Plenarprotokoll 13/131 (Zu diesem Protokoll folgt ein Nachtrag)

- Deutscher

Stenographischer Bericht

131. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abge Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/ ordneten Herbert Meißner 11743 A CSU 11751 B Peter Dreßen SPD 11751 C Fraktionszugehörigkeit des Abgeordneten Antje Kurt Neumann (Berlin) 11743 A Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 11752 D Benennung des Abgeordneten Michael Dr. F.D.P. . . . 11755 A Jung (Limburg) als neues stellvertretendes Maritta Böttcher PDS 11757 A Mitglied im Regulierungsrat beim Bundes- Werner Lensing CDU/CSU 11758 C minister für Post und Telekommunikation 11743 B Jörg Tauss SPD 11759 C Erweiterung und Abwicklung der Tages Franz Thönnes SPD 11760 A ordnung 11743 B Günter Rixe SPD 11760 C Karl-Heinz Scherhag CDU/CSU . . Absetzung der Punkte 18a und b von der 11762 A Tagesordnung 11743 C Josef Hollerith CDU/CSU 11763 A SPD 11764 A Nachträgliche Ausschußüberweisung . 11743 D Werner Lensing CDU/CSU 11764 D SPD Tagesordnungspunkt 3: 11765 C Karl-Heinz Scherhag CDU/CSU . . . 11766 C a) Unterrichtung durch die Bundesre- Günter Rixe SPD 11767 C gierung: Berufsbildungsbericht 1996 Franz Thönnes SPD 11768 B (Drucksache 13/4555) 11743 D Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU . . . 11769 C b) Große Anfrage der Abgeordneten Ma ritta Böttcher, Rolf Kutzmutz und der Tagesordnungspunkt 4: Gruppe der PDS: Situation der berufli- chen Aus- und Weiterbildung in der Antrag der Abgeordneten Joachim Poß, Bundesrepublik Deutschland (Druck- Ingrid Matthäus-Maier, weiterer Abge- sachen 13/2791, 13/5675) 11743 D ordneter und der Fraktion der SPD: Ein- kommensteuerreform zum 1. Januar Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister 1998 in Kraft setzen (Drucksache 13/ BMBF 11744 A 5510) 11770 D SPD 11747 B Joachim Poß SPD 11770 D Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 11748A, 11761 D Carl-Ludwig Thiele F.D.P. 11773 A Frederick Schulze CDU/CSU 11750 A Hans-Peter Repnik CDU/CSU 11775 B Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU 11750 D SPD 11775 C II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Ingrid Matthäus-Maier SPD 11767 C e) Erste Beratung des von der Bundes- Joachim Poß SPD 11777C, 11782 C regierung eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zu dem Vertrag vom Dr. Uwe-Jens Rössel PDS 11778 D 12. Dezember 1995 zwischen der Bun- Detlev von Larcher SPD 11779 B desrepublik Deutschland und der - Dr. Barbara Hendricks SPD 11779 D Tschechischen Republik über die Zu- Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sammenarbeit auf dem Gebiet der Was- NEN 11780 B serwirtschaft an den Grenzgewässern (Drucksache 13/5720) 11798 D Elke Wülfing CDU/CSU 11782 B Volker Kröning SPD 11783 A f) Erste Beratung des von der Bundesre- Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) gierung eingebrachten Entwurfs eines CDU/CSU 11783C . Gesetzes zur Änderung des Anhangs 1 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Dr. F D P. 11783 D Rotkreuz-Abkommen von 1949 (Druck- Jörg-Otto Spiller SPD 11784 C sache 13/5738) 11799 A Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11784 D g) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Barbara Höll PDS 11787 C Gesetzes zu dem Vertragswerk vom Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 11789 B 17. Dezember 1994 über die Energie- SPD 11792 A charta (Drucksache 13/5742) 11799 A CDU/CSU . . . 11794 C, 11797 B h) Erste Beratung des von der Bundesre- Ernst Schwanhold SPD 11796 D gierung eingebrachten Entwurfs eines CDU/CSU 11797 B Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sonderver- Tagesordnungspunkt 22: mögens für das Jahr 1997 (ERP-Wirt- schaftsplangesetz 1997) (Drucksache Überweisungen im vereinfachten Ver- 13/5741) 11799 A fahren Tagesordnungspunkt 23: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Abschließende Beratungen ohne Aus- Gesetzes zu der Änderung vom 18. Mai sprache 1995 des Übereinkommens zur Grün- a) Zweite und dritte Beratung des von den dung der Europäischen Fernmel- Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. desatellitenorganisation „EUTELSAT" eingebrachten Entwurfs eines (Drucksache 13/5716) 11798 C Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entla- stung des Bundesfinanzhofs (Drucksa- b) Erste Beratung des von der Bundesre- chen 13/5585, 13/5804) gierung eingebrachten Entwurfs eines 11799 B Gesetzes zu der Änderung vom 31. Au- b) Zweite und dritte Beratung des von der gust 1995 des Übereinkommens über Bundesregierung eingebrachten Ent- die Internationale Fermeldesatelliten- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des organisation „INTELSAT" (Drucksache Zustimmungsgesetzes zum Wismut 13/5719) 11798 C Vertrag (Drucksachen 13/4789, 13/5765) 11799 C

c) Erste Beratung des von der Bundesre- c) Beschlußempfehlung und Bericht des gierung eingebrachten Entwurfs eines Haushaltsausschusses zu dem Antrag Gesetzes zu dem Abkommen vom der Abgeordneten Antje Hermenau, 15. November 1995 zwischen der Bun- Kristin Heyne, weiterer Abgeordneter desrepublik Deutschland und der Re- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE publik Namibia über den Luftverkehr GRÜNEN: Mögliche zweckwidrige (Drucksache 13/5717) 11798 D Verwendung von Steuergeldern durch die Förderung eines Berufsbildungs- d) Erste Beratung des von der Bundesre- projektes in Montevideo (Uruguay) gierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksachen 13/5008, 13/5659) . . . 11799 D Gesetzes zur Revision des Überein- kommens vom 20. März 1958 über die d) Beschlußempfehlung und Bericht des Annahme einheitlicher Bedingungen Ausschusses für Wi rtschaft zu der Ver- für die Genehmigung der Ausrüstungs- ordnung der Bundesregierung: Aufheb- gegenstände und Teile von Kraftfahr- bare Neunundachtzigste Verordnung zeugen und über die gegenseitige An- der Ausfuhrliste - Anlage AL zur erkennung der Genehmigung (Druck- Außenwirtschaftsverordnung (Druck- sache 13/5718) 11798 D sachen 13/5550 Nr. 2.1, 13/5764) . . . 11800 A Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 III e) Beschlußempfehlung und Be richt des des europäischen Tourismus „PHILO- Ausschusses für Wirtschaft zu der Ver- XENIA" (1997-2000) (Drucksachen 13/ ordnung der Bundesregierung: Aufheb- 5555 Nr. 2.40, 13/5820) 11801 C bare Einhundertdreißigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anla- - ge zum Außenwirtschaftsgesetz (Druck- Zusatztagesordnungspunkt 2: sachen 13/5229, 13/5550 Nr. 2.2, 13/5766) 11800 A Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zur Vorschlägen zur Be- f) Beschlußempfehlung und Be richt des steuerung von Renten, Kürzungen bei Haushaltsausschusses zu dem Antrag Witwenrenten und Heraufsetzung des des Bundesministeriums der Finanzen: Rentenalters 11801 D Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Ulrike Mascher SPD 11801 D Bundeshaushaltsordnung in die Veräu- Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 11802 D ßerung eines Grundstücks in Berlin (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Mitte (Drucksachen 13/5039, 13/5660) 11800 B GRÜNEN 11804 A g) Beschlußempfehlung des Haushaltsaus- Dr. F.D.P 11805 A schusses zu der Unterrichtung durch Petra Bläss PDS 11806 B die Bundesregierung: Haushaltsfüh- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 11807 B rung 1996; Überplanmäßige Ausgabe SPD 11809 B bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 - Von der EU nicht übernommene Marktord- Julius Louven CDU/CSU 11810 D nungsausgaben - bis zur Höhe von SPD 11812 A 34 174 000 DM (Drucksachen 13/4804, Friedrich Merz CDU/CSU 11812 D 13/4906 Nr. 4, 13/5763) 11800 C Erika Lotz SPD 11813 D h) Beschlußempfehlung des Rechtsaus- CDU/CSU 11814 D schusses: Übersicht 6 über die dem SPD 11815 C Deutschen Bundestag zugeleiteten Wolfgang Vogt (Düren) CDU/CSU . . 11817 A Streitsachen vor dem Bundesverfas- sungsgericht (Drucksache 13/5762) . . 11800 C Tagesordnungspunkt 5: i) Beschlußempfehlung des Petitionsaus- schusses: Sammelübersicht 45 zu Peti- a) Große Anfrage der Abgeordneten Wolf- tionen (Entschädigung für gesundheitli- gang Börnsen (Bönstrup), , che Schäden während der Zeit des weiterer Abgeordneter und der Frak- Zweiten Weltkrieges in einem natio- tion der CDU/CSU sowie der Abgeord- nalsozialistischen Konzentrationslager) neten Hildebrecht Braun (Augsburg), (Drucksache 13/1582) 11800 D Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der F.D.P.: Mari- j) Beschlußempfehlung des Petitionsaus- time Wirtschaft (Drucksachen 13/4085, schusses: Sammelübersicht 150 zu Peti- 13/5596) 11817 D tionen (Weiterer Aufenthalt für ab- gelehnte Asylbewerber aus Zaire) b) Antrag der Abgeordneten Konrad Ku- (Drucksache 13/5748) 11801 A nick, Elke Ferner, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Siche- k) bis n) Beratung der Beschlußempfeh- rung der Standortbedingungen der lungen des Petitionsausschus- deutschen maritimen Verkehrswirt- ses: Sammelübersichten 146, schaft (Drucksache 13/3917) 11817 D 147, 148 und 149 zu Petitionen (Drucksachen 13/5744, 13/5745, c) Beschlußempfehlung und Bericht des 13/5746, 13/5747) 11801 B Ausschusses für Wirtschaft zu der Un- terrichtung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission an den Rat, Zusatztagesordnungspunkt 1: das Europäische Parlament, den Wirt- schafts- und Sozialausschuß und den Weitere abschließende Beratung ohne Ausschuß der Regionen - Die Gestal- Aussprache tung der maritimen Zukunft Europas - Ein Beitrag zur We ttbewerbsfähigkeit Beschlußempfehlung und Be richt des der maritimen Wirtschaft (Drucksachen Ausschusses für Fremdenverkehr und 13/4638 Nr. 2.9, 13/5678) 11817 D Tourismus zu der Unterrichtung durch Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 11818 A die Bundesregierung: Vorschlag für einen Beschluß des Rates - Erstes Konrad Kunick SPD 11820B, 11822 C Mehrjahresprogramm zur Förderung Erich Maaß (Wilhelmshaven) CDU/CSU . 11822 A IV Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . . 11846 D GRÜNEN 11822 D Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 11847 C Jürgen Koppelin F.D.P 11824 A Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 11848 C Rolf Kutzmutz PDS 11825 C - , Parl. Staatssekretär Tagesordnungspunkt 9: BMV 11826 B Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/ Unterrichtung durch die Bundesregie- DIE GRÜNEN 11827 A rung: Bericht über den Verhandlungs- CDU/CSU 11827 D gegenstand des Menschenrechtsüber- einkommens zur Biomedizin (frü- Ernst Schwanhold SPD 11829 A her Bioethik-Konvention) (Drucksache Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 11830 A 13/5435) 11849 B Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesmini Tagesordnungspunkt 6: ster BMJ 11849 C Robert Antretter SPD 11850 B Beschlußempfehlung und Bericht des Hubert Hüppe CDU/CSU 11852 B Sportausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: 8. Sport- CDU/CSU 11853 A bericht der Bundesregierung (Druck- Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . . . 11854 C sachen 13/1114, 13/4910) 11831 C (Köln) BÜNDNIS 90/DIE Engelbert Nelle CDU/CSU 11831 D GRÜNEN 11855A, 11857 C Wolf-Michael Catenhusen SPD 11856 A Tagesordnungspunkt 7: Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 11856 D Beschlußempfehlung des Petitionsaus- Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 11858 A schusses: Sammelübersicht 125 zu Pe- Wolfgang Bierstedt PDS 11858 D titionen (Waffenembargo gegenüber Indonesien verhängen) (Drucksache Sigrun Löwisch CDU/CSU 11859 D 13/4882) 11832 C Tagesordnungspunkt 10: in Verbindung mit Unterrichtung durch die Parlamentari- Zusatztagesordnungspunkt 3: sche Kontrollkommission (PKK): Bericht über die Kontrolltätigkeit gemäß § 6 Antrag der Fraktionen der SPD und des Gesetzes über die parlamentari- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur Lage sche Kontrolle nachrichtendienstlicher in Ost-Timor (Drucksache 13/5799) . . 11832 D Tätigkeit des Bundes (Berichtszeit Andreas Krautscheid CDU/CSU 11832D, 11838 B Juni 1994 bis Juni 1996) (Druck--raum: Volker Neumann (Bramsche) SPD . . . 11834 B sache 13/5157) 11861 A Steffen Tippach PDS 11835 A Dr. Wilfried Penner SPD 11861 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU . . . 11862 B NEN 11836B, 11838 D Norbert Gansel SPD 11863 A F.D.P 11839 A Manfred Such BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Steffen Tippach PDS 11840 A NEN 11864 C Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 11840 D Dr. F D P. 11865 C PDS 11866 D Tagesordnungspunkt 8: Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Dr. Eckhart Pick, Dr. Herta Däubler- Unterrichtung durch das Gremium ge- Gmelin, weiteren Abgeordneten und mäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zu Artikel 10 der Fraktion der SPD eingebrachten des Grundgesetzes (G 10-Gremium): Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung Bericht gemäß § 3 Abs. 10 des Gesetzes der Arbeitnehmerhaftung (Drucksache zu Artikel 10 des Grundgesetzes (G 10) 13/2195) 11842 D über die Durchführung der Maßnah- Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ men nach § 3 dieses Gesetzes (Be- CSU 11843 A richtszeitraum 1. Dezember 1994 bis Dr. Eckart Pick SPD 11844 B 31. Mai 1996) (Drucksache 13/5224) . 11867 C Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD 11867 D GRÜNEN 11846 A CDU/CSU 11868 D Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 V

Manfred Such BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ter und der Fraktion der SPD: Eck- NEN 11869 D punkte zur Novellierung der Verpak- Dr. F D P. 11870 C kungsverordnung - Ulla Jelpke PDS 11871 B - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Michael Mül- Tagesordnungspunkt 12: ler (Düsseldorf), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Erlaß a) Große Anfrage der Abgeordneten Ma- einer Getränkemehrwegverordnung rion Caspers-Merk, Lilo Blunck, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der - zu dem Antrag der Abgeordneten SPD: Umsetzung des Kreislaufwirt- Gila Altmann (Aurich), Dr. Jürgen schafts- und Abfallgesetzes (Drucksa Rochlitz, weiterer Abgeordneter und chen 13/1971,13/3368) 11871 D der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN: Erlaß einer Altautoverordnung b) Beschlußempfehlung und Be richt des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz - zu dem Antrag des Abgeordneten und Reaktorsicherheit zu dem Antrag Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verord- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE nung über die Vermeidung, Verrin- gerung und Verwertung von Abfäl- GRÜNEN: Abfallvermeidung organi- sieren - Gesundheitsgefahren aus Ab- len gebrauchter elektrischer und fallverbrennungsanlagen minimieren elektronischer Geräte (Elektronik- (Drucksachen 13/4352,13/5023) . . . 11871 D schrott-Verordnung) - zu dem Antrag des Abgeordneten c) Beschlußempfehlung und Be richt des Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion Ausschusses für Umwelt, Naturschutz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ersatz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Verpackungsverordnung durch der Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz, eine Verpackungsvermeidungs- und Michaele Hustedt, weiterer Abgeordne- Mehrwegverordnung ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kriterien für die oberirdi- (Drucksachen 13/2818, 13/2855, 13/3334, sche Ablagerung von Abfällen - Novel- 13/4351, 13/4354, 13/5158) 11872 C lierung von TA Abfall und TA Sied- lungsabfall (Drucksachen 13/2496,13/ Marion Caspers-Merk SPD 11872 D 5024) 11872 A Steffen Kampeter CDU/CSU 11875 A Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE d) Beschlußempfehlung und Be richt des GRÜNEN 11876 B Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz GRÜNEN 11878 A und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Steffen Kampeter CDU/CSU 11878 D, GRÜNEN: Verwertungsbeschränkun- 11884 A, 11887 A gen für Schlacken aus Verbrennungs- Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE anlagen für Siedlungsabfälle (Druck GRÜNEN 11879 A sachen 13/1235,13/5025) 11872 B Dr. F.D.P 11880 A e) Beschlußempfehlung und Be richt des Eva Bulling-Schröter PDS 11881 A Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Dr. Liesel Hartenstein SPD 11882 A und Reaktorsicherheit zu dem Antrag Walter Hirche, Parl. Staatssekretär BMU 11884 D der Abgeordneten Dr. Liesel Harten- Dr. Liesel Hartenstein SPD 11886 D stein, Michael Müller (Düsseldorf), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bundeseinheitliche Regelung Tagesordnungspunkt 13: des untertägigen Versatzes von Ab- fällen in Bergwerken (Drucksachen Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Diet- 13/2758,13/5051) 11872 B mar Kansy, Dr. , weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der f) Beschlußempfehlung und Be richt des CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hil- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz debrecht Braun (Augsburg), Dr. Klaus und Reaktorsicherheit Röhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Aktionsprogramm - zu dem Antrag der Abgeordneten zur CO2-Minderung und Energieein- Marion Caspers-Merk, Michael Mül- sparung im Gebäudebereich (Drucksa- ler (Düsseldorf), weiterer Abgeordne che 13/5761) 11889 A VI Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Tagesordnungspunkt 14: weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das a) Antrag der Abgeordneten Gila Altmann Meer ist keine Müllhalde (Aurich), Ulrike Höfken, weiterer Abge- - ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 13/1738, 13/3211, 13/5159) 11889 D DIE GRÜNEN: Bedrohung der Meere und Zerstörung der Küsten durch Öl- katastrophen (Drucksache 13/3884) . 11889 B Tagesordnungspunkt 15: b) Antrag der Abgeordneten Gila Altmann Erste Beratung des von den Abgeordne- (Aurich), Angelika Beer, weiterer Abge- ten Volker Beck (Köln), ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (Bremen), weiteren Abgeordneten und DIE GRÜNEN: Sofortmaßnahmen ge der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen die Verseuchung der Meere durch NEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- illegale Öleinleitungen - Maßnahmen setzes zur Einführung des Rechts auf zur überwachten Entsorgung von Alt- Eheschließung für Personen gleichen ölen und Ölschlämmen an Land Geschlechts (Drucksache 13/2728) . 11890 A (Drucksache 13/4237) 11889 B Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11890 B c) Antrag der Abgeordneten Dietmar Schütz (Oldenburg), Annette Faße, wei- Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU 11892 A terer Abgeordneter und der Fraktion Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ der SPD: Schutz vor Öltankunfällen DIE GRÜNEN 11892 D und Umweltschäden in europäischen Margot von Renesse SPD 11893 D Gewässern (Drucksache 13/5155) . . 11889 C Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . 11895 C d) Antrag der Abgeordneten Dietmar Christina Schenk PDS 11896 C Schütz (Oldenburg), Annette Faße, weiterer Abgeordneter und der Frak- Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesmini tion der SPD: Schutz der Nordsee ster BMJ 11897 C durch Schiffsölentsorgung in Seehäfen (Drucksache 13/5756) 11889 C Tagesordnungspunkt 16: e) Beschlußempfehlung und Be richt des Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Ausschusses für Umwelt, Naturschutz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: und Reaktorsicherheit Förderung des Friedensprozesses in der Westsahara (Drucksache 13/5725) 11898 C - zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Geplante Versenkung der Shell-Öl- plattform und glaubwürdiger euro- Nächste Sitzung 11898 D päischer Nordseeschutz

- zu dem Antrag der Abgeordneten Mi- Anlage chaele Hustedt, Dr. Jürgen Rochlitz, Liste der entschuldigten Abgeordneten . 11899* A Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11743

-

131. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, Von der Frist für den Beginn der Beratung soll bei liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff- allen Punkten der verbundenen Tagesordnung, so- net. weit erforderlich, abgewichen werden. Zunächst möchte ich dem Kollegen Herbert Meiß- Weiterhin ist interfraktionell vereinbart worden, ner, der am 15. Oktober seinen 60. Geburtstag fei- den Tagesordnungspunkt 21 vorzuziehen - das be- erte, im Namen des Hauses ganz herzlich gratulie- trifft den Antrag der Gruppe der PDS zu An- ren. passungsgeld und Knappschaftsausgleichsleistung für Bergleute in den neuen Bundesländern - und (Beifall) nach Tagesordnungspunkt 17 aufzurufen. Außerdem soll die zweite und dritte Beratung zum Kraftfahr- Der Abgeordnete Kurt Neumann (Berlin) gehört zeugsteueränderungsgesetz 1997 - Tagesordnungs- seit dem 8. Oktober 1996 nicht mehr der Fraktion der punkt 18a und b - abgesetzt werden. SPD an und ist seitdem fraktionslos. Des weiteren mache ich auf eine nachträgliche Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, daß der Abge- Ausschußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkt- ordnete Dr. Klaus Lippold (Offenbach) auf seine stell- liste aufmerksam: vertretende Mitgliedschaft im Regulierungsrat beim Der in der 110. Sitzung des Deutschen Bundestages am Bundesminister für Post und Telekommunikation ver- 13. Juni 1996 überwiesene nachfolgende Antrag soll nach- zichtet hat. Der Kollege Michael Jung (Limburg) träglich dem Verteidigungsausschuß zur Mitberatung über- wiesen werden: wird als neues stellvertretendes Mitglied vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Es gibt keinen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Widerspruch. Damit ist der Kollege Michael Jung als Eine kohärente Mittelmeerpolitik der Europäischen Union neues stellvertretendes Mitglied im Regulierungsrat - Drucksache 13/4868 - benannt. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Verteidigungsausschuß dene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: lung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union 1. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache (Er- gänzung zu TOP 23) Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus (21. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundes- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: regierung: Vorschlag für einen Beschluß des Rates Erstes Mehrjahresprogramm zur Förderung des europäi- a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- schen Tourismus „PHILOXENIA" (1997-2000) - Druck- regierung sachen 13/5555 Nr. 2.40, 13/5820 - Berufsbildungsbericht 1996 2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Vorschlägen zur Be- - Drucksache 13/4555 - steuerung von Renten, Kürzungen bei Witwenrenten und Heraufsetzung des Rentenalters Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technolo 3. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und BÜND- gie und Technikfolgenabschätzung (federführend) NIS 90/DIE GRÜNEN: Zur Lage in Osttimor - Druck- Ausschuß für Wirtschaft sache 13/5799 - Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung 4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der G ruppe der PDS: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haltung der Bundesregierung zur Zukunft der SKET Haushaltsausschuß Schwermaschinenbau GmbH Magdeburg als einem der letzten industriellen Großunternehmen in den neuen b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- Ländern ten Maritta Böttcher, Rolf Kutzmutz, Dr. Chri- 11744 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth sta Luft, Rosel Neuhäuser und der Gruppe der Lehrstellen. Dies haben wir inzwischen innerhalb PDS von einem Monat aufgeholt. Das sind Zukunftschan- cen für mehr als 20 000 junge Leute. Darüber freue Situation der beruflichen Aus- und Weiterbil- ich mich. Da können Sie machen, was Sie wollen. dung in der Bundesrepublik Deutschland - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Drucksachen 13/2791, 13/5675 - Natürlich weiß ich genau wie Sie, daß wir regional Zum Berufsbildungsbericht liegt je ein Entschlie- noch erhebliche Probleme haben. Natürlich weiß ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auch ich, daß wir mittel- und langfristig noch erhebli- und der Gruppe der PDS vor. Ein Entschließungsan- che Aufgaben haben. Ich wollte Ihnen gerade anbie- trag der Koalitionsfraktionen ist angekündigt. ten, daß wir genau darüber einmal gemeinsam nach- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind denken, und zwar vielleicht nicht ganz so eng. Aber für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. anscheinend habe ich das Problem, daß ich die SPD - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. schon wieder nicht erreicht habe. Gut, wenn Sie es so wollen, dann müssen wir wieder auf ein Stück alte Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt Minister Diskussion zurück. Dr. Jürgen Rüttgers. (Franz Thönnes [SPD]: Die Argumente sind eben zu dünn!) Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie: Frau Prä- Ich mag den Kollegen Rixe und den Kollegen Thön- sidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Be- nes. Unsere gemeinsame Diskussion ist wirklich von rufsbildungsbericht - eine jährlich stattfindende De- dem Willen getragen, etwas für junge Leute zu errei- batte. Die Frage, ob diese Debatte Unterhaltungs- chen. Deshalb ist mir eine solche Debatte schon ganz wert hat, werden wir in unserer Diskussion beant- wichtig. worten müssen. Ich habe gerade mit Herrn Kollegen Thierse darüber gesprochen, ob wir nicht eigentlich Ich finde es nicht richtig - ich fange diese Debatte dasselbe diskutieren, was wir immer diskutiert ha- heute an, wie es sich nach parlamentarischem Ge- ben, als wir in den letzten Wochen über Berufsbil- brauch gehört -, daß wir uns gleich wieder die Zahl dung miteinander sprachen. 80 000 um die Ohren schlagen. Ich habe sie im Vor- feld dieser Debatte gelesen. Es ist eine Zahl, die vom Ich sage das deshalb, weil wir nach den großen DGB kommt. Er behauptet, es gebe 80 000 junge Anstrengungen der letzten Woche natürlich alle ein Leute in der Warteschleife. wenig in der Gefahr sind, die altbekannten Argu- mente zu wiederholen. Wir sollten die Debatte vielleicht einmal dazu nut- zen, um uns darauf zu verständigen, daß junge (Günter Rixe [SPD]: Müssen wir ja auch!) Leute, die sich irgendwann beim Arbeitsamt nach ei- ner Lehrstelle erkundigt haben, die sich dann aber - Müssen wir, das ist unter Kommunikationsgesichts- entschließen, ihre schulische Ausbildung weiterzu- punkten richtig, Kollege Rixe. „Repetitio est mater machen, etwas Vernünftiges tun. Sie fällen eine Ent- studiorum", heißt der alte Satz. Das heißt, hoffentlich scheidung für ihre eigene Zukunft. Einen solchen verstehen es die Leute dann. Vorgang sollte man nicht dramatisieren, auch nicht Die andere Frage ist, ob wir angesichts der drama- zu Lasten des dualen Berufsbildungssystems. tischen Aufgabe, vor der wir stehen, nicht anfangen (Dr. [PDS]: Sie fallen müssen, diese Diskussion noch ein Stück weiterzu- damit aus der Statistik!) drehen und zu verfolgen. Wahr ist, daß es nach den großen Anstrengungen der letzten Wochen und Mo- - Sie fallen nicht aus der Statistik. Das sind Men- nate, die insbesondere von einem großen Engage- schen aus Fleisch und Blut. Sie treffen eine ganz per- ment des Bundeskanzlers in dieser Frage geprägt sönliche Entscheidung und sagen: Ich mache in die- waren, gelungen ist, den rechnerischen Ausgleich sem Jahr keine Lehre, sondern gehe zur Schule. bei den Lehrstellen zu schaffen. Das ist eine gute Nachricht. Es gibt für jeden jungen Mann und jede (Edelgard Bulmahn [SPD]: Weil sie keine junge Frau in Deutschland ein Lehrstellenangebot. Alternative haben!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich weiß gar nicht, was es dagegen zu sagen gibt. Das kann man den jungen Leuten doch nicht vorwer- Wahr ist aber auch - ich finde, bei aller Freude fen. über diesen Erfolg muß man auch dies sagen -, daß es regional noch erhebliche Probleme gibt. Tatsache ist - daran kommen Sie nicht vorbei -: Es gibt genügend Lehrstellen in diesem Jahr. Aber ich (Zurufe von der SPD) frage auch - das ist ein Punkt, der mir viel wichtiger - Jetzt werden Sie schon wieder nervös. Nun hören ist als die Debatte über die Zahlen; denn das hilft überhaupt keinem jungen Menschen -: Wie kommen Sie doch bitte zuerst mal zu. wir in den nächsten Jahren weiter? (Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [F.D.P.]: Sie Wir wissen, daß es zwei Problembereiche gibt. Der können nicht zuhören! Das ist ein Problem!) eine ist der quantitative Bereich. Die gute Nachricht Das ist ein Riesenerfolg. Am 1. September 1996 fehl in diesem Zusammenhang lautet: Es gibt junge Leute ten uns - auch in der Statistik - noch mehr als 20 000 in Deutschland. Jeder Jahrgang wird bis zum Jahr Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11745 Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers 2005 größer sein als der vorhergehende. Darüber an die Ausbildung studieren kann. Auch dies muß freue ich mich. Ich empfinde das als Chance für die- möglich sein. ses Land. Ich empfinde es aber auch als Aufgabe, da- für zu sorgen, daß nicht nur, wie in diesem Jahr, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. 620 000 junge Leute eine Lehrstelle erhalten, son- sowie des Abg. Günter Rixe [SPD]) dem daß im nächsten Jahr die dann notwendigen Das hat übrigens erhebliche Konsequenzen für 13 000 Lehrstellen mehr ebenso zur Verfügung ge- den Bereich des öffentlichen Dienstrechts und die stellt werden. Wir müssen insgesamt bis zum Jahr Debatte, die wir jetzt führen. Ich vermag nicht einzu- 2005 100 000 Lehrstellen zulegen. Das ist eine große sehen, warum ein Elektromeister nicht ein Elektro- Aufgabe und ein Riesenproblem. Das hängt auch mit ingenieurstudium an der Fachhochschule absolvie- der Tatsache zusammen, daß in der deutschen Wi rt ren soll, genauso wie ich nicht einsehe, warum eine -schaft die Anzahl der Lehrstellen leider abgebaut Krankenschwester im Anschluß an ihre Ausbildung worden ist: im Bereich der Großbetriebe um ein Vier- nicht Ärztin werden kann. tel, im Bereich der kleinen und mittleren Unterneh- men um ein Drittel. Ich vermute, daß wir alle mitein- (Edelgard Bulmahn [SPD]: Für uns ist das ander an dieser Stelle werden ansetzen müssen. Es schon lange möglich!) müssen wieder mehr Bet riebe ausbilden. Das ist die Eine weitere Bemerkung geht nicht nur dieses Kernaufgabe. Haus an und liegt nicht nur in der Bundeszuständig- (Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der keit: Eine der schlimmsten Zahlen dieser Tage und SPD) Wochen ist die Zahl, daß jedes Jahr 100 000 junge Menschen ohne eine Ausbildung bleiben oder eine - Darüber streiten wir. Das ist ein Punkt, über den es Ausbildung abbrechen. sich wirklich zu streiten lohnt. (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Das ist Ich habe mit großem Interesse zur Kenntnis ge- ein Problem!) nommen, daß die SPD dabei ist, wenn auch vorsich- tig, ihre langjährige Forderung nach einer Ausbil- Diese Zahl darf uns wirklich nicht ruhig werden las- dungsplatzabgabe nicht mehr zu erheben und aufzu- sen. Sie spiegelt nicht nur die Zerstörung von Zu- geben. kunfts- und Lebenschancen von jungen Leuten wi- der, sondern sie beinhaltet einen Appell an die ge- (Widerspruch bei der SPD - Günter Rixe samte Gesellschaft. Das sind die Arbeitslosen der [SPD]: Da hast du falsch gehört!) Zukunft mit all den Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, die Rentensysteme bis hin zur - Nein, Kollege Rixe. Verslumung; denn wer ohne Ausbildung ist, der ist Die SPD hat im Zusammenhang mit dem Lehr- morgen garantiert arbeitslos. lingskonsens in Nordrhein-Westfalen ausdrücklich (Günter Rixe [SPD]: Richtig!) und erklärtermaßen auf die Erhebung eine Ausbil- dungsplatzabgabe verzichtet. Wenn Sie jetzt hier Deshalb haben wir in den vergangenen Monaten wieder dasselbe fordern, dann müssen Sie zuerst ein- versucht, auch unser Berufsbildungssystem für das mal klären, welche Position Sie in Zukunft einneh- Jahr 2000 fit zu machen. Ich will jetzt nicht all das, men wollen. Auf jeden Fall bleibt es dabei: Mit der was im Perspektivbericht der Bundesregierung zur Bundesregierung wird es eine Ausbildungsplatzab- beruflichen Bildung aufgeführt war, noch einmal im gabe nicht geben. Detail darlegen. Ich will auch nicht im einzelnen auf- führen, daß davon schon sehr vieles in kurzer Zeit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) umgesetzt worden ist, Punkte, von denen vor Mona- ten noch keiner geglaubt hat, daß sie überhaupt um- Wir stehen allerdings - ich finde, das gehört dazu; das ist der Versuch, Herr Kollege Thierse, die De- gesetzt werden können. Es ist ein Riesenfortschritt für das duale Bildungssystem - batte über das Ritualhafte hinaus ein Stück weit zu ich bin dankbar da- für, daß dies gelungen ist -, daß wir die Zeit, in der öffnen - nicht nur vor einem quantitativen, sondern auch vor einem qualitativen Problem. Wir müssen Berufsbilder entwickelt oder verändert werden, von wahrnehmen, realisieren und dann auch die Konse- bis zu neun Jahren auf inzwischen ein Jahr verkür- quenzen daraus ziehen, daß der Lehrling nicht mehr zen konnten. Das ermöglicht es uns, das berufliche Bildungswesen ein 14jähriger Stift ist, sondern daß 70 Prozent der zu modernisieren und damit auch neue Lehrstellen zu akquirieren. Lehrlinge inzwischen erwachsene Menschen sind. Das heißt, daß die Lehrlingsausbildung auch von der Ich will drei Bemerkungen im Zusammenhang mit inhaltlichen Konzeption anders ausfallen muß, als der Reform des beruflichen Bildungswesens machen, dies noch vor wenigen Jahren der Fall war oder als die über das hinausgehen, was wir in den vergange- sie in den 70er Jahren gedacht worden ist. nen Debatten hier diskutiert haben. Der zweite Punkt ist: Wir sollten unseren Satz von Das erste ist: Wir werden in den nächsten Wochen der Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer und Monaten nicht daran vorbeikommen, uns mit Ausbildung, den jeder hier im Hause sagt, endlich dem Konsensprinzip in der beruflichen Bildung aus- ernst nehmen. Das heißt, wir müssen dafür sorgen, einanderzusetzen. Für diejenigen Kolleginnen und daß Ausbildung im dualen System nicht in eine Sack- Kollegen - wir diskutieren ja in der Kernzeit -, die im gasse führt, sondern daß man zum Beispiel als Lehr- Bereich der beruflichen Bildung nicht so firm sind, ling bei entsprechender Qualifikation im Anschluß sei erklärend hinzugefügt, daß es in den vergange- 11746 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers nen Jahren - durchaus bewährt - üblich war, alle Das hat etwas mit den qualitätsmäßigen Verände- Entscheidungen etwa im Zusammenhang mit dem rungen zu tun. Wir reden nicht über Jugendliche, Bundesinstitut für Berufsbildung einvernehmlich sondern zu 70 Prozent über Erwachsene. zwischen Gewerkschaften, Wi rtschaftsverbänden (Günter Rixe [SPD]: Ja, junge Erwachsene! - und Politik zu treffen. Es gab ein Konsensprinzip; es Das große Problem ist: Von 17 auf 18 wird wurde nur das gemacht, was einvernehmlich verein- man auf einmal reif!) bart worden ist. - Ja, das sind junge Erwachsene. Lieber Kollege Wir wissen, daß die berufliche Bildung keine Rixe, wer auf der einen Seite dafür eintritt, daß sie Staatsveranstaltung ist. Wir sind auf das Zusammen- mit 16 Jahren wählen dürfen, sie aber auf der ande- wirken von Bund, Ländern und Sozialpartnern ange- ren Seite im Rahmen ihrer Ausbildung nicht als mün- wiesen. Deshalb bleibe ich dabei: Wir brauchen in al- dig betrachtet, len wichtigen Grundsatzfragen auch in Zukunft Kon- sens. Aber - das will ich in die Debatte einführen -: (Günter Rixe [SPD]: Doch!) Konsens als Leitidee darf nicht zu einer Gedanken- der muß zuerst einmal über seine eigenen Grund- bremse für Innovationen werden oder zur Blockade sätze nachdenken. bei unterschiedlichen Auffassungen in Detailfragen führen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich wiederhole es, damit ich von jedem richtig ver- Ich kann es nicht als falsch erachten, wenn die standen werde: Das Konsensprinzip hat sich be- Frage der Arbeitsmarktverwertbarkeit zu einem Kri- währt. Aber Sinn und Ziel des Prinzips werden ver- terium der inhaltlichen Berufsbildung gemacht wird. fehlt, wenn Kompromisse zu häufig Lösungen auf Was nützt eine Ausbildung, wenn man im Anschluß dem kleinsten gemeinsamen Nenner sind oder wenn daran keine Chancen hat, einen Arbeitsplatz im Be- wichtige Innovationen auf Eis liegen, solange nicht trieb oder anderswo zu bekommen? in den letzten marginalen Sachfragen Einigung er- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - zielt ist. Zuruf von der SPD: Sie regieren doch!) Meine Damen und Herren, es geht um junge Men- Meine Damen und Herren, dazu gehört auch die schen. Diese jungen Menschen können nicht warten, Frage, ob nicht die Vorstellung verändert werden bis sich alle auf das letzte Komma, auf das letzte Jota muß, daß man in den ersten drei Jahren einer Lehre geeinigt haben. Deshalb sage ich, daß nach meinem all das lernen muß, was man bis zum 65. Lebensjahr Verständnis in solchen Fällen, auch im Bereich der braucht. Müssen wir nicht eine modulare Ausbil- beruflichen Bildung, mehr als bisher politisch ent- dung haben? Müssen wir nicht eine Stufenausbil- schieden werden muß - im Zweifel auch einmal ge- dung haben? Müssen wir nicht vor allen Dingen dif- gen die eine oder andere festgefügte Position. ferenzieren zwischen denen, die mehr praktisch be- Der zweite Punkt hat etwas mit der inhaltlichen gabt sind, und den Leistungsträgern? Müssen wir Ausrichtung der Berufsausbildung zu tun. Duale Be- nicht Angebote entsprechend den Möglichkeiten der rufsausbildung ist für mich primär eine betriebliche jungen Leute bieten? Ausbildung, keine staatliche Ausbildung an der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Schule. Das heißt, wir müssen die Berufsausbildung Jörg van Essen [F.D.P.]) in Zukunft neu auf den Betrieb beziehen. Wenn ich zum Beispiel höre, liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Kollegen, daß Reisekaufleute noch Buchhaltung ler- ordneten der F.D.P.) nen müssen, obwohl das inzwischen in der Regel weitgehend von Fremdfirmen erledigt wird, oder Deshalb ist die Debatte über den zweiten Berufs- wenn ich höre, daß sich Bürokaufleute in der Berufs- schultag so wichtig, und deshalb bleibt sie auf der schule mit der Gründung einer Holding beschäfti- Tagesordnung. Der zweite Berufsschultag muß nach gen, aber Schwierigkeiten beim Schreiben eines Ge- meiner festen Überzeugung weg, nicht, um das Ni- schäftsbriefes haben, dann bin ich der Auffassung, veau in der Berufsausbildung zu senken, sondern da- daß wir uns über die Inhalte, die in der Berufsschule mit die jungen Leute mehr im Betrieb sind. Sie brau- vermittelt werden, ernsthaft unterhalten müssen. chen auch im Bet rieb Ausbildung; denn nur dann ha- ben sie im Anschluß eine Chance, einen Arbeitsplatz Wir werden in Zukunft den Weg des modularen im Betrieb zu bekommen. Aufbaus bei der Neuordnung der Berufe gehen. Dies ist zum Beispiel bei der Neuordnung der Berufe in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge der Druckindustrie der Fall. Wir werden es bei den ordneten der F.D.P.) Ausbildungsordnungen zu den neuen IuK-Berufen, die zum 1. August 1997 in Kraft treten sollen, vorse- Ich weiß, daß das ein Punkt ist, über den man dis- hen. Ich glaube, daß das ein inhaltliches Konzept ist, kutieren muß. Ich weiß, daß es andere Auffassungen mit dem wir einen erheblichen Gewinn für die beruf- gibt, stelle diesen Punkt aber zur Diskussion. Ich liche Bildung erzielen werden. glaube, daß eine stärkere Orientierung an betriebli- chen Bedürfnissen in jedem Fall ein Qualitätsgewinn Lassen Sie mich einen dritten und abschließenden ist, sowohl für die Ausbildungs- und Berufschancen Punkt nennen. Die Differenzierung der Ausbildungs- der jungen Leute als auch für den Bet rieb und den angebote wird wahrscheinlich die Kernantwort unse- Standort Deutschland insgesamt. rer Reformbemühungen sein. Das heutige Maß an Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11747

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers Differenzierungen reicht nicht aus. Trotz allen Bemü- Wenn dann am Ende alles genau nachgezählt ist, hens beträgt der Anteil eines Altersjahrgangs, der stellt sich heraus, daß das nicht stimmt. Diese Politik keine Ausbildung durchläuft oder ohne Abschluß von der Hand in den Mund ödet mich schlicht an. bleibt, zwischen 10 und 14 Prozent. Das liegt sicher- lich auch an den allgemeinbildenden Schulen, denen (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei es offensichtlich immer weniger gelingt, allen Schü- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lern die notwendige Ausbildungsreife zu vermitteln. Deshalb muß die berufliche Bildung heute diese De- So darf man mit den Schicksalen der jungen Men- fizite mit besonderen Fördermaßnahmen ausglei- schen nicht umgehen. chen. Ich finde, das muß sich ändern. Wir können nicht ein Bildungssystem praktizieren, in dem das je- Als Variante dieses Rituals werden nun die Länder weils folgende System die Defizite des vorhergehen- ins Spiel gebracht, um Verantwortung vom Bund den in einem langen und teuren Prozeß ausgleichen weg auf die Länderminister zu schieben. muß. Darüber müssen wir mit den Ländern reden. (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Die sind im Spiel! Die werden doch nicht da reinge- Genauso wie es notwendig ist, weitere Qualifizie- bracht!) rungsmöglichkeiten für leistungsschwächere Ju- gendliche zu schaffen, genauso brauchen wir auch Dabei hat der Bund seine Ausbildungsleistung seit Qualifizierungsmöglichkeiten für die besseren. 1991 deutlich abgebaut, von 33 400 auf 18 000 - mi- nus 46 Prozent. Meine Damen, meine Herren, das ist eine Auf- Empörend finde ich, Herr Kollege Rüttgers, wie Sie gabe, mit der wir uns über den heutigen Tag hinaus in diesem Zusammenhang mit Ostdeutschland um- werden beschäftigen müssen. Die Schaffung von 100 000 neuen Lehrstellen ist eine große Aufgabe. gehen. Dort gibt es nach Zusammenbruch und Ab- wicklung viel zu wenige Betriebe, die überhaupt aus- Niemand kann behaupten, daß diese Aufgabe be- bilden können. Trotzdem hat Ostdeutschland 1995 reits gelöst sei. Ich bin fest davon überzeugt, daß es allein für den gesamten Anstieg der Zahl der abge- uns gelingen muß, Unkonventionelles zu denken. schlossenen Ausbildungsverträge gesorgt. Ange- Denn an einem Punkt ist die Auffassung der Bundes- sichts der ostdeutschen Finanzsituation kann nun regierung ganz fest: niemand einfach mit dicken Geldbündeln zu den (Günter Rixe [SPD]: An einem Punkt!) Handwerksmeistern, zu den kleinen und mittleren Unternehmen gehen. Vielmehr muß man sich das ge- Der Wert der dualen Ausbildung liegt darin, daß nau überlegen, um Mitnahmeeffekte zu verhindern. junge Menschen am Beginn ihres Arbeitslebens eine Das muß man doch zugestehen. Chance bekommen. Das ist eine der besten Traditio- Die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit weist nen, die unser Ausbildungssystem und unsere Ge- aus, daß in Ostdeutschland Ende September etwa sellschaftsordnung haben. 14 000 Bewerber auf 1 000 gemeldete Ausbildungs- plätze trafen. Eine ausgeglichene Lehrstellenbilanz (Günter Rixe [SPD]: So ist es! Aber da gibt ist das nicht. es unterschiedliche Wege!) (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei An dieser Stelle sollten wir uns in der Diskussion Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE auch nicht auseinanderdividieren lassen: Auch in Zu- GRÜNEN) kunft brauchen junge Leute am Beginn ihres Arbeits- lebens eine Chance; deshalb muß jedem auch in Zu- Die werden Sie auch nicht bekommen, wenn Sie kunft eine Lehrstelle angeboten werden. hilfsweise Landesregierungen beschimpfen. Sie kön- nen dieses oder jenes kritisieren - Sie nennen ja auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - das CDU-regierte Sachsen -, aber aus der Verant- Günter Rixe [SPD]: So ist es! Da sind wir wortung für die Ausbildungsplatzsituation in uns einig!) Deutschland können Sie sich nicht einfach davon- stehlen. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE der Kollege Wolfgang Thierse. GRÜNEN - Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Was gut ist, bleibt gut! - Gegenruf des Abg. Günter Rixe [SPD]: Das stimmt ja gar nicht! Wolfgang Thierse (SPD): Frau Präsidentin! Meine Das ist nicht gut, was Sie machen! - Gegen- Damen und Herren! Es ist jedes Jahr das gleiche Ri- ruf des Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/ tual: Im Frühjahr warnt die Opposition vor einem CSU]: Allemal besser als das andere!) sich ankündigenden Ausbildungsplatzmangel; der zuständige Bundesminister wiegelt ab. Kurz darauf Sie vernachlässigen den Mangel an Bet rieben und ruft er selbst: „Haltet den Dieb! ", entfaltet hektische die höheren Kosten für eine quasi verstaatlichte Be- Aktivitäten und verfaßt Aufrufe. Im Oktober dann rufsausbildung, die doch übrigens keine Dauerlö- folgt, mit Eigenlob garniert, die Meldung, die Lehr- sung sein kann. Sie vernachlässigen die statistische stellenbilanz sei ausgeglichen. Aussichtslosigkeit, den Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen zu beseitigen. Das Sonderpro- (Franz Thönnes [SPD]: Rechnerisch!) gramm ist gut und richtig; aber die Schmähungen, 11748 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Wolfgang Thierse die Sie glauben daraus ableiten zu dürfen, sind ein- Wolfgang Thierse (SPD): Ja. fach unangemessen. Das ist Ignoranz gegenüber den besonderen Problemen in Ostdeutschland. Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Herr Kollege (Beifall bei der SPD und der PDS) Thierse, ist Ihnen nicht bekannt, daß in diesem Jahr- anders als in allen vorhergehenden Jahren die Ver- einbarungen mit den ostdeutschen Ländern vier oder Herr Thierse, ge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: fünf Monate vor Ende des Ausbildungsjahres abge- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten schlossen worden sind? Das heißt, sie hatten vier Rüttgers? oder fünf Monate mehr Zeit als in den vorhergehen- den Jahren, genau dies umzusetzen. Wolfgang Thierse (SPD): Ja. Können Sie mir ferner bitte mal erklären, was es mit der sonstigen betrieblichen Situation in Ost- Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Entschuldigen deutschland zu tun hat, wenn Landesregierungen - Sie bitte, Herr Kollege Thierse, daß ich störe. Aber und zwar nur einige, nicht alle - nicht in der Lage ich habe nicht verstanden, was Sie gerade vorgele- sind, ein Programm, auf das sie sich mit dem Bund sen haben. Ist es richtig, daß über 5 000 Stellen des verständigt haben, so umzusetzen, daß die jungen Sonderprogramms Ost, die in der Verantwortung der Leute ihre Lehrstellen bekommen? Landesregierungen liegen, noch nicht den jungen Menschen angeboten worden sind, ja oder nein? Wolfgang Thierse (SPD): Herr Rüttgers, die A rt, wie Sie fragen, zeigt schon, daß Sie nicht genau wis- Wolfgang Thierse (SPD): Das ist richtig. sen, worin die Schwierigkeiten in Ostdeutschland (Zurufe von der SPD und der PDS) bestehen. (Beifall bei der SPD und der PDS - Wider- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Thierse hat spruch bei der CDU/CSU) das Wort. Wissen Sie, ich breche doch nicht in Jubel aus, daß dieses Programm nicht vollständig umgesetzt ist. Ich Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Wenn ich nach- werbe nur um Verständnis für die besonderen fragen darf: Wieso kritisieren Sie denn, daß ich die Schwierigkeiten ostdeutscher Landesverwaltungen. Landesregierungen aufgefordert habe, den jungen Leuten, die in Ostdeutschland dringend eine Lehr- Übrigens sind diese Schwierigkeiten parteipoli- stelle suchen, diese zur Verfügung zu stellen? tisch wirklich neutral. Sie entstehen, weil erstens die Betriebe nicht vorhanden sind und weil zweitens (Zurufe von der SPD) diese Länder in den vergangenen Jahren - ich habe die Zahl genannt - eine deutliche Zunahme auch an Wolfgang Thierse (SPD): Herr Kollege Rüttgers, Ausbildungsplätzen organisiert haben. Das im je- wenn Sie genau zugehört haben, haben Sie gemerkt, weils nächsten Jahr wieder neu zu organisieren ist daß ich ausdrücklich gesagt habe, daß das Sonder- nicht ganz leicht. Sie können bei den unterschiedli- programm gut und richtig ist. Ich habe darauf hinge- chen Ländern im einzelnen verfolgen, worin die wiesen, daß Sie gegenüber den besonderen Schwie- Schwierigkeiten bestehen. rigkeiten in Ostdeutschland ignorant sind. Ich kritisiere dieses Sonderprogramm doch nicht, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sondern lobe es. Ich kritisiere nur eine bestimmte A rt PDS) von ignoranter Kritik an den ostdeutschen Landesre- gierungen, weil bei dieser die Schwierigkeiten, die Ich bitte darum, zu beachten, daß das Programm innerhalb der Fristen, die Sie gesetzt haben - sie sind es dort gibt, nicht wirklich ernstgenommen werden. extrem kurz -, vernünftig realisiert werden muß, so (Beifall bei der SPD und der PDS - Joachim daß keine Mitnahmeeffekte entstehen, und daß es Hörster [CDU/CSU]: Die darf man kritisie- möglich ist, dieses Programm mit den jeweiligen lan- ren?) deseigenen Programmen zu kombinieren, die die verschiedenen Landesregierungen aufgelegt haben. Lassen Sie mich von der Beschreibung des Rituals Ich bitte, dies einfach zu respektieren und vor allem zu einigen anderen wichtigen Punkten kommen. Bis auch zu sehen - das war mein Hauptargument -, daß weit in das nächste Jahrtausend hinein werden wir es in Ostdeutschland gar nicht genügend Unterneh- wachsende Zahlen von Schulabgängern haben. All men gibt, die betriebliche Ausbildungsplätze zur diejenigen, die jetzt und in den letzten Jahren in die Verfügung stellen können. Das ist einer der Gründe bekannten Warteschleifen abgedrängt wurden, kom- für die Schwierigkeiten, in die die ostdeutschen Lan- men Jahr für Jahr dazu. Ihre Politik hilft da nicht. Das desverwaltungen geraten sind. Dies wollte ich be- Problem muß wirklich und dauerhaft gelöst werden. schreiben. Wir haben zu diesem Zweck einen gerechten Lei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne stungsausgleich zwischen ausbildenden und nicht ten der PDS) ausbildenden Betrieben vorgeschlagen. Ich weiß, daß Sie da nur abwehren. Aber wo ist denn Ihre Al- ternative? Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Rüttgers? (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11749 Wolfgang Thierse Dieser Ausgleich ist keine Strafsteuer; er ist gebo- Von freier Berufswahl kann man nicht reden; denn ten, um die Ausbildung sicherzustellen. Auch Sie be- dieses hohe Gut gilt als erreicht, wenn die Zahl der streiten doch nicht die gesellschaftliche Ausbildungs- Ausbildungsplätze die der Bewerber um 12,5 Prozent verpflichtung der Wirtschaft. Sie muß gegen den Un- überschreitet. Da aber die Zahl der Stellen die der geist durchgesetzt werden, Ausbildungsplätze bloß Bewerber unterschreitet, gibt es also in diesem Land - als Kostenstellen mit zwei Ohren abzutun. nach unumstrittenem Kriterium keine freie Berufs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne wahl. Damit kann, damit darf sich der Deutsche Bun- destag nicht zufriedengeben. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Selbst wenn wir unterstellen, daß Großunternehmen ten der PDS) nachvollziehbare Gründe jenseits schnöder Kosten- Ihre Erfolgsmeldungen, Herr Rüttgers, sind also argumente haben, dürfen wir nicht akzeptieren, daß hohl und beschönigend, und dem geschilderten Ri- insgesamt weniger ausgebildet wird. Gemeinsinn tual stelle ich die Bemühungen der Landesregierung geht vor Eigennutz, auch wenn das altmodisch in Nordrhein-Westfalen gegenüber. Sie hat mit den klingt. Kammern, den Arbeitsämtern und den Gewerkschaf- Übrigens: Es ist immer von Hemmnissen die Rede, ten verbindlich Ausbildungsplätze vereinbart. Dar- die es Betrieben erschweren, Ausbildungsplätze an- über hinaus hat man ebenso verbindlich vereinbart, zubieten. Fortan weiß man, was der zuständige Bil- neue Ausbildungsberufe zu entwickeln. Es ist nicht dungsminister darunter versteht. Er hat es der stau- vorgesehen, den Jugendschutz zu durchlöchern oder nenden Öffentlichkeit via „Bild-Zeitung" mitgeteilt: für mehr Bier am Arbeitsplatz sorgen zu lassen. Dürften Lehrlinge während der Ausbildungszeit Bier holen und die Halle fegen, dann wären die Lehrstel- (Beifall bei der SPD) len vollständig besetzt. Das ist offensichtlich das un- Ich weiß nicht, ob die Rechnung in NRW aufgehen konventionelle Denken, das Herr Rüttgers forde rt . So wird, aber schon die Anstrengung hebt sich positiv niedrig ist nicht einmal das Niveau von Stammti- von dem alljährlichen Ritual der Bundesregierung schen. ab. Das Ergebnis ist handfester als Ihre bloßen Ap- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne pelle und Ihre Ablehnung des Leistungsausgleichs. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist mehr, als Sie je unternommen haben. Man könnte die Ministeräußerung als Realsatire (Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken [CDU/ abhaken; aber zum Lachen ist sie nicht. Sie beweist CSU]: Da liegen Sie völlig falsch!) die Hilflosigkeit der Bundesregierung in einer der wichtigsten Zukunftsfragen unseres Landes. Die Zu- Meine Damen und Herren, wir reden hier über kunft ist aber nicht mit dummen Sprüchen zu gewin- wichtige Zukunftsfragen. Neben Wissenschaft, For- nen, die schon vor 30 Jahren falsch waren. schung, Technik, Innovation ist die Qualifikation der Schlüssel für die notwendige Modernisierung. Des- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) halb müssen wir das duale System gegen seine ten- denzielle Aushöhlung verteidigen. Und dem Hand- Es hat wenig Sinn, über Zahlen zu streiten; das ge- werk müssen wir danken. Es bildet mehr aus als die hört bloß zum Ritual. Sie wissen, Herr Bundesbil- anderen Teile der p rivaten Wirtschaft: bei einem An- dungsminister, daß die Statistiken der Bundesanstalt teil von 20 Prozent der Beschäftigten 38 Prozent der immer einen vorläufigen Charakter haben. Aber sie Auszubildenden. Respekt! weisen für den September über 38 000 unvermittelte Bewerber aus. (Beifall bei der SPD) Was ist mit den Jugendlichen, die aus der Statistik Meine Damen und Herren, statt des Stückwerks einfach verschwinden? Im August waren das 47 700 Ihrer alljährlichen Rituale brauchen wir eine Politik, oder 9,6 Prozent. Die Zahl gilt für das laufende Be- die sich wirklich des erheblichen Reformbedarfs an- richtsjahr und nur für Westdeutschland. 21 700 oder nimmt, der sich in den letzten 14 Jahren angestaut 4,4 Prozent nahmen eine Arbeit ohne Ausbildung an. hat. Es ist höchste Zeit, daß wir uns an einen Tisch Die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellen ist setzen, wie es Ihnen Franz Müntefering bereits vor- schlicht eine Niederlage für die Bundesregierung. Ei- geschlagen hat. Die Berufsbilder können nicht mehr nen Zuwachs von 10 Prozent hatten die Spitzenver- für Jahrzehnte festgeschrieben werden. Sie müssen bände dem Bundeskanzler zugesagt. Eine Abnahme dem schnellen Wandel der Anforderungen angepaßt von 3,8 Prozent ist dabei herausgekommen. werden. Wie organisieren wir das? Trotzdem lehnen Sie sich bequem zurück und neh- Die Anforderungen werden immer höher. Wer ih- men befriedigt den Saldo von über 5 000 Bewerber- nen nicht gewachsen ist, hat viel geringere Chancen überschuß, wie das die FAZ genannt hat, zur Kennt- als früher. Wie helfen wir? nis. Sie übergehen den ständig wachsenden Anteil derjenigen, die zwar mitgezählt werden, aber in Die Arbeitsteilung zwischen Berufsschule und Be- Wirklichkeit keinen beruflichen Ausbildungsplatz trieb stimmt nicht immer. Die berufliche Erstausbil- haben. Grob überschlagen sind das 200 000 und dung muß mehr als bisher Grundlagen für flexibles mehr als im Vorjahr. Das ist die wirkliche Situation. Weiter- und Umlernen schaffen. Können die Haupt- schulen objektiv noch auf so eine Art beruflicher Bil- (Beifall bei der SPD) dung vorbereiten, und wie können sie das? 11750 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Thierse, ge- Jahr und in diesem Jahr auflegt. Das ist nicht wenig, statten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordne- und darin steckt sehr viel Geld, ten Schulze? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten der PDS) - (SPD): Ja. Wolfgang Thierse und das in einem Land, das aus ökonomischen Grün- den - wegen des wahnwitzigen Umbruchs, der dort Frederick Schulze (CDU/CSU): Herr Kollege stattfindet - finanziell nicht sehr gut gebettet ist. Thierse! Sie haben ja vorhin versucht, der Bundesre- (Beifall bei der SPD - Dr.-Ing. Rainer Jork gierung die gesamte Schuld an der Ausbildungs- [CDU/CSU]: Sagen Sie mal etwas über die platzsituation zuzuschieben. Sie haben dabei auch Erfolge dabei!) sehr klar erkennen lassen, daß Sie überhaupt nicht begriffen haben, wie unser Staatsaufbau ist. Ich habe ein paar Fragen genannt, über die zu dis- kutieren sich wirklich lohnt. Praktiker geben Ant- (Lachen bei der SPD) worten; Bund, Länder, Arbeitgeber und Gewerk- schaften müssen sie gemeinsam beraten. Der Bun- Das nehme ich Ihnen aber nicht weiter übel. desbildungsminister müßte diese Verständigung ein- Aber ich möchte auf eines zurückkommen. Wenn leiten, aber er tut es nicht. Von einem mittel- und Sie immer unsere Landesregierung so in Schutz neh- langfristigen Konzept ist weit und breit nichts zu se- men, dann nehmen Sie bitte mal zur Kenntnis - und hen. Deshalb streiten wir mit Ihnen um die Siche- ich möchte fragen, ob Sie dazu bereit sind -, daß die rung der Zukunft unseres Landes und nicht über Regierung des Landes Sachsen-Anhalt im letzten höchst zweifelhafte Erfolgsmeldungen. Jahr die Vergütung für Betriebe im Ausbildungsbe- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje reich gekürzt hat, daß sie die Mittelstandsförderung Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) um 118 Millionen gekürzt hat, und das hat besonders das Handwerk getroffen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der Das, was Sie hier machen, ist billiger Populismus - Kollege Rainer Jork. nehmen Sie es mir nicht übel. Sie wollen sich aus der Verantwortung, die auch die Landesregierungen für - - Dr. - Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir hörten (Zurufe von der SPD: Frage!) bereits, daß auch das Jahr 1996 voraussichtlich eine rechnerisch ausgeglichene Lehrstellenbilanz zeigen wird. Wir haben bereits gehört, wie kritisch man das Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Was fragen Sie? sehen kann. Es muß gerechnet werden. Wir haben eben auch gehört, daß das Sachsen-Anhalt ganz gut gemacht habe. Bloß, einen Strich darunter haben sie (CDU/CSU): Die Frage hatte ich Frederick Schulze nicht gezogen; die Ergebnisse haben wir leider nicht ja gestellt, ob er bereit ist, anzuerkennen, daß sich gehört. die Landesregierungen hier leider aus der Verant- wortung herausstehlen wollen. 1995 hat es auch in den alten Bundesländern - wir wissen das - eine Trendwende gegeben. Erstmals seit Mitte der 80er Jahre ist die Zahl der neuen Aus- Wolfgang Thierse (SPD): Wissen Sie, das gehört bildungsverträge zum 30. September 1995 nicht ge- genau zu dem Ritual, das mich anödet. Wir sind hier sunken. In den neuen Bundesländern hat es von im Bundestag, und die Opposition im Bundestag hat 1994 auf 1995 einen Zuwachs von knapp über als Gegenüber die Bundesregierung. Sie ist ihr kriti- 11 Prozent gegeben. scher Gegenstand. Das werden Sie doch respektie- ren, nachdem Sie meinten, mich über den Staatsauf- Das sind zuerst sehr positive Nachrichten. Nun ist bau belehren zu müssen. Deswegen ist dies unser mit diesen positiven Trends das Lehrstellenproblem kritisches Gegenüber. Hilft es irgend jemandem, noch keinesfalls gelöst; wir haben das auch im Be- wenn wir uns einig sind in der Kritik an Landesregie- rufsbildungsbericht lesen können. rungen? Hilft es irgend jemandem? (Günter Rixe [SPD]: Ja, aber ihr habt hier (Frederick Schulze [CDU/CSU]: Dann ver etwas anderes gesagt!) suchen Sie es doch endlich mal mit der Wahrheit! Dann kommen wir weiter!) - Tatsache ist, Herr Rixe, daß jeweils zu Beginn des Ausbildungsjahres die Lücke zwischen Angebot und Im übrigen, Herr Kollege: Da Sie ja Bundestagsab- Nachfrage noch nicht geschlossen war. Herr Thierse geordneter aus Sachsen-Anhalt sind, nannte das „Ritual" und tut so, als ob er nicht betei- ligt sei. (Maritta Böttcher [PDS]: Was?) Tatsache ist auch, daß die Nachfrage nach Lehr- sollten Sie ein bißchen genauer wissen, welche Pro stellen in den nächsten Jahren in den neuen Bundes- gramme die Landesregierung in Sachsen-Anhalt zur ländern nicht geringer wird und in den alten Bundes- Schaffung von Ausbildungsplätzen im vergangenen ländern eher noch zunimmt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11751

Dr.-Ing. Rainer Jork Tatsache ist schließlich ebenso, daß in einigen meiner Sicht in Ihrem Beitrag eine sehr deutliche wichtigen Berufsfeldern, insbesondere bei an- Lücke. spruchsvollen technischen und Dienstleistungsberu- fen, die Ausbildungsbereitschaft der Bet riebe zu- (Günter Rixe [SPD]: Das ist Bundesangele- rückgeht. genheit! Arbeitgeber, Tarifpartner, Bund!) - Der Bund, aber auch die Bet riebe - Herr Rixe, Sie Die Betriebe handeln kurzsichtig, wenn sie heute als Meister wissen das am allerbesten - und die Län- keine Lehrlinge einstellen; denn - ich zitiere jetzt et- der. was - der „Mangel an jungen Facharbeitern kann die Betriebe in Zukunft teuer zu stehen kommen". Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eine Zwischen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. frage Ihres Kollegen Dreßen. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich zitierte den Direktor des Arbeitsamtes Chemnitz, Peter Dreßen (SPD): Herr Kollege, könnten Sie mir Handschuh; wir haben das der Presse entnehmen zustimmen, daß wir nur dort ausbilden sollten, wo es können. ausbildungsfähige Betriebe gibt, die nach einem Be- rufsbild ausbilden können? Es ist und bleibt Aufgabe der Unternehmen, ein ausreichendes Lehrstellenangebot bereitzustellen. (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Vor allem auch aus Sicht der Lehrlinge ist ein größe- res betriebliches Lehrstellenangebot unverzichtbar. Könnten Sie mir darüber Auskunft geben, welche Nichts schützt junge Berufsanfänger so sicher vor der Berufsausbildung beim Deutschen Gewerkschafts- Arbeitslosigkeit wie eine erfolgreich abgeschlossene bund möglich wäre? Wir wollen Frau Rönsch ja auf- betriebliche - ich wiederhole: betriebliche! - Ausbil- klären. dung. Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Ich bin immer da- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) für, daß man die Sache richtig an der Basis klärt. Ich Darüber hinaus machen Projektionen zur langfri- weiß natürlich, daß die Arbeiten in den Gewerk- stigen Entwicklung des Arbeitskräftebedarfs bis zum schaften - ich war sehr lange selbst Mitglied - denen Jahre 2010 deutlich, daß sich die Beschäftigungs- im öffentlichen Dienst gar nicht unähnlich sind. Der chancen von Absolventen der betrieblichen und öffentliche Dienst ist auch Pa rtner. Warum denken schulischen Berufsausbildung verbessern. denn die Herrschaften nicht nach? Nun hilft es wenig, wenn wir die Unternehmen be- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schimpfen und ihnen - wie es, wir haben es wieder Ich bin gerne bereit, mit Ihnen darüber zu diskutie- gehört, die SPD in Teilen und die PDS ohnehin tut - ren. Das machen wir gerne. mit Umlagen und gesetzlich auferlegten Verpflich- tungen drohen. Die Bereitstellung von Ausbildungs- (Jörg Tauss [SPD]: Das war beim FDGB so, plätzen beruht auf der Notwendigkeit für die Be- aber hier nicht!) triebe, sich rechtzeitig qualifizierte Arbeitskräfte zu - Ich weiß nicht, in welcher Gewerkschaft Sie gewe- sichern. Sie können selbst am besten beurteilen, wie sen wären, wenn Sie in der DDR gewohnt hätten, groß ihr Bedarf in Zukunft sein wird. Herr Tauss. Das können Sie mir gerne sagen. Ich bin sehr dafür, daß wir darüber nachdenken, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Jork, gestat- wie wir das an bet rieblicher Praxis gutmachen. Ich ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rönsch? bin nicht der Meinung, daß das die besten Plätze sind. Aber wenn wir vom Staat Gelder fordern, damit Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Ja, bitte. außerbetriebliche Plätze gefördert werden, ist es doch wohl nur recht und billig, daß wir auch einmal darüber nachdenken, wie die Gewerkschaften, die Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr konstruktive Partner sind, sein sollen, sein wollen, Kollege Jork, Kollege Thierse hat die Ausbildungs- Plätze bereitstellen können. Ich freue mich, wenn da platzabgabe wieder angesprochen. Könnten Sie mir etwas kommt. Ich meine das nur konstruktiv. Frau sagen, wie hoch diese Ausbildungsplatzabgabe beim Rönsch hat das mit ihrer Rückfrage sicher auch so ge- DGB sein könnte, der nachweislich nicht einen Aus- meint. bildungsplatz geschaffen hat? (Beifall bei der CDU/CSU) (Zurufe von der CDU/CSU: Hört, hört!) Die Ausbildungskosten und die Anwesenheit des Lehrlings im Bet rieb sind heute zu wesentlichen, Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Kollegin Rönsch, auch hemmenden Faktoren geworden. Wenn hier ich bin mir sicher, daß es dort gute Leute gibt, die mehr auf die innerbetrieblichen Bedürfnisse einge- darüber nachdenken, ob es nicht besser ist, Lehrstel- gangen würde, könnte sich die Situation bereits er- len bereitzustellen, und was das kostet, ob sich das heblich verbessern. Nun liegt dies nicht in der Ver- lohnt. Es ist schon sinnvoll, einmal gemeinsam dar- antwortung des Bundes, sondern in der der Tarifpart- über nachzudenken, daß nicht der Staat das Lehrstel- ner und der Länder. - Das paßt gut zu Ihren Zwi- lenproblem zu lösen hat. Herr Thierse, da war aus schenfragen. - Ich wünschte mir, die Kollegen von 11752 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr.-Ing. Rainer Jork der Opposition könnten mit dieser Tatsache endlich wortung übernehmen, anwesend, nicht nur die Ver- leben. treter aus Sachsen. Die PDS macht die Lehrstellensicherung dagegen Diese Anhörung hat unter anderem natürlich erge- zur Systemfrage; wir haben das im Ausschuß gehört. ben, daß in der näheren Zukunft noch Hilfe erforder-- Sie will das auf Freiwilligkeit beruhende System zen- lich ist. Wir wünschen uns, daß der Bund zusammen tralistisch umgestalten. Ich bitte Sie, Kolleginnen mit den Ländern bereit sein wird, diese Hilfe bedarfs- und Kollegen von der SPD, zu prüfen, inwieweit Sie abhängig zu leisten. Eine Orientierung sollte dabei dabei Wegbegleiter sein wollen. Ich denke an den die Förderung in diesem Jahr sein, in dem Bund und Beitrag von Herrn Thierse. Sie wissen, worum es Länder 14 300 zusätzliche Plätze bereitstellten und geht, auch wenn Sie die Hände heben. Das ist nicht die Kosten zu jeweils 50 Prozent trugen. unbedingt hilfreich. Ich verstehe allerdings nicht, daß, wie wir soeben (Wolfgang Thierse [SPD]: Das ist eine gehört haben, Herr Rixe, die angebotenen Förderpro- Unterstellung! - Edelgard Bulmahn [SPDJ: gramme zum Beispiel in Sachsen-Anhalt, für die eine Worüber reden Sie überhaupt?) entsprechende Richtlinie erforderlich ist, erst ab 1. Oktober erlassen werden. Das ist unbrauchbar. Wir von der CDU/CSU jedenfalls halten daran fest, Wie kann ich auf andere schimpfen, wenn ich selber daß die Ausbildung für die Bet riebe eine lohnende so locker damit umgehe? Investition ist, daß eine staatliche Quotierung der Be- rufschancen und der Aufbau einer Planungsbürokra- Wer wie Sie jährlich zu einem solchen Geschrei an- tie der Sache nicht dienlich sind und daß nur die ein- hebt, der sollte schon der Redlichkeit wegen dafür zelbetriebliche Verantwortung gewährleistet, daß sorgen, daß die Hilfe zur rechten Zeit kommt. Herr Berufsausbildungsangebot und Beschäftigungssy- Thierse, Sie sprechen von Opposition und dem stem nicht entkoppelt werden. Grundsatz, Widerpart zur Regierung zu sein - das ist auch richtig -, aber Sie wollen doch sicher hilfreich Schließlich geht es im Interesse der Jugendlichen sein, und Sie helfen nicht, wenn Sie die Tatsachen um zwei Punkte - da sind wir uns wohl einig -: zuerst verkleistern. Auch das ist eine Frage der Redlichkeit. das Erreichen einer hohen, praxisnahen Qualifika- tion im gewählten Beruf und dann die reale Chance, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- darin auch einen Arbeitsplatz zu finden. ordneten der F.D.P.) Die Politik muß gemeinsam mit den Sozialpartnern In den neuen Bundesländern ist die Situation im- und allen Zuständigen dafür sorgen, daß die Rah- mer noch vom Übergang von einer Plan- zur Markt- menbedingungen für eine Ausweitung des Lehrstel- wirtschaft gekennzeichnet. Es ist noch nicht gelun- lenangebotes stimmen. Wir brauchen ein modernes gen, ein voll funktionsfähiges duales System zu und flexibles Ich sehe die schaffen; der hohe Anteil außerbetrieblicher Plätze Berufsausbildungssystem. zeigt das. In vielen ostdeutschen Bet rieben wird die Berufsbildung auf einem guten Weg. Kosten-Nutzen-Rechnung unter kurzfristigen Ge- Der Berufsbildungsbericht 1996 zeichnet ebenso sichtspunkten bewe rtet, wofür man bei wirtschaftlich wie die Ausführungen der Bundesregierung zur Gro- unsicheren Rahmenbedingungen und dem geringen ßen Anfrage der PDS Perspektiven auf, mit denen Eigenkapital vieler Unternehmen wohl Verständnis die berufliche Ausbildung gestärkt und die Attrakti- haben muß. vität der beruflichen Bildung verbessert werden kann. Solange es den Unternehmen in den neuen Bun- desländern nicht möglich ist, jeden Bewerber mit ei- Natürlich sind angesichts der zu erwartenden stei- ner Lehrstelle zu versorgen, sind zusätzlich entspre- genden Nachfrage besondere Anstrengungen nötig. chende Hilfen und Förderprogramme nötig, übri- Deswegen muß es uns um eine Stärkung des Sy- gens nicht nur vom Bund, sondern auch von den Län- stems der beruflichen Bildung gehen. Das heißt aber dern. nicht, daß wir beginnen sollen, den Ausbildungs- markt mit Abgaben und Quoten und der damit ver- Solange diese Förderprogramme nötig sind, wird bundenen Bürokratie zu reglementieren und letztlich der Bund ähnlich wie beim „Zukunftsbündnis Lehr- etwa zu strangulieren. Mehr Freiheit, Flexibilität und stellen" seine Verantwortung genauso wie in den Vielfalt heißt die Devise. vorangegangenen Jahren wahrnehmen. Wir haben gehört, daß das in diesem Jahr früher als in den an- Danke schön. deren Jahren passiert ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wenn man Modelle sucht, sollte man Sachsen ordneten der F.D.P.) nicht einfach wegwischen. Es gibt Beispiele, wie man das in konstruktiver Zusammenarbeit tun kann. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt Dazu gehört natürlich auch etwas Phantasie. die Kollegin Antje Hermenau. Unsere Fraktion hat im Mai dieses Jahres in Berlin eine Anhörung durchgeführt, und wir haben die Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rückkopplung bekommen, die Ihnen vielleicht nütz- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der lich wäre. Ich biete Ihnen, Herr Thierse, die Unterla- Kanzler lädt zur dritten Gesprächsrunde, die Wi rt gen an. Dann wissen Sie, um was es geht. Bei der -schaft bleibt mit Bedauern unter ihrer Selbstver- Anhörung waren Vertreter aller Länder, die Verant pflichtung, Sachsen und NRW begeben sich um- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11753

Antje Hermenau triebig auf Ab- und Sonderwege, und Herr Jagoda durch die Kürzung eines Berufsschultages, damit der stellt in harmloser Harmonie mit dem Deutschen In- Lehrling mehr Zeit hat, den Hof zu fegen und das be- stitut für Wirtschaftsforschung fest, daß die Situation rühmte Bier zu holen - immerhin, Herr Rüttgers, ei- immer schlimmer wird und große Zweifel daran, ob nen Kasten Bier und keine Palette Büchsen; ich man die Ausbildungsprobleme im Lande überhaupt danke Ihnen für den Tribut an die Umwelt -, noch in den Griff bekommen kann, durchaus ange- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- messen sind. Nur, keiner hört darauf. Ist Herr Jagoda NEN und der SPD) ein Scharlatan? oder man kann das duale Prinzip nicht mehr auf- Mit hektischer Betriebsamkeit steuert diese Regie- rechterhalten. In NRW werden inzwischen 25 Prozent rung noch einiges zum Drama bei: Die Minister über- der Ausbildung durch die öffentliche Hand voll bieten sich zum Beispiel mit hilfreichen Vorschlägen finanziert oder bezuschußt, in Sachsen sind es und trostreichen Worten. Nicht nur, daß der Bil- 75 Prozent. Oder die Wirtschaft muß nach einem ge- dungsminister meint, die jungen Leute sollten den lungenen Coup zur Senkung der Lohnnebenkosten Mut nicht aufgeben, nein, der Wi rtschaftsminister wieder etwas an die Gesellschaft zurückgeben, in- setzt noch eins drauf und forde rt die jungen Mäd- dem sie sich bei Nichtausbildung eben finanziell an chen auf, sie mögen sich nicht nur für frauentypische den Ersatzmaßnahmen beteiligt; aber das hält sie Berufe bewerben. Vielleicht ist das Herrn Rexrodt schlichtweg für eine Zumutung. nicht aufgefallen, schließlich denkt er ja, daß die Wirtschaft in der Wirtschaft stattfindet, so daß sein Wir im Osten lernen gerade verstehen, daß aus ei- Ministerium wohl der Vergnügungsteuer unterliegt. ner absoluten Zahl von Bet rieben nur eine absolute Zahl von Ausbildungsplätzen herauszuholen ist. Es (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten gibt zuwenig Betriebe, also auch zuwenig Lehrstel- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und len. Daher: neue Berufsbilder, Begleitung des Bran- der SPD) chenumbruchs durch die Berufsbildung. Aber genausowenig, wie Frauen in Zeiten hoher Ar- Zumindest im Entwurf des Entschließungsantrags beitslosigkeit keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt der Koalition wird darauf verwiesen, daß man die Sy- haben, haben junge Mädchen eine Chance, von ei- stemwidrigkeit der Finanzierung der Berufsbildung nem Arbeitgeber eine Lehrstelle zu bekommen, es aus den öffentlichen Kassen und die damit verbunde- sei denn, man greift lenkend ein. nen Gefahren der überhandnehmenden außerbe- Haben nun Herr Rexrodt und Herr Rüttgers vor, trieblichen Ausbildung für das duale System erkannt ihre Appelle mit Unterstützung irgendwie standhaft hat. zu machen, oder haben sie nur wieder einmal irgend Sollen wir jetzt noch ein Jahr ins Land gehen las- etwas zur Lage gesagt? Herr Rüttgers will die Ver- sen, bis dann auch Sie erkennen, daß die Schere zwi- gabe öffentlicher Aufträge von der Lehrausbildung schen Angebot und Nachfrage sich nicht durch Ap- der Bewerberbetriebe abhängig machen. Löblich, pelle schließen lassen wird, und bis Sie den Begrün- löblich! Die öffentliche Hand hat kein Geld mehr für dungstext des Bundesverfassungsgerichts aus dem viele Ausgaben, die meisten Großverträge müssen Jahre 1980 endlich verstehen? Ich will ihn wortwört- europaweit ausgeschrieben werden, und oft sind öf- lich zitieren: fentliche Aufträge Baumaßnahmen. Diese Branche allerdings organisiert ihre Lehrausbildung durch ei- In dem in der Bundesrepublik Deutschland be- nen branchenbezogenen Umlagefinanzierungsfonds stehenden dualen Berufsausbildungssystem mit und erfüllt dieses K riterium sowieso. den Lernorten Schule und Betrieb/Behörde liegt die spezifische Verantwortung für ein ausrei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, chendes Angebot an bet rieblichen Ausbildungs- bei der SPD und der PDS - Günter R ixe plätzen der Natur der Sache nach bei den Arbeit- [SPD]: Teufelszeug!) gebern, denn nur sie verfügen ... typischerweise Außerdem hat Ihnen, Herr Minister, der Vorsit- über die Möglichkeit, Ausbildungsplätze zu zende des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen schaffen und anzubieten. Gewerblichen Wirtschaft in der Presse ausdrücklich Sie hingegen wollen unter dem Schlagwort „be- klargemacht, daß Sie das nicht koppeln dürfen. Sie triebsnähere Förderung" zukünftig die direkte Sub- haben Ihren Marschbefehl aus der Wi rtschaft erhal- ventionierung von Bet rieben und Unternehmen, die ten. Entwickeln Sie bitte eine neue Parole, wie zum Ausbildungsplätze anbieten, vorantreiben. Bei den Beispiel das Märchen von den Existenzgründern, die einschneidenden Kürzungen im Sozialbereich ist es mir nichts, dir nichts viele neue Ausbildungsplätze ein Unding, die Steuergelder für eine ureigenste Auf- schaffen werden! Wissen Sie denn nicht, daß Neu- gabe der Wirtschaft auszugeben. Der Bürger hat ge- gründungen erst nach vier bis fünf Jahren wirtschaft- nug Opfer gebracht, jetzt möchte er auch einmal lich stabil werden? Wollen Sie Konkurslehrlinge pro- Chancen in dieser Gesellschaft haben. duzieren? Wissen Sie nicht, daß die Hälfte der Fir- menneugründungen die ersten fünf Jahre hochgra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dig konkursgefährdet ist? sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) Natürlich gibt es keinen goldenen Wurf, sonst würde es auch nicht so lange dauern, bis Gesetzent- Natürlich gibt es in einer sich atemberaubend würfe auf den Tisch kommen. Entweder schränkt schnell verändernden Welt eine Reihe von Phänome- man die Qualität der Ausbildung ein, zum Beispiel nen, die 1980 noch nicht so deutlich erkennbar wa- 11754 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Antje Hermenau ren. Die Globalisierung läßt Betriebe nicht nur ihre beiten. Damit schafft man natürlich keine Lehrstellen Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, sondern schafft und Arbeitsplätze für junge Leute - schon gemerkt, dann eben auch dort die entsprechenden Ausbil- Herr Rüttgers? Es wird wieder mal Zeit für ein Ak- dungskapazitäten. Der Branchenumbruch, der auch tionsprogramm. im Altbundesgebiet immer schneller geschieht und - geschehen muß, damit Deutschland nicht zum hilflo- Wir haben eine andere Vorstellung von einer Bür- sen Objekt weltweiter wirtschaftlicher Interessen an- gergesellschaft; sie sieht den Staat als Dienstleister derer wird, schließt ganze Berufs- und damit Ausbil- für die Bürger und Bürgerinnen. Sie setzen die Repu- dungszweige, ohne schnell genug neue Berufsfelder tation des Staates aufs Spiel - auch gerade bei den auszuweisen. jungen Leuten -, wenn nicht die Politik immer wie- der den Ausgleich der Interessen versucht. Nun muß Ihr Haus, Herr Rüttgers, hat im vorigen Jahr end- die Politik eben einmal die Wirtschaft in die Pflicht lich die Anerkennung des Berufsbildes Cutter/Cutte- nehmen, so wie sie dieses Jahr die Bürger ha rt in die rin durchgesetzt. Die Geschichte des Films ist Pflicht genommen hat und auch noch weiter zu neh- 100 Jahre alt. Das spricht Bände. men gedenkt. Kommen Sie endlich Ihrer Regierungs- pflicht nach! Oder wird der Herr Kanzler nur noch Sie versuchen, diesen Prozeß zu beschleunigen, ein Talkmaster sein? das will ich nicht verhehlen, sondern lobend erwäh- nen. Was aber ist, Herr Rüttgers, wenn wir uns ein- Die Sozialdemokraten in NRW haben sich einen mal nicht mehr nur mit einer hohen Sockelarbeitslo- schwierigen Kompromiß aufgehalst, aus dem sie vor sigkeit in Deutschland und Europa werden abfinden der Bundestagswahl wahrscheinlich nicht mehr her- müssen, sondern auch mit einer hohen Sockelausbil- auskommen werden, weil sie ja erst einmal minde- dungslosigkeit? Dann wird die außerbetriebliche stens zwei Jahre ins Land gehen lassen müssen, um Ausbildung, die als Notmaßnahme gedacht war, in festzustellen, daß er nicht funktioniert - oder viel- dieser Gesellschaft einen neuen Stellenwert bekom- leicht doch. Das konterkariert natürlich die ganzen men müssen. Wo sind die Vorbereitungen dafür? Wie Sprüche, die Sie hier ein Jahr lang in bezug auf Aus- wollen Sie damit umgehen? bildungsabgabe und Kammerumlage getätigt haben. Die Freunde des Ausbildungskompromisses in Ich frage mich natürlich, was Ihre Genossen in Berlin Nordrhein-Westfalen sagen: Keine Angst, es ist nur unter dem Begriff Ausgleichszahlung gerade zusam- ein Notbehelf, wenn die Kammern außerbetriebliche menfummeln. Ich bin auf Ihre Ausführungen un- Maßnahmen durchführen müssen. Ihr Freunde des heimlich gespannt. Ich denke, Sie haben sich ganz Kompromisses: Wir praktizieren dies in den fünf schön einwickeln lassen. neuen Ländern seit 1990 als Notbehelf auf sehr ho- (Widerspruch bei der SPD) hem Niveau; so hat das bei uns auch einmal angefan- gen. Die Bringeleistungen für diesen Kompromiß liegen erst einmal alle auf seiten der Suchenden und des Aber kaum bildet das Handwerk bei uns überpro- Staates; nur wenn der Kompromiß nicht funktioniert, portional aus, was zwar die Gewerbestruktur ver- müssen die Kammern mit einem außerbetrieblichen zerrt, aber immerhin duale Ausbildung ist, kürzt die Aktionsprogramm einspringen. Das wurde ja von sächsische Landesregierung ihre Zuschüsse für über- seiten der Wirtschaft schon als Riesenzugeständnis betriebliche Ausbildung - also Verbundmodelle, von bejammert. Das ist fast so ein schwieriger Duktus wie denen das Handwerk lebt - von 7 auf 3 Millionen im Sparpaket. Ich finde, Sie sollten dazu unbedingt DM für 1997, weil nämlich die öffentlichen Kassen Stellung beziehen. Mal sehen, was Ihr Jugendkon- völlig erschöpft sind und sich auch in den nächsten greß in ein paar Wochen dazu sagen wird. Jahren nicht erholen werden. (Günter Rixe [SPD]: Da werden wir denen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, etwas zu sagen!) lassen zu, daß die Berufsausbildung zunehmend sy- stemwidrig aus Steuergeldern finanziert wird, - Ja, ja. (Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Genau Der Minister ist zufrieden, ich bin es nicht. das wollen wir nicht!) 20 000 Stellen aufgeholt - Schwein gehabt, Herr Rüttgers. Aber berechenbar ist das nicht, und Ausbil- und faseln vom Sparpaket, das die Verschuldung der dung ist keine Lotterie. Wenn Sie sagen, Sie wollen öffentlichen Hand auf viele kleine Schultern verteilt; auf Modulausbildung setzen, dann entgegne ich: die Wirtschaft aber braucht ihren Obulus für ihre Setzen Sie die Modulausbildung auch bitte schön für Pflicht zur Ausbildung nicht entrichten. die Weiterbildung an. Strukturieren Sie auch den Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reich des lebenslangen Lernens und nicht nur den sowie bei Abgeordneten der SPD und der der Erstausbildung. Lassen Sie uns endlich seriös PDS) über eine Ausbildungsabgabe der Wi rtschaft reden, damit wir uns über die Probleme der Umsetzung ei- Folgerichtig spricht das Deutsche Institut für Wirt- ner solchen Abgabe - die gibt es durchaus, das wi ll schaftsforschung ja auch nicht von einem Lehrstel- ich nicht verhehlen - die Köpfe heiß reden können, lenmangel, sondern von einer Lehrlingsschwemme. anstatt hier Jahr für Jahr dasselbe Ritual durchzuzie- So ist es also: Schuld sind wieder einmal die Bürger, hen. sie kriegen zuviel Kinder, die nicht ausgebildet wer- den können, sie leben in hohem Alter viel zu lange Auf der einen Seite wollen Sie ständig - in der Ko- und sollen deshalb noch ein paar Jährchen länger ar alition behaupten Sie das jedenfalls - die Universitä- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11755

Antje Hermenau ten von überzähligen Studenten befreien, auf der an- Was in der Gesamtbetrachtung ausgeglichen er- deren Seite gelingt es Ihnen nicht, die duale Ausbil- scheint, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es dung durchzusetzen. So haben Sie jede Menge in einigen Regionen zu einem verstärkten Überange- junge Leute, die eine Ehrenrunde in den Schulen bot kommt und daher viele Ausbildungsplätze unbe- drehen oder aber ihr Heil in der Flucht auf die Uni setzt bleiben. Die regionale und sektorale Mobilität - suchen. Bringen Sie doch einmal eine gewisse Kohä- unserer Jugendlichen ist nicht stark genug ausge- renz in Ihre Politik! prägt, um diese Lücke auszugleichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unabhängig vom Lehrstellenangebot ist festzustel- len, daß sich insbesondere jugendliche Arbeitslose Wo sind die jungen Wilden in der CDU? Sind sie in einem erschreckend geringen Maße um eine Aus- schon zu alt für das Thema? Oder haben Sie keine bildungsstelle bemühen. Lust mehr auf Veränderungen? (Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS NEN]: Sie werden abgewiesen!) SES 90/DIE GRÜNEN) Gerade für diese Gruppen muß sich das Ausbil- Dann wird uns die Welt von außen verändern. Wis- dungssystem flexiblen Lösungen öffnen, sen Sie: Wenn einen die Welt von außen verändert, hat man wenig mitzureden, und es ist auch nicht sehr (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lustig. Ich kann Ihnen davon nur abraten. damit eine soziale Integration möglich wird. Das be- Danke schön. deutet, daß insbesondere die Anforderungen an die Theo (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rie und die Gestaltung von Ausbildungs- und Prüfungsteilen die besonderen Bedürfnisse dieser Ju- sowie bei Abgeordneten der SPD und der gendlichen in angemessener Weise erfassen. PDS) Lehrlinge, die die Qualifikation zum Abschluß der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächstes Berufsausbildungszeit nicht schaffen, sollten zumin- spricht der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher. dest ein Zertifikat ausgestellt bekommen, das es ih- nen ermöglicht, ihre praktischen Fähigkeiten nach- zuweisen, damit sie sich am Arbeitsmarkt um Arbeit Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Frau Präsiden- bemühen können, die sie dann später zur Komplet- tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Zu- tierung einer beruflichen Ausbildung wieder nutzen sammenhang mit dem Berufsbildungsbericht 1996 können. habe ich auch die Ergebnisse einer Analyse der Ju- gendarbeitslosigkeit in den europäischen Staaten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gelesen. Ich mußte feststellen, daß Deutschland, Lu- Es gilt, die berufliche Bildung für Auszubildende xemburg und Dänemark die geringste Jugendar- und Ausbilder attraktiver zu gestalten. Mit der von beitslosigkeit haben. manchen in Erwägung gezogenen Kürzung der Aus- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Das ist ein bildungsvergütung ist dies sicherlich nicht zu ma- schwacher Trost für die Betroffenen!) chen. Es trifft zu, daß die Tarifparteien in der Vergan- genheit einer überproportionalen Steigerung der Das steht im engen Zusammenhang mit einer funk- Ausbildungsvergütungen zugestimmt haben. Es ist tionierenden beruflichen Ausbildung und hängt da- daher vertretbar, diese für einige Zeit auf dem heuti- mit wieder mit den entsprechenden ausbildenden gen Niveau einzufrieren. Betrieben zusammen. Wenn man die Ausbildung für die Betriebe bezahl- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der barer machen will, so geht das unseres Erachtens CDU/CSU) nur, wenn es gelingt, den Nutzen des Bet riebes am Eine praxisnahe betriebliche Ausbildung ist des- Auszubildenden zu erhöhen. Hiermit meinen wir halb die beste Voraussetzung, um anschließend auch nicht, daß der Stift zukünftig wieder einen Kasten auf dem Arbeitsmarkt Arbeit zu finden. Bier aus der Kneipe holen soll, Der steigende Bedarf nach qualifizierten Arbeits- (Jörg Tauss [SPD]: Doch! Doch!) kräften erhöht die Bedeutung einer Erstqualifika- vielmehr müssen die Zeiten, die der Auszubildende tion, wie sie unser duales System der beruflichen im Betrieb verbringt, gegenüber den Zeiten in der Ausbildung liefert. Vor diesem Hintergrund wird Berufsschule deutlich zunehmen. Man kann das tun, klar, daß die im Berufsbildungsbericht 1996 beschrie- indem man im ersten Lehrjahr wieder zwei Schul- bene Situation der beruflichen Bildung von außeror- tage vorsieht - nach der Schulzeit kehrt der Auszu- dentlicher Bedeutung ist und ein realer Lehrstellen bildende in den Betrieb zurück - und daß man im mangel noch weitaus katastrophalere Wirkung ha- zweiten und dritten beruflichen Ausbildungsjahr ben wird als derzeitig der Mangel an Arbeitsplätzen. diese schulische Ausbildung degressiv gestaltet. Seit 1976 beobachten wir zyklische Veränderun- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gen der Angebots- und Nachfragekurve des Ausbil- dungssektors, wobei das seit 1987 bestehende Über- Zur einzelbetrieblichen Finanzierung der Berufs- angebot an Ausbildungsplätzen bis 1995 auf den ausbildung gibt es keine Alternative, die vergleich- Stand der realen Nachfragesituation zurückging. bare wirtschaftliche und soziale Vorzüge bietet. Eine 11756 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Karlheinz Guttmacher Umlagefinanzierung, wie sie von den Gewerkschaf- Meistern, Technikern und Fachwirten auf Fachhoch- ten und den Oppositionsparteien gefordert wird, er- schulniveau sollte ermöglicht werden. höht die Kostenbelastungen der Bet riebe und Praxen und wird sich negativ auf die Leistungsfähigkeit und Die Qualifizierung des Personals der beruflichen vor allen Dingen die Wettbewerbsfähigkeit auswir- Bildung besonders in den neuen Bundesländern- ken. sollte durch ein Sonderprogramm ausgebaut werden. Wir halten es für besonders notwendig, daß sich vor (Günter Rixe [SPD]: Mach dich doch sach allem in den neuen Bundesländern hochqualifizierte kundig, dann würdest du was anderes Berufsausbilder als Multiplikatoren in der berufli- sagen!) chen Bildung aktiv in Betrieb und Schule für die sich vollziehende Umstrukturierung einsetzen. Ebenso besteht die Gefahr von sektoralen und re- gionalen, am Bedarf vorbeigehenden Fehlsteuerun- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- gen auf dem Ausbildungsstellenmarkt und dem Ar- ten der CDU/CSU) beitsmarkt, wenn sich Bet riebe freikaufen können Der Anteil der Berufsausbilder im Bet rieb ist deutlich bzw. losgelöst von bet rieblichen Qualifikationserfor- zu erhöhen. Hierzu ist die Ausbilder-Eignungsver- dernissen ausbilden. ordnung dringend neu zu fassen. Der Vorteil des deutschen Ausbildungssystems be- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Die ist steht gerade in der engen Verknüpfung von Bil- doch schon neu gefaßt!) dungs- und Beschäftigungssystemen. Eine gerech- tere Lastenverteilung kann eine Umlagefinanzierung Der Berufsbildungsbericht von 1996 prognostizie rt nicht leisten. Die Ausbildungskosten variieren nach bei gleichbleibendem Bildungsverhalten der Jugend- Berufen, Branchen und Regionen erheblich, wie lichen für dieses Jahr zirka 620 000 Ausbildungsstel- auch der Nutzen der Ausbildung für die Leistungs- len. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit gab und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sehr es am 30. September dieses Jahres noch 43 500 freie unterschiedlich ist. Lehrstellen, davon 35 000 freie betriebliche Ausbil- dungsstellen. Wir dürfen aber nicht darüber hinweg- Wir begrüßen es sehr, daß in den letzten Jahren die sehen, daß bis September dieses Jahres 38 500 Ju- Anpassung der Ausbildung an den Strukturwandel gendliche nicht vermittelt werden konnten. sehr kräftig in Schwung gekommen ist. Ab August Obwohl dieses Zahlenverhältnis bundesweit aus- 1996 wurden neue Ausbildungsordnungen für geglichen erscheint, gibt es erhebliche regionale 15 Ausbildungsberufe mit zirka 81 000 Auszubilden- und berufsstrukturelle Ungleichgewichte. In NRW den in Kraft gesetzt. Zwei völlig neue Berufe - Me- und in den neuen Bundesländern gibt es noch erheb- diengestalter für Bild und Ton sowie Film- und Vi- liche Lehrstellendefizite. Das bet riebliche Lehrstel- deoeditoren - stehen ab sofort zur Verfügung. Ge- lenangebot in den neuen Bundesländern ist in die- genwärtig wird die Modernisierung von rund sem Jahr nicht gewachsen. Hier gab es nicht den von 80 Ausbildungsberufen für etwa 440 000 Auszubil- der Industrie und der Wirtschaft versprochenen, dende mit neuen Inhalten und Strukturen vorberei- zehnprozentigen Zuwachs. Mit dem Bund-Länder- tet. Sonderprogramm, durch das in diesem Jahr 14 300 Ich darf an dieser Stelle Bundesminister Rexrodt Ausbildungsstellen frühzeitig für die neuen Länder sehr dafür danken, daß er sich ganz persönlich dafür zur Verfügung gestellt wurden, muß ein Teil des fehl- eingesetzt hat, daß die Zeit für die Ausarbeitung enden Lehrstellenangebots ausgeglichen werden. neuer Ausbildungsordnungen nicht länger als zwei Die außerbetriebliche Berufsausbildung junger Jahre sein darf. Menschen darf nur zeitlich bef ristet erfolgen. Dies ist (Beifall bei der F.D.P. - Edelgard Bulmahn nicht der beste Weg einer beruflichen Erstausbil- [SPD]: Der ist ja nicht einmal da!) dung. An dieser Stelle möchte ich seitens meiner Frak- Betriebe und Berufsschulen sind sich darüber ei- tion all den Betrieben, die in diesem Jahr Lehrstellen nig, daß das duale Ausbildungssystem attraktiv ge- zur Verfügung gestellt haben, sehr herzlich danken, staltet werden muß, wie es auch im Berufsbildungs- aber auch alle die Betriebe, die nicht ausgebildet ha- bericht dargestellt ist. Aus liberaler Sicht sollten fol- ben, aufrufen, nach neuen Strukturen zu suchen gende Maßnahmen Berücksichtigung finden: und, sofern sie kleine mittelständische Unternehmen Interessierten Auszubildenden sollten bereits wäh- sind und noch nicht ausgebildet haben, über Ver- rend der Ausbildung zusätzliche Kurse, zum Beispiel bünde die Möglichkeit zu eröffnen, im nächsten Jahr Fremdsprachen-, EDV-, kaufmännische bzw. fach- Ausbildungsstellen zur Verfügung zu stellen. technische Zusatzkurse angeboten werden. Beson- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ders Auszubildenden der kaufmännisch-verwalten- ten der CDU/CSU) den und der gewerblich-technischen Berufe sollten Berufserfahrungen im Ausland ermöglicht werden. Die Wirtschaft muß ihrer originären Aufgabe der Fortbildungsangebote im Anschluß an die Erstausbil- beruflichen Erstausbildung in dualer Form in Zu- dung und die betriebliche Ausbildung sollten an das kunft selbst nachkommen. Studium gekoppelt werden. Der Hochschulzugang Ich danke Ihnen. sollte qualifizierten Fachkräften auch ohne Abitur er- möglicht werden. Eine Aufstiegsfortbildung von (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11757

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht Ausbildungsvergütungen unterhalb der AFG-Sätze Maritta Böttcher. verdeckt subventioniert werden. Daß damit hinsicht- lich der Aushöhlung der Tarifautonomie nicht nur die Gewerkschaften Probleme haben, sondern daß auch Maritta Böttcher (PDS): Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch wenn Herr die Unternehmen, die in diesem Jahr noch Ausbil- Rüttgers in seiner Antwort auf unsere Große Anfrage dungsplätze anbieten, in Zukunft lieber die Förder- zur Situation der beruflichen Aus- und Weiterbil- programme abwarten, dürfte auf der Hand liegen. dung, die wir vor exakt einem Jahr gestellt haben, Ähnlich liegen die Probleme beim sächsischen (Zuruf von der CDU/CSU: Alle Fragen Sonderweg mit dem Angebot an Mittelschulabsol- beantwortet hat!) venten, die keine Lehrstelle haben, sich zum staat- lich geprüften Fachgehilfen ausbilden zu lassen. noch einmal die sogenannte Trendwende auf dem Statt staatlicherseits Rahmenbedingungen für mehr Ausbildungsmarkt beschwört, wird diese doch in Ausbildungsplätze im dualen System zu schaffen, dem soeben erschienenen Wochenbericht des Deut- macht sich die Politik wieder einmal mit Schmalspur- schen Instituts für Wirtschaftsforschung grundsätz- alternativen zum Handlanger der Unternehmerver- lich in Zweifel gezogen. bände. Von Jahr zu Jahr verschlechtert sich die Situation, (Beifall bei der PDS) steigt die Zahl der nicht vermittelten Bewerbe rinnen und Bewerber. Aber auch diese Bilanz beschreibt das Schulabgängerinnen und Schulabgänger bekom- Drama nur unvollständig, denn die Diskrepanz zwi- men keinen Lehrvertrag, kein Lehrlingsentgelt, schen Lehrstellenangeboten und Lehrstellenwün- durchlaufen das Berufsgrundbildungsjahr, arbeiten schen der Jugendlichen steigt ebenso. ein Jahr als Praktikanten - also unentgeltlich - in ei- nem Industriebetrieb und erhalten ein mehr als frag- Im Verlauf des letzten Berichtsjahres verzichteten würdiges Zeugnis. rund 270 000 Jugendliche auf eine Vermittlung durch das Arbeitsamt und nahmen statt dessen an berufs- (Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU]: Also doch vorbereitenden Maßnahmen teil, fingen ohne Ausbil- Zentralismus!) dung eine Beschäftigung an, wechselten auf berufli- - Dies ist alles in allem für die Unternehmerverbände che Schulen, besuchten weiterhin allgemeinbildende eine optimale Lösung, um ohne Geld zu joborientiert Schulen oder verblieben - man höre - „unbekannt". ausgebildeten Billiglohnarbeitern zu kommen. Sicher ist nur, daß seit drei Jahren die Zahl der So wichtig zusätzliche Förderprogramme für die nicht in eine betriebliche Ausbildung Vermittelten Überbrückung der Jahr für Jahr weiter auseinander- deutlich zugenommen hat. Seit diesem Zeitpunkt klaffenden Schere zwischen Angebot und Nachfrage sinkt die Ausbildungsquote in nahezu allen Wirt auf dem Lehrstellenmarkt sind, ist und bleibt dies der -schaftsbereichen. Der Rückgang der Zahl der Ausbil- falsche Weg. So werden die Probleme nicht gelöst. dungsverhältnisse übertrifft den allgemeinen Be- Unternehmen werden so nicht zur Ausbildungsbe- schäftigungsrückgang um das Zwei- bis Dreifache. reitschaft motiviert. Vielmehr werden Tatsachen ge- Selbst in Bereichen mit Beschäftigungsgewinn wird schaffen, die immer neuen Forderungen und Bedin- die Zahl der Ausbildungsplätze reduziert. Das, was gungen Vorschub leisten. uns Jahr für Jahr als ausgeglichene Bilanz verkauft werden soll, ist eine trickreiche Bereinigung von Sta- Auf dem Rücken junger Menschen, die nach der tistiken. Schule ihren Platz im Leben suchen, wird ein unwür- diges Pokerspiel zwischen Wi rtschaft, Bund und Län- Auch der immer wieder als Trendwende zitierte dern ausgetragen, das nach der Devise läuft: Wer Anstieg der Zahl der neuen Ausbildungsverträge er- sich zuerst bewegt, der zahlt. weist sich bei näherem Hinsehen als Steigerung aus- schließlich in den neuen Bundesländern, die mit Die jährlichen Last-minute-Initiativen verdecken Hilfe massiver öffentlicher Förderung durch Zu- dabei, in welchem Ausmaß die Jugendlichen um be- schüsse und die Schaffung außerbetrieblicher Aus- rufliche Perspektiven betrogen werden. Peter Grot- bildungsplätze erreicht wurde. Wie mit dieser Politik tian rechnet die jungen Leute ohne Lehrstelle, die der angebliche Klimawechsel in der Wi rtschaft er- „Verschiebebahnhofs-Jugendlichen", die in den reicht werden soll, bleibt das Geheimnis der Bundes- Schulen und in sonstigen Warteschleifen parken, die regierung. kurzfristige Jobs annehmen, die ohne abgeschlos- sene Berufsausbildung bleiben, die nach der Ausbil- In den neuen Bundesländern machen Ausbil- dung arbeitslos sind, die Sozialhilfeempfängerinnen dungsplatzberater bei ihren Betriebsbesuchen viel- und -empfänger und Obdachlosen in der Alters- mehr die Erfahrung, daß zuerst die Frage nach der gruppe zwischen 18 und 25 Jahren sowie die arbeits- Höhe der Fördermittel gestellt wird. Damit sind wir losen Fach- und Hochschulabsolventen zusammen auch schon bei den Umsetzungsproblemen des Son- und kommt so auf eine Zahl von 1,2 bis 1,5 Millionen derprogramms in den neuen Ländern. Entscheidend junger Leute, die von dieser Gesellschaft sich selbst dafür - das wurde schon gesagt - sind die Landes- überlassen werden. richtlinien, die vor allem unter dem Druck seitens der Kammern stehen. Auf diese Weise wird jeder fünfte Jugendliche zeit- weilig oder länger zum gesellschaftlichen Nichts er-

In Sachsen - Anhalt soll so beispielsweise eine be- klärt. Statt alle Kräfte auf die Frage zu lenken, wie triebliche Ausbildung ohne Trägerbeteiligung mit jungen Leuten Arbeit und damit ein akzeptables Le- 11758 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Manitta Böttcher ben ermöglicht werden kann, kreist die Jugendde- streichen lassen. Nehmen wir uns die Zeit! Es ist auf batte immer wieder nur um Gewalt und Drogen. jeden Fall Zeit, jetzt zu handeln. (Beifall bei der PDS) Für die Politik in der Ausbildungsfrage bedeutet - das vor allem, daß die jährliche Flickschusterei über- wunden werden muß, um überhaupt Entscheidun- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt gen zu ermöglichen. Der Einwand, den die Bundes- der Kollege Werner Lensing. regierung gegen das DGB-Umlagefinanzierungsmo- dell vorbringt - ich will noch einmal betonen: Das ist Werner Lensing (CDU/CSU): Frau Präsidentin! etwas anderes als eine Ausbildungsplatzabgabe -, Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! lautet, daß die Verteilung der Umlage eine Berufsbil- Nach allem unbegründeten Katastrophengerede der dungsplanung voraussetzt, die nicht möglich und Opposition zunächst einmal eine positive Botschaft; nicht wünschenswert wäre, da Berufs- und Lebens- denn die Wahrheit verpflichtet. chancen staatlich quotiert würden. (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ Ich frage Sie, Herr Rüttgers, und auch Sie, Herr DIE GRÜNEN und der PDS - Günter Rixe Jork: Von welchen Chancen reden Sie eigentlich? [SPD]: Oh! - Beifall des Abg. Dr.-Ing. Rainer Für viele Jugendliche sind staatlich quotierte Chan- Jork [CDU/CSU]) cen sehr viel mehr als das, was sie jetzt haben, näm- Daher Satz eins: Der Berufsbildungsbericht, Herr lich gar keine. Rixe und alle anderen Herrschaften der Opposition, ist gelungen, zeigt er doch in gebotener Deutlichkeit: (Beifall bei der PDS) Deutschland und mit ihm die westliche Welt erleben eine Zeitenwende, die von fundamentalen Umstruk- Die ständige Berufung auf die bewäh rte einzelbe- turierungen in Gesellschaft und Wirtschaft geprägt triebliche Verantwortung wird angesichts des Zu- ist, begleitet von unglaublich dynamischen Entwick- rückbleibens der Zahl von angebotenen betriebli- lungen in Wissenschaft, Forschung, Technik und Kul- chen Ausbildungsplätzen hinter der steigenden tur. Nachfrage immer unglaubwürdiger. Das Problem - das haben wir hier heute schon mehrfach gehört - Der Berufsbildungsbericht ist gelungen, verdeut- wird sich in den nächsten Jahren verschärfen. Nun licht er doch einem jeden hier in diesem Hause: Wir kann man die Ursache für diese Entwicklung in be- stehen in einem globalen Produktions- und Gedan- währter Weise auf die demographische Entwicklung kenwettbewerb. Dieser Wettbewerb wird nicht nur als Altlast aus der DDR schieben. Damit hat man ein Wettbewerb der Technologien, sondern auch ein aber noch immer keine Lösung. Wettbewerb der Ausbildungssysteme sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Keine Lösung bringt auch das sogenannte Maß- und der F.D.P.) nahmepaket zum Abbau von Ausbildungshemmnis- sen. Abbau von Jugendschutzvorschriften, Ein- Der Berufsbildungsbericht ist schließlich auch des- schränkung des Berufsschulunterrichts, sogenannte wegen gelungen, weil er selbst dies klar benennt: Flexibilisierung von Ausbilder-Eignungsverordnun- Die notwendige Reform der Berufsausbildung ist nur gen, die es übrigens schon gibt, Herr Guttmacher, mit und nicht gegen die Betriebe zu schaffen. bringen nicht einen zusätzlichen Ausbildungsplatz, schränken aber die Qualität der Berufsausbildung Daher zunächst einmal zu allem, was Herr Thierse weiter ein. gesagt hat, folgendes Faktum: Die beschäftigungs- und wachstumsfreundliche Wirtschafts- und Finanz- Soll mit der einzelbetrieblichen Verantwortung politik der Koalitionsparteien erleichtert den Betrie- ernst gemacht werden und strebt man nicht nur ver- ben und Verwaltungen die Berufsausbildung. bal, sondern wirklich nach Ausbildungschancen für (Beifall bei der CDU/CSU) alle Jugendlichen, so müssen Unternehmen und Ein- richtungen bei dem gepackt werden, was Herr Rütt- Wir schaffen die Voraussetzungen für den Mut zur gers in seiner Antwort auf unsere Frage als Erklä- Selbständigkeit, für Hilfen bei Betriebsübernahmen. rung für ein verändertes Ausbildungsverhalten der Durch Existenzgründungen erhöhen wir das Poten- Unternehmen anführt: bei ihrer „wachsenden Ko- tial an Lehrstellen. stensensibilität" . (Franz Thönnes [SPD]: Wo ist die Wahr- heit?) Die Argumente zum Umlagefinanzierungsmodell sind hinreichend ausgetauscht. Ich möchte vor allem Dies gilt für die gesamte Bundesrepublik und in be- den Herren Jork und Guttmacher noch einmal emp- sonderer Weise für die neuen Länder. Schließlich fehlen, sich mit diesem Modell ernsthaft zu befassen. darf nicht der fatale Eindruck entstehen, die Lehrstel- Denn ich bin der Meinung, es ist ein Modell, welches lensituation in den neuen Bundesländern sei aus- durchaus in der Lage ist, Probleme zu lösen und zu schließlich deren Angelegenheit. beseitigen. Es hat niemand davon gesprochen - auch (Beifall bei der CDU/CSU) wir nicht in unserem Entschließungsantrag -, daß das Ganze so, wie es jetzt ausgearbeitet ist, unbedingt Daher war, ist und bleibt die Bundesregierung in bleiben muß. Aber es ist eine Grundlage für die Dis- erfreulichem Maße bemüht, dies als gesamtdeutsche kussion. Diese Chance sollten wir nicht einfach ver Verpflichtung zu begreifen und gerade in den neuen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11759 Werner Lensing Ländern tüchtige Unternehmer zu weiteren Betriebs- gierung im Saarland auch nicht gerade begeiste rt ist, gründungen zu ermutigen. was die Ausbildung von Lehrlingen angeht. (Beifall bei der CDU/CSU - Dr.-Ing. Rainer (Franz Thönnes [SPD]: Können Sie das mal Jork [CDU/CSU]: Das ist der Punkt!) begründen?) - Meine sehr verehrten Damen und Herren, gegen In beiden Institutionen wird so gut wie keinem Lehr- das ganze Gejammer, das ich heute morgen wieder ling die Chance zur Ausbildung geboten. habe hören müssen, setze ich die Botschaft des Opti- mismus, der Offenheit, der Zukunftsbejahung. Ich habe darüber nachgedacht, woran das liegen könnte, und bin zu der Erkenntnis gekommen, daß (Dr. Uwe Küster [SPD]: Eine Botschaft des dort wahrscheinlich keine befriedigende Antwort auf Heuchlerismus!) die berechtigte Frage gegeben werden kann, ob denn im Saarland und beim DGB eigentlich etwas Man kann nämlich jede Zahl auch sehr positiv inter- konkret zu lernen sei und was das denn wohl sein pretieren. könnte. (Zurufe von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Eine deutlich über die Zahl 700 000 wachsende Nachfrage nach Lehrstellen - da können Sie rufen, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Lensing, ge- wie Sie wollen, das ändert nichts an der Tatsache, die statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten ich jetzt benenne - in den nächsten zehn Jahren ist Tauss? natürlich - das weiß jeder - die eigentliche, aber durchaus zu bewältigende Herausforderung an Wirt- schaft, Gesellschaft und Politik. Werner Lensing (CDU/CSU): Ja, mir würde auch etwas fehlen, Herr Tauss. Wir sollten endlich begreifen: Die Tatsache, daß in diesem Jahr wie in den kommenden Jahren eine wachsende Zahl junger Menschen eine Lehrstelle Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bitte, Herr Tauss. wünscht, ist im Hinblick auf unsere Zukunft nicht als eine Last, sondern als eine große Chance für den (SPD): Herr Kollege Lensing, wir soll- Wirtschaftsstandort Deutschland zu begreifen. Jörg Tauss ten uns nicht überlegen, was beim DGB ist und worin (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) man dort ausbilden kann. Ich frage Sie, warum hier in Bonn die CDU 100 Prozent weniger Ausbildungs- Allen Menschen, zumindest denen mit Sachver- plätze als die SPD hat. Das wären Fragen, die wir dis- stand in diesen Fragen, ist doch klar: Die Berufsaus- kutieren könnten. bildung ist betriebswirtschaftlich nützlich, volkswirt- schaftlich erforderlich und gesamtgesellschaftlich Machen wir uns doch nicht lächerlich! Klären wir zwingend notwendig. die Probleme, die es gibt! Ich bitte Sie sehr herzlich, mir die Frage zu beantworten, ob wir in diesem Stil, Vor diesem Hintergrund habe ich kein Verständnis nämlich wenn wir darüber reden, worin wir bei Par- für das Ritual der SPD - dieser Beg riff stammt von teien und Gewerkschaften ausbilden, einen sinnvol- Herrn Thierse, wenn auch nicht bezogen auf die len Beitrag für die Menschen leisten, die in Deutsch- SPD -, daß man jedes Jahr diese unerträglichen Zah- land einen Ausbildungsplatz suchen. Das ist Pole- lenspielereien und die ewige Schwarzmalerei erle- mik, mehr nicht, Herr Kollege. ben muß. (Beifall bei der SPD) (Günter Rixe [SPD]: Was Sie sagen, ist uner träglich!) Werner Lensing (CDU/CSU): Herr Tauss, das kann - Damit zerreden Sie, Herr Rixe, doch den Zukunfts- doch nicht wahr sein. Wahrheit kann keine Polemik optimismus und verunsichern unsere Jugendlichen sein. Ich brauche an sich überhaupt nicht zu antwor- aufs höchste. ten, weil Sie keine Frage gestellt haben. Aber das ist (Dr. Uwe Küster [SPD]: Der könnte SED eben mein Verständnis von mitmenschlichem Um- Propagandist werden!) gang. Ich frage daher in allem Ernst: Wie will eigentlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Opposition dafür sorgen, daß auch in Zukunft der Ich möchte noch eine Bemerkung zum Berufs- Jugend geholfen wird? Bisher habe ich noch kein Ar- schultag machen, aktuell zu den jüngsten Äußerun- gument, geschweige denn einen konstruktiven Vor- gen des GEW-Vorsitzenden Wunder und des KMK- schlag gehört, der dazu beitragen könnte, auch nur Vorsitzenden Karl-Heinz Reck, den zweiten Berufs- einen einzigen Ausbildungsplatz zu schaffen. Ich schultag auf jeden Fall beizubehalten. Wer sich hier höre nur Kritik an unseren Vorschlägen ohne kon- flexibleren Lösungen verschließt und nicht bereit ist, krete Gegenvorschläge. über den Berufsschulunterricht in seiner jetzigen (Beifall bei der CDU/CSU) Form zu diskutieren und die Konzentration auf einen Berufsschultag im zweiten und dritten Lehrjahr mit Wir haben heute schon gehört, was der DGB einzubeziehen, der provoziert den Abbau weiterer macht. Ich habe mir sagen lassen, daß die Landesre- Lehrstellen und schürt die berechtigten Vorbehalte 11760 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Werner Lensing gegen die Lehrlingsausbildung in den Unterneh- tion und Engagement, die für eine qualifizierte Be- men. rufsausbildung grundlegend sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Lensing, ge- - statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Die Zusammenhänge, die gerade von mir angeris- Thönnes? sen wurden, sind im Berufsbildungsbericht 1996 und auch in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Situation der beruflichen Aus- Werner Lensing (CDU/CSU): Herr Thönnes? Ja, bitte schön. und Weiterbildung in der Bundesrepublik Deutsch- land aufgegriffen und erläutert worden. Die Koaliti- onsfraktionen bringen überdies einen Entschlie- Franz Thönnes (SPD): Herr Lensing, weil Sie der ßungsantrag zur Stärkung der beruflichen Bildung Wahrheit in Ihrer Rede soviel Kraft beimessen: Sind ein. Ich darf Sie alle bitten, diesem Antrag zuzustim- Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sowohl dem men. Deutschen Gewerkschaftsbund als auch der Bundes- vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände als Ich danke Ihnen allen für Ihre ungeteilte, mich Tendenzbetrieben die Eignung zur Berufsausbildung durchgehend motivierende Aufmerksamkeit. fehlt, sich gleichwohl beide darum bemühen, in Aus- bildungsverbünden ihren Beitrag zur Berufsausbil- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dung in Zukunft zu leisten? Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß im Saarland von 1995 auf Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort erhält 1996 die Zahl der Ausbildungsverträge von 30 auf 54 jetzt der Kollege Günter R ixe. steigen wird, daß im kommunalen Bereich die Zahl der Ausbildungsverträge von 14 auf 21 steigen wird, ohne die Eigenbetriebe der Kommunen einzubezie- Günter Rixe (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! hen, und daß die Zahl der Anwärter von 157 auf 214 Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lensing, erhöht wird? wenn die Jugendlichen, die am heutigen Tage noch keinen Ausbildungsplatz haben - das ist eben nicht Werner Lensing (CDU/CSU): Herr Thönnes, natür- die Zahl, die der Bundesbildungsminister im Moment lich nehme ich Fakten zur Kenntnis. nennt -, Ihre Rede gehört haben, dann müssen sie an den Politikern in diesem Lande verzweifeln. (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Wenn sie stimmen!) (Beifall bei der SPD und der PDS) Aber jedes Faktum bedarf seiner Interpretation. Auf dem Bau gibt es ein ha rtes Wort - ich münze das jetzt auf Ihre Rede um -: Man kann aus schlechten (Lachen bei der SPD) Beispielen keine guten machen, indem Sie eine sol- - Ja, Herr Thierse, das ist nun einmal so. Man muß in che Rede halten. jedem Falle auch den Kontext mit berücksichtigen. Man muß jeweils die Relationen sehen. Wenn ich bei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Minus oder Null anfange, habe ich schnell eine hohe Herr Minister, ich kann mit vielen Ihrer Äußerun- Steigerung. Wenn man jetzt Defizite nachholt, mag gen von heute morgen gut leben. das ein positives Zeichen sein. Im übrigen bekenne ich mich ausdrücklich zu der Bildung von Verbün- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: P rima!) den, um beispielsweise den Jugendlichen Arbeits- plätze zu vermitteln. Ich bin auch der Meinung, daß wir ganz sachlich und vernünftig über das Problem Berufsausbildung reden Ich habe bedauerlicherweise nicht mehr sonderlich sollten. viel Zeit, Frau Präsidentin. Ich möchte aber gleich- wohl noch einen Punkt nennen, weil er hier so stark (Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Das müs- betont wurde und dieser mir ein besonderes Anlie- sen wir!) gen ist. Ich denke an die geforderte Ausbildungsstel- lenumlage. Ich sage noch einmal sehr deutlich vor Wir sind uns einig, daß wir das duale System als das diesem Hohen Hause: Die Umlage ist ungerecht, beste in den Raum stellen. Aber es gibt in der Tat weil sie auch diejenigen belastet, die mangels Be- zwischen der SPD und Ihnen sowie Ihrer Koalition rufsbilder oder geeigneter Bewerber nicht ausbilden große Unterschiede, wie wir die Probleme des dualen können. Die Umlage ist zukunftsfeindlich, weil sie Systems in den Griff bekommen wollen. Diese Unter- die Lohnnebenkosten erhöht und die Ausbildung am schiede will ich einmal mit vier Punkten benennen. Markt vorbei- und damit fehlleitet. Sie ist zu büro- Bevor ich dazu komme, möchte ich an Sie persön- kratisch, weil sie vor allem ein Beschäftigungspro- lich eine Bitte richten: Sie sind als Bundesbildungs- gramm für Funktionäre ist. Sie ist sogar systemwid- minister Vorbild - geben Sie nicht solche dummen rig, weil sie das duale System durch ein staatlich re- Kommentare von sich. „Lehrjahre sind keine Herren- guliertes Gefüge ersetzt. jahre"; das hat man mir 1954 gesagt, als ich in die Daher wiederhole ich sehr deutlich: Zwangsinstru- Lehre kam. „Stift kann auch Bier holen und Werk- mente wie Ausbildungsplatzabgaben oder Umlagen statt fegen"; auch das haben sie mir gesagt. Aber ich sind untaugliche Instrumente. Sie zerstören Motiva kenne keinen Handwerksmeister in der Republik, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11761

Günter Rixe der noch heute gegenüber der Jugend diese dum- dorf bitten, eine Differenzierung in der Elektrofachin- men Sprüche sagen würde. stallateurausbildung einzuführen, die folgenderma- ßen aussieht - ich habe das hier schriftlich; ich kann (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ihnen das gleich geben -: Erst sollen die Jugendli- GRÜNEN und der PDS) chen ein halbes Jahr einen Berufsvorbereitungslehr-- Das hat mich in der Tat ein bißchen geärgert. Früher gang machen. Dann sollen sie zwei Jahre eine Aus- waren solche Sprüche dumme Ausreden. Aber das bildung zum Elektrofachhelfer machen; danach sol- ist vorbei, Herr Minister. Wir leben im Jahre 1996 len sie einen Facharbeiterbrief bekommen. Wer dann und wollen ins Jahr 2000. Wenn Sie so etwas sagen, weiterlernen will, der kann noch einmal zwei Jahre ist das auch eine Beleidigung aller Jugendlichen. zum Elektroinstallateur ausgebildet werden - was nach unserem Berufsbild heute insgesamt nur drei- (Beifall bei der SPD und der PDS) einhalb Jahre dauert. Die Kreishandwerkerschaft Sie sollten das in der Tat seinlassen. geht hier von viereinhalb Jahren aus. Jetzt zu den Punkten. Ihre Zahl betreffend die Aus- Bevor ich weitergelesen habe, habe ich gleich hin- geglichenheit der Bilanz ist nur eine auf dem Papier geschrieben: „stemmen und putzen", weil ich selber stehende; das haben Sie selber gesagt. Man kann vom Bau komme. Und richtig, es geht weiter: Das nicht nur über diese Zahl reden, sondern man muß Ausbildungscurriculum für den Elektrofacharbeiter auch über die Qualität der Berufsausbildung reden. sieht Stemmen, Erdarbeiten, Installationsarbeiten, Man muß also auch über die Probleme reden. Fast Verlegen von Kabeln und Leitungen, Montieren di- jedes Jahr fangen fast hunderttausend junge Leute verser Verlegungssysteme usw. vor. All das, was mit keine Ausbildung an - bei dieser Zahl sind wir uns Elektrotechnik, mit Zählern und Verteilern, zu tun einig; Sie haben sie selbst genannt -, weil sie vor hat, soll er gar nicht lernen. dem 30. September in Maßnahmen der Berufsvorbe- Wenn das die Differenzierung ist, lehne ich sie ab. reitung untergebracht sind. Diese Zahl können wir - Das steht hier wortwörtlich; ich gebe es Ihnen. doch nicht weglassen. Diese Jugendlichen kommen doch im nächsten Jahr automatisch wieder, wenn sie Das ist der eine Punkt; und dies machen wir in der einen Ausbildungsplatz suchen. Tat nicht mit. Sie haben selber gesagt, daß die Ausbildungszahl (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje nächstes Jahr noch höher ist. Deswegen kann ich Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nicht allein auf das Vertrauen in die Wi rtschaft set- zen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rixe, gestat- ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rütt- (Zuruf von der CDU/CSU: Das wiederholt gers? sich doch jedes Jahr!)

