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KULTURLANDSCHAFT DIE FOTOSAMMLUNG DES LANDESAMTS FÜR STRASSENWESEN BADEN-WÜRTTEMBERG

LANDESARCHIV BADEN-WÜRTTEMBERG

STAATSARCHIV LUDWIGSBURG Kulturlandschaft Autobahn Die Fotosammlung des Landesamts für Straßenwesen Baden-Württemberg

Bearbeitet von Bernhard Stumpfhaus

Verlag W. Kohlhammer 2011

2 Die Drucklegung wurde gefördert durch das Regierungs- präsidium Stuttgart.

Titelbild: Blick vom Überführungsbauwerk der B 500 auf die A 5; am Brückengeländer Erich Wahl, Autobahnamt / 1956 (Repro: 05.12.1991) Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL EL 75 VIa Nr 826

∞ Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier

Alle Rechte vorbehalten © 2011 by Landesarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart Gestaltung: agil > Visuelle Kommunikation, Pforzheim Druck: Druckerei Mack GmbH, Schönaich Kommissionsverlag: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Printed in ISBN 978-3-17-022370-7 Inhalt

5 Grußwort 61 Katalog

6 Vorwort 62 Trassen. Fahrten ins Grüne Peter André, Konradin Heyd, 80 Brücken. Jürgen Wecker Tore in die Landschaft 8 Baden-Württembergs Autobahnen 94 Raststätten. von den Anfängen bis in die 1970er Jahre Oasen der Erholung 97 Planungen in der Natur Thomas Zeller 110 Bauarbeiten. 12 Vom Landschaftsgenuss zur Schadens- Herstellung einer Perspektive vermeidung: Straßen- und Autobahnland- 132 Traum und Wirklichkeit. schaften im historischen Wandel Die Geschichte einzelner Autobahnabschnitte 150 Luftbilder. 26 Hermann Knoflacher Die Landschaft als Modell und Landkarte Kulturlandschaft und Autobahn – mehr als ein gescheiterter Versuch 164 Die Autorin, die Autoren

32 Angela Jain Das Bild von der Autobahn-Landschaft

40 Bernhard Stumpfhaus Bemerkungen zur Autobahnfotografie. Ihre Ästhetik, ihr Gebrauch, ihre Bedeutung

Grußwort Gert Klaiber

Grußwort

Mit dem Bau von ausschließlich dem KFZ-Verkehr Jahrzehnte durchlaufen hat, sondern sie zeigen vorbehaltenen neuen Straßen begann im Jahr 1934 auch die Sicht der planenden und ausführenden im Gebiet des heutigen Landes Baden-Württem- Ingenieure auf ihre Verkehrsbauwerke und die berg die Geschichte der Autobahnen. Die Ideen umgebende Natur. Damit wird aber auch das Foto hierfür waren freilich schon älter. Die Planungs- und dessen gestalterische Ausdruckskraft selbst und Gestaltungsprinzipien der ersten Jahre wurden zum Thema.Ich freue mich, dass der reichhaltige bereits in den 1920er Jahren entwickelt. Der Bezug Schatz an Dokumenten mit dieser Ausstellung der Bautechnik zur Natur und Landschaft und um- einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht gekehrt war einer der Leitgedanken ab etwa 1935. wird. Die Geschichte unserer Autobahnen wird Nach dem Zweiten Weltkrieg standen vor allem hier lebendig. Die Autobahnen bilden das Rück- wegen der rasant steigenden Motorisierung die grat unserer Verkehrsinfrastruktur, sie sind aber Anforderungen des Verkehrs und der Fahrdynamik auch für sich selbst genommen ein Kulturgut. Aus im Vordergrund. Aus der Zeitspanne von 1934 bis beiden Gründen bildet die Geschichte der Auto- in die 1990er Jahre ist ein sehr umfangreiches und bahnen einen ganz wichtigen Bestandteil unserer anschauliches Fotomaterial erhalten, welches bei Landesgeschichte. Ich möchte mich bei den ver- den damals für den Autobahnbau verantwortli- antwortlichen Ausstellungsorganisatoren, Herrn chen Stellen entstanden ist, und welches das Lan- Dr. Häussermann und Herrn Dr. Stumpfhaus für desamt für Straßenwesen systematisch geordnet diese großartige Ausstellung herzlich bedanken. im Jahr 2002 dem Staatsarchiv Ludwigsburg über- Dem Regierungspräsidium Stuttgart danke ich für geben hat. Die vorliegende Ausstellung zeigt eine die fachliche Begleitung. sehr gute Auswahl dieser auch künstlerisch wert- vollen Aufnahmen. Die Bilder veranschaulichen Gert Klaiber nicht nur den Entwicklungsprozess, den die Gestal- Ministerium für Verkehr und Infrastruktur tung und der Bau von Autobahnen im Lauf der Baden-Württemberg

6 Peter Müller Vorwort

Vorwort

Dass Behörden und andere öffentliche Einrichtun- tion in Stuttgart und des Landesamts für Straßen- gen für ihre Aufgabenerledigung sich nicht nur wesen übernehmen. schriftlicher Unterlagen wie Akten, Urkunden, Schon ein kurzer Blick in die verschiedenen Bild- Karten und Pläne bedienen, sondern seit dem Auf- bestände zeigt, dass die aufgrund ihrer Herkunft kommen der Fotografie vielfach auch Lichtbild- aus einem amtlichen Zusammenhang vielleicht aufnahmen für ihre Arbeit eingesetzt haben, ist allzu voreilig als spröde und langweilig einge- erst in der jüngeren Vergangenheit vermehrt in das schätzten Aufnahmen nicht nur wegen der darge- Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Erinnert sei stellten Motive Geschichtsquellen von hohem in diesem Zusammenhang etwa an die erfolgreiche Wert darstellen, sondern auch einen ganz eigenen Ausstellung Spurensuche – Polizeifotografie Mann- ästhetischen Reiz entfalten, der eine eingehendere heim 1946–1971 im Mannheimer Reiss-Engel- Beschäftigung lohnt. Bei den Fotografen, die diese horn-Museum im Jahr 2007/08 oder die Präsenta- Lichtbilder angefertigt haben, handelte es sich tion von Patientenbildern aus der Psychiatrischen oft um ambitionierte Laien, vielfach aber auch um Anstalt Weinsberg im Staatsarchiv Ludwigsburg Profis, die ihre Arbeit ganz offensichtlich mit im Rahmen der Ausstellung Das schöne Bild vom einem gewissen künstlerischen Anspruch ausgeübt Wahn etwa zur selben Zeit. Außer Polizei und haben. Bei den Aufnahmen von Gebäuden und Medizin, die Fotografien schon früh zu Diagnose- Anlagen der technischen Infrastruktur wie Bahn- und Ermittlungszwecken eingesetzt haben, hat höfen, Eisenbahnstrecken, Brücken, Straßen und sich insbesondere die Bau- und Denkmalverwal- Autobahnen, besitzt das dargestellte Objekt viel- tung des Mediums der Fotografie bei der Planung fach selbst optische Qualitäten, die besonders und Dokumentation von Bauvorhaben bedient. sichtbar werden, wenn dieses aus einer ungewohn- Die auf diesem Weg seit dem frühen 20. Jahrhun- ten Perspektive aufgenommen wurde. Der Reiz dert entstandenen analogen Bildbestände bei Be- dieser Fotos kann sich unter Umständen noch hörden und anderen Einrichtungen in öffentlicher steigern, wenn die Gestaltung der Aufnahme nicht Trägerschaft, deren genauer Umfang sich bislang nur von ästhetischen Gesichtspunkten bestimmt erst in Umrissen abzeichnet, werden im Zuge des war oder zumindest das Ziel verfolgte, ein Objekt zunehmenden Vordringens digitaler Techniken besonders gut erkennbar ins Bild zu setzen, son- in der Fotografie und Reprografie in verstärktem dern auch Zwecken diente, die unmittelbar mit Umfang an die zuständigen staatlichen und kom- der Aufgabenerfüllung des Auftraggebers zu tun munalen Archive abgegeben. Das Staatsarchiv hatten. Im Falle der Straßenbauverwaltung dienten Ludwigsburg konnte so in den letzten Jahren unter die Fotos nicht nur der Dokumentation der Bau- anderem Fotosammlungen des Landesamts für vorhaben und wurden für die Öffentlichkeitsarbeit Denkmalpflege, der ehemaligen Bundesbahndirek- (oder Propaganda) eingesetzt; sie waren vielmehr

7 Vorwort Peter Müller

auch wichtige Arbeitsinstrumente im Rahmen von hohem Interesse. Selbstverständlich lassen der Gestaltung der Trassen und der Bauplanung. sich die Bilder aber auch als künstlerische Objekte Was ursprünglich einmal als Primärzweck die Ge- von eigenem Reiz betrachten. All dies kann in der staltung vieler Fotografien bestimmte, kann, aus Ausstellung und dem vorliegenden Katalog an der Perspektive des heutigen, von ganzen anderen repräsentativen Beispielen nachvollzogen werden. Interessen geleiteten Betrachters, so durchaus zu Die Ausstellung und das hier vorliegende Be- einem ästhetischen Mehrwert werden. gleitbuch wurden für das Staatsarchiv Ludwigsburg Die Ausstellung Kulturlandschaft Autobahn von dem Kunsthistoriker Dr. Bernhard Stumpf- möchte die vielfältigen Perspektiven, unter denen haus erarbeitet. Für den Katalog konnten neben man sich mit einem solchen – zunächst einmal dem Kurator sowie Mitarbeitern der baden-würt- primär (bau-)technisch bestimmten – Bildbestand tembergischen Straßenbauverwaltung auch beschäftigen kann, anhand der umfangreichen renommierte Kulturwissenschaftler und Verkehrs- Fotosammlung des ehemaligen Landesamts für experten gewonnen werden, die den Kontext, Straßenwesen Baden-Württemberg aufzeigen. Der in dem die Bilder entstanden sind, aus unter- Bestand, der mehrere Tausend Fotografien enthält schiedlichen Perspektiven beleuchten. Der Band und vom Staatsarchiv Ludwigsburg im Jahr 2002 bietet somit auch eine exzellente Einführung in übernommen werden konnte, reicht bis in die An- den Gesamtbestand an Bildern, der schon vor fänge des Autobahnbaus in den 1930er Jahren einiger Zeit digitalisiert wurde und im Internet zurück und enthält das ganze Spektrum von Bild- über das Onlinefindmittelsystem des Landesar- motiven rund um eines der großen Verkehrsinfra- chivs Baden-Württemberg abgerufen werden strukturprojekte des 20. und 21. Jahrhunderts. kann. Das Regierungspräsidium Stuttgart, in dem Die Fotografien beleuchten einerseits als historische das Landesamt für Straßenwesen im Zuge der Quellen die massive Veränderung unserer Kultur- letzten Verwaltungsreform aufgegangen ist, hat das landschaft durch den Bau von Verkehrswegen Ausstellungsvorhaben von Anfang an nicht nur für den motorisierten Individualisten und zeigen, mit großem Interesse begleitet, sondern auch ide- welchen Illusionen von einer Versöhnung von ell und finanziell unterstützt, wofür ihm unserer Landschaft und Verkehr die Planer der Autobah- ganz besonderer Dank gilt. nen anfänglich erlegen sind. Die Aufnahmen dokumentieren gleichzeitig aber auch, für welch Ludwigsburg, im November 2011 unterschiedliche Verwendungszwecke das Medium der Fotografie bei der Planung und dem Bau der Dr. Peter Müller Autobahnen eingesetzt wurde und sind damit Leiter der Abteilung Staatsarchiv Ludwigsburg auch für eine Geschichte der amtlichen Fotografie des Landesarchivs Baden-Württemberg

8 Peter André Baden-Württembergs Autobahnen von den Anfängen bis in die 1970er Jahre Konradin Heyd Jürgen Wecker

Peter André, Konradin Heyd, Jürgen Wecker Baden-Württembergs Autobahnen von den Anfängen bis in die 1970er Jahre

Kurz vor seiner Auflösung im Jahr 2002 hat das zusammenzuführen. Damit stand dieses Material damalige Landesamt für Straßenwesen (vor 1986 beim Landesamt endlich verlässlich zur Verfü- Autobahnamt) seine fotografische Sammlung dem gung. Diese neu geordnete und vereinheitlichte Staatsarchiv Ludwigsburg übergeben. Das um- Sammlung konnte nun einem neuen Zweck zuge- fangreiche Konvolut besteht aus mehreren Teilen führt werden: Sie sollte allen Mitarbeitern eine und enthält mit einer speziellen Sammlung von Hilfestellung geben bei der Erfüllung ihrer ver- 7500 Fotoabzügen eine umfassende Dokumen- schiedenen Aufgaben, etwa bei der Suche nach tation zum Bau der Autobahnen in Baden-Würt- Gestaltungsbeispielen, als aktuelle und historische temberg. Die Lichtbilder sind im Staatsarchiv Bestandsdokumentation, die man etwa für Repa- zwischenzeitlich digitalisiert worden und stehen raturzwecke, aber insbesondere auch für die Öf- interessierten Nutzern online zur Verfügung. fentlichkeitsarbeit brauchte. Zwischenzeitlich ist Entstanden ist diese Bildersammlung in ihrer sie eine wesentliche Begleitung für die Geschichte derzeitigen Gestalt in den 1990er Jahren als Repro- des Autobahnbaus in Baden-Württemberg seit duktion von Fotografien und Grafiken verschie- ihren Anfängen. denster Qualität und Funktion. Notwendig wurde wir uns nun dieser Autobahngeschichte diese Arbeit, weil im damaligen Autobahnamt selbst zu: Immerhin stellte die Autobahn zu ihrer diese vielfältigen Lichtbilder nicht organisiert vor- Entstehungszeit ein ganz neuartiges Verkehrskon- lagen. Die Reproduktionen wurden meist auf zept vor. Nicht der Ausbau historisch gewachsener Privatinitiative der planenden und bauenden In- Straßen, sondern die Konzeption eines völlig genieure angefertigt. So wuchsen die Bildbestände neuen Fernstraßennetzes für den modernen Au- bei bestimmten Einzelpersonen zu ansehnlichen tomobilverkehr: Das war die Idee, die in den Sammlungen. Als man ihren dokumentarischen 1920erJahren entwickelt wurde. Mit dem Bau der Wert erkannte, entschied man sich, die Fotografien Reichs- und später der Bundesautobahnen wurde systematisch auf Mikrofilm, mit elektronischem diese Idee seit den 1930er Jahren umgesetzt. Register und Schlagwortverzeichnis ausgestattet, Dieses gigantische Infrastrukturunternehmen war

9 Baden-Württembergs Autobahnen von den Anfängen bis in die 1970er Jahre Peter André Konradin Heyd Jürgen Wecker

zuerst mit der Gesellschaft Reichsautobahnen der Autobahntrassen im Zusammenwirken von (RAB) reichsweit zentral organisiert, zunächst an- Lage und Höhe zu überprüfen. Auch ihre Lage in gegliedert an die Reichsbahn. 15 Oberste Baulei- der Landschaft sollte vor dem Bau der Fernstraßen tungen (OBR) dieser Gesellschaft steuerten und dargestellt und beurteilt werden. überwachten das regionale Baugeschehen. Für das War die Linienführung zu Beginn noch unorga- Gebiet des heutigen Landes Baden-Württemberg nisch und hart, begannen die Ingenieure schon waren die 1933/1934 eingerichteten Obersten Bau- bald, sich mit der Wirkung ihrer Bauwerke auf die leitungen und Stuttgart zuständig. Diese Landschaft und in der Landschaft auseinanderzu- Bauleitungen schufen auf dem heutigen Landes- setzen. Ja, sie begriffen die von ihnen entworfenen gebiet in wenigen Jahren Autobahnstrecken von Autobahnen als bereichernden Teil der Landschaft knapp 300 km Länge. und als Inszenierung der Natur für den Auto- Nach dem Krieg gingen der Bau von Autobah- fahrer. Bei der Beurteilung der Trassenvarianten nen und deren Betrieb in die Verwaltung der Bun- wurde besonderer Wert auf eine abwechslungs- desländer über, als Auftragsverwaltung für den reiche Linienführung mit häufiger Fernsicht auf Bund. Mit der Gründung des Landes Baden- markante Landschaftsteile gelegt. Der Reisende Württemberg wurde für diese Aufgaben 1952 ein sollte die neuen Verkehrswege nicht nur benutzen, eigenständiges Autobahnamt geschaffen, in dem um schnell von einem Ort zum anderen zu gelan- die Vorläuferorganisationen aufgegangen sind. gen, sondern auch, um auf der Reise die Schön- Dieses Amt existierte 50 Jahre, zuletzt unter dem heit des Landes zu erleben und zu genießen (Kat. Namen Landesamt für Straßenwesen. In dieser Zeit Nr. 7). Varianten wurden u. a. wegen zu großer entstand der weitaus größte Teil des heutigen Eintönigkeit und langer ermüdender Fernsicht, über 1000 km langen baden-württembergischen die kaum Abwechslung bietet, ausgeschieden. Autobahnnetzes. Seit Anfang 2003 liegt die Ver- Der Generalinspekteur für das deutsche Straßen- antwortung für die Autobahnen bei den vier wesen Dr. schrieb 1934: Die Landschaft Regierungspräsidien des Landes. kennt keine geometrischen Figuren, sondern weiche, Aus den ersten beiden Epochen (1933–1945 harmonische Formen. Wer bei der Anlage von Stra- und 1946–1970) ist uns von diesen mit dem Auto- ßen geometrische Figuren vom Reißbrett in die bahnbau befassten Stellen umfangreiches doku- Natur überträgt, verursacht dort harte Einschnitte mentarisches Material erhalten. Von besonderer und Verlegungen des bestehenden Landschaftsrhyth- Aussagekraft ist das reichhaltige Bildmaterial. mus und trägt dazu bei, dass der kulturelle Wert Insbesondere lässt sich anschaulich verfolgen, der ge schaffenen Werke geringer wird und auch der wie sich Trassierungsgrundsätze und Bautechnik Verkehrswert durch die Monotonie leidet. Wir im Lauf der Zeit entwickelt und verändert haben. haben mit un seren Straßen nicht nur Einschnitte in Viele Bilder zeigen als geometrisch exakte Monta- die Landschaft vorzunehmen, sondern wir haben gen (sog. Hybridtechnik) eingezeichnete Trassen auch dafür zu sorgen, dass diese Einschnitte und und Brücken in der fotografierten Landschaft Eingriffe abgeglichen werden, so dass die Verletzung (Kat. Nr. 43, 46). Solche Arbeiten verfolgten zum der Landschaft wieder gemildert wird. Ich ersuche einen den Zweck, die räumliche Linienführung dringend zum wiederholten Male, alle Mitarbeiter

10 Peter André Baden-Württembergs Autobahnen von den Anfängen bis in die 1970er Jahre Konradin Heyd Jürgen Wecker

am Werk der Reichsautobahnen und auf dem Ge- Georg Leber. Dieser Plan sah vor, dass jeder Bun- biet des allgemeinen Straßenbaues, nicht wie min- desbürger nicht mehr als 25 km entfernt von einer dere Techniker an geometrischen Formen zu hängen, Autobahn wohnen sollte. sondern wie schöpferische Baumeister die Straßen In dieser Zeit der Autobahn-Hochbauphase als Kunstwerk der Natur anzupassen. Trotz aller wurden die Trassierungsgrundsätze zwar weiter ideologischen Überlagerungen, die Todts Ausfüh- verfeinert, jedoch grundsätzlich beibehalten. Bald rungen prägten, sind das Gedanken, die auch gab es durch die Motorisierungswelle Kapazitäts- heute noch gelten. probleme. Die verkehrstechnischen Anforderun- Was für die Linienführung und den Straßen- gen stiegen rasant. Der Ausbau der Anschlussstelle körper galt, galt erst recht für die Gestaltung der Degerloch zum Echterdinger Ei in den sechziger Brücken, Tunnel und Stützbauwerke. Die Bau- Jahren und der Umbau dieses Eis in eine hoch- werke am Albaufstieg und am Drackensteiner leistungsfähige Turbine vor knapp zehn Jahren Hang (Albabstieg) sind hierfür beeindruckende sind hierfür ein beeindruckendes Beispiel. Die Beispiele. So wie man seit dem Zeitalter der Ro- Modernisierung der besonders stark befahrenen mantik Schlösser und Burgen als die Landschaft Betriebsstrecken setzte bereits in den 1970er Jah- bereichernde Kunstbauten begriff, so entstanden ren ein und ist noch lange nicht abgeschlossen. nun moderne Bauwerke, die Stilelemente des So harrt z. B. der Neubau des Albaufstiegs der A8 Mittelalters aufgriffen. Naturstein verwendete seit langem auf die notwendige Finanzierung. man als Baumaterial, zumindest als Verkleidung. Grundlegend weiterentwickelt hat sich in den Selbst Baubehelfe wie Holzgerüste waren beein- ersten Nachkriegsjahrzehnten aber auch die Bau- druckende und schön gestaltete Konstruktionen. technik. Im Erdbau und im Straßenoberbau Zur Autobahngeschichte gehört aber auch die war dafür die zunehmende Mechanisierung aus- von den Nationalsozialisten befohlene Zerstörung schlaggebend. Im Brückenbau führte der tech- strategisch wichtiger Brücken sowie deren provi- nische Fortschritt zu ganz neuen Möglichkeiten. sorische Wiederherstellung nach dem Krieg. Auch Spannbetonkonstruktionen (Kat. Nr. 79), Takt- hierzu gibt es reichhaltiges Bildmaterial (Kat. Nr. schiebeverfahren und Freivorbau (Kat. Nr. 63, 65) 70, 72, 73–74). ermöglichten riesige Stützweiten bei dennoch In den Zeiten des Wirtschaftswunders und des schlanken Konstruktionen und damit auch völlig Automobilbooms wuchs auch der Autobahnbau. neue Gestaltungsmöglichten. Eine moderne sach- Das vor dem Krieg konzipierte Autobahnnetz liche Formgebung orientierte sich nun an der wurde wesentlich erweitert und verdichtet. funktionalen Anforderung des Bauwerks und am Die öffentliche Meinung stand dem Bau von Au- statischen Kraftfluss. So entstand eine neue Ge- tobahnen bis Ende der 1960er Jahre überwiegend staltungs- und Formensprache der entwerfenden positiv gegenüber. Der Ruf nach immer mehr, Ingenieure. An dieser technischen und künst- immer besseren und leistungsfähigeren Autobah- lerischen Entwicklung hatten und haben baden- nen wurde immer lauter. Die Entwicklung gipfelte württembergische Ingenieure einen ganz schließlich im sogenannten Leberplan, benannt wesentlichen Anteil. Allein dank dieser schönen nach dem damaligen Bundesverkehrsminister Konstruktionen ergeben sich beim Fotografieren

