausschusses, der sich aus Vertretern der baden- württembergischen Polizei und Justiz, der Police Nationale, der Gendarmerie Nation­ ale und der französischen Justizverwaltung zusammensetzt. In diesen Besprechungen wird dann das Programm für die gemeinsamen Tagungen festgelegt – zugeschnitten auf die aktuellen Probleme der Strafverfolgungsbehörden.

Obwohl diese Kooperation schon so lange läuft, steht am Beginn der Tagungen alljähr- lich eine Einführung in die unterschiedlichen Strukturen und gesetzlichen Grundlagen in beiden Ländern, weil diese Gegebenheiten Basis der Zusammenarbeit sind. Für die Teilnehmer ist über die Aneignung von Wissen hinaus der persönliche Austausch bei diesen Seminaren sehr wichtig: Weil die Veranstaltungen zugleich grenz- und behör- denübergreifend sind, können Probleme mit unterschiedlichen Partnern besprochen und Kontakte geknüpft werden.

Auch im Polizeialltag ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit gegenwärtig: Auf Eurodistrikts-Ebene wurde 2013 eine deutsch-französische Fahrradstreife eingerichtet – die Polizeibeamten kontrollieren mit ihren Mountainbikes überall dort, wo Deutsch-französische Fahrrad- Streifenwagen nicht hinkommen: auf streifen kontrollieren überall dort, großen Plätzen, in Fußgängerzonen wo man mit dem Streifenwagen und in Parks. Seit die Einfuhr von nicht hinkommt: in Fußgänger- Feuerwerkskörpern nach Frankreich zonen, auf öffentlichen Plätzen, verboten ist, informieren Straßbur- aber auch in Parks. ger und Kehler Polizeibeamte in den Tagen vor Silvester gemeinsam fran- zösische Besucher der Kehler Innen- stadt über die geltende Gesetzeslage. >> Kriminalität kennt keine Grenze: Die deutsch-französische Polizei- und Zollzusammenarbeit

vermittlung notwendig ist. Das Zentrum soll die nationalen Dienststellen so gut unter- stützen, dass sie den jeweiligen Fall „wie ei- nen Fall im Inland“ behandeln können, erklärt der deutsche Polizeihauptkommissar und stellvertretende Koordinator des Zentrums Albrecht Endres. So könnten deutsche und französische Polizei- und Zolleinheiten sehr „schnell und effektiv“ zusammenarbeiten, be- stätigt auch seine französische Kollegin Anne Gindensperger und nennt als Beispiel einen Kupferdiebstahl im Grenzgebiet, den deut- sche und französische Behörden im Tandem 129 bearbeiten konnten: Der Diebstahl erfolgte gegen 22 Uhr auf französischem Boden in ei- nem Unternehmen, das Kupfer lagerte. Als die französische Polizei die Diebe identifizieren konnte, waren sie schon auf der Flucht. Dank der Fahndung, die das GZ auslöste, wurde die gestohlene Ware aber noch vor Sonnenauf- gang mitsamt einem schlafenden Täter auf Das Gemeinsame Zentrum der Es ist ein Erfolgsmodell, das vielen anderen dem Parkplatz eines deutschen Unterneh- deutsch-französischen Poli- Grenzregionen Europas als Vorbild dient: Im mens von der deutschen Polizei sichergestellt. zei- und Zollzusammenarbeit Gemeinsamen Zentrum der deutsch-fran- „Der Mann wartete anscheinend auf die Öff- im Nordgebäude der Kehler zösischen Polizei- und Zollzusammenarbeit nung des Betriebs“, erzählt Anne Gindensper- Großherzog-Friedrich-Kaserne (GZ), das 1999 in Offenburg gegründet wurde ger, „einige Stunden später wäre das Kupfer sehen sowohl der deutsche und 2002 nach Kehl umgezogen ist, arbeiten verkauft gewesen und wir hätten die Be- Polizeihauptkommissar und 32 Deutsche und 30 Franzosen unter einem weise und die Täter aus den Augen verloren“. stellvertretende Koordinator Dach, um die Sicherheit im Grenzgebiet zu des Zentrums Albrecht Endres verbessern. Als Unterstützungseinheit sorgt Oft wissen die Sicherheitsbehörden eines als auch seine französische das Zentrum für den Austausch, die Steue- Landes nämlich nicht genau, an welche Be- Kollegin Anne Gindensperger rung und Analyse von Infor- hörde im Nachbarland sie als Erfolgsmodell. mationen zwischen den deut- sich wenden sollen und ver- schen und den französischen lieren deshalb bei der Suche Sicherheitsbehörden. Täglich Zeit, erklärt Albrecht Endres. gehen bei den Mitarbeitern Das GZ greift in diesem Fall zahlreiche Anfragen von ein, löst innerhalb kurzer Zeit natio­nalen Dienststellen ein – eine Fahndung aus oder lei- pro Jahr sind es etwa 17 000. tet die wichtigen Informatio- nen an die passende Behörde Meistens handelt es sich um weiter. Auch in ganz einfa- Verkehrsdelikte, Diebstähle chen Fällen hilft das Zentrum oder aufenthaltsrechtliche weiter: Fährt jemand über Fragen, bei denen eine grenz- die deutsche Grenze und überschreitende Informations­ ­ Anne Gindensperger bemerkt erst bei einer Polizei- >> oder Zollkontrolle im Nachbarland, dass er Muttersprache, aber „jeder versteht jeden“, seinen Führerschein oder Ausweis vergessen berichten die beiden Ordnungshüter, zudem hat, so muss er normalerweise mit eingehen- gebe es auch zweisprachige Mitarbeiter. den Überprüfungen rechnen. Der Polizist vor Auch wenn es noch kleine nationale Eigen- Ort muss erst den richtigen Ansprechpartner heiten gebe, passe man sich insgesamt in der im Herkunftsland finden und das kann im Zusammenarbeit sehr gut an, meint die fran- Zweifelsfall mehrere Stunden dauern. Nicht zösische Koordinatorin: „On a gommé nos so an der deutsch-französischen Grenze différences“, sagt sie, sie hätten die Unter- entlang des Rheins: Mit einem einzigen An- schiede „ausradiert“. Ein großer Vorteil sei die ruf kann ein französischer Polizist zu jeder Lage des Zentrums an der Kehler Hafenstra- Tages- und Nachtzeit inner- ße. Die unmittelbare Nähe halb von ein paar Minuten der Grenze ermöglicht es den herausfinden, ob zu einem französischen Mitarbeitern kontrollierten deutschen beispielsweise, französische Bürger polizeiliche Erkennt- Informationssysteme und Tele­ nisse vorliegen und ob er im fonnetze zu verwenden und Besitz einer gültigen Fahr- somit effektiver zu arbeiten Seit 2012 arbeiten Deutsche und erlaubnis ist – dank des ge- und Kosten zu sparen. „Wir Franzosen in der ersten völlig 130 meinsamen Zentrums in Kehl. arbeiten hier, als stünde un- integrierten grenzüberschreiten- ser Schreibtisch mit zwei den Wasserschutzpolizeieinheit Das GZ hat sich im Laufe Beinen in Frankreich und mit Europas – mit Sitz in Kehl – der Zeit als „notwendiges zwei Beinen in Deutschland“, zusammen. Element“ durchgesetzt, da- Albrecht Endres sagt Anne Gindensperger. rüber sind sich Anne Gin- densperger und Albrecht Endres einig. „Wir Dabei beschränkt sich die Arbeit des Ge- sind der Beweis dafür, dass die deutsch- meinsamen Zentrums nicht auf das unmit- französische Freundschaft nicht nur sym- telbare Grenzgebiet. Etwa die Hälfte der An- bolisch ist, sondern die Zusammenarbeit fragen kommt aus ganz Frankreich und dem im Alltag wirklich funktioniert. Immer gesamten Bundesgebiet. So kann ein Polizist gibt es neue Herausforderungen, neue aus Marseille, der dringend Informationen Fallkonstellationen, die den Mehrwert der über einen deutschen Bürger oder Ausländer Kooperation unter Beweis stellen“, sagt Al- mit deutschem Aufenthaltsrecht braucht, brecht Endres. Die enge Zusammenarbeit seinen Fall so effizient klären, als befände im gemeinsamen Zentrum gehe weit über sich seine Dienststelle im Grenzgebiet. Ein die Kooperation der Sicherheitsbehörden in Fall, der viel öffentliches Aufsehen erregte, anderen Grenzgebieten hinaus, für die das war eine Entführung 2012: Die 15-jährige Schengener Durchführungsübereinkommen Chloé Rodriguez aus der Nähe der französi- von 1990 das Fundament gelegt habe. Be- schen Stadt Nîmes war spurlos verschwun- schäftigt sind im GZ gleich mehrere Einhei- den. In der Region wurde tagelang nach ihr ten aus beiden Nationen: Auf der deutschen gesucht – ohne Erfolg. Zur selben Zeit wurde Seite beteiligen sich Landespolizisten, Bun- der deutschen Polizei ein Computerdieb- despolizisten und Zollbeamte, während auf stahl auf einem Parkplatz in der Nähe von der französischen Seite die Gendarmerie Offenburg gemeldet. Als das Auto des Ver- Nationale, die Schutzpolizeidirektion für das dächtigen lokalisiert war, begann eine Ver- Département Bas-Rhin in Straßburg und die folgungsjagd, die mit einem Unfall des ver- französische Kriminalpolizei vertreten sind. folgten Autos endete. Die Polizisten öffneten den Kofferraum und fanden ein Mädchen: Auch sprachlich ist die Kooperation im Chloé Rodriguez berichtete den Polizisten, Gemeinsamen Zentrum kein Problem: Die dass sie in Südfrankreich entführt worden Mitarbeiter schreiben und sprechen in ihrer sei. Um ihre Identität zu überprüfen, schick- >> ten die französischen Behörden über das Zollzusammenarbeit haben viele Länder Eu- deutsch-französische Zentrum Fotos und ropas das Modell übernommen: Mehr als 30 Informationen nach Deutschland. So konn- neue Zentren und vergleichbare kleinere Ein- te das Mädchen schnell identifiziert werden, richtungen wurden in verschiedenen Grenz- seine Eltern wurden umgehend kontaktiert. gebieten ins Leben gerufen. Im Jahr 2007 nahmen beispielsweise zwei neue Zentren Seit der Gründung des Gemeinsamen Zent- an der deutsch-polnischen und der deutsch- rums der deutsch-französischen Polizei- und tschechischen Grenze ihre Arbeit auf.