- Wenn sich das jedes Jahr wiederholt: Wieviel Geld Günter Rixe (SPD): Ja natürlich, immer. gibt denn die Bundesanstalt für Arbeit für diese hun- derttausend jungen Leute aus, um sie überhaupt für den Beruf fit zu machen? Da bin ich mit Ihnen einer Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Lieber Kollege Meinung, daß wir in der Situation der Gesellschaft Rixe, bevor Sie sich zu sehr aufregen: Das ist damit und der Bildung im allgemeinen darüber reden müs- nicht gemeint. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis? sen, wie es kommt, daß jetzt so viele junge Leute in eine Berufsvorbereitung müssen, um dann einen Günter Rixe (SPD): Okay. Ausbildungsplatz zu finden. Das liegt aber nicht nur daran, daß sie in den Schulen nicht komplett ausge- Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Danke. bildet worden sind, sondern auch daran, daß Lehr- stellen fehlen. Günter Rixe (SPD): Es wird aber so umgesetzt. (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Das ist Jetzt werde ich das Handwerk einmal fragen, was es eine Leistungsfrage!) davon hält. Das ist das Problem. Das müssen wir doch nun einmal zur Kenntnis neh- (Abg. Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU] mel- men. det sich zu einer weiteren Zwischenfrage - Jetzt habe ich noch drei Punkte, bei denen wir un- Franz Thönnes [SPD]: Wenn man Geister ruft, wird man sie nicht mehr los!) terschiedlicher Meinung sind. Das eine ist die Diffe- renzierung, Herr Minister. Da sagen Sie: Weil es eine ganze Menge Jugendliche gibt, die das Berufsbil- Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Ach Gott, man dungssystem nicht dreieinhalb Jahre durchlaufen, darf also nicht denken, nur weil irgendein anderer ei- müssen wir neu differenzieren; wir müssen neue Be- nen falschen Vorschlag macht. rufe schaffen. Wir sind uns also einig, lieber Herr Kollege, daß Dazu will ich Ihnen einmal etwas vorlesen, und das nicht damit gemeint ist. hier sollte der Handwerkskammerpräsident von Ko- (Zurufe von der SPD: Frage!) blenz richtig zuhören. Es gibt einen Vorschlag der Kreishandwerkerschaft und der Elektroinnung der - Lesen Sie übrigens einmal in der Geschäftsordnung Stadt Duisburg, die die Handwerkskammer Düssel nach: Man muß nicht immer eine Frage stellen. Man 11762 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Jürgen Rüttgers kann auch einen Satz sagen, der beantwortet werden den Weg von der Berufsschule bis zum Bet rieb eine soll. Auch das steht in der Geschäftsordnung. gewisse Zeit. Sind wir derselben Meinung, daß es gut ist, wenn (Zurufe von der CDU/CSU: Im Handel? - sich die Kreishandwerkerschaft Duisburg Gedanken Karl-Heinz Scherhag [CDU/CSU]: 20 Uhr!) - darüber macht, wie man eine moderne Ausbildung reformiert? - Der Meinung sind wir allerdings. - Im Handel sind die Betriebe länger geöffnet. (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Im Hand- Günter Rixe (SPD): Wenn sie sich Gedanken über werk ist nicht um 16 Uhr Schluß!) eine moderne Reform macht, dann ja, - Entschuldigen Sie: Meine Mitarbeiter gehen um (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Ja!) 16 Uhr, auch die von Herrn Scherhag gehen um 17 Uhr nach Hause. aber nicht, wenn es um das geht, was sie hier aufs Papier gebracht hat. Deswegen lohnt es nicht, in den Bet rieb zurückzu- kehren, wenn man sechs oder sechseinhalb Stunden (Beifall bei der SPD - Dr. Jürgen Rüttgers in der Berufsschule gesessen hat, Herr Minister - [CDU/CSU]: Ich muß Ihnen zustimmen! auch mit 18 Jahren. Auch da sind wir unterschiedli- Aber daß Sie denken, ist gut! - Abg. Karl cher Meinung. Für mich ist das ein junger Erwachse- Heinz Scherhag [CDU/CSU] meldet sich zu ner. In der Jugendhilfe, in der Jugendgerichtshilfe einer Zwischenfrage) wird ein 18jähriger als Jugendlicher betitelt und nicht als Erwachsener. Das müssen wir zur Kenntnis - Soll er gleich fragen? - Dann rede ich gar nicht erst nehmen. Nicht jeder Jugendliche kann noch nach weiter. sechs oder sechseinhalb Stunde Schule, wo er nach- (Heiterkeit) denken und sich anstrengen muß, in den Bet rieb. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Karl-Heinz Scherhag (CDU/CSU): Herr Kollege Rixe, Sie haben mich angesprochen. Ich möchte an Das sollten wir nicht fahrlässig in den Raum stel- Sie die Frage richten: Sind Sie nicht mit mir der Mei- len. Wir sollten vernünftig über Blockunterrichtszei- nung, daß viele Vorschläge, die in der Richtung ge- ten, Halbjahresberufsschulunterricht usw. reden. macht werden, sei es von Kreishandwerkerschaften Eines aber steht fest: Mit uns geht es nach der Be- oder auch von Politikern, nicht immer richtig sein rufsschule nicht noch in den Betrieb. Mit uns wird es müssen? keine Kürzung von 480 Stunden Berufsschule im Jahr geben. Günter Rixe (SPD): Da stimme ich Ihnen zu: Es (Beifall bei Abgeordneten der SPD) muß nicht immer richtig sein, was sie auf das Papier bringen. Ich habe dies auch nur als Beispiel vorgetra- Diese Unterrichtszeit wird nämlich in den hoch- gen. Es läuft doch darauf hinaus - darum geht es technologischen Berufen und auch im Handwerk be- doch -, daß, wenn wir von Differenzierung reden, un- nötigt. sere Handwerksorganisationen und andere so etwas daraus machen, Herr Scherhag. Da müssen wir auf- (Abg. Werner Lensing [CDU/CSU] meldet passen. Wir müssen über Differenzierung vernünftig sich zu einer Zwischenfrage) reden und dürfen nicht einen solchen Unsinn zu- stande kommen lassen. Das ist das Problem. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Lensing, die Zeit ist abgelaufen. Der Kollege Rixe muß ohnehin (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zum Ende kommen. Ich kann keine Zwischenfragen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gestatten. CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) Kommen wir zu der unseligen Diskussion über den Günter Rixe (SPD): Ich habe nur noch einen Punkt. Ich sage: Natürlich müssen wir dar- Berufsschultag. Über die Ausbildungsvergütung, die auch im Ge- über reden, wie wir die 480 Stunden Berufsschulun- spräch ist, sollten wir vernünftig reden. Handwerks- terricht im Jahr vernünftig aufteilen. Dazu gibt es meister, Einzelhandel, Indust rie - wenn man mit de- auch Vorschläge. Im Bauhauptgewerbe gibt es eine nen spricht, dann reden sie gar nicht über die Ausbil- vernünftige Regelung. Da gibt es jede Menge Block- dungsvergütung, weil dieser Punkt bei der Zurverfü- unterricht. gungstellung eines Lehrstellenplatzes überhaupt Nur, die Diskussion, Herr Minister, daß man nach keine Rolle spielt. rieb der Berufsschule am selben Tag noch in den Bet Danke schön. muß, ist doch schizophren. Wir sollten sie gar nicht erst aufnehmen. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie der Abg. Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE Sechs Stunden Berufsschule am Tag: Die Berufs- GRÜNEN]) schule beginnt um 8 Uhr. Werden sechs Stunden ab- solviert, inklusive Pausen, sind wir bei 13.30 Uhr. Um 16 Uhr ist in allen Betrieben Feierabend. Im ländli- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt chen Bereich braucht der Auszubildende zudem für der Kollege Josef Hollerith. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11763

Josef Hollerith (CDU/CSU): Frau Präsidentin! ist nach Mitteln und Wegen zu suchen, mit denen die Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Jahr berufliche Ausbildung für Ausbilder und Auszubil- 1995 markiert die Trendwende bei den Lehrstellen in dende erstrebenswert und attraktiv gemacht werden der Bundesrepublik Deutschland: Erstmals seit zehn kann. Jahren gab es wieder mehr Lehrstellen als im Jahr zuvor. Mit knapp 600 000 Ausbildungsplatznachfra- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gern und 623 000 Ausbildungsplätzen konnte ein na- Dazu gehört auch, das Reformkonzept für die allge- hezu ausgeglichenes Ergebnis erreicht werden. Ich meine Schulbildung voranzubringen. Einem jungen bin auch sehr optimistisch, daß am Ende dieses Jah- Menschen Lesen, Schreiben und Rechnen beizubrin- res alle, die ernsthaft eine Lehrstelle suchen und fle- gen ist Aufgabe der allgemeinbildenden Schulen xibel genug sind, einen Ausbildungsplatz bekom- und nicht des Lehrherrn. Nachlassende Grundquali- men werden. fikationen und ein zum Teil katastrophales Lei- Ob dieser positive Trend der Steigerung des Aus- stungsniveau bei Schulabgängern sind auch eines bildungsplatzangebots fortgesetzt werden kann, der Themen, das Handwerksmeister mir gegenüber wird entscheidend davon abhängen, inwiefern es immer wieder kritisch ansprechen. uns gelingt, diejenigen, die letztlich entscheidend (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sind - die Ausbilder -, vom hohen Wert der Zukunfts- investition „berufliche Bildung" zu überzeugen. Pro- Zu diesem Komplex gehört auch die betriebs- gnosen sprechen von einem geschätzten Anstieg des freundlichere Ausgestaltung der Berufsschulen, die Lehrstellenbedarfs von derzeit rund 620 000 auf über in ihren Lehrplänen verstärkt Rücksicht auf Fo rt 700 000 innerhalb der nächsten zehn Jahre. -schritt und sich wandelnde Berufsanforderungen nehmen müssen; Stichwort: Umgang mit neuen In- Die aktuellen Entwicklungen im Ausbildungssek- formations- und Kommunikationstechniken. tor machen deutlich, daß es mit Überzeugungsarbeit allein nicht getan ist, daß weitaus stärkeres Engage- Ausdrücklich erwähnen möchte ich die bereits er- ment vonnöten sein wird: Die Ausbildungsbeteili- zielten Erfolge. gung der kleinen und mittleren Bet riebe, der zu ( [CDU/CSU]: Jawohl! Sehr Recht vielgepriesenen Stütze unseres dualen Ausbil- richtig!) dungssystems, hat sich von 1990 bis 1994 um fast ein Drittel reduziert. Großbetriebe haben ihre Ausbil- Erstens nenne ich die Flexibilisierung der Ausbil- dungsleistungen im selben Zeitraum um ein Viertel der- Eignungsverordnung, die seit 1. Juli in Kraft ist. verringert. Insgesamt bildet nur noch ein Drittel aller Sie ist ein großer Erfolg, Herr Minister. Wer nach- Betriebe beruflichen Nachwuchs aus. weislich über die erforderlichen Qualifikationen ver- fügt, dem sollen künftig formale Prüfungen sowie ko- Warum ist dies so? Bei den Gründen, die mir Aus- stenträchtige und zeitaufwendige Vorbereitungslehr- bilder bei berufspolitischen Veranstaltungen nennen, gänge erspart werden. Das erleichtert insbesondere findet sich an erster Stelle unisono die geringe zeitli- kleinen Betrieben den Einstieg in die Ausbildung. che Verfügbarkeit der Lehrlinge im Bet rieb auf Grund des hohen Anteils außerbetrieblicher Ausbil- Zweiter großer Erfolg: Bundesregierung, Wi rt dung. Wenn in manchen Berufen der Lehrling im -schaft und Gewerkschaften haben vereinbart, die Jahr nur 25 Prozent der Zeit im Bet rieb ist, dann darf Modernisierung von Ausbildungsberufen zu be- man sich nicht wundem, wenn die Ausbildungsbe- schleunigen. Länger als ein Jahr darf das Verfahren reitschaft der Handwerksbetriebe zurückgeht. künftig nicht mehr dauern. (Beifall bei der CDU/CSU) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Lange genug!) Konkrete erfolgversprechende Maßnahmen, mit Seit 1995 wurden 23 Ausbildungsberufe moderni- denen eine Verbesserung erreicht werden soll, sind siert. 90 weitere Berufsbilder für rund 500 000 Auszu- oft in den Mühlen der Bürokratie steckengeblieben. bildende werden derzeit überarbeitet. In 40 davon Ich nenne zum Beispiel schleppende Abstimmungen soll schon im kommenden Jahr nach neuen Berufsbil- zwischen Landesregierungen, zwischen Kammern, dern ausgebildet werden. Fachverbänden und Tarifpartnern. Der Minister hat zu Recht das Konsensprinzip, das wir hier praktizie- Dritter großer Erfolg: Der im Perspektivbericht an- ren, genannt. gesprochenen Forderung nach der Entwicklung neuer Berufe mit Zukunft in Beschäftigungsfeldern Als ein weiterer riesiger Hemmschuh, der immer mit großen Wachstumspotentialen ist ebenfalls er- mehr Betriebsleiter zum Rückzug aus der Ausbilder- folgversprechend entsprochen worden. So wird be- tätigkeit veranlaßt, wird die als Dirigismus empfun- reits in drei neuen Medienberufen ausgebildet. Sie- dene Einflußnahme des Staates auf die Beruf sausbil- ben neue Informations- und Kommunikationsberufe dung im Betrieb genannt. Ganz entscheidend ist in wird es vom nächsten Jahr an geben. diesem Zusammenhang vor dem Versuch zu wa rnen, mittels einer Ausbildungsstellenabgabe die Ausbil- Sie sehen, wir sind auf dem richtigen Weg. Wir la- dungsbereitschaft steigern zu wollen. Nichtausbil- den die Opposition ein, uns zu begleiten. dende Betriebe zu strafen - dazu gehören auch der Herzlichen Dank. kleine Bäckerei- oder Metzgereibetrieb im ländlich strukturiertem Raum, die händeringend einen Lehr- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ling suchen - ist eindeutig der falsche Weg. Vielmehr ordneten der F.D.P.) 11764 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort nimmt chen Sie das bitte selber vor, und zwar nicht nur ei- jetzt die Kollegin Edelgard Bulmahn. nen Tag, sondern bitte ein Jahr lang. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Edelgard Bulmahn (SPD): Sehr geehrte Frau Präsi- und der PDS - Widerspruch bei der CDU/ dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe CSU) mich in dieser Debatte gefragt - vor allen Dingen bei Ihrem Debattenbeitrag, Herr Minister Rüttgers -, was Nichts da, mein lieber Herr Rüttgers, so einfach kön- sich die junge Frau in Neubrandenburg denkt, die nen Sie es sich nicht machen. zusammen mit 1 027 anderen Jugendlichen um 37 Ausbildungsplätze konkurrieren muß, wenn Sie Wir haben in Niedersachsen vorgeschlagen - das sagen „Alles in Butter, es sind genügend Ausbil- halte ich für den richtigen Weg; das machen wir auch dungsplätze da" . so -, daß sich Berufsschulen und Bet riebe vor Ort über eine möglichst optimale Organisation des Be- Was denkt sich der junge Mann in Nürnberg, wo rufsschulunterrichtes verständigen. Das muß unter- noch 1 099 Jugendliche um ganze 221 offene Stellen schiedlich geschehen, je nach Ausbildungsbranche konkurrieren? Was denken sich die Jugendlichen in und Ausbildungsberuf. Diejenigen, die die Ausbil- Tauberbischofsheim, in Magdeburg, in Würzburg, in dung wirklich leisten, können dieses auch am be- Kaiserslautern, in Duisburg, in Berlin oder in Erfu rt, sten. Ich halte überhaupt nichts davon, dies von Bun- wo die Ausbildungsstatistik alles andere als ausge- desseite vorzuschreiben. glichen ist und wo sich die Jugendlichen verzweifelt Blockunterricht einen Tag oder zwei Tage - das bemühen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen? hängt davon ab, über welche Ausbildung wir reden Es reicht nicht, am Ende des Ausbildungsjahres (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Haben Sie auf die angeblich ausgeglichene Ausbildungsbilanz schon mal ausgebildet? Wissen Sie über- zu verweisen. Die Chance auf eine zukunftsorien- haupt, wie das geht?) tierte und qualifizierte Ausbildung darf in Zukunft und wie die regionale Situation tatsächlich ist, wie doch nicht davon abhängig sein, ob ich in Bitterfeld lang die Anfahrtszeiten sind usw. Das wissen diejeni- oder ob ich in Stuttgart geboren worden bin. gen, die vor Ort handeln müssen, am besten, und diese sollen entscheiden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen alles dafür tun, daß jeder und jede Ju- Genausowenig hilft es, wenn man über die angeb- gendliche - ganz egal, wo er oder sie lebt - einen lich zu hohe Ausbildungsvergütung lamentiert oder Ausbildungsplatz erhält. wenn man die mangelnde Flexibilität der Jugendli- chen beklagt. Ich frage mich wirklich, wer aus die- Wenn wir am Ende dieses Ausbildungsjahres fest- sem Hause seiner 16jährigen Tochter zumuten will, stellen müssen, daß in 44 von 136 Arbeitsamtsbe- zum Beispiel von Magdeburg nach München zu zie- zirken Jugendliche keinen Ausbildungsplatz gefun- hen, um dort eine Ausbildung zu absolvieren. Gleich- den haben, und wenn in Ostdeutschland in einem zeitig fordern Sie, daß die Ausbildungsvergütung ge- einzigen Arbeitsamtsbezirk tatsächlich alle Jugendli- kappt wird. Wovon sollen diese Jugendlichen denn chen einen Ausbildungsplatz gefunden haben, die leben? einen haben wollten, dann können wir von dieser (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Botschaft doch nicht sagen, sie sei gut. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Bulmahn, ge- statten Sie eine Zwischenfrage? Herr Minister Rüttgers, da nützt alles Hin- und Herreden nichts: Die Schere zwischen Ausbildungs- (SPD): Ich lasse immer Fragen platzangebot und Ausbildungsplatznachfrage klafft Edelgard Bulmahn zu. immer weiter auseinander. Zwischen 1985 und 1995 ist die Zahl der Ausbildungsplätze um 35 Prozent ge- sunken. Das macht mir große Sorge. Darüber können Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Bulmahn, Sie wir nicht einfach hinweggehen. lassen eine Frage zu. Herr Lensing, bitte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Werner Lensing (CDU/CSU): Frau Bulmahn, ich denke, es ist auch für Sie jetzt gut, daß ich Sie unter- Der Hinweis auf die Berufsschule ist nicht die Lö- breche, weil Sie ja so in Rage gerieten, daß eventuell sung, Herr Rüttgers. Ich frage mich wirk lich, ob Sie die Argumente darunter leiden könnten. es sich gut überlegt haben, wenn Sie fordern, daß ein Bäckerlehrling zunächst von 3 Uhr bis 6.30 Uhr in der Backstube backen, anschließend in die Berufs- Edelgard Bulmahn (SPD): Über Schönreden kann schule gehen und do rt konzentriert lernen soll. Ma ich mich auch ärgern, Herr Lensing. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11765

Werner Lensing (CSU/CSU): Das verstehe ich auch Ich bin nicht der Meinung, daß eine Bundesregie- gut. rung oder ein Bundesparlament das besser entschei- den kann oder besser weiß. Könnten Sie sich vorstellen, Frau Kollegin Bul- mahn, daß man gleichwohl über die Ausbildungsver- - gütung vor dem Hintergrund diskutieren kann, daß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Bulmahn, ge- es Bereiche gibt, wo die Lehrlinge lediglich 500 DM statten sie eine weitere Zwischenfrage Ihres Kolle- bekommen, gen Klaus Barthel? (Zuruf von der CDU/CSU: Oder weniger!) Edelgard Bulmahn (SPD): Aber selbstverständlich. - das ist wahrhaftig nicht viel, zum Teil, so höre ich gerade von meinem Nachbarn, gibt es noch weni- Klaus Ba rthel (SPD): Frau Bulmahn, wären Sie ger -, aber auch Bereiche wie beispielsweise den Ge- vielleicht bereit, Herrn Lensing darauf hinzuweisen, rüstbau, wo sie bis zu 2 000 DM bekommen? daß die von ihm hier dargetane Logik, niedrige Aus- (Günter Rixe [SPD]: Das ist doch tarifver bildungsvergütung schaffe mehr Arbeitsplätze, traglich geregelt!) schon auf Grund der Zahlen leicht widerlegbar ist, weil sich nachweisen läßt, daß gerade auch in den Könnte man sich darüber verständigen, ob es sinn- Berufsausbildungen, wo niedrige Ausbildungsvergü- voll ist, im Rahmen der Tarifpolitik sich auch dieser tungen gezahlt werden, besonders viele Ausbil- Frage zu stellen, nicht zuletzt auch vor dem Hinter- dungsplätze vernichtet worden sind und nicht unbe- grund, daß der Deutsche Industrie- und Handelstag dingt dort, wo hohe Vergütungen gezahlt werden? erklärt hat: Wenn wir in eine neue Verhandlung ein- treten, könnten wir uns auch vorstellen, daß bei ent- Edelgard Bulmahn (SPD): Ich weise den Kollegen sprechenden Abschlüssen 25 bis 30 Prozent mehr Lensing darauf hin. Stellen für Auszubildende geschaffen würden? (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Edelgard Bulmahn (SPD): Herr Lensing, erstens debattieren und sprechen die Tarifvertragsparteien Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesver- darüber. Es wird ja auch über die Ausbildungsent- fassungsgericht hat 1980 klipp und klar festgestellt, gelte verhandelt. Das halte ich für notwendig und daß es gemeinsame Aufgabe aller Bet riebe und öf- richtig. Ich bin aber der Meinung, daß dies auch in fentlichen Verwaltungen ist, für ein ausreichendes Zukunft die Tarifvertragsparteien tun sollten und daß auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen zu wir uns als Politikerinnen und Politiker da nicht ein- sorgen. mischen sollten. Die Frage, die wir uns hier stellen und die wir be- (Beifall bei der SPD - Werner Lensing antworten müssen, ist: Wie können wir das gewähr- [CDU/CSU]: Das haben Sie aber dann leisten? Wie können wir dies sichern? gemacht!) Was können wir tun, damit wirklich alle Jugendli- - Ich habe gesagt, daß ich es für falsch halte, über chen, egal, wo sie wohnen, einen Ausbildungsplatz eine zu hohe Ausbildungsvergütung von unserer erhalten und damit die Möglichkeit und die Chance Seite aus zu jammern und dies als die Ursache des haben, ihre Fähigkeiten in diese Gesellschaft einzu- Problems zu beschreiben. bringen und einen Platz in dieser Gesellschaft zu fin- den? (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber eine!) Es geht um die Zukunft der Jugend, über die wir heute diskutieren. Es geht aber auch darum, liebe Das halte ich für eine falsche Problemanalyse. Kolleginnen und Kollegen, ob auch in Zukunft un- sere Unternehmen - sei es der Handwerksbetrieb, sei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne es der Industriebetrieb, ein Dienstleistungsunterneh- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) men oder eine soziale Einrichtung - über gut ausge- bildete und motivierte Arbeitnehmerinnen und Ar- Zu Ihrer zweiten Frage Herr Lensing. Es ist richtig, beitnehmer verfügen, und zwar nicht nur heute, son- daß die Ausbildungsvergütung oder die Ausbil- dern auch morgen. dungsentgelte sehr unterschiedlich sind. Bei den Ge- rüstbauern ist es so, daß sie praktisch in ihrer Ausbil- Es geht darum, ob die Bundesrepublik Deutsch- dung in einem hohen Maße schon die Arbeiten aus- land ihren wichtigsten Wettbewerbsvorteil gegen- führen, die sie auch hinterher als ausgebildeter über anderen Wirtschaftsregionen in dieser Welt, Mann oder ausgebildete Frau tun müssen. Insofern nämlich gut qualifizierte und motivierte Arbeitneh- haben sich die Tarifvertragsparteien darauf verstän- merinnen und Arbeitnehmer, auch in Zukunft halten digt, daß in diesem Beruf, um auch Nachwuchs zu wird. sichern, diese Ausbildungsvergütung gezahlt wer- den soll. Wenn die Tarifvertragsparteien dies für rich- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen fest- tig halten, dann sage ich dazu: Sie sind diejenigen, stellen, daß die duale Berufsausbildung in einer die das am besten wissen und entscheiden. Krise steckt. Diese ist nicht nur konjunkturell, son- dern auch strukturell bedingt. Die Bet riebe beteili- (Beifall bei der SPD) gen sich mit einer sinkenden Tendenz an der Ausbil- 11766 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Edelgard Bulmahn dung; inzwischen sind es nur noch 30 Prozent. Vor angezogen. Das gleiche gilt für Branchenumlagen, allen Dingen die Großunternehmen haben sich aus für Kammerumlagen, für tarifvertragliche Regelun- der Ausbildung zurückgezogen. Dagegen müssen gen. wir etwas tun. Das Handwerk ist inzwischen der Trä- ger der Ausbildung. - Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Bulmahn, Ich halte es für einen Skandal erster Ordnung, daß kommen Sie zum Ende! nur noch 15 Prozent der Auszubildenden in Großbe- trieben ausgebildet werden. Die Politik der Appelle Edelgard Bulmahn (SPD): Das heißt, nur die Be- hat - es tut mit leid, Herr Rüttgers - vielleicht in der triebe werden herangezogen, die ihre Ausbildungs- Vergangenheit geholfen, heute tut sie es nicht mehr. verpflichtung nicht erfüllen. Wir halten das für ge- Die SPD will die duale Ausbildung retten. Um de- recht, auch für die Unternehmen. ren Sicherung zu gewährleisten, um ein auswahlfähi- (Beifall des Abg. Günter Rixe [SPD]) ges Berufsausbildungsangebot in allen Regionen der Bundesrepublik zu garantieren und um eine ge- Wir halten es auch deshalb für richtig, weil wir nur rechte Ausbildungsleistung von allen ausbildenden auf diesem Wege langfristig wirklich allen Jugendli- Betrieben zu erreichen, chen ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot machen können. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- schlagen wir vor, daß durch ein Gesetz alle Bet riebe ten der PDS und der Abg. Antje Hermenau und öffentlichen Verwaltungen verpflichtet werden, {BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) eine bestimmte Ausbildungsquote zu erreichen. Das hat nichts mit einer Abgabe zu tun. Wir sagen: Alle Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der Betriebe sollen eine bestimmte Ausbildungsquote er- Kollege Karl-Heinz Scherhag. reichen. Wenn ein Bet rieb diese Ausbildungsquote nicht erreicht, dann zahlt er in einen von Arbeitge- bern und Gewerkschaften zentral verwalteten Fonds, Karl - Heinz Scherhag (CDU/CSU): Frau Präsiden- der dann vor O rt, in den Regionen, genutzt wird, um tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe zusätzliche Ausbildungsplätze in den Bet rieben zu Kolleginnen und Kollegen! Allein um das eben Ge- kaufen, die bereit sind auszubilden. Insofern ist das hörte zu widerlegen - das, was Frau Bulmahn hier .keine Umlage. alles von sich gegeben hat -, benötigte man eigent- lich schon eine Redezeit von einer halben Stunde. Wir wollen, daß alle Bet riebe, die ausbilden kön- nen, ihrer Ausbildungspflicht nachkommen. Wir wol- Aber zunächst lassen Sie mich der Bundesregie- len, daß es diesbezüglich zu einem gerechteren Ver- rung für den Berufsbildungsbericht 1996 danken, hältnis zwischen kleinen bis mittleren Bet rieben - (Günter Rixe [SPD]: Der ist ja auch nicht vornehmlich dem Handwerk - und den großen Be- schlecht!) trieben kommt. der eine umfangreiche Dokumentation darstellt und (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje in den Einzelpunkten Diskussionsmöglichkeiten zur Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Fortentwicklung des dualen Systems aufzeigt. Ich kann Ihre Einwürfe gar nicht verstehen. Sie (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, daß zum Beispiel die Handwerkskammer Paderborn, die eine Mein besonderer Dank gilt auch dem Bundeskanz- Ausbildungsselbstverpflichtung für ihre Mitglieder ler, der sich besonders eingesetzt hat. vereinbart hat, die IG Chemie oder der VCI System- (Günter Rixe [SPD]: Schon wieder? - Beifall veränderer seien, weil sie genau solche Verabredun- bei der CDU/CSU - Günter Rixe [SPD]: Er gen - das Festschreiben einer Ausbildungsverpflich- hat nur gebettelt!) tung - getroffen haben. - Meine Herren, das ist nun einmal so. (Beifall bei der SPD) (Günter Rixe [SPD]: Es ist schon schlimm, Ich habe erwähnt, daß aus diesem Aufkommen wenn man in dieser Gesellschaft um Ausbil- vorrangig betriebliche Ausbildungsplätze finanziert dungsplätze betteln muß!) werden sollen. Wir wollen keine zusätzlichen Ver- waltungen aufbauen. Um das zu erreichen, gehen - Lieber Kollege Rixe, von Ihnen kam ja kein Vor- wir so vor: Die öffentliche Hand soll im laufenden schlag. Seit sich der Bundeskanzler eingeschaltet Jahr vorfinanzieren, und im darauffolgenden Jahr hat, hat sich das Lehrstellenangebot vermehrt, und wird diese vorfinanzierte Summe von den Bet rieben, es sind wieder neue Leute eingestellt worden. die nicht ausgebildet haben, zurückgefordert. Wir Ich möchte auch dem Bundesminister Rüttgers für schlagen hier also praktisch ein Erstattungsverfahren seine konstruktive Arbeit und seine Vorschläge dan- vor. ken. Das Gesetz kommt dann zum Zuge, wenn die Wi rt (Beifall bei der CDU/CSU - Günter Rixe -schaft ihre Ausbildungsverpflichtung nicht erfüllt. [SPD]: Noch einer!) Die Betriebe, die ihre Ausbildungsverpflichtung er- füllt haben, werden auch nicht zur Finanzierung her Seit seiner Amtszeit geht es aufwärts. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11767 Karl-Heinz Scherhag Meine Damen und Herren, die Wi rtschaft - und Hunderte von Lehrlingen ausgebildet und bin täglich hier insbesondere das Handwerk - bemüht sich von in meinem Betrieb. Ich kenne also die Hemmnisse Jahr zu Jahr, alle Interessenten unterzubringen, was und weiß, welche Probleme sie für die Betriebe dar- bisher auch fast immer gelungen ist. Allerdings kön- stellen. nen weder alle regionalen Unterschiede ausgegli- - chen noch besondere Berufswünsche immer erfüllt Trotz alledem wollen wir weiterhin am bewäh rten werden. Wir müssen mehr Mobilität fordern. Ande- dualen System festhalten. Ich kenne kaum ein Land, rerseits stoßen einige Berufe wie die Nahrungsmittel- das nicht gerne bereit wäre, ein solches Ausbildungs- handwerke leider nur auf geringes Interesse auf sei- system zu übernehmen. Aber wir müssen dieses Sy- ten der Bewerber. stem auch fortentwickeln, um der steigenden Nach- frage nach Lehrstellen auch in Zukunft gerecht zu Zur Zeit sind im Handwerk folgende Zahlen aktu- werden. ell: 17 000 offenen Lehrstellen stehen 5 000 noch nicht vermittelte Bewerber gegenüber. Das sind die Herr Kollege Scherhag, Fakten. Vizepräsident Hans Klein: Kollege Rixe würde gerne eine Zwischenfrage stel- Die ständigen Angriffe auf nicht ausbildende, aber len. auch auf ausbildende Bet riebe führen zu Verärge- rungen in den Betrieben. Ich denke, daß gerade die Karl-Heinz Scherhag (CDU/CSU): Gerne, bitte Ausbildungsbetriebe sich ihrer großen sozialen Ver- schön. antwortung bewußt sind, junge Menschen auszubil- den. Die immer wieder aufkommende Diskussion um eine Ausbildungsabgabe führt deshalb lediglich zu Günter Rixe (SPD): Herr Scherhag, ich weiß, daß einer Verunsicherung der Bet riebe. Sie Kfz-Meister sind und einen eigenen Betrieb ha- ben. Sie haben sich eben dafür ausgesprochen, den (Beifall des Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/ zweiten Berufsschultag abzuschaffen. Sind Sie mit CSU]) mir der Meinung, daß wir bei den 480 Stunden blei- Sie bringt keinen Arbeitsplatz mehr. Es verwundert ben sollten? Wenn ja, sagen Sie mir bitte, wie Sie doch sehr, daß aus der Wirtschaft selbst die Forde- dies dann organisieren wollen. Oder sind Sie wirk- rung nach einem Lastenausgleich kaum erhoben lich der Meinung, daß die 480 Stunden zuviel sind, wird. daß sie runtergefahren werden müssen? Ich denke insbesondere an Ihre Kfz-Lehrlinge, die bei der Meine Damen und Herren von der SPD, lassen Sie Hochtechnologie - welches Auto sie auch reparieren endlich die Forderung nach einer Ausbildungsab- müssen - sehr viel Kopfwissen benötigen und es gabe fallen! nicht so sehr in den Armen haben müssen. (Günter Rixe [SPD]: Nein, das werden wir nicht tun!) Karl-Heinz Scherhag (CDU/CSU): Herr Kollege Rixe, wenn ich an die Ausfallzeiten denke, die in der Von den Betrieben werden nämlich ganz andere Berufsschule anfallen, dann bin ich in der Tat der Gründe gegen die Bereitstellung eines Ausbildungs- Meinung, daß Stunden wegfallen können. Außer- platzes genannt. Erstens. Die zu häufige Abwesen- dem braucht in der Berufsschule kein Sportunterricht heit der Lehrlinge vom Betrieb durch den mehrtägi- gegeben zu werden. gen Besuch der Berufsschule verkürzt die Zeit für die praktische, immer anspruchsvollere Ausbildung. (Zurufe von der SPD: Oh!) Deshalb muß der Wegfall des zweiten Berufsschulta- ges im Vordergrund unserer Bemühungen stehen. Das sind alles Dinge, die nicht notwendig sind; es gibt noch viele andere. Das muß gestrafft werden. (Horst Kubatschka [SPD]: Also Verschlech terung!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle - Eine Erhöhung der Lehrzeit im Bet rieb kann keine [F.D.P.] - Günter Rixe [SPD]: Der Wester- Verschlechterung darstellen. - welle hat noch nie gearbeitet und klatscht hier auch noch!) (Zurufe von der SPD: Oh!) Die Grundqualifikation, lieber Kollege Rixe, ist leider Zweitens wird immer wieder die fehlende schuli- nicht mehr gegeben. Sie wissen, was von den Haupt- sche Qualifikation vieler Bewerber beklagt. Drittens. schulen in die Betriebe kommt. Die Vorschriften der Berufsgenossenschaften und die dadurch entstehenden Kosten sind ein weiterer Ich betone es noch einmal: Wir müssen das System Grund für die Nichtbereitstellung von Ausbildungs- fortentwickeln, um der steigenden Nachfrage nach plätzen. Viertens. Die Notwendigkeit der Länge der Lehrstellen auch in Zukunft gerecht zu werden. überbetrieblichen Lehrgänge muß überprüft werden. Zwangsabgaben haben jedoch noch nie zu mehr Ar- Fünftens. Ausbildungsvergütungen sind nicht in al- beitsplätzen geführt. Dadurch werden nur die Ver- len Bereichen zeitgemäß. waltungen aufgebläht, und die eingenommenen Be- träge gehen dann in den Verwaltungen unter. Meine Damen und Herren, ich weiß, wovon ich spreche, denn diese von mir genannten Ausbildungs- Es gibt andere und bessere Möglichkeiten, ein grö- hemmnisse werden mir immer wieder von meinen ßeres Angebot an Ausbildungsstellen zu erreichen. Kollegen im Handwerk vorgehalten. Ich selbst habe Im Handwerk ist es uns in diesem Jahr wieder gelun- 11768 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Karl-Heinz Scherhag gen, mehr Lehrstellen zur Verfügung zu stellen. Al- AG hat recht, wenn sie sagt: Der zukünftige Wettbe- lein in meinem Kammerbezirk haben bis Ende Sep- werb ist nicht mehr nur ein Kosten-, sondern vor al- tember 4 400 Jugendliche einen neuen Ausbildungs- len Dingen ein Know-how-Wettbewerb, in dem die platz erhalten. Das sind bis jetzt 4 Prozent mehr als Qualifizierung der Menschen zu einer wesentlichen im letzten Jahr, und das auf hohem Niveau. . Basis für den Unternehmenserfolg wird. - (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Gün Daß wir angesichts dieser Bedeutung Jahr für Jahr ter Rixe [SPD]) in eine Zitterpartie hineingeraten, um ein auswahlfä- Aber ich sage Ihnen ehrlich: Bei 16 000 Bet rieben ist higes Angebot an Ausbildungsplätzen sicherzustel- das eigentlich zuwenig. Hier ist sicherlich noch Po- len, halte ich schlichtweg für unerträglich. tential vorhanden, weitere Lehrstellen zu finden. Wir haben das bei der Kammer durch B riefe an die Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- triebe, durch Gespräche mit den Bet rieben, durch ten der PDS) Hinweise auf Förderprogramme, durch Schulfeste mit dem Berufsbildungszentrum, durch Nachwuchs- Die Bundesregierung trägt dafür ein gerüttelt Maß aktionen in der Öffentlichkeit und den Einsatz von an Verantwortung, jedoch auch Teile der Wi rtschaft, Ausbildungsberatern erreicht. und zwar diejenigen, die sich dieser Zukunftsauf- Wir sollten gemeinsam versuchen, die angespro- gabe verweigern. Ich wi ll hier all die davon ausneh- men - Herr Scherhag, Sie haben das bereits gesagt -, chenen Ausbildungshemmnisse zu beseitigen, und die sich im Handwerk, im Handel, in der Industrie gleichzeitig an der Entwicklung von neuen, moder- nen Berufen arbeiten. Dies tun wir im Bereich des und in der Dienstleistung tatkräftig engagieren, Handwerks im Rahmen der Novellierung der Anla- ebenso die Tarifpartner - ich denke dabei an die che- gen A und B der Handwerksordnung. Hierbei dürfen mische Industrie, die Textilindustrie und den öffentli- die Deregulierer jedoch nicht die Oberhand gewin- chen Dienst -, die sich dieses Themas in den Tarif- nen. Bestehende Berufe sollten nicht von Politikern verhandlungen annehmen. in Frage gestellt werden, sondern der Markt allein sollte entscheiden, welche Angebote und welche Es bleibt dennoch eine sehr schwierige Situation, Formen von Betrieben noch Bestand haben werden. die der Kanzler zur Chefsache gemacht hat. Im er- sten Entwurf des Entschließungsantrags, der uns sei- Wir brauchen veränderte und neue Berufe in tens der Koalition heute vorlag, war nur vom Kanzler neuen Wachstumsfeldern, zum Beispiel in der Infor- die Rede. Es hieß, daß sich dieser wie kein anderer mations- und Kommunikationstechnologie, im Um- der Sache angenommen hätte; die Ressortminister weltschutz, in der Sicherheitstechnik und in weiteren spielten keine Rolle. Im laufenden Verfahren wurde anderen Feldern. Wir haben als Parlamentarier die uns dann eine zweite Vorlage vorgelegt, in der steht, große Chance, diese neuen Berufe mitzuschaffen daß auch die Ressortminister ihren Anteil daran ha- und unserer Jugend neue berufliche Perspektiven ben. - Ich hatte schon gedacht, der Zukunftsminister aufzuzeigen. Ich lade Sie deshalb ein, auf diesem Ge- spielt bei dieser Debatte keine Rolle; dabei war die biet nicht gegeneinander, sondern miteinander zu ar- Not groß genug. Er hat uns seine Fachkompetenz am beiten. Unser Leitsatz sollte heißen: Keine Kar riere 30. September in einer großen Tageszeitung deutlich ohne Lehre. zum Ausdruck gebracht. Seine tiefe Analyse der Qualitätssicherung in der Berufsausbildung lautet: Danke schön. Was ist dagegen einzuwenden, wenn ein Lehrling (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge die Halle fegt? „Warum soll der Stift auf dem Bau ordneten der F.D.P. und des Abg. Günter nicht mal für die Kollegen einen Kasten Bier holen Rixe [SPD]) dürfen" , so der Minister. Zunächst dachte ich noch, das wäre ein neuer, doppelt qualifizierender Ausbil- dungsgang zum Gebäudereiniger und Systemgastro- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- nomen à la McRüttgers. Es muß wohl etwas anderes lege Franz Thönnes. gewesen sein; denn der stellvertretende Hauptge- schäftsführer der Kreishandwerkerschaft, Ernst Witt- Franz Thönnes (SPD): Meine sehr geehrten Damen lich aus Bonn, hat gleich darauf gesagt, der Minister und Herren! Herr Präsident! Gut zwei Stunden spre- solle sich lieber darum kümmern, daß in den Betrie- chen wir über einen der wichtigsten Investitionsfak- ben anständig ausgebildet wird. toren in unserer Gesellschaft. Mit 45 Milliarden DM pro Jahr, wenn nicht sogar noch mehr, ist der Sektor (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- der Berufsausbildung einer der zentralen Zukunftssi- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN cherungsbereiche. und der PDS) (Beifall bei der SPD) Ich hatte gedacht, Sie hätten daraus gelernt, Herr Es geht um die Sicherung der Zukunftsperspektiven Minister, aber gestern bei der BIBB-Fachtagung in junger Menschen, um die Festigung unserer sozialen Berlin haben Sie noch einen draufgesetzt, als eine Sicherungssysteme und um die Aufrechterhaltung Dame kritisch nachgefragt hat, und gesagt: In den der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wi rtschaft ange- meisten Betrieben wird doch Bier geholt. - Es ist sichts einer an Geschwindigkeit zunehmenden Ent- wohl lange her, daß Sie in einem Bet rieb gewesen wicklung der Globalisierung. Die Baseler Prognos sind. Das ist eine Verhöhnung all derjenigen, die sich Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11769 Franz Thönnes um eine anständige Berufsausbildung in den Betrie- Die Dithmarschener CDU stellt zum Landespartei- ben kümmern. tag der CDU in Schleswig-Holstein den Antrag, dies nun auch endlich umzusetzen. Die Vollversammlung (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE der Kreishandwerkerschaft in Paderborn beschließt GRÜNEN und der PDS) - am 15. Juni 1996 einen Finanzierungsausgleich, weil Mit dieser Politik wird man den Qualitätsanforderun- es nicht länger hinnehmbar ist, daß sich einige drük- gen auf gar keinen Fall gerecht. Sie sollten, statt sol- ken und die anderen die Berufsausbildung finanzie- che Bemerkungen zu machen, lieber endlich einmal ren. - das haben Sie in den zwei Jahren Ihrer Amtszeit noch nicht gemacht - in das Parlament der Berufs- (Beifall bei der SPD) ausbildung, zum Hauptausschuß beim Bundesinsti- Das gleiche beschließt die Ärztekammer in Schles- tut für Berufsbildung, gehen und mit ihm über diese wig-Holstein, um einen solidarischen Ausgleich zwi- Qualitätsfragen diskutieren. schen denen herzustellen, die ausbilden, und denen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne die nicht ausbilden. ten der PDS) Hören Sie auch endlich mit den kontraproduktiven Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Thönnes, Vorschlägen auf, die zwei Berufsschultage müßten gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jork? abgeschafft werden! Die Wi rtschaft hat sich längst auf etwas anderes verständigt. In Schleswig-Holstein sind sich die Beteiligten - Handelskammer, Land- Franz Thönnes (SPD): Ja. wirtschaftskammer und die Ministerien - einig, daß man die 480 Stunden flexibel regelt. Auch in Nieder- Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Kollege Thönnes, sachsen ist das der Fall. Schauen Sie in die Stellung- können Sie mir sagen, wie speziell in den neuen nahme, die die Mehrheit im Hauptausschuß zum Be- Bundesländern dieser Ausgleich funktionieren so ll, rufsbildungsbericht geschrieben hat! DGB und BDA wenn es die großen Betriebe gar nicht gibt, und wie haben sich mit ihren Vorschlägen zur Verbesserung Sie dieses Geld, wenn es denn einen solchen Aus- der Berufsschule als der zweiten Säule im System der gleich gäbe, in der gesamten Bundesrepublik so ver- dualen Berufsausbildung vom 9. Februar das Ziel ei- teilen wollen, daß es genau an die Stelle kommt, wo ner breiten und qualitativ hochwertigen Berufsaus- dann Lehrstellen gebraucht werden? Wie kann dies bildung gesetzt. Auch die Kultusministerkonferenz funktionieren, wenn die Wi rtschaft in den neuen ist für die 480 Stunden. Es ist eine gemeinsame Ver- Bundesländern als Spender dafür vorerst gar nicht in abredung. Hören Sie auf, Unsicherheit zu schüren, Frage kommt? indem Sie sagen, diese zwei Tage sollen weg! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der PDS) Franz Thönnes (SPD): Herr Jork, hier stellt sich die prinzipielle Frage, welches Selbstverständnis man Im übrigen befinden Sie sich damit auch im Wider- von Solidarität und von einem solidarischen Finan- spruch zum Vertreter des Bundeskanzleramtes, zierungsausgleich hat. Das heißt nämlich, daß dieje- Herrn Dr. Luther, der noch in der letzten Woche im nigen, die etwas breitere Schultern haben, für dieje- Bund-Länder-Ausschuß für Berufsbildung aus den nigen etwas tun, die etwas schmalere Schultern ha- Gesprächen zwischen dem Kanzler und der Wi rt ben. Wir sind schon der Auffassung, daß das unbüro- -schaft berichtet und deutlich gesagt hat, alle sind kratisch und in Verantwortung der Wi rtschaft und sich einig, daß der Berufsschulunterricht nicht weni- derjenigen, die an der Berufsausbildung beteiligt ger als 480 Stunden umfassen soll. sind, geschehen soll. Dies umfaßt Arbeitgeber, Ge- werkschaften, öffentliche Hand in der Selbstverwal- Hören Sie auch endlich auf, so zu tun, als sei ein tung der Arbeitsverwaltung. Ich finde Ihre Frage Leistungsausgleich Teufelszeug! hochspannend, weil sie mir zeigt, daß Sie sich ernst- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne haft mit dieser Frage auseinandersetzen; Sie sind im ten der PDS) Prinzip damit auch gegen eine Umlage, wie wir sie gegenwärtig über die Steuerzahler haben. Das ist Ich will Ihnen dazu einmal etwas aus dem Arbeitsbe- doch im Moment die Realität. Die Wirtschaft ist hier reich Ihres Kollegen Seehofer zur Begründung für ei- verantwortlich. Sie sind für eine solche Diskussion of- nen Leistungsausgleich unter den Krankenhäusern, fen. Das zeigt mir, wir haben eine Chance, darüber die ausbilden, vorlesen. In der Begründung des Re- gemeinsam im Ausschuß zu debattieren. gierungsentwurfs zu § 17 Abs. 4 a des Krankenhaus- finanzierungsgesetzes heißt es: (Beifall bei der SPD und der PDS) Um eine gerechte Verteilung der durch die Aus- bildungsstätten entstehenden Belastungen zu er- Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Frage des reichen, werden die Länder ermächtigt, zwischen Kollegen Jork. den Krankenhäusern mit und ohne Ausbildungs- stätten einen Belastungsausgleich herbeizufüh- ren. Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Ich darf bitte nachfragen: Meinen Sie, es wäre eine Lösung, daß Das kommt von einem CSU-Bundesminister! Großbetriebe aus den alten Bundesländern über ei- 11770 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr.-Ing. Rainer Jork nen Topf - gleich, wie er organisiert ist - eine Umlage Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege! an die neuen Bundesländer zahlen?

(Zuruf von der SPD: Wenn sie nicht ausbil Franz Thönnes (SPD): - und aus Vertretern des den, ja!) Bundestages, des Bundesrates, der Gewerkschaften- und der Arbeitnehmer besteht. Franz Thönnes (SPD): Herr Jork, ich bin an dieser Stelle für jeden konstruktiven Vorschlag offen. Ich Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Sie sind will das gar nicht auf die Großbetriebe reduzieren, wirklich ganz weit über Ihre Redezeit. sondern auf diejenigen angewandt wissen, die sich bei dieser Zukunftsaufgabe davonstehlen. Um die geht es, nicht um die, die ihren Beitrag dazu in aus- Franz Thönnes (SPD): Letzter Satz. - Der Herr Mi- reichendem Umfang leisten. nister hat gestern gesagt: „Es muß sich etwas än- dern, damit es so bleibt, wie es ist." Wir wollen, daß (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sich etwas ändert, daß alle Auszubildenden ein aus- PDS) wahlfähiges Angebot bekommen. Wenn das mit die- Der Bundesminister hat zu einem Dialog eingela- ser Regierung nicht möglich ist, muß sich eben die den. Dazu sind wir gerne bereit. Wir erkennen bei Regierung ändern. Ihnen ja auch Fortschritte. Sie haben davon gespro- chen, daß es für beruflich besonders Qualifizierte (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei nach Abschluß der Berufsausbildung doch auch Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE möglich sein müsse, ein Hochschulstudium aufzu- GRÜNEN) nehmen - hervorragend! Die SPD-Bundestagsfrak- tion hat am 19. Februar 1992 im Bundestag einen Ge- Ich schließe die Aus- setzentwurf auf Drucksache 12/2125 - noch einmal Vizepräsident Hans Klein: sprache. zum Nachlesen - eingebracht. Dabei ging es um die entsprechende Einfügung eines Absatzes 2 a in § 27 Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage des Hochschulrahmengesetzes. Was war das Ergeb- auf Drucksache 13/4555 an die in der Tagesordnung nis? - Dies wurde von der Mehrheit hier im Hause aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Ent- abgelehnt. Es kann ja sein, daß Sie nun etwas klüger schließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU geworden sind. Wir wollen dann gerne in einen Dia- und F.D.P., der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und log mit Ihnen eintreten. der Gruppe der PDS auf Drucksachen 13/5835, 13/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne 5817 und 13/5802 sollen an die gleichen Ausschüsse ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstan- den? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Überweisungen so beschlossen. Kolleginnen und Kollegen, es geht an dieser Stelle darum, daß wir - gemeinsam mit allen Beteiligten - Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: für Entwicklungen der auf uns zukommenden Ver- änderungen in der Berufsausbildung offen sind. Das Beratung des Antrags der Abgeordneten Joa- heißt auch, Herr Minister, wir könnten einmal dar- chim Poß, Ingrid Matthäus-Maier, Ludwig über diskutieren, ob nicht ständige Kommissionen Eich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Sozialpartner sich darüber Gedanken machen der SPD sollten, was sich in der Welt des Berufsalltages verän- Einkommensteuerreform zum 1. Januar 1998 dert. Das könnten sie dann als Empfehlung für die in Kraft setzen Berufsausbildung aussprechen. Wir müssen nur auf- passen, etwa bei der Reduzierung auf ein Jahr, daß - Drucksache 13/5510 — die Kompatibilität mit der anschließenden Prüfung Überweisungsvorschlag: gegeben ist. Wir können keine Turbobeschleunigung durchsetzen, ohne die Prüfung am Ende zu berück- Finanzausschuß (federführend) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sichtigen. Haushaltsausschuß (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es zeit ist schon ein gutes Stück überschritten. so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wo rt Franz Thönnes (SPD): Ich möchte den Vorschlag dem Kollegen Joachim Poß. des Herrn Ministers aufgreifen, in dem er unsere Auffassung bestätigt hat, daß es in der Bundesrepu- blik Deutschland an der Zeit ist, eine Expertenkom- Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Meine Damen mission einzusetzen, die, wie es der Bundesge- und Herren! Zu Anfang gleich ein klares Wo rt zur ak- schäftsführer der SPD, Herr Müntefering, vorge- tuellen Debatte um eine Mineralölsteuererhöhung: schlagen hat, über die grundlegende Modifizierung Man kann nicht auf der einen Seite die Vermögen- der Berufsausbildung für die Zukunft spricht - steuer auch für Vermögensmillionäre abschaffen und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11771 Joachim Poß gleichzeitig bei den Autofahrern abkassieren. Das des Sozialstaates massive gesellschaftspolitische macht die SPD nicht mit. Konflikte herauf. Deshalb besteht jetzt akuter politi- scher Handlungsbedarf. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) - Nun zum Thema: Die SPD forde rt, daß die Einkom- mensteuerreform schon zum 1. Januar 1998 in Kraft Der Sprung aus dem Steuerchaos muß jetzt vollzogen tritt. Ich möchte hierfür drei Gründe nennen: werden. Steuerrecht muß nämlich auch zum sozialen Frieden beitragen. Steuerpolitik ist Gesellschaftspoli- Erstens. Die Bürger haben die Nase von den Aus- tik; Steuerrecht ist Gerechtigkeitsrecht. wüchsen der Steuerpolitik dieser Bundesregierung gestrichen voll. Wir sind aus einem zweiten Grund dafür, daß die Einkommensteuerreform zum 1. Januar 1998 in Kraft (Beifall bei der SPD) tritt: Wird die Steuerreform erst 1999 oder noch spä- Für Arbeitnehmer mit durchschnittlichem Einkom- ter in Kraft gesetzt, dann kann der Bürger erst nach men ist die Steuer- und Abgabenbelastung im ver- der Bundestagswahl 1998 in seinem Po rtemonnaie gangenen Jahr mit 46,1 Prozent auf eine Rekordhöhe feststellen, was ihm die Steuerreform unter dem in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Strich in Mark und Pfennig gebracht hat. Genau das gestiegen. Gleichzeitig müssen diese Bürger in den will die Bundesregierung. Wir wollen dagegen mit Zeitungen lesen, daß Einkommensmillionäre immer offenen Karten spielen. Die Bürger sollen schon vor häufiger keine Einkommensteuer und auch keinen der Wahl die tatsächlichen Auswirkungen der Steu- Solidaritätszuschlag zahlen. erreform spüren und nicht nur die gesetzlichen Vor- schriften kennen. Es geht auch nicht - wie die F.D.P. Der Durchschnittsverdiener hat von der Abschaf- jetzt vorschlägt, um aus diesem Spagat herauszu- fung der Vermögensteuer nichts; er hat auch nichts kommen -, in zwei Schritten voranzugehen, nach von einem Wegfall der Gewerbekapitalsteuer. Aber dem Motto: Entlastung vor der Wahl, Gegenfinanzie- er hat etwas davon, wenn das Kindergeld und der rung nach der Wahl. Grundfreibetrag 1997 so erhöht werden, wie wir das im letzten Jahr beschlossen haben. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: So machen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne die das immer!) ten der PDS) Meine Damen und Herren von den Koalitionspar- Während die Unternehmen über eine angeblich zu teien, Sie sollten unserem Antrag, die Steuerreform hohe Steuerlast immer lauter jammern, sind die Un- zum 1. Januar 1998 in Kraft zu setzen, zustimmen. ternehmensteuern im Verhältnis zum Steueraufkom- Gerade in der Steuerpolitik haben Sie das Vertrauen men insgesamt in den letzten Jahren ständig gesun- der Bürger restlos verspielt. ken; die Körperschaftsteuer erreichte im vergange- nen Jahr nicht einmal mehr das Aufkommen der Ta- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf baksteuer. Der Anteil der Lohnsteuer an den gesam- Kutzmutz [PDS]) ten Steuereinnahmen ist dagegen 1995 auf 34,7 Prozent angestiegen. Auch dies ist eine neue Re- Niemand hat die großangelegte Steuerlüge im Zu- kordhöhe in der Geschichte der Bundesrepublik. sammenhang mit der Bundestagswahl 1990 verges- Während die Medien ständig über neue Fälle von sen. Vor der Wahl haben Sie versprochen, die Steu- Steuerhinterziehung und Steuerflucht berichten, ern nicht zu erhöhen; nach der Wahl haben Sie die werden die Sozialleistungen knallhart zusammenge- größte Steuererhöhung aller Zeiten beschlossen. strichen. Seitdem ist es nicht besser geworden - im Gegenteil! Jetzt wollen Sie sogar beim Kindergeld und beim Mit den schlimmen Fehlentwicklungen in der Grundfreibetrag bereits beschlossene Gesetze wie- Steuerpolitik muß endlich Schluß sein. der „kassieren". Es ist kein Wunder, daß die Bürger (Beifall bei der SPD) Ihnen in der Steuerpolitik nicht glauben. Das Einkommensteuerrecht war noch nie so unge- (Beifall bei der SPD - Ing rid Matthäus- recht wie heute; es war auch noch nie so kompliziert Maier [SPD]: Auch sonst nicht! - Ch ristine wie heute, Herr Minister. Der Dschungel an Steuer- Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der vorschriften hat die Einkommensbesteuerung un- Sozialpolitik auch nicht!) durchschaubar und selbst für die Finanzverwaltung kaum noch anwendbar gemacht. - Ich spreche jetzt über die Steuerpolitik. Unsere Gesellschaft ist inzwischen in zwei Grup- Es gibt noch einen dritten Grund, die Einkommen- pen von Steuerzahlern gespalten: Die einen zahlen , steuerreform schon Anfang 1998 in Kraft zu setzen: treu und brav ihre Steuern auf das sauer verdiente Die SPD hat am 2. September ihre Eckpunkte für Geld und fühlen sich dabei als die Dummen; die an- eine grundlegende Einkommensteuerreform be- deren verwenden einen Großteil ihrer Energie dar- schlossen. Die CDU wird in der kommenden Woche auf, immer neue Wege zu finden, um zu Lasten der ihre Eckpunkte beschließen. Außerdem gibt es in- Allgemeinheit die eigene Steuerschuld zu minimie- zwischen eine ganze Reihe diskutabler Vorschläge ren. - Ein ungerechtes Steuersystem beschwört zu- aus der Wissenschaft. Über viele Punkte der Einkom- sammen mit der von Ihnen bet riebenen Demontage mensteuerreform, Herr Minister, könnten wir uns 11772 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Joachim Poß rasch verständigen. Ich behaupte: Wenn wir die ben werden. Die vom Bundesverfassungsgericht ge- F.D.P. dabei außen vor ließen, hätten wir auch Erfolg. forderte Steuerfreistellung des Existenzminimums muß dauerhaft gewährleistet sein. In dem vom CDU- (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der Parteivorstand für den Parteitag beschlossenen Leit- - F.D.P.) antrag zur Reform der Einkommensteuer wird zur Wird die Arbeit zügig fortgesetzt, kann ein Gesetz- künftigen Höhe des Grundfreibetrags nichts gesagt - entwurf so rechtzeitig vorgelegt werden, daß die Be- im Gegensatz zu umfänglichen Ausführungen zur ratungen bis zur Sommerpause 1997 abgeschlossen Senkung des Spitzensteuersatzes. sind. Bis zum 1. Januar 1998 bliebe dann den Bür- Zweitens. Wir wollen den Eingangssteuersatz gern und der Wirtschaft hinreichend Zeit, sich auf deutlich senken, und zwar auf 19,5 Prozent. Dadurch das neue Steuerrecht einzustellen. Wer die Einkom- werden alle Steuerzahler entlastet. mensteuerreform um ein weiteres Jahr hinausschie- ben will, riskiert , daß die Reform zerredet und damit Drittens. Der Einkommensteuertarif soll wieder - das gesamte Projekt gefährdet wird. wie bis Ende 1995 - durchgehend linear-progressiv Im übrigen geht es bei dem Antrag, den wir einge- verlaufen. Dadurch wird gewährleistet, daß im Pro- bracht haben, nicht darum - wie gelegentlich zu hö- gressionsbereich die Grenzsteuersätze gleichmäßig ren war -, die F.D.P. vorzuführen. Das ist gar nicht ansteigen. Problematische Tarifsprünge werden so nötig. Die F.D.P. führt sich immer wieder ganz alleine vermieden. Das war jahrelang auch das erklärte Ziel vor. der Unionsparteien. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Die von der F.D.P. vorgeschlagenen und auch in- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nerhalb der CDU diskutierten Stufentarife lehnen wir ab. Diese Stufentarife verletzen die Grundsätze Wir werden das in der heutigen Debatte erleben und gerechter Steuerlastverteilung, weil sie das Prinzip vermutlich in der anschließenden Abstimmung über der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfä- unseren Antrag ebenfalls feststellen. Die F.D.P. ist higkeit mißachten. Mit solchen Tarifvorschlägen wird eine reine Ankündigungs- und Umfallerpartei. Das unser Steuerrecht noch ungerechter, als es schon war sie, das ist sie, und das wird sie auch bleiben. heute ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die SPD will durch eine grundlegende Reform der Viertens. Der Spitzensteuersatz soll spürbar ge- Einkommensbesteuerung erreichen, daß das Steuer- senkt werden. Das Ausmaß hängt von dem Umfang recht wieder einfacher und gerechter wird und die der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage ab. Das Steuersätze spürbar gesenkt werden. ist ein ganz entscheidender Punkt. Nur so kann eine Einkommensteuerreform solide finanziert werden. (Dr. [F.D.P.]: Donnerwet CDU und F.D.P. betreiben dagegen einen unse riösen ter!) Wettlauf um den niedrigsten Spitzensteuersatz. Sie wollen mit leichtfertigen Ankündigungen völlig Dreh- und Angelpunkt ist für uns dabei der konse- überzogene Erwartungen wecken, die nicht einge- quente Abbau steuerlicher Vergünstigungen und halten werden können - bzw. nur um den Preis im- Sonderregelungen. Ich sehe vor allem zwei große mer neuer Schulden und einer deutlich höheren Komplexe, an die wir herangehen müssen: Zum ei- Mehrwertsteuer nach dem altbekannten Motto die- nen an die nicht erfaßten, steuerbefreiten oder steu- ser Bundesregierung: Viele zahlen die Steuerge- erbegünstigten Einkünfte. - Zu diesem Komplex hat die Bareis-Kommission viele konkrete Maßnahmen schenke für wenige. vorgeschlagen. Wir haben hier eine gute Diskussi- Meine Damen und Herren, in dieser Woche sind onsgrundlage. - Zum anderen müssen wir die steuer- ganz zentrale steuerpolitische Fragen diskutiert und lichen Gewinnermittlungsvorschriften durchforsten. vorgeklärt worden. In diesem Zusammenhang haben Die Bildung von stillen Reserven soll möglich blei- Sie - wie immer - der SPD eine Blockadehaltung bei ben; das Ausmaß aber muß beschränkt werden, da- der Gewerbekapitalsteuer vorgeworfen. mit auch Unternehmen - wie die Arbeitnehmer - nach ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit besteuert (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Stimmt!) werden. Kollege Schleußer hat hierzu eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen vorgeschlagen. Dazu stelle ich fest: Die kommunalen Spitzenver- bände haben im Finanzausschuß die Gewerbesteuer- Die von uns ins Auge gefaßten Maßnahmen zur pläne der Bundesregierung übereinstimmend abge- Verbreiterung der Bemessungsgrundlage bei der lehnt, weil ihre Bedingungen nicht erfüllt worden Einkommensteuer ermöglichen summa summarum sind. Das können Sie uns nicht vorwerfen. jährliche Steuereinnahmen in einer Größenordnung von zirka 50 Milliarden DM. Dieses Finanzvolumen Sie haben mit den Gemeinden keine Einigung er- soll über Steuersenkungen zurückgegeben werden. reicht. Auch die Länder sind dagegen. Die Länder haben einstimmig, das heißt 16:0 festgestellt: Der Der von der SPD vorgesehene Einkommensteuer- von Ihnen im letzten Jahr vorgelegte Verteilungs- tarif umfaßt vier Reformelemente: schlüssel für den kommunalen Umsatzsteueranteil Erstens. Der Grundfreibetrag soll auf 14 000 DM funktioniert nicht, er ist nicht anwendbar. Stellen Sie für Ledige bzw. 28 000 DM für Verheiratete angeho sich einmal vor, was passiert wäre, wenn wir im letz- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11773 Joachim Poß ten Jahr hier im Bundestag Ihren Gewerbesteuerplä- Kommunen für eine Beteiligung an der Umsatz- nen zugestimmt hätten. steuer, und stützt die SPD dieses Anliegen? (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dann wäre (Beifall bei der F.D.P. - Detlev von Larcher der Teufel los gewesen!) [SPD]: Es ist nicht zu glauben!) - Die Gewerbekapitalsteuer wäre abgeschafft worden, aber es hätte keinen funktionierenden Verteilungs- Joachim Poß (SPD): Erstens haben Sie, Herr schlüssel gegeben. Die Gemeinden sind uns, der Thiele, als Ausschußvorsitzender nicht dafür gesorgt, SPD, zu Recht dankbar, daß wir im letzten Jahr die daß die Bundesregierung beratungsfähige Unterla- Pläne der Bundesregierung abgelehnt haben. gen vorgelegt hat. (Zuruf von der CDU/CSU: Eiern Sie doch (Beifall bei der SPD) nicht rum!) Zweitens haben die kommunalen Spitzenverbände Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, ge- übereinstimmend erklärt, daß sie sich dann mit einer statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele? Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer anfreunden - Bitte. könnten, wenn die Gewerbesteuer im Grundgesetz abgesichert werde, wenn der Verteilungsschlüssel Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Herr Kollege Poß, Sie klar sei, wenn der Anteil der Umsatzsteuer an dem waren in der letzten Woche im Finanzausschuß an- Gesamtaufkommen klar sei, der den Kommunen zu- wesend. Stimmen Sie mir zu, daß dort von den kom- stehen solle. Zu all diesen Punkten sind die Bundes- munalen Spitzenverbänden, insbesondere von Herrn regierung und die Koalition bisher jede klare Aus- Wimmer, gefordert wurde, daß die Kommunen so kunft schuldig geblieben. Das ist die Wahrheit. schnell wie möglich an der Umsatzsteuer beteiligt (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE werden, daß dies das Ziel der Kommunen ist und daß GRÜNEN und der PDS) alle zusammenarbeiten sollten, damit dieses Ziel er- reicht werden kann? Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, der (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Kollege Thiele würde den Dialog gern fortsetzen. NEN]: Aber mit drei Prozentpunkten! - Das ist zwar keine Fragestunde, aber solange Sie das Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Warum zulassen, kann er fragen. - Bitte. nur drei?) Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Ich möchte nur meine Joachim Poß (SPD): Laut der „FAZ" hat Herr Wim- Frage wiederholen, weil sie nach wie vor unbeant- mer heute erklärt, daß er nicht verstünde, warum die wortet ist: Ist die SPD für eine Beteiligung der Kom- Koalitionsabgeordneten im Bundestag dieses Spiel munen an der Umsatzsteuer? mitmachten, solche Fragen ohne beratungsfähige Unterlagen zu beraten, und daß er Herrn Heinrichs Joachim Poß (SPD): Die SPD hat einen Parteitags- vom Städte- und Gemeindebund zustimme, was die beschluß gefaßt. Das wissen Sie, Herr Thiele. Trotz Nichterfüllung der Bedingungen durch die Bundes- Ihrer krampfhaften Versuche, die Öffentlichkeit zu regierung angehe. täuschen - diese erfolgen nicht zum erstenmal, darin sind Sie besonders stark -, werden Sie davon nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ablenken können. DIE GRÜNEN - Detlev von Larcher [SPD]: Das hat er da auch gesagt!) (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Jetzt komm endlich mit der Antwort rüber!) Im übrigen, Herr Kollege Thiele, müssen Sie als F.D.P. hier und heute erst einmal klarstellen, daß die Die SPD hat klar geäußert, daß sie sich dann mit Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer für Sie die einer solchen Maßnahme einverstanden erklären Abschaffung der gesamten Gewerbesteuer, also den könne, wenn die Bedingungen erfüllt seien, die auch Einstieg in den Ausstieg bedeutet, daß Sie damit den die kommunalen Spitzenverbände und die Länder Kommunen jegliche Finanzperspektiven nehmen genannt hätten. Diese Bedingungen haben Sie bis und damit entscheidend die Lebensqualität vor Ort zum heutigen Tag nicht erfüllt. Dies ist die Wahrheit. beeinträchtigen. Das müssen Sie klarstellen, nicht (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE wir. GRÜNEN und der PDS - Otto Schily [SPD]: (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Da sehen sie alt aus, Herr Thiele! - Zurufe GRÜNEN und der PDS) von der CDU/CSU) Dann sagen Sie, die Anhebung des Kindergeldes 1997 koste den Staat 3,8 Milliarden DM mehr, dies Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, ge- statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen müsse gegenfinanziert werden. Sie wollen die Mine- Thiele? - Bitte. ralölsteuer um 10 bis 15 Pfennig pro Liter anheben, liest man. Nein, meine Damen und Herren, wir ha- ben hier im letzten Jahr die Gegenfinanzierung in Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Meine Frage, die Sie, vollem Umfange beschlossen. Wir haben die Gegen- Herr Poß, nicht beantwortet haben, lautete: Sind die finanzierung sogar so beschlossen, wie Sie das woll- 11774 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Joachim Poß ten. Wir von der SPD wollten noch mehr Vergünsti- Wer selbst eine vollständige Abschaffung der Vermö- gungen abbauen. Sie haben sich doch verweigert. gensteuer von 9 Milliarden DM betreibt, wer selbst Sie haben sich doch mit der Schlagzeile in die Brust eine höhere Verschuldung von 20 bis 30 Milliarden geworfen: Ein weiterer Abbau von Steuervergünsti- DM bei der Einkommensteuerreform forde rt - oder gungen konnte verhindert werden. Jetzt wollen Sie wie Herr Gerhardt in diesem Sommer 100 Milliarden- die Öffentlichkeit täuschen und von Ihrem Fehler ab- DM -, wer selbst bis zum Jahr 2000 die vollständige lenken. Sie verdrehen die Tatsachen. Abschaffung des Solidaritätszuschlages wie der Bun- deskanzler verspricht - das sind über 25 Milliarden (Beifall bei der SPD) DM -, wer dies alles forde rt , der gefährdet Maas- Die SPD-regierten Länder hatten eine 15-Milliar- tricht. Das ist die Wahrheit. den-Liste vorgelegt, um Steuervergünstigungen ab- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- zubauen. Sie haben diese Liste blockiert. Insbeson- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dere die F.D.P. hat sich total verweigert. Intern blok kiert die F.D.P., in der Öffentlichkeit forde rt sie laut- Wir Sozialdemokraten wollen bei der Einkommen- hals den Abbau von Steuervergünstigungen. Meine steuerreform den schwierigen, aber einzig soliden Damen und Herren, das kann man schon fast heim- Weg gehen: Die Senkung der Steuersätze muß durch tückisch nennen. den konsequenten Abbau von steuerlichen Vergün- stigungen und Sonderregelungen „verdient" wer- (Uwe Lühr [F.D.P.]: Sie reden Stuß!) den. Wenn Sie jetzt der Meinung sind, es war ein Feh- Bundesfinanzminister Waigel hat auf dem CDU- ler, unser Angebot im letzten Jahr nicht anzuneh- Zukunftsforum am 30. September beteuert, auch für men, dann sage ich Ihnen: Gut, mit uns können Sie ihn habe der Abbau von Steuervergünstigungen zur jederzeit über einen Abbau steuerlicher Vergünsti- Finanzierung der Steuersenkungen absolute Priori- gungen reden. Wir können das sofort oder auch im tät. Dabei hat er auch etwas zu den Gewinnern und Rahmen der Einkommensteuerreform tun. Verlierern der Einkommensteuerreform gesagt - ich Dann sagen Sie, der Wegfall der Vermögensteuer zitiere -: koste 9 Milliarden DM, die Länder müßten für eine Gegenfinanzierung sorgen. Das ist absurd. Wir wol- Draufzahlen werden jene, die legale Ausnahme- len die Vermögensteuer beibehalten. Sie wollen die bestimmungen genutzt haben oder sich zu Lasten Vermögensteuer abschaffen. Sie reißen in die Län- anderer an der Steuer vorbeigemogelt haben. derkassen ein Loch von 9 Milliarden DM. Sie müssen Wir werden den von Bundesfinanzminister Waigel für Kompensation sorgen, nicht wir. vorzulegenden Gesetzentwurf für eine Einkommen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne steuerreform an dieser Aussage messen. Wenn Sie ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN den Spitzensteuersatz auf 35 Prozent senken wollen, und der PDS - Dr. müssen Sie auch sagen, wie Sie das finanzieren wol- [F.D.P.]: Haben Sie das Urteil des Bundes len. Sie müssen klipp und klar sagen, wie Sie sicher- verfassungsgerichts gelesen?) stellen wollen, daß gleichzeitig diejenigen wirklich draufzahlen, die legale Ausnahmetatbestände heute Es wird Ihnen nicht gelingen, uns diese Steuererhö- nutzen oder sich an der Steuer vorbeimogeln. hung in die Schuhe zu schieben. In dem Redetext von Herrn Waigel steht unter dem Ihnen, Herr Gerhardt, empfehle ich in der Tat die Kapitel „Den Durchbruch schaffen": Lektüre des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, Alles muß weg, was die Steuerbasis aushöhlt und (Detlev von Larcher [SPD]: Das versteht er den Steuerehrlichen zum Steuerdummen macht. doch gar nicht!) Presseberichten ist zu entnehmen, Herr Waigel habe wenn Sie in der Lage sein sollten, den Regelungsin- diesen Satz auf dem CDU-Forum nicht gesagt. Das halt auch nur annähernd zu verstehen. ist schade; denn dieser Satz ist ja richtig. Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Es gilt Solow hat die Politik dieser Bundesregierung nach das geschriebene und das gesprochene der Wiedervereinigung wie folgt beurteilt: Wort!) Die Fehler, die die deutsche Politik nach der Ein- Vielleicht hat der Minister diesen Satz nicht gesagt, heit gemacht hat, haben ganz Europa ökono- weil er in prägnanter Weise seine eigene, verfehlte misch geschadet. Steuerpolitik beschreibt. Das ist das Ergebnis Ihrer Ein dritter Punkt. Sie behaupten, die SPD gefährde Politik. Sie haben dieses Steuerchaos selber ange- mit der Kindergelderhöhung die Teilnahme Deutsch- richtet. lands an der Europäischen Währungsunion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Heiterkeit bei der SPD) Dazu paßt auch die Mehrwertsteuerdiskussion, die Das ist perfide und absurd. Herr Kohl angezettelt hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Herr Dreßler ten der PDS) war das!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11775 Joachim Poß und die das Steuerrecht nicht einfacher und nicht ge- Otto Schily (SPD): Herr Kollege Repnik, weil Sie rechter macht. Dadurch wird keine einzige Steuer- Realismus anmahnen: Können Sie bestätigen, daß vergünstigung abgeschafft und kein einziges die Koalition offenbar kurz vor dem Offenbarungseid Schlupfloch geschlossen. steht, wie ich der heutigen Ausgabe der „Frankfu rter Allgemeinen Zeitung" entnehme? Wer leichtfertig Nettoentlastungen von 20, 30 oder mehr Milliarden DM in die Welt setzt, der setzt mehr aufs Spiel als nur das Scheitern der Einkommensteu- Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Das kann und will erreform. Eine Nettoentlastung ist nach unserem ich nicht bestätigen, weil es nicht den Tatsachen ent- Konzept möglich, nämlich eine Nettoentlastung für spricht. Aber ich komme in anderem Zusammenhang die große Mehrheit der Arbeitnehmer. Der Durch- in meinen Ausführungen noch einmal auf die schnittsverdiener wird von der Senkung der Steuer- „Frankfurter Allgemeine Zeitung" zu sprechen. sätze mehr profitieren, als er durch den Abbau von Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder, Steuervergünstigungen verliert. der sich mit dem Steuerrecht, mit den Steuergeset- zen und mit dem Ablauf eines steuerrechtlichen Ge- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- setzgebungsverfahrens auseinandersetzt, wird wis- zeit. sen, daß wir Zeit und Ruhe brauchen. Eine so große Steuerreform, wie wir sie zum 1. Januar 1999 in Kraft setzen wollen, muß vernünftig und muß solide konzi- Joachim Poß (SPD): Die Bürger sollen vor der Bun- piert sein. Dazu bedarf es der Vorarbeiten. Fehler destagswahl Klarheit über die Einkommensteuerre- können wir uns nicht erlauben, wenn wir das Re- form haben. Deshalb muß die Einkommensteuerre- formwerk insgesamt nicht gefährden wollen. form am 1. Januar 1998 in Kraft treten. Das ist ein Akt der Glaubwürdigkeit. Ich bitte Sie daher, unse- Wir machen schließlich keine Planspiele am Reiß- rem Antrag zuzustimmen. brett. Es geht uns um nicht weniger als um die Zu- kunftsfähigkeit des Standortes Deutschland, um die (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Stärkung der Investitionsbereitschaft der Unterneh- GRÜNEN und der PDS) men und damit um die Schaffung zusätzlicher Ar- beitsplätze und um die Entlastung der Arbeitnehmer. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hans-Pe- Das Thema ist zu ernst, als daß wir es mit billigen ter Repnik, Sie haben das Wort . steuerpolitischen Sprüchen oder mit populistischer Polemik, wie wir sie soeben vom Kollegen Poß gehört haben, abhandeln könnten. Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden (Joachim Poß [SPD]: Gut, daß Sie nichts heute über einen Antrag der SPD-Fraktion, über den davon verstehen, Herr Repnik!) es - gerade auch nach den Ausführungen des Kolle- gen Poß - eigentlich nur soviel zu sagen gibt: Er ist Wir wollen ein tragfähiges Konzept erarbeiten, das unausgegoren, er ist unrealistisch und unsolide und die Chance erhöht, die Wirtschaft zu beleben, Ar- wird deshalb von uns abgelehnt. beitslose wieder in Lohn und Brot zu bringen. Dies ist unser Ziel. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Wir nehmen interessiert Kenntnis davon, daß die und der F.D.P.) SPD zwischenzeitlich auch die Reform der Einkom- Teilkonzepte, wie sie die SPD bislang präsentiert hat mensteuer entdeckt hat. und wie sie der Kollege Poß heute wieder angespro- (Lachen bei der SPD - Detlev von Larcher chen hat, genügen uns da nicht. [SPD]: „Zwischenzeitlich", das ist ja lach- Herr Kollege Poß, Sie wollen auf eine aufkom- haft!) mensneutrale Reform der Einkommensteuer hinaus; Doch eine grundlegende Reform der Einkommen- heute haben Sie gesagt, Si e möchten eine Nettoent- steuer mit den Zielen einer deutlichen Nettoentla- lastung der Arbeitnehmer. Was gilt jetzt? Angesichts stung der Steuerpflichtigen, einer deutlichen Absen- der derzeit hohen Steuerlast ist gerade dieses Ansin- kung des Einkommensteuertarifs über seine ganze nen, nämlich eine Aufkommensneutralität, in meinen Breite, sowohl der Spitze als auch des Eingangssteu- Augen unverständlich. Sie würden ganz klar das Ziel ersatzes, einer drastischen Vereinfachung des Steu- verfehlen, nämlich die Wirtschaft zu entlasten, neue errechts durch Abschaffung von Steuervergünstigun- Arbeitsplätze zu sichern. Deshalb müssen wir auch gen und Sonderregelungen läßt sich nicht übers Knie auf eine Nettoentlastung hinaus. brechen. Aussagen zur Höhe des angestrebten Spitzensteu- ersatzes treffen Sie nicht. Für die SPD ist ganz ein- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Repnik, deutig der Spitzensteuersatz keine Zielgröße, son- der Kollege Schily würde Ihnen gerne eine Zwi- dern nur eine Restgröße. „Ungenügend" kann ich da schenfrage stellen. nur sagen angesichts der Tatsache, daß gerade die im internationalen Vergleich hohen Steuersätze Inve- stitionen in Deutschland entgegenstehen. Reden Sie Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Bitte sehr. doch einmal mit bisherigen oder potentiellen auslän- 11776 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Hans-Peter Repnik dischen Investoren und fragen Sie, weshalb sie den haben sich bei einer nachhaltigen Reform der Sozial- Standort Deutschland in den letzten Jahren meiden, hilfe ebenfalls verweigert. Überall do rt, wo es darum weshalb sie sich überlegen, an andere Standorte zu ging, Spielräume zu erarbeiten, Einsparpotentiale zu gehen! Dies ist nicht zuletzt oder zuerst eine Frage erschließen, haben Sie sich verweigert und wundern der hohen Spitzensteuersätze. sich, daß wir uns Gedanken machen müssen, wie wir- den Haushalt ausgleichen. Dies ist unse riös. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Wer zahlt die denn?) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Lachen bei der SPD - Rudolf Scharping Deshalb sind Sie uns eine Antwort auf den Hinweis [SPD]: Und der Mann beansprucht Seriosi- auf die Senkung des Spitzensteuersatzes schuldig tät!) geblieben.

(Beifall der Abg. [CDU/ Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Repnik, CSU]) die Kollegin Matthäus-Maier würde gerne eine Zwi- Auf die Folgewirkungen einer Einkommensteuer- schenfrage stellen. Gestatten Sie sie? reform auf die Körperschaftsteuer gehen Sie in Ihrem Papier überhaupt nicht ein. Ich kann nur sagen, es ist Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Bitte, gerne. handwerklich unsauber. Den wi rtschaftlichen Her- ausforderungen werden Sie damit in keiner einzigen Aussage gerecht. Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege Repnik, nachdem Sie wieder auf das Urteil des Bundesverfas- Herr Kollege Poß, Sie haben das Thema der Ver- sungsgerichtes zur Vermögensteuer eingegangen mögensteuer heute vormittag noch einmal angespro- sind: Wollen Sie mir bitte bestätigen, daß es Ihr chen. Ich würde Sie schon gerne daran erinnern, daß Staatssekretär Hauser war, der im Finanzausschuß wir bei diesem Thema nicht völlig frei sind. Erstens klargestellt hat - was wir seit Monaten sagen und wollen wir die Abschaffung der Vermögensteuer, was man durch schlichtes Lesen des Urteils nachvoll- weil wir wissen, daß sie eine substanzbelastende ziehen kann -, daß das Bundesverfassungsgericht Steuer ist und daß sie damit den Handlungsspiel- zwar die Einheitswerte für verfassungswidrig erklärt raum für die Unternehmer, für Investitionen erheb- hat, aber selbstverständlich die Erhebung einer Ver- lich beeinträchtigt. Zweitens gibt es das Urteil des mögensteuer sowohl im p rivaten als auch im betrieb- Bundesverfassungsgerichts. Sie können doch nicht lichen Bereich ausdrücklich zuläßt, und daß wir ge- an dieses Pult treten und den Eindruck erwecken, als meinsam sofort eine Reform der Vermögensteuer ob die Vermögensteuer in ihrer jetzigen Form auch in durchführen können, wenn Sie sie nur wollten? die Zukunft hinein wirken könnte. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist Ihre (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hat doch eigene Interpretation!) keiner gesagt!) Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig er- Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Ich habe den Aus- klärt, daß zum Jahresende die Erhebung der Vermö- führungen des Kollegen Hauser, die er Ihnen schrift- gensteuer nicht mehr möglich ist. lich gegeben hat, überhaupt nichts hinzuzufügen. Ich will es auch gar nicht relativieren. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: In dieser Form! - Dr. Barbara Hen Tatsache ist, daß das Bundesverfassungsgericht dricks [SPD]: In der jetzigen Form! Zitieren festgestellt hat: Die Vermögensteuer in der jetzigen Sie doch richtig! - Ludwig Eich [SPD]: Sie Form darf nicht mehr erhoben werden, argumentieren unsolide!) (Dr. Barbara Hend ricks [SPD]: In ihrer jetzi- Auch deshalb sind wir der Meinung, wir sollten sie gen Form!) auslaufen lassen. weil sie in dieser Form verfassungswidrig ist; denn, (Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD] meldet der Gleichheitsgrundsatz ist verletzt. Tatsache ist sich zu einer Zwischenfrage) aber auch, daß es eine Möglichkeit gäbe, eine Ver- - Lassen Sie mich bitte den Gedanken zu Ende füh- mögensteuer auszugestalten, die verfassungsgemäß ren. wäre, Ich finde es nicht korrekt, wenn Sie sich überall (Zurufe von der SPD: Aha!) dort, wo wir in den vergangenen zwei Jahren ver- wenn man dies politisch wollte. sucht haben, Sparpotentiale zu erarbeiten, durch steuerliche Maßnahmen im Jahressteuergesetz 1996 (Beifall bei der SPD - Joachim Poß [SPD]: Er und 1997 die Wirtschaft zu entlasten, Freiräume für hat gelernt!) Investitionen und Arbeitsplätze zu schaffen, verwei- - Das ist unsere Meinung. Wir haben hier einen ein- gert haben. Sie haben sich beim Jahressteuergesetz deutig anders gelagerten politischen Willen als Sie. 1996 und 1997 verweigert. (Dr. Barbara Hend ricks [SPD]: Na endlich! (Rudolf Scharping [SPD]: Was?) Verstecken Sie sich nicht länger hinter dem Sie haben im Bundesrat das Asylbewerberlei- Bundesverfassungsgericht! - Rudolf Schar- stungsgesetz mit Ihrer Blockadepolitik behindert. Sie ping [SPD]: Sie wollen nicht!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11777

Hans-Peter Repnik Ich habe zwei Argumente angeführt. Das eine Ar- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Repnik, gument ist: Die Vermögensteuer in der heutigen Aus- der Kollege Poß würde gerne eine Zwischenfrage gestaltung ist verfassungswidrig. Deshalb wird sie stellen. zum Jahresende wegfallen, wenn sich daran nichts ändert. Das zweite Argument - da haben wir gar - Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Verehrter Herr nichts zu verstecken - ist ein wi rtschaftspolitisches Präsident, ich sehe, daß mir für die Beantwortung der Argument, das die Standortdebatte in der Bundesre- Zwischenfrage von Frau Matthäus-Maier die Uhr publik Deutschland im Kern berührt. Das ist nämlich nicht angehalten wurde; sie ist weitergelaufen. der Punkt, daß die Vermögensteuer insbesondere dort, wo das betriebliche Vermögen erfaßt wird, schädlich ist, weil sie in die Substanz eingreift, weil Vizepräsident Hans Klein: Das ist ein Irrtum; die sie die Unternehmen daran hinde rt, Vermögen zu bil- Uhr ist angehalten worden. den, um damit Investitionen zu leisten und Arbeits- plätze zu schaffen. Das kann doch überhaupt nicht Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Wenn mir das bestritten werden. nicht angerechnet wird, bin ich gerne bereit, auf diese Zwischenfrage einzugehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Schon bei Weil dem so ist, haben wir gesagt: Die betriebliche Kleinigkeiten schummeln Sie!) Vermögensteuer muß weichen. Und wir gehen wei- ter. Wir haben gesagt: Die p rivate Vermögensteuer Joachim Poß (SPD): Herr Kollege Repnik, können ist unabhängig von der Arbeitsplatzsituation, und wir Sie dem Hohen Haus für die CDU/CSU mitteilen, ob wollen sie auch in der Zukunft erhalten. es im Finanzausschuß des Deutschen Bundestages eine beratungsfähige Unterlage der Bundesregie- (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das haben rung zu diesem Thema gibt oder ob und wann der Sie nie gesagt! Sie haben von Anfang an Finanzausschuß des Deutschen Bundestages, der gesagt, Sie wollen sie abschaffen!) morgen seine Beratungen zum Jahressteuergesetz abschließen wird, mit einer solchen Vorlage rechnen Aber es macht doch keinen Sinn, daß wir den be- kann und ob in dieser Vorlage klargemacht ist, daß trieblichen Teil der Vermögensteuer abschaffen - wo- alle Konditionen - von Grundgesetzänderung bis gegen Sie sich trotz der Arbeitsplatzargumentation zum Verteilungsschlüssel -, die kommunale Spitzen- wenden - und gleichzeitig eine Restgröße p rivater verbände und SPD nennen, beachtet werden und Vermögensteuer mit einem ungeheuren bürokrati- alle Zweifel, die in diesem Zusammenhang bestehen, schen Aufwand erhalten, der nicht zu verantworten ausgeräumt werden? Wird bis morgen mittag eine wäre. Deshalb haben wir Ihnen angeboten, diesen einvernehmliche beratungsfähige Vorlage vorgelegt Teil des Aufkommens in einer Größenordnung von werden? 1,6 Milliarden DM, der dem privaten Teil der Vermö- gensteuer zuzurechnen ist, der Erbschaftsteuer zuzu- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Faule schlagen. Wenn das kein sozial ausgewogenes Kon- Ausreden!) zept ist, dann verstehe ich die Welt nicht mehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Kollege Poß, Sie können mit Ihrer Intervention nicht vom Kern der Mit Ihrem Antrag, das Inkrafttreten der Einkom- Sache ablenken, daß Sie sich sowohl beim Jahres- mensteuerreform vorzuziehen, versuchen Sie, auf ei- steuergesetz 1996 als auch beim Jahressteuergesetz nen längst fahrenden Zug aufzuspringen und dem 1997 geweigert haben, der Abschaffung der Gewerbe- Bürger Sand in die Augen zu streuen. Erst bremsen kapitalsteuer zuzustimmen. Sie - wie jetzt gerade wieder beim Jahressteuerge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - setz -, und dann kann es Ihnen nicht schnell genug Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Danach ist gehen. Dies ist keine seriöse Politik. gar nicht gefragt worden!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: So ist es!) Sie sind heute vormittag an dieses Pult getreten -

Ich möchte an einen Vorgang erinnern, den ich als (Zurufe von der SPD) ganz außergewöhnlich empfinde. Herr Kollege Poß hat das Thema der Unternehmensteuerreform ange- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- sprochen. Sie haben beim Jahressteuergesetz 1996 lege Repnik. und bisher beim Jahressteuergesetz 1997 die dritte Stufe der Unternehmensteuerreform in Verbindung Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): - und haben ge- mit einer Gemeindefinanzreform verhindert. Sie leh- sagt, die kommunalen Spitzenverbände würden dies nen sie kategorisch ab. genauso sehen. Sie haben einmal mehr die Unwahr- heit gesagt. (Detlev von Larcher [SPD]: Wo haben Sie denn dafür Vorschläge? - Dr. Barbara Hen Ich möchte zu diesem Punkt die FAZ vom heutigen dricks [SPD]: Stimmt doch gar nicht! Sie Tag, die auch Sie zitiert haben, zitieren. Es heißt hier, können doch nicht schlankweg die Unwahr und zwar unter Bezugnahme auf Herrn Wimmer, heit sagen!) Finanzdezernent des Städtetages: 11778 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Hans-Peter Repnik Der Städtetag und der Landkreistag hätten sich chen etwas länger, bis Sie Sachverhalte begreifen. vergangene Woche vor dem Finanzausschuß des Deswegen muß ich etwas länger erklären. Bundestages ganz eindeutig für die Abschaffung ausgesprochen, wenn die Kommunen wie ange- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) kündigt direkt an der Umsatzsteuer beteiligt wür- - Ich finde es ein starkes Stück, daß die SPD dem Fi- den. nanzminister zumuten will, Recht zu brechen, nur Diese Erklärung ist eindeutig. Weiter heißt es: weil sie nicht einsehen will, daß er mit seinem Vor- schlag zur Unternehmensteuerreform auf dem richti- Inzwischen zeigen sich auch die SPD-Länder zu- gen Weg ist. nehmend besorgt darüber, daß die Gewerbekapi- talsteuer möglicherweise von Januar an in den (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was? - Wei- neuen Bundesländern erhoben werden muß . . . tere Zurufe von der SPD) (Dr. Barbara Höll [PDS]: Lesen Sie mal wei - Ich merke, Sie haben auch hier Probleme. ter!) Ich will einmal folgendes Zitat aus der heutigen Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie brau- Ausgabe des „Handelsblatt" vorlesen: Der SPD-Ver- chen sich nicht besorgt zu zeigen. Auch der finanz- handlungsführer für das Jahressteuergesetz 1997, politische Koordinator der SPD, der Erste Bürgermei- der Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau, ster Hamburgs, Voscherau, braucht sich nicht be- verlangte gestern von Bundesfinanzminister Theo sorgt zu zeigen. Wir brauchen die Gewerbekapital- Waigel, die Einführung der Gewerbekapitalsteuer in steuer in den neuen Ländern nicht einzuführen, den neuen Ländern zu verhindern. - Kein Problem, wenn Sie unserem Vorschlag zustimmen. Darin ist er muß nur unserem Gesetzentwurf zustimmen. sie nämlich nicht enthalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Er sagt weiter, notfalls müsse sich Waigel auch Weitere Abgeordnete melden sich zu Zwi über die Bedenken der EU-Kommission hinwegset- schenfragen) zen. Wenn das keine Aufforderung zum Rechtsbruch ist, dann weiß ich nicht, wie dies zu interpretieren ist.

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Repnik - - (Beifall bei der CDU/CSU)

Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Nein, Herr Präsi- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Repnik, es dent, ich würde den Gedanken gern noch zu Ende bestehen weitere Fragebegehren. führen. Zunächst hat sich der Kollege Rössel gemeldet. Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung, darf Sind Sie bereit, die Frage zu beantworten? ich fragen, ob das noch Teil Ihrer Antwort ist? Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Bitte. Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Ja, das ist Teil meiner Antwort. Vizepräsident Hans Klein: Bitte. (Lachen bei der SPD)

(PDS): Herr Kollege Repnik, Vizepräsident Hans Klein: Gut, dann bitte ich Sie Dr. Uwe-Jens Rössel halten Sie vor dem Hintergrund der von Ihnen mit fortzufahren. dem Jahressteuergesetz 1997 erneut beabsichtigten Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer an der Koali- Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Das ist konkret zu tionsvereinbarung vom November 1994 fest, wonach der Frage. die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer nur der (Joachim Poß [SPD]: Sie haben doch weiter erste Schritt zur vollständigen Abschaffung der Ge- geredet!) werbesteuer sei? - Nein, das ist Teil der Antwort. Ich würde diesen Ge- Zweitens. Wann werden wir im federführenden Fi- danken schon noch gern zu Ende führen. nanzausschuß des Deutschen Bundestages, der be- kanntlich morgen seine Beratungen zum Jahressteu- (Joachim Poß [SPD]: Ich möchte gerne wis ergesetz 1997 abschließt, einen beratungsfähigen sen, wie viele Sätze Sie brauchen, um eine Entwurf zur dritten Stufe der Unternehmensteuerre- einfache Frage zu beantworten!) form vorgelegt bekommen? Bis heute hat die Koali- tion dazu keine Erklärung abgegeben. Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung, das Wort hat jetzt der Kollege Repnik. Sie haben Ihre (Dr. Barbara Hend ricks [SPD]: Darum haben Frage vorhin gestellt. wir bisher auch nicht nein gesagt! Wir konnten gar nicht nein sagen!)

Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Poß, nicht nur Ihre Frage, sondern auch Ihr Beitrag hat gezeigt, Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Sie haben sich bis- daß Sie gelegentlich begriffsstutzig sind. Sie brau her einer Zustimmung verweigert, und zwar nicht Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11779

Hans-Peter Repnik nur beim Jahressteuergesetz 1997, sondern auch dann möchte ich Sie fragen, auf welche Vorlage Sie beim Jahressteuergesetz 1996. sich beziehen und wie Sie in diesem Zusammenhang folgende Ausführungen von Herrn Wimmer beurtei- (Lachen bei der SPD - Otto Schily [SPD]: Es len, die Sie heute ebenfalls nachlesen können - in ist doch gar nichts da!) der „FAZ" -: Um Ihre erste Frage zu beantworten: Es gibt keine Wimmer teilt den Vorwurf Hinrichs, die Unter- Veranlassung, in dieser Frage von der Koalitionsver- nehmensteuerreform sei schlecht vorbereitet. einbarung abzuweichen. Dem Finanzausschuß habe in der vergangenen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Woche kein beschlußfähiger Text aus dem Bun- sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle desfinanzministerium vorgelegen. [F.D.P.]) (Zuruf von der SPD: So ist es!) Wir haben ein klares politisches Ziel: Langfristig gilt Ein ganzes Jahr sei vertan worden. Daß die SPD es, die Gewerbesteuer im Sinne der Wi rtschaft und der Reform unter dieser Bedingung nicht zustim- im Sinne der Sicherung des Standorts Deutschland men könne, sei verständlich, unverständlich da- abzuschaffen - allerdings in der Konzeption, daß die gegen, warum die Koalitionsabgeordneten im Fi- Kommunen einen Ausgleich erhalten; denn dies geht nanzausschuß so mit sich umspringen ließen. nicht ohne Ausgleich. (Beifall bei der SPD und der PDS) Zweitens. Ich darf gerade dem Kollegen aus den neuen Bundesländern sagen, wohin die Politik der SPD bei der Gewerbekapitalsteuer ganz konkret Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Richtig ist, daß die führt: Sie wissen, die Einführung der Gewerbekapi- Koalition, die Regierung und der Finanzminister in talsteuer in den neuen Bundesländern ist ausgesetzt; einem langen Entscheidungsverfahren versucht ha- in den alten Bundesländern wird sie noch mit einem ben, sowohl die kommunalen Spitzenverbände als bestimmten Aufkommen erhoben. Durch die Ausset- auch die Sozialdemokraten ins Boot zu holen, weil zung der Gewerbekapitalsteuer geht natürlich den wir auf die Sozialdemokraten angewiesen sind, ganz Kommunen in den neuen Bundesländern jährlich ein konkret: nicht nur im Bundesrat, sondern auch we- erheblicher Betrag verloren. gen der erforderlichen Änderung des Grundgeset- zes. Sie waren in dieser Frage bis zum jetzigen Zeit- Mit dem Vorschlag, den Finanzminister Waigel punkt kein seriöser Verhandlungspartner für den Fi- präsentiert hat, würde der Ausgleich nach dem Weg- nanzminister. Dies ist die Situation. fall der Gewerbekapitalsteuer natürlich nicht nur die West-Kommunen treffen, sondern auch die Ost-Kom- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - munen, und zwar in einer Größenordnung von im- Joachim Poß [SPD]: Sie bringen doch hier merhin rund 500 Millionen DM pro Jahr. Wenn Sie in das Boot zum Kentern!) dieser Frage weiterhin blockieren, dann werden in Zukunft auch die Ost-Kommunen dieses Geld nicht Herr Kollege Repnik, als haben, bzw. wenn wir die Gewerbekapitalsteuer Vizepräsident Hans Klein: letzte möchte die Kollegin Hendricks noch eine Zwi- auch dort einführen, werden wir die Wi rtschaft er- schenfrage stellen. Lassen Sie das zu? neut belasten. (Zuruf von der SPD: Dann soll der Minister Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Bitte sehr. doch einmal einen Vorschlag machen!)

Vizepräsident Hans Klein: Bitte. Vizepräsident Hans Klein: Das nächste Fragebe- gehren, Herr Repnik, ist vom Kollegen von Larcher. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Herr Kollege Repnik, ist Ihnen klar, daß Sie durch die Antwort auf die Zwi- Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Das soll auch die schenfrage des Kollegen Rössel, in der Sie ausge- letzte Frage sein. führt haben, daß Sie langfristig auf der Abschaffung der Gewerbesteuer in ihrer Gesamtheit bestehen, die Vizepräsident Hans Klein: Das letzte Fragebegeh- Zustimmungsbereitschaft der Kommunen auf Dauer ren kommt von einer Dame. Ich unterstelle doch, das zerstört haben? werden Sie noch zulassen. (Detlev von Larcher [SPD]: Auf null, auf null!) Detlev von Larcher (SPD): Ich frage Sie, Herr Rep- nik, in welchem Ausschuß Sie tätig sind, weil wir im Die Kommunen haben dies als Hauptbedingung Finanzausschuß über Vorlagen, die eine Drucksa- formuliert. Sie sind nicht in der Lage, Ihren Vorstel- chennummer haben, abstimmen. Wenn Sie hier be- lungen in bezug auf die Gewerbekapitalsteuer zuzu- haupten, wir stimmten etwas zu oder wir stimmten stimmen, welchen Ausgleichsschlüssel Sie auch im- etwas nicht zu, mer vorschlagen. Die Kommunen bestehen ja gerade auf einer verfassungsrechtlichen Absicherung der (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie Gewerbesteuer. Solange die Regierung das nicht haben doch bisher abgelehnt, überhaupt zu macht, werden die Kommunen dem nicht zustim- diskutieren!) men. Und alle Länder als Sachwalter der kommuna- 11780 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Barbara Hendricks len Interessen werden dies ebenfalls nicht tun kön- sammenhang mit dem Jahressteuergesetz 1996 ge- nen. habt. Damals wurde den kommunalen Spitzenvertre- tern von der Koalition vorgeworfen, sie hätten es (Beifall bei der SPD und der PDS - Zuruf nicht geschafft, sich zu einigen. von der CDU/CSU: Das sind Ihre Brems - klötze!) Seit ungefähr einem halben Jahr gibt es ein ge- meinsames Papier der kommunalen Spitzenver- in dem genau diese Einigung formuliert ist. Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Wir und diese Re- bände, gierung verstehen uns nicht zuletzt auch als Sach- Der Bremsklotz - das war vorhin ein Zwischenruf in walter kommunaler Interessen. Richtung SPD - liegt jetzt bei Ihnen, der Koalition; denn weder das Finanzministerium noch die Koali- (Lachen und Widerspruch bei der SPD - tion haben es geschafft, in diesem Zusammenhang Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU eine Vorlage zu machen, um die Gewerbekapital- und der F.D.P.) steuer abzuschaffen und das zu tun, was die Kommu- nen wollen, nämlich die verfassungsrechtliche Ga- Es ist doch interessant, wenn in Gesprächen Spit- rantie der Restgewerbesteuern und auch die verfas- zenvertreter der deutschen Kommunalpolitik sagen: sungsrechtliche Garantie der Beteiligung an der Um- Wir als Kommunen legen allergrößten Wert darauf, satzsteuer, und zwar eine ausreichende Beteiligung, die Höhe unserer Beteiligung an dem Aufkommen festzuschreiben. der Umsatzsteuer ganz konkret und direkt vom Bund zu erfahren, weil die Länder klebrige Hände haben (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und weil wir ihnen nicht trauen, daß sie das Geld, SES 90/DIE GRÜNEN sowie bei der SPD) den Umsatzsteueranteil, den der Bund über die Län- der den Kommunen zuweisen würde, auch an die Die hat Herr Waigel vor einem halben Jahr zugesagt Kommunen weitergeben würden. Also mein Ein- und mittlerweile leicht revidiert. druck ist: Sie trauen uns mehr als den Ländern. Da- Das Problem ist, daß wir zur Zeit - das muß ich her sind wir hier, glaube ich, auf einem guten Weg. grundsätzlich sagen - ein wirklich unwürdiges Ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU hacke in der gesamten Steuerpolitik haben. Wir mei- und der F.D.P.) nen, daß die Bürger und Bürgerinnen gerade jetzt - wir sind mitten in der Legislaturperiode - ein Recht Die Geschichte der Abschaffung der Gewerbeka- auf Klarheit haben, und zwar vor der Wahl. Aus die- pitalsteuer, der sich die kommunale Seite anfänglich sem Grund unterstützen wir den Antrag der SPD, ebenfalls nur widerstrebend genähert hat, lehrt uns nach dem die große Reform der Einkommensteuer - doch: Wenn wir den Kommunen in einem ehrlichen und zwar in beiden Punkten - noch vor der Wahl Dialog eine Kompensation anbieten, die a) die Höhe rechtzeitig umgesetzt werden soll. der Ausfälle berücksichtigt und die b) stetig und zu- verlässig ist - so wie die Beteiligung an der Umsatz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN steuer bei der Abschaffung der Gewerbekapital- sowie bei Abgeordneten der SPD) steuer -, dann sind sie für uns Gesprächspartner. Ich Ich glaube, daß die Menschen in diesem Land es bin ganz sicher: Wenn wir ein Modell anbieten, das leid sind, diese Verunsicherungspolitik weiter ertra- den Kommunen, auf Dauer gesehen, die Chance gen zu müssen. Bei sehr vielen Menschen führt das gibt, das Aufkommen der Gewerbesteuer durch das zu Politikverdruß; das muß man in diesem Zusam- einer Steuer zu ersetzen, die zukunftsfähig und si- menhang ganz offen sagen; man spricht ja mit den cher ist und die auch eine entsprechende Dynamik Menschen im Land; das tun Sie genauso wie auch hat, dann werden die Kommunen unser Gesprächs- wir. partner sein. Wir sind sicher, daß es angesichts des Konkurrenzkampfes, in dem der Standort Deutsch- Es geht einfach nicht mehr, daß man tagtäglich in land steht, im Hinblick auf Arbeitsplatzsicherung den Zeitungen lesen muß, welche Vorschläge die Ko- und die Schaffung neuer Arbeitsplätze von höchstem alition wieder gemacht hat, um das Haushaltsloch zu Interesse ist, daß die Gewerbesteuer auf Dauer abge- stopfen: Auf der einen Seite verspricht die F.D.P. per- schafft wird und ihr Aufkommen durch das einer an- manent Steuersenkungen, auf der anderen Seite ist deren Steuer ersetzt wird. Das dient der Wettbe- vollkommen unklar, wie die Gegenfinanzierung aus- werbsfähigkeit unserer Indust rie und des Hand- sehen soll. Sie sagen immer: Schlupflöcher müssen werks. wir schließen. Das ist ein Teil der Gegenfinanzierung - welche genau, wird zumindest von der F.D.P. nicht Vielen Dank. angesprochen, teilweise von der Koalition genannt, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) am nächsten Tag zurückgezogen. In diesem Land weiß kein Mensch mehr, was Sie eigentlich wollen. Das ist das große Problem, das wir haben. Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt der Kollegin Christine Scheel. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was sagen Sie denn, Frau Scheel?) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In Grundsatzprogrammen steht - auch das ist ein Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Rep- ganz wesentlicher Punkt -, das Steuersystem sei öko- nik, Ihre Ausführungen im Hinblick auf die Unter- nomisch und auch ökologisch neu auszurichten. Was nehmensbesteuerung müssen korrigiert werden. Wir wir derzeit erleben, ist eine Orientierung, die nur auf haben vor über einem Jahr eine Anhörung im Zu der ökonomischen Basis stattfindet. Wir haben keine Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11781

Christine Scheel Orientierung mehr im Hinblick auf soziale Gerech- Für uns heißt Zukunftsfähigkeit im Steuersystem, tigkeit, auf Umverteilung in diesem Land. Wir haben daß die bestehende verteilungspolitische Schieflage auch keine Orientierung im Hinblick auf die Ökolo- korrigiert wird, daß das Steuerrecht wirklich verein- gie. facht wird, daß dieser sogenannte Dschungel der Vergünstigungen gelichtet wird und daß vor allem - (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Da haben ich betone es hier wieder - die ökologische Kompo- wir genug!) nente nicht vergessen wird. Das sind die großen Lücken, die zu füllen sind. Für uns heißt also Zukunftsfähigkeit, eine ökolo- gisch-soziale Steuerreform kompatibel zu machen Herr Schäuble, gerade in den Interviews der letz- mit einer reformierten Einkommensteuer und heißt ten Wochen reklamieren Sie immer wieder für sich, auch, eine ökologisch-soziale Steuerreform heute daß Sie ein zukunftsfähiges Steuersystem wollen, einzuführen, um die hohen Lohnnebenkosten, über daß Sie als Koalition insgesamt zukunftsfähig sein die in den letzten Tagen überhaupt nicht mehr ge- wollen. Aber was heißt das für Sie? Ist Zukunftsfähig- sprochen worden ist, zu senken. Das ist eine Politik keit die Abschaffung der Vermögensteuer, obwohl für die Zukunft und auch eine Entlastung für die klei- man weiß, daß die Vermögen immer weiter wachsen nen und mittleren Einkommen. und daß eine reformierte Vermögensteuer durch das Bundesverfassungsgericht durchaus haltbar ist? Das Verantwortlich zu handeln für die nächsten Jahre - hat Herr Repnik zugegeben: Sie wollen politisch das muß man an dieser Stelle hier auch immer wie- keine Vermögensteuer haben, obwohl Sie wissen, der überlegen -, verantwortlich für die nächsten daß sie durchaus möglich ist. Jahre und die nächsten Generationen zu handeln heißt, hier nicht Flickschusterei zu betreiben - da mal (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein bißchen Steuererhöhung, do rt mal ein bißchen und bei der SPD) Steuersenkung -, sondern das gesamte Steuersystem kompatibel zu halten, es im Auge zu behalten und Das ist eine ehrliche Antwort von Herrn Repnik ge- auch zu überlegen: Wo geht es denn hin in Europa? wesen. Ich bin sehr froh, daß es mal so klar gesagt Wie ist denn die Belastung durch direkte Steuern im worden ist: Wir wollen keine Besteuerung von hö- Verhältnis zu der indirekten Besteuerung? Müssen heren Vermögen im Zusammenhang mit der Vermö- wir hier nicht endlich einmal eine Kehrtwendung gensteuer haben - klare Aussage der Koalition. einleiten, daß wir wieder stärker auf die indirekte Besteuerung zurückgreifen? Das kann nicht heißen, Wir halten dagegen. Wir haben einen Gesetzent- daß wir in diesem Zusammenhang eine Erhöhung wurf zur Beibehaltung der Vermögensteuer einge- der Mehrwertsteuer wollen, sondern das muß heißen, reicht. Er ist konform mit der Verfassung. Ich hoffe, daß über die Einführung einer ökologisch-sozialen daß wir die Diskussion an diesem Punkt noch führen. Steuerreform dem ersten Schritt, Senkung der Lohn- Heißt Zukunftsfähigkeit auch - und ich spreche nebenkosten, mittelfristig und langfristig eine Sen- wieder Herrn Schäuble an -, die Reichtumsvertei- kung im Lohn- und Einkommensteuerbereich und lung in diesem Lande zu ignorieren, die Dominanz hier eine Umverteilung von der direkten zur indirek- der beschleunigten Geldkapitalverwertung zu ak- ten Besteuerung folgt. zeptieren und gleichzeitig - und das ist das Unver- Das ist zukunftsfähig, das ist europakompatibel, schämte an dieser Geschichte, die die Koalition be- und das wird auch die Konkurrenzsituation entla- treibt -, ein zweites Sparpaket zu schnüren, und sten. Das wird die Wirtschaft genau so stärken, wie zwar auch wieder nur zu Lasten der Arbeitnehmer es die Meinen und mittleren Einkommen entlastet. und Arbeitnehmerinnen, der sozial Schwächeren in diesem Land? (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Das ist aber nicht die Politik der Grünen! Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihre Politik, aber nicht die der Grünen!) und bei der SPD) - Das ist die Politik der Grünen. Es gibt einen Antrag, Heißt Zukunftsfähigkeit für Sie, Unternehmen wei- Herr Solms, zur ökologisch-sozialen Steuerreform. ter zu entlasten, obwohl Sie wissen - das wurde vom Dieser Antrag zur ökologisch- sozialen Steuerreform, Vorredner Herrn Poß angesprochen -, daß die Be- der von der gesamten Fraktion hier eingebracht und steuerung der Unternehmen in den letzten Jahren vom Bundesparteitag bestätigt worden ist, beinhaltet immer weiter rückläufig wurde, daß der Anteil der genau diese Gedanken, die ich hier geäußert habe. Steuern aus Gewinnen der Unternehmen am Anteil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - des Steueraufkommens insgesamt rückläufig gewe- Dr. Hermann Otto Sohns [F.D.P.]: Das sen ist? Wollen Sie genau hier eine weitere Entla- Gegenteil ist richtig!) stung machen, obwohl Sie ganz genau wissen, daß heute von den großen Unternehmen stolz verkündet Was mich besonders ärgert, ist, daß Sie immer sa- wird: Wir werden bis zum Jahr 2000 keine Ertrag- gen, Sie wollen mit Tabus brechen, Sie wollen Privi- steuern mehr bezahlen. Wir wollen unsere Gewinne legien abbauen, die Lobbyisten jahrelang angesam- im Ausland versteuern. Wir lassen uns unsere Ver- melt haben. Sie reden permanent über Subventions- luste hier in diesem Land zum Teil vom Finanzamt abbau, wollen Steuererleichterungen schaffen und noch zurückerstatten. Das ist eine Politik, die dient machen aktuell derzeit im Jahressteuergesetz 1997 den Großen und bringt dieses Land letztlich weiter in genau das Gegenteil! Für Haushaltshilfen wird der den Ruin. Freibetrag auf 24 000 Mark erhöht. Das ist eine Sub- 11782 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Christine Scheel vention für Haushalte, die besonders hohe Einkom- Kfz-Steuer. Das ist nicht gelungen; das bedauere ich men haben. Die angekündigte Streichung bei Sub- sehr. ventionen für Schiffe und Flugzeuge, die von Bayern (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sie werden es im Bundesrat eingebracht worden ist, findet in der bei der Abstimmung sehen!) - Form nicht statt. Das heißt, dieser Subventionsabbau wird nicht sein. Das ist eine Sauerei, wenn man auf der einen Seite verspricht, die Subventionen in die- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Scheel, sem Bereich werden abgebaut, und dann wird da auch der Kollege Poß möchte gerne eine Zwischen- rumgefeilscht, wie man es diesen Schiffahrtsunter- frage stellen nehmen und Lobbyisten doch recht machen kann. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wenden Sie sich Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bitte schön an die andere Seite!) Bitte schön, gern. Herr Waigel sagt zu mir, richtig, ich freue mich, daß Joachim Poß (SPD): Frau Kollegin, würden Sie be- ich hier recht bekomme. Vielen Dank. stätigen - oder, falls Sie nicht die ganze Diskussion (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu diesem Punkt mitverfolgen konnten, zur Kenntnis und bei der SPD - Widerspruch bei der nehmen -, daß nach dem Stand der gestrigen Bera- F.D.P.) tung im Finanzausschuß ein interfraktioneller Antrag zu diesem Punkt eingebracht wird, auf der Vorlage, Ein weiterer Punkt regt mich in diesem Zusam- die der Herr Staatssekretär Hauser vorgetragen hat, menhang besonders auf: Obwohl der Bundesrech- der zum Inhalt hat: Nichtberücksichtigung der Son- nungshof klipp und klar gesagt hat, daß es so nicht der-AfA, sondern degressive Abschreibung? Da Sie, geht, verfälschen Sie den Beg riff der Gemeinnützig- Frau Kollegin Wülfing, Berichterstatterin Ihrer Frak- keit. Das geht so weit, Golfspieler dadurch zu bevor- tion sind, sollten Sie hier nicht zur Täuschung der Öf- teilen, daß sie die anfallenden Beiträge - fentlichkeit beitragen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wülfing? Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Poß, vielen Dank für die Klarstellung. Unser An- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): - liegen aber war es, überhaupt keine Vergünstigun- nach dem Satz, bitte - von der Steuer absetzen kön- gen in diesem Bereich mehr zuzulassen. nen. Angesichts dieser Politik überlege ich mir schon, was „Gemeinnützigkeit" in diesem Lande (Joachim Poß [SPD]: Unser gemeinsames noch heißt. Anliegen!) Bitte schön. - Das war unsere gemeinsame ursprüngliche Überle- gung. Durch diese Vorlage hat sich das leider etwas (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne geändert. Deswegen werden wir dem nicht zustim- ten der PDS) men können. Aber das ist genau der Punkt, Herr Poß: In dem Bitte, Frau Kollegin. Vizepräsident Hans Klein: Moment, wo ganz konkret über Steuervergünstigun- gen durch Subventionen oder Sonderabschreibun- Elke Wülfing (CDU/CSU): Frau Kollegin Scheel, gen gesprochen wird, kommt eine Flut von Schrei- können Sie bestätigen, daß die Beibehaltung der ben von irgendwelchen Lobbyisten. Sonder-AfA für Schiffe nicht von der CDU, sondern von der SPD im Finanzausschuß vertreten wird? Ich (Otto Schily [SPD]: Bei den Grünen gibt es bitte Sie doch, in dieser Hinsicht einigermaßen kor- überhaupt keine Lobbyisten, oder doch?) rekt zu zitieren. Dann wird darüber diskutiert, wie man es ihnen doch noch irgendwie recht machen kann. Man findet dann Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): letztendlich eine Lösung, mit der man ihnen die Ver- Ich habe hier drei ganz klare Beispiele genannt. Ein günstigungen doch noch einigermaßen so zukom- Beispiel bezog sich auf die Sonderabschreibung für men lassen kann, wie sie es gewünscht haben. Das Schiffe, das im Finanzausschuß diskutiert wurde. Wir ist das Problem, vor dem wir - ich sage: gemeinsam - haben von vornherein gesagt: Wir wollen diese Son- im Hinblick auf die anstehende große Steuerreform derabschreibung abschaffen. Es gibt fraktionsüber- stehen. greifend - das ist richtig, was Sie sagen - Vertreter, in (Abg. Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS] meldet der SPD genauso wie in der CDU/CSU, das heißt, in sich zu einer Zwischenfrage) der CSU in diesem Fall weniger, und natürlich in der F.D.P., die das beibehalten wollen. Man muß den Mut haben - Das Schlimme daran ist, daß man in genau diesem Punkt eine Einigung hätte finden können. Dies wäre Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin - - endlich einmal ein Einstieg in den Abbau von Sub- ventionen, in diesem Fall dazu noch mit europäischer Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): - Rückendeckung, im Gegensatz zu der Änderung der Entschuldigung, meine letzten Sätze - und die Ehr- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11783 Christine Scheel lichkeit, hier zu sagen: Man will rigoros in dieses Sy- Vizepräsident Hans Klein: Da Sie nicht unmittelbar stem eingreifen, man will Vergünstigungen rigoros auf die Rede eines Kollegen reagiert haben, muß ich abbauen und auf der anderen Seite Steuersätze sen- jetzt die nächste Kurzintervention zulassen, zu der ken. Das darf aber nicht so geschehen, wie die F.D.P. sich der Kollege Hauser gemeldet hat. das macht: indem man einen ungedeckten Scheck - man hofft auf das Wirtschaftswachstum - ausstellt. Vielmehr muß sauber gegengerechnet werden und Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): das Vorhaben offengelegt werden. Das genau fehlt Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und bei Ihnen. Kollegen! Nachdem Frau Kollegin Scheel den Un- sinn wiederholt hat, der in der letzten Zeit durch die Vielen Dank. Presse gegeistert ist, daß Beiträge und Aufnahmege- bühren für Golfclubs von der Steuer abzugsfähig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) seien, möchte ich folgendes klarstellen: Weder der Jahresbeitrag noch der Aufnahmebeitrag, noch die Vizepräsident Hans Klein: Ich bedauere, Herr Kol- jetzt durch einen Beschluß der Länder-Fachebenen lege Rössel, die Perzeptionswilligkeit bei Zwischen- mit dem Bund erfolgte Festlegung einer Investitions- fragen ist unterschiedlich. Besonders versierte Kolle- umlage sind von der Steuer abzugsfähig, um das ein gen wie der Kollege Repnik schaffen es, aus zehn Mi- für allemal klarzustellen. nuten Redezeit 24 Minuten Redezeit zu machen, weil er auf die Zwischenfragen eingeht. Leider konnte ich Was die Länder-Fachebene mit dem Bund verein- Sie nicht auf das Fragebegehren hinweisen. bart hat, ist, daß bei Golfclubs und bei anderen Sport- vereinen eine Investitionsumlage von bis zu 10 000 Herr Kollege Kröning, ist das die Meldung zu einer DM die Gemeinnützigkeit nicht gefährdet. Das ist Kurzintervention? - Bitte sehr. eine gemeinsame Entscheidung, die im Sommer letz- ten Jahres getroffen worden ist. Nehmen Sie bitte zur Volker Kröning (SPD): Herr Präsident, ich bitte um Kenntnis, daß es hier nicht um steuerlich abzugsfä- Entschuldigung, daß ich die Kurzintervention nicht hige Beträge geht! ordnungsgemäß angemeldet habe. - Nachdem wir (Zustimmung bei der CDU/CSU und der hier erlebt haben, wie um den Abbau von steuerli- F.D.P.) chen Vergünstigungen diskutiert wird und auch ohne Namensnennung Kollegen angegriffen werden - das haben Sie, Frau Kollegin Scheel, leider nicht Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen besser gemacht als Ihre Kollegin von der CDU - , Guido Westerwelle das Wort. möchte ich gerne noch einmal klarstellen, daß wir uns im Finanzausschuß einig sind, daß wir Steuerver- günstigungen und Steuerbefreiungen anläßlich der Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Herr Präsident! großen Steuerreform abbauen wollen. Wir haben das Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir bera- auch ausdrücklich im Zusammenhang mit den Son- ten hier über einen Antrag der SPD, der insgesamt derabschreibungen für den Schiffbau bekundet. aus sage und schreibe vier Zeilen besteht. Sie wissen, daß der Bundesrat dem Vorschlag der (Lachen bei der SPD) Abschaffung der Sonderabschreibungen wider- Wir stellen damit fest: Das, was Sie hier vorgelegt ha- spricht und daß es Basis einer interfraktionellen Über- ben - es ist bemerkenswert -, ist nichts anderes als legung zwischen SPD und CDU/CSU gewesen ist, ein billiges parteitaktisches Manöver. Es ist ein (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist Schaufensterantrag ohne jede Substanz. die größte Heuchelei!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - einen Zwischenschritt zum vollständigen Abbau die- Lachen bei der SPD) ser Sonderabschreibungen zu finden, der den Schwierigkeiten der Umstrukturierung der deut- Wir wollen als F.D.P. Steuersenkungen, schen Werftenindustrie entspricht. (Detlev von Larcher [SPD]: Und beschließen Das populistische Gerede, das wir heute erlebt ha- dann, die Mineralölsteuer zu erhöhen!) ben, und wir sind der Auffassung, daß die Steuer- und Ab- (Joseph Fischer [Frankfurt ] [BÜNDNIS 90/ gabenquote in Deutschland zu hoch ist, ebenso wie DIE GRÜNEN]: Was ist daran populistisch?) unser Steuersystem zu kompliziert ist. wird, so fürchte ich, diesen Zwischenschritt unmög- Aber wir erleben in dieser Debatte einen funda- lich machen und steht damit in krassem Widerspruch mentalen Unterschied zwischen der Opposition und zu dem Geist, der wahrscheinlich heute nachmittag der Koalition: Für Sie sind Steuersenkungen die Divi- bei der Debatte über die Lage der maritimen Wi rt dende eines wirtschaftlichen Aufschwungs. Für uns -schaft beschworen werden wird. sind Steuersenkungen die Voraussetzung für kon- junkturelle Belebung, für neue Investitionen und da- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU mit auch für neue Arbeitsplätze in Deutschland. sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.] - Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- DIE GRÜNEN]: Was soll das denn?) ten der CDU/CSU - Zurufe von der SPD) 11784 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Guido Westerwelle Wir senken Steuern nicht, um Reiche reicher zu Vizepräsident Hans Klein: Kollege Westerwelle, machen, der Kollege Spiller würde gern eine Zwischenfrage stellen. (Zurufe von der SPD: Doch!) - sondern um das Abwandern von Arbeitsplätzen zu Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Aber gern, sicher. verhindern. Nicht diejenigen sind Arbeitnehmerpar- teien, die mit roten Fahnen und Dinosaurierparolen Jörg-Otto Spiller (SPD): Herr Kollege Westerwelle, auf die Gewerkschaftstage fahren, sondern diejeni- könnten Sie dem Hause erklären, wie die Solidität gen, die mit marktwirtschaftlichen Rahmenbedin- Ihres Reformkonzepts aussieht? Ihr Herr Parteivorsit- gungen dafür sorgen, daß investiert wird und damit zender Gerhardt hat vor kurzem im „Rheinischen überhaupt neue Arbeitsplätze entstehen können. Merkur" in einem Inte rview erklärt, die F.D.P. wolle (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne eine Reform der Einkommensteuer, bei der alle ten der CDU/CSU) Steuerzahler profitieren, auch diejenigen, die bisher mit großem Geschick alle Steuerschlupflöcher ausge- Eine Erkenntnis wird auch die Opposition nicht au- nutzt haben. ßer Kraft setzen können, diese ist relativ einfach: Al- les, was man verteilen möchte, muß man vorher er- (Beifall des Abg. Dr. Hermann Otto Solms wirtschaften. Wer wie Sie die Arbeit verteuern will, [F.D.P.] - Dr. Hermann Otto Sohns [F.D.P.]: der verekelt die Arbeitsplätze ins Ausland, wie wir Genauso, sehr gut!) das regelmäßig bei Rot-grün in Düsseldorf erleben. Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ich bin Ihnen für (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne diese Beschreibung sehr dankbar; denn das ist wirk- ten der CDU/CSU) lich ein fabelhaftes Inte rview. Ich bitte darum, es ein- Was Sie von Standortpolitik verstehen, können Sie mal in der SPD-Fraktion zu verteilen. Sie können alle regelmäßig in Düsseldorf beweisen. daraus lernen. (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]) Im Mittelpunkt unserer Politik steht die Bekämp- fung der Arbeitslosigkeit, weil vier Millionen Arbeits- Ich bin fest davon überzeugt, das ist überhaupt keine lose nicht nur schlimm sind, sondern sie wären auf die- Frage. sem Niveau auf Dauer für die demokratische Stabilität Das, was Sie offensichtlich überhaupt nicht mehr unseres Landes gefährlich. Deswegen wollen wir als können, was in Ihrem Denken überhaupt nicht mehr F.D.P. eine möglichst schnelle Umsetzung der Steuer- vorgesehen ist, ist die Vorstellung, daß der Staat senkungs- und Steuervereinfachungspolitik. nicht nur seine Ausgaben kürzen muß, sondern daß Wir sind der Auffassung: Je früher die Steuerre- er auch seine Aufgaben zurücknehmen muß. Dem form kommt, um so besser für die Arbeitsplätze. Wir Ausgabenzuwachs des Staates ging nämlich der Auf- sind als F.D.P. der Auffassung, daß schon 1998 der gabenzuwachs des Staates voraus. Einstieg in die Steuerreform erfolgen sollte. Das ist Sie können sich nicht hinstellen und mangelnde fi- unseres Erachtens technisch möglich und ökono- nanzielle Solidität beklagen, wenn Sie gleichzeitig misch vernünftig. Wir werden dabei von weiten Tei- der Brandstifter sind, der die Flächenbrände im Bun- len des ökonomischen Sachverstands in Deutschland desrat anzündet und verhindert, daß gespart wird. unterstützt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich sage aber auch: Wir wollen eine solide Steuer- reform, wir beraten jetzt innerhalb der Koalition über Sie verhalten sich wie der Zündler, der durch die Rei- die Eckpunkte dieser Steuerreform, und wir werden hen geht und anzündet, der Brände legt und sich an- im Anschluß an diese Beratungen natürlich auch ent- schließend neben die Feuerstelle stellt und sagt: scheiden. Der Antrag der SPD ist aber ein Schuß ins Schaut mal, Leute, es brennt. Das ist das, was Sie in Knie, denn wer als SPD das Parlament auffordern Wahrheit machen. möchte, eine frühe Steuerreform zu beschließen, der (Joachim Poß [SPD]: Brandstifter ist die muß wenigstens in der Lage sein, die Eckpunkte sei- F.D.P.! Sie ruft nach der Feuerwehr!) ner eigenen Steuerreform benennen zu können. Das war im übrigen auch die Antwort auf Ihre Zwi- (Beifall bel der F.D.P. sowie bei Abgeordne schenfrage. ten der CDU/CSU) Sie eiern bei der Frage der Eckpunkte herum, Sie Vizepräsident Hans Klein: Die Kollegin Scheel sind sich nicht einig. Herr Scharping faselt etwas von würde auch gern eine Zwischenfrage stellen. 40 Prozent Spitzensteuersatz, Herr Poß erzählt etwas von 45 Prozent Spitzensteuersatz. Wenn Sie eine Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Bitte, gern. Steuerreform wollen, dann müssen Sie mindestens zwei Eckpunkte nennen können: Das sind der Ein- gangssteuersatz und der Spitzensteuersatz. Wer das Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht tut, kann keine Steuerkurve berechnen. Herr Westerwelle, es ist schon irgendwie eigenartig. Wenn man die Zeitungen in den letzten Wochen ver- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne folgt hat, so konnte man immer wieder die Aufforde- ten der CDU/CSU) rung von Ihnen, Herrn Gerhardt oder Herrn Solms an Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11785

Dr. Guido Westerwelle die Koalitionspartner lesen, daß die große Steuerre- und besprechen und nicht mit Ihnen, können Sie form 1998 kommen muß. Sie revidieren das dann so sich, glaube ich, ganz alleine ausmalen. halb, indem Sie sagen, im ersten Schritt - - (Beifall bei der F.D.P. - Abg. Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS] meldet sich zu einer Zwischen- frage) Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, eine Frage, bitte. Vizepräsident Hans Klein: Kollege Westerwelle, es gibt ein weiteres Fragebegehren. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich frage ihn, warum in den Zeitungen immer wieder Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Nein, ich beant- nachzulesen ist, daß er und auch Herr Gerhardt und worte jetzt keine Zwischenfragen mehr. Ich möchte Herr Solms behaupten, daß die große Steuerreform etwas zur Sache selbst sagen können. 1998 kommen soll und vor der Wahl ganz beschlos- sen werden soll, daß sie aber nur im ersten Schritt vor Der Antrag der SPD lautet: „Einkommensteuerre- der Wahl umgesetzt wird und der zweite Schritt nach form zum 1. Januar 1998 in Kraft setzen". Von Steu- der Wahl kommt. Ich würde gern von Ihnen wissen, ersenkungen ist dort ausdrücklich nicht die Rede. warum Sie sich jetzt hinstellen und sagen: „Es gibt Die Opposition tritt eben nicht für eine Steuersen- eine Kommission, und die neue Waigelsche Kommis- kungspolitik ein. Vielmehr wollen Sie einen Ver- sion, an der die F.D.P. beteiligt ist, arbeitet jetzt erst schiebebahnhof bei Steuern und Abgaben auf ho- einmal, und dann sehen wir, was dabei herauskommt hem Niveau. Sie nennen das Umverteilung. In Wahr- und wie die Gegenrechnung aussieht, dann diskutie- heit ist es nichts anderes, als daß Sie die Leistungs- ren wir darüber", kräfte in diesem Land in ihrer Leistungsfähigkeit weiter behindern und sie abwürgen wollen. Die Lei- (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Haben Sie stungskräfte zu fördern wäre aber die Voraussetzung jetzt noch eine Frage?) dafür, daß neu investiert wird und Arbeitsplätze ent- stehen. ohne den Leuten zu sagen, wann dies aus Ihrer Sicht (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ernsthaft umgesetzt werden soll. Deswegen sagen NEN]: Leistungsgerechte Besteuerung!) Sie mir bitte einmal: Was stimmt jetzt? Wollen Sie 1998 ein Gesamtpaket vorstellen, oder wollen Sie Frau Kollegin, wenn Sie auf den Beschluß der Grü- Teil eins im Jahr 1998 haben und nach 1998 die Ge- nen hinweisen: Machen wir doch einmal den funda- genfinanzierung mit der Mehrwertsteuer? mentalen Unterschied zwischen Grünen und der Ko- alition klar, wenn es um die Ökosteuerdiskussion geht. Sie wollen Ökosteuern auf die ohnehin viel zu Vizepräsident Hans Klein: Einen Moment, Herr hohe Abgabenlast draufsatteln. Wir sagen, daß das Westerwelle. ein Konjunkturkiller erster Klasse wäre. Wir sagen: Wir brauchen Steuerentlastung, bevor man an eine Ich muß auf etwas hinweisen. Meine Bemerkung Maßnahme in dieser Richtung überhaupt denkt. vorhin hat an betreffender Stelle Unwillen ausgelöst. Aber es geht nicht, daß bei den Reden Fragen in der (Beifall bei der F.D.P.) Länge von Debattenbeiträgen gestellt werden und Auf Ihrem Bundesparteitag haben Sie gerade Maß- der Redner in der Antwort halbe Zeitungsseiten vor- nahmen beschlossen, die eine Steuermehrbelastung liest; das bezieht sich jetzt nicht auf Sie, Herr Wester- für dieses Jahr von 20 Milliarden DM zur Folge hät- welle. Fragen sollen kurz und präzise sein, ebenso ten. Wer jetzt Ökosteuern auf die hohen Steuern und die Antworten; sonst kommen wir völlig aus dem Abgaben einfach draufsattelt, Takt. Ich sitze hier dafür, daß wir im Takt bleiben. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bitte, Herr Kollege Westerwelle. NEN]: Und eine Entlastung!) der schafft keine Investitionen im Umweltbereich, der schafft Pleitewellen in Deutschland. Das ist das, Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Auch ich hätte ein was wir in Wahrheit bekämen. paar Zeitungsseiten dabei. Aber ich wollte sie gar nicht vorlesen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU - Abg. Christine Scheel Frau Kollegin, bei allem Respekt, wenn Sie eben [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zugehört hätten, hätten Sie gemerkt, daß es doch zu einer Zwischenfrage) wirklich eindeutig ist. Wir sagen als F.D.P.: Wir wol- - Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfragen mehr zu. len eine Steuersenkungspolitik und eine Steuerver- einfachungspolitik. Allerdings gibt es einen großen Der Antrag der SPD ist parteipolitisch motiviert. Er Unterschied zu Ihnen. Sie wollen nämlich keine Net- hat übrigens, Herr Kollege Scharping, die gleiche toentlastung bei den Steuern, sondern Sie wollen die strategische Qualität wie „brutto/netto" und „Me- Steuer- und Abgabenquote sogar noch erhöhen. Wir xiko" . Wer dem Deutschen Bundestag eine Ent- sagen als F.D.P.: Wir möchten möglichst schnell einen schließung zur Steuerreform vorlegt, kommt nicht Einstieg in diese Steuerreform erreichen. Aber daß darum herum, mindestens seine eigenen Vorstellun- wir das mit unserem Koalitionspartner verhandeln gen, mindestens die Eckpunkte einer entsprechen- 11786 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Guido Westerwelle den Steuerreform tatsächlich zu nennen. Sie beant- Die betriebliche Vermögensteuer und die Gewer- worten die Frage der Tarife mit einem entschiedenen bekapitalsteuer verteuern die Arbeitsplätze. Es gibt „mal so und mal so" . Herr Scharping, Ihr heutiger Schätzungen, nach denen die Einführung der Ge- Antrag zeigt es wieder, Sie verhalten sich wie ein werbekapitalsteuer allein in Ost-Berlin für eine Ver- wild gewordener Motorradfahrer: Ich weiß zwar noch teuerung jedes Arbeitsplatzes um 3 842 DM verant-- nicht, wohin es gehen soll; aber dafür bin ich auf alle wortlich ist. Sie müssen den Menschen erklären, wie Fälle schneller da. Sie es in einer Zeit, in der die Eigenkapitaldecke der mittelständischen Unternehmen das größte Problem Wer im Deutschen Bundestag eine schnelle Steuer- ist, verantworten wollen, die Eigenkapitaldecke der reform will, der darf sie dann nicht im Bundesrat boy- mittelständischen Unternehmen weiter zu ver- kottieren. Sie könnten von der Koalition eine sehr schlechtern, indem Sie eine Substanzsteuer einfüh- viel frühere Steuerreform bekommen, und zwar zum ren. Es ist Unsinn, daß wir in Deutschland die Sub- 1. Januar 1997, wenn Ihre Landesregierungen bei stanz eines Unternehmens anstatt den wirtschaftli- der Frage der Unternehmensteuerreform endlich mit- chen Erfolg besteuern. machen würden. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) ten der CDU/CSU - Lachen beim BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN) Diese Substanzsteuer macht gerade kleine und mitt- lere Unternehmen extrem krisenanfällig und er- Sie bremsen die Steuerreformpolitik dieser Koalition schwert die Eigenkapitalbildung. im Bundesrat und beschweren sich dann anschlie- ßend über Taten, die Sie selber ange richtet haben. Welche babylonischen Sprachverwirrungen tragen Sie hier vor? Die Vermögensteuer sei etwas für die (Widerspruch bei der SPD - Detlev von Lar Reichen. Zwei Drittel der Vermögensteuer fallen bei cher [SPD]: Das haben wir doch gerade den Betrieben an. Diese betriebliche Vermögen- klargestellt, daß es nicht einmal eine Vor steuer verteuert die Arbeitsplätze in Deutschland. lage gibt!) Sie können sich nicht mit Tränen in den Augen hier Wir fordern die SPD-Ministerpräsidenten von hinstellen, die Steuer- und Abgabenquote kritisieren Brandenburg und Sachsen-Anhalt, Manfred Stolpe und dann darüber reden, daß die Lohnzusatzkosten und Reinhard Höppner, auf, die Einführung der Ge- reduziert werden müßten, aber gleichzeitig bei der werbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern zu Verteuerung der Arbeitsplätze durch Substanzsteu- verhindern. Wir werfen den beiden Ministerpräsi- ern mitwirken. Das ist unglaubwürdig, was Sie hier denten vor, ihren Amtseid, nachdem sie verpflichtet aufführen. sind, zum Wohle des Landes zu handeln, zu ver- letzen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist ja unglaublich! Schämen Sie sich!) Das nächste Beispiel lautet dann: Die Gewerbeka- pitalsteuer und die betriebliche Vermögensteuer trä- Wir sagen Ihnen: Wenn Herr Stolpe und Herr Höpp- fen in Wahrheit nur die Reichen; von der Abschaf- ner die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer ver- fung der Gewerbekapitalsteuer würden tatsächlich hindern, dann ist das ein Programm zur Verjagung nur die wirklichen Großunternehmen profitieren. des Mittelstandes aus den neuen Ländern. Genau Wie kommt es denn wohl, daß sämtliche Handwer- das werden sie damit bewirken. ker und Organisationen des Handwerks die Koalition eindringlich auffordern, die Gewerbekapitalsteuer (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - endlich abzuschaffen? Detlev von Larcher [SPD]: Unverschämt heit!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wie kommt das? Ich will es Ihnen sagen: Es gibt näm- Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi- lich nur 2 Prozent Großunternehmen in Deutschland, schenfrage des Abgeordneten Wolfgang Ilte? die Gewerbekapitalsteuer zahlen. Die Gewerbekapi- talsteuer ist eine Strafsteuer für den Mittelstand ge- Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Nein, ich lasse worden. Deswegen muß sie abgeschafft werden. keine Zwischenfragen mehr zu. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Der Amtseid der Ministerpräsidenten Stolpe und Sie stellen sich dann hierhin und fahren im Bun- Höppner lautet, dem Wohle des Landes zu dienen desrat eine Art Sonthofen-Strategie - und nicht dem Erich-011enhauer-Haus. Das ist dabei der große Unterschied. ( [SPD]: Keine Beschimpfun- gen der CSU!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) - ja, das ist ungefähr der schlimmste Vorwurf, den Diese beiden SPD-Ministerpräsidenten sollten sich ich überhaupt an Ihre Adresse richten kann; da ha- nicht länger von dem Parteiinteresse fernsteuern las- ben Sie recht - nach dem Motto: Wir sind dabei, ma- sen, das der Parteivorsitzende festsetzt. chen eine Politik der verbrannten Erde, versuchen, beispielsweise im Bundesrat, Einsparungen zu ver- (Widerspruch bei der SPD) hindern, setzen sogar weitere kostspielige Pro- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11783 Dr. Guido Westerwelle gramme durch, um anschließend sagen zu können: noch als letztes: Die SPD kämpft im innerparteilichen Schaut her, die haben den Haushalt nicht im Griff. Ring. Im Vergleich zu Scharping, Schröder, Lafon- taine sind Kohl, Waigel, Gerhard eine Dreieinigkeit. Nehmen wir doch einmal das ganz konkrete Bei- spiel Vermögensteuer versus Kindergelderhöhung. (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Dazu sagen wir Ihnen: Wir sind der Auffassung, es - Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wäre sehr sinnvoll - wenn wir es uns leisten könnten - DIE GRÜNEN - Zuruf von der SPD: Und das Kindergeld, nachdem wir es in diesem Jahr un- Westerwelle!) gefähr verdoppelt haben, im nächsten Jahr um wei- tere 20 DM zu erhöhen. Sie werden es erleben: Ihr innerparteilicher Macht- kampf lähmt Sie. Deswegen sind Sie in Wahrheit (Zuruf von der PDS: Das ist schon beschlos nicht in der Lage, vernünftig zu verhandeln und ver- sen!) nünftige, sachorientierte Kompromisse zu schließen. Es gibt aber einen großen, fundamentalen Unter- Was Sie hier mit der Debatte beabsichtigt haben, das schied zwischen der Abschaffung der betrieblichen geht nicht auf. Sie glauben, Sie könnten einen Keil in Vermögensteuer und der weiteren Erhöhung des die Koalition treiben. Wir wissen längst: Die Refor- men für Deutschland gibt es nur mit einer bürgerli- Kindergeldes. Die Abschaffung der bet rieblichen Vermögensteuer schafft Arbeitsplätze; das kann man chen Mehrheit, mit Ihnen ganz bestimmt nicht. von der Erhöhung des Kindergeldes, so sinnvoll sie (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - auch sein mag, wirklich nicht behaupten. Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- (Beifall bei der F.D.P. - Zurufe von der SPD: NIS 90/DIE GRÜNEN) Lächerlich! - Eine Frechheit ist das!) Zur weiteren Erhöhung des Kindergeldes um Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kolle- gin Dr. Barbara Höll. 20 DM - nachdem es in diesem Jahr bereits verdop- pelt wurde - sollten wir den jungen Menschen und Familien sagen, daß sie sich darüber freuen können - Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Präsident! Meine Da- wohl wahr -, daß diese Erhöhung aber vor allem ei- men und Herren! Eines muß der Neid Ihnen lassen, nes zur Folge haben sollte: Die Fami lien sollten am Herr Westerwelle: Mit welcher Frechheit Sie hier Un- besten diese 20 DM monatlich anlegen; denn das, wahrheiten verbreiten und welchen Sprachgebrauch was in Ihrer Politik überhaupt nicht mehr vorkommt, Sie an den Tag legen, das macht fast schon sprachlos. ist die Verantwortung der Finanzpolitik und nicht nur die Verantwortung der ökologischen Politik gegen- (Dr. Hermann Otto Sohns [F.D.P.]: Das über der nächsten Generation. Sie verteilen die sagen Sie als Vertreterin der Pa rtei des kur- Wohltaten der Gegenwart mit immer neuen Hypo- zen Gedächtnisses?) theken für die Zukunft der nächsten Generation. Das - Das sage ich als Vertreterin der Pa rtei des demokra- ist das, was Sie wollen. tischen Sozialismus. Das „demokratisch" fehlt Ihnen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - wahrscheinlich ab und zu sehr stark. Widerspruch bei der SPD und dem BÜND Wir diskutieren in diesem Jahr zum zweiten Mal NIS 90/DIE GRÜNEN) über einen Antrag der SPD zur Einkommensteuerre- Sie fragen hier nach Einsparungen. Gehen wir form. Hierzu muß ich sagen: Beide Anträge zeichnen doch einmal weiter zum Bereich der Steinkohle. Was sich dadurch aus, daß sie wirklich sehr substantiell ist aus euch geworden? Ihr seid einmal mit hohen sind. Zugegebenermaßen hat uns die Regierungsko- idealistischen Zielen angetreten. Jetzt ist für euch au- alition im Sommer eine Diskussion zur Einkommen- ßer der Machtfrage nichts mehr wichtig, steuerreform aufgedrängt, die an ein Affentheater grenzte. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN) Warum wurde diese Diskussion eigentlich an die Öffentlichkeit lanciert? Es ging darum, die Menschen wie man an der Steinkohlethematik erkennen kann. mit Versprechungen für die Zukunft - ob für 1998 Wir schlagen als Koalition einen Abbau der Stein- oder 1999 - von dem Sparpaket genannten Horrorpa- kohlesubventionen vor. Aber Rot-Grün im nordrhein- ket der sozialen Grausamkeiten, das Sie durchge- westfälischen Landtag verhindert alles, was immer peitscht haben, mit großer Kaltschnäuzigkeit abzu- vom Bund vorgeschlagen wird. lenken. Wir hoffen, daß der gesellschaftliche Wider- Ich sage Ihnen: Es ist ein Treppenwitz, daß Sie Ihre stand dagegen trotzdem wächst. ökologische Verantwortung mittlerweile abgegeben Für eine gerechte Einkommensteuerreform, wenn haben, nämlich an der Garderobe auf dem Weg zu sie denn tatsächlich gewollt wäre, hätte die Regie- einer Macht, die Sie aber niemals bekommen werden rungskoalition schon mehrmals gute Chancen ge- - jedenfalls nicht auf Bundesebene. Das sage ich Ih- habt. Aber weder im Jahressteuergesetz 1996 noch nen voraus. im Jahressteuergesetz 1997 sind Sie darangegangen, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Steuersubventionen abzubauen oder mehr Gerech- tigkeit in das Steuerrecht einzubauen. Im Gegenteil: Bei allem Respekt vor Koalitionen - es gibt zwi- In der laufenden Diskussion zum Jahressteuergesetz schen Koalitionsparteien immer unterschiedliche 1997 versuchen Sie, über den Ausbau der abzugsfä- Meinungen; das ist gar keine Frage - sage ich dies higen Sonderausgaben für hauswirtschaftliche Be- 11788 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr Barbara Höll schäftigungsverhältnisse - besser bekannt unter ventionen" sollen Arbeitslosengeld, Arbeitslosen- dem Namen Dienstmädchenprivileg - eine Erhöhung hilfe, Mutterschaftsgeld und andere Lohnersatzlei- dieser Steuersubvention von 12 000 DM auf 24 000 stungen, die bisher weitgehend steuerbegünstigt DM durchzusetzen. Den Gä rtner, den Chauffeur oder waren, zukünftig voll in die Einkommensbesteue- die Putzfrau können sich in diesem Lande eben nur rung einbezogen werden - ein Vorschlag übrigens, Besserverdienende leisten. Sie nehmen damit in den ich so auch in einem Papier für den Strategie- Kauf, daß Menschen, die es sich auf Grund ihres ho- kongreß des Bündnisses 90/Die Grünen am vergan- hen Einkommens leisten können, eine Hilfe für ihren genen Wochenende gelesen habe. Ich bin arg dar- privaten Lebensaufwand anzustellen, die Kosten da- über verwundert, daß ich do rt eine Gleichsetzung für steuerlich absetzen können. Ich frage Sie: Was sa- von privaten Veräußerungsgewinnen und Lohner- gen Sie Alleinerziehenden, die auf Kinderbetreuung satzleistungen vorfinde. Auch das ist für mich nicht angewiesen sind, wenn sie dies nicht einmal mehr sehr sozial. steuerlich geltend machen können, ganz abgesehen Die Einbeziehung in die Einkommensbesteuerung davon, daß die Kinderbetreuungsplätze meistens feh- schlägt die Regierungskoalition ebenso für Nacht- len? Auch hier könnten Arbeitsplätze geschaffen und Feiertagszuschläge vor. Die legalen Möglichkei- werden. ten der Steuerumgehung und der Subventionen, die Massive steuerliche Rückendeckung erfahren von für Großverdiener jetzt im Steuerrecht enthalten dieser Regierung auch immer wieder die Unterneh- sind, werden von Ihnen nicht einmal thematisiert, ge- men, so zum Beispiel bei der Möglichkeit von Son- schweige denn abgebaut. Von einer Individualbe- der- und Ansparabschreibungen im § 7 des Einkom- steuerung und damit einer Abschaffung des Ehegat- mensteuergesetzes. Diese Regelung zielte ursprüng- ten-Splittings, wie sie mittlerweile in fast allen euro- lich auf die Förderung kleiner Unternehmen ab. päischen Ländern Realität ist, will die CDU nichts Dank der Bundesregierung ist sie nun zu einer Sub- wissen. Auch zukünftig soll die Devise gelten: Sei vention des Großkapitals degeneriert. verheiratet oder zahle Steuern. Herr Westerwelle hat hier soeben wieder mit Zah- Vor knapp zwei Jahren unterbreitete die Bareis- len operiert, die sich auf die Einführung der Gewer- Kommission umfassende Vorschläge für den Abbau bekapitalsteuer in den neuen Bundesländern bezo- von Steuervergünstigungen in einer Größenordnung gen. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Zahlen - im von 30 Milliarden DM. Der Bundesfinanzminister Finanzausschuß vom Parlamentarischen Staatssekre- legte diese Vorschläge postwendend ad acta. Allzu tär mehrmals angefordert - noch immer nicht auf genau wollte es Herr Waigel scheinbar doch nicht dem Tisch liegen. Fakt ist, daß diese Steuer eine wissen; denn jede konkrete Streichung ruft wieder Steuer für Großbetriebe ist und daß in den neuen die jeweiligen Lobbyvertreter auf den Plan, so wie Bundesländern wahrscheinlich kaum ein Bet rieb - bei der Kfz-Steuerreform, die wir morgen nicht bera- bei SKET sind Sie dabei, einen der letzten Großbe- ten können, weil der Verband der Automobilindu- triebe kaputtzumachen - eine solche Steuer zahlen strie in Brüssel erfolgreich interveniert hat. müßte. Inzwischen glänzt die Koalition - das gilt insbeson- (Zurufe von der CDU/CSU: Quatsch!) dere für einzelne Abgeordnete - mit immer neuen Modellen einer Steuerreform, die sowohl aus steuer- - Das ist nicht Quatsch; das ist die Wahrheit. Andere systematischen als auch aus steuerpolitischen Aspek- Zahlen haben Sie uns noch nicht auf den Tisch ge- ten unakzeptabel sind. So will Herr Uldall uns glau- legt. ben machen, der von ihm vorgeschlagene dreistufige Mit Ihrer Politik der Unternehmensteuerbefreiung, Einkommensteuertarif würde die Steuerpflichtigen einer Politik, die diese Regierung seit 1982 kontinu- erheblich entlasten. Wenn man nachrechnet, bei ierlich betreibt - mit dem Ergebnis einer Massenar- wem diese Steuerentlastungen zu Buche schlagen beitslosigkeit von 4 Millionen Menschen in dieser würden, zeigt sich, daß ein Durchschnittsverdiener Republik -, tun Sie alles andere, als tatsächlich den mit einem Jahreseinkommen von 30 000 bis 40 000 Menschen zu helfen, die der Hilfe bedürfen, wenn DM im Jahr 2 500 DM weniger an Steuern zahlen sie schon keine Arbeitsplätze haben. würde. Bei einem Einkommensmillionär wären es 230 000 DM weniger Steuern. Bei denjenigen, die ein zu versteuerndes Einkom- men haben, das aber oftmals niedrig ist, sind Sie Klar ist, daß eine Steuerreform finanziert werden nicht bereit, verfassungskonform zu entscheiden. Mit muß. Die Instrumente, die wir bisher von der Regie- der Festlegung des steuerfreien Existenzminimums rungskoalition gehört haben, sind eine Mineralöl- auf 12 000 DM im Jahressteuergesetz 1996 haben Sie steuer- und eine Mehrwertsteuererhöhung. Die Ko- dem klar widersprochen. Notwendig wären 17 000 alition benutzte die Sommerpause ganz gezielt, um DM. Auch die SPD - das muß ich sagen - hat diese zu versuchen, den Menschen einzutrichtern, die Notwendigkeit trotz der Anhörung und der Aussage Mehrwertsteuererhöhung sei notwendig. der vielfältigen Sachverständigen scheinbar noch Welche Verteilungsmechanismen und -wirkungen nicht erkannt. zieht eine Erhöhung von Verbrauchsteuern nach Wohin die Reise der Steuerreform geht, wenn sich sich? - Von einer Senkung der progressiven Einkom- konservative Politiker zu „Steuer-Männern" auf- mensteuer profitieren die einkommensstarken schwingen, zeigen die jüngsten Vorschläge der Schichten wesentlich mehr als Menschen mit niedri- CDU. Unter den Stichworten „Verbreiterung der Be- gerem Einkommen. Eine höhere Mehrwertsteuer be- messungsgrundlage" und „Abbau von Steuersub- lastet vor allem die Bezieher niedriger Einkommen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11789 Dr. Barbara Höll wie Rentner, Studenten und Arbeitslose. Sie alle säumt haben, an der Konsolidierung mitzuwirken, kommen nicht in den Genuß von Einkommensteuer- was allein 6 Milliarden DM ausmacht. senkungen, wohl aber in den fragwürdigen Genuß höherer Verbrauchsteuern. Hier soll der Kurs einer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) steuerlichen Einkommensumverteilung von unten Wenn Sie der sicherlich schmerzlichen Verschie- nach oben festgeschrieben werden. bung der Kindergelderhöhung zugestimmt hätten - Angesichts solcher Vorschläge fordern Sie, meine was schwierig, aber zumutbar gewesen wäre -, hät- Damen und Herren von der SPD, die Regierung auf, ten wir weitere 4 bis 5 Milliarden DM einsparen kön- ihre Steuerreform schon 1998 zu verwirklichen? Sie nen. Sie sind als Partei für eine Lücke von minde- fordern damit die Koalition auf, ihre antisozialen stens 10 bis 11 Milliarden DM verantwortlich. Das ist Pläne schnellstmöglich in die Tat umzusetzen. Sie Ihre Verantwortung. unternehmen bisher kaum den ernsthaften Versuch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eines Gegenentwurfs etwa in Form eines Gesetzes- textes. Daß dies auch in Ihren eigenen Reihen sehr unter- Doch damit nicht genug. Sie haben im letzten Jahr schiedlich gesehen und bewertet wird, beweist eine dieser antisozialen Politik Vorschub geleistet: Ich Aussage des Ersten Bürgermeisters von Hamburg nenne hier noch einmal den verfassungswidrigen vom vergangenen Jahr, als ein entsprechender An- Grundfreibetrag. trag im Bundesrat verabschiedet wurde und er selbst - allerdings als einziger im Bundesrat - sagte: Wir können uns das, so schön es ist, nicht mehr leisten. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, keine Aufzählung mehr. Sie sollten wenigstens zur Kenntnis nehmen, was dieser Mann damals sagte. Er hat recht behalten. Sie können uns nicht vorwerfen, daß wir über etwas (PDS): Ich komme zum Ende. - Ich Dr. Barbara Höll nachdenken, was in der Tat schwierig, aber zumut- nenne die begrenzte Absetzbarkeit - im Rahmen der bar gewesen wäre. doppelten Haushaltsführung und - das darf nicht un- erwähnt bleiben - Ihr Umfallen beim Kindergeld in Wir alle, Sie wie wir, sind damals davon ausgegan- dieser Woche. gen, daß uns nach der Steuerschätzung vom Mai Was ist das für ein Oppositionsverständnis, wenn 1995 im Jahre 1997 30 Milliarden DM allein beim man es als Erfolg feiert, daß die geltenden Gesetze Bund und 60 Milliarden DM im öffentlichen Gesamt- tatsächlich eingehalten werden, noch dazu bei einer haushalt mehr zur Verfügung stehen. Jetzt müssen Mehrheit im Bundesrat? Es kann nicht wahr sein, daß wir alle, Sie wie wir, die Konsequenzen ziehen. Wir Sie deshalb in den internen Verhandlungen auf die müssen konsolidieren; wir müssen die Dinge finan- Vermögensteuer verzichten. zierungsfähig machen; wir müssen Prioritäten set- zen. Das tun Sie nicht. Sie verweigern sich der Wirk- lichkeit einer billigen Parteipolemik wegen. Das ist Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin! unverantwortlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Barbara Höll (PDS): Wir werden weiter unsere Vorschläge einbringen, die in unserem Beitrag ange- Was Sie zur Beteiligung der Kommunen sagen, ist deutet worden sind. reine Legendenbildung. Wahr ist, daß die Kommu- nen vor eineinhalb Jahren skeptisch waren, daß die (Detlev von Larcher [SPD]: Sie sagen die überwiegende Zahl der Kommunen und vor allen Unwahrheit!) Dingen die kommunalen Spitzenverbände aber - Nein, ich sage nicht die Unwahrheit; das war in den heute genau wissen, daß die Beteiligung an der Um- Pressemitteilungen zu lesen. satzsteuer für sie ein Zukunftsprojekt ist, und daß sie an dieser steigenden Steuer teilhaben wollen, weil dies für ihre Einnahmesituation quantitativ und qua- Frau Kollegin! Vizepräsident Hans Klein: litativ besser ist, als von der Gewerbesteuer abhän- gig zu sein. Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Präsident, ich be- danke mich für Ihr wohlwollendes Entgegenkom- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - men. Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der PDS - Detlev von Larcher Sie haben gesagt, Herr Poß, die Gemeinden und [SPD]: Sie haben die Unwahrheit gesagt!) damit natürlich auch die Städte seien Ihnen dankbar. Das ist wahr. Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Bundes- (Freimut Duve [SPD]: Das ist wahr, ja!) minister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wo rt. Im März 1996 haben die Bürger in Nürnberg, in Fürth, in Erlangen, in Regensburg und in Kempten Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: darüber abgestimmt und die SPD-Oberbürgermei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- ster abgewählt. lege Poß, die Lücke im Haushalt, die Sie beklagen, ist entstanden, weil Sie es in den letzten Jahren ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 11790 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Damit haben die Bürger in diesen Kommunen im Insofern sind wir jederzeit in der Lage, das, was im Wissen um diese Steuerpolitik eine sehr klare Ent- Finanzausschuß noch vorliegt und was der Kollege scheidung getroffen. Thiele in seiner Zwischenfrage zum Ausdruck ge- bracht hat, so zu aktualisieren, daß es beratungsfähig - (Lachen bei der SPD) ist. - Entschuldigung. Wollen Sie die Entscheidung aller (Detlev von Larcher [SPD]: Dann legen Sie Bürger in diesen Städten vielleicht der Lächerlichkeit es doch vor!) preisgeben? Sie müssen endlich erklären, ob Sie wollen oder (Otto Schily [SPD]: Und wie ist das in den nicht. Seit gestern gibt es zwei Äußerungen. Auf der anderen Städten?) einen Seite sagt Herr Voscherau: Es darf nicht zur in den neuen Ich frage das, weil Sie darüber lachen. Die Bürger ha- Einführung der Gewerbekapitalsteuer ben sehr wohl im Bewußtsein ihrer Zukunft abge- Bundesländern kommen. stimmt, und sie wissen, wo die stärkere Wirtschafts- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) und Finanzkompetenz bei der Schaffung von Ar- beitsplätzen angesiedelt ist, nämlich bei der Union Er bewegt sich mit der Aufforderung, wir sollten da- und nicht bei der SPD. für sorgen, daß sie nicht eingeführt wird, ha rt an der Grenze dessen, was in einem Rechtsstaat gesagt wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den darf. Sie wissen ganz genau, daß das, was Sie hier be- (Abg. Detlev von Larcher [SPD] und haupten, schlichtweg falsch ist. Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS] melden sich zu einer Zwischenfrage) (Freimut Duve [SPD]: Werden Sie Bürger meisterkandidat, Herr Waigel!) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Waigel, - Ach Gott, kandidieren Sie doch auf der Loreley. gestatten Sie zwei Zwischenfragen? (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Nein, ich bin mitten in einem Gedankengang. Das hat mir jetzt selber gut gefallen. Es gibt eine zweite Äußerung, nämlich eine der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Brandenburger Finanzministerin. In einer Pressemel- Erstens. Wir sind, obwohl es uns nicht ganz leicht- dung heißt es: fällt, bereit, bei jeder Steueränderung eine Grundge- Die brandenburgische Finanzministerin Wilma setzänderung mitzumachen. Aber an der Grundge- Simon (SPD) hat - - setzänderung wird die kommunale Finanzreform nicht scheitern. (Freimut Duve [SPD]: Doktor!) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ - Entschuldigung, ich zitiere eine Pressemitteilung. DIE GRÜNEN]: Ich weiß nicht, was soll das Hier steht ihr Name ohne Doktortitel. Wenn sie Dok- bedeuten!) tor ist, dann fällt mir doch keine Perle aus der Krone, das zu sagen. Zweitens. Sie wissen ganz genau, daß wir zur Be- teiligung an der Umsatzsteuer stehen, und zwar in (Otto Schily [SPD]: Wo haben Sie denn eine der Größenordnung des Verlustes durch den Wegfall Perle in der Krone!) der Gewerbekapitalsteuer und durch die Reduzie- Aber ich zitiere im Moment, Herr Duve. Sie als rung der Gewerbeertragsteuer. Schriftsteller müßten für klares Zitieren doch Ver- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ständnis haben. NEN]: Da gibt es unterschiedliche Auffas (Zuruf des Abg. Freimut Duve [SPD]) sungen zu der Höhe!) Ja, das Gedicht von der Loreley stammt nicht von Ih- Drittens. Sie müssen sich natürlich auch zu dem nen, Herr Duve, trotz Ihres Zwischenrufs, und das unbequemen Schluß durchringen, daß eine Gegenfi- Lied auch nicht! nanzierung stattfinden muß. Eine Gegenfinanzie- rung mit der Reduzierung der degressiven Abschrei- Aber zurück zum Ernst. Ich zitiere noch einmal: bung begegnet Widerständen, begegnet Bedenken, Die brandenburgische Finanzministerin Wilma begegnet Kritik. Das wissen wir. Aber im Hea ring ha- Simon (SPD) hat die Einführung der Gewerbeka- ben sich die allermeisten Sachverständigen und Be- pitalsteuer in den neuen Bundesländern gefor- teiligten in Abwägung aller Umstände dafür ent- dert. Die Kommunen in Ostdeutschland könnten schieden, we il sie - auch Handwerk und Mittelstand - genau wissen, daß der Wegfall einer Steuer besser ist auf eine solche Einnahmequelle keinesfalls ver- als Liquiditätsverschiebungen, die im Grunde das zichten, sagte die Ministerin am Donnerstag im Wesen der degressiven Abschreibung bedeuten. Hessischen Rundfunk. Zwar sei der Osten durch den Länderfinanzausgleich indirekt an den Erträ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU gen aus der Gewerbekapitalsteuer westlicher und der F.D.P.) Unternehmen beteiligt, doch könne dies auf Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11791 Bundesminister Dr. Theodor Waigel Dauer nicht Einnahmen aus einer eigenen Steuer Das können wir alle uneingeschränkt unterstrei- ersetzen. chen. Nur, meine Damen und Herren, warum wirken Sie dann nicht mit? Warum haben Sie im letzten Jahr Da stellen Sie, Herr Poß, sich scheinheilig hin und beim Jahressteuergesetz 1996, als es um die Unter- sagen, es bestehe keine beratungsfähige Vorlage, nehmensteuerreform ging, nicht mitgemacht? - und Sie sind unfähig, über diese Frage bei sich eine Warum tun Sie sich jetzt so schwer, endlich bei der gemeinsame Haltung zu erzielen, um dann mit uns Unternehmensteuerreform mitzumachen? Warum darüber sprechen zu können! bauen Sie immer wieder neue Hindernisse auf? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Warum haben Sie - vor allen Dingen aus der Frak- Eine Reform zu fordern und selber die personifi- tion - zunächst den Kontext hergestellt: Wenn es zu zierte Reformunfähigkeit zu sein, das ist das Wesen einem Wegfall der Vermögensteuer kommt, kann der SPD. Was Sie hier vorführen, ist reine Show. Sie über die Gewerbekapitalsteuer gar nicht geredet können die dritte Stufe der Unternehmensteuerre- werden? Und das wird von der Länderseite aus jetzt form jederzeit mit uns angehen. Allein die Blockade bei Ihnen wieder korrigiert. im letzten Jahr hat die Konjunktur und die Schaffung Was wir brauchen, ist eine seriöse umfangreiche von Arbeitsplätzen erschwert. Vorbereitung. Mit einer solchen Reform sind umfang- Meine Damen und Herren, der Kollege Repnik hat reiche Rechtsänderungen verbunden. Wir haben die völlig korrekt dargestellt, was auch in einer Antwort Erfahrung der dreistufigen Steuerreform von 1986, des Parlamentarischen Staatssekretärs Hauser steht, 1988 und 1990. Es war eine hervorragende Reform. völlig korrekt. Dazu stehen wir. Wir haben doch noch Diese Steuerreform von 1990 war ein großer Erfolg. nie etwas anderes gesagt! (Lachen bei der SPD) (Detlev von Larcher [SPD]: Doch!) Jede Steuerreform bedarf der entsprechenden Vor- (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll bereitung. Meine Damen und Herren, wenn eine mer) Partei wie Sie noch nicht einmal in der Lage ist, zum Eingangssteuersatz und zum Spitzensteuersatz eine Nur, meine Damen und Herren, Sie wissen ganz ge- verläßliche Aussage zu machen, nau: Das, was von einer Vermögensteuer übrigbliebe und überhaupt noch verfassungskonform gemacht (Zuruf von der SPD: Was machen Sie denn?) werden könnte, wäre eine Mischung zwischen dann sind Sie doch unfähig, sich über einen weiteren Murks und Marx. Und dafür stehen wir nicht zur Verlauf der Diskussion, über Kompensation, über Verfügung. Größenordnung des Brutto- und Nettobetrags über- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - haupt zu unterhalten. Zuruf von der PDS: Marx war gut!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Meine Damen und Herren, haben Sie das gehört: Zurufe von der SPD) Marx war gut! Man sieht, die SPD kehrt wieder zu Sie müssen doch endlich einmal Klarheit herbei- ihren Urständen zurück. Das ist ganz interessant. führen: Wollen Sie 45 Prozent Spitzensteuersatz, wie (Otto Schily [SPD]: Das kam von der PDS!) offensichtlich Herr Poß? Wollen Sie 40 Prozent, wie vielleicht Herr Schleußer? Oder wollen Sie das erst Das erleichtert es natürlich dem Generalsekretär der am Schluß entscheiden? Sie haben einen so großen F.D.P., uns als Dreieinigkeit zu bezeichnen, und inso- internen Abstimmungsbedarf, daß Sie zunächst ei- fern war das nicht unlistig. nen solchen Antrag als Selbstbindung formulieren (Zuruf von der SPD: Marx war ein bedeu sollten, bevor Sie damit in das deutsche Parlament tender Mann!) gehen. - Frau Präsidentin, ich glaube, die Herrschaften sind (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sehr unruhig. Wir werden Ende dieses Jahres Eckpunkte für ein (Zuruf von der SPD: Sie sind ein bißchen solches Konzept vorlegen. nervös! - Weitere Zurufe von der SPD) (Zurufe von der SPD) Wir werden dann einen Referentenentwurf erarbei- So, ich denke, Vizepräsidentin Dr. : ten. Dieser geht allen Verbänden und Institutionen jetzt geht es weiter. zu. Danach gibt es einen Kabinettsentwurf, der von der Koalition vorbereitet wird. Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Danke schön, Frau Präsidentin. (Zuruf von der SPD: Das wird ein Kabinetts -stückchen!) Ich wollte eben sagen, daß der erste Satz Ihres An- trags stimmt. Ich lese vor: Danach erfolgt die Zuleitung an Bundestag und Bun- desrat. Danach gibt es eine sicher intensive Diskus- In Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Verbän- sion im Finanzausschuß mit Hearings und anderem den besteht breites Einvernehmen darüber, daß mehr. Dann gibt es die zweite und dritte Lesung im eine grundlegende Reform der Einkommensbe- Bundestag. Dann gibt es die abschließende Beratung steuerung notwendig ist. im Bundesrat. Dann können Sie dem zustimmen. Das 11792 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Bundesminister Dr. Theodor Waigel wäre schön. Wenn es dann aber noch an den Vermitt- zuschlag eingeführt und die Vermögensteuer ange- lungsausschuß geht und man mindestens ein halbes hoben, das allerdings mit unserer Unterstützung. Jahr für die Umsetzung in Steuertabellen bei den Fi- nanzämtern, bei den Steuerberatern und vor allen (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ - Dingen bei den Bürgern braucht, dann muß man ei- DIE GRÜNEN]: Alles ohne die F.D.P.!) nen realistischen Zeitplan erstellen. Dann haben Sie erneut die Versicherungssteuer Das haben wir getan. Dazu stehe ich. Sie sind völ- angehoben. Daneben haben Sie den Arbeitslosen- lig unfähig, sich an der Reform zu beteiligen. versicherungsbeitrag, den Rentenversicherungsbei- trag und die Beiträge zur Pflegeversicherung ange- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und hoben, letzteres allerdings auch wieder mit unserer der F.D.P.) Unterstützung. Ich will damit folgendes sagen: Sie haben in einer hat Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort unglaublichen Weise zwei Dinge miteinander ver- jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rudolf Schar- knüpft, nämlich permanente Erhöhung der Steuern ping. und permanente Erhöhung der Verschuldung Deutschlands. Beides haben Sie miteinander ver- Rudolf Scharping (SPD): Frau Präsidentin! Meine knüpft. sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der SPD ist absolut klar: Wir wollen eine Entlastung der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Steuerzahler zum 1. Januar 1998. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) (Beifall bei der SPD) Es ist die schlichte Heuchelei, wenn Sie hier von Mich überrascht nicht mehr, wie viele Worte der Zukunft und von künftigen Generationen reden, darum gemacht werden; denn diese Koalition, die während Sie gleichzeitig die Zukunft des Landes eine lange Tradition in der Steuererhöhung genauso und der Jugend wie keine andere Regierung in wie in der Steuerlüge hat, muß hier umfallen, insbe- Deutschland mit Steuern und anderen Hypotheken sondere die F.D.P., die ihr Umfallen wortreich und ag- finanziell belastet haben. gressiv bemäntelt. Sie wollen die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger zum 1. Januar 1998 nicht. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Das ist der Unterschied, den ich hier festhalte. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Sie sind nicht nur die Pa rtei der Steuererhöhungen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und der Steuerlügen, sondern Sie sind auch die Par- tei des regelmäßigen Umfallens. Sie haben - das Der Bundesfinanzminister hat offenbar noch nicht merkt man doch in der aktuellen Diskussion - jetzt einmal erkannt - es tut mir leid, Herr Waigel, daß ich gerade wieder als Ausflucht vor Ihrer gescheiterten Ihnen das sagen muß -, daß sich die SPD mit diesem Finanzpolitik - das hat eine Regierung doch noch nie Antrag selber in hohem Maße bindet. Daß Sie unfä- erlebt, daß die Deutsche Bundesbank selbst bekannt hig sind, ein Angebot zur wirksamen Entlastung der gibt, daß sie ihr Verschuldensziel deutlich über- Leistungsträger in Deutschland aufzugreifen, kenn- schreiten wird; darüber kann niemand glücklich zeichnet Ihre Politik; denn Sie haben in den letzten sein, und das ist für das Land und für seine Zukunft Jahren das Gegenteil getan, nämlich Leistungsträger außerordentlich bedenklich - immer stärker belastet: die Familien, die Kinder, die Arbeitnehmer, die Handwerksbetriebe und viele an- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dere. mit Blick auf den Haushalt 1997 erneut über die Mi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne neralölsteuer geredet, nach dem Motto: wir müssen ten der PDS) sie alle zwei bis drei Jahre erhöhen, aber gleichzeitig Sie sind die Koalition der Steuererhöhung und der kein Konzept zur Entlastung der Bürgerinnen und Steuerlüge. Sie haben mehrfach die Mineralölsteuer, Bürger vorgelegt - ja, für wie - - Ich muß mich wirk- die Versicherungssteuer, die Tabaksteuer und vieles lich zurückhalten. Was glauben Sie eigentlich, was andere erhöht. Noch nie habe ich eine Koalition und Sie den Leuten noch alles einschenken können? Politikerinnen und Politiker erlebt, die so unver- Erst haben Sie gesagt: Wir schaffen die Vermögen- schämt abseits der Realität argumentieren, wie Sie steuer ab und lassen die Familien bezahlen. Jetzt das heute vorgeführt haben. kommen Sie und sagen: Wir schaffen die Vermögen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ steuer ab und lassen die Autofahrer bezahlen. Viel- DIE GRÜNEN) leicht kommen Sie irgendwann einmal auf die Idee, daß die Interessen der Mehrheit des deutschen Vol- Sie täuschen über die Realitäten hinweg. Ich rufe kes wichtiger sind als die Interessen von etwa einer Ihnen noch einmal ins Gedächtnis: 1991 wurden die Million Millionären in Deutschland. Das sollten Sie Mineralölsteuer, die Kraftfahrzeugsteuer und die allmählich einmal zu verstehen beginnen. Versicherungssteuer erhöht, 1992 die Tabaksteuer, 1993 die Mehrwertsteuer und die Versicherungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- steuer, 1994 erneut die Mineralölsteuer und die ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Kraftfahrzeugsteuer. 1995 haben Sie den Solidaritäts und der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11793

Rudolf Scharping Wir wollen ein gerechtes und einfaches Steuersy- Folglich sagen wir: Es wird von Ihnen, von Ihrem stem, wir wollen den Abbau der Steuersätze, und wir Mut und Ihrer Konsequenz, abhängen, ob der Spit- wollen das Verschwinden der Steuerschlupflöcher. zensteuersatz bei 40 Prozent, bei 42 Prozent oder wo Wir haben Ihnen in unserem Antrag - freundlich, wie auch immer liegt; das ist uns nicht so wichtig. Wenn wir sind - keine Einzelheiten serviert, damit Sie ein- es Ihnen wichtig ist, kommen Sie hierher und haben - mal Ihre Vorstellungen vorlegen können, und zwar Sie den bescheidenen Mut, zu sagen, welche Steuer- so, daß der Deutsche Bundestag sie, wenn er sie vergünstigungen Sie abbauen wollen. Dann sagen denn akzeptiert, zum 1. Januar in Kraft setzen kann. wir Ihnen, welcher Spitzensteuersatz sich daraus er- gibt. Dennoch will ich Ihnen sagen: Unsere erste Priori- tät ist die Entlastung der Normalverdiener, die Ent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- lastung der Leistungsträger. Unsere erste Priorität ist ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) also die Absenkung des Eingangssteuersatzes. Das alles tun wir in einem Land, in dem die volks- (Beifall bei der SPD) wirtschaftliche Steuerquote so niedrig ist wie selten. Wir sehen mit großem Interesse, daß sich andere jetzt Das tun wir in einem Land, in dem die Unterneh- auf diesen Kurs zubewegen. menssteuerbelastung, real betrachtet, so niedrig ist wie selten. Das tun wir in einem Land, in dem es ein (Lachen bei der F.D.P.) krasses Mißverhältnis zwischen der Besteuerung des Arbeitseinkommens und seiner Belastung mit Sozial- Unsere zweite Priorität ist der Abbau von Steuer- abgaben einerseits und der Besteuerung anderer schlupflöchern, weil es nicht so sein kann, daß der Einkommen gibt. Normalverdiener 46 Prozent Steuern und Abgaben zahlt, während die Steuern für besonders hohe Ver- Da Sie gesagt haben, wir wollten keine Nettoentla- dienste bei durchschnittlich 32 Prozent aufhören. stung: Von Napoleon ist der Satz, der da lautet, Ge- Also wollen wir ein gerechtes, einfaches und wi rt schichtsschreibung sei die Verständigung der Mehr- -schaftlich vernünftiges Steuersystem, das den - wie heit auf gemeinsame Lügen. Insofern ist die Fachleute sagen - linear-progressiven Tarif, also ein Historiker und die F.D.P. eine Partei, die der histo- die Besteuerung nach Leistungsfähigkeit, ein- rischen Wahrheit verpflichtet ist. schließt. Ich registriere, daß - Uldall und manchen anderen zum Trotz - zwischen der SPD und der Bun- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf desregierung in dieser Frage Einverständnis herge- Kutzmutz [PDS]) stellt werden könnte; denn Sie selbst haben den li- Wir haben Ihnen eine Entlastung bei den Arbeits- near-progressiven Tarif in Ihrem sogenannten Pro- kosten für die Unternehmen um netto 10 bis gramm für mehr Wachstum und Beschäftigung zwei- 12 Milliarden DM vorgeschlagen. Sie sind nicht dar- mal positiv als Ihr eigenes Ziel erwähnt. auf eingegangen. Sie haben jedes Angebot der SPD Drittens sagen wir: Wir wollen ein rabiates, klares zurückgewiesen, in der Steuerpolitik endlich dafür und gründliches Durchforsten der Steuervergünsti- zu sorgen, daß Menschen entlastet werden, Fami lien gungen und -subventionen. Dabei kann dann auch und Kinder gefördert werden, die Leistungsträger der Spitzensteuersatz sinken. entlastet werden. Jetzt will ich Ihnen sagen, worin die Schwierigkeit Ihr Ziel ist einfach: Sie behaupten, Sie wollten die besteht, einen konkreten Spitzensteuersatz zu nen- Leistung fördern, haben aber nur die besonders ho- nen. Bei der Beratung des Jahressteuergesetzes 1996 hen Einkommen im Kopf. Sie behaupten, Sie verträ- hatten wir Ihnen einen Abbau von Steuervergünsti- ten die Eliten. Allerdings kann ich nicht verstehen, gungen und -subventionen in der Größenordnung was daran Elite sein soll, daß man in Deutschland von 14,5 Milliarden DM vorgeschlagen. In der ersten gute Schulen und eine funktionierende Infrastruktur Runde des Vermittlungsverfahrens hatten Sie sich verlangt, in Bayern Golf spielen wi ll und seine Fir- auf die ungeheure Summe von 165 Millionen DM mensitze ins Ausland verlagert, seine Konten gleich eingelassen. Dann haben Sie sich mit uns in weiteren mit. Diese Art von christlich-demokratischer Politik langen Verfahren mühsam auf die eigentlich eher schlägt ihren eigenen Ansprüchen ins Gesicht. klägliche Summe von 4,5 Milliarden DM verständigt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner Sie verlangen von uns eine Prognose über Ihre Feig- Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heit beim Abbau von Steuersubventionen und Steu- NEN] und des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS] - ervergünstigungen! Das ist ein bißchen viel verlangt. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Deswegen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Steuern senken, Herr Scharping!) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) - Wissen Sie, Herr Westerwelle, dann kommen Sie Denn unsere Erfahrung ist, daß Sie zwar immer von immer noch mit dem lügnerischen Argument der Subventionsabbau reden, aber Sie sofort der Mut Vermögensteuer. Ich will Ihnen einmal sagen, wo in verläßt - Sie bekommen regelrecht Fracksausen und Europa sie erhoben wird: in Dänemark, in Deutsch- knicken völlig ein -, sobald es an Ihre eigene Klientel land, in Finnland, in Frankreich, in Luxemburg, in geht. den Niederlanden, in Schweden, in der Schweiz und in Spanien - Die organisierte Feigheit der Koalition beim Abbau von Steuervergünstigungen und -subventionen ha- (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Auch in ben wir in der Vergangenheit mehrfach erfahren. Mexiko!) 11794 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Rudolf Scharping ausweislich des Informationsblattes der Bundesregie- ments schlicht anders reden, als Sie in dieser Bezie- rung vom 30. Juli 1996. hung handeln. Wenn man einmal Ihre Politik und Ihre Ankündi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- gungen betrachtet, dann muß man sagen: Sie kön- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) - nen nicht mehr beanspruchen, ernstgenommen zu Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird werden. sich daran nicht beteiligen. Wir erwarten, daß Sie (Beifall bei der SPD) Ihre Vorschläge vorlegen, egal, wie über den Antrag abgestimmt wird. Wir haben ein klares Ziel: Entla- Da sagt Herr Solms in der „Welt" am 30. Juli, die stung der Bürgerinnen und Bürger, Entlastung der stufenweise Einführung der Reform sei eine Frage Leistungsträger, Entlastung der Familien mit Kin- des politisches Willens. Natürlich sei das 1998 zu dern; weg von dem verhängnisvollen Kurs, der insbe- schaffen. - Herr Solms sagt kurz darauf: Wir sind sondere in den letzten fünf Jahren zur höchsten Steu- nicht umgefallen. Vielleicht könnte man 1998 dann erbelastung, zum höchsten Schuldenstand und leider einsteigen. auch zur höchsten Arbeitslosigkeit geführt hat. Das ist Ihre Verantwortung, niemandes anderen Verant- Herr Teufel sagt: Steuerreform so schnell wie mög- wortung. lich, wenn es geht, schon 1998! - Herr Möllemann sagt: Die Steuerreform ist angesichts der desolaten (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD - Wirtschaftslage noch dringlicher. - Ich verzichte dar- Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf, alle Äußerungen vorzulesen; sie sind Legion. sowie bei Abgeordneten der PDS)

Einer hat gesagt: Die Vorstellung, man könne mit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der Reform bis 1999 warten, geht an der Realität des jetzt der Abgeordnete F riedrich Merz. Arbeitsmarktes vorbei. Jetzt stellt sich derselbe Mann, der dies gesagt hat, unter Beschimpfung sei- ner politischen Kontrahenten hier hin und sagt das Friedrich Merz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! genaue Gegenteil von dem, was er wortwörtlich in Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD- einem Interview gesagt hat. Bundestagsfraktion und ihr Vorsitzender verlangen von uns die Reform der Einkommensteuer zum (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Sie haben 1. Januar 1998 und - Herr Scharping, ich zitiere Sie - gar nicht zugehört!) eine Entlastung der Steuerzahler zum 1. Januar 1998. Sie beklagen die steuerliche Belastung der Lei- Sie belügen und täuschen die Leute! stungsträger. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Scharping, meine Damen und Herren, Sie DIE GRÜNEN - Dr. Guido Westerwelle können eine Entlastung der Leistungsträger und eine [F.D.P.]: Sie bekommen schon stehende Steuersenkung bereits zum 1. Januar 1997 haben. Ovationen!) Stimmen Sie der Abschaffung der Gewerbekapital- steuer und der Vermögensteuer zu! Ihr ganzes wortreiches Gerede kann an einem nicht vorbeiführen: Sie werden heute erneut umfallen. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - bemänteln das wortreich, machen das im Zweifel Lachen bei der SPD - Detlev von Larcher noch lautstärker als ich in der letzten Passage und [SPD]: Das war eine schöne Antwort!) verbinden das mit allerlei Ang riffen, die von zwei Nun habe ich mit dieser Reaktion der Kolleginnen Dingen nicht ablenken können: Sie haben die Steu- und Kollegen der SPD natürlich gerechnet. Wir spre- ern immer erhöht, anstatt sie zu senken. chen hier über einen Antrag, der sich mit der Ein- (Zuruf von der SPD: Immer! - Weitere kommensteuerreform und dem Zeitpunkt ihres In- Zurufe von der SPD) kraftsetzens befaßt. Lassen Sie mich aus der Begrün- dung zitieren. Sie schreiben in der Begründung: Sie haben immer davon geredet, Sie wollten die In Politik, Wissenschaft, Wi rtschaft und Verbän- Steuern senken; noch nie waren sie so hoch in den besteht breites Einvernehmen darüber, daß Deutschland wie jetzt. Sie haben immer die Lei- eine grundlegende Reform der Einkommensbe- stungsträger belastet, anstatt sie zu entlasten. Sie ha- steuerung notwendig ist. ben immer unsere Zukunft belastet, anstatt eine neue Zukunft zu öffnen. Das stimmt. Aber in der Wissenschaft, in der Wi rt -schaft und in den Verbänden besteht breites Einver- Diese Debatte hat mir eines gezeigt: Auch der ein- nehmen auch darüber, daß die Gewerbekapital- fachste und klarste Antrag mit dem Ziel, Sie selbst zu steuer und die Vermögensteuer abgeschafft werden verpflichten, Ihre eigenen Vorstellungen umzuset- müssen. Dafür sind auch wir. zen, hat im Deutschen Bundestag keine Chance, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Dr. Peter Struck [SPD]: So ist das!) und der F.D.P.) weil Sie in der Öffentlichkeit, in Interviews und auf In dieser Debatte spielt - wie immer - die Zahl der Veranstaltungen, zum Schaden Ihrer Glaubwürdig Millionäre in Deutschland eine Rolle. Sie hat ja auch keit und, wie ich fürchte, der des gesamten Parla bei den Äußerungen des Hamburger Bürgermeisters Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11795

Friedrich Merz und bei seiner Klage darüber eine Rolle gespielt, daß pitalsteuer einen vernünftigen Ausgleich - wie der die Millionäre in Deutschland angeblich keine Steu- Bundesfinanzminister immer gesagt hat: einen vollen ern mehr bezahlen. Das ist ihm mehrfach widerlegt und fairen Ausgleich - zu garantieren, hat nichts da- worden. Ich finde es in der Debatte, die wir hier füh- mit zu tun, daß uns beratungsfähige Unterlagen feh- ren, schon etwas merkwürdig, daß wir immer wieder len und daß wir diese nicht vorgelegt bekommen ha- - hören, man solle die Schlupflöcher zumachen. Als ei- ben. nes dieser Schlupflöcher werden dann zuallererst die Der Bundestag und nicht nur der Finanzausschuß Schiffsbeteiligungen aufgezählt. Derselbe Hambur- sollte wissen, daß alle Länder dem Bundesfinanzmi- ger Bürgermeister, der will, daß die Millionäre auch nister bis zum heutigen Tag das notwendige statisti- wirklich besteuert werden, schreibt uns zu dem Zeit- sche Material vorenthalten, damit wir nicht wissen, punkt, als es einen Vorschlag gibt, die Schiffsbeteili- wie hoch die Umsatzsteuer in den einzelnen Kommu- gungen abzuschaffen, einen Brief mit dem Inhalt, wir sollten das doch bitte sein lassen. So geht es nicht; so nen ist, wie hoch die Gewerbekapitalsteueraufkom- men sind und welche Volumina ausgeglichen wer- können wir in Deutschland Steuerpolitik nicht ma- den müssen. Es gibt in der Verfassung den Grund- chen. satz des bundestreuen Verhaltens. Ich stelle fest: Die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Länder verletzen diesen Grundsatz permanent. Ich höre jetzt gerade - ich nehme den Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kröning ausdrücklich aus; er bemüht sich um eine vernünftige Übergangslösung -, daß es im Wi rt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, -schaftsausschuß des Bundestages gestern einen gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen schriftlichen Antrag der SPD gegeben hat, genau auf Schwanhold? diese Abschreibungsbedingungen nicht zu verzich- ten, sondern sie aufrechtzuerhalten. Meine Damen und Herren von der SPD, was wollen Sie eigentlich? Friedrich Merz (CDU/CSU): Nein, ich möchte Wollen Sie Stimmung in Deutschland machen oder keine Zwischenfragen zulassen. eine vernünftige Steuerpolitik? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Überhaupt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) keine, auch nicht die des Kollegen von Larcher? Wir haben ja gelernt, daß alles mit allem zusam- menhängt. Deswegen will ich nicht nur über das Da- Friedrich Merz (CDU/CSU): Nein. tum des Inkrafttretens der großen Steuerreform - ich komme darauf noch -, sondern auch zu dem Beitrag (Detlev von Larcher [SPD]: Er läßt keine des Kollegen Poß etwas sagen. Fragen zu!) Herr Poß, tun Sie uns und auch sich doch endlich - Herr Kollege von Larcher, durch Lautstärke wird den Gefallen, damit aufzuhören, mit den statisti- das, was Sie sagen, nicht richtig. schen Größen der Lohnsteuer, der Einkommensteuer Ich stelle fest - ich darf das für die CDU/CSU-Frak- und der Körperschaftsteuer nachzuweisen, daß es tion und, ich denke, auch für die F.D.P. tun -: Im No- eine immer größere Belastung der unteren Einkom- vember wird spätestens in der dritten Sitzungswoche men und eine immer größere Entlastung der oberen eine beschlußreife Vorlage vorliegen, die genau das Einkommen gibt, wie Sie das behaupten. Denn diese zum Inhalt hat, was wir den Gemeinden immer zuge- Statistik ist zu einem solchen Nachweis nicht in der sagt haben, nämlich einen vollen und fairen Aus- Lage. gleich für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer. Ich will nur darauf hinweisen: Alle Beamten, selbst Wir werden konkrete Vorschläge für eine Änderung die Mitglieder der Bundesregierung, zahlen Lohn- der Verfassung vorlegen, die wir mit Ihnen bereits steuer. Der Geschäftsführer einer GmbH, die Vor- besprochen haben. stände der Aktiengesellschaften zahlen Lohnsteuer. Dann kommt die Stunde der Wahrheit. Dann wer- (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Rich den wir im Ausschuß darüber abstimmen und fest- stellen, ob Sie uns auf diesem Weg tatsächlich folgen, -tig!) die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen und den Ge- Deswegen können Sie mit einer solchen Statistik meinden eine Beteiligung an der Umsatzsteuer ein- nicht nachweisen, daß es eine immer größere Bela- zuräumen. Sie werden Gelegenheit dazu haben, dies stung der unteren Einkommen und eine Entlastung aktenkundig zu machen. der oberen gibt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Ich möchte noch etwas zum Thema Gewerbesteuer und der F.D.P.) sagen. Es ist aufschlußreich, wie Sie mit diesem Thema umgegangen sind. Ich bin offen genug, zuzu- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu dem geben, daß auch mir der Ablauf der Beratungen Thema der großen Einkommen - und Körperschaft nicht gefällt; das habe ich im Ausschuß mehrfach steuerreform kommen. Ich möchte in Erinnerung zum Ausdruck gebracht. Aber da müssen wir schon rufen, daß in Ihren, auch in unseren Reihen - auch mal nach den Ursachen fragen. ich selber habe dazugehört - die Auffassung ver- treten worden ist, eine solche große Reform könne Daß wir bis zum heutigen Tag Schwierigkeiten ha- man seriöserweise eigentlich erst zum 1. Januar 2000 ben, den Kommunen beim Wegfall der Gewerbeka machen. Das war bis in das Jahr 1996 hinein auch 11796 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Friedrich Merz meine Überzeugung. Ich habe entsprechende Stim- steuerlichen Existenzminimums überhaupt keine men mehrfach auch aus der SPD gehört; sie sind Steuern mehr bezahlen. auch publiziert worden. (Beifall bei der CDU/CSU - Ing rid Mat- Wir haben uns auf Grund des engen Zeitplans, den thäus-Maier [SPD]: Das zeigt, wie wenig sie wir uns mit gutem Grund selbst gesetzt haben, aber verdienen!) auf den 1. Januar 1999 festgelegt. Zu diesem Zeit- Es sind, meine Damen und Herren, 30 Prozent der punkt wird die Reform kommen. Der Bundesfinanz- Arbeitnehmerhaushalte in Deutschland, die auf minister hat den Zeitplan dargelegt. Grund der Entscheidungen des letzten Jahres ab (Joachim Poß [SPD]: Da wird jedes Projekt 1996 keine Steuern mehr bezahlen. In diesen Haus- zerredet!) halten ist nichts mehr zu entlasten. Deswegen steht für uns die große Steuerreform un- - Nein, Herr Kollege Poß. ter der Überschrift: eine Steuerreform für mehr Inve- Ich möchte nur darauf hinweisen: Der Ausschuß stitionen, für wirtschaftliches Wachstum und für hat heute einen B rief der Deutschen Steuer-Gewerk- mehr Arbeitsplätze in Deutschland. schaft bekommen, der nicht ganz zu Unrecht zitiert, Das bedeutet im Klartext: Wir brauchen eine daß wir uns erneut in einem ziemlich hektischen Ge- Steuerpolitik, die die Kapitalflucht aus Deutschland setzgebungsverfahren mit dem Jahressteuergesetz - nicht die illegale, sondern die legale Kapitalflucht 1997 befinden. aus Deutschland - stoppt, die diesen Trend umkehrt, die es in Deutschland wieder attraktiv macht, zu in- (Detlev von Larcher [SPD]: Weil Sie das vestieren, und die es in Deutschland wieder attraktiv nicht rechtzeitig vorgelegt haben!) macht, neue Arbeitsplätze zu schaffen. - Entschuldigung, regen Sie sich mal nicht so auf. Wenn es hier auch um Sozialpolitik geht, dann Das, was in diesem Brief steht, ist nicht ganz falsch; sage ich Ihnen: Die beste Sozialpolitik ist eine Fi- aber es ist allzumal richtig, wenn man eine große Re- nanz- und Wirtschaftspolitik, die die Schaffung form will, für die die Bürger, die steuerberatenden neuer Arbeitsplätze in Deutschland ermöglicht. Berufe und auch die Finanzverwaltung mindestens ein halbes Jahr Zeit der Vorbereitung und der Um- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - stellung brauchen. Deswegen ist Ihr Vorschlag unse- Zuruf von der SPD: Dann machen Sie es riös. Er ist im Grunde parteipolitisch motivierte Stim- doch! - Detlev von Larcher [SPD]: Seit mungsmache. 14 Jahren machen Sie das Gegenteil!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) - Daß Sie an dieser Stelle so laut aufschreien, zeigt, daß wir offensichtlich - und deswegen ist die Debatte Am 1. Januar 1999 wird es eine große Einkommen- heute gut - mit völlig unterschiedlichen Vorstellun- und Körperschaftsteuerreform geben. Es wird sie al- gen schon am Beginn der Reformdebatte in dieses lerdings nicht so geben, Herr Kollege Poß, wie Sie Thema einsteigen und daß das Thema Arbeitsplätze das hier vorgeschlagen haben. Ich will die Wo rte, die offensichtlich für Sie in diesem Zusammenhang über- Sie verwendet haben, in Erinnerung rufen. haupt keine Rolle mehr spielt. Sie sagen, Steuerrecht sei auch Gerechtigkeits- (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist doch recht und damit werde auch Gesellschaftspolitik ge- Quatsch! Erzählen Sie doch nicht dauernd macht. Das mag zum Teil stimmen. In erster Linie Unwahrheiten!) gibt es einen steuerrechtlichen Grundsatz, der lautet: Deswegen sage ich Ihnen, diese Steuerreform steht Steuern sind dazu da, den allgemeinen Finanzbedarf im Dienste von Investitionen und Arbeitsplätzen in des Staates zu decken und die Steuerbürger nach Deutschland. Ob wir in der Lage sind, den Standort dem Prinzip der individuellen Leistungsfähigkeit zu Deutschland für die Zukunft fit zu machen, und ob dieser Finanzbedarfsdeckung heranzuziehen. wir in der Lage sind, das hier gemeinsam formulierte Wenn Sie vorhaben, mit dieser großen Einkom- Ziel, die Arbeitslosigkeit in Deutschland bis zum men- und Körperschaftsteuerreform allein unter dem Jahre 2000 zu halbieren, wird sich auch an dem Re- Aspekt der Steuerverteilungsgerechtigkeit und der formwillen in der großen Steuerreform dokumentie- Steuerbelastungsgerechtigkeit Steuerpolitik zu ma- ren. Die CDU/CSU-Fraktion ist zu dieser Reform be- chen, dann werden wir Ihnen auf diesem Weg nicht reit. folgen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) Ich will Ihnen sagen, warum: Sie bauen schon heute die Hürden auf, die diese Steuerreform zum Scheitern verurteilt sein lassen. Wenn Sie nämlich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln, man tervention erhält das Wort der Kollege Schwanhold. müsse insbesondere die kleinen und mittleren Ein- kommen entlasten, dann verschweigen Sie dabei, Ernst Schwanhold (SPD): Herr Kollege Merz, es ist daß bereits das untere Drittel der Arbeitnehmer in völlig richtig, daß wir gestern im Wirtschaftsausschuß Deutschland auf Grund der hohen Anhebung des eine Debatte darüber geführt haben, wie die Stand- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11797

Ernst Schwanhold orte der maritimen Wirtschaft erhalten werden kön- Schiffbruch; es droht zu kentern. - Bei unvoreinge- nen und wie insbesondere in Bremen, Bremerhaven nommenem Denken dürfte diese Binsenweisheit ei- und in Ostdeutschland, in Mecklenburg-Vorpom- gentlich keine Diskussion auslösen. Diese Einsicht mern eine Sicherheit hergestellt werden kann, daß drängt sich mir auf, wenn ich mir die gegenwärtige Arbeitsplätze in den betroffenen Bet rieben in die Zu- Situation bei der SPD ansehe: fehlender Sparwillen, - kunft hineingeführt werden, weil die ma ritime Wirt immer mehr Anspruchsdenken bei der Steuerpolitik -schaft eine Zukunftswirtschaft ist. Dies ist richtig. und jetzt dem Inkraftsetzungstermin der großen Steuerreform. Im Zusammenhang mit dem Jahressteuerpaket hat es einen Antrag gegeben, der als SPD-Antrag dekla- Es ist schon erstaunlich, welche Krokodilstränen riert war; aber letzten Endes verbarg sich dahinter von der SPD vergossen werden, wenn einerseits die Formulierungshilfe, die der Kollege Kröning er- großzügig Geld verteilt wird, das gar nicht vorhan- beten hatte. Darüber ist diese Debatte geführt wor- den ist, andererseits die notwendigen Überlegungen den. Wir haben als Sozialdemokraten ausdrücklich zum Finanzausgleich angegriffen werden, wenn ei- darauf hingewiesen, daß wir keine Abstimmung zu nerseits Reformen vorliegen, andererseits Crashkurs diesem Teil wünschten, sondern wir wollten nur die mit Polemik gefahren wird. Debatte, welche Zukunftsperspektiven sich daraus ergeben. - Wenn Sie sich in Zukunft informieren, Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie leicht bitte ich Sie sehr herzlich, sich richtig zu informieren. Ihnen, Herr Scharping, das Wort „Lüge" so über die Lippen geht. Ich will nur darauf hinweisen: Das Interesse, Ar- beitsplätze in der maritimen Wirtschaft zu erhalten, (Horst Kubatschka [SPD]: Das war aber sollte uns verbinden und nicht trennen. Darum zu richtig!) ringen ist die richtige Aufgabe dieses Parlaments, Ich führe das auf Ihre gespaltene Persönlichkeit zu- weil da Tausende von Arbeitnehmerinnen und Ar- rück. beitnehmern mit ihren Familien betroffen sind. (Zurufe von der SPD: Oh! - Wilhelm (Beifall bei der SPD) Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das muß ja wohl nicht sein!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zur Ich weise diese Vorwürfe, die Sie immer wieder erhe- Antwort hat der Kollege Merz. ben, hier mit Nachdruck zurück. (Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Kollege Schwan- Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Diese Schlamm- hold, ich habe mit meinem Beitrag nur feststellen schlacht sollten Sie langsam einmal lassen!) wollen, daß Sie uns zwar der Theo rie nach folgen, wenn wir über die Abschaffung von Steuervergünsti- gungen und Steuerprivilegien reden. Aber wenn es Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich bitte Sie, praktisch wird, ist von der SPD-Bundestagsfraktion Ihre Rede einen Moment zu unterbrechen. Ich nicht mehr viel zu sehen, dann soll alles beim alten glaube, daß der Vorwurf einer gespaltenen Persön- bleiben. lichkeit auf eine Person bezogen ist und deshalb von mir gerügt werden muß. Das möchte ich damit tun. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist das! - Joachim Poß [SPD]: Deswegen wei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten Sie das Dienstmädchenprivileg aus?) Mit dieser Arbeitsmethode werden wir eine große Hans Michelbach (CDU/CSU): Wenn Sie über un- Steuerreform nicht umsetzen können. sere Finanzpolitik in dieser Form reden, dann muß ich Ihnen entgegenstellen: Wie gering ist die Inflati- Im übrigen erlaube ich mir die Feststellung, daß onsrate, wie gering sind die Zinsen! Das ist eine wir - wenigstens im Finanzausschuß - in den letzten Finanzpolitik der Stabilität und letzten Endes die be- Wochen gelernt haben, daß die Beteiligungen für ste Sozialpolitik für unsere Bürger. Das sollten Sie Schiffsbauten offensichtlich nicht mehr zugunsten trotz der Herausforderungen, die vor uns stehen, ein- deutscher Weilten gehen, sondern zugunsten von mal in Ihre Überlegungen einbinden. Wir brauchen Schiffen, die in Korea gebaut werden. Wir sind der jetzt Einsparungen und steuerliche Anreize für mehr Auffassung, daß der deutsche Steuerzahler nicht mit Investitionen und Arbeitsplätze. Steuersubventionen den Schiffbau in Korea unter- stützen muß, und dabei bleibt es. Deshalb muß es zunächst heißen, mit dem Jahres- steuergesetz 1997 einen erfolgreichen Kurs zu neh- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) men für mehr Wachstum und Beschäftigung. Weg mit der Arbeitsplatzvernichtung durch Substanz- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat und Doppelbesteuerung! Anschließend gilt es, mit ei- jetzt der Abgeordnete Hans Michelbach. ner Einkommensteuerreform für das 21. Jahrhundert ein schlankes und dynamisches Steuerschiff mit Kurs auf die Zukunft zu nehmen. Hans Michelbach (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unsere große Reform an Haupt und viel zu vielen Lassen Sie mich zum Abschluß dieser Debatte ein Fa- Gliedern unseres Ertragsteuersystems wird bewir- zit ziehen: Jedem Schiff, das überladen wird, droht ken: eine spürbare steuerliche Entlastung für alle, 11798 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Hans Michelbach einen entscheidenden Impuls für die Stärkung von Bundesländern eingeführt werden muß. Lassen Sie Leistungswillen und Leistungsfähigkeit. es nicht zu, daß die Gemeindefinanzreform nicht kommt. Lassen Sie uns gemeinsam, auch aus der Die Union wird mit dem Jahressteuergesetz 1997 Mitverantwortung heraus, die Sie über den Bundes- und mit der großen Steuerreform das Steuerschiff rat haben, eine konstruktive Steuerpolitik betreiben. - zielgenau auf den richtigen Kurs zugunsten von Das ist jetzt die Aufgabe, meine Damen und Herren. Wachstum und Beschäftigung bringen. Ich lade Sie dazu herzlich ein und nicht zur Blok- (Beifall bei der CDU/CSU) kade. Dagegen hat das steuerpolitische U-Boot SPD an- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) scheinend völlig die Orientierung verloren. Niemand bei der SPD erkennt einen klaren Steuerkurs. Irr- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- wege zeigen sich in Theorien steuerpolitischen Klas- mit die Aussprache. senkampfes gegen Leistungswillige, in ewiger Um- verteilung zu Lasten neuer Arbeitsplätze. Wir brau- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf chen weniger Umverteiler, wir brauchen mehr Unter- Drucksache 13/5510 an die in der Tagesordnung auf- nehmungsgeist. Wir brauchen Freiraum für Lei- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit stungswillige, den Sie uns im Jahressteuergesetz einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Über- 1997 verweigern. Das ist Fakt. weisung so beschlossen.

Dagegen ist unser Steuerschiff ständigen Torpe- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22a bis 22h auf: doangriffen vom ziellos umherirrenden Steuer-U- Boot SPD aus dem Hinterhalt ausgesetzt. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der (Joachim Poß [SPD]: Sie sind ja nicht einmal Änderung vom 18. Mai 1995 des Übereinkom- in der Lage, ein Paddelboot zu führen!) mens zur Gründung der Europäischen Fern- Wer gerade jetzt die Gewerbekapitalsteuer in den meldesatellitenorganisation „EUTELSAT" neuen Bundesländern einführt und damit noch ei- - Drucksache 13/5716 — genkapitalschwache Bet riebe überfordern will, dem Überweisungsvorschlag: sind entweder die Arbeitslosen egal, oder er fährt mit Ausschuß für Post und Telekommunikation der Parteitaktik einen Crashkurs. b) Erste Beratung des von der Bundesregierung Wer gerade jetzt die Gemeindefinanzreform mit eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der der Beteiligung an der Umsatzsteuer blockiert, Änderung vom 31. August 1995 des Überein- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die blok kommens über die Internationale Fernmelde- kieren Sie, weil Sie keine konkreten Vor satellitenorganisation „INTELSAT" schläge auf den Tisch legen!) - Drucksache 13/5719 — dem sind entweder die Verbesserung der Kommunal- Überweisungsvorschlag: finanzen und die Investitionsquote egal, oder er fährt Ausschuß für Post und Telekommunikation aus Parteitaktik einen Crashkurs. c) Erste Beratung des von der Bundesregierung Wer gerade jetzt die Abschaffung der Vermögen- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu steuer zum Verhetzungspotential erhebt, dem sind dem Abkommen vom 15. November 1995 zwi- neue Investitionen und Arbeitsplätze egal, oder er schen der Bundesrepublik Deutschland und fährt aus Parteitaktik einen Crashkurs. der Republik Namibia über den Luftverkehr Meine Damen und Herren, so ist auch der heutige - Drucksache 13/5717 — Terminantrag der SPD zu sehen, zu dem ein eigener Überweisungsvorschlag: und sachbezogener Steuerkurs der SPD fehlt. Ausschuß für Verkehr (federführend) Finanzausschuß Für die Union ist Solidität der großen Steuerreform unerläßlich. Solidität hat auch eine zeitliche Dimen- d) Erste Beratung des von der Bundesregierung sion. Deswegen werden wir alle Vorschläge der Steu- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur erkommission, alle Vorschläge, die von den Verbän- Revision des Übereinkommens vom 20. März den kommen, alle Diskussionen mit den Bürgern auf- 1958 über die Annahme einheitlicher Bedin- nehmen und diese Dimension dann zu einem Erfolg gungen für die Genehmigung der Ausrü- im Jahr 1999 führen. stungsgegenstände und Teile von Kraftfahr- zeugen und über die gegenseitige Anerken- Jeder Bürger wird 1998 deutlich sehen, welche nung der Genehmigung Dinge in dieser Steuerreform geregelt werden und was sie letzten Endes bewirken. Wir brauchen für - Drucksache 13/5718 — mehr Wachstum und Beschäftigung zunächst den Überweisungsvorschlag: Freiraum bei den Substanzsteuern. Ausschuß für Verkehr Lassen Sie uns also den Blick nach vorne richten, e) Erste Beratung des von der Bundesregierung gerne auch gemeinsam mit der SPD. Ich bitte Sie: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Halten Sie Ihre Blockade zurück. Lassen Sie es jetzt dem Vertrag vom 12. Dezember 1995 zwi- nicht zu, daß die Gewerbekapitalsteuer in den neuen schen der Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11799

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer der Tschechischen Republik über die Zusam- Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ menarbeit auf dem Gebiet der Wasserwirt- 5804, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. schaft an den Grenzgewässern Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthal- - Drucksache 13/5720 — tungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- - Überweisungsvorschlag: ratung mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit nommen worden. f) Erste Beratung des von der Bundesregierung Dritte Beratung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Anhangs I des Zusatzproto- und Schlußabstimmung: Ich bitte diejenigen, die kolls I zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- von 1949 ben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist wiederum mit den Stimmen des gan- - Drucksache 13/5738 — zen Hauses angenommen worden. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß Tagesordnungspunkt 23 b: g) Erste Beratung des von der Bundesregierung Zweite und dritte Beratung des von der Bun- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu desregierung eingebrachten Entwurfs eines dem Vertragswerk vom 17. Dezember 1994 Gesetzes zur Änderung des Zustimmungsge- über die Energiecharta setzes zum Wismut-Vertrag - Drucksache 13/5742 — - Drucksache 13/4789 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft (federführend) (Erste Beratung 110. Sitzung) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- h) Erste Beratung des von der Bundesregierung schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP - Drucksache 13/5765 - Sondervermögens für das Jahr 1997 (ERP Berichterstattung: Wirtschaftsplangesetz 1997) Abgeordnete Sabine Kaspereit - Drucksache 13/5741 — Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Druck- Überweisungsvorschlag: sache 13/5765, den Gesetzentwurf unverändert an- Ausschuß für Wirtschaft (federführend) zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Ent- Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthal- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse tung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen wor- zu überweisen. - Sie sind damit einverstanden. Dann den. sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunk- ten 23a bis 23n sowie Zusatzpunkt 1. Es handelt sich dritten Beratung um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die keine Aussprache vorgesehen ist. dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Zunächst Tagesordnungspunkt 23 a: Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis Zweite und dritte Beratung des von den Frak- wie bei der zweiten Beratung angenommen worden. tionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Tagesordnungspunkt 23 c: des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfi- nanzhofs Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- - Drucksache 13/5585 - schuß) zu dem Antrag der Abgeordneten An- tje Hermenau, Kristin Heyne, Oswald Metz- (Erste Beratung 125. Sitzung) ger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausschusses (6. Ausschuß) Mögliche zweckwidrige Verwendung von - Drucksache 13/5804 - Steuergeldern durch die Förderung eines Be- rufsbildungsprojektes in Montevideo (Uru- Berichterstattung: guay) Abgeordnete Dr. Karl Fell Dr. Herta Däubler-Gmelin - Drucksachen 13/5008, 13/5659 - 11800 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Berichterstattung: Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegen- Abgeordnete Dr. Emil Schnell probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung Michael von Schmude ist vom ganzen Haus einstimmig angenommen wor- Antje Hermenau den. Jürgen Koppelin Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 g auf: Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksa- che 13/5008 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- schlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der richtung durch die Bundesregierung Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stim- Haushaltsführung 1996; men von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenom- Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 men worden. Titel 682 04 - Von der EU nicht übernommene Marktordnungsausgaben - bis zur Höhe von Tagesordnungspunkte 23 d und 23 e: 34 174 000 DM d) Beratung der Beschlußempfehlung und des - Drucksachen 13/4804, 13/4906 Nr. 4, 13/ Berichts des Ausschusses für Wi rtschaft 5763 - (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundes- regierung Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb Aufhebbare Neunundachtzigste Verordnung Jürgen Koppelin zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL Ilse Janz zur Außenwirtschaftsverordnung - Kristin Heyne Drucksachen 13/5228, 13/5550 Nr. - 2.1, 13/ Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegen- 5764 - probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist von allen Mitgliedern des Hauses bei Enthaltung Berichterstattung: von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Abgeordneter Uwe Hiksch e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Tagesordnungspunkt 23 h: Berichts des Ausschusses für Wirtschaft Beratung der Beschlußempfehlung des (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundes- Rechtsausschusses (6. Ausschuß) regierung Übersicht 6 Aufhebbare Einhunderteinunddreißigste Ver- über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- ordnung zur Änderung der Einfuhrliste - An- ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- lage zum Außenwirtschaftsgesetz - gericht Drucksachen 13/5229, 13/5550 Nr. - 2.2, 13/ - Drucksache 13/5762 - 5766 - Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann Abgeordneter Rolf Kutzmutz Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegen- Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen? - Ge- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfeh- ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthal- lungen sind mit den Stimmen des ganzen Hauses mit tung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen wor- Ausnahme der PDS, die sich enthält, angenommen den. worden. Tagesordnungspunkt 23 i: Tagesordnungspunkt 23 f: Beratung der Beschlußempfehlung des Petiti- onsausschusses (2. Ausschuß) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- Sammelübersicht 45 zu Petitionen schuß) zu dem Antrag des Bundesministeri- (Entschädigung für gesundheitliche Schäden ums der Finanzen während der Zeit des Zweiten Weltkrieges in einem nationalsozialistischen Konzentrations- Einwilligung gemäß j 64 Abs. 2 der Bundes- lager) haushaltsordnung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin-Mitte - Drucksache 13/1582 - - Drucksachen 13/5039, 13/5660 - Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5818 Berichterstattung: vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für Abgeordnete diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Susanne Jaffke Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Oswald Metzger Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- Jürgen Koppelin men der Opposition abgelehnt worden. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11801

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petiti- Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthal- onsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - tung der PDS angenommen worden. Die Sammelübersicht 45 ist mit den Stimmen der Ko- alitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Tagesordnungspunkt 20 n: Opposition angenommen worden. Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuß) Tagesordnungspunkt 23j: Sammelübersicht 149 zu Petitionen Beratung der Beschlußempfehlung des Petiti- onsausschusses (2. Ausschuß) - Drucksache 13/5747 - Sammelübersicht 150 zu Petitionen Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Ent- (Weiterer Aufenthalt für abgelehnte Asylbe- haltungen? - Sammelübersicht 149 ist mit den Stim- werber aus Zaire) men der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der - Drucksache 13/5748 - PDS angenommen worden. Dazu liegt ebenfalls ein Änderungsantrag der Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag auf Drucksache Beratung der Beschlußempfehlung und des 13/5819? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koali- und Tourismus (21. Ausschuß) zu der Unter- tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition richtung durch die Bundesregierung abgelehnt worden. Vorschlag für einen Beschluß des Rates Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petiti- Erstes Mehrjahresprogramm zur Förderung onsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - des europäischen Tourismus „PHILOXENIA" Die Sammelübersicht 150 ist mit den Stimmen der (1997-2000) Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- - Drucksachen 13/5555 Nr. 2.40, 13/5820 - tion angenommen worden. Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 23 k: Abgeordnete Halo Saibold Dr. Gerd Müller Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Susanne Kastner tionsausschusses (2. Ausschuß) Dr. Sammelübersicht 146 zu Petitionen Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- - Drucksache 13/5744 - genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfeh- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Ent- und der SPD bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die haltungen? - Die Sammelübersicht 146 ist mit den Grünen und der PDS angenommen worden. Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD ge- gen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Ich rufe Zusatzpunkt 2 auf: Enthaltung der PDS angenommen worden. Aktuelle Stunde Tagesordnungspunkt 231: auf Verlangen der Fraktion der SPD Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Haltung der Bundesregierung zu Vorschlä- tionsausschusses (2. Ausschuß) gen zur Besteuerung von Renten, Kürzungen bei Witwenrenten und Heraufsetzung des Sammelübersicht 147 zu Petitionen Rentenalters - Drucksache 13/5745 - Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat zunächst Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? die Abgeordnete Ulrike Mascher. - Sammelübersicht 147 ist mit den Stimmen des gan- zen Hauses mit Ausnahme des Bündnisses 90/Die Ulrike Mascher (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- Grünen, die dagegengestimmt haben, angenommen legen! Liebe Kolleginnen! worden. (Unruhe) Tagesordnungspunkt 20m: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Warten Sie bitte Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- noch einen kleinen Moment, bis die Kollegen, die tionsausschusses (2. Ausschuß) den Raum verlassen wollen, das getan haben! - Ich Sammelübersicht 148 zu Petitionen glaube, jetzt geht es. Bitte, Frau Kollegin. - Drucksache 13/5746 - Ulrike Mascher (SPD): Liebe Ko llegen! Liebe Kolle- Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Ent- ginnen! Es vergeht keine Woche, insbesondere kein haltungen? - Sammelübersicht 148 ist mit den Stim- Wochenende, ohne daß sich selbsternannte Renten- men der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die experten vor allem aus dem Lager der Regierungs- 11802 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Ulrike Mascher koalition mit immer neuen Vorschlägen, sei es die Mit dieser Forderung stehen wir doch nicht allein. Besteuerung von Renten, sei es die Anhebung des Der VdK-Präsident Walter Hirrlinger forde rt : Schluß Rentenalters, sei es die Absenkung des Sicherungs- mit der Ausplünderung der Rentenkassen. Der Vor- niveaus, zu Wort melden. sitzende des Sozialbeirates der Bundesregierung, - Herr Professor Schmähl, hat das in seinem Gutachten Da wird der Generationenvertrag von Vertretern zum Rentenversicherungsbericht 1996 gefordert. Der einer jungen Generation gekündigt, die alle Mög- Vorstandsvorsitzende des Verbandes Deutscher Ren- lichkeiten unseres Schul- und Bildungssystems nut- tenversicherungsträger, Jürgen Husmann - der Ver- zen konnten, um eine qualifizierte Ausbildung zu er- treter der Arbeitgeber in diesem Gremium -, hat das werben, und die jetzt glauben, auf Generationenso- gefordert. Professor Ruland, der Geschäftsführer des lidarität verzichten zu können, weil ihre soziale Absi- VDR, fordert dieses immer wieder. Ein Prozentpunkt cherung geregelt ist. weniger Beitrag wäre damit möglich. Alle diese For- Da gibt es die bewährten Minensuchhunde Lou- derungen nach Anhebung des Rentenalters, Kür- ven und Kauder, die ohne Rücksicht auf die Verunsi- zung der Rente und Absenkung des Rentenniveaus cherung der Rentner immer neue Kahlschläge bei wären damit nicht mehr erforderlich. der Rente vorschlagen. (Beifall bei der SPD) (Widerspruch bei der F.D.P.) Warum fordern Sie das nicht jedes Wochenende in den von Ihnen geschätzten Zeitungen, damit die - Gut, ich nehme „Minensuchhunde" zurück, wenn Rentenversicherung endlich von diesen staatlichen Sie darauf bestehen, Frau Dr. Babel. Aufgaben entlastet wird? Warum diskutieren Sie (Ottmar Schreiner [SPD]: Politische Wind nicht ernsthaft die Vorschläge der SPD, die Arbeits- kosten zu entlasten, damit auch die Beiträge der Ren--beutel!) tenversicherung, und den Energieverbrauch stärker Diese Kollegen, unterstützt von der F.D.P., nehmen zu belasten? Oder wollen Sie in Wahrheit die gesetz- offenbar billigend in Kauf, daß das Vertrauen in das liche Rentenversicherung gar nicht mehr stabilisie- System der solidarischen gesetzlichen Rentenversi- ren und weiterentwickeln, sondern als Auslaufmo- cherung langsam schwindet. Welches Interesse ha- dell immer mehr aushöhlen und alle, die auf die ge- ben die Kollegen Kauder und Louven, welches Inter- setzliche Rentenversicherung als Alterssicherung esse hat ihr Mentor, der Vorsitzende der CDU/CSU vertraut haben, locker auf die p rivate Absicherung Fraktion, daran, die gesetzliche Rentenversicherung verweisen? Mit der SPD wird es diese Zerstörung der in der öffentlichen Diskussion zum Abschuß freizu- Rentenversicherung nicht geben. geben? (Beifall bei der SPD) Wenn man die Vorschläge betrachtet, stellt sich die Frage: Entweder wissen alle diese Experten nicht, Wir haben die Rentenreform von 1992 mit entwik- wovon sie reden - das wäre schlimm genug -, kelt und durchgesetzt, und wir werden weitere Re- formschritte im System der gesetzlichen Rentenversi- (Beifall bei der SPD) cherung vorlegen. Dabei werden wir Vorschläge für eine eigenständige Alterssicherung der Frauen vorle- oder sie vermischen absichtsvoll die Fragen der kurz- gen - das ist überfällig -, die notwendige Harmoni- fristigen Finanzierungsprobleme der Rentenversiche- sierung der Alterssicherungssysteme unter Einbezie- rung mit den Notwendigkeiten einer systematischen hung der Beamtenversorgung voranbringen und Weiterentwicklung für die Jahre nach 2010. eine bedarfsabhängige soziale Grundsicherung in Warum, meine Herren und Damen von der Regie- die Rentenversicherung einbauen, um die Alterssi- rungskoalition, gehen Sie denn nicht mit der glei- cherung endlich armutsfest zu machen. Darüber wa- chen Energie an das Problem der Entlastung der ren wir alle uns schon einmal einig. Ich denke, dafür Rentenversicherung von Leistungen, gibt es in diesem Haus auch Mehrheiten. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Wir klammern uns nicht an den Status quo, aber die von allen Steuerzahlern getragen werden müs- wir wollen das vorhandene System der Alterssiche- sen? Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich dafür rung und das Vertrauen in die Rentenversicherung der Begriff der versicherungsfremden Leistungen erhalten. Wir wollen Reformschritte mit Augenmaß eingeprägt. vorantreiben, ohne Ängste zu schüren. Die SPD hat immer wieder gefordert, die Kosten Danke. für den sozialverträglichen Übergang vom Rentensy- stem der DDR in die gesetzliche Rentenversicherung, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE also die sogenannten Auffüllbeträge, aus Steuermit- GRÜNEN und der PDS) teln zu finanzieren. Die SPD hat immer wieder gefor- dert, die Kosten für die Leistungen nach dem Fremd- Es spricht jetzt nicht länger den Beitragszahlern auf- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rentengesetz der Abgeordnete Dr. Heiner Geißler. zubürden. Die SPD hat immer wieder gefordert, den rentenrechtlichen Ausgleich für das SED-Unrecht nicht der Rentenversicherung aufzulasten, sondern Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Meine sehr verehr- aus Steuermitteln zu finanzieren. ten Damen und Herren! Natürlich ist niemand erfreut Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11803 Ulrike Mascher darüber, wenn jedes Wochenende, wie Sie das ge- Wir haben außerdem das Beschäftigungsproblem. schildert haben, eine andere Schlagzeile in der Presse steht. Das ist selbstverständlich. Alles, Frau Mascher, was hier zur Diskussion steht - zur Frage der Hinterbliebenenrente hat sich das (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Karenz Bundesverfassungsgericht geäußert; zur Gleichbe- - tage!) handlung der Besteuerung der Alterseinkünfte ha- ben wir Urteile des Verfassungsgerichtes; wir haben - Packen Sie sich mal an Ihre eigene Nase. Sie haben die Anhebung des Grundfreibetrags -, sind Pro- ebenfalls diese Erfahrung gemacht. bleme, zu deren Lösung Sie Vorschläge machen müs- Das eigentlich Ärgerliche besteht ja da rin, wenn sen. Darüber kann man doch nicht hinweggehen. die Meinung einzelner mit der einer Fraktion oder ei- Die Frage der Altersgrenze ner Partei identifiziert wird. Das ist das Eigentliche. berührt auch die Ren- tenlaufzeiten. Sie selber haben ja der Anhebung der Wenn in der Zeitung von Konzepten geredet wird, Altersgrenze zugestimmt. Wenn ich die Kollegen die entwickelt worden sind, und diese mit der Bun- Louven und Kauder richtig verstanden und ihre Bei- desregierung oder mit der Fraktion in Verbindung träge richtig gelesen habe, dann haben sie nicht von gebracht werden, dann ist dies einfach nicht in Ord- nung. einer Anhebung der Altersgrenze auf 67 Jahre zum heutigen Zeitpunkt, sondern zur zweiten Hälfte des Aber etwas ist klar - dazu will ich gleich noch et- nächsten Jahrzehnts geredet. Wir müssen über diese was sagen -: Alle Äußerungen, die hier vorgetragen Fragen in der Tat reden, wenn wir das Rentenversi- worden sind, haben ihre Begründung gehabt. Alle cherungssystem langfristig sichern wollen. Äußerungen sind auf der Basis abgegeben worden, daß wir unser gemeinsames Anliegen, nämlich die Meine sehr verehrten Damen und Herren, es hat Erhaltung der umlagefinanzierten leistungsbezoge- überhaupt keinen We rt , irgend etwas zu tabuisieren. nen Rente, erreichen wollen. Das heißt, niemand in Ich trete dafür ein, daß wir Argumente austauschen. der Union, zumindest in der Fraktion, vertritt eine Es ist ganz selbstverständlich, daß auch einzelne, steuerfinanzierte Grundrente mit aufgedeckeltem verantwortliche Abgeordnete - das Recht der freien Kapitaldeckungsverfahren. Wir bleiben vielmehr bei Rede ist ein konstitutives Element des Parlamentaris- dem bewährten System der sozialen Sicherung durch mus - ihre Meinung äußern können. Alle, die sich in die leistungsbezogene Rente. diesem Zusammenhang geäußert haben, haben dies nicht im Namen der Fraktion oder der Partei, son- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - dern im eigenen Namen getan. Dafür, daß dies mög- Gerd Andres [SPD]: Wie lange noch?) lich ist, trete ich mit Nachdruck ein. Das sage ich, weil die Verunsicherung vor allem Über einer Partei, die es nicht mehr ertragen kann, von Ihrer Seite betrieben wird. Sie dürfen sich aber daß auf der Basis der Gemeinsamkeit - wie ich es ge- bitte nicht dumm stellen. Wir haben im Jahre 1989 rade gesagt habe - einzelne Vorschläge mit dem Ziel, eine Rentenreform beschlossen. Nun kann man nicht die Rente zu stabilisieren, gemacht werden, kann so tun, als wäre seit dieser Zeit alles beim alten ge- man den Sargdeckel schließen. Wir können dann ge- blieben. Warum haben wir denn diesen Diskussions- meinsam zur Gruft schreiten. Konform, uniform, bedarf? Chloroform, Da ist zunächst einmal der nationale Aspekt. Wir (Heiterkeit bei der CDU/CSU) haben den Aufbau Ost zu leisten. Es ist eine großar- tige Leistung der Rentenversicherung, daß wir für das kann nicht die Arbeitsweise einer modernen Par- die alten Menschen in den neuen Ländern heute ein tei oder einer Fraktion sein, die auch die Zukunft dis- Rentenniveau erreicht haben, das diese vor sechs kutieren und gemeinsam die richtigen Vorschläge er- oder sieben Jahren niemals erwartet hätten. arbeiten muß. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deswegen trete ich dafür ein, daß wir auch inner- halb der Union die Vorschläge diskutieren, daß wir Es handelt sich um eine Aufgabe, die noch einen Argumente austauschen, aber auch jederzeit kennt- anderen Aspekt als vor sieben Jahren enthält. Wir lich und deutlich machen, was unsere eigenen Vor- haben nämlich durch den Wegfall des Eisernen Vor- schläge sind, die wir im Rahmen eines Gesamtkon- hangs eine Internationalisierung des Problems: Vor zepts einbringen. Genau das haben die Kolleginnen acht Jahren war die Frage, ob der Beitrag zur Ren- und Kollegen getan, was in Ordnung ist. Wenn Sie es tenversicherung 18 oder 20 Prozent betragen soll, nicht tun, dann entziehen Sie sich dem Diskurs, der nicht so brisant wie zum heutigen Zeitpunkt, da in notwendig ist, um die Rentenversicherung langfristig Tschechien, Polen und anderen Nachbarländern eine zu stabilisieren. Lohnkonkurrenz entstanden ist, die unsere Bet riebe beachten müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Eine liberale Rede! Die Konsolidierung der Sozialsysteme ist deswe- - Widerspruch bei der SPD - Gerd Andres gen heute in allen Industriestaaten eine Aufgabe, die [SPD]: Weiße Salbe war das! Ich erinnere an erfüllt werden muß. Das ist die akute Situation. die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr! Sehr Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt richtig!) die Kollegin Andrea Fischer. 11804 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Kollegen Louven und Kauder haben die rich- NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! tige Frage gestellt: Wie gewinnen wir die jungen Die Rede des Kollegen Geißler war wieder ein typi- Leute für die Zukunft dieses Systems? Ich habe mir sches Beispiel für das Muster, nach dem diese Ak- Ihr Angebot dazu genauer angesehen. Sie sprechen tuellen Stunden ablaufen: Der Opposition wird es auf erstens von einem dauerhaft stabilen Beitragssatz. Grund der Äußerungen, die sie ständig hört, zu bunt. Das ist eine unglaublich strenge Bedingung, mit der Anschließend sagt die Regierung: Es war alles nicht Sie sich in der Rentenpolitik eines zentralen Parame- so gemeint. Am Sonntag werden wir wahrscheinlich ters begeben. Zusammen mit Ihrer Resignation, den in der „Bild am Sonntag" die nächste Äußerung in finanzpolitischen Fehler der deutschen Einheit durch diesem kakophonischen Konzert der Regierung le- versicherungsfremde Leistungen in der Rentenversi- sen. cherung rückgängig zu machen und zu korrigieren, und der strengen Bedingung stabiler Beitragssätze Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, als zu sagen: die Regierung mit der aktuellen schwierigen finanz- Wir müssen in das Leistungsrecht massiv eingreifen. und sozialpolitischen Lage nicht klarkommt, dann boten diesen sicherlich die Äußerungen der letzten Zu Ihrem zweiten Angebot: In zehn Jahren wollen Wochen, die meines Erachtens das Drama, in dem Sie das Rentenalter auf 67 Jahre heraufsetzen. Ich sich die Regierung befindet, ganz deutlich offenle- frage mich, woher in dieser Frage Ihr arbeitsmarkt- gen. Jeder kräht herum: Man könnte, man wollte politischer Optimismus kommt. Wir haben zur Zeit und sollte dieses und jenes tun. Wenn diese Äuße- einen tatsächlichen Rentenzugang, der bei einem Al- rungen dann kritisiert werden und sich jemand dar- ter von unter 60 Jahren liegt. Das ist nicht deswegen über aufregt, kommt ein anderer aus der Regierung so, weil die alten Leute plötzlich faul geworden sind, und sagt: niemals, mit mir nicht, das war ja nur mal sondern weil wir ein großes arbeitsmarktpolitisches so eine Idee! Problem haben. Unter diesen Umständen kann eine Heraufsetzung des Rentenalters nichts anderes be- Merken Sie eigentlich gar nicht, was Sie damit an- deuten als noch mehr Rentenabschläge für den vor- richten? Nach dem, was Sie den Leuten in den letz- zeitigen Rentenzugang, sprich: eine weitere Lei- ten Monaten mit der Durchsetzung Ihres Sparpake- stungskürzung. tes zugemutet haben, ist zu fragen: Wie sollen denn die Leute noch zwischen lang- und kurzfristiger Per- Zu Ihrem dritten Angebot, der Privatisierung der spektive unterscheiden, wenn Sie jetzt wiederum Finanzierung von Rehabilitation und Erwerbsunfä- über die Anhebung des Rentenalters sprechen? Kann higkeit: Das ist ordnungspolitisch gesehen ein star- man Ihnen und Ihrer Ankündigung, daß eine Be- kes Stück. Das heißt nämlich, Sie wollen die Arbeit- steuerung von Lohnersatzleistungen und Renten geber aus der sozialpolitischen Verantwortung ent- keine unzumutbare Härte darstellt, eigentlich noch lassen. Offensichtlich ist Ihre Vorstellung von der Zu- trauen, wenn Sie mit Ihrer Steuerreform nicht in die kunft des Sozialstaates, daß die Risiken in Zukunft Puschen kommen und nicht aufzeigen, was das denn nur noch von den Arbeitnehmern getragen werden wirklich bedeuten soll? sollen. Außerdem sitzen Sie in der berühmten Falle des Wozu eigentlich richten Sie die vielen Kommissio- Systemwechsels bei der Rentenversicherung. Einer nen ein, wenn Sie nicht abwarten können und sie ar- ist immer der Dumme, der doppelt zahlen muß. In beiten lassen, um dann mit einem überzeugenden diesem Fall wollen Sie die Zustimmung der Jungen Gesamtkonzept aufzuwarten, sondern uns statt des- damit gewinnen, daß Sie sagen: Du sollst die Ansprü- sen immer wieder einmal den einen oder anderen che der heutigen Rentner befriedigen; für deine ei- Einzelvorschlag präsentieren? gene Sicherung mußt du aber noch einmal extra be- Wir können die Menschen für eine große Steuerre- zahlen. - Das ist wirklich eine tolle Botschaft an die form nur gewinnen, wenn es eine überzeugende und junge Generation! gerechte Perspektive für das Gesamtkonzept gibt. Zu Ihrem vierten Angebot, der Hinterbliebenen- versorgung: Sie werden dazu überhaupt nicht kon- Das gleiche gilt für die Rentenreform. Hier müßten kreter. Hier werfe ich Ihnen vor: Wir haben es mit wir ja die Quadratur des Kreises schaffen. Wir müs- den Schicksalen von Menschen zu tun, und um so sen die Belastungen der jungen Menschen begren- vorsichtiger müssen wir da diskutieren. Da können zen, gleichzeitig eine angemessene Absicherung der Sie nicht hier mal ein Bröckchen und do rt mal eine alten Menschen gewährleisten und dies alles noch Krume fallenlassen. Wir können über die Anrech- für eine langfristige Zukunftsperspektive sichern. nung bei der Hinterbliebenenversorgung und die Das alles werden wir nur erreichen, wenn Sie es, wie entsprechende Reform nur sprechen, wenn es uns beim Rentenreformgesetz 1992, erstens schaffen, gelingt, eine eigenständige Alterssicherung der daß, wenn es Belastungen gibt, diese gleichmäßig Frauen aufzubauen. Dann kann die Hinterbliebe- auf alle Beteiligten verteilt werden, und wenn Sie nenversorgung an Bedeutung verlieren. zweitens den Generationenvertrag wirklich erneu- ern. Nur dann werden Sie damit rechnen können, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zustimmung zu den notwendigen Reformen zu ge- sowie bei Abgeordneten der SPD und der winnen. PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Solange Sie das nicht machen, besteht bei uns al- Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist richtig!) len der in meinen Augen begründete Verdacht wei- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11805

Andrea Fischer (Berlin) ter, daß hier nur über neue Finanzspielräume speku- zogene, umlagefinanzierte Rentenversicherung er- liert wird. halten wollen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen, weil man be- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - kanntermaßen hinsichtlich der Sozialpolitik ziemlich Zurufe von der SPD) viel Unfug in die Welt setzen kann. Hier geht es aber Nicht nur die Kollegen aus der F.D.P., sondern um mehr als eine Stilfrage. Nach Jahren, in denen auch die aller anderen Fraktionen sehen die Renten- die Bundesregierung keinen sozialpolitischen Ge- versicherung in Gefahr, wenn - wie bisher nicht be- staltungswillen und keine Reformfähigkeit gezeigt stritten und von der Prognos AG vorausgesagt - die hat, hat sie das Vertrauen verspielt. Beiträge auf 28 Prozent ansteigen. Angesichts dieser Die Renten- und die Steuerreform brauchen ein Größenordnung gerät der Generationenvertrag in klares politisches Ziel, eine mitreißende politische eine Vertrauenskrise. Es ist richtig, daß wir uns heute Botschaft, sonst sind die Einzelbeiträge immer nur darüber Gedanken machen, Vorschläge unterbreiten die Vorboten neuer Verzweiflungstaten der Herren und dem Problem nicht ausweichen: Was ist notwen- der Haushaltslöcher. dig, in welchen Dimensionen müssen wir handeln, um einer solchen Entwicklung Einhalt zu gebieten? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Zum Papier von Herrn Louven und Herrn Kauder - möchte ich folgendes anmerken: Es stößt nicht auf Verständnis und Akzeptanz, wenn nach dem mühse- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat ligen Ringen um die Heraufsetzung des Rentenalters jetzt die Kollegin Dr. Gisela Babel. auf 65 Jahre nun eine neue Zielgröße von 67 Jahren genannt wird. Verkannt wurde, daß die Erreichung (Gerd Andres [SPD]: Die war aber diesmal des Ziels erst nach einer längeren F rist von 15 Jahren beim Louven nicht dabei, das war ein ande- angepeilt wird. rer!) Frau Fischer, die Frage nach der dann herrschen- den Situation auf dem Arbeitsmarkt ist eine richtige Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Frage. Aber wir können sie nicht einmal für die näch- Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde, bean- sten Monate voraussagen. Wichtig ist nur, daß klar tragt von der SPD, soll sich mit den Vorschlägen be- wird, daß wir uns dann, wenn ein solcher Eingriff fassen, die unsere Kollegen Louven und Kauder zur kommt, wenn ein solches Konzept konsensfähig Reform des Rentenrechts gemacht haben. wäre - ich sage nicht, daß es das schon ist -, dem Ziel stabiler Beiträge nähern. Deswegen sollte man es po- (Gerd Andres [SPD]: Nicht nur, es gibt noch sitiv zur Kenntnis nehmen. mehr!) Nun zur Privatisierung der Berufs- und Erwerbs- - Es gibt noch mehr, aber es geht unter anderem um unfähigkeitsrente. Ich halte diesen Vorschlag für den diese Vorschläge. problematischsten Teil des Papiers, aber nicht etwa, In der Öffentlichkeit ist bekannt, daß es zur Zeit weil die F.D.P. nicht für eine Privatisierung wäre. Wir eine Fülle von Gremien und Konzepten gibt, die sich sind immer für eine Privatisierung eingetreten. Ich mit diesem Thema befassen. Dazu rechne ich auch erinnere daran, daß wir auch für eine p rivate Pflege- die Vorschläge von Herrn Louven und Herrn Kauder versicherung waren. als ernst zu nehmende und solide berechnete Bei- Aber mir leuchtet es bei der Berufs- und Erwerbs- träge. unfähigkeitsrente nicht ein. (Zurufe von der SPD) (Zuruf von der SPD: Die Victoria-Versiche rung läßt grüßen!) Sicher ist es das Recht der Opposition, jeden Vor- schlag zum Anlaß einer Aktuellen Stunde zu neh- Die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente steht dem men. Arbeitsleben ungleich näher als die Pflegeversiche- rung. Eine solidarische Versicherung hat meiner An- (Günter Rixe [SPD]: Jede Woche wird eine sicht nach hier eine sehr viel größere Berechtigung neue Sau durchs Dorf getrieben!) als eine Pflegeversicherung, weil der Pflegefall im Durchschnitt sehr viel später eintritt und auch erst Aber mit dem Schlachtgetöse, mit dem Sie die Ren- dann abzusichern wäre als eine Berufs- oder Er- tenversicherung hier im Parlament noch einmal ins werbsunfähigkeit. Hierüber muß man noch einmal Gerede bringen, tun Sie dem Thema wirklich keinen nachdenken. Gefallen. Unstrittig ist aber, daß wir eine Reform der Berufs- (Gerd Andres [SPD]: Das ist unglaublich!) und Erwerbsunfähigkeitsrente brauchen, weil wir Zum Gegenstand von Gezänk und Polemik taugt es sonst der Entwicklung die Tür öffnen - eine Tendenz gerade nicht. ist heute schon sichtbar -, daß die Menschen, die eine Frühverrentung nicht mehr durchsetzen kön- Die Sozialpolitiker der verschiedenen Parteien nen, den Weg in die Erwerbsunfähigkeit gehen. Wir mag vieles trennen, aber eines sollte uns meiner Mei- wissen, wie sehr der Erste Direktor des Verbandes nung nach einen, nämlich die Ansicht, daß wir die Deutscher Rentenversicherungsträger, Herr Professor gesetzliche Rentenversicherung als eine leistungsbe- Ruland, davor warnt. 11806 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Gisela Babel Meine Damen und Herren, gut finde ich auch, daß Wir alle wissen, daß die Zukunft der gesetzlichen hier nicht auf einen Bundeszuschuß gesetzt wird. Ich Rentenversicherung neue Lösungen braucht. Verän- halte es für eine sehr realistische Einschätzung im derungen der Arbeitswelt, demographische Entwick- Gegensatz zum Beispiel zu dem Papier des Kollegen lungen erfordern das. Die PDS hat diese Überlegun- Storm, daß hier nicht über einen wachsenden Bun- gen bereits langfristig eingefordert, als Herr Blüm die deszuschuß geredet wird, sondern daß man versucht, Problematik mit seinem stereotypen Satz „Die Ren- die Sanierung innerhalb des Systems durchzuführen. ten sind sicher" noch sträflich negierte. Doch jetzt ein derartiges Tempo, einen derart scharfen Gang Ein Unruhethema bleibt sicher die Besteuerung einzulegen ist völlig unnötig und wird letztlich nur zu der Rente. Dazu ist nur eines zu sagen: Dieser Punkt unseriösen Ergebnissen führen. ist nicht dazu geeignet, eine Konsolidierung des Haushaltes zu erreichen. Die Frage ist, ob wir die Be- Ich habe bereits im Frühjahr an dieser Stelle ge- messungsgrundlage für eine grundlegend breit an- sagt: Meines Erachtens haben auch SPD-Vertreter gelegte Steuerreform brauchen. Eines ist sicher: diese Situation mit ihren Rufen „Die Rentenkassen Wenn wir die Renten besteuern, geht das nur, wenn sind bankrott, bald wird Blüm auf Pump zahlen müs- die Beiträge aus nicht versteuertem Einkommen ge- sen" mit befördert. Wir alle wissen: Wenn der zahlt werden. Der Staat - das will ich festhalten; das Schwankungsreserve keine feste Größe, sondern ein habe ich schon einmal gesagt - darf bei der Rente - Korridor vorgegeben werden würde, relativierte sich nicht zweimal zugreifen. Das ist völlig unstrittig. das Problem des akuten Milliardenlochs. Aus dieser Situation heraus wünschte ich mir endlich auch ein- Meine Damen und Herren, das Signal, das von der mal konkrete Vorschläge seitens der SPD; denn heutigen Debatte ausgehen sollte, ist nicht nur Beru- schließlich haben Sie das Potential, sich eine eigene higung nach dem Motto: Es wird sich nichts verän- Rentenkommission leisten zu können. dern. Ich will mich natürlich nicht meiner parlamentari- schen Pflicht entziehen, zu den vorgegebenen Punk- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, ten der Aktuellen Stunde unsere Meinung kundzu- Ihre Redezeit ist vorbei. tun. Zum ersten finden wir es abscheulich, daß Mit- glieder der Regierungskoalition mit immer hem- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Noch einen Satz. - Das Si- mungsloseren Vorstößen den Boden für die Akzep- gnal, das von dieser Debatte ausgeht, sollte sein, daß tanz weiteren Sozialabbaus zu bereiten suchen. alle Parteien der Reformwille eint, daß wir die Ren- (Beifall bei der PDS) tenversicherung für die Zukunft sicher machen. Die älteren Bürgerinnen und Bürger werden im- Ich bedanke mich. mer verunsicherter, und bei den jüngeren schwindet (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nicht nur das Vertrauen in die Politik, sondern auch das Vertrauen in die solidarische Versicherung. Aber das ist ja Ihr Ziel: Privatisierung elementarster Le- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt bensrisiken. Kollegin Babel, ich gebe offen zu: Da die Kollegin Petra Bläss. hat sich Ihre Pa rtei in der Tat durchgesetzt. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Nein, leider Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- nicht!) ginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt bin ich über die heutige Aktuelle Stunde ein bißchen befremdet, sind Ganz offen, also ohne Verklausulierung, zeigt sich wir es doch schon seit geraumer Zeit gewohnt, nach das an dem ungeheuerlichen Vorschlag der Herren jedem Wochenende mit immer skurrileren Renten- Kauder und Louven, die Berufs- und Erwerbsunfä- kürzungsvorschlägen die Woche zu beginnen. Zu ei- higkeitsrenten aus der gesetzlichen Rentenversiche- nem Zeitpunkt, zu dem selbst in Koalitionskreisen rung auszugliedern und eine zwangsweise p rivate permanent der Wahrheitsgehalt der Vorschläge aus Absicherung dafür zu setzen. den eigenen Reihen dementiert wird, verwenden wir Was führt denn nachgewiesenermaßen vorrangig hier einmal wieder kostbare Zeit, um uns die Köpfe zum immer früheren realen Renteneintritt? Bela- heißzureden. Was soll's? stende Arbeitsbedingungen und unerträgliche Ar- Es ist schlimm, daß die nächste Rentenreform auf beitsintensität - und da sollen die Arbeitgeber aus solch unseriöse Weise vonstatten geht. Minister Blüm der Verantwortung bei der Beitragszahlung entlas läßt seine Kommission kein halbes Jahr beraten. Wir sen werden. alle hier werden im ersten Halbjahr des Jahres 1997 Über die kontraproduktive Wirkung der Erhöhung genötigt werden, die Änderungen in der Rentenver- des Renteneintrittsalters ist schon viel gesprochen sicherung vermutlich wieder in extrem knappen F ri worden. Ich kann mich da der Kollegin Fischer nur -sten abzunicken. Das Ganze heißt dann, wie aus den anschließen. Für uns bleibt das Hauptgegenargu- Medien zu erfahren war, Rentenreform 1999. Ich ment, daß die katastrophale Lage des Arbeitsmarktes hätte mich gern zu den ersten Zwischenergebnissen daraus einzig eine Rentenkürzungsmaßnahme der Rentenkommission äußern mögen; aber diese macht. legt Herr Minister Blüm bekanntlich erst zum CDU- Parteitag am kommenden Wochenende vor. Statt Oder nehmen Sie den Vorschlag der Besteuerung dessen müssen wir hier wieder über ungelegte Eier von Lohnersatzleistungen. Es kommt doch wohl reden. nicht vorrangig darauf an, ob und wie hoch die Bei- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11807

Petra Bläss träge bereits versteuert sind, wie Zeile auf und Zeile Ich schließe mich ausdrücklich in diese Empfehlung ab in den Medien diskutiert wird. Für uns ist maß- ein, geblich, daß Lohnersatzleistungen an sich Nettolei- stungen sind. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Dann müssen Sie in die andere Richtung gucken!) Für das Arbeitslosengeld werden Beiträge und Steuern einschließlich der umstrittenen Kirchen- und Sie schließe ich ausdrücklich in bezug auf die steuer bereits pauschal abgezogen. Und die Renten Verunsicherungskampagne ein, und zwar deshalb, sind ja wohl gerade mit der Rentenreform 1992 offi- weil das Gefühl der Sicherheit nicht nur davon ab- ziell auf netto umgestellt worden. Die Dynamisierung hängt, wie hoch die Rente ist, sondern auch davon, erfolgt auch auf Nettobasis. Deshalb ist dieser Vor- ob sie berechenbar bleibt. schlag Nonsens. Angst ist ein schlechter Ratgeber für Reformen. Wenn das schwierige Vorhaben einer Reform, zu Und die Witwenrenten: Sie tun ja gerade so, als wäre die Gegenrechnung von eigenem Einkommen dem ich alle mit dem Versuch zum Konsens einlade, von Sorge und Angst begleitet wird, dann werden etwas Neues. Das passiert doch heute bereits. Erspa- wir eine irrationale Diskussion haben. ren Sie mir bitte angesichts der kurzen Redezeit, die tolle Formel mit dem 26,4fachen des aktuellen Ren- Denn in die Rente sind wie in kein anderes soziales tenwertes hier ausführlich zu erklären. Sicherungssystem Lebensplanungen, Lebenserwar- tungen eingebaut. Sie steht nicht zur Versteigerung Aber zur Sache: Als Feministin bin ich die letzte, an. Es ist kein Unterhaltungsspiel. Wir haben auch die die Witwenrente prinzipiell verteidigt. nicht die Chance, beim Punkt Null zu beginnen. Ta- (Zurufe von der CDU/CDU) bula rasa ist etwas für Theoretiker. Aber ich sage Ihnen auch ganz klipp und klar: So- Deshalb muß man den Ideenwettbewerb verant- lange Sie Frauen keine Alterssicherung gewähren, worten und nicht einen Zustand herstellen, bei dem die ihre Lebensleistung widerspiegelt, ist die Wit- die Menschen vor lauter Bäumen den Wald nicht wenrente das letzte, was angegangen werden darf. mehr sehen. Wir bemühen uns um diese Versachli- chung. (Beifall bei der PDS) Deshalb hat die Regierung eine Kommission ein- Erfüllen Sie deshalb erst Ihren Part, dann läßt sich gesetzt. Ja, wir wollen den Rat der Experten zu wich- auch über den Rest reden. Insgesamt darf ich noch tigen Fragen einholen. Wir wollen die Politik nicht einmal an alle appellieren: Statt dera rt viel Energie überschätzen, wir wollen sie auch nicht unterfordern. für immer neue Kürzungskreationen aufzuwenden, Entscheiden werden nicht Experten, entscheiden sollte über neue Finanzierungsquellen für die Ren- wird das Parlament. Aber es tut dem Parlament und tenversicherung nachgedacht werden. Die solidari- uns Politikern gut, sich von Wissenschaftlern beraten sche Sicherung muß erhalten bleiben. zu lassen. Die Deutsche Bundesbank wirkt mit, der (Beifall bei der PDS und beim BÜNDNIS 90/ Vorsitzende des Sachverständigenrates ist dabei. DIE GRÜNEN) Es geht um wichtige Themen, die Sie doch alle nicht ablehnen können: Wie antwortet die Renten- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat das versicherung auf demographische Veränderungen? Wort der Herr Bundesminister Norbe rt Blüm. Wie antwortet sie auf die Erosion der Solidargemein- schaft, auf veränderte Personenkreise? Wie antwortet die Rentenversicherung auf das Thema Sicherheit Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und der Frauenrenten, Sicherheit der Familien? Welche Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Funktion haben die zweite und die dritte Säule der Herren! Wir sind in einer offenen Gesellschaft, und in Alterssicherung? Denn wir hatten nie behauptet, daß einer offenen Gesellschaft gibt es keine Diskussions- die Rentenversicherung das einzige Instrument der verbote. Deshalb weiß ich auch nicht, wie es zu die- Alterssicherung sei. sem fast autoritären Bedürfnis kommt, daß die Bun- desregierung wöchentlich Zensuren für Diskussions- Was sind system- und versicherungsfremde Lei- beiträge an Abgeordnete verteilt. Den Gefallen kann stungen? Dieser Frage müssen wir nachgehen, ob- ich Ihnen nicht tun. wohl ich manchmal den Eindruck habe, die versiche- rungsfremden Leistungen sind so etwas wie der Jä- (Zuruf von der SPD: Das Unschuldslamm!) ger 90 der Sozialpolitik geworden. Ich wi ll dieser Nein, es gibt keine Denk- und Diskussionsverbote. Frage nicht ausweichen, und zwar in allen Siche- Ich füge allerdings hinzu: Ich empfehle uns allen - rungssystemen. Das hat etwas mit Verteilungsge- Ihnen im Zusammenhang mit der Kampagne, die Sie rechtigkeit zu tun; mit der Behauptung losgetreten haben, die Rente sei (Georg Pfannenstein [SPD]: Wie wahr!) bankrott -, das hat etwas mit Entlastung der Arbeitsplätze zu (Widerspruch bei der SPD) tun. auch mich eingeschlossen, eine größere Behutsam- (Georg Pfannenstein [SPD]: Wie wahr!) keit bei der Diskussion über die Zukunft der Renten. Nur, wir sollten nicht den Eindruck erwecken, als (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) würde der Steuerzahler die Rentenversicherung im 11808 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Stich lassen. 80 Milliarden DM Bundeszuschuß und ber entscheiden. Dafür ist die Rentenversicherung -erstattung - das ist kein kleiner Beitrag. nicht zuständig. Ich finde auch, daß wir der Frage nachgehen müs- (Beifall bei der CDU/CSU) sen, wie wir Sozialhilfe, Existenzsicherung besser mit Wir sind nicht zuständig für ein Modell Ein-Verdie- dem Leistungssystem der Rentenversicherung - or- ner-Ehe; wir sind auch nicht zuständig für ein Modell ganisatorisch, nicht finanziell - verknüpfen können - Zwei-Verdiener-Ehe. damit es keine Zweifel gibt. Ich füge allerdings hinzu - auch das ist hier gesagt Ich finde in dieser Debatte auch erfreulich, daß in worden -: Je höher die eigenen Ansprüche der diesem Haus weitgehend ein Konsens herrscht, daß Frauen sind, um so mehr verliert die Unterhaltser- unsere auch in Zukunft leistungs- Alterssicherung satzfunktion der Witwenrente ihren Sicherungscha- und lohnbezogen bleiben soll. Das war die beste Er- rakter. Ich bin mit Frau Fischer in Übereinstimmung: findung. Eine Rentenversicherung, die selbst erarbei- Da wollen wir uns nicht nur die Theorie ansehen, tet ist, Ansprüche, die selbst erarbeitet sind - das be- sondern vor allem die Praxis. Noch immer haben deutet aus meiner Sicht nicht nur einen Unterschied viele Frauen selbst bei eigenständigem Anspruch in Mark und Pfennig; das hat etwas mit dem Selbst- eine sehr geringe Rente, so daß es reine Theo rie bewußtsein der Rentner zu tun. Deshalb werde ich - wäre zu sagen: Jede Frau, die einen eigenen An- ich hoffe, mit Ihnen allen - unser lohn- und beitrags- spruch hat, braucht keine Witwenrente mehr. Das leistungsbezogenes System verteidigen. Kein Steuer- wäre reine graue Theorie. Denn noch immer sind die system der Welt ist so gut. Deshalb versuchen auch Frauen in ihrer Lebensbiographie und ihrer Lohn- die Schweden, von einer staatlichen Versorgungsein- höhe benachteiligt, so daß viele Frauen, selbst die richtung abzukommen, weil eine staatliche Versor- mit eigenem Rentenanspruch, darauf angewiesen gungseinrichtung, steuerfinanziert, gegen Ansprü- sind, daß sie nach dem Tod des Mannes noch eine che relativ wehrlos ist. Es weiß niemand, wer für was Witwenrente erhalten. wann zahlt. Deshalb bleibe ich bei der Beitragsfinan- zierung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) Was die konkreten Fragen anbelangt, will ich nicht kneifen. Demographie hat zwei Dimensionen: Ge- Frau Babel, ich stimme mit Ihnen ausdrücklich burtenentwicklung und Lebenserwartung. Auf die überein - wie an vielen Stellen heute -, daß die Er- Veränderung der Lebenserwartung haben wir mit werbsunfähigkeitsrente eine originäre Sozialversi- der Anhebung der Altersgrenze ab 2000 auf 65 Jahre cherungsleistung ist. Es gibt sie seit Bismarcks Zei- geantwortet. Ich füge hinzu: Die Bundesregierung ten. Bismarcks Ansatz war eine Invaliditätsrente. Sie schlägt nicht vor, ihre eigenen Vorschläge von ge- war de facto gar keine Altersrente; denn die Alters- stern zu überholen. grenze hat bei Bismarck vor über 100 Jahren mit 70 Jahren begonnen. Faktisch war es also eine Invali- (Georg Pfannenstein [SPD]: Das wäre nicht ditätsrente. das erste Mal!) (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Und - Wir haben gerade einen solchen Vorschlag ge- Berufsunfähigkeitsrente!) macht. Weitere Vorschläge habe ich dazu nicht. Es ist gerade beschlossen. Wir wollen uns doch nicht stän- - Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente. dig selbst überholen. Es hieß, das müsse privat versichert werden. - Ich Ein zweites. Es ist mit versicherungsmathemati- bin für eine ganz entspannte und offene Diskussion schen Abschlägen verbunden; aber man kann früher ohne jede Aggression. - Das Invaliditätsrisiko eines in Rente gehen. Wir wollen mehr Freiheit der Ent- Maurers ist wesentlich höher als das Invaliditätsri- scheidung für den einzelnen. Frau Fischer hat recht: siko einer Bürogehilfin. Es käme also zu höchst un- Je höher die Regelaltersgrenze ist, um so höher sind terschiedlichen Prämien. Eine Privatversicherung die Abschläge für den, der früher geht. Da gibt es müßte beide aufnehmen. Von Behinderten müßte sie eine Grenze der Zumutbarkeit. Den Zusammenhang eine hohe Prämie verlangen. Eine Privatversicherung muß man sehen. müßte einen Risikoausgleich organisieren. Das war schon bei der Pflegeversicherung schwer, und das Ich will auch einer weiteren Frage nicht auswei- wäre hier überdimensional schwierig. Ein solches Ri- chen: Witwenrente. siko mit einem Risikoausgleich zwischen allen An- (Georg Pfannenstein [SPD]: Jetzt wird es bietern abzusichern, würde das System einer Privat- interessant!) versicherung, die ja im Wettbewerb steht, stören. Ich schlage nicht vor - ich kenne in der Bundesregie- Ich füge allerdings hinzu, daß es in der Tat auch rung niemanden, der das tut -, die Witwenrente ab- bei der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente Re- zuschaffen. Wenn wir die Hinterbliebenenrente ab- formbedarf gibt; denn sie hat Risiken übernommen, schaffen würden, dann würde die Rentenversiche- die nicht Risiken der Alterssicherung sind. Ein- rung von der Norm ausgehen: Beide Ehepartner sind schränkungen der Erwerbsfähigkeit werden daran erwerbstätig. Das ist nicht Sache der Rentenversiche- gemessen. Wenn kein Arbeitsplatz vorhanden ist, be- rung: ein Ehemodell zu einer Norm zu machen. Das zahlt das die Rentenversicherung. Das ist aber ein ist Sache des einzelnen. Eine Abschaffung der Wit- Arbeitsmarktrisiko, kein Rentenrisiko. Wir müssen in wenrente ginge von der Norm aus: Mann und Frau einem gegliederten System - sonst verliert Gliede- sind erwerbstätig. Das sollen bitte die Ehepartner sel- rung ihren Sinn - darauf achten, daß jeder das be- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11809

Bundesminister Dr. Norbert Blüm zahlt, für das er zuständig ist. Die Rentenversiche- nicht Unrecht tun -, daß einer über die A rt und rung ist kein Ersatz für die allgemeine Arbeitslosen- Weise, wie diese Debatte geführt wird, am aller versicherung. unglücklichsten ist: Das ist der Bundesarbeitsmini- ster. Auch bei der Lohnersatzbesteuerung - das ganz kurz - befinde ich mich in Übereinstimmung mit Ih- (Beifall bei der SPD) nen, Frau Babel. Wenn wir auf Vollbesteuerung um- steigen, dann heißt das, die Rentenformel zu verän- Daß wir diese Debatte führen, in der jeder seine per- dern. Wir können nicht die Nettoformel halten und sönliche Meinung sagen kann, Herr Geißler, hängt besteuern, denn das wäre eine zweifache Besteue- damit zusammen, daß wir erlebt haben, wie Sie in rung: einmal pauschal und einmal individuell. Das anderen Feldern in diesem Zusammenhang gehan- hätte im übrigen - das sage ich für alle, die das vor- delt haben. Das wunderbar praktische Beispiel ist die schlagen - die Folge, daß auch die Beiträge erhöht Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle. Das Gespann werden müßten. Das ist eine Diskussion, die wir ganz Louven/Babel hat über Monate hinweg immer an entspannt und sachlich führen können. den Wochenenden, und zwar am 21. August 1995, am 28. März 1995, am 25. November 1995 Mein Ratschlag - damit kehre ich zum Ausgangs- punkt zurück -: Lassen Sie uns offen diskutieren, (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Haben Sie das aber doch mehr Rücksicht auf die Ängste und Sorgen - alles nachgeguckt?) von Millionen von Menschen nehmen. Das sind keine Bauklötzchen, mit denen wir spielen können, - ich habe das alles nachgeguckt -, und es ist keine Lotte rie, sondern es handelt sich um Menschen. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Fleißarbeit!) Die Regierungskommission arbeitet an sachlichen die öffentliche Debatte in dem Sinne bestimmt, daß Vorschlägen. Ich lade Sie ein: Lassen Sie uns den mit der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle etwas Versuch nicht aufgeben - der auch 1989 gelungen passieren muß. - Ich sage ausdrücklich dazu, daß ist -, einen Rentenkonsens zu stiften. Ich sage nicht, dies eine Methode war, um diesen Bundesarbeitsmi- um jeden Preis; denn das hieße, mögliche Hand- nister, der wegen einer Reihe anderer Fragen mit lungsunfähigkeit einzukalkulieren. Aber es wäre mir dein Rücken an der Wand steht, auch in dieser Frage sehr viel Anstrengung we rt, wenn wir es auch dies- weichzukochen. mal schaffen würden, unsere in ihren Grundlagen bewährte Alterssicherung zu erhalten und weiterzu- (Beifall bei der SPD) entwickeln. Man kann in dem Protokoll des Deutschen Bundes- Wie bewährt sie ist, erkennt man daran: Kein ande- tages über eine Aktuelle Stunde, die wir im vergan- res Alterssicherungssystem, kein kapitalgedecktes genen Jahr am 29. November durchgeführt haben, oder sonstwie konstruiertes System, wäre fähig ge- nachlesen, was ich dort zitiert habe. Nach jeder die- wesen, über Nacht 4 Millionen Rentner aus den ser Diskussionsrunden am Wochenende gab es offi- neuen Bundesländern zu übernehmen. Das ist der zielle Dementis von Herrn Glos, Herrn Bohl und von größte Leistungsbeweis für unsere gute alte Renten- anderen. Da hieß es dann: versicherung. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall soll nach (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dem Willen der Bundesregierung in ihrer bisheri- gen Form erhalten bleiben. Kanzleramtsminister Darum bleibe ich ganz konservativ, wenn auch ... erklärte gestern, weder in der nicht im Sinne eines Betonkopfes; sie muß weiterent- Bundesregierung noch in der Koalition gebe es wickelt werden. Aber in den Grundlagen hat sie sich Pläne, eine Kürzung der Lohnfortzahlung im über 100 Jahre in Katastrophen bewäh rt. Deshalb gilt Krankheitsfalle in den ersten zwei Wochen um es - dazu lade ich ein -, diesen Prinzipien weiterhin bis zu 20 Prozent vorzunehmen. treu zu bleiben. Über die Notwendigkeit der Weiter- entwicklung muß diskutiert und auch gestritten wer- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das hat ge den, aber bitte mit Rücksichtnahme auf die Gefühle, stimmt!) Sorgen und Ängste von Menschen. Etwas weiter heißt es: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ähnlich äußerte sich auch Gesundheitsminister Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt ... Seehofer lehnte den Vorschlag der Kollege Gerd Andres. auch deshalb ab, weil die Realisierung einen Ein- griff in die Tarifhoheit voraussetzte.