11 Baden-Württembergs Autobahnen von den Anfängen bis in die 1970er Jahre Peter André Konradin Heyd Jürgen Wecker

faszinierende Bilder. Viele der planenden und tiert und kann somit dereinst als Archivgut künf- bauenden Ingenieure waren indes auch begabte tigen Generationen zur Auswertung zur Verfügung Fotografen. So wird das dokumentierende Bild gestellt werden. selbst zum Kunstwerk. Heutzutage hat die Digitalfotografie in die Pla- nung und den Bau der Trassen Einzug gehalten. Es findet sich in jeder Projektakte eine Fülle von Fotos. Abgesehen von den bildgestützten Bautage- büchern und Brückenkontrollakten gibt es nach wie vor keine strenge Regel, was wann und wie fotografiert werden soll. Die Verantwortlichen denken aber darüber nach, wie dies systematisiert werden kann, um künftig eine bessere Dokumen- tation zu erhalten. Auf die Geländefotografie als Mittel zum Ent- wurf von Autobahntrassen können wir heute allerdings verzichten, da wir über digital erzeugte Geländemodelle verfügen. Fotografische Monta- gen, digital dargestellte Straßenkörper auf einen Fotohintergrund projiziert, dienen aber immer häufiger als Anschauungsmittel bei der Öffent- lichkeitsarbeit. Sie werden bei der Vorstellung der Planung in Bürgerversammlungen, im Gemeinde- rat oder bei Erörterungsverhandlungen im Plan- feststellungsverfahren verwendet. Seit dem Ende der 1970er Jahre geriet das Konzept der Autobahn zunehmend in die Kritik. Das extreme Anwachsen des motorisierten Ver- kehrs führte nicht nur zu einer verstärkten Belas- tung von Natur und Landschaft; auch litt die Bevölkerung unter Lärm und Abgasen. Die Folge: Lärmschutzwände, Tunnels und tiefliegende Straßen bestimmten nun das Bild, dem Autofah- rer wird so der Blick in die Landschaft, durch die er fährt, vorenthalten. Dies betrifft jedoch einen Zeitraum, der durch die Bildersammlung des Landesamts für Straßenwesen nicht mehr erfasst wird. Aber auch dies wurde und wird dokumen-

12 Thomas Zeller Vom Landschaftsgenuss zur Schadensvermeidung

Thomas Zeller Vom Landschaftsgenuss zur Schadens- vermeidung: Straßen- und Autobahn- landschaften im historischen Wandel

Der Blick durch die Windschutzscheibe auf Städte, nahebringen. Die landschaftsnahe Autofahrt war Dörfer, Felder, Wiesen und Wälder ist seit nun- dazu gedacht, Natur und Kultur aufzuwerten. mehr zwei Generationen eine prägende Landschafts- Wenn von Natur und Kultur die Rede war, war erfahrung. Landschaft ist nicht nur das, was als die Nation nicht weit: Die Mobilitätslandschaften Gemälde oder Kunstdruck zuhause im Wohnzim- verkörperten dem Anspruch ihrer Gestalter zu- mer hängt oder was beim Wandern oder Spazie- folge spezifisch deutsche oder andere nationale rengehen zu sehen ist; Landschaft ist auch die von Werte. In Deutschland wurden solche Versuche be- unterwegs geschaute Mischung von Bäumen und sonders während der nationalsozialistischen Ge- Himmel, Asphalt und Kirchtürmen. Wer über waltherrschaft unternommen. Warum dies so war Land fährt, dem kommt die automobile Aussicht und wie solche Autobahnlandschaften während wie ein manchmal geschwindigkeitsbedingt ver- und nach der NS-Diktatur aussahen, soll dieser huschtes, aber stets vorhandenes Tableau vor. Beitrag untersuchen. Nicht so offensichtlich ist aber, in welchem Maß Zunächst aber ist es hilfreich, einen Blick auf den Mobilitätslandschaften nicht zufällig vorbeirol- wichtigsten Verkehrsträger vor der massenhaften lende Beiwerke sind, sondern menschliche Krea- Verbreitung des Automobils zu werfen: die Eisen- tionen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben bahn. Aufkommen und Durchsetzung der Eisen- Gruppen von Bauingenieuren und Landschafts- bahn im 19. Jahrhundert veränderten nicht nur architekten in mehreren Ländern, darunter auch Gesellschaft und Wirtschaft umfassend, sondern Deutschland, die Gestaltung und Kontrolle von resultierten auch in einer neuen Erfahrung von Straßenlandschaften und besonders Autobahn- Landschaft. Im Vergleich zur Kutschenreise mit landschaften als professionelle Aufgabe angesehen. ihrer vergleichsweise intensiven Erfassung von Der Ausblick aus dem fahrenden Auto sollte auf- Feld und Flur erschien zeitgenössischen Beobach- muntern, unterhalten, beleben und vor allem die tern die Eisenbahnreise als extrem beschleunigte heimische Landschaft und damit in ihr aufgegan- Form der Fortbewegung, die kaum noch Blicke gene kulturelle Werte den Fahrern und Passagieren auf die Umgebung zuließ. Eine oft gebrauchte Me-

13 Vom Landschaftsgenuss zur Schadensvermeidung Thomas Zeller

tapher in diesem Zusammenhang war die vom chende Autoreise war für viele frühe Automobilis- Zug als Projektil und dem Passagier als Paket, ten ein Mittel zur Wiedergewinnung des in der Ei- mehr ein Objekt als ein Subjekt.1 Passagiere, die senbahnreise verlorengegangenen landschaftlichen sich noch an Fuhrwerke erinnerten, empfanden Vordergrundes, eine selbstbestimmte Art des Rei- die neue Art des maschinellen Reisens mit der Ei- sens und nicht zuletzt ein erfolgreicher gesell- senbahn als Verlust; die Landschaft schaftlicher Distinktionsversuch: Die Massen in verhuschte; Gerüche, Geräusche, Synästhesien gar, der Eisenbahn sahen nur das, was die maschinelle wie sie für die Reisenden der Goethezeit zum Weg Form der Fortbewegung und der Fahrplan zulie- gehörten, entfallen.2 Langeweile und Stumpfsinn ßen, während die von Chauffeuren transportierten waren für solche Reisende die Folge. oder selbstfahrenden frühen Kraftfahrer nach Be- Im Lauf des 19. Jahrhunderts aber kam eine neue lieben die Gegend schauend erkunden konnten. Art der Wahrnehmung auf, die Wolfgang Schivel- Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das busch als panoramatisches Reisen bezeichnet hat. Ziel des Schauens die Landschaft war, nicht Natur. Wegen der höheren Reisegeschwindigkeiten war Zunächst war Landschaft als Genrebegriff in der ein Blick auf den Vordergrund und darin gelegene Malerei bekannt und auch in der ästhetischen nahe Landschaftsmerkmale wie Bäume und Bü- Theorie seit der frühen Neuzeit als geschauter Na- sche nicht mehr möglich. Statt dessen richteten turausschnitt diskutiert. Durch das Aufkommen die Reisenden ihren Blick auf Mittelgrund und der Geographie im 19. Jahrhundert wurde Land- Hintergrund und erblickten in relativ schneller schaft als menschlich und kulturell konnotierte Abfolge Berge und Täler: Die Eisenbahn inszeniert Natur verstanden. Kulturlandschaften waren durch eine neue Landschaft.3 Diese neue, maschinelle das Zusammenwirken von Terrain, Klima, und Landschaft mit ihrer relativ rasanten Aneignungs- Menschen entstanden. Letztere gaben der Land- art war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die schaft durch Wirtschaft und Landwirtschaft ein dominante Form der Mobilitätslandschaft. bestimmtes Gepräge, so dass kulturelle und natio- Als dann im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhun- nale Werte in der Landschaft nie weit waren. Der derts gutsituierte Stadtbürger ihre seltenen und schillernde Begriff der Landschaft war also mehr teuren Automobile zu Ausflügen aufs Land nutz- als die bloße Aussicht ins Grüne, sondern ein ten, empfanden viele von ihnen ein Gefühl der kulturell und nationalspezifisch aufgeladenes En- Freiheit von den Fahrplänen, Abteilen und Wahr- semble. In Europa wurden landschaftsorientierte nehmungsmustern der Eisenbahn. Ein Autofahrer Straßen in der Zwischenkriegszeit nicht als Vor- begeisterte sich 1908: Das Automobilreisen ist etwas stoß in die Wildnis, sondern als eine zusätzliche Wundersames. … Das hochgespannte Unabhängig- Schicht auf die reichhaltige und historisch ge- keitsbewusstsein, das wahrhafte Dahinfliegen …, wachsene Kulturlandschaft verstanden.5 die Rückkehr zur alten vielverästelten Landstraße In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahr- mit ihrer Romantik, der wechselnde Reichtum land- hunderts, als Automobile in Europa weitgehend schaftlicher Bilder, der sausend um Stirn und Wan- ein Privileg städtischer Mittel- und Oberschichten gen flatternde Luftzug, das alles gibt uns ein Gefühl blieben, fuhren die Automobilisten mit wechselnden von Köstlichkeit zu leben.4 Die ästhetisch anspre- Schwierigkeitsgraden auf den oft noch ungeteerten

14 Thomas Zeller Vom Landschaftsgenuss zur Schadensvermeidung

Landstraßen, oft zum großen Missvergnügen der Wege in einem Stadtpark in Brooklyn ausschließ- örtlichen Bevölkerung.6 Nach dem Ersten Welt- lich für Droschken geplant; keine Art öffentlichen krieg wurden Straßen zunehmend ausgebaut, um Verkehrs mit Straßenbahnen oder Güterverkehr der zeitgenössisch als Problem verstandenen war erlaubt. Der durch Gestaltung und Bepflanzung Staubplage Herr zu werden. Noch immer galt aber, in die Parklandschaft integrierte hatte als was seit Jahrtausenden gegolten hatte: Straßen, ob Ziel, mobilen Parkbesuchern die Natur im Fahren in der Stadt oder auf Land, waren öffentliche nahezubringen. Diese Gestaltungsmerkmale wur- Räume. Fußgänger, Fahrradfahrer, Fuhrwerke und den beibehalten, als Landkreise und Städte nach neuerdings auch Autos und Lastwagen teilten sich dem Ersten Weltkrieg parkways bauten, die Auto- diese allgemein zugänglichen Orte. Die Vorstel- mobilen vorbehalten waren.8 Nicht nur wiesen lung, Straßen ausschließlich für Automobile und die USA in der Zwischenkriegszeit den weltweit sonst keine andere Verkehrsart zu planen oder zu höchsten Motorisierungsgrad auf; seinerzeit wurde bauen, war seinerzeit so fremd, dass sprachliche das Auto durch Massenproduktion und Gebraucht- Verrenkungen wie Nur-Autostraße bemüht werden wagenhandel auch für untere Mittelschichten in mussten, wenn jemand eine solche Idee in Worte den Städten erschwinglicher. Dementsprechend fasste. Der heute geläufige Begriff der Autobahn laut wurde der Ruf nach mehr und neuen Straßen. leitete sich denn auch vom dominanten Verkehrs- Einer der bekanntesten parkways war der Bronx mittel der Zeit, der Eisenbahn, ab. Ab 1926 be- River Parkway, der seit 1922 Autopendlern aus den mühte sich ein von einzelnen Stadtverwaltungen, wohlhabenden nördlichen Vororten von New York Handelskammern und Industriellen getragener eine Landpartie inmitten städtischer Räume bietet. Verband namens Hafraba, der Öffentlichkeit eine Möglich wurde dies durch die Zusammenarbeit nur für Automobile und Lastwagen zugängliche von Landschaftsarchitekten und Bauingenieuren Straße schmackhaft zu machen; Hafraba stand für von Anfang an, durch den Erwerb und die archi- eine vorgeschlagene Route, die von den Hanse- tektonische Gestaltung breiter Streifen beiderseits städten über Frankfurt nach führen sollte. der Straße und durch eine geschwungene Linien- Angesichts des geringen Motorisierungsgrades in führung, die hohe Geschwindigkeiten nicht zuließ Deutschland und der politischen Zersplitterung und stattdessen den Blick auf landschaftliche der Weimarer Republik war diese Lobbyarbeit Schönheiten lenkte. Solche Straßen waren entspre- weitgehend erfolglos. Der Volkswirtschaftler Wer- chend teurer als gewöhnliche, doch die Bauherren ner Sombart hielt Autobahnen für Straßen für den erhofften sich außer dem Gewinn kultureller heiteren Lebensgenuss reicher Leute.7 Werte auch höhere Grundstückspreise und damit Nicht ausschließlich für reiche Leute, sondern für gestiegene Grundsteuereinnahmen entlang der eine breiter verstandene, zunehmend motorisierte parkways.9 Ab den dreißiger Jahren baute dann Gesellschaft wurden unterdessen in der Zwischen- auch die Bundesregierung parkways, die der Ar- kriegszeit in den USA Straßen nur für Automobile beitsbeschaffung und dem Tourismus dienten. und nicht einmal für Lastwagen geplant und ge- Gemessen an den Kilometerzahlen, waren diese baut: die sogenannten parkways. Bereits 1868 hatte parkways den gewöhnlichen highways (für Autos der Landschaftsarchitekt Frederick Law Olmsted und Lastwagen) weit unterlegen, die als Reaktion

15 Vom Landschaftsgenuss zur Schadensvermeidung Thomas Zeller

auf zunehmenden Verkehr vor allem in und um Zehntausende von Sparern beitraten. Doch der Ballungszentren gebaut wurden. Doch die kultu- Volkswagen scheiterte kläglich; das VW-Werk pro- relle Signalwirkung der parkways war enorm und duzierte während der Diktatur hauptsächlich reichte bis nach Deutschland. In der Fachliteratur amphibische Kübelwagen für den Kriegseinsatz.11 von Bauingenieuren und Landschaftsarchitekten Das hinderte das Hitlerregime aber nicht daran, wurden solche Straßen vorgestellt und diskutiert; den Autobahnbau zu forcieren. anlässlich von internationalen Straßenbaukongres- Bis zur Einstellung der Bauarbeiten 1942 wurden sen fuhren Fachleute aus verschiedenen Ländern im Nationalsozialismus 3625 Kilometer Autobah- auf ihnen. Vorstellung und Praxis landschafts- nen in Deutschland und Österreich gebaut. In betonter Straßen waren international bekannt; einem Land, das so gering motorisiert war wie ihre jeweiligen Ausprägungen waren hingegen mit Deutschland, waren solche kreuzungsfreien Fern- nationalen Eigenarten und bisweilen mit nationa- straßen volkswirtschaftlich nicht zu rechtfertigen: listischen Tönen aufgeladen. Statistisch gesehen, teilten sich 62 Deutsche im Die deutschen Autobahnen, die ab 1933 das Land Jahr 1935 ein Auto. Doch weder in Großbritan- überzogen, nahmen manche dieser Gestaltungs- nien, wo der Durchschnittswert 20 Einwohner pro ideen auf und hoben sie in der Propaganda hervor; Auto betrug, noch in den USA, wo auf alle fünf in der Baupraxis waren sie aber hochgradig um- Einwohner ein Pkw kam, wurden in der Zwischen- stritten. Das nationalsozialistische Motorisierung- kriegszeit solche teuren Projekte verwirklicht.12 programm gehörte zu den frühesten und am Mit aller Macht, um nicht zu sagen, mit Brachial- stärksten propagandistisch begleiteten öffentlichen gewalt, preschte hingegen das nationalsozialisti- Initiativen der Diktatur. In einer Rede vor der In- sche System beim Autobahnbau vor und lenkte ternationalen Automobil- und Motorradausstel- finanzielle, professionelle und propagandistische lung wenige Tage nach dem Machterwerb forderte Ressourcen auf das Straßenbauprojekt um. Das Hitler die deutsche Automobilindustrie dazu auf, Missverhältnis zwischen Motorisierungsgrad und ein erschwingliches Auto für die Massen anzu- Umfang des Straßennetzes führte dazu, dass die bieten. Von staatlicher Seite aus sollten dazu neue wenigen Fahrer auf den Straßen freie Fahrt genos- Überlandstraßen kommen. Die Lebenshöhe von sen, weil sie oft unter sich blieben. In der Literatur Völkern sei nämlich, so seine Begründung, nicht sind die Autobahnen als weiße Elefanten, also mehr in der Zahl von Eisenbahnkilometern, als beeindruckende, aber wenig nutzbringende sondern an der Länge der für den Kraftverkehr Planungsobjekte bekannt.13 1938 konstatierte ein geeigneten Straßen zu messen.10 Straßenbaubeamter aus dem US-Bundesstaat Den ersten Teil der Massenmotorisierung, ein Michigan nach einer Besichtigungsreise: Germany bald Volkswagen genanntes Niedrigpreisauto, sollte has the while we have the .14 nach dem Zögern der deutschen Autoindustrie Warum wurden dann die Autobahnen gebaut? das staatliche VW-Werk in Wolfsburg übernehmen. In der zeitgenössischen Propaganda wurde wieder- Mit viel öffentlichem Getöse wurde ein Ratenspar- holt Arbeitsbeschaffung als ein Haupteffekt des plan für das von Ferdinand gestaltete Autobahnbaus angepriesen. In Wochenschau-Fil- Kugelauto für 900 aufgelegt, dem men, die im Kino vor dem Hauptprogramm liefen,

16 Thomas Zeller Vom Landschaftsgenuss zur Schadensvermeidung

in zahlreichen Reden und öffentlichen Veranstal- Straßen keinen Abbruch: Der Diktator stilisierte tungen präsentierte das NS-Regime Gruppen von sich als infrastrukturfreundlicher Potentat; die Arbeitern mit Schaufeln auf den Schultern, die mit Straßen waren an seine Person gebunden und die bloßem Oberkörper Straßen bauten. Doch die Fahrt auf ihnen sollte die Deutschen jenseits von Vorstellung, dass die Reichsautobahnen Deutsch- regionalen, konfessionellen und Klassenunter- land aus der Weltwirtschaftskrise führten, trifft schieden in eine von Hitler beherrschte Volksge- nicht zu. Historiker weisen darauf hin, dass der meinschaft einbinden. Diese ethnisch verstandene wirtschaftliche Aufschwung auch ohne Straßenbau Volksgemeinschaft schloss als Juden definierte bereits im Gange war, auch wenn letzterer dazu Deutsche und andere Minderheiten aus und ver- beitrug. Statt ökonomischer Einsicht herrschte bei sprach ihren Mitgliedern, sofern sie politisch nicht Hitlers Entscheidung, den Autobahnbau zu forcie- missliebig waren, die Lockungen einer Konsumge- ren, sein Propagandainstinkt vor.15 Südlich der sellschaft. Die für politische Häftlinge errichteten Alpen hatte Benito Mussolini vorgeführt, wie Konzentrationslager und die Reichsautobahnen ein rechtsradikales Regime Straßenbau als Mittel sind so in einem Zusammenhang zu sehen. Zwang der Selbstrepräsentation benutzen konnte: Die und Lockung waren bestimmende Kennzeichen autostrade wurden dort ab 1922 gebaut und eilten auch dieser Diktatur.18 der Nachfrage wie in Deutschland weit voraus. Die allgegenwärtige Propaganda wurde nicht Bis Ende der zwanziger Jahre entstanden einzelne müde, Neuheit und Umfang des Straßennetzes zu Strecken, die Mussolinis Regime als Beitrag zur betonen. Nicht nur die breiten Betonbänder der Modernisierung des Landes und als Zeichen italie- Autobahn an sich sollten monumental erscheinen, nischer Raumorganisation feierte.16 sondern auch das Bautempo. In der Tat wuchsen Wer von 1933 an in Deutschland wohnte, der die Autobahnen rasch durch Wälder und Wiesen. konnte der nationalsozialistischen Straßenpropa- Im September 1933 begannen die Bauarbeiten für ganda kaum entgehen. In Büchern, Filmen, die Strecke Frankfurt-, ab März 1934 Brettspielen, Gemälden, Zigarettenbildern, Thea- wurde die Autobahn von München zur österrei- terspielen, Radiosendungen und Romanen wurden chischen Grenze gebaut. Der propagandistische die Autobahnen nicht nur als moderne Verkehrs- Nutzen, nicht Verkehrsnachfrage bestimmten die form gefeiert, mit denen das Land den Herausfor- Prioritäten: Jährlich sollten 1000 Kilometer derungen der Zukunft begegnen konnte.17 fertiggestellt werden, was das Re- Vielmehr legte die Propaganda Wert darauf, Hitler gime in den Jahren 1937 und 1938 auch erreichte. so oft wie möglich mit den Autobahnen in Verbin- Ein so rasches Wachstum war nur im Rahmen dung zu bringen: Hitler sei der Urheber der Idee, einer Diktatur möglich, in der der Rechtsstaat kreuzungsfreie Überlandstraßen zu bauen, und außer Kraft gesetzt ist. habe entsprechende Pläne während der Festungs- In der Propaganda wurde neben Bautempo und haft nach dem gescheiterten Münchner Putsch Ausmaß der Reichsautobahnen auch ihre Gestal- von 1923 verfasst, behaupteten regimetreue Jour- tung gefeiert. In denjenigen Veröffentlichungen, nalisten und Autoren nach 1933. Dass dies frei die eher an ein gebildetes Publikum gerichtet erfunden war, tat der Legende von Adolf Hitlers waren, wurden die Straßen nicht als Eingriff in die

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Natur, sondern als Verbesserung der Landschaft nieure waren hingegen im Eisenbahnbau geschult. angepriesen. Die Autobahnen sollten nach dem Angesichts ihrer Vorbildung und Beschäftigung Willen ihrer Erbauer die Landschaft aufwerten, war den Reichsbahnern der Gedanke einer land- nicht beschädigen. Als im Januar 1934 der Bauin- schaftsbetonten Linienführung für die Straßen genieur Fritz Todt, ein glühender Nationalsozialist fremd: Sie entwarfen Straßen, die möglichst gerade aus Pforzheim, der an der Technischen Hoch- verliefen und mit kurzen Kreisbögen verbunden schule München promoviert hatte, bei Hitler seine waren, so wie sie es für Eisenbahnen gelernt hatten. Ideen zum Autobahnnetz vortrug, griff er das be- Dies hatten auch die Hafraba-Pläne vorgesehen, reits diskutierte Verhältnis von Eisenbahnen und die während der Weimarer Republik entstanden Automobilen wieder auf: Die Linienführung muss waren und die öffentlich unerwähnte Grundlage jedoch für das Automobil anders gestaltet werden für die frühen Reichsautobahnen boten. wie für die Eisenbahn. Eisenbahn ist Massentrans- Todts rhetorisches Ziel einer landschaftsfreund- portmittel (auch für Masse Mensch). Kraftfahrbahn lichen Straße war damit in der Baupraxis gefährdet. ist individuelles Transportmittel. Die Eisenbahn ist Als beratendes Gegengewicht zu den Reichsbahn- meist Fremdkörper in der Landschaft. Kraftfahrbahn ingenieuren beschäftigte die Generalinspektion ist und bleibt Straße, Straße ist Bestandteil der deshalb ein rundes Dutzend Landschaftsarchitek- Landschaft. Deutsche Landschaft ist charaktervoll. ten. Der Münchner Architekt (1890– Deutschen Charakter muß auch die Kraftfahrbahn 1972) diente sich Todt im November 1933 an und erhalten.19 Todt ließ jedoch offen, mit welchen Mit- wurde von diesem prompt eingeladen, die bereits teln die neuen Autobahnen diese landschaftlichen abgeholzte Trasse der Autobahn von München Qualitäten erhalten sollten. Der Bauingenieur, der zur Landesgrenze in einem Waldstück bei Mün- als Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen chen zu besichtigen. Seifert verfasste daraufhin ein das Autobahnprojekt leitete und dabei frühere Gutachten zur landschaftlichen Eingliederung der Kompetenzen der Länder auf die Reichsebene zog, Straßen. Darin betonte er die ästhetische und öko- ermunterte zwar die ihm unterstellten Ingenieure, logische Bedeutung von Bäumen und Sträuchern die Straßen in die Landschaft zu integrieren. Was am Straßenrand.21 Ab 1934 fungierte Seifert als dies im Detail bedeuten sollte, überließ Todt aber Leiter einer Gruppe von Landschaftsarchitekten, der Zusammenarbeit von Bauingenieuren und be- die Landschaftsanwälte genannt wurden und die ratenden Landschaftsarchitekten. Ingenieure berieten. Die Ingenieure, die in der Zentrale in und Diese Personalkonstellation erinnert an die US- regional verstreuten Obersten Bauleitungen die amerikanischen parkways. Hinzu kommt, dass Autobahnen planten, stammten zum Großteil von Todts Behörde Reiseberichte aus den USA veröf- der Deutschen Reichsbahn, die von Hitler zur Zu- fentlichte und einschlägige Fachliteratur über- sammenarbeit beim Autobahnprojekt gezwungen setzen ließ.22 Jedoch trügt der Eindruck, dass die worden war. Fast zweitausend Reichsbahnbeamte deutschen Reichsautobahnen eine vollständige wurden 1934 und 1935 an die Generalinspektion Übernahme der parkways waren. Anders als die abgeordnet.20 Tiefbauingenieure mit Kompetenzen amerikanischen parkways, auf denen bis heute im Straßenbau gab es wenige, die Reichsbahninge- Lastwagen verboten sind, waren die deutschen Au-