Gendarmen und Polizisten im selben Boot: Die deutsch-französische Wasserschutzpolizei

Schiffskontrolle, Streifenfahrten, Tauch- oder genüber, die Deutschen und Franzosen jeweils Sucheinsätze: Seit März 2012 arbeiten deut- an ihrem Ufer“, erzählt Nicolas Künkel. Wo sche Polizisten und französische Gendarmen damals also zwei Boote denselben Streifen gemeinsam in der ersten völlig integrierten überwachten, kann jetzt ein einziges deutsch- 131 grenzüberschreitenden Wasserschutzpolizei- französisches Boot die Arbeit erledigen. Für einheit Europas mit Sitz in Kehl. Durch den Zu- die Schiffsführer war das anfangs ein unge- sammenschluss „ist die Arbeit auf dem Rhein wohnter Anblick: „Viele waren sehr erstaunt, viel effizienter und sparsamer“ geworden, be- wenn auf einem deutschen Boot der Wasser- tont der französische Kommandant Nicolas schutzpolizei plötzlich ein Franzose erschien, Künkel, der die deutsch-französische Wasser- um sie zu kontrollieren“, erzählt Nicolas Künkel. schutzpolizeieinheit gemeinsam mit seinem deutschen Kollegen Peter Schulze, Erster Poli- Dabei hat die rheinübergreifende Zusam- zeihauptkommissar, leitet. Seit der Gründung menarbeit der Einheiten nicht erst mit der der gemeinsamen Einheit hat sich die Präsenz Gründung der deutsch-französischen Was- Sitzen in einem Boot: deutsche der Polizei auf ihrem 160 Kilometer langen serschutzpolizeieinheit begonnen. „Wir haben Polizisten und französische Einsatzstreifen auf dem Rhein verdoppelt. uns schon lange vorher unterstützt – ohne Gendarmen, Peter Schulze (links) offizielle Verträge“, sagt Peter Schulze. Daraus und Nicolas Künkel. „Bis Ende 2011 standen wir uns bei Überwa- sei mit der Zeit auf beiden Seiten der starke chungen auf unseren Booten manchmal ge- Wille erwachsen, noch intensiver zusammen- zuarbeiten. Die deutsch-französische Freund- schaft ermöglichte nach und nach durch verschiedene Abkommen eine immer engere Kooperation der französischen Gendarmen und der deutschen Polizisten. „So fehlte vor Beginn unseres Projekts eigentlich nur noch das gemeinsame Dach“, sagt Peter Schulze. Durch die Zusammenarbeit der beiden Leiter der Einheit habe sich sogar eine Freundschaft entwickelt: „Nous avons deux têtes mais avec un même esprit“, meint Nicolas Künkel, sie hätten zwei Köpfe, aber denselben Geist. Nicht nur an der Spitze, sondern auf allen Ebenen arbeiten die 28 deutschen Polizisten und 28 französischen Gendarmen Hand in Hand, im Kehler Hauptrevier sowie in den bei- den Außenstellen Vogelgrun und Gambsheim. >> Auch Ermittlungen bei schifffahrtsrecht- „Ausschlaggebend ist, wer am schnellsten lichen Verstößen oder Straftaten auf dem einsatzfähig sein kann.“ Rhein gehören zu den Aufgaben der gemein- samen Einheit. „Für Täter bietet der Fluss Obwohl Deutsch die Amtssprache auf dem einfache Fluchtmöglichkeiten in ein anderes Rhein ist, sprechen die Kollegen miteinander Land“, sagt Peter Schulze. In solchen Fällen Deutsch und Französisch, um die alltägliche arbeite die gemeinsame Wasserschutzpolizei Zusammenarbeit so einfach wie möglich zu besonders effektiv – Peter Schulze nennt als gestalten. „Wir legen großes Augenmerk auf Beispiel eine Fahrerflucht bei Ichenheim: Dort die Sprachausbildung. Die Franzosen spre- war ein Schiff auf ein Strombauwerk gefah- chen sehr gut Deutsch, aber inzwischen ha- ren und hatte es beschädigt. Der Schiffsfüh- ben die deutschen Kollegen aufgeholt“, er- rer hatte das Weite gesucht. Entdeckt wur- klärt Peter Schulze. Die Zweisprachigkeit sei den das Schiff und sein Schiffsführer später Voraussetzung für effiziente Zusammenarbeit, im Straßburger Hafen. Weil bei Unfällen auf betont auch sein Kollege Nicolas Künkel. Des- der internationalen Schifffahrtsstraße Rhein halb organisiert er für seine Mitarbeiter der das Territorialprinzip gilt, fanden Ermitt- Gendarmerie interne wöchentliche Sprach- lungsverfahren und Verurteilung zwar auf kurse. Außerdem nehmen die deutschen und deutscher Seite statt – die französischen Kollegen ein­ 132 Beweissicherung und die mal pro Jahr im gemein- Vernehmungen mussten samen Sprachzentrum in zunächst jedoch in Frank- Lahr an einem zweiwö- reich erfolgen. chigen Sprachtraining teil.