Gerd Andres (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- Was wir von all den Zusagen zu halten hatten, ha- ginnen und Kollegen! Wer die Medien beobachtet, ben wir gespürt. Die Menschen in diesem Lande wis- wer den Bundesarbeitsminister beobachtet und wer sen, worauf sie sich verlassen können, wenn einzelne seinem Diskussionsbeitrag aufmerksam zugehört von Ihnen an jedem Wochenende einen neuen Vor- hat, der weiß: Hier steht ein Mann mit dem Rücken schlag entwickeln und damit die Sau durchs Dorf an der Wand. Trotz aller Betonung der offenen Ge- treiben, sellschaft und der Diskussionsbreite kann man, glaube ich, mit Fug und Recht sagen - ich will ihm (Beifall der Abg. [Köln] [SPD]) 11810 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Gerd Andres während die politisch Verantwortlichen hier sagen, nat zu Monat kurzfristige Einsparvorschläge machen; sie wüßten eigentlich gar nicht, worum es geht; das das wird an den Widersprüchen bei Ihren eigenen seien alles nur Privatmeinungen. Vorschlägen deutlich. Herr Schäuble redet über die Besteuerung der Renten. Dann wird das alles wieder (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annelle eingesammelt, und er sagt: Die Besteuerung, über Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] die geredet wird, soll erst in 15 Jahren kommen. Die und des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS]) spannende Frage ist: Wenn das erst in 15 Jahren Im übrigen - Herr Geißler, das kann ich mir nicht kommen soll, was soll der ganze Krempel überhaupt? verkneifen -: Im Protokoll vom 29. November gibt es einen Zwischenruf von Dr. Heiner Geißler: „Warum (Beifall bei Abgeordneten der SPD) macht ihr denn diese Aktuelle Stunde?" Ich habe Ih- Wenn Sie, Herr Louven und Herr Kauder - ich spre- nen gerade gesagt, warum. che Sie an, weil Sie so schön in meinem Blickfeld sit- Zur zweiten Frage. Ich glaube, daß der Bundesar- zen -, davon reden, daß das Rentenalter auf 67 Jahre beitsminister auch deswegen mit dem Rücken an der erhöht werden soll, dann empfehle ich Ihnen einmal Wand steht, weil es wegen der verfehlten Finanzpoli- ganz dringend: Schauen Sie sich einmal im Renten- tik, die diese Koalition zu verantworten hat, wegen reformgesetz unsere Finanzkalkulationen in bezug auf die Beitragsgrößen an. der großen Miseren und des Zwangs, Milliarden zu- - sammenzusuchen, wegen der Maast richter Kriterien und anderer Fragen gar keine Bach- und fachge- rechte Debatte mehr über die Zukunft des Rentensy- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, stems gibt. Sie müssen zum Schluß kommen. Sie haben die Zeit schon überzogen. Der Bundesarbeitsminister wird vielmehr immer im Zusammenhang mit Herrn Waigel zitiert und mit im- ( [CDU/CSU]: Er ist doch mer neuen Vorschlägen konfrontiert. Der eine sagt: schon am Ende!) Wir führen Karenztage in der Arbeitslosenversiche- rung ein. Das führte dann in der Berliner „taz" dazu, daß sie einen Artikel mit dem Titel „Sparen bis zum Gerd Andres (SPD): Zum Schluß: Es hat eine Reihe Verfassungsbruch" überschrieben hat. von Vorschlägen gegeben, auf die ich jetzt nicht ein- gegangen bin. Sie können bei den versicherungs- Ich wage eine sanfte Prognose, liebe Kolleginnen fremden Leistungen auf vernünftige Weise etwas und Kollegen, in Abwandlung eines berühmten machen. Wir müssen aus der demographischen Ent- deutschen literarischen Sprichworts: Dieser Bundes- wicklung heraus darangehen, das System mittelfri- arbeitsminister wird so lange zu Waigel gehen, bis er stig zu ergänzen und umzubauen. Aber alle Vor- bricht. schläge, die Sie haben, laufen faktisch auf Kürzung (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf und Sozialabbau hinaus. Deswegen muß dies im Par- Kutzmutz [PDS]) lament immer wieder aufs neue thematisiert werden, damit Sie sich nicht davonlügen können, wie Sie das Und er wird brechen, weil er die internen Schwierig- bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gemacht keiten, die Sie haben, gar nicht ausgleichen kann. haben. Ich will einmal auf einige Punkte hinweisen: Wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben hier in den letzten Wochen und Monaten über DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Finanzkrisen der Sozialsysteme geredet. Niemand PDS) von Ihnen hat über eine vernünftige Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik gesprochen, die die Probleme bewältigen könnte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Julius Louven. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Fakt ist, daß Sie Punkt für Punkt immer nur den Lei- stungsabbau beschreiben können. Julius Louven (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Wer weiß, daß wir mit der Rentenreform 1992 ei- ganz froh, daß wir heute diese Aktuelle Stunde ha- nen Regelmechanismus verabredet und beschlossen ben, insbesondere deshalb, weil man mit einigen hatten, der gerade verhindern soll, daß die Politik Mißverständnissen und auch Unverschämtheiten kurzfristig, von Jahr zu Jahr, in der Rentenversiche- dann wohl etwas aufräumen kann. rung herumfummelt, der weiß natürlich auch, daß je- der Beitragszehntelpunkt in der Rentenversicherung Frau Mascher, ich halte Sie ja für eine sachverstän- bedeutet, daß der Bund mit einer Kofinanzierung von dige Frau. Aber wenn Sie sich heute hinstellen und 300 Millionen DM dabei ist. so tun, als gäbe es in der Rentenversicherung keine Probleme, Das führt dazu, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß Sie sich in der Beitragsfrage sozusagen (Zuruf von der SPD: Sagt doch kein öffentlich die Schlinge um den Hals gelegt haben. Mensch!) Sie sind nämlich mittelfristig nicht mehr in der Lage, vernünftig über die Weiterentwicklung der Renten- dann kann ich mich darüber nur wundern. Da ma versicherung zu reden. Sie werden vielmehr von Mo- chen Ihnen ja nun Gott sei Dank die Jusos inzwi- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11811

Julius Louven schen Dampf, und bei uns ist das mit der Jungen einer Tagung, die in Gießen stattgefunden hat, er- Union nicht anders. zählt hat, dann hat der rheinland-pfälzische Sozial- minister Gerster, unser früherer Kollege, do rt erklärt, (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Bei uns sind es daß an einer Niveauabsenkung in der Rentenversi- die Julis!) cherung kein Weg vorbeiführt. Die jungen Leute machen sich Sorgen, ob es für sie (Zuruf von der SPD: Was heißt das denn?) in 30, 40 Jahren noch eine Rente geben wird. (Gerd Andres [SPD]: Deswegen arbeiten bis Ihnen fallen in diesem Zusammenhang nur die versi- 70!) cherungsfremden Leistungen ein. Ich muß Ihnen auch wieder sagen, daß Sie in diesem Jahr die Ein- Auch ich habe für diese Sorgen Verständnis. führung einer weiteren versicherungsfremden Lei- Ich will etwas an die Adresse von Gerd Andres sa- stung mit beschlossen haben. Das Üble war, daß die- jenigen, die sich dagegen wehrten, von Ihrem Frak- gen: Denkverbote helfen überhaupt nicht weiter. tionsvorsitzenden dann noch des Rechtspopulismus (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das bezichtigt wurden. Sie, meine Damen und Herren hatten wir auch schon! Das will ja keiner!) von der SPD, bewegen sich in Bonn schwerfälliger als anderswo in der Republik. Es kann doch niemand leugnen, daß es Probleme in - der Rentenversicherung gibt. Weil Volker Kauder Dreßler hat, als ich 1994 in einer Debatte des Bun- und ich die Probleme sehen, haben wir - und zwar destages eine weitere Rentenreform forderte, erklärt: als Abgeordnete des Deutschen Bundestages - ein Herr Louven, eine weitere Rentenreform ist definitiv Papier für unsere Rentenreformkommission verfaßt, nicht notwendig. Nun haben Sie eine Rentenreform- kommission, wir übrigens auch. Offensichtlich ist (Ottmar Schreiner [SPD]: Für die Presse dergleichen also notwendig. habt ihr das Papier gemacht, nicht für die Kommission!) Es gibt in diesem Zusammenhang auch faden- die ja die Probleme sehr sorgfältig diskutiert. Ich will scheinige Argumentationen. Heute morgen habe ich hier auch einmal mit der aberwitzigen Geschichte ein Interview mit Lutz Freitag gehört, dem Chef- vom Minenhund Schäuble und dem Auftrag Dritter selbstverwalter der BfA. Er hat um den heißen Brei aufräumen. Das ist alles Quatsch. Dieses Papier ha- herumgeredet. Letztlich ist es der Moderatorin aber ben wir in eigener Verantwortung verfaßt. Wir woll- doch gelungen, ihm die Aussage abzuringen, daß ab ten mit diesem Papier auch für Vertrauen - insbeson- dem Jahr 2010 in der Rentenversicherung erhebliche dere in der jungen Generation - in unser leistungsbe- Probleme bestehen. Nichts anderes haben Volker zogenes Rentensystem werben. Kauder und ich in unserem Papier angesprochen. Ich will Ihnen sagen, daß wir uns an Vorgaben ge- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) bunden fühlen. Eine Vorgabe ist in der Kanzlerrunde Wir haben keine Maßnahme, die sofort greift, vorge- vom 23. Januar gemacht worden. Dort haben Bun- schlagen. Wir haben uns ausschließlich mit den mit- desregierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber ein- tel- und langfristigen Problemen der Rentenversiche- vernehmlich festgestellt: Bis zum Jahr 2000 muß der rung auseinandergesetzt. gesamte Sozialversicherungsbeitrag auf unter 40 Prozent sinken. In welch guter Gesellschaft wir uns befinden, will (Gerd Andres [SPD]: Und die Arbeitslosig- ich Ihnen sagen. Am 22. August 1996 hat der Präsi- dent der BfA, Herr Dr. Rische, erklärt, daß auf Dauer keit halbiert werden!) an einer Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf Das kann ja wohl nur heißen, daß er auf dieser Höhe 67 Jahre kein Weg vorbeiführt. auch bleiben muß. Dies bedeutet einen Rentenversi- cherungsbeitrag von 20 Prozent. Dies haben die Ge- (Widerspruch bei der SPD) werkschaften und die Arbeitgeber doch offensicht- Meine Damen und Herren, ich würde mich freuen, lich mit beschlossen, mit dem Ziel, durch diese Maß- wenn wir die Debatte versachlichen und um den be- nahmen die Arbeitslosigkeit zu halbieren. sten Weg streiten könnten. Ich bin wie Sie, der Mi- (Zuruf von der SPD: Richtig! Wo sind wir nister und wir alle in dieser Fraktion und in dieser jetzt?) Koalition der Meinung, daß es bei einem leistungsbe- zogenen Rentensystem bleiben muß. Dies geht aber Dies ist auch die Antwort auf die Frage: Wo sind nur, wenn wir den Mut haben, über Veränderungen denn die Arbeitsplätze, wenn es eine Verlängerung im System zu sprechen. der Lebensarbeitszeit gibt? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Unsere Analyse -- davon bin ich fest überzeugt - stimmt. Über unsere Lösungsansätze kann und soll man streiten. Dies halte ich für ganz wichtig. Aber Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat wichtig ist ebenfalls, daß bei unserem Vorschlag der jetzt die Kollegin Doris Barnett. Rentenversicherungsbeitrag langfristig bei 20 Prozent verbleibt. (Gerd Andres [SPD]: Wo sind eigentlich die Eppel- und die Laumänner? Der sozialpoliti Ich will auch etwas zur Niveauabsenkung sagen. sche Flügel der Union muß doch jetzt Wenn es richtig ist, was Frau Fischer mir neulich von kämpfen!) 11812 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Doris Barnett (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- auf mit der Salamitaktik bei der Verkündigung Ihrer ginnen! Liebe Kollegen! In der Bonner Gerüchtekü- Politik. Jeder hier weiß, daß Sie zur Hatz, zum Fron- che wird kräftig gekocht - und was bei all dem her- talangriff auf die sozialen Standards in unserem auskommt, ist völlig unverdaulich. Lande geblasen haben. Ihre Politik, meine Damen und Herren von der Re- Verraten Sie uns mal, wo die eigenständige Alters- gierungskoalition, dient nicht dem Wohle des Volkes; sicherung der Frauen bei der Hinterbliebenenrente sie bekämpft alles, was ihr als sozial suspekt vor- bleibt. Dieses Problem wollten Sie doch schon vor kommt: Lohnfortzahlung, Mitbestimmung, Anrech- Jahren angehen. Aber außer heißer Luft kam bisher nung von Studienzeiten bei der Alterssicherung, nichts. Kündigungsschutz, die Arbeitslosen, die Sozialhilfe- empfänger und jetzt auch wieder die Rentner, Wit- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wen und Waisen. Nein, im Falle der Hinterbliebenenrente zäumen Ich frage mich: Was für ein Gesellschaftsbild ha- Sie schon wieder das Pferd von hinten auf. Statt da- ben Sie im Sinn? Ein christliches? Ein soziales? Oder für zu sorgen, daß die Frauen wirklich gleichberech- ein reinrassig kapitalistisches? tigt in allen Bereichen und auf allen Ebenen am Er- werbsleben teilhaben und teilnehmen können, um Statt an die Wurzeln der Probleme zu gehen, sich eine eigenständige Alterssicherung aufzubauen, macht sich die Regierung über die Betroffenen her. werden sie nach Hause geschickt, oder sie können Statt nämlich die Massenarbeitslosigkeit wirklich zu sich als Teilzeitkraft - unter Tarif natürlich - für höch- beseitigen - aber dazu braucht man Entschlossen- stens 590 DM im Monat verdingen. heit, Mut und auch Kenntnis, wenn ich an Frau Ba- bels Äußerungen denke -, traktiert die Bundesregie- Ist das Ihre Vorstellung von einer eigenständigen rung die Kranken, die Arbeitslosen, die Jungen, und Alterssicherung? Ganz nebenbei, die Rentenkasse ist auch vor den Alten und Hinterbliebenen macht sie keine schwarze Kasse bzw. kein Schattenetat. Das keinen Halt. gilt auch für die deutsche Einheit. Wenn ich mir parallel dazu die Äußerungen der Jugendorganisa- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- tionen der Regierungsparteien anschaue, und vor ten der PDS) Augen führe, was diese in Sachen Rentenreform von sich geben, dann weiß ich, daß über diese Schiene Was die Vertreter der Koalition laut nachdenkend das letzte Stündlein für unser Rentensystem einge- in der Presse bezüglich der Rentenansprüche und läutet werden soll. der Hinterbliebenenrente von sich geben, ist schon starker Tobak und hat nichts mit Vertrauen zu tun. (Widerspruch bei der CDU/CSU - Zuruf von Aber eines haben wir seit dem letzten Jahr gelernt: der CDU/CSU: Sagen Sie das den Jusos, da Wenn Ihre Sprecher laut denken, dann werden sie haben Sie genug zu tun!) zwar gleich offiziell zurückgepfiffen, aber nur, um sich sofort an die Arbeit zu machen, das Verkündete - Das sind Ihre Organisationen. auch umzusetzen. Das haben Herr Geißler und Herr Mutwillig suchen Sie Ihr Heil in der Abschaffung Louven bestätigt. Die Lohnfortzahlungsdebatte läßt von sozialstaatlichem Konsens. Die SPD forde rt die grüßen. Regierung auf: Kehren Sie zurück zu einer Politik, Von Ihrer Seite werden ständig neue Parolen ver- die auf stabilen Fundamenten steht! Bemühen Sie kündet. Wir erwarten aber keine hinhaltenden sich, den sozialen Frieden in unserem Lande zu er- Sprechblasen, sondern wir wollen jetzt wissen, was halten, und schaffen Sie endlich die Voraussetzun- Sie schon längst vorhaben, geplant und beschlossen gen für mehr Arbeitsplätze! Nur so lassen sich die öf- haben. Wir haben ein Recht darauf - und die Bevöl- fentlichen Haushalte sanieren, nicht mit einem Ver- kerung auch. schiebebahnhof, auf dem es darüber hinaus unsozial, unausgegoren und höchst ungerecht zugeht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD) und der PDS) Kommen Sie endlich zur Vernunft, zum Wohle des Haben Sie sich mit den Hinterbliebenen schon ein- Volkes! mal darüber unterhalten, was eine Kürzung für die (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Menschen bedeutet? Sie bedeutet nicht nur den Ver- GRÜNEN und der PDS) lust des Geldes. Es geht auch um die Glaubwürdig- keit, die Zuverlässigkeit und die Ehrlichkeit der Poli- tik. Ich habe es satt, dauernd mit Ihnen verhaftet zu Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege werden; die Bevölkerung ist mittlerweile nämlich Merz, Sie haben jetzt das Wort . wegen Ihrer Politik stinksauer auf die Politiker. (CDU/CSU): Frau Präsidentin! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Friedrich Merz ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren! Ich bin der SPD-Bun- destagsfraktion wirklich dankbar - ich sage das ehr- und der PDS) lich -, daß sie zum Gegenstand dieser aktuellen Die SPD forde rt, daß Sie uns jetzt ungeschminkt Stunde auch die Diskussion über die mögliche Be- und ohne verbalakrobatische Schnörkel sagen, was steuerung der Renten gemacht hat, weil mir dies Ge- Sie außer diesen Einschnitten vorhaben. Hören Sie legenheit gibt, auf einige Vorwürfe zu antworten, die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11813

Friedrich Merz auch an mich gerichtet worden sind, und weil dar- steuert werden. Sie müssen sich schon für das eine über öffentlich berichtet worden ist. oder das andere entscheiden.

Lassen Sie mich aber eine Bemerkung vorweg ma- (Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser: chen. Hier ist heute morgen wieder mehrfach von Sehr gut!) dem Problem der sogenannten versicherungsfrem- den Leistungen in der Rentenversicherung die Rede Drittens. Mir persönlich geht es in der Frage der gewesen. Wenn wir darüber reden, müssen wir der Besteuerung der Alterseinkommen nicht um eine Ehrlichkeit halber auch über haushaltsfremde Sozial- kurzfristige, sondern um eine langfristige Neuord- leistungen sprechen. Es gehört zur Ehrlichkeit, in nung der steuerlichen Behandlung der Altersein- dieser Debatte zu sagen, daß wir im Bundeshaushalt kommen. einen nicht unwesentlichen Zuschuß für die Renten- Wenn wir dieses Thema angehen - und wir tun versicherung leisten, daß die Knappschaftsversiche- dies -, sind wiederum drei Punkte zu beachten: Er- rung fast ausschließlich durch den Bundeshaushalt stens. Die Beiträge sollten steuerfrei gestellt werden, finanziert wird und daß wir auch nicht unerhebliche damit im Alter moderat besteuert werden kann. Beträge für die Arbeitslosenhilfe bereitstellen. Das Thema hat also zwei Seiten. Ich bitte darum, daß wir Zweitens. Ich entnehme dem Antrag zur Einkom- dies nicht aus dem Blick verlieren. - mensteuerreform der SPD die Formulierung: „Jedes Einkommen muß besteuert, darf aber auch nur ein- Aber ich möchte mich nun zu den steuerpoliti- mal besteuert werden. " Das ist wörtlich der Text, wie schen Fragen äußern. Das Bundesverfassungsgericht er im Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zur Ein- hat 1980 und 1992 eine zunehmende Ungleichbe- kommensteuerreform steht. handlung der Besteuerung der Alterseinkommen festgestellt und in der Entscheidung des Jahres 1980 Drittens. Ich meine, daß wir die Frage der Steuer- dem Gesetzgeber aufgetragen, bei einer Zunahme politik von einem Grundsatz aus führen sollten, der dieser Ungleichbehandlung eine gesetzliche Rege- lautet: Der Rechtsgrund für den Erwerb von Einkom- lung zu treffen, die dies abstellt. men ist steuerpolitisch und steuerrechtlich ohne Be- deutung. Es liegen erneut Klagen und Verfassungsbe- schwerden beim Bundesverfassungsgericht vor, und Wenn wir dem folgen, dann können wir eine lang- wir rechnen mit einer Entscheidung im Laufe des fristig ordentlich geführte Debatte über die Frage der Jahres 1997. Ich halte viel davon, in der steuerpoliti- Besteuerung der Alterseinkommen führen, ohne daß schen Diskussion nicht immer darauf zu warten, bis in der Öffentlichkeit Schlagzeilen produziert werden, das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung die ohne Grund die Rentner verunsichern. trifft. Ich meine, der Gesetzgeber sollte sich rechtzei- tig um ein Problem kümmern, wenn es als solches Herzlichen Dank. ausgemacht ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Weil hier in sehr unsachlicher Form über die Ren- tenbesteuerung öffentlich berichtet worden ist, will Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat die ich noch einmal drei Dinge klarstellen: Kollegin Erika Lotz das Wort . Erstens. Es kann und darf eine Doppelbesteuerung der Renten nicht geben. Erika Lotz (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- nen! Liebe Kollegen! Nun hat Herr Louven bei der (Beifall des Abg. Dr. Heiner Geißler [CDU/ SPD Schnelligkeit vermißt. Ich sage, Herr Louven: CSU]) Auf die immer kürzer werdenden Verfallszeiten Ihrer Die Arbeitnehmer dürfen nicht aus versteuertem Ein- Gesetzgebung können wir verzichten. kommen Beiträge bezahlen und dann im Alter noch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne einmal besteuert werden. Dies darf schon aus Verfas- ten der PDS) sungsgründen nicht geschehen. Das als Jahrhundertwerk gepriesene Rentenre- Zweitens. Eine mögliche Besteuerung der Renten formgesetz von 1992 hat gerade einmal vier Jahre ge- ist kein Thema, wenn es um eine kurzfristige Sanie- halten. Am 13. September hat die Regierungskoali- rung notleidender öffentlicher Haushalte geht. Wenn tion, gegen die Opposition, trotz Massenprotesten Sie wahrgenommen hätten, was Ihre Kollegen aus der Bevölkerung, beschlossen, die Regelaltersgrenze dem Bereich der Finanzpolitik heute morgen von die- der Rentenversicherung auf 65 Jahre anzuheben. ser Stelle aus gesagt haben, dann hätten Sie festge- Nur den Protesten von Gewerkschaften, Frauen- und stellt, daß mit dem Vorschlag, das Bareis-Gutachten Sozialverbänden und der Opposition ist es zu verdan- zur Steuerreform doch ernst zu nehmen, genau die- ken, daß dies nicht schon 1997 in Kraft tritt, sondern ser Sachverhalt angesprochen wird. Professor Bareis erst ab dem Jahre 2001. hat uns im letzten Jahr vorgeschlagen, die Renten zu besteuern. Sie können nicht in einer steuerpoliti- Doch jetzt sind nicht einmal vier Wochen vergan- schen Debatte sagen, der Bareis-Vorschlag solle um- gen, da wird aus den Reihen der Regierungskoalition gesetzt werden, und anschließend in der sozialpoliti- schon eine neue Altersgrenze gehandelt. Woher sol- schen Debatte sagen, die Renten dürften nicht be- len die Menschen dann noch Vertrauen in die Ren- 11814 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Erika Lotz tenversicherung und in die Politik nehmen? Ich halte Sie haben nur ein Ziel: Sie kürzen bei denjenigen, dies für unverantwortlich, was Sie da veranstalten. die der Solidarität bedürfen. Sie kürzen bei den Bei- tragszahlern. Sie haben die Bekämpfung der Mas- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ senarbeitslosigkeit trotz aller vollmundigen Erklärun- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Bläss gen aufgegeben. Auch das ist ein Ergebnis der gest- [PDS]) rigen Sitzung, in welcher Sie das Arbeitsförderungs- Bis 67 Jahre soll in Zukunft also gearbeitet werden. Rückschrittsgesetz gegen die Opposition und gegen Für die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- alle Vernunft durchgepeitscht haben. nehmer bedeutet das: bis zum Umfallen. Wer kann das, so frage ich, und wo gibt es da noch Hoffnung (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annelie für Arbeitslose? Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Daß dieser Vorschlag von Sozialpolitikern der CDU Mit dieser neuen Diskussion lösen Sie eine tiefe kommt, ist für mich erschreckend - erschreckend Verunsicherung der Rentnerinnen und Rentner aus, deshalb, weil er mir deutlich macht, daß Ihnen die also derjenigen, die nach 1945 die kaputten Bet riebe betriebliche Realität vollkommen abgeht oder Sie sie für ein Butterbrot aufgebaut und anderen damit zu ignorieren. Reichtum verholfen haben, denjenigen, denen Sie auch noch die Vermögensteuer erlassen wollen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schon jetzt erreicht doch nur ein Drittel aller Er- (Julius Louven [CDU/CSU]: Das ist doch werbstätigen die gesetzliche Altersgrenze. Ein Drittel Quatsch, was Sie da sagen!) der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen verstirbt Den jungen Menschen und Arbeitslosen geben Sie früher, und ein Drittel wird vorher erwerbsunfähig. mit dieser Diskussion das Signal, überhaupt keine Dieser letzte Anteil wird durch die schon beschlos- Chance auf einen Arbeitsplatz zu erhalten. Sie trei- sene Heraufsetzung des Rentenalters größer werden. ben einen Keil zwischen die Generationen; dies halte Es geht nicht darum, daß Arbeitnehmer nicht mehr ich für unverantwortlich. arbeiten wollen, sondern darum, daß sie nicht mehr (Beifall bei der SPD) arbeiten können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Ich halte es auch nicht für verantwortlich, wie Sie ten der PDS) von der Regierungskoalition den Lebensversiche- rungsunternehmen eine kostenlose Werbekampagne Soll denn künftig ein Maurer, dessen Bandscheiben bescheren. schon mit 50 beschädigt sind, bis 67 auf dem Gerüst schuften müssen? Soll denn eine Krankenschwester, (Beifall bei der SPD) eine Altenpflegerin bis 67 die Patienten betten müs- sen? Soll denn eine Verkäuferin bis 67 im Laden ste- Herr Bundesarbeitsminister - Herr Staatssekretär hen oder an der Kasse sitzen müssen, obwohl dies für Günther kann es Ihnen vielleicht übermitteln -, sor- sie wie für die meisten schon ab 60 Jahren eine Über- gen Sie für ein Ende dieser Verunsicherung, sorgen forderung darstellt? Das haben Ihnen die Frauen Sie für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, sorgen Sie doch auch geschrieben oder gesagt. dafür, daß aus Arbeitslosen Beitragszahler werden! Greifen Sie unsere Vorschläge auf! (Julius Louven [CDU/CSU]: Die Anhebung auf 65 haben Sie mit beschlossen!) Danke schön. Oder wollen Sie, daß die Menschen, wenn sie die (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annelie Rente ab 60 Jahren haben wollen oder müssen, dann Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nicht nur 18 Prozent, sondern 25,2 Prozent Renten- kürzung hinnehmen müssen? Dann sagen Sie es of- fen! Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat der Kollege Volker Kauder, CDU/CSU. Am 13. September haben Sie den Arbeitnehmern in Kleinbetrieben bis zehn Beschäftigten den sozia- len Kündigungsschutz genommen. Was soll aus ei- Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine nem Arbeitnehmer werden, der mit 54 Jahren den sehr verehrten Damen und Herren! Die gesetzliche Arbeitsplatz verliert? Rentenversicherung war und ist erfolgreich. Dem weitaus größten Teil unserer Bürger steht im Alter (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) ein ausreichendes Einkommen zur Verfügung. Der In der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Ar- Anteil der Rentner, die Sozialhilfe beziehen, hat sich beit und Sozialordnung haben Sie unter anderem seit Beginn der 70er Jahre halbiert. Wir haben jetzt durchgepeitscht, daß es erst ab dem Alter 57 den län- mit der Pflegeversicherung einen Beitrag dazu gelei- geren Arbeitslosengeldanspruch von 32 Monaten stet, daß Rentnerinnen und Rentner im Alter, wenn gibt. Sie haben durchgepeitscht, daß nach sechsmo- sie pflegebedürftig sind, eine weitere Sicherung ha- natiger Arbeitslosigkeit ein Arbeitsplatz mit einem ben. Verdienst in Höhe des Arbeitslosengeldes zumutbar Zu den größten Leistungen dieser Rentenversiche- ist. Wenn dieser wieder verloren ist, was dann? - Die rung überhaupt zählt aber, daß sie gleichsam über nächste Abstufung. Und dann? Nacht 4 Millionen Rentner aus den neuen Ländern (Zuruf von der SPD: Sozialamt!) integriert hat: Diese Menschen bekommen zum er- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11815

Volker Kauder stenmal etwas, was sich wirklich mit dem Namen Generationen, als wir glauben. Keine Generation wi ll „Rente" bezeichnen läßt. auf Kosten der anderen leben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir wollen, daß dieses System zukunftsfest ge- Deshalb haben wir die Verpflichtung, dafür zu sor- macht wird, daß es auch in Zukunft weiterbestehen gen, daß das nicht geschieht. und die Aufgaben, die ich gerade beschrieben habe, erfüllen kann. Dazu müssen wir auf die neuen Her- Das machen wir in unseren Diskussionen in der ausforderungen, die wir nicht leugnen können, son- Rentenkommission. Wir sichern die Rente, die jetzi- dern die wir akzeptieren müssen, eine Antwort fin- gen Rentner behalten ihre Rente, und wir leisten ei- den. nen Beitrag dazu, daß die heute 30jährigen auch wei- terhin Vertrauen in unsere Rentenversicherung ha- Ich bin eigentlich sehr dankbar dafür, in welch ben können. sachlicher Atmosphäre heute debattiert wird, auch wenn es unterschiedliche Auffassungen gibt. Es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zeigt sich aber doch ganz klar, daß wir einen enor- men Reformbedarf haben. Es sind überall Kommis- sionen eingerichtet, auch bei der SPD. Es ist nicht so, - Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der daß nur die Jungen bei der Jungen Union oder die Kollege Ottmar Schreiner, SPD. Jungliberalen darüber diskutieren. Die Jungsoziali- sten in Baden-Württemberg haben am 5. September 1996 einen neuen Generationenvertrag gefordert. Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- Unterstützt von ihrem Landesvorsitzenden Maurer leginnen und Kollegen! Ich will auf einige Berner- haben sie gefordert, die Renten-, Kranken- und Pfle- kungen der Koalitionsredner eingehen. geversicherung schrittweise auf ein Kapitaldek- Zunächst zum Kollegen Louven: Sie haben gesagt, kungsverfahren umzustellen; Ziel ist es, den Gesamtbeitragssatz zu den Sozialver- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Hört! Hört!) sicherungssystemen bis zum Jahre 2000 unter 40 Prozent zu halten. Dem stimme ich ausdrücklich so steht es in der „Stuttgarter Zeitung". zu. Sie könnten dieses Ziel ohne jeden Zweifel errei- chen, wenn es gelänge, die Arbeitslosigkeit in So weit gehen wir nicht. Wir wollen im System re- Deutschland bis zum Jahre 2000 zu halbieren. Aber formieren. Sie haben - ich habe Ihnen das in Dutzenden von De- batten in den letzten Monaten vorgehalten - nicht Der Zustand der Rentenversicherung ist heute da- das geringste Konzept dafür, wie Sie die Arbeitslosig- durch gekennzeichnet, daß das durchschnittliche keit bis zum Jahre 2000 halbieren wollen. Rentenzugangsalter bei 59 Jahren, maximal bei 60 Jahren liegt. Es liegt also mehr als fünf Jahre un- (Beifall bei der SPD) ter der Regelarbeitsgrenze. Die 65jährigen Männer haben heute eine durchschnittliche Lebenserwar- Sie haben immer nur Schritte in die falsche Rich- tung von über 14 Jahren, die gleichaltrigen Frauen tung gemacht. Sie haben, anstatt das Angebot der sogar von über 18 Jahren. Wir können doch nicht Gewerkschaften wirklich ernst zu nehmen - „Bünd- leugnen, daß die Menschen früher in Rente gehen nis für Arbeit", moderate Lohnpolitik gegen mehr und länger Rente beziehen. Darauf haben wir alle Beschäftigung eintauschen -, die Gewerkschaften im miteinander reagiert, indem wir im Jahre 1989 be- Frühjahr dieses Jahres zu Wahlkampfzwecken brutal schlossen haben, daß die Regelaltersgrenze für den mißbraucht. Nachdem die Landtagswahl vorbei war, Eintritt in die Rente ab 2001 auf 65 Jahre festgelegt haben Sie sie ebenso brutal vom Tisch gestoßen wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Der Kollege Louven und ich haben nun als Mitglie- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN der der Rentenkommission, als Bundestagsabgeord- und der PDS) nete einen Vorschlag unterbreitet, in dem wir uns und dann einen gesellschaftlichen Großkonflikt in nicht für heute, sondern für übermorgen Gedanken Sachen Lohnfortzahlung ohne jede Not vom Zaun machen. Wir müssen sehen, wie die Entwicklung gebrochen. weitergeht; denn wir wollen nicht, daß das passiert, was in den letzten Monaten passiert ist: daß der Be- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das haben wir ginn des Renteneintrittsalters 65 Jahre überraschend schon vor der Wahl gesagt!) und schnell vorverlegt werden mußte. Wir wollen eine langfristige Perspektive. - Das haben Sie nicht vor der Wahl gesagt, sondern Sie haben die populären Vorschläge der IG Metall - - Niemand, der heute in Rente oder ein rentennaher Jahrgang ist, ist von unserem Vorschlag betroffen. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Deshalb haben wir Ich muß aber den 30jährigen eine Antwort darauf ge- die Wahl auch gewonnen!) ben, wie es in Zukunft mit der Rente aussehen wird. Darüber diskutieren wir in der Union verantwor- - Nun regen Sie sich nicht so auf! Stellen Sie eine tungsbewußt. Die Menschen denken viel stärker in Zwischenfrage und benehmen Sie sich anständig 11816 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Ottmar Schreiner und nicht wie ein dahergekommener Mensch, der Leistung" umzukehren, Sie treiben die Leute in die ständig rumflegelt. Wo sind wir eigentlich? Leistungen hinein, anstatt ihnen zu helfen, sie zu ak- tivieren und wieder in den Erwerbsprozeß einzuglie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- dern. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Letzter Punkt: Kollege Geißler hat gesagt, es gehe um die Konsolidierung der Sozialsysteme. Lieber Zweiter Punkt. Minister Blüm warnt davor, eine Kollege Geißler, es geht im Kern nicht um die Konso- Verunsicherungskampagne loszutreten. Wer verunsi- lidierung der Sozialsysteme, sondern um eine grund- chert eigentlich die älteren Menschen? Es vergeht legende Korrektur Ihrer falschen Verteilungspolitik. keine Woche, in der nicht von den Koalitionsfraktio- nen eine rentenpolitische Sau durchs Dorf get rieben (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Nein, nein!) wird. Eine solche Woche ist in den letzten Monaten nicht vergangen! Die Verunsicherung kam aus- - Ja, ja. - Ich will Ihnen einmal aus einer der letzten schließlich aus dem Regierungslager, aus dem Lager Ausgaben der „Zeit" zitieren: der Koalitionsfraktionen. Wer verunsichert hier Men- Zur gleichen Zeit wurde den Systemen sozialer schen? Sicherung ein historisch einmaliger Kraftakt ab- Dritter Punkt: Der Kollege Geißler hat gesagt, es verlangt: die Vereinigung Deutschlands, also die sei unstreitig, daß die umlagefinanzierte Rente erhal- Aufnahme von 17 Millionen Ostdeutschen, die ten bleiben soll. Das hat der Kollege Kauder soeben bisher keine entsprechenden Beiträge leisten noch einmal ausdrücklich bekräftigt. - Das steht in konnten. Daß der Sozialstaat jetzt unter der Über- völligem Widerspruch zu Ihrer eigentlichen Absicht, last in die Knie geht, ist kein Wunder. Ausgerech- zur Absicht der Kollegen Kauder und Louven. Ich zi- net diejenigen, die ihm die Überforderungen ein- tiere aus Ihrem Papier: gebrockt haben, erklären den Sozialstaat nun selbst zum Schuldigen. Er fördere überzogenes Diese Neuregelung trägt wesentlich zu der gefor- Anspruchsdenken, mache die Menschen unmün- derten Gewichtsverlagerung zugunsten des Ka- dig, stranguliere die Wirtschaft. pitaldeckungsverfahrens bei. Das heißt, Sie wollen die Privatisierung des Altersrisi- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zeit, Herr Kol- kos, und Ihre Vorschläge sind ein erster handfester lege! Schritt in diese Richtung. (Beifall bei der SPD und der PDS) Ottmar Schreiner (SPD): Genau das ist der Punkt: Sie haben die Einheit völlig einseitig auf Kosten chro- Insoweit ist das, was Kollege Geißler gesagt hat, wie- nisch Behinderter, auf Kosten der Arbeitnehmer, auf der einmal nicht die Wahrheit. Sie wollen die Kosten von Familien mit Kindern finanziert und sind Schleuse öffnen: Privatisierung des Altersrisikos. Das nicht davor zurückgeschreckt, in den letzten Mona- haben Sie in Ihr Papier ausdrücklich hineingeschrie- ten hier im Parlament mehrfach die Lüge vorzutra- ben, ich habe Ihnen eben den entscheidenden Satz gen, Sie seien vom Bundesverfassungsgericht zur zitiert. Abschaffung der Vermögensteuer gezwungen wor- den. Vor wenigen Tagen hat das Finanzministerium Nächster Punkt - das macht den Charme Ihres Vor- auf eine entsprechende Anfrage der SPD ausdrück- schlags aus -: Sie dünnen das Leistungsniveau der lich das Gegenteil erklärt. Sie hätten jederzeit die gesetzlichen Rentenversicherung so aus, daß es in Möglichkeit gehabt, die Einheit anders, entspre- der Tat für junge Menschen abschreckend wirkt. chend der individuellen Belastbarkeit der Menschen, Wenn Kollege Louven sich hier hinstellt und sagt, er zu finanzieren. Sie haben sich dafür entschieden, werbe um Vertrauen bei jungen Menschen, macht er ausschließlich die Arbeitnehmer, die Familien mit in Wirklichkeit genau das Gegenteil. Die gesetzliche Kindern und die Rentnerinnen und Rentner bluten Rentenversicherung wird von ihrer Leistungsseite so zu lassen. ausgedünnt, daß sie jede Attraktivität für junge Men- schen verliert. Das ist der Kern Ihres Vorschlags. Wenn Sie das Leistungsniveau, die sogenannte Net- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege torente, auf 65 Prozent absenken, dann müssen Sie Schreiner, bitte! dazusagen, daß ein ganz erheblicher Teil von Men- schen, die 45 Jahre bei relativ geringem Lohn ha rt Ottmar Schreiner (SPD): Ich komme zum Schluß. gearbeitet haben, dann zwar Rente bekommen, aber gleichzeitig in der Sozialhilfe landen; sie haben kei- nen Abstand mehr zur Sozialhilfe. Sagen Sie uns die Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie sind am Zahl derjenigen, die bei Ihrem Vorschlag als Rentner Schluß. in der Sozialhilfe landen, wiewohl sie 45 Jahre ha rt gearbeitet haben. Wenn Sie die Berufs- und Erwerbs- Ottmar Schreiner (SPD): Ich finde, daß die alten unfähigkeitsrente privatisieren wollen, dann privati- Menschen, diejenigen, die unsere Republik nach sieren Sie gerade diejenigen Risiken, die unmittelbar dem Krieg wieder aufgebaut haben, es nicht verdient aus dem Erwerbsprozeß entstehen. Wenn Sie die me- haben, daß Sie in dieser fortgesetzten Rentendebatte dizinische Rehabilitation privatisieren wollen, dann so mit ihnen umgehen. machen Sie das Dümmste, was man überhaupt ma- chen kann, nämlich den Grundsatz „Prävention vor (Beifall bei der SPD und der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11817

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat Sie, Frau Kollegin Mascher, es getan haben. Denn Kollege Wolfgang Vogt, CDU/CSU. genauso wie wir im alten Bundesgebiet einen regio- nalen Ausgleich in der Rentenversicherung hatten, Wolfgang Vogt (Düren) (CDU/CSU): Herr Präsi- haben wir diesen regionalen Ausgleich jetzt im er- dent! Meine Damen und Herren! Zu einer Aktuellen weiterten Bundesgebiet. Stunde gehört natürlich auch eine Portion Polemik. Die Rentenversicherung muß fortentwickelt wer- Aber, Herr Kollege Schreiner, Sie haben wieder unter den. Das bedeutet auch, daß wir den Beitragsanstieg Beweis gestellt, daß das Sprichwort richtig ist: Wer bremsen müssen. Das liegt auch im Interesse der schreit, hat unrecht. Rentner. Auch künftig wird die Rente nach einem er- (Beifall bei der CDU/CSU) füllten Erwerbsleben einen angemessenen Lebens- standard im Alter sichern, denn die Rente als Versi- Herr Kollege Andres, Sie waren nicht ganz so pole- cherungsleistung muß und wird deutlich über der So- misch wie Kollege Schreiner. Aber ich muß Sie schon zialhilfe liegen. Die Ankoppelung der Renten an die bitten, bei der Wahrheit zu bleiben Das Arbeitslosen- verfügbaren Einkommen der beitragspflichtigen Ar- geld ist nicht gekürzt, Karenztage beim Arbeitslosen- beitnehmer hat sich bewährt. Dabei bleibt es. Die geld sind nicht eingeführt worden. Elemente in der Rentenversicherung, die der eigen- (Zuruf von der SPD: Noch nicht!) ständigen Alterssicherung der Frauen dienen, müs- sen ausgebaut werden. Das wissen Sie genau. Sie haben an den Beratungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung teil- Diese Fäden müssen zu einem überzeugenden genommen. Ich bitte Sie, bei der Wahrheit zu blei- Konzept zusammengefügt werden. Daran arbeitet ben. Bei aller Polemik darf in diesem Raum nicht die die CDU/CSU, daran arbeitet die Bundesregierung, Unwahrheit gesagt werden. und auch Sie arbeiten daran. Meine Damen und Herren, bei den Kolleginnen Die Rentenversicherung liebe Kolleginnen und und Kollegen der Opposition, die zur Sache gespro- Kollegen, ist unser gemeinsames Werk. Diesem Werk chen haben und nicht über Lohnfortzahlung und an- vertrauen Millionen von Menschen. Deshalb richte dere Probleme der Welt, bestand eigentlich sehr ich die Bitte an alle: Beschädigt dieses Werk nicht große Übereinstimmung mit dem, was Norbe rt Blüm, aus parteitaktischem Kalkül! Wir werden uns um die Heiner Geißler und andere Kollegen hier gesagt ha- Fortentwicklung im Einvernehmen bemühen: im Ein- ben. Ich meine, daß das schon bemerkenswert ist. vernehmen hier im Haus, im Einvernehmen mit den Tarifpartnern und vor allem im Einvernehmen mit Nun ist diese Debatte durch Vorschläge ausgelöst den Menschen, für die die Rentenversicherung da worden, die eine falsche Überschrift bekommen ha- ist. ben. Deshalb möchte ich in dieser Debatte auch an die Adresse der Rentnerinnen und Rentner sagen: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Niemand denkt daran - und niemand hat das vorge- schlagen -, in laufende Renten einzugreifen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Aktuelle (Zuruf von der SPD: In laufende!) Stunde ist beendet. Die Renten werden nicht gekürzt. Das ist die Wahr- heit! Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- ten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Ulrich Zweitens. Das Rentenrecht wird fortentwickelt, Adam, , weiterer Abge- wie wir es 1989 beschlossen haben und wie es 1992 ordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- in Kraft getreten ist. Wir - das waren die CDU/CSU, wie der Abgeordneten Hildebrecht Braun die SPD und die F.D.P. - haben dem Gebot des Ver- (Augsburg), Paul K. Friedhoff, Horst F riedrich, trauensschutzes Rechnung getragen, einem Gebot, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der das im Interesse der Menschen liegt, die sich auf F.D.P. Grund ihres Alters und ihrer Lebensplanung nicht auf neues Recht einstellen können. Vertrauens- Maritime Wirtschaft schutz, der 1989 gewährt wurde, wird auch bei Wei- - Drucksachen 13/4085, 13/5596 - terentwicklung des Rentenrechts gewährt werden. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Den Vertrauens- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kon- schutz haben Sie doch gerade gebrochen!) rad Kunick, Elke Ferner, Gerd Andres, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Rentenversicherung muß fortentwickelt wer- den. Das hat die Kollegin Mascher ausdrücklich dar- Sicherung der Standortbedingungen der gelegt. Norbe rt Blüm hat die Gründe genannt. Sie deutschen maritimen Verkehrswirtschaft muß fortentwickelt werden im System. Zu diesem Sy- - Drucksache 13/3917 - stem gehört der soziale Ausgleich: regional und zwi- schen Risikogruppen in der gesetzlichen Rentenver- c) Beratung der Beschlußempfehlung und des sicherung. Deshalb würde ich darum bitten, daß wir Berichts des Ausschusses für Wirtschaft in dieser Debatte nicht immer nur die versicherungs- (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die fremden Leistungen in der Weise einbeziehen, wie Bundesregierung 11818 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Mitteilung der Kommission an den Rat, das z. B. im Schiffbau. So erreicht die Kieler Werft HDW Europäische Parlament, den Wirtschafts- und bei dem Bau der zur Zeit größten Containerschiffe Sozialausschuß und den Ausschuß der Regio- der Welt eine Fertigungstoleranz von 4 Millimetern nen beim Zusammenschweißen der Stahlplatten für den Schiffsrumpf bei einer Grundfläche von 1 200 Qua- Die Gestaltung der maritimen Zukunft Euro- dratmetern. Dies entspricht der Größe des Plenar- pas saals. 4 Millimeter Fertigungstoleranz ist weltmei- Ein Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit der ma- sterhaft! ritimen Wirtschaft (Beifall der Abg. Lisa Peters [F.D.P.]) - Drucksachen 13/4678 Nr. 2.9, 13/5678 Top und weltweit anerkannt ist die Schiffszuliefer- Berichterstattung: industrie. Sie ist nicht an der Küste, sondern in Bay- Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup) ern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsan- zu Hause. Sie gehört weltweit zur Leistungsspitze. trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- Gut 50 000 Arbeitsplätze werden von ihr bereitge- sache 13/5828 vor. stellt. In den Werften selbst finden zur Zeit nur noch etwa 30 000 Mitarbeiter Beschäftigung. Bald - so die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Arbeitsmarktprognose - kommen auf einen Werftar- die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre beitsplatz zwei Arbeitsplätze bei den Zulieferern. keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Überspitzt formuliert bedeutet dies: Werden in Bre- men Boote gebaut, boomt es in Bayern. Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol- lege Wolfgang Börnsen, CDU/CSU. Schiffbauförderung ist kein norddeutsches Son- deranliegen, sondern ist eine nationale Herausforde- rung. Von diesem Ansatz ausgehend wurde vor zehn Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kolle- Jahren auf Initiative des damaligen Bundesfor- gen! Erstmalig befaßt sich der Deutsche Bundestag schungsministers das Projekt global mit der Thematik maritime Wi rtschaft. Wir von „Schiff der Zukunft" entwickelt. Dieser Schub aus der Union begrüßen diese parlamentarische Initiative Bonn hat zweifellos mit dazu geführt, daß der Schiff- ausdrücklich und weisen darauf hin, daß wir in Eu- bau bei uns eine High-Tech-Indust rie wurde. Das ropa zu den Pionieren der Diskussion über dieses böse Wort von der 3-D-Industrie - dirty, dull and dan- Thema gehören. Weltweit ist aber die Debatte um die gerous - gilt für die Werften nicht mehr. Das Schiff ist maritime Wirtschaft schon voll entbrannt. zu einem Kristallisationspunkt unterschiedlichster Technologien geworden und ist der technische Das 21. Jahrhundert - so lautet die These - wird Schlüssel für die gesamte ma ritime Wirtschaft. Der ein maritimes Jahrhundert werden. Den Meeren, die Anteil der Zulieferungen am Wert eines Schiffes be- zwei Drittel der Erdoberfläche ausmachen, gehört trägt heute zwischen 60 und 80 Prozent. die Zukunft. Das gilt für die Welternährung ebenso Doch der Stellenwert, den wir in unserem Land der wie für die Energie- und Rohstoffgewinnung, für Ar- maritimen Wirtschaft zuordnen, ist noch unterentwik- beitsplätze, Transport und Nutzung der neuen Tech- kelt. Wir sind eher bereit, nach den Sternen zu grei- nologien. Damit ist die maritime Wi rtschaft in ihrem fen, als uns die Füße naß zu machen. Es fehlt bei uns Aufgabenfeld umschrieben. Es reicht vom Schiffbau, an ausreichendem maritimen Bewußtsein. So man- von der Seeschiffahrt über die Off-Shore-Thematik che Haushaltsentscheidung macht das deutlich - be- bis hin zu neuen Energien, zur Fischerei und zum dauerlich, weil die Zukunftschancen der maritimen Meeresbergbau. Wirtschaft offenkundig sind: Von diesem Verständnis geht die Große Anfrage Erstens. Europa hat einen ausgeprägten maritimen der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion aus, Charakter. Sein Anteil am Welthandel beträgt die heute Grundlage dieser Debatte ist. Wir wollen 40 Prozent. Mehr als 90 Prozent des europäischen wissen: Ist unser Land auf die Herausforderungen ei- Außenhandels und fast 30 Prozent des Binnenhan- nes maritimen, ozeanischen Jahrhunderts einge- dels werden auf dem Seeweg abgewickelt. Mehr als stellt? Sind wir als eine der führenden Exportnatio- 2,5 Millionen Menschen sind in Europa in der mariti- nen ausreichend dafür gerüstet? Die Antworten der men Wirtschaft beschäftigt. Bundesregierung machen deutlich: Deutschland ist in Europa noch ein maritimer Standort erster Klasse, Zweitens. Von Deutschland aus wird fast ein Drit- doch Schwachstellen zeichnen sich schon ab. Im tel des europäischen Expo rts bestritten. 60 Prozent weltweiten Wettbewerb verlieren wir an Marktantei- unseres Exports wird über See abgewickelt. Fast 100 len. Damit dürfen wir uns nicht abfinden. Prozent unserer Rohstoffe erreichen uns über die Meere. Für ein Land, in dem jeder vie rte Arbeitsplatz Die Globalisierung der Märkte zwingt uns zu kon- vom Export abhängig ist, ist der sichere Seeweg eine zentriertem Handeln. Dazu gehört unserer Meinung Existenzfrage. nach ein nationales Konzept zur maritimen Wirt -schaft. Die Bündelung der Kräfte in der Luft- und Drittens. Der Schiffbau ist Kern des Systems der Raumfahrt hat gezeigt, welche Erfolge durch ein maritimen Wirtschaft. Der deutsche Schiffbau selbst konzeptionelles Vorgehen möglich sind. Wie beim ist Nummer eins in Europa und - noch - Nummer Luftverkehr besitzen wir auch in der maritimen Wi rt drei in der Welt. Er hat aber nur noch einen Marktan- Technologieführerschaft,-schaft weitgehend eine teil von 7 Prozent. Mit technisch anspruchsvollen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11819

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Schiffen gehört er zur Weltspitze. Das gilt für den Zu den Hemmnissen für den nationalen Schiffbau- Handels- wie auch für den Marineschiffbau, ja, auch standort Deutschland gehören neben den Arbeits für den Militärschiffbau, der technisch top ist. Wer besonders die hohen Lohnnebenkosten. Mit Lohnko- ihn verteufelt, schadet der gesamten Branche - sten von über 80 Prozent pro Schiff und rund 1 500 ebenso der, der ihn ausgrenzt, wie es jetzt gerade die Arbeitsstunden pro Jahr sind unserer Konkurrenzfä- Kieler Ratsversammlung beschlossen hat. Sie be- higkeit Grenzen gesetzt. Während in Japan die schloß, daß der neue Truppenversorger der Bundes- Lohnnebenkosten nur 34 Prozent betragen - bei ei- marine nicht in Kiel stationiert werden dürfe. Pein- ner Jahresarbeitszeit von 2 100 Stunden -, ist der Ab- lich! stand gegenüber Korea, wo ein Schiff bei 2 300 Jah- resarbeitsstunden um ein Drittel billiger als bei uns ( [CDU/CSU]: Wer ist do rt gebaut wird, noch größerer. wohl an der Regierung?) Die Schiffbaumusik selbst wird in Fernost gespielt. Diese Wettbewerbsunterschiede haben bei den Japan und Korea sind mit 60 Prozent am Markt betei- Werften tiefe Bremsspuren hinterlassen. So arbeiten ligt. Korea hat seine Marktstellung innerhalb von bei HDW in Kiel rund 3 700 Mitarbeiter. Vor vier Jahren von 12 auf 27 Prozent verbessert. 15 Jahren waren es noch 12 000. Aber die 3 700 Mit- arbeiter bauen heute genauso viele Schiffe wie die Viertens. Die Weltschiffsflotte ist überaltert. Über - 12 000 Mitarbeiter vor 15 Jahren. Ähnlich ist es bei 50 Prozent der Schiffe sind 15 Jahre alt und älter. Sie der FSG in Flensburg, der Werft Meyer in Papenburg genügen weder zeitgemäßen Sicherheits- noch Um- sowie bei allen anderen. Wer nicht will, daß Arbeits- weltansprüchen. Der Erneuerungsbedarf beträgt plätze weiterhin drastisch abgebaut werden, der muß etwa 70 bis 80 Prozent. Der Welthandel wächst; mit zur Senkung der Kosten beitragen, die die Arbeit Schiffe sind dabei unverzichtbar. Sie erledigen über bei uns in Deutschland zu teuer machen. 90 Prozent des Güterverkehrs. Güter gehören, wo ir- gend möglich, auf das Schiff. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Börn sen hat recht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Wir begrüßen die Bereitschaft der Bundesregie- PDS) rung, im Rahmen der Fortgeltung der 7. EU-Schiff- baurichtlinie weiterhin Wettbewerbshilfe zu leisten. Umwelt-, energie- und wirtschaftspolitische Gründe sprechen dafür, die Kapazität der „nassen Auto- (Beifall bei der CDU/CSU) bahn" stärker zu nutzen. Das Potential der Verlage- rung im innereuropäischen Warenverkehr von der Die in Aussicht gestellten 115 Millionen DM ergeben Straße auf das Schiff beträgt gut 15 Prozent des Ge- zusammen mit den Landesmitteln der fünf norddeut- samtfrachtaufkommens. Alle diese Einschätzungen schen Länder 345 Millionen DM. Damit kann man machen deutlich: Ein Schiffbauboom kündigt sich ein Auftragsvolumen von 5,5 Milliarden DM erhal- an. Allein 3 000 neue Schiffe müssen gebaut werden. ten. Dies dient den Werften und Zulieferern. Aber Wir wollen daran teilhaben. die Länder dürfen sich nicht verweigern. Noch tun sie es, aber sie sind aufgefordert, sich an der Finan- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. zierung zu beteiligen. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Auch die angekündigte Fortsetzung der Finanz- PDS) beiträge für die deutsche Seeschiffahrt ist nach unse- Es gilt jedoch, Hürden und Hindernisse abzuräumen. rer Auffassung notwendig. Sie sichert die deutsche Hierauf möchte ich kurz eingehen. Flagge, sie gewährleistet Arbeits- und Ausbildungs- plätze für die Seeleute unseres Landes. Sie dient Dazu gehört die Wettbewerbsverzerrung. Der dazu, die Infrastruktur unseres Landes weiterhin zu Weltschiffbaumarkt ist heiß umkämpft. Trotz steigen- sichern. der Nachfrage sinken die Preise - bei den Container- schiffen um 20 Prozent innerhalb von zwei Jahren. Wir sehen sehr wohl, daß das. Schiff nicht nur im Staatliche Förderprogramme greifen in das Preisge- Kontinentalhandel Transportmittel Nummer eins sein füge ein, verzerren es und führen dazu, daß es zu kann, sondern daß auch Entwicklungspotentiale un- künstlichen Preisen kommt. Das OECD-Abkommen, ter dem Stichwort „Short-Sea-Shipping" bestehen. das in diesem Jahr verabschiedet werden sollte, ist Im küstennahen Verkehr liegt die Zukunft. Dafür auf Initiative der Ame rikaner zurückgestellt worden, müssen wir Anreize schaffen. Kein Transportträger obwohl sie es selbst vor fünf Jahren initiiert haben. ist so kostengünstig, so energiesparend und so um- Mit Preisdumping und Produktionssubventionen im weltschonend wie das Schiff, Schiffbau muß weltweit Schluß sein! Dieser Appell geht auch an die USA. Wir erwarten, daß die EU hier (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der aktiver wird. Wir begrüßen, daß sich besonders unser SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bundeswirtschaftsminister aktiv in die Beschlußfas- sung des OECD-Abkommens eingeschaltet und dar- so daß eine Verlagerung der Fracht vom überlasteten auf gedrängt hat, daß die Subventionswettläufe ein- Landverkehr auf den Kurzstreckenseeverkehr not- gestellt werden. wendig ist. Dazu gehört die Vernetzung mit dem Hinterlandverkehr. Dazu gehört aber auch die Schaf- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fung ausreichend tiefer Häfen bzw. Fahrrinnen, da- 11820 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) mit auch große Schiffe in die Häfen gelangen kön- Ich zitiere das Verfassungsgericht: nen. Der Erhaltung einer deutschen Handelsflotte (Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE kommt in einer exportorientierten Volkswirt- GRÜNEN]: Ja! Ja!) schaft wie der deutschen erhebliche außenwirt- schaftliche Bedeutung zu. Bei diesen Zielen geht Wer das nicht will, der torpediert die Schaffung ei- es um den Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter. ner besseren Infrastruktur. Wir müssen sie forcieren. Das bedeutet nach unserer Meinung die Ausbagge- Im einzelnen nennt das Gericht: Sicherheit des rung der Unterelbe sowie die Einführung neuer Schiffsverkehrs, Schutz von Leben und Gesundheit Technologien. der Menschen an Bord, Erhaltung der in Schiff und Ladung verkörperten Sachgüter, Vermeidung der (Lisa Peters [F.D.P.]: Nicht Ausbaggerung, Verschmutzung der Weltmeere, Schutz des deut- Vertiefung! - Gila Altmann [Aurich] schen Sozialversicherungsrechts. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön Es sagt wörtlich: gesagt!) Mit der Sicherung qualifizierter Arbeitsplätze Wir müssen dazu beitragen, daß wir uns in der ma- wird der Gefahr vorgebeugt, daß die deutsche ritimen Infrastruktur die Zukunft sichern, die wir uns Ausbildung in seemännischen Berufen weiter zu- alle wünschen. rückgeht. Damit können auch in Zukunft prakti- sche Erfahrungen für andere Berufe wie den eines (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hafenkapitäns oder Lotsen gesammelt werden. Unter deutscher Flagge waren Ende August 1995 Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege im deutschen Erst- und Zweitregister die modernsten Börnsen, Sie müssen zum Schluß kommen. Schiffe, insgesamt 782 Einheiten der Handelsflotte, registriert. Dieser Teil der Flotte beschäftigte Mitte Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Doch 1995 15 500 Arbeitnehmer, davon 11 000 deutsche die Chancen für unser Land, die in der maritimen und 4 500 ausländische Seeleute. Diese schwarz-rot- Wirtschaft liegen, lassen sich nutzen. Wir von der goldene Kernflotte im deutschen Erst- und Zweitregi- Union wollen den maritimen Standort Deutschland ster ist unter anderem Gegenstand unseres Antrages. sichern, ausbauen und fördern, um Arbeit, Beschäfti- Ich will die Debatte nutzen, um in drei Punkten zu gung und Wachstum zu gewährleisten. aktuellen Problemen ihrer Förderung Stellung zu Danke schön. nehmen. Erstens. Wir Sozialdemokraten fordern: Die deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schen Reeder und die deutschen Seeleute müssen steuerlich gleich günstig gestellt werden wie Reeder Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der und Seeleute unter konkurrierenden Handelsflag- Kollege Konrad Kunick, SPD. gen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Konrad Kunick (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit unserem Antrag Es kann doch wohl nicht angehen, daß deutsche Ree- bringen wir einen einstimmigen Beschluß des Ver- der unter holländische, dänische oder liberianische kehrsausschusses vom 31. Mai 1995 zur Beratung, Flagge gehen müssen, um die Lohnsteuerbefreiung den Koalition und Sozialdemokraten auf Grund des für Seeleute zu bekommen, während die Bundesre- Berichtes des Expertengremiums des Bundesver- gierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage ge- kehrsministeriums über die Sicherung der Standort- nau diese Lohnsteuerfreiheit ausschließt. Warum pla- bedingungen der maritimen Wirtschaft in Deutsch- nen Sie denn eigentlich eine umfassende steuerliche land gemeinsam formuliert hatten. Dieser an den Entlastung der Binnenunternehmen, wollen aber Bundestag gerichtete einstimmige Beschluß war der schwarz-rot-goldenen Flagge konkurrenzfähige lange Zeit verschollen wie das berühmte Geister- Steuerbedingungen nicht zuerkennen? schiff im Sargassomeer. Nachdem wir ihn nun wieder geortet haben, hoffen wir auf breite Zustimmung im Die SPD hat in der Sitzung des Verkehrsausschus- Parlament. ses am 6. Dezember letzten Jahres einen systemati- schen Steuervergleich für die sieben wichtigsten Ich möchte mich auf das Rückgrat der maritimen Ausweichflaggen zu Schwarz-Rot-Gold gefordert. Wirtschaft, auf die Seeschiffahrt konzentrieren. In Zugesagt hat ihn Herr Staatssekretär Carstens für seinem Urteil zum Zweitregister aus dem Jahre 1995 das Frühjahr dieses Jahres. Vorgelegt wurde bis hat sich das Bundesverfassungsgericht gründlich mit heute nichts. Das erinnert einen an das Sprichwort, der Seeschiffahrt unter schwarz-rot-goldener Flagge daß die lange Bank des Teufels liebstes Möbelstück beschäftigt. Es ist ein Urteil, dessen Bemannungsre- ist. gelung auch wir Sozialdemokraten akzeptieren, des- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen positive Aussagen zur Schiffahrt unter deutscher DIE GRÜNEN) Flagge wir begrüßen und zum Gegenstand unserer politischen Arbeit und unserer Anmahnungen ma- Zweitens. Es muß mit der jährlichen Springprozes- chen. sion der Koalition zum Thema Finanzbeiträge Schluß Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11821

Konrad Kunick sein. Es ist ein Skandal. Das dauernde Hin und Her auf Investitionsebene, der den Anwender unter die macht für die Seeschiffahrt jede längerfristige Kalku- deutsche Flagge zwingt" . Hieran ist auch die Pflicht lation, von der Flagge und Bemannung abhängig geknüpft, nach bestimmten Regeln Seeleute aus sind, höchst fragwürdig. Finanzbeiträge dienen der Deutschland zu beschäftigen. Sicherung der unter verfassungsrechtlichem Schutz stehenden deutschen Handelsflagge im heutigen Sy- Was aber tut die Koalition im Zuge ihres Jahres- stem der Schiffahrtsförderung und sind kein Ge- steuergesetzes 1997? Sie will auch diesen Anker kap- schenk. pen, der deutsche Flagge, Seemannsarbeit und Er- neuerung der Kernflotte zusammenhält, gegen den 1995 enthielt der Haushalt Finanzbeiträge in Höhe Einspruch der Küstenländer, gegen den Einspruch von 100 Millionen DM. Die Haushaltsvorgabe von des Bundesrates. Dabei hatte der Verband Deutscher Waigel für 1996 betrug nur noch 40 Millionen DM. Reeder vernünftige Vorschläge gemacht, die steuerli- Dann folgte ein großer Krach. Hapag-Lloyd dachte che Förderung auszudünnen. Doch statt die steuerli- laut über die Ausflaggung seiner Flotte nach Singa- chen Instrumente zu modernisieren, will die Koali- pur nach. Am Ende der Haushaltsberatungen war tion sie abwracken. Und während das gerade über die endgültige Haushaltsposition 100 Millionen DM. die Bühne geht, kommt aus Brüssel die Nachricht, Daraufhin schließt Hapag-Lloyd eine Vertriebsver- daß die EG-Kommission diese Sonderabschreibungs- einbarung mit der ÖTV, in der es wörtlich heißt „auf regelungen für den Bau von Handelsschiffen bis der Basis der heutigen Schiffahrtsförderung", und 1999 den Deutschen weiter genehmigt hat. Meine bringt seine Flotte ins Zweitregister, statt auszuflag- Damen und Herren, wir hoffen, daß Sie die kommen- gen, so daß wenigstens die Hälfte der Bordarbeits- den Wochen nutzen, um sich Ihr Vorgehen noch ein- plätze gerettet wurden. Danach gab es große Reden mal reiflich zu überlegen - auch unter dem Förderge- aus dem Verkehrsministerium und der Koalition, Fi- bot des Verfassungsgerichts. nanzbeiträge müßten verstetigt werden, um zusam- men mit dem ISR den deutschen Reedereien eine (Beifall bei der SPD) klare Zukunftsperspektive zu geben. Gute Erkennt- Wir Sozialdemokraten bieten an: Lassen Sie uns nis! gemeinsam daran arbeiten, der modernen Kernflotte Und nun die Haushaltsberatungen 1997. Versteti- und ihren Seeleuten die Existenz unter Schwarz-Rot- gung? Nichts davon, Schall und Rauch von gestern. Gold zu sichern. Das geht nur durch eine über län- bringt für 1997 wieder einen Haushalts- gere Zeiträume konstante Förderungspolitik, der ansatz von 40 Millionen DM in die Beratungen. Die dann umgehend die erforderliche Unternehmensteu- Verkehrsfachleute der Koalition trauen sich jetzt erreform für die schwarzrotgoldene Schiffahrt folgen nicht, mehr als 80 Millionen DM zu forde rn. Das be- muß. deutete eine Kürzung um 20 Prozent. 80 Millionen Viertens. Deutsche Schiffahrtspolitik muß sich dar- DM, verbunden mit einer Wertbegrenzung der För- über hinaus auch um die deutschen Seeleute küm- dergrundlage auf 42 Millionen DM pro Einheit - das mern, die unter fremder Flagge fahren, und um die wird Überlegungen, wieder stärker in Korea zu deutschen Reedereien, die fremdflaggige Schiffe ein- bauen, neu entfachen. Das betrifft besonders den Be- setzen. Denn um die in Deutschland registrierte und stand der vorhandenen großen Schiffe. unter deutscher Flagge fahrende Kernflotte herum Ich will hier nicht öffentlich beurteilen, ob der Herr hat sich eine vielflaggige Flotte von etwa 800 Schiffen Bundesverkehrsminister oder die Koalition bei Ha- gruppiert, die von deutschen Reedern eingesetzt werden, mit ausländischen Seeleuten, vielfach aber pag-Lloyd nicht doch ein Stück im Wort ist. Jeden- falls stehen mit der Bildung einer gemeinsamen Ree- auch deutschem Leitungspersonal. Weil es um das Gewicht Deutschlands in den Reedereikonsortien dereigruppe - Hapag-Lloyd und Hamburg-Süd - und Schiffahrtskonferenzen, um das Gewicht deut- wichtige Veränderungen an. Letzte Woche las man in scher Schiffahrtspolitik im UNO- und EG-Rahmen, der „DVZ" erneut von Ausflaggungsüberlegungen des Hapag-Lloyd-Vorstandes. um die Mitwirkung in der IMO geht, bedarf auch die- ser Teil deutscher Schiffahrtsaktivitäten unserer Auf- Zu diesem Kapitel, meine Damen und Herren: Wir merksamkeit. Sozialdemokraten halten nach wie vor Finanzbei- Wir begrüßen, daß bei der Änderung des IV. Bu- träge in Höhe von 100 Millionen DM für sachlich er- ches des Sozialgesetzbuches endlich deutschen See- forderlich. Diese wären nach unserer Vorstellung leuten unter fremder Flagge der Zugang zur Arbeits- wirksam an Beschäftigung und Ausbildung zu bin- losenversicherung und zur Rentenversicherung ge- den. öffnet werden soll. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) Wie man das wirksam gestaltet, sollte vor Abschluß Drittens: die investive Flaggenbindung. Bisher war der Beratungen noch einmal mit den Tarifpartnern die Bindung von Schiffsneubauten an die deutsche des Seeverkehrs beraten werden. Flagge unter § 82f EStDV, Abschreibungsregelung für den Neubau von Seeschiffen, geregelt. Die be- Meine Damen und Herren, ich komme zum kam nur, wer sein Schiff für die nächsten acht Jahre Schluß. Deutschland braucht im 21. Jahrhundert in Deutschland ins deutsche Schiffsregister eintragen auch und gerade eine große, moderne Handelsflotte. ließ. Zitat aus der „Hansa", dem renommierten Nach den vergangenen Auseinandersetzungen und Schiffahrtsorgan, Nr. 7/1996: „der einzige Paragraph Flickschustereien ist es höchste Zeit, daß Politik, Ree- 11822 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Konrad Kunick der und Gewerkschaften an einen Tisch kommen. Konrad Kunick (SPD): Herr Kollege, Sie weisen auf Reeder und Seeleute brauchen eine klare Zukunfts- einen wichtigen Punkt hin. perspektive. Für die Außenhandelsnation Deutsch- land gilt auch im kommenden Jahrhundert: „See- (Renate Blank [CDU/CSU]: Sagen Sie bloß, fahrt ist not" - für Landratten heißt das „notwendig". er habe recht, und dann paßt es!) Dieser Punkt ist auch Gegenstand des Antrages, den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir dem Plenum vorlegen. Es ist die Frage der Vor- DIE GRÜNEN) teile der Vielhäfigkeit in Europa im Vergleich zum Main-port-Denken, wie es von Holland aus mit Rot- terdam betrieben wird. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort für eine Kurzintervention hat der Kollege E rich Maaß, Es gibt Pflichten der Länder, und es gibt Pflichten CDU/CSU. des Bundes. Ich nehme die Gelegenheit wahr, bei Ih- nen, Herr Kollege Börnsen, ein Komma zu setzen. Sie erwähnten die Vertiefung der Unterelbe. Dieselbe (Wilhelmshaven) (CDU/CSU): Herr Erich Maaß Verpflichtung - Reichsverpflichtung im übrigen, die Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich der Bund als Rechtsnachfolger des Reiches übernom- möchte im Rahmen einer Kurzintervention ein men hat - gilt auch für die Vertiefung der Außen- Thema problematisieren, das die Vorredner nur an- weser und der Unterweser. gedeutet haben. In unserem föderalen System haben die Bundesländer die Zuständigkeit für die Hafen- Die kaufmännische Organisation der deutschen politik. Der Bund hat die Zuständigkeit für die Ver- Wirtschaft in den Häfen funktioniert - das werden kehrsinfrastruktur, also Wasserwege, Bahnen, die, die auf Konkurrenz doch sonst viel Wert legen, Schiene und Bundesstraße. nicht bestreiten - in Konkurrenz ein Stückchen bes- ser. Die Gemeinsamkeit darf dabei - da gebe ich Ih- Diese Teilung hat in der Vergangenheit Bestand nen recht - nicht zu kurz kommen. Sie ist unter den gehabt und war sicherlich richtig. Ich sehe aber, was deutschen Seehäfen stärker ausgeprägt, als manche sich zur Zeit bei unseren europäischen Nachbarn ab- außerhalb das glauben mögen. spielt, zum Beispiel in Rotterdam, wo mittlerweile Milliardeninvestitionen stattfinden mit dem Ziel, daß (Lisa Peters [F.D.P.]: Das hört man aber Rotterdam Deutschlands größter Hafen wird. Und nicht so!) hier muß ich mir überlegen, worüber wir zum Teil diskutieren. Ich sehe hier eine nationale Aufgabe, Schönen Dank. die wir mit einer Koordinierung der Funktionen von Ländern und Bund bewältigen müssen. Kirch- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat turmspolitik, bei der ein Hafen in der Bundesrepu- jetzt die Kollegin Gila Altmann, Bündnis 90/Die Grü- blik auf den anderen schielt und glaubt, er könne nen. ihm ein paar Tonnen abluchsen, hilft uns nicht mehr weiter. Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Schön, daß wir heute über die Lage der maritimen Wirtschaft diskutieren. Schön, was Sie, Herr Börnsen, Notwendig ist eine nationale Anstrengung, damit gesagt haben. Ihre Zustandsbeschreibung war zu- nicht die ganzen Verkehrsströme über Rotterdam treffend, besonders das, was Sie zur Ausbaggerung und die entsprechende Hinterlandanbindung in Ge- der Elbe gesagt haben; Sie waren da ehrlich. biete laufen, die ureigenes Einzugsgebiet bundes- deutscher Häfen gewesen sind, wo immer Nachfrage Um so unverständlicher ist es, daß wir auf Betrei- bestanden hat. ben der Koalition eine Fortsetzungsgeschichte ma- chen: Jetzt diskutieren wir über die ökonomischen, Ich bitte, dies ernst zu nehmen. Deshalb bin ich nachher, zu später Stunde, über die ökologischen über die Beantwortung zweier Fragen unzufrieden, Probleme der Seeschiffahrt. Mit Händen und Füßen die in der Großen Anfrage gestellt wurden. Ich bitte, hat sich nämlich die Koalition dagegen gewehrt, dieses Thema aufzugreifen. beide Komplexe in einer verbundenen Debatte zu diskutieren. Herzlichen Dank. (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und GRÜNEN]: Hört! Hört!) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Selbst unser Entschließungsantrag sollte nicht Ge- genstand dieser Debatte sein, weil er aus Sicht der Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich gehe davon CDU/CSU zu ökologisch ist. Und die Ökologie hat aus, daß sich dies auf den Redebeitrag des Kollegen mit Wirtschaft nichts zu tun, basta! Kunick bezog. Deshalb gebe ich ihm die Möglichkeit zu erwidern. - Das war eine Interpretationshilfe von Da drängt sich gerade nach Ihrer Rede, Herr Börn- mir. sen, die Frage auf: Will die Regierungskoalition nicht wahrhaben, daß es einen Zusammenhang zwischen Bitte, Herr Kollege Kunick. Tankerkatastrophen und der Werftenkrise gibt, oder Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11823

Gila Altmann (Aurich) weiß sie es nicht besser? Dann sollten Sie es ihr sa- System bleibt aber gleich, anstatt hier die Kriterien gen. an ökologische und soziale Standards zu binden.

Wenn man sich die Antwort auf die Große Anfrage Das letzte Beispiel. Da ist von Verkehrsanbindung anguckt, wird es klar: Sie liest sich, als hätten Wirt- und Vernetzung der Verkehrsträger die Rede. Sieht schaftsverbände die Feder geführt. Die Grundaus- man sich aber die Betonorgie der zahllosen Auto- sage der Antwort ist: Alles im Lot auf'm Boot, alles in bahnprojekte von A 20 bis Wesertunnel an, so wird Butter auf'm Kutter; die Wirtschaft hat alles im G riff; klar, daß es nicht um die Erschließung der Region die Perspektiven sind glänzend - mit der Einschrän- geht, sondern um europäische Magistralen. kung, daß die Produktivität steigen muß und die Arbeitskosten sinken müssen, letzteres mit ein biß- (Lisa Peters [F.D.P.]: Fehlt nur noch der chen mehr sozialer Grausamkeit. Transrapid!) Gewarnt wird vor den „tariflich überhöhten Ar- Durch diese Projekte wird der Verdrängungswettbe- beitskosten". Da ist von „lean production", von „Re- werb mit dem Lkw weiter angeheizt. Die Schienen- duzierung der Fertigungstiefe" und „Produktions- projekte fallen entsprechend kümmerlich aus. - Und verlagerung in Niedriglohnländer" die Rede. Einsei- wenn Sie mit Ihrem Transrapid nach Aurich wollen: tig werden so die Interessen der Arbeitgeber ver- Die Ostfriesen haben sich schon gegen die Sturmflu- folgt, während Arbeitnehmer allenfalls als zu sen- - ten gewehrt; das schaffen sie auch noch. kender Kostenfaktor ins Gewicht fallen. „Käpt'n Blaubärs" Märchenstunde ist nichts dagegen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: „Käpt'n Mit solchen Konzepten ist also weder die Bundes- Blaubär" ist schön!) regierung noch die maritime Wirtschaft zu retten. Denn nirgends wird der Zusammenhang zwischen Fünf kurze Beispiele: Da brüstet sich die Bundesre- Ökologie und Ökonomie so deutlich wie bei der ma- gierung mit Forschung und Technik. So hat sie das ritimen Wirtschaft. Technische, Sicherheits- und So- „Schiff der Zukunft" seit den 80er Jahren mit weit zialstandards sind der Hebel für eine zukunftsfähige über 100 Millionen DM gefördert. Ergebnis: Kein Schiffahrtspolitik. Ein Großteil der 01- und Chemie- weiteres Schiff wurde gebaut, der fertiggestellte Pro- tanker fährt unter Billigflagge mit einem hohen Ge- totyp ins Ausland verkauft. Das ist keine Standortsi- fahrenpotential. Allein die Schadenssumme der Tan- cherung; dies ist staatlich subventionierter Technolo- kerkatastrophe der „Haven" 1991 vor der italieni- gie- und Arbeitsplatzexport. schen Küste hätte ausgereicht, um vier mode rne Beispiel zwei: die Riesenpleite mit der Vulkan AG, Doppelhüllentanker zu bauen. Hier verschläft Eu- bei der mindestens 760 Millionen DM Fördermittel, ropa die Chance, durch eine Angleichung des Haf- die für die ostdeutschen Werften bestimmt waren, tungsrechts nach dem Verursacherprinzip an US auf dubiose Art und Weise im Gestrüpp des west- amerikanische Standards entscheidende Impulse zu deutschen Vulkan-Konzerns versickerten. Langjäh- geben. rig sind Schiffbauaufträge mit Verlust abgewickelt worden. Ergebnis: Forderungen von 3,9 Milliarden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) DM. Deutlicher lassen sich die Folgen einer verfehl- Dasselbe gilt für Auslaufverbote für Seelenverkäufer ten Wirtschaftspolitik nicht dokumentieren. in deutschen und europäischen Häfen. Beispiel drei: eine verfehlte Werftenförderung Sie von der Regierung schieben alles auf die inter- durch maritime Rüstungsproduktion. Dieses Kapitel nationale lange Bank und damit letztendlich auf den wurde schamhaft weggelassen. Zwischen 1992 und Sankt-Nimmerleins-Tag. Konstruktionspläne für 1995 wurde die Hälfte aller insgesamt aus der Bun- Doppelhüllentanker, energiesparende und umwelt- desrepublik exportierten Kriegsschiffe in Entwick- freundliche Antriebssysteme, verbesserte Naviga- lungsländer geliefert. Auch dieses Kapitel des per- tions- und Sicherheitstechnik liegen in den Schubla- versen Zusammenhangs zwischen Arbeitsplatzsiche- den der Werften. Statt dessen werden die Zukunfts- rung und Verantwortungslosigkeit gehört auf den projekte wie moderne Segelschifftechnik in Japan er- Tisch, wenn über maritime Wirtschaft geredet wird. probt. Beispiel vier. Durch steuerliche Vergünstigungen hat die Bundesregierung Investitionen in den Schiff- Wir haben in unserem Antrag dargelegt, welche bau massiv gefördert. Verlustzuweisungen, Sonder- neuen Weichenstellungen notwendig sind. Der abschreibungen und verringerte Gewinnbesteue- Markt alleine wird das nicht regeln. Wir brauchen rung - zwischen 1992 und 1995 hat sie so 5,5 Mil- dazu verläßliche politische Rahmenbedingungen. Es liarden DM für Schiffbauinvestitionen mobilisiert. geht um eine Erhöhung der Sicherheitsstandards auf Die Steuerausfälle daraus belaufen sich auf rund drei See und um technische und soziale Standards, es Milliarden DM. Weitere 2,6 Milliarden DM kamen als geht um die Förderung von Forschung und Entwick- direkte Subventionen dazu. lung unter ökologischen Bedingungen, um die Ein- führung des Verursacherprinzips und die Auswei- Gefördert wird hierdurch aber in erster Linie der tung des Haftungsrechts, um die Förderung der euro- Schiffbau in Korea. Selbst die Bundesregierung hat päischen Hafenkooperation und die Einführung von gemerkt, daß ihre Subventionspolitik keine Len- Green-Award-Standards und nicht zuletzt um vor- kungswirkung hat. Also sind ab 1996 zwar die Ab- beugenden Umweltschutz durch Wiederaufnahme schreibungsmöglichkeiten verringert worden, das der kostenlosen Altölentsorgung. 11824 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Gila Altmann (Aurich) Die See-, Küsten- und Binnenschiffahrt hat Zu- falsch; denn gerade im Containerschiffbaubereich kunft, allerdings nur unter der Bedingung, daß sich sind wir führend in der Welt. Ich denke, diese Posi- die Politik traut, die richtigen Weichenstellungen tion müssen wir halten. vorzunehmen. Bei der Antwort auf die Große An- Noch eine Bemerkung zum Antrag von Bündnis 90/ frage allerdings, über die wir heute debattieren, Die Grünen: Die Kollegin ist sehr wenig auf ihren ei- wäre selbst Hein Blöd so schlau, dies von dieser Bun- genen Antrag eingegangen. Die Überschrift des An- desregierung nicht mehr zu erwarten. trages dürfte nicht lauten: „7-Punkte-Programm zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sicherung der maritimen Wirtschaft". Sie müßte ei- und bei der PDS sowie bei Abgeordneten gentlich lauten: 7-Punkte-Programm zur weiteren der SPD) Belastung und Schikanierung der maritimen Wi rt -schaft; denn nichts anderes enthält dieser Antrag. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Kollege Jürgen Koppelin, F.D.P. Auf Grund der hohen Standortkosten in Deutsch- land und der Entwicklung in Osteuropa und Asien Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe werden die Werften und die Zulieferer stärker ge- Kolleginnen und Kollegen! Ohne Zweifel: Die deut- zwungen sein, ihre Geschäfte zu globalisieren. Dazu - sche maritime Wirtschaft befindet sich auf rauher gehört auch - das mag man bedauern - die Koopera- See. So hat es in den letzten 12 Monaten eine Be- tion bzw. die Beteiligung bei ausländischen Weilten schäftigungssituation gegeben, die durchaus kritisch und Zulieferern. ist und über die wir nachdenken müssen. 3 500 Ar- beitsplätze wurden abgebaut. Die staatliche Schiffbaupolitik muß dafür sorgen, daß der internationale Subventionswettbewerb end- Es zeigt sich: Bei einem hohen Rationalisierungs- lich beendet wird. Ein einseitiger Verzicht auf flan- tempo der Werften ist die Auslastung der Produk- kierende Maßnahmen durch die deutsche Schiffbau- tionskapazitäten noch kein Garant für die Sicherung politik zum jetzigen Zeitpunkt würde allerdings zu von Arbeitsplätzen. Trotz hoher Leistungsfähigkeit einem untragbaren Ungleichgewicht zu Lasten der hat der deutsche Schiffbau mit erheblichen Proble- deutschen Werften führen. men zu kämpfen - und das, obwohl Deutschland als einziges westliches Industrieland seinen Anteil am Staatliche Schiffbaupolitik muß auch dafür sorgen, Weltschiffbaumarkt hat behaupten können. Diese daß Europa im Bereich des Schiffbaus enger zusam- Stellung der deutschen Schiffbauindustrie ist auf menrückt. Die Bedeutung, die eine wettbewerbsfä- wichtige Stärken zurückzuführen: In Deutschland hige maritime Industrie in Europa hat, muß auch von werden technologisch anspruchsvolle Schiffe gebaut; der EU stärker anerkannt werden. auch bei Umbauten und Reparaturarbeiten können Wenn wir über maritime Wirtschaft sprechen, ge- sich die Leistungen der deutschen Werften sehen las- hört in diese Debatte auch, nicht zu verschweigen, sen. daß die deutschen Werften vom Handelsschiffbau al- Wenn im Handelsschiffbau Kunden deutscher lein nicht werden existieren können und die Arbeits- Weilten zunehmend ins preislich, teilweise um plätze auf den Werften nicht allein durch den Han- 40 Prozent unterbietende Ausland abwandern, dann, delsschiffbau zu sichern sind. Die deutschen Werften weil für den Käufer Bet riebskosten, Wiederverkaufs- können auf den Marineschiffbau nicht verzichten. wert, Lieferzeiten oder Finanzierung eine im Ver- Unterseeboote und Überwasserfahrzeuge für die Ma- gleich zur Preisdifferenz untergeordnete Rolle spie- rine sind technologisch führend und wettbewerbsfä- len. Hinzu kommt, daß für die deutschen Werften das hig. Der Verzicht auf den Marineschiffbau würde aggressive Marktverhalten der Werften in Polen, Ko- auch den Verzicht auf viele Werftenstandorte in rea und anderen Niedriglohnländern zu einer Exi- Deutschland bedeuten. Es scheint mir dringend ge- stenzbedrohung wird. Vor allem die Meinen und boten, daß wir - damit meine ich die Bundesregie- mittleren Werften sind diesem Preisdruck nicht ge- rung, den Deutschen Bundestag, die Werften und die wachsen und können die Preisunterschiede nicht Gewerkschaften - sehr bald in einen Dialog auch mehr auffangen. über den Export von Marineschiffen eintreten. Zukünftig, so meinen wir, kommt es stärker darauf (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bön an, daß es eine bessere Zusammenarbeit zwischen strup] [CDU/CSU]) Werften und Zulieferern gibt. Auch eine stärkere Zu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will aus sammenarbeit mit den Reedern ist anzustreben. drücklich begrüßen, daß die Bundesregierung und Forschung und Entwicklung müssen ziel- und um- der Deutsche Bundestag immer wieder die Notwen- setzungsorientierter als bisher gestaltet werden. Daß digkeit gesehen haben, den deutschen Schiffbau in hier noch einiges nachzuholen ist, zeigt sich auch seiner schwierigen Phase zu unterstützen. daran, daß die Mittel, die der Bundesforschungsmi- Jetzt höre ich hier wieder von den Sozialdemokra- nister zur Verfügung stellt, nicht in vollem Umfang ten den Antrag, die Reedereihilfe auf 100 Millionen abgerufen werden. Zur Zeit ist erst die Hälfte davon DM heraufzusetzen. Das ist löblich; ich habe viel abgerufen worden. Sympathie für so etwas. Es kann aber nicht angehen, Die Forderung im Antrag von Bündnis 90/Die Grü- daß man sich wie Frau Matthäus-Maier in den Haus- nen, im Forschungsbereich überwiegend für den Bau haltsdebatten hier hinstellt und den Abbau von Sub- von Küstenschiffen Hilfe zu leisten, ist natürlich ventionen forde rt, dann aber, wenn sie nicht da ist, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11825 Jürgen Koppelin ans Rednerpult tritt und forde rt , die Subventionen Rolf Kutzmutz (PDS): Herr Präsident! Meine Da- wieder zu erhöhen. men und Herren! Wir reden heute, meine ich, nicht nur über Schiffbau, Zulieferer und Seeschiffahrt, weil Ich denke, wir werden im Haushaltsausschuß ver- sie nach wie vor - und hoffentlich auch künftig - für suchen, gemeinsam einen vernünftigen Weg zu fin- die Küstenregionen - und nicht nur für diese - struk- den. Wir haben das heute schon getan; ich komme turbestimmende Wirtschaftszweige sind. Wir müssen gerade aus dem Ausschuß. vor allem auch über sie reden, weil sie einen bisher Wir haben uns den Appellen der norddeutschen unterrepräsentierten Verkehrsträger erzeugen und Küstenländer nicht verschlossen, zum Beispiel wenn anbieten, bei dem Segen und Fluch besonders eng es um die Wettbewerbshilfe ging. Aber es kann na- beieinander liegen. Ein Schiff kann beispielsweise türlich nicht angehen, daß man zum Beispiel Schrei- 4 400 Container bei einem Treibstoffverbrauch von ben der schleswig-holsteinischen Landesregierung 143 Tonnen über tausend Kilometer transportieren. bekommt, man solle sich für die Wettbewerbshilfe Es braucht dafür nur ein Fünftel der Treibstoffmenge, einsetzen, und, kaum hat man es getan, aus der den Lastkraftwagen bei gleicher Leistung verbrau- Presse erfährt, daß dieselbe schleswig-holsteinische chen würden. Landesregierung ihren eigenen Anteil radikal redu- ziert hat, so daß sie die Mittel des Bundes gar nicht in Andererseits betrugen allein die versicherungs- technisch gemeldeten Schäden 1,4 Milliarden US Anspruch nehmen kann. Das ist ein Schlag gegen - den Schiffbau. Dollar, als im April 1991 der 20 Jahre alte Einhüllen tanker „Haven" vor der italienischen Küste hava- Es ist nicht uninteressant, dann zu erfahren - am rierte. Für dieses Geld - so hat Frau Altmann hier 19. Juni aus den „Lübecker Nachrichten" -, daß schon gesagt - hätten vier wesentlich sicherere Dop- durch dieses Verhalten der schleswig-holsteinischen pelhüllentanker vergleichbarer Größenordnung ge- Landesregierung eine Werft, die durch den Verbund baut werden können. mit dem Bremer Vulkan durchaus ihre Schwierigkei- ten hatte, zwei große Aufträge verloren hat. Das Beide Fakten, die Überlegenheit des Schiffes als hätte Beschäftigung für längere Zeit bedeutet. eines weitreichenden Verkehrsträgers gegenüber dem Schwerlastverkehr der Straße und der Moderni- Das ist dann - das muß ich schon sagen - ein Schlag sierungsbedarf sowie die Modernisierungsmöglich- aus Kiel gegen den Schiffbau und gegen Arbeits- keiten - damit der Transport zu Wasser seine ökologi- plätze. sche Überlegenheit auch tatsächlich ausspielen Ich weiß sehr wohl, daß manche Kolleginnen und kann -, müssen meines Erachtens im Mittelpunkt der Kollegen denken: Der Schiffbau da oben im Norden politischen Anstrengungen stehen. Und es muß um ist ein Problem der Norddeutschen allein. Das ist andere maritime Technologien wie Offshore-Techni- nicht so. 27 Prozent der Zulieferung kommt allein ken oder um Technologien zur Nahrungsmittelerzeu- aus Baden-Württemberg. Ich meine, das sollten auch gung aus dem Meer gehen. unsere süddeutschen Kollegen bei solchen Debatten Die Antwort der Bundesregierung auf die Große bedenken. Es geht nicht nur um den maritimen Be- Anfrage der Koalition bietet zwar eine Vielzahl von reich da oben im Norden; es ist eine gesamtpolitische Fakten und - für sich allein genommen - interessan- Aufgabe, dem Schiffbau und der maritimen Wi rt ten Einsichten. Ich denke dabei an die zu fördernden -schaft zu hellen. Forschungsprojekte im Schiffbau oder die Aussagen Lassen Sie mich, Herr Präsident, abschließend zur Küstenschiffahrt. Aber beim besten Willen: Ein noch folgendes in einem Satz sagen: Es kommt dar- einheitliches Gesamtkonzept ist nicht zu erkennen. auf an - das ist hier schon angesprochen worden -, Vielmehr wurden offenbar alle verfügbaren Daten daß wir die Elbvertiefung wollen, daß wir bei der We- schnellstens zusammengefegt. So ist es schon ge- ser etwas machen. Das sichert die Zukunft der Stand- radezu abenteuerlich, einerseits das Hohelied der orte dort. Der Nordostseekanal muß attraktiver ge- Küstenschiffahrt im Nord- und Ostseeraum zu sin- macht werden. gen, das Konzept „road to sea" zu feiern und im sel- ben Atemzug ausgerechnet die geplante Ostseeauto- Die maritime Wirtschaft befindet sich nicht nur in bahn A 20 als - ich zitiere - „seehafenbezogenes Pro- rauher See. Wenn wir ihr hellen, dann, glaube ich, ist jekt des Bundesverkehrswegeplanes" zu deklarie- Land in Sicht. Wir sind bereit, ihr zu helfen. ren. Abschließend lassen Sie mich als Haushälter sa- Basis einer politischen Unterstützung der mariti- gen: Es ist die Überweisung an zwei Ausschüsse, an men Wirtschaft kann auch nicht die einmal mehr vor- den Ausschuß für Verkehr und an den Ausschuß für gebrachte Litanei - sie wurde heute wiederholt - von Wirtschaft, vorgeschlagen worden. Ich halte es auf den Lohnstückkosten hierzulande sein. Mit Sozialab- Grund des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen für bau ist der Wettlauf um Aufträge gegen Südkorea, dringend geboten, den Antrag auch an den Haus- Japan oder Polen niemals zu gewinnen. Ebensowe- haltsausschuß zu überweisen. nig nützen unseres Erachtens Steuervergünstigun- Vielen Dank für Ihre Geduld. gen, wie beispielsweise Sonderabschreibungen nach dem Gießkannenprinzip. Es geht nicht um Schiffbau (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und Schiffsbestand, egal unter welcher Flagge und um welchen Preis, sondern um effiziente und hu- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der mane Verkehrsmittel unter Ausnutzung des hierzu- Kollege Rolf Kutzmutz, PDS. lande in Jahrzehnten gewachsenen Fachwissens. 11826 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Rolf Kutzmutz Statt vor den vermeintlichen Zwängen der Globa- eingehalten wird - wenn nicht sofort, dann doch zum lisierung zu kapitulieren, muß die Bundesregierung frühestmöglichen Zeitpunkt. Also: Der Bericht ihr politisches Gewicht in der EU wie weltweit zur kommt frühestmöglich. Durchsetzung ökologischer und sozialer Normen Im übrigen möchte ich einmal darauf aufmerksam und Standards für den Schiffsverkehr in die Waag- schale werfen. So beginnt ökologischer Umbau. Dies machen - vor allen Dingen nach der vorhergehenden - und keineswegs mehr Millionen Haushaltsmittel - Debatte zu einem anderen Thema -, daß es hier ein ist das beste Investitionsprogramm für mehr und si- breit angelegtes Einvernehmen zur Frage der mariti- chere Arbeitsplätze. men Wirtschaft gibt. Das finde ich ganz ausgezeich- net. Die Details finden sich im Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dem die PDS Ich freue mich auch darüber, daß man sich in den vollinhaltlich zustimmt. Die Realisierung solcher Vor- zuständigen Ausschüssen, insbesondere im Ver- schläge setzt aber Willen zur Veränderung und den kehrsausschuß, darauf verständigen konnte, daß Abschied von fatalistischer Marktgläubigkeit voraus. CDU/CSU, F.D.P. und SPD diese Thematik sozusa- Dies erweist sich doch erst in diesen Monaten wieder gen gleichermaßen vertreten und damit allem, was als Krux im Umgang mit den Trümmern des Bremer die Bundesregierung auf internationaler Ebene tut, Vulkan. Die Bundesregierung konstatiert in ihrer starken Nachdruck verleihen. Antwort wachsende Überkapazitäten im Weltschiff- Es ist eine wichtige Frage - es ist schon darauf hin- bau, kritisiert zu geringe Synergien wegen überwie- gewiesen worden - nicht nur für die Küste, sondern gend mittelständischer Strukturen in der deutschen für unser ganzes Land. Haben wir doch im Schiffbau, Werftindustrie und ihre zu schwach ausgeprägte Di- wie es im Be richt steht, noch 1995 rund 38 000 Be- versifizierung in benachbarten Technologiefeldern. schäftigte gehabt. Etwa 70 000 Beschäftigte - also Aber: Die Bundesregierung sieht der Zerschlagung sind es insgesamt über 100 000 - kommen bei den des größten deutschen Werftenverbundes nahezu ta- Zulieferern dazu. Das ist ein Volumen, von dem man tenlos zu, preist die beiden demnächst produktivsten sagen muß: Es hat große Bedeutung. deutschen Kompaktwerften weltweit wie sauer Bier Es geht nicht nur darum, daß eine bestimmte Re- an - obwohl doch auch in Bonn schon seit dem ersten gion, nämlich die Küstenregion, betroffen ist, son- Privatisierungsversuch vor fünf Jahren jeder weiß, dern es geht auch darum, daß in einem hochtechni- daß diese Werften eigentlich keiner der bisherigen schen Bereich gearbeitet wird. Das ist für die ge- Global player braucht. nannten 38 000 plus 70 000 Beschäftigten wichtig. Es Die auch nach Inkrafttreten des OECD-Schiffbau- ist eine Arbeit, ein Metier mit Zukunftsperspektive. abkommens legale Zufuhr von Kapital in staatsei- Auch aus der Sicht heraus müssen wir wirklich alles gene Weilten sieht die Bundesregierung nicht als tun, um diesen Zweig in der heutigen Bedeutung Chance für die hiesigen Standorte, sondern nur als aufrechtzuerhalten bzw. die Bedeutung noch zu ver- Verfälschung des Wettbewerbes an. stärken. Statt zum Beispiel innerhalb eines Staatskonzerns (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) die Ostwerften in Ruhe und Effizienz fertigzubauen Darum bemühen wir uns ganz allgemein, aber ins- und die Bremer Kapazitäten zu erhalten oder - so- besondere durch verschiedene Mittel, die wir dafür weit sie für den Schiffbau nicht zu halten sind - ziel- einsetzen. Zum einen geht es um die Finanzbeiträge gerichtet in andere Bereiche der Meerestechnologie bei der Seeschiffahrt. In der Tat gab es jedes Jahr ei- zu konvertieren, sollen einmal mehr schnellstens Per- nen Kampf um die Höhe dieser Finanzbeiträge. Bis- len vor die Säue geworfen werden. Ich frage Sie: lang ist dieser Kampf aber erfolgreich ausgefochten Warum soll heute für Vulkan nicht möglich sein, was worden. jahrzehntelang bei VW oder Salzgitter möglich war? (Zustimmung bei der CDU/CSU) Den schönen Worten zum Trotz: Der gegenwärtige Kurs der Bundesregierung gegenüber der maritimen Ich bin zuversichtlich, daß das auch in diesem Jahr Industrie bringt weder betriebs- noch volkswirt- noch geschieht. schaftlich eine Lösung. Das Bild erinnert fatal an den Untergang der „Titanic": Das Schiff sinkt, aber das Die Auswirkungen dieser Hilfsmaßnahmen über Orchester spielt weiter und immer die gleiche Melo- die Finanzbeiträge sind sehr positiv gewesen. Wir die. haben nämlich eine erhebliche Stabilisierung der Zahl der deutschen Seeleute zu verzeichnen. Diese (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- Stabilisierung hat eigentlich erst ab 1989/1990 einge- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) setzt. Vorher hatten wir über Jahrzehnte einen drasti- schen Rückgang der Zahl der deutschen Seeleute zu Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der verzeichnen. Parlamentarische Staatssekretär Carstens. Wir haben dann ab 1995 Ausbildungszuschüsse gegeben, die dafür gesorgt haben, daß die drastisch Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- zurückgegangene Zahl derer, die bei der Schiffahrt desminister für Verkehr: Herr Präsident! Meine ver- ausgebildet wurden und schon einmal auf ehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu- 116 Auszubildende gesunken war, jetzt zwischen- nächst einmal auf Herrn Kunick eingehen und ihm zeitlich wieder bei 155 angelangt ist, hoffentlich mit sagen, daß, wenn ich etwas zugesagt habe, das auch steigender Tendenz. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11827

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Staatsse- Flagge, die nicht gerade die Bedeutung hat wie die kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin schwarz-rot-goldene. Da kann man nicht auf jeden Altmann? aufpassen, erst recht nicht auf jeden Seefahrer, ver- ehrte Frau Kollegin Altmann. Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- Wir haben darüber hinaus die steuerliche Proble- desminister für Verkehr: Bitte sehr, ja. matik im Auge zu haben. Da muß ich schon sagen, daß wir hier sehr wohl aufpassen müssen bei dem Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bemühen, den Standort Deutschland auch in dieser NEN): Herr Carstens, ich habe eine Frage nicht nur Frage aktuell und leistungsfähig zu halten. zu der Quantität der Seeleute, sondern auch zur Qua- Ich freue mich darüber hinaus genauso wie andere lität der Arbeitsbedingungen, zum Beispiel für See- Redner vor mir, daß wir mit höchster Wahrscheinlich- leute, die auf ausgeflaggten Schiffen bei einem deut- keit darauf setzen können, bei der Wettbewerbshilfe schen Betreiber fahren, unter einer Flagge, wo es ein für den Schiffbau einmal wieder eine Fortschreibung Doppelbesteuerungsabkommen gibt. Die werden ja der Zuschußgewährung zu erhalten, was ich auch dann steuerlich doppelt veranlagt, das heißt, sie müs- umfassend für in Ordnung halte, weil ja die interna- sen hier Steuern zahlen, haben aber keinerlei An- tionale Regelung letzten Endes noch nicht gültig ge- spruch auf die Leistungen. worden ist. Es würde also eine sehr starke Wettbe- Konkret möchte ich wissen, ob Sie da in der näch- werbsbenachteiligung unserer Werften sein. sten Zeit Verbesserungen planen oder Schritte zur Wenn man das zusammenfaßt, daß wir eine mo- Gerechtigkeit einzuleiten gedenken. derne Seeschiffahrt mit über fünf Millionen BRZ ha- Die zweite Frage ist: Wie beurteilen Sie denn die ben, eine gewaltige Leistung mit über 700 modernen Zustände bei ausländischen Seeleuten, die im Zweit- Schiffen und eine Stabilisierung bei der Zahl der register fahren? deutschen Seeleute erreicht haben, dann sind wir mit unserem Förderinstrumentarium auf dem richtigen Weg, im Gegensatz zu vielen Jahren vorher, nicht zu- Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- letzt auch in den 70er Jahren bis in die 80er Jahre desminister für Verkehr: Wir haben als zweites In- hinein. strument das Internationale Schiffahrtsregister einge- richtet, bei dem es nun auch ein Zweitregister gibt. Wenn wir es schaffen, diese Stabilisierung auf- Dort gibt es klare Vorschriften, wie die Bedingungen rechtzuerhalten, dann bin ich, Herr Kunick, gerne sind, unter denen Flaggen jeweils auf den Meeren bereit - welche Berichte Sie auch immer anfordern fahren können. mögen -, mit Ihnen in diesem Einvernehmen weiter zu diskutieren. Ich möchte zunächst auf diesen Punkt eingehen, Frau Kollegin Altmann. Wir haben im Gegensatz zu Danke schön. anderen Ländern, die zum Beispiel bei der Lohn- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) steuer gewisse Vorteile gegenüber unserem Land ha- ben, dieses Instrument der Finanzbeiträge einge- führt. Diese Finanzbeiträge decken verschiedene Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Notwendigkeiten ab. Kollege Werner Kuhn, CDU/CSU. Es ist in der Tat so, daß es in den Niederlanden, in Griechenland oder sonstwo sehr unterschiedliche Werner Kuhn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Ko Fördertatbestände gibt, Ausnahmetatbestände ge- llegen! Die deutsche Wiedervereinigung hat nicht nur fünf genüber dem, was bei uns üblich ist. Aber in anderen neue Bundesländer mit sich gebracht, sondern auch Ländern gibt es diese Finanzbeiträge nicht. Und 1 200 Kilometer wenn die in dem Umfang gewährt werden, wie wir Ostseeküste, das in den letzten Jahren noch tun konnten und hof- (Siegfried Scheffler [SPD]: Richtig!) fentlich 1997 fortsetzen können, dann kann man do rt nicht von einer Wettbewerbsverzerrung sprechen. vier große Seehäfen - Rostock, Wismar, Stralsund, Saßnitz/Mukran -, fünf Werftstandorte, über die wir Ob wir darüber hinaus etwas hinsichtlich der gleich noch reden werden, und zwei seegehende Frage tun können, die Sie insbesondere interessiert, Flotten, DSR und Fischfang. wie sie sich für diejenigen stellt, die Deutsche sind und unter ausländischer Flagge arbeiten, zum Bei- Mecklenburg und Pommern haben jahrhunderte- spiel in Sachen Lohnsteuer, das müssen und wollen alte Traditionen im Schiffbau und Seefahrt und ein wir gerne überprüfen, sicherlich dann auch in Zu- riesiges Humanvermögen, das letztendlich, geschul- sammenarbeit mit dem Verkehrsausschuß, wenn wir det durch die Teilung - nicht nur die politische, son- an die einzelnen Fragen im Zusammenhang mit dem dern auch die wirtschaftliche Teilung - unseres Va- Bericht herangehen, von dem Herr Kunick gespro- terlandes und ganz Europas in zwei große Blöcke, chen hat. nie richtig ausgenutzt worden ist, gut ausgebildete Nautiker, Techniker, Ingenieure und Schiffbauer. Zu Aber eines muß ich auch hinzufügen: Jeder Deut- Spitzenzeiten waren im ehemaligen Kombinat Schiff- sche, der unter ausländische Flagge geht, weiß im bau 30 000 Leute beschäftigt. Dazusagen muß man voraus, was er macht. Es ist eben ein Unterschied, ob aber auch: 15 000 waren nur am eigentlichen Kern- ich unter deutscher Flagge arbeite oder unter einer geschäft beteiligt; daneben gab es die unterschied- 11828 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Werner Kuhn lichsten B rigaden, vom Rationalisierungsmittelbau schen Raum kann. Das ist absolut notwendig und bis hin zu den Ferienheimen, deren Angehörige alle wird letztlich auch im Bundesverkehrswegeplan so mit auf den Lohnlisten standen. vorgesehen. Es ist uns im Zuge der Umstrukturierung der Wenn wir die maritime Verbundwirtschaft insge- und der Erhaltung der industriellen Werftstandorte samt in Deutschland stabilisieren und ihr eine Zu- Kerne insgesamt gelungen, pro anno 6 500 Beschäf- kunftschance geben wollen, sind für meine Begriffe tigte direkt weiter zu beschäftigen und 500 Aus- drei Punkte wahnsinnig wichtig: Für den Schiffbau zubildende obendrein. Ich meine, auch dies sollte muß, solange das OECD-Abkommen durch die Ame- man einmal erwähnen. rikaner noch nicht ratifiziert worden ist - wenn sie es Ähnlich schwierig war die Situation im Bereich der ratifiziert haben, tritt es erst 30 Tage danach in Kraft -, Seeschiffahrt und der Hafenwirtschaft. Hier war na- die Werfthilfe und die Wettbewerbshilfe gezahlt türlich ein enormer Umstrukturierungsprozeß not- werden. Das ist in der EU-Schiffbau-Richtlinie auch wendig. Alleine die Werften wurden mit Investitions- festgehalten. Wenn wir dann so weit sein werden, hilfen in Höhe von 2,1 Milliarden DM, die auch daß das OECD-Abkommen in Kraft getreten sein durch die Europäische Union genehmigt worden wird, dann muß das Wirtschaftsministe rium sich sind, umstrukturiert - aber unter einer bitteren Be- auch darauf einstellen, daß wir in der Grundlagen- auflagung: Die Schiffbaukapazität insgesamt wurde forschung und in der Anschlußforschung entspre- beschränkt. Wir haben jährlich nur noch 327 000 chende Förderungen bekommen. Das gilt auch für Bruttoregistertonnen zur Verfügung. Dies ist für zehn die Produktinnovation und Produktentwicklung, da- Jahre festgeschrieben; nach fünf Jahren besteht die mit wir weiterhin gerade im Containerschiffbau und Möglichkeit, eine Erweiterung oder eine Präzisie- im Spezialschiffbau Marktführer bleiben. rung vorzunehmen. Für die Seeschiffahrt brauchen wir ebenfalls die Insgesamt leidet Ostdeutschland natürlich unter Förderinstrumente, die zur Zeit wirken. Bis wir neue fehlenden Industriearbeitsplätzen. Die Zulieferindu- Instrumente haben, müssen die bisherigen einfach strie für diese Schiffbauzentren hat sehr großes Inter- weiter in Kraft bleiben. Das ist das Zweitregister; esse daran, daß die industriellen Kerne erhalten wer- Herr Kunick, hier sind wir überhaupt nicht weit aus- den. Ungefähr 3 000 bis 4 000 Beschäftigte in 57 mit- einander. Das sind auch die Finanzbeiträge, aber telständischen Unternehmen können in dieser Zulie- nicht tonnageorientiert, sondern auf Personen und ferindustrie speziell für die ostdeutschen Werften ar- speziell auf die Besetzung mit deutschen Seeleuten beiten. bezogen, zur Auszahlung zu bringen. Auch unser Die Kapazität der Seehäfen hat sich relativ stabili- Programm, das gerade in die Finanzbeiträge die För- siert. Insgesamt beläuft sich das Umschlagvolumen, derung der Auszubildenden aufgenommen hat, ist wie ehedem zu DDR-Zeiten - diese Kapazität haben sehr gut angenommen worden. Dies sollten wir wei- wir wieder erreicht -, auf 13 Millionen Tonnen. Es ist ter so nach vorne bringen. natürlich notwendig, daß die Seeschiffahrtsstandorte mit der entsprechenden Infrastruktur ausgestattet Vergleichbares gilt für die steuerliche Förderung. sind. Ich kann nicht verstehen, warum die SPD-Frak- Natürlich haben die Finanzgesellschaften, die in den tion in ihre Initiative zum Aufbau Ost hineingeschrie- Schiffbau eingestiegen sind, mit ihren bunten, herr- ben hat, daß gerade die Infrastruktur der Seehäfen lich aussehenden Prospekten einen riesigen Werbe- bei den Investitionen nicht bedacht worden sei. rummel verursacht. Dies führte zur Unsicherheit, wieweit noch steuerliche Abschreibungen 1996 und Ich erinnere nur daran, daß wir den Seekanal in darüber hinaus möglich sein werden. Der Markt ist Rostock, der zur Zeit im Bau ist, vertiefen wollen, daß überhitzt worden. Ich habe mit den betroffenen Ver- wir auch den Wismarer Seekanal vertiefen werden, bänden und der Wirtschaft gesprochen. Sie sagen um für den Umschlag eine entsprechende Kapazität mir, wenn wir bei den Sonderabschreibungen von zu bekommen. Die A 20 ist, Herr Kutzmutz, existen- 40 Prozent auf 30 Prozent heruntergehen, sei es maß- tiell notwendig, gerade für Mecklenburg-Vorpom- voll. Wir haben auch den Effekt erreicht, daß sich der mern und die maritime Wirtschaft dort . Bestand der deutschen Seeschiffe erneuert hat. Da- (Lisa Peters [F.D.P.]: So ist es!) mit verbunden ist, daß 170 Schiffsneubauten bei den Werften in Auftrag gegeben werden. Das ist wie- Man kann doch nicht die Philosophie „from road to derum ein Volumen von 5 Milliarden DM beim sea" vertreten, aber zu jedem Endverbraucher einen Schiffbau. So greift eins ins andere. Ich meine, wir Stichkanal legen, damit es nirgendwo eine Schnitt- sollten diese Instrumente fortführen. stelle gibt. Das ist doch Irrsinn. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Kollege, Ich muß natürlich Infrastruktur haben, die auch die Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: achten Sie bitte auf die Uhr. Straße umfaßt. Ebenso brauche ich die Schiene, da- mit der Fährhafen Mukran speziell das nordöstliche Ostseegebiet, also das Baltikum, Finnland und Ruß- land, bedienen kann. Ferner brauchen wir eine An- Werner Kuhn (CDU/CSU): Für die Hafenwirtschaft bindung in Nord-Süd-Richtung - diese existiert be- ist es notwendig, daß alle Infrastrukturmaßnahmen reits -, damit ich über Stralsund, Pasewalk, Berlin so durchgeführt werden, wie sie im Bundesverkehrs- nach Leipzig und dann weiter in den südeuropäi- wegeplan festgeschrieben sind. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11829

Werner Kuhn Dann bin ich guter Hoffnung, daß die Seefahrt und Technik und die Fähigkeiten in unserem Land halten die maritime Verbundwirtschaft in Deutschland und und daraus Zukunftsmärkte entwickeln können. auch in Ostdeutschland eine Zukunft haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ten der CDU/CSU, der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt übrigens Platz für Standorte in Mecklen- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der burg-Vorpommern und in Bremerhaven und mögli- Kollege Ernst Schwanhold, SPD. cherweise auch in Bremen, wenn wir die drei nicht gegeneinander ausspielen, sondern versuchen, sinn- volle Aufgabenteilung zu organisieren. Wir werden dann auch dem Wettbewerb mit jenen Ländern, die Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich am Ende doch nicht dem OECD-Abkommen beitre- mit einem Ärger anfangen, den ich auch artikulieren ten werden, die aber dennoch Wettbewerbsländer möchte. Ich finde es nicht in Ordnung, daß alle nord- sind, standhalten. deutschen Küstenländer so wenig Interesse an dieser Wir können auf die OECD hoffen, das tun wir Debatte haben, zumal es um Existenzfragen ihrer - auch; aber in Europa besteht die Wettbewerbssitua- Standorte geht. tion mit Kroatien und weltweit mit Korea. Beide, wenn ich es richtig weiß, werden nicht dem OECD (Beifall im ganzen Hause) -Abkommen angehören. Der Bundestag unternimmt den Versuch, in einer (Zuruf von der CDU/CSU: Korea doch!) schwierigen Debattenlage Gemeinsamkeiten heraus- zuarbeiten. Das ist das Bemühen dieser Debatte ge- - Korea möglicherweise, das ist noch fraglich. wesen, obwohl ja zwischen dem, was hier gesagt Es sind jedoch noch andere Länder im Wettbe- wird, und dem, wie es öffentlich tönt, gelegentlich werb, die nicht dazugehören. Dann wird es zwangs- noch Unterschiede festzustellen sind. Der eine oder läufig Wettbewerbsnachteile geben. Auch wenn wir andere, der zu denen gehört, die über die Werftindu- die Förderung noch ein Jahr fortschreiben können - strie und die maritime Verbundwirtschaft schon seit ich begrüße das sehr -, werden wir schon heute den langer Zeit das Todesurteil gesprochen haben, wird Grundstein legen müssen. Wir brauchen Kontinuität hier schamhaft zurückgehalten und darf nicht reden. in der Debatte und bei den Förderinstrumenten; Das ist für diese Industrie vielleicht auch gut. denn es geht um die Menschen, die dort arbeiten. Diese Menschen wollen doch ihre Leistungen erbrin- Ich will mich an den Leitspruch halten, daß alles gen und ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit schon gesagt wurde, nur noch nicht von jedem. Ich verdienen; das sind doch nicht Leute, die Arbeitslo- werde versuchen, nicht das zu sagen, was andere be- senhilfe beziehen wollen. reits gesagt haben; denn es bestehen viele Gemein- samkeiten. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es gibt eine industriepolitische Komponente, die man nicht unterschätzen darf. Wir müssen die Frage Ich bitte all diejenigen, die so tun, als ob man, mög- klären, was wir an maritimer Verbundwirtschaft licherweise auch im Zuge von Unregelmäßigkeiten, wirklich in die Zukunft hineintragen wollen. Wir ein parteitaktisches Süppchen kochen könnte, nicht müssen heute den Grundstein legen, daß das auch zu vergessen, daß wir in Europa nach wie vor an er- abgesichert wird. Sie wissen, wir sind in einer ster Stelle und weltweit an dritter Stelle stehen und schwierigen Phase, in der das neu organisiert wird. daß wir die neuen Arbeitsplätze in den neuen Tech- nologien, von denen soviel geredet wird, noch nicht Es wird Schiffe geben, die besonderen Anforde- geschaffen haben. Wir können uns noch nicht erlau- rungen genügen müssen. Dafür ist Forschung nötig. ben, alle sogenannten Alttechnologien, die technolo- Hier liegen übrigens auch die Marktlücken, die jene gisch hochinnovativ sind, aus diesem Land zu ver- Wertschöpfung möglich machen, die wir auf unseren bannen. Ich will ein paar Bereiche nennen, die damit Werften benötigen. Diesen Teil abzusichern ist drin- im Zusammenhang stehen: Stahl, die Fördertechnik gend notwendig. Hier gibt es Bereiche, in die wir bis- für Kohle und der Werftenbereich. her nicht vorgedrungen sind: Fischfang und Fabrik- Ich möchte Sie, Herr Minister, sehr bitten, in der schiffe mit hoher Technik. Allenfalls 30 Prozent Wert- Koalition und in der Zusammenarbeit mit dem Bun- schöpfung an der Küste, 70 Prozent Wertschöpfung desforschungs- und dem Bundeslandwirtschaftsmini- durch ein industrielles Aufrüstungsprogramm für die sterium - für den Bereich des Fischfangs - jene Länder, die nicht an der Küste liegen. Da gibt es Chancen zu eröffnen, die wir dringend für die We rt auch Spielräume für ostdeutsche Anbieter. Ich halte -schöpfung an der Küste und im Land und für die Be- es für sinnvoll, darüber nachzudenken, wie wir die schäftigung der Menschen, die auf uns hoffen und beiden Unternehmen, die darin tätig sind - Deutsche von uns Lösungen erwarten, brauchen. Fischfangunion und die Rostocker -, so mit Werften und intelligenter Hilfe des Bundes unterstützen, daß (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei wir den anstehenden Renovierungsbedarf nicht nach Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜND Norwegen geben müssen, sondern die bestehende NISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) 11830 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der schen Schiffbaukonzerns, des Vulkan, erfüllen uns Bundesminister Dr. Rexrodt. mit Sorge. Mecklenburg-Vorpommern und Bremen sind von dieser Entwicklung in besonderer Weise be- troffen. Dabei geht es nicht nur um die Werften, es Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wi rtschaft: geht um viele mittelständische Zulieferer, um Dienst- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und leistungsbetriebe. Ich habe mich in diese Problema- Henen! Zum Standort Deutschland gehört ein lei- tik frühzeitig eingeschaltet. In vielen Gesprächen stungsfähiger maritimer Sektor. Die Bundesregie- insbesondere mit der EU-Kommission habe ich um rung steht zu diesem Sektor, sie steht zu ihm ohne Verständnis für die besondere Situation in den neuen Wenn und Aber. Ich erkenne ausdrücklich an, daß Ländern geworben. Gott sei Dank gibt es inzwischen die Forderungen des maritimen Sektors - in welcher für die Volkswerft Stralsund und für MTW in Wismar, Weise, werden wir noch zu besprechen haben - nicht wie ich hoffe, tragfähige Unternehmenskonzepte. Ich nur eine lokale oder regionale, sondern auch eine na- bin zuversichtlich, daß wir die vor uns liegenden tionale Aufgabe ist. Aber es kann auch nicht so sein, Klippen in Brüssel umschiffen werden und daß wir daß die Länder außen vor bleiben und dies auch do- am Ende auch für die Unternehmen in Bremen so- kumentieren. Herr Kollege Schwanhold, ich bin da zialverträgliche Lösungen finden. ganz Ihrer Meinung. - Meine Damen und Herren, ich sage an dieser Wettbewerbsfähige maritime Dienstleistungen, Stelle mit allem Nachdruck: Reedereien und Maklerbetriebe, Agenturen sind wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung unse- Erstens. Der Schiffbau und seine Zulieferer sind rer gesamten Volkswirtschaft. Deutschland ist wie High-Tech-Industrien, die in Deutschland Zukunft kein anderes Land auf einen reibungslosen Außen- haben. handel angewiesen. Den gibt es nur mit schnellen Zweitens. Ich sage ganz deutlich aber auch: Diese und verläßlichen Verbindungen im Seeverkehr, mit Zukunft kann nicht ausschließlich oder überwiegend effizienten Umschlagkapazitäten in den Häfen und vom Steuerzahler bezahlt werden. mit einer guten Anbindung der Hafenstädte an das Hinterland. Das geht, wie schon gesagt worden ist, (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bön nicht über Stichkanäle, dazu brauchen wir auch Stra- strup] [CDU/CSU]) ßen. Die Bundesregierung setzt sich deshalb seit Jahren Auch aus umweit- und verkehrspolitischen Grün- für eine multilaterale Beihilfendisziplin im Schiffbau den wollen und müssen wir noch stärker auf den ein. Diesen Weg gehen wir auch in Zukunft konse- Verkehrsträger Schiff setzen. Ich sage dies hier ein- quent weiter. Denn wenn anderenorts nicht subven- gangs und nenne auch andere Bereiche, we il die ma- tioniert wird, dann entfällt hierzu auch die Notwen- ritime Wirtschaft eben nicht nur aus dem Schiffbau digkeit in Deutschland. Im übrigen ist die Schiffbau- besteht, sondern viele andere Sektoren umfaßt. industrie jahrzehntelang durch die Gegend gelaufen und hat gesagt: Wir können auch ohne Subventio- Aber der Schiffbau ist zur Zeit der Teil der mariti- nen leben, wir schaffen das, wir werden sogar eine men Wirtschaft, der in Deutschland vor den größten gute Wettbewerbsposition haben, wenn in anderen Problemen und Herausforderungen steht, nicht des- Ländern nicht subventioniert wird. - Das ist immer halb, weil es an Nachfrage mangelte. Im Gegenteil, gesagt worden, bis zum heutigen Tag. die meisten deutschen Werften haben ein Auftrags- polster für mehrere Jahre. Beim Bau von komplexen Deshalb begrüße ich es, daß wir mit dem OECD und technologieintensiven Passagierschiffen, For- Schiffbauabkommen in die richtige Richtung gehen. schungsschiffen, Spezialschiffen insgesamt und auch Dieses Schiffbauabkommen bringt ein fast vollständi- im Containerschiffbau sind unsere Unternehmen in- ges Subventionsverbot und erstmals wirksame Anti- ternational führend. Es ist schon gesagt worden: Wir Dumping-Regeln für diesen Sektor mit sich. sind im Schiffbau in Europa Nummer eins und welt- Ich bedaure es allerdings sehr, daß die USA dieses weit immer noch Nummer drei. Diese Position haben wichtige Vertragswerk wegen großer Widerstände wir durch motivierte und gut ausgebildete Arbeit- aus verschiedenen Bereichen, auch der Betroffenen, nehmer, durch exzellente Ingenieurleistungen und nicht unterzeichnet haben. Als Reaktion darauf hat durch tatkräftiges Management erreicht. der Ministerrat in Brüssel vor kurzem die Europäi- Dazu, daß wir die inte rnationale Wettbewerbsfä- sche Richtlinie über Beihilfen oder Subventionen für higkeit über Jahre hinweg erhalten konnten, hat den Schiffbau, um es beim Namen zu nennen, bis Ende nächsten Jahres verlängert. Aller Voraussicht zweifellos auch die staatliche Förderung einen Bei- trag zu leisten versucht und wohl auch erbracht. Al- nach werden unsere Pa rtner in der Europäischen lein in den Jahren 1991 bis 1995 wurden aus dem Union von der Subventionsermächtigung auch Ge- Haushalt des Bundesministeriums für Wi rtschaft brauch machen. Daher muß ich bereit sein, mich da- 2,6 Milliarden DM für die Werftindustrie bereitge- für einzusetzen, daß auch in Deutschland die Förde- stellt. Hinzu kommen noch erhebliche Mittel aus den rung begrenzt weitergeführt wird. Küstenländern. Es kann also nicht die Rede davon (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne sein, daß wir diesen Sektor vernachlässigt hätten. ten der CDU/CSU) Der Verlust von mehr als 10 Prozent der Arbeits- Wegen der sehr engen Spielräume in den Haushal- plätze auf unseren Werften in den letzten zwölf Mo- ten kommen dafür allerdings nur Umschichtungen in naten und der Zusammenbruch des größten deut- Frage. Conditio sine qua non ist im übrigen, daß Deutscher Bundestau - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11831

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt auch die Länder wie bisher ihren Beitrag bei der tung von Bündnis 90/Die Grünen und einem anderen Schiffbauhilfe leisten. Der Bund erkennt seine Ver- Teil der PDS angenommen. pflichtung, solange das OECD-Schiffbauabkommen noch nicht unterzeichnet ist, an. Er kann und will Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf: aber die Länder nicht aus dem Boot lassen. Die Län- der müssen ihren Anteil - das sind derzeit zwei Drit- Beratung der Beschlußempfehlung und des tel der gesamten Subventionierung - ohne Wenn und Berichts des Sportausschusses (5. Ausschuß) Aber tragen. zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) 8. Sportbericht der Bundesregierung Meine Damen und Herren, im Schiffbau haben die - Drucksachen 13/1114, 13/4910 - meisten Betriebe in Ost- und Westdeutschland die Zeichen der Zeit erkannt. Sie werden in Richtung ei- Berichterstattung: ner umfassenden Kostensenkung, einer Neuorgani- Abgeordnete sation und einer technologischen Aufrüstung der Be- Klaus Lohmann (Witten) triebe, die sich sehen lassen kann, umgesetzt. Vor al- Ich freue mich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, lem konzentrieren sich die Bet riebe noch stärker als - daß wir heute erstmalig nach Einführung der Erwei- bisher bei ihren Produkten auf das technologieorien- terten öffentlichen Ausschußberatung einen Bericht tierte Marktsegment mit hoher Wertschöpfung. Da- nach § 69 a der Geschäftsordnung auf der Tagesord- mit legen sie die Grundlagen dafür, daß die ma ritime nung des Plenums haben. Der federführende Spo rt Wirtschaft auch am Standort Deutschland künftig be- -ausschuß hat den Sportbericht der Bundesregierung stehen kann. am 6. März 1996 in einer Erweiterten öffentlichen Ich bin dabei optimistisch und sage noch einmal: Ausschußberatung abschließend behandelt. Der Ver- Die Bundesregierung steht zum Schiffbau. Sie kann lauf dieser Ausschußberatung wurde in einem Steno- und will ihn auf Dauer nicht finanzieren. Sie wird ihn graphischen Bericht festgehalten und veröffentlicht. aber, wo es verantwortbar und notwendig ist, weiter- Das Wort zu einer Berichterstattung nach § 69 a hin - zeitlich begrenzt - unterstützen. Abs. 5 der Geschäftsordnung hat der Kollege Engel Schönen Dank. bert Nelle. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) Engelbert Nelle (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Präsident, herzlichen Dank, daß Sie auf dieses neue Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die Instrument einer Erweiterten öffentlichen Ausschuß- Aussprache. Die parlamentarischen Geschäftsführer beratung hingewiesen haben. Der Sportausschuß hat haben verabredet, daß über alle Punkte sofort abge- erstmalig dieses Instrument in Anspruch genommen, stimmt werden soll. Ich sage das, weil es eben einen und zwar mit großem Erfolg. Viele interessierte Ver- Hinweis auf Überweisungen gegeben hat. bandsvertreter, aber auch ebenso viele Vertreter der Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Medien waren anwesend. Dieses Verfahren ist also ßungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die zur Nachahmung empfohlen. Grünen, Drucksache 13/5828. Wer stimmt für diesen (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sportlich! Sport Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthal- -lich!) tungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Zum Bericht. Erstens. Dieser 8. Sportbe richt der Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Stimmenthal- Bundesregierung bietet ein umfassendes Bild über tung der SPD-Fraktion abgelehnt. die Sportförderung des Bundes. Die Leistungen des Bundes tragen ganz wesentlich zur gesamtstaat- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der lichen Aufgabenerfüllung in diesem gesellschafts- Fraktion der SPD zur Sicherung der Standortbedin- politisch wichtigen Bereich bei. gungen der deutschen maritimen Verkehrswirt- schaft, Drucksache 13/3917. Ich bitte diejenigen, die Die Beratungen des 8. Sportberichtes haben den dem Antrag zustimmen wollen, um das Handzei- gemeinsamen Wunsch aller Fraktionen und Gruppen chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der des Deutschen Bundestages zum Ausdruck gebracht, Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen daß Parlament und Regierung auch in finanzpolitisch gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Stimment- schwierigen Zeiten der Sportförderung weiterhin be- haltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. sondere Bedeutung einräumen. Der Bund erzeugt mit seiner positiven Haltung auch eine gewisse Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Signalwirkung für die dauerhafte Förderung des Ausschusses für Wirtschaft zu einer Mitteilung der Sports durch Länder und Gemeinden. Diese Einstel- Europäischen Union zur Gestaltung der maritimen lung hat nichts mit eigennützigem Lobbyismus zu Zukunft Europas, Drucksache 13/5678: Wer stimmt tun - ganz im Gegenteil. für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Ent- haltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Die Werte und Möglichkeiten, die der Spo rt mit Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD und seinen mehr als 80 000 Vereinen und über 25 Mil- einem Teil der Stimmen der PDS bei Stimmenthal- lionen Mitgliedern allen Altersgruppen und gesell- 11832 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Engelbert Nelle schaftlichen Schichten der Bevölkerung bietet, sind Fünftens. Für die Stärkung der Eigenfinanzkraft unersetzbar. der Sportvereine und ihrer Verbände ist es außeror- dentlich wichtig, daß in Zukunft die Gemeinnützig- Zweitens. Die freien und demokratischen Sportor- keit mit der Möglichkeit verbunden bleibt, steuerlich ganisationen waren seit der Gründung der Bundes- wirksame Spenden zu erhalten. republik Deutschland wesentliche Träger des gesell- schaftlichen Lebens und der internationalen Bezie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, hungen. Die Sportvereine und ihre Verbände mit der F.D.P. und der SPD) Zehntausenden von ehrenamtlichen Helfern sowie die Spitzensportlerinnen und Spitzensportler haben In dieser Frage - so habe ich den Eindruck - gibt es im Deutschen Bundestag eine breite Übereinstim- sich für das Miteinander im vereinten Deutschland mung. Denn Spenden zu gewähren und für gemein- unschätzbare Dienste erworben. nützige Zwecke zu verwenden ist Teil der Bürgerfrei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) heit und des gesellschaftlichen Engagements. Die gemeinsamen Mannschaften, die seit der wieder- Herzlichen Dank. gewonnenen Einheit an Welt- und Europameister- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. schaften sowie an Olympischen Spielen teilnehmen, sowie bei Abgeordneten der SPD und der sind die besten Botschafter des Standortes Deutsch- PDS) land.

