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Deutscher

112. Sitzung -

zugleich 408. Sitzung des Bundesrates

Bonn, Montag, den 1. Juli 1974

Inhalt:

Ansprache der Präsidentin des Deutschen Bundestages 7619 A

Ansprache von D. Dr. Dr. Gustav W. Heine- mann, Bundespräsident vom 1. Juli 1969 bis 30. Juni 1974 7621 D

Eidesleistung des Bundespräsidenten 7623 D

Ansprache des Bundespräsidenten 7623 D

Ansprache des Präsidenten des Bundesrates 7627 A

Anlage: Liste der entschuldigten Abgeord

neten 7629*

Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. , Montag, den 1. Juli 1974 7619

112. Sitzung -

zugleich 408. Sitzung des Bundesrates

Bonn, den 1. Juli 1974

Stenographischer Bericht tralen Organ unserer parlamentarischen Demokratie von Anfang an, also seit seiner Konstituierung am Beginn: 10.03 Uhr 7. September 1949, ununterbrochen bis zum heutigen Tage angehört haben. Es sind dies in alphabetischer Reihenfolge: Professor Dr. , Dr. Her- Präsident Frau Renger: Ich eröffne die Sit- mann Götz, Dr. , Erwin Lange, Dr. zung nach Artikel 56 des Grundgesetzes. Namens , Dr. Martin Schmidt (Gellersen), Dr. des Deutschen Bundestages und des Bundesrates be- Gerhard Schröder, Dr. Franz Josef Strauß, Richard grüße ich alle Ehrengäste aus dem In- und Ausland. Stücklen und . Empfangen Sie den Meine Herren Präsidenten! Exzellenzen! Meine Dank stellvertretend für alle, die unserem Staat in Damen und Herren! Bundestag und Bundesrat sind den vergangenen 25 Jahren durch ihren politischen heute zu einer gemeinsamen Sitzung zusammenge- Einsatz unermüdlich gedient haben. treten, um der Vereidigung und Amtseinführung des neugewählten Präsidenten der Bundesrepublik Unser besonderer Dank aber gilt zu dieser Stunde Deutschland beizuwohnen. Zum dritten Male in der den Männern, die seit 1949 an der Spitze unseres Geschichte der Bundesrepublik geht dieses höchste Staates gestanden haben — unseren Bundespräsi- Amt, das nach unserer Verfassung zu vergeben ist, denten. Es ist gewiß keine einfache Aufgabe, die an auf einen neuen Inhaber über. dieses Amt gestellten Anforderungen und Erwar- tungen zu erfüllen. Einerseits sind die dem Bundes- Ein Vierteljahrhundert einer neuen Epoche deut- präsidenten übertragenen politischen Befugnisse scher Geschichte liegt hinter uns, einer Epoche des eng begrenzt. Aber auf der anderen Seite soll er in Friedens, der Freiheit und des Aufstiegs aus Not ganz bestimmten Situationen eine Entscheidungs- und Elend. Auch sie hat ihre Schattenseite, auch sie ohnmacht oder -unfähigkeit des Parlaments aus- hinterläßt ungelöste Probleme. Aber sie steht in gleichen. Er steht somit, wie man gesagt hat, als einem deutlichen und erfreulichen Kontrast zu jenem eine besondere Reservemacht für besondere parla- vergangenen Geschichtsabschnitt des Niedergangs, mentarische Notsituationen zur Verfügung, Notsitu- der Zerstörung durch die Hybris totalitärer Macht ationen, die es in der Geschichte der Bundesrepublik und einer unvorstellbaren Mißachtung allen Rechts. zum Glück noch nicht gegeben hat. Es ist nicht meine Absicht, diese Stunde erneut Das Grundgesetz ist im Vergleich zu manchen einer Bestandsaufnahme zu widmen, nachdem der anderen Verfassungen in den Aussagen über die scheidende Bundespräsident bereits am Jubiläums- allgemeinen Zwecke und Aufgaben der Staatsor- tage ein eindrucksvolles Bild des Geleisteten und gane zurückhaltend. Es beschränkt sich auf die Auf- zugleich auch von den vor uns liegenden großen zählung einzelner Rechte, Befugnisse und Funktio- Aufgaben gezeichnet hat. Etwas von dem, was uns nen. Und doch ist auch der Präsident unserer Repu- an jenem Tage bewegte, sollte aber auch in dieser blik mehr als die Summe dieser Funktionen. Aber Stunde mit aufklingen. Ich meine damit die Dank- was er ist, hängt in entscheidendem Maße von ihm barkeit gegenüber all denen, die in diesen 25 Jahren selbst ab. Er ist als der höchste Repräsentant nach dazu beigetragen haben, daß sich bei uns in einer innen wie nach außen in weitem Maße auf etwas stetigen Entwicklung die freiheitliche parlamenta- angewiesen, was sich juristischer Definition entzieht rische Demokratie tief und fest zu verwurzeln ver- und was wir Autorität