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tobahnen von Anfang an für Lastverkehr offen. der Kraftwagen auch kein Hase oder kein Reh, das Wichtiger noch war die Behandlung von Linien- in schlängelnden Linien im Gelände herumspringt, führung und Bepflanzung. Sie waren hinter den sondern es ist ein von Menschen geschaffenes tech- Kulissen der Propaganda stark umstritten; Land- nisches Werk, das eine zu ihm passende Fahrbahn schaftsarchitekten und Bauingenieure waren oft verlangt, schrieb er an Seifert. Eher sei ein Kraft- uneins. wagen zu vergleichen mit einem Wasserläufer oder Was die Linienführung angeht, so drängten die sonst springenden Lebewesen, die kürzere Teilstreck- Landschaftsarchitekten um Seifert auf geschwun- en in der Geraden zurücklegen und dann von Punkt gene oder schlängelnde Straßen, so wie sie auch in zu Punkt ihre Richtung ändern.25 Todt bevorzugte, der Gartenarchitektur üblich waren. Olmsteds zumindest in der Anfangsphase des Reichsauto- parkways und die späteren parkways für Automo- bahnbaus, mit Kurven verbundene Geraden. Erst bile waren auch in dieser Form angelegt, um den 1939, also gegen Ende der nationalsozialistischen Verkehr zu verlangsamen und Ausblicke aus der Straßenbauphase, wurden schwingende Straßen Kurve auf neue Landschaftsteile inszenieren zu zur Norm.26 Abbildung 1 zeigt eine solche frühe können. Der Maler und Autor William Hogarth Autobahn unter dem Einfluss der Eisenbahninge- hatte bereits Mitte des 18. Jahrhunderts eine ondu- nieure; mit viel Aufwand produzierte Bildbände lated line, also eine geschwungene Schönheitslinie stellten unterdessen die Versöhnung von Land- empfohlen. Geographisch und ideologisch waren schaft und Technik wie in Abbildung 2 heraus. den deutschen Landschaftsarchitekten in der Ähnlich umstritten waren auch Ausmaß und Art Seifert-Gruppe die Ausführungen des deutschen der Bepflanzung am Straßenrand. Für die Land- Publizisten Paul Schultze-Naumburg näher, der schaftsarchitekten war es offensichtlich, dass in seinen vielbeachteten Veröffentlichungen im Straßengrün unabdingbar war, um ihr Ziel einer frühen 20. Jahrhundert kurvenreiche Wege als landschaftlichen Eingliederung zu erreichen. Eine naturnäher bezeichnete, weil sie sich besser an das Gelände und seine wechselnden Konturen an- schmiegen konnten.23 Für den Landschaftsarchitekten Alwin Seifert 1|Eine der ersten Strecken der Reichsautobahn bei im Jahr 1934. Die gerade Linienführung war von der Eisenbahn waren lange Geraden im Straßenbau schlechter- abgeleitet und widersprach der Rhetorik der NS-Propaganda. dings naturfremd. Die Gestaltungsmerkmale der (Vorlage: StAL EL 75 VIa Nr 2019 a wie Kat. Nr. 19) Straßen seien aus der sie umgebenden Landschaft abzuleiten; da es keine Geraden in der Natur gab, 2|So präsentierte sich die nationalsozialistische Autobahn in der sollte es also auch keine geraden Straßen geben. Propaganda: Die nichtmotorisierte landwirtschaftliche Nutzung, Aber nicht nur der Natur, sondern auch dem Men- hier die Heuernte, sollte der technischen Funktion eines modernen Verkehrsweges nicht widersprechen. Weil die Autobahn dem schen seien Geraden fremd: Geradlinige Straßen Verkehrsbedarf etliche Jahre vorauseilte, waren Abgase so selten seien reizlos und die Gefahr, dass unaufmerksame wie Autos. Bemerkenswert ist neben der ideologischen Komponente Autofahrer Unfälle verursachten, sei deshalb die Linienführung: Lange Geraden wurden mit relativ kurzen 24 Kreisbögen verbunden. In der Nachkriegszeit wurden solche engen größer, schrieb Seifert. Generalinspektor Todt Kurven großzügiger umgebaut. (Vorlage: StAL EL 75 VIa Nr 68 konterte mit einer Naturanalogie: Schließlich ist aus: Das Erlebnis der Reichsautobahn. München 1943, Abb. 10)

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Straße aber muss Bäume haben, wenn anders sie eine deutsche Straße sein soll, verlangte Seifert.27 Für die Architekten waren Bäume und Sträucher auf Mittelstreifen und am Straßenrand gestalteri- sche Mittel, um die Einheit von Bauwerk und Landschaft zu erreichen. Ihre Ziele reichten aber noch weiter: Statt die vorhandene Landschaft le- diglich zu erhalten, sollte sie, soweit möglich, in ihren ökologischen Urzustand versetzt werden. Die Flora, die vor der Ansiedelung von Menschen vorherrschte, sollte wiederhergestellt werden. Heutzutage würden solche Versuche Renaturie- 1 rung genannt; im Nationalsozialismus blieben sie auf rhetorische Wünsche einzelner Berater be- schränkt und verharrten in den Anfängen. Beson- ders umstritten war in diesem Zusammenhang die Verwendung sogenannter bodenständiger, also standortheimischer Pflanzen. Während die land- schaftlichen Berater, allen voran Alwin Seifert, mit immer schrilleren Begründungen den Wert ein- heimischer Pflanzen anpriesen, blieben die Bauin- genieure und besonders Fritz Todt zurückhaltend. Zwar wurde ökologische Feldforschung finanziell unterstützt, um Listen standortgerechter Arten zu erstellen. Doch Todt war weniger an ökologi- schen Idealzuständen als an rasch anwachsenden Pflanzen und Bäumen interessiert.28 Ein Bild wie Abbildung 3, das landschaftliche Harmonie durch die Bepflanzung von Mittelstreifen und Böschun- gen vermittelt, verbirgt also das Ausmaß an ge- stalterischer Zwietracht hinter den Kulissen des nationalsozialistischen Autobahnbaus. Die angeblich sich so harmonisch in die Land- schaft einschmiegende Straße war also das Ergebnis vielfältiger Konflikte zwischen Landschaftsarchi- tekten und Bauingenieuren. Die Straßen waren eine Mischung verschiedener Baustile. Besonders 2 herausgestellt und auch für heutige Autofahrer

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Route von München zur österreichischen Landes- grenze, besonders die Strecke über den Irschen- berg. Statt die vierspurige Straße günstiger und sicherer im Tal zu bauen, bevorzugte Generalinspek- tor Todt eine Linienführung über den Gebirgs- rücken, da auf einer Länge von drei Kilometern ein umfassender Gebirgsrundblick zu genießen war.29 Einige Kilometer weiter öffnete sich der Blick auf den Chiemsee (siehe Abb. 4), was Todt so gefiel, dass er den Autofahrern eine stille Talfahrt mit ausgeschaltetem Motor empfahl: Die plötzliche Veränderung der Aussicht, neben den Bergen zur Rechten die große weite Fläche des Chiemsees voraus und links der Fahrbahn, hat noch jeden, der an diese Stelle kam, überrascht und gefesselt. Wer diese Land- schaft als Kraftfahrer richtig empfindet, stellt den Motor ab und gleitet die 3 km Gefälle lautlos hinab an das Südufer des Sees, wo Badestrand, Parkplätze oder der Fischerwirt zum Bleiben und Rasten ein- laden.30 Weder die stille Talfahrt zum Chiemsee noch die Konzentration auf die Aussicht vom Irschenberg aus wären heute ratsam. Das Verkehrs- 3 aufkommen ist so hoch, dass viele Autofahrer froh sind, ohne Stau voranzukommen. noch erkennbar sind diejenigen Autobahnstrecken, Dass die Routenwahl über Bergrücken höhere die eine Autofahrt als visuelle Konsummöglichkeit Steigungen und damit eine größere Unfallgefahr inszenierten. In den Mittelgebirgen und im Vor- nach sich zog, war den Planern durchaus nicht alpenland wurden Strecken, die in Tälern oder an fremd. Sie hielten aber die Aussichtsmöglichkeiten Hängen verlaufen konnten, oft über Bergrücken für wichtiger als die Verkehrssicherheit. Der Alb- geführt, um Aussichtspunkte zu schaffen. Land- aufstieg auf der Strecke Stuttgart-Ulm wurde in schaft wurde so ein Bestandteil visuellen Konsums. den 1930er Jahren bewusst so gestaltet, dass der Zu den bekanntesten solcher Strecken gehört die visuelle Konsum so breit wie möglich war (siehe Abb. 5). Todts Generalinspektion erlaubte eine Abweichung von den Richtlinien mit engen Kur- 3|Ausmaß und Art von Pflanzen und Bäumen entlang der ven und einer Steigung von bis zu acht Prozent; Reichsautobahn waren intern umstritten, wurden in Text und Bild statt längerer Tunnels wurden Viadukte und aber als landschaftsintegrierende Straßenelemente herausgestellt. (Vorlage: EL 75 VIa Nr 2014 aus: Das Erlebnis der Reichsauto- Hanglagen gewählt: Selbst formvollendete Bau- bahn, München 1943, Abb. 4) werke hätten in ihren Ausmaßen die herrliche

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Landschaft ihres ursprünglichen Charakters völlig tion stammenden Straßenbauingenieure kamen berauben müssen. Dem Fahrer und Reisenden wäre zu großen Teilen im Bundesverkehrsministerium durch die rasch aufeinanderfolgenden Tunnels der und dem Verkehrsministerium der DDR unter. Blick auf das einzigartige Landschaftsbild verschlos- In der Bonner Republik war zunächst an Auto- sen geblieben.31 bahnneubau nicht zu denken: Die von der Wehr- War vor 1945 visueller Konsum noch eines der macht zerstörten Strecken und Brücken mussten Merkmale der deutschen Autobahn gewesen, so erst wiederaufgebaut wurden und die Finanz- wurden zu bundesrepublikanischen Zeiten Ziele politik des Bundes wies den Autobahnen in den und Methoden des Autobahnbaus neu definiert. frühen 1960er Jahren keine Priorität zu. Immer Bis in die 1960er Jahre hinein war das Autobahn- mehr Ingenieure machten sich nun daran, künf- netz in Westdeutschland überdimensioniert; in der tigen Verkehrsbedarf durch Verkehrszählungen zu DDR nahm die Autobahn wegen der Betonung prognostizieren, um so eine datengesicherte des öffentlichen Verkehrs eine (spärlich wachsende) Grundlage für Grobplanungen in der Hand zu Nischenexistenz ein.32 Die aus der Generalinspek- haben. Was die Gestaltung der Straßen in der

4|Als landschaftliche Verheißung wurde der Blick auf den Chiem- see von den Autobahnbauern auf der Strecke von München zur 5|Kurz vor der Fertigstellung 1937 ist hier das Aichelbergviadukt österreichischen Landesgrenze in Szene gesetzt. Heute ist die zu sehen. Statt eine Serie von Tunneln bevorzugten die Planer ge- Stracke außerdem wegen häufiger Staus bekannt. (Vorlage: StAL häufte Aussichtsmöglichkeiten. In den vergangenen Jahrzehnten ist EL 75 VIa Nr 66 aus: Das Erlebnis der Reichsautobahn, München der Albaufstieg zur Verbesserung der Verkehrssicherheit stark um- 1943, Abb. 24) gebaut worden. (Vorlage: StAL EL 75 VIa Nr 3847)

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6|Dieses Luftaufnahme der Strecke Ulm-Memmingen bei Dettin- 7|Mitte der 1980er Jahre wurde dieser Albaufstieg auf der A7 gen aus dem Jahr 1973 zeigt die sanfte Krümmung der bundes- anders gestaltet als fünf Jahrzehnte zuvor derjenige auf der A8: deutschen Autobahn und die großen Übergangsbögen. (Aufnahme: Verkehrssicherheit statt Aussichtsmöglichkeiten war nun das Alb. Brugger, Vorlage: StAL EL 75 VIa Nr 2685) Motto. (Vorlage: StAL EL 75 VIa Nr 2504)

Landschaft angeht, so gewannen die Bauinge- bauern populär.33 Abbildung 6 zeigt ein Beispiel nieure gegenüber den Landschaftsarchitekten zu- einer solchen mathematisch gewonnenen Linien- nehmend die Oberhand. Die so leidenschaftlich führung. diskutierte Frage, ob Geraden oder geschwungene Ab den 1970er Jahren waren dann die Experten Straßen zu bevorzugen seien, wurde in der Bundes- nicht mehr unter sich, wenn es um Autobahn- republik auf geometrischer, nicht auf landschaft- planungen ging. Zunächst an Plänen für Stadt- licher Ebene entschieden. In den sechziger Jahren autobahnen und dann an längeren Strecken machten Lehrbücher und Tafelwerke die Klot- entzündete sich Bürgerprotest. Angesichts des hoide als Übergangsbögen bei Kurven bei Straßen- massiv gewachsenen Verkehrs nutzten immer

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mehr Bundesbürger die Autobahnen, doch An- unterschied dazu zu nutzen, den Autofahrern wohner und verkehrspolitische Aktivisten, die schöne Ausblicke zu bieten, ist die Straße in tiefen Autobahnen als landschaftszerstörend und nicht Einschnitten und einem Tunnel gelegen. länger als Landschaftsgewinn ansahen, verzöger- ten und änderten viele Pläne oder machten sie ganz zunichte.34 In einem dichtbesiedelten und hochmotorisierten Land wie der Bundesrepublik waren landschaftsbetonte Gestaltungselemente von den 1970er Jahren an wenn nicht obsolet, so doch nachrangig. Wenn Bundesbürger als Auto- fahrer oder ADAC-Mitglieder sich öffentlich be- merkbar machten, dann überwogen die Rufe nach Verkehrssicherheit, nicht nach mehr Aus- sichtsmöglichkeiten. In den 1960er Jahren machte sich der ADAC erfolgreich für das Abholzen von Straßenbäumen stark, weil sie für Verkehrsunfälle verantwortlich gemacht wurden. Letztere waren ein stark emotional besetztes Thema in der jun- gen Bundesrepublik; von 1949 bis 1970 starben über 280.000 Verkehrsteilnehmer in Straßen- verkehrsunfällen.35 Durch zunehmenden Verkehr auf den Autobahnen wurde auch der Straßenlärm für eine wachsende Anzahl von Anwohnern ein Politikum. Nach vielen Protesten wurden zu- nehmend Lärmschutzwände errichtet, die der Autofahrt eine kanal- und schneisenartige Optik verliehen.36 Das Ziel war nun, die Emissionen einschließlich des Lärms zu mindern. In dem halben Jahrhundert zwischen 1930 und 1980 hat sich das Verhältnis von Landschaft und Autobahn grundlegend geändert. Was zunächst als glückliche Ehe zur Verbesserung beider Hälften gesehen wurde (auch wenn die nationalsozialisti- sche Baupraxis widersprüchlich war), erschien bei höherem Verkehrsaufkommen manchen bald als Mesalliance. Wie stark dieser Wandel war, zeigt der Albaufstieg der Autobahn Ulm-Würzburg bei Westhausen in Abbildung 7: Statt den Höhen-

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Anmerkungen 12 Thomas Zeller: Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderung in Deutschland 1930 bis 1990. Frank- 1 Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. furt am , New York 2002, S. 51–52. München 1977, S. 51–57. 13 Dirk van Laak: Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern 2 Schivelbusch, wie Anm. 1, S. 53. technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1999. 3 Schivelbusch, wie Anm. 1, S. 58. 14 Der commissioner des US-Bundesstaates Michigan 4 Zitiert nach Kurt Möser: Geschichte des Autos. Frankfurt, im Jahr 1938, zit. nach Bruce E. Seely: Visions of American New York 2002, S. 69. Highways 1900–1980. In: Geschichte der Zukunft des Verkehrs. 5 Die Literatur zum Thema Landschaft ist sehr umfänglich. Verkehrskonzepte von der Frühen Neuzeit bis zum 21. Jahrhun- Zur Einführung: Denis E. Cosgrove: Landscape and Landschaft. dert. Hg. von Helmuth Trischler u. Hans-Liudger Dienel. Frank- In: Bulletin of the German Historical Institute Washington D.C., furt am Main 1997, S. 260–279, Zitat S. 269. No. 35 (Fall 2004), S. 57–71; Technologies of Landscape. From 15 R. J. Overy: Cars, Roads and Economic Recovery in Germany, Reaping to Recycling. Hg. von David Nye. Amherst Mass. 1999; 1932–1938. In: The Economic History Review 28 (1975), Martin Warnke: Politische Landschaft. München 1992; Thomas S. 466–483. Ebenfalls unzutreffend ist die angebliche militäri- Lekan u. Thomas Zeller: Cultural Landscapes. In: The Oxford sche Motivation für die Reichsautobahnen. Für die Belange der Handbook of Environmental History. Hg. von Andrew Isenberg. Reichswehr war das Projekt überdimensioniert und zu teuer; Oxford, im Erscheinen. Hitler überstimmte solche Kritik intern; vgl. Christopher Kop- 6 Christoph Maria Merki: Der holprige Siegeszug des Auto- per: Modernität oder Scheinmodernität nationalsozialistischer mobils. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Herrschaft. Das Beispiel der Verkehrspolitik. In: Von der Auf- Deutschland und der Schweiz. Wien 2002; Uwe Fraunholz: gabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Ge- Motorphobia. Anti-automobiler Protest im Kaiserreich und der sellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Weimarer Republik. Göttingen 2002; Brian Ladd: Autophobia. Mommsen. Hg. von Christian Jansen, Lutz Niethammer u. Love and Hate in the Automotive Age. Chicago 2008. Bernd Weisbrod. Berlin 1995, S. 399–411. 7 Zitiert nach Karl-Heinz Ludwig: Technik und Ingenieure im 16 Im Gegensatz zu Deutschland wurde in Mussolinis Italien Dritten Reich. Düsseldorf 1979, S. 303. weder rhetorisch noch in der Baupraxis viel Wert auf land- 8 Clay McShane: Down the Asphalt Path. The Automobile and schaftliche Aspekte gelegt: Massimo Moraglio: A Rough Moder- the American City. New York 1994, S. 31–40; ders.: Urban Path- nization: Landscapes and Highways in Twentieth-Century Italy. ways: The and Highway, 1900 –1940. In: Technology In: Mauch/Zeller, wie Anm. 9, S. 108–124. and the Rise of the Networked City in Europe and America. Hg. 17 Schütz/Gruber, wie Anm. 10. von Joel A. Tarr u. Gabriel Dupuy. Philadelphia 1988, S. 67–87. 18 Zur Volksgemeinschaft statt vieler Nennungen Ludolf Herbst: 9 Timothy Davis: The Rise and Decline of the American Park- Das nationalsozialistische Deutschland. Frankfurt/Main 1996, way. In: The World Beyond the Windshield: Roads and Land- S. 80–89. Historiker sind sich uneinig, inwieweit die national- scape in the United States and Europe. Hg. von Christof Mauch sozialistische Konsumgesellschaft vorgetäuscht oder wirkmäch- u. Thomas Zeller. Athens, Stuttgart 2007, S. 35–58; John Nolen u. tig war. Zu zwei Polen der Debatte König, wie Anm. 11; Shelley Henry V. Hubbard: Parkways and Land Values. Cambridge Mass. Baranowski: : Consumerism and Mass 1937; Thomas Zeller: Der verlangsamte Verkehr: Die Herstellung Tourism in the Third Reich. Cambridge 2004. von Landschaft durch Straßen im 20. Jahrhundert. In: Neue 19 Zitiert nach Christoph Hölz: Verkehrsbauten. In: Bauen im Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahr- Nationalsozialismus. Bayern 1933–1945. Ausstellung des Archi- hundert. Hg. von Ralf Roth u. Karl Schlögel, Frankfurt am Main, tekturmuseums der Technischen Universität München und New York 2009, S. 361–376. des Münchner Stadtmuseums. Hg. von Winfried Nerdinger. 10 Zit. Erhard Schütz, Eckhard Gruber: Mythos Reichsautobahn. München 1993, S. 54–97, Zitat S. 56. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933–1941. 20 Alfred C. Mierzejewski: The Most Valuable Asset of the Reich: Berlin 1996, S. 14. A History of the German Railway Company. Bd. 2. Chapel Hill 11 Hans Mommsen u. Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk 2000, S. 42. und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 1996; Wolfgang 21 Todt an Seifert, 23.11.1933, Deutsches Museum, Archiv NL König: Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft: Volks- 133/56; Alwin Seifert, Vorschlag zur landschaftlichen Eingliede- produkte im Dritten Reich. Vom Scheitern einer nationalsozialis- rung (Deutsches Museum, Archiv NL 133/56). Zu Einzelheiten tischen Konsumgesellschaft. Paderborn 2004. siehe Zeller, wie Anm. 12, u. Thomas Zeller: Driving Germany: The Landscape of the German Autobahn 1930–1970. New York/ Oxford 2007.

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22 Wolfgang Singer: Parkstraßen in den Vereinigten Staaten. In: Die Straße 2 (1935), S. 175–177; Bruno Wehner: Die landschaft- liche Ausgestaltung der nordamerikanischen Park- und Ver- kehrsstraßen. In: Die Straße 3 (1936), S. 599 –601; Wilbur H. Simonson, Robert E. Royall: Landschaftsgestaltung an der Straße. Berlin 1935. 23 Stephen Bending: The Improvement of Arthur Young. Agri- cultural Technology and the Production of Landscape in Eighteenth Century England. In Nye, Landscape, S. 241–253; W. G. Hoskins: The Making of the English Landscape. With an Introduction and Commentary by Christopher Taylor. London u. a. 1988, S. 161f.; Paul Schultze-Naumburg: Kulturarbeiten. Teile I–IX, München 1902–1917; ders.: Die Gestaltung der Land- schaft durch den Menschen. München ³1928. 24 Alwin Seifert: Natur und Technik im deutschen Straßenbau. In: ders., Im Zeitalter des Lebendigen. Natur-Heimat-Technik, Planegg vor München ²1942, S. 9–23; ders.: Die landschaftliche Eingliederung der Straße. In: Die Straße 2 (1935), S. 446–450. 25 Todt an Seifert 26. 06.1935 (Bundesarchiv NS 26/ 1188). 26 Zeller, wie Anm. 12, S. 142–158. 27 Alwin Seifert: Natur und Technik im deutschen Straßenbau. In: ders.: Im Zeitalter des Lebendigen, wie Anm. 24, S. 9–23, 20. 28 Zeller, wie Anm. 12, S. 165–187. 29 Fritz Todt: Der landschaftliche Charakter der Autobahn München-Landesgrenze. In: Die Straße 2 (1935), S. 67–68. 30 Todt, wie Anm. 29, S. 68. 31 Eugen Kern: Der Albaufstieg im Zuge der Reichsautobahn Stuttgart-Ulm. In: Die Straße 2 (1935), S. 474–480, Zitat S. 474. 32 Axel Doßmann: Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahnen in der DDR. 2003. 33 Zeller, wie Anm. 12, S. 228–283. 34 Für ein regionales Beispiel siehe Dietmar Klenke: Autobahn- bau in Westfalen von den Anfängen bis zum Höhepunkt der 1970er Jahre – Eine Geschichte der politischen Planung. In: Verkehr und Region im 19. und 20. Jahrhundert. Westfälische Beispiele. Hg. von Wilfried Reininghaus u. Karl Teppe. Pader- born 1999, S. 249–270. 35 Thomas Zeller: Mein Feind, der Baum: Verkehrssicherheit, Unfalltote, Landschaft und Technik in der frühen Bundesrepu- blik, In: Mit dem Wandel leben. Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre. Hg. von Friedrich Kießling u. Bernhard Rieger. Köln 2010, S. 247–266. 36 Möser, wie Anm. 4, S. 102.

26 Hermann Knoflacher Kulturlandschaft und Autobahn

Hermann Knoflacher Kulturlandschaft und Autobahn – mehr als ein gescheiterter Versuch

Straßen geprägte Kulturlandschaften die typische Prägung der Kulturlandschaft. Im offenen Gelände waren es die Klimaanlagen der Verkehrswege waren in der Geschichte der Mensch- Feldgehölze und Alleen für den Personen- und heit immer strukturprägend, weil sie nicht nur Fuhrwerksverkehr, die bis heute die Landschaft das Erscheinungsbild im ländlichen Raum, sondern prägen. Techniker schätzten ihre Funktionen zur auch der Siedlungen gestalteten. An den Küsten baulichen Stabilisierung der Straßenkörper und und Flüssen waren natürliche oder künstliche kooperierten so mit der Natur – daraus entstand Häfen die Voraussetzung für die Siedlungs- und die Baukultur auch für die Verkehrswege. spätere Stadtentwicklung, an denen Waren ein- Die fehlende oder teure Energie zwang die Inge- und ausgeladen wurden und Menschen die Ver- nieure zu intelligenten konstruktiven Lösungen kehrsmittel wechselten. Auf dem Lande waren es und einer Linienführung, bei der eine maximale jene Punkte, an denen die Verkehrsmittel zum Übereinstimmung mit den natürlichen Gegeben- Halten kamen, Waren umgeschlagen, Pferde ge- heiten zu den geringsten Bau- und Erhaltungs- wechselt wurden und Menschen übernachten kosten führte und darüber hinaus ästhetische und mussten. Verkehrssystem und Siedlungsentwick- ökologische Leistungen vollbrachte, die bis heute lung sind zwingend über raumzeitliche Beziehun- einen added value der Kulturlandschaft bilden. gen, die Geschwindigkeiten, miteinander verknüpft. Sensible Integration der Kunstbauten, die Wahl Wo Energie für die Fortbewegung zu ruhen hatte, lokalen Baumaterials und bodenständiger Pflanzen konnte Energie für die Entwicklung und Erhaltung bestimmten den Straßenbau noch bis in die 30er von Siedlungsstrukturen gewonnen und gehalten Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Trassierungsele- werden. An den End- und Schnittpunkten der mente entsprachen dem Fußgeher, dem Fuhrwerk Tagesreisen entstanden unsere heutigen Kreis- oder und konnten damit optimal den örtlichen Rand- Bezirksstädte. Aus der natürlichen entstand so bedingungen angepasst werden. Das Gleichgewicht

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zwischen der Straße und ihrer Umgebung musste Ergebnis waren nicht nur ingenieurmäßig beein- an jeder Stelle neu gesucht und gefunden werden. druckende Bauwerke, sondern ein Beitrag zur Mit dazu gehört auch die Harmonie zwischen der Kulturlandschaft, dem manche Bergstrecken das Siedlung und den sie umgebenden agrarischen Prädikat Weltkulturerbe verdanken. Vorüberge- oder forstlichen Nutzungen. Die Arbeitsprozesse hend verloren die Straßen an Bedeutung, zumin- mussten dort stattfinden, wo Menschen und Res- dest im bahnparallelen Fernverkehr; durchaus sourcen waren. Denn Transporte waren teuer und nicht von Nachteil für die Kulturlandschaft, blickt nahezu alle Energie war solare. Der Reichtum der man auf das letzte Jahrhundert mit dem beschleu- europäischen Kulturlandschaft an Vielfalt, Diver- nigten Straßenbau zurück. sität und Unverwechselbarkeit ist das Erbe dieser Zeit. Renaissance der Straßen durch das Auto und das Dilemma der Informationsverarbeitung Eisenbahn als Vorbild Das Auto, ein Ergebnis von Erfindergeist und Ge- Eisenbahnen waren die ersten mit fossiler Energie werbe des 18. und 19. Jahrhunderts, wandelte sich bewegten technischen Landverkehrsmittel, die im 20. Jahrhundert durch die Strategien eines auf eigenen, vom übrigen Geschehen getrennten Henry zu einem erfolgreichen Konzernpro- Trassen hohe, jenseits der evolutionären Erfahrung dukt, für das passende Bewegungsflächen fehlten. liegende Geschwindigkeiten erreichten. Ein auf- An mehr dachte man damals nicht. 1921 wurde wändiges Internes und Externes an Signalen, die AVUS in Berlin gebaut, eine Art Vorläufer der Verhaltensregeln, Vorschriften und Kontrollein- späteren Autobahnen, um als Rennstrecke für den richtungen musste eingerichtet werden, um die schnellen Autoverkehr genutzt zu werden. Die mit Sicherheit zu gewährleisten. Eisenbahnen sind als den Siedlungen und der Landschaft organisch ver- geschlossenes System nur über kontrollierte Zu- bundenen Wege und Straßen stellten für den mü- gänge, Bahnhöfe, erreichbar (wo die Verkehrsmit- helosen und schnellen Autoverkehr ein Hindernis tel gewechselt werden), mit klar definierter dar, das seine Entwicklung und Verbreitung eher Verantwortung, festgelegten Sicherheitsstandards behinderte als förderte. Die Autos hatten sich in und Betriebsbedingungen. Zwischen den Geraden das allgemeine Verkehrsgeschehen einzugliedern und den Kreisbogen mussten Eisenbahningenieure bzw. diesem noch unterzuordnen. Ab 1865 musste einen Übergangsbogen in Form einer kubischen in England dem Kraftfahrzeug im öffentlichen Parabel einschalten, um die Überhöhung der Au- Raum ein Mann mit roter Fahne vorausgehen.1 ßengleise bei der Bogenfahrt unterzubringen und Es fehlten Erfahrungen mit dem neuen Verkehrs- den Fahrkomfort weitgehend ruckfrei gestalten mittel, das den Lenkern individuelle Geschwindig- zu können. Die geringe Gleitreibung zwischen Rad keitsbereiche eröffnete, für die sie evolutionär und Schiene zwang zu technischen Höchstleistun- nicht ausgestattet waren. Die Informationsmenge gen in schwierigen topographischen Geländen, in dem vielfältigen Straßenbild von damals über- die später niemals wieder erreicht wurden. Das schritt die Möglichkeiten der hinter dem Steuer

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sitzenden, zum Autofahrer gewordenen Fußgänger, bahnen, welche die Ingenieure zwangen, die Bo- um sie in verantwortliche Handlungen umzuset- genfahrt sorgfältig zu projektieren, um mit den zen. Die Informationsdichte war zu verringern, am auftretenden Fliehkräften fertig zu werden, ging besten, indem man alle anderen Verkehrsteilneh- man bei der Anlage der Autobahnen relativ salopp mer aus dem Bewegungsraum der Autos entfernte. vor. Denn als man die ersten errichtete, wusste Die Fahrbahnen als privilegierte Zonen für Autos man weder über die Wirkungen der Fahrbahn- wurden eingerichtet. Um die Informationsdichte breite auf das Fahrverhalten bzw. das richtige Maß bei höheren Geschwindigkeiten auf die begrenzten der Fahrstreifen (die Eisenbahn nahm die Spur- Verarbeitungsfähigkeiten der Lenker zu reduzie- weite von den Kutschen) Bescheid, noch hatte man ren, war mehr Exklusivität notwendig: die Auto- brauchbare Übergangsbogen, um den Seitenruck bahn – in Analogie zur Eisenbahn, eine Anlage nur beim Übergang von der Geraden in den Kreis- für den schnellen Autoverkehr. bogen zu mindern. Um dieses fahrdynamische Der Italiener Pietro Puricelli errichtete 1924 ein Problem zu lösen, schaltete man einfach einen erstes Teilstück einer Autobahn zwischen Mailand Kreisbogen mit doppeltem Radius vor, baute brei- und Varese, für alle zugänglich, aber gebühren- tere Fahrstreifen und überließ es den Autofahrern, pflichtig. Dieses Projekt misslang, weil die Nach- damit fertig zu werden. Erst in den 1950er und frage wegen des geringen Fahrzeugbestandes den 1960er Jahren wurde durch die Klothoide der ste- Erwartungen nicht entsprach. Aus und mit den tige Übergang von der Geraden zur Krümmung Ideen Puricellis entstammt aber die Projektierung des Kreisbogens ermöglicht. Die überbreiten Fahr- einer Autobahn von nach Mailand, streifen blieben – und mit jedem zusätzlichen ent- Hafabra (Hamburg-Frankfurt-Basel), die nach fernt man sich immer mehr von der Landschaft. ähnlichen Prinzipien nur dem Autoverkehr vor- behalten war. Als man 1932 die erste öffentliche Autobahn Deutschlands zwischen Köln und Der – gescheiterte – Versuch, Autobahnen und eröffnete, ahnte man nichts von den Folgewirkun- Kulturlandschaft zu harmonisieren gen, die diese Verkehrsanlagen in den nächsten Jahrzehnten auf verschiedenen Gebieten erzeugen Bei der Planung und dem Bau der Reichsautobah- werden und von denen traditionelle Verkehrspla- nen zeigte sich der Konflikt zwischen Autobahn ner bis heute noch immer keine Ahnung haben. und Kulturlandschaft zum ersten Mal deutlich. Der primäre Zweck von Autobahnen war das Landschaftsschützer und Architekten verlangten ungehinderte Autofahren mit hoher Geschwindig- eine an die Kulturlandschaft angepasste geschwun- keit auf richtungsgetrennten Fahrbahnen ohne gene Linienführung, Ingenieure verteidigten die Kreuzungen. Spezielle Zu- und Abfahrten, schein- langen Geraden, die Kreisbogen und setzen sich bar analog zu den Bahnhöfen, wurden vorgesehen. auch gegen die Vertreter der Interessen der Kultur- Weil man aber weiter mit dem Auto in die Um- landschaft durch. Eine Umkehr der Werte: Quanti- gebung eindringen konnte, wären Strukturverän- tät vor Qualität. Die Vorzüge der Kulturlandschaft derungen, weit über jene der Bahn hinaus, zu wurden dort genutzt, wo man sich Vorteile für das bedenken gewesen. Im Unterschied zu den Eisen- Autofahren erwartete. Die Richtungsfahrbahnen

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waren zunächst nicht baulich getrennt, der Blick weile: es ist möglich auf dem Lande zu wohnen noch frei auf die Umgebung. Abgesehen von und in der Stadt zu arbeiten; sichtbare Konse- Ausnahmen, blieben die Bemühungen der Land- quenz davon ist die flächenhafte Zersiedlung. Aber schaftsvertreter vor allem auf Detailausgestaltungen auch die Wirtschaft reagiert und konzentriert ihre von Brücken begrenzt. Die bereits eingeschränkte Standorte immer mehr dort, wo man diese mit Sichtweise der Naturwissenschaftler wurde durch dem Auto gut erreichen kann, denn die Transport- die Ingenieure weiter verengt, die mit einfachen kosten werden weitgehend von der Gesellschaft Formeln den Bau der Autobahnen vorantrieben getragen. Hinzu kam die bis heute vorhandene und sie so zu einem Symbol für Fortschritt, Mobili- Zwangsvorstellung eines endlos steigenden Mobili- tät und Freiheit machten. Ohne die Unterstützung tätsbedürfnisses, das es zu befriedigen galt, ohne totalitärer Systeme in Italien und Deutschland nach dessen Ursache zu fragen. Der Mobilitätsbe- wäre diese Entwicklung vermutlich anders verlau- griff, der die Planung und Projektierung von Auto- fen. Während man auf der Eisenbahn gefahren bahnen treibt, beschreibt eine zwecklose Mobilität wird, also nicht selbst fährt, suggeriert bereits das mit hohen Geschwindigkeiten auf einer Anlage, Wort Auto (gr. selbst)-Bahn, dass man diese Anla- auf der sich weder Ausgangs- noch Zielpunkte der gen individuell benutzen kann. Diese Art von Fahrten und daher auch keine Zwecke der Reise Selbstbedienung hat in der Folge ab 1933 das In- befinden. Es wurde ein Teilsystem ohne Bedacht- teresse der nach langfristigen und sicheren Aufträ- nahme auf die Wirkungen im Gesamtsystem von gen Ausschau haltenden Bauindustrie geweckt und Wirtschaft, Gesellschaft und Natur errichtet. ab den 1950er Jahren einen unglaublichen Bau- In der Kulturlandschaft entstanden Barrieren, Zer- boom für Autobahnen ausgelöst. Wegen fehlender schneidungen für alle anderen Mobilitätsformen. eigener Erfahrungen orientierte man sich an den Die nach dem Zweiten Weltkrieg lawinenartig USA, in der Annahme, deren Standards hätten so- zunehmende Motorisierung wurde durch den Bau lide Grundlagen. von Autobahnen weiter angefacht und verdrängte oder erstickte alle anderen Formen der Mobilität. Die Geschwindigkeit prägt die Trassierung, nicht Mit der Verwendung der Klothoide wäre die mehr die Kulturlandschaft in der Zeit der Reichsautobahn gewünschte ge- schwungene Linienführung zur Anpassung an die Die Projektierung der Autobahnen richtete sich Landschaft möglich, wurde aber bald durch die nach möglichst hohen Geschwindigkeiten, auf Forderungen nach hohen Durchflussmengen bei- dem Glauben beruhend, man könne dadurch Zeit seitegeschoben. Eine enge, sektoral ausgerichtete sparen. Diese aus der individuellen Erfahrung re- Ausbildung und Verwaltung erkannte die uner- sultierende Extrapolation ist bedauerlicherweise wünschten Folgewirkungen der Autobahnen, wie ein Irrtum, weil höhere Fahrgeschwindigkeiten beispielsweise die flächenhafte Zersiedlung der im System zwingend zu Wegverlängerung führen. ehemaligen Kulturlandschaft, lange Zeit nicht. Was früher in der Nähe sein musste, mag nun in Die Freiheit der Standortwahl wurde zum Slogan der Ferne liegen, weil man es in der gleichen Zeit der internationalen Konzerne, um auf Kosten erreichen kann. Die Folgen kennt man mittler- der öffentlichen Hand Gewinne zu erzielen. Auto-

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bahnen als offene Systeme eignen sich dazu beson- griffig erklärt, bewahrheitet sich auch hier. Die ers- ders. Die im Vergleich zum Wirtschaftswachstum ten Stauphänomene werden gerade dort sichtbar, schneller auswuchernden LKW-Kilometer sind ein wo die meisten Fahrstreifen angeboten werden – Beleg dafür. aber keiner erkennt die Ursachen, die in der An- lage selbst – und den menschlichen Eigenschaften – liegen. Die uralte evolutionäre Schicht, in der Die Rückseite der glänzenden Medaille Autobahn die Energie verrechnet wird, wurde durch die Be- quemlichkeit des Autos (sitzende Bewegung in Die sprunghaft steigenden Unfallzahlen in den Ruhe!) und unbehindertes Ausleben einer sonst 1950er und 1960er Jahren führten zu ersten Ord- unerreichbaren individuellen Geschwindigkeit auf nungsmaßnahmen und einer Nachrüstung dieser Autobahnen wirksam. Eine paradoxe Situation: Verkehrsanlagen mit baulichen Leiteinrichtungen, Als man sich noch um die Kulturlandschaft be- die schrittweise zu immer stärkeren und härteren mühte, konnte man so schnell fahren, dass man Eingriffen in die Kulturlandschaft führten. Der dafür keinen Blick hatte. Jetzt, wo man die planeri- einst freie Blick auf die Umgebung wird zuneh- schen Möglichkeiten für die Integration in die mend durch Lärmschutzwände oder die Verlegung Landschaft hätte, ist man schon froh, auf den Au- der Autobahn in Tunnel eingeschränkt. Statt einer tobahnen Augenblicke ohne Behinderungen durch Fahrt durch eine Kulturlandschaft bewegt man andere Autofahrer zu erleben. Und steht man im sich zunehmend in einem Kanal. Dafür tauchen Stau, ist der Blick auf die Kulturlandschaft durch entlang der Autobahnen insbesondere an den An- Barrieren verstellt. schlussstellen der Kulturlandschaft fremde Ele- Ist Kulturlandschaft ein Produkt der geistigen mente einer schrillen, rücksichtslosen Werbung Mobilität jener, die in der Auseinandersetzung mit auf, die sich häufig mit einem flächenverzehrenden der Natur harmonische Lösungen in ökonomi- Industrieflachbau vermengen. scher, sozialer und ökologischer Hinsicht fanden – In den 1960er Jahren wird der Autobahnbau zu- so bildet sie einen Eigenwert des jeweiligen nehmend durch quantitative Größen, hard facts, Raumes, der ebenso wenig wie das Leben durch dominiert – selbst wenn sie so unsinnig und falsch Geld allein erfassbar ist. Der Maßstab einer sind wie Zeiteinsparungen aus Geschwindigkeit, menschlichen Kulturlandschaft war und ist der die es im Verkehrssystem ebenso wenig gibt wie Mensch. Der Maßstab der Autobahnen ist weder ein Mobilitätswachstum, definiert man Mobilität räumlich noch zeitlich ein menschlicher, son- zweckbezogen. Kultur ist das Ergebnis von Quali- dern jener der schnellen Fahrmaschinen in einem tät und nicht von Quantität. Die Autobahnen offenen System, die diesen Maßstab auch in die lösen sich immer mehr von der seltener werden- Umgebung tragen, dort ausufernde Industrieland- den Kulturlandschaft und werden durch die schaften und austauschbare Wohnsiedlungen Zwangsmobilität der Benutzer immer mehr zum erzeugen. Ihr positiver Beitrag zu einer Kultur- Instrument des Kapitals. Geld mal Geist ist eine landschaft reduziert sich auf Sonderfälle. Ihre Konstante im Volksmund in der Weisheit Wer es Abgas- und Lärmkorridore entwerten einstige Kul- nicht im Kopf hat, muss es in den Beinen haben turlandschaften als Lebens- und Erholungsräume.

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1975, drei Jahre nach der Energiekrise, als die Anmerkungen Grenzen des Wachstums 2 schon bekannt waren, wäre der Zeitpunkt zu einer Abkehr vom System 1 Ein Wunder – Der Einsturz der Kufsteiner Autobahnbrücke wurde von Experten seit langem prophezeit. In: , Autobahn gewesen, gäbe es eine rationale und Heft 30, 1990, S. 149–150. verantwortungsbewusste Verkehrspolitik und -wis- 2 Donella H. Meadows, Dennis L. Meadows, Jørgen Randers senschaft. Erst 40 Jahre danach wurde das Zentrum u.William W. Behrens III: The Limits to Growth. New York 1972. von Seoul wieder zur Kulturlandschaft, nachdem man dort die Autobahn, die täglich von über 220.000 Autos befahren wurde, abgetragen hatte. Ein Vorbild für die Zukunft. Kulturlandschaft berührt positiv; Kulturland- schaft durchschnitten von Autobahnen berührt auch – im Geiste des technologischen Fortschritts- glaubens des 19. Jahrhunderts vielleicht mit Be- wunderung –, aus dem Blick eines systemkundigen Betrachters eher mit erschütterndem Bedauern um die Verluste an intelligenteren Lösungen.

Wie aus Autobahn wieder Kulturlandschaft werden kann: Seoul 2001 links und 2005 rechts

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Angela Jain Das Bild von der Autobahn-Landschaft

Die Straße als Symbol Zu Beginn des Straßenzeitalters bestimmte vor allem die eigene menschliche Leistungsfähigkeit Über die Bedeutung von Straßen ist bereits aus die Fortbewegung. Das Zu-Fuß-Gehen hat über vielen Perspektiven reflektiert worden, nicht zu- Jahrtausende die Vorstellung von Zeit und Raum letzt über ihr Verhältnis zur Landschaft und ihre und das Verhältnis von Mensch und Umwelt ge- Rolle als netzförmige Infrastruktur. Straßen, be- prägt.2 Später vereinfachten der Einsatz von Tieren festigte Wege, gehören zu den ältesten menschlichen und dann das Rad den Transport von Waren und Bauwerken. Straßen sind Zeugnisse der Zivilisation. ermöglichte eine höhere Reisegeschwindigkeit. Ein Sie beziehen Räume aufeinander, sie verknüpfen Wendepunkt in der Form der Fortbewegungsmit- Städte, überbrücken Flüsse und überwinden Gren- tel war die Entwicklung der Dampfmaschine, die zen, sie erschließen Landschaften. […] Sie dienen zunächst ihre Kraft über die Schiene in Bewegung der Ausbreitung von Ideen und Kulturtechniken. umsetzte. So wurden immer neue Möglichkeiten Handel und Wirtschaft brauchen Straßen. Sie sind gefunden, Reise und Transport zu vereinfachen eine Voraussetzung der Kommunikation, des Aus- und zu beschleunigen, Verkehrswege wurden ver- tausches zwischen Menschen, Völkern und Kulturen, bessert und aus der Dampfmaschine wurde das Orten, Regionen und Staaten.1 Automobil, mit dem Berta Benz im Jahre 1888 ihre Der große Stellenwert von Straßen wird allein erste Fernfahrt unternahm. schon durch den Sprachgebrauch deutlich. Der In der Konsequenz verlangte das Auto als neue Weg findet als Metapher für das Leben Verwen- Errungenschaft der Fortbewegungstechnik nach dung, eine lange Reise oder ein beschwerlicher Weg einem adäquaten Zuhause. Die Straße musste sich beziehen sich nicht nur auf eine konkrete Strecke, den höher werdenden Geschwindigkeiten anpas- Sackgasse, Einbahnstraße und Stau werden eben- sen, die Folge war eine Trennung der Wege für falls im übertragenen Sinne verwendet. Am deut- langsamere und schnellere Fahrzeuge und somit lichsten aber zeigt das Wort Er-fahrung die auch ein Verlust der Kommunikationsfunktion. Reichweite der Bedeutung von Fortbewegung und Die Straße erfüllt in erster Linie die Aufgabe, den die Verbindung zum menschlichen Erleben. Menschen das Mobil-Sein zu erleichtern. Sie ist

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für die Benutzer eine Strecke mit einem Anfangs- Straßen und Transportmittel haben sich im punkt und einem Endpunkt. Eine Verbindung Laufe der Zeit gewandelt. Im Gegensatz zu früher zwischen diesen Punkten zu schaffen, ist ihre verbringen heute wesentlich mehr Menschen ihre wichtigste Funktion. Ihr Streckenverlauf wird be- Zeit mit der schnellen Fortbewegung auf der stimmt durch die Orte, die sie verbindet. Sie hat Straße und auf der Autobahn. Doch das Gefühl, somit großen Einfluss auf ihre Umgebung – positiv sich im Irgendwo, weitgehend ohne Bezug zur Welt wie negativ. Weniger bedeutsame Ortschaften ge- außerhalb, zu befinden – soundso viele Minuten wannen und gewinnen an Einfluss und Attraktivi- oder Stunden vom Zielort entfernt – ist geblieben. tät und locken Neugierige an, andere Orte werden Alles, was zählt, ist, möglichst schnell dort anzu- durch die Auswirkungen des Verkehrs unbewohn- kommen. Deshalb gewinnt die Autobahn gegen- bar, nötigen zur Flucht. Heute wie vor hunderten über anderen Lebens-Räumen einen immer von Jahren ist für Wirtschaftsunternehmen die größeren Stellenwert: nicht als Aufenthalts-Raum, Nähe zum Handelsweg, zur Autobahn ein aus- wohl aber als Zeit-Raum. Hingegen wird der Ge- schlaggebender Standortfaktor. So erlangen man- staltung dieses Raumes erstaunlich wenig Beach- che kleinere Städte oder Ortschaften durch einen tung geschenkt. Autobahnanschluss Bedeutung. Ihr Name prägt sich durch die blauen Autobahnschilder im Vor- beifahren ein und verbleibt – allerdings ohne Bild – im Gedächtnis. Gerade periphere Regionen leben davon, dass die Bewohner die Straßen nutzen können, um woanders zu arbeiten und dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Die Perspektive der Nutzer

Die Bedeutung der Straße, wie sie von ihren Nut- zern erlebt und er-fahren wird, ist in Literatur, Wissenschaft und Medien nur selten Gegenstand 1|A 40 bei Moers (Aufnahme: Angela Jain) der Betrachtung. Einen frühen Erlebnisbericht lieferte allerdings Goethe im Jahre 1786 in seiner Italienischen Reise: Die Postillions fuhren, dass Schon mit den ersten Autobahnen sollte den einem Hören und Sehen verging. Und obwohl Goe- gesetzlichen Regelungen zufolge eine Verkehrsbe- the in einer Kutsche mit Fenstern saß, die mit einträchtigung, ausgehend von Werbung und höchstens 40 Kilometern pro Stunde über un- Propaganda durch Bild, Schrift, Licht oder Ton [...], ebene, staubige Straßen holperte, beklagte er, diese vermieden werden, da die Verkehrsteilnehmer in herrlichen Gegenden mit der entsetzlichsten Schnelle einer den Verkehr gefährdenden oder erschwerenden […] wie im Fluge zu durchreisen.3 Weise abgelenkt oder belästigt werden können.4 Das

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Ergebnis ist bis heute sichtbar: Immer mehr Strek- mit einer Schnellstraße verglichen werden. Die Au- kenabschnitte von Autobahnen wurden im Laufe tobahn, als Extrembeispiel, ist rein auf die Fort- der Zeit mit hoher Vegetation begrünt, mit Bö- bewegungsfunktion reduziert. Keine anderen schungen oder Lärmschutzwänden versehen und Nutzungen sind zugelassen, abgesehen von den von ihrer Umgebung abgetrennt (Abb. 1). Auch Parkplätzen oder Raststätten, auf denen das heute hat sich an dieser Planungspolitik nicht viel Dahinfließen – im Wettlauf mit der Zeit – für geändert. Jede Ablenkung des Autofahrers, jeder einen kurzen Moment unterbrochen wird. Durch Blick weg von der Straße wird gleichgesetzt mit die starke Abgrenzung der Autobahn von anderen einer Hemmung des Verkehrs und einer Vermin- Räumen und ihre Monofunktionalität wird die derung der Verkehrssicherheit. Planung von Autobahnen zumeist allein den Ver- In der Werbung allerdings wird dem Rezipienten kehrsplanern überlassen, die sich vor allem auf das Autofahren – meist in spektakulären Land- die Merkmale Geschwindigkeit, Verkehrsfluss und schaften – fast ausnahmslos als einzigartiges emo- Sicherheit konzentrieren. Viele Autobahnstrecken tionales Erlebnis suggeriert. Das unendliche Band gleichen sich daher, und höchstens die Topo- der Straße, die Natur und das Fahrzeug scheinen graphie lässt darauf schließen, dass die Autobahn eins zu werden mit dem (meist männlichen) Fah- durch unterschiedlich geformte Landschaften rer. Auf ein ansprechendes Design des beworbenen führt. Produkts wird viel Wert gelegt. Für die Straße aber, Aus der Perspektive der Menschen betrachtet, auf der das teure Objekt zu Hause ist, sind nur die sich gerade nicht auf der Autobahn befinden, selten Designabteilungen zuständig. Laut Bundes- wird sie fast unsichtbar gemacht und aus den Le- fernstraßengesetz wird eine nicht gewollte Ablen- bensräumen weit möglichst verbannt. Was bleibt, kung durch alle Objekte hervorgerufen, die sich zu ist das Hintergrundrauschen der Autos auf der nah an der Autobahn befinden. So dürfen an den Fahrbahn. Bundesautobahnen Hochbauten jeder Art in einer Die Autofahrer (und Mitfahrer) bewegen sich in Entfernung bis zu 40 m nicht errichtet werden. Au- ihrem Fahrzeug wie auf einem langen Band und ßerdem bedürfen bauliche Anlagen längs der Bun- legen diese Strecke in möglichst kurzer Zeit zu- desautobahnen in einer Entfernung bis zu 100 m rück. Dadurch wird die Zeit auf der Autobahn oft [...] zu ihrer Errichtung oder erheblichen Änderung zur Zwischenzeit, der Raum zum Transit-Raum. einer Baugenehmigung.5 Der Raum, den die Auto- Die Autobahn-Korridore sind auf weite Strecken bahn als Verkehrsfläche einnimmt, ist dadurch im- von Böschungen und Bepflanzungen eingefasst mens angewachsen, zumindest bietet er sich aber (Abb. 2). Nur im Bereich von Ausfahrten oder als Raum für Gestaltung an. Brücken können Reisende manchmal erahnen, wo sie sich befinden, und der Blick kann für einen Die Autobahn – Ort oder Nicht-Ort? Moment aus der grünen Röhre entfliehen. Fahr- zeuglenker finden sich daher oft nur zurecht, weil Wie wird die Straße von ihren Nutzern wahrge- Orts- oder Städtenamen auf den Schildern zu er- nommen? Dies variiert sicherlich je nach Ge- kennen geben, wo sie sich befinden, oder weil das schwindigkeit und so kann eine Spielstraße kaum Navigationssystem, mit Hilfe des kleinen Bild-

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schirms, ihre momentane Position visualisiert. kommen, ist diese Verbindung hergestellt. Durch Selten nur lassen sich Autobahnstrecken durch diese Überlagerung von Autobahn und Landschaft besondere Merkmale des Straßenraumes, durch entstehen Querverbindungen – im weitesten einen einprägsamen Eindruck aus der Umgebung Sinne auch imaginäre Kreuzungen. Die Linie der oder eine spektakuläre Aussicht identifizieren. Die Autobahn erweitert sich an solchen Sichtachsen Information von außen bleibt gering und die Auf- für einen Moment zum Ort. Ein Ort ist ein Schnitt- merksamkeit beschränkt sich auf die unendlich punkt. Ein Ort entsteht dort, wo sich Linien kreuzen. scheinende Fahrbahn. Es gibt nur eine vorgege- (Eine Linie, eine Gerade ist kein Ort.) Der Ort ver- bene Bewegungsrichtung und nur wenige Ent- sammelt Dinge; diese geben ihm Sinn.7 scheidungsmöglichkeiten; die besondere Qualität Visuelle Informationen, die sich den Reisenden dieses Raumes liegt allein in der Fortbewegung. aus der Umgebung in den Autobahnraum hinein Obwohl die Aufenthaltsdauer auf der Autobahn vermitteln, ermöglichen es, die Umgebung (wieder) mittlerweile bei vielen Menschen höher sein dürf- zu erkennen und ihr einen bestimmten Charakter ten, als in anderen öffentlichen Räumen (Stadt- zuzuordnen. So ist beispielsweise eine im Vorbei- plätze oder Parks), hat sie eher den Charakter fahren wahrgenommene Stadt ein Ort mit einer eines Nicht-Ortes6 – hier möchte niemand wirklich eigenen Identität. Diesen Ort füllt der Reisende auf sein, sich niemand länger als nötig aufhalten. der Weiterfahrt mit seinen persönlichen Vorstel- lungen, Erfahrungen und Kenntnissen. Die drei zentralen Merkmale des Ortes [sind]: Identität, Re- lation [Verbindung], Geschichte.8 Straße und Autobahn haben oft auch eine eigene Geschichte. Sie wird ebenfalls nur dann erfahrbar, wenn sie sich durch solche Schnittpunkte, oder Aufmerksamkeitspunkte, vermittelt. Das können alte Straßenbeläge, Brücken, Schilder, Inschriften oder andere Zeichen der Vergangenheit sein. Es gibt Landschaften, in denen Flurgrenzen, die Wege- netze und die Siedlungen der Gegenwart wie durch- sichtige Deckblätter auf die Landkarte der Vergangenheit aufgelegt sind.9 Die Eindrücke von außen, die im Fahrzeug wahrgenommen werden 2 | A 40 bei Wankum (Aufnahme: Angela Jain) können (Geschichte, Information über die Land- schaft, ein sich wandelndes Landschaftsbild, Städte Eine Autobahn wird dennoch für kurze Zeit etc.) können einem Streckenabschnitt auf diese zum Ort, sobald für die Reisenden eine Verbindung Weise eine besondere Erlebnisqualität geben. zwischen dem Autobahn-Raum und der Land- Der Eindruck einer Landschaft, den Reisende auf schaft sichtbar, spürbar wird. In Abschnitten, die ihrer Durchfahrt erhalten, stimmt aber nicht es ermöglichen, Informationen von außen zu be- immer mit ihrem tatsächlichen Charakter überein.

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So sind aus dem Fahrzeug (besonders aus dem nehmungsraum zu schaffen, der Planung und Ge- PKW) vorwiegend die Randbegrenzungen – be- staltung freien Raum lässt und – unter Wahrung pflanzte Böschungen – zu sehen und von diesem der Verkehrssicherheit11 – die Imaginationskraft Eindruck wird auf den Charakter der Umgebung der Reisenden herausfordert. geschlossen. Oft wird das Bild der Landschaft dadurch verfälscht: Wird der Blick beispielsweise Geschwindigkeit und Orientierung im Raum durch hohe und dichte Vegetation begrenzt, nimmt der Reisende an, er fahre durch ein langes Die räumliche Orientierung ist Bedürfnis und Waldstück. Unter Umständen verläuft die Strecke Fähigkeit eines jeden Individuums, sich beispiels- aber in Wirklichkeit durch eine Stadt oder an weise in baulichen Strukturen oder Landschaften einem Dorf inmitten landwirtschaftlich genutzter zurechtzufinden. Vor jeder Fahrt haben Auto- Fläche vorbei und der vermeintliche Wald be- fahrer eine ungefähre Vorstellung von der Strecke schränkt sich auf die Breite der Straßenböschung. und den Orten und Landschaften, die sie durch- Die Wahrnehmung der Landschaft funktioniert queren werden. Diese Vorstellung wird Raumer- über das Erkennen und Deuten von Zeichen und wartung genannt. Beim Fahren vergleichen sie das Symbolen. Reisende ordnen den Dingen, die sie vorgestellte Bild der Autobahn und ihrer Umge- sehen, eine Bedeutung zu (Bäume als Symbol für bung mit der tatsächlich erlebten Situation. Durch Wald). Die Landschaft zu sehen und zu verstehen die Sicht auf die Umgebung werden Raumerwar- ist also immer auch eine kulturelle Interpreta- tung und Realität verglichen. Stimmen diese über- tion.10 Nur Streckenabschnitte, in denen die Land- ein, entsteht ein positives Raumgefühl – ein schaft wirklich sichtbar wird, ermöglichen einen Gefühl der richtigen Orientierung und der Sicher- tatsächlichen Eindruck des Landschaftscharakters heit. oder Stadtbildes und somit eine reale Erfahrung, Im Verkehrssystem, insbesondere auf der Auto- ein visuelles Erlebnis, das Kennenlernen von bahn, findet Orientierung in erster Linie über Neuem. Schilder statt. Auf ihnen kann abgelesen werden, Das Bild einer Region lässt sich über die Gestal- wie weit das angestrebte Ziel noch entfernt ist und tung des Straßenraumes aber auch gezielt beein- auf welchem Punkt der Strecke man sich gerade flussen, indem die Wahrnehmung gelenkt wird. befindet. Außer Städtenamen und Entfernungen So können den Reisenden Symbole, künstliche vermitteln die Schilder jedoch keine weitere Infor- und künstlerische Gestaltelemente angeboten wer- mation über Orte oder Landschaften. Einen Ver- den, die den Eindruck von der realen Umgebung such, Orten ein einprägsames Bild, eine Identität überlagern oder ersetzen. Über diese Symbole wird und damit Emotionalität zu verleihen, stellen dann die Vorstellung von der Region hinter der die braunen Schilder an der Autobahn dar, die auf Autobahn geprägt. Das Informationsvakuum der Sehenswürdigkeiten der Umgebung oder beson- grünen Röhre lässt sich auf diese Weise dafür dere Landschaften hinweisen. Da diese aber nur nutzen, die Aufmerksamkeit der Autofahrer auf selten mit auffälligen Symbolen in der (Stadt-) etwas vollkommen Neues zu lenken – beispiels- Landschaft verknüpft sind, bleibt der skizzenhafte weise Kunstobjekte – und einen künstlichen Wahr- Hinweis ohne Verortung.

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Um sich im Raum (nicht im Verkehrssystem) zu stimmten Punkt auf ihrer Wegstrecke in Verbindung Recht zu finden, benötigen Reisende Sichtkontakt gebracht. Diese Stelle erhält dadurch eine Identität zu ihrer Umwelt und Information aus der Umge- und steht stellvertretend für ihre Umgebung. bung. Schon die klare Abgrenzung von Räumen Beim Fahren mit hoher Geschwindigkeit verengt mit unterschiedlichem Charakter – beispielsweise sich der Sehwinkel des Fahrers und der Fokus Stadt und Land – erleichtern diese Orientierung. liegt auf der eigenen Fahrspur.14 Je höher die gefah- Das Auge ist ein mobiler Ermittler, der in einer zu- rene Geschwindigkeit, desto geringer ist die Wahr- nehmend undurchschaubaren, veränderlichen, un- nehmung der Umgebung. Nur wenn der Sichtbezug verlässlichen Welt alle Anhaltspunkte registriert, die nach außen über eine längere Strecke bestehen zur Aufklärung führen können, die ihm helfen zu bleibt, kann die Umgebung gesehen und bewusst ermitteln, wo er sich befindet.12 Geeignet sind dafür wahrgenommen werden. Der Raumbetrachter er- insbesondere markante architektonische Struktu- lebt den Raum immer dynamisch. Sein gelebter ren. Das kann eine Brücke sein, unter der man Raum ist stets in Bewegung. Er wird aus unzähligen hindurch fährt, oder ein einzelnes Haus auf einem Elementen fortwährend neu bestimmt und bewirkt weiten Feld. Bewusst oder unbewusst werden beim [...]. Im Wirkungszusammenhang von Raum und Fahren solche Landmarken zur Orientierung her- Zeit sind daher Wahrnehmungs-Szenarien erfor- angezogen. Landmarken sind markante Objekte derlich, die auf Bewegung angelegt sind und Bewe- (Abb. 3), die meist eine einfache und einprägsame gung motorisieren.15 Während des Fahrens werden Form haben, die sich von ihrer Umgebung abheben Entfernungen weniger an der räumlichen Ausdeh- und die an der Stelle, an der sie sich befinden, ein- nung einer Strecke gemessen, sondern vielmehr an zigartig sind.13 Solche markanten Objekte werden der Zeit, die es dauert, diese Strecke zu überwin- in der Vorstellung der Reisenden mit einem be- den. Durch die hohe Geschwindigkeit verliert sich der Bezug zum dreidimensionalen Raum, die zeit- liche Dimension dominiert. Eine Folge davon ist, je geringer die Wahrnehmung der Umgebung (je geringer die Abwechslung), desto größer ist das Be- dürfnis nach Geschwindigkeit. Haben Reisende also keinen (visuellen) Kontakt zur Umgebung, be- kommen sie keine direkte Information über die angrenzende Landschaft und können sich kein ei- genes Bild davon machen. Es entsteht der Ein- druck, dass sie sich an keinem (identifizierbaren) Ort befinden. Es ist nicht so sehr der Nihilismus der Technik, der vernichtet, eher vernichtet der Nihilismus der Geschwindigkeit die Wahrheit der Welt.16 3 | Visualisierung der Sichtbezüge beim Fahren am Beispiel der Das subjektive Geschwindigkeitsgefühl verringert A 40 im Ruhrgebiet (Vorlage: Angela Jain) sich durch das Fehlen von Fixpunkten entlang

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4 | Landmarken entlang der A 40 im Ruhrgebiet (Aufnahmen: Angela Jain)

der Strecke, an denen sich der Blick festhalten kann. immer weiter ausbreiten konnten (zu einer Re- Es entsteht das Gefühl, nicht voran zu kommen duzierung der Verkehrsprobleme hat dies nicht und so wächst mit der Monotonie das Bedürfnis geführt). möglichst schnell an einen wirklichen Ort zu Ein ungelöstes Problem ist allerdings, dass auto- gelangen. Hingegen teilen Sichtbezüge und Land- orientierte Mobilität (derzeit noch) einher geht marken die Strecke in räumliche und zeitliche mit der Emission von Abgasen und Lärm. Die Abschnitte ein, so dass sich die eigene Geschwin- logische Schlussfolgerung wäre demnach, den digkeit besser abschätzen lässt und die Monotonie motorisierten Verkehr unter die Erde zu verban- unterbrochen wird. Durch Blickkontakt mit nen oder in geschlossenen Röhren zu führen. Ob dem Außen wird die Aufmerksamkeit also nicht die Anzahl der Menschen, die ihre Lebenszeit in zwangsläufig von der Aufgabe des Fahrens ab- diesen dann vollkommen zeit- und raumlosen gelenkt, sondern in vielen Fällen wieder in den Schleusen verbringen müssten, dadurch reduziert Straßenraum zurückgeholt, die Geschwindigkeit würde, ist fraglich. Die heutigen Planungsansätze verliert an Bedeutung. gehen daher eher wieder von einer Re-Integration und von einer Domestizierung des Autos aus.17 Neue lärm- und abgasarme post-oil Fahrzeug- Ausblick: Die Autobahn als ? modelle, die voraussichtlich in den nächsten Jahren auf den Markt kommen, werden diese Über- Heute wird wieder mehr über das Verhältnis von legungen wohl noch verstärken. menschlichem Lebensraum und Straße nach- Dies wird jedoch nicht das Problem lösen, dass gedacht. Die Isolierung der Fahrwege und die auch künftig viele Menschen im Stau ihre Zeit ver- Verbannung der Autobahn aus dem Bewusstsein bringen werden. Und oft ist es derselbe Stau zur hatten dazu geführt, dass sie immer mehr zum selben Zeit an der gleichen Stelle. Auch hier kann Nicht-Ort wurden und dass sie sich unbemerkt sich die Planung neue, dynamische Gestaltungs-

39 Das Bild von der Autobahn-Landschaft Angela Jain

elemente und Infotainment-Angebote einfallen Anmerkungen lassen. Die spannende Frage wird nämlich sein, wie 1 Ulrich Borsdorf: Zugänge. In: Transit Brügge: – Novgorod: die PKW-Kapsel künftig genutzt wird, wenn Navi- Eine Straße durch die europäische Geschichte. Hg. von Ferdi- gationssysteme dazu in der Lage sind, die Aufgabe nand Seibt u.a. Essen 1997, S. 24. des Steuerns zu übernehmen. Sind die Fahrer 2 John Brinckerhoff Jackson: Straßen gehören zur Landschaft. In: Kursbuch ‚neue Landschaften‘, Heft 131 (1998), S. 101–117. dann nur noch Mitreisende? Werden sie die ge- 1 Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise. Ausgabe wonnene Zeit nutzen, um in die Landschaft zu 1973, S. 26. schauen oder sich per Navigationssystem über die 4 Straßenverkehrsordnung (StVO 2) § 33. In: Beck’sche Kurz- kommentare. München 351999. Umgebung zu informieren? Oder wird der Innen- 5 Bundesfernstraßengesetz (FStrG 17), § 9. In: Beck’sche Kurz- raum des Autos zum Home-Office bzw. zum kommentare. München 351999. Wohnzimmer mit entsprechender Ausstattung an 6 Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Überlegungen zu einer Technologie der Einsamkeit. Frankfurt 1994. Als Nicht-Orte de- Bildschirmen und Soundsystemen, noch stärker finiert Augé alle Verkehrsmittel (Flugzeug, Bahn, Auto), Wege introvertiert als bisher und völlig ohne Beziehung und Gebäude des Transits. zum Außen? Es wird wohl vom jeweiligen Ziel 7 Peter Arlt: Was ist ein Ort? Heterotopien – Nicht-Orte – Ge- wöhnliche Orte. In: Kunstforum 145 (1999) S. 222. und Zweck der Reise und von den individuellen 8 Arlt, wie Anm. 7. Vorlieben der Reisenden abhängen, wie sie ihre 9 Herlyn Gröning: Landschaftswahrnehmung und Landschafts- Zeit nutzen. Fest steht, die knappe Ressource erfahrung. München 1990, S.46. Raum kann und sollte in Zukunft stärker multi- 10 Vgl. Gröning, wie Anm. 9. 11 Gerrit Confurius: Daidalos (online: www.daidolos.de, zuletzt funktional genutzt werden. besucht März 1998). 12 An Stellen, die besondere Aufmerksamkeit erfordern, z.B. an Ausfahrten oder in Kurven, sollte keine Ablenkung erfolgen. 13 Vgl. Kevin Lynch: The Image of the City. Cambridge Massa- chusetts 1988, S. 78. 14 Vgl. Amos Cohen, René Hirsig: Zur Bedeutung des fovealen Sehens für die Informationsaufnahme bei hoher Beanspru- chung. In: Sicht und Sicher im Straßenverkehr. Hg. vom TÜV Rheinland. Köln 1990. 15 Rudolf Manz: Video: Denk-Raum Architektur: Für den Videostil im architektonischen Denken. Zürich 1994, S. 15. 16 Paul Virilio: Ästhetik des Verschwindens. München 1986, S. 128. 17 Vgl. Sabine Kraft: Den Tiger reiten. In: Arch+ Heft 147 (1999) S. 24.