Dazu gehören auch die Behindertensportlerinnen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Wir kommen und -sportler mit ihren Paralympics-Teams. jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. des Sportausschusses zum 8. Spo rtbericht der Bun- sowie bei Abgeordneten der SPD) desregierung. Das sind die Drucksachen 13/1114 und 13/4910. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- In der Arbeit des Sportausschusses stellt die Förde- lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- rung des Sports für behinderte Mitbürgerinnen und schlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Mitbürger einen besonderen Schwerpunkt dar. Drittens. Der Sportausschuß bekräftigt seine For- Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatz- derung an die nationalen und internationalen Spo rt punkt 3 auf: -organisationen sowie an das Internationale Olympi- 7. Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- sche Komitee, die Anstrengung dauerhaft zu intensi- tionsausschusses (2. Ausschuß) vieren, um den Dopingmanipulationen in verschie- denen Bereichen des Hochleistungssports Einhalt zu Sammelübersicht 125 zu Petitionen gebieten. Auf der Grundlage der europäischen Anti- (Waffenembargo gegenüber Indonesien ver- Doping-Charta müssen die Zusammenarbeit ver- hängen) stärkt, die Kontrollmechanismen abgestimmt und die Laborkapazitäten - allein aus Kostengründen - län- - Drucksache 13/4882 - derübergreifend genutzt werden. Wir dürfen keinen ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Zweifel daran lassen, daß nur ein humaner Lei- und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stungssport Anspruch auf öffentliche Förderung ha- ben kann. Dopingmanipulationen dürfen schon mit Zur Lage in Ost-Timor Blickrichtung auf die schädlichen Auswirkungen auf - Drucksache 13/5799 — den Kinder- und Jugendsport nicht toleriert werden. Wer die Chancengleichheit im Sport nicht achtet, be- Überweisungsvorschlag: geht nicht nur Selbstbetrug, er fügt auch dem Spo rt Auswärtiger Ausschuß in seiner Gesamtheit schweren Schaden zu. Zur Sammelübersicht liegt ein Änderungsantrag Viertens. Der Sportbericht informiert eingehend der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. über die Entwicklung des Sports in Ostdeutschland. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Auch die Sportförderung muß darauf ausgerichtet die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wo- bleiben, den Menschen in den neuen Bundesländern bei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Minu- schrittweise die gleichen Lebens- und Leistungs- ten erhalten soll. - Kein Widerspruch? - Dann ist so chancen zu geben, wie sie sich in mehr als vier Jahr- beschlossen. zehnten in der Bundesrepublik entwickelt haben. Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lege Andreas Krautscheid, CDU/CSU. Die Erkenntnis ist sicherlich gewachsen, daß beim Übergang vom einstigen DDR-Spo rt zu einem nicht- Andreas Krautscheid (CDU/CSU): Herr Präsident! staatlichen Sportsystem auch Fehler gemacht wur- Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und den. Deshalb ist es wichtig, daß beispielsweise die Kollegen! Vermutlich werden wir heute nicht in allen reine sportliche Grundkonzeption der ehemaligen Punkten Einvernehmen über das weitere deutsche Kinder- und Jugendsportschulen umgestaltet und für Vorgehen im Verhältnis zu Indonesien erreichen. Ich die Talentförderung nutzbar gemacht werden kann. möchte aber für dieses Haus eines vorweg klarstel- Die sportbetonten Schulen in den neuen Ländern len. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind dafür ein Beispiel. freuen sich über die diesjährige Verleihung des Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11833

Andreas Krautscheid Friedensnobelpreises an Bischof Carlos Belo und an die überwiegend christliche Bevölkerung Ost-Timors José Ramos Horta. ist immer wieder Ziel staatlicher Repression. Hierzu trägt auch die Umsiedlungspolitik der indonesischen (Beifall im ganzen Hause) Regierung bei, die verstärkt muslimische Indonesier Die Verleihung des Friedensnobelpreises an diese nach Ost-Timor umsiedelt. beiden Persönlichkeiten hat einen in den vergange- nen Jahren weitgehend vergessenen Konflikt wieder Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt, daß in das Interesse der Weltöffentlichkeit gerückt. Mit die indonesische Regierung zunehmend die Bereit- dieser Auszeichnung hat das Nobelkomitee die Be- schaft zeigt, in einen Dialog über Menschenrechts- mühungen der beiden um eine gerechte und friedli- fragen einzutreten. Wir sind überzeugt, daß nur auf che Lösung des Konfliktes um Ost-Timor gewürdigt. dem Wege eines Dialogs und der ständigen Anmah- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht in dieser nung von Verbesserungen wirkliche Fortschritte für Vergabe des Nobelpreises an Belo und Ho rta ein Si- die Menschen erreicht werden können. gnal für die Unterstützung von Dialog und Verständi- gung und für den Verzicht auf die Anwendung von Ein Beispiel für diesen Fortschritt ist die Einset- Gewalt auf dem Weg zu einer offenen und demokra- zung der nationalen Menschenrechtskommission. tischen indonesischen Gesellschaft. Diese Kommission hat seit ihrer Einsetzung erste vor- - sichtige Aktivitäten gestartet und Forderungen auf- Meine Damen und Herren, die Lage der Men- gestellt. Diese sind bisher jedoch von staatlichen schenrechte in Indonesien und insbesondere in Ost Stellen weitgehend ignoriert worden. Timor ist in der Tat für die Menschen do rt vielfach unerträglich und für uns nicht akzeptabel. Die im Anschluß an die Nobelpreisvergabe in die- ser Woche erfolgten neuen und deutlichen Mahnun- Einen Monat nach dem Rückzug Portugals im gen der Kommission an die indonesische Regierung Jahre 1976 hat Indonesien die östliche Hälfte der In- zeigen, daß ihr offenbar das Recht auf Untersuchun- sel Timor annektiert und verwaltet diese derzeit als gen und freie Äußerungen zugestanden wird. Wir er- 27. indonesische Provinz. Dieser Besetzung leistet warten für die Zukunft, daß dieser Kommission mehr ein Großteil der Bevölkerung Ost-Timors bis heute Unabhängigkeit und Unterstützung bei ihrer Arbeit vielfältigen Widerstand. Die Völkergemeinschaft hat eingeräumt wird, daß ihre Berichte von staatlichen diese Annexion niemals anerkannt. Die Vereinten Stellen respektiert werden und daß den Beschwer- Nationen sehen die frühere Kolonialmacht Po rtugal den nachgegangen wird. nach wie vor als Ordnungsmacht in Ost-Timor an. Der Grund unserer Beschäftigung mit Ost-Timor ist Der Deutsche Bundestag hat sich in seinen Gre- jedoch nicht völkerrechtlicher Natur. Es geht uns um mien wiederholt mit den Menschenrechten in Ost-Ti- die Einschränkungen und Bedrückungen im tägli- mor beschäftigt. Er hat sich auf Delegationsreisen vor chen Leben, insbesondere um die Bedrückungen, Ort einen Einblick in die Situation verschafft und in die die christliche Bevölkerung in Ost-Timor auszu- einer Vielzahl von Gesprächen und Appellen ver- stehen hat. sucht, positiven Einfluß zu nehmen. Die Lage der Menschen in Indonesien und Ost-Timor werden wir (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Christen auch in Zukunft aufmerksam beobachten und in un- -verfolgung!) seren Ausschüssen und Gremien behandeln. Uns erreichen bis zum heutigen Tage nach wie vor Meine Damen und Herren, Indonesien ist einer un- Berichte darüber, daß die indonesischen Sicherheits- serer wichtigsten Gesprächspartner in Südostasien. kräfte immer wieder zu Gewaltmaßnahmen greifen, Es vertraut auf die deutsche Rolle beim gewünschten um diesen Widerstand zu brechen. Es handelt sich Brückenschlag zur Europäischen Union und die be- um Verhaftungen, um langjährige Freiheitsstrafen sondere deutsche Verantwortung bei der Entwick- für gewaltlosen politischen Protest. Diese Berichte, lung der europäisch-asiatischen Beziehungen. Mit ei- die uns erreichen, nehmen wir auf Grund der Bestäti- ner Bevölkerung von über 191 Millionen Menschen gungen durch unsere Delegationsteilnehmer auf ih- ist Indonesien das größte islamisch orientierte Land ren Reisen besonders ernst. der Welt. Meine Damen und Herren, wir erkennen sehr wohl an, daß die indonesische Regierung in den letzten (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Jahren eine Vielzahl von Maßnahmen und Investitio- NEN]: Und eine der größten Diktaturen!) nen eingeleitet hat, die zur Verbesserung der wirt- schaftlichen und sozialen Lage der Menschen in Wir räumen daher guten außenpolitischen und au- Ost-Timor geführt hat. Die unter der portugiesischen ßenwirtschaftlichen Beziehungen einen hohen Stel- Kolonialherrschaft vernachlässigte Infrast ruktur lenwert ein. Auch Indonesien ist an einer engen Pa rt wurde beträchtlich ausgebaut. Das Bildungswesen -nerschaft mit uns interessiert, denn Deutschland ist wurde weiterentwickelt und dadurch die Analphabe- nach Japan und den USA der drittgrößte Handels- tenrate deutlich gesenkt. Auch im Gesundheitswe- partner dieses Landes. sen sind erfreuliche Verbesserungen festzustellen. Der indonesischen Regierung muß aber klar sein, Mit dieser Entwicklung ist jedoch keine vergleich- daß die Einhaltung der Menschenrechte und die bare Verbesserung der politischen und bürgerlichen Durchsetzung von Demokratie und Rechtsstaatlich- Rechte einhergegangen. Meinungs- und Religions- keit dem inneren Frieden des Landes dienen. Frei- freiheit sind vielfach nicht gewährleistet. Besonders heit und Menschenrechte sichern politische Stabilität 11834 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Andreas Krautscheid und sind damit auch essentiell für eine erfolgreiche enthält nämlich Forderungen, die ungeeignet oder wirtschaftliche Zukunft dieses Landes. nicht durchführbar sind. Die WEU-Resolution, auf die sich die Petenten beziehen, forde rt, jegliche Hilfe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) für Indonesien auszusetzen. Das ist der wesentliche Hinsichtlich der politischen Entwicklung erwarten Punkt, warum wir uns dieser Petition nicht anschlie- wir, daß die Gespräche zwischen Indonesien und ßen können. Portugal über die nun bereits über 20 Jahre andau- ernde Besetzung der ehemaligen portugiesischen Trotz aller Entwicklungsfortschritte in Indonesien, Kolonie Ost-Timor unter Berücksichtigung der Inter- ist dieses Land in weiten Teilen noch immer ein Ent- essen der dortigen Bevölkerung fortgesetzt werden wicklungsland, in dem Menschen in großer Armut le- und eine dauerhafte und gerechte Lösung in Über- ben. Wir plädieren daher für weitere Entwicklungs- einstimmung mit dem gemeinsamen Standpunkt der zusammenarbeit mit Indonesien in den klassischen Europäischen Union vom 25. Juni dieses Jahres ge- Bereichen. Wir wollen sie bei der Armutsbekämp- funden werden kann. fung, der sozialen Sicherung, der Bevölkerungsent- wicklung, bei Bildung und - das ist in Richtung Indo- Wir, die Fraktion der CDU/CSU, begrüßen vor al- nesien ganz wichtig - beim Umweltschutz fortsetzen lem die Absicht von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, und konzentrieren. bei seinem bevorstehenden Besuch in Indonesien Ende Oktober konkrete Fragen der Menschenrechte Wir sind auch für die Förderung der wirtschaftli- aufzugreifen und den bereits bei früheren Besuchen chen Beziehungen zu Indonesien. Wir unterstützen begonnenen Dialog über Menschenrechte fortzuset- aber nicht eine Politik, die ein unterdrückerisches zen. Gegenüber einem Land wie Indonesien auf Kon- Regime hofiert, um der deutschen Exportwirtschaft frontation und Blockade statt auf Dialog zu setzen die Tür zu öffnen. wäre politisch unklug. Wir streben ein partnerschaft- liches und freundschaftliches Verhältnis zu Indone- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sien an; aber zu diesem guten Verhältnis gehört für DIE GRÜNEN) uns zwingend auch ein offener Dialog über Men- schenrechte. Wirtschaftliche Beziehungen ja, aber auch eine klare Haltung in Fragen der Menschenrechte. Meine Damen und Herren, wir appellieren heute an Präsident Suha rto, mit der demokratischen Bewe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gung in Ost-Timor endlich in Verhandlungen zu tre- DIE GRÜNEN) ten. Die Zeit für Gespräche über Ost-Timor ist reif. Die Verleihung des Friedensnobelpreises ist auch Hier muß ebenso wie im Fall der Volksrepublik Ausdruck der Erwartung der Weltöffentlichkeit, hier China deutlich auf die Defizite im Bereich der Men- endlich zu Fortschritten zu kommen. schenrechte in Indonesien hingewiesen werden. Präsident Suharto, Sie haben jetzt die große Wir möchten aber auch an dieser Stelle noch ein- Chance, sich nicht nur um Frieden und Demokratie mal feststellen: Es wird immer eine Abhängigkeit in Ihrem eigenen Land verdient zu machen, sondern zwischen Wirtschaftspolitik und Menschenrechten auch um das Ansehen Indonesiens in der Welt. gefordert. Das führt unter anderem zu zwei Optio- nen. Die eine ist, daß in der Hoffnung auf Wirt- Ich danke Ihnen. schaftsaufträge Diktatoren umworben und von Kritik (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) verschont werden. Dabei hat sich doch gezeigt, daß der Besuch in Kasernen für die Wi rtschaft überhaupt nichts bringt. Die andere ist die Verhängung von Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Wirtschaftsboykott oder Embargo, wie zum Beispiel Kollege Volker Neumann, SPD. in der Petition gefordert. Aber beide Optionen führen in einen Irrweg, weil sie entweder die Moral oder die Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Herr Präsident! Menschen zurücklassen. Liebe Kollegen! Die Petition, die heute zur Debatte steht, zielt in die richtige Richtung. Wir sind grund- Ich bezweifle im übrigen, daß es Deutschland sätzlich gegen Rüstungsexporte außerhalb der überhaupt möglich ist, durch solche Maßnahmen ei- NATO-Staaten; denn wir alle wissen, Rüstungsex- nen nennenswerten Druck auf die Staaten Ostasiens porte verschärfen Konflikte und ermöglichen neue auszuüben. Schließlich hat die Region die begehrte- Kriege. Die Aufrüstung von Entwicklungsländern ist sten Märkte und die dynamischste Wi rtschaft der kontraproduktiv für die wi rtschaftliche, politische Welt. und soziale Entwicklung. Deshalb haben wir uns schon sehr frühzeitig in unseren Grundsätzen zur so- Ich wiederhole, auch für Indonesien gilt: ein off e- zialdemokratischen Ostasien- und Pazifikpolitik ge- ner und fairer Dialog über Menschenrechtsfragen gen Rüstungsexporte in die asiatische Region ausge- und eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen. sprochen. Wir haben das noch einmal in dem ge- meinsamen Entschließungsantrag in Richtung Indo- Ost-Timor ist nicht das einzige Menschenrechts- nesien betont. problem Indonesiens. Gerade in jüngster Zeit gab es wieder verschiedene Vorfälle, die den mangelnden Auch wenn die vorliegende Petition in die richtige demokratischen Charakter des Suharto-Regimes Richtung zielt, werden wir sie ablehnen müssen. Sie deutlich machen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11835

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Lage in Ost-Timor hingewiesen. Seit 1975 ist Ost-Ti- Neumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- mor völkerrechtlich besetzt. legen Tippach? (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll mer) Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Ja, selbstver- ständlich, Herr Tippach. Vizepräsident Klose war mit mir schon in Ost-Ti- mor, ebenso wie im letzten Jahr Kollege Eppelmann. Steffen Tippach (PDS): Sehr geehrter Herr Kollege Wir konnten feststellen, wie bedrückend die Situa- Neumann, es ist bekanntgeworden, daß der Ober- tion in Ost-Timor ist. Viele junge Ost-Timoresen kommandierende der berüchtigten Spezialeinheit in suchten das Gespräch mit uns und beklagten sich Ost-Timor 1981 unter der damaligen sozialliberalen über Repressionen der indonesischen Behörden. Regierung durch die GSG 9 in Deutschland ausgebil- det worden ist. Betrachten Sie diese militärische Aus- 21 Jahre dauert nun schon der Widerstand der ti- bildungshilfe aus heutiger Sicht als Fehler, oder wür- moresischen Bevölkerung, und er ist ungebrochen. den Sie das, wenn Sie die Möglichkeit hätten, wie- Die Lebensverhältnisse der Mehrheit der Ost-Timo- derholen? resen haben sich trotz der vielen Entwicklungsmaß- nahmen Indonesiens nicht verbessert. Bischof Belo - hat im letzten Jahr, als er in Bonn im Bundestag zu Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Ich habe das in Besuch war, gesagt: Die Indonesier haben nicht un- der Zeitung gelesen. Deshalb kann ich nicht bestäti- ser Herz gewonnen, obwohl sie anerkanntermaßen gen, ob das wahr ist. Wenn es wahr wäre, daß er zu für die Entwicklung Ost-Timors wi rtschaftlich etwas diesem Zweck ausgebildet worden ist, dann würde getan haben. ich das für einen Fehler halten. Aber ich vermute sehr, daß er im Rahmen der militärischen Ausbildung Die Besetzung Ost-Timors bleibt ein Verstoß gegen wie viele Soldaten aus der Dritten Welt in Hamburg das Völkerrecht. Die Annexion wird weder von uns war und bei dieser Gelegenheit ein demokratisches noch von der Völkergemeinschaft anerkannt. System kennengelernt hat. Es ist aber bei der Lösung des Problems Ost-Timor Deshalb bin ich grundsätzlich für die Ausbildung Eile geboten, da die Indonesier - Herr Krautscheid im militärischen Bereich an der Akademie in Ham- hat darauf hingewiesen - massenhaft andere Bevöl- burg. Wenn es allerdings der Geheimdienstausbil- kerungsteile aus dem großen Land in Ost-Timor an- dung dienen sollte, wie Sie es sagten, wäre ich sehr siedeln und damit die Ost-Timoresen mit ihrer Spra- dagegen. che und Kultur im eigenen Land zur Minderheit ma- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der chen. Es gibt eine furchtbare Parallele zu Tibet. CDU/CSU und der F.D.P.) Ich hoffe, daß die Gespräche zwischen Indonesien Ich hatte gesagt, daß immer wieder Menschen- und Portugal, aber auch zwischen Indonesien und rechtsverletzungen des Suha rto-Regimes bekannt- den Vertretern Ost-Timors das Problem der Lösung werden. Wir haben gerade erlebt, wie die chancen- ein Stück näherbringen. Ich meine, daß sich reichste Oppositionspolitikerin abgesetzt wurde und Deutschland als wichtiger Pa rtner in Europa dafür die Demonstrationen, die es daraufhin gab, blutig einsetzen sollte, daß Indonesien diese Verhandlun- niedergeschlagen wurden. Es gab Verhaftete, Tote gen ergebnisorientiert führt. Das Ergebnis dieser und Verletzte. Verhandlungen sollte ein Plan zur Durchführung ei- nes Referendums über die Zukunft Ost-Timors sein. Wir sind auch betroffen über das Schicksal des Ge- Die Bundesregierung sollte sich darum bemühen, werkschaftsaktivisten Mukhtar Pakpahan, des Politi- daß Indonesien die Unterdrückung der Zivilbevölke- kers Sri Bintang. Wir wissen, daß die Ch risten in rung einstellt, die politischen Gefangenen freiläßt Nordsumatra und die Menschen in I rian Jaya schwer und die Umsiedlungsprogramme nach Ost-Timor unter Menschenrechtsverletzungen leiden. stoppt. Für alle diese Ziele wäre eine Abstimmung in Den Bundeskanzler bitte ich, sich bei seiner Reise der EU notwendig und hilfreich. - er hat es gestern angekündigt - für die Rechte des Wir freuen uns wie alle anderen in diesem Haus, früheren Abgeordneten S ri Bintang Pamungkas ein- daß der an zusetzen, der nur deshalb verurteilt worden ist, weil Friedensnobelpreis Bischof Belo und er in Berlin eine Rede vor Studenten gehalten hat. José Ramos Horta und damit an die gesamte ost- timoresische Unabhängigkeitsbewegung verliehen Nun soll er für 34 Monate in Haft gehen. wurde. Bischof Belo habe ich selbst in den langen Ich bitte auch darum, daß die große Zahl der Nicht- Jahren des Kontakts als engagierten und überzeug- regierungsorganisationen in Indonesien nicht ver- ten Mann und als standhaften Ch risten kennenge- gessen wird. Hier muß mehr getan werden. Eine der- lernt. artige Stärkung der Zivilgesellschaft bringt nach un- serer Ansicht für die Entwicklung Indonesiens mehr Es ist ein wenig traurig, daß der Kanzler, soweit ich als ein unsinniger Wirtschaftsboykott, der nur ver- weiß, noch nicht einmal einen Glückwunsch für ihn pufft. übrig hatte. Nun zum Ost-Timor-Antrag, den wir heute einge- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: bracht haben. Herr Krautscheid hat schon auf die Ein Skandal ist das!) 11836 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Volker Neumann (Bramsche) Während er Suharto sogar im Krankenhaus besuchte, ber wird zum viertenmal seinen Freund Suha rto be- konnte er sich offenbar nicht dazu durchringen, den suchen, immerhin einen der größten Diktatoren die- Nobelpreisträgern zu gratulieren. ser Welt. (Zuruf von der SPD: Das ist typisch Kohl!) Ist das der Grund dafür, daß das Besuchsprogramm des Bundeskanzlers vom Auswärtigen Amt zur Ge- Staatssekretär Hausmann hat lediglich in der Bun- heimsache erklärt wurde? Ist das der Grund dafür, despressekonferenz gesagt, man respektiere die Ent- daß man nicht zeigen will, welche Gespräche statt- scheidung. Ich bin dankbar, daß der Außenminister finden und welche Gespräche nicht stattfinden? Viel- Glückwunschtelegramme abgeschickt hat. leicht ist es ein Zeichen der Sensibilität dafür, daß es (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei ein Skandal ist, daß der Bundeskanzler nicht einmal Abgeordneten der CDU/CSU) bereit ist, den Träger des Friedensnobelpreises zu empfangen. Das ist zuwenig für einen Mann, der mit seiner gan- zen Kraft zu erreichen versucht hat, was wir erreicht Wir wollen nicht nur, daß er ihn trifft, sondern haben, nämlich Selbstbestimmung für sein Volk. auch, daß er das tut, was sein Freund Suha rto nicht Selbst die indonesische Regierung hat Belo gratu- gemacht hat, nämlich mit ihm zu sprechen und ihm liert. - Unterstützung im Kampf um die Anerkennung Ost Da der Kanzler nun angekündigt hat, er werde bei Timors und in der Durchführung eines Referendums seinem Indonesienbesuch die Menschenrechte an- zu geben, damit es endlich von der Diktatur Suhartos sprechen, hoffe ich, daß er dabei nicht vergißt, auch befreit wird. an das Ringen der Ost-Timoresen und des Bischofs Kollege Krautscheid, ich finde es bedauerlich, Belo um Selbstbestimmung zu erinnern. wenn hier von Ihnen nur verbales Bedauern kommt, Bei meinem Besuch in Ost-Timor haben junge aber der Kanzler bei solchen Debatten nicht anwe- Leute dem Kollegen Eppelmann und mir einen B rief send ist. Ich gehe davon aus, daß wir nach diesen an den Deutschen Bundestag überreicht, der Anlage Reisen Gelegenheit haben, etwas ausführlicher über unseres Berichts an den Auswärtigen Ausschuß zu die grundsätzlichen Positionen der Bundesregierung dieser Reise ist. Ich lese den letzten Abschnitt daraus in diesem Bereich zu sprechen. vor: Unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl hat die Sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundes- Bundesregierung die wirtschaftlichen Beziehungen tages, wir bitten Sie inständig im Namen des Vol- zu Indonesien kontinuierlich ausgebaut. Das ist hier kes von Timor, Ihre Regierung, die Staaten der betont worden. Indonesien wird als Zukunftsmarkt Europäischen Union, die Vereinten Nationen so- für die deutsche Industrie hofiert. wie alle Menschen guten Willens über die wah- ren Absichten unseres Volkes aufzuklären. Tau- Kollege Krautscheid, dem indonesischen Chef muß sende von Besuchern haben den blutgetränkten klargemacht werden, daß es nicht ausreicht, nur über Boden dieses wunderschönen, aber gequälten die Mißachtung der Menschenrechte zu reden. Wir Landes betreten; bisher aber setzten sich wenige wissen doch inzwischen, daß Suha rto ganz offen- für uns ein und solidarisierten sich mit uns. Die sichtlich Kritik im verbalen Bereich hinnimmt und Bevölkerung ist der Gespräche überdrüssig, sie trotzdem das Militär weiter rabiat gegen die Demo- möchte vielmehr von ihrem Recht auf Selbstbe- kratiebewegung einsetzt. stimmung und Unabhängigkeit Gebrauch ma- Indonesien ist kein Einzelfall. Der sogenannte kriti- chen, das in den Erklärungen der Vereinten Na- sche Menschenrechts- und Wertedialog der Bundes- tionen und im internationalen Recht verankert ist. regierung wird mit der Türkei, mit Iran, aber auch Haben wir damals einen ähnlichen B rief aus der mit China geführt und dient wie auch im Fall Indo- DDR bekommen, hat dieser eine Welle von Sympa- chinas bisher lediglich als Feigenblatt dafür, daß man thie und Zustimmung ausgelöst. Ich gebe jedenfalls unter Ignoranz schwerster Menschenrechtsverlet- die Hoffnung nicht auf, daß auch die Ost-Timoresen zungen eine wirtschaftliche und militärstrategische eines Tages über ihr Schicksal selbst bestimmen kön- Interessenpolitik betreibt. nen. Angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der im nächsten Jahr und der Diskussion um die Nach- F.D.P. sowie der Abg. Margareta Wolf folge von Präsident Suharto erhält der Besuch des [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bundeskanzlers aus unserer Sicht eine besondere Brisanz im Hinblick auf mögliche Einflußnahmen auf die innenpolitische Entwicklung in Indonesien. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Beer. Der Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen kor- respondiert mit den rüstungswirtschaftlichen und Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau militärischen Beziehungen mit diesem Staat. Als Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Person dafür steht - das wissen Sie sehr gut, auch Ausbau der Wirtschafts- und Rüstungsbeziehungen wenn Sie es hier nicht benannt haben - Minister Ha- mit Ost- und Südostasien ist ganz offensichtlich zur bibie, der in der Bundesrepublik als Industriekauf- Chefsache erklärt worden. Herr Außenminister Kin- mann tätig war, der zu den engsten Freunden Suhar- kel wird nach China fahren; der Bundeskanzler sel- tos zählt, auch als möglicher Nachfolger gehandelt Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11837

Angelika Beer wird und hervorragende Kontakte zur Bundesregie- sein, daß dieses Regime weiterhin - egal, mit wel- rung hat. chen Waffen - ausgerüstet wird.

Habibie wollte mit dem Impo rt der Ex-NVA-Schiffe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowohl in die eigene Tasche wirtschaften als auch die und bei der PDS) maritime Rüstung im eigenen Bereich unterstützen. Ich will nicht den fadenscheinigen Streit führen, der Die Werften, auf denen die Schiffe überholt und in im Falle der Türkei geführt wird, ob ein „Wiesel" denen sie zur Stärkung der maritimen Kriegsfähig- oder ein U-Boot jetzt im Landesinneren gegen die keit Indonesiens auf- und umgerüstet werden, gehö- Opposition eingesetzt wird. Die Tatsache, daß dieses ren Habibie. Regime mit diesem Militär rüstungspolitisch unter- stützt wird, ist ein Verstoß gegen die Würde der Men- Nachdem die Oppositionspartei PDI durch die Ab- schen und die Achtung der Menschenrechte. setzung von Megawati auf Regierungslinie gebracht wurde, müssen wir zumindest die Frage stellen, ob Sie haben unserem Antrag inhaltlich eigentlich zu- dieser Kanzlerbesuch und das sicher bevorstehende gestimmt, Herr Kollege Krautscheid, aber nicht ge- Treffen mit Habibie von der Opposition nicht mögli- sagt, wie Sie sich dazu verhalten werden. Ich rate Ih- cherweise doch als direkte Beihilfe für Habibie ge- nen: Wenn Sie das, was Sie gesagt haben, alles ernst deutet werden müssen. Wenn dies so ist, wäre das nehmen, dann stimmen Sie dem Antrag von SPD und ein Schlag in das Gesicht dieser Opposition, die in Grünen zu. den letzten 20 Jahren soviel hat leiden müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Es scheint mir notwendig, auf die Doppelrolle des bei der SPD und der PDS) Militärs in Indonesien einzugehen. Da bekommt die Wir unterstützen in unserem Antrag die Forderun- Frage der militärischen Ausbildung eine ganz neue gen des Nobelpreisträgers auf die Durchführung ei- Qualität. Wir wissen - auch aus offiziellen Berichten nes Referendums. Es ist nicht nur Zeit, jetzt endlich der Bundesregierung - gut, daß das indonesische Mi- darüber zu sprechen, sondern es ist allerhöchste Zeit, litär eine Doppelrolle spielt. Es gibt do rt keine Tren- dieses Referendum durchzusetzen, um zu einem nung zwischen polizeilicher und militärischer Sicher- Ende der 20jährigen Besetzung zu kommen. heit. Das Militär ist für die innere wie auch für die äußere Sicherheit verantwortlich. Die Polizei ist ein Die Frage der GSG-9-Ausbildung ist angespro- Bestandteil der militärischen Organe. chen worden. Ich habe gesagt, daß die Polizei in In- donesien kein Instrument der inneren Sicherheit, Ich erinnere an die Proteste im Juli dieses Jahres - sondern dem Militär untergegliedert ist. Es gibt kei- vielleicht haben wir die blutigen Bilder auf den Fern- nen Grund, die Polizei in Indonesien in dieser Form sehbildschirmen noch in Erinnerung -, als das Partei- zu unterstützen. büro der Demokratischen Partei Indonesiens er- Wir erwarten vom Kanzler, daß er klare Worte fin- stürmt wurde, wobei es Tote und Verletzte gab und det und den Vorwurf der indonesischen Regierung zahlreiche Menschen bis heute noch nicht wieder gegen Menschenrechtsorganisationen, daß sie sich aufgetaucht sind. Es war die Stunde, als Präsident in innere Angelegenheiten einmischen würden, Suharto, der Freund des Bundeskanzlers, wie der wenn sie kritisieren, was dort passiert, zurückweist. Bundeskanzler selber sagt, das Militär für die blutige Der Kampf um die Verteidigung der Menschenrechte Niederschlagung der Proteste gelobt hat. ist keine innere Angelegenheit, sondern internatio- Ich habe die Hegemonialbestrebungen Indone- nale Verpflichtung. Das sollte auch der Kanzler deut- lich zur Sprache bringen. siens in der Region erwähnt. Ich will aber auch auf den Rüstungsexport ganz explizit eingehen; denn es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, daß dieser Rüstungsexport angesichts der massivsten Die Bundesregierung soll also nicht nur reden; sie Menschenrechtsverletzungen im Inneren, aber auch soll zumindest Klartext reden und muß handeln. Ge- gegen die befreundeten Staaten eingestellt wird. In- rade deswegen meinen wir, daß dem Antrag der Pe- donesien importiert ganz wesentlich Rüstungen, um tenten, aber auch dem von SPD und uns unbedingt sich autark eine eigene Rüstungsindustrie aufzu- zugestimmt werden sollte. bauen, und Deutschland exportiert ganz fleißig mit. Verehrte Damen und Herren, ich möchte dringend appellieren, bei der bevorstehenden Reise durch die In den letzten zehn Jahren hat es 680 Ausfuhr- Bundesregierung jedes Verhalten und jedes Ge- genehmigungen für Kriegswaffen gegeben, obwohl spräch zu vermeiden, durch das man auch nur den von der EU, von der Westeuropäischen Union, von Verdacht haben könnte, daß Suha rto, Habibie oder Menschenrechtsorganisationen und von Amnesty, das Militär in irgendeiner Form unterstützt werden. aber auch von anderen, wie Human Rights Watch/In- Es wäre eine Beteiligung an dem Schub der laufen- donesia, immer wieder die Forderung erhoben den Entdemokratisierung in Indonesien. wurde, dieses Regime nicht noch weiter mit Waffen auszustatten. Im Moment laufen 13 weitere Bewilli- Wir wissen doch, daß es dort ethnische Konflikte gungsbescheide. Es werden Panzer bewilligt, „Wie- gibt. Die Unterdrückung der christlichen Minderheit sel", die bei MAK in Kiel gebaut werden. ist hier angesprochen worden. Wir haben gehört, daß Islamisten in den letzten Tagen Kirchen angezündet Ich kritisiere das Ganze ausdrücklich, auch wenn haben. Wir wissen von der Gefahr von Bürgerkrieg in das dort meine Landesregierung ist. Es darf nicht der Region. Ich glaube, wir wissen auch, gerade auf 11838 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Angelika Beer Grund des Krieges in Europa, in Ex-Jugoslawien, hätte da vielleicht das eine oder andere Detail hinzu- welche Antworten gegeben werden müssen, und lernen können, so etwa über die sicherheitspolitisch zwar rechtzeitig, nicht wieder erst dann, wenn es zu konstruktive Rolle, die Indonesien bei den ASEAN spät ist. Staaten spielt, und darüber, wie man sie fördern kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS sowie des Abg. Rudolf Bin- Also noch einmal: sehr wohl Kritisches zu einzel- dig [SPD]) nen Exporten; klar ist, daß jeder einzelne Vorgang Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum auf seine menschenrechtliche Relevanz hin geprüft Schluß auf ein Wort des Bundespräsidenten einge- werden muß. hen. Bundespräsident Roman Herzog hat kürzlich Ich kann sehr gut verstehen, wenn Sie diese Dis- die Respektierung anderer Kulturen eingefordert - kussion hier nicht möchten. Sie diskutieren sehr ein Satz, den wir alle hier nur unterstreichen können gerne über die Türkei, also darüber, welche der dort- und an dem es nichts zu kritisieren gibt. hin gelieferten Waffen gegen die Zivilbevölkerung Ich kann dem nur zustimmen. Respektieren wir eingesetzt werden können. Darüber sehen wir lange auch das Recht der Ost-Timoresen auf ihre Kultur, Fernsehberichte. Jetzt aber sagen Sie: Im Falle Indo- nesien möchte ich nicht darüber diskutieren, ob die verehrte Kolleginnen und Kollegen, und machen wir - deutlich, daß wir diesen Respekt und das entschie- Waffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wer- dene Eintreten für dieses Recht vom Bundeskanzler den. Das scheint mir inkonsequent zu sein. auf seiner bevorstehenden Reise erwarten, und zwar Die Sache ist also nicht so einfach, wie Sie sie dar- so, daß es auch hörbar ist. gestellt haben. Ich bin für eine differenzie rte Vorge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hensweise. Weil diese Vorgehensweise in dem An- sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann trag so nicht- zum Ausdruck kommt, werde ich dem [PDS]) Antrag bezüglich der Petitionen nicht zustimmen. Den Antrag von SPD und Grünen, der hier einge- Dann ist diese Reise richtig. Wenn kein Buckel vor bracht worden ist, werden wir nach der Reise im diesem Diktator gemacht wird, dann ist diese Reise Licht der do rt geführten Gespräche unter uns im notwendig. Ausschuß in aller Ruhe beraten. Nach dieser Reise werden wir vielleicht Gelegen- heit haben, eine interfraktionelle Vereinbarung zu Zur Antwort, Nachdruck Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: treffen, die dem Recht der Menschen do rt bitte. verleiht. Dazu gehört aber, wie gesagt, als erster Schritt: Keine Rüstungsexporte mehr an Indonesien! Das ist hier und heute zu beschließen. Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Kollege Krautscheid, falls das gerade ein indirekter bei der SPD und der PDS) Vorwurf sein sollte, daß ich bei der gestrigen Anhö- rung nicht anwesend war: Ich war bei der Anhörung der Fraktionen und des Verteidigungs- und Rechts- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- ausschusses zum sogenannten Ehrenschutz. Wenn tervention der Kollege Krautscheid. Sie bei dieser Anhörung gewesen wären, dann wäre auch Ihnen klar geworden, was man im Bereich des Andreas Krautscheid (CDU/CSU): Frau Kollegin Militärs darunter versteht und ob man dem Militär ei- Beer, ich kann in der Kürze der mir zur Verfügung nen Ehrenschutz zubilligen soll oder nicht. Vielleicht stehenden Zeit nicht auf all das eingehen, was ich in hätten Sie auch etwas lernen können, das zu wissen Ihrem Beitrag für falsch halte. für Sie notwendig wäre. In der Beurteilung der Ausgangslage sind wir uns Aber um auf Ihre Frage einzugehen: Es ist doch sehr wohl einig; ich glaube, das ist auch beim Kolle- eine Banalität, die Sie hier zu relativieren versuchen. gen Neumann klar durchgekommen. Wir fragen uns Die Frage ist doch, ob man grundsätzlich ein Regime, jetzt gegenseitig: Was ist der richtige Weg? das vor 20 Jahren völkerrechtswidrig Ost-Timor an- nektiert hat, das daran festhält - ich erwähne nur in Die Lieferung von Schiffen im Bereich der Rü- Parenthese, daß das über 200 000 Menschen das Le- stungsexporte als „Schub der Entdemokratisierung" ben gekostet hat -, das diese Politik weiter verfolgt zu bezeichnen ist mir einfach zu platt und zu ideolo- und im gesamten Bereich eine maritime aggressive gisch. Strategie ausbaut, mit U-Booten, mit Rüstungsliefe- (Dr. Willfried Penner [SPD]: Es ist aber auch rungen überhaupt unterstützt oder nicht. kein Schub für die Demokratisierung!) Ich sage Ihnen - ich komme noch einmal auf die Man kann sehr wohl über einzelne Details reden. Türkei zu sprechen -: Diese Regime - das haben wir Ich hätte mir aber, wenn Sie hier schon solch relativ in China gelernt; das haben wir in der Türkei gelernt; schlichte Wahrheiten aus alten Zeiten verkünden, das werden wir in Indonesien ebenfalls lernen - ge- gewünscht, daß Sie zum Beispiel gestern zu der fünf- hen inzwischen mit einer großen Unverfrorenheit ge- stündigen Anhörung über das Thema „Rüstung und gen Demokratiebewegungen vor, weil sie gelernt ha- Entwicklungspolitik" - wie gehen wir mit den Ent- ben, daß verbale Kritik aus Europa, aus Deutschland wicklungsländern um? - gekommen wären. Man ihnen überhaupt nichts tut, solange die Rüstungslie- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11839

Angelika Beer ferungen weiterlaufen und die Wirtschaftsbeziehun- mer Einzelprüfungen geben. Das ist ja völlig richtig. gen dadurch nicht beeinträchtigt werden. Aber hier stimmt die Kleiderordnung irgendwie nicht. Wir können nicht mit Gewalt herbeireden, daß Ihr Kollege Lummer, der sich so gern in der Türkei ASEAN - wie die NATO - eine Gemeinschaft von aufhält, ist jetzt in das Kreuzfeuer der Kritik in der wertorientierten Demokratien ist. Türkei gekommen. Unsere Delegation der deutsch- türkischen Parlamentariergruppe ist quasi wieder ausgeladen worden, weil der Kollege Lummer in der Indonesien ist sehr viel differenzie rter zu sehen als Türkei nicht erwünscht ist. Das ist die Folge einer Birma. Es ist leider wahr, daß in Ost-Timor die Men- Politik, bei der man Menschenrechtsverletzungen schenrechte grob verletzt werden. Es ist leider wahr, nur verbal kritisiert, aber in der Praxis keine Konse- daß es in Indonesien generell um demokratische quenzen zieht. Ich glaube, Ihre Regierung hat diese Rechte, politischen Pluralismus und Meinungsfrei- Fehler häufig genug gemacht, und Sie haben jetzt heit nicht zum besten steht. Aber es ist eben auch die Chance, endlich damit aufzuhören. wahr, daß Indonesien Fortschritte in Richtung Demo- kratie gemacht hat, daß man sich dort, auch in den (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Medien, zunehmend freier äußern kann. Es gibt Par- SES 90/DIE GRÜNEN - Andreas Kraut- lamentswahlen; sie sind nicht frei genug. Es gibt eine scheid [CDU/CSU]: Das war ein bißchen Opposition; sie hat nicht genügend Rechte und Mög- komisch!) lichkeiten. Es gibt wie immer in autoritären Staaten das Nachfolgeproblem, mit schlimmen Folgen, wie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat wir jetzt auf den Straßen Jakartas gesehen haben. jetzt der Abgeordnete Otto Graf Lambsdorff. Das ist alles wahr. Aber ebenso wahr ist auch, daß In- donesien es geschafft hat, wirtschaftlich auf eigene Füße zu kommen, trotz hoher Geburtenrate die Men- Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Frau Präsidentin! schen zu ernähren, zu bekleiden und ihnen ein Dach Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der über dem Kopf zu schaffen. Ich war 1971 zum ersten- Friedensnobelpreis hat auch in diesem Jahr die mal in Indonesien. Damals sah das alles noch ganz Richtigen erreicht. Die F.D.P. gratuliert Bischof Belo anders aus. und José Ramos Horta. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Es wäre ein schwerer Fehler, auf all diese kritik- Abgeordneten der CDU/CSU) würdigen Dinge mit Sanktionen oder Embargo zu reagieren. Es ist richtig, daß Bundeskanzler und Bun- Wir verurteilen auch bei dieser Gelegenheit die völ- deswirtschaftsminister do rt hinfahren. Es ist richtig kerrechtswidrige Annektierung von Ost-Timor und und notwendig, daß sie die Verletzung der Men- die Menschenrechtsverletzungen do rt. Übrigens, schenrechte, vor allem in Ost-Timor, konkret anspre- ohne diese Verleihung des Friedensnobelpreises chen werden. Das muß auch deutlich geschehen. wäre - so befürchte ich - der Beschlußvorschlag des Petitionsausschusses wahrscheinlich ganz routine- In Indonesien ist Überzeugungsarbeit zu leisten, mäßig hier durchgegangen. wie es übrigens auch die deutschen politischen Stif- (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tungen - ich glaube, notabene alle - do rt tun. Wir NEN]: Nein, das stimmt nicht!) können und müssen zur demokratischen Entwick- lung beitragen. Die Basis dafür sind die seit vielen Auch diese Wirkung hat der Friedensnobelpreis er- Jahren guten politischen und wirtschaftlichen Bezie- zielt; das ist gut. Der Änderungsantrag der Fraktion hungen zu diesem der Bevölkerungszahl nach fünft- Bündnis 90/Die Grünen ist nämlich erst am größten Land der Erde. 15. Oktober gestellt worden, also danach. Wir werden diesen Änderungsantrag ablehnen. Er Frau Beer, Ihre Darstellung von Herrn Habibie ist ist inhaltlich und in der Konsequenz falsch. Herr reichlich einseitig. Darüber könnten wir uns viel- Neumann hat das richtige Stichwort genannt: Gar leicht noch mal ein bißchen differenzie rter unterhal- keine Hilfe mehr zu gewähren kann ja wohl nicht die ten. richtige Reaktion sein. Im übrigen sind diese Beziehungen, Herr Neu- Der Antrag enthält allerdings einen richtigen mann, nicht etwa unter der Regierung Kohl zustande Punkt. Es gibt offensichtlich einen Beschluß des Bun- gekommen, wie hier vorgetragen wurde. Wir haben dessicherheitsrates - streng geheim und allseits be- diese Beziehungen - da waren auch Sie schon im kannt -, Bundestag - unter den Vorgängerregierungen aus- (Heiterkeit) gebaut. Was wäre denn gewesen, wenn der Expo rt -auftrag Krakatau nicht nach Deutschland gegangen wonach die ASEAN - Staaten bei Rüstungsexporten wäre? Vor einer Stunde haben Sie hier über Werften- wie NATO-Partner behandelt werden sollen. förderung diskutiert. Fragen Sie mal Herrn Meyer in Ich empfehle eine Änderung, und zwar nicht in er- Papenburg, wie das aussieht, wenn er nach Indone- ster Linie wegen Indonesien. Demnächst wird Birma sien nichts mehr liefern darf oder Lieferungen nicht Mitglied von ASEAN. Wollen wir dann diese brutale mehr finanziert werden. Militärdikatur mit Spanien, Japan, Norwegen - um nur einige zu nennen - auf die gleiche Stufe stellen? Es ist gut und schön, über Arbeitsplätze am Vor- Ich weiß, der Staatsminister wird sagen: Es wird im- mittag zu weinen und sie am Nachmittag zu verges- 11840 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Otto Graf Lambsdorff sen. Aber ich bin nicht bereit, wir sind nicht bereit, Geheimdienstkooperation zu betreiben und Agenten diese Doppelmoral mitzumachen. auszubilden? Wo sind für Sie eigentlich noch Gren- zen der „vitalen Sicherheitsinteressen" , wenn nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- in diesem Fall? ten der CDU/CSU) Gnadenlos unglaublich ist das Argument der Ko- Wir begrüßen die Absicht der Fraktionen, den An- alitionsfraktionen, dem Bund wären bei der Ver- trag von Grünen und SPD in den Ausschuß zu über- schrottung der sonst unbrauchbaren Schiffe erhebli- weisen und dort einen gemeinsamen Antrag zu erar- che Kosten entstanden; denn mit demselben völlig beiten. Dessen Sprache sollte klar und unmißver- kranken Argument hätte zum Beispiel auch die ständlich sein. Aber er sollte auch den Geist freund- Ukraine Atomwaffen an wen auch immer in dieser schaftlicher Partnerschaft zu den Menschen in die- Welt liefern können. sem Lande atmen. Die Ablehnungsempfehlung jedoch gipfelt in der Der Bundespräsident hat in der Tat, Frau Beer, eine Aussage: zutreffende Anleitung gegeben, wie man Menschen- rechte behandeln soll. Bei Ihrer kurzen Auslegung Nach Auffassung des Petitionsausschusses er- hier haben Sie diese Anleitung genau auf den Kopf scheinen nachhaltige diplomatische Interventio- gestellt. Lesen Sie bitte den Beitrag in der „Zeit" - nen eher als erfolgversprechend als die von den noch einmal. Wenn Sie ihn dann richtig verstehen, Petenten geforderten massiven Druckmittel. sollten Sie ihn durchaus beachten. Den könnte auch Liebe Koalitionskolleginnen und -kollegen, Sie der Ausschuß bei der Formulierung dieses Antrages hatten 31 Jahre Zeit für nachhaltige diplomatische beachten. Interventionen bei Suha rto, 31 Jahre mit Hunderttau- Vielen Dank. senden Toten, davon allein 200 000 in Ost-Timor. Die einzige Nachhaltigkeit besteht in alltäglicher Folter (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und extralegalen Hinrichtungen. Seit über 25 Jahren sind Dutzende KP-Mitglieder Jetzt hat der Ab- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nach unfairen Gerichtsverfahren inhaftiert, hundert- geordnete Steffen Tippach das Wo rt. tausend weitere sind ihrer grundlegenden Bürger- rechte beraubt. Steffen Tippach (PDS): Frau Präsidentin! Sehr ge- ehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Name des von Wie viele Jahre brauchen Sie eigentlich, wieviel Kollegin Beer angesprochenen Ministers Habibie Leid und wieviel Elend, um zumindest mal die Strate- läßt sich im Arabischen übrigens mit „Liebling" gie zu wechseln? übersetzen. Das haben einige in der Regierung offen- Ich möchte dem Bundeskanzler einige Worte mit- sichtlich zu wörtlich genommen. geben. Wenn er es sich schon nicht verkneifen kann, Auch ist es ein Irrtum, daß in dieser Petition die am 26. Oktober nach Indonesien zu reisen, dann Rede davon ist, sämtliche Beziehungen zu Indone- sollte er dies wenigstens nicht mit dem Tod im Ge- sien abzubrechen. Es geht einzig und allein um die päck tun. Ich fordere den Bundeskanzler auf: Spre- Einstellung von Rüstungsexporten; und es geht um chen Sie öffentlich die Menschenrechtssituation an - Hermes-Kredite. öffentlich! Nehmen Sie die indonesische Opposition zur Kenntnis! Und nicht zuletzt: Erweisen Sie dem Ich denke, die vorliegende Beschlußempfehlung Friedensnobelpreisträger Bischof Belo Ihre Referenz! zu dieser Petition ist nicht nur politisch und men- schenrechtlich ein Skandal, sie ist auch dreist. Be- Wir werden dem Antrag von Bündnis 90/Die Grü- reits 1993 beschloß die WEU-Versammlung, alle Mit- nen und dem gemeinsamen Antrag unsere Zustim- gliedstaaten aufzufordern, ein unverzügliches Waf- mung erteilen. fenembargo über Indonesien zu verhängen. Das Vielen Dank. Auswärtige Amt, das sonst die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der europäischen Staaten wie (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne eine Monstranz vor sich herträgt, kommentierte die ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Petition in diesem Fall schlicht mit den Worten, die GRÜNEN) Beschlüsse der WEU-Versammlung seien nicht bin- dend. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Für die Bundes- Geradezu ein Offenbarungseid ist die Stellung- regierung spricht jetzt Herr Staatsminister Schäfer. nahme des Auswärtigen Amtes - ich zitiere -, daß Kriegswaffenexporte außerhalb der NATO aus- Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen nahmsweise genehmigt werden könnten, wenn vi- Amt: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! tale - das heißt außen- und sicherheitspolitische - In- Ich glaube, wir stimmen alle überein, daß wir den teressen der Bundesrepublik Deutschland dafür beiden Friedensnobelpreisträgern aus Indonesien, sprächen. Dies sei der Fall gewesen. genauer gesagt: East-Timor, unseren Glückwunsch aussprechen. Das hat der Bundesaußenminister auch Erklären Sie mir bitte, Herr Schäfer, welche vitalen getan. Interessen die Bundesrepublik hat, die es legitimie- ren, den Gewaltherrscher Suharto mit Kriegsschif- Bischof Belo war im vergangenen Jahr im Auswär- fen, Panzern und Maschinenpistolen zu überhäufen, tigen Amt. Der Dialog findet nicht nur, wie einige Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11841

Staatsminister Helmut Schäfer hier unterstellen, mit der indonesischen Regierung, Ich habe nur die Hälfte der Zeit dazu zur Verfügung. sondern auch mit der Opposition statt. Und ich Ich darf Sie um Verständnis bitten. glaube nicht, daß jemand hier ernsthaft behaupten kann, wir würden der Opposition ausweichen. Auch (Zurufe vom BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN der Bundeskanzler wird Gelegenheit haben, in Indo- und der PDS) nesien mit der Opposition zu sprechen, ebenso wie - Herr Kollege Tippach, die PDS ist noch nicht ganz die Abgeordneten, die ihn begleiten werden, das si- so groß, daß sie schon die Regierung stellen kann. In- cher tun. sofern verstehe ich, daß Sie noch weniger Zeit ha- Wir wissen, daß die Menschenrechtslage in Indo- ben. nesien und auch in Ost-Timor unbefriedigend ist - (Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE ich darf das hier noch einmal unterstreichen; da gibt GRÜNEN und der PDS) es keinen Gegensatz -, insbesondere daß es bei f ried- lichen Demonstrationen die Sicherheitskräfte immer - Jetzt wird es laut, ich höre es schon. Aber mit wieder für nötig halten, Gewalt anzuwenden, Über- Schreien werden Sie auch die Menschenrechtspro- reaktionen zu zeigen, die so auf Dauer dem Ansehen bleme nicht ändern können, fürchte ich. des Landes natürlich schaden. ( [PDS]: Hier schreit nie Andererseits mache ich darauf aufmerksam, daß - mand!) Indonesien das Angebot der Bundesregierung ange- nommen hat, in einen kontinuierlichen Menschen- Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal rechtsdialog einzutreten. darauf hinweisen, daß auch im Rahmen der diesjähri- gen Konsultationen in Bonn, nämlich im Januar 1996, (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die indonesische Seite die Bundesregierung um Hilfe NEN]: Toll!) gebeten hat bei der Anpassung des indonesischen Rechtssystem an internationale Menschenrechtsstan- Dieser Dialog, der schon im November 1993 vom Ko- dards. Sie ist bereit, mit uns Seminare, Workshops ordinator für Menschenrechtsfragen des Auswärti- und Training für Richter, Staatsanwälte und Polizei- gen Amtes in Jakarta eingeleitet wurde, hat es uns beamte durchzuführen, da das Verhalten der Sicher- ermöglicht, unsere Position zu den Menschenrechten heitskräfte auch auf die Unfähigkeit und Unerfahren- auf der Grundlage der von der Staatengemeinschaft heit bei der Bewältigung kritischer Situationen zu- anerkannten Prinzipien, wie sie insbesondere auch rückzuführen ist. im Schlußdokument der Wiener Menschenrechts- konferenz 1993 niedergelegt sind, zu vermitteln und (Gerhard Zwerenz [PDS]: Nach so langer Menschenrechtsprobleme in Indonesien, speziell Zeit?) aber auch auf Ost-Timor, offen anzusprechen. Die Bundesregierung hat vorgeschlagen, daß auf Dabei ging es nicht nur um das Aufgreifen von Ein- indonesischer Seite die nationale Menschenrechts- zelfällen, sondern um einen Menschenrechts- und kommission als Projektträger fungiert - nicht die Re- Wertedialog überhaupt. gierung, sondern die nationale Menschenrechtskom- mission. Ein entsprechender Antrag wird für Novem- (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ber dieses Jahres erwartet. NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Wir begrüßen, daß die Umstrukturierung des indo- nesischen Sicherheitswesens bereits begonnen hat, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Staatsmi- die zum Ziel hat, die Aufgaben der inneren Sicher- nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? heit ausschließlich der Polizei zu übertragen. Ende dieses Monates wird der indonesische Poli- Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen zeichef an der Spitze einer hochrangigen Delegation Amt: Nein, ich darf darauf hinweisen, Frau Präsiden- nach Deutschland kommen und Gespräche mit den tin, daß die Dame, die mich jetzt wieder sprechen zuständigen Stellen, auch dem Innenministerium, möchte, vorhin bereits über zehn Minuten, anschlie- BKA und anderen, führen. Wir haben dabei durchaus ßend in einer Intervention etwa fünf Minuten gespro- die Chance - nicht nur beim Besuch des Bundes- chen hat, das heißt insgesamt 15 Minuten. Ich habe kanzlers -, auf die Verbesserung der demokrati- fünf Minuten zur Verfügung und bitte um Verständ- schen, rechtsstaatlichen Strukturen auch bei der nis, daß auch wir einmal zu Wo rt kommen. Neuordnung der indonesischen Polizei hinzuwirken. (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Außerdem nutzt die Bundesregierung alle Mög- NEN]: Das wird Ihnen doch nicht angerech- lichkeiten, seien es bilaterale Verhandlungen oder net!) internationale Konferenzen, um die indonesische Re- gierung zu einer Verbesserung der Menschenrechts- Wir haben die Angriffe auf die Regierung, Frau Kol- lage zu drängen. In ihren Gesprächen mit Präsident legin Beer, zur Kenntnis genommen. Lassen Sie mich Suharto und Außenminister Alatas im April vergan- bitte jetzt in den fünf mir verbleibenden Minuten Ih- genen Jahres haben sowohl der Bundeskanzler als nen antworten, bevor Sie schon wieder mit einer In- auch der Bundesaußenminister nachdrücklich die tervention kommen. Sie hatten heute am längsten menschenrechtliche Lage in Indonesien und in Ost die Gelegenheit, Ihren Standpunkt hier darzustellen. Timor angesprochen. 11842 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Staatsminister Helmut Schäfer Lassen Sie mich zu der Lage in Ost-Timor sagen, Zum Schluß: Die Bundesregierung bleibt bei ihrer daß die Vereinten Nationen nach wie vor die ent- Auffassung - Ich habe das hier schon häufiger zum scheidende Rolle spielen. Den Gesprächen zwischen Ausdruck gebracht -, daß wir zur Verbesserung der dem portugiesischen und dem indonesischen Außen- Menschenrechtslage in Indonesien und für eine minister über Ost-Timor unter der Ägide des Gene- friedliche Entwicklung in Ost-Timor den Dialog mit ralsekretärs kommt auch weiterhin wichtige Bedeu- Indonesien brauchen tung zu. Herr Alatas hat gerade im Zusammenhang mit Äußerungen zur Preisverleihung - ich habe das (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Telegramm aus Indonesien gerade vorliegen - noch NEN]: Mit der Opposition vor allem!) einmal zum Ausdruck gebracht, daß Indonesien - den kritischen Dialog, keine Frage - und durch nicht darum herumkomme, sich jetzt noch stärker um konsequente Fortführung der von mir angedeuteten eine Lösung des Ost-Timor-Problems zu bemühen. Schritte zu einer Verbesserung der Menschenrechts- Genauso verlautete es von einem indonesischen Mi- lage beitragen müssen. nister, der in Papenburg gerade ein Schiff eingeweiht hat, aber eben keine Fregatte, sondern, wenn ich Mich hat gefreut, daß, wie auf dem Titelblatt der recht sehe, ein Handelsschiff. „Herald Tribune" gestern berichtet wurde, der indo- nesische Staatspräsident Suha rto bei einer Reise Meine Damen und Herren, wie der Bundesaußen- - nach Ost-Timor vorgestern zusammen mit Bischof minister bereits bei der letzten EU-ASEAN-Konfe- Belo nicht nur in freundschaftlichen Gesprächen be- renz zum Ausdruck gebracht hat, sieht die Bundesre- griffen war, sondern daß sie gemeinsam in einem gierung in diesen Gesprächen einen Weg, zu einer Hubschrauber über Ost-Timor geflogen sind. Ich gerechten, umfassenden und international akzepta- hoffe, daß nicht nur Herr Suha rto die Lage auf Ost blen Lösung in der Ost-Timor-Frage zu kommen. Timor angesprochen hat, sondern auch Bischof Belo; Auch die Europäische Gemeinschaft hat am 25. Juni nach Verleihung des Nobelpreises an ihn muß davon dieses Jahres in einem „Gemeinsamen Standpunkt an sich auszugehen sein. zu Ost-Timor" erklärt, daß sie weiterhin auf eine Ver- besserung der Lage hinarbeiten will. Vielen Dank. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Lassen Sie mich zum Schluß noch etwas zur Rü- stungsexportpolitik sagen: Wie Sie wissen, ist der Export von Kriegswaffen - Graf Lambsdorff hat dar- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe die auf hingewiesen - in Länder außerhalb des Atlanti- Aussprache. schen Verteidigungsbündnisses erheblich einge- schränkt. Indonesien gehört als ASEAN-Staat zu den Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Peti- Ländern, denen Ausnahmen gewährt werden, Aber tionsausschusses, Sammelübersicht 125; das ist die Bundesregierung prüft - Graf Lambsdorff, Sie ha- Drucksache 13/4882. ben das schon angekündigt; sie muß es in der Tat Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion tun - in jedem Einzelfall, ob aus besonderen politi- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5829 vor, schen Gründen dennoch eine Beschränkung geboten über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den ist, und verweigert gegebenenfalls eine Exportge- Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - nehmigung, insbesondere dann, wenn die innere Der Änderungsantrag ist abgelehnt worden mit den Lage des Empfängerlandes einer Ausfuhr entgegen- Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD ge- steht. gen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS. (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das merken wir! - Zuruf des Abg. Wer stimmt also für die Beschlußempfehlung des [SPD]) Petitionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltun- gen? - Die Beschlußempfehlung ist mit demselben - Sie waren noch nicht dabei, Herr Kollege, als ge- Stimmenverhältnis angenommen worden. rade Ihre Fraktion - Herr Grunenberg und andere - in der sozialliberalen Koalition leidenschaftlich für Der gemeinsame Antrag der Fraktionen von SPD den Sonderschiffsbau gekämpft hat. und Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 13/5799, soll an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen wer- (Rudolf Bindig [SPD]: Doch, ich war dabei!) den. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlos- Ich will das jetzt nicht ausführen. Sie waren es, die sen. uns damals daran gehindert haben weiterzugehen. Ich erinnere mich noch an die ganzen Auseinander- Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf: setzungen mit Herrn Bahr; das war von seiten der SPD nicht so eindeutig, wie es bei Ihnen jetzt scheint. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Wir halten nach wie vor daran fest, daß bei der ex- Konrad Gilges, weiteren Abgeordneten und portpolitischen Prüfung eine hinreichende Sicherheit der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs bestehen muß, daß Rüstungsgüter nur zur Verteidi- eines Gesetzes zur Regelung der Arbeitneh- gung und zur Aufrechterhaltung legitimer Sicher- merhaftung heitsinteressen des Empfängerlandes oder der be- troffenen Region bestimmt sind. - Drucksache 13/2195 - Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11843

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Überweisungsvorschlag: Die derzeit sich durch diese Rechtsfortbildung er- Rechtsausschuß (federführend) gebende Haftung kann etwas vereinfacht wie folgt Ausschuß für Wirtschaft dargestellt werden: Bei Vorsatz haftet der Arbeitneh- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung mer im vollen Umfang, was wohl auch selbstver- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für ständlich ist. Bei grober Fahrlässigkeit haftet der Ar- die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich beitnehmer in der Regel voll. Dabei kann aber auch höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- ein vom Arbeitgeber zu tragendes Betriebsrisiko be- sen. rücksichtigt werden und zu einer im einzelnen nicht unerheblichen Herabsetzung der Schadenersatz- Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Ab- pflicht führen. geordnete Wolfgang von Stetten das Wo rt. Bei normaler oder mittlerer Fahrlässigkeit ist der Schaden entsprechend den Gesamtumständen auch Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In nach Billigkeitsgrundsätzen und Zumutbarkeits- grundsätzen gemäß dem Abwägungsgedanken des Art. 30 Abs. 1 Nr. 1 des Einigungsvertrages wurde der Auftrag zur Kodifikation eines neuen einheitli- § 254 BGB zu berücksichtigen. Hierzu zählen auch chen und allumfassenden Arbeitsrechtsbuches gege- ein vom Arbeitgeber einkalkulierbares und gegebe- ben. Dieser Teil des Einigungsvertrages ist bisher nenfalls durch Versicherung abdeckbares Risiko, die nicht erfüllt, weil - lassen Sie mich dies so unge- Stellung des Arbeitnehmers im Bet rieb, die Höhe des schminkt ausdrücken - sich eigentlich niemand dar- Arbeitsentgeltes, die Zugehörigkeitsdauer zum Be- anwagt. Auch der vom Land Sachsen eingebrachte trieb und auch das bisherige arbeitsvertragliche Ver- Entwurf eines Arbeitsvertragsgesetzes ist in den Aus- halten des Arbeitnehmers. schüssen bisher noch nicht beraten worden, weil Bei leichtester Fahrlässigkeit haftet der Arbeitneh- kein Land dies beantragt hat. mer nicht. Leichteste Fahrlässigkeit liegt immer dann Wir alle wissen, daß dieser Auftrag besteht. Wir vor, wenn ein objektiver normaler Beobachter sagt: wissen aber auch, wie schwierig eine einheitliche Ko- „Das kann jedem passieren. " Bei normaler oder mitt- difikation ist und welche politischen und rechtlich lerer Fahrlässigkeit kann man es untechnisch so be- schwierigen Fragen bei einer Neugestaltung aufge- zeichnen: „Hättest du halt ein bißchen mehr aufge- worfen werden. In diese Situation hinein hat die SPD paßt" , also mit dem Unterton: Bei Beachtung aller einen alten Entwurf zur Regelung der Arbeitnehmer- Vorschriften und Aufmerksamkeit wäre nichts pas- haftung vorgelegt, der bereits in der 11. und siert, aber die Umstände waren eben anders. 12. Wahlperiode der Diskontinuität verfiel. Es han- Es kann auch nicht sein, daß die Quotierung starr delt sich also um einen Uraltentwurf, der im Grunde 50 : 50 erfolgt, sondern sie ist - wie oben ausgeführt - genommen überholt ist. dem Rechtsgedanken des § 254 BGB entsprechend (Dr. Eckhart Pick [SPDJ: Immer wieder den Umständen anzupassen. aktuell!) Die Folgen der groben Fahrlässigkeit sind vom Schon aus praktischen Gründen sollten wir keine Grundsatz her richtigerweise die volle Haftung, weil neuen Einzelgesetzentwürfe mehr vorlegen, sondern diese vorliegt, .wenn die verkehrserforderliche Sorg- einen Gesamtentwurf entwickeln, um schrittweise zu falt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist einem einheitlichen Arbeitsgesetz zu kommen. Ge- oder - etwas untechnisch ausgedrückt - wenn man gebenenfalls können die Länder, die einen Unteraus- sagt: „Bei der Handlungsweise des Arbeitnehmers schuß im Bundesrat gebildet haben, der im übrigen mußte das mit dem Schaden ja so kommen." im November noch tagen soll, den Anstoß dazu ge- Bei der Reduzierung der vom Grundsatz her „vol- ben. len Haftung" wird über die Frage des Betriebsrisikos Materiell besteht kein Handlungsbedürfnis, nach- das Rechtsinstitut der „gefahrgeneigten Arbeit" dem der Große Senat des Bundesarbeitsgerichtes durch die Hintertüre wieder hereingeholt und damit mit Beschluß vom 27. September 1994 nach einem die Höhe des verursachten Schadens berücksichtigt. Verfahren des Gemeinsamen Senats der Obersten Diese Ergebnisse sind in der Rechtsprechung und Gerichtshöfe des Bundes die Grundsätze über die auch in der Literatur nahezu einheitlich begrüßt wor- Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung auf alle Ar- den und führen in der Regel zu vernünftigen Ergeb- beiten, die durch den Bet rieb veranlaßt und auf nissen. Grund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, ausgedehnt hat, auch wenn diese Arbeiten - das ist Bei allen Schadenersatzansprüchen des Arbeitge- neu - nicht gefahrgeneigt sind. bers oder eines Dritten gegen den Arbeitnehmer we- gen eines Schadens, den er im Rahmen seiner Ar- Der Große Senat hat richtigerweise diese Be- beitstätigkeit verursacht hat, ist maßgeblich auch die schränkung der Haftungserleichterung aufgehoben, Zumutbarkeit einer Versicherung für den potentiel- weil bis zu diesem Zeitpunkt der Arbeitnehmer, der len Schaden durch den Arbeitgeber zu berücksichti- keine gefahrgeneigte Arbeit oder Tätigkeit ausübte, gen. bei einem von ihm verursachten Schaden grundsätz- lich den gesamten Schaden des Arbeitgebers zu tra- Wenn es ein Arbeitgeber unterläßt, seine Fahr- gen hatte. Damit war das jeder Arbeit zuzurech- zeuge voll- oder teilkasko zu versichern oder für nende Betriebsrisiko ganz oder teilweise auf den Ar- Fremdschäden eine entsprechend hohe Haftpflicht- beitnehmer abgewälzt. versicherung abzuschließen, um Prämien zu sparen, 11844 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten so ist das als vermeidbares Betriebsrisiko zugunsten keit des betroffenen Arbeitnehmers weit überfordern des betroffenen Arbeitnehmers in deutlicher Höhe zu und seine wirtschaftliche Existenz gefährden oder berücksichtigen. gar zerstören können. Gegen diese durch Rechtsprechung entwickelte, Dies hat Bedeutung auch vor dem sozialen Hinter- vernünftige und ausgewogene Lösung kann der Ge- grund, daß selbst dem bestausgebildeten, dem zu- setzentwurf der SPD nicht bestehen, der eine Haf- verlässigsten Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerin tung nur noch bei Vorsatz - eine Selbstverständlich- einmal ein Fehler unterlaufen kann, der zu einem keit - und bei grober Fahrlässigkeit vorsieht und nicht absehbaren Schaden führt. selbst bei grober Fahrlässigkeit eine Haftungsbe- Das System der Haftung der Arbeitnehmer im Rah- grenzung in Höhe von drei Nettomonatsvergütungen men eines Arbeitsverhältnisses ist Richterrecht. Das festschreiben will. haben Sie, Herr von Stetten, angedeutet. Das heißt, Einfache und mittlere Fahrlässigkeit bleiben fol- die Rechtsprechung versucht, im Rahmen ihrer Mög- genfrei. Damit würde die Sorgfaltspflicht der Arbeit- lichkeiten Einzelfallgerechtigkeit herzustellen und nehmer, die üblicherweise verlangt werden kann, gegebenenfalls auch allgemeine Regeln aufzustel- praktisch aufgehoben. Unabhängig davon sind auch len. andere Einzelvorschriften abzulehnen, so die Aufhe- Vielfach haben Rechtsprechung, Wissenschaft und bung der gemeinschaftlichen Verantwortung gemäß - Verbände den Gesetzgeber zum Handeln aufgefor- § 830 BGB bei gemeinsamer Schadensverursachung dert, um klare, das heißt vor allen Dingen berechen- als auch die kurze sechsmonatige Verjährung an bare Regeln für die Haftungsfälle im Arbeitsvertrag Stelle der bisherigen gesetzlichen Frist, weil diese aufzustellen - bislang ohne Erfolg. Ich erinnere Sie angeblich der „Erpressung" Tür und Tor öffnen an den 59. Deutschen Juristentag, der damals eine würde. Kodifizierung des Arbeitsvertragsrechts noch für das Wir sehen daher zur Zeit keinen Handlungsbedarf Jahr 1993 angemahnt hatte. und setzen auf die bewäh rte und ausgeglichene Es besteht schließlich - Sie haben darauf hingewie- Rechtsprechung. Dennoch sagen wir Ihnen, meine sen - eine Selbstbindung des Gesetzgebers: Denn Damen und Herren von der SPD, eine sorgfältige Be- nach Art . 30 des Einigungsvertrages sollte ein für ratung im Rechtsausschuß zu, ohne Ihnen viel Hoff- ganz Deutschland gültiges Arbeitsvertragsgesetz ge- nung machen zu können, daß wir Ihren Antrag un- schaffen werden. Ich frage mich heute: Wer hat ei- terstützen. gentlich damals diese Forderung in den Einigungs- Danke schön. vertrag hineingebracht? Es muß doch jemand sein, der noch heute auf die Einlösung dieses Verspre- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - chens wartet. Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist etwas ganz Neues!) In der „Deutschen Juristenzeitung" von 1992, Seite 833 ff., hat Professor Henssler zum Diskussions- entwurf des Arbeitskreises „Deutsche Rechtseinheit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat im Arbeitsrecht" - eine Kommission des Deutschen jetzt der Abgeordnete Professor Eckha rt Pick. Juristentages - bemerkt: Keiner Begründung bedarf die Notwendigkeit ei- (SPD): Frau Präsidentin! Meine Dr. Eckhart Pick ner Kodifikation im Bereich der Arbeitnehmer- Damen und Herren! An sich ging ich davon aus, daß haftung, die der Deutsche Juristentag bereits die SPD als Initiatorin dieses Antrags zunächst zu 1986 hervorgehoben hat. Längst schon ist die sprechen hat, aber da Herr von Stetten nun den An- Trägheit der Gesetzgebungsinstanzen hier durch fang gemacht hat, kann ich auch auf ihn eingehen. nichts mehr zu rechtfertigen. (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr ele (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr gant!) wahr!) Wir haben den Entwurf einer Haftungsbegrenzung Die Argumentsgrundlagen und die verschiede- der Arbeitnehmerhaftung in der Tat zum wiederhol- nen denkbaren Regelungsmodelle sind seit lan- ten Mal eingebracht, und zwar deswegen, Herr von gem bekannt. Selbst das BAG scheint einen Ge- Stetten, weil wir ihn nach wie vor für aktuell halten. setzgebungsakt herbeizusehnen .. . Wir tun das auch in der Erkenntnis, daß wir endgül- tig eine gesetzliche Regelung brauchen. Sie ist um so (Detlef Kleine rt [Hannover] [F.D.P.]: Na, na!) notwendiger, als das Risiko der Arbeitnehmer, Schä- den zum Nachteil von Arbeitgebern, Dritten und Ar- Die Aufgabe des weder sachgerechten noch prak- beitskollegen zu verursachen, in einer zunehmend tikablen Kriteriums der Gefahrengeneigtheit - man komplizierter werdenden Arbeitswelt auch immer muß eigentlich hinzufügen, dies gilt nur für einen größer wird. Teilbereich, nicht zum Beispiel für die Schadenstei- lung, wie sie die Rechtsprechung auf der Grundlage Beispiel: Ein einziger Bedienungsfehler an einer der Gefahrengeneigtheit immer noch anwendet - ist High-Tech-bestückten Maschine oder an einer EDV- grundsätzlich zu begrüßen. Sie ersetzt allerdings Anlage kann zu immensen Schäden, zum Beispiel nicht die nur dem Gesetzgeber vorbehaltene Auf- Produktionsausfall oder Produktfehler in einer gan- gabe, eine interessengerechte allgemeine Regelung zen Serie, führen, die die finanzielle Leistungsfähig- zu erlassen. Die Rechtsprechung hat sich sehr weit Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11845

Dr. Eckhart Pick hervorgewagt, ist aber, glaube ich - das ist allen Es war also im Rahmen ihrer Tätigkeit ein entspre- klar -, an die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung chender Schaden entstanden. Sie verlangte dann gelangt. von ihrem Arbeitgeber Ersatz. Es ist an der Zeit, meine Damen und Herren, daß Das Bundesarbeitsgericht hat in seinem Urteil vom der Gesetzgeber endlich handelt und sich seine Un- 16. Februar 1995 den Erstattungsanspruch gegen- tätigkeit nicht weiter zu Lasten der Betroffenen aus- über der Fluggesellschaft in Höhe von zwei Dritteln wirkt. bejaht, ein Drittel mußte die Stewardeß selber tra- gen. (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr rich -tig!) (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Mit welcher Begründung?) Wir halten unseren Entwurf, der in vielem mit Vor- schlägen des DGB, übrigens auch des AGB der DDR Wenn man sich die Begründung des Bundesar- und des genannten Arbeitskreises des Deutschen Ju- beitsgerichts anschaut, Herr von Stetten - eines ist ja ristentages übereinstimmt, für eine geeignete Dis- erstaunlich: bei diesem Streitwert kommt ein Verfah- kussionsgrundlage. ren immerhin noch bis zum Bundesarbeitsgericht, wahrscheinlich durch drei Instanzen -, (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Sind doch alles die gleichen Leute, wenn es nicht - (Detlef Kleine rt [Hannover] [F.D.P.]: Das ist sogar dieselben sind!) Folge des gewerkschaftlichen Rechtsschut zes!) Wir sind nicht so überheblich, zu glauben, daß wir in jeder Beziehung den Stein der Weisen gefunden hät- sieht man, daß unterschiedliche Kriterien angewandt ten. worden sind, um zu einem einigermaßen plausiblen Ergebnis zu gelangen. Es wurde von der Haftungs- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von beschränkung des Arbeitnehmers bei bet rieblicher Stetten [CDU/CSU]) Tätigkeit ausgegangen, und auch Mitverschuldens- Wie der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts gesichtspunkte des Arbeitgebers wurden bemüht. schon 1992 beschlossen hat, müssen Dieses Ergebnis ist lange noch nicht nachvollziehbar oder gar auf andere Fälle übertragbar. die Grundsätze über die Beschränkung der Ar- beitnehmerhaftung für alle Arbeiten gelten, die Das Bundesarbeitsgericht hat 1995 entschieden, durch den Betreiber veranlaßt sind und aufgrund daß auch bei grob fahrlässiger Verletzung arbeitsver- eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, auch traglicher Pflichten die Haftung des Arbeitnehmers wenn diese Arbeiten nicht gefahrgeneigt sind. quotenmäßig zu beschränken sei, wenn sein Ver- dienst in einem deutlichen Mißverhältnis zum Scha- Wir sind deswegen für einfache, transparente und densrisiko stehe; eine summenmäßige Beschränkung sachgerechte Grundsätze. Die wichtigsten lauten: Er- - wie wir sie auf gesetzlicher Ebene vorhaben - finde stens. Der Arbeitnehmer haftet für einen vorsätzlich jedoch nicht statt. verursachten Schaden unbeschränkt. Darüber be- steht Einigkeit. Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof am 11. März 1996 geurteilt: Zweitens. Bei grober Fahrlässigkeit haftet er bis zur Höhe von drei Nettomonatsvergütungen. Ich Die Haftung des Arbeitnehmers gegenüber dem denke, das ist ein für den Arbeitnehmer durchaus Arbeitgeber ist nicht allgemein auf grobe Fahr- spürbarer Haftungsrahmen. Es kann keine Rede da- lässigkeit, sondern nach Maßgabe einer auf den von sein, daß diese Bestimmung etwa zur Fahrlässig- Einzelfall bezogenen Abwägung des Verschul- keit einlade. dens gegen das Betriebsrisiko beschränkt. Drittens. Bei leichter Fahrlässigkeit und anderen Es werden hier also eine Fülle von unterschiedli- Verschuldensformen - ich erinnere Sie, daß da alle chen Kriterien angewendet; sie machen jedes Urteil möglichen Kunstgriffe mit mittlerer, normaler, leich- praktisch unberechenbar. Das wollen wir mit unse- ter, leichtester Fahrlässigkeit von der Rechtspre- rem Gesetzesvorschlag ändern. chung gemacht werden müssen, um zu einigerma- ßen plausiblen Ergebnissen zu kommen - unterhalb Das dient übrigens auch der Wirtschaft. In einem der groben Fahrlässigkeit wollen wir keine Ersatz- Artikel in der „Wirtschaftswoche" vom 5. Oktober pflicht haben. Das gilt auch im Verhältnis zu Dritten. 1995 hat gerade die Wirtschaft eine gesetzliche Rege- lung dieses Problembereichs angemahnt und diesen Das ist übrigens in vielen Entscheidungen, Herr von Bereich durchaus zu den Standortfaktoren der bun- Stetten, durchaus auch schon anerkannt. desdeutschen Wirtschaft gezählt. Ich will Ihnen den Vorteil der Regelung an einem Beispiel erläutern - diese Beispiele müssen übrigens Nach unserem Modell käme eine Haftung der Ste- nicht immer zugunsten des Arbeitnehmers ausfal- wardeß nur bei grober Fahrlässigkeit oder bei Vor- len -: Eine Stewardeß vergaß, ihren Paß mitzuneh- satz in Frage, bei leichter überhaupt nicht. Bei grober men, und mußte deshalb eine Einreisestrafe von Fahrlässigkeit wäre die Haftung auf drei Nettomo- 3 000 US-Dollar zahlen. natsverdienste beschränkt. Ein Mitverschulden des Arbeitgebers - so steht es auch in unserem Vor- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ schlag - wäre von Gesetzes wegen zu berücksichti- CSU]: Die Airline zahlt das!) gen. 11846 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Eckhart Pick Mit unserem Vorschlag würde zusätzlich die Har- Das Land Brandenburg scheint das anders zu se- monisierung der Haftung von Arbeitnehmern im pri- hen und hat einen Gesetzentwurf zur Bereinigung vatwirtschaftlichen und öffentlichen Bereich gewähr- des Arbeitsrechtes mit Datum vom 12. September leistet. Es gibt keinen vernünftigen Grund, zum Bei- 1996 in den Bundesrat eingebracht. Brandenburg spiel die Beamten nur bei grober Fahrlässigkeit haf- will ebenfalls die Arbeitnehmerhaftung begrenzen, ten zu lassen, ansonsten aber nicht. Wir sehen hier aber dies nicht im BGB verankern. An dem Branden- einen Auftrag, der auf Art. 3 des Grundgesetzes ge- burger Entwurf scheinen mir außer der Frage der Ge- gründet ist. setzessystematik auch andere Punkte sinnvoller ge- regelt. Ich will hier zwei Komplexe kurz ansprechen. In diesem Sinne hoffe ich, daß wir in den zuständi- gen Ausschüssen eine konstruktive Diskussion und Erstens. Die Haftung des Arbeitnehmers auszu- vielleicht auch ein gutes Ergebnis erzielen werden. schließen, wenn der Schaden über eine Versiche- rung abgedeckt werden kann oder könnte, würde Vielen Dank. verhindern, daß zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Arbeitgeber den Abschluß (Beifall bei der SPD) teurer Versicherungen zukünftig einsparen kann. Dieser Haftungsausschluß ist in dem Brandenburger Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat die Entwurf vorgesehen; in dem Entwurf, den die SPD Kollegin Annelie Buntenbach das Wort. hier vorgelegt hat, ist er nicht vorgesehen. (Dr. Eckha rt Pick [SPD]: Das ist über § 254 Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- BGB, über das Mitverschulden, geregelt!) NEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und - Wir haben in den Ausschußberatungen sicherlich Herren! Daß die Arbeitnehmerhaftung immer noch noch Zeit, dies im einzelnen zu besprechen. nicht befriedigend geregelt ist, ist aus meiner Sicht ein Anachronismus. Die Belastung der einzelnen Be- Zweitens. Für Fehlbestände kann nach dem Bran- schäftigten im Betrieb und der Arbeitsstreß nehmen denburger Entwurf eine erweiterte Haftung der Ar- offensichtlich zu, weil bei rasanter Rationalisierung beitnehmer nur für den Fall vereinbart werden, daß auf immer weniger Schultern ein immer größerer ihnen Sachen besonders anvertraut sind, sie den al- Output an Produktion lastet und sich Kommunikati- leinigen Zugang dazu haben und einen angemesse- ons- und Arbeitsprozesse durch den Einsatz neuer nen Risikoausgleich erhalten. Das ist ebenfalls in Technologien unglaublich beschleunigt haben. dem SPD-Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt, nicht enthalten. Sicherheitsvorkehrungen und Endkontrollen fallen oft dem Zeit- und Kostendruck zum Opfer. Der Wir begrüßen die Initiative der SPD, die Haftung Grund für menschliches Versagen als Unglücksursa- der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich che - vom menschlichen Versagen ist in Nachrichten auf gesetzlichem Weg zu begrenzen; wir sehen aber häufig die Rede - liegt oft in dauernder, struktureller bei den einzelnen Regelungen, wie sie hier vorge- Überforderung durch eine Arbeitsumgebung, in der schlagen werden, durchaus Optimierungsbedarf. Menschen keine Fehler mehr machen dürfen; und zwar auch dann nicht, wenn sie - nach der Kürzung Die spannendste Frage in den Ausschußberatun- der Lohnfortzahlung ein wahrscheinlicher Fall - gen wird allerdings werden: Mit welcher mentalen krank im Betrieb arbeiten. Drehung schaffen es die Regierungsfraktionen wie- der einmal, sich einer Gestaltungsaufgabe, deren Je schneller die Arbeitsprozesse werden, je teurer Dringlichkeit und Sinnfälligkeit auf der Hand liegen, die Maschinen werden, desto weniger sind arbeits- zu entziehen? bedingte Schadensfälle zu vermeiden und desto hö- her sind ihre Kosten. Die Risiken, die der Arbeitneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - mer eingeht und für die er die Haftung übernimmt, Zuruf von der CDU/CSU: Haha!) müssen doch immer in einem Verhältnis stehen zu dem Einfluß, den der Mensch auf seine Arbeitsum- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat welt überhaupt geltend machen kann, und zu dem jetzt der Herr Kollege Kleine rt . Verdienst, den er auf Grund seiner Arbeit mit nach Hause bringt. Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Frau Präsiden- Die SPD hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der tin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! die Arbeitnehmerhaftung gesetzlich regeln will. Eine Das ist ja gerade die Frage, wie dringlich dieses Vor- Begrenzung der Arbeitnehmerhaftung über den ge- haben ist. Es sind nicht sehr viele Fälle von schreien- setzlichen Weg vorzunehmen begrüße ich; denn die dem Unrecht bekannt geworden. Bevor eine Angele- durchaus wechselhafte Rechtsprechung - dazu ha- genheit zum Gericht geht und bevor der gelegentlich ben wir eben einige Beispiele gehört - kann eine sol- sicherlich anzutreffende, von Herrn Pick zitierte che Lücke im Gesetz nicht schließen. Der Vorschlag Drei-Instanzen-Zug stattfindet, gibt es Gespräche im der SPD ist, die Arbeitnehmerhaftung im BGB zu ver- Betrieb. Die meisten Fälle werden do rt im Interesse ankern; mit der Begründung, ein eigenes Arbeitsver- des Arbeitsfriedens und aus wechselseitiger Rück- tragsrecht hätte trotz A rt . 30 des Einigungsvertrages sichtnahme auf die jeweiligen Interessen vernünftig und Empfehlungen von Juristentagen in der näch- geregelt. Auf diese Weise bleiben nur einige Fälle sten Zeit keine Chance auf Realisierung. ungeregelt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11847 Detlef Kleinert (Hannover) Das Beispiel mit der Stewardeß schien mir ein be- vertrag vielleicht als Verpflichtung entnommen wer- sonders schlechtes Beispiel zu sein. Wenn ein Bürger den könnte, in Angriff zu nehmen. Sie haben sich seinen Paß vergißt und so in eine ähnliche Lage vielmehr unter Übernahme Ihrer verdienstvollen, kommt, dann zahlt er. Er findet dann keinen, der für aber erfolglosen Entwürfe aus früheren Wahlperio- seine Dusseligkeit bezahlt. Warum das im Fall der den hier noch einmal vorgewagt, ohne dabei die sich Stewardeß anders sein soll, leuchtet mir unter gar einerseits durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts keinem Gesichtspunkt ein. Die Vergeßlichkeit im und andererseits durch den Einigungsvertrag erge- Hinblick auf den Reisepaß und die daraus resultie- bende neue Rechtslage in Betracht zu ziehen. renden Kosten hängen doch nicht mit der Anstellung bei der Fluggesellschaft zusammen. Diese Kausalität Bleiben wir also doch dabei, daß überall im men- ist nicht gegeben. Dieser Einzelfall muß aber noch schlichen Leben ein gewisses Risiko vorhanden ist sehr viel komplizierter gewesen sein, als Sie es in der und mit Anstand getragen werden muß. Da, wo das Kürze der Zeit darstellen konnten. Lassen wir das auf zu Ungerechtigkeiten führt, soll es in Grenzen gehal- sich beruhen. ten werden, so wie dies das Bundesarbeitsgericht mit seiner Rechtsprechung bereits tut. Wir wollen Arbeitnehmer nicht durch eine über- proportional strikte Anwendung von bürgerlich- Herzlichen Dank. rechtlichen Regeln ruinieren, die für alle Bürger gel- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ten und deshalb eigentlich auch in diesem Bereich gelten sollten. Früher gab es die Rechtsprechung hinsichtlich der gefahrgeneigten Tätigkeit. Diese Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Rechtsprechung ist mit dem Urteil des Großen Senats jetzt der Abgeordnete Uwe-Jens Heuer. des Bundesarbeitsgerichts vom 27. September 1994 aufgegeben und noch erheblich verfeinert und bes- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Frau Präsidentin! ser abgestuft worden. All das ist Ihnen bekannt. Meine Damen und Herren! Als ersten Satz hatte ich Nach diesem Urteil stehen wir vor der Frage: Muß in meinem Manuskript formuliert: Daß die Haftung man von Anfang an die Verantwortung so klar weg- des Arbeitnehmers für einen von ihm fahrlässig ver- nehmen, wie das in Ihrem Entwurf vorgeschlagen ursachten Schaden begrenzt werden muß, steht in worden ist, oder soll man nicht doch in jedem Fall meinen Augen außerhalb jeglichen Zweifels. Herr eine gewisse Verantwortung bei der handelnden Per- Kleinert hat jetzt erklärt: Nein, eigentlich finde er das son belassen und nicht bei denen, die vom Gesche- BGB doch recht gut. - Ich finde das immerhin er- hen viel weiter entfernt sind? Das ist die Frage, die staunlich; aber bei der F.D.P. ist eben inzwischen al- nicht nur für das Arbeitsverhältnis, sondern für jeden les möglich. etwa eintretenden Schaden gilt und deren Klärung Wir sind uns im übrigen - außer Herrn Kleine rt - deshalb in das BGB gehört. sicher einig, daß den Arbeitnehmern das Risiko einer Weil das so ist und man den Berichten der Rech- vollen Haftung nicht aufgebürdet werden kann. Eine nungshöfe immer wieder entnehmen kann, daß der gesetzliche Regelung hätte schon längst getroffen Umgang mit fremder Leute Geld offenbar anders er- werden müssen. Der Deutsche Juristentag hat sie be- folgt als der Umgang mit Sachen, die einem selbst reits vor zehn Jahren angemahnt. Die Mühlen der gehören oder für die man sich aus anderen, zum Bei- Gesetzgebung mahlen aber in bestimmten Fä llen spiel haftungsrechtlichen Gründen verantwortlich eben sehr langsam. fühlt, bin ich der Meinung, daß man auch in diesem Wir begrüßen den Vorschlag der SPD-Fraktion. Fall innerhalb des Systems bleiben und die Haftung Über Einzelheiten kann man diskutieren, zum Bei- bei dem Handelnden belassen sollte, sie allerdings spiel darüber, ob die Haftungshöchstsumme ange- mit dem Bundesarbeitsgericht in vernünftiger Weise messen festgelegt ist. Drei Monatsgehälter sind für relativieren und einzelfallgerecht einschränken sehr viele Menschen sehr viel Geld. Prüfen kann sollte. man auch, ob das Netto- oder Bruttogehalt zugrunde (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gelegt wird oder ob die Außenhaftung vernünftig ge- regelt wird. Das scheint mir eine Entwicklung in unserer Auch wir sind dafür, daß die Haftung für „nor- Rechtskultur zu sein, die sehr beachtlich ist, und male" Fahrlässigkeit, wie im Entwurf vorgesehen, zwar zugunsten der Arbeitnehmer. Dabei sollten wir völlig ausgeschlossen wird. Wer behauptet, ein sol- es doch belassen, wenn wir nicht - dies hätte sehr cher Haftungsausschluß ermuntere zu schludriger großen Charme - zu einer allgemeinen Kodifizie- Arbeit, beleidigt die Arbeitnehmer und unterschätzt rung des Arbeitsrechts kommen. Ob dem Bundesar- die Instrumente, die den Arbeitgebern im übrigen beitsgericht danach so zumute ist, wie man es gele- schon zu Gebote stehen. gentlich bei Jubiläen hören kann, daran habe ich größte Zweifel. Denn das freie Schöpfen hat für die Jedenfalls meine ich, daß es auf diesem Gebiet handelnden Persönlichkeiten auch etwas für sich. richtig ist, das Richterrecht - es stellt ein gewisses Problem dar; Kollege Pick hat das schon gesagt - Wir werden wohl aber nicht in die Verlegenheit jetzt durch eine Kodifikation zu ersetzen. kommen, das empirisch nachzuprüfen, weil Ihr Ge- setzesentwurf zeigt, daß auch Sie nicht im geringsten Ich kann mir im übrigen nicht verkneifen festzu- bereit sind, alle anstehenden weiteren Themen im stellen, daß sich heute im Bundestag der seltene Fall Sinne einer Kodifizierung, wie dies dem Einigungs- ereignet, daß ein Gesetz der DDR zum Vorbild ge- 11848 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Uwe-Jens Heuer nommen und dies zweimal in der Begründung akten- Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes- kundig gemacht wird. Das Arbeitsgesetzbuch der minister für Arbeit und Sozialordnung: Frau Präsi- DDR war in der Tat nicht schlecht. Frau Ministerin dentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- Hildebrandt aus Brandenburg sagte kürzlich im Bun- gen! Die Ihnen allen bekannte Volksweisheit: Wo ge- desrat: hobelt wird, da fallen auch Späne, hat bekanntlich im Arbeitsleben eine besondere Bedeutung. Bei der In der DDR hatten wir nämlich seinerzeit bereits Arbeit können durch Verschulden des Arbeitneh- ein umfassendes Arbeitsgesetzbuch mit mers Schäden an Eigentum oder Vermögen des Ar- 305 Paragraphen, das dem Anspruch eines ein- beitgebers oder bei Dritten entstehen, die der Arbeit- heitlichen, allgemein verständlichen Gesetzge- nehmer nach den Regeln des bürgerlichen Rechtes bungswerks gebührend Rechnung trug. ersetzen müßte. (Zuruf von der CDU/CSU: Die hatten über- Das wurde schon früher richtigerweise als unbil lig haupt keine Rechte in der DDR!) erkannt; denn einerseits ist das Schadenspotential und damit das Schadensrisiko bei der Arbeit weitaus Ich selber größer als im privaten Bereich. Andererseits ist die - sagte Regine Hildebrandt - Fähigkeit des Arbeitnehmers zum Schadensaus- gleich angesichts seines begrenzten Einkommens habe 25 Jahre in der sozialistischen Indust rie ge- eher gering. Die Arbeitnehmerhaftung muß sich des- arbeitet und hatte dieses Gesetzeswerk mit ei- halb an den besonderen Gegebenheiten des Arbeits- nem Handgriff parat, wenn ich eine Information lebens orientieren. Das führt zwangsläufig zu Abwei- über geltendes Arbeitsrecht brauchte. In dem Be- chungen von den allgemeinen Haftungsgrundsätzen reich hatten wir klare Verhältnisse. des bürgerlichen Rechts. Ein letztes Problem: Zweifellos wäre es die bessere Das Bundesarbeitsgericht hat deshalb in seiner Lösung, wenn wir eine Kodifikation insgesamt vor- jahrzehntelangen Rechtsprechung bei gefahrgeneig- nehmen würden. Herr von Stetten hat mit der Frage ter bzw. schadensgeneigter Tätigkeit des Arbeitneh- begonnen, ob eine Kodifikation gemacht werden mers die Haftung nach bestimmten Grundsätzen ein- sollte. Er hat anschließend gesagt: Wir sollten nicht geschränkt, die Sie alle kennen. Sie sind hier schon einmal dieses gesetzlich regeln. Ich halte das für vorgetragen worden; ich brauche sie nicht zu wieder- schlimm. holen. Nun hat Herr Kleine rt erklärt: Vielleicht hat A rt. 30 Ebenso beziehe ich mich auf meine Vorredner, die des Einigungsvertrages das Ganze klipp und klar darüber gesprochen haben, wie das K riterium der festgelegt. Er hat es tatsächlich festgelegt. Dort heißt gefahrgeneigten Tätigkeit zuletzt auch durch die es: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und durch die obersten Gerichtshöfe 1993 eingeschränkt Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzge- wurde. bers, ... das Arbeitsvertragsrecht ... möglichst bald einheitlich neu zu kodifizieren. Trotz dieser für die Arbeitnehmer günstigen Recht- sprechung ist eine Kodifizierung des Arbeitnehmer- Das ist jetzt sechs Jahre her. „Möglichst bald" ist haftungsrechts durchaus überlegenswert, aber nicht zwar ein unbestimmter Rechtsbegriff, aber sechs isoliert mit einem solchen Antrag, wie er hier von der Jahre sind länger als „möglichst bald" . Ich glaube, SPD vorgelegt wird, meine Damen und Herren; darüber sind wir uns einig. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Ich bin also der Meinung, wir sollten die Sache er- Zuruf von der SPD: Dann fangen Sie doch stens diskutieren und dann beschließen. Anschlie- einmal an!) ßend sollten wir uns der Frage der Kodifikation des Arbeitsrechts zuwenden. Hier ist von Brandenburg denn er ist nicht in der Lage, die noch vorhandenen schon etwas gemacht worden; das wurde hier bereits Fragen zufriedenstellend zu beantworten. gesagt. Ein sächsischer Entwurf existiert ebenfalls Sie wollen die Schadensersatzpflicht des Arbeit- bereits. nehmers auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit be- Ich muß sagen, ich fände eine gesetzliche Rege- schränken. Diese engen Haftungsvoraussetzungen lung sehr gut und sehr richtig. Ich meine, daß wir ge- schließen eine Arbeitnehmerhaftung in weitgehen- setzliche Regelungen nicht nur bei einer Verschlech- dem Maße aus. Auf eine Prüfung im Einzelfall käme terung der Arbeitsbedingungen vornehmen sollten, es dann bei normaler bzw. mittlerer Fahrlässigkeit wie bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Da nicht mehr an. waren Sie sofort dazu bereit. Warum sollten wir das Diesen Weg halte ich für falsch. Im übrigen würde hierbei nicht machen? bei einer solch starren Festlegung das Richterrecht nicht weggedrückt. Bei einem solchen Sachverhalt Ich bin dafür, diesem Entwurf zuzustimmen. wird es immer Richterrecht geben. (Beifall bei der PDS) Meine Damen und Herren, die Pflicht zum Scha- densersatz - sei es im p rivaten Bereich oder sei es im Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat beruflichen Leben - hat auch eine vorbeugende jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Horst Gün- Funktion. Dieser Effekt droht verlorenzugehen, ther. wenn der Arbeitnehmer bei jedem nicht grob fahrläs- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11849 Parl. Staatssekretär Horst Günther sigen Verhalten nicht mehr schadensersatzpflichtig Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der ist. Justiz: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf des Europarats zum Menschenrechts- Unter diesem Gesichtspunkt erscheint mir auch die übereinkommen zur Biomedizin hat eine außeror- von Ihnen geforderte zusätzliche Begrenzung der dentlich heftige Diskussion in der Öffentlichkeit wie Arbeitnehmerhaftung selbst bei grober Fahrlässig- im politischen Raum ausgelöst. Das war und ist wich- keit auf drei Nettomonatsvergütungen als nicht zu- tig und gut: Nicht zuletzt dadurch hat die deutsche friedenstellend. Zwar ist der Gedanke der summen- Delegation bei den Verhandlungen erreicht, daß der bezogenen Haftungsobergrenze grundsätzlich zu Schutzcharakter - das ist wichtig zu betonen - dieser begrüßen, gleichwohl stellt sich auch hier die Frage, Rahmenkonvention noch stärker zum Ausdruck ob der einzelne Arbeitnehmer noch ausreichend zum kommt. sorgfältigen Umgang mit fremdem Eigentum ange- halten wird. Die Diskussion der vergangenen Monate hat aber auch negative Folgen gehabt. Zahlreiche Bürger sind (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Dr. durch pauschale Vorwürfe wie - ich zitiere - „Alte, Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist ja Behinderte und Kinder werden für Menschenversu- wohl wirklich die Höhe! Mit diesen Grund- che freigegeben! " verunsichert und in Angst versetzt sätzen wären Sie schon längst Sozialhilfe- worden. Diese Vorwürfe sind unberechtigt, unhaltbar empfänger, Herr Staatssekretär!) und unverantwortlich. Wir werden dies in den Ausschüssen im einzelnen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) noch ausreichend diskutieren können. Ich freue mich auf .die Beratungen; Frau Kollegin Buntenbach, sie Lassen Sie mich nur die fortwährende Kritik an der werden möglicherweise spannend. Regelung über fremdnützige Forschungsvorhaben mit einwilligungsunfähigen Personen herausgrei- Vielen Dank. fen. Ich meine, daß bei unvoreingenommener Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) trachtung in alltäglichen Eingriffen mit - so heißt es dort - „minimalem Risiko" und „minimaler Bela- stung" eine Verletzung der Menschenwürde nicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- gesehen werden kann. Das gilt etwa für eine einma- mit die Aussprache. lige Blutentnahme, die mit Einwilligung des gesetzli- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- chen Vertreters und unter weiteren engen Vorausset- wurfs auf Drucksache 13/2195 an die in der Tages- zungen geschieht, die die Konvention aufstellt. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Meine Damen und Herren, unabhängig davon, wie Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der sich die Bundesregierung zu dem Übereinkommen Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. stellen wird, steht folgendes fest: Wir werden in Deutschland nicht zu einer Absenkung unseres Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Schutzstandards gezwungen. Das ist ein ganz wichti- ger Punkt, der in der deutschen Diskussion oft über- Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- sehen wird. Das Inkrafttreten der Konvention - und regierung etwaiger späterer Protokolle zur Humanforschung Bericht über den Verhandlungsstand des und zum Embryonenschutz - in Deutschland setzt Menschenrechtsübereinkommens zur Biome- die Zustimmung des Parlaments voraus. In diesem dizin Verfahren können, müssen und werden wir sicher- stellen, daß der deutsche Schutzstandard auch bei ei- (früher: Bioethik-Konvention) ner Ratifizierung beibehalten oder sogar noch ver- stärkt wird. Denn unser Recht bleibt teilweise sogar - Drucksache 13/5435 — hinter den Schutzbestimmungen der Konvention zu- Überweisungsvorschlag: rück. Beispielsweise kennt es keine Verpflichtung Rechtsausschuß (federführend) zur vorherigen Beratung im Fa lle von genetischen Auswärtiger Ausschuß Tests. Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technolo- Im übrigen verweise ich auf A rt . 27 des Überein- gie und Technikfolgenabschätzung kommensentwurfs, in dem ausdrücklich steht: Wei- Dazu liegt ein gemeinsamer Entschließungsantrag terreichender Schutz in den nationalen Rechtsord- der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die nungen wird nicht berührt, wird nicht unmöglich ge- Grünen vor. macht. Wo wir weiterreichenden Schutz haben, bleibt er also voll gewahrt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Viertel Stunden vorgesehen. Wie geht es nun im Europarat weiter? Die Parla- - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlos- mentarische Versammlung des Europarates hat vor sen. drei Wochen mit großer Mehrheit eine positive Stel- lungnahme zu dem Entwurf abgegeben und dazu Ich eröffne die Aussprache und entdecke den zehn Empfehlungen an das Ministerkomitee des Eu- Herrn Minister, der mir als erster Redner gemeldet roparates ausgesprochen. Dieses soll noch in den worden war. Sie haben das Wo rt, Herr Minister kommenden Monaten über die Annahme der Kon- Schmidt-Jortzig. vention endgültig entscheiden. Aber ich sage hier 11850 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig ganz deutlich: Das wird definitiv nicht vor der zwei- die die Gefahr birgt, daß der Mensch zum Objekt ten Novemberhälfte geschehen. werden könnte. Nach Auffassung der Parlamentarischen Ver- Wenn Sie sagen, Herr Minister, Art . 27 der Konven- sammlung spiegelt der Text den umfassendsten Kon- tion garantiere, daß wir unsere Standards nicht ver- sens über einen rechtlichen Rahmen für den Bereich lassen müssen, dann sage ich: Das ist ein wünschens- biomedizinischer Eingriffe und Forschungen wider, werter Artikel. Aber ich halte Ihnen entgegen, daß in der zur Zeit in Europa erzielt werden kann. einer europäischen Welt der Deregulierungswut - und Ihre Partei ist nicht ganz unbeteiligt daran - na- Dabei ist im Rahmen der schwierigen Entschei- türlich die Gefahr besteht, daß ein Druck kommt, daß dungsfindung immer wieder - gerade auch im Hin- eine Standortdebatte entsteht, die eines Tages diesen blick auf die deutsche Kritik - betont worden, worum Art . 27 geradezu hinwegschwemmen wird. es bei der vorliegenden Konvention geht. Sie soll für sämtliche Staaten des Europarates Mindeststandards (Beifall bei der SPD) zum Schutz der Menschenwürde im Bereich der Bio- Die 18 deutschen Mitglieder der Parlamentari- schaffen und dabei insbesondere für neue medizin schen Versammlung des Europarates und ihre Gesetze verbindliche ethisch-rechtliche Leitlinien 18 Stellvertreter sind anfangs allein, letztlich erfolg- aufstellen. reich für einige wesentliche Verbesserungen des Die Änderungsvorschläge der Parlamentarischen mangelhaften und nicht ausgereiften ersten Entwurfs Versammlung zielen übrigens auf eine weitere Ver- eingetreten, der den P rimat der Menschenwürde stärkung der Schutzkriterien. Ich möchte hier nur die nicht ausreichend berücksichtigt hatte. Stichworte „Embryonenforschung" und „Weitergabe Worum geht es bei der Konvention? Der Europarat der Ergebnisse genetischer Tests" nennen. ist die europäische Organisation, die als Werte- und Über den aktuellen Stand der Meinungsbildung Kulturgemeinschaft primär dem Schutz der Men- innerhalb der Bundesregierung und in den Gremien schenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demo- des Europarates werde ich Sie in den kommenden kratie verpflichtet ist. Im Europarat gibt es keine Gel- Wochen eingehend und ausführlich in den Ausschüs- der zu verteilen. Es geht auch nicht darum, als öko- sen informieren. nomische oder politische Einheit handlungsfähig zu werden. Seine primäre Aufgabe ist es, in mühevoller Noch einmal: Die Entscheidung in Straßburg wird Kleinarbeit das zu definieren und weiterzuentwik- nicht schon vorher fallen, so daß wir gewissermaßen keln, was unsere europäische Identität ausmacht: die hier heftig beraten würden, aber alles schon festge- Achtung vor der Würde des Menschen und der klopft wäre. Dem ist ausdrücklich nicht so. Die Ent- Schutz der Menschenrechte. scheidung in Straßburg - ich sage es noch einmal - wird frühestens in der zweiten Novemberhälfte fal- Angesichts der Tatsache, daß Wissenschaft und len. Planungen, die vorher anders ausgesehen ha- moderne Medizin in immer mehr Lebensbereiche ben, sind nicht mehr aktuell. vordringen, hat die Parlamentarische Versammlung im Jahre 1987 gefordert, daß europaweit eine Rechts- Ich hoffe und vertraue nach wie vor darauf, daß der konvention ausgearbeitet wird, die für die moderne weitere Meinungsaustausch in einer sachlichen und, Medizin und Gentechnologie ethisch definierte obwohl es natürlich eine sehr sensible Materie ist, Grenzen zieht. möglichst emotionsfreien Atmosphäre stattfinden kann, und begrüße es sehr, daß damit Gelegenheit Heute kann man sagen, daß die Bioethik-Konven- zu einer parallelen Erörterung im Bundestag und in tion einen der bedeutsamsten Konventionsentwürfe der Bundesregierung besteht. des Europarats der vergangenen Jahre darstellt - oder werden wird, wenn wir noch bestimmte Korrek- Vielen Dank. turen erreichen. Sie definiert einen Kern von unan- tastbaren Rechten der Menschen, wenn sie mit den (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Segnungen, aber auch mit den ungeheuren morali- schen Herausforderungen der modernen Medizin in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Berührung kommen. jetzt der Abgeordnete Robert Antretter. Die Auffassung der deutschen Parlamentarier im Europarat war und ist: Wenn es um rechtsstaatliche Robert Antretter (SPD): Frau Präsidentin! Meine Garantien für die Schwächsten unserer Gesellschaft sehr verehrten Damen und Herren! In keinem ande- geht, um geistig Behinderte, um alte Menschen, um ren der seit gestern 40 Mitgliedsländer des Europara- Kinder, um Alzheimerkranke ebenso wie um Neuge- tes wurde das Menschenrechtsübereinkommen zur borene und Sterbende sowie um jene, die in existen- Biomedizin so heftig diskutiert wie in Deutschland. tiellen Grenzsituationen ihren Willen nicht mehr aus- In der Tat, darin stimmen wir überein, Herr Minister. drücken können, müssen wir für wasserdichte Rege- lungen eintreten und dürfen uns nicht mit kompli- Tausende von Briefen und Unterschriften, deren zierten Regel-Ausnahme-Bestimmungen abfinden, Zahl die Million überschritten haben dürfte, sind bei die dem Mißbrauch Tür und Tor öffnen. der Bundestagspräsidentin, beim Außenminister, beim Justizminister und bei uns Parlamentariern ein- ' Das hat nichts mit moralischem Eiferertum zu tun, gegangen. Diese Bürgerinnen und Bürger erwarten sondern mit der Würde des Rechts. Daß es mit der zu Recht, daß wir keiner Vereinbarung zustimmen, Würde des europäischen Rechts nicht zum besten be- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11851 Robert Antretter stellt ist, wird nicht zuletzt darin deutlich, daß im Subjektfähigkeit zu unterscheiden, für unvereinbar Wege diplomatischer Kompromisse die besonders mit dem Grundsatz der Menschenwürde. strittigen Punkte bereits im Vorfeld ausgeklammert wurden, beispielsweise die Sterbehilfe, die Abtrei- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. bung, die Definition des Hirntods und rechtliche Fra- Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]) gen, die gerade im Binnenmarkt der Europäischen Daß diese Fragenkomplexe alles andere als ab- Union eine große Rolle spielen, wie zum Beispiel der strakte Themen sind, zeigte sich, als vor kurzem in gewerbliche Rechtsschutz bei gentechnisch verän- Großbritannien tiefgefrorene Embryonen, die für die derten lebenden Substanzen. künstliche Befruchtung nicht mehr gebraucht oder Der im Juli 1994 erstmals bekannt gewordene Kon- schlichtweg vergessen wurden, mit der Alkoholpin- ventionsentwurf enthielt entsprechend seiner Ziel- zette abgetötet wurden. setzung einen Katalog von Rechtsprinzipien, die für Ein weiterer umstrittener Regelungsbereich sind die Mitgliedstaaten des Europarats eine A rt europäi- die fremdnützigen Eingriffe an sogenannten einwil- schen Mindeststandard definieren sollten. Dieser ligungsunfähigen Personen. Das sind nach der Defi- Prinzipienkatalog umfaßt unter anderem Bestimmun- nition des Konventionsentwurfs Minderjährige, er- gen über die erforderliche Einwilligung bei medizini- wachsene Behinderte oder Personen mit einer Gei- schen Eingriffen an erwachsenen und sogenannten steskrankheit. Frühere Fassungen haben in der Öf- geschäftsunfähigen Personen, die Zulässigkeit der fentlichkeit den Verdacht aufkommen lassen, daß medizinischen Forschung bei Embryonen, präventive durch diese Konvention der Weg zu Menschenversu- Tests über genetische Krankheiten und ihre Weiter- chen freigemacht werden könnte. gabe, allgemeine Notstandsklauseln und Sanktions- und Überwachungsverfahren. Ich halte es generell nicht für vertretbar, daß in der Bioethik-Konvention Standards auf einem Schutzni- Wie wichtig dieser Prinzipienkatalog ist, zeigen ge- veau unterhalb der internationalen Standards veran- rade die Entwicklungen der vergangenen Jahre auf kert werden. Internationale Kodizes wie der Nürn- dem Gebiet der sogenannten künstlichen Befruch- berger von 1945, die Erklärung des Weltärztebunds tungstechnologien; ich scheue dieses Wort eher. Die von Helsinki aus dem Jahr 1964 und die Erklärung Erzeugung von Retortenbabys, die Mutterschaft von von Tokio aus dem Jahr 1975 sowie A rt . 7 des Inter- Großmüttern, gentechnische Diagnosemethoden zur nationalen Pakts über bürgerliche und politische Geschlechtsbestimmung vor der Geburt - kaum ein Rechte der UN enthalten die Bestimmung, daß kein Feld bei der Entstehung menschlichen Lebens ist medizinischer Eingriff ohne die Einwilligung der be- den Eingriffen der modernen Medizin noch ver- treffenden Person erfolgen darf. Sie umschreiben schlossen. Hier zeigt sich: Wenn bestimmte Tabus eine Tabugrenze für den Schutz der Menschen- überschritten werden, wenn der Mensch den Prozeß würde, die nicht überschritten werden darf. Auch un- des Werdens menschlichen Lebens instrumentali- sere Verfassung schützt die Menschen gegen Instru- siert, dann liegen medizinischer Fortschritt und mo- mentalisierung. ralischer Frevel sehr dicht beieinander. Noch bedenklicher wird es, wenn in einer Art Be- (Beifall im ganzen Hause) griffskasuistik Fälle genannt werden, bei denen dann doch Ausnahmen möglich sein sollen. So wer- Ein europäisches Rahmenrecht ist um so dringli- den in dem Entwurf abweichend von dem Prinzip, cher, als unterschiedliche nationale Regelungen be- daß bei medizinischen Eingriffen grundsätzlich die stehen. So ist in Deutschland im Embryonenschutz- Einwilligung der betroffenen Person vorliegen muß, gesetz die verbrauchende Produktion von Embryo- Personen genannt, die die Tragweite dieser medizini- nen über den Zweck einer Schwangerschaft hinaus schen Eingriffe nicht beurteilen können, wie bei- ausdrücklich verboten, während sie in Dänemark spielsweise Behinderte, Minderjährige oder Perso- und Großbritannien erlaubt ist. Auch in Frankreich nen, die auf Grund einer „geistigen Störung", wie es ist vor kurzem ein Gesetz zur Bioethik erlassen wor- heißt, nicht in der Lage sind, ihre Interessen zu beur- den, das in seinen Bestimmungen den restriktiven teilen. Mit dehnbaren und unbestimmten Rechtsbe- deutschen Regelungen ähnelt, aber eine medizini- griffen werden dann medizinische Eingriffe an Be- sche Observation des werdenden Lebens unter be- hinderten, auch zu Forschungszwecken, für zulässig stimmten Voraussetzungen erlaubt. erklärt, wenn sie mit einem „minimalen" oder „ver- Die Parlamentarische Versammlung des Europa- nachlässigbaren " Risiko verbunden sind. rats will die Erzeugung von Embryonen zu For- Auch in anderen Vertragsbestimmungen der Kon- schungszwecken verbieten. Gleichwohl soll nach vention müssen rechtsethische Tabus wider den All- dem Willen der Mehrheit der Staaten an den bei der machtsanspruch der modernen Biowissenschaften je- künstlichen Befruchtung erzeugten überzähligen denfalls markiert werden. Gentechnische Verände- Embryonen geforscht werden dürfen, und zwar, wie rungen des menschlichen Erbguts stellen nach Auf- es in der am 26. September angenommenen Ent- fassung der - ich glaube, gesamten - deutschen De- schließung der Versammlung heißt, „im Interesse ih- legation in der Parlamentarischen Versammlung des rer Entwicklung". Diese Bestimmung ist jedenfalls Europarats eine Verletzung eines solchen Tabube- für alle die nicht akzeptabel, die die Auffassung ver- reichs dar. treten, daß sich menschliches Leben nach der Be- fruchtung nicht zum Menschen, sondern als Mensch In diesem Zusammenhang möchte ich mich in aller entwickelt. Deshalb halten wir alle Versuche, ethisch Freundlichkeit an Sie, meine verehrten Kolleginnen zwischen Mensch und Person als Träger sittlicher und Kollegen aus der Unionsfraktion, wenden. Die 11852 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Robert Antretter Grundsätze und Thesen Ihrer Parteiarbeitsgruppe meine Damen und Herren, Frau Präsidentin, weist „Zukunft der Bio- und Gentechnik", die Sie am die Konvention noch Defizite auf, die wir nicht hin- 10. Oktober veröffentlicht haben, sollten Sie als Frak- nehmen sollten. tion sich sehr kritisch anschauen. Ich möchte Dank aussprechen: Dank den Kollegin- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nen und Kollegen aus allen Fraktionen, mit der Bun- GRÜNEN und der PDS) destagspräsidentin an der Spitze und mit Herta Ich glaube, sie sind nicht mit den Prinzipien verein- Däubler-Gmelin für meine Partei, die uns engagiert bar, über die wir heute - ich gehe davon aus: ein gu- zur Seite gestanden haben. tes Stück weit einvernehmlich - hier beraten. Wir haben auch außerhalb des Hauses zahlreichen Wenn Sie die Diskussion über die Keimbahnthera- Verbänden, vor allem der Bundesvereinigung Le- pie beim Menschen wiederaufnehmen wollen und benshilfe und dem VdK, zu danken, ebenso wichti- wenn Sie die ethische Rechtfertigung der Gentech- gen Gliederungen der beiden großen Kirchen, bei- nik aus dem Schöpfungsauftrag - Genesis 1,28 und spielsweise den 35 katholischen Verbänden und 2,15, wie Sie schreiben - herleiten, dann möchte ich zahlreichen evangelischen kirchlichen Einrichtun- Sie fragen, ob Sie nicht mit mir der Meinung sind, gen sowie vielen Kirchengemeinden beider Konfes- daß durch die geradezu frevelhafte Auslegung des sionen aus dem ganzen Land. Wortes, daß wir Menschen uns die Erde untertan ma- chen sollten, schon genug Zerstörung in die Welt ge- Ich schließe die deutsche Delegation im Lenkungs- bracht wurde. Kaum ein Gebot der Sch rift haben wir ausschuß ein, die bis zuletzt Verbesserungen zu er- so befolgt wie dieses vermeintliche. Zumindest mit- reichen suchte und gewiß aus wohlerwogenen Grün- telbar machen wir uns alle schuldig, wenn weltweit den auch dem letzten Entwurf ihre Zustimmung ver- jede Sekunde 3 000 Quadratmeter Wald gerodet, je- sagt hat. den Tag 50 Arten unwiederb ringlich ausgerottet und jedes Jahr 7 Millionen Hektar fruchtbares Land zer- Danken möchte ich aber auch vielen Mitbürgerin- stört werden. nen und Mitbürgern, die couragiert, kompetent und unermüdlich das Thema in der öffentlichen Diskus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sion gehalten und damit einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung für diese Problematik in unserem Land geleistet haben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Unsere Empfehlung an die Bundesregierung ist, Hüppe? der Konvention in der, wie Sie sagen, Herr Minister, voraussichtlich in der zweiten Novemberhälfte statt- Robert Antretter (SPD): Gerne, Herr Kollege findenden Sitzung des Ministerkomitees nicht zuzu- Hüppe. stimmen, sondern darauf hinzuwirken, daß weitere Verbesserungen erzielt werden. Unser Antrag, den wir gemeinsam mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Hubert Hüppe (CDU/CSU): Herr Kollege Antretter, könnten Sie zur Kenntnis nehmen, daß dieses Papier nen vorgelegt haben, soll Ihnen eine Unterstützung von einer Arbeitsgruppe innerhalb der CDU erstellt dabei sein. worden ist und daß ich mich persönlich und, so Den Rechtsausschuß bitten wir, das gesamte Werk denke ich, auch ein Großteil unserer Fraktion sich kritisch zu durchleuchten und auf seine Verfassungs- damit nicht identifizieren kann? mäßigkeit hin zu überprüfen. Wir brauchen ein ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutiges Verbot der Diskriminierung von Menschen sowie bei Abgeordneten der SPD) mit Behinderungen und anderen einwilligungsunfä- higen Personen, vom Säugling bis zum Sterbenden, und ein noch höheres Schutzniveau dieses Personen- (SPD): Ich bin dankbar für diese Robert Antretter kreises. Darüber hinaus sollten Sie Ihr Augenmerk Zwischenfrage. Das nehme ich gerne zur Kenntnis, bitte darauf richten, die Formulierungen zum Em- Herr Kollege Hüppe. bryonenschutz und zur Keimbahnmanipulation ent- Ich glaube, wir sollten denen, die sich selbst zum scheidend zu verbessern. Schöpfer aufspielen und die Gefahr der Eugenik, der Verzweckung des Menschen, unvermeidbar in Kauf Wenn dies gelingt, Herr Minister, meine Damen nehmen, kein gutes Gewissen verschaffen. Ich und Herren, meine Kolleginnen und Kollegen im möchte aber den weiteren Teil dazu ausklammern, Rechtsausschuß, kann die Konvention ein Fortschritt Herr Kollege Hüppe, da Ihre Antwort, die Sie in eine für die Menschenrechte in Europa sein - so wie es Frage gekleidet haben, zumindest für mich persön- vor zehn Jahren in Straßburg unsere Absicht war, als lich recht befriedigend war. wir den Regierungen empfohlen hatten, eine solche Vereinbarung auf den Weg zu bringen. Eines möchte ich noch sagen: Es soll nicht uner- wähnt bleiben, daß, verglichen mit dem Wortlaut frü- Vielen Dank. herer Entwürfe, auch Verbesserungen erzielt worden sind. Letztlich muß jedoch auf einem solch sensiblen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Feld stets erkennbar bleiben, von welchem Men- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schenbild wir uns leiten lassen. Gemessen daran, CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11853