Gefragt ist die gemeinsa- Wenn man die Leiter der me Polizeieinheit, wenn deutsch-französischen nach Vermissten gesucht Wasserschutzpolizeieinheit wird. Mit einem speziel- nach kulturellen Unter- len Sonargerät kann die schieden fragt, nennt Ni- deutsch-französische colas Künkel spontan: „die Wasserschutzpolizei Gegen­ Mittagspause“ – und beide stände und Personen unter lachen. In der Tat musste Wasser ausfindig machen. Ist ein Tauchein- zwischen der fast zweistündigen Pause der satz notwendig, so kommen den deutschen Franzosen und der sehr kurzen Pause der und französischen Kollegen ihre unterschied- Deutschen ein Kompromiss gefunden wer- lichen Kompetenzen zugute: Während die den, der bei etwa einer Stunde liegt. Auch der deutschen Taucher maximal 30 Meter tief berufliche Status und die Arbeitsmethoden tauchen dürfen, sind den französischen Tau- sind auf beiden Rheinseiten unterschiedlich. chern nach nationaler Regelung bis zu 40 Die französischen Gendarmen gehören zum Meter erlaubt. „Wir ergänzen uns in allen Militär, deshalb müssen sie auch außerhalb Bereichen“, erklärt Nicolas Künkel. Wichtig der normalen Arbeitszeiten ständig einsatz- sei dies beispielsweise im Herbst 2012 gewe- bereit sein und haben zwei Ruhetage pro sen, als im 39 Meter tiefen Titisee nach einem Woche. Dagegen arbeiten die deutschen Vermissten gesucht werden musste und die Polizeibeamten an fünf Tagen pro Woche, französischen Gendarmen den Tauchgang Notfälle außerhalb der Arbeitszeiten gelten übernehmen konnten. Überhaupt sei die als Überstunden. Ansonsten gebe es natür- deutsch-französische Einheit bei Notfällen lich Unterschiede in der Gesetzgebung der sehr effizient, sagt deren deutscher Chef. beiden Nationalstaaten, sagen die beiden Egal ob eine Rettung in Frankreich oder in Chefs – und genau das versuchen die deut- Deutschland stattfindet, beide Kollegen kön- schen und französischen Wasserschutzpoli- nen nationale Dienststellen zur Hilfe rufen. zisten für ihre Arbeit bestmöglich zu nutzen. >> Das Feuerlöschboot Europa 1 wurde speziell nach den Wünschen und Bedürfnissen der Straßburger und Kehler Feuerwehren gebaut.

Feuerlöschboot Europa 1: Deutsch-französische Maßarbeit 133 23 Meter lang, 6,20 Meter breit, 40 Stundenki- im Brandfalle dauern, bis ein Löschboot aus lometer schnell und mit acht Mann Besatzung Mannheim oder Basel auf dem Rhein zwi- voll einsatzfähig: Das Feuerlöschboot Europa 1, schen Straßburg und Kehl eintreffen würde. das im Sommer 2007 in Dienst gestellt wurde, Ihren Liegeplatz hat die Europa 1, die pro Jahr ist echte deutsch-französische Maßarbeit und zehn bis zwölf Einsätze fährt, im Straßburger damit ein Musterbeispiel grenzüberschreiten- Nord-Hafen – vier Kilometer von der Kehler der Kooperation. Mit der Europa 1, welche Feuerwache entfernt. Vor Ort sind die Kehler die Europäische Union, mehrere französische Feuerwehrleute im Einsatzfall mindestens so Gebietskörperschaften und das Land Baden- schnell wie ihre Kollegen von der Straßbur- Württemberg finanziert haben, ist auf der ger Berufsfeuerwehr, die aus der Innenstadt Werft der Firma Neckar-Bootsbau Ebert in anfahren müssen. Muss die Europa 1 auslau- Neckarsteinach ein Löschboot gebaut worden, fen, übernimmt unter der Woche tagsüber die das exakt den heutigen Anforderungen an die Straßburger Berufsfeuerwehr den Dienst auf Gefahrenabwehr auf dem Rhein entspricht. dem Schiff, an Wochenenden und nachts sind Die Konzeption für das Boot und dessen die Kehler Feuerwehrleute in Alarmbereit- Betrieb wurden bei ungezählten Treffen ak- schaft. Diese Aufteilung funktioniert bereits ribisch gemeinsam ausgetüftelt. Dass die Fi- seit 2007 und sie funktioniert gut. Das Ziel nanzpartner bereit waren, 2,5 Millionen Euro beider Feuerwehren, dass auch aus deutschen für das Löschboot aufzuwenden, hat einen und französischen Wehrmännern gemischte guten Grund: Bis zu acht Stunden würde es Mannschaften den Löscheinsatz übernehmen können, ist jedoch in weite Ferne gerückt. „In Frankreich ist vieles anders“, sagt Feuerwehr- kommandant Gerhard Stech, „es gibt Unter- schiede in der taktischen und technischen Vorgehensweise“. Dazu kommt, dass sich die deutschen und französischen Feuerwehr- Die Vorgehensweise bei Bränden kollegen dank der Teilnahme an Sprachkur- ist in Deutschland und Frank- sen zwar halbwegs verständigen können, im reich genau definiert – aber auf Einsatzfalle jedoch „muss man sich zu hun- unterschiedliche Weise. dert Prozent verstehen“, weiß Gerhard Stech. >> Symbol der grenzüberschreitenden Kooperation: Die deutsch-französische Schlauchkupplung

Sie ist das Symbol der grenzüberschreitenden nicht schnell genug zur Stelle sein können. Zusammenarbeit schlechthin: die deutsch- An diesem – bislang gescheiterten Vorha- französische Schlauchkupplung. Sie zeichnet ben – zeigt sich die Komplexität der grenz- sich dadurch aus, dass auf der einen Seite ein überschreitenden Kooperation beispielhaft: französischer Feuerwehrschlauch angeschlos- In Frankreich unterliegen die Feuerwehren sen werden kann, auf der anderen ein deut- staatlicher Zuständigkeit, in Baden-Würt- scher. Alle Feuerlösch-Fahrzeuge in Kehl und temberg aber sind sie Aufgabe der Gemeinden. Straßburg sind seit vielen Jahren mit diesem Die Einrichtung einer deutsch-französischen Kupplungsstück ausgestattet, damit Feuerwache nach Maßgabe des Karlsru- sich die Feuerwehren beim Löschen her Übereinkommens war deshalb nicht gegenseitig unterstützen können. möglich, weil der französische Staat nicht Vertragspartner einer Kooperations- So pragmatisch wie das Kup- vereinbarung oder eines peln der Schläuche lässt Zweckverbandes nach dem Fast schon ein Symbol der 134 sich die Kooperation der Karlsruher Übereinkom- grenzüberschreitenden Zusam- staatlichen französischen men sein kann. Über einen menarbeit: die Kupplung, Feuerwehr mit einer deut- EVTZ (Europäischer Verbund die auf der einen Seite den An- schen Gemeinde-Feuer­wehr für territoriale Zusammenar- schluss eines deutschen und nicht regeln. Weil der Straßburger Osten beit) könnte die gemeinsame auf der anderen Seite den verkehrstechnisch recht weit von der Straß- Feuerwache nur dann betrieben Anschluss eines französischen burger Innenstadt-Feuerwache entfernt werden, wenn die französische Feuerwehrschlauches erlaubt. liegt, wollte die Stadt Kehl ihre Feuerwache Seite die Beschränkungen des EVTZ beiseite- erweitern und in diesem Anbau die Straß- schieben würde, die besagen, dass keine Auf- burger Feuerwache Ost unterbringen. Das gaben in Ausübung hoheitlicher Befugnisse hätte beiden Partnern geholfen: Für die oder Verpflichtungen zur Wahrung der all- Straßburger Wehrmänner wären die östli- gemeinen Interessen des Staates übertragen chen Stadtgebiete leichter erreichbar gewor- werden können. Würden die beiden Partner den; der Kehler Wehr hätte die Anwesenheit eine gemeinsame juristische Person gründen, hauptamtlicher Straßburger Feuerwehrleute würde dies voraussetzen, dass die gesetz- tagsüber geholfen, die Alarmierungsfähig- lichen Aufgaben der deutschen Gemeinde keit sicherzustellen. Tagsüber hat die Kehler nach Paragraph 3 Feuerwehrgesetz auf ei- Feuerwehr inzwischen Probleme, weil viele nen solchen grenzüberschreitenden Verband freiwillige Feuerwehrleute ihren Arbeitsplatz übertragen werden dürften. Eine ausdrückli- außerhalb von Kehl haben und im Brandfall che gesetzliche Regelung hierzu fehlt jedoch.

Umwelt und Energie

Als die baden-württembergische Landesregierung 1987 plant, im Kehler Hafen eine Sondermüllverbrennungsanlage zu errichten, formiert sich in Kehl Widerstand. Im Ja- nuar 1988 wird die „Bürgerinitiative gegen Giftmüllverbrennung“ als eingetragener Verein gegründet. Durch die persönliche Freundschaft eines Gründungsmitglieds mit der Straßburger Gemeinderätin Yveline Moeglen entsteht rasch der Kontakt zu Straß- burger Gleichgesinnten. Mehrere Straßburger treten der Bürgerinitiative bei, andere mobilisieren Vereine im Elsass, die sich den Demonstrationen und Protestaktionen an- >> Weil die Luftverschmutzung keine Landesgrenzen kennt, arbeiten Kehl und Straßburg seit 1990 im Umweltbereich eng zusammen.

schließen. Auch die damalige Straßburger Oberbürgermeisterin und heutige Europaab- geordnete Catherine Trautmann wendet sich gegen die Sondermüllverbrennungsanla- ge auf deutschem Territorium. 135 Nachdem die Landesregierung am 10. Mai 1994 das Aus für den Kehler Müllofen be- kannt gibt, löst sich die 1200 Mitglieder starke Kehler Bürgerinitiative nicht auf, son- dern nimmt sich weiterhin Umweltthemen an, engagiert Gutachter und gibt Expertisen zu verschiedenen Vorhaben in Auftrag. Am 3. Dezember 1996 ändert sie ihren Namen in „Bürgerinitiative Umweltschutz Kehl“. Die grenzüberschreitenden Kontakte werden weiter ausgebaut: Die BI intensiviert ihre Verbindungen zu Alsace Nature, tritt der Organisation zur Vermeidung von Umweltrisiken durch die Industrie (SPPPI) bei, ar- beitet mit Straßburger Bürgerinitiativen – vor allem aus der Robertsau – zusammen und schließt sich dem französischen Protest gegen das Atomkraftwerk in Fessenheim an. Gemeinsam mit Greenpeace Frankreich startet die BI Aktionen gegen die frühere Firma Stracel im Straßburger Hafen, die Abwässer aus der Zellstoffproduktion in den Rhein leitet. Seit 2007 wird alljährlich mit dem französischen Verein „Objectif climat“ eine gemeinsame Fahrrad-Demonstration zum Klimaschutz organisiert. Über die Jahre sind über die politischen Aktivitäten hinaus freundschaftliche Verbindungen gewach- sen – man trifft sich auch mal zum abendlichen Gasthaus-Besuch. Derzeit beteiligt sich die Bürgerinitiative am grenzüberschreitenden und vom Interreg-Fonds der Euro- päischen Union unterstützten Projekt Atmo-IDEE.

Weil Schadstoffe in der Luft an der Grenze nicht haltmachen, arbeitet die Stadt Kehl seit 1990 in einer grenzüberschreitenden Umwelt-Arbeitsgruppe mit der Stadt Straßburg zusammen. Mindestens dreimal im Jahr bespricht die Gruppe aktuelle Umweltthemen. Dabei geht es sowohl um Information des jeweils anderen Partners über umweltrele- vante Vorhaben (von der Ansiedlung neuer Betriebe über Produktionserweiterungen bis zur Errichtung neuer Heizkraftwerke) als auch darum, voneinander zu lernen (Verwen- dung von Feuchtsalz im Winter, Verzicht auf chemische Unkrautvernichtung). Auch die Ausweisung grenzüberschreitender Radwege oder die Erarbeitung gemeinsamer Karten und Natur-Führer gehören zu den Aufgaben der grenzüberschreitenden Umwelt-AG. Zunehmend rückt die Kooperation im Bereich Energieversorgung in den Vordergrund: So ist zum Beispiel die Nutzung eines Teils der Abwärme der Badischen Stahlwer- ke zur Wärmeversorgung eines grenznahen Straßburger Wohnviertels im Gespräch. >> Seit November 1992 gibt es in Straßburg das Secrétariat Permanent pour la Prévention des Pollutions Industrielles (SPPPI). In dieser Organisation arbeiten Gebietskörper- schaften, Umweltverbände, Unternehmen und Behörden zusammen. Die Stadt Kehl ist seit 1992 Mitglied bei SPPPI, seit 2008 gibt es eine rheinübergreifende Gruppe, die sich speziell grenzüberschreitenden Themen widmet. Seit der Jahrtausendwende hat SPPPI die Städte Straßburg und Kehl in ihrem Kampf gegen die von Industriebe- trieben verursachte – häufig sehr starke – Geruchsbelästigung unterstützt. Auf bei- den Rheinseiten wurde ein Geruchstelefon eingerichtet – die Bürgerinnen und Bürger wurden aufgerufen, unangenehme Gerüche zu melden und so exakt wie möglich zu beschreiben. 2007 gelang es, die so genannte Geruchscharta zu unterzeichnen. Darin verpflichteten sich die etwa 20 teilnehmenden Unternehmen von beiden Rheinseiten zum einen zur Transparenz und zum anderen dazu, schnelle Abhilfe zu schaffen, wenn es zu Geruchsbelästigungen kommt. Seither hat sich die Situation in Kehl deutlich verbessert.

Atmo-IDEE: ein Projekt zur rheinüberschreitenden Luftreinhaltung

Was bedeutet es für die Luftqualität im Euro- mer und im Winter, wurden die 136 distrikt, wenn sich ein neuer Industriebetrieb Basisdaten erhoben. Insgesamt ansiedelt? Selbst wenn jede Anlage für sich mehr als 20 Messstationen im genommen die vorgeschriebenen Grenzwer- gesamten Eurodistrikt erfassten te beim Schadstoffausstoß einhält, kann in beispielsweise die Konzentration der Summe eine enorme Luftbelastung ent- von Feinstaub, Stickstoffoxiden, stehen – im gesamten Ballungsraum. Wie Schwefeldioxid und Benzol, aber sich solche zusätzlichen Emissionen auf die auch meteorologische Daten, die Luftqualität auswirken, war bis vor kurzem Einfluss auf die Luftqualität ha- nicht darstellbar: Zu unterschiedlich waren ben, wie Windprofile oder die Nie- die Methoden, mit denen die vorhande- derschläge. ne Schadstoffkonzentration beidseits des Rheins berechnet und modelliert wurde. Die ASPA und die LUBW einigten An diesem Problem setzt das mit Interreg- sich auf ein für beide Seiten an- Geldern geförderte Projekt Atmo-IDEE an, nehmbares Verfahren, nach dem an dem neben dem Träger ASPA (Verein zur die Projektpartner von nun an die Überwachung der Luftbelastung im Elsass) lokalen Daten so erheben, dass unter anderem die Stadt Kehl, die Stadt- diese jederzeit zusammengeführt gemeinschaft Straßburg, der Eurodistrikt und gemeinsam dargestellt wer- Strasbourg-Ortenau und die Landesanstalt den können. Werden sie in ein spe- für Umwelt, Messungen und Naturschutz zielles Computerprogramm, ein für Baden-Württemberg (LUBW) beteiligt sind. Atmo-IDEE entwickeltes Webtool, eingegeben, so lassen sich sowohl Im März 2012 wurde der Startschuss für die einzelnen Emissionen als auch die aktu- Mehr als 20 Messstationen im Atmo-IDEE gegeben. Seitdem hat die ASPA elle Grundbelastung anzeigen, und das von Eurodistrikt zeichnen die gemeinsam mit den technisch involvierten kleinen Ebenen wie der Kehler Innenstadt Konzentration verschiedener Partnern – der LUBW, der Universität Straß- bis hin zur großen Fläche des Eurodistrikts. Luftschadstoffe auf. burg und dem Unternehmen Numtech – eine Eine Farbkennzeichnung macht deutlich, wo gemeinsame Datenbasis für Emissionen und vorgeschriebene Grenzwerte annähernd er- Immissionen erarbeitet. In vier je ein- oder reicht werden. Ab dem Frühjahr 2014 wer- dreimonatigen Messkampagnen, im Som- den die Ergebnisse der Emissionserhebung >> und der Modellierung der Schadstoffkon- Gebietskörperschaft wird somit besser in zentration für jeden zugänglich im Internet die Lage versetzt, Stellung zu dem Projekt zu unter www.atmo-idee.eu zu sehen sein. beziehen.

Anschließend soll das Atmo-IDEE-Webtool Oberbürgermeister Günther Petry denkt auch in Genehmigungsverfahren zum Ein- bei dem Projekt zur rheinüberschreitenden satz kommen. Möchte sich ein neuer Indus- Luftreinhaltung noch ein paar Schritte wei- triebetrieb im Eurodistrikt ansiedeln oder ein ter: „Die Modelle könnten Argumente dafür bereits niedergelassenes Unternehmen eine schaffen, dass die bestehenden Gesetze nicht neue Anlage in Betrieb nehmen, so muss die ausreichen.“ Er könne sich einen Emissions- Firma dafür bei der zuständigen Behörde handel für den Eurodistrikt vorstellen, wie es eine Genehmigung einholen und dabei den ihn in ähnlicher Form in der Europäischen exakten Standort und die künftigen Emissio­ Union gibt. Nach diesem Prinzip würde eine nen angeben. Mithilfe des Webtools kann Höchstgrenze an Emissionen für den Euro­ die Belastung durch die zusätzlichen Schad- distrikt festgelegt. Den Industriebetrieben stoffe mit der Ausgangssituation verglichen würden Zertifikate für Emissionen zugeteilt, werden: Auf einen Blick ist zu erkennen, ob die in der Summe die festgelegte Höchstgren- durch den neuen Betrieb Grenzwerte über- ze nicht überschreiten. Mit den Zertifikaten schritten werden – in unmittelbarer Nähe könnten die Unternehmen dann unterein- des Unternehmens sowie auch auf der je- ander handeln, ohne dass dies Auswirkun- weils anderen Rheinseite. Die betroffene gen auf die Luftbelastung insgesamt hätte. 137

Klimaschutz am Oberrhein: Wissenstransfer über Grenzen hinweg

Die Energiewende voranzutreiben und den Interesse“, sagt sie, „das Elsass übernimmt in Oberrhein als Vorbildregion in Sachen Kli- Frankreich eine Vorreiterrolle und auch in der maschutz zu etablieren, das hat sich eine Schweiz gibt es viele Initiativen, die sich für deutsch-französisch-schweizerische Ein- die Einsparung von Energieressourcen ein- richtung zur Aufgabe gemacht, die ihren Sitz setzen“. Wenn sich diese Unternehmen und in Kehl hat: TRION, das Energie-Netzwerk Institutionen untereinander austauschen, der Trinationalen Metro- ist Vulla Parasote überzeugt, polregion Oberrhein, sorgt wird ein grenzüberschreiten- seit seiner Gründung 2010 der Mehrwert geschaffen. dafür, dass Unternehmen „Wir müssen einen Techno- und Gebietskörperschaften logie- und Wissenstransfer in diesem Bereich von- und erreichen, zwischen Unter- miteinander lernen können nehmen und auch von der – zweisprachig und über drei Wissenschaft zur Wirtschaft“, Ländergrenzen hinweg. sagt sie. „Die Ergebnisse aus der Forschung sollen für die „Der Oberrhein drängt sich Wirtschaft nutzbar sein.“ als Vorbildregion für den Klimaschutz und die Nut- Vulla Parasote Um diesen Austausch zu för- zung erneuerbarer Energien dern, hat TRION, das funk- geradezu auf“, sagt Vulla Parasote, die das tional beim Regierungspräsidium Freiburg TRION-Büro im Kehler Torbogengebäude angesiedelt ist, mithilfe von Interreg-Geldern leitet. „Allein schon Freiburg weckt mit dem der Europäischen Union ein Energienetzwerk nachhaltigen Vauban-Viertel internationales von Kooperationspartnern aus den drei Län- >> dern aufgebaut. Dazu zählen vor allem Ener- gieagenturen, Eurodistrikte, Regionalver- bände, Bildungseinrichtungen, Energie- und Bauunternehmen sowie Handwerks-, Indus- trie- und Handelskammern. Ihre Mitglieder oder Mitarbeiter sollen von gemeinsamen Projekten und Veranstaltungen besonders profitieren. Das können zum Beispiel Fach- vorträge sein, wie das dreiteilige Kolloqui- um „Nachhaltiges Bauen am Oberrhein“, das TRION 2011 in Basel, 2012 in Straßburg und 2013 in Karlsruhe organisiert hat. Oder Fortbildungsreihen für Fachleute aus der Oberrhein-Region, die TRION gemeinsam mit seinen Partnern anbietet, wie 2012 beispiels- weise zur Energieeffizienz in Gebäuden. „Ich war überrascht, wie technisch und detailliert sich die Teilnehmer ausgetauscht haben“, be- richtet Vulla Parasote. Wie verarbeiten die waren drei Unternehmen aus Deutschland, Damit der Oberrhein Vorbild­ Kollegen im Nachbarland ein bestimmtes Frankreich und der Schweiz, TRION leitete region für Klimaschutz und die Produkt? Welches Material verwenden sie? einen Lenkungsausschuss, in dem eben- Nutzung erneuerbarer Energien 138 Und wie sieht der Markt jenseits der Grenze falls Energie-Experten aus der gesamten werden kann, wurde die deutsch- dafür aus? Solche Fragen seien lebhaft disku- Oberrhein-Region vertreten waren. „Mit drei französisch-schweizerische tiert worden. „Da hat sich ganz klar gezeigt: Ländern und drei Auftragnehmern war diese Einrichtung TRION gegründet. Man kann voneinander lernen“, sagt die Studie sehr ambitioniert“, sagt Vulla Parasote Vulla Parasote leitet das Büro TRION-Leiterin. im Rückblick. „Wir mussten ein gemeinsames im Kehler Kompetenzzentrum Szenario aufstellen. Aber schon die Visio- für grenzüberschreitende Weiter stärken will TRION das Netzwerk mit nen waren sehr unterschiedlich.“ Die Inhalte Zusammenarbeit. sogenannten Speed Meetings, bei denen we- länderübergreifend zu harmonisieren, das nige Unternehmen aus Deutschland, Frank- sei eine Herausforderung gewesen. Die län- reich und der Schweiz sich auf Einladung von derspezifischen Inhalte mussten nicht nur TRION treffen, sich einander vorstellen und zusammengeführt, sondern auch übersetzt dann Gelegenheit haben, sich auszutauschen. werden. „Das Thema war schon komplex, aber „Das soll klein, kurz, intensiv sein“, sagt Vulla zweisprachig wurde es noch einmal komple- Parasote. Die Speed Meetings sollen dazu xer.“ Auch bei den Treffen des Lenkungsaus- führen, dass Arbeitsgemeinschaften gegrün- schusses sei die Zweisprachigkeit nicht ganz det und eine geschäftliche, grenzüberschrei- unproblematisch gewesen: „Das Dolmet- tende Zusammenarbeit aufgebaut werden schen hemmt den Fluss der Sitzungen.“ kann. Ebenso wird ein Best-Practice-Katalog erarbeitet, also eine Zusammenstellung in- Trotz der Schwierigkeiten ist klar: Alles, was teressanter Vorbild-Projekte aus den Berei- TRION macht, betrifft die drei Länder am chen erneuerbare Energien und nachhaltiges Oberrhein und ist zweisprachig. „Einen Mehr- Bauen am Oberrhein. wert für die Region zu schaffen, einen ge- meinsamen Blick zu ermöglichen, dafür sind Eines der größten Projekte, das TRION bislang wir da“, sagt Vulla Parasote, die im Torbogen- realisiert hat, war eine Marktstudie zum Po- gebäude gemeinsam mit zwei weiteren Teil- tenzial der Gebäudesanierung am Oberrhein, zeitkräften für TRION arbeitet. Der Standort die der Politik Entscheidungsgrundlagen lie- in Kehl, „mitten in Europa“ und in direkter fern und den Unternehmen Markteinschät- Nachbarschaft zu anderen grenzüberschrei- zungen ermöglichen soll. Die Auftragnehmer tenden Einrichtungen wie dem Eurodistrikt, >> dem Euro-Institut oder dem Sekretariat der die Interreg-Förderung ausläuft. Bis dahin deutsch-französisch-schweizerischen Ober- soll das Netzwerk sich fest etabliert und eine rheinkonferenz, aus deren Kommission Klima Rechtsform erhalten haben. „Das Ziel ist, und Energie TRION 2010 hervorgegangen ist, dass wir dann auch direkt Dienstleistungen sei für die Arbeit hilfreich. In der Grenzstadt für Unternehmen vermarkten können“, er- will TRION auch dann bleiben, wenn 2015 klärt Vulla Parasote.

Verkehr

Der grenzüberschreitende Bus Der kleine Grenzverkehr – also der Linie 21 der Straßburger Ver- der motorisierte Austausch kehrsbetriebe (CTS) ist ein Opfer zwischen dem Ballungsraum seines Erfolges: Weil an manchen Straßburg und dem Raum Kehl Tagen mehr als 5000 Menschen – macht mit 65 Prozent den mitfahren wollen, muss ein größten Anteil des grenzüber- fünfter Gelenkbus auf die Strecke schreitenden Verkehrs aus. In von der Kehler Stadthalle bis zur absoluten Zahlen bedeutet Endhaltestelle der Straßburger dies, dass an Wochentagen Tram geschickt werden. insgesamt 36 000, an Samsta- gen 42 000 Fahrzeuge über die Europabrücke rollen. In seinem 139 Mobilitätskonzept prophezeit Dr. Frank Gericke vom Karlsruher Büro Modus Consult eine weitere Zunahme des grenzüberschreitenden Verkehrs bis zum Jahr 2025 um 33 Prozent. Dabei setzt der Verkehrsplaner bereits voraus, dass die Tramlinie D im Zwölf- Minuten-Takt über den Rhein fährt. Dass immer mehr Menschen zwischen Straßburg und Kehl pendeln, zeigen auch die steigenden Fahrgastzahlen in den Bussen der grenz- überschreitenden Linie 21 der Straßburger Verkehrsbetriebe (CTS): Im Juni 2013 muss ein fünfter Bus auf dem Rundkurs Tramhaltestelle Jean-Jaurès und Stadthalle Kehl eingesetzt und der Takt der Fahrten von 15 auf neun Minuten verkürzt werden – in- nerhalb von fünf Jahren sind die Fahrgastzahlen um 65 Prozent gestiegen. Eine solche Zunahme ist einzigartig im Netz der CTS. An manchen Tagen nutzen mehr als 5000 Fahrgäste die Busse der Linie 21.