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Bernhard Stumpfhaus Bemerkungen zur Autobahnfotografie. Ihre Ästhetik, ihr Gebrauch, ihre Bedeutung

Die Bilddokumentation des ehemaligen Landesamts kumentationen von technischen Apparaten oder für Straßenwesen Besonderheiten, fotografische Beobachtungen von spezifischen Tätigkeiten, Belege von Baustellen- Das Staatsarchiv Ludwigsburg verfügt über eine situationen oder Autobahnschäden – finden sich umfangreiche Sammlung von Autobahnfotografien in dieser Sammlung unterschiedslos in Licht- aus den Jahren 1934 bis 2000. Diese Bilddoku- bildreproduktionen versammelt. Originale haben mentation stammt aus dem Regierungspräsidium sich darunter kaum erhalten. Wo die Vorlagen Stuttgart und wurde Anfang der 1990er Jahre im herstammen, verbleibt im Dunkeln. damaligen Landesamt für Straßenwesen (heute Der Gleichförmigkeit der Bilder in Form von Abteilungen Straßenwesen und Verkehr bei den Kopien entspricht ihre Vergesellschaftung zur Regierungspräsidien) angelegt, um den Mitarbei- Sammlung. Kleinformatig sind sie meist in Zwei- tern eine Art visuelles Nachschlagewerk für ihre ergruppen auf ein Din-A 4 Blatt geklebt, dessen diversen Tätigkeitsfelder zur Verfügung zu Vorderseite unbeschriftet bleibt, so dass der Be- stellen.1 Die Bilddokumentation besteht aus meh- trachter zunächst nur die Bilder anschaut. Die reren Teilen. Neben einem großen Bestand von Rückseite des Bogens trägt einheitlich, in einen eher gleichförmigen Farbdias jüngeren Datums Kasten gesetzt, die Überschrift Bilddokumentation. (Bestand EL 75 VI d) enthält sie insbesondere eine Desweiteren werden auf dem Blatt die zur Auf- umfangreiche Sammlung von Papierabzügen auf nahme gehörigen Autobahnabschnitte bestimmt, Karteikarten (Bestand EL 75 VI a). Die verschie- die betroffenen Sachgebiete im Klartext listen- densten Bildtypen – Zeichnungen, Fotografien mäßig aufgeführt und über Zahlenchiffren den je- von Autobahnmodellen, Bildmontagen, Kalender- weiligen Referaten zugeordnet2, Bemerkungen blätter, Abbildungen aus Büchern, Luftbilder, Do- sind angefügt und schließlich ist das Entstehungs-

41 Bemerkungen zur Autobahnfotografie Bernhard Stumpfhaus

datum des Originals genannt. Es handelt sich also werden kann. Diese sinnliche wie formale Gleich- zunächst einmal um eine technisch orientierte behandlung der unterschiedlichen Vorlagentypen Sammlung. sorgt für sachliche Distanz. Es stehen die Fotogra- Mit der Reproduktion gehen der Materialcharak- fien zur Information bereit. Das Nachschlagewerk ter der Vorlagen, ihre originalen Bildqualitäten, bietet für die verschiedensten Aspekte eine Fülle die Kontrast- und Helligkeitsverhältnisse der Ori- an Nachrichten über die Entstehung der Auto- ginalfotografien, ihre glänzende oder matte, ihre bahn, ihre sich in der Zeit verändernden Planungs- vernutzte oder intakte Oberfläche verloren. Abge- und Bauformen, die variierenden Straßenbeläge, sehen vom Unterschied, dass die älteren Fotogra- die verschiedenen Baumaschinen und -techniken. fien schwarz/weiß, die jüngeren farbig auftreten, Als Teil einer Bilddokumentation verweisen die eignet den Bildern in Format und Erscheinung Reproduktionen auf das, was in ihnen sichtbar ist, Einheitlichkeit – ganz so, wie man es für ein Nach- das Faktische.3 schlagewerk erwartet. Ebenso ist der Modus der Hantierung verloren. Der fotografierten Zeich- nung in der Sammlung sieht man ihre Entstehung, Der Gebrauch der Bilder und ihre Aussage die handschriftliche Qualität der Bleistiftzeich- nung oder ihren weiteren Gebrauch nicht mehr Doch die Bilder haben auch ihre eigene Ge- an. Das Lichtbild eines Holzmodells lässt verges- schichte, erfüllen Zwecke außerhalb der Samm- sen, dass man um diese Arbeit herumgehen oder lung. So gingen sie in Auswahl kurz vor ihrer sich auf sie betrachtend niederbeugen konnte. Vereinigung zum Nachschlagewerk in den Band Mit dem eigentümlichen Charakter ist auch die 50 Jahre Autobahn in Baden-Württemberg4 ein, Geschichtlichkeit der einzelnen Fotografien als eine im Auftrag des damaligen Autobahnamtes Objekte, der Zeichnungen und Montagen als Baden-Württemberg erstellte Publikation aus Originale oder der raumgreifenden Holzkonstruk- dem Jahr 1986. Als historische Illustrationen er- tionen aufgehoben in der Reproduktion. Wir füllen sie hier weniger den Zweck einer Doku- sehen in den vorliegenden Fotografien eine Zeich- mentation für bloße Sachgegebenheiten als nung mit demselben Blick wie den dreidimensio- vielmehr auch den, einen geschichtlichen Rück- nalen Entwurf einer Landschaft mit Brücke aus blick auf das Geleistete atmosphärisch anschaulich Holz, den fotografierten Buchauszug genauso wie zu machen. Auch in anderen, älteren Publika- die Liveaufnahme einer Landschaft vor Ort. tionen lassen sich Bildveröffentlichungen aus der Die kleinen Dimensionen, die gleichförmige Äs- Sammlung nachweisen. thetik vereinheitlichen diese Nachbildungen so, Was ist der Gebrauch dieser Bilder und wie ver- dass zwischen dem schönen Bild, also der fotogra- hält es sich in diesem Zusammenhang mit dem fisch versierten und gelungenen Bildkomposition, Faktischen, der in den Bildern aufgezeichneten einerseits und der schönen Dokumentation, der Sache? Diese Fragen erhellen sich durch den oben kompositionell zwar nicht ansprechenden, dafür genannten Umstand, dass die verschiedensten aber zweckmäßig und gut sichtbar aufgenomme- Vorlagen zu einer technisch orientierten Samm- nen Sache andererseits kaum noch unterschieden lung zusammengetragen und vereinheitlicht

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wurden, gleichzeitig aber auch der Öffentlich- stellentätigkeit prägnant bezeichnenden Bildun- keitsarbeit dienten. Nun stellt sich die Frage, wie terschrift. Offensichtlich entfalten die Bilder den diese Vorlagen überhaupt so vereinheitlicht wer- umfassenden Bericht zu Beginn illustrierend. den konnten und was das für ihren Sachcharakter Allerdings, da sich das Buch eben auch an das all- und ihren Aussagegehalt als Fotodokumentation gemeine Publikum wendet, sollen die Fotografien bedeutet? Was befähigt dieselben Fotografien zu durch Vorstellung der Schönheit und Größe der einem Gebrauch einmal für den technisch versier- aktuellen Bauvorhaben beeindrucken und durch ten Spezialisten, ein anderes Mal für das weniger den landschaftlichen Reiz der Straßen bestechen. fachlich interessierte Publikum? Im Nachfolgen- Kurzum, die Bilder hier haben auch rhetorische den sollen einzelne Stationen auf dem Weg der Funktionen: aufzuklären, zu erfreuen und zu Autobahnfotografie zum technischen Nachschla- überwältigen. Vor allem letztere Funktion wird of- gewerk thesenhaft skizziert werden. fensichtlich, schaut man sich den umfangreichen Doch zunächst einmal, um gleichsam experi- Werbeteil der Veröffentlichung an: Die werbenden mentell den Blick und das Verständnis der vorlie- Ablichtungen sind nicht zu unterscheiden vom genden Fotografien zu schärfen, werden einige Katalog. In einem Fall findet sich sogar ein und Beobachtungen vorausgeschickt zum Gebrauch dieselbe Abbildung einer Neckarbrücke einmal als und der davon abhängigen inhaltlichen Bedeu- Illustration im Katalogteil des Buches, ein anderes tung der Autobahnfotografie. Mal als Werbung für eine Bauunternehmung aus Abbildungen aus der Sammlung finden sich Stuttgart.7 Der rhetorische Einsatz entfernt die wieder in Publikationen wie etwa Straßen und Fotografie von der reinen, sachlich angeleiteten Brücken im Lande Baden-Württemberg aus dem Dokumentation, so dass es die Intention ihres Ge- Jahr 1956.5 Dieses Werk hat, so der Herausgeber brauchs wie ihre Vergesellschaftung sind, die dar- im Vorwort, die Anliegen, zum einen die Baufort- über entscheiden, ob das einzelne Foto dieses oder schritte seit dem Krieg darzulegen, zum anderen jenes aussagen soll: zum einen dokumentiert es die Gedankengänge aufzuzeigen, welche die Not das vom Straßenbauamt verwirklichte Autobahn- des Straßenbauwesen einer zukunftsweisenden projekt, zum anderen wirbt es für die besonderen Lösung zuführen, einer Lösung, die nur mit dem Fähigkeiten eines Unternehmens. Das Faktische Verständnisse(s) des ganzen Volkes erreicht werden im Bild, die Brücke, ist jeweils von völlig anderem könne.6 Und so richtet sich das Buch nicht nur an Aussagewert. Fachleute, sondern auch an die breite Öffentlich- Noch zwei weitere, kategorisch unterschiedene keit. Nach einem umfassenden Textteil, welcher Beispiele – diesmal jenseits der hier diskutierten die Autobahn als ein enzyklopädisches Unterneh- Sammlung – können vertiefend anschaulich men zwischen Geologie, Soziologie, Geschichts- machen, wie geduldig die Fotografie ihrem Zweck schreibung, Rechtswesen etc. vorstellt, folgt der und damit Aussagegehalt gegenüber steht: Bildteil des Bandes, der beinahe die Hälfte des Bu- In der Fotosammlung des Landesamts für Stra- ches umfasst und die Arbeit des Straßenbauamts ßenwesen finden sich häufiger Abbildungen von fotografisch präsentiert, versehen allein mit einer leeren oder äußerst spärlich befahrenen Autobah- den abgebildeten Straßenabschnitt oder die Bau- nen.8 Sie dokumentieren Trassierungen, Fahr-

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bahndecken oder Leitplankenbestückungen. Für lichen Fahrverbots ebenfalls Autobahnstrecken sich genommen sind diese Fotografien von leeren ohne Verkehr ablichten. (Abb. 1) Doch anders als Straßen wenig spektakulär. Die Leere der Fahr- jener technisch orientierte Lichtbildbeleg will bahn erklärt sich offensichtlich aus der Absicht dieses Bild etwas anderes mitteilen: Das Pressefoto des Fotografen, gewährt die unbefahrene Straße demonstriert dem Leser, wie ein Fahrverbot auf doch den ungestörten, analytischen Blick auf ihre den Straßen durchgesetzt und eingehalten wird. Qualitäten und Eigenheiten. Solche Bilder geben Zeugnis für die tiefgreifende Erstaunlicherweise gibt es kaum Unterschiede zwischen solchen Aufnahmen aus der Sammlung der verantwortlichen Autobahnbauer und Presse- 1 | Autofreier Sonntag. Blick auf das leere Autobahnkreuz Duis- burg-Kaiserberg. Wegen der Ölkrise wurde am 02.12.1973 zum fotografien, welche etwa zeitgleich zur ersten zweiten Mal ein sonntägliches Fahrverbot verhängt. Ölkrise 1973 als Beleg für die Folgen des sonntäg- ©dpa – Bildarchiv

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Wirkung der Krise, denn sie zeigen die leeren Au- tigen, jede Gliederung des Bodens zu nivellieren 9. tobahnen als einprägsames Symbol: Ausgerechnet Stattdessen fordert der Autor die schöne Straße sie als nationale Identifikationsbauten wurden im Sinne einer harmonischen Eingliederung der- ihrer regulären Nutzung beraubt! Leere Schnell- selben in die Landschaft; dazu gehört insbeson- straßen waren nicht nur romantisches Idyll für dere die Bepflanzung: Eine Straße aber muss neugierige Fußgänger und ironisch gesonnene Bäume haben, wenn anders sie eine deutsche Straße Technikskeptiker, sie waren auch eine Drohung sein soll.10 Seine These plausibel zu machen be- und zeigten, wie sehr man vom Auto, vom Waren- dient sich Seifert eines Evidenzbeweises. Er stellt transport, als Bedingung des kollektiven wie indi- stillschweigend, ohne weitere Erklärung im Text, viduellen Wohlstandes abhängig war. Andererseits auf einer aufgeschlagenen Buchseite zwei Fotogra- zeigen diese Bilder auch die politische Entschlos- fien jeweils völlig unterschiedener Straßen gegen- senheit der Industrienation, sich machtvoll dem über. (Abb. 2) Links oben sehen wir als Straße an Würgegriff des Ölembargos durch Mäßigung des der Nordseeküste eine Allee strubbeliger Bäume. selbstverständlichen Gebrauchs von Autos zu Der Blickpunkt ist leicht erhöht, so dass wir die entziehen. Die Ablichtungen verwaister, ruhig da- Straße in die Tiefe verfolgen können, zwischen den liegender Autobahnen konnten ihre komplexe Bäumen hindurch in eine weite Landschaft blick- Wirkung entfalten, weil sie im Kontrast zu den Er- end, die von einer Staffel Telegrafenmasten so ge- fahrungen der täglich autofahrenden Menschen gliedert ist, dass sich der Rhythmus der Bäume in standen. Der fotografische Blick auf die leere ihnen zu wiederholen scheint. Rechts unten sehen Autobahn inszeniert wirkungsvoll den spannungs- wir mit sehr niedrigem Blickpunkt und hohem vollen Widerspruch zum Erlebnis im Verkehr und Horizont als Die erste deutsche Kraftfahrbahn: Die entfaltet darin seine politische Dimension. Autostraße Köln-Bonn, erbaut 1932/33 die Auf- Der rhetorische Gebrauch, der Bildern den Ge- nahme einer Fahrbahn, die schnurstracks im halt eigentlich erst manifestiert, liegt nicht allein rechten Winkel, unfallartig zum Horizont führt. in ihrem demonstrativen Einsatz, als dokumen- Perspektivisch nimmt der Bildanlage gemäß der tarischer Beleg, als Werbung oder Pressenotiz. triste Belag als breiter Vordergrund beinahe die Fotografien können auch argumentativ durch Ver- gesamte Bildfläche ein und ein paar dürre Büsche gleich mit anderen Lichtbildern eingesetzt wer- stehen verloren rechts an den Rand gedrückt. Die- den: In seiner 1934 erstmalig publizierten Schrift ser argumentativ gemeinte, gleichzeitig polemi- Natur und Technik im Deutschen Straßenbau sche Bildvergleich Seiferts spielt das Faktische der plädiert Alwin Seifert, als Reichslandschaftsanwalt Fotografie gegen ihre bezugsgebundene Aussage Mitarbeiter des Generalinspektors für das deut- aus.11 Das eine, dokumentarisch gemeinte Bild soll sche Straßenwesen Fritz Todt, für die naturnahe hässlich wirken neben dem anderen, genauso do- Technik des deutschen Straßenbaus. Seine Haupt- kumentarisch gemeinten. Der Autor rechnet nicht polemik richtet sich gegen eine bloß technische, mit einer kritischen Bildanalyse seiner Leser, son- mathematisch rechnende Ingenieurskunst, deren dern mit dem realistischen Reflex des Betrachters, Ziel es sei, die Landschaft dem Reißbrett gleich- der die Fotografie gleichsam als Fenster nimmt zumachen, Baum und Busch und Feldrain zu besei- und wörtlich auf die Straße zu blicken meint:

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‚Das ist die Allee in Norddeutschland!‘ ‚Das ist die Autobahn zwischen Köln und Bonn!‘ Die genannten drei, völlig verschiedenen Zu- sammenhängen entnommenen Beispiele zeigen, dass eine Fotografie zwar geduldig, aber nicht gleichgültig gegenüber ihrem Gebrauch ist. Ein und dasselbe Bild kann im ersten Fall stolzes Do- kument geleisteter Bauarbeiten sein oder als Ver- künder für die Fähigkeiten eines werbetreibenden Unternehmens dienen. Dieselbe Motivwahl fun- giert im zweiten Beleg einmal als nüchterne Be- standsaufnahme von Gegebenheiten vor Ort, einmal als hochbrisante Pressenotiz. Und im drit- ten finden sich zwei völlig verschiedene Aufnah- men polemisch in den Dienst eines Argumentes gestellt, indem die Sinnebenen der Ablichtungen gegeneinander ausgespielt werden. Dieser exemplarische Durchlauf zum Gebrauch einer Fotografie zeigt ihre inhaltliche Anfällig- keit gegenüber deren Verwendung. Selbst die bloß faktische Betrachtung birgt die Gefahr, die Ästhe- tik eines Lichtbildes und damit seine mit ge- meinte Intention zu übersehen. Doch was heißt ‚bloß faktisch‘? Für das erste Exempel gilt das Fak- tische in der unterschiedlichen Zuordnung der Autorschaft. Am Beispiel der Presseaufnahme zur Ölkrise besteht die Dokumentation im sonntäg- lichen Verbot des üblichen Verkehrs. Das Faktische hier ist die nichtbefahrene Autobahn. Anders verhält es sich bei den Dokumentationen in der Fotosammlung. Hier ist das Faktische der Verlauf der Trassierung, die Anbringung der Leitplanke. Und im dritten ist das Faktische die Ästhetik selbst, das Schöne der Straße, das Hässliche einer anderen.13 Eine Reflexion auf die zum Nachschlagewerk 2 | Textabbildungen in: Alwin Seifert: Im Zeitalter des Lebendigen. transformierten Bild-Archivalien käme also nicht Natur, Heimat, Technik. München 1941, S. 16, 17. umhin, die Geschichte der Fotografien um eben

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diesen, ihren spezifischen Gebrauch zu erweitern. a) Ihre Ästhetik Er bestimmt darüber, was zu sehen ist und was die Fotografien jeweils bedeuten.14 Bei der Sichtung der Fotografien in der überliefer- ten Dokumentation des Landesamts für Straßen- wesen fällt auf, dass die meisten Bilder sich mit Stationen der Autobahnfotografie der Autobahn in der Landschaft als beobachtetem Objekt beschäftigen. Es sind Aufnahmen aus der Erschwerend bei der Bestimmung der Bilder Distanz auf die Straße, meist mehr oder weniger kommt hinzu, dass für ihr Hauptmotiv, die Auto- von oben herab. Perspektivisch ist damit kaum bahnen in ihren verschiedenen Entwicklungs- der Blick aus dem Auto, schon gar nicht aus dem phasen und Zuständen, der Status bis heute nicht fahrenden heraus gemeint. Wie dieser aussieht, eindeutig bestimmt ist. Auf der einen Seite gelten davon geben uns die Fotografien von Angela Jain sie als Werk von Ingenieuren, als mathematisch eine Ahnung.19 Fotografie als ein stehendes angeleitete Industrieprodukte.15 Auf der anderen Medium hat es schwer, Geschwindigkeit zu ver- Seite haben sie ihre Vorläufer in der Konzeption mitteln. Wenn sie es tut, dann sieht die Umge- von Parkwegen, sind also Teil des ästhetischen Ar- bung streifig verwaschen aus. Was wir aber auf rangements: Park oder weitergefasst: der Land- den Fotografien sehen, sind scharf gestellte Details schaft16 und wurden seitdem immer wieder dem der Autobahn oder einen gleichsam kontemplati- Kunsthandwerk oder gar der Kunst zugerechnet. ven Blick in die Landschaft, in die sich die Straße Von hier aus leuchtet ein, dass die Autobahnfoto- hinein schlängelt. Das geeignetste Medium, das grafie ästhetisch sehr unterschiedlich ausfällt; die Schnellstraße als Ort von Geschwindigkeit denn je nach Auffassung wird die Dokumentation und Beschleunigung darzustellen vermag, ist wohl eines Kunstwerkes anders angelegt sein als dieje- der Film. Er allein scheint, aufgrund seiner Mög- nige von einem technischen Erzeugnis. Und auch lichkeit, Bilder in hoher Frequenz ablaufen zu las- hier kommt es darauf an, wie die fotografische sen, dazu befähigt, Bewegung in Beschleunigung Dokumentation der Autobahn wirken soll. Inter- und hoher Geschwindigkeit als solche sichtbar zu essanterweise markieren die unterschiedlichen machen. Zudem kommt, dass der fotografische ästhetischen und die technischen Auffassungen Blick vorn aus der Windschutzscheibe als Vorder- von der Autobahn nicht die Wende zwischen Na- grund einzig die breite Fahrbahn bietet20, dagegen tionalsozialismus und Bundesrepublik, zwischen kaum etwas von der Straße in der Landschaft. Reichsautobahn (RAB) und Bundesautobahn Schaut man sich hingegen die Fahrbahnaufnah- (BAB); der Wechsel findet nicht abrupt statt.17 men in der Bildersammlung (s. Kat. Nr. 2–18) an, Vielmehr ist dieser Zwiespalt mit jeweils anderen so erscheinen sie meist proportioniert im Bild, Konnotationen während der ganzen Entwicklung ohne den störenden Vordergrund und lassen noch dieses Verkehrsweges hin nachweisbar.18 ihr Linienspiel in der Ferne erkennen. Dennoch vermitteln einige der Lichtbilder durchaus einen Eindruck von Geschwindigkeit. Denn die weitläufigen Trassen erzeugen einen un-

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geheuren Tiefensog. Das Auge braucht meist nur in einer bequemen Blickbewegung leicht durch das Bild zu schwenken und schon hat es augen- blicklich in der Darstellung mehrere Kilometer Wegs durcheilt. Der Effekt von Geschwindigkeit entsteht neben den fluchtenden Linien hier vor allem durch den Kontrast zwischen Autobahn und Landschaft. Die Straße bietet aufgrund ihrer eben- mäßigen Beschaffenheit kaum Details, so dass der Blick gleichsam ungehemmt die Fahrbahn im Bild entlang gleiten kann. Anders verhält es sich bei der umgebenden Natur. Sie enthält eine Fülle an Kleinigkeiten, Blätter und Zweige im Vorder- grund, Gras zuweilen, Wälder, Gebirgszüge im Hintergrund, manchmal Wolken am Himmel. Der Eindruck von Geschwindigkeit entsteht hier auch im Kontrast zwischen dem Detailreichtum der 3 | Holzbrücken verschiedener Konstruktion bei Machern, 1837 Natur und der Gleichförmigkeit der Trasse. An- (Vorlage: Norbert Kempke: In 220 Minuten von Leipzig nach Dres- den, 1989, S. 11) ders als der Film, der die beschleunigte Bewegung des Autos nachvollzieht und damit die Landschaft in der Nähe auf Flächen und Linien reduziert, Lichtbilder können in ihren wohlgeratenen Ge- in der Ferne zu einem Miniaturereignis im per- staltungen als kunstvolle Aufnahmen mit Recht spektivisch sich kontinuierlich verändernden Raum der Landschaftsfotografie zugerechnet werden. verzerrt, bietet die Fotografie etwas, dass es Für die Bilder heißt das, ihr Gegenstand ist weni- außerhalb ihrer nirgends gibt: die ästhetische Ver- ger die Autobahntrasse, auch nicht die Landschaft, söhnung von Geschwindigkeit und Ruhe. Der sondern deren Zusammenspiel, denn dieses erst Bildbetrachter ist in der Lage, sich im Nu in die ergibt, wie bereits angesprochen, jenes reizvolle Tiefe der Landschaft gezogen zu fühlen und dabei Paradox von Geschwindigkeit und dauerhafter gleichzeitig zu verharren, um Einzelheiten der Betrachtung. Natur zu gewärtigen. Zweifellos finden wir Vor- läufer dieser Art, Geschwindigkeit und Detail- b) Ein Bild von einer Autobahn reichtum zusammenzusehen, bei Grafiken der Eisenbahn (Abb. 3) seit der Mitte des 19. Jahrhun- Besonders in der Zeit des Nationalsozialismus ist derts oder auch in impressionistischen Malereien diese künstlerische Form der Autobahnfotografie etwa eines Gustave Caillebotte21. zu gewärtigen. Immerhin wurde ja nicht nur vom Wie ihre künstlerischen Vorläufer wollen Foto- Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, grafien von der Autobahn in der Landschaft meist Fritz Todt, zur Unternehmung der Reichsauto- selbst kompositorisch ansprechend wirken. Die bahn festgestellt: Eine Straße ist ein Kunstwerk in

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der Landschaft.22 Dieses in der Kunstgeschichte Mensch und Werk. Gegen Ende ist eine Doppel- wohl erste staatliche Projekt der landart, zu dessen seite platziert (Abb. 4); sie zeigt links eine ent- künstlerischem Urheber der Führer höchst selbst fernte Fahrbahn durch eine Landschaft, gerahmt mythisch im Sinne romantischer Genieästhetik von Wäldern, im Vordergrund quer die Schienen stilisiert wurde, fand seinen Niederschlag in diver- der Reichsbahn, rechts ein Landschaftsbild mit sen Publikationen. Werke wie Das Erlebnis der geschwungener Fahrbahn im Wald. Unter dem Reichsautobahn oder Reichsautobahn. Mensch und Werk betonen schon im Titel den ästhetischen Charakter dieses Projektes und feiern seine künst- lerische Verfassung in Wort und vor allem Bild. Sie geben Zeugnis von jenem harmonischen Zu- sammenspiel von Technik und Natur, hier als Ausweis einer spezifisch deutsch-völkischen Raum- ordnung, die als beispielgebend für die Ein- Nordung der im Krieg unterworfenen Völker und Nationen zu gelten hatte.23 Auch in Jahreskalen- dern, welche die fotografischen Kompositionen und Motive als gedruckte Grafik und Zeichnung wiederholen24, in Ölgemälden, die den Kunstge- schmack des Führers in besonderer Weise trafen25, in besonders inszenierten Ausstellungen von Autobahn- und Brückenmodellen26 wurden die Fernschnellstraßen als Kunstwerke verherrlicht. Der Charakter der Autobahnfotografie als Land- schaftsbild geht, wie gesagt, von seiner beson- deren Perspektive aus. Im Vordergrund wird eine Breitenführung der fotografisch nicht sehr an- sprechenden Fahrbahnoberfläche im Allgemeinen durch einen erhöhten Augenpunkt vermieden. Der Blick kann die Trasse in der Landschaft bis zum entfernten Horizont über einige Distanz begleiten, so dass ihr unmittelbarer Verlauf nach- vollziehbar ist – für den Fahrbahnnutzer, den Autofahrer, ein utopischer Standpunkt. Es wäre zu kurz gegriffen, die Fotografien der Reichsautobahn allein propagandistischen Zwecken zuzuordnen. Das belegt ihr vielseitiger Gebrauch; so zum Beispiel im Fotoband Reichsautobahn.