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der Keimbahntherapie die Veränderung auch auf die jetzt der Abgeordnete Peter Altmaier. nachfolgenden Generationen übertragen und ver erbt. Das heißt: Der Mensch würde sich damit erst mals gegenüber dem Menschen in die Schöpferrolle Peter Altmaier (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Schutz der grundle- aufschwingen, eine Vorstellung, die mit unserem genden Menschenrechte, der physischen Integrität christlichen Menschenbild und unseren Vorstellun des Menschen und die Bewahrung der menschlichen gen von der Einzigartigkeit und Unverwechselbar Würde ist eine der fundamentalen Aufgaben des keit jedes einzelnen Menschen völlig unvereinbar ist. Staates überhaupt. Diese Aufgabe gewinnt ange- (Beifall bei der CDU/CSU) sichts der modernen Entwicklungen in der Bio- und in der Gentechnologie eine völlig neue, grenzüber- Bei allen guten Argumenten, die hier und da vor- schreitende Dimension. gebracht werden: Von der Ausrottung von Erbkrank- heiten über die Korrektur vorzeitiger Glatzenbildun- Deshalb ist die Debatte, die wir heute führen, alles gen, der Kurzsichtigkeit und der Neigung zu Korpu- andere als eine parlamentarische Nebensache. lenz bis hin zum Designer-Menschen à la carte ist es (Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/ nur ein kleiner Schritt. Deshalb ist es wichtig, daß die CSU] und der Abg. Cornelia Schmalz- Konvention ein klares und deutliches Signal setzt, Jacobsen [F.D.P.]) daß die Keimbahntherapie jetzt und auch in Zukunft ausgeschlossen bleiben muß. Es geht im Kern um die Frage, ob das zusammen- wachsende Europa - ich rede ganz bewußt nicht nur- Herr Kollege Antretter, weil Sie es angesprochen von den Staaten der Europäischen Union, sondern haben: Auch mir ist dieses Papier aus einer Arbeits- von den 40 Staaten des Europarates - mehr ist als nur gruppe der CDU bekannt. Auch dieses Papier sagt, ein wirtschaftlicher Interessenverband, nämlich eine daß die Keimbahntherapie gegenwärtig nicht zur Wertegemeinschaft, die auf einem gemeinsamen Diskussion steht. ethisch-moralischen Grundkonsens fußt und aufbaut. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Gegen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. wärtig! Das ist der Punkt!) sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich füge hinzu: Ich bin fest davon überzeugt, für die übergroße Mehrheit in meiner Partei und meiner Deshalb ist es notwendig und richtig, daß wir Fraktion wird sie auch künftig nicht zur Diskussion heute zum drittenmal innerhalb von wenigen Mona- stehen; dies ist ein Tabu, an das wir weder jetzt noch ten eine parlamentarische Aussprache über das vor- künftig rühren wollen. liegende Abkommen führen. Es war auch richtig, daß wir eine Anhörung durchgeführt haben, daß wir (Beifall bei der CDU/CSU) viele Ausschußberatungen durchgeführt haben und daß wir im letzten Juni eine Entschließung zu diesem Wir haben auch Verbesserungen bei den soge- Thema quer über alle Parteien hinweg verabschiedet nannten fremdnützigen Eingriffen an nichteinwilli- haben. Wir haben dem Thema damit den Stellenwert gungsfähigen Personen erreicht. Im alten Entwurf gegeben, der ihm in der parlamentarischen Diskus- war noch nicht einmal die Einwilligung des gesetzli- sion zukommt, und wir haben auch die Öffentlichkeit chen Vertreters vorgesehen. Jetzt haben wir immer- angemessen an diesem Diskussionsprozeß beteiligt. hin einen eindeutigen Katalog sehr restriktiver Be- dingungen. Er ist für viele nicht weitgehend genug, Wir haben einiges erreicht. Der Entwurf, der uns und viele sagen, bei diesem höchstpersönlichen heute vorliegt, unterscheidet sich - bei aller Kritik, Rechtsgut kann es überhaupt keinen Eingriff ohne die man äußern kann - grundlegend von dem völlig die persönliche Zustimmung des Betroffenen geben. unakzeptablen Entwurf von Anfang 1994. Niemand Darüber müssen wir ganz gewiß noch diskutieren. kann bestreiten, daß es gelungen ist, im Lenkungs- Aber ich sage ebenfalls: Je länger ich über diese ausschuß Verbesserungen durchzusetzen, dem Frage nachdenke, desto mehr Fragen stellen sich mir Übereinkommen Giftzähne zu ziehen, die vor einem auch im Hinblick auf die Rechtslage hier bei uns in Jahr zu großen Bedenken über alle Parteigrenzen Deutschland. Denn anders als in den Bereichen, die hinweg geführt haben. Ich möchte der Bundesregie- durch das Gentechnikgesetz oder das Embryonen- rung und allen Beteiligten ganz nachdrücklich dafür schutzgesetz geregelt sind, haben wir hier nur das danken, auch und vor allem den Kollegen in der Par- Grundgesetz, und wir haben die Praxis, bei der wir lamentarischen Versammlung des Europarats aus al- die Grauzonen im einzelnen nicht unterscheiden und len Parteien, die diesen Erfolg durch ihren unermüd- nicht überschauen können. Ich habe den Eindruck, lichen Einsatz möglich gemacht haben. daß auch bei uns in der Gesellschaft der Grundkon- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und sens in dieser Frage zu bröckeln begonnen hat. Wir der SPD) sollten auch der Versuchung widerstehen, diese na- tionalen Diskussionen auf die europäische Ebene zu Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bei der übertragen. Wir werden uns dieser Diskussion auch Aufzählung der Verbesserungen bei dem für mich je- hier bei uns stellen müssen. denfalls wichtigsten Punkt der Konvention beginnen, nämlich dem klaren und eindeutigen Verbot der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Keimbahntherapie am Menschen. Worum geht es? ordneten der F.D.P., der SPD, des BÜND Anders als bei der somatischen Gentherapie wird bei-NISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) 11854 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Peter Altmaier Es gibt unbestreitbare Fortschritte. Wir haben auch Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Ich wollte Sie die Pflicht, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, nicht ungebührlich unterbrechen, aber doch auf ei- weil es nach wie vor sehr viel Verunsicherung gibt nen Punkt zurückkommen. Jeder, der die Doku- und viele noch auf dem Diskussionsstand des Jahres mente gelesen hat, weiß, daß Sie in diesem Punkt 1994 sind. recht haben. Es ist eine Menge verändert worden. Ich sage aber genauso deutlich: Es gibt auch viel Aber sind nicht auch Sie der Auffassung, daß im Schatten. Wir haben vieles von dem, was wir in die Zuge des Ratifizierungsprozesses jede Möglichkeit Entschließung von 1995 hineingeschrieben haben, genutzt werden muß, um weitere Verbesserungen zu nicht durchsetzen können. Für meine Fraktion ist erreichen? Darf ich Ihre Worte so verstehen, daß Sie ganz besonders schmerzhaft, daß wir das Verbot der selbstverständlich mit uns darum ringen werden, verbrauchenden Embryonenforschung nicht so diese zu erreichen? deutlich haben festschreiben können, wie wir uns dies gewünscht hätten. Wir bedauern auch, daß die Peter Altmaier (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich bin Möglichkeit zur Individualklage vor dem Europäi- selbstverständlich an Ihrer Seite. Wir alle in diesem schen Menschenrechtsgerichtshof nicht eröffnet wer- Haus sind bereit, jede Verbesserung, die noch durch- den konnte. setzbar ist, in dieser Konvention zum Tragen zu brin- gen und ihr dazu zu verhelfen, daß sie Gesetz und Ich möchte aber etwas hinzufügen. Bei aller Recht wird. Schwierigkeit angesichts dieser Situation, daß wir vieles, aber nicht alles erreicht haben, müssen wir- Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen: An- uns über eines im klaren sein: Angesichts des vorge- gesichts des vorgezeichneten Ganges der Beratung zeichneten weiteren Verhandlungsganges in den ist es sehr unwahrscheinlich, daß in diesem Prozeß Gremien in Straßburg wäre es eine Illusion, zu glau- noch substantielle Änderungen durchgesetzt werden ben, daß über die Änderungen hinaus, die die Parla- können. Der Gang der Beratung ist wie folgt: Die Be- mentarische Versammlung des Europarates vorge- richterstattergruppe wird zusammentreten, um über schlagen hat, noch wesentliche Veränderungen und die Änderungen zu beraten, die von Straßburg vor- Verbesserungen der Konvention zu erreichen sind. geschlagen worden sind; das Komitee der Minister- Es wäre eine Illusion, die wir draußen bei den Bür- beauftragten wird zusammentreten, um über die gern erweckten, wenn wir der Bundesregierung Frage zu entscheiden, ob diese Konvention zur heute ein Verhandlungsmandat mitgäben, das sie Zeichnung ausgelegt wird; dann wird der Prozeß von gar nicht einlösen kann. der Zeichnung über die Ratifizierung bis hin zum In- krafttreten der Konvention einsetzen. Das heißt, wir sind in der Verantwortung und in der Pflicht, vor dem Hintergrund des vorliegenden Ich meine, es ist ein Gebot der intellektuellen Ehr- Konventionsentwurfs zu unterscheiden, ob wir ihm lichkeit, dies den Menschen draußen zu sagen. Wir zustimmen wollen oder nicht. Diese Entscheidung ist müssen darum ringen, ob wir auf der Grundlage die- eine sehr schwere, um die über alle Parteiengrenzen ses Textes zustimmen können. Ich kann das für hinweg gerungen wird. meine Fraktion heute noch nicht abschließend beant- worten. Ich erinnere nur an den Beitrag des Kollegen Schloten in der Parlamentarischen Versammlung des Ich habe wenig Hoffnung, daß es gelingen wird, Europarates, der für sich den Schluß gezogen hat, die Diskussion über das, was uns heute bedrückt - daß man bei der Abwägung zwischen dem, was er- zum Beispiel im Hinblick auf die Embryonenfor- reicht worden ist, und dem, was nicht erreicht wer- schung oder aber im Hinblick auf die fremdnützige den konnte, auch zur Kenntnis nehmen muß, daß wir Forschung, auf das, was Kollege Antretter gesagt für die Mehrzahl der 40 Mitgliedstaaten des Europa- hat -, inhaltlich noch einmal neu zu eröffnen. rates im Vergleich zur geltenden Rechtslage Verbes- (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Aber ver serungen erreicht haben, die bis vor wenigen Jahren suchen können wir es!) noch völlig undenkbar waren. - Wir können es versuchen. Aber wir sollten - das Dieser Konventionsentwurf wird dazu führen, daß sage ich noch einmal - keine Illusionen erwecken, wir vor allen Dingen in den jungen Staaten Osteuro- die wir nachher in einem schmerzlichen Prozeß sozu- pas, aber auch in vielen anderen Staaten erstmals sagen wieder einsammeln müssen. verbindliche Standards haben. Das ist weiß Gott nicht wenig. Meine Damen und Herren, ich denke, daß es wich- tig ist, daß wir in diesem Haus versuchen sollten, zu Meine Damen und Herren, wir müssen über diese einer gemeinsamen Position zu kommen. Deshalb er- Frage nachdenken. Wir müssen die vorliegenden scheint mir der Entschließungsantrag - das darf ich Texte prüfen. bei aller sachlichen Diskussion sagen -, den Bünd- nis 90/Die Grünen und SPD gemeinsam vorgelegt haben, übereilt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Ich hätte mir gewünscht, daß wir angesichts der Däubler-Gmelin? klaren Zusage des Bundesjustizministers, daß vor den Beratungen, die in den Ausschüssen des Bun- destages stattfinden, eine Entscheidung im Komitee Peter Altmaier (CDU/CSU): Bitte sehr. der Ministerbeauftragten nicht zu erwarten steht, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11855 Peter Altmaier versucht hätten, in den nächsten Wochen zu einer matik dieses Übereinkommens. Nur die Auswahl des gemeinsamen Entschließung zu kommen. Ich darf Geschlechts eines Kindes ist nach dem Entwurfstext für meine Fraktion ausdrücklich anbieten, daß wir bei der Anwendung von Techniken der Fortpflan- den Versuch machen, zu dieser gemeinsamen Stel- zungsmedizin grundsätzlich unzulässig. Andere Se- lungnahme und Entschließung zu kommen. Sie ren- lektionskriterien sind nicht ausdrücklich ausge- nen bei uns jedenfalls offene Türen ein. schlossen. Die Selektion des Geschlechtes ist dar- über hinaus auch zulässig, wenn sie der Vermeidung Meine Damen und Herren, bei allem Streit um Pa- schwerwiegender erheblicher geschlechtsgebunde- ragraphen und Artikel: Es geht in der Tat um einen ner Krankheiten dient. wichtigen Konventionstext. Aber in Wirklichkeit geht es nicht nur um die Konvention, sondern es geht um Auch die Präimplantationsdiagnostik ist nicht aus- den ethisch-moralischen Grundkonsens in unserer geschlossen. Damit wird eine Option für eine euge- Gesellschaft. Dieser Grundkonsens muß ständig neu nisch begründete Auswahl von Embryonen offenge- erarbeitet und bestätigt werden, innerstaatlich, euro- lassen. Das taucht die eugenische Indikation aus der päisch und eines Tages hoffentlich auch weltweit. Abtreibungsdiskussion nun im Reagenzglas auf ein- Das ist eine wichtige Aufgabe, und es bleibt eine per- mal wieder auf. Das macht mir große Sorgen. Hier manente Aufgabe weit über die aktuelle Diskussion werden die Würde und das Lebensrecht von Behin- hinaus. derten durch die moderne medizinische Entwicklung in Frage gestellt. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Dr. [SPD]) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Damit ist die Tür offen zu einer Entwicklung nach Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat dem Motto: Der Mensch schafft sich den Menschen jetzt der Abgeordnete Volker Beck. nach seinem Idealbild. Dieses ist zwar heute nicht mehr unbedingt blond, blauäugig und hochgewach- sen, aber gesund, umfassend leistungsfähig, intelli Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): -gent. Erfolg und Leistung, Verwertbarkeitskriterien Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr entscheiden über das Lebensrecht. Dem muß Einhalt Kollege Altmaier! Sicher ist seit der Entschließung geboten werden! des Deutschen Bundestages einiges an der Konven- tion verbessert worden. Aber viele Probleme wurden Meine Damen und Herren, datenschutzrechtliche nur durch Umstellung der A rtikel und Regelungen Bestimmungen zur Weitergabe der Ergebnisse gene- an anderer Stelle versteckt. tischer Tests fehlen völlig. Die Schutzstandards des deutschen Embryonenschutzgesetzes werden unter- Bündnis 90/Die Grünen fordern die Bundesregie- schritten. Ein Verbot der Patentierbarkeit menschli- rung auf, dem Entwurf eines Menschenrechtsüber- cher Gene fehlt. Hier und an vielen anderen Punkten einkommens zur Biomedizin in der vorgelegten Form muß nachgearbeitet werden. auf keinen Fall zuzustimmen. Auch die geforderten Veränderungen der Parlamentarischen Versamm- Das Übereinkommen wird den Druck erhöhen, lung des Europarates reichen uns für eine Zustim- ethische Standards bei der Forschung und Anwen- mung nicht aus. Das will ich hier ganz offen sagen, dung von Biologie und Medizin weiter nach unten damit die Geschäftsgrundlage auch für weitere Dis- anzugleichen. Das Übereinkommen dient einer kussionen klar ist. scheinbar ethischen Legitimierung neuerer proble- matischer Entwicklungen im Bereich der Forschung Wir haben dem Deutschen Bundestag gemeinsam und Anwendung von Biologie und Medizin. Das mit der SPD-Fraktion einen Entschließungsantrag Übereinkommen enthält weitgehende Öffnungsklau- vorgelegt, der eine Überarbeitung der Konvention in seln zur Umgehung der Konventionsnormen. Im In- weiten Teilen verlangt. Wir fordern darin die Verbes- teresse der öffentlichen Sicherheit, zur Verbrechens- serung des Schutzes der Menschenrechte. verhütung, zum Schutz der öffentlichen Gesundheit Dabei liegt uns besonders der Schutz für Behin- können vorgesehene Rechte und Schutzbestimmun- derte vor fremdnütziger Forschung am Herzen. Bei gen des Übereinkommens gesetzlich eingeschränkt einwilligungsunfähigen Personen können die Schutz- werden. bestimmungen des Konventionsentwurfes umgangen Meine Damen und Herren, bei der Zustimmung werden, wenn die Forschung - ich zitiere - „nur mit und Unterzeichnung geht es auch um eine Entschei- einem minimalen Risiko und einer minimalen Bela- dung der Realpolitik. Die Konvention enthält einige stung" einhergeht, was immer das bedeutet. Damit Mindeststandards. Diese sind unbefriedigend, aber werden die Grundsätze des Nürnberger Arzteko- besser als nichts. Man kann sich nun also fragen: Ist dexes verlassen. Dies ist für uns völlig inakzeptabel. das Glas halb voll oder halb leer? Ohne rechtliche In- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN strumentarien zur Durchsetzung dieser Mindeststan- sowie bei Abgeordneten der SPD und der dards bleibt diese Frage aber ein akademisches Pro- PDS) blem. Ein halbvolles Glas Wasser, von dem man nicht trinken kann, weil es unerreichbar ist, löscht keinen Sieht man sich dann noch Kapitel IV der Konven- Durst. Deshalb werden wir einem solchen Konven- tion an, ahnt man das Ausmaß der ethischen Proble- tionstext in keinem Fall zustimmen. Hierfür reichen 11856 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Volker Beck (Köln) auch die von der Parlamentarischen Versammlung Das mußten aber auch alle die wissen, die sich auf des Europarates geforderten Änderungen nicht aus. diesen Prozeß eingelassen haben.

Bündnis 90/Die Grünen fordern deshalb eine Indi- (Zuruf des Abg. Hubert Hüppe (CDU/CSU]) vidualklagemöglichkeit vor dem Europäischen Ge- - Ja, wir müssen versuchen, das anzupassen, Kollege richtshof für Menschenrechte. Patientenverbände Hüppe. Aber entscheidend ist, zu welcher Bewer- und Behindertenorganisationen sollten im Rahmen tung man am Schluß des Verfahrens kommt. der Verbandsklage Verstöße gegen diese Konven- tion in eigenem Namen geltend machen können. Noch eine dritte Bemerkung aus meiner Sicht - Ohne die Möglichkeit von Personen, sich individuell dieser Punkt ist auch im Beitrag des Kollegen Alt- gegen die Verletzung von Bestimmungen aus diesem maier angeklungen -: Es ist schwierig, Fragen, die Abkommen, durch die sie selbst geschädigt worden wir in Deutschland klären müssen, auf dem Umweg sind, mit Klage vor dem Europäischen Gerichtshof über eine europäische Konvention klären zu wollen. wehren zu können, ist das Übereinkommen ein zahn- Für mich ist in dieser deutschen Debatte eine Frage loser Papiertiger. Wir werden nur ein Übereinkom- nicht geklärt - auch deshalb, weil wir uns bis zur men unterstützen, das die Menschenrechte auch ef- Vorlage dieser Konvention der Diskussion unter uns fektiv schützt. entzogen haben -: ob es uns darum geht, die Schutz- anforderungen für Forschung an Menschen, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht die Fähigkeit zur Zustimmung haben, zu erhö- und der PDS sowie bei Abgeordneten der hen, oder ob wir eine solche Möglichkeit aus grund- SPD) - sätzlichen Überlegungen überhaupt ausschließen wollen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wenn ich das Aus meiner persönlichen Sicht müßte man eines richtig verstanden habe, besteht der Wunsch des Kol- bedenken: Die Deklaration von Nürnberg hat unter legen Catenhusen nach einer Kurzintervention. dem Eindruck und aus den Erfahrungen verbrecheri- scher Menschenversuche diese deutlichen Aussagen getroffen. Es geht aber heute für mich nicht um ver- Wolf-Michael Catenhusen (SPD): Der Kollege Beck brecherische Menschenversuche einer Medizin, die hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die endgültige ich in diese geistige Tradition einordne, sondern es Abwägung der Frage, wie das deutsche Parlament geht doch heute um viel schwierigere Abwägungs- zu diesem Entwurf der Konvention Stellung nimmt fragen wie etwa die, ob es überhaupt möglich ist, und ob wir der Bundesregierung Zustimmung signa- sich zum Beispiel bei Alzheimer-Patienten eine Blut- lisieren sollten oder nicht, auch eine Frage der Real- entnahme zu Forschungszwecken vorzustellen. politik ist. Ich möchte dazu, Kollege Beck, drei Be- Diese Fragen zu beantworten, halte ich für sehr merkungen machen. viel schwieriger. Sie lassen sich auch nicht mit einfa- Erstens. Sie haben die schwierige Frage der Gen- chen Zitaten aus der Deklaration von Nürnberg ab- analyse im Zusammenhang mit geschlechtsgebunde- schließen. Wir haben wenige Wochen Zeit, die Dis- nen Krankheiten aufgeworfen. Ich möchte Sie darauf kussion darüber in den Ausschüssen zu führen. Wir hinweisen, daß das deutsche Embryonenschutzge- wären dabei nicht gut beraten, Dinge, die wir selbst setz eine Analyse, die ein solches Ziel hat, zuläßt. nicht unter uns geklärt haben, auf dem Wege über Das heißt, wir verbieten in Deutschland zwar den Europa ad acta zu legen. Einsatz zur Geschlechtswahl, aber wir lassen - ich Danke schön. denke, aus gutem Interesse der Betroffenen - die Analyse geschlechtsgebundener Krankheiten, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne bei rechtzeitiger Durchführung ja Hilfe bieten kann, ten der CDU/CSU) zu. Ich glaube, wir sollten diese Differenzie rung auch in dieser Diskussion beibehalten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Auch zur Kurz- Auch der zweite Punkt ist im Sinne der Realpolitik: intervention die Kollegin Christa Nickels. - Herr Kol- Als jemand, der diese Diskussion auf europäischer lege Kleinert, Sie müssen noch etwas warten. Dann Ebene seit gut 15 Jahren nicht nur mit verfolgt, son- wird nämlich auch noch der Kollege Beck antworten. dern auch mit bestritten hat, gehe ich davon aus, daß Ich rufe Sie dann auf. wir auf europäischer Ebene keine Chance haben - Frau Nickels. bei aller Gemeinsamkeit im Wertesystem und hin- sichtlich der Geschichte -, in der Frage der Embryo- nenforschung eine Vereinbarung zu treffen, die Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): deutsche und britische Positionen in Übereinstim- Schönen Dank. - Ich beziehe mich auch auf die Äu- mung bringt. ßerungen von Volker Beck, der hier über Fragen der Realpolitik gesprochen hat. Hier ist sehr viel die Man muß dies deutlich sagen: Wer sich den Weg Rede davon gewesen - auch in dem Beitrag von dir, zu einer Konvention offenhalten will, die nicht nur Volker; aber auch in anderen Beiträgen -, daß man den Abstand bei bioethischen Normen festschreibt, eine grundlegende Werteentscheidung zu treffen sondern das Ziel einer Annäherung verfolgt, der muß habe. Ich mache mir ziemlich große Sorgen, wenn wissen, daß er im Fall der Embryonenforschung nicht ich hier von allen wie hinter einem Schutzschild vor- gangbar ist und von Anfang an nicht gangbar war. getragen bekomme, es gehe um eine Wertefrage und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11857

Christa Nickels man müsse eine grundsätzliche Entscheidung tref- Wenn Ehrlichkeit eingefordert wird, möchte ich fen, aber der grundsätzliche Konflikt, in dem wir mei- das nicht bloß immer unter dem Schutzschild der ner Meinung nach in allen hochindustrialisierten Wertedebatte erleben, der meiner Meinung nach Staaten stehen, daß nämlich grundlegende Werte im hier benutzt wird, um etwas zu verschleiern. Augenblick permanent gegen Wirtschafts- und Standortinteressen abgewogen werden, nicht thema- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, tisiert wird. Ihre drei Minuten Redezeit sind abgelaufen.

Für mich ist das die grundlegende Problematik un- ter dem Stichwort Realpolitik. Hier reicht es nicht Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich aus, davon zu reden, daß wir uns nicht der Illusion möchte, daß hier auch ganz klar die Wirtschaftsinter- hingeben dürften, wir könnten uns dem Zug der Zeit essen in die notwendige Abwägung einbezogen wer- entziehen, der in dieser Debatte um die Bioethik- den. Das würde viel an Ehrlichkeit und auch sehr viel Konvention in Europa zum Vorschein kommt. Es hat mehr an materieller Substantüerung für diese De- für mich auch nichts mit Nationalismus zu tun, wenn batte bedeuten. Das wünsche ich mir. wir als Bundesrepublik Deutschland darauf behar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren, daß wir bestimmte Standards der Menschen- und bei der PDS sowie bei Abgeordneten rechte und der Grundrechte nicht verlassen wollen. der SPD)

Ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit in der Debatte. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Ginge es hier „nur" um die Wertedebatte, würden Beck, Sie können darauf antworten, wenn das eine wir es uns hier über alle Fraktionen hinweg leisten, Intervention zu Ihrer Rede war. zu sagen, Europa solle mit Mehrheit die Standards, die wir nicht für ausreichend halten, beschließen. Wir stimmen dem Konventionsentwurf aber nicht zu, weil Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wir ihn generell für eine Rutschbahn halten, die uns Zunächst zu Ihnen, Herr Catenhusen: Das Lebens- über kurz oder lang dahin führt, daß Wirtschaftsinter- recht von Behinderten in der Gesellschaft zu bewah- essen dominieren. ren, wird uns in der Behindertenpolitik wahrschein- lich nicht nur durch Konventionstexte und durch Ge- setzentwürfe gelingen. Gleichwohl wollte ich gerade (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch) dieses Thema, weil es mir sehr am Herzen liegt, in diese Debatte einführen. Wenn es denn nur den Marktinteressen dient, wenn ein Markt vorhanden ist, von dem man profitieren Ich meine, es gibt einige Möglichkeiten, im Kon- kann, werden ethische Standards leicht aufgeweicht. ventionstext wesentlich besseren und rechtssichere- Das ist auch meine große Sorge. Herr Antretter, ren Schutz für behindertes Leben zu gewährleisten. wenn also diese hehren Worte von der Abwägung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zwischen Realpolitik und Wertefragen keine prakti- schen Konsequenzen nach sich ziehen, dann müssen Wir müssen in der gesellschaftlichen Debatte weiter wir dem Entwurf, so wie er ist, widersprechen, da darum streiten, daß sich Frauen bewußt für ein be- uns die Grundwerte wichtiger sind. hindertes Kind entscheiden können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das heißt für mich aber, daß wir dann den Konflikt entscheiden müssen, der unausgesprochen immer Das ist heute oftmals nicht möglich, weil die Gesell- dahintersteht. Die Grundfrage ist eben die: Sind uns schaft darauf nicht eingerichtet ist und Familien mit die Menschenrechte und Werte so wichtig wie Stand- behinderten Kindern ausgrenzt, manchmal sogar die ort- und Wirtschaftsinteressen? Sind wir fähig und Frau dafür verantwortlich macht, wenn sie sich für bereit, diese Werte auch dann zu verteidigen, wenn das behinderte Leben entscheidet. Ich denke, wir es darum geht, auf einen lukrativen Markt zu ver- dürfen nicht müde werden, über so etwas zu disku- zichten und sich der Mühe zu unterziehen, Alternati- tieren. Wir müssen als Gesetzgeber alles tun, um sol- ven zu entwickeln? Ich habe bereits in der vorletzten che Entscheidungen unterstützend zu flankieren. Legislaturperiode im Rechtsausschuß an der Debatte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Embryonenschutzgesetz mitgewirkt. Sie haben und bei der SPD sowie bei Abgeordneten recht, Herr Catenhusen, daß darin schon einige der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) Schlupflöcher enthalten sind, die wir beklagt haben. Aber wenn die Bundesrepublik dieser Konvention Ich komme jetzt auf den Punkt Realpolitik, auf den zustimmen sollte, dann ist das meines Erachtens eine Sie, Frau Nickels und Herr Catenhusen, repliziert ha- Rutschbahn, auf der wir überhaupt nicht mehr brem- ben. Ich meine, eine Konvention, die für sich in An- sen können, wenn es darum geht, daß lukrative Wi rt spruch nimmt, ethische Mindeststandards zu sichern, -schafts- und Forschungsinteressen bedient werden ist immer Anlaß, in realpolitische Abwägungspro- sollen. Ich kenne die Argumente jetzt schon. Dann zesse einzutreten. Für mich ist die entscheidende wird es heißen: Wenn wir es nicht machen, machen Frage: Kann ich wenigstens die „schlappen" Min- es andere; daher sollten wir es besser mit unserem deststandards einklagen? Kann ich sie durchsetzen, Know-how und unserer Wirtschaft machen. - Letzt- so daß kein Land mehr darunter wegtauchen kann? - lich werden wir diese Standards schleifen. Davor Das ist nicht der Fall. Der Europäische Gerichtshof möchte ich warnen. für Menschenrechte hat keine Möglichkeit, diese 11858 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Volker Beck (Köln) Mindeststandards durchzusetzen. Er darf allenfalls, Ich hoffe, daß sich Herr Altmaier irrt - obwohl ich wenn er gefragt wird, zu einer Rechtsfrage Stellung seinen größeren Einblick in dieser Frage nicht in nehmen, wie die Konvention womöglich auszulegen Zweifel ziehen will -, wenn er meint, daß hier nichts sei. Das reicht nicht! mehr zu ändern ist. Ich hoffe vielmehr, daß sich eben doch noch etwas im Sinne der größtmöglichen recht- So gesehen halte ich den von Frau Nickels ange- lichen Klarheit verändern lassen wird. Das ist wohl sprochenen Rutschbahneffekt, die Konkurrenz der ein allgemeines Anliegen. Dann aber muß man auch Forschungsstandorte - wir haben das in unserem An- sagen, daß mit den Mindeststandards vernünftiger- trag ausgeführt -, für den entscheidenden Gesichts- weise ein Weg zur Weiterentwicklung und eine erste punkt. Dann können wir nicht zustimmen; denn Barriere gefunden worden ist. Man kann dann nicht dann ist das nur noch eine Legitimationsveranstal- von einem Einbruch reden. tung für die nächsten Schritte zur Senkung unserer Normen, ohne daß wir im Gegenzug einen garantier- Was ich in diesem Zusammenhang und bei der A rt , ten Schutz durch Mindeststandards gewonnen ha- wie hier diskutiert worden ist, am wenigsten ver- ben. Wenn sich das nicht ändern läßt, müssen wir ab- stehe, Herr Beck, ist, daß Sie an die formale Rege- lehnen! lung des Zugangs zum Europäischen Gerichtshof anknüpfen wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE PDS) GRÜNEN]: Das haben wir als Bundestag - vor einiger Zeit gemeinsam beschlossen! - Abg. Robert Antretter [SPD] meldet sich zu Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe nun einer Zwischenfrage) dem Abgeordneten Detlef Kleinert das Wo rt . Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die ganz offenkundige interfraktionelle Sorge um das, Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Ich bitte um was hier zu beraten ist, die Sorge um die Menschen- Verständnis, daß ich jetzt mit dieser Bemerkung zum würde da, wo sie am ehesten in Gefahr geraten wird, Abschluß kommen will, Herr Antretter. besonders bei den Hilflosen, bei denen, die sich nicht wehren können, läßt wohl nicht die Überlegung of- Herr Beck, wenn hier vernünftige Regeln klar und fen, daß die Mühen all derer, die hier schon mit Dank deutlich aufgestellt werden und von möglichst vielen erwähnt worden sind, vergebens gewesen sein soll- Menschen mitgetragen werden - dafür wird weiter ten und daß man zu dem Zustand, den Herr Caten- geworben werden; von all dem, worüber hier disku- husen mit „vor 15 Jahren etwa" skizziert hat, zurück- tiert und was schließlich vereinbart werden wird, kehren könnte, sondern man muß doch wohl davon geht auch eine Wirkung aus -, dann muß man anneh- ausgehen, daß solche intensiven Bemühungen, von men, daß das eine positive Wirkung hat. Es ist nicht großer Verantwortung getragen, weiterführen wer- so, daß wir ohne ein Ge richt und insbesondere ohne den und nicht die befürchtete „Rutschbahn" darstel- Klagen von Verbänden im eigenen Namen hier nicht len. weiter kämen. Wir tun einen wichtigen Schritt zu ei- ner Weiterbildung des Bewußtseins und zur Veran- Ich könnte mir vorstellen, daß man, wenn man kerung der Standards, die bei uns schon vorhanden ganz neu über die Sache nachdenkt, sagt: Die Dekla- sind, ohne uns zu behindern, unsere Standards wei- rationen von Nürnberg und Helsinki wären eine Ba- terhin zu überprüfen, und zwar in Richtung auf mehr sis im Wettbewerb der Staaten gewesen, auf der je- und keineswegs auf weniger Schutz. Mindestens das der Staat zu seinen eigenen - möglichst verantwor- muß das Ziel sein. tungsbewußten - Regelungen hätte kommen kön- nen, ohne den Anschein einer internationalen Ver- Herzlichen Dank. rechtlichung zu erwecken. (Beifall bei der F.D.P. - Christa Nickels Ich habe das Gefühl, daß man sich vom geschrie- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehen Sie benen Text dieser Konvention, von ihren gesetzes einmal, was im Gentechnikgesetz für eine ähnlichen Formulierungen gerade in unserem Lande Tendenz da ist!) - vielleicht ist das auch der Grund, warum in diesem Parlament, in seinen Gremien und in vielen Gremien Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe nun außerhalb dieses Hauses so intensiv gerungen wor- dem Abgeordneten Wolfgang Bierstedt das Wort. den ist - mehr verspricht, als das nach der Rechtstra- dition in anderen Ländern der Fall ist. Nun ist dieser Weg beschritten worden. Dann müssen wir aller- Wolfgang Bierstedt (PDS): Sehr geehrter Herr Prä- dings auch bei anderen um Verständnis dafür wer- sident! Meine Damen und Herren! Seit geraumer ben, daß wir bei einer solchen Lösung ein anwendba- Zeit ist zu beobachten gewesen, daß Bioethik nicht res Recht haben wollen und daß die Begriffe so klar nur eine besondere Mode der philosophischen Ethik sein müssen, wie nur irgend möglich. Das ist sicher- wurde. Vielmehr hatte sich unter diesem Losungs- lich an einigen Stellen im Rechtsausschuß noch sehr wort geradezu eine europäische Bewegung gebildet, viel genauer zu erörtern. deren Zielrichtung im ganzen genommen eine Ab- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11859

Wolfgang Bierstedt kehr vom ethischen Leitbild der individuellen Würde len wir keinesfalls, daß vom Prinzip der individuel- und Integrität eines jeden einzelnen Menschen ist. len Zustimmung abgewichen wird. Keinerlei Rechte und Interessen anderer Menschen rechtfertigen die Das fand seinen Niederschlag im ersten Entwurf, Aushöhlung dieses Prinzips, das nach den Erfahrun- den wir zu behandeln hatten. Hier, Herr Kollege Alt- gen mit dem Nationalsozialismus im Nürnberger Ko- maier, irrten Sie leider in Ihren Ausführungen: Es ist dex mit gutem Grund festgeschrieben wurde. gerade nicht das Beratungsgremium gewesen, das diesen Entwurf, der sehr kritikwürdig ist und auch (Beifall bei Abgeordneten der PDS) von uns kritisiert wurde, an das Licht der Öffentlich- keit gebracht hat, sondern er wurde vorrangig von Eine rechtliche Regelung, die dem Schutz aller Men- Menschen, die sich kritisch mit diesem Entwurf aus- schen dienen soll, darf keine Sonderregelung für eine einandergesetzt hatten, an das Licht der Öffentlich- Gruppe von Menschen enthalten, die im besonderen keit gezerrt. Wenigstens das sollten wir schamvoll auf den Schutz der Gesellschaft angewiesen sind. eingestehen. Aus unserer Sicht ist dieser Konventionsentwurf Trotz der Änderung des Namens der Konvention - auch deswegen nicht zustimmungsfähig, weil sein der Begriff „Bioethik" wird nun vermieden - bleiben Text kein eindeutiges Verbot der Keimbahnmanipu- die wesentlichen Züge dieser Ethikkonzeption sicht- lation garantiert und der Forschung an für die künst- bar. In Art. 2 des Konventionsentwurfes wird den In- liche Befruchtung erzeugten überzähligen Embryo- teressen und dem Wohlergehen des Menschen zum nen keinen Riegel vorschiebt. Beispiel nur „Vorrang vor dem alleinigen Interesse - Sofern Änderungen am Vertragstext nicht mehr zu von Gesellschaft und Wissenschaft" gegeben. Was erreichen sind, bleibt aus unserer Sicht auch die soll das heißen, außer daß eine Abwägung zwischen Nicht-Ratifizierung als Möglichkeit bestehen. Der diesen Interessen vorgenommen werden soll? - Dies Verlust des mit vielen Fragezeichen versehenen widerspricht nicht nur meinem Verständnis von indi- Schutzniveaus der Konvention ist wesentlich gerin- viduellen Menschenrechten, sondern auch dem Ver- ger als der mögliche Verlust des Schutzes der Men- ständnis des deutschen Grundgesetzes. schenwürde und des Rechtes auf körperliche Integri- (Beifall bei der PDS) tät, festgeschrieben in den bisherigen nationalen Regelungen dieser Republik. Der Schutz des Menschen muß Vorrang vor allen an- deren Interessen haben, ob der Gesellschaft, der Wis- Danke. senschaft oder gar der Wirtschaft. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne Sicherlich enthält die neue Fassung des Konven- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tionsentwurfes Verbesserungen, die auch der PDS wünschenswert erscheinen. Eine solche ist zum Bei- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun gebe ich spiel das Diskriminierungsverbot in Art. 11. Selbst- das Wort der Abgeordneten Sigrun Löwisch. verständlich ist auch zu begrüßen, daß bestimmte Rechte der Konvention nicht durch nationales Recht eingeschränkt werden dürfen. Sigrun Löwisch (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wir diskutieren Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß viele heute im Bundestag darüber, wie ethische Grund- Punkte äußerst unklar geregelt sind und damit einer sätze der Menschenrechte in der Biomedizin europa- sehr beliebigen Auslegung Tür und Tor offenhalten. weit und natürlich auch darüber hinaus durchgesetzt Zum Beispiel: Garantiert diese Konvention Mindest- werden können. Ich meine auch am Ende dieser De- rechte, die auch nur an einer Stelle eine Verbesse- batte noch, daß es unser gemeinsames Ziel ist - ich rung der bisherigen Praxis europäischer Länder si- möchte das noch einmal unterstreichen -, die Rechte cherstellen? Alleine die Artikel zum Schadensersatz, jedes einzelnen Menschen zu schützen. zur Sanktion bei Verstößen und zur Auslegung und Überwachung der Konvention lassen daran berech- Wir sind uns aber doch hoffentlich auch darüber tigte Zweifel aufkommen. Unakzeptabel ist es, daß einig, daß wir nicht nur Ethik einfordern, sondern im die Klage- und Anrufungsmöglichkeiten sehr stark Umgang mit diesen sensiblen Fragen selbst eine beschränkt bleiben. hochstehende Diskussionsethik einzuhalten haben. Dazu gehört, daß wir alles unterlassen, was in der Öf- Gerade weil manche Artikel allgemein gehalten fentlichkeit und besonders bei den Betroffenen unnö- sind oder die Züge eines Formelkompromisses tragen tige Ängste auslösen und fördern könnte. Wir dürfen - wie die nicht zustande gekommene Einigung über bei diesem Thema nicht emotional überzeichnen und die Weitergbabe von genetischen Testergebnissen -, Schlagworte gebrauchen, sondern wir müssen diffe- ist eine Bewertung des Konventionsentwurfes ohne renziert aufklären und besonders verantwortungsvoll die - nicht vorliegenden - Zusatzprotokolle notwendi- diskutieren. Erfreulicherweise tun wir das ja auch im- gerweise nur vorläufig. Die Sorge bleibt, durch die Zu- mer wieder untereinander, und dabei können Ant- satzprotokolle weitere Einschränkungen beim ohne- worten auf diese sensiblen Fragen im kleinen Kreis hin geringen Schutzniveau hinnehmen zu müssen. manchmal leichter gesucht werden. Vollkommen unakzeptabel bleiben die spezifi- Selbstverständlich soll das aber nicht heißen, daß schen Bestimmungen für sogenannte nichteinwilli- wir keine öffentliche Diskussion wollen. Diese Kon- gungsfähige Menschen. Unabhängig von der Frage, vention wurde nach anfänglichen Fehlern ausführ- was eigentlich genau darunter zu verstehen ist, wol- lich öffentlich diskutiert - für völkerrechtliche Ver- 11860 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Sigrun Löwisch träge ein ganz außergewöhnlicher Vorgang, aber na- Wenn der Erhalt des Lebens aber oft nur medizini- türlich ein notwendiger. Die bisherige Diskussion hat schen Forschungen zu verdanken ist, frage ich mich dazu geführt, daß sich die Parlamentarische Ver- persönlich, ob wir dann nicht konsequenterweise bei sammlung des Europarates einige wesentliche Dinge Art. 17 Abs. 2 ja sagen müßten, zumindest was die auf Antrag der deutschen Parlamentarier, denen Forschung an Kindern und für Kinder angeht; denn auch ich heute noch einmal dafür danken möchte, zu junge Kinder, besonders aber Säuglinge und Klein- eigen gemacht hat. kinder, sind ausnahmslos nicht in der Lage, For- schungsvorhaben zuzustimmen. Sie werden es auch Nun ist es selbstverständlich unser gemeinsames nie sein. Das kann aber doch nicht bedeuten, daß Anliegen, daß diese Empfehlungen in der Beratung Forschungsvorhaben in der Pädiatrie nicht mehr des Ministerkomitees ihren Niederschlag finden. möglich sein können, nur weil der unmittelbare Nut- Herr Minister Schmidt-Jortzig, ich freue mich, daß zen bei der einen Gruppe von Kindern nicht gegeben Sie noch da sind. Die Bundesregierung muß nun dar- ist. auf einwirken, daß diese Punkte in die Konvention eingearbeitet werden, zum Beispiel bei der Embryo- Niemand von uns, die wir hier sitzen, will das Rad nenforschung. Ihre Vorgängerin, unsere Kollegin der Erfolge - zum Beispiel bei der Heilung von Leu- Frau Leutheusser-Schnarrenberger, sagte dazu in der kämien im Kindesalter, die Erwachsene nicht haben, letzten Bundestagsdebatte über dieses Thema: oder bei dem Verhindern der Kinderlähmung durch Impfungen - zurückdrehen. Da bei diesen und ähnli- Mit uns darf es kein Zurückgehen hinter den mit chen Erfolgen bei der Bekämpfung von Kinderkrank- dem deutschen Embryonenschutzgesetz erreich- heiten immer auch der Vergleich mit gesunden Kin ten Schutzstandard geben. -dern, die aber dadurch keinen unmittelbaren Nutzen haben, unabdingbar war und ist, hätte es bei einem Das gilt für uns auch heute noch, und das geben wir Verbot der Forschung an Kindern diese Erfolge mit Ihnen heute erneut - ich denke, im Namen des gan- höchster Wahrscheinlichkeit nicht gegeben. zen Hauses - mit auf den Weg nach Brüssel. Hinter jeder therapeutischen Erfolgsmeldung aus (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Onkologie steht eine jahrelange Grundlagenfor- schung, zu der auch Blutproben von gesunden Kin Die verbrauchende Embryonenforschung muß verbo--dern unerläßlich sind; denn man kann aus Befunden ten werden, auch wenn die Embryonen bei künstli- bei Erwachsenen nicht einfach auf die Situation bei cher Befruchtung überzählig sind. In A rt. 18 Abs. 1 Frühgeborenen, Neugeborenen, Säuglingen und des Entwurfs des Menschenrechtsübereinkommens Kindern schließen. zur Biomedizin heißt es: Selbstverständlich muß es zum Schutze der Kinder Soweit das Recht ... Forschung an Embryonen in bei Forschungsvorhaben strenge Bedingungen ge- vitro zuläßt, gewährleistet es einen angemesse- ben. Diese sind in der Konvention verankert. Hier nen Schutz des Embryos. lasse ich durchaus mit mir reden. Wir sollten gemein- sam versuchen noch bessere Bedingungen zu finden Herr Minister, hinterfragen Sie bitte in Brüssel, was oder schon verankerte Bedingungen zu verschärfen. „angemessen" genau bedeutet. Dem Entwurf des er- Aber ich sehe voraus, daß wir den Leidensdruck von läuternden Berichtes ist dies nicht zu entnehmen. Eltern und Kindern nicht aushalten werden, wenn diese das Recht auf medizinischen Fortschritt und Eine weitere, dringende Bitte an die Bundesregie- Heilung bei uns einfordern. rung ist, daß sie darauf einwirkt, daß der Entwurf des erläuternden Berichts zur Bioethik-Konvention zuerst Ich bitte Sie deswegen eindringlich, mit uns ge- im Lenkungsausschuß abschließend beraten wird. meinsam diese Punkte in diesem Hause zu überden- Ich meine, das ist unerläßlich für eine sachgerechte ken. Wir sind weiterhin zu gemeinsamen Gesprä- Würdigung der Konvention insgesamt; denn der er- chen und zur Zusammenarbeit bereit. läuternde Bericht ist eine verbindliche Interpretation der Konvention und notwendig für das Verständnis Vielen Dank. ihrer unbestimmten Begriffe und offenen Formulie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. rungen. Schon deshalb wäre eine abschließende Be- sowie bei Abgeordneten der SPD) ratung im Ministerkomitee verfrüht. Auch wenn das Ministerkomitee erst Mitte November endgültig be- schließen würde, würde es uns mit dieser Vorgehens- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die weise vor den Kopf stoßen. Das wäre nicht richtig. Aussprache. Zu einer weiteren Frage. Besonders großer Diskus- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage sionsbedarf besteht sowohl in den Parlamenten wie auf Drucksache 13/5435 an die in der Tagesordnung auch in der Öffentlichkeit zu Art. 17 Abs. 2, in dem aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der ge- geregelt ist, wann bei Menschen, die nicht einwilli- meinsame Entschließungsantrag der Fraktionen der gungsfähig sind, geforscht werden darf, ohne daß SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- diese - ich unterstreiche das - einen unmittelbaren sache 13/5841 soll in dieselben Ausschüsse überwie- Nutzen davon haben. Das Diakonische Werk schreibt sen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich ganz zutreffend in einer seiner Stellungnahmen: sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die „Das Leben hat Vorrang vor anderen Zwecken." Überweisungen so beschlossen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11861 Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: auch als ein Votum für die Existenzberechtigung des BfV werten. Beratung der Unterrichtung durch die Parla- mentarische Kontrollkommission (PKK) Die weiten Felder, die die PKK sorgfältig begleitet und über die sie sich regelmäßig intensiv berichten Bericht über die Kontrolltätigkeit gemäß § 6 läßt, spiegeln sich in dem neuen Be richt der PKK wi- des Gesetzes über die parlamentarische Kon- der. Ich möchte speziell auf einige Punkte eingehen: trolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes Erstens. Der Plutoniumschmuggel von Moskau nach München im Juni 1994 hat selbstverständlich (Berichtszeitraum: Juni 1994 bis Juni 1996) die Parlamentarische Kontrollkommission wiederholt - Drucksache 13/5157 - beschäftigt. Nach der Einsetzung des Untersu- chungsausschusses des Bundestages hat die PKK Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für ihre eigenen Erhebungen unterbrochen. Aber nach 'die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich Vorliegen des Abschlußberichts des Untersuchungs- sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so ausschusses wird die PKK zu prüfen haben, ob der beschlossen. BND oder einzelne seiner Mitarbeiter Fehler, Ver- Ich eröffne die Aussprache und erteile zur Bericht- säumnisse und Unterlassungen zu vertreten haben, erstattung dem Abgeordneten Willfried Penner das die im Untersuchungsausschuß nicht abschließend Wort . behandelt werden konnten. Insbesondere wird auch die Frage zu klären sein, ob die Aufsicht durch den Chef des Bundeskanzleramts so funktioniert hat, wie Dr. Willfried Penner (SPD): Herr Präsident! Meine es gesetzlich vorgesehen ist. Damen und Herren! Es ist der dritte Bericht, den die Parlamentarische Kontrollkommission dem Plenum Zweitens. Zu den jüngst bekanntgewordenen Ver- und damit der Öffentlichkeit vorstellt. Der Be richt be- suchen deutscher Finnen, illegal Anlagenteile, die legt, daß die parlamentarische Kontrolle der Nach- zur Herstellung von Chemiewaffen geeignet sind, richtendienste im gesetzten und gesetzlichen Rah- von Deutschland über Belgien nach Libyen zu ver- men stattfindet und auch funktioniert. bringen, stelle ich nach einem einstimmigen Votum der PKK fest: Es gibt für eine Beteiligung, eine Bei- Zuvörderst möchte ich dem früheren Präsidenten hilfe oder eine unterstützende Mittäterschaft des des Bundesnachrichtendienstes, Herrn Konrad Porz- BND, wie vereinzelt behauptet, keine tatsächlichen ner, für seine engagierte Tätigkeit danken. Der BND Anhaltspunkte. Anderslautende Behauptungen ent- hat im Berichtszeitraum schwierige Zeiten erleben behren jeder Grundlage. Ich wiederhole: Diese Äu- müssen, die nicht zuletzt durch die persönliche Inte- ßerung beruht auf einem einstimmigen Votum der grität des bisherigen Präsidenten durchgestanden PKK. werden konnten. Drittens. Die Parlamentarische Kontrollkommission (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- strebt die Anpassung der Bundeshaushaltsordnung ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) an, um die ihr durch die Novelle des PKK-Gesetzes Der neue Präsident des Bundesnachrichtendien- auferlegte Aufgabe der Kontrolle auch des Haus- stes, Herr Dr. Geiger, hat erleben müssen, wie stür- haltsvollzugs bei den Diensten zu ermöglichen. Diese Kontrolle würde erschwert, wenn nicht gar un- misch es in seiner neuen Funktion zugehen kann - dies um so mehr, als auch beim BND tiefgreifende möglich gemacht, wenn der Kommission die nach jet- Veränderungen angesichts einer fundamental verän- ziger Rechtslage nur dem Vertrauensgremium zuge- derten Weltlage durchgesetzt werden müssen. Erste henden Prüfungsberichte des Bundesrechnungshofs Schritte sind eingeleitet; weitere müssen folgen. vorenthalten oder nur nach jeweiliger Zustimmung Auch deshalb ist die Entscheidung von Herrn Dr. durch die Mitglieder des Vertrauensgremiums zu- Geiger richtig, in der Öffentlichkeitsarbeit nicht zu gänglich gemacht würden. zaghaft zu sein. Viertens. Erwähnenswert ist auch die verbesserte Die Dienste leisten nach wie vor einen notwendi- Beteiligung des Personalrats des BND in Personal- vertretungsangelegenheiten. Diese Regelung war gen Beitrag zur inneren und äußeren Sicherheit der überfällig. Es bleibt das Problem einer Mitwirkung Bundesrepublik Deutschland. Gerade im Hinblick solcher Angehöriger des Dienstes, die als Soldaten auf die politischen Erschütterungen in der früheren aus dem Geschäftsbereich des BMVg abgeordnet Sowjetunion und die damit verbundenen Unwägbar- sind. Für diesen Personenkreis sind weiterhin nur die keiten auch für Deutschland und gewiß auch im Hin- eingeschränkten Mitwirkungsrechte nach dem Sol- blick auf die vom nordafrikanischen und nahöstli- datengesetz maßgebend. Das darf nicht so bleiben. chen Raum her bestimmten, immer aggressiver wer- denden Unruheherde mit Wirkung bis nach Europa Ein abschließendes Wo rt zur Kontrollfähigkeit und hin ist Informationsbeschaffung für verantwortliche zum Inhalt der Kontrolle der PKK. Erstens. Nicht im- deutsche Politik auch über die diskreten Möglichkei- mer ist die Bundesregierung den von Gesetzes we- ten der Auslandsaufklärung geboten. gen statuierten Berichtspflichten so nachgekommen, wie es vom Gesetz gemeint ist. Was die Inlandsinformation angeht, sind die Rufe nach dem BfV aus allen politischen Lagern - aus un- Zweitens. Die Kontrolle der Dienste durch das Par- terschiedlichem Anlaß, mit unterschiedlicher Zielset- lament erscheint zu differenziert. Das heißt, Konzen- zung - unüberhörbar. Das kann man ohne Zwang tration der Kontrolle und nicht Aufgliederung der 11862 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Willfried Penner Kontrolle in verschiedene Gremien erscheint wün- Kontrolle durch das Parlament für zu zerfasert. Herr schenswert. Penner hat sich auch dazu geäußert. Wir sollten ein- mal daran denken, G 10, AWG und PKK unter einem Drittens. Was den Inhalt der Kontrolle angeht, so Dach zusammenzuführen. besteht Anlaß, darauf hinzuweisen, daß auch die Dienste Teil des demokratischen Ganzen sind und (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr rich folglich einen Anspruch haben, als solches akzeptiert-tig!) zu werden. Damit ist ein die parlamentarische Kon- trollpflicht überwucherndes diffuses Mißtrauen nicht Das hätte mehr Effektivität, wäre auch sicherlich für vereinbar. Andererseits ist nicht jede Aktion der die Exekutive etwas klarer. Dienste schon deshalb in Ordnung, weil es dabei um (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) staatliches Handeln oder gar um Regierungshandeln geht. Ich möchte an die Erklärung der Bundesregierung Meine Damen und Herren, die parlamentarische vom 12. März 1992 erinnern, in der sie zugesagt hat, Kontrolle der Dienste mußte gegen hinhaltende, „daß es Angehörigen der Dienste gestattet ist, sich bängliche Zweifel der Exekutive durchgesetzt wer- zur Verbesserung der Aufgabenerfüllung mit Hin- den. Das Parlament sollte alles daransetzen, die da- weisen an die PKK zu wenden, soweit die Leitung mit verbundenen Möglichkeiten zu nutzen, sie nicht der Dienste entsprechenden Verbesserungsvorschlä- zu schmähen, aber, wo immer es geht, sie auszu- gen nicht gefolgt ist." Ich halte die Regelung zumin- dest insoweit für erweiterungsfähig, als ich nicht bauen. ganz einsehe, wieso Verbesserungsvorschläge immer Damit es nicht vergessen wird: Das Sekreta riat - erst dann zu uns kommen können, wenn sie vorher allen voran Ministerialdirektor Besch und Ministeri- auf dem Dienstwege abgelehnt worden sind. Warum alrat Schmidt - hat im Rahmen seiner Möglichkeiten soll es nicht möglich sein, Verbesserungsvorschläge - handwerklich erstklassige Arbeit zur Unterstützung sicher nicht hinter dem Rücken des Vorgesetzten, der Parlamentarischen Kontrollkommission geleistet. aber parallel mit einer Kenntnisnahme durch den Auch dies sollte einmal, verbunden mit einem Wo rt Vorgesetzten - auch der PKK zukommen zu lassen? des Dankes, von dieser Stelle aus geäußert werden. Ich frage mich auch: Warum können es immer nur Schönen Dank. Verbesserungsvorschläge sein? Interessant wären auch Kritikpunkte oder Mängelanzeigen. Wenn wir Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun gebe ich schon Transparenz wollen - ich halte das für richtig das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Zeitlmann. und halte auch die Linie des Präsidenten Geiger für richtig -, dann sollten wir uns auch überlegen, ob wir hier nicht zu weiteren Schritten kommen können, um Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Herr Präsident! die Transparenz zwischen den Diensten und dem ge- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist eine heimen Gremium der Kontrollkommission zu intensi- gesetzliche Regelung, daß wir eine Kontrollkommis- vieren. sion haben. Es ist gut, glaube ich, daß wir hier berich- ten. Der Be richt ist erschöpfend, was die Themenbe- Man sollte sich für die Zukunft vielleicht auch vor- reiche anbelangt. Ich will mich darauf beschränken, nehmen, den engen Kontakt mit der Personalvertre- über die Arbeit ganz allgemein und vielleicht über tung der Dienste zu suchen. Wir müssen uns fragen, die Chancen einer Erweiterung des Tätigkeitsumfel- ob wir uns nicht vornehmen sollten, mindestens ein-, des zu reden. zweimal im Jahr das Gespräch mit diesem gewählten Gremium der Dienste zu suchen. Wenn die Dinge in Der Vorsitzende hat ganz richtig darauf hingewie- der Öffentlichkeit schon immer etwas suspekt darge- sen, daß es im Berichtszeitraum eine gute Arbeit war. stellt werden, wäre es durchaus vertretbar, den ge- Wir wissen alle, daß es politische Meinungsverschie- wählten Vertretern der Mitarbeiter der Dienste in der denheiten gibt. Kollege Such behauptet immer, man PKK eine Bühne zu bieten, auf der sie sich auch ih- könnte die Dienste irgendwann entbehren. Er kriti- rerseits immer wieder einbringen können, auf der sie siert und mahnt öffentlich an - wie sich aus dem Be- versuchen können, sozusagen ein Gegengewicht zu richt ergeben hat -, daß die Kontrolle nicht so sei, wie der öffentlichen „Bedenkenträgerei" zu bilden. Ich sie seiner Meinung nach sein sollte. Er hat kürzlich glaube, hiermit würden wir der Personalvertretung auch erklärt, daß er im Kontrollieren durch Kollegen der Dienste einen guten Dienst erweisen. behindert werde. Das ist alles unter der Rubrik politi- sche Stimmung zu verbuchen. Insgesamt glaube ich, daß wir in der Öffentlichkeit und in diesem Parlament immer wieder gemeinsam In der PKK ist die Arbeit sehr, sehr sachlich und deutlich machen müssen, daß wir die Dienste brau- auf Zusammenarbeit gerichtet. Ich meine, die Kon- chen, auch wenn sich die Situation in der Welt we- trolltätigkeit funktioniert. Der öffentlichen Kritik an gen der Entspannung anders darstellt als früher. den Diensten sollte begegnet werden. Ich halte es - Wenn man an Waffenexport, an Drogenbedrohung, auch mit Blick auf die Dienste - für unerträglich und an organisierte Kriminalität und wenn man vielleicht unfair, daß man in der Öffentlichkeit immer anders auch an das große Feld der Wirtschaftsspionage redet als hi den geschlossenen Räumen. denkt, so wird es, fürchte ich, immer Aufgaben für Ich will ein paar Bereiche nennen, bei denen wir demokratische Dienste geben, die - das ist auch si- meiner Meinung nach etwas reformieren sollten: Er- cher - immer einer Kontrolle bedürfen, damit die stens. Im Sinne des schlanken Staates halte ich die Dinge im Lot eines demokratischen Staates bleiben. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11863 Wolfgang Zeitlmann Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sich am Verfassungsschutz ein gutes Beispiel neh- men. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Öffentlichkeitsarbeit ist auch ein Element der Kon- trolle und der Selbstkontrolle. Es bringt den Dienst Herr Kollege Norbe rt Vizepräsident Hans Klein: aus dem zum Teil selbst verschuldeten Schlapphut rt. Gansel, Sie haben das Wo milieu heraus. Man kann auch über Erfolge und Lei- stungen berichten, ohne Geheimnisse zu verraten. Norbert Gansel (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Ich meine, daß das im Interesse der Mitarbeiter not- men und Herren! Wer sich als Kontrolleur zu Nach- wendig ist. richtendiensten äußert, steht leicht im Verdacht, sich Auch mein zweiter Vorschlag erfolgt im Interesse zwischen Paranoia und Naivität zu bewegen. Ich will das Risiko eingehen und als Sprecher der SPD-Bun- der Mitarbeiter. Die Dienste sind im Interesse der in- destagsfraktion in der Parlamentarischen Kontroll- neren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik in der kommission für die Nachrichtendienste ein paar er- Nachrichtengewinnung tätig. Wir brauchen da- gänzende Bemerkungen machen. für qualifizierte und motivierte Mitarbeiter, die sich an Gesetz und Recht der Bundesrepublik und an das Ich verbinde das mit einer bislang positiven Erf ah- Völkerrecht halten müssen. rung: Unsere Arbeit verläuft nicht entlang der Linie Wer sich in diesem Rahmen bewegt, hat es bei der zwischen Regierung und Opposition und erst recht Nachrichtengewinnung schwerer als ähnliche Dien- nicht entlang der Linie zwischen Parteien. Das ist - ste manch anderer Staaten, und er ist dabei in Grenz- eine positive Erfahrung, und deshalb ist das, was ich situationen stärker gefährdet und manchmal auch sage, vielleicht auch im Sinne manch anderen Kom- existentiell gefährdet. Das gilt besonders, wo es um missionsmitgliedes. die Verhinderung der Weiterverbreitung von Mas- Unsere Aufgabe ist schwierig. Erstens. Wir haben senvernichtungsmitteln geht. Wir sollten das nie ver- mehr Mitarbeiter zu kontrollieren, als das Auswär- gessen und dem Respekt zollen. tige Amt weltweit hat, und größere Finanzmittel, als Mit dem Ende des Kalten Krieges muß die Aufga- sie etwa der Etat des Gesundheitsministeriums um- benstellung der Dienste überprüft werden. Die Zahl faßt. der Mitarbeiter kann reduziert werden, aber nicht Zweitens. Die Kommission tagt geheim. Abgeord- nach dem Motto der Bundesregierung - allgemeine nete sind aber von öffentlichen Leistungsnachweisen Kürzung von 20 Prozent - oder des F.D.P.-Fraktions- abhängig. Deshalb ist die Kontrollarbeit für uns alle vorsitzenden - 50 Prozent reduzieren - oder des Kol- nur eine parlamentarische Nebentätigkeit. Dabei legen Such von den Grünen, der eine Null-Lösung müßten die Dienste in jeder Beziehung mehr Zuwen- mit Sozialplan fordert. So kann man mit den Mitar- dung erhalten. beitern und mit den Diensten nicht umgehen. Und deshalb: Wir brauchen ein klares Konzept für die Drittens. Wir sollen die Bundesregierung kontrol- Aufgabenstellung und die Personalführung. Es ist lieren, aber wir sind darauf angewiesen, daß sie sich Aufgabe der Bundesregierung, uns dieses Konzept durch die Einhaltung der ihr nach dem Gesetz oblie- vorzulegen, und ich fordere es ein. genden Informationspflichten zu „Vorkommnissen von besonderer Bedeutung" auch kontrollieren läßt. Mein dritter Vorschlag: Es ist oft die Frage gestellt Wir bewegen uns also zwischen Mißtrauen und Ver- worden, ob die Kontrolle ausreichend ist. Sie kann trauen und müssen dabei in gemeinsamer Verant- verbessert werden. Sie ist schon besser als in ande- wortung der Gefahr der Kumpanei entgehen. ren Staaten. Man kann darüber diskutieren, ob man einen Geheimdienstbeauftragten braucht - so ähn- Viertens. Wir sind auf die öffentliche Berichterstat- lich wie einen Wehrbeauftragten -, aber niemand tung über die Nachrichtendienste angewiesen. Wir käme doch auf die Idee, den Verteidigungsausschuß brauchen eine kritische Presse, die über Fehlleistun- abzuschaffen, weil es einen Wehrbeauftragten gibt. gen und Affären berichtet. Diesen nachzugehen ist In jedem Fall bleiben Aufgaben für den Kontrollaus- auch Aufgabe unserer Kommission, ist Teil unserer schuß bestehen. Sie könnten allerdings in dem Sinne Kontrolle. ergänzt und gestrafft werden, wie es der Kollege Zeitlmann vorgeschlagen hat. Auch wenn nicht alles stimmt, was in der Zeitung steht oder im Fernsehen berichtet wird: Die Kontroll- Das wichtigste Element der Kontrolle ist und bleibt kommission ist nicht für das Bild der Nachrichten- das Haushaltsrecht des Parlaments. Wer die Zahlen, dienste in der Öffentlichkeit zuständig und erst recht die ehemalige Präsidenten des Bundesnachrichten- keine Dementiermaschine. Bei falschen und gravie- dienstes über Etat und Mitarbeiter in der Öffentlich- renden Vorwürfen an die Dienste und ihre Mitarbei- keit nennen, mit den Haushaltsansätzen in der Bun- ter müssen wir uns aber schützend vor sie stellen, destagsdrucksache vergleicht, stellt fest, daß da ir- denn Kontrolle enthält auch ein Element der Für- gend etwas nicht stimmen kann. Im Be richt der Kon- sorge. Das haben wir auch in Einzelfällen getan; aber trollkommission steht dazu, „daß wir uns bemühen, es muß die Ausnahme bleiben. das Haushaltsrecht transparenter und konzentrierter zu machen". Wir sind inzwischen ein Stückchen wei Ich verbinde das mit der Aufforderung an die Dien- ter. ste, selbst mehr für ihre öffentliche Darstellung und für die Öffentlichkeitsarbeit zu tun. Das gilt insbe- Ich will den Abstimmungen im Vertrauensmänner- sondere für den Bundesnachrichtendienst. Er kann gremium und im Haushaltsausschuß und der Ein- 11864 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Norbert Gansel sichtsfähigkeit der Bundesregierung nicht vorgrei- ber anbieten. Wir werden Sie weiter so kontrollieren, fen. Aber wir stehen in der verfassungsrechtlichen wie wir es bisher getan haben. Pflicht, das Königsrecht des Parlaments, das Haus- haltsrecht des Bundestages, auch bei den Nachrich- Für diese Arbeit brauchen die Mitglieder der Kon- tendiensten zu wahren. Der Bundestag kann nicht im trollkommission das Vertrauen ihres, unseres Parla- öffentlichen Plenum über Wirtschaftspläne abstim- ments. Wir sind ja in einer schwierigen Situation: Wir men und erst recht nicht über operative Maßnahmen bürgen gewissermaßen für die Arbeit, die wir leisten, und die Gelder dafür. Aber die Abgeordneten des gegenüber Ihnen und gegenüber der Öffentlichkeit, Bundestages müssen bei der Abstimmung über das aber wir sind selbst nicht in der Lage, die Kontrolle in jährliche Haushaltsgesetz wissen, wie hoch die Ge- der Öffentlichkeit des Parlaments im Detail darzu- samtkosten eines jeden Nachrichtendienstes sind, stellen. Wir brauchen also eine Po rtion Vertrauen, beim Bundesnachrichtendienst wie beim Verfas- und auch darum bitte ich. sungsschutz und beim Militärischen Abschirmdienst. Danke sehr. (Beifall des Abg. Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.] und der Abg. Ulla Jelpke [PDS]) (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) Der ungeschriebene Verfassungssatz von der Wahrheit und Klarheit des Haushalts bedeutet nicht, daß über jedes Detail im Bundestag abgestimmt wer- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- den muß. Aber er bedeutet, daß uns nichts Falsches lege Manfred Such. oder Verstecktes zur Abstimmung im Plenum vorge- legt werden darf. Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr (Beifall des Abg. Ge rt Weisskirchen [Wies- Präsident! Meine Damen und Herren! Nach jahrelan- loch] [SPD]) gen Widerständen haben Sie sich im letzten Jahr ent- Wenn da nichts an dem noch in der Beratung be- schlossen, einen Vertreter meiner Fraktion in das Gremium der Parlamentarischen Kontrollkommission findlichen Haushaltsentwurf korrigiert wird, werden zu wählen. Für diesen Vertrauensbeweis möchte ich wir es hier im Bundestag machen müssen. Die Initia- mich auch bei meinen Kollegen in der PKK bedan- tive liegt zunächst bei den zuständigen Ausschüssen und der Bundesregierung. ken. Zum Schluß ein Wort des Dankes an den zurück- Ich bin mit großen Erwartungen in die Sitzungen getretenen Präsidenten des Bundesnachrichtendien- der PKK gegangen, um dort gemeinsam mit den Ver- stes, Konrad Porzner, der mit viel Integrität und auch tretern der anderen Fraktionen das gesetzlich vorge- Tapferkeit sein Amt versehen hat und dem bei einer sehene Kontrollrecht ausüben zu können. Meine Er- wichtigen Personalentscheidung die Rückendeckung wartungen wurden nicht immer erfüllt. Dies hat ver- der Bundesregierung gefehlt hat. schiedene Gründe, auf die ich nur exemplarisch ein- gehen kann. (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Na! Na! - Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jetzt lobt Vorab: Wie das Bundesverfassungsgericht vor al- er doch einmal ein bißchen!) lem in seinen Abhörentscheidungen zur Anwendung Wir wünschen, daß der neue Präsident, Herr Geiger, des G-10-Gesetzes mehrfach ausgeführt hat, sind be- bei den notwendigen Entscheidungen, die er treffen stimmte Aktivitäten des Bundesnachrichtendienstes muß, diese Rückendeckung hat. Er hat sich durch jedenfalls rechtlich allenfalls dann hinnehmbar, seine Arbeit in der Gauck-Behörde dafür viel Ver- wenn unter anderem eine effektivere parlamentari- sche Kontrolle besteht. Dies ist trotz mehrfacher trauen erworben. Wir wollen ihm Mut machen für Rechtsänderungen derzeit nicht der Fall, weil zwi- seine Arbeit. schen einem geheim arbeitenden Dienst und dem Ich danke auch dem unter unbefriedigenden Um- Anspruch weitgehender Kontrolle ein strukturelles ständen ausgeschiedenen ehemaligen amtierenden Spannungsverhältnis besteht. Einfach gesagt: Ge- Vizepräsidenten des BND, Admiral Güllich, für seine heimdienste und Kontrolle schließen sich im Grunde Arbeit. Auch er hat sich Respekt erworben. aus.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Be rnd (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [PDS]) Schmidbauer [CDU/CSU]) Wir wünschen auch dem neuen Präsidenten des Es ist den Medien zu verdanken, daß die soge- nannten BND-Skandale ans Tageslicht kamen. Dar- Bundesamtes für Verfassungsschutz und auch sei- aufhin mußten sich zahlreiche parlamentarische Un- nem neuen Vizepräsidenten für ihre Arbeit eine glückliche Hand im Rahmen unserer Gesetze. tersuchungsausschüsse immer wieder mit den Ge- heimdiensten befassen. Das Problem der Kontrolle Wir leisten dazu unseren Beitrag, indem wir sie liegt also zu großen Teilen in der mangelhaften und und auch Sie, Herr Schmidbauer, kontrollieren, der lückenhaften Unterrichtung der zuständigen Abge- Sie als Staatsminister im Bundeskanzleramt zwar ordneten. Es ist hervorzuheben, daß diese Unterrich- nicht für die Dienste verantwortlich sind - das ist der tung nach meinen Erfahrungen nicht durch den BND Chef des Bundeskanzleramtes -, der Sie uns aber zur oder das Bundesamt für Verfassungsschutz bzw. den Verantwortung angeboten werden und sich auch sel- MAD blockiert wird, sondern durch die Bundesregie- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11865

Manfred Such rung selbst, und zwar in Gestalt unseres Staatsmi- tern der Dienste hatte ich immer den Eindruck, daß nisters, Herrn Schmidbauer. die Kontrolle durch die Kommission akzeptiert wurde. Das gleiche ist von Herrn Staatsminister (Widerspruch des Abg. Wolfgang Zeitlmann Schmidbauer nicht zu sagen. Wie er öffentlich er- [CDU/CSU]) klärte, fühlte er sich durch eine Vielzahl von Fragen Es wird offenbar immer nur über das berichtet, was gestört. der Bundesregierung opportun erscheint. Die PKK- Mitglieder können oft nur dasjenige aufklären, was Den neuen Präsidenten des Bundesnachrichten- sie ohnehin schon aus anderen Quellen erfahren ha- dienstes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz ben. wünsche ich eine glückliche Hand. Ich unterstütze ausdrücklich die Forderung von Herrn Geiger, in die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Arbeit des Bundesnachrichtendienstes mehr Trans- Selbst die 1992 beschlossene, aber nur dürftige Er- parenz zu bringen. weiterung der Kontrollbefugnisse von PKKMitglie- dern bis hin zum Akteneinsichtsrecht und Verneh- Ich danke Ihnen. mungsrecht von Bediensteten stellt keine eigentliche Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten dar. Es ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nämlich für einen Abgeordneten kaum zu leisten, und bei der PDS - Wolfgang Zeitlmann diese Kontrolle ohne entsprechenden Unterbau zu [CDU/CSU]: Du kannst dir nicht überlegt haben, was du gesagt hast! - Erwin Mar- praktizieren. - schewski [CDU/CSU]: Er sollte keine Inter- ( [CDU/CSU]: Mit geisti- views mehr geben! Das wäre noch besser!) gem Überbau wäre es besser als mit Unter- bau!) Ein anderes Mitglied der PKK hat das einmal so aus- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt un- gedrückt: „Die Häuptlinge haben keine Indianer serem Kollegen Dr. Burkhard Hirsch. zum Spurensuchen." Erfreulicherweise gibt es jedoch seit der Münche- ner Plutonium-Affäre eine breite Diskussion - sie Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine wurde hier fortgesetzt - über die Verbesserung der sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Tätig- Kontrolle. Ich vertrete die Auffassung, daß die PKK keit des Nachrichtendienstes ist so nüchtern, wie der mit einem entsprechenden Unterbau eine effektivere Kreis der anwesenden Kollegen klein ist. Art der Kontrolle darstellt. Ich habe mich bei dem, was Herr Kollege Such Weiterhin ist auch das Selbstverständnis der PKK eben vorgetragen hat, gefragt: Wenn Sie, Herr Kol- gemeinsam und neu zu definieren, frei von Frakti- lege Such, wirklich der Meinung sind, daß Nachrich- onszwängen. Neben der selbstverständlich erschei- tendienst und parlamentarische Kontrolle nicht ver- nenden Beteiligung aller Fraktionen und der Gruppe einbar sind, warum vergeuden Sie dann Ihre Zeit in im Bundestag ist zu fragen, ob die Fraktionen mit der PKK? gleicher Stärke in der PKK vertreten sein sollten. Zum Selbstverständnis der PKK-Mitglieder gehört (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) auch, daß sie sich nicht als Teil der Bundesregierung und schon gar nicht als Teil des Bundesnachrichten- Ich kann das überhaupt nicht verstehen. Lassen Sie dienstes oder der anderen Dienste verstehen. Die es doch! PKK ist auch kein Personalrat des Bundesnachrich- tendienstes; der ist do rt bereits installiert. Wir haben uns in der PKK Rechte verschafft - auch im Einverständnis mit der Bundesregierung, und Abzuwarten bleibt auch das Ergebnis des Pluto- zwar exakt mit dem Kollegen Schmidbauer -, die vor- nium-Untersuchungsausschusses, der sich ebenfalls her nicht vorhanden waren: die Akteneinsicht, die zur Frage der wirksamen Kontrolle äußern wird. Sie erwähnt haben, und die Möglichkeit, Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes zu zitieren und un- Fest steht: Solange Geheimdienste in Deutschland mittelbar zu befragen. arbeiten, sind die Möglichkeiten zu deren Kontrolle erheblich auszubauen. (Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Zum Schluß möchte auch ich meinen Dank - der NEN]: Das reicht aber doch nicht!) Vorsitzende hat das schon getan - an die Mitarbeite- rinnen und Mitarbeiter des Sekreta riats der PKK aus- - Na gut, lassen Sie uns fortfahren und darüber re- drücken. Ohne sie wäre das nicht möglich gewesen, den, was weiter zu tun ist. - Wir bürgen dafür - wie was wir an Arbeit in der Kommission leisten konnten. der Kollege Gansel gesagt hat -, daß der Nachrich- Ich möchte meinen Dank aber auch an die Mitarbei- tendienst kontrolliert wird, wenn wir hier auch nicht terinnen und Mitarbeiter des Bundesnachrichten- sagen können, was wir im einzelnen tun, weil wir der dienstes, des Bundesamtes für Verfassungsschutz gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. und des MAD zum Ausdruck bringen, die sich nach Ich bin es leid, daß immer wieder der Eindruck er- ihren Möglichkeiten bemüht haben, die Arbeit der weckt wird, wir wollten oder könnten unsere Arbeit Kommission zu unterstützen. Gerade bei den Vertre- nicht tun. Das hat mit der Wirklichkeit der Tätigkeit 11866 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Burkhard Hirsch in der Parlamentarischen Kontrollkommission nichts Wir sollten auch die Möglichkeit haben, daß diese zu tun. Mitarbeiter oder Personen unseres Vertrauens die Sitzungen intensiver vorbereiten, als das zur Zeit (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - möglich ist. Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das habe ich nicht gesagt! Sie haben Ich frage mich, ob das Nebeneinander der ver- nicht zugehört!) schiedenen Gremien nach dem G 10 und dem Au- Noch einmal: Wenn Sie der Meinung sind, daß un- ßenwirtschaftsgesetz wirklich aufrechterhalten und sere Arbeit müßig ist - niemand zwingt Sie, sie fo rt fortgeführt werden muß. Ich glaube, daß wir das än- -zusetzen. Das muß ich einmal im Klartext sagen; wir dern sollten. haben Ihnen dies auch immer wieder persönlich mit- geteilt. In der Tat sollte die Zusammenarbeit mit dem Ver- trauensmännergremium des Haushaltsausschusses (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Draußen viel intensiver werden, als dies bisher der Fall ist. immer anders reden als drinnen!) Dazu sind eine ganze Reihe von Vorschlägen ge- macht worden; darüber sollten wir entscheiden. Das In diesem Be richt sind wir deutlicher geworden als alles bedeutet kein Mißtrauen gegenüber dem im vorhergehenden. Wer zwischen den Zeilen lesen Dienst. Er ist besser als sein Ruf. Er und sein Präsi- kann, kann eine Menge von dem erkennen, was wir dent genießen unser Vertrauen. sagen wollen. Ich denke, daß das Sammeln und Bewe rten von In- Darum möchte ich abschließend die Gelegenheit formationen oder Erkenntnissen über die Tätigkeit nutzen, dem Dienst für seine Arbeit zu danken, die in ausländischer Nachrichtendienste, über Proliferation, unserem gemeinsamen Interesse erfolgt. Wir wün- politischen Extremismus und internationalen Terro- schen uns die Beachtung der Arbeitsergebnisse, die rismus wichtig ist. Das alles sind Vorgänge, die man sie in unserem gemeinsamen Interesse finden müs- nicht überschätzen, die man aber auch nicht unter- sen. schätzen darf; denn es gibt sie. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Der Bundesnachrichtendienst arbeitet in einem sowie des Abg. Norbe rt Gansel [SPD]) Spannungsfeld: Auf der einen Seite muß er geheim arbeiten, sonst kann er nicht wirksam sein. Auf der anderen Seite ist eine parlamentarische Kontrolle für Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kolle- das Parlament ebenso wie für den Bundesnachrich- gin Ulla Jelpke. tendienst selbst unverzichtbar; denn er kann auf Dauer nur erfolgreich arbeiten, wenn er von dem po- litischen Vertrauen der Kräfte des Staates getragen (PDS): Herr Präsident! Meine Damen wird, dem er dient. Ulla Jelpke und Herren! Als ein Mitglied der Oppositionspar- Der Bürger muß sicher sein, daß der Dienst keine teien in diesem Parlament, der PDS, muß ich zuerst Politik auf eigene Faust betreibt und daß unsere Ge- einmal sagen, daß wir aus diesem Gremium eh aus- setze nicht verletzt werden. Wir wollen sicher sein, gegrenzt sind. daß das Gebot der Trennung zwischen Nachrichten- dienst und Polizei gewahrt wird. Wir wollen Haus- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist haltsklarheit und Effektivität. Ich sage Ihnen, daß die auch gut so!) Kontrolle in der Bundesrepublik Deutschland straffer und eingehender ist als in irgendeiner anderen De- - Das mag Ihre Meinung sein. Das macht Ihren Be- mokratie dieser Erde. richt, den Sie vorgelegt haben, in meinen Augen je- doch nicht ernsthafter. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Der Nachrichtendienst hat in den zwei Berichtsjah- Ich sage ebenso wie Herr Such: Tatsächlich - ich ren Erfolge und Mißerfolge gehabt. Er befindet sich bin nicht Mitglied Ihrer Kommission, kann das alles in einem Prozeß der Umstrukturierung, wie es nach aber in Zeitungen nachlesen - sind in diesem Be richt dem Ende des Kalten Krieges ganz unvermeidbar ist. Dinge enthalten, die zum Teil falsch - dazu werde ich Dieser Prozeß ist nicht abgeschlossen. Darum ist es gleich einige Beispiele nennen - bzw. unvollständig wichtig, daß wir das Gespräch mit dem Personalrat, wiedergegeben werden. Do rt werden Dinge darge- das wir begonnen haben, intensiv fortsetzen. stellt, die die Parlamentarische Kontrollkommission angeblich untersucht hat. In der Tat müssen wir uns auch überlegen - die Frage ist berechtigt -, ob und wie wir die Tätigkeit Ich meine auch, daß die Menschen in diesem Land der Parlamentarischen Kontrollkommission verbes- dem Bericht kaum entnehmen können, wie die parla- sern können; das gilt auch hinsichtlich der Mitarbei- mentarische Kontrolle der Geheimdienste abläuft. ter. Das ist keine Kritik an den Herren Besch und Man hat heute versucht, hier einiges darzustellen. Schmidt; ich schließe mich der Anerkennung, die Schweigepflicht und ähnliche Dinge machen es aber, Herr Penner ihnen gezollt hat, in vollem Umfang an. wie gesagt, eigentlich unmöglich, daß Mitglieder der Aber wir müssen das Sekretariat verstärken, damit Parlamentarischen Kontrollkommission irgend etwas wir uns nicht im vielen Kleinkram verlieren, sondern sagen. Wenn dann kritische Stimmen kommen, wie uns auf die wichtigen Punkte konzentrieren können. beispielsweise die des Kollegen Such, wird meiner Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11867 Ulla Jelpke Meinung nach immer gleich draufgedroschen. Ich Ulla Jelpke (PDS): Ja, ich weiß; ich habe leider nur finde das wirklich unmöglich. drei Minuten. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Heute Ich möchte wenigstens zum Schluß sagen: Eines war das doch harmlos! - Manfred Such unterstütze ich, und das ist die Zusammenlegung al- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt: ler Kontrollkommissionen. Ich möchte für die PDS Heute war das noch harmlos!) die Forderung erheben, daß dann alle Parteien, die hier im Hause sind, vertreten sein sollen. Geheim- - Ja, heute war es harmlos. Wir haben aber neulich dienste sind sowieso nicht zu kontrollieren, das hat hier eine Debatte geführt, die das sehr deutlich ge- mein Kollege Such schon gesagt. Aber wir könnten macht hat. ernsthaft mitreden und Ihre Arbeit vor allen Dingen (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sie erzäh- mit kontrollieren. len so viel dummes Zeug, das geht auf (Beifall bei der PDS - Wolfgang Zeitlmann keine Kuhhaut!) [CDU/CSU]: Wir wollen den Bock nicht zum Kollege Such hat angesprochen, daß es diverse Un- Gärtner machen!) tersuchungsausschüsse gegeben hat. Es gibt immer noch einen, der seine Arbeit nicht abgeschlossen hat. Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- Ich wundere mich über die hier geäußerte voreinge- sprache zu Tagesordnungspunkt 10. nommene Meinung, daß beispielsweise der Staatmi- nister Schmidbauer sozusagen von jeder Schuld Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: schon befreit ist, obwohl es den Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses noch gar nicht gibt. Beratung der Unterrichtung durch das Gre- mium gemäß § 9 Abs. i des Gesetzes zu Arti- (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Der wird kel 10 des Grundgesetzes (G 10-Gremium) künstlich am Leben gehalten!) Bericht gemäß § 3 Abs. 10 des Gesetzes zu Ar- Es gibt, wie gesagt, eine ganze Reihe von solchen tikel 10 des Grundgesetzes (G 10) über die Kommissionen. Durchführung der Maßnahmen nach § 3 die- ses Gesetzes Ich will ein Beispiel aus dem Be richt geben: Sie ju- beln darüber, daß zwei BND-Mitarbeiter in dem (Berichtszeitraum 1. Dezember 1994 bis 31. Mai Hamburger Prozeß freigesprochen worden sind. Sie 1996) sollen einen getarnten Expo rt nach Israel vorbereitet haben. Sie geben der Öffentlichkeit nicht zur Kennt- - Drucksache 13/5224 - nis, daß das Ge richt geurteilt hat, daß man nicht zwei Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Prügelknaben verurteilen wolle, wo doch im Grunde die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Da- genommen solche Geschäfte gang und gäbe sind. gegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so Das heißt: Der Richter hat hier sehr deutlich seine beschlossen. Kritik zum Ausdruck gebracht. Ich meine, zumindest das müßte zur Kenntnis gebracht werden, wenn man Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wo rt un- von Kontrolle redet. serer Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Erzählen Sie mal was von der Stasi, Frau Jelpke! Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Herr Präsident! Machen Sie mal einen Stasi-Bericht jetzt!) Meine Damen und Herren! Das G-10-Gremium ist ei- nes der Spezialgremien, die der Deutsche Bundestag - Herr Marschewski, bleiben Sie einmal ein wenig geschaffen hat, um in der Tat die Aufgabenerfüllung sachlich. und die Einhaltung der Grenzen durch die Dienste im Auftrage des Bundestages zu gewährleisten. Ge- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist nau das ist unsere Aufgabe. Wir sind gesetzlich ge- sehr sachlich, ein Stasi-Bericht!) halten, jährlich einen Be richt vorzulegen. Dieser Be- - Ich weiß nicht, was das im Moment mit der Stasi zu richt lag am 1. Juli 1996 zum erstenmal vor. Er umfaßt tun haben soll. Wie Sie wissen, ist das MfS aufgelöst einen Zeitraum von zwei Jahren. Das ist erklärungs- und ist von daher von der PKK nicht mehr zu kontrol- bedürftig. lieren. Das ist schon wirklich peinlich, was Sie hier Wir haben die Bestimmungen des Gesetzes nicht bringen. ganz eingehalten; das hat natürlich seine Gründe. Aber ich will noch ein anderes Beispiel anführen. Sie alle wissen, daß das G-10-Gesetz verändert Es gibt den Fall des Verfassungsschutzspitzels Klaus wurde; das ist am 1. Dezember 1994 beschlossen Steinmetz. Was finden wir darüber in dem Bericht? - worden. Die Dienste, insbesondere der BND, konn- Nichts. ten erst im Jahre 1995 mit der Umsetzung beginnen. Das Problem ist natürlich auch, daß wir, durch eine Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Sie sind Verfassungsbeschwerde ausgelöst, § 3 des G-10-Ge- am Ende Ihrer Redezeit. setzes - dort sind die hauptsächlichen Veränderun- gen vorgenommen worden - im Augenblick gar nicht (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Lassen so anwenden können, wie es das Gesetz im einzel- Sie, Herr Präsident! Es ist spät abends!) nen vorsieht. Vielmehr ist im Zusammenhang mit 11868 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Dr. Herta Däubler-Gmelin dieser Verfassungsbeschwerde eine einstweilige An- zen, oder an der Möglichkeit und an der Präzisierung ordnung beantragt worden; sie ist genehmigt wor- der Kontrollkriterien, die auch der Deutsche Bun- den. Es gibt eine Reihe von Beschränkungen, die ein- destag verändern müßte, daß wir im Grunde genom- fach beachtet werden müssen, was dazu führt, daß men dem, was wir hier vorgelegt bekommen, nicht sich die Tätigkeit im G-10-Gremium in der Anlauf- mehr entgegensetzen können als einen Blick auf die phase außerordentlich zäh gestaltet hat. Die Zusam- Landkarte oder gewisse Plausibilitätskriterien? menarbeit ist gut; ich kann auch in keiner Weise dar- So kann meiner Ansicht nach die notwendige Kon- über klagen, daß wir nicht informiert würden. Viel- trolle, ob die Grenzen der gesetzlichen Eingriffe in mehr bekommen wir die Auskünfte, die wir haben ein Grundrecht eingehalten werden oder ob die Auf- wollen. Die Probleme, die sich in diesem Zusammen- gaben der Dienste entsprechend der Zweckbindung hang stellen - ich werde darauf später eingehen -, - internationaler Terrorismus oder auch Proliferation liegen ganz woanders. oder Abwehr von Gefahren für die Bundesrepublik Jetzt liegt der Be richt vor. Wer ihn durchgelesen Deutschland - erfüllt werden, durch ein Gremium hat, weiß: Es steht nicht so sehr viel drin. nicht aussehen. (Ulla Jelpke [PDS]: Das kann man wohl Lassen Sie mich nochmals betonen: Die Zusam- sagen!) menarbeit ist gut. Die Auskunftsfreudigkeit der Dienste ist nicht zu beanstanden. Die Zusammenar- Das ist nicht nur ein Ergebnis der Tatsache, daß wir beit mit der Kommission ist ebenfalls sehr gut. Nur, zur Geheimhaltung verpflichtet sind - darauf wird der Kontrolleffekt kann von niemandem, der sich sich der Kollege Dr. Eylmann noch beziehen -, son- ernsthaft und auch mit dem Ziel der Effizienz an sol- dern es gibt in diesem Bereich ein paar Probleme, die che Dinge heranmacht, uneingeschränkt begrüßt wir einfach sehen müssen. werden. Es besteht nämlich das Problem, daß das Gremium Deswegen ist es meiner Meinung nach gut, wenn im Augenblick folgender Tätigkeit nachgeht: Auf wir darüber nachdenken, wie man das Ganze wirk- Antrag der Bundesregierung und mit Vorbereitung lich effizienter gestalten kann. Ich finde die Anre- der Dienste genehmigen wir die Bestimmungen, auf gungen, die der Kollege Zeitlmann aufgenommen Grund derer Einzelmaßnahmen bei nicht leitungsge- hat, deswegen ebenso nachdenkenswert wie einiges, bundenen Fernmeldeverkehren zum Eingriff in das was der Kollege Gansel oder auch der Kollege Hirsch Fernmeldegeheimnis vorgenommen werden können. gesagt haben. (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Ich denke, wir müssen uns, sobald die Entschei- Hirsch) dung aus Karlsruhe vorliegt, einfach einmal zusam- Die Frage, ob sich die Einzelmaßnahmen im Rahmen mensetzen und uns überlegen: Was ist die Aufgabe? von Verfassung und Gesetz halten, kontrolliert die Wie können wir vom Bundestag her unsere Aufgabe Kommission, die wir als Gremium wählen. effizienter gestalten? Wie können wir vor allen Din- gen dafür sorgen, daß wir das als Gremium, als Sach- Das klingt ungeheuer kompliziert. Ich habe das walter des Parlaments sowie der Bürger und ihrer deshalb formuliert, weil unsere Tätigkeit in der Tat Grundrechte, wahrnehmen können? Das wurde nicht eine sehr allgemeine und sehr abstrakte ist. Da sitzt nur im Zusammenhang mit dem Haushaltsrecht und das Problem. der PKK als Königsweg des Parlaments bezeichnet. Ich bin der Meinung: Der Deutsche Bundestag Ganz herzlichen Dank. wird in absehbarer Zeit, wenn die volle Anwendbar- keit dieses neuen § 3 so oder so gesichert sein sollte - (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) es kann durchaus sein, daß es noch die eine oder an- dere Veränderung geben muß - darüber debattieren, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das was das Gremium eigentlich wirksam kontrollieren Wort dem Kollegen Horst Eylmann. kann. Ich wiederhole: Es liegt nicht an irgendeiner Horst Eylmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Bremswirkung der Dienste oder auch an irgendei- Damen und Herren! Ich halte es für wenig sinnvoll, nem bösen Willen zum Beispiel institutioneller A rt, in den vielen zutreffenden Äußerungen der meisten diesem Fall nicht. Wir stellen vielmehr fest, daß die meiner Vorredner über Notwendigkeit, Bedeutung technischen Veränderungen, die es gegeben hat, so und Rang der Dienste nun noch etwas hinzuzufügen. gezielt gar nicht sein können, als daß die Bestimmun- Statt dessen möchte ich einige Zweifel an der Sinn- gen, die auf Vorschlag des Innenministers vom Gre- haftigkeit der Berichtspflicht zumindest für das Gre- mium beantragt werden, richtig kontrolliert werden mium zum Ausdruck bringen. können. Man muß sich diese komplizierten Fernmel- Nach § 3 Abs. 10 des G-10-Gesetzes soll das Gre- destrecken, die nicht leitungsgebunden sind, so vor- mium dem Bundestag jährlich einen Bericht über die stellen: Sie fahren zu einem Satelliten ins All rauf Durchführung der Maßnahmen nach § 3 des G-10- und kommen dann wieder runter; an einem Beam Gesetzes erstatten. Bei den Maßnahmen handelt es kann man kontrollieren und eingreifen. Daran wer- sich um die Abwehrmaßnahmen, die der Bekämp- den sich sämtliche Eingreifmaßnahmen orientieren. fung besonders schwerwiegender Delikte wie ille- Man muß sich in der Tat fragen: Liegt es eigentlich gale Kriegswaffenverbreitung, Geldfälschung, Geld- an dem Instrumentarium, das wir als Gremium nut- wäsche und Drogenhandel dienen. Über diese Maß- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11869

Horst Eylmann nahmen soll berichtet werden. Zugleich ist aber das Dieser Bericht enthält eine Reihe nützlicher Infor- Gremium verpflichtet, über eben diese Maßnahmen mationen, wie zum Beispiel über die personelle Zu- zu schweigen, die Geheimhaltungspflicht zu wahren. sammensetzung des Gremiums, er unterrichtet über den Inhalt des § 3 des G-10-Gesetzes und läßt auch Diesen Verpflichtungen nun gleichzeitig zu genü- nicht unerwähnt, daß das notorisch überlastete Bun- gen bringt - vorsichtig formuliert - gewisse Schwie- desverfassungsgericht noch immer keine Zeit gefun- rigkeiten mit sich. Meistern könnte sie wohl nur der- den hat, endgültig über eine Verfassungsbeschwerde jenige, der auch in der Lage ist, das Gedicht zu Ge- zu entscheiden. hör zu bringen, das Morgenstern „Fisches Nachtge- sang" genannt hat. Es ist ein Gedicht für Stumme. Und dann kann man dem Be richt auch entnehmen, Ich meine nun nicht, daß der Kollege Such recht hat, daß das Gremium bestrebt ist, Abhörmaßnahmen wenn er hier ausführt, daß Geheimdienst und Kon- territorial zu begrenzen. Und da wird es eigentlich trolle sich ausschlössen, wenngleich ich einräumen interessant. Aber da sind wir auch an der Grenze der will, daß die Kontrolle natürlich immer noch verbes- heißen Zone des zu Verschweigenden. serungswürdig und -fähig ist. Dazu hat der Kollege Die sicherlich interessante und Sie auch interessie- Zeitlmann einiges ausgeführt und meine Vorrednerin rende Frage, wie die Abgrenzungen denn nun im auch. Aber Berichtspflicht und Schweigepflicht, die einzelnen verlaufen oder verlaufen sollten, ob zum lassen sich nun beim besten Willen nicht zur Dek- Beispiel das Territorium der Antarktis oder auch Ho- kung bringen. nolulu einbezogen sind, vermag ich zu meinem Be- Steht man als Jurist vor einem solchen Dilemma, dauern wegen der Verpflichtung zur Geheimhaltung sieht man zunächst einmal in die Gesetzesmateria- nicht zu beantworten. So muß ich mich abschließend lien. So hat man es ja gelernt, und man fragt: Was hat mit der Versicherung begnügen, daß die Mitglieder sich der Gesetzgeber dabei gedacht? meiner Fraktion im G-10-Gremium ihre Kontrollauf- gabe wie bisher so auch in Zukunft sehr ernst neh- Der Entwurf des Verbrechensbekämpfungsgeset- men werden, nicht minder allerdings auch ihre Ver- zes, durch das § 3 des G-10-Gesetzes neu gefaßt pflichtung, trotz aller Berichtspflichten st rikte Ver- wurde, enthielt die Berichtspflicht noch nicht. Die schwiegenheit zu wahren. Bundesregierung ist damit aus dem Schneider. Auch Vielleicht regen meine Ausführungen auch dazu der Rechtsausschuß ist - ich habe es mit einiger Ge- an, einmal zu überlegen, daß Berichtspflichten, die nugtuung und Beruhigung festgestellt - nicht auf die im Gesetz formuliert sind, eine Transparenz vortäu- Idee gekommen, diese Berichtspflicht zu statuieren. schen, die nicht vorhanden ist und die hier bei dieser Es stellte sich dann heraus, daß die Verpflichtung, Materie auch nicht vorhanden sein kann. über Geheimzuhaltendes zu berichten, auf einen Vorschlag des Vermittlungsausschusses zurückzu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) führen ist. Nun erschließt sich mir als einfachem Abgeordne- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort be- ten die Weisheit der Vorschläge des Vermittlungs- kommt nun der Abgeordnete Manfred Such. ausschusses nicht immer auf Anhieb, zuweilen nicht einmal nach längerem Nachdenken. Aber das ver- Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr mindert auf der anderen Seite die Hochachtung, die Präsident! Meine Damen und Herren! Jahrelang ha- ich vor den Mitgliedern dieses Gremiums habe, kei- ben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, neswegs, denn ich weiß ja, unter welchen Zwängen den Zusammenbruch der Bundesrepublik und den sie stehen. Untergang des Abendlandes heraufbeschworen, wenn die Frage anstand, ob denn die Grünen in den Vielleicht läßt sich dieser Vorschlag so erklären, Kontrollgremien für Verfassungsschutz und Nach- daß der Vermittlungsausschuß fest auf die den Politi- richtendienst vertreten sein sollten. Nichts davon ist kern zugeschriebene Fähigkeit vertraut hat, mit vie- eingetreten; das Abendland steht noch, und angeb- len Worten nichts zu sagen. Da ich, wie ich aus eige- lich soll es sogar blühende Landschaften im Osten ner leidvoller Erfahrung weiß, diese Fähigkeit noch geben. nicht zur vollen Meisterschaft entwickeln konnte, habe ich der Rede heute mit einiger Beklommenheit In dieser Legislaturperiode gehört zum erstenmal entgegengesehen. Aber nun kann ich zu meiner Er- mein Kollege Rezzo Schlauch dem G-10-Gremium leichterung feststellen, daß ich mit meiner Einleitung an. Ich hoffe auch, daß nunmehr unser Kandidat für schon fast vier Minuten meiner Redezeit verbraucht die G-10-Kommission, der vom G-10-Gremium zu habe. wählen ist, in Kürze seiner Kontrollpflicht nachkom- men kann. (Heiterkeit) Mit der Ausweitung des Auftrages im Zuge des Ich bin außerdem, meine Damen und Herren, in Verbrechensbekämpfungsgesetzes sind die Tatbe- der glücklichen Lage, weitgehend auf die verdienst- stände, zu deren Aufklärung der Auslandstelefonver- volle schriftliche Unterrichtung des Plenums verwei- kehr großflächig abgehört werden kann, umfang- -sen zu können, die die verehrte Vorsitzende des G reich erweitert worden. Verbunden wurde damit die 10-Gremiums, meine Kollegin Frau Dr. Däubler- jährliche Berichtspflicht der Kommission dem Parla- Gmelin - sicherlich mit tatkräftiger Hilfe des schon ment gegenüber. Der Berichtszeitraum Dezember mehrfach und mit Recht gelobten Sekreta riats - ver- 1994 bis Mai 1996 umfaßt rechnerisch gesehen zwar faßt und vorgelegt hat. eineinhalb Jahre, aber ich denke, man sollte nicht so 11870 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Manfred Such pingelig sein. Seitdem Herr Waigel Finanzminister Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das ist, sind wir ja Überschreitungen um 50 Prozent ge- Wort dem Kollegen Dr. Max Stadler. wöhnt. Ich halte es für merkwürdig, daß die Bundesregie- Dr. Max Stadler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr rung zwar einerseits fleißig daran gebastelt hat, im- geehrten Damen und Herren! Der Be richt des G-10- mer mehr Tatbestände überwachen zu lassen, es im Gremiums gibt aus meiner Sicht Anlaß zu vier kur- gleichen Zuge aber versäumt hat, bei der Deregulie- zen Anmerkungen. rung des Telefonverkehrs entsprechende Vorschrif- ten für die Überwachung der Mobilfunknetze zu er- Erstens. Zunächst einmal ist eine Ausweitung des arbeiten. G-10-Gesetzes anzukündigen, obwohl die letzte grö- ßere G-10-Novelle vor noch gar nicht so langer Zeit Diese Laxheit auf der einen Seite und auf der an- in Kraft getreten ist. Als Folge der zunehmenden Öff- deren Seite die Verbissenheit, möglichst großflächig nung der Postdienstleistungsmärkte für private Un- und umfassend abhören und lauschen zu können, ist ternehmen ist es erforderlich, die bestehenden Rege- schwer zu begreifen. Politisch ist die Erklärung dafür lungen zur Überwachbarkeit des Postverkehrs den simpel: In der jetzigen Bundesregierung und der sie neuen Entwicklungen anzupassen. tragenden Mehrheit des Bundestages gibt es keinen politischen Liberalismus mehr, Herr Stadler, Die Koalitionsfraktionen haben deswegen vor we- nigen Tagen einen entsprechenden Gesetzentwurf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - eingebracht. Bestimmte Postdienstleistungen wer- Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Das ist mir neu!) den schon jetzt zunehmend durch p rivate Unterneh- der die Regel des Art. 10 höher bewertet als die Aus- men wahrgenommen. Die Deutsche Bundespost war nahme. Die Ausnahme, die dann Maßnahmen nach zur Mitwirkung an Überwachungsmaßnahmen nach G 10 zuläßt, ist nämlich in der Verfassung außeror- dem G 10 verpflichtet. Wenn der Gesetzgeber es dentlich strengen Regeln unterworfen. Sie ist nur zu- überhaupt für richtig hält, den Postverkehr zu über- lässig zum Schutz der freiheitlich demokratischen wachen, dann kann es für die Verpflichtung, an Grundordnung oder des Bestandes des Bundes. Überwachungsmaßnahmen mitzuwirken, nicht dar- auf ankommen, wer die Postdienstleistung erbringt. Wenn wir, nach Aussage eines früheren Innenmi- Vom Schutzzweck des G 10 her macht es keinen Un- nisters, schon nicht täglich mit dem Grundgesetz terschied, ob die Dienstleistung wie in der Vergan- unter dem Arm herumlaufen wollen, bleibt die genheit durch eine öffentlich-rechtliche Anstalt oder Frage: Ist die Überwachung des Telefonverkehrs wie neuerdings durch private Unternehmen erbracht wenigstens ein effektives Mittel zur vorbeugenden wird. Man mag es bedauern, daß damit ein neuer pri- Gefahrenabwehr und zur Verbrechensbekämpfung? vater Bereich in die Anwendung des G 10 fällt. Je- Ich behaupte, das ist sie auf keinen Fall. In Zeiten doch ist dies die Folge der neuen Entwicklungen auf knapper Kassen wären Sie gut beraten, die öffentli- dem Postdienstleistungssektor. chen Mittel für effektive Sicherheit und nicht für den Schein von mehr Sicherheit einzusetzen. Zweitens. Im Kontrast zu dieser wohl unvermeidli- chen Ausweitung hat sich das G-10-Gremium im Be- Die Probleme, die die Nachrichtendienste schaf- richtszeitraum zu Recht bemüht, die Erfassung und fen, sind größere als die Probleme, die sie lösen. Auswertung des internationalen nicht leitungsge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bundenen Fernmeldeverkehrs durch den BND auf und der PDS) das vertretbare Maß einzugrenzen. Im Be richt wird zutreffend hervorgehoben, daß die Bestimmungen Der Bundesnachrichtendienst hat den Plutoniumhan- territorial zu begrenzen und die Zielländer einzeln del nicht verhindert, er hat ihn eingefädelt. Hat er auszuweisen sind. Mit diesen und weiteren Maßnah- den Bau einer Giftgasfabrik in Libyen mit deutscher men soll die parlamentarische Kontrolle verstärkt Beteiligung verhindert? Nein, wenn es ernst wird, werden. Es wird aber wohl - insofern stimme ich den versagt Ihr Sicherheitssystem auf der ganzen Linie. skeptischen Bemerkungen der Vorredner zu - weite- Wirksamen Schutz erreichen wir anders: Ich for- rer praktischer Erfahrungen bedürfen, bis die end- dere Sie auf, in den kommenden Haushaltsberatun- gültige effektive Form parlamentarischer Kontrolle gen unseren Vorschlägen zur Kürzung der Mittel für im G-10-Bereich gefunden ist. Dazu könnte eine Zu- BND, Verfassungsschutz und MAD zu folgen. Das ist sammenfassung der verschiedenen Kontrollgremien, eine wirksame Maßnahme, auch die Probleme der wie vorher von mehreren Rednern angeregt, beitra- Telefonüberwachung zu reduzieren und damit Abs. 1 gen. in Art . 10 wieder dorthin zu stellen, wohin er gehört, Drittens. Unabhängig davon sehen wir mit einiger nämlich an die erste Stelle. Der Schutz der freiheit- Spannung der Hauptsacheentscheidung des Bundes- lich demokratischen Grundordnung und des Bestan- verfassungsgerichts zu der gegen § 3 des G 10 im des der Bundesrepublik kann nicht von Schlapphü- September 1995 erhobenen Verfassungsbeschwerde ten oder Kryptografen geleistet werden, er braucht entgegen. Bekanntlich kann diese Vorschrift jetzt ja aktive Demokraten und wache Bürgerinnen und Bür- nur noch eingeschränkt nach Maßgabe der einstwei- ger. ligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts an- Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. gewandt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Das und der PDS) ist auch sehr gut so!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11871

Dr. Max Stadler Es erscheint aber zweckmäßig, die endgültige Ent- nicht mehr als eine halbe Seite über die Geheim- scheidung abzuwarten, ehe Überlegungen zur Neu- dienstschnüffelei zu berichten gibt. gestaltung des Grundrechtsschutzes bei der Fern- meldeüberwachung, wie sie Claus Arndt dem G-10- Entweder lag nichts an, dann wäre dieses Gre- Gremium kürzlich vorgetragen hat, zu konkreten mium überflüssig, oder hier wird der Öffentlichkeit Folgerungen des Gesetzgebers führen. etwas verheimlicht. Natürlich ist letzteres der Fall, wie ich durch die Zahlen bereits bewiesen habe. Das

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, darauf hinzu- ganze Ausmaß der Überwachungs - und Abhöraktio- weisen, daß sich die Innen- und Rechtspolitiker der nen wird durch den G-10-Bericht systematisch ver- Koalition bei den „Eckwerten" zur akustischen tuscht und verharmlost. Wo, so frage ich mich, ist der Wohnraumüberwachung ausdrücklich darauf ver- Erfahrungsbericht der G-10-Kommission zu dem ständigt haben, die Erfahrungen mit den Neuerun- 1994 legalisierten Staubsaugerangriff des BND ge- gen, die durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz blieben? ins G 10 eingeführt worden sind, sorgfältig ständig zu beobachten, auszuwerten und gegebenenfalls zu Mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz wird nötigen gesetzgeberischen Folgerungen zu kommen. dem BND erlaubt, nunmehr legal jährlich zirka Im übrigen meinen wir, daß bei der akustischen 36 Millionen Auslandsgespräche aufzuzeichnen und Wohnraumüberwachung sehr wohl - entgegen dem, schätzungsweise 1,46 Millionen auszuwerten. Die was Herr Eylmann vorhin gesagt hat - eine Berichts- daraus gewonnenen Erkenntnisse werden an die pflicht an das Parlament entsprechend amerikani- Strafverfolgungsbehörden weitergegeben, wobei es schem Vorbild eine gewisse Kontrolle sicherstellen sich hierbei tatsächlich nur um das absolute Mini- kann. Deswegen sehen wir das in diesem Bereich mum handelt, das geschätzt wird. vor. Wir kritisieren diese Kompetenzerweiterung des (Beifall bei der F.D.P.) BND, insbesondere vor dem Hintergrund der Ge- schichte des deutschen Faschismus. Geheimdienste Viertens. Aus dem Be richt ist hervorzuheben, daß haben bei der Kriminalitätsbekämpfung nach wie vor das G-10-Gremium ein Gespräch mit dem Bundesda- nichts zu suchen, doch das wird zunehmend legali- tenschutzbeauftragten geführt hat. Nach § 9 des siert. Dementsprechend haben wir mit Genugtuung G 10 ist es zugelassen, den Bundesbeauftragten für die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungs- den Datenschutz vor der Entscheidung der G-10- gerichts vom Juli 1995 zur Kenntnis genommen, die Kommission über die Zulassung der Notwendigkeit Ihnen diese Dinge zumindest in einigen Punkten un- von Maßnahmen nach § 9 Abs. 2 beizuziehen. Mei- tersagt hat. nes Wissens ist bisher eine solche Stellungnahme des Datenschutzbeauftragten noch nicht eingeholt Eine Problematisierung der kümmerlichen Befug- worden. Die F.D.P. regt an, künftig von dieser Mög- nisse des G-10-Gremiums erfolgt in diesem Be richt lichkeit des § 9 Gebrauch zu machen. ebenfalls nicht, was ich sehr bedauerlich finde. Dar- auf wurde bereits hingewiesen. Ebenso bleibt das (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Problem, daß noch nicht einmal das zahlenmäßige Ausmaß der Geheimdienstschnüffelei veröffentlicht Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun gebe ich wird. Auch darauf habe ich bereits hingewiesen. das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke. Ich habe bereits zum Ausdruck gebracht, daß wir der Meinung sind, daß es ein richtiger Schritt wäre, Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen die Kontrollkommissionen zusammenzubringen. und Herren! Der große Lauschangriff ist noch nicht Dann müßte aber auch ein Mitglied der PDS dazuge- durch dieses Parlament legalisiert. Trotzdem ist be- hören. reits heute die Bundesrepublik Weltmeisterin im Ab- hören. Allein 1995 wurden 3 596 Telefone von der Po- Danke. lizei abgehört. Sie hat dabei Daten von rund (Beifall bei der PDS) 500 000 Personen erfaßt. Hinzuzurechnen sind die Telefonüberwachungsmaßnahmen des Verfassungs- schutzes, deren Ausmaß grundsätzlich nicht veröf- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe fentlicht wird. Dazu kommen noch mindestens 4 000 damit die Aussprache und rufe die Tagesordnungs- Auslandsgespräche, die der BND täglich aufzeich- punkte 12a bis 12f auf: net. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- Bezüglich des G-10-Berichts gebe ich dem Kolle- ten Marion Caspers-Merk, Lilo Blunck, gen Eylmann voll recht: Zweiseitige Berichte, wie sie Dr. Ulrich Böhme (Unna), weiterer Abgeordne- hier vorgelegt werden, kann man sich wirklich ter und der Fraktion der SPD schenken; denn wichtige Daten stehen da nicht d rin. Umsetzung des Kreislaufwirtschafts- und Ab- Die Erwähnung von Briefkontroll- und Telefonab- fallgesetzes höraktionen der deutschen Geheimdienste umfaßt in - Drucksachen 13/1971, 13/3368 - diesem Bericht gerade einmal eine halbe Seite. Auch hier gilt das zuvor zum Bericht der PKK Gesagte. Der b) Beratung der Beschlußempfehlung und des vorgelegte G-10-Bericht zeigt, wie wenig ernst parla- Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- mentarische Kontrolle stattfindet. Sie können doch schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) niemandem erklären, daß es aus anderthalb Jahren zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen 11872 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE f) Beratung der Beschlußempfehlung und des GRÜNEN Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) Abfallvermeidung organisieren - Gesund- heitsgefahren aus Abfallverbrennungsanla- - zu dem Antrag der Abgeordneten Ma rion gen minimieren Caspers-Merk, Michael Müller (Düssel- dorf), Ernst Schwanhold, weiterer Abgeord- - Drucksachen 13/4352, 13/5023 - neter und der Fraktion der SPD Berichterstattung: Eckpunkte zur Novellierung der Verpak- Abgeordnete Steffen Kampeter kungsverordnung Marion Caspers-Merk Dr. Jürgen Rochlitz - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Birgit Homburger Hartenstein, Michael Müller (Düsseldorf), Marion Caspers-Merk, weiterer Abgeord- c) Beratung der Beschlußempfehlung und des neter und der Fraktion der SPD Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- Erlaß einer Getränkemehrwegverordnung schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen - zu dem Antrag der Abgeordneten Gila Alt- Rochlitz, Michaele Hustedt, Ulrike Höfken, mann (Aurich), Dr. Jürgen Rochlitz, Helmut weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wilhelm (Amberg), weiterer Abgeordneter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Kriterien für die oberirdische Ablagerung von Abfällen - Novellierung von TA Abfall Erlaß einer Altautoverordnung und TA Siedlungsabfall - zu dem Antrag des Abgeordneten - Drucksachen 13/2496, 13/5024 - Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Verordnung über die Vermeidung, Verrin- Dr. Liesel Hartenstein gerung und Verwertung von Abfällen ge- Marion Caspers-Merk brauchter elektrischer und elektronischer Dr. Jürgen Rochlitz Geräte (Elektronikschrott-Verordnung) Birgit Homburger - zu dem Antrag des Abgeordneten d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) Ersatz der Verpackungsverordnung durch zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen eine Verpackungsvermeidungs- und Mehr- Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE wegverordnung GRÜNEN - Drucksachen 13/2818, 13/2855, 13/3334, 13/ Verwertungsbeschränkungen für Schlacken 4351, 13/4354, 13/5158 - aus Verbrennungsanlagen für Siedlungsab- Berichterstattung: fälle Abgeordnete Steffen Kampeter - Drucksachen 13/1235, 13/5025 - Marion Caspers-Merk Dr. Jürgen Rochlitz Berichterstattung: Birgit Homburger Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Marion Caspers-Merk Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich sehe e) Beratung der Beschlußempfehlung und des und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- schlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) Abgeordneten Marion Caspers-Merk das Wo rt. zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Michael Müller (Düsseldorf), Marion Caspers-Merk (SPD): Herr Präsident! , weiterer Abgeordneter und der Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eine ge- Fraktion der SPD niale Debattenstrategie hat dafür gesorgt, daß wir Bundeseinheitliche Regelung des untertägi- eine Große Anfrage darüber, wie das Kreislaufwirt- gen Versatzes von Abfällen in Bergwerken schafts- und Abfallgesetz überhaupt umgesetzt wer- den soll, erst 14 Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes - Drucksachen 13/2758, 13/5051 - diskutieren. Man muß sich schon fragen, wie man jetzt noch ein Stück Aktualität zu dem Thema her- Berichterstatter: stellen kann. Abgeordnete Steffen Kampeter Dr. Liesel Hartenstein Glücklicherweise hat die Bundesregierung dafür gesorgt, daß das Thema aktueller denn je ist; denn Birgit Homburger sie hat den Zeitpunkt verstreichen lassen, bis zum Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11873 Marion Caspers-Merk 7. Oktober die entsprechenden Verordnungen, die ist es so, daß in den Niederlanden Schreddermüll dem Torso Kreislaufwirtschaftsgesetz überhaupt zum halben Preis abgelagert werden kann. Tiefe, Biß und Inhalt verleihen könnten, vorzulegen. Ich spreche insbesondere von den Verordnungen im Gleichzeitig muß man feststellen, daß den Nieder- Rahmen der Produktverantwortung; denn hier wäre ländern das gelungen ist, bei dem wir immer den- es darum gegangen, die Kreislaufwirtschaft wirklich ken, wir seien Weltmeister; denn wir sind bei den ernstzunehmen und Regelungen für das Recycling Umweltstandards ja so toll. Wir hinken allerdings, von Altautos, Elektronikschrott und Bauschutt sowie wenn Sie sich die Altautoverordnung ansehen, be- eine Novelle der Verpackungsverordnung vorzule- reits zehn Monate hinter den Niederländern her, weil gen. sie zum 1. Januar 1996 eine Altautoverordnung in Kraft gesetzt haben, die wir vom Prinzip her schon Dies alles ist bis heute nicht erfolgt, und Herr Hir- immer gefordert haben. Sie deckt sich also mit unse- che, Sie müssen nachher wieder Ihre Nichtvorlage rer Vorgehensweise. Die Niederländer machen es so, wortreich begründen. Mich erinnert dieses Warten daß derjenige, der das Auto abgibt, keine Kosten hat an das Warten auf Godot. Seit 1990 werden wir im- und die Recyclingkosten schon beim Erwerb des Au- mer wieder vertröstet, daß die Verordnungen dem- tos in den Produktpreis eingerechnet werden. Das nächst vorgelegt werden. Im Frühjahr hat die Um- Ganze wird sehr unbürokratisch durch einen Fonds weltministerin gesagt, sie lege sie im Herbst vor, aber verwaltet. Wir haben dadurch nicht eine Situation sie hat nicht gesagt, in welchem Jahr. Insofern an Sie wie in der Bundesrepublik, daß beispielsweise 15 000 die Frage, in welchem Jahr Sie die Verordnungen, Arbeitsplätze in der Recyclingwirtschaft bei Altautos die das Kreislaufwirtschaftsgesetz überhaupt voll-- nicht aufgebaut werden könnten. Jetzt schaffen un- ziehbar machen, vorlegen werden. sere Nachbarn diese Arbeitsplätze. Wir haben auch die Situation, daß Autos nach wie vor i llegal im Wald Wir haben dieses Gesetz 1994 beraten; jetzt, zwei und an Straßenrändern abgestellt werden, weil Sie Jahre später, tritt es in Kraft. Wir haben also zwei nicht in der Lage sind, eine fortschrittliche Verord- Jahre eine Untätigkeit der Regierung in der Abfall- nung vorzulegen. politik zu beklagen. Ich finde es schon ein starkes Stück, daß in diesen zwei Jahren gerade einmal die (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Durchführungsverordnungen vorgelegt wurden, die GRÜNEN und der PDS - Ulrich Heinrich das Gesetz überhaupt vollziehbar machen, und das [F.D.P.]: Das ist eine empörende Behaup Ganze dann auch noch im August, so daß die Kom- tung!) munen und die Länder, die es vollziehen müssen, überhaupt nicht ausreichend Zeit hatten, sich auf die - Herr Heinrich, da ich mich mit der F.D.P. und deren neue Situation einzustellen. Wir kritisieren dieses Abfallphilosophie auch nur im einzelnen beschäftige, Verfahren ausdrücklich. jetzt nur so viel dazu.

(Beifall bei der SPD und der PDS - Steffen Ihr Minister ist ursächlich daran schuld, daß es zu Kampeter [CDU/CSU]: Darüber werden wir dieser Situation hat kommen können. gleich noch diskutieren, ob das so ist!) (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Welchen meinen - Herr Kampeter, da Sie kein Konzept für Ihre Rede Sie?) und kein Konzept in der Abfallpolitik haben, können Sie nachher gern auf die einzelnen Punkte eingehen. - Ich meine den Umweltverhinderungsminister, und zwar den Wirtschaftsminister. - Er hat dafür gesorgt, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich habe daß in die Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben sowohl als auch, Frau Kollegin!) wurde, daß, statt Verordnungen zu erlassen, jetzt nur Weil wir es leid sind, auf die Altautoverordnung noch der Weg über freiwillige Selbstverpflichtungen und die Elektronikschrottverordnung zu warten, ha- gegangen werden darf. Was ist passiert? Vier Jahre ben wir eigene Vorschläge erarbeitet. Wir werden Ih- wurde ohne Ergebnis verhandelt. nen Eckpunkte zur Altautoverwertung vorlegen, wir werden Ihnen Eckpunkte zur Elektronikschrottver- Was die Industrie jetzt macht, ist eine Lachnum- ordnung vorlegen, und wir werden Sie auch bei der mer. Sie verpflichtet sich nämlich zu dem, was ohne- Verpackungsverordnung zwingen, endlich Farbe zu hin wirtschaftlich ist und was nichts kostet. Wenn ein bekennen, weil wir die vielen Vertröstungen auch im Auto jünger als zwölf Jahre ist, darf man es kostenlos wirtschaftlichen Interesse der Vorreiterindustrien zurückgeben; am besten ist es noch werkstattge- nicht mehr akzeptieren werden. pflegt und hat noch alle Originalteile. Dieses Ge- schäft würde jeder gerne machen. Wirklich notwen- (Beifall bei der SPD) dig wäre aber gewesen, daß man für alle auf bundes- deutschen Straßen fahrenden Autos - das sind im- Sie müssen sich folgende Situation vorstellen. Bei merhin 40 Millionen Autos - eine Regelung hat. Dies den Altautos werden zwei Drittel der jährlich in ist in der freiwilligen Selbstverpflichtung nicht vor- Deutschland anfallenden Autowracks in östliche handen. Länder exportiert, bzw. der Schreddermüll wird der- zeit überwiegend, und zwar zu fast vier Fünfteln, in Ich bitte Sie noch einmal, Herr Hirche, dafür zu die Niederlande exportiert. Zum einen ist es so, daß sorgen, daß Ihre Ministerin anständige Vermerke er- wir, wenn Sie ein Auto abmelden, bislang noch kei- hält; denn sie hat auch im Umweltausschuß wieder nen Verwertungsnachweis brauchen. Zum anderen behauptet, daß die kostenlose Rücknahme für alle 11874 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Marion Caspers-Merk Autos gelte, auch wenn sie älter als zwölf Jahre Das kann ja wohl nicht im Sinne fortschrittlicher seien. Kreislaufwirtschafts- und Abfallpolitik sein. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das kann der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Staatssekretär erklären!) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich verweise auf Seite 3 der freiwilligen Selbstver- Bei der Novelle der Verpackungsverordnung wi- pflichtung. Do rt hat man genau geregelt, daß alles, derstrebt es mir schon, den Beg riff Novelle in den was auch nur einen Tag und mehr älter als zwölf Mund zu nehmen; denn sie bietet wenig Neues. Ei- Jahre ist, nicht kostenlos zurückgenommen werden gentlich handelt es sich um eine Abwärtsspirale: Je- muß. Wenn schon der ADAC, der sozialdemokrati- der einzelne Entwurf wird immer mehr verwässert, scher Umtriebe unverdächtig ist, feststellt, daß das und unterm Strich haben wir die Situation, daß Sie durchschnittliche Autoalter bei uns bei 13,5 Jahren nur noch die Rahmenbedingungen für das DSD ver- liegt, dann weiß man: Die Indust rie verpflichtet sich bessern. eigentlich zu nichts. Hier werden die Chancen, die Kreislauf- und Abfallwirtschaft bergen, nicht ge- Ich kann Ihnen nur sagen: Der dramatische Akzep- nutzt. tanzverlust, den wir im Bereich Abfallpolitik zu be- klagen haben, Dasselbe gilt im übrigen für die Elektronikschrott- verordnung. Auch hier haben Sie uns vier Jahre lang (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das hängt immer wieder versprochen, etwas vorzulegen. Jetzt im Zweifel mit Ihrer Miesmacherei zusam haben wir die Situation zu beklagen, daß für die In-- men! Außerdem haben wir keinen Akzep dustrie nicht mehr „first mover's benefit", sondern tanzverlust!) das Mikadospiel gilt: Wer sich zuerst bewegt, hat ver- hängt auch damit zusammen, daß die Bürgerinnen loren. und Bürger den Eindruck haben, daß, während sie (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist eure alles sortieren, sammeln und sich umweltgerecht ver- Definition!) halten, die Gebühren davonlaufen. Sie haben den Eindruck, daß nicht sack- und umweltgerecht recy- Denn im Prinzip wird überhaupt niemand mehr ge- celt wird. fördert. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wir haben immer Herr Kampeter, es wäre vielleicht interessant, weniger Müll!) wenn Sie sich einmal mit den Fortschrittlichen in der Branche unterhielten, zum Beispiel mit IBM, Sie- Wir halten das im Hinblick auf das Umweltbewußt- mens-Nixdorf oder anderen Computerherstellern. sein der Bürgerinnen und Bürger für katastrophal. Wenn wir wollen, daß sie beim Müllsortieren und (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da habe ich beim Müllsammeln mitmachen, dann müssen erstens wahrscheinlich bessere Kontakte als Sie! - die Verwertungswege transparent und nachvollzieh- Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie hat bar sein. Zweitens müssen sie die Gewähr haben, völlig recht! Sie bestrafen sie doch!) daß es im Prinzip auch bei den Kalkulationen eine Diese fordern und wollen doch seit Jahren die Elek- Offenlegung gibt. Sie müssen auch die Gewißheit tronikschrottverordnung. Warum? Weil sie vollkom- haben, daß die Verwertung nicht zu den billigsten men recyclinggerechte Produkte in der Hoffnung Konditionen im Hochofen stattfindet, sondern daß es hergestellt haben, daß wir über eine Verordnung die wirklich einen Einstieg in die Kreislaufwirtschaft und Rücknahme regeln. Aber Sie kommen bei diesem die stoffliche Verwertung gibt. Thema überhaupt nicht in die Schuhe. Jetzt ist es so, Ich kann Ihnen nur ankündigen, daß Sie , wenn es daß derjenige, der recyclingfähige Produkte hat, im bei dem derzeitigen Entwurf - es ist, glaube ich, der Prinzip auch noch bestraft wird, weil er davon keinen vierte Referentenentwurf - in dieser Sache bleibt, im Marktvorteil hat. Wir wollten mit der Kreislaufwirt- Bundesrat mit diesem Entwurf Schiffbruch erleiden schaft erreichen, daß keine abwärts gerichteten Ver- werden. wertungsspiralen, sogenanntes „downcycling" ent- steht, sondern daß der Wert, der in den Produkten Abschließend darf ich, Herr Kampeter, sagen: Wir steckt, wieder in neue Produkte integriert werden haben damals im Umweltausschuß gemeinsam mit kann. Aber genau dies erfolgt jetzt nicht. allen Fraktionen § 59 ins Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz eingefügt, der ein Mitspracherecht des Noch ein Beispiel für Ihre industriefeindliche Poli- Ausschusses bei den künftigen Verordnungen vor- tik: Loewe-Opta hat ein recyclinggerechtes Fernseh- sieht. Wir wollen dieses Mitspracherecht nutzen. gerät entwickelt, das anstatt aus 400 Teilen, die teil- Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, end- weise Sondermüll waren, aus nur noch 4 Teilen be- lich die entsprechenden Verordnungen vorzulegen. stand. Dies geschah in der Erwartung, daß über die Ich habe angekündigt, daß wir Eckpunkte dazu er- Elektronikschrottverordnung die Rückgabe geregelt stellen werden. Wir haben vor, daß diese wichtigen wird. Diese Produktlinie ist eingestellt worden, weil Punkte mit den zahllosen Verbänden nicht mehr am die entsprechende Verordnung nicht vorliegt. Denn Parlament vorbei diskutiert werden, sondern daß der ein teureres Gerät, das gar nicht zurückgenommen Umweltausschuß und das Parlament eine Mitgestal- werden muß, führt unterm Strich dazu, daß es am tungs- und Mitentscheidungsmöglichkeit haben. Markt keine Chance hat, sich durchzusetzen. Nach wie vor ist es nämlich erlaubt, sein Altfernsehgerät Deswegen fordern wir Sie, Herr Hirche, auf, uns ganz normal auf die Hausmülldeponie zu bringen. umgehend die Verordnungen zuzuleiten und mit uns Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11875 Marion Caspers-Merk zu diskutieren. Hören Sie mit der Strategie der Ab- erschienen mir die Grundlagen dieses Gesetzentwur- fallpolitik auf, die Sie derzeit nach dem Motto fahren: fes nicht vollständig bekannt zu sein. Es gibt viel zu tun, lassen wir es liegen. Wir haben in den Jahren 1993 und 1994 die Grund- Vielen Dank. lagen des alten Abfallrechts grundlegend verändert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Warum haben wir das gemacht? Zum einen, weil es ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eine ganze Reihe von europäischen Rechtsvorschrif- und der PDS) ten gab, die einer Umsetzung in nationales Recht be- durft haben, und zum anderen, weil es eine ganze Reihe von Rechtslücken gab, die von bestimmten Ich erteile das Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Wirtschaftskreisen ausgenutzt wurden, was uns und Wort dem Abgeordneten Steffen Kampeter. dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland ge- schadet hat. Das heißt, das Anliegen der Gesetzesbe- Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herzlichen Dank, ratung 1993/1994 war es, europäisches Recht umzu- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und setzen und Rechtslücken im Abfallrecht zu schließen. Herren! Die Kollegin Caspers-Merk hat mir vorge- worfen, daß ich keine ausformulierte Rede mit in die Wir haben in einem sehr langwierigen Diskus- Debatte gebracht habe. Ich möchte an dieser Stelle sionsprozeß zwischen den Fraktionen und Gruppen meine Rede mit einem Hinweis auf die Geschäftsord- dieses Parlamentes, aber auch im Rahmen eines Ver- nung des Deutschen Bundestages in der aktuellen mittlungsverfahrens mit dem Bundesrat ein Ergebnis Fassung beginnen. In § 33 steht unter der Überschrift gefunden, das vor wenigen Tagen Rechtskraft er-

„Die Rede": langt hat: das Kreislaufwirtschafts - und Abfallge- setz. Dieses Gesetz hat Zustimmung sowohl von Die Redner sprechen grundsätz lich in freiem Vor- allen Fraktionen hier im Haus, wie auch die Zustim- trag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benut- mung des Bundesrates erlangt. Es ist damit von der zen. breitesten politischen Mehrheit, die diese beiden Frau Kollegin Caspers-Merk, Sie hatten offensicht- Verfassungsorgane repräsentieren können, in Kraft lich eine vorformulierte Rede. gesetzt worden. (Marion Caspers-Merk [SPD]: Das ist doch (Beifall bei der CDU/CSU) gar nicht wahr! - Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist doch albern!) Weshalb betone ich das an dieser Stelle? Ich erlebe im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Geset- Ich verweise für zukünftige Entgegnungen auf den zes von vielen politischen Kräften - insbesondere von § 33 und hoffe, daß die Aufzeichnungen, die ich für jenen, die Kollegin Caspers-Merk repräsentiert - meine Rede benutze, nicht allzu konkret sind. zeitweilige Absetzbewegungen, als wolle man die Früchte seiner Arbeit nicht mehr akzeptieren. Ich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, wiederhole hier für die deutsche Öffentlichkeit vor soll das eine Rüge an der Handhabung der Ge- diesem Forum: Wir haben uns nach zwei Jahren schäftsordnung sein? langwieriger Diskussionen auf dieses Recht geeinigt, und wir sollten dieses Recht heute auch gemein- Steffen Kampeter (CDU/CSU): Nein, Verzeihung. schaftlich nach außen vertreten und sollten nicht an Das war ein Hinweis an die Kollegin Caspers-Merk. einzelnen Aspekten herumnörgeln, weil sie auch ein- mal Pflichten von denjenigen fordern, die mit Abfall- wirtschaft zu tun haben. Wir sollten offensiv das ge- Ich wollte Ih- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: meinschaftlich gefundene Ergebnis vertreten. nen nur sagen: Wenn in der Geschäftsordnung „grundsätzlich" steht, dann heißt das, daß es in der Wenn wir heute abend einmal drei, vier, fünf Jahre Regel Ausnahmen gibt. - Fahren Sie bitte fo rt . zurückblicken und in den Protokollen des Deutschen (Heiterkeit) Bundestages nachlesen, werden wir feststellen, daß von Entsorgungsnotstand und Deponieknappheit die Rede war. Wenn ich Revue passieren lasse, was in (CDU/CSU): Kollegin Caspers- Steffen Kampeter diesen Tagen veröffentlicht wird, dann stelle ich fest, Merk hat mich für das Grundsätzliche kritisiert, des- daß es offensichtlich eher darum geht, daß in wegen wollte ich sie auf das Grundsätzliche einmal Deutschland zu wenig Müll produziert wird. „Der hinweisen. Spiegel" kann sogar titeln: „Man kämpft um jede (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie hat Tonne Müll". nicht von „Rede", sie hat von „Konzept" gesprochen!) Wir können Dutzende von Beispielen bringen, daß Gebietskörperschaften in ihrem Verantwortungsbe- Kollegin Caspers-Merk hat darauf hingewiesen, reich Schreiben an Wirtschaftsunternehmen schik- daß wir uns hier unmittelbar nach dem Inkrafttreten ken nach dem Motto: Der Müll gehört der Kommune, des Kreislaufwirtschaftsgesetzes zu einer, wie ich und deswegen müßt ihr den gewerblichen Müll auch finde, notwendigen Debatte treffen. Ich will zu Be- an uns abliefern. ginn einige Bemerkungen dazu machen, wie es zu diesem Kreislaufwirtschaftsgesetz gekommen ist. In (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Lassen Sie der aktuellen Berichterstattung der letzten Wochen den Leuten den Müll!) 11876 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Steffen Kampeter Das bedeutet, daß sich in Deutschland in den letzten bar ist, soll verwertet werden. Herr Kollege Rochlitz, Jahren nicht nur, aber wohl wesentlich durch das Ge- ich nehme ferner zur Kenntnis, daß in Deutschland in setz etwas verändert hat, nämlich, daß die Müllmen- den letzten Jahren die Menge der verwerteten Ab- gen gesunken sind. Das hat damit etwas zu tun, daß fälle enorm angestiegen ist. Sie müssen - genauso ein grundsätzlicher Wandel in der Abfallwirtschaft zu wie ich - zur Kenntnis nehmen, daß in bestimmten verzeichnen ist. Den sollten wir hier heute abend po- Bereichen der Gesamtstoffumsatz gesunken ist, daß sitiv bewerten. die Leute nicht einfach Müll produzieren, weil es lu- stig ist, sondern weil sie sehen, daß wir teure Entsor- Die Abfallmengen sinken, und immer mehr Län- gungs- und nicht ganz so teure Verwertungsmöglich- derminister rühmen sich in diesen Tagen, wenn sie keiten haben, und daß enorme Müllmengen vermie- ihre Abfallbilanz vorlegen, sinkender Abfallmengen. den worden sind. Herr Kollege Rochlitz, ich nehme So hat der baden-württembergische Umweltminister zur Kenntnis, daß die von uns vertretene Abf allwirt- vor wenigen Tagen die Abfallbilanz seines Landes schaftspolitik ein großartiger Erfolg ist, weil einfach vorgelegt, in der es heißt: Seit 1990 hat sich die Ab- weniger Abfall sowohl hinsichtlich der Zahlen als fallmenge in Baden-Württemberg pro Kopf der Be- auch im Empfinden der Menschen produziert wor- völkerung halbiert. - Das ist ein großartiger Erfolg den ist. Ich würde mich freuen, wenn auch Sie das der gemeinschaftlich von diesem Haus verfolgten letztendlich einmal zur Kenntnis nehmen würden. Abfallwirtschaftspolitik, in der erstens Vermeidung, dann Verwertung und erst zum Schluß Ablagerun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen vorgeschrieben sind. Das sollten wir heute abend einmal hervorheben. - Die Länder werden in diesen Tagen öfter dahin ge- hend zitiert, daß sie keine hinreichende Zeit für die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Umsetzung der gesetzlichen Regelungen erhalten haben. Dies halte ich für falsch. Wir haben hier ein Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Gesetz verabschiedet, in dem eine zweijährige Über- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten gangsfrist gewährt wird - zwei Jahre, in denen die Dr. Rochlitz? Bundesländer ihre Länderabfallgesetze haben um- setzen können.

Steffen Kampeter (CDU/CSU): Selbstverständlich Dies ist nur in zwei von 16 Bundesländern erfolgt. gestatte ich dies. Diese zwei belegen, daß eine Umsetzung des neuen Bundesrechts in Landesrecht möglich ist. Was die Be- weggründe der 14 anderen waren, die unterschiedli- Bitte, Herr Kol- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: che parteipolitische Mehrheiten haben, lasse ich ein- lege Rochlitz. mal offen. Dieses Bundesrecht war von den Ländern (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Jede überflüssige umsetzbar. Alle Länder, die heute behaupten, daß Frage ist zulässig!) dies nicht so ist, sollten sich an den Landesabfallge- setzen von Bayern und Baden-Württemberg orientie- ren. Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Kampeter, möchten Sie einmal zur Ich gebe uneingeschränkt zu, daß dieses unterge- Kenntnis nehmen, daß sich die Gesamtmenge der setzliche Regelwerk, von dem alle reden, schneller Abfalleinheiten - solche Mengen, die zur Verwer- hätte umgesetzt werden können. Nur, dafür hätte es tung gelangen, und solche, die zur Beseitigung vor- der tätigen Mithilfe derjenigen 14 Bundesländer be- gesehen sind - keineswegs dramatisch verändert durft, die heute beklagen, sie hätten keine Zeit ge- hat? Die Gesamtmenge ist nahezu konstant geblie- habt. Kooperation hätte manches schneller gemacht. ben. Auch in Baden-Württemberg ist das, soviel ich Die Umsetzung war also - das will ich ganz klar sa- gesehen habe, der Fall. Wollen Sie nicht zur Kenntnis gen - möglich. nehmen, daß diese zur Verwertung gelangenden Ab- fallmengen in der Tat in Verwertungskreisläufe äu- Ich höre in diesen Tagen auch die Klage der Kom- ßerst dubioser Art oder aber in Durchflußsysteme ge- munen, zwei Jahre zur Umsetzung reichten nicht langen, wie zum Beispiel bei den Bremer Stahlwer- aus. Auch hierzu muß ich sagen: Das kann ich nicht ken? ganz nachvollziehen. Zum einen haben wir die kom- munalen Spitzenverbände an der Entwicklung die- ses Gesetzes direkt beteiligt, was ein etwas unge- (CDU/CSU): Herr Kollege Roch- Steffen Kampeter wöhnliches Verfahren ist. Sie waren auch bei den in- litz, ich nehme zur Kenntnis, daß die Menschen den- ternen Beratungen dabei. Frau Kollegin Caspers- ken, daß Müll das ist, was zum Schluß auf der Depo- Merk, Sie wissen das genauso wie die Kolleginnen nie landet. Deswegen nehme ich zur Kenntnis, daß und Kollegen der Koalition. Zum anderen war ge- die Menge der in Deutschland zu deponierenden Ab- nauso wie für die Länder zwei Jahre Zeit, sich auf die fälle gesunken ist. neuen Vorschriften vorzubereiten. (Beifall der Abg. Wilma Glücklich [CDU/ Wenn die Kommunen heute behaupten, sie wür- CSU] - Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/ den mit zu vielen Aufgaben übersät, kann ich auch DIE GRÜNEN]: Das haben Sie aber eben das nicht ganz nachvollziehen; denn in anderen Be- nicht gesagt!) reichen, wie beispielsweise beim Elektronikschrott, Ich nehme auch zur Kenntnis, daß die Menschen von fordern sie ja geradezu neue Kompetenzen, die aller- uns immer gefordert haben: Das, was nicht vermeid dings auch mit neuen Einnahmequellen verbunden Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11877 Steffen Kampeter sind. Nur bedeutet der Vollzug von Gesetzen nicht schutz seinen Preis hat, daß das Umweltschutzniveau notwendigerweise immer die Zuweisung von neuen auch mittelfristig bezahlt werden muß und daß wir Finanzströmen. Deswegen, denke ich, müssen wir dafür eintreten müssen, daß Umweltschutz ein Ko- die Umsetzung dieses Gesetzes von den Kommunen stenfaktor in den Unternehmen und in den p rivaten einfordern, die hieran hinreichend früh beteiligt wor- Haushalten bleiben muß. Denn wer will von Ihnen den sind. beispielsweise die Diskussion über die Gesundheits- schädigung der Bevölkerung führen, wenn wir un- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Teil dichte Deponien oder unsichere Müllverbrennungs- der heute zu beratenden Anträge beschäftigt sich mit anlagen haben? Vorsorgekosten liegen immer niedri- den Deponiestandards und der Technologie der ger als Sanierungs- oder Nachsorgekosten. Ich kann Müllvorbereitung - für Spezialisten: TASi-Müllver- die Diskussion insoweit nicht nachvollziehen, als das brennung und biologisch-mechanische Abfallvorbe- Kreislaufwirtschaftsgesetz im Rahmen dieser Kosten- handlung. Mich verwundert einigermaßen die der- steigerung überhaupt noch nicht in Kraft gewesen zeit aktuelle Diskussion. Bisher waren alle Gruppen, ist. die hier im Haus vertreten sind, der Auffassung, daß die emissionsarme Deponie - also die Deponie, die Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, wir unseren Kindern und Enkelkindern beruhigt was der Deutsche Steuerzahlerbund zu dieser These überlassen können - der umweltpolitisch erforderli- sagt. Dessen Präsident hat vor kurzem auf einer Dis- che Standard ist. kussionsveranstaltung darauf hingewiesen, daß die (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist nur eine Städte und Gemeinden die Schwächen der Kamerali- Gruppe und vier Fraktionen!) - stik zu ihren Gunsten ausnutzen, um die defizitären Haushalte durch überhöhte Abwasser- und Müllab- Hintergrund ist, daß wir in diesem Hause der Auf- fuhrgebühren zu sanieren. fassung sind, Deponien müssen dauerhaft sicher sein und dürfen keine, wie wir es unter Fachleuten sagen, Er führt weiter aus: Es sind nicht die Personal- oder biologischen Reaktoren werden, von denen wir nicht Sachkosten, die für die Gebührensteigerungen ver- wissen, was sie zukünftig machen. Das dazu notwen- antwortlich sind, sondern die sogenannten kalkulato- dige Instrumenta rium haben wir in der Inertisierung, rischen Kosten, die mit der aktuellen Rechtssetzung also in der Ablagerung, die langfristig nicht mehr überhaupt nichts zu tun haben. Abschließend stellt biologisch aktiv ist, gefunden. Diese Politik haben er fest: Die Kommunen sind nicht in der Lage, sich wir als Bundestag und Bundesrat durch eine Verord- auf das geänderte Entsorgungsverhalten der Men- nung, die wiederum in beiden Kammern Zustim- schen einzustellen. mung gefunden hat, mit einer breiten parlamentari- schen Legitimation versehen. Dies zeigt, daß vielfältige Gebührensteigerungen im Bereich des Abfalls nicht darauf zurückzuführen Verschiedentlich gab es Anfragen, ob die Techni- sind, daß sich das Umweltrecht geändert hat, son- sche Anleitung Siedlungsabfall nicht fortentwickelt dern darauf, daß offensichtlich ein immer stärkerer werden sollte. Wir haben mehrere Prüfberichte vor- Bestandteil der Kommunen versucht, Kosten des all- gelegt und im Umweltausschuß des Deutschen Bun- gemeinen kommunalen Haushaltes auf die Umwelt- destages umfassende Expertenanhörungen gemacht. gebühren und Abfallhaushalte abzuwälzen. Das Ergebnis war: Wir haben keinen Anlaß, die Technische Anleitung Siedlungsabfall in Frage zu Deshalb begrüße ich es nachhaltig, daß die Bun- stellen. Deswegen werbe ich heute dafür, nicht bis- desministerin für Umwelt in diesen Tagen einige For- her akzeptierte Standards in Frage zu stellen, son- schungsaufträge zur Aufschlüsselung der Kosten im dern vielmehr an dem Prinzip des Gesundheitsschut- Abfallbereich erteilt hat, die uns deutlich machen zes der Bevölkerung festzuhalten. Das bedeutet, daß werden, daß der Umweltschutz im eigentlichen wir die Kriterien der Technischen Anleitung Sied- Sinne nicht der Kostentreiber der derzeitigen Gebüh- lungsabfall auch in den nächsten Jahren weiterver- renhaushalte ist, sondern daß es Fehlentwicklungen folgen. und Fehlmanagement bei denjenigen sind, die für die Gebührenhaushalte verantwortlich sind. Allen Anträgen, die darauf abzielen, aus ideologi- schen Gründen die Kriterien des Gesundheitsschut- (Beifall bei der CDU/CSU) zes aufzuweichen, weil eine politisch korrekte Ab- fallvorbehandlungstechnologie wie die biologisch- Meine sehr verehrten Damen und Herren, zusam- mechanische Abfalivorbehandlung von einer kleinen menfassend möchte ich feststellen: In der Abfallwirt- Minderheit dieses Parlamentes favorisiert wird, tre- schaft sind wir mit dem Kreislaufwirtschafts- und Ab- ten wir als CDU/CSU entschieden entgegen. Ich fallgesetz auf einem guten Kurs. Wir sorgen dafür, bitte auch die übrigen Fraktionen, dieser Politik zu daß die Produktverantwortung umfassend umgesetzt folgen. wird. Wir werden mit der Novellierung der Verpak- kungsverordnung und den Regelungen im Bereich (Beifall bei der CDU/CSU) des Elektronikschrotts und der Altautos wichtige Im- pulse setzen, Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wi ll noch einiges zur derzeitigen Situation der Kosten sa- (Marion Caspers-Merk [SPD]: Wann denn?) gen. In der Diskussion dieser Tage ist gesagt worden, das Kreislaufwirtschaftsgesetz sei der eigentliche die international wie national eines deutlich machen: Kostentreiber bei den Gebühren in der Abfallwirt- Wir in der Bundesrepublik Deutschland wollen wei schaft. Richtig an dieser Diskussion ist, daß Umwelt- ter im Bereich der Abfallwirtschaft, im Bereich der 11878 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Steffen Kampeter Kreislaufwirtschaft Vorreiter sein. Dazu lade ich alle Kampeter, waren Zahlen, die nichts mit Müllvermei- Fraktionen dieses Hauses recht herzlich ein. dung zu tun hatten. Herzlichen Dank. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie das mal Herrn Vahrenholt in Hamburg!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Keine einzige Tonne Müll ist vermieden worden. Die Tonne Müll, die irgendwo vermieden worden ist, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem müssen Sie mir noch zeigen. Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz das Wort. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gehen Sie doch mal in die Betriebe!) Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist alles nur in andere Richtungen verschoben Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ha- worden. ben Sie wahrscheinlich zum letztenmal in dieser Le- gislaturperiode die große Chance, die Abfallpolitik Wir werfen Ihnen nicht so sehr vor, daß Sie sich der Bundesregierung in den Kontext ihrer Politik der trotz aller statistischen Instrumentarien von der Ent- Deregulierung und der Forcierung von Marktkräften wicklung der Abfallstrukturen und -mengen Mitte einzubetten, indem Sie den Beschlußempfehlungen der 90er Jahre haben überraschen lassen, sondern des Umweltausschusses nicht folgen. daß Sie die Kommunen in die Müllverbrennungsfal- len gelockt und getrieben haben - mit der Folge stei- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Reden Sie - gender Gebühren und mit der weiteren Folge abf all- doch frei, Herr Rochlitz!) politischer Inflexibilität. Denn in der Tat, meine Damen und Herren: Auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Feld der Abfallpolitik toben sich Bundesregie- sowie der Abg. Dr. Renate Hellwig [CDU/ rung und Koalitionsfraktionen in einer Regulierungs- CSU]) wut aus, die schon unheimlich ist - bis hin zu den Einzelvorschriften für die Verbrennung, bis hin zu Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, naturwissenschaftlich und ökologisch unsinnigen Pa- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten rametern wie dem sogenannten Glühverlust. Kampeter? Mit dieser Art von Fehlmanagement in der Abfall- politik, Herr Kampeter, haben die Bundesregierung Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und Sie die Einbahnstraßen zur Müllverbrennung ze- Ja. mentiert. Sie tragen damit auch die alleinige Verant- wortung für die Fehlplanungen in Millionenhöhe für Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Kollege Roch- Verbrennungsüberkapazitäten. litz, ich respektiere Ihre ablehnende Haltung ge- Diese Art von Abfallpolitik ist aber auch deswegen genüber der Müllverbrennung sehr. Wie beurteilen ökonomisch falsch programmiert, weil sie den Inno- Sie vor diesem Hintergrund das aktuelle Positionspa- vationen und der Marktfähigkeit pier des umweltpolitischen Sprechers der Grünen und des umweltpolitischen Sprechers der SPD im (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gehen Sie nordrhein-westfälischen Landtag zur Abfallwirt- doch einmal auf meine Argumente ein!) schaftspolitik, von ökonomisch wie ökologisch günstigeren Techno- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Da sind logien - ich nenne hier die mechanisch-biologischen wir doch gar nicht!) Verfahren, die gerade vermeiden, daß der Bioreaktor in dem auch von seiten der Grünen in Nordrhein- Deponie entsteht - einen Riegel vorschiebt. Westfalen ein eindeutiges Bekenntnis zur Müllver- Die Folge ist, daß damit den mittelständischen Un- brennung zum Ausdruck kommt? Wie beurteilen Sie ternehmen die Chancen genommen werden, sich für ferner alle bereits bestehenden Planungen von Müll- diesen Kleinanlagenbetrieb einen Markt aufzu- verbrennungsanlagen in Nordrhein-Westfalen von bauen. Damit verliert die Bundesrepublik insgesamt seiten der Herren Mai und Kasperek? die Chance, Anlagen zu entwickeln und weltweit zu vermarkten, die für die Kommunen, aber auch für die Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Länder Osteuropas und des Südens noch bezahlbar Herr Kampeter, ich kann mir nur vorstellen, daß Sie sind. in diesen Positionspapieren ein oder zwei Seiten überschlagen und nicht gelesen haben. Denn meine Diese Abfallpolitik ist nicht nur ökonomisch falsch Parteifreunde in Nordrhein-Westfalen wissen sehr programmiert, sondern auch ökologisch. wohl, daß landesweit eine ganze Reihe von Müllver- brennungsplanungen eingestellt werden müssen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - daß praktisch zuviel Kapazität aufgebaut worden ist. Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gehen Sie doch einmal auf meine Argumente ein!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Aber so ist der Herr Kampeter!) Das händeringende Suchen nach Müll für Verbren- nungsanlagen konterkariert jeden Ansatz zur Müll Insofern gibt es überhaupt keinen Anlaß, jetzt der vermeidung. Was Sie hier präsentiert haben, Herr Müllverbrennung das Wo rt zu reden. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11879

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie erneut die Kurzsichtigkeit ihres Handelns: Warum in noch eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Hustedt? langfristig angelegte Vermeidungsstrategien inve- stieren, wenn uns doch die ach so moderne Müllver- Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): brennungsanlage längst schon zur Verfügung steht! Ja, bitte. Herr Staatssekretär, lassen wir doch einmal die schillernden Seifenblasen Ihres Gesetzes weg. Im Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Umweltausschuß auf die Diskrepanz des Gesetzes Herr Rochlitz, ist Ihnen bekannt, daß mit der rotgrü- zwischen uneingelöstem Vermeidungsanspruch auf nen Vereinbarung in Nordrhein-Westfalen für sieben der einen Seite und Detailverliebtheit in Verbren- von acht Müllverbrennungsanlagen die Planung ein- nungskriterien auf der anderen Seite angesprochen, gestellt wurde erwiderte die Frau Ministerin, daß das neue Abfall- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wir gesetz doch keine pyromanische Expe rtise sei. sind doch hier nicht in Düsseldorf!) Schön, und nun beim Wo rt genommen, Herr und nur eine, nämlich die Kölner Müllverbrennungs- Staatssekretär: Dann lassen Sie uns doch all die ge- anlage, weiter geplant wurde, und zwar auch nur planten Anlagen stoppen, die laufenden Planungen deshalb, weil der Planungsstand so weit war, daß er abbrechen und dafür sorgen, daß statt dessen ein nicht mehr aufzuhalten war? freier Wettbewerb der besten abfalltechnischen Be- handlungs- und Beseitigungsmethoden entsteht! - Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann behindern Sie doch nicht mit Ihrer Unterstüt- Ja, das ist mir sehr wohl bekannt. Des weiteren ist zung der Anlagenbaulobby die Entwicklung einer mir auch bekannt, daß Nordrhein-Westfalen das neuen Generation von mechanisch-biologischen Ver- Land ist, in dem auch in anderen Verbrennungspro- fahrenstechniken! Dann entlassen Sie doch die Kom- zessen in der Vergangenheit Müllmengen ver- munen aus dem von Ihrem Gesetz auf Generationen schwunden sind und in Zementöfen eingesetzt wor- hinaus erzwungenen Verbrennungszwang! Schon den sind. Wahrscheinlich weiß man teilweise auch, heute werden es uns die Bürger wegen der geringe- daß damit praktisch ein Verbrennungsstandard prak- ren Gebühren, ihre Kinder und Enkel aber vor allem tiziert wird, der sämtlichen ökologischen Regeln wi- wegen der Übernahme einer intakten Umwelt und derspricht. Dies gilt es natürlich zu unterbinden, und einer wirklich nachhaltig geordneten Abfallwirt- dazu hat die rot-grüne Koalition in Nordrhein-West- schaft danken. falen ganz wesentlich beigetragen. Für nächsten Monat haben Sie ja die Vorstellung (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So, einer Altautoverordnung angekündigt. Aus der Be- und jetzt kann es wieder normal weiterge- schlußempfehlung des Umweltausschusses ersehen hen!) Sie, daß wir unsere Vorstellungen dazu längst formu- Bei diesem Dilemma, in dem wir bei der Müllver- liert haben. Sie basieren auf Vorschlägen des Vor- brennung stecken, hilft auch nicht das Vermeidungs- gängers von Frau Merkel, Henn Töpfer, die nicht so placebo eines Kreislaufwirtschaftsgesetzes, meine schlecht waren, daß man sie mit „Umweltpolitik Damen und Herren, denn diesem neuen Abfallgesetz light" bezeichnen müßte, im Gegensatz zu Ihrer Ab- fehlt ja jeglicher ernsthafte politische Wi lle zur Ab- fallpolitik. fallvermeidung. Lediglich eine Verbalfloskel, keine Realverpflichtung hat Eingang in Ihr Gesetz gefun- Die Karawane zieht weiter, He rr Staatssekretär, den. Deshalb waren wir gezwungen, diese vielfälti- aber die Frage ist doch: mit welchen Autos? Kommen gen parlamentarischen Initiativen zu ergreifen. Sie uns doch nicht mit dürftigen Selbstverpflichtungs- erklärungen der Automobilindustrie! Einer der weni- Was hätte nicht alles in das Kreislaufwirtschaftsge- gen fortschrittlichen Ansätze des neuen Abfallgeset- setz Eingang finden können: die Produktverpflich- zes, die noch von dem Vorgänger stammende Pro- tung zum zerlege- und verwertungsfreundlichen duktverantwortung „von der Wiege bis zur Bahre", Öko-Design, die dazu notwendige Reduktion der An- mißrät zum Beispiel bei der geplanten Altautoverord- zahl und Art der Materialien, die Entgiftung der nung zu einem gigantischen, unnötigen und falsch Stoffströme oder die notwendige Materialkennzeich- gerichteten Ankurbelungsprogramm für die Pkw nung, die Produktverpflichtung zu Langlebigkeit Branche. und Nutzungsintensität. All das wäre ganz wichtig gewesen, aber es findet in Ihrem Gesetz nicht einmal Meine Damen und Herren, merken Sie auf! Die im unter dem Etikett „wünschenswert" Erwähnung. neuen Abfallgesetz formulierte Produktverantwor- Statt dessen werden darin minutiös und ausufernd tung sollte natürlich auch für die Regierungsarbeit Heizwert- und Temperaturvorgaben zur Müllver- gelten. Für Ihre Produkte vom Kreislaufwirtschafts- brennung gemacht, die nicht nur der stofflichen Ver- gesetz bis hin zur angekündigten Altautoverordnung wertung als energetische gesetzlich gleichgestellt, gilt: Wer sie in die Welt setzt, der muß sie auch ent- sondern ideologisch sogar noch als höherwertig sorgen - „von der Wiege bis zur Bahre". verbrämt wird. Das haben wir soeben durch Herrn Kampeter wieder erfahren. Danke schön. Dies dokumentiert deutlich die Zukunftsunfähig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keit der Abfallpolitik der Bundesregierung und zeigt sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [PDS]) 11880 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem durch eine thermische Behandlung. Sie sind nach Abgeordneten Professor Rainer Ortleb das Wo rt . Meinung des Umweltbundesamtes auch nicht ko- stengünstiger. Dr. Rainer Ortleb (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Überlegungen der SPD-Umweltminister, Überka- Damen und Herren! Zu Anfang darf ich mir einen pazitäten bei der Müllverbrennung durch Kunststoff- lockeren Scherz erlauben: Manusk ript oder kein Ma- verpackungen zu füllen, sind ein Salto rückwärts. nuskript? Vorige Woche hatte ich enormes Pech: Da Vor fünf Jahren schrieb der SPD-geführte Bundesrat wurde zu Protoko ll gegeben, und ich hatte keines. die stoffliche Verwertung fest; jetzt sollen drei Viertel Heute habe ich vorsichtshalber ein Manuskript. aller Kunststoffverpackungen im Müllofen landen. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ (Marion Caspers-Merk [SPD]: Das ist DIE GRÜNEN]: Sie müssen ja nicht spre- Unsinn!) chen! Es zwingt Sie niemand!) Da bleibt die Produktverantwortung auf der Strecke. Vor einigen Tagen ist das Kreislaufwirtschaftsge- setz in Kraft getreten. Es wird oft kritisiert, es werde (Zustimmung bei der CDU/CSU) zuviel geregelt, und die Umsetzung des Gesetzes Verwertungskapazitäten, die geschaffen wurden, ge- werde hohe Kosten verursachen. Diese Kritik halte hen verloren - und damit auch Arbeitsplätze. ich für unberechtigt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Mit der Übernahme von EG-Abfallrecht wurde das Jürgen Koppelin [F.D.P.]) deutsche Abfallrecht auch auf die Verwertung aus- gedehnt. Das Umdeklarieren in verwertbares Wi rt Die F.D.P. will die Kreislaufwirtschaft ausbauen. -schaftsgut, um der Abfallüberwachung zu entgehen, Der von den Grünen und der SPD eingeschlagene wird es nicht mehr geben. Durch diese Ausdehnung Weg der Verordnungen findet aber nicht unsere Zu- der zu überwachenden Abfallmengen brauchen wir stimmung. Wir setzen auf die Freiwilligkeit der Wirt zwangsläufig ein neues, abgestuftes Ü berwachungs- -schaft, sofern damit unsere umweltpolitischen Ziele system. Natürlich müssen auch Anforderungen an erreicht werden. Für Altautos und den Bereich der die Verwertung gestellt werden. Bürokommunikationsmittel wurden bereits Selbst- verpflichtungen zur Rücknahme und Verwertung ab- Die Rechtsverordnungen für den Vollzug sind ge- gegeben. Wir brauchen dafür noch die rechtlichen rade noch rechtzeitig erlassen worden. Es hätte im Rahmenbedingungen. Die Bundesregierung soll die Interesse aller gelegen, sie früher zu beschließen; „schlanken" Begleitverordnungen rasch vorlegen. aber die schwierigen Verhandlungen mit den Bun- Dieser Weg ist auch für die Koalition ein Lernprozeß. desländern ließen dies nicht zu. Die F.D.P. begrüßt, Freiwillige Kooperation der Wi rtschaft und Wettbe- daß die dirigistischen Vorstellungen der Länder sich werbsrecht müssen in Übereinstimmung gebracht nicht durchgesetzt haben. Sie wollten den Abfallka- werden. talog aufblähen. Sie wollten die Abfälle und Sekun- därrohstoffe völlig unter ihre Kontrolle bekommen. Mit der Novelle der Verpackungsverordnung will Das ist der falsche Weg. Der Staat darf seinen Voll- die F.D.P. die Rahmenbedingungen für die mittel- zugsauftrag nicht dazu mißbrauchen, staatseigene ständische Entsorgungswirtschaft verbessern. Dazu Betriebe mit Abfällen zu füllen und der Privatwirt- gehören Ausschreibungspflicht, die Beschneidung schaft Konkurrenz zu machen. des kommunalen Einflusses und Kostentransparenz. Wir wollen einen an der ökologischen Vorteilhaftig- Die oft geäußerte Kritik an den überhöhten Kosten, keit ausgerichteten Verwertungsmix aus werkstoffli- die angeblich durch das Kreislaufwirtschaftsgesetz cher, rohstofflicher und energetischer Verwertung. entstehen, ist nicht nachzuvollziehen. Die bisherigen Es wird spannend sein, zu erfahren, was der Bundes- Kostensteigerungen sind unter dem alten Abfallge- rat und was die rot-grünen Länder wollen. setz entstanden. Hier rächen sich die Sünden der Vergangenheit; denn die heute bestehenden Depo- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr rich nien bedürfen der aufwendigen und teuren Nach--tig!) sorge über ihren Bet rieb hinaus. Den Mehrweganteil bei den Getränken will die Die vom Bundesrat in der TA Siedlungsabfall F.D.P. stabilisieren. Die Ökobilanz spricht hier ein- durchgesetzte Verlängerung der Übergangsfristen deutig für Mehrweg. Gleichzeitig haben wir es mit für Deponien von acht auf zwölf Jahre war ein Feh- einem Verdrängungswettbewerb zu Lasten der klei- ler. Jetzt verfüllen die Deponiebetreiber nach Kräf- nen und mittelständischen Brauereien zu tun. Vor al- ten, und Müllverbrennungsanlagen laufen teilweise lem in den neuen Ländern hat sich der Trend zum leer. Statt weiterhin auf Deponien zu setzen und ver- Dosenbier verstärkt. zweifelt nach Abfällen dafür zu suchen, sollten Kom- (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ munen Kooperationen eingehen, um nicht ausgela- DIE GRÜNEN) stete Müllverbrennungsanlagen besser zu nutzen. Hier entstehen unnötige Kosten, aber nicht durch das Die jetzt vorgelegten Gutachten zeigen, daß eine Li- Kreislaufwirtschaftsgesetz. zenzierung für Einwegdosen wirksam, praktikabel und auch EG-rechtlich machbar ist. Immer noch auf die kalten Verfahren zu setzen ist der falsche Weg. Mit diesen Verfahren können die (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das müssen Schadstoffe nicht so weit eliminiert werden wie wir noch einmal diskutieren!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11881

Dr. Rainer Ortleb - Das glaube ich Ihnen gerne. ige Woche durch Zufall ans Licht kam. Frau Merkel - man sah es im Fernsehen - war es offensichtlich Die F.D.P. unterstützt solche marktwirtschaftlichen ziemlich peinlich, daß diese Studie veröffentlicht Ansätze auf jeden Fall. Die Bundesregierung sollte wurde. jetzt rasch die Konsequenzen ziehen und Vorschläge unterbreiten. Weiter zum Bau: Der Abbau von mineralischen Bodenschätzen erfolgt nach Bedarf. Gebaut wird, Ich danke Ihnen. was das Zeug hält. Was im Weg steht, reißt man lie- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und ber ab, als es neu zu nutzen; denn Neubau ist allemal dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - profitabler als Um- oder Ausbau. Die Bauabfälle Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wachsen und wachsen. Die Passagen der Friedrich- NEN]: Welche? Das ist die Frage!) straße in Berlin - wir werden sie demnächst sehen - sind dafür ein anschauliches Beispiel.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der Die Bautätigkeit ist für viele Firmen seit der Verei- Abgeordneten Eva Bulling-Schröter das Wort. nigung noch billiger geworden. Vor allem westdeut- sche Baustoffversorgungsunternehmen hatten sich in den neuen Bundesländern rechtzeitig mit Bergbau- Eva Bulling - Schröter (PDS): Herr Präsident! Liebe berechtigungen ausgerüstet, die auch nach der Her- Kolleginnen und Kollegen! Das Kreislaufwirtschafts- ausnahme der mineralischen Bodenschätze aus dem und Abfallgesetz ist in einigen Punkten ein Fort- - Bergrecht die Tür zum fast ungehinderten Raubbau schritt gegenüber dem alten Abfallrecht. öffnen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: In allen Die Gleichstellung von stofflicher und energeti- eigentlich!) scher Verwertung von Abfällen wird in Verbindung Seine Mängel treten jedoch deutlich zutage. Der mit den Forderungen der TA Siedlungsabfall für ein Kreislaufgedanke wurde in wesentlichen Teilen den gigantisches Müllverbrennungsprogramm sorgen. Interessen der Entsorgungswirtschaft geopfert. Trotz Gerade wird in Köln eine Müllverbrennungsanlage verabschiedetem untergesetzlichen Regelwerk gebaut, die für eine Abfallmenge von 420 Kilo pro herrscht große Unsicherheit über den Gesetzesvoll- Kopf ausgelegt ist. In Wuppertal, also in einer ver- zug. gleichbaren Region, hat die do rt existierende MVA allerdings schon Mühe, die do rt zugrunde gelegten Wie der Deutsche Landkreistag mitteilte, haben 220 Kilo je Einwohner zusammenzubekommen. kommunale Praktiker erhebliche Zweifel, ob der Zeitdruck, unter dem die Beratungen von nicht weni- Der Oberbürgermeister von Ingolstadt forderte An- ger als sieben Verordnungen geführt wurden, der fang dieses Monats eine Verbrennungspflicht für Ge- Qualität dieser Vorschriften gutgetan habe. meinden, die ihren Müll noch deponieren. Meine Heimatstadt hat nämlich gerade zwei Müllverbren- Der Umweltrat hat in seinem Jahresgutachten 1996 nungslinien im Wert von 350 Millionen DM eröffnet - darauf hingewiesen, daß seit der 10. Wahlperiode bloß der Müll fehlt. 50 000 Tonnen freie Kapazitäten Verordnungen zur Ausgestaltung des bis September pro Jahr sollen nun als Grund dienen, die klassische gültigen Abfallgesetzes für 17 Regelungsbereiche ei- Deponierung von Abfällen schon vor dem Jahre ner Verabschiedung harrten. So kann man wohl ge- 2005 zu verbieten. Wie immer ist Bayern der Vorrei- trost davon ausgehen, daß der Kreislaufgedanke in ter. den für die Wirtschaft empfindlichen Bereichen des Abfallrechts auch nach Inkrafttreten des Kreislauf- Das Ganze zeigt also, daß durch die Abfallpolitik wirtschaftsgesetzes und seines untergesetzlichen Re- ein gigantischer Sog nach Müll entstanden ist - zum gelwerkes kaum Konturen bekommen wird. Dement- Nutzen der Anlagenbauer. Es gibt keine Konkurrenz sprechend existiert weder eine Altpapier- noch eine zur Vermeidung von Müll, sondern eine Konkurrenz Batterie- und Akkumulatorenverordnung. Gleiches um Abfall. gilt für eine Altauto- und eine Elektronikschrottver- (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ ordnung. DIE GRÜNEN - Steffen Kampeter [CDU/ Der mit zirka 285 Millionen Tonnen in 1992 größte CSU]: Das stimmt nur teilweise!) Posten am gesamten Abfallaufkommen, die Bauab- Doch der Schwindel beginnt schon beim dualen fälle, wird weiterhin größtenteils auf Deponien lan- System. Seien Sie doch einmal ehrlich, meine Damen den. Eine Bauabfallverordnung scheint hier notwen- und Herren von der Koalition: Die Zahlen des DSD dig, wird aber von der Bundesregierung mit dem stimmen doch überhaupt nicht. Das können wir auch Verweis auf Verhandlungen zur Selbstverpflichtung beweisen. nicht erlassen. Angesichts des Rohstoffverbrauchs im Bausektor und der bekannten Strukturen dürfte eine (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn alle Selbstverpflichtung hier wohl ein denkbar ungeeig- um Müll konkurrieren, dann muß es doch netes Instrument sein. wohl weniger geworden sein, oder? - Ent weder ist es weniger oder mehr! Es ist (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- offensichtlich weniger!) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nicht nur, daß Kunststoffe mit dem Grünen Punkt auf „Umweltpolitisch ungeeignet" - dieses Zeugnis Kippen im Trikont landen. Wie Stichprobenuntersu stellt übrigens auch die aktuelle Studie aus, die vor- chungen in Berlin-Hellersdorf ergaben - das ist eine 11882 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Eva Bulling-Schröter ganz neue Studie -, werden im Neubaugebiet mit Das ist der wirkliche Fortschritt, den wir verzeichnen 100 000 Einwohnern nur 10 bis 13 Prozent der Ver- können. bundstoffe mit dem Grünen Punkt wiedererfaßt - und das bei gesetzlich vorgeschriebenen Erfassungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) quoten zwischen 64 und 72 Prozent. Ich denke, dies Trotzdem bleiben viele gravierende Probleme; ich ist ein Beispiel dafür, wie weit postulierter Anspruch kann nur einige ansprechen. Nehmen wir das Bei- und Realität in der Abfallpolitik auseinanderdriften. spiel Sonderabfälle. Ich will die Recyclinganstren- gungen der Industrie in gar keiner Weise kleinreden. Noch einmal: Es gibt zu viele überdimensionierte Im Produktionsprozeß hat sich in Richtung abfallver- Müllverbrennungsanlagen. meidende Verfahren wirklich einiges getan. Dazu (Beifall bei der PDS) hat übrigens auch die Sonderabfallabgabe beigetra- gen, die Länder wie Baden-Württemberg, Hessen Wenn sich ein CSU-Landrat hinstellen und sich bei oder Niedersachsen eingeführt haben. der Bevölkerung dafür entschuldigen muß, daß er zu groß gebaut hat und es zu teuer wird, dann kann (Beifall des Abg. Michael Müller [Düssel man, so denke ich, Fehler ruhig einmal zugeben. Das dorf] [SPD] und des Abg. Dr. Jürgen sollten auch Sie endlich einmal tun. Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- Der weitverbreitete Optimismus aber, den Sie un- ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE terstützen, wonach ein Rückgang um 50 Prozent ein- GRÜNEN) - getreten sei, ist nicht gerechtfertigt. Bei ehrlicher Be- trachtung haben wir einen Rückgang um etwa ein Viertel bis ein Drittel; auch das ist schon ein Erfolg. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein das Wo rt. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Anerkennen Sie das bitte auch!)

Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Herr Präsident! Liebe Nur bleibt die Frage: Wo sind denn die Kanäle, in Kolleginnen und Kollegen! Wer noch vor zwei oder denen der Giftmüll verschwindet? Tatsache ist - das drei Jahren die Feststellung getroffen hat, das Abfall- wurde schon gesagt -, daß Überkapazitäten vorhan- problem sei das Umweltproblem Nummer eins, der den sind. Aber man muß ja den Ursachen für den mußte kaum mit Widerspruch rechnen. Wenn man scheinbar so imponierenden Rückgang nachgehen. aber heute den Kollegen von der Koalition zuhört, Diese Ursachen sind, daß diverse Pseudo-Verwer- insbesondere Ihnen, Herr Kampeter, tungswege eingeschlagen werden. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dann kann (Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE man uns gratulieren, Frau Hartenstein!) GRÜNEN]: Sehr richtig!) dann hat man den Eindruck, im Müllsektor sei plötz- Erstens werden große Mengen an Sonderabfällen, lich alles paletti. Das ist aber leider nicht so. besonders sogenannte Flüssigprodukte wie Altöl oder verschmutzte Lösemittel, als Wertstoffe dekla- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Es ist schon besser riert, nach Belgien und Frankreich transportiert und geworden!) dort in Zementwerken verbrannt, übrigens ohne Rauchgasreinigung. Das ist billiger als die ordentli- - Das stimmt nicht, nicht für den Sondermüll, schon che Entsorgung in einer deutschen Anlage, die der gar nicht für den Verpackungsmüll, auch nicht für 17. BImSchV unterworfen ist. die Einweg-Lawine, die ständig weiter anschwillt. Beträchtliche Mengen an Sondermüll werden auch Im übrigen wird dieser Sachverhalt nicht dadurch weiterhin als Brennstoffe nach Osteuropa verfrach- besser, daß Sie uns überflüssigerweise noch einmal tet, zum Beispiel nach Polen und nach Rumänien. die Geschichte des Kreislaufwirtschaftsgesetzes zu Der Grund ist derselbe: Billigentsorgung ohne Be- erzählen versuchen. Das hilft nicht weiter. rücksichtigung strenger ökologischer Standards. Das (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es scheint verfälscht übrigens die Abfallstatistik gewaltig; denn mir aber notwendig zu sein!) diese Mengen fallen aus der Statistik heraus, weil sie ja nicht mehr als Abfälle gelten, sondern als Wert- Eines allerdings hat sich positiv verändert; das stoffe. Das ist nicht akzeptabel. möchte ich ausdrücklich hervorheben: Wenn Erfolge beim Abschmelzen der Müllberge erzielt worden Der zweite Schlupfweg ist die Ablagerung von sind, dann ist das in erster Linie den Bürgerinnen Sonderabfällen in ausgedienten Bergwerken und und Bürgern zu verdanken, die ein sehr hohes Um- Salzstollen. Dazu bemerkt - hören Sie einmal bitte weltbewußtsein entwickelt haben zu, Herr Kampeter - (Beifall des Abg. Michael Müller [Düssel- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich habe dorf] [SPD]) gerade zum Applaus bei den Kollegen auf gefordert!) und die das Sammeln, Sortieren und Kompostieren sozusagen zu ihrem Hobby gemacht haben. das Umweltbundesamt in seinem Jahresbericht 1995, der ja vor knapp einer Woche vorgelegt worden ist, (Beifall des Abg. Steffen Kampeter [CDU/ diese Entwicklung bei der untertägigen Entsorgung CSU]) von Abfällen sei nicht erfreulich. Wörtlich heißt es: Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11883

Dr. Liesel Hartenstein Insbesondere nimmt die Menge der auf diese Schöne neue Abfallwelt - sie ist noch keineswegs Weise beseitigten Sonderabfälle erheblich zu: Sie Wirklichkeit. Es ist zu befürchten, daß sie auch mit ist inzwischen doppelt so hoch wie die in zugelas- dem Kreislaufwirtschaftsgesetz nicht verwirklicht senen Untertagedeponien beseitigte Abf all wird, wie Sie das als wundersames Gemälde an die -menge - mit steigender Tendenz. Wand werfen. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Hört! (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ver- Hört!) spricht die Politik auch nicht, dafür aber vernünftige Lösungen! - Ulrich Heinrich Das ist die Realität. Wen wundert es, daß parallel [F.D.P.]: Wir sind ihr aber nähergekommen!) dazu die Einlagerungsmenge etwa in der Untertage- deponie in Herfa-Neurode in Hessen stark zurück- - Das müssen Sie mal erläutern. geht? 1991 wurden dort noch 150 000 Tonnen einge- Wer soll eigentlich noch die Entsorgungswege lagert; jetzt sind es noch knapp 90 000 Tonnen. Das kontrollieren, wenn infolge Ihrer, Herr Heinrich, De- hat übrigens entsprechende Konsequenzen für die regulierungsphilosophie und Ihrer Privatisierungsbe- Arbeitsplätze in diesem Raum und in dieser Anlage. geisterung künftig Der Grund dafür ist einfach: Das Abkippen von Son- dermüll in dafür nicht gesicherten Bergwerken ko- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Alles mit stet zwischen 100 und 300 DM pro Tonne; in geneh- Ihrer Zustimmung beschlossen, Frau Har migten Untertagedeponien dagegen kostet es 800 bis tenstein!) 900 DM pro Tonne. So wird der Sondermüll eben an- Herfa-Neurode vorbei transportiert und zum Beispiel - in diesem Punkt nicht, Herr Kampeter; das stimmt nach Bernburg oder Teutschenthal in Sachsen-An- überhaupt nicht - jeder gewerbliche Abfallproduzent halt gebracht. Gleiches gilt übrigens auch für die al- selber entscheiden kann, wie und wo er seinen Müll ten Bundesländer; das ist nicht auf die neuen be- entsorgt? schränkt. Da wird zum Beispiel fröhlich das alte Salz- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das steht im bergwerk in Kochendorf in Baden-Württemberg auf- Gesetz! Das ist mit Ihrer Zustimmung gefüllt, und die zehn Kilometer entfernte beschlossen worden! - Michael Müller (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was ist [Düsseldorf] [SPD]: Das stimmt doch nicht!) denn dagegen einzuwenden?) - Langsam! Er wird ihn dahin kutschieren lassen, wo - ich sage es Ihnen gleich - zugelassene Untertage- er die billigsten Entsorgungsmöglichkeiten findet. deponie in Heilbronn wird geflissentlich gemieden. Diese Auffassung ist auch aus Ihren Reihen zu hören, Diese Mißstände müssen endlich abgestellt werden. wie Sie sich genau erinnern werden, wenn Sie die Diskussion im Ausschuß verfolgt haben. Das liegt (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE doch auf der Hand. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Sie, Herr Kampeter, fragen: Warum? Hier tickt ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN doch eine hochgefährliche Zeitbombe: und der PDS - Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Frau Hartenstein, haben Sie für das (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn das Gesetz gestimmt oder nicht?) sicher ist, dann doch wohl kaum!) Eine Studie des Wuppertal-Instituts prognostiziert mit drohender Grundwasserverseuchung, dem Aus- eine Verzwanzigfachung der Abfalltransporte, zumal tritt von Schadstoffen, möglichem Zusammenbre- das Prinzip der Nahentsorgung auch bei Abfällen für chen von instabilen Hohlräumen und anderem mehr. Verwertung aufgegeben worden ist und die Trans- Genau diese Problematik greift unser Antrag auf, portkosten überhaupt nicht ins Gewicht fallen. den Sie abgeschmettert haben. Wir verlangen, daß (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer tritt die Einbringung von bergbaufremden Abfällen als eigentlich für Kooperation ein? Das ist doch Versatzstoffen den gleichen materiellen Anforderun- etwas Vernünftiges!) ' gen unterworfen werden soll, wie sie in der TA Abfall, Teil 1, vorgeschrieben sind. Ich frage Sie, warum Sie - Um Ihnen da kurz zu antworten: Wir haben im Rah- dies eigentlich abgelehnt haben. Ich möchte darauf men der Arbeit im Vermittlungsausschuß vieles ver- hinweisen, daß dieselbe Forderung der Umweltmini- bessern können. Wir haben aber bei weitem nicht al- sterrat im Mai 1995 bereits erhoben hat, und zwar les reparieren können, was in diesem Gesetzentwurf einstimmig. Auch dies vermerkt der Jahresbericht und in dem zur Zeit gültigen Gesetz reparaturbedürf- des Umweltbundesamtes. Der Erklärungszwang liegt tig ist. bei Ihnen, nicht bei uns. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Hartenstein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kampeter? Das Umweltbundesamt sagt, es sei besorgt wegen dieser Entwicklung. Auch wir sind es. „Zu spät!" (SPD): Ja, bitte. könnte es eines Tages heißen, wenn Flüsse wie der Dr. Liesel Hartenstein Neckar oder die Saale oder die Elbe durch austre- tende Giftstoffe verseucht sind. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön. 11884 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Steffen Kampeter (CDU/CSU): Frau Kollegin Har- Bierdosen. Wer wissen will, wie Preisdumping funk- tenstein, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, tioniert, der kann es am Biermarkt ganz genau stu- daß in Ihrer Argumentation eine gewisse Spannung dieren. Großbrauereien unterbieten derzeit die besteht? Auf der einen Seite beklagen Sie die angeb- Preise für Flaschenbier bis zu 50 Prozent. Die Entsor- -lich enormen Überkapazitäten bei den Behandlungs gungskosten für den Einwegmüll trägt aber die All- und Entsorgungsanlagen. Auf der anderen Seite be- gemeinheit. klagen Sie, daß auch Abfälle transportiert worden sind. In diesem Bereich herrscht ein knochenharter Ver- drängungswettbewerb, der letztlich zu Lasten der Beides kriegt man aber nur gedeckt, wenn man re- Pfandflasche, zu Lasten des Mehrwegsystems und gional kooperiert, um die Kosten zu reduzieren. Das auch zu Lasten des mittelständischen Gewerbes setzt voraus, daß nicht jeder Kreis seine Sonderabf all- geht, das doch ganz besonders Ihnen am Herzen lie- anlage, nicht jeder Kreis seine Müllverbrennungsan- gen müßte, Herr Heinrich - ob es nun Brauereien, lage und nicht jeder Kreis seine Hausmülldeponie Mineralbrunnen oder Hersteller von Fruchtsäften hat, sondern daß man regional kooperiert und damit sind. gelegentlich auch mal Abfälle transportiert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Unter dem Strich - Frau Kollegin Hartenstein, sind PDS) Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen? - kommt das für den Bürger allerdings günstiger und wird im übri- Ich muß zum Schluß kommen. Unsere Forderung gen auch von der rot-grünen Koalition in Nordrhein- ist: Warten Sie nicht, bis es zu spät ist! Wir bestehen Westfalen darauf, daß der Erlaß einer Mehrwegverordnung un- verzichtbar ist. Sie muß getränkespezifische Quoten (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Er hat festlegen. Sie muß eine Kennzeichnungspflicht für da ein Trauma!) Einweg und Mehrweg enthalten, um dem Verbrau- cher klare Entscheidungsmöglichkeiten zu geben. genauso wie von mir gefordert. Sie muß bei Massengetränken zu einer Standardisie- rung für Behälter und Kästen kommen, um Rück- Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Herr Kollege Kampe- nahme und Rücktransport so rationell wie möglich zu ter, in der Schule würde man sagen „Thema ver- gestalten. fehlt"; denn darüber habe ich überhaupt nicht ge- sprochen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dr. Hartenstein! PDS) Ich habe nicht bestritten, daß die Mengen zurückge- Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Ich komme zum gangen sind. Ich habe nur zu erklären versucht, in Schluß, Herr Präsident. - Der Zug ist längst im Rol- welche Kanäle die offensichtlich so stark gesunke- len; aber die Politik sitzt nicht auf der Lokomotive, nen Abfallmengen - das tragen Sie triumphierend sondern sie läßt den Zug treiben. Wer nicht rechtzei- vor sich her - tatsächlich gehen. Das kann ich Ihnen tig die Richtung angibt, der wird sich einmal wun- belegen - geographisch und auch mit Zahlen, wenn dern, wohin er kommt. Wenn Sie Ihre Hausaufgaben Sie das wollen, nicht im Augenblick; aber ich liefere machen, das gern nach. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Haben wir (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Darüber gemacht!) würde ich mich sehr freuen!) dann sind wir bereit, mitzuarbeiten. - Oh ja. Wir haben Gelegenheit dazu, ich hoffe das. Danke schön. . Meine Damen und Herren, das Kreislaufwirt- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schaftsgesetz enthält zweifellos gute Ansätze. Das GRÜNEN und der PDS) bestreiten wir nicht.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das hätten Sie frü- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun gebe ich her sagen sollen!) das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Wal- Aber es bringt nicht den großen Sprung nach vorn zu ter Hirche. einer vermeidungsorientierten Abfallwirtschaft. So- lange noch Konstruktionen wie das Duale System Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- das Sagen haben und das Feld beherrschen, hat die ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- Abfallvermeidung keine Vorfahrt. Daran werden Sie cherheit: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! nichts ändern können. Die Regierung und die Koalition haben sehr wohl ihre Hausaufgaben gemacht, und ich glaube, das ist (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer sitzt es, was den Ärger bei der SPD auslöst. denn im Kuratorium? Der Abgeordnete Müller!) (Rolf Köhne [PDS]: Welche Zensur hat sie denn dafür gekriegt? Sechs!) Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Dosenpro- blematik. 6 Milliarden Dosen sind allein im Geträn- Wir haben ja im Laufe des letzten halben Jahres kebereich auf dem Markt. Die Hälfte davon sind hier mehrere Debatten erlebt, in denen gesagt Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11885 Parl. Staatssekretär Walter Hirche wurde, daß die Regierung das untergesetzliche Re- gen, daß die eine oder andere Maßnahme nicht frü- gelwerk nicht rechtzeitig fertigstellen würde. Wir ha- her erfolgt, aber wer hier ohne Schaden für die deut- ben es rechtzeitig getan, meine Damen und Herren. sche Volkswirtschaft eine solche Umsteuerung errei- Wenn es da überhaupt eine Verzögerung gegeben chen will, der muß eben auch auf mittel- und langfri- hat, dann lag das daran, daß wir das im Vorfeld sehr stige Prozesse setzen. sorgfältig mit den Ländern und auch mit den ver- schiedenen Verbänden vordiskutiert haben. Da kann Die Bundesregierung setzt darauf, daß mit Über- überhaupt niemand sagen, der Tag der Veröffentli- zeugung der Betroffenen und einem Mindesteinsatz chung oder der Verabschiedung sei der Tag gewe- von ordnungsrechtlichen Instrumenten die Produkt- sen, an dem diese Dinge zum erstenmal bekannt ge- verantwortung schrittweise und in besonders wichti- worden wären. Nein, die Länder und die Kommunen gen Bereichen eingeführt werden kann. Ich denke, hatten sehr viel Zeit, sich auf die ganze Situation vor- wir sind hier auf einem guten Wege. zubereiten. Meine Damen und Herren, wie die Erfahrungen Meine Damen und Herren, eines ist hier deutlich mit der Verpackungsverordnung zeigen, erfordert geworden: Der Rahmen der Abfallwirtschaft ist abge- eine Kreislaufwirtschaft mehr als ein schlichtes ord- steckt, und das Kreislaufwirtschaftsgesetz hat be- nungspolitisches Denken. Wir haben mit der Verpak- reits vor seinem Inkrafttreten auch entsprechende kungsverordnung erstmals die Produktverantwor- Verhaltensweisen ausgelöst. tung eingeführt. Der Hauptpunkt in den Diskussionen mit den Län- Man kann doch an den Zahlen nicht vorbeigehen, dern war - deswegen habe ich mich schon etwas- Frau Hartenstein, die sich da ergeben haben. Sie ha- über einige Vorwürfe amüsiert, die hier kamen -, daß ben es ja im zweiten Teil Ihrer Ausführungen auch wir die Länder davon abhalten mußten, noch mehr eingeräumt. Zwischen 1990 und 1993 - das sind die Regelungen einzuführen, als sie von Europa über- letzten Zahlen, die vorliegen - ist die Gesamtmenge haupt vorgegeben waren. des Abfalls von 370 auf 330 Mil lionen Tonnen zu- rückgegangen, und im Verpackungsbereich allein ist (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr rich von 1991 bis 1995 der Abfall um über eine Million -tig!) Tonnen zurückgegangen. Das sind immerhin Die Länder waren es doch, die versuchen wollten, 14 Prozent in dieser Zeit von vier Jahren. die Kataloge von überwachungsbedürftigen und be- Der Vorwurf, hier gebe es nicht genug Transpa- sonders überwachungsbedürftigen Abfällen noch renz, Frau Caspers-Merk, der greift überhaupt nicht. weit über das europäische Vorgabemaß hinaus aus- Denn Sie könnten diese Kritik gar nicht üben, wenn zuweiten. es eine solche klare Transparenz über alle Zahlen an dieser Stelle nicht gäbe. Wir haben das nicht mit uns machen lassen. Inso- fern ist mit diesen Verordnungen nicht mehr Büro- Auch die Bilanz, daß dem Dualen System seit 1993 kratie gemacht worden, sondern wir haben die Dere- Verwertungsmengen von mehr als 14 Millionen Ton- gulierungsmöglichkeiten des Gesetzes ausgeschöpft. nen zugeführt worden sind, kann sich sehen lassen. Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt. Wir haben da- mit auch das Ziel geschafft, unser Gesetz so nahe wie (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) möglich an den europäischen Vorgaben sein zu las- Die unter der geltenden Verpackungsverordnung ge- sen. machten Erfahrungen werden natürlich in die Novel- Wenn es hier wirklich einen internationalen Markt, lierung einfließen. einen Abfallmarkt, Abfallströme und Verhaltenswei- Da hier beim Thema Mehrwegquote eine Ver- sen gibt, dann ist es wichtig, daß wir in diesem Zu- schärfung der Richtlinien gefordert wurde, darf ich sammenhang nicht überall Sonderregelungen ha- vielleicht bemerken: Wir führen derzeit einen noch ben, sondern daß wir den Versuch machen, in Eu- nicht beendeten Streit mit der Europäischen Kom- ropa einheitliche Regelungen zu bekommen. mission, die der Bundesregierung vorwirft, wir hätten Wir haben die modernen Instrumente der Auditie in Deutschland eine zu stringente Mehrwegquote, rung und Zertifizierung über die Verordnungen aus- und dies sei ein Verstoß gegen den freien Wettbe- gefüllt, indem Entsorgerfachbetriebe und Entsorger- werb in Europa. Wir als Bundesregierung teilen diese gemeinschaften in der Abfallwirtschaft eine beson- Auffassung nicht. dere Rolle spielen können. Mit den Übergangsrege- Aber wenn noch nicht einmal das, was wir umge- lungen setzt haben, außer Streit ist, kann man doch nicht, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die sind wie Sie, Frau Hartenstein, das am Schluß getan ha- fair, sehr fair!) ben, nur fordern: Sie muß dieses, sie muß jenes und das auch noch! Wollen Sie denn, daß wir unsere haben Kommunen ausreichend Zeit, sich auf alles Rechtsposition gegenüber Brüssel noch einmal ver- einzustellen, so daß alles das, was Sie hier in der De- schlechtern, am Ende scheitern und dann sehr viel batte dazu vorbringen, völlig abwegig ist. weniger haben als heute? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, jeder von uns weiß, das Kreislaufwirtschaftsgesetz ist auf eine langfristige Bei der Diskussion um die europäische Richtlinie Umsteuerung angelegt. Man kann vielleicht bekla- für Verpackung und Verpackungsabfälle ist man in 11886 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Parl. Staatssekretär Walter Hirche Brüssel jetzt so weit, daß do rt die Absicht besteht, un- Sie haben gesagt, daß das Parlament an solchen Ver- sere deutschen Erfahrungen aufzunehmen, sozusa- ordnungen von Anfang an beteiligt sein sollte. Es gen als Grundmuster für eine europäische Regelung. gibt aber eine klare Trennung zwischen den exekuti- Das fände ich sehr positiv. Wir sollten dann aber auch ven Aufgaben, die der Regierung zugewiesen sind, dafür sorgen, daß diese Regelungen in Deutschland und der Legislative, die das Recht hat, einen Vor- nicht diskreditiert, sondern gelobt werden, damit sie schlag, den die Regierung gemacht hat, in voller Sou- in der Europäischen Union übernommen werden. veränität zurückzuweisen. Gar kein Verständnis kann ich dafür haben, daß ei- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) nerseits beklagt wird, daß für jeden Bundesbürger Ein Parlament, das in die Erarbeitung von Anfang pro Jahr Gebühren in Höhe von etwa 50 DM für das eingebunden ist, wird am Ende nicht in der Lage Duale System anfallen, während andererseits Vor- sein, die Souveränität zu wahren, die Verordnung, an schläge für eine das Duale System ersetzende Ver- der man zunächst mitgearbeitet hat, gegebenenfalls packungsabgabe gemacht werden, zurückzuweisen. Diese Aushebelung der Gewalten- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das kostet teilung werden wir in dieser Form nicht mitmachen. das Fünfzigf ache!) Die Regierung bekennt sich in diesem Zusammen- hang zu ihrer Verantwortung. deren Umsetzung Mehrkosten in deutlich spürbarer Höhe verursachen würde. Was stimmt denn nun? Sind die Gebühren heute zu hoch, oder muß man in Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsse- dem Zusammenhang mehr machen? Ich glaube, an kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abge- diese Frage muß man differenzie rter herangehen als ordneten Dr. Hartenstein? in dieser pauschalen Form vorgetragen. Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Wir haben - das ist richtig - die endgültigen Ver- Walter Hirche, ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- ordnungsentwürfe für den Bereich Elektroschrott cherheit: Gern. und Altautoverwertung noch nicht vorgelegt. Das Kabinett soll sich im November mit der begleitenden Verordnung zur freiwilligen Selbstverpflichtung zur Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte. umweltgerechten Altautoverwertung beschäftigen. und die Selbstverpflichtung Die Altautoverordnung Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Herr Staatssekretär werden, so denke ich, insgesamt zu einer deutlichen Hirche, darf ich Sie daran erinnern oder Ihnen viel- Verbesserung dieses Problems führen. leicht auch mitteilen, falls Sie es nicht wissen sollten, Meine Damen und Herren von der SPD, vielleicht daß der stärkste Verfechter dafür, daß auch der je- müßten Ihnen das die Wirtschaftspolitiker Ihrer Frak- weils zuständige Ausschuß des Deutschen Bundesta- tion einmal deutlich machen: Es macht für eine ges an der Erarbeitung von Verordnungen beteiligt Volkswirtschaft einen Unterschied, ob es in dem sein soll, im Bereich des Kreislaufwirtschaftsgesetzes Wirtschaftsraum Automobilproduzenten gibt, mit de- Ihr ehemaliger Kollege und früherer Innen- und Um- nen man über so etwas reden muß, oder ob dies, wie weltminister war? Auf dessen Betrei- in den Niederlanden, nicht der Fall ist. Von daher ben ist beispielsweise dieser eine Passus auch in das sind diese Vergleiche zwar bemerkenswert, aber das Kreislaufwirtschaftsgesetz aufgenommen worden. läßt sich eben nicht Punkt für Punkt auf Deutschland (Dr. Gerhard F riedrich [CDU/CSU]: Was? übertragen. Da waren wir aber nicht dabei!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr rich -tig!) Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- Dennoch bin ich immer der Meinung - insofern cherheit: Frau Kollegin, vielleicht sind hier in der Dis- nehme ich das auf -, daß man von anderen lernen kussion zwei Dinge durcheinandergekommen. Ich sollte. kann es mir nicht vorstellen - dazu kenne ich den (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Kollegen Baum zu lange -, daß er einer Vermischung der Gewalten das Wo rt geredet hat. Er wird vorge- Die IT-Geräte-Verordnung stellt - das wissen Sie - schlagen haben, daß die Regierung ihre Aufgabe zu- nur eine erste Teilregelung für den Bereich des Elek- nächst erledigen muß, daß dann aber, bevor eine tronikschrotts dar. Aber sie spielt insofern eine A rt Verordnung in Kraft gesetzt wird, das Parlament in Pfadfinderrolle für die Betroffenen. Die Rücknahme einen Dialog einbezogen werden muß und darüber aller Geräte durch die Hersteller stellt hier eine dann gemeinsam gesprochen wird. Grundpflicht dar. Die Regelungen zielen in der Tat darauf ab, der Produzentenverantwortung Rechnung Es kann doch nicht darum gehen, daß die Regie- zu tragen. Das wird dann auch bei der Verordnung rung, statt daß sie ihre Arbeit macht und dabei auch für den Bereich der Batterien der Fall sein. mit den Verbänden und Betroffenen redet, sich erst einmal rückversichert, ob die Dinge überhaupt lau- Einem Wunsch kann ich nicht entsprechen - ich fen. Das ist nicht mein Verständnis von Gewaltentei- glaube, Sie waren es, Frau Caspers-Merk, die das lung und von Regierungsverantwortung. hier vorgeschlagen, wenn nicht gefordert hat -, näm- lich daß die Gewaltenteilung, in der heute Verord- Das schließt jedoch überhaupt nicht aus, daß man nungen erarbeitet werden, quasi aufgehoben wird. vor Inkraftsetzen der Verordnung mit dem Parlament Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11887

Parl. Staatssekretär Walter Hirche redet. Das halte ich für eine Neuerung im Sinne ei- Meine Damen und Herren, die Regelungswut be- nes offenen Umgangs zwischen den Gewalten. steht an dieser Stelle auf Grund der Beschlußlage von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat darin, daß wir sehr strenge und präzise Vorschriften Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsse- im Zusammenhang mit dem Abfall erlassen haben. kretär, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kampeter? Herr Rochlitz, Sie sprachen an dieser Stelle von Re- gelungswut. Sie meinen, das müßte beseitigt wer- den, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Sie Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- diese Bedingungen für falsch halten. Das ist vorhin in ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- der Debatte so auf den Punkt gebracht worden: Der cherheit: Ja. Gesundheitsschutz für die Enkel ist Ihnen nichts wert; das ist für Sie eine Nullsumme. Sie wollen nur Ihre Polemik gegen Verbrennung und gegen die Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Kollege Hir- Vorschriften aufrechterhalten. che, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Kollege Baum an der Vorbereitung dieser Rechtsvor- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schrift überhaupt nicht beteiligt war, sondern daß Eines ist allerdings zu befürchten. Einige Länder dies ausschließlich von den zuständigen Berichter- glauben, im Zusammenhang mit Ausnahmebestim- stattern der Koalition für das Kreislaufwirtschaftsge- mungen, die in der TA Siedlungsabfall stehen, heute setz initiiert worden ist? ihren Kommunen empfehlen zu sollen - Niedersach- (Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Aber da sen ist so ein Fall -, keine Verbrennungsanlagen zu sagen Sie nun die Unwahrheit!) bauen, sondern alles auf die Deponien zu bringen. Ich sage Ihnen: Das bedeutet, morgen muß das wie- der von den Deponien heruntergeholt werden und Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- anschließend verbrannt werden. Das verursacht dop- ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- pelte Kosten, und dafür sind Sie in den Ländern, in cherheit: Ich nehme das zur Kenntnis, Herr Kollege; denen Sie an der Regierung beteiligt sind oder die aber ich habe die Kollegin Hartenstein so verstan- Regierung ermuntern, mitverantwortlich. den, daß sie frühere Positionen des Kollegen Baum in (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) diesen Zusammenhang gebracht hat. Meine Bemer- kung bleibt gleichwohl in der Sache stehen. Ein letztes Wort zum Thema Versatz von Abfällen in Bergwerken: Frau Hartenstein, ich bin geradezu Lassen Sie mich zum Thema Kostentreiberei zu- gerührt, in welcher Weise Sie das hier vortragen. nächst darauf verweisen, daß Herr Kampeter und Aber Sie müßten doch die Rechtslage kennen. In den Herr Ortleb auf diese Themen schon eingangen sind. Ländern ist die Bergbehörde zuständig. Jeder Wi rt Diese Kosten sind in einer Zeit entstanden, als das -schaftsminister, dem die Bergbehörde untersteht und Kreislaufwirtschaftsgesetz überhaupt noch nicht in der die Verantwortung dafür trägt, ob Versatz einge- Kraft war. Im wesentlichen sind sie durch Fehlpla- bracht wird oder nicht, muß mit diesem Thema ins nungen auf kommunaler Ebene und durch das Nicht- Kabinett. Wo war denn Ihr Umweltminister Harald vorhandensein von Landesplanungen im Zusammen- Schäfer - wenn Sie das so stört - in Baden-Württem- hang mit der gesamten Abfallthematik verursacht berg und hat das aufgehalten? Das wäre doch mög- worden. lich gewesen. Meine Damen und Herren, auf Grund der Kompe- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tenzverteilung im Föderalismus - hier in Bonn wird der gesetzliche Rahmen beschlossen, während der Meine Damen und Herren, ich finde es schon ganz Vollzug auf den anderen Ebenen liegt - wird auch in erstaunlich, dem Bund etwas vorzuhalten, was man Zukunft vieles von dem, was bei den Bürgern positiv auf Landesebene ohne weiteres in eigener Verant- oder negativ ankommt, nicht im wesentlichen durch wortung hätte regeln können. die Gesetze, sondern durch das bestimmt, was im Ich sage Ihnen noch eines: Seit dem 7. Oktober Vollzug daraus gemacht wird. geht es mit dem Inkrafttreten des Kreislaufwirt- schafts- und Abfallgesetzes sowohl beim Bergversatz Da komme ich auf den wichtigen Punkt der Tech- als auch bei der untertägigen Ablagerung jeweils um nischen Anleitung Siedlungsabfall. Ich möchte ganz Verfahren der Abfallentsorgung. deutlich sagen, daß die Bundesregierung allen Be- strebungen entgegentritt - sie tut dies auf der Basis (Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE der gemeinsam mit dem Bundesrat gefundenen Be- GRÜNEN]: Abfallverwertung!) schlußlage -, die darauf zielen, die strengen Umwelt- Insoweit gelten sowohl für die Verwertung wie für bedingungen aufzuweichen, die mit der TA Sied- die Beseitigung die gleichen Rechtsgrundlagen. In- lungsabfall an den Abfa gestellt worden sind. Ich ll soweit ist seit dem 7. Oktober eine neue Rechtssitua- halte es für ganz erstaunlich, aber nicht untypisch, tion gegeben. Zwar bleibt der praktische Vollzug ab- daß der Kollege Rochlitz an der Stelle, an der es zuwarten, aber es besteht keine Notwendigkeit, eine darum geht, daß über den Parameter Glühverlust ge- Rechtsverordnung in diesem Bereich vorzulegen. sichert wird, daß der Abfall keine tickende Zeit- bombe für nachfolgende Generationen ist, die Rege- Das Kreislaufwirtschaftsgesetz insgesamt hat sich lungswut beklagt. auch vor seinem Inkrafttreten dadurch als gut ausge- 11888 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Parl. Staatssekretär Walter Hirche zeichnet, daß es den richtigen Kurs eingeschlagen fällen in Bergwerken, Drucksache 13/5051, auf. Der hat. Es fehlen noch ein paar Bojen - wenn ich das als Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ jemand von der Küste sagen darf -, die gesetzt wer- 2758 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des den müssen, aber Richtung und Kurs stimmen. Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Hand- zeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Es ist so, daß wir weniger Müll in Deutschland ha- Dann stelle ich fest, daß der Antrag mit der gleichen ben. Das bedeutet, es muß sorgfältiger geplant wer- Stimmenmehrheit wie bisher bei Stimmenthaltungen den. Das wird die Kosten reduzieren und uns allen aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen an- nützen, sowohl was die Finanzen betrifft als auch genommen worden ist. was der Umwelt in Deutschland dient. Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses Schönen Dank. für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Antrag der Fraktion der SPD zu Eckpunkten zur No vellierung der Verpackungsverordnung, Drucksache 13/5158, Buchstabe a, auf. Der Ausschuß empfiehlt, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die den Antrag auf Drucksache 13/2818 abzulehnen. Aussprache. Bevor wir zu den Abstimmungen kom- Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zu- men, möchte ich denen, die es noch nicht wissen, sa- stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegen- gen, daß die Reden zu den Tagesordnungspunkten 13, probe! - Enthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die 14 und 16 zu Protokoll gegeben worden sind. Ich Beschlußempfehlung mit der gleichen Stimmen- nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist, so- mehrheit wie bisher angenommen worden ist. daß wir dann eine Reihe von Abstimmungen im Zu- sammenhang vornehmen können. Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Wir kommen damit zu den Abstimmungen, und Antrag der Fraktion der SPD zum Erlaß einer Geträn- zwar zunächst über die Beschlußempfehlung des kemehrwegverordnung, Drucksache 13/5158, Buch- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- stabe b, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf cherheit zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ Drucksache 13/2855 abzulehnen. Wer der Beschluß- Die Grünen zur Organisation der Abfallvermeidung empfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich auf der Drucksache 13/5023. Der Ausschuß emp- um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthal- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4352 abzuleh- tungen? - Dann stelle ich fest, daß auch dieser An- nen. Wer dieser Empfehlung des Ausschusses zu- trag mit der gleichen Stimmenmehrheit angenom- stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegen- men worden ist. probe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses gegen die Stimmen der Opposition angenommen für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum worden ist. Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zum Erlaß einer Altautoverordnung, Drucksache 13/ Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses 5158, Buchstabe c, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag auf Drucksache 13/3334 abzulehnen. Wer der Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den zu Kriterien für die oberirdische Ablagerung von Ab- bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - fällen auf. Das ist die Drucksache 13/5024. Der Aus- Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch schuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2496 dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition bei abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung des Stimmenthaltungen aus der Fraktion der SPD und Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Hand- Gegenstimmen im übrigen angenommen worden ist. zeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit der gleichen Stimmenmehrheit angenommen wor- für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen den ist. zu einer Elektronikschrott-Verordnung, Drucksache Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses 13/5158, Buchstabe d, auf. Der Ausschuß empfiehlt, für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum den Antrag auf Drucksache 13/4351 abzulehnen. Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zu- zu Verwertungsbeschränkungen für Schlacken aus stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. Gegen- Verbrennungsanlagen für Siedlungsabfälle, Druck- probe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, sache 13/5025 auf. Der Ausschuß empfiehlt, den An- daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der trag auf Drucksache 13/1235 abzulehnen. Wer dieser Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den und Gegenstimmen im übrigen angenommen wor- bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - den ist. Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses Beschlußempfehlung mit der gleichen Stimmen- für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum mehrheit angenommen worden ist. Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses zu einer Verpackungsvermeidungs- und Mehrweg- für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum verordnung, Drucksache 13/5158, Buchstabe e, auf. Antrag der Fraktion der SPD zu einer bundeseinheit- Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache lichen Regelung des untertägigen Versatzes von Ab- 13/4354 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschluß- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11889 Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch empfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Überweisungsvorschlag: Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch Ausschuß für Verkehr (federführend) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Finanzausschuß Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD Ausschuß für Wirtschaft und Gegenstimmen im übrigen angenommen wor- Ausschuß für Fremdverkehr und Tourismus den ist. Haushaltsausschuß c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diet- Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf: mar Schütz (Oldenburg), Annette Faße, Kon- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.- rad Kunick, weiterer Abgeordneter und der Ing. Dietmar Kansy, Dr. Michael Meister, Wer- Fraktion der SPD ner Dörflinger, weiterer Abgeordneter und der Schutz vor Öltankerunfällen und Umwelt- Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne- schäden in europäischen Gewässern ten Hildebrecht Braun, Dr. Klaus Röhl, Horst - Drucksache 13/5155 — Friedrich, weiterer Abgeordneter und der Überweisungsvorschlag: Fraktion der F.D.P. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Aktionsprogramm zur CO2-Minderung und (federführend) Energieeinsparung im Gebäudebereich Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Fremdverkehr und Tourismus - Drucksache 13/5761 — d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diet- Überweisungsvorschlag: mar Schütz (Oldenburg), Annette Faße, Kon- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (fe- derführend) rad Kunick, weiterer Abgeordneter und der Finanzausschuß Fraktion der SPD Ausschuß für Wi rtschaft Schutz der Nordsee durch Schiffsölentsor- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gung in Seehäfen Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technolo- gie und Technikfolgenabschätzung - Drucksache 13/5756 — Ich stelle fest, daß die Reden dazu zu Protokoll ge- Überweisungsvorschlag: geben worden sind und unterstelle das Einverständ- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend) nis des Hauses.*) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/5761 an die in der Tagesordnung e) Beratung der Beschlußempfehlung und des aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Aus- Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- schuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Techno- schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) logie und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Geplante Versenkung der Shell-Ölplatt- Dann ist die Überweisung so beschlossen. form und glaubwürdiger europäischer Nordseeschutz Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14e auf: - zu dem Antrag der Abgeordneten Michaele Hustedt, Dr. Jürgen Rochlitz, Joseph Fi- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gila scher (Frankfurt), Kerstin Müller (Köln) und Altmann (Aurich), Ulrike Höfken, Michaele der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Frak- Das Meer ist keine Müllhalde tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bedrohung der Meere und Zerstörung der - Drucksachen 13/1738, 13/3211, 13/5159 - Küsten durch Ölkatastrophen Berichterstattung: - Drucksache 13/3884 — Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Überweisungsvorschlag: Dietmar Schütz (Oldenburg) Ausschuß für Verkehr (federführend) Michaele Hustedt Ausschuß für Wirtschaft Günther Bredehorn Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Fremdverkehr und Tourismus Auch hierzu sind die Reden zu Protokoll gegeben b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gila worden.') Ich unterstelle das Einverständnis des Altmann (Aurich), Angelika Beer, K ristin Hauses. - Das ist der Fall. Heyne, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen Sofortmaßnahmen gegen die Verseuchung auf den Drucksachen 13/3884, 13/4237, 13/5155 und der Meere durch illegale Öleinleitungen - 13/5756 an die in der Tagesordnung aufgeführten Maßnahmen zur überwachten Entsorgung Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver- von Altölen und Ölschlämmen an Land standen? - Das ist der Fall. Dann sind diese Überwei- - Drucksache 13/4237 - sungen so beschlossen.

*) Die Redetexte werden in einem Nachtrag als Anlage 2 abge- *) Die Redetexte werden in einem Nachtrag als Anlage 3 abge- druckt. druckt. 11890 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- Umgebung durch das Zusammenleben in eheähnli- empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur- chen Verhältnissen zu belästigen" . schutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Genauso ist es auch gekommen. Allerdings fühlt Fraktion der SPD zur geplanten Versenkung der Shell-Ölplattform und zu einem glaubwürdigen euro- sich die Gesellschaft immer weniger von homosexu- ellen, „eheähnlichen Verhältnissen" belästigt. Dafür päischen Nordseeschutz auf Drucksache 13/5159, belästigen die Homosexuellen jetzt sogar schon den Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Gesetzgeber. Die Kollegen vom Petitionsausschuß Drucksache 13/1738 abzulehnen. Wer der Beschluß- können Ihnen bestätigen, daß es eine Fülle von Ein- empfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimm- gaben zum Eheschließungsrecht, zur rechtlichen An- enthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschluß- erkennung schwuler und lesbischer Paare gibt. Auf empfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Entkriminalisierung, die Aufhebung der straf- rechtlichen Kategorie Homosexualität muß jetzt auch die übrigen Stimmen des Hauses angenommen wor- die zivilrechtliche Anerkennung folgen. den ist. 1992 zogen 250 schwule und lesbische Paare auf Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Deutschlands Standesämter. Vier Jahre danach be- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- schäftigt sich auch endlich der Gesetzgeber mit die- cherheit zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ sem Anliegen. Die schwule und lesbische Bürger- Die Grünen „Das Meer ist keine Müllhalde" auf rechtsbewegung hat das Eheschließungsrecht für ho- Drucksache 13/5159, Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, mosexuelle Paare auf die politische Tagesordnung den Antrag auf Drucksache 13/3211 abzulehnen. gesetzt. Ich verspreche Ihnen: Es wird keine Ruhe Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zu- mehr geben, bis die Gleichberechtigung für gleich- stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Ge- geschlechtliche Lebensgemeinschaften durchgesetzt genprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, ist. daß auch dieser Antrag mit der gleichen Stimmen- mehrheit wie eben angenommen worden ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schwule und lesbische Lebensgemeinschaften Nunmehr rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 sind heute praktisch rechtlos. Die Pa rtner dieser Le- auf: bensgemeinschaften gelten nicht als Familienange- hörige; sie haben nicht einmal den rudimentären Erste Beratung des von den Abgeordneten Rechtsschutz von nichtehelichen Lebensgemein- Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), schaften, und sie sind meilenweit vom Rechtsstatus , weiteren Abgeordneten der Ehepaare entfernt. und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ich will Ihnen nur kurz einige Beispiele der Rechts- Einführung des Rechts auf Eheschließung für probleme, die schwule und lesbische Lebensgemein- Personen gleichen Geschlechts schaften haben, schildern. Die Liebe ist eine Him- melsmacht. Niemand hat es in der Hand, wo die - Drucksache 13/2728 - Liebe hinfällt. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das ist Finanzausschuß schön!) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend In Deutschland ist jede zehnte Ehe eine Ehe zwi- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für schen binationalen Partnern. Auch bei Schwulen und die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wo- Lesben dürften Amors Pfeile sich in ähnlicher Weise bei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 10 Minuten auf Deutsche und Ausländer verteilen. Aber diese erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Wider- sind dadurch mit einem nicht lösbaren Rechtspro- spruch. Dann machen wir das so. blem konfrontiert. Ehe ich die Aussprache eröffne, schlage ich vor, Faktisch existiert ein zivil- und ausländerrechtli- daß die Kolleginnen und Kollegen, die der Ausspra- ches Verbot solcher binationaler schwuler und lesbi- che nicht weiter beiwohnen wollen, uns verlassen. scher Lebensgemeinschaften. Es führt kein legaler Weg zum Erwerb eines Visums, zum Erwerb einer rt Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wo Aufenthaltsberechtigung. Das einzige, was der Ge- dem Abgeordneten Volker Beck. setzgeber heute anbietet, ist: Ein schwules Paar sucht sich ein lesbisches Paar, und man geht über Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kreuz eine Scheinehe ein. - Das kann doch auch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum An- nicht in Ihrem Sinne sein. Das ist unter der Würde fang eine kleine Rückblende: 1962 legte die Regie- des Rechtsstaates und unter der Würde der Men- rung Adenauer einen Entwurf zur Reform des Straf- schen, denen man so etwas zumutet. gesetzbuches vor. Darin wurde an der Strafbarkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der männlichen Homosexualität festgehalten. Als Be- und der SPD sowie des Abg. Hildebrecht gründung führte die damalige Regierung - übrigens Braun [Augsburg] [F.D.P.]) auch eine CDU/CSU-F.D.P.-Koalition - unter ande- rem an, wenn die Strafbarkeit wegfiele, dann stünde Auf Grund von Aids brennen uns schwulen Män- für die Homosexuellen nichts im Wege, „ihre nähere nern die Rechtsfolgen vor allen Dingen auch im Zu- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11891

Volker Beck (Köln) sammenhang mit Krankheit und Tod auf den Nä- päischen Menschenrechtskonvention und in der geln. Im Krankenhaus hat der schwule Lebenspart- Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen ner, aber auch die lesbische Lebenspartnerin kein ein verbrieftes Menschenrecht. rechtlich verbrieftes Besuchsrecht. Patiententesta- mente sind nicht in jedem Fall gültig. Ich finde, es ist eine beispiellose Ignoranz, wenn Sie hier im Hause und draußen im Land die rechtli- Verliert jemand seinen Lebenspartner, mit dem er che Anerkennung nichtehelicher Lebensgemein- eine gemeinsame Wohnung bezogen hatte, muß er schaften immer grundsätzlich mit dem Hinweis auf die Wohnung verlassen, wenn der Lebenspartner der die Möglichkeit zur Eheschließung abwehren und Mieter war. Er hat keinen rechtlichen Anspruch auf dann aber homosexuellen Paaren nicht den Zugang Fortsetzung des Mietvertrages. zur Ehe eröffnen, sie nicht heiraten lassen. Wir mei- nen, auch für schwule und lesbische Paare darf das Im Zusammenhang mit der Erbschaft hat der ho- Standesamt kein Sperrbezirk sein. Auch für sie müs- mosexuelle Partner kein gesetzliches Erbrecht; sen in einer demokratischen Gesellschaft die Hoch- Pflichtteilansprüche der Eltern und erst recht die Erb- zeitsglocken läuten dürfen. schaftsteuer lassen sich auch durch ein Testament nicht umgehen. Der Erbschaftsteuerfreibetrag be- Wenn wir hier über das Eheschließungsrecht spre- trägt 3 000 DM, und durch die Progression werden in chen, dann tun wir das im Sinne von Wahlfreiheit. Null Komma nichts Steuersätze von 32 bis 48 Prozent Niemand will Zwangsbeglückung. Natürlich wollen erreicht. nicht alle Schwulen und Lesben heiraten. Schließlich Ich kenne viele Beispiele aus der Praxis, daß eine zieht es längst auch nicht alle gemischtgeschlechtli- schwule Lebensgemeinschaft gemeinsam eine Ei- chen Paare zum Traualtar. Viele Schwule und Lesben gentumswohnung gekauft hatte, und diese schul- haben zudem Vorbehalte gegen die Ehe, weil ihre denfrei war. Wenn der eine Pa rtner stirbt - der an- Lebensweise zu häufig mit der Begründung ange- dere ist womöglich auch erkrankt -, dann gehört hin- feindet wurde, man wolle die Institutionen Ehe und terher ein großer Teil dieser schuldenfreien Woh- Familie vor ihnen schützen. nung den Eltern und dem Finanzamt. Der verblie- Meine Damen und Herren, es hat aber keinen bene Partner muß eine Hypothek aufnehmen. Am Sinn, alle möglichen Einzelprobleme juristisch ge- Ende muß er ausziehen, weil er die Hypothek nicht sondert zu regeln. Wirklich gleiche Rechte gibt es mehr tilgen kann. nur in einem Gesamtpaket. Frau Wolf, wir haben Ich frage Sie vor allem als Christdemokraten: weitergehende Vorstellungen. Diese können Sie in Warum erkennen Sie diese Lebensgemeinschaften, unserem Antrag „Wahlfreiheit und gleichberechtige wo der Partner über Jahre hinweg solidarisch ge- Anerkennung für alle Lebensgemeinschaften" nach- pflegt wird, wo man in den schwersten Zeiten des Le- lesen. Darüber werden wir in diesem Haus zu einem bens füreinander einsteht, wo die Lebensgemein- anderen Zeitpunkt noch zu diskutieren haben. schaft in der Tat bis zum Tode geht, nicht an? Wo wä- Die Bevölkerung hat inzwischen verstanden, ren rechtlicher Handlungsbedarf und ein legitimer worum es den Schwulen und Lesben geht. Es geht Anspruch auf Schutz und Solidarität der Gesellschaft um gesellschaftliche Akzeptanz, Gleichberechtigung notwendiger als bei solchen Lebensgemeinschaften? und um die Lösung der juristischen Probleme. Es hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in unserer Gesellschaft ein Wandel der Anschauun- bei der SPD und der F.D.P.) gen stattgefunden. Meinungsumfragen aus diesem Sommer zeigen: Die Mehrheit der Bevölkerung un- Meine Damen und Herren, es geht natürlich aber terstützt inzwischen unsere Forderung nach einem nicht nur um Rechte, rechtliche Diskriminierungen Eheschließungsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. und Gesetze. Es geht auch um Gefühl und darum, Zwei Drittel bejahen ein Antidiskriminierungsgesetz daß eine Heirat ebenso eine stolze Demonstration ist, für Schwule und Lesben. ein selbstbewußtes Zeigen: Hier gehören zwei Men- schen zusammen, die füreinander einstehen wollen, Außerhalb dieses Hauses tut sich auch in den Ko- die einen Lebensabschnitt oder das ganze Leben mit- alitionsparteien etwas. Im Parlament von Schleswig- einander verbringen wollen. Sie wollen das vor ihren Holstein wurde ein Antrag unserer dortigen Fraktion Freunden, Verwandten und Nachbarn sagen. Sie einstimmig verabschiedet, der unter anderem f or- wollen klarmachen: Wir sind ein Paar. Die Rechtsord- derte, die Entschließung des Europäischen Parla- nung unserer Republik verweigert beides: Rechtssi- mentes, die die Forderung nach dem Eheschlie- cherheit und Zeremoniell. ßungsrecht für gleichgeschlechtliche Paare enthält, endlich auf Bundesebene umzusetzen. Das Eheverbot bei Gleichgeschlechtlichkeit ist historisch das letzte Eheverbot, das wir in unserer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rechtsordnung noch haben. Bei dem Eheschlie- In Skandinavien - in Dänemark, Schweden, Nor- ßungsrecht für homosexuelle Paare geht es auch um wegen und Island - ist die rechtliche Anerkennung die Stellung der homosexuellen Minderheit in der längst Gesetz. Auch Ungarn hat unlängst schwule Gesellschaft. Es geht um ihre Gleichberechtigung und lesbische Lebensgemeinschaften zumindest in und darum, daß sie nicht Bürger zweiter Klasse sind, Teilbereichen rechtlich anerkannt. sondern daß sie alle Rechte, die jeder Bürger in die- ser Gesellschaft genießt, besitzen. Das Recht, die Ehe Meine Damen und Herren, Schwule und Lesben mit einem selbstgewählten Pa rtner einzugehen, ist in besitzen in Deutschland noch immer nicht gleiche unserer Verfassung ein Grundrecht und in der Euro- Bürgerrechte. Wir sind hier in der Pflicht, den Bür- 11892 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Volker Beck (Köln) gerfreiheiten der Aufklärung auch für Homosexu- alten Ägypter - unter Ehe die Lebensgemeinschaft elle mit zweihundertjähriger Verspätung endlich zwischen Frau und Mann versteht Geltung zu verschaffen. In diesem Sinne an Sie, Herr Justizminister, die Aufforderung: Sire, geben Sie (Simone Probst [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Ehefreiheit! NEN]: Das ist historisches Bewußtsein!) und daß dieses Begriffsverständnis auch nicht blanke (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Willkür ist. Denn es geht davon aus, daß die ge- und bei der F.D.P.) schlechtsverschiedene Pa rtnerschaft wesensmäßig auf Zeugung und Erziehung von Kindern angelegt ist Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo das Wort. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht die Bevölkerung inzwischen anders als Sie!) Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das daß aus ihr typischerweise die Familie hervorgeht, Thema, das uns heute beschäftigt, ist nicht neu. Die die als kleinste gesellschaftliche Einheit den Beginn Argumente pro und contra sind - gesellschaftlich, po- der Sozialisation des Menschen darstellt, und daß sie litisch und rechtlich - hier und außerhalb des Hauses letztlich das Überleben der Gesellschaft sichert, was längst auf breiter Front ausgetauscht. gleichgeschlechtliche Pa rtnerschaften - bei allem Re- - spekt sei es gesagt - eben nicht leisten. Es besteht heute in Deutschland Konsens darüber, daß jeder die Freiheit hat, nach seiner Façon zu le- (Dr. Barbara Höll [PDS]: Woher wissen Sie ben, solange er die gleiche Freiheit anderer nicht an- das?) tastet, und daß namentlich gleichgeschlechtlich Ver- Natürlich gibt es im Einzelfall Ehen, die weniger anlagten diese Freiheit als Ausfluß des allgemeinen wertvoll sein mögen als andere von Verantwortung Persönlichkeitsrechts uneingeschränkt zusteht. getragene Formen von Lebensgemeinschaften. Letz- tere verdienten daher durchaus die Unterstützung Einem Teil der Betroffenen und den heutigen An- der Allgemeinheit. Aber der Gesetzgeber kann keine tragstellern ist dieses Recht aber nicht ausreichend. Einzelfallbewertung vornehmen. Er muß sich idealty- Die Gesellschaft soll gleichgeschlechtliche Pa rtner pischer Tatbestände bedienen. Alles andere ist nicht nicht einfach nur in Ruhe lassen, sondern soll sie, zu leisten. ähnlich wie die Ehe, rechtlich privilegieren und wirt- schaftlich subventionieren. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Mahlo, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- DIE GRÜNEN]: Wieso privilegieren?) ordneten Schmidt? Es geht dabei im wesentlichen um drei Argu- mente. Erstens. Die gleichgeschlechtliche Pa rtner- Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Ja, bitte sehr. schaft sei das gleiche wie die Ehe, und Gleiches müsse auch vom Staat gleich behandelt werden. Zweitens. Die gleichgeschlechtliche Gemeinschaft Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE sei zwar nicht eine Ehe, aber doch gesellschaftlich in GRÜNEN): Herr Kollege, nachdem Sie begründet ha- gleichem Maße wertvoll wie diese und müsse daher ben, daß die Ehe seit Jahrtausenden erwiesenerma- entsprechende Förderung verlangen. Drittens. Der ßen auf die Zeugung und die Erziehung von Kindern gleichgeschlechtlich veranlagte Mensch sei in der ausgerichtet sei, frage ich Sie: Darf ich daraus schlie- Gesellschaft erheblich benachteiligt und habe dafür ßen, daß Sie das Heiraten zwischen Mann und Frau einen Ausgleich zu beanspruchen. ohne diesen Kinderwunsch gleichsam für illegitim er- achten? Wenn nicht, würden Sie entsprechend in (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE gleichem Maße zugestehen, daß gleichgeschlechtli- GRÜNEN]: Wir wollen keinen Ausgleich! che Lebenspartner oder Lebenspartnerinnen, die Wir wollen gleiche Rechte!) sich zusammenfinden und diesen Kinderwunsch viel- leicht haben - oder auch nicht haben -, die gleiche Das Problem besteht nun darin, daß jedes dieser Freiheit der Eheschließung bekommen sollten? Argumente ein Stück Wahrheit enthält, ohne doch die ganze Wahrheit zu sein. Die Behauptung, gleich- geschlechtliche Partnerschaft und Ehe seien quasi Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Ko llege, es tut identisch, ist bekanntlich bereits vom Bundesverfas- mir leid, aber Sie haben wirklich nicht zugehört, was sungsgericht zurückgewiesen worden. ich gesagt habe. Ich habe genau diese Frage eben beantwortet mit meinem Hinweis darauf, daß sich (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE der Gesetzgeber auf idealtypische Tatbestände be- GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) schränkt. Die Untersuchung, ob eine Gemeinschaft im Einzelfalle eine besondere Förderung we rt ist Ohne Parallelen zwischen beiden Einrichtungen, oder nicht, kann nicht geleistet werden. Im übrigen die es gibt, zu leugnen, ist es nun einmal so, daß man bin ich auch noch nicht fertig mit dem, was ich zu seit mindestens 5 000 Jahren - also seit der Zeit der diesem Thema zu sagen habe. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11893

Dr. Dietrich Mahlo Bleibt das Argument der Benachteiligung. Nie- Einen dritten Teil der Benachteiligungen, etwa im mand wird leugnen, daß die gleichgeschlechtliche Versicherungsrecht, im Erbrecht, im Mietrecht, kann Veranlagung in einer heterosexuell orientierten Ge- man durch das zur Verfügung stehende rechtliche In- sellschaft ein beträchtliches Lebenserschwernis dar- strumentarium zwar nicht völlig ausgleichen - das ist stellt. richtig -, wohl aber erheblich abmildern. Andererseits ist klar, daß jede erhebliche Abwei- (Dr. Barbara Höll [PDS]: Tun Sie es!) chung vom Durchschnitt und von der Norm fast im- mer eine Belastung für den Betroffenen darstellt, - Nein, das ist eine Möglichkeit, die die Betroffenen aber ein Sozialstaat, der jede nachteilige Unter- selbst haben. schiedlichkeit ausgleichen wollte, sich übernehmen (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE würde. GRÜNEN]: Wie machen Sie das beim Erb (Zuruf von der PDS) schaftsteuerrecht?) Die Suche nach immer größerer Gleichheit und im- - Beim Erbschaftsteuerrecht geht es nicht, Herr Kol- mer größerer Sicherheit hat ihren Preis. Die Frage ist lege. Da haben Sie recht. daher, ob die durch gleichgeschlechtliche Veranla- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE gung eintretende Belastung für den Betroffenen ein GRÜNEN]: Und beim Pflichtteilsanspruch?) Ausmaß hat, das die Chancen des einzelnen auf ein erfülltes Leben unerträglich einschränkt und eine Der Rest, der in diesem Bereich noch verbleibt, Verlagerung dieser Nachteile auf die Gesellschaft- etwa der größere Pflichtteilsanspruch der leiblichen unabweisbar gebietet. Eltern, ist hinzunehmen (Dr. Barbara Höll [PDS]: Die Gesellschaft (Christina Schenk [PDS]: Warum eigent produziert die Nachteile!) lich?) - Da Sie ununterbrochen dazwischenrufen, darf ich und nicht als Katastrophe zu dramatisieren. Ihnen vielleicht sagen, daß die Ehe ein privilegiertes Institut ist, das auch wi rtschaftlich erheblich zu Bu- Die von den Antragstellern wiederholt aufgestellte che schlägt. Wenn Sie die gleichen Rechte wie in ei- Behauptung, die gleichgeschlechtliche Pa rtnerschaft ner Ehe wollen, ist es eine Privilegierung. in Deutschland sei rechtlos, hat mit der Rechtsrealität in diesem Lande nichts zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Wir müssen uns doch den Sachverhalt klarmachen. GRÜNEN]: Welche Rechte haben wir (Christina Schenk [PDS]: Genau um den denn?) Sachverhalt geht es hier!) Zieht man die genannten Vorgänge aus der Diskri- Die andere Frage ist, ob es sich um Erschwernisse minierungsliste der Antragsteller heraus, bleiben in der Art handelt, von denen wir sonst meinen, daß der der Tat noch Probleme übrig, bei denen sich elemen- einzelne mit ihnen noch selbst fertig werden kann. tare Interessen des einzelnen und wichtige Interes- sen der Allgemeinheit gegenüberstehen und die ge- (Dr. Barbara Höll [PDS]: Das ist doch unver- gen einander abzuwägen sind. In der zukünftigen schämt!) Diskussion sollten wir uns auf diesen Kern konzen- Die Antragsteller haben - ihre Übersicht ist nütz- trieren. lich - einmal, über die Dörfer gehend, alle Nachteile, Einem allgemeinen Recht auf Eheschließung die je entstehen könnten, mit großem Fleiß zusam- gleichgeschlechtlich veranlagter Paare wird die mengeschrieben. Die Durchsicht dieser Spiegel- CDU/CSU-Fraktion nicht zustimmen. strichsammlung beweist aber, daß man ihr keines- wegs nur mit der Zulassung gleichgeschlechtlicher Ich danke Ihnen. Paare zur Eheschließung angemessen und abhelfend begegnen kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielmehr ist zu differenzieren: Ein Teil der Nach- teile ist nur erfunden, weil er von der falschen Vor- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich aussetzung der absoluten Gleichheit der verschie- der Abgeordneten Margot von Renesse das Wo rt. dengeschlechtlichen und der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft ausgeht. Margot von Renesse (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon merkwürdig, wenn (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE man Herrn Beck und Herrn Mahlo zu demselben GRÜNEN]: Welche Punkte?) Thema reden hört. Man hat immer das Gefühl, da re- Ein anderer Teil der Benachteiligungen, die Rechte den zwei völlig aneinander vorbei. Der eine versteht Dritter oder Rechte der Allgemeinheit gar nicht tan- nicht, wovon der andere redet, und die Beg riffe, die gieren, könnte auch ohne Einführung homosexueller gewählt werden, haben miteinander, obwohl sie Ehen abgestellt werden. gleich klingen, nichts zu tun. (Christina Schenk [PDS]: Das ist richtig! - (Zuruf von der CDU/CSU: Dafür haben wir Dr. Barbara Höll [PDS]: Tun Sie es doch!) ja Sie!) 11894 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Margot von Renesse Es gibt eine merkwürdige Situation bei der Frage die gleichgeschlechtliche Paare im Augenblick nicht nach dem familienrechtlichen Institut für gleichge- bekommen können? schlechtliche Paare. Ich sage jetzt einmal nicht „Ehe", ich sage „familienrechtliches Institut". Ich frage mich, ob das eine Privilegierung ist. Man- che Privilegierungen gibt es, und die gehören abge- (Christina Schenk [PDS]: Es geht hier um schafft. Manche Dinge sind aber nur verfassungs- die Ehe!) rechtlich gebotene Rücksichtnahmen auf bestehende rechtliche Verbindlichkeiten. - Das habe ich schon gemerkt. Die einen sagen: Wir schützen die Ehe auch vor So werden wir zum Beispiel nie darum herumkom- dem Angriff, vor der Provokation, daß gleichge- men, wenn schon das Ehegattensplitting in der bis- schlechtliche Paare den Zugriff auf dieses Institut herigen Form nicht bestehenbleiben kann - jeden- wollen. Und die anderen, Frau Schenk, sagen, daß falls ist das die Meinung meiner Fraktion und auch sie etwas gegen die Ehe als einem Relikt aus dem die meine -, bestehende Unterhaltsansprüche, so- 19. Jahrhundert haben. weit sie zu erfüllen sind, als Minderung der Lei- stungsfähigkeit des Steuerpflichtigen nach A rt. 3 im- (Christina Schenk [PDS]: Warten Sie meine mer zu berücksichten. Deswegen ist keine ersatzlose Rede ab!) Abschaffung möglich. - Ich habe sie schon etliche Male gehört. Bis zu diesem Punkt haben wir es nur mit der Rücksichtnahme auf eine bestehende rechtliche Ver- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) pflichtung zu tun. Die Frage ist: Können wir diese Es ist immer dasselbe: ein Machtinstrument in der Rücksichtnahme gleichgeschlechtlichen Paaren ver- Hand von irgendwem gegen irgendwen, und deswe- weigern, weil ihre Beziehung etwas fundamental an- gen muß sie abgeschafft werden: Écrasez l'infâme! deres ist? Herr Mahlo hat dazu gesagt: Sie können keine Kinder kriegen. Ich kenne auch Paare von (Christina Schenk [PDS]: Das habe ich nie Mann und Frau, die keine Kinder kriegen können, gesagt, Frau Kollegin! - Weitere Zurufe von zum Beispiel alte Paare. der PDS) Die Behauptung, daß eine Ehe - wie Sie sagten - - Okay, ich habe von den einen und von den anderen möglicherweise in ihrem Wert, wenn auch nicht indi- gesprochen. Vielleicht sind Sie so freundlich und hö- viduell bemessen, unterschiedlich sei, kann ich vom ren sich meinen Beitrag einen Augenblick zusam- Recht her nicht teilen. Das Recht kennt keine Ehen menhängend an. Ich verspreche Ihnen, bei Ihnen minderen Rechts. dasselbe zu tun. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Jeder GRÜNEN und der F.D.P.) zieht sich den Schuh an, der ihm paßt!) Es kennt nur die rechtlich verbindliche Ehe. Da steht Das Ergebnis ist dasselbe: Bloß kein familienrechtli- ein bißchen knapp: Das ist die eheliche Lebensge- ches Institut für Gleichgeschlechtliche! meinschaft. Das Gewirr der Verpflichtungen kommt Erlauben Sie mir, daß ich einer Linie folge, die ich anschließend. in schwierigen Fäll en gerne handhabe, vor allem Ich hätte dort lieber stehen - es klingt vielleicht ein wenn es sich um Lebenslagen handelt, die rechtlich wenig lyrisch; ich habe noch nicht die rechtliche For- geregelt oder nicht geregelt sind für Leute, die sich mulierung dafür -, daß es die Verpflichtung von zwei in einer anderen Lebenslage befinden als ich selbst. Menschen zur Übernahme rechtlich verbindlicher Da gibt es nur einen guten Rat: Man schaue in die umfassender Verantwortung für den jeweils anderen Verfassung. Da ist zuerst einmal die Verfassungsge- ist. richtsentscheidung, die Kammerentscheidung, die Dann fragt es sich, mit welchem Recht wir sagen, sich mit dem Anspruch der gleichgeschlechtlichen Paare aus der Kampagne, die Sie schilderten, be- daß gleichgeschlechtliche Paare eine solche rechtlich verbindliche umfassende Verbindung miteinander schäftigte. Es war die Frage, ob sie einen Anspruch auf Zugang zu dem haben, was wir Ehe nennen. Die nicht eingehen können. Kammer des Verfassungsgerichts hat nein gesagt. Das Kinderkriegen kann es also nicht sein. Wenn Daraus folgt im übrigen nicht, daß es nicht geht. Dar- es das aber nicht ist, dann sagen Sie mir doch bitte aus folgt nur, daß es keinen Anspruch gibt. einmal, bevor Sie lachen, ein Argument dafür, Daraus folgere ich, daß es untunlich ist - und da warum das so fundamental verschieden ist. Können bin ich voll auf der Linie der Kammer -, den Begriff Mann und Frau inniger miteinander verbunden sein Ehe für eine Sache zu verwenden, die wir in einer - ich rede einmal nicht von Kindern - als zwei gleich- ganz bestimmten Form geprägt vorfinden. Deswegen geschlechtliche Personen? Ich habe bei a ller Lektüre rede ich lieber von einem familienrechtlichen Insti- nie ein Argument dagegen gefunden, und die Wirk- tut. lichkeit lehrt, daß es geht. Das ist für mich das Pro- blem. In diesem Augenblick kommt nämlich Art. 3: Die Frage ist: Können wir homosexuellen Paaren, Gleichbehandlung. Ich rede nicht von Ehe; ich rede lesbisch oder schwul, den Zugang zu einem familien- von einem familienrechtlichen Institut. Ich wi ll nicht rechtlichen Institut verweigern, das die Folgen hat, Namen verwenden, die begrifflich geprägt sind. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11895

Margot von Renesse Wenn ich aber ein familienrechtliches Institut nicht Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Herr Präsi- hätte und Paaren Möglichkeiten wie die des Pa rtner- dent! Meine Damen und Herren! Die Mehrheit der schaftsnachzugs gäbe, dann wäre automatisch das Deutschen glaubt an einen Gott. Sie glaubt, daß die- heterosexuelle Paar benachteiligt. Denn das be- ser Gott die Welt erschaffen habe. Die Krönung die- kommt zum Beispiel den Ehegattennachzug oder die ser Schöpfung sollte der Mensch sein. So war es Unterhaltsberücksichtigung nur bei der höchsten denn Gottes weiser Ratschluß, auch bei den Men- Verbindlichkeit. Das kann ich doch wohl nicht alles schen große Unterschiede entstehen zu lassen. Es den gleichgeschlechtlichen Paaren bieten, wenn gibt Große und Kleine, Schwarze und Weiße, Grüne Mann-und-Frau-Paare dafür schwer bluten müssen. und Christdemokraten, Linkshänder und Rechtshän- Ich bin Familienkonkursrichterin gewesen; ich weiß, der. wie schwer das fällt. Noch bis vor relativ kurzer Zeit hielt man Links- Deswegen scheint es mir sehr überlegenswert, ob händer für einen Fehler der Schöpfung. Man ver- man nicht diese Richtung einschlagen muß, obgleich suchte in unseren Schulen, die Linkshänder zu ich eine Reihe von Fragen habe, die man sicherlich Rechtshändern zu machen, was zu mancherlei psy- noch miteinander diskutieren muß. Allerdings chischen Störungen führte. rechne ich nicht damit, Herr Beck, daß Sie in dieser Legislaturperiode ein solches Gesetz sehen. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Solange es nicht auch noch der Linksdenker ist, ist Es werden nicht nur die gleichgeschlechtlichen es ja gut!) Paare sein, die nach Gleichbehandlung drängen. Es ist auch die Verfassung selbst. Ich glaube, diese- Man hat das dann allerdings sein lassen. Man hat Wunde wird sich erst schließen, wenn Art. 3 vernünf- einfach respektiert, daß es eben Linkshänder gibt. tig umgesetzt ist, in welcher Form auch immer, wie Dies ist kein Thema mehr. Mittlerweile kann man als auch immer dieses Institut aussehen mag, wie auch Linkshänder ohne weiteres amerikanischer Präsident immer es heißt. Sonst werden wir die Ehe für hetero- werden. Man kann als Linkshänder vielleicht auch sexuelle Paare auch abschaffen müssen. Da kann ich Parlamentsstenograph oder Tennismillionär werden. nur sagen: Eine verfassungsändernde Mehrheit da- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Die CDU für wird es nicht geben. muß rechts schreiben!) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Nun gibt es aber eben auch heterosexuell Veran- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lagte und Schwule bzw. Lesben. Viele Menschen Ich will noch ein letztes ausführen. Ich muß kühl glauben noch immer, hier habe wohl der Schöpfer sagen: Das Familienrecht kennt den Begriff Liebe geirrt. nicht. Es kennt nur den Begriff rechtlicher Verbind- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Die Schöpfe lichkeit, irreversibel, identitätsprägend und mit einer rin! - Heiterkeit) umfassenden Verantwortung, die keine Grenzen kennt. Wie gesagt, die Frage ist für mich: Warum Dies trifft aber nicht zu. Es ist eine schlichte Frage gleichgeschlechtliche Paare nicht? des Respekts vor der Schöpfung, die alle, insbeson- dere die Christen in unserem Lande, veranlassen Es gibt ein Problem, das mir öfter begegnet ist. Das sollte, Menschen so zu belassen, wie sie sind, das hat etwas mit Empathie zu tun. Es geht um die Ein- heißt, sie in einer Weise leben zu lassen, wie es ihrem samkeit von gleichgeschlechtlichen Menschen. Auf Wesen entspricht: Schwule sind schwul, und sie ha- jeder Party - ich rede nicht von den Hochzeitsglok- ben einen Anspruch darauf, ein schwules Leben zu ken, Herr Beck - schmeißen Jungen und Mädchen führen. einander Äugelchen zu. Es ist normal, daß ein junger Mann und eine junge Frau etwas miteinander haben Es wäre eine Verletzung der Menschenwürde, die könnten. Ein gleichgeschlechtlicher Mann, eine wir nach unserer Verfassung als höchstes Gut zu gleichgeschlechtliche Frau geht immer ein hohes Ri- schützen haben, wenn wir Homosexuelle daran hin- siko ein, wenn eine personale Bindung gesucht wird. dern würden, ein ihnen gemäßes Leben zu führen. Die Nichtanerkennung ihrer Bindungsfähigkeit führt Zu diesem Leben gehört in Hundertausenden von zu einer Verurteilung zur Einsamkeit, zur Rotlicht- Fällen eine klare, eindeutige Entscheidung für einen szene, zum Inserat. Partner, mit dem man das Leben teilen wi ll, in guten wie in bösen Tagen, wie es in der Traditionsformel (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Bei euch zu der Eheschließung heißt. Hause vielleicht!) Warum sollen nun schwule Pa rtner nicht auch öf- - Wenn Sie es mir nicht glauben: Ich habe es erlebt. fentlich zueinander und voneinander sagen, daß sie Das geht einem nahe; denn es sind Menschen, die zueinander gehören, daß sie füreinander einstehen vielleicht nicht wie Sie sind. Aber ich sage frank und wollen und daß sie ihre Gemeinsamkeit als Teil ihres frei: Es sind Menschen wie ich. Anspruchs auf Selbstverwirklichung, eben auf (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE menschliche Freiheit, leben wollen? GRÜNEN und der F.D.P. - Zustimmung bei Das Bundesverfassungsgericht hat nun entschie- Abgeordneten der CDU/CSU) den, daß das Traditionsinstitut der Ehe heterosexuel- len Bindungen vorbehalten sei. Nicht die Fortpflan- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem zungsfähigkeit ist ausschlaggebend; sonst könnten Abgeordneten Hildebrecht Braun das Wo rt . Querschnittsgelähmte oder auch Frauen über fünfzig 11896 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Hildebrecht Braun (Augsburg) nicht mehr die Ehe eingehen. Entscheidend ist offen- Deutschland für das nächste Jahrhundert fit zu ma- sichtlich das überkommene Verständnis, daß die drei chen heißt auch und gerade, Spießigkeit und Engstir- Buchstaben EHE einer heterosexuellen Partnerschaft nigkeit aus unserem Denken und politischen Han- vorbehalten seien. Mit dieser Entscheidung des Bun- deln zu verbannen. desverfassungsgerichts müssen wir leben. Wir kön- nen auch damit leben. Vielen Dank. (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND Sie hätte aber auch anders lauten können. Ich darf NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) nur an folgende befremdliche Geschichte erinnern: Es gibt Männer in unserem Lande, die per Katalog eine Frau nach bestimmten Beschaffenheitskriterien Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun gebe ich aus Rußland, von den Philippinen, aus Thailand oder der Abgeordneten Christina Schenk das Wort. woher auch immer einfliegen lassen und die trotz fehlender sprachlicher Verständigungsmöglichkeit Christina Schenk (PDS): Her Präsident! Meine Da- nach einem vorübergehenden Zusammensein auf men und Herren! Ich will hier ganz deutlich voraus- Probe, das noch mit einem Touristenvisum machbar schicken, daß es selbstverständlich keinen einzigen ist, zum Standesamt marschieren. Nur, zuerst gehen vernünftigen und nachvollziehbaren Grund gibt, sie natürlich zum Notar, um dort sämtliche Verpflich- Lesben und Schwule vom Heiratsrecht auszuschlie- tungen auszuschließen, die überhaupt abdingbar ßen. Es hat hier auch niemand vermocht, insbeson- sind. Ich meine den Zugewinnausgleich, den Versor- - dere Herr Mahlo nicht, eine sachliche Argumentation gungsausgleich oder auch die Verpflichtung zur Zah- zugunsten der Beibehaltung des anachronistischen lung des Unterhalts nach der Ehe, die selbst für Zei- Zustandes darzutun. ten der Not ausgeschlossen wird. Aber ich möchte auch einen Schritt über die bishe- Was also übrigbleibt, ist ein Torso einer Beziehung, rige Debatte hinaus tun: Einfach nur die Teilhabe der mit Liebe oft weniger zu tun hat als mit Sklaverei. von Lesben und Schwulen am Rechtsinstitut der Ehe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu fordern ist kein Beitrag zur Gleichstellung aller und bei der PDS) Lebensweisen. Nun mag es sein - das scheint mir sehr wahrscheinlich -, daß die Bündnisgrünen derar- Aber dieser Torso reicht, um das staatliche Eheprädi- tiges nicht vorhaben; denn die Grünen wollen ledig- kat zu erlangen. Diese Ehe steht dann unter dem be- lich die Ausdehnung der Eheprivilegien auf einen sonderen Schutz des Staates. Dies gilt aber nicht für größeren Personenkreis, nämlich auf den der beirats- eine lebenslängliche Verbindung von Homosexuel- willigen lesbischen und schwulen Paare. len, auch dann nicht, wenn - was mittlerweile sehr Der Gesetzentwurf ignoriert dabei komplett die fe- häufig vorkommt - ein schwuler Pa rtner seinen an ministische Kritik an der hiesigen, also an der deut- Aids erkrankten Pa rtner über viele Jahre weg bis schen Form der Institution Ehe. Es wird einfach über- zum Tode pflegt und damit bilderbuchmäßig das vor- gangen, daß in der Bundesrepublik Deutschland die lebt, was eigentlich Liebe ausmacht. Das erscheint an die Ehe gekoppelten Rechte die Extremform eines doch vom Ergebnis her einigermaßen unerträglich zu geschlechtshierarchischen Herrschaftsmodells zwar sein. nicht erzwingen, aber fördern, nämlich die Hausfrau- Was ist nun zu tun? Die Ehe zwischen Homosexu- enehe. ellen ist aus verfassungsrechtlichen Gründen auch (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE nach meinem Dafürhalten nicht möglich. Sehr wohl GRÜNEN]: Das kann bei homosexuellen möglich und dringend nötig ist aber, diese Menschen Paaren schlechterdings nicht der Fall sein!) aus Respekt vor ihrer Entscheidung füreinander so zu stellen, daß sie nicht mehr diskriminiert sind. Des- Ich erinnere hier nur an das Ehegattensplitting. halb müssen wir die Erfahrungen in unseren Nach- Der finanzielle Vorteil, der aus dem Ehegattensplit- barländern mit „eingetragenen Partnerscha ften" ting gezogen wird, ist um so größer, je größer der Un- von Homosexuellen vorurteilsfrei prüfen. Sie können terschied zwischen den Einkommen der Eheleute ist. sehr wohl der Schlüssel zur Lösung einer gesell- schaftlichen Problematik sein, vor der dieses Parla- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ment die Augen nicht verschließen darf. GRÜNEN]: Zum Thema!) Auch die abgeleitete Sozialversicherung ist also für Unabhängig davon sind wir gehalten, in allen Be- Paare nur dann von Vorteil, wenn einer von beiden reichen, angefangen beim Mietrecht über das Erb- nicht erwerbstätig ist. recht, das Steuerrecht und das Arbeitsrecht bis hin zum Ausländerrecht, dafür zu sorgen, daß schwule Das heißt: Die ökonomische Abhängigkeit vonein- Menschen, die sich füreinander entschieden haben ander, die jeden Versuch, gleichberechtigt miteinan- und diese ehegleiche Verbindung auch nachgewie- der zu leben, zwar nicht verhindert, aber doch kon- sen haben, von unserem Staat nicht mehr diskrimi- terkariert, wird gefördert. Das - als Erinnerung für niert und so behandelt werden, als wenn sie nicht zu- die Grünen - war der Kernpunkt der Kritik und ist es einander gehörten. noch immer. (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- Die Nachteile, die Lesben und Schwule erfahren, NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie weil ihnen der Angehörigenstatus verweigert wird, bei Abgeordneten der CDU/CSU) können durch die Ehe zudem nur für diejenigen be- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11897

Christina Schenk seitigt werden, die bereit und in der Lage sind, zu Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der heiraten. Ich möchte hier angesichts der hohen Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Scheidungsraten erinnern, daß es sehr gute Gründe Vor zwei Monaten wiederholte sich die Aktion Stan- gibt, genau dieses Rechtsinstitut zu vermeiden; denn desamt. Homosexuelle Paare zogen vor die Standes- damit wird eine Eigendynamik in Gang gesetzt, die ämter deutscher Großstädte, um für sich das Recht durchaus nicht immer wünschenswert ist. einzufordern, die Ehe miteinander schließen zu kön- nen. Diesen Menschen gilt wie allen Paaren, die sich (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ entschließen, fortwährende Verantwortung füreinan- DIE GRÜNEN]: Sie sollen sich auch schei- der zu übernehmen, mein Respekt. den lassen dürfen! - Heiterkeit beim BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Hildebrecht Braun [Augs burg] [F.D.P.] und der Abg. Margot von Ich will andeuten, was ich meine: Was spricht da- Renesse [SPD]) gegen, daß jeder Mensch einen selbstgewählten Per- sonenkreis - von mir aus mit notarieller Beurkun- Unsere Pflicht als Abgeordnete des Deutschen dung - als Angehörige definieren kann? Das wäre Bundestages ist es aber, sorgfältig zu bedenken, was eine Lösung für Personen, die, unabhängig von der wir ihnen als Gesetzgeber außer guten Wünschen sexuellen Orientierung, nicht heiraten wollen oder mit auf den Weg geben können. mit mehreren Menschen in einer langfristig angeleg- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ten Wohngemeinschaft leben. GRÜNEN]: Wie schön, daß Ihr Haus einen - Für alle anderen Probleme, Herr Beck, die in Ihrem Beitrag dazu leistet!) Gesetzentwurf aufgeführt worden sind und die zwei- Erst kürzlich habe ich in diesem Hause namens der fellos in dieser Form bestehen, lassen sich durchaus Bundesregierung zugesagt, auch gesetzgeberische Lösungen finden, ohne daß auf das Rechtsinstitut der Maßnahmen zu prüfen, um die Lebenssituation Ehe zurückgegriffen wird. nichtehelicher Lebensgemeinschaften und damit (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE selbstverständlich auch die rechtlichen Rahmenbe- GRÜNEN]: Warum legen Sie dann seit Jah- dingungen für das Zusammenleben gleichge- ren nichts vor?) schlechtlicher Paare zu verbessern. Eine erste summarische Prüfung - Sie haben in Ih- Es kann also nicht angehen - das sage ich noch rem Gesetzentwurf ja auch verschiedene Fälle aufge- einmal ganz deutlich -, daß Rechte ausschließlich an führt - hat eine nicht unerhebliche Anzahl nachteili- die Ehe gebunden bleiben. Im Gegenteil: Die Entmy- ger Regelungen, insbesondere im Mietrecht, im Erb- stifizierung, die ist ange- Entprivilegierung der Ehe recht, im Steuerrecht, aufgezeigt. sagt. Alle Lebensweisen, ob man nun als Single, zu zweit oder mit mehreren Personen zusammen lebt, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ob man nun heterosexuell, bisexuell oder homosexu- GRÜNEN]: Im Ausländerrecht!) ell ist, müssen die gleichen Rechte und auch Pflich- ten haben. Es gibt aber im übrigen auch - ohne daß ich das hier in irgendeiner Weise gegeneinander ausspielen wi ll - (Beifall bei der PDS) einige rechtlich vorteilhafte Regelungen. Insofern gebe ich Ihnen, Frau Kollegin von Renesse, völlig Ein erster Schritt wäre die Abschaffung des Ehe- recht: Es ist ein Thema der Ungleichbehandlung im gattensplittings. Die überaus positiven Auswirkun- Guten wie im Schlechten. Es gibt also auch einige gen eines solchen Schritts können in Schweden oder rechtlich vorteilhafte Regelungen, wie etwa beim Zu- auch in den Niederlanden besichtigt werden. griff von Gläubigern oder beim Ausschluß von Rich- tern, zum Beispiel in den Bestimmungen des § 22 Der Gesetzentwurf - damit komme ich zum StPO. Schluß - ist ein eher peinliches Dokument Ihres Ab- schieds von emanzipatorischen Ansätzen, die - es tut Diese Unterschiede müssen im Kontext des jeweili- mir durchaus leid, das so sagen zu müssen - Sie zum gen Rechtsgebietes gesehen werden. Mir schwebt großen Teil einst selbst in die öffentliche Diskussion vor, bei anstehenden Vorhaben, wie etwa der Reform gebracht haben. des Mietrechts, solche Unterschiede möglichst abzu- bauen. Dies gilt aber nicht speziell für gleichge- Viele Lesben und Schwule werden den Gesetzent- schlechtliche Partnerschaften, sondern dies gilt in wurf der Bündnisgrünen, jedenfalls in der Form, wie meinen Augen eben für alle nichtehelichen Lebens- er jetzt vorgelegt worden ist, nicht akzeptieren. Des- gemeinschaften. sen bin ich mir absolut sicher. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie (Beifall bei der PDS - Volker Beck [Köln] des Abg. Wolf-Michael Catenhusen [SPD]) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ihn offensichtlich nicht einmal gelesen!) In beiden Konstellationen haben die Partner fortwäh- rende Verantwortung füreinander übernommen. Es gilt deshalb, sorgfältig zu prüfen, wo Benachteiligun- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem gen liegen und wie diesen abgeholfen werden kann. Bundesminister der Justiz, Professor Dr. Edzard Auch in diesem Ansatz kann ich Ihnen viel Zustim- Schmidt-Jortzig, das Wort. mung signalisieren. 11898 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Hätten alle in diesem Haus - jetzt werde ich natür- rate ich dagegen dringend ab. Der dialektische Idea- lich ein bißchen anzüglich - Ihre Vorschläge ebenso lismus der Grünen in allen Ehren - aber auch ein eh- sorgfältig geprüft, dann wäre die Gesetzesvorlage, renvoller Irrweg bleibt ein Irrweg. über die wir heute zu beraten haben, wohl gar nicht Ich danke Ihnen. erst eingebracht worden. In ihrem Entwurf schreiben die Kolleginnen und Kollegen der Grünen, dem ein- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) fachen Gesetzgeber stehe es verfassungsrechtlich eindeutig frei, das Institut der Ehe auch gleichge- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die schlechtlichen Paaren zu öffnen. So einfach liegen Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des die Dinge eben gerade nicht. Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/2728 an die in Nun will ich es mir nicht so einfach machen und der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- hier sozusagen ex cathedra verkünden, Ihr Entwurf schlagen. - Ich sehe keine anderen Vorschläge. Dann sei zweifelsfrei verfassungswidrig. Aber daß er im ist die Überweisung so beschlossen. Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes schwer- wiegende verfassungsrechtliche Bedenken hervor- Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: rufen muß, wird Ihnen sicherlich nicht verborgen ge- Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ blieben sein; für so grün halte ich Sie denn doch CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und nicht. Die Ehe ist nun einmal - das kann man bekla- F.D.P. gen oder nicht; aber es ist nun einmal so; deswegen macht vernünftige Politik nicht vor dieser Erkenntnis Förderung des Friedensprozesses in der halt - nach traditionellem, dem Grundgesetz zu- Westsahara grunde liegendem und vom Bundesverfassungsge- - Drucksache 13/5725 - richt in ständiger Rechtsprechung bestätigtem Ver- Überweisungsvorschlag: ständnis eine Lebensgemeinschaft von Frau und Auswärtiger Ausschuß Mann. Dieses Begriffsverständnis muß man nicht un- bedingt als unumstößlich hinstellen. Aber es ist so. Die Reden sind zu Protokoll gegeben worden.*) - Der einfache Gesetzgeber jedenfalls kann es mit ei- Ich stelle fest, daß darüber Einverständnis des Hau- nem Federstrich nicht ändern. ses besteht.