Seit 16 Jahren gibt es den Euro- Folgerichtig ist auch der Euro-Pass eine Erfolgsge- Pass, das 24-Stunden-Ticket, mit schichte: Das Ticket, mit dem alle Verkehrsmittel des dem alle öffentlichen Verkehrs- öffentlichen Personennahverkehrs im Ortenaukreis mittel im Ortenaukreis und in der und auf dem Gebiet der Stadtgemeinschaft Straß- Stadtgemeinschaft Straßburg burg (CUS) 24 Stunden lang genutzt werden können, genutzt werden können. wurde vor 16 Jahren eingeführt, vor zwei Jahren kam der Euro-Pass Mini dazu, der während 24 Stunden Fahrten auf dem Territorium der Stadt Kehl und der CUS erlaubt. Während neue Produkte normalerweise einige Jahre Anlaufzeit benötigen, war der Euro-Pass Mini von Anfang an ein Erfolg: Gleich im ersten Jahr wurden 10 000 Stück verkauft, plus 1000 Monatskar- ten. Trotz der Einführung des Euro-Pass Mini stiegen die Verkaufszahlen des Euro-Passes ebenfalls um weitere fünf Prozent auf rund 110 000 Tagestickets und rund 2000 Monatskarten. >> Stadt- und Raumplanung

Bereits Anfang der 1970er-Jahre sah Sigrun Lang, damals Stadtplanerin in Kehl, spä- ter Oberbürgermeisterin in Baden-Baden, voraus, dass zukunftsorientierte Raumpla- nung im Ballungsraum Straßburg-Kehl eigentlich nur grenzüberschreitend möglich ist. Der Weg dorthin begann jedoch erst 1995. Der Fall der Berliner Mauer 1989 und der Wegfall der Grenzkontrollen im Zuge des Schengener Abkommens 1993 bildeten den Hintergrund für die Überlegungen des Straßburger Künstlers und damaligen Stadtra- tes Michel Krieger, im Grenzraum am Rhein ein Symbol für die Einigung Europas zu schaffen. Seine Vision vom „Jardin des deux Rives“, einem Park entlang des Straß- burger und Kehler Rheinufers, war damals so überzeugend wie kühn: Der Strom sollte einen Bedeutungswandel erfahren – vom Grenzfluss zum integralen Bestandteil eines gemeinsamen Gartens. Er sollte nicht länger trennen, sondern verbinden. Die Zustim- mung Straßburgs zum Bau dieses Parks war gleichzeitig die Weichenstellung für eine neue Stadtentwicklung: Während Kehl schon immer eine Stadt am Rhein war, war Straßburg seit Jahrhunderten eine Metropole an der Ill. Ihre Entwicklung suchte sie 380 Wohnungen für rund zuerst im Norden, dann im Süden, später im Westen, aber nie im Osten. 1000 Menschen am Rande des französischen Teils des Gartens Die gemeinsamen Pläne für den Garten der zwei Ufer, die Passerelle und die grenz- der zwei Ufer werden 2014 überschreitende Gartenschau haben die Zusammenarbeit zwischen den beiden Städ- bezugsfertig sein. ten intensiviert. Trotz des beachtlichen Größenunterschieds war klar, dass jede raum- planerische Entwicklung auf der einen Rheinseite Auswirkungen auf das andere Ufer 140 haben würde. Nach Straßburger Vorstellungen sollte der Garten der zwei Ufer kein solitäres Element am Rhein sondern der Endpunkt einer Entwicklungsachse werden, die am Parc de l’Etoile beginnt und sich bis zum Rhein hinzieht. Gemeinsam gaben die beiden Städte Kehl und Straßburg bereits im Jahr 2000 eine Machbarkeitsstudie für die Tram über den Rhein in Auftrag, die – nach damaligen Plänen – bereits 2011 den Kehler Bahnhof mit dem Straßburger Stadtzentrum verbinden sollte. In den Plänen für den Garten der zwei Ufer war auf Straßburger Seite bereits zur Jahrtausendwende ein neues Wohngebiet vorgesehen. Die Entwicklung, welche die rot-grüne Straßburger Stadtregierung heute in Richtung Rhein vorsieht, beziehungsweise bereits begonnen hat, ist die konsequente Fortsetzung dieser Pläne – mit dem Schéma des deux Rives ist zum ersten Mal ein über den Rhein hinausreichender, das Kehler Bahnhofs- und Kasernenareal mit umfassender städtebaulicher Rahmenplan entstanden.

Mit der sechsmonatigen grenz- überschreitenden Gartenschau ist der Garten der zwei Ufer 2004 eingeweiht worden. >> Die neue Neustadt oder: Straßburg am Rhein

Jahrhundertelang war Straßburg die Stadt an eine deutsch-französische Jury die Wettbe- der Ill, die dem Rhein den Rücken zuwand- werbssieger gekürt (siehe Seite 6), die zu- te. Mit dem Projekt Deux Rives entwickelt sammen mit Stadtplanern der beiden Städte sich die Großstadt in Richtung Rhein – nach an einem gemeinsamen Masterplan arbeiten. dem Bau der Neustadt unter deutscher Herr- schaft von 1871 bis 1918 handelt es sich da- Was die Umsetzung des Schéma des deux bei um das größte Stadtentwicklungsprojekt, Rives ganz konkret bedeutet, kann man am das je in Angriff genommen wurde. Von der französischen Rheinufer in unmittelbarer 180-Grad-Großstadt soll sich Straßburg nach Nachbarschaft zum Garten der zwei Ufer dem Willen der rot-grünen Stadtregierung zur bereits sehen: Der Bau von 380 Wohnungen 360-Grad-Metropole wandeln. Vorgesehen (190 Eigentumswohnungen, 110 Senioren- ist, auf den ehemaligen Hafenflächen entlang wohnungen und 80 Sozialwohnungen) steht der Verlängerung der Tramlinie D nach Kehl kurz vor dem Abschluss. Neben der kleinen auf rund 250 Hektar Fläche Wohnraum für Kirche Ste Jeanne d’Arc errichtet Habitation rund 18 000 Menschen zu schaffen. Moderne weitere 140 Wohnungen (davon 60 Sozialwohnungen). Allein durch diese bei- 2010 haben die Stadt Straßburg und der den Wohnungsbauprojekte wird das Quar- Straßburger Hafen begonnen, gemeinsam tier du Port du Rhin seine Einwohnerzahl und mit umfangreicher Bürgerbeteiligung den 2014 in etwa verdoppeln. Auch der Bau des 141 städtebaulichen Rahmenplan Richtung Rhein zweitgrößten Straßburger Krankenhauses im

Unweit der kleinen Kirche im zu entwickeln. Die Stadt Kehl wurde eingela- Stadtteil Port du Rhin wird den gehobenen Port-du-Rhin-Viertel baut den, sich an der Erarbeitung des Schéma des Wohnungsbau beflügeln – es ist davon aus- Habitation Moderne 140 deux Rives zu beteiligen, das auf diese Weise zugehen, dass zumindest ein Teil der rund 800 Wohnungen. über den Rhein hinaus um das Kasernen- und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des neuen Bahnhofsareal erweitert werden konnte. Im Klinikums gerne in der Nähe des Arbeitsplat- Frühsommer 2012 haben die Städte Kehl und zes wohnen möchte. Straßburg einen gemeinsamen städtebauli- chen Wettbewerb für die beiden Zollhöfe eu- Das neue Wohnviertel Bruckhoff rund um die ropaweit ausgeschrieben. Im Januar 2013 hat heutige Endhaltestelle der Tramlinie D Aristide >> Wohnen am Wasser ist das Mot- to in den neuen großstädtischen Stadtquartieren, welche die Stadt Straßburg auf den Industrie­ brachen des Hafens entwickeln möchte. Fortbewegen sollen sich die neuen Bewohner zu Fuß, mit dem Rad und mit der Tram.