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4 | Erna Lendvai-Dircksen: Reichsautobahn – Mensch und Werk, Bild rechts steht, die Idylle dieser beiden Szenen 1937, o.S. (S. 101, 102) (Aufnahmen: Erna Lendvai- stimmungsvoll erläuternd: Wer auf solchen Stra- Dircksen) ßen zieht, dem versinkt in fliehender Eile / der Kirchturm seines beengten Daseins in versöhnender Ferne.27 Eben dieselben Arbeiten, ebenfalls als Doppelabbildung, wurden in den ausdrücklich für den straßenplanenden Fachmann bestimmten Band Trassierungsgrundlagen der Reichsautobahnen von 1943 übernommen. Dieses Heft zeigt unter anderem modellhaft Verfahren, die eigens entwick- elt wurden, um die ästhetische Wirkung der Reichsautobahn von Baubeginn an überprüfen zu können.28 Im Artikel Gedanken zur Ästhetik der Linien- und Gradientenführung von Fritz Heller29, wird jene Doppelseite erneut abgedruckt. Hier sind jedoch nicht nur die Bildunterschriften geändert, diesmal die Art der Streckenführung bezeichnend.30 Die darin gezeigten Trassen werden auch einer ausführlichen ästhetischen Kritik unterzogen. Abbildung 1 (die entfernte Straße mit Schienen im Vordergrund) wird in ihrem Verlauf als unste- tig, Abbildung 2 (die Strecke im Wald) als stetig diskutiert.31 Abbildung 1 erfährt neben ihrer Ana- lyse noch eine schematische Umsetzung in einem Höhenplan. Für Abbildung 2 werde die erkenn- bare ästhetisch erwünschte Stetigkeit erreicht. Sie realisiere das Idealbild einer Streckenführung. Denn die Harmonie des Linienflusses als das zu erreichende Ziel einer jeden Autobahnführung wird verwirklicht, so der Autor, wenn die Ände- rung der einander folgenden Elemente (i.e. Graden, Kurven) sowohl in ihrer Form als auch hinsichtlich ihrer Größe sich stetig vollziehen. In diesem Sinne haben die Autobahningenieure diese Beziehungen (von Form und Größe) bereits bei der Entwurfs- bearbeitung einer Strecke im Lage- und Höhenplan (zu) berücksichtigen.32 Konsequenz einer Fehl-

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planung wäre, so Heller weiter: Missverhältnisse Straßenführung und als Sehschulung für den In- im Entwurf haben Missverhältnisse im Bild der genieur. Nimmt man den Befund einer Erst- fertiggestellten Bahn zur Folge.33 Und um klarzu- publikation für die breite Bevölkerung dazu, ließe stellen, wie dies aussähe, fährt der Verfasser einen sich überspitzt die These formulieren, dass die Satz später fort: Wie die beigegebenen Abbildungen Reichsautobahn gebaut wurde weniger für den zeigen, ist das Auge für solche Störungen eines Verkehr, zum Nutzen des Transportes oder des harmonischen Linienverlaufes außerordentlich Autofahrers, als einzig um fotografiert zu werden. empfindlich.34 Die Fotografie wird hier also aus- Ihre Schönheit ist eine des Bildes. drücklich als Korrektiv des Ingenieurs erwähnt Allerdings müssen solche Fotografien, wollen und eingesetzt. sie für den Ingenieur vorbildlich sein, durchaus Diese Engführung von Bild und Planung zeitigt auch ihre Gesetzmäßigkeiten erfüllen. Im Sinne ein solches Bündel von Implikationen und Folge- der ausdrücklich angesprochenen Bauhütten- und rungen, dass es lohnte, weitere Forschungs- Renaissanceästhetik36 ist dem Autor Heller der arbeiten zum Verhältnis Autobahn und Lichtbild Autobahnbau einem mittelalterlichen Dombau- anzustoßen. Hier ist nur Raum für thesenhafte projekt vergleichbar, in welchem Wissenschaft Bemerkungen: Zum einen fällt auf, dass Heller Ab- und Kunst sich zu einem monumentalen Werk bildungen eines folkloristischen Bildbandes zum vereinen. Das ‚Bild der fertiggestellten Bahn‘ darf Bau der Autobahn in seine fachmännische Ab- also nicht nur ästhetisch überzeugend, sondern handlung übernimmt. Offensichtlich wird als muss auch perspektivisch ‚richtig‘ sein. Auch auf Adressat der Autobahnfotografie nicht allein das diesen Punkt geht die erwähnte Sondernummer Volk mit oder ohne Auto35 angesprochen, sondern der Zeitschrift Die Straße zu den Trassierungs- auch derjenige, welcher verantwortlich die Auto- grundlagen ein. Hans Lorenz fasst hier37 einen be- bahn plant und baut. Des Weiteren überrascht, reits im April 1941 in Die Straße publizierten dass der Autor diese durchaus im Sinne einer Artikel38 von Viktor von Ranke zur Raumperspek- spezifischen Propaganda gemeinten Abbildungen tive, der maßstäblich korrekten Umsetzung einer vergleichend nebeneinander hält, sie als Doku- dreidimensional gekrümmten Fahrbahn auf der mentationen wertet und in seinem ästhetischen Fläche, zusammen. Diskutiert wird, wie man Gutachten zur Stetigkeit der Linienführung kri- planend eine in der Ebene zur Kurve gekrümmte tisch vergleicht. Zudem wird deutlich, dass die und gleichzeitig in einer welligen Landschaft auf- Fotografie in diesem Kontext als die zentrale ästhe- und ablaufende Fahrbahn richtig darstellt. Von tische Kontrollinstanz auf dem Weg der Ent- Ranke findet hier eine im Auf- und Grundriss wicklung immer harmonischer durchgeführter jeweils unterschiedlich verzerrte, aber aufeinander Autobahnen zu werten ist – Autobahnen, deren bezogene Maßstäblichkeit, abhängig von der fest- Schönheit sichtbar wird ‚im Bild der fertiggestell- gelegten Entfernung des Betrachterauges. Ziel ten Bahn‘, welches dann als Vorlage für weitere der sogenannten Raumperspektive ist die Kontrolle Fortschritte zu nehmen ist. Die Fotografie fun- der Harmonie des Linienflusses, will sagen ihrer giert hier in ein und demselben Zusammenhang Stetigkeit im Landschaftsraum. Bemerkenswert in gleichzeitig als Dokumentation einer bestimmten unserem Kontext ist, dass von Ranke als Beleg für

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die korrekte Anwendung seiner Raumperspektive sance-Ästhetik, die von einer schematisch ent- die beschriebene Methode auf eine Fahrbahn an- wikkelten und dann im Bild umgesetzten mathe- wendet, die einmal grafisch konstruiert, dann matisch-geometrischen Grundstruktur der gezeichnet und schließlich in Fotografie gezeigt Perspektive ausgeht. Der Referenzpunkt bleibt, wird. Eine Strecke von rund 6 km Blicktiefe ließ sich wie gesagt, die Fotografie: vom Bild ausgehend hier in einigen Stunden bildlich darstellen. Zum wird für das Bild geplant. Vergleich wurde sie vom gleichen Blickpunkt aus auch im Lichtbild festgehalten.39 Die zur Überprü- c) Die Optik der Straße fung der Richtigkeit seiner sphärisch verzerrt an- gelegten Trassengrafik mitgelieferte fotografische Von hier aus mutet die nach dem Krieg einset- Abbildung trägt die erklärende Begleitschrift: zende Kritik an der Irrationalität nationalsozialis- Das Lichtbild beweist, dass die raumperspektivische tischen Bauens verständlich an. Vor allem der von Darstellung mit der Natur übereinstimmt.40 Man Seebohm, dem Bundesminister für Verkehr kann es kaum deutlicher zeigen, dass die Fotogra- (1949–1966), formulierte Vorwurf, die Reichs- fie Vorbild für die technische wie ästhetische Kon- autobahn sei zu sehr als Selbstzweck behandelt zeption der Linienführung fungiert. Im Fall von worden, man hätte zu wenig auf Wirtschaftlichkeit Rankes wird das Lichtbild, vielmehr die in ihr und Funktionalität geachtet, trifft insofern einen gezeigte Landschaft, expressis verbis als wörtlich zu zentralen Aspekt, als der Selbstzweck seit der nehmendes Substitut der Natur selbst aufgefasst; Aufklärung bekanntlich zu einer wesentlichen Ka- womit er solche bildrhetorischen Verfahren, wie tegorie für das Kunstschöne erklärt worden ist. wir sie bei Seifert eingangs besprochen haben, im Funktionalität, Notwendigkeiten für Transport Nachhinein legitimiert. Nirgends wird auch nur und Verkehr dürften in der Tat nicht die dring- mit einem Wort darauf reflektiert, dass das mit lichsten Aufgaben gewesen sein für eine Haltung, der Kamera aufgenommene Bild selbst perspekti- deren Hauptaugenmerk auf der Harmonie vischen Verzerrungen unterliegt – je nach Objek- und Stetigkeit des Linienflusses der Fahrbahn in tiv, Weitwinkel-, Normal- oder Teleobjektiv, mal der Landschaft gerichtet war, um ein Bild von mehr, mal weniger spürbar41, ganz zu schweigen einer Autobahn zu schaffen. Der Paradigmen- von einer Diskussion des richtigen Standpunktes, wechsel wird deutlich in der Kritik an der Gestal- von welchem man die Fahrbahn aus am besten tung des Albaufstieges an der Autobahnstrecke darstellen könne. zwischen Stuttgart und Ulm: Erst dann ist eine In unserem Zusammenhang bleibt zu bemerken, Straße für uns brauchbar, wenn sie nicht um dass von Ranke die raumperspektivische Kon- irgendwelcher schöner Aussichtspunkte willen über struktion einer Trasse überführt in eine Landschafts- die höchsten Spitzen der Berge geführt wird, son- zeichnung, die dann wiederum in der Fotografie dern wenn sie dem Verkehr dient, und zwar im von derselben Autobahnlandschaft realisiert Wesentlichen dem Last-, und damit wieder dem erscheint. Auf diese Weise verwirklicht von Ranke schweren Lastverkehr.42 an sich selbst das Selbstverständnis der für den Folgen dieses veränderten Ansatzes des Auto- Bau der Reichsautobahn propagierten Renais- bahnbaus sind vor allem seine Rationalisierung in

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Hinsicht auf die Modernisierung der Forschungs- schen Verkürzungen und Stauchungen, vor allem arbeiten, der Systematisierung der Planung mit aber optischen Täuschungen. Der Straßenbauer den Zielen von Sicherheit und Wirtschaftlichkeit. hat seine Aufgabe noch nicht ganz erfüllt, wenn er Der Verwissenschaftlichung des Straßenbaus die Straße dem Gelände entsprechend entworfen dienen nunmehr quantifizierende Methoden als hat, sondern er darf erst dann zufrieden sein, wenn Grundlage der Analyse, in welcher Zahlen, er dafür gesorgt hat, dass der Fahrer die Straße so Grafiken und Formeln auch als Kommunikations- sieht, wie er sie sehen soll, damit er sein Verhalten strategien verstanden werden.43 richtig und mühelos darauf einrichten kann. Der Fotografie kommt in diesem Zusammenhang Diese kurzen Bemerkungen zur Aufgabe des Au- zweifellos eine veränderte Funktion zu. Immer- tobahnplaners zeigen deutlich, dass es nun nicht hin, schaut man sich die einschlägigen Publikatio- mehr das schöne Bild von der Autobahn in der nen zu Trassierungsverfahren und -darstellungen Landschaft ist, dass es zu erreichen gilt, sondern es auf den Gebrauch der Fotografie hin durch, so gilt auch das Bild des Fahrers, das er von der Fahr- fehlt ihr emphatischer Gebrauch als Kontrollin- bahn empfängt und sich macht, mit zu berück- stanz im Sinne der oben beobachteten Gleich- sichtigen. Nicht die ‚im Bild der fertiggestellten stellung mit der Natur. Bahn‘ sich erfüllende Straße ist Ziel der Planung Es begegnen uns in dem Standardwerk zur Pla- und des Baus, sondern das Bild im Kopf des Be- nung und Darstellung von Autobahnen Trassie- trachters: Aber, der Fahrer sieht die Straße nur in rung und Gestaltung von Straßen und Autobahnen44 perspektivischen Bildern, die in dauernder Verände- von 1971 erwartungsgemäß vor allem Grafiken, rung vor ihm her wandern. Diese filmische Perzep- Tabellen und schematisch angelegte Modelle für tion des Automobilisten von der Fahrbahn, die die verschiedenen Belange der Straßenplanung Optik der Autobahn, ist defizitär, wie wir gesehen und -begutachtung. Das Kapitel zur Optik der haben, und bedarf der Korrektur nämlich: dass Straße widmet sich weniger Fragen nach der Schön- er sieht, wie er sehen soll. Das heißt der Straßen- heit der Linienführung als eher solchen nach den bauer plant und baut nicht nur in Hinsicht auf Blickwinkeln des Fahrers auf der Fahrbahn. Es das mangelhafte Trugbild einer Straße im Kopf wird deutlich unterschieden zwischen der Sicht- des Fahrers, sondern in Hinsicht auf ein vorher weise der Planer und der Nutzer der Autobahn: richtig gestelltes mathematisch angeleitetes Bild Würde der Fahrer die Straße ebenso sehen, wie ebendort. Der erste Schritt im Hinblick auf die sie in den Plänen dargestellt ist, gäbe es nicht das Verwirklichung dieses Vorhabens ist, dem Fahrer Problem der Optik der Straße.45 Anders als für Hel- eine fassbare Norm zu verordnen: Das dauernde ler und Ranke beschrieben, wird hier die Optik Mitdenken des Fahrers verlangt eine vor seinem der Straße bestimmt nicht nach dem, wie sie im Auge vorauslaufende Erfahrungssichtweite des Bild erscheint, sondern wie sie der Fahrer sieht.46 Fahrbahnverlaufs.47 Und es ist klar, dass diese ma- Allerdings sieht dieser die Straße nur mangelhaft, thematisch und tabellarisch bestimmt ist. Die ohne dass ihm das Maß der Krümmungen, der Bildunterschrift macht deutlich, was dieses Zah- Längsneigungen, Ausrundungen bekannt oder er- lenschema der Erfahrungssichtweite meint: sichtlich ist. Der Fahrer erliegt den perspektivi- Tabelle 45. Erfahrungssichtweite. Sie soll in Kurven

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auf Kuppen dem Fahrer einen hindernisfreien Über- ßenrandbebauung, Wettereinflüsse, Sichtweiten blick über den Fahrbahnverlauf geben.48 und verschiedene Formen der Beleuchtung. Es wird also nicht allein der Autobahnbau in der Zur Darstellung des Fahrerblicks gehört hier auch Bundesrepublik rationalisiert und mathematisiert, eine wahrnehmungspsychologische Grafik, die sondern ebenso der Automobilist. Auf Seiten der dem Storyboard eines Filmes ähnlich53 den Auf- Produktion wird die Straßenführung nach der Ta- merksamkeitsbereich des Fahrers beim Blick belle ausgerichtet49, gleichzeitig muss, was übri- durch die Windschutzscheibe darstellt, welches gens heute noch zum Lehrplan jeder Fahrschule angesiedelt wird innerhalb eines Rechteckes, das gehört, auf Seiten des Autobahnkonsumenten das man sich in der Größe 10 x 16 cm auf der Wind- fahrende Sehen ebenfalls mathematisierten Wahr- schutzscheibe denken kann.54 Das entspricht bei- nehmungsparametern anpasst sein. Im Grunde nahe der üblichen fotografischen Ratio von 4:3. genommen kann man das gesamte Kapitel zur Wir sehen hier zeichnerisch, der Windschutz- Optik der Straße als eine Bestrebung ansehen, der scheibe eingeschrieben, ein winziges Rechteck, das Perspektive des Autofahrers wissenschaftlich Herr die fokussierte Konzentration des Fahrers vor- zu werden. stellen soll; links daneben vergrößert die verschie- So ist festzustellen, dass entgegen der Sichtwei- denen Landschaften, die der Automobilist visuell sen der nationalsozialistischen Autobahnbauer50 durcheilt. (Abb. 5) hier von der prinzipiellen Perspektivität aller Zusammenfassend lassen sich diese Beobachtun- schematischen wie fotografischen Darstellungen gen im Gesamtkonzept der Zuordnung von Grafik in Raum und Zeit ausgegangen wird: Die Perspek- und Fotografie, von Tabelle und Fahrerblickblick tive sieht von jedem Standpunkt anders aus und als ein kulturpolitisch brisanter Wechsel für die dieser Standpunkt muss festgelegt werden, ehe mit fotografische Darstellung der Autobahn und der einer Perspektive begonnen werden kann.51 Tabel- Auffassung ihrer Aussage formulieren. Für die larisch vor Augen gestellt wird diese Multiperspek- Reichsautobahn gilt, dass sie sich einzig im Bild tivität im Kapitel zur Kombination von (Fahrbahn) realisiert. Hier wurde zwar die Konstruktion des Elementen. Hier ist eine im Raum gebogene Fahr- Bildes besprochen, nicht jedoch ihre Perspektivität. bahn mit Wanne und nachfolgender Kuppe aus Der nicht weiter hinterfragte Fokus auf die Auto- insgesamt neun Perspektiven, errechnet aus drei bahn lässt sich meines Erachtens erklären mit verschiedenen Augenhöhen und Breitenlagen, dem Künstlermythos des Führers, der die Auto- wiedergegeben. Die daraus resultierenden ‚Stra- bahn erfunden haben soll. Dieser wird vorbildlich ßenbilder‘ weisen eine beinahe surrealistische vom Schriftsteller im Bildband Veränderlichkeit auf und lassen kaum den gleichen Das Erlebnis der Reichsautobahn erzählt: Während Verlauf als Grundlage ihrer Projektionen erken- seiner Haft, als seine Bewegung zerschlagen war, nen. Gegen Ende des Bildtextes steht entsprechend als seine Gegner ihn selbst vernichtet hielten, als er zu lesen: Diese bescheidene Auswahl von nur neun das Buch der Deutschen schrieb, da schlug er auch Betrachterpunkten zeigt eine bemerkenswerte Viel- die Karte unseres Vaterlandes auf seinen Knien aus- falt.52 Weitere Faktoren, die das Sehen auf der einander und dachte in sie hinein eine Reichsauto- Straße beeinflussen, sind Besonderheiten der Stra- bahn: so werden sie laufen!55 Dieser Roman, der

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die Reichsautobahn zu einem Werk der outsider- art macht56, legt nicht nur fest, wer die Autobahn erdacht hat, sondern auch den Standpunkt, wie sie zu sehen sei: So werden sie laufen! Dieser Apell ist ja unter anderem ein visueller. Der für den Auto- fahrer utopische, nicht weiter hinterfragte Stand- punkt der schönen Fotografie von der Autobahn jener Tage dürfte ihre Rechtfertigung in diesem Mythos finden. Jene Lichtbilder sind – so können wir überspitzt formulieren – nachvollziehende Emanationen des genialen Blicks des Schöpfers der Reichsautobahnen auf Deutschland. Die Straßen Adolf Hitlers, dieser Titel bezeichnet nicht nur den Erfinder, sondern auch seine Ästhetik. Von hier aus leuchtet ein, warum das schöne Lichtbild von der Autobahn autoritativ für den bauenden Inge- nieur gewertet wird: Es bezieht sich auf den Blick des Führers auf Deutschland und kann verstanden werden als dessen gehorsame Realisierung.57 Dem gegenüber steht die Multiperspektivität der Autobahnplaner in der nachfolgenden Bundes- republik. Ihre Bilder beziehen sich auf die Viel- gestaltigkeit des Interesses der Autofahrer, der Nutzer der Autobahnen. Statt eines göttlichen Blicks auf die deutschen Lande haben wir nun viele ver- zerrte Perspektiven auf den deutschen Autobahnen. Die Ausführungen Zellers in diesem Band ergän- zend können wir für den Autobahnbau der Nach- kriegszeit nicht nur eine Verwissenschaftlichung und Mathematisierung in seiner Konzeption und Kommunikation konstatieren, sondern einher- gehend ebenso die Subjektivierung des vorausge- setzten Blicks vom Autofahrer auf die Fahrbahn. Jene Subjektivierung allerdings wird selbst wie- derum aufgrund ihrer Mangelhaftigkeit und Multiperspektivität vorbildlich mathematisch ra-

5 | Hans Lorenz: Trassierung und Gestaltung von Straßen und tionalisiert. Wie zentral die vorgreifende Auto- Autobahnen, , Berlin 1971, S. 142 mobilistenperspektive auf der Fahrbahn für die