Insofern, meine Damen und Herren Rechtspolitiker Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf von den Grünen: Über das rechtspolitische Ziel, Drucksache 13/5725 an den Auswärtigen Ausschuß nichtehelichen und damit auch gleichgeschlechtli- vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Wider- chen Paaren ihr Zusammenleben zu erleichtern, spruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesord- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE nung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen GRÜNEN]: Das haben Sie bei den Einmal- Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Oktober leistungen gestern noch ganz anders gese- 1996, 8 Uhr ein. hen!) Die Sitzung ist geschlossen. brauchen wir nicht zu streiten. Vom Einsatz der Brechstange als Gesetzgebungswerkzeug (Schluß der Sitzung: 22.44 Uhr)

(Zuruf von der CDU/CSU: Und das in die- *) Die Redetexte werden in einem Nachtrag als Anlage 4 abge- sem Zusammenhang!) druckt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11899*

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Lengsfeld, Vera BÜNDNIS 17. 10. 96 Abgeordnete(r) entschuldigt bis 90/DIE einschließlich GRÜNEN Altmann (Pommelsbrunn), BÜNDNIS 17. 10. 96 Lenzer, Christian CDU/CSU 17. 10. 96 * Elisabeth 90/DIE GRÜNEN Dr. Meyer (Ulm), SPD 17. 10. 96 Jürgen Andres, Gerd SPD 17. 10. 96 * Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 17. 10. 96 Augustin, Anneliese CDU/CSU 17. 10. 96 Neuhäuser, Rosel PDS 17. 10. 96 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 17. 10. 96 Dr. Rappe (Hildesheim), SPD 17. 10. 96 Borchert, Jochen CDU/CSU 17. 10. 96 Hermann Braune, Tilo SPD 17. 10. 96 Reuter, Bernd SPD 17. 10. 96 Bulmahn, Edelgard SPD 17. 10. 96 Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 17. 10. 96 90/DIE Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 17. 10. 96 * GRÜNEN Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 17. 10. 96 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 17. 10. 96 Haack (Extertal), SPD 17. 10. 96 Hans Peter Karl Hermann Verheugen, Günter SPD 17. 10. 96 Homburger, Birgit F.D.P. 17. 10. 96 Wallow, Hans SPD 17. 10. 96 Horn, Erwin SPD 17. 10. 96 ** Wieczorek (Duisburg), SPD 17. 10. 96 Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 17. 10. 96 Helmut Ibrügger, Lothar SPD 17. 10. 96 Zierer, Benno CDU/CSU 17. 10. 96 Irber, Brunhilde SPD 17. 10. 96

Dr. Jacob, Willibald PDS 17. 10. 96 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Dr. Kinkel, Klaus F.D.P. 17. 10. 96 ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union

Nachtrag zum Plenarprotokoll 13/131

Deutscher Bundestag

Nachtrag zum Stenographischen Bericht

131. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Inhalt:

Anlage 2 Schutz der Nordsee durch Schiffölent- Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- sorgung in Seehäfen, e - Beschluß- ordnungspunkt 13 (Antrag: Aktionspro- empfehlung zu den Anträgen: Geplante gramm zur CO2-Minderung und Energie- Versenkung der Shell-Ölplattform und einsparung im Gebäudebereich) glaubwürdiger europäischer Nordsee- schutz sowie Das Meer ist keine Müll- Dr. Michael Meister CDU/CSU 11901* A halde) Norbert Formanski SPD 11902* C Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 11907* C Jutta Müller (Völklingen) SPD 11903* C Annette Faße SPD 11909* B Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ Ulrike Mehl SPD 11910* B DIE GRÜNEN 11904* A Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE Dr. Klaus Röhl F.D.P 11904* C GRÜNEN 11911* A Klaus-Jürgen Warnick PDS 11905* B Lisa Peters F.D.P. 11911* D Joachim Günther, Parl. Staatssekretär Eva Bulling-Schröter PDS 11913* A BMBau 11906* B Anlage 4 Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- ordnungspunkt 16 (Antrag: Förderung ordnungspunkt 14 (a - Antrag: Bedro- des Friedensprozesses in der Westsahara) hung der Meere und Zerstörung der Dr. CDU/CSU . . 11913* C Küsten durch Ölkatastrophen, b - Antrag: Sofortmaßnahmen gegen die Verseu- Dr. SPD 11914* C chung der Meere durch illegale Ölein- Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE leitungen - Maßnahmen zur überwachten GRÜNEN 11915* D Entsorgung von Altölen und Ölschläm- Dr. Burkhard Hirsch FD P. 11916* C men an Land, c - Antrag: Schutz vor Öltankerunfällen und Umweltschäden in Steffen Tippach PDS 11916* D europäischen Gewässern, d - Antrag: Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 11917* C

Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11901*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 2 lich der in 1996 bereitgestellten Mittel ein Gesamt- kreditvolumen von 5 Milliarden DM erreicht wird. Zu Protokoll gegebene Reden Weitere Anstrengungen zur Reduzierung des Ener- zu Tagesordnungspunkt 13 gieverbrauchs im Wohnungsbau sind ökologisch not- (Antrag: Aktionsprogramm zur CO2-Minderung wendig und wirtschaftlich sinnvoll. und Energieeinsparung im Gebäudebereich) Bei der Heizung der Gebäude (Raumwärme und Warmwasser) werden jährlich rund 270 Mi llionen Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Im Rahmen der Tonnen an Kohlendioxidemissionen freigesetzt. Dies Vereinbarungen der Vertragsstaatenkonferenzen zur entspricht rund 30 Prozent der gesamten CO2-Emis- Klimaschutzpolitik hat sich die Bundesrepublik sionen. Die derzeit geltende Wärmeschutzverord- Deutschland das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis zum nung schreibt für den Neubau einen maximalen Jahre 2005 die Emissionen des Treibhausgases CO2 Heizenergieverbrauch von 90 Kilowattstunden pro um mindestens 25 Prozent, bezogen auf das Jahr Quadratmeter und Jahr vor. Rund 2/3 der 36 Millionen 1990, zu verringern. Wohneinheiten im Bestand müssen als energetisch Die Bundesrepublik hat auch auf diesem Feld des dringend sanierungsbedürftig gelten, sie verbrau- Umweltschutzes inte rnational eine Vorreiterrolle chen zwischen 150 und 400 Kilowattstunden pro inne und kann in der Reduzierung von Schadstoff- Quadratmeter und Jahr. - emissionen beachtliche Erfolge aufweisen. So konnte allein im Zeitraum zwischen 1990 und 1995 der Aus- Die Enquete-Kommission zum Schutz der Erdat- stoß von CO2 um 12,7 Prozent gesenkt werden. Für mosphäre beziffert das CO2-Einsparpotential in ih- die gesamte Bundesrepublik bedeutet dies eine Re- rem Abschlußbericht von 1994 mit rund 100 Mi llionen duzierung von 2 Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr. Tonnen CO2 pro Jahr. Zur Erreichung des Redukti- onsziels müssen zusätzlich zum Ersatz abgehender Gerade der Baubereich hat in der Vergangenheit Gebäude durch Neubauten jährlich etwa 800 000 einen überproportionalen Beitrag zur Reduzierung Altbauwohnungen energetisch modernisiert werden. der Luftschadstoffe geleistet. Dies unterstreichen ei- nige wenige Beispiele: Der Heizwärmebedarf im Die Modernisierung von Altbaubeständen ist in er- Neubau wurde durch die Anpassungen unter ande- heblichem Umfang auch ein Beitrag für die Belebung rem der Wärmeschutzverordnung und der Heizungs- und Stützung der Konjunktur. Ausgehend vom dar- anlagenverordnung auf etwa 20 Prozent des Heiz- gestellten energetischen Modernisierungsbedarf er- wärmebedarfs von 1970 reduziert. Durch die Weiter- gibt sich ein Investitionsvolumen von rund 26 Mil entwicklung der wärmetechnischen Standards liarden DM. Schätzt man den hiervon ausgehenden konnte der Anteil der CO2-Emissionen aus dem Woh- Beschäftigungseffekt ab, so können etwa 60 000 Ar- nungsbau zwischen 1987 und 1994 um rund beitsplätze neu geschaffen und 150 000 bestehende 16 Prozent gesenkt werden. Arbeitsplätze gesichert werden. Wärmetechnische Modernisierungen im Gebäudebestand sind in Ver- Grundlage unserer Klimaschutzpolitik ist das Kon- bindung mit den ohnehin erforderlichen Instandset- zept der ökologischen und sozialen Marktwirtschaft. zungen auch wirtschaftlich sinnvoll. Wir wollen die Kräfte des Marktes auch für den Kli- maschutz nutzen. Dieser Ansatz kennt Gebote und Vor diesem Hintergrund bringt die CDU/CSU- Verbote nicht als Ordnungsprinzip, sondern nur zur Fraktion heute ihr Aktionsprogramm zur CO2-Minde- wirkungsvollen Abwehr unmittelbarer Gefahren. Wir rung und Energieeinsparung im Gebäudebereich setzen auf die Verantwortung des einzelnen, die ein. Dieses Aktionsprogramm hebt zum einen darauf auch durch entsprechende staatliche Anreize mobili- ab, die qualitativen Kriterien der wärmetechnischen siert werden soll. Die bereits erreichten Reduktions- Standards sinnvoll weiter zu entwickeln. Zum ande- schritte sind eine klare Bestätigung unseres politi- ren soll es aber auch Probleme in der Praxis aufneh- schen Ansatzes. men und diesen abhelfen. Gerade der Baubereich ist ein hervorragendes Bei- Hinsichtlich der qualitativen Kriterien wollen wir spiel, in welch hohem Maße staatliche Anreize p riva- eine weitere Novelle der Wärmeschutzverordnung, tes Kapital für umweltverträgliches Verhalten mobili- in der die Anforderungen an Gebäudeneubauten für sieren können. Für das zu Beginn diesen Jahres auch die Reduzierung des Energieverbrauchs auf den für die alten Bundesländer aufgelegte Zinsverbilli- heute als „Niedrigenergiehausbauweise" bezeichne- gungsprogramm für energetische Maßnahmen im ten Standard, das heißt 40 bis 70 Kilowattstunden pro Baubereich konnte die eigentlich für das gesamte Quadratmeter und Jahr angehoben werden, die Wei- Jahr 1996 vorgesehene Fördertranche bereits nach terentwicklung des Wärmepasses zum Energiepaß, sechs Monaten vergeben werden. Über dieses Zins- damit das Ziel der Wärmeschutzverordnung, die Re- verbilligungsprogramm wurde zum 30. Juni bereits duzierung des Energieverbrauchs, durch die Einbe- die wärmetechnische Sanierung von 77 019 Wohnun- ziehung der Anlagentechnik noch effektiver erreicht gen gefördert. Es ist vor diesem Hintergrund außeror- werden kann. Der dadurch ermittelte Jahresenergie- dentlich begrüßenswe rt , daß dieses Programm mit bedarf eines Gebäudes ist ein geeignetes K riterium, Hilfe von Mitteln der MW so aufgestockt werden um einen nachvollziehbaren Vergleichsmaßstab für konnte, daß für 1996 insgesamt 3 Milliarden DM be- die energetische Situation eines Gebäudes zu erhal- reitstehen. Wir setzen uns dafür ein, daß einschließ ten, durch Standardisierungen die Grundlage für 11902' Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Energiekennziffern zu erhalten, die auch die We rt Energien zu decken, hat die Bundesregierung deutli- -veränderungen von Gebäuden dokumentieren und che Zeichen gesetzt. Auch das Eigenheimzulagenge- den administrativen Aufwand zur Kontrolle von För- setz unterstützt die Verwendung regenerativer Ener- dermaßnahmen bzw. der Einhaltung gesetzlicher gien durch eine Sonderzulage. Das Förderprogramm Vorschriften erleichtern und eine Grundlage für die der Bundesregierung für erneuerbare Energien wird Planung und Strukturierung von Sanierungsmaßnah- in hohem Maße in Anspruch genommen. men im Gebäudebestand zu erhalten. Dies zeigt, daß die Bundesregierung und die sie Wichtig ist für uns auch, daß sich alle Beteiligten tragenden Fraktionen mit einem vielfältigen Bündel rechtzeitig auf die neue Stufe des energiesparenden an Einzelmaßnahmen darangehen, das CO2-Einspar- Bauens einstellen können. Deshalb halten wir es für ziel zu erreichen. Unser heute in erster Lesung bera- sinnvoll, die neuen Anforderungen der Wärme- tenes Aktionsprogramm ist deshalb auch eine er- schutzverordnung so bald wie möglich zu konkreti- neute Einladung an die Mitglieder dieses Hauses, in sieren und das Verordnungsgebungsverfahren rasch einen Ideenwettbewerb zur Mobilisierung des CO2- einzuleiten. Einsparpotentials im Gebäudebereich einzutreten. Die Bundesländer sind gefordert, endlich eine Unser Antrag ist die Grundlage dieses Ideenwett- wirksamere Überwachung der gesetzlichen Vorga- bewerbs. Für deren Erarbeitung möchte ich allen ben sicherzustellen. Wir benötigen auch hier einheit- Mitgliedern der Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Frak- liche Landesbauordnungen und Kontrolle vor O rt. tion und der F.D.P. meinen herzlichen Dank sagen. Diese Vor-Ort-Kontrolle muß nicht den Aufbau von Bürokratie bedeuten. Die freiwillige Selbstkontrolle Norbert Formanski (SPD): Zu Recht wird im Antrag des Handwerks, etwa über das Instrument der Fach- der Regierungskoalition festgestellt, daß im Baube- unternehmerbescheinigung, erscheint uns als proba- reich erhebliche CO2-Sparpotentiale vorhanden sind. tes Mittel, den Zielkonflikt von Umsetzung der wär- In Gesamtdeutschland werden bei der Heizung von metechnischen Standards und Entbürokratisierung Gebäuden (Raumwärme und Warmwasser) jährlich zu lösen. 270 Tonnen Kohlendioxid freigesetzt. Die Enquete- Die Möglichkeiten des energiesparenden Bauens kommission „Schutz der Erdatmosphäre" bezifferte werden oft auf Grund immer noch unzureichender das Einsparpotential im Gebäudesektor auf minde- Information nicht erkannt. Energiesparendes Bauen stens 50 Prozent, in besonderen Fällen auf bis zu muß noch stärker zu den selbstverständlichen 90 Prozent. Mit Ihren windelweichen Empfehlungen Grundlagen jeder Planungsarbeit und zu den obliga- und Prüfungsaufträgen kommen Sie diesem Ziel kein torischen Bestandteilen der Ausbildung werden. Dies Stück näher - ein weiteres Kapitel aus dem Stück gilt für die Studienordnungen für Architekten und „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß". Bauingenieure. Bereits 1990 hat das Bundeskabinett beschlossen, Energiesparendes Bauen muß auch in den Aus- die Kohlendioxid-Emissionen in den alten Bundes- und Weiterbildungen der Handwerksfachorganisa- ländern um mindestens 25 Prozent und in den neuen tionen noch stärker berücksichtigt werden. Dieses Bundesländern um einen noch deutlich höheren Pro- besondere Leistungsangebot könnte durch eine Zer- zentsatz zu reduzieren. Seitdem wird über Klima- tifikatslösung, etwa unter der Überschrift „Fachbe- schutzmaßnahmen geredet, es wurde aber so gut wie trieb für energiesparendes Bauen", dokumentiert nichts getan. werden. Von den Beschlüssen der Bundesregierung ist au- Energiesparendes Bauen erfordert auch eine Inten- ßer einer von vielen Seiten als unzureichend kritisier- sivierung der Öffentlichkeitsarbeit unter stärkerer ten Wärmeschutzverordnung nichts umgesetzt wor- Nutzung moderner Informations- und Kommunikati- den. So kommt auch die Prognos AG in ihrem Gut- onsmittel. Selbst Fachleute können die Vielfalt an achten für den Bundeswirtschaftsminister zu dem Er- Förderinstrumenten kaum mehr übersehen und für gebnis, daß das Klimaschutzziel in Deutschland weit ihre Klienten die beste Förderung herausfinden. Des- verfehlt wird. Eine politische Weichenstellung ist halb erscheint es sinnvoll, Fachverbänden und son- nicht in Sicht. Statt dessen werden die zentralen The- stigen Multiplikatoren ständig aktualisierte Informa- men ökologische Steuerreform, Energieeinsparge- tionsmöglichkeiten über Datenbanken zur Verfü- setz und die gezielte Förderung eines 100 000-Dä- gung zu stellen. cher-Solarprogramms tabuisiert. Zur Mobilisierung des CO2-Sparpotentials kann Statt nur Empfehlungen und Prüfaufträge abzuge- der Ausbau der Drittmittelfinanzierung als ein neu- ben, hätten Sie sich in Ihrem Antrag mit dem heute eres Standbein zur Unterstützung von Energieein- technisch Machbaren auseinandersetzen sollen. Kon- sparmaßnahmen wichtige Beiträge leisten. Verschie- krete Empfehlungen und vor allem die Antwort auf dene Projekte zeigen bereits, wie eine Zusammenar- die Frage, wie kann das Machbare und Wünschens- beit zwischen Energieabnehmer und Energieversor- werte auch umgesetzt werden, fehlen völlig. ger aussehen kann. Die Vergabe günstiger Kredite Dabei wäre sicherlich die Lektüre des Antrags für wärmetechnische Modernisierung wäre auch ein „Programm Energieeinsparung in Gebäuden" der wichtiges neues Geschäftsfeld für Kreditinstitute. SPD-Bundestagsfraktion hilfreich gewesen. Denn um Mit ihrer Selbstverpflichtung, bei den Baumaßnah- die technisch vorhandenen Energiesparpotentiale im men für Parlament und Regierung in Berlin Gebäudesektor zum Klimaschutz und zur Energie- 15 Prozent des Energiebedarfs durch regenerative einsparung zu mobilisieren, haben wir schon 1992 fi- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11903*

nanzielle Anreize für folgende Maßnahmen gefor- - Jutta Müller (Völklingen) (SPD): „Bei den CO2 dert: Emissionen ist gegenüber dem Wert von 1990 bis 2005 ein Rückgang um 10,5 Prozent und bis 2020 - Einbau von zentralen Wärmeerzeugungsanlagen nochmals ein geringfügiger Rückgang um 3 Prozent mit einer Leistung bis zu 12 kW, zu erwarten. Der ganz überwiegende Teil der Reduk- - Einbau von Brennwertgeräten einschließlich der tion ist auf die wirtschaftlichen Einbrüche in den Abgas- und Neutralisationsanlagen, neuen Bundesländern zu Beginn der 90er Jahre zu- rückzuführen. " Dieser Satz stammt aus der Prognos - Einbau von Anlagen zur Wärmespeicherung und Studie zu den Energiemärkten, die im Dezember Wärmerückgewinnung für die Raumheizung und 1995 im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums die Warmwasserbereitung, erstellt wurde. - Einbau von Solaranlagen für Licht, Raumheizung Nun ist es ja eigentlich erfreulich, daß sich mittler- und Warmwasserbereitung, weile sogar die Koalitionsfraktionen darüber Gedan- ken machen, daß mit der derzeitigen Politik die voll- - Einbau von brennstoffbetriebenen Wärmepumpen mundigen Ankündigungen des Bundeskanzlers in einschließlich Abgasanlagen, Rio oder in Berlin nicht einzuhalten sind. Natürlich - Maßnahmen zur Wärmedämmung und Isolierung. ist es somit auch zu begrüßen, daß wir uns hier noch einmal mit CO2-Minderung und Energieeinsparung Das sind zum Beispiel konkrete Vorschläge. im Gebäudebereich beschäftigen, da do rt in der Tat - noch große Einsparpotentiale zu mobilisieren sind. Bis zum 31. Dezember 1991 konnten diese Maß- nahmen mit bis zu zehn Prozent jährlich steuerlich Nur liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Place- abgeschrieben werden. Wir fordern einen sechspro- boanträgen, Absichtserklärungen, Prüfaufträgen zentigen Abzug von der Steuerschuld von maximal usw. werden Sie in der Sache nichts erreichen. Sie 30 000 DM Energiesparinvestitionen über fünf Jahre. betreiben Symbolpolitik, zumal Sie in anderen Berei- Falls keine entsprechende Steuerschuld vorliegt, chen, die hier eine große Rolle spielen, völlig entge- wird der Abzugsbetrag als Zuschuß ausbezahlt. Mit gengesetzt handeln. Sie sind eben nicht bereit, eine diesen finanziellen Mitteln schaffen wir die Anreize, Wende in der Verkehrspolitik herbeizuführen. Ich tatsächlich in die Schonung der Umwelt zu investie- nenne nur die Stichworte Verkehrsvermeidung und ren, und wir schaffen obendrein zusätzliche Arbeits- Verkehrsverlagerung auf Schiene und Schiffe usw. plätze. Sie streben bei der nationalen Umsetzung der EU- Einige der aufgezählten Punkte konnten wenig- Richtlinie zum Binnenmarkt für Strom Regelungen stens als Ökokomponente für den Eigenheimbereich an, welche die Kraft-Wärme-Kopplung, also die Fern- aufgrund unserer Initiative umgesetzt werden. Ein wärme, extrem benachteiligen, die Stadtwerke in kleiner Anfang im Eigenheimzulagengesetz wurde den Ruin treiben und erneuerbare, CO2-freie Ener- gemacht. Hier hätten Sie nachlegen müssen, zum gien vom Markt verdrängen. Beispiel für den Mietwohnungsbau. Es gibt noch eine Reihe von anderen Bereichen, Ohne eine bessere Aus- und Fortbildung der Ar- die ich hier aus Zeitgründen nicht nennen kann. chitekten können Gebäude in bezug auf Kosten, Aber gerade die Frage der Beratung ist ja im Hin- Energieverbrauch und Raumklima nicht optimal er- blick auf Energieeinsparung im Gebäudebereich nun stellt oder renoviert werden. Auch wenn es lobens- ein sehr wichtiger Punkt. Hier haben sich in den letz- wert ist, daß die Bundesregierung eine Verbesserung ten Jahren vor allem die kommunalen Stadtwerke der Ausbildung der Planer in Richtung Energieein- hervorgetan und spezialisiert. Eine Energiepolitik, sparung und Kostenoptimierung verlangt, so ist es die auf gnadenlosen Preiswettbewerb ohne Berück- doch grotesk, wenn die Bundesregierung bisher da- sichtigung der Umweltstandards ausgerichtet ist, bei nur auf die Ansprache des Bundesbauministers wird keine Anreize zur Energieeinsparung bringen. 1995 vor den Dekanen der Architektur-Fakultäten verweisen kann (Antwort der Bundesregierung auf Ziel einer vernünftigen, an Umweltzielen ausge- die Kleine Anfrage „Umsetzung der Wärmeschutzno- richteten Politik darf es nicht sein, die Preise zu sen- velle'' von Monika Ganseforth im August 1996). ken. Wir müssen das Ziel haben, Rechnungen zu sen- Auch bleiben die Möglichkeiten, die der Wärmepaß ken. Nur so werden wir bei den Verbräuchen etwas bzw. der Wärmebedarfsausweis bietet, ungenutzt. erreichen. Der tatsächliche Heizenergiebedarf muß ermittelt werden und als Faktor in den Mietspiegel einfließen. Außerdem möchte ich noch auf ein weiteres Di- lemma in Ihrem Antrag hinweisen, nämlich das Inve- Ganz traurig sieht es aus, wenn es um die vorgese- stor-Nutzer-Dilemma. Wenn der Hauseigentümer die hene Verschärfung der Wärmeschutz-Verordnung Investitionen zur Energieeinsparung zu bezahlen geht. Der Bundesrat hatte verlangt, daß bis zum hat, der Mieter aber bei den monatlichen Energieko- 1. Januar 1997 der Regierungsentwurf vorliegen soll. sten den Nutzen hat, tut sich zunächst einmal nichts. Sie fordern nunmehr die Novellierung zum 1. Januar Zinsverbilligte Darlehen gehen hier ins Leere. 1999. Zwei weitere versäumte Jahre! Genauso denke ich, daß es unnötig ist, weitere For- Es bleibt dabei, Ihr Antrag enthält zwar viel weiße schungsaktivitäten im Bereich der Solarenergie zu Salbe, aber so gut wie nichts Konkretes, um CO2 fordern. Geforscht haben wir genug. Hier fehlt es an wirklich zu vermindern. vernünftigen Markteinführungsprogrammen. Dies 11904* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 hat ja auch dazu geführt, daß der letzte Solaranla- läßlich der Finanzministerratssitzung im Oktober genhersteller das Land verlassen hat. Wir haben be- 1995 einer Minimallösung einer CO2-/Energiesteuer reits vor der Sommerpause einen entsprechenden die Zustimmung versagt. Gesetzentwurf eingebracht. Wir schlagen Ihnen ein 100 000-Dächer-Programm vor. Unterstützen Sie uns! Besonders apart ist dann noch, daß die For- schungs- und Entwicklungsmittel im Bereich ratio- Zum Schluß also noch einmal: Wir begrüßen ein neller Energieverwendung und der Solarenergienut- Aktionsprogramm zur CO2-Minderung und Energie- zung im Haushalt 1997 gegenüber dem Vorjahr um einsparung im Gebäudebereich. Wir halten aber Ihre 16 Prozent gekürzt wurden - weiterer Kommentar Instrumente für zu lasch und weitgehend unwirk- überflüssig. sam. Hören Sie auf, Symbolpolitik zu betreiben, und diskutieren sie mit uns in den Ausschüssen über kon- krete Maßnahmen! Lassen Sie uns ein Aktionspro- Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Bei der Verwertung von gramm beschließen, daß sich an folgenden Geboten kohlenstoffhaltigen Energieträgern entstehen in der orientiert: Sorge dafür, daß die Preise die ökologische Bundesrepublik in Industrie, im Verkehrsbereich, im Wahrheit sagen! Macht das Kostengünstigste zuerst! Bauwesen, in den Haushalten und sonstigen Berei- Investiere in Effizienz! Sorge für fairen Wettbewerb! chen große Mengen Kohlendioxid. In Deutschland Belohne das wünschenswerte Verhalten, nicht das werden allein bei der Erzeugung von Raumwärme Gegenteil! Besteuere das weniger Wünschenswerte, und der Bereitung von Warmwasser jährlich nicht das Erwünschte! Ein solches Programm ließe 270 Millionen Tonnen an Kohlendioxidemissionen sich dann sinngemäß auch auf andere relevante Poli- freigesetzt. Dies sind 30 Prozent der gesamten CO2- tikbereiche übertragen. Nur wenn wir viele Bereiche Emissionen. Damit liegt dieser Teil der CO2-Emissio- vernetzen, kommen wir dem Ziel Klimaschutz näher. nen sogar höher als der des Verkehrsbereichs. In den privaten Haushalten liegt der auf Wärme- und Warm- wassererzeugung entfallende Energieanteil sogar bei Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- etwa 80 Prozent. -NEN): Ginge es nach dem Titel der CDU/CSU-F.D.P. Initiative, müßte bei einem Grünen wahre Freude auf- Die Mobilisierung dieser erheblichen Sparpoten- kommen. Nach Lektüre des sogenannten Aktionspro- tiale im Wohn- und Baubereich, die wir in unserem gramms aber fällt man dann sofort wieder in die politi- Antrag betonen, dient dem Ziel der Bundesregie- sche Realität dieser Regierungskoalition zurück. rung, die Kohlendioxidemissionen bis zum Jahre 2005 um 25 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzie- Es handelt sich bei der Koalitionsinitiative mitnich- ren. Deshalb hat der Gesetzgeber bisher bereits zahl- ten um ein Aktionsprogramm, sondern um eine pein- reiche Aktionen und Programme für einen effizien- liche und obendrein unberechtigte Selbstbeweihräu- ten Energieeinsatz eingebracht. Dazu gehört unter cherung. Denn das CO2-Minderungsziel der ersten anderem die mehrfache Anpassung der Wärme- Klimarahmenkonvention von Berlin 1996 wird nicht schutzverordnung (WSchv) im Sinne verschärfter An- etwa - wie behauptet - nur wegen des Anstiegs der forderungen, zuletzt im November 1994. Verkehrsleistungen im Personen- und Güterverkehr weit verfehlt. Abgesehen davon, daß diese Koalition Bei den Anforderungen der neuen Wärmeschutz- wohl beraten wäre, auch im Verkehrsbereich durch verordnung, ab 1. Januar 1995 wirksam, handelt es Förderung des Schienenverkehrs statt des Auto- sich im wesentlichen - bei neuen Gebäuden - um wahns energie- und klimapolitische Zeichen zu set- Vorsorgemaßnahmen, die in den nächsten Jahren zen, hat die Umweltpolitik ohnedies eine schwere voll zum Tragen kommen. Sie enthält aber auch An- ordnungspolitische Schlagseite. Obwohl nämlich die forderungen, die bei Ersteinbau, Ersatz oder Erneue- Regierungskoalition das Problem sehr wohl erkennt, rung von Bauteilen bestehender Gebäude einzuhal- wie sich aus Absatz II ergibt, forde rt sie vornehmlich ten sind. Bundesregierung und Bundesrat sind sich andere auf, tätig zu werden, bevor sie selbst etwas zu einig, daß die Wärmeschutzverordnung noch in die- tun gedenkt. Zudem hat die Wärmeschutzverord- sem Jahrzehnt weiterentwickelt werden soll. nung bei weitem nicht das festgeschrieben, was als Niedrigenergiestandard längst Stand der Technik ist. Wir forde rn die Bundesregierung auf zu prüfen, ob Außerdem fehlen Lösungen für den Altbaubereich der für alle Neubauten geforderte Wärmebedarfsaus- und Anreize für Mieterinitiativen. Gerade hier lägen weis bei einer weiteren Novellierung der Wärme- die größten Einsparpotentiale. schutzverordnung, unter Berücksichtigung wirt- schaftlicher und Verwaltungsvereinfachungskrite- Das Versagen der Bundesregierung sei an zwei rien, zu einem Energiepaß weiterentwickelt werden Beispielen verdeutlicht: kann. Die Wärmeschutzverordnung nimmt als Erstens. Eine Vorbildrolle des Bundes bei eigenen Grundlage der Anforderungen den Jahresheizwär- Bauten sucht man vergeblich. mebedarf. Das Ziel der Verordnung, den Energiever- brauch über die Senkung des Energiebedarfs zu re- Zweitens. Ökonomische Anreize zum Energiespa- duzieren, könnte nach Expertenmeinung noch effek- ren und zur rationellen Energienutzung bleiben aus, tiver erreicht werden, wenn zukünftig in diese Bilanz wie zum Beispiel das Fehlen einer CO2-/Energie- die sich ständig weiterentwickelnde Anlagentechnik steuer zeigt, durch die dem ökologisch kontrapro- stärker einbezogen würde. Ein darauf basierender duktiven niedrigen Energiepreisniveau, das dem der Energiepaß würde als Kernpunkt weiterhin den Jah- späten 60er Jahre entspricht, nicht entgegengesteu- resenergiebedarf eines Gebäudes abbilden. Uns muß ert wird. Im Gegenteil: Minister Waigel hat sogar an- aber trotz aller Energieeinsparungsmaßnahmen klar Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11905* sein, daß Energiesparen nur ein endliches, ein be- Wir haben die Möglichkeit, von den Fehlern auf grenztes Kohlendioxid-Minderungspotential ist. wohnungs- und umweltpolitischem Gebiet sowohl der DDR als auch der früheren Bundesrepublik zu Wir betonen weiterhin, daß eine CO2-Minderung lernen. Leider - und das wird auch im Nationalbe- und Energieeinsparung im Gebäudebereich auch richt der Bundesregierung zur HABITAT-II-Konfe- der Stützung und Belebung des Arbeitsmarktes renz deutlich - gibt es zwischen den auch von der dient. Von 36 Millionen bestehenden Wohneinheiten Bundesregierung formulierten Erkenntnissen und kommen zirka 50 Prozent für eine energetische Mo- den Schlußfolgerungen für die praktische Politik ex- dernisierung in Frage. Davon entfallen etwa zwei treme Widersprüche. Sind sie einer Verantwortungs- Drittel auf die alten Bundesländer und ein Drittel auf losigkeit und Ignoranz gegenüber dem eigenen Volk die neuen Bundesländer. Hier müssen, zur Errei- und anderen Völkern sowie den kommenden Gene- chung des 25-Prozent-Reduktionsziels, tatsächlich, rationen geschuldet oder einfach Resultat von Unfä- außer dem Ersatz abgehender Gebäude durch Neu- higkeit bzw. Dummheit? bauten, pro Jahr etwa 800 000 Altbauwohnungen zu- sätzlich energetisch modernisiert werden. Diese Mo- Auch der heute vorliegende Koalitionsantrag für dernisierung würde die Konjunktur in großem Um- ein weiteres Aktionsprogramm degeneriert bei ge- fang stützen. Bei dem Modernisierungsbedarf von nauerem Hinschauen zu einem Schaufensterantrag, rund 800 000 Wohneinheiten ergibt sich ein Investiti- mit dem verdeckt werden soll, daß die Regierung onsvolumen von zirka 26 Milliarden DM. Damit kön- nicht gewillt ist, eine Wende hin zu einer ökologi- nen etwa 60 000 Arbeitsplätze neu geschaffen und schen und sozialen Politik zu vollziehen. 150 000 bestehende gesichert werden. Auf Grund meiner geringen Redezeit dazu nur ei- nige Stichpunkte: Wir fordern die Bundesregierung hiermit auf, dafür Sorge zu tragen, daß die Aufgaben der CO2-Reduk- Ein wachsender Wohnflächenverbrauch, zuneh- tion und der rationellen Energieverwendung im Ge- mende Bodenversiegelung und die Erhöhung des bäudebereich mit den Aufgaben des kostensparen- Pkw-Verkehrs in Folge falscher Siedlungs- und Ver- den Bauens konform gehen. Dazu empfehlen wir, kehrspolitik konterkarieren alle Bemühungen für daß die Drittmittelfinanzierung als neueres Stand- energiesparende Bauweisen. Trotzdem wird durch bein der Unterstützung von Energiesparmaßnahmen die Regierung mit viel Steuergeld, Hand in Hand mit und des Einsatzes erneuerbarer Energien ausgebaut den Banken, Bausparkassen und Immobilienfirmen, wird. Bezüglich des p rivaten Haus- und Wohnungs- der Drang zum freistehenden Einfamilienheim pro- baus muß durch den Abbau staatlicher Subventionen pagiert und noch weiter hochgepuscht. Auch in die- die Anlage von p rivatem Kapital wieder interessant sem Kontext hat das Eigenheimzulagegesetz trotz gemacht werden. dem begrüßenswerten Öko-Bonus gravierende Män- gel. Weiterhin fordern wir, auf die Bundesländer dahin gehend einzuwirken, daß Energiesparinformationen Anstatt den kommunalen und genossenschaftli- in der Ausbildung von Architekten und Bauingenieu- chen Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland mit ren fester Bestandteil werden. Dazu gehört ebenso ihrem wahrlich problematischen Erbe die Chance zu eine begleitende Aufklärungsarbeit in der Öffent- geben, ihre Kräfte auf eine ökologische Sanierung lichkeit. So haben sich Bundesregierung und Bun- der Wohnungen und Wohnumfelder zu konzentrie- destag zum Beispiel verpflichtet, bei den Baumaß- ren, zwingen Sie ihnen, sowie den darin lebenden nahmen für Parlament und Regierung in Berlin Menschen, eine wohnungspolitisch unsinnige 15 Prozent des Energiebedarfs durch regenerative Zwangsprivatisierung auf und lassen die Unterneh- Energien zu decken. Damit sind in der Öffentlichkeit men mit zahlreichen ungeklärten Vermögensfragen deutlich energetische Akzente gesetzt worden. im Regen stehen.

Zur Erreichung dieser Ziele sind in allen relevan- Eine ökologische Sanierung muß sozialverträglich ten Politikbereichen zusätzliche Anstrengungen nö- bleiben und darf nicht dazu führen, daß einkom- tig. Die Fraktion der F.D.P. hat ihre Zielsetzungen in mensschwache Personen aus ihren Wohnungen her- dem vorliegenden Antrag dargelegt. ausmodernisiert werden. Deswegen bedarf es einer noch zielgerichteteren öffentlichen Förderung an Stelle der gießkannenartigen Mittelverteilung an Besserverdienende über fantastische Abschreibungs- Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Die Verantwortung und Steuersparmodelle. für die Sicherung der Lebensgrundlagen gegenwär- tiger und künftiger Generationen, die Überwindung Nach weitgehend übereinstimmenden Schätzun- des Gegensatzes zwischen dem Ressourcenver- gen von Verbänden und wissenschaftlichen Institu- brauch der wesetlichen Industrieländer und dem der tionen müssen über längere Zeiträume pro Jahr min- „Dritten Welt" - ja überhaupt für die Bewohnbarkeit destens 500 000 Wohnungen neu gebaut werden, um unseres Planeten - erfordert innezuhalten und umzu- das Wohnungsdefizit zu beseitigen und den Abgang denken. Nach meiner Auffassung müssen Lebens- verschlissener Wohnungen auszugleichen. Genauso qualität und Ökologie kein Gegensatz sein. Wohlver- wichtig ist die Bestandserhaltung und -pflege durch standene Lebensqualität ist durchaus mit dem Schutz eine umfassende ökologische und sozial vertretbare der Natur in Einklang zu bringen, soweit dem nicht Sanierung und Modernisierung in einer Größenord- Profitmaximierung, überzogenes Anspruchsdenken nung von mindestens 3 Prozent jährlich sowie durch und Renommiersucht entgegenstehen. Wohnumfeldverbesserungen, besonders in Großsied- 11906* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 lungen. Wie sich die CO2-Emissionen in der Bundes- im Bereich des Klimaschutzes erarbeitet hat. Die republik in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Bundesregierung hat sich den Aufgaben nicht ver- entwickeln werden, hängt auch davon ab, wie diese schlossen, die die Enquete-Kommission benannt hat, Aufgabe gelöst wird. und bereits im Jahre 1990 eine Interministerielle Ar- beitsgruppe beauftragt, ein Gesamtkonzept zur CO2- Es macht auch wenig Sinn, über Energieeinspa- Reduktion zu erstellen und sich dabei am Ziel einer rungen im Baubereich nachzudenken, wenn die 25%igen Minderung bis zum Jahre 2005 zu orientie- Bundesrepublik auf der anderen Seite zuläßt, daß in- ren. novative Techniken wie die Solarenergie ungenü- gend gefördert werden, Solarzellenhersteller in Auf den Gebäudebereich entfällt ein bedeutender Deutschland keine Zukunft mehr sehen und deshalb Teil des Energieverbrauchs: Etwa 37 Prozent des ge- ins Ausland abwandern. Hätte die Bundesregierung samten Endenergieverbrauchs in der Bundesrepu- für die Förderung alternativer Energieerzeugung blik werden für die Bereitstellung von Raumwärme ebensoviel Geld eingesetzt wie für Atomkraft und und Warmwasser benötigt. Daraus resultiert die Auf- die Sicherung der Monopolstellung der großen deut- gabe im Gebäudebereich: Erschließung eines Minde- schen Energieerzeuger, wären wir im Klimaschutz rungspotentials von rund 100 Millionen Tonnen ener- weltweit schon ein großes Stück weiter. giebedingten CO2-Emissionen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Dabei sind zwei Handlungsfelder grundsätzlich zu das deutsche Finanzkapital wesentlich mehr Inter- unterscheiden: Zum einen der Neubaubereich. Hier esse an einer möglichst hohen und sicheren Rendite gilt es, Vorsorge zu treffen, damit die heute wirt- mit Hilfe bestehender herkömmlicher Energieerzeu- schaftlich und in Breite verfügbaren Techniken zur gungsanlagen als an einer Investition in alte rnative Emissionsminderung und Energieeinsparung bei Energien hat. Und dieses Kapital wird dabei durch Neubauten zum Einsatz kommen. Gebäude sind die Politik der Bundesregierung hervorragend unter- langlebige Wirtschaftsgüter; alles, was an Energie- stützt, anstatt es durch entsprechende Gesetze in sparmaßnahmen nicht unmittelbar bei ihrer Errich- ökologisch dringend notwendige Investitionen zu tung vorgesehen wird, kann später allenfalls mit gro- zwingen. ßem Aufwand und hohen Kosten nachgerüstet wer- den. Es gilt also, heute durch vernünftige Energie- Die Senkung der CO2-Emissionen und des Ener- spar-Investitionen die Emissionen und den Ressour- gieverbrauchs ist jedenfalls machbar, auch über die cenverbrauch von morgen zu vermeiden! durch die Bundesrepublik eingegangenen internatio- nalen Verpflichtungen hinaus. Mit der Neufassung wichtiger Vorschriften - her- vorzuheben sind hier die neue Wärmeschutzverord- Dafür ist nach Auffassung der Demokratischen So- nung und die neue Heizungsanlagen-Verordnung - zialisten notwendig: erstens energiesparendes Bauen hat die Bundesregierung das Ihre dazu getan, und durch energiesparende Bebauungsformen wie Nied- zwar sehr rasch im Anschluß an die Aufarbeitung der rigenergiehäuser, Reihenhäuser und mehrgeschos- Problematik durch die Enquete-Kommission „Schutz sige Bauten; zweitens eine energie- und wärmetech- der Erdatmosphäre" . nische Nachrüstung bestehender Gebäude; drittens Zum anderen der Gebäudebestand: Hier sind deut- die Verwendung ökologischer Baustoffe; viertens ein liche Potentiale zur CO2-Minderung zu erschließen. behutsamer ökologischer Stadtumbau, die Erschlie- Dies ist aber nur sehr bedingt durch staatliche Vorga- ßung ungenutzter Flächen im Innenbereich anstelle ben zu erreichen, vor allem deshalb, weil die Ge- extensiver Stadterweiterungen und fünftens Ver- bäude sehr verschieden sind und weil in erheblichen kehrsvermeidung - Stichwort „Stadt der kurzen Teilbereichen - insbesondere beim baulichen Wär- Wege" -, autofreie bzw. -arme Wohngebiete, die För- meschutz - zudem grundsätzliche rechtliche Beden- derung und der Ausbau des öffentlichen Personen- ken einer generellen „Nachrüstungspflicht" entge- nahverkehrs sowie durchgängige Radwegenetze. genstehen. Ein solches ökologisches Wohnungs- und Städte- Ich meine gleichwohl, daß die Bundesregierung bauprogramm bedarf einer langfristig gesicherten Fi- hier den richtigen Weg gewählt hat: Die bedingten nanzierung. Dazu ist notwendig, alle gegenwärtig Anforderungen der Wärmeschutzverordnung wirken wirkenden Instrumente der indirekten und direkten zusammen mit den Nachrüstungsanforderungen in Finanzierung und Subventionierung des Wohnungs- der Heizungsanlagen-Verordnung sowie mit der no- rtung zu unter- und Städtebaus einer kritischen Bewe vellierten Kleinfeuerungsanlagenverordnung. Wie ziehen. Es ist zu prüfen, ob sie geeignet sind, diese im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen gut Ziele zu unterstützen und nicht anderen, insbeson- herausgearbeitet wird, gilt es jetzt, diesen Vorschrif- dere ordnungspolitischen Vorstellungen zu dienen. ten verstärkt zur Geltung zu verhelfen. Bezüglich der Anforderungen der Wärmeschutz- Joachim Günther, Parl. Staatssekretär beim Bun- verordnung für Maßnahmen an bestehenden Gebäu- desminister für Raumordnung, Bauwesen und Städte- den kann man die Situation bildhaft so darstellen: bau: Zum ursprünglichen Anliegen der Energiespar- politik - der Schonung der natürlichen Ressourcen - Gute „Spielregeln" für das energiegerechte Mo- tritt heute der Klimaschutz. Der Deutsche Bundestag dernisieren liegen vor. Es kommt jetzt darauf an, daß hat in der 11. und 12. Legislaturperiode eine En- in ausreichendem Maße „Spiele ausgetragen" wer- quete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" ein- den (sprich, daß Modernisierungsmaßnahmen durch gesetzt, die wichtige Grundlagen für unser Handeln die Gebäudeeigentümer ergriffen werden) und daß Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11907* die „Schiedsrichter" die Befolgung der Regeln Anlage 3 durchsetzen. Zu Protokoll gegebene Reden Zum einen hat die Bundesregierung im Osten wie zu Tagesordnungspunkt 14 im Westen erhebliche Anstrengungen unternommen, (a - Antrag: Bedrohung der Meere und Zerstörung vermehrt Investitionen zur energetischen Moderni- der Küsten durch Ölkatastrophen, sierung von Gebäuden anzuregen. In den neuen b - Antrag: Sofortmaßnahmen gegen Bundesländern besteht wegen des erheblichen die Verseuchung der Meere durch illegale Rückstandes an Modernisierungs- und Erhaltungsin- Öleinleitungen - Maßnahmen zur überwachten vestitionen schon seit Jahren ein breit angelegtes Entsorgung von Altölen und Ölschlämmen an Land, Angebot der Bundesregierung zur Modernisierungs- c - Antrag: Schutz vor Öltankerunfällen und förderung im Gebäudebestand. Die Auswertungen Umweltschäden in europäischen Gewässern, zeigen eindeutig, daß ein erheblicher Teil der geför- d - Antrag: Schutz der Nordsee derten Maßnahmen auch (oder sogar ausschließlich) durch Schiffsölentsorgung in Seehäfen, der Energieeinsparung und Emissionsminderung e - Beschlußempfehlung zu den Anträgen: dienen. Geplante Versenkung der Shell-Ölplattform Auch in den alten Bundesländern gibt es seit Be- und glaubwürdiger europäischer Nordseeschutz ginn dieses Jahres ein entsprechendes Programm, sowie Das Meer ist keine Müllhalde bei dem - allerdings ausschließlich die Verbesserung des Wärmeschutzes älterer Gebäude sowie für die In- (Bönstrup) (CDU/CSU): Mit den stallation von energiesparenden Heizkesseln - zins- Wolfgang Bömsen Antragstellern teilen wir die Sorge um das Öko- günstige Kredite gewährt werden. Derzeit steht für die Jahre 1996 und 1997 ein Kreditvolumen von ins- system Nordsee - aber das ist auch fast die einzige Gemeinsamkeit. gesamt 3 Milliarden DM zur Verfügung; dies reicht zur Sanierung von etwa 180 000 Wohnungen, zumal Wer Altöl illegal ins Meer verklappt, handelt krimi- die Kreditnehmer im Durchschnitt nur etwa 60 % der nell. Er schadet den Menschen, fügt Flora und Fauna tatsächlich getätigten Investitionen über diese verbil- unermeßliche Zerstörung zu, tötet Tausende von See- ligten Kredite abdecken. Kurz gesagt: Bereits ver- vögeln, zerstört Fe rien- und Erholungsgebiete. gleichsweise geringe Fördersummen lösen - dank des eigenen Engagements der Bürger - große Inve- Der Ölverschmutzung in der Nord- wie Ostsee stitionen aus. müssen wir einen Riegel vorschieben. Das ist leichter gesagt, als getan. Großer Nachholbedarf besteht allerdings bei den „Schiedsrichtern", und dies gilt auch für den Neu- 1. Die bisherigen Bemühungen der Bundesregie- bau. Der Antrag der Koalitionsfraktionen bringt es auf rung sind anerkennenswert. Das gilt erstens für die den Punkt: seitens der Länder müssen neue Wege Überwachung beider Meere. gefunden werden, um im Gebäudebereich den ener- giesparrechtlichen Vorschriften zur Geltung zu ver- Die Schaffung des Koordinationsverbundes Kü- helfen. Klimaschutz ist zu wichtig, um den Verstoß stenwache vor zwei Jahren hat zu einer weitgehen- gegen Wärmeschutz- und Heizungsanlagen-Verord- den Konzentration der Kontrollkräfte geführt. Dies nung als „Kavaliersdelikt" zu we rten. Dabei muß es schreckt Umweltsünder ab, doch nur zum Teil, die nicht unbedingt die Baupolizei sein, die das energie- Aufgriffe von nur 7 bis 8 Prozent machen dies deut- sparende Bauen durchsetzt. Ich meine, die Mehrzahl lich. der Bürger ist verantwortungsbewußt genug. Es Derzeit stehen 28 Seefahrzeuge, sieben Hub- könnte ausreichen, beim Neubau dem Wärmebe- schrauber des Bundesgrenzschutzes und zwei, teil- darfsausweis durch landesrechtliche Vorschriften weise mit modernster Technik ausgerüstete, Flug- zum Durchbruch zu verhelfen und damit Transpa- zeuge für die Ermittlung von Öl- und Umweltsün- renz im energiesparenden Bauen zu schaffen. Im Ge- dern zur Verfügung. bäudebestand könnte über eine Einbindung der Fachunternehmer nachgedacht werden. Phantasie Der Koordinierungsverbund mit zwei Meldeköpfen ist gefragt. Entbürokratisierung und Klimaschutz ohne die echte Einbindung der Behörden der fünf sind keine gegensätzlichen Ziele. Bundesländer ist noch keine Coast Guard. Alle Auf- Auch der Aus- und Fortbildung der Planer und der gaben in einem Amt gebündelt, so sagen Experten, könnten die Kontrolle optimieren. Daneben ist eine Handwerker kommt große Bedeutung zu. Immer verstärkte Aufklärung durch Satelliten erforderlich. noch wird dabei zu wenig an das energiesparende Bauen gedacht. Wenn der Planer von vornherein auf 2. Hilfreich ist die angelaufene Überwachungsko- ein einergiesparendes Gebäude hinarbeitet, ist ein operation mit den Nachbarstaaten Dänemark und Niedrigenergiehaus wegen der günstigen Betriebs- den Niederlanden. kosten häufig unter dem Strich auch das wirtschaft- lichste Gebäude. 3. Förderlich war auch die Initiative des Bundes im Rahmen eines drei Jahre andauernden Pilotprojektes Ich bitte Sie, dem vorliegenden Antrag zuzustim- zur kostenlosen Altölaufnahme in deutschen Häfen. men, damit neue Impulse in die richtige Richtung ge- setzt werden. Denn es gibt noch viel zu tun, wenn Als man das Entsorgungsprogramm 1988 begann, wir unser ehrgeiziges Ziel im Klimaschutz erreichen haben die betroffenen Bundesländer in einer Bun- wollen. desratsentschließung anerkannt, daß es sich um eine 11908* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 ländereigene finanzielle Verpflichtung handelt, der Der dreijährige deutsche Versuch hat gezeigt: Die Bund nur eine Anschubfinanzierung leistet. illegale Ölentsorgung bei Nacht und Nebel wird dra- stisch eingeschränkt. Das ist der richtige Weg. Wir Am 31. Mai 1991 lief der erfolgreiche Versuch aus. haben die Parlamente der Ost- und Nordsee-Anrai- Wie angekündigt, zog sich der Bund aus dem Projekt ner für diese Lösung zu gewinnen. Unabhängig da- zurück. Allein Niedersachsen hat zu seinem Wort ge- von bleiben unsere Küstenländer aufgefordert, zu ih- standen und bis heute die kostenlose Ölentsorgung ren Aussagen zu stehen und die kostenlose Altölent- gewährleistet. Hamburg und Mecklenburg leisten sorgung fortzusetzen. eine Teilfinanzierung. Bremen hat die Entsorgungs- hilfe zum 1. Januar 1996 eingestellt, und Schleswig Die hier vorgelegten Forderungen der Bündnisgrü- Holstein hat die Schiffe seit 1991 voll zur Kasse gefor- nen gehen weit darüber hinaus, sie sind wirklich- dert. Mit dem Eintritt der Grünen in die Regierung keitsfremd, fachlich falsch, praxisfern - aber publi- hat es dort keine Änderung in der Altölfrage gege- kumswirksam. ben. Da fordert man die Einführung von schwarzen Li- Mit dem Ende der kostenlosen Entsorgung nahm sten, um Ölsündern das Handwerk zu legen, dabei die Entsorgungsmenge drastisch ab. Waren es 1990 gibt es sie seit mehr als 16 Monaten bereits. In einer noch 160 000 Kubikmeter, fiel die Menge auf 90 000 EU-weiten praktizierten Hafenstaatenkontrollrichtli- Kubikmeter im Jahr 1995. Gleichzeitig stieg die Zahl nie werden sie umgesetzt. der illegalen Öleinleitungen erheblich. Da fordert man eine Verbesserung der Sicherheits- Wenn alle Bundesländer so wie Niedersachsen- kontrollen für Personen und Sachen auf den Schif- sich an die 1988 getroffene Vereinbarung gehalten fen, ohne sich vorher zu erkundigen, daß in einer in- hätten, wäre es zu weniger Ölsünden in Nord- und ternationalen Regelung diese Problematik bereits Ostsee gekommen. seit Monaten ratifiziert ist und am 1. Februar 1997 völkerrechtlich in Kraft tritt. Der Länder-Wortbruch hat der Umwelt geschadet. Rechtlich ist die Sachlage auch klar, die Häfen fallen Da fordert man einen Ausbau der Lotsenannahme- in Länderzuständigkeit. Trotzdem mahnt Schleswig pflicht in kritischen Gewässern und mißachtet, daß Holstein Bonn an. Doch das Schwarze-Peter-Spiel es bereits eine Revierlotsenverordnung an der deut- dient nicht der Sache. schen Nordseeküste zur Annahme von Seelotsen gibt, die auch selbstverständlich für Tankschiffe gilt. Notwendig ist kurzfristig ein von allen Ostseean- rainern akzeptiertes harmonisiertes Finanzierungssy- Da fordert man ein Durchfahrverbot für Tanker in stem für die kostenfreie Entsorgung von Altöl. Wer- ökologisch kritischen Gewässern, z. B. dem National- den dabei die Entsorgungskosten in allen Anrainer- park Wattenmeer, und verschweigt, daß ein solcher staaten in die Hafengebühren integriert, wird eine Schiffsverkehr im Bereich des Nationalparks gesetz- Wettbewerbsverzerrung vermieden. lich bereits ausgeschlossen ist. Ein Bonus ist den Booten mit Doppelhülle zu ge- Aber es kommt noch toller. Da erwartet man von ben und denen, die Diesel und nicht Schweröl benut- der Bundesregierung ein Durchfahrverbot für Tanker zen. in deutschen und europäischen Gewässern, die keine Doppelhülle haben, ohne zu berücksichtigen, Diese Konzepte setzen ein gemeinsames Vorgehen daß auf der gesamten Welt zur Zeit gut 6 000 Tanker aller Ostseeländer voraus. Durchaus realistisch und fahren, davon 350 mit einer Doppelhülle. Würde es umsetzbar ist diese Forderung, da die Ostsee bereits nach dem Willen der Grünen gehen, würde Europa zum Sondergebiet erklärt wurde und Auffanglager damit vom Hauptenergie- und Rohstoffträger Öl ab- vorhanden sein müssen. geschnitten. Schwieriger wird eine kurzfristige Lösung für die Prächtig macht es sich, auch ein neues Haftungs- Nordsee. Allein für den Schiffsmüll ist sie bisher Son- recht für Ölsünder zu fordern. Vor fünf Monaten sind dergebiet. Es war unter anderem die Bundesregie- gerade erst die seit 1992 im Londoner Protokoll auf- rung, die auf der 4. Nordseeschutz-Konferenz mit genommenen Veränderungen völkerrechtlich in Nachdruck für eine Ausweitung des Schutzumfan- Kraft getreten. Sie führen zu einer erheblich erwei- ges eingetreten ist. Andere EU-Staaten haben sich terten internationalen Haftungs- und Entschädi- dem widersetzt, so daß erst im kommenden Jahr eine gungsverschärfung. MARPOL-Erweiterung möglich wird. Schiffseigner müssen statt früher 31 Mi llionen jetzt Mit dem Status eines Sondergebietes ausgestattet bis zu 132 Millionen DM in der Haftung leisten, beim ist die Chance wesentlich größer, daß es auch hier Entschädigungsbetrag statt 132 Millionen jetzt gelingt, zu einer gemeinsamen Ölabnahmestrategie 297 Millionen DM und in der zweiten Stufe zu kommen, für die gesamte Nordsee, entsprechend 440- Millionen DM. Ersetzt werden Personen-, Sach dem Ostsee-Modell. und Umweltschäden. Doch weitere Kontrollen machen dieses Konzept Auch Schäden durch illegale Tankerreinigung auf nicht überflüssig. Wegen der oft hohen Hafengebüh- See unterliegen dem Abkommen. So ermittelt die ren scheuen manche Reeder längere Liegezeiten, die Flensburger Staatsanwaltschaft zur Zeit gegen den durch das Ölabpumpen entstehen können, verlassen Juni-Ölsünder vor der Sylter Küste. Es geht um ein mit den oft giftigen Rückständen den Hafen und unter russischer Flagge fahrendes Öltankschiff, das „entsorgen auf See". erst in Santa Panagia in Süditalien aufgegriffen wer- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11909* den konnte. Die Auswertung der Beweise dauert zirka 10 bis 15 Millionen DM pro Jahr wurde der An- noch an. Sollte die Tat zutreffen, haftet der Eigner, reiz der illegalen Entsorgung verringert. wenn nicht, dann der neue Entschädigungsfonds. Mit dem Auslaufen des Demonstrationsvorhabens Die Beseitigung der Meeresverunreinigung und zog sich der Bund aus der Finanzierung zurück. Nur die Reinigung der Strände hat Kosten in Höhe von Niedersachsen übernimmt noch die Entsorgungsko- fast 5 Millionen DM verursacht. Der Schaden, den sten in voller Höhe, Hamburg bezuschußt bis 1 600 die Natur und Umwelt genommen haben, ist viel grö- DM pro Schiff. Mecklenburg-Vorpommern bezahlt ßer und läßt sich materiell überhaupt nicht beziffern. 50 Prozent der Kosten bei voller Übernahme von Summen unter 500 DM, Schleswig-Holstein und Bre- Trotzdem ist unser Strafrecht gegenüber Umwelt- men geben keinerlei Zuschüsse. frevlern in aller Schärfe anzuwenden. Auch hier läuft die Forderung der Grünen ins Leere. Vor zwei Jahren Die Folgen dieser Politik sind unübersehbar: Die ist der Strafrahmen erheblich ausgeweitet und ver- Menge der entsorgten Schiffsöle nahm von 160 000 schärft worden. Er reicht in leichten Fällen von bis zu Kubikmetern im Jahr 1990 auf 90 000 Kubikmeter im fünf Jahren Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren in Jahr 1995 ab. Die Zahl der registrierten Öleinleitun- schweren Fällen. gen und der Ölverseuchungen nahm im selben Zeit- raum deutlich zu und hat inzwischen sogar einen Der Antrag der Grünen ist von A bis Z voller Feh- traurigen Höchststand erreicht. Zuletzt - das wird Ih- ler, unseriös und populistisch. Er ist eine Zumutung nen allen noch in Erinnerung sein - wurden im Juni für unser Parlament. Sachbetonter im Ansatz ist der dieses Jahres die Ostfriesischen Inseln von einer der Antrag der Sozialdemokraten. Sie sehen Handlungs- bislang schwersten Ölverschmutzungen heimge- bedarf für ein Sondergebiet Nordsee. Aber auch ih- sucht. Als deren Ursache gilt eine illegale Tankwä- nen muß man sagen, der Antrag ist bereits im ver- sche. Daher ist es wohl nicht von der Hand zu wei- gangenen Jahr durch die Bundesumweltministerin sen, zwischen dem Aussteigen des Bundes aus der eingebracht worden. Finanzierung und der Verunreinigung der Nordsee einen Zusammenhang herzustellen. Auch beim Thema Strafmaß muß an das neue Recht erinnert werden. Offene Türen rennt man auch Um die Nordsee zu schützen, müssen deshalb na- mit der Anregung für ein EU-weites Gebührensy- tionale und internationale Maßnahmen zur Neurege- stem für die Schiffsentsorgung ein. Bei der geforder- lung ergriffen werden. Das Ziel kann nur sein, eine ten Zwischenlösung beim Altölproblem geht es um europaweit einheitliche Regelung herbeizuführen. die Worttreue der - vorwiegend SPD-regierten - norddeutschen Länder. Sie haben zu handeln, sie ha- Bis zu einer derartigen Vereinbarung müssen aller- ben eine kostenlose Schiffsölentsorgung zu gewähr- dings Übergangsregelungen getroffen werden. Es leisten, nicht der Bund. Die Jagd auf Ölsünder ist besteht also akuter Handlungsbedarf, um die zuneh- mühsam. Das Konzept der Bundesregierung ist im mende Ölverseuchung der Nordsee wirksamer als Grundsatz richtig, weil es praxisnah ist, umsetzbar bisher zu bekämpfen. und auf Internationalität abgestellt ist. Die Bundesregierung hat bisher versäumt, sowohl Zum Schluß möchte ich noch einmal deutlich fest- für eine langfristige wie für eine kurzfristige natio- stellen: Es besteht eindeutig Handlungsbedarf, um nale und internationale Lösung ein Zeichen zu set- den Ölsündern das Handwerk zu legen. Neben einer zen. Die Regierungsvertreter meinen, auch ohne zu- optimierten Kontrolle gehört nach meiner Meinung sätzliche Mittel eine Lösung finden zu können. Das die Einführung einer zumindest europaweiten ein- wurde in der letzten Woche durch die Ablehnung heitlichen Zwangsentsorgung des Altöls in den Hä- des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in fen dazu, entweder über höhere Hafengebühren den Haushaltsberatungen des Verkehrsausschusses oder auf andere Weise. Entscheidend ist, daß illegale deutlich. Wie und wann nun eine Lösung erfolgen Ölableitungen unterbunden werden. soll, steht in den Sternen. Allein der Hinweis auf die Kostenübernahme der Luftüberwachung durch den Bund kann in diesem Zusammenhang nicht genü- Annette Faße (SPD): In den Jahren 1988 bis 1991 gen. führte das BMU mit den Bundesländern ein Demon- strationsvorhaben zur kostenlosen Schiffsölentsor- Genausowenig können die notwendigen Maßnah- gung durch, um die ständige Ölverseuchung der men allein in die Verantwortung der Länder überge- Nordsee durch die Einleitung von Schiffsölen zu be- ben werden. Vielmehr steht eindeutig fest: Der Bund kämpfen. Damit wurden bis 1991 in den deutschen als Verantwortlicher für den Nordseeschutz und als Seehäfen die vom MARPOL-Übereinkommen vorge- Verhandlungs- und Vertragspartner der relevanten schriebenen Voraussetzungen für eine effektive Ent- internationalen Organisationen und Organe - wie sorgung der betriebsbedingten Ölrückstände ge- IMO, EU und INK-Staaten - sowie als Nutznießer der schaffen. Wirtschaftsfaktoren Nordsee und Hafenwirtschaft steht mit in der Pflicht. Daher fordern wir die Bundes- Der Erfolg des Projektes ist rückblickend unzwei- regierung auf, sich erstens mit Nachdruck bei der In- felhaft. Dies zeigt sich deutlich an der Zunahme der ternationalen Schiffahrtsorganisation (IMO) dafür entsorgenden Schiffe bzw. der Menge der entsorgten einzusetzen, daß die Nordsee - wie bereits die Ost- Schiffsöle in diesem Zeitraum. Im Jahre 1990 waren see - als „Sondergebiet" nach MARPOL eingestuft es beispielsweise 160 000 Kubikmeter. Durch die wird, damit die heute außerhalb der 12-Meilen-Zone Übernahme der Kosten durch BMU und Länder von von der Küste in begrenztem Umfang immer noch le- 11910* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 galen Öleinleitungen im gesamten Nordseegebiet grenzten Haftung und Ausweitung der Haftung auf verboten werden; zweitens die Überwachung der die Versender und Empfänger von Gütern und auf Nordsee und hier insbesondere die Luftüberwa- die Flaggenstaaten der Reeder. chung der Hauptschiffahrtsrouten deutlich zu ver- bessern - dazu gehören auch technisch bessere Wenn sie diesen Antrag auch ablehnen, dann ist Nachtsichtgeräte - und die Kontrolltätigkeit in den wiederholt bewiesen, daß sie in der Umweltpolitik Häfen bei der geregelten Entsorgung zu verstärken; nur Fensterreden halten. drittens die Sanktionsmöglichkeiten bei illegalen Öl- Beim Schutz der Meere ist besonders deutlich, daß einleitungen drastisch zu verbessern und die finan- theoretisches Wissen über Ökosysteme einerseits zielle Höchstrafe für illegale Öleinleitungen auf min- und praktische Maßnahmen zur Verhinderung von destens 100 000 DM zu erhöhen; viertens zusammen Katastrophen andererseits immer weiter auseinan- mit den Nordseeanrainern in der EU und mit Norwe- derklaffen. Von vorbeugendem Ökosystemschutz gen Verhandlungen über ein Abkommen zur einheit- will ich gar nicht erst reden. Forschungsbemühun- lichen Entsorgung von Schiffsölen aufzunehmen; gen über ökologische Zusammenhänge sind absolut fünftens bis zum Inkrafttreten dieser internationalen notwendig, und man kann froh sein, daß so etwas Vereinbarungen unverzüglich eine Übergangsrege- trotz dieser Bundesregierung noch stattfindet. lung zusammen mit den deutschen Küstenländern zu schaffen und in einem Bund-Länder-Sofortprogramm Nur nützt das alles nichts, wenn aus den gewonne- die kostenlose Ölentsorgung für diesen bef risteten nen Erkenntnissen keine Konsequenzen gezogen Zeitraum wieder aufzunehmen - die Kosten für die werden. Statt dessen wird „toter Mann" gespielt und Entsorgung werden hälftig von den Küstenländern- gehofft, daß so bald kein Schiffsunglück in der Deut- und vom Bund aufgebracht -; sechstens zu prüfen, in schen Bucht passiert und die schleichende Vergif- welcher Weise auch bei dieser Zwischenlösung die tung der Meere nicht zu plötzlich zutage tritt. Sonst Reeder gemäß dem Verursacherprinzip an den Ko- hätten wir wieder die Katastrophen-Debatte im Bun- sten für die Schiffsölentsorgung zu beteiligen sind. destag. Es ist unstrittig, daß eine einheitliche Lösung ge- Obwohl wir wissen, daß der Gütertransport, noch funden werden muß, denn der ökonomische und dazu mit höchst gefährlichen Gütern, auf dem Was- ökologische Schaden, der durch illegale Einleitun- serweg drastisch zunimmt - und damit die Gefähr- gen entsteht, ist höher als die Übernahme der Kosten dung insbesondere des Wattenmeeres ebenfalls -, durch alle Beteiligten. wird hier offenbar auf das Prinzip Hoffnung gesetzt. Das heißt, Sie hoffen, daß ein Unglück wie mit der Ulrike Mehl (SPD): Wir haben heute eine Reihe von „Sea Empress" nicht vorkommt. Ich hoffe das auch, Anträgen zu debattieren, die sich alle mit konkreten aber Hoffen allein ist keine vorbeugende Maß- Maßnahmen des Meeresschutzes befassen, und dies, nahme. obwohl zur Zeit keine offen sichtbare Katastrophe ins Es ist absolut kontraproduktiv, wenn die Regie- Haus steht. Das sage ich für diejenigen, die immer rungskoalition uns bei den Debatten zu diesem behaupten, wir befaßten uns nur dann mit dieser Thema immer erzählt, das sei doch alles nicht so Thematik, wenn es spektakuläre Ereignisse gebe. schlimm, man solle nicht unnötig dramatisieren. Das Die Bedeutung des Themas spiegelt sich allerdings Meer ist bis zum Stehkragen belastet mit Schadstoff nicht in der Gesamtdebattenzeit wieder. frachten aus Verkehr, Landwirtschaft, Siedlung und Das Gegenteil ist der Fall: Die SPD-Fraktion hat in Industrie. Das Ökosystem Meer antwortet bereits den letzten Jahren eine ganze Reihe von Anträgen deutlich meßbar mit schwarzen Flecken, ungewöhn- zum Meeresschutz in den Bundestag eingebracht, lichen Algenblüten oder plötzlichem Muschelster- die in der Regel von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt ben, was von Ihnen gerne mit dem Argument der worden sind. Ich bin sehr gespannt darauf, wie die einmaligen Zufälligkeit vom Tisch gewischt wird. Koalitionsfraktionen nun auf unseren Antrag „Schutz Ich räume ein, daß eine ganze Reihe von zu treffen- vor Öltankerunfällen und Umweltschäden" reagie- den Regelungen nur schwer zu erreichen sind, weil ren wird. Darin fordern wir unter anderem folgende sie auf internationaler Ebene durchgesetzt werden Regelungen: müssen. Wer das aber erreichen will, muß sich mit al- Wir brauchen erstens zwischen Ost- und Nordsee- ler Macht für den notwendigen Schutz einsetzen - anrainerstaaten und EU eine Vereinbarung, wonach und dazu hat die Mehrheit im Bundestag, dank unse- Schiffe, die nicht dem vereinbarten internationalen rer Anträge, wiederholt Gelegenheit. Schutzstandards entsprechen - zum Beispiel Doppel- Ich möchte abschließend noch ausdrücklich beto- hüllentanker -, Einlaufverbot in die Häfen erhalten; nen, daß wir mit Nachdruck die Forderung der zweitens ein internationales Sicherheitskonzept für Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste auf Ein- den Tankerverkehr. Dazu gehört auch eine einheitli- richtung einer Küstenwacht, ähnlich der amerikani- che Arbeitssprache an Bord und in der Schiff-Land- schen Coast Guard, unterstützen. Die Sicherheit der Kommunikation sowie die Standardisierung des In- Menschen in den Küstenregionen und die Erhaltung formationsaustausches im Tankerverkehr. Drittens unserer Ökosysteme muß in einer kompetenten und die Hafenstaatkontrollrechte müssen von 25 % für schlagkräftigen Hand gebündelt werden. Wir wer- alle Schiffe auf 100 % für alle Tanker erhöht werden. den demnächst dazu eine parlamentarische Initiative Viertens brauchen wir eine Ausweitung der Haf- starten. Auch hier sehen wir der tatkräftigen Unter- tung auf alle ökonomischen und ökologischen Schä- stützung der umweltbewegten Koalitionsmehrheit den bei Unfällen sowie die Festlegung einer unbe- entgegen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11911*

Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gung. Aber darauf können wir nicht warten. In der NEN): Wir reden hier zu später Stunde über Öl, das Zwischenzeit geht das Meer den Bach runter, und die Meere verseucht. Es gibt keinen besonderen An- die Küstenregionen gehen vor die Hunde. Wir haben laß, wie bei einer Ölkatastrophe. Dann ist die Öffent- einen Antrag innerhalb der Haushaltberatungen ein- lichkeit aufgeschreckt, gruselt sich vor den Bildern gebracht, damit der Bund 10 Millionen DM einstellen der verölten Tiere und der versauten Strände. Der soll. Diese Summe würde sich um die Beteiligung der Ruf nach durchgreifenden Vorsorgemaßnahmen ver- Länder reduzieren. Niedersachsen hat bereits Geld hallt dann irgendwann, wenn neue Katastrophen die für 1997 eingestellt, Hamburg erstattet die Hälfte. Informationsbörse überfluten. Passieren kann das je- Die Argumentation, die Länder würden sich finan- derzeit, auch ohne Sturm: Die International Ma ritime ziell verabschieden, wenn der Bund in Vorleistung Organization - IMO - schätzt, daß bereits ein Drittel tritt, ist nichts weiter als eine Schutzbehauptung. Sie der Tanker unter Billigflagge fährt, meist ohne die geht an der Realität vorbei, denn die Küstenländer nötigen technischen Sicherheitsstandards und Quali- haben ein ureigenstes Interesse an dem Erhalt ihrer fikation der Mannschaft. Unterbesetzt, schlecht aus- Küsten. gebildet und bezahlt, oft ohne die nötigen Sprach- kenntnisse sind an drei Vierteln aller Unfälle inzwi- Das Ausmaß für Mensch und Natur, aber auch für schen Billigflaggentanker beteiligt. Die Lage wird die regionale Tourismuswirtschaft, oft die Hauptein- sich in den nächsten Jahren noch verschärfen. 3 000 nahmenquelle, wird dramatisch unterschätzt. Großtanker sind über 30 Jahre alt und gehören auf Fassen wir zusammen: Die folgenden zentralen den Schrott. Forderungen müssen weiterhin im Mittelpunkt der Debatte stehen: Und dann gibt es noch die schleichende Ölverseu- chung, die niemand mehr so recht wahrnimmt, wenn Erstens. Erstellung eines nationalen Konzeptes zur es denn nicht so dick kommt wie im letzten Sommer. Harmonisierung der finanziellen Abwicklung der Dabei werden Jahr für Jahr 80 000 t hochgiftige Öl- Schiffsentsorgung entsprechend der Entschließung schlämme ins Meer gepumpt, die bei der Verbren- des Deutschen Bundestages von Dezember 1995. nung von Schweröl, dem sogenannten Bunker-C-Öl als Restbestände anfallen. 25 000 Seevögel verenden Zweitens. Umsetzung einer zunehmenden Beteili- jedes Jahr qualvoll an den Folgen - diese Größenord- gung der Verursacher an den Entsorgungskosten. nung entspricht exakt der der letzten Tankerkata- Drittens. Initiativen zur Regelung der zulässigen strophe - nur völlig unspektakulär und außerhalb der Schiffstreibstoffe und Abgasemissionen. 12-Meilen-Zone sogar ganz legal. Grund dafür: die Reedereien können viel Geld sparen, durchschnitt- Viertens. Kurzfristige Bereitstellung von 10 Mil- lich 300 000 DM pro Jahr und Schiff, und das Risiko lionen DM zur Sicherung der bisherigen Strukturen ist gleich null. Auf Grund des See- und internationa- der Ölentsorgung. len Völkerrechts ist die Strafverfolgung faktisch un- Die Bundesregierung darf sich in diesen Fragen möglich, selbst wenn der Verursacher identifiziert nicht aus der Verantwortung stehlen und diese auf wird. Deshalb laufen verschärfte Strafandrohungen die Küstenländer abwälzen. ins Leere. Ziel aller Maßnahmen muß es sein, den höchst- Aufgrund dieser Sondersituation wurde 1988 in möglichen Standard in der Schiffstechnik und in der Kooperation von Bund und Ländern im Rahmen ei- Qualifikation der Schiffsbesatzungen zu erreichen; nes Pilotprojektes ein praktikables System für die das schützt nicht nur die Umwelt, das schafft auch Entsorgung von Ölabfällen geschaffen. Der Erfolg Arbeitsplätze auf den Werften, in den Häfen und in war durchschlagend. 165 000 t wurden an Land ent- der Seefahrt. Nirgends wird der Zusammenhang zwi- sorgt. Unverständlicherweise zogen sich der Bund schen Ökologie und Ökonomie so deutlich wie in der 1991 zurück, ebenso fast alle Länder, mit dem Erfolg, Seeschiffahrt. daß sich der Anteil des an Land entsorgten Öls hal- bierte und der Anteil der ölverschmierten Seevögel Im Umgang mit kleinen ökologischen Räumen wie wieder dramatisch anstieg. Dieser Sommer war einer zum Beispiel dem Wattenmeer zeigt sich die Verant- der traurigen Höhepunkte; Ölklumpen an der nord- wortung für das gesamte Ökosystem. Einer Gesell- deutschen Küste begleiteten die Tourismussaison. schaft, die diese Zerstörung tatenlos zuläßt, fehlt es auch an der Sensibilität, die Verantwortung für kom- Obwohl die Fakten auf dem Tisch liegen, die mende Generationen zu übernehmen. Summe mit 10 bis 15 Millionen DM pro Jahr ange- sichts der Auswirkungen relativ gering ist, schiebt Deshalb fordere ich Sie an dieser Stelle auf: Setzen der Bund die Verantwortung von sich weg und ver- wir uns alle gemeinsam dafür ein, daß man eines Ta- weist auf die Länder, auf die EU und auf die interna- ges sagen kann: Die Nordsee ist sauber und die Öl- tionale Ebene. Nach § 2ff. Seeaufgabengesetz von tanker sind sicher, und niemand dabei glaubt, das ist 1987 ist der Bund für die Sicherheit des Seeverkehrs wieder eine neue Lügengeschichte von Käpten Blau- und der von ihm ausgehenden Gefahren zuständig. bär. Was für eine Philosophie steckt eigentlich dahinter? Natürlich brauchen wir internationale Vereinbarun- Lisa Peters (F.D.P.): Heute sind insgesamt sieben gen für sichere Tanker, die kein Schweröl mehr ver- Drucksachen zu behandeln, die unterschiedliche brennen, damit keine Ölschlämme mehr anfallen. Merkmale aufweisen, aber in der Zusammenfassung Auf dem Weg dahin gibt es viele Zwischenschritte, den Schutz unserer Küsten, der Nordsee und der wie zum Beispiel der Kostenanlastung der Entsor- Meere insgesamt zum Inhalt haben. Es sind viele Ar- 11912* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 gumente aufgeführt, die richtig und unverzichtbar los entsorgt. Naturgemäß laufen aber nur wenige sind und sicher auch von den meisten Mitgliedern Seeschiffe unsere niedersächsischen Häfen an. Ham- des Hauses getragen wurden und werden. Wir ha- burg, Bremen und Bremerhaven könnten do rt mehr ben nur unterschiedliche Ansatzpunkte, arbeiten mit bewirken. Noch immer gibt es in den Verkehrsres- abweichenden Schuldzuweisungen, kommen zu ver- sorts keine einheitliche Haltung der Küstenländer. schiedenen Zukunftsvorstellungen und somit auch Das ist bedauerlich und hinde rt die Bundesregierung politischen Entscheidungen. Ich denke, die Ursachen daran, auf europäischer Ebene entsprechende Ver- für die Verschmutzungen der Küsten und Meere sind handlungen zur einheitlichen Hafenentsorgung füh- seit langem erkannt, auch von den Koalitionspart- ren zu können. Ich appelliere an die Landesregierun- nern und der Bundesregierung. gen in den Hansestädten, an Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen, die Das muß immer wiederholt werden, weil Fakten Zeichen der Zeit zu erkennen und hier gemeinsam und Tatsachen einfach nicht zur Kenntnis genommen vorzugehen. werden: Unsere Flüsse und Meere werden zuneh- mend mehr befahren und genutzt. Das ist politisch so Man kann nicht alles auf den Bund schieben, wie gewollt. Sowohl der Welthandel als auch die zuneh- es in den Anträgen gefordert wird! Wir müssen auch menden Schiffsverkehre im Freizeitbereich bringen in Europa gemeinsame Regelungen anstreben. Ich Arbeitsplätze. Arbeitsplätze sind das, was wir brau- fürchte nur, daß dies weder kurz- noch mittelfristig chen; hätten wir sie, würden sich 50 Prozent der De- zu realisieren ist. Wir haben eine Vielzahl von Staa- batten auch in dieser Woche im Deutschen Bundes- ten, die an das Mittelmeer angrenzen; mit allen muß tag erübrigen. - verhandelt werden. Ich denke, die Bundesregierung ist bei den Verhandlungen Vorreiter, mahnt dauernd Ich will micht nicht lange mit der Vergangenheit wieder an. Außerdem ist das Haftungsrecht ver- aufhalten, will meinen Blick auf die Gegenwart, vor schärft worden. Am 31. Mai 1996 ist das vereinbarte allem aber auf die Zukunft konzentrieren. Es ist be- internationale Haftungs- und Entschädigungssystem kannt, daß die Einträge von Schadstoffen unter- für Ölverschmutzungsschäden in Kraft getreten. schiedliche Ursachen haben. Dabei spielen unsere Mehr ist zur Zeit nicht durchzusetzen. Am 1. Februar Kläranlagen, aber auch die Einträge aus der Land- 1997 tritt voraussichtlich ein internationales Überein- wirtschaft, eine Rolle. Wir müssen uns nicht um Pro- kommen über Normen in der Ausbildung und die Er- zentzahlen streiten. Alle wollen diese Einträge ver- teilung von Befähigungszeugnissen für Seeleute im mindern, wir arbeiten daran. Hier in Bonn wird es oft Wachdienst in Kraft. Ich verspreche mir durch diese nicht wahrgenommen: Auch die Mandatsträger in Regelung eine Verbesserung im Umgang mit der den Kommunen arbeiten intensiv an der Verminde- Umwelt. Es kann auch den Verantwortlichen auf den rung der Einträge, die von Klärwerken produziert Schiffen auf Dauer nicht gleichgültig sein, was mit werden. Hier wird sehr viel Geld eingesetzt. unserer Umwelt passiert. Auch denke ich, daß die Kontrollen per Flugzeug, die seit 1993 unternommen Und auch ein Landwirt streut nicht mit vollen Hän- werden, etwas bringen. Zur Zeit führt ein Flugzeug - den teuren Mineraldünger aus. Auch der Düngewert Do 28 - diese Kontrollen durch. Damit noch mehr der Gülle für den Boden hat sich schon bei uns herum- Überwachung vonstatten gehen kann, wird ein wei- gesprochen. Man „fährt sie nicht einfach auf den Ak- teres Flugzeug angemietet und 1998 ein zweites fest ker" . Sie können gewiß sein, daß bei der qualifizierten in den Dienst gestellt. Die besten Gesetze und Ver- Ausbildung der Landwirte und Landwirtinnen die ordnungen nützen nichts, wenn die Überwachung „gute fachliche Praxis" beherrscht wird. Aber gegen nicht möglich ist! Wind und Wetter sind auch wir machtlos. Wenn sie in kurzer Zeit 40 mm Niederschläge haben, läßt sich lei- Nun kurz zur Entsorgung von Ölplattformen: Die der ein Eintrag in das Gewässersystem auch bei gu- Aktionen, die zur geplanten Versenkung der „Brent tem Ansatz und bestem Willen nicht vermeiden. Die Spar" gelaufen sind, waren gut und richtig. Sie ha- „Schwarzen Flecken" an unserer Küste haben auch ben das Bewußtsein dafür, daß das Meer nicht als etwas mit sehr unterschiedlichen Witterungsbedin- Entsorgungszentrum zu betrachten ist, bei den Bür- gungen zu tun. Allerdings, wenn man es verstehen gern und Bürgerinnen geschärft! Auch in diesem will, muß man noch Sonne, Regen und Wind wahrneh- Punkt hat die Bundesregierung massiv Einfluß auf men können und einen Bezug zur Natur haben. die Regierung von Großbritannien genommen. Da in Zukunft viele Plattformen entsorgt werden müssen, Nun zu den „seeseitigen Fakten". Auch hier ist in gibt es hier ein größeres Arbeitsbeschaffungspro- der Vergangenheit viel geschehen. Die effektive ko- gramm. Ideen sind gefragt, Wettbewerb angesagt. stenlose Entsorgung der Ölrückstände - begrenzt auf drei Jahre von Mitte 1988 bis Mitte 1991 - hat sich Zusammengefaßt kann man sagen, daß das Mit- bewährt. Es wurde zu jeweils 50 Prozent vom Bund denken für die Umwelt und damit für unsere Zukunft und den Küstenländern finanziert. Da aber die Län- gestärkt worden ist. Es ist aber noch viel zu tun, auch der grundsätzlich auf ihrer „Hafenhoheit" bestehen, im Bereich der Fischerei. Dort werden wir in Zukunft müßten sie ein eigenes großes Interesse an der opti- wohl restriktiver vorgehen müssen. Nur gemeinsam, malen Entsorgung der Ölrückstände haben. Dabei zusammen mit den norddeutschen Bundesländern, verweise ich auf die heutige Debatte „Ma ritime Wirt können wir etwas in Europa erreichen. Meere müssen -schaft" . Aber leider, die meisten Länder haben sich uns in Zukunft mehr verbinden, wir alle müssen er- schon aus der Verantwortung gezogen bzw. finanzie- kennen, daß man das Wasser nicht nur nutzen und ren noch mit gewissen Beträgen. Hier muß ich Nie- ausnutzen kann. Wasser in jeder Form, besonders das dersachsen positiv hervorheben, noch wird Öl aus Trinkwasser, ist für das Leben der Menschen, Tiere Seeschiffen in den niedersächsischen Häfen kosten und Pflanzen auf dieser Welt das wichtigste Element. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11913

Eva Bulling-Schröter (PDS): Zur Zeit befahren Anlage 4 etwa 3 500 Großtanker die Meere und bedrohen die Lebensräume Meer und Küste. Wir alle kennen die Zu Protokoll gegebene Reden Bilder von ölverklebten Seevögeln. Die Havarie des zu Tagesordnungspunkt 16 Öltankers „Sea Empress" in diesem Frühjahr ist nur (Antrag: Förderung des Friedensprozesses ein Beispiel. Der Tanker brach auseinander - in der in der Westsahara) Zufahrt zu einem der größten Ölhäfen Europas! Das Schiff hatte nur eine einfache Außenhaut, das Öl konnte sofort ungehindert auslaufen, es waren keine Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Die wich- Schlepper zur Stelle. tigste Voraussetzung für Frieden - das gilt überall - ist zunächst einmal die Einsicht der Konfliktparteien, Aber keine Panik auf der Titanic. Die Herren von daß sie aus einem friedlichen Ausgleich ihrer Interes- der Regierungsbank ruhen sich auf den Fortschritten sen Vorteile erzielen können. Wo diese Einsicht fehlt, aus, die die neuen internationalen Abkommen zur Si- ist der Friedensprozeß entweder gefährdet, wie dies cherheit der Seeschiffahrt angeblich gebracht haben. gegenwärtig im Nahen Osten der Fall ist, oder er be- Bloß nicht selber aktiv werden! Volle Kraft voraus in ginnt gar nicht ernsthaft, wie dies gegenwärtig in der die nächste Katastrophe, heißt die Devise. Westsahara, im Land der Saharauis, der Fall ist.

Dabei hat doch selbst der Große Bruder Amerika Der Deutsche Bundestag befaßt sich heute zum inzwischen gehandelt: Seit dem „Exxon-Valdez " -Un- zweiten Mal innerhalb eines Jahres mit einem inter- glück dürfen in den USA nur noch Tanker mit dop-- fraktionellen Antrag zur Förderung des Friedenspro- pelter Außenhaut einlaufen. Warum versucht das Ka- zesses in der Westsahara. Hatte die Debatte im Fe- binett Kohl nicht, eine ähnliche Regelung für Nord- bruar noch am Ziel „Verwirklichung des Westsahara und Ostseehäfen durchzusetzen? Friedensplans der Vereinten Nationen" festgehalten, so müssen wir jetzt erkennen: Dieser Friedensplan ist Statt dessen verlassen Sie sich auf den Klabauter- angesichts des fehlenden Friedenswillens der Polisa- mann, oder - was so ähnlich ist - auf einen internatio- rio und der marokkanischen Regierung auf abseh- nalen Minimalkonsens des IMO-Beschlusses, der alle bare Zeit ohne Chance. Der Sicherheitsrat der Ver- Sicherheitsvorschriften nur auf neu gebaute Schiffe einten Nationen hat im Sommer entschieden, das Be- anwenden will. Noch immer dürfen alte Kähne aus obachtungspersonal weitgehend abzuziehen und das den 70er Jahren durch die Gegend schippern. Militärpersonal um 20 Prozent zu reduzieren. Die „Großvaterklauseln" nennt man diese Inkonsequenz Vereinten Nationen sahen sich aufgrund der Un- der Verträge. So heißt das im beschönigenden deut- einsichtigkeit der Konfliktparteien außerstande, ein schen Juristenchinesisch, wenn schrottreife Tank- 1991 vereinbartes Referendum über die Zukunft der schiffe bis ins nächste Jahrtausend hinein noch die Westsahara durchzusetzen. Umwelt gefährden. Es hilft uns bei diesem Konflikt auch nicht, wenn Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. wir uns auf die Verantwortung Spaniens für die un- vorbereitete Beendigung der Kolonialherrschaft zu Ein Fall für die Juristen wäre auch die Seeräuber Beginn des Jahres 1976 berufen. Es ist eine Tatsache: methode, mit der sich die Reeder den Bußgeldverfah- Die ehemals spanische Kolonie Westsahara wurde ren und anderen sicherheitstechnischen Maßnahmen 1976 unvorbereitet aus dem spanischen Herrschafts- entziehen: Sie flaggen alte Schrottschiffe aus in Bil- bereich entlassen. Marokko hat das Machtvakuum ligflaggenländer. Und das wird auch so bleiben, es genutzt und seine Truppen einmarschieren lassen. sei denn, wir setzen es durch, daß auf die Schiffe das Gleichzeitig wurden zehntausende marokkanische Recht des Hafenstaates angewandt wird. Denn ge- Bürger gedrängt, in die Region auszuwandern. An- genwärtig kann jede fortschrittliche Regelung mühe- dererseits hat die 1973 gegründete Polisa rio 1976 im los untergraben werden: Fast jedes Strafverfahren südalgerischen Exil die demokratische arabische Re- wegen Umweltdelikten ziehen die Flaggenländer an publik Sahara ausgerufen. Von 1979 bis 1991 tobte sich. Meist enden die Untersuchungen damit, daß die ein Guerillakrieg, und seit mittlerweile fünf Jahren Reeder eine marginale Geldsumme zahlen müssen. versucht die UNO ein Referendum durchzuführen, So ist es unmöglich, Umweltsünder und ihre Profitin- das einerseits an den Marokkanern scheitert, die teressen empfindlich zu treffen. 220 000 Menschen mit abstimmen lassen wollen, die seit 1975 zugewandert sind. Andererseits reden die Aber damit nicht genug. Die Bundesregierung sitzt Saharauis von bis zu 160 000 Flüchtlingen, die in den nicht nur aus, sie wird auch noch aktiv - bloß: in der südalgerischen Flüchtlingslagern auf die Rückkehr falschen Richtung. Das Programm zur kostenlosen in ihre Heimat warten. Dies wird dann wieder von Entsorgung von Schiffsaltöl in deutschen Häfen Marokko bestritten. wurde ersatzlos gestrichen. Seitdem wird unerklärli- cherweise etwa ein Drittel weniger Öl zur Entsor- Wir Deutsche sollten uns als Mitglied der Europäi- gung in den Häfen abgegeben als vorher. Tja - wo schen Union bewußt sein: Hier geht es nicht um ir- mag das eine Drittel Öl geblieben sein? Es wird wohl gendein Volk, das irgendwo in der Sahara sitzt und nicht für quietschende Türscharniere verwandt wor- uns im Grunde nichts angeht. Es geht bei diesem den sein. Konflikt um eine wichtige Nachbarregion der Euro- päischen Union. Es geht um einen Konflikt, der un- Wir schließen uns den Forderungen im Antrag der sere Nachbarn im Maghreb unmittelbar betrifft, Bündnisgrünen an. schließlich sind die Alge rier diejenigen, die Polisario 11914* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 unterstützen. Und Marokko ist das Land im Ma- einfach zum „business as usual" überzugehen. Der ghreb, das Stabilität und friedlichen Interessensaus- Deutsche Bundestag wird dies mit dem heutigen Be- gleich mit der Europäischen Union ganz groß schluß unterstreichen. Sicherlich, Resolutionen sind schreibt. kein Ersatz für Politik, sie können aber eine gute Grundlage für vernünftiges politisches Handeln sein. Wir sollten aber gegenüber den Konfliktparteien den Eindruck vermeiden, ein Friedensschluß in der Region sei vor allem in unserem Interesse. Der Frie- Dr. Eberhard Brecht (SPD): Manche Konflikte die- densschluß und der friedliche Interessenausgleich ist ser Welt verhalten sich wie Vulkane: Nach einem ge- zuallererst im Interesse der betroffenen Menschen. waltigen Ausbruch von lebensvernichtender Gewalt Er ist auch im Interesse Marokkos, weil ein Wieder- erstarrt die eben noch bewegte Oberfläche, auf der aufflammen des militärischen Konflikts die wirt- sich langsam neues Leben ansiedelt. Doch nach die- schaftliche Leistungskraft des Maghreb-Königrei- ser Periode des fragüen Friedens registrieren Vulka- ches nachhaltig schwächen würde. Er ist auch im In- nologen plötzlich wieder seismische Aktivitäten, die teresse der Saharauis, die über 100 000 Menschen, einen erneuten Ausbruch von Gewalt ankündigen. die gegenwärtig in Flüchtlingslagern in Südalgerien Im Gegensatz zu Vulkanologen wird von uns Politi- leben, endlich eine Lebensperspektive eröffnen müs- kern erwartet, solche rezidivierenden Konflikte nicht sen. nur zu analysieren und vorherzusagen, sondern sie Sicherlich, der Friedensschluß steht noch in weiter nach Möglichkeit auch abzuwenden. Diesem Ziel dient der von der SPD-Fraktion initiierte und von al- Ferne, aber jetzt muß es zumindest darum gehen, ei-- nen ersten Kontakt zwischen den Konfliktparteien zu len anderen Fraktionen mitgetragene Antrag zum ermöglichen, um einige der wichtigsten und drän- Westsahara-Konflikt. gendsten humanitären Aspekte des Konfliktes zu lo- Auch im Fall dieses Konfliktes kam nach dem Waf- sen. Rund 2 000 Marokkaner sind gegenwärtig als fenstillstand und der Akzeptanz des UNO-Friedens Kriegsgefangene bei der Polisa rio. Manche von ih- plans durch die Konfliktparteien die Hoffnung auf, nen befinden sich seit 20 Jahren in Kriegsgefangen- der Vulkan der Gewalt käme zum Erlöschen. Doch schaft. Die Polisario hat mehrfach ihre Bereitschaft derzeit deutet alles auf einen erneuten Ausbruch der erklärt, einen Kriegsgefangenenaustausch vorzuneh- Kämpfe hin. men. Sie hat unter internationaler Vermittlung zu- mindest 200 Kriegsgefangene, die gesundheitlich Es ist schwierig zu erkennen, wie der tote Punkt stark beeinträchtigt waren, den Marokkanern über- beim Friedensprozeß überwunden werden kann, so- geben. Aber die Marokkaner weigern sich, einen of- lange die beiden Konfliktparteien auf ihren unver- fiziellen Kriegsgefangenenaustausch vorzunehmen. söhnlichen Positionen beharren. Die Ergebnislosig- Der könnte aber ein erster Schritt sein, die Sprachlo- keit der bisherigen Bemühungen der UNO, der USA sigkeit zu überwinden, die die gegenwärtige Situa- und anderer vergrößern die Resignation der interna- tion kennzeichnet. tionalen Gemeinschaft. Die UN-Friedensmission MI- NURSO wurde bereits personell und materiell ver- Ich weiß nicht, was die Alternative zum Ausgleich kleinert. Der Sicherheitsrat hat den UN-Generalse- zwischen den Konfliktparteien sein soll. Sicherlich, kretär bereits aufgefordert, für den Fall des Ausblei- die Polisario kann rund 25 000 Kämpfer mobilisieren. bens greifbarer Fortschritte bei der Umsetzung des sa Es fehlen der Po li rio aber nach dem Ende der So- Friedensplans ein detail liertes Programm für den wjetunion Lieferanten für die erforderlichen militäri- etappenweisen Abzug der MINURSO-Kräfte auszu- schen Mittel. Ein nicht mehr sozialistisches Algerien arbeiten. Gleichzeitig wachsen die Befürchtungen hat genug mit sich selbst zu tun, als daß es eine sozia- bei den Beteiligten und den Nachbarstaaten, daß listische Polisario unterstützen könnte, gegen das nach einem vollständigen Abzug von MINURSO die Nachbarland einen Guerillakrieg zu führen. Kampfhandlungen wieder aufgenommen werden. Die Situation auf der Gegenseite scheint zunächst Zwar wurde vor einigen Wochen bekannt, daß die einfacher: Marokko kann gegenwärtig in der Westsa- Polisario und Marokko direkte Gespräche geführt hara über die zweitgrößten Phosphatvorkommen der haben; über den Inhalt der Gespräche ist aber bisher Welt verfügen und hat guten Zugang zu den Eisen- wenig nach außen gedrungen. Man wird sich des- und Kupfererzen, die reichlich in der Westsahara vor- halb nicht darauf verlassen können, daß diese Kon- handen sind. Es ist aber die Frage, ob in einer sol- takte den Friedensprozeß wieder in Gang bringen chen dünnbesiedelten Landschaft nicht die Gefahr werden. permanenter Sabotageakte so groß ist, daß letztend- lich kein wirklicher Gewinn aus den vorhandenen Deshalb ist es wichtig, daß sich der Bundestag er- Bodenschätzen erzielt werden kann. neut mit dem Westsahara-Konflikt befaßt. Die zeitli- che Plazierung dieser Debatte ist jedoch der Ernst- Europa hat mit der Barcelona-Konferenz einen haftigkeit des Themas nicht angemessen. Dennoch wichtigen Meilenstein für die Durchsetzung einer bin ich dankbar, daß der von mir initiierte Antrag zu- kohärenten Mittelmeerpolitik gesetzt. Hier ist eine gunsten eines neuen Friedensversuchs nicht nur von der Situationen, wo diese gemeinsame Mittelmeerpo- der SPD-Fraktion, sondern auch von den anderen litik sich konkretisieren muß. Es wird darum gehen, Fraktionen dieses Hauses Unterstützung fand. Wir gegenüber den Marokkanern, aber auch gegenüber fordern heute gemeinsam die Bundesregierung auf, den algerischen Schutzherren der Polisa rio deutlich im Rahmen der EU und ihres in Barcelona institutio- zu machen, daß die Europäische Union angesichts nalisierten Mittelmeerdialogs aktiv zu werden. Ich des Konflikts um Westsahara nicht bereit sein wird, hoffe, daß die Bundesregierung auf den Willen des Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11915*

Parlaments entschieden reagiert und es nicht bei all- werden muß, um den Friedensprozeß wieder in Gang gemeinen Beschwörungsformeln beläßt. Es gibt zu setzen. Aber wir sollten darüber nicht vergessen, Handlungsbedarf, in humanitärer wie in politischer daß der Friedensprozeß damit noch nicht beendet ist. Hinsicht. Lassen Sie mich diesen Handlungsbedarf in Denn jede der beiden Seiten ist davon überzeugt, vier Punkten erläutern. aus dem Referendum als Sieger hervorzugehen. Keine Konfliktpartei läßt die Bereitschaft erkennen, Zunächst möchte ich einen humanitären Skandal einen für sie ungünstigen Ausgang des Referendums ansprechen. Die Delegation des UNO-Unteraus- hinzunehmen. schusses, die im April dieses Jahres Gespräche in der Westsahara und Marokko führte, war sich einig: Für Daraus ergibt sich mein dritter Punkt: Die interna- die etwa 2 000 Gefangenen in den Lagern der Polisa- tionale Staatengemeinschaft muß nicht nur mit rio muß dringend etwas getan werden. Nach einem neuen Initiativen versuchen, den Friedensprozeß Besuch in einem Kriegsgefangenenlager waren wir wieder in Gang zu setzen und die Durchführung des alle empört: Wir trafen auf gefangene Marokkaner, Referendums zu Wege zu bringen, sie muß auch Vor- die zum Teil seit 18 Jahren auf ihre Freilassung war- kehrungen dafür treffen, daß ein negativer Ausgang ten. Manche von ihnen waren 80 Jahre und älter! des Referendums für jede der Konfliktparteien not- Nach humanitärem Völkerrecht hätten alle Kriegsge- falls akzeptabel ist. In dieser Hinsicht ist, soweit ich fangenen unmittelbar nach dem Ende der aktiven sehe, bisher noch nicht weitergedacht worden. Hier Feindseligkeiten zu ihren Familien zurückgebracht besteht ein konzeptionelles Defizit, das umgehend werden müssen. Die Polisa rio ist im Prinzip wohl be- behoben werden sollte. In unseren Gesprächen mit reit, sie auch jenseits des ins Stocken geratenen Frie- den Marokkanern gab es zumindest eine verbale Be- densplans freizugeben. Marokko aber will sie als Ge- reitschaft über weitgehende Autonomieregelungen fangene der Polisario nicht anerkennen und austau- für die Saharauis. Ob sich hier ein möglicher Ausweg schen. Und solange die Friedensaussichten schlecht aus einer drohenden Situation nach einem Referen- sind, rückt die Lösung dieses humanitären Problems dum anbietet, wäre noch auszuloten. in weite Ferne. Deshalb wäre es sinnvoll, den Gefan- Das führt mich zum vie rt genenaustausch aus dem Friedensplan herauszulö- en Punkt: Es wäre hilf- sen. Das wäre nicht nur aus humanitären Gründen reich, wenn die EU im Rahmen ihres Dialogs mit den richtig; diese vertrauensbildende Maßnahme könnte Mittelmeeranrainern, wie er in Barcelona begonnen auch ein erster Schritt sein, um die festgefahrenen wurde, eine Initiative zur Fortsetzung des Friedens- prozesses in der Westsahara zustande brächte. Dar- Prozeduren des Friedensplans zu lockern und Ge- auf zielt der Antrag, der heute die Grundlage unserer spräche zwischen Marokko und den Saharauis anzu- Aussprache ist. stoßen. Allen Mitgliedern der Delegation ist bewußt, daß das nur eine kleine Hoffnung ist. Aber es wäre Vertreter der Polisario beklagten mir gegenüber immerhin ein Ansatzpunkt, um Bewegung in die er- das geringe Engagement der Europäischen Union. starrten Fronten zu bringen. Unsere Pressekonferenz Unabhängig von dieser Sicht kann die EU, besonders im Anschluß an die Reise diente dem Zweck, diesen nach der Konferenz in Barcelona, nicht tatenlos zuse- Vorschlag in die Öffentlichkeit zu tragen und von der hen, wenn sich der Westsahara-Konflikt zuspitzt und Bundesregierung zu fordern, hier aktiv zu werden. die Gefahr einer Destabilisierung des Maghreb Darüber hinaus habe ich einen B rief an den Bundes- wächst. Es ist gar keine Frage: Europa hat ein vitales kanzler geschrieben, in dem ich ihn gebeten habe, Interesse an Sicherheit und Stabilität ini der Region. sich bei seiner Reise nach Marokko im Juni dieses Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Jahres für einen Kriegsgefangenenaustausch einzu- Große Anfrage der SPD-Fraktion zur „Mittelmeer- setzen. Ich will meine Enttäuschung nicht darüber politik" (13/3037) zu Recht festgestellt, daß die Ziele verhehlen, daß das Bundeskanzleramt mir zunächst ihrer Politik in der Region auch Stabilität und Frie- nicht einmal geantwortet hat. Erst auf eine schriftli- den sind. Bei unseren Gesprächen haben sich Polisa- che Nachfrage erhielt ich die lapidare Antwort, der rio und Marokko für ein stärkeres deutsches Engage- Bundeskanzler habe das Thema in Rabat angespro- ment beim Westsahara-Konflikt ausgesprochen. Die- chen. Ich fordere die Bundesregierung von dieser ses stärkere Engagement forde rt mit dem Antrag Stelle noch einmal nachdrücklich auf, das hohe An- auch der Deutsche Bundestag. sehen unseres Landes in Marokko dafür zu nutzen, daß die 2 000 Männer mit Hilfe des IKRK repatriiert werden und zu ihren Frauen zurückkehren können. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gibt Konflikte, die versteinern und zerstören die Mein zweiter Punkt bezieht sich auf den Kern des Zukunftschancen der Menschen. 150 000 Saharauis, von den VN entwickelten Friedensplans: auf das Re- ehemalige Einwohner von Spanisch-Westaf rika, ei- ferendum. Der Streit über die Arbeit der Identifizie- ner der letzten europäischen Kolonien, und deren rungskommission beherrscht die Diskussion über die Kinder, von den Einwanderern des von Marokko in- Fortsetzung des Friedensprozesses. Er wird insbe- itiierten Grünen Marschs aus ihrer Heimat vertrieben sondere über die Offenlegung der bisherigen Wahl- und in einen zähen Guerillakrieg hineingedrängt, le- antragsprüfungsergebnisse und über weitere 100 000 ben seit mehr als 20 Jahren jenseits eines zum Schutz Anträge Marokkos, die kurz vor Ablauf der Antrags- vor ihnen aufgeschobenen Sandwalls in der Trostlo- frist abgegeben wurden, geführt. Da eine Einigung sigkeit ödester Wüste, mit ihnen mehr als 1 000 in- darüber nicht erzielt werden konnte, kam der Identi- zwischen alt gewordene marokkanische Kriegsge- fizierungsprozeß im August 1995 praktisch zum Er- fangene, von den Machthabern ihrer Heimat bewußt liegen. Es ist klar, daß dieser tote Punkt überwunden dem Vergessen überantwortet, damit die Schmach, 11916* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 daß so viele Marokkaner von den Saharauis gefan- Wir aber müssen unsere Bundesregierung dazu gengenommen wurden und nur eine kleine Zahl Ge- drängen, genau diesen Zusammenhang der marok- fangener auf der Gegenseite aufweisbar ist, vor der kanischen Regierung klarzumachen, in der EU die- Weltöffentlichkeit verborgen bleibt. sen Zusammenhang darzustellen, für Unterstützung zu werben und auf eine Lösung der durch die Deko- Es gab die Hoffnung auf ein zwischen Marokko lonialisierung Afrikas von Europa zu verantworten- und der POLISARIO und der UNO-Vermittlung ver- den Folgeprobleme in einer auch für die Schwäche- einbartes Referendum. Es gab einen mühsamen ren akzeptablen Weise zu drängen. Identifizierungsprozeß, mit dem die historische Be- völkerung der Westsahara als Stimmbevölkerung re- Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Wir reden von einem konstruiert werden sollte und in dem über vier Jahre vergessenen Krieg. Man könnte sich fragen, ob er mehr als 60 000 als ursprüngliche Einwohner der uns etwas angeht. Wir haben - unabhängig von un- Westsahara anerkannt wurden und der zu einem vor- seren nationalen oder wirtschaftlichen Interessen - läufigen Ende kam, als die Saharauis sich der Mas- auch die Verpflichtung, dort zu Menschlichkeit und senanmeldung weiterer Marokkaner gegenübersa- zur Versöhnung beizutragen, wo wir Einfluß nehmen hen, deren Herkunft für sie nicht zweifelsfrei fest- können. stellbar war. Das Königreich Marokko hat die Westsahara be- setzt und hat durch umfangreiche Investitionen zur Jetzt hat die UNO die Konsequenz daraus gezo- Hebung des Lebensstandards in diesem Gebiet bei- gen. Sie hat die MINURSO, die friedenserhaltende getragen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, Mission der UN, reduziert und die Vorbereitung des daß es sich um eine faktische Annexion handelt, für Referendums offiziell abgebrochen. Die marokkani- die es nicht die geringsten Rechtstitel gibt. sche Regierung fühlt sich als Sieger, denn ihre Rech- nung ist aufgegangen: Sie haben einem Referendum Viele Saharauis, die ihre Freiheit lieben, haben es zugestimmt, aber die Bedingungen gesetzt. Die Ge- vorgezogen, in die algerische Sahara auszuweichen schichte und das Gezerre um die Bedingungen des und von dort einen fast aussichtslosen Kampf um ihre Referendums ist niemandem außer den Beteiligten nationale Selbstbestimmung zu führen. Darum soll- mehr verständlich. Die marokkanische Regierung ten erneut massive Anstrengungen unternommen sitzt am längeren Hebel. Ihr Angebot an die saha- werden, um den Plan der Vereinten Nationen doch rauische Bevölkerung in der Wüste ist: „Ihr könnt noch zu verwirklichen, zu einer Volksabstimmung zu alle zurückkommen, der König wird Euch verzei- kommen, die die politische Zukunft des Landes ent- hen. " Aber in der Wüste leben nicht nur vereinzelte scheiden soll. Diese Volksabstimmung hat allerdings Menschen, dort ist eine Gesellschaft entstanden, die nur dann einen Sinn, wenn sich die Parteien gleich- sich unter mühsamsten Bedingungen selbst erhält, zeitig darüber einigen könnten, was mit den jeweils die in einigen von der Produktionsgrundlage des über 100 000 Menschen der einen oder anderen Seite fehlenden fruchtbaren Bodens unabhängigen großen werden soll, die diese Volksabstimmung verlieren, Hühnerfarmen sogar Eier für den Expo rt produziert, und die - ebenso wie die Gewinner - eine Zukunfts- die in kleinen mechanischen Werkstätten ihre Gelän- perspektive brauchen. Solche Überlegungen gibt es dewagen für die Guerillaorganisationen repariert bisher kaum ansatzweise. und fabriziert, die in größeren Schulkomplexen ihre Jugend erzieht und ausbildet. Die Frage, die sich Mit besonderer Empörung hat mich das Schicksal Marokko stellen muß, ist, ob es bereit ist, eine Gesell- der 2 000 marokkanischen Kriegsgefangenen erfüllt, schaft mit einem gehörigen Maß an Autonomie zu in- von denen wir 500 in einem Lager der Polisa rio besu- tegrieren, ob es bereit ist, die absolute Monarchie mit chen konnten und die von ihrem eigenen Land, von föderativen Zügen auszustatten, so daß Fundamente Marokko, aus diplomatischen Gründen bisher nicht für ein gemeinsames nachbarschaftliches Leben ge- zurückgenommen werden. Es sind Männer, die teil- legt werden können. weise seit 20 Jahren als Gefangene in einem Wüsten- lager leben müssen und die immer noch glauben, daß ihr König sie nicht im Stich läßt. Das ist eine em- Wenn der Identifizierungsprozeß sabotiert, das Re- pörende Brutalität, die durch nichts gerechtfertigt ferendum praktisch auf den Sankt-Nimmerleinstag werden kann und die man ununterbrochen und laut verschoben ist, müssen die europäischen Staaten anklagen muß, bis diese Menschen endlich in ihre drängen auf direkte Verhandlungen zwischen den Heimat zurückkehren können. Parteien. Sie müssen darauf drängen, nicht nur ein- zeln und für sich, sondern auch im Rahmen des Mit- Wenn die Bundesregierung dazu beitragen könnte telmeerdialogs, an dem Marokko ein entscheidendes - und sich notfalls dazu entschließen könnte -, der Interesse hat. So wie die Bedingung für die Auf- Regierung des Königreichs Marokko ohne Um- nahme in europäische Gremien wie Europarat oder schweife zu sagen, daß sie sich einer sinnlosen Bruta- gar EU die Einigung und demokratische Behandlung lität an ihren eigenen Soldaten schuldig macht, dann der gegenseitigen Minderheitenfragen ist - wie zum würde sie damit der Humanität einen großen Dienst Beispiel der ungarisch-rumänische Minderheitenver- erweisen. trag als Vorbedingung zur Aufnahme in die EU -, so Wir stimmen der Resolution zu. muß Marokko mitgeteilt werden, daß ein dauerhafter friedlicher Ausgleich mit den Saharauis Vorausset- zung für die Teilnahme Marokkos an einer Koopera- Steffen Tippach (PDS): Die Forderungen des vor- tion Europa-Maghreb ist. liegenden Antrages sind durchaus zu unterstützen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11917*

Auch die PDS ist der Ansicht, daß die Bundesregie- „Faktor der Stabilität" bedeutet den Ausbau und rung ihr gutes Ansehen sowohl beim marokkani- die Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen schen Königshaus als auch bei der Vertretung der Sa- und die Stabilisierung des marokkanischen Königs- hauris, der Frente Polisario, zur Förderung des Frie- hauses. densprozesses nutzen soll. Das Schwellenland Marokko soll zum zuverlässi- Doch fehlt uns ein Verweis auf den UN-Friedens- gen Bollwerk gegen die in den kommenden Jahren plan in diesem Antrag. Nach wie vor erscheint uns zu erwartenden 30 Millionen afrikanischen Hunger- die konsequente Umsetzung des UN-Friedensplans flüchtlinge gerüstet werden. „ Sicherheit und Stabili- von 1991 der richtige Weg zu sein, Frieden in der tät im westlichen Mittelmeerraum" nennt sich diese Westsahara zu schaffen. Politik. Deutschland spielt seinen Pa rt in Marokko bei der demographischen Abschottung Europas. Reden wir doch mal Klartext: Bei den Konfliktpar- teien dieses Friedensprozesses handelt es sich um ei- Bei den bekannten deutschen und europäischen nen Unterdrückerstaat und ein unterdrücktes Volk. Interessen besteht die Gefahr, daß Frieden und Ge- In der Westsahara geht es nach wie vor um Gerech- rechtigkeit für die Saharauis in der Westsahara in tigkeit für die unter der Besatzungsmacht Marokko eine Nebenrolle geraten. lebenden Saharauis. Seit 20 Jahren ist die Demokra- tische Arabische Republik Westsahara von marokka- Den Grundaussagen des Antrages stimmen wir zu. nischen Truppen besetzt. 70 Staaten der Welt haben Allerdings sind wir der Ansicht, daß die Bundesre- sie anerkannt, sie ist Mitglied in der Organisation gierung und die EU-Politik sich weniger für ihre ak- Afrikanischer Staaten, OAS. Diese historischen Tat- tuellen Mittelmeerinteressen als für eine Stärkung sachen müssen in Friedensbemühungen einbezogen der UN-Mission in der Westsahara einsetzen sollte. werden. Obwohl das keine Erwähnung findet in dem vorlie- genden Antrag, wird die PDS zustimmen. Wenn Herr Kohl bei seinem Besuch in Marokko in Juni d. J. betont, die Bundesregierung sei neutral ge- genüber dem stagnierenden Friedensprozeß in der Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Westsahara, ist das doch nur die halbe Wahrheit. Be- Amt: Die Bundesregierung teilt die in dem vorliegen- züglich der Westsahara verwechselt Herr Kohl viel- den interfraktionellen Antrag ausgedrückte Sorge leicht auch „Neutralität" mit „Desinteresse"? über den blockierten Friedensprozeß in der Westsa- hara. Die Bilanz der letzten Monate fällt in der Tat Bezüglich Marokko aber ergreift die Bundesregie- wenig ermutigend aus. Viereinhalb Monate nach der rung eindeutig Partei. Ein Beleg sind die 4,5 Mil- Mandatsverlängerung von MINURSO durch den lionen Mark militärische Ausstattungshilfe für die VN-Sicherheitsrat gibt es kaum Fortschritte bei der marokkanische Armee, die im aktuellen Haushalt Umsetzung des VN-Friedensplanes. Die einzigen vorgesehen sind. Wir haben in der Haushaltsdebatte wirklich positiven Aspekte sind die Einhaltung des die Streichung dieser Ausstattungshilfe gefordert, Waffenstillstands und das fortbestehende verbale Be- und das mit gutem Grund. Diese Militärhilfe - die kenntnis der Parteien zum Friedensprozeß und ihre übrigens auch andere europäische Regierungen zum grundsätzliche Gesprächsbereitschaft. Der Friedens- Wohle ihrer jeweiligen Rüstungsindustrie leisten - prozeß insgesamt stagniert jedoch, da es weiterhin hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß das keine Einigung der Parteien auf die zu identifizieren- marokkanische Militär de facto die Autorität der Ver- den Wahlberechtigten für das Referendum über die einten Nationen in der Westsahara außer Kraft setzen Zukunft der Westsahara gibt. konnte. Vor diesem Hintergrund sah sich der VN-Sicher- Marokko sei ein „Faktor der Stabilität in der nord- heitsrat bereits im Mai anläßlich der Verlängerung afrikanischen Region", sagte Herr Kohl laut FAZ bei des Mandates der VN-Mission veranlaßt, den Identi- seinem Besuch im Juni. Welche Stabilität mag er ge- fizierungsprozeß für das Referendum vorläufig zu meint haben? suspendieren und das damit befaßte Personal abzu- Hat Herr Kohl im Königspalast von Rabat vielleicht ziehen, während die mit der Waffenstillstandsbeob- nach den Hunderten teilweise seit 1964 „ver- achtung betrauten Militärbeobachter vor Ort blieben. schwundenen " Saharauis und Marokkanern gefragt, Diese Maßnahme war notwendig geworden, nach- die auch im diesjährigen Bericht von Amnesty Inter- dem die beiden Konfliktparteien ihre Zusammenar- national erwähnt werden? Sind sie ein „Faktor der beit mit der Identifizierungskommission eingestellt Stabilität"? hatten und eine Wiederaufnahme des Identifizie- rungsprozesses nicht abzusehen war. An dieser Si- Hat Herr Kohl nach den Toten in Behördengewahr- tuation hat sich bis heute nichts geändert, eine Eini- sam gefragt, nach den geheimen Haftzentren in gung der Parteien bleibt trotz vielfältiger Bemühun- Tazmamert oder Yal'at M'Gouna? Oder hat er die gen ungewiß. Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in Marokko kritisiert? Die Bundesregierung hat in dieser Situation die Anstrengungen der Vereinten Nationen, den Frie- Nein, für Gespräche mit der Opposition der Men- densprozeß wieder in Gang zu setzen, nachhaltig un- schenrechtsgruppen war - wie meist zu solchen An- terstützt. Wir sind nach wie vor der Auffassung, daß lässen - keine Zeit. Außerdem wolle man ja „neu- den Vereinten Nationen eine zentrale Rolle bei der tral" gegenüber der marokkanischen Innenpolitik Lösung dieses Konfliktes zukommt. Es ist jedoch bleiben. auch zu beobachten, daß die Parteien heute in die 11918* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996

Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen Die Bundesregierung wird sich im VN-Sicherheits- weniger Hoffnungen setzen als noch vor einigen Mo- rat jedoch für eine Verlängerung des Mandats der naten. VN-Mission MINURSO aussprechen. Sie wird dies aus folgendem Grund tun: Die Vereinten Nationen, insbesondere der amtie- rende VN-Sondergesandte Jensen, bemühen sich Ein vollständiger Abzug der Mission würde den seit Monaten intensiv um eine Wiederaufnahme des Westsaharakonflikt nicht lösen, sondern die Parteien Identifizierungsprozesses und eine Wiederbelebung - ohne Perspektive für eine friedliche Einigung - wie- des Friedensprozesses. Die VN-Aktivitäten können der sich selber überlassen. Dies birgt die Gefahr ei- von anderen Organisationen, wie z. B. der EU, durch- nes Wiederauflebens der Kämpfe. Destabilisierende aus flankierend unterstützt werden. Sie können sie Auswirkungen auf die gesamte Region könnten die jedoch nicht ersetzen. Vermittlungsbemühungen Folge sein. So hat uns z. B. Mauretanien in verschie- können nur dann erfolgreich sein, wenn beide Par- denen Gesprächen zu erkennen gegeben, daß es ei- teien kooperationswillig sind und insbesondere zur nen Abzug der Mission als den Beginn einer realen Zusammenarbeit mit der VN-Mission zurückkehren. Bedrohung empfinden würde, nicht zuletzt wegen der zu erwartenden Flüchtlingsströme. Gleichzeitig müssen alte rnative vertrauensbil- dende Maßnahmen, wie z. B. Direktkontakte zwi- Die internationale Staatengemeinschaft darf sich schen den Parteien, sondiert werden. Die Bundesre- daher nicht aus den Bemühungen um eine politische gierung hat gegenüber beiden Seiten wiederholt Lösung des Westsaharakonfliktes zurückziehen. zum Ausdruck gebracht, daß sie eine f riedliche Lö- Die Bundesregierung wird sich in diesem Sinne sung des Konfliktes erwartet und den VN-Fredens- weiter für eine Fortsetzung und Intensivierung der plan hierfür weiterhin als wichtige Basis betrachtet. VN-Bemühungen einsetzen. Sie hat zudem daran Die Bundesregierung unterstützt insbesondere die mitgewirkt, daß die Aspekte vertrauensbildender im Antrag geäußerte Auffassung, daß die Frage der Maßnahmen und der Aufruf zum Austausch von Kriegsgefangenen in der Westsahara aus humanitä- Kriegsgefangenen in der SR-Resolution Nr. 1064 ver- ren Gründen prioritär gelöst werden muß. Sie setzt ankert wurden - als Elemente, die eine Umsetzung sich weiterhin für die vorrangige Behandlung dieses des Friedensplanes deblockieren und beschleunigen Problems im Rahmen der andauernden Friedensbe- könnten. mühungen der Vereinten Nationen ein. Die Bundesregierung wird darüber hinaus an ihrer Das derzeitige Mandat der Mission läuft zum Politik der strikten Neutralität gegenüber den Kon- 30. November 1996 aus. Angesichts ausgebliebener flliktparteien festhalten. Sie hat sich durch ihre Hal- Fortschritte sind international vereinzelt Stimmen tung Gesprächsmöglichkeiten mit beiden Seiten of- laut geworden, die sich für einen gänzlichen Abzug fengehalten, die ein Einwirken gerade in dieser kriti- der Mission aussprechen, wenn bis zu diesem Zeit- schen Phase ermöglichen. Wir werden unsere Kon- punkt nichts geschehen ist. takte mit beiden Seiten in diesem Sinne fortsetzen.