Briand mit seinen 657 neuen Wohnungen (da- Quartieren werden hier Niedrig- oder Null- von 241 Appartements für Studenten) ist be- Energie-Häuser entstehen; der Autoverkehr reits fertig gestellt und weitgehend bezogen. soll aus den Vierteln weitgehend verbannt Die Halbinsel Môle de la Citadelle werden; die Bewohner sollen sich zu Fuß, mit (unten links) ist das Prachtstück Unweit von Bruckhoff, in strategisch günsti- dem Fahrrad oder mit Bus und Tram bewe- unter den Stadtentwicklungs­ ger Lage am neuen Stadtboulevard, der von gen. Privatautos können in Sammelgaragen flächen. Mit Yachthafen und der Kehler Geiger-Kreuzung bis zum Parc de oder Parkhäusern abgestellt werden. Hotel wird die Freizeitnutzung in l’Etoile reichen wird, laufen die Bauarbeiten den Vordergrund gestellt. 142 für das Öko-Wohnviertel Danube mit weiteren Die schwierigste Aufgabe stellt sich den 650 Wohnungen. Zusätzlich sind hier 18 000 Stadtplanern wohl in der Umgestaltung des Quadratmeter Nutzfläche für Büros und Ein- Coop-Halbmondes: Dort sollen vorhandene Die Verlängerung der Tramlinie D zelhandel vorgesehen. Die Realisierung des Industrie- und Gewerbebauten erhalten und bis nach Kehl zieht sich wie ein Öko-Quartiers erfolgt in drei Bauabschnitten. für kulturelle Nutzung hergerichtet werden. roter Faden durch die neuen Diese könnten einen (Lärmschutz-)Riegel zur Stadtentwicklungsgebiete, Mit ihrer ersten neuen Haltestelle auf der geplanten Wohnbebauung in der Nachbar- die bis zu 18 000 Einwohner Halbinsel Môle de la Citadelle wird die Tram- schaft aktiver Industriebetriebe des Straß- aufnehmen sollen. linie D in ihrer Verlängerung einen besonde- burger Hafens bilden. ren Ort erschließen: Direkt am Wasser sollen hier ein Hotel und der Yachthafen der Stadt Straßburg entstehen, geplant sind auch Wohnungen im gehobenen Preissektor so- wie Tourismus- und Freizeiteinrichtungen. Wohnen am Wasser ist auch die Devise für die Gestaltung des 176 000 Quadratmeter großen Starlette-Areals – wie in allen neuen

>> Senioren

Über viele Jahre hinweg trafen sich Senioren aus Kehl und Straßburg regelmäßig zum geselligen Beisammensein – mit und ohne Programm. Seit dem Tod der Orga- nisatoren beschränken sich die Kontakte auf eine lockere Kooperation zwischen den Straßburger Museen und dem Kehler Seniorenbüro. Das Seniorenbüro wird über die laufenden Ausstellungen informiert und auf Wunsch von Straßburger Senioren ge- führt. Auf Eurodistrikt-Ebene sind Arbeitsgruppen zu Senioren-Themen wie zum Bei- spiel betreutes Wohnen oder Erkrankungen im Alter zwar angedacht, aber noch nicht zustande gekommen.

In den Fokus der Öffentlichkeit sind die Senioren jedoch aus ganz anderen Gründen gerückt: 2005 wurde das Alterseinkünftegesetz so geändert, dass Renten besteuert werden können, wenn sie eine bestimmte Höhe überschreiten. Das gilt freilich auch für ehemalige Grenzgänger, die in Frankreich leben und jahrelang in Deutschland gearbei- tet haben. Doch anders als die Einkünfte der Rentner, die in Deutschland ihren Lebens- abend verbringen, können die Renten der französischen Grenzgänger schon vom ersten Euro an besteuert werden. Dies ist im Falle einer beschränkten Steuerpflicht möglich, einen Grundfreibetrag gibt es hier nicht.

Verzweifelte Rentner, nicht selten hochbetagt und in schwierigen finanziellen Verhältnis- sen lebend, prägten seither den Arbeitsalltag der deutsch-französischen Beratungsstelle INFOBEST Kehl-Strasbourg. 2012 betrafen allein 37 Prozent der 4174 vom INFOBEST- 143 Team bearbeiteten Anfragen die Rentenbesteuerung. Mit fast jedem Fall verbindet sich ein menschliches Schicksal, was die Beraterinnen auch emotional fordert. Häufig er- halten nämlich Rentner und Rentnerinnen, oft auch die Ehefrauen längst verstorbener, ehemaliger Grenzgänger, Steuerrechnungen vom Finanzamt Neubrandenburg, obwohl sie nur sehr kleine Renten beziehen. Wer die richtigen Formulare ausfüllt und die Fristen wahrt, kann die Zahlungen verhindern, doch den meisten Betroffenen fehlen die dazu notwendigen Kenntnisse des deutschen Steuersystems. Wenn sich Angehörige – häufig die Kinder oder die Witwe – des einstigen Grenzgängers um das Verfahren kümmern müssen, mangelt es nicht selten zusätzlich an den Sprachkenntnissen.

Um die deutsch-französischen Beratungsstellen am Oberrhein zu entlasten und die Rentner auch vor Ort in den Gemeinden beraten zu können, haben die Oberrheinkon- ferenz (30 000 Euro), die INFOBEST Kehl-Strasbourg (20 000 Euro), die Région Alsace (15 000 Euro), die Eurodi- strikte Pamina und Stras- bourg-Ortenau (jeweils 10 000 Euro) sowie das Sozialministerium Baden- Württemberg (5000 Euro) im Juni 2013 gemeinsam eine Task-Force mit zwei Mitarbeitern gebildet: Allein in den ersten vier Was die Senioren angeht, ist die Monaten wurden Bera- grenzüberschreitende Koopera­ tungsgespräche mit rund tion noch entwicklungsfähig. 800 Rentnern geführt. >> Lebensende

Lange Jahre ließ das Kehler Bestattungsinstitut Klein verstorbene Kehlerinnen und Kehler im Straßburger Krematorium einäschern – der Weg war deutlich schneller zu- rückzulegen als die Fahrt nach Lahr. Doch während mit dem Binnenmarkt lebende Europäer die deutsch-französische Grenze ohne Ausweis und ohne Zollkontrolle über- queren konnten, war für tote Europäer weiterhin ein sogenannter Leichenpass vonnö- ten. Dieser ist beim Standesamt unbürokratisch für eine Gebühr von 17 Euro erhältlich – wirtschaftlich betrachtet war damit die Einäscherung der Toten in Straßburg immer noch günstiger als in Lahr. 2009 trat jedoch eine Änderung des Bestattungsgesetzes in Kraft, wonach eine zweite Leichenschau notwendig wird, wenn der oder die Tote ins benachbarte Ausland oder auch in ein anderes Bundesland transportiert werden soll. Diese kostet etwa 80 Euro; außerdem können durch diese zweite Leichenschau zeit- liche Verzögerungen auftreten. Zwei Gründe, weshalb die Kehler Bestattungsinstitute Verstorbene seither grundsätzlich zur Einäscherung ins Lahrer Krematorium bringen.

Hat indes ein Verstorbener zu Lebzeiten den Wunsch geäußert, dass seine Asche in den Rhein gestreut werden möge, kann sein Wille – obwohl in Deutschland verboten – am Straßburger Flussufer erfüllt werden. Mitarbeiter des Bestattungsinstituts begleiten die trauernden Angehörigen dann auf die französische Rheinseite.

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