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Planung und Geometrie der Linienführung einer insofern, als willkürliche Sinnestäuschungen und Autobahn ist, zeigt übrigens ein fotografischer falsche Schlüsse des einzelnen Automobilisten die Apparat, der mit Spiegeln und Modellperiskop so Grundlage des Planens darstellen, denn jene sol- auf das aus Papierstreifen hergestellte Gradienten- len verhindert werden. Andererseits braucht der modell einer Trasse aufmontiert wird, dass schon Planer eine stabile Perspektive, einen Standpunkt, in der ersten Phase der Planung der subjektive von dem aus er verlässlich seine Fahrbahnen kon- Blick des Nutzers sichtbar und kontrolliert antizi- struieren kann.61 Diesen Standpunkt vertritt die pierend nachvollzogen werden kann.58 Fotografie. So werden denn gleichsam als Ersatz Analog zur oben genannten Priorisierung der für den – freilich durch Mathematik und grafische Mathematik werden die Fotografien von Fahr- Anstrengungen normierten – Blick des Autofah- bahnansichten geometrischen Konstruktionen im rers alle möglichen Lichtbildaufnahmen gesam- Layout der Seiten nachgestellt, so dass die gefor- melt und gezeigt, historische aus der Zeit des derten wissenschaftlichen Grundlagen nicht nur Dritten Reiches gleichwertig neben zeitgenössi- des Sehens, sondern auch der Fotografie als ge- schen. Die Dokumentation des Landesamts für währleistet erscheinen. Die Fotografien, das zeigen Straßenwesen zur Autobahnfotografie ist offen- die Bildunterschriften, werden hier eingesetzt im sichtlich an solchen Grundlagenbüchern für Tras- Sinne der subjektiven Kamera. Sie vollziehen etwa sierungsgestaltungen orientiert. Auch hier findet als Blick aus dem Rückspiegel59 oder mit dem sich jene technisch gemeinte Gleichförmigkeit der verschwommenen Mercedesstern als Teil der Reproduktionen, die wir eingangs angesprochen sichtbaren Front des Autos das Sehen während der haben. Die ehedem als für den Ingenieur normativ Fahrt nach. Anders als wir es bei den Trassierungs- gewerteten Fotografien des Dritten Reiches stehen grundlagen von 1943 gelernt haben, steht hier das als Sachdokumentation neben anderen. Zweifellos Lichtbild nicht als wörtliches Substitut für die ist in diesem Bildgebrauch eine weitere Schicht ‚Natur‘ sondern für die Wahrnehmung derselben der Subjektivierung zu sehen: nämlich das Herun- aus dem fahrenden Auto heraus. terbrechen des göttlichen Blicks jenes einzigartigen Allerdings fällt bei genauer Durchsicht des Bild- Schöpfers auf die Perspektive des Allerwelts- gebrauchs im Buch zur Trassierung von 1971 auf, fahrers, der zu seiner Willkür die Autobahn befährt dass diejenigen Studien, die sich ausdrücklich mit und nutzt. dem Fahrerblick auf der Fahrbahn beschäftigen, Diese gleichwertige, unkommentierte Vergesell- vornehmlich mit handgezeichneten Skizzen arbei- schaftung von Fotografien des Dritten Reiches mit ten. Die Vermittlung zwischen Fotografie und solchen bloß den Fahrerblick meinenden Licht- Grafik funktioniert über einige wenige Bildse- bildstudien der Gegenwart lässt sich neben der ge- quenzen etwa zum Gebrauch des Teleobjektivs.60 nannten Subjektivierung durch den Bildgebrauch Wirklich habhaft wird der Planer der verzerrten, auch rechtfertigen durch das Argument des tech- sich in Zeit und Raum ständig verändernden Per- nischen Fortschritts, der mathematischen Rationa- spektive des Fahrers jedoch nicht. Denn der Inge- lisierung und wissenschaftlichen Systematisierung nieur steht im Konflikt, einerseits dessen Optik im Autobahnbau. Die Bilder der Straßen Adolf als normativen Wert gegenüberzustehen, normativ Hitlers können übernommen werden, da sie ja

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einen bereits evolutiv überwundenen Status in der Entwicklung der Fernschnellstraße bedeuten. Doch diese Historisierung hat zur Folge, dass man wenigstens im Rückblick weiterhin das Pathos von der Autobahn als einem Kunstwerk pflegen kann. Und immerhin finden sich im genannten Lehr- werk zur Gestaltung der Trassierung von 1971 bei der Diskussion des Perspektografen, einem von Viktor von Ranke mit entwickeltem Apparat zur perspektivisch richtigen Darstellung der im Raum gekrümmten Fahrbahn, Hinweise auf die Renais- sance-Kunst Leonardos oder Dürers.62 Wenigstens in der bildgestützten Planung oder Rezeption der Autobahn darf man sich noch in der Tradition dieser großen Künstler wähnen.63

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Anmerkungen zuerst publiziert 1938. Hier bieten zwei Fotos unterschiedlicher Abschnitte ein und desselben Flusses, der Ammer, ebenfalls den 1 Siehe hierzu den Beitrag von André, Heyd und Wecker in die- Vergleich zwischen naturferner und naturnaher Auffassung sem Band, S. 8. von Wasserbau. Unten die neue Ammer, die als ein errechnetes 2 Bei den Nummern auf den Karteikarten handelt es sich um seelenloses Gerinne vorgestellt wird, oben die alte Ammer, auch eine an den fachlich zuständigen Referaten orientierte Verschlag- heute noch ein zauberhaft schöner Fluss; Seifert, wie Anm. 9, S. 73, wortung. Beispielsweise die Nummer 4451 löst sich wie folgt Abb. 38 u. 39. auf: Natursteinpflaster 44 war die Nummer des Referats Straßen- 13 Besonders schwierig wird die Frage nach dem Faktischen in bautechnik, 51 die Nummer für die Belagsart Pflasterung. einer Fotografie, wenn es um die Diskussion und Bewertung Freundliche Mitteilung von Konradin Heyd. von historischen Umständen geht. Das gilt vor allem bei Auf- 3 Roland Barthes nennt dieses Faktische den ‚Referenten der nahmen zur Reichsautobahn. So kann beispielsweise die Doku- Fotografie‘: Fotografischen Referenten nenne ich nicht die mögli- mentation von Bauarbeitern einmal als Ausweis gelten für den cherweise reale Sache, auf die ein Bild oder Zeichen verweist, selbstbewussten deutschen Mann in Arbeit, als Beleg für die ge- sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert lungene Reintegration der ehemals Millionen von Arbeitslosen, war und ohne die es keine Fotografie gäbe. […] Anders als bei ein anderes Mal als stellvertretendes gutes Gewissen eines unsozia- diesen Imaginationen [i.e. die Malerei] lässt sich in der Fotografie len und verbrecherischen Regimes. Das Faktische wäre im ersten nicht leugnen, dass die Sache dagewesen ist; Roland Barthes: Die Fall die (stilisierte) Darstellung des Arbeiters als Helden, im helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie. Frankfurt 1989 zweiten die Diskrepanz zwischen Bildpropaganda und Wirklich- (zuerst erschienen 1980), S. 86. keit; siehe Claudia Windisch-Hojnacki: Die Reichsautobahn. 4 50 Jahre Autobahnen in Baden-Württemberg. Hg. von Klaus Konzeption und Bau der RAB, ihre ästhetischen Aspekte sowie Schefold. Stuttgart 1986. ihre Illustration in Malerei, Literatur, Fotografie und Plastik. 5 Straßen und Brücken im Lande Baden-Württemberg. Hg. von Bonn 1989, S. 232–244, hier S. 242. Albert Kistner. München 1956. Kistner war Leiter der baden- 14 Die Reproduktionen und Fotoprints liegen getrennt von württembergischen Straßenbauverwaltung. Beispielsweise die den Akten im Staatsarchiv Ludwigsburg. Man müsste in Abbildungen S. 5 (Autobahn Stuttgart-Ulm, Fertigstellung des umfangreichen Studien den Bezug beider und folgend ihren Albaufstiegs, Fahrbahndeckenbau) entspricht der Sign. EL 75 VI Gebrauch rekonstruieren. a Nr 3263, hier: Kat. Nr. 56. Weitere Abbildungen im Buch S. 6, 15 Dazu Hermann Knoflacher in diesem Band, S. 28–30. 7, 8, 9, 10 oben, 12, 13, 20, 21 finden sich ebenfalls in der Doku- 16 Siehe dazu mit weiterführenden Literatur Thomas Zeller in mentation im Staatsarchiv Ludwigsburg. diesem Band, S. 17–21, insbes. Anm. 19–30. 6 Straßen und Brücken, wie Anm. 5, Vorwort, o. S. 17 Siehe dazu Thomas Zeller: Straße, Bahn, Panorama. Frank- 7 Straßen und Brücken, wie Anm. 5, Bildteil S. 29, Werbeteil furt, New York 2002, S.228. S. 103. 18 Denn Autobahnen sind Ästhetik. Friedrich Kittler: Auto Bah- 8 Beispiele: A 81, AS Ludwigsburg Süd, 1972 (EL 75 VI a Nr nen. In: KultuRRevolution 5 (1984), S. 12; Friedrich Kittler: Auto 6112) = hier ist nur ein Auto zu sehen; A 81, AS Tauberbischofs- Bahnen. In: AutoBahn und Medien. Hg. von Marc Ries heim, Dez. 1972 (EL 75 VI a Nr 5579) = völlig ohne Verkehr; u. a.. Wien 1995, S. 13 (2. Hälfte der Publ.). A 81, AS Geisingen, 1975 (EL 75 VI a Nr 6954). Bei letzterem 19 Siehe hierzu Angela Jain in diesem Band, S. 33, Abb. 1 und Bild steht ein Auto auf dem Standstreifen und betont vor der S. 35, Abb. 2. Industrielandschaft die Leere der Fahrbahn. Links hinten steht 20 Siehe Angela Jain in diesem Band, S. 38, Abb. 4 sowie diverse ein Bauwagen und davor zwei Personen auf dem Seitenstreifen. Aufnahmen in StAL EL 75 VI d. 9 Alwin Seifert: Im Zeitalter des Lebendigen. Natur – Heimat – 21 Siehe z. B. Gustave Caillebotte, Landschaft mit Eisenbahn- Technik. Planegg bei München 1941, S. 16. schienen, 1872, Öl/Lw, 81 x 116 cm, Frankreich, Privatslg. Dieses 10 Seifert, wie Anm. 9, S. 20. Bild bietet bereits alles, was wir für die Autobahnfotografie als 11 Seifert, wie Anm. 9, S. 16, 17, Abb. 4 u. 5. Es zeigt die Polemik Landschaftsfotografie kennen. Von einem erhöhten Standpunkt, des Vergleichs, dass Seifert für die Autobahn Köln-Bonn die hier einer Brücke, wird tief in die Landschaft geschaut, die Ei- Jahreszahl ihrer Entstehung nennt, die auf die Zeit vor dem Na- senbahntrasse entlang, die sich im Hintergrund sogar schlängelt, tionalsozialismus und damit auf die von Seifert so verachtete um dann auf den Horizont zu treffen. Aber anders als die Foto- Epoche der ‚bloßen Techniker‘ verweisen soll, für die norddeut- grafie übernimmt der Maler auch den Eindruck, wie sich die sche Allee hingegen nicht. Landschaft aus Perspektive des Reisenden ausnimmt, verrußt, 12 Ein weiteres Beispiel für diese Art der Bildargumentation verwischt und vereinheitlicht. Deutlicher im Sinne des im Text findet sich im selben Buch im Kapitel Naturnäherer Wasserbau, geschilderten Phänomens sind die Arbeiten Caillebottes zur Pont d’Europe von 1876 (etwa Genf, Musée du Petit-Palais). Hier

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ist der rasante Tiefensog der schräg gesehenen Brücke verbun- auch Künstler und berufene Vertreter der Automobiltechnik teil- den mit dem Blick des verweilenden Müßiggängers. nahmen. 22 Fritz Todt, Vorwort. In: Die Straße 2 (1935), Heft 1 , S. 2. 29 Fritz Heller: Gedanken zur Ästhetik der Linien- und 23 Todt sah nämlich nicht in erster Linie den Erhalt, sondern die Gradientenführung, In: Trassierungsgrundlagen der Reichsauto- schöpferische Umgestaltung der Landschaft als Kulturauftrag der bahn, wie Anm. 27, S. 37–42. arischen Rasse an; siehe Charlotte Reitsam: Reichsautobahn – 30 Heller, wie Anm. 28, S. 37. Landschaften im Spannungsfeld von Natur und Technik. Inter- 31 Heller, wie Anm. 28. nationale und interdisziplinäre Verflechtungen. München 2004, 32 Heller, wie Anm. 28, S. 39. Kapitel 6.0 (Kulturauftrag der landschaftlichen Eingliederung), 33 Heller, wie Anm. 28. S. 91–98, Zitat S. 92. 34 Heller, wie Anm. 28. 24 Die Sammlung des Landesamts für Straßenwesen umfasst 35 In ganz Deutschland gab es im Jahr 1932 486.001 zugelasse- Reproduktionen sowohl der Abbildungen des im Text erwähn- ne PKWs; damit besaß nur jeder 37. Haushalt ein Automobil. ten Bildbands Das Erlebnis der Reichsautobahn wie auch Dazu kam, dass nur eine kleine Zahl von Autos für Privatperso- solche aus dem Autobahnkalender von 1939. Die auf DIN-A4- nen zur Verfügung stand. Die meisten waren zur Zeit des Baus Karteikarten aufgeklebten Reproduktionen sind neben den der Reichsautobahn Firmen- oder Behördenwagen; Diskussio- Übernahmen der originalen Bildunterschriften auch mit ent- nen der Statistiken zum Grad der Mobilisierung in Deutschland sprechenden Schlagworten, meistens Hinweise auf die Trassie- jener Zeit bei Zeller, wie Anm. 17, S. 51–52; Schütz u. Gruber, rung in der Landschaft, versehen. wie Anm. 25, S. 12. 25 Zu den populärsten Autobahnmalern, den auch Hitler sehr 36 Heller erwähnt zu Eingang seiner Abhandlung ein Streit- schätzte, gehörte Ernst Vollbehr, der im Auftrag Todts vor allem gespräch zwischen mittelalterlichen Baumeistern, ob Kunst Baustellen der Reichsautobahn ins Bild setzte; siehe dazu auch: ohne Wissenschaft auskomme und schließt mit der Synthese: Windisch-Hojnacki, wie Anm. 13, S. 217–18; Erhard Schütz, Eck- Ars sine scientia nihil est, wobei klar ist, dass der Kunst das hard Gruber: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung Primat zukommt; Heller, wie Anm. 28, S. 37. der „Straßen des Führers“ 1933–1941. Berlin 1996, S. 112–15. 37 Viktor von Ranke (Hans Lorenz): Raumperspektive. In: Zu nennen wäre auch der studierte Bauingenieur Erich Merker, Trassierungsgrundlagen, wie Anm. 27, S. 81–98. der 1939 in der Großen Deutschen Kunstausstellung in München 38 Viktor von Ranke: Raumperspektive. In: Die Straße 8 (1941), sein Gemälde der damals so berühmten Baustelle der Rohrbach- Heft 7/8, S. 137–139. Im Weiteren beziehe ich mich auf diesen brücke zeigte. Das Gemälde wurde dann durch Heinrich Hoff- Artikel. Der von Lorenz neu publizierte Aufsatz von Rankes mann für die Sammlung Adolf Hitlers erworben; siehe dazu: in den Trassierungsgrundlagen wurde erweitert um verschiedene Die zweite Schöpfung. Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahr- Anwendungshinweise zur Raumperspektive und um begleiten- hundert bis in die Gegenwart. Hg. von Sabine Beneke und Hans de, vornehmlich grafische Illustrationen. Ottomayer, Berlin 2002, S. 263. 39 Ranke, wie Anm. 37, S. 137. 26 So etwa die aufwendigen Fotodokumentationen zur Aus- 40 Ranke, wie Anm. 37, S. 137. stellung Die Reichsautobahn auf der 2. Deutschen Architektur- 41 Wie komplex der Umgang des Fotografen mit verzerrten und Kunsthandwerkausstellung in München. In: Die Straße 6 Perspektiven ist, belegen die Versuche von Andreas Feininger, der (1939), Heft 1, S. 2–5. Dort auch ein Lichtbild der Drackenloch- teilweise mit selbstgebauten Teleobjektiven von langer Brenn- brücke. weite hantierte, um im Bild die Wirkung der tatsächlichen 27 Erna Lendvai-Dircksen, Reichsautobahn – Mensch und Werk, Größenverhältnisse zu reproduzieren. Bayreuth 1937, o.S. (S. 102). Siehe zur komplexen Verbindung 42 Dr. Schulz-Wittuhn, Leiter der Hauptverwaltung der Straßen von Physiognomie und Landschaft bei Lendvai-Dircksen: des amerikanischen und britischen Besatzungsgebietes, zitiert Claudia Schmölders. Das Gesicht von Blut und Boden. Erna nach Zeller, wie Anm. 17, 2002, S. 232. Lendvai-Dircksens Kunstgeographie. In: Körperbilder im Natio- 43 Zeller, wie Anm. 17, S. 229. nalsozialismus. Bilder und Praxen. Hg. von Paula Diehl, Pader- 44 Hans Lorenz: Trassierung und Gestaltung von Straßen und born 2006, S. 51–78. Autobahnen. Wiesbaden, Berlin 1971. 28 Eduard Schönleben: Vorwort. In: Trassierungsgrundlagen 45 Lorenz, wie Anm. 43, S. 107. der Reichsautobahn. Amsterdam, Prag, Wien 1943. o. S. (S. 7). 46 Lorenz, wie Anm. 43, S. 107. Schönleben signiert hier als Ministerialdirektor beim General- 47 Lorenz, wie Anm. 43, S. 107, Betonung im zitierten Text. inspektor für das deutsche Straßenwesen. Der Band ist auch 48 Lorenz, wie Anm. 43, S. 107. Natürlich wird dieser Wert als als Ergebnis der im Frühjahr 1941 durchgeführten Trassierungs- relativ dargestellt und von den psychischen Zuständen des je- tagung zu verstehen, an der außer den Trassierungsingenieuren weiligen Fahrzeugführers abhängig gemacht.

59 Bemerkungen zur Autobahnfotografie Bernhard Stumpfhaus

49 So wird ganz deutlich formuliert: Man wollte nicht nur un- jektion: Der Betrachter befindet sich gewissermaßen in der Mitte schöne Formen vermeiden, sondern auch auf alle Fälle solche, die einer Glaskugel, auf deren Wände er die gewünschten Gegenstände den Fahrer zu falschen Schlüssen verleiten könnten (Lorenz, wie projiziert. […] Dass hierbei die sich in absoluter Nähe befind- Anm. 43, S. 108). lichen Gegenstände nicht aufgenommen werden, versteht sich von 50 Dieser Perspektivenwechsel wird deutlich, wenn wir von selbst, denn wir wollen ja die Tiefe, die Ferne, bildlich festhalten…; Rankes Beschreibung am Schluss seines Artikels zur Raumper- von Ranke (Lorenz), wie Anm. 36, S. 81. spektive lesen: Zum Schluss darf wohl nicht ungesagt bleiben, dass 58 Lorenz, wie Anm. 43, S. 67–69. jeder Trassierungsingenieur sich geradezu dazu zwingen müßte, in 59 Lorenz, wie Anm. 43, Bild 120. der Autobahn ein lebendiges Wesen zu sehen, das – unverstanden – 60 Lorenz, wie Anm. 43, S. 164. voller Tücken und Launen sein kann, das aber unter liebevoller, 61 Das Problem der Fahrerperspektive und dessen Stillstellung individueller Behandlung uns zu einem schönen, großartigen Er- im Bild schon bei Marc Ries: Dieses Bild kann so nur über den er- leben wird; von Ranke, Raumperspektiven, in: Die Straße, zwungenen Stillstand des Fahrers und aller weiteren Insassen ent- Nr.23/24 (1941) S. 139. Von Ranke geht von der Autobahn als worfen werden; Ries, wie Anm. 42, S. 5. Der Stillstand des Fahrers launenhaftem Wesen aus, der bundesrepublikanische Autor vom bezieht sich hier auf das immobile Fremdbewegt-Werden des Fahrer! Jener Satz wurde in den Trassierungsgrundlagen von Körpers des Fahrers im sich selbst bewegenden Auto. Allerdings 1943 wieder getilgt. gibt es eine interessante Parallelität zwischen dem im Auto still- 51 Lorenz, wie Anm. 43, S. 108. gestellten Fahrer und dem in der Fotografie stillgestellten 52 Lorenz, wie Anm. 43, S. 116. Fahrerblick als Vorrausetzung seiner mathematisch orientierten 53 Marc Ries kommentiert diese Verbildlichung, die Kadrierung Rationalisierung für den Autobahnplaner. des Fahrerblicks durch die Windschutzscheibe eines fahrenden 62 Lorenz, wie Anm. 43, S. 184–188. Autos als eine Transformation der Wahrnehmung in ein völlig 63 Ein visueller Kommentar zu dieser Problematik findet sich neues Erkenntnisparadigma, in ein kinematographisches; Marc als künstlerische Bildmontage in: AutoBahn und Medien, wie Ries: Das Bild der Strasse, Vortrag auf dem Symposion des Eu- Anm. 18, S. 16 (2. Hälfte der Publ.). ropafestivals Drosendorf 2004: On the . Sill. 1.–4.6.2004, Typoskript, S. 4. Ich danke Marc Ries für die Überlassung seines Skripts. 54 Ries, wie Anm. 52, S. 142. 55 Das Erlebnis der Reichsautobahn. Ein Bildwerk von Her- mann Harz mit einer Einführung von Herybert Menzel. Mün- chen 1943, o. S. Die Dichtung Menzels wurde zuerst publiziert in: Die Straße 8 (1941), Heft 23/24, S. 373–375. Der Mythos zur ‚Erfindung der Reichsautobahn durch ‘ dort S. 373 f. 56 Der von Menzel so beschriebene Schöpfungsakt findet sich in Prinzhorns Buch Bildnerei der Geisteskranken präfiguriert. Dort wird der psychiatrieerfahrene Künstler Heinrich Welz be- schrieben. Dessen Wunsch ist es, das Bild allein mit dem Willen und der Kraft seiner Augen zu gestalten. Er werde künftig einfach das Papier mit Graphit bestreuen und, mit dem Blick darüber- hinfahrend, die Körner zu Linien und Formen zwingen (Hans Prinzhorn: Bildnerei der Geisteskranken. Berlin 1922, Biografie zu Heinrich Welz, S. 249–255, hier S. 255) Freundliche Mit- teilung von Thomas Röske. Der Mythos Menzels erfüllt alle Be- dingungen für ein Werk der outsider-art: die eingeschlossene Einsamkeit des devianten Genies. 57 Auch Reitsam spricht von der Normierung des Blicks; Reit- sam, wie Anm. 23, S. 102. Allerdings kann, wie oben ausgeführt, nicht davon die Rede sein, dass die Fotografien von der Auto- bahn die Perspektive des fahrenden Betrachters einnehmen (Reit- sam, wie Anm. 23, S. 102). Dagegen sprechen die Ausführungen von Rankes zur korrekten Darstellung der Fahrbahn in der Pro-

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1Betonfahrbahndeckenlos| Betonfahrbahndeckenlos VI, VI, geschnittene geschnittene Längsscheinfuge/ Längsscheinfuge/ 1956 1956(Repro: (Repro: 05.12.1991) 05.12.1991) Landesarchiv Baden-Württemberg StAL EL 75 VI a Nr 784

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