nennen. Damit ist nichts an- mochte. deres gemeint als das im Persönlichen, in dem Ge- Es sei mir zu dieser Stunde erlaubt, einen solchen wicht, der Kompetenz, dem Ethos der Person lie- Dank auch in einer ganz persönlichen Form auszu- gende Vermögen, Gehör verlangen und finden zu sprechen, indem ich mich an jene zehn Abgeordneten können und durch die Wirkung seiner Person und wende, die dem Deutschen Bundestag als dem zen ihres Wortes die Gesamtheit zu binden. Seine Stel- 7620 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 Präsident Frau Renger lung gibt ihm auch die Möglichkeit, durch ein ganz pen haben Sie zur Verbundenheit des Volkes mit auf sich gestelltes Urteilsvermögen zu raten, zu seiner demokratisch gewählten Führung entschei- mahnen, zu warnen und Maßstäbe zu setzen. Darin dend beigetragen. Zahllos sind Ihre Diskussionen liegt die Bedeutung dieses Amtes, aber auch seine mit Schülern und Studenten, mit Rentnern und aus- schwer zu tragende Bürde. ländischen Arbeitnehmern, mit den Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in unserem Land, Daß dieses Amt hohes Ansehen und großen mit Soldaten, Sportlern, Landwirten, Künstlern und Respekt genießt, verdanken wir seinen drei bisheri- Wissenschaftlern. Aus all diesen Gesprächen zogen gen Inhabern , Heinrich Lübke und Sie wohl die Erkenntnisse über die Probleme, Vor- . Jeder von ihnen hat von seiner stellungen und Erwartungen Ihrer Gesprächspart- Persönlichkeit her Unverwechselbares in die Aus- ner, die Sie dann aber auch der Öffentlichkeit ver- formung dieses Amtes eingebracht. Jeder von ihnen - hat das getan, was seiner Überzeugung nach das mittelten. Amt von ihm verlangte. Trotzdem, so scheint mir, Sie haben aber auch Wahrheiten ausgesprochen, verbindet die drei Amtsinhaber etwas wesentlich die nicht für alle Bürger unseres Landes nur be- Gemeinsames. Bei aller Verschiedenheit ihrer poli- quem waren. Schon als Bundesjustizminister haben tischen Herkunft und ihres Werdeganges empfanden Sie in einem Augenblick höchster Spannungen zwi- sie sich und handelten als die Diener einer tiefen schen der jungen Generation und den sogenannten und überzeugenden Humanität. Etablierten das Bild von dem ausgestreckten, einen Meine Damen und Herren, Dank schulden wir vermeintlich Schuldigen suchenden Zeigefinger ge- auch den Frauen unserer Bundespräsidenten. Sie prägt und hierbei zu bedenken gegeben, daß drei haben ihren Gatten bei der Erfüllung ihrer Amts- Finger dieser Hand auch auf uns selbst weisen. Noch pflichten zur Seite gestanden. Sie haben auch der heute, sechs Jahre nach Ihrem Appell an uns alle, Frau an der Seite des Bundespräsidenten eine vor- werden wir häufig bei Diskussionen über span- bildliche Prägung gegeben, ohne dabei auf eine nungsgeladene Themen an dieses Wort erinnert. entsprechende Ausstattung des Amtes zurückgrei- Während Ihrer Amtszeit haben Sie immer wieder fen zu können. Müttergenesungswerk, Altenhilfe, Anstöße zur Aufarbeitung der Geschichte unseres Hilda-Heinemann-Stiftung, Wohnstättenwerk für Volkes gegeben. Sie fragten, ob es denn richtig sei, geistig behinderte Erwachsene sind die bekannte- daß uns Deutschen die Demokratie immer nur von sten Beispiele für ein nachhaltig segensreiches so- außen aufgezwungen wurde, oder ob nicht vielmehr ziales Wirken. Ihnen ließen sich Dutzende anderer unser Volk in Vergangenheit und Gegenwart zahl- Aufgaben hinzufügen. lose eigene Anstrengungen aufzuweisen hat, die So haben Sie sich, hochverehrte Frau Heinemann, deutlich machen, wie oft auch bei uns um mehr Frei- in den fünf Amtsjahren an der Seite Ihres Gatten heit, Gerechtigkeit und Humanität gekämpft wor- mit großer Energie vorwiegend sozialen Problemen den ist. gewidmet. Sie haben neben den Belastungen, die Verehrter Herr Dr. Heinemann, Sie haben aber sich aus den Repräsentationspflichten eines Staats- auch mit der Ihnen eigenen Hartnäckigkeit unser oberhauptes zwangsläufig gerade auch für Sie erga- Volk stets darauf hingewiesen, daß die Starken und ben, unermüdlich nach unkonventionellen Wegen vom Glück Begünstigten unter uns die Pflicht haben, zur Verbesserung schlechter Lebensverhältnisse ge- sich der Schwächeren, der Gebrechlichen, der Alten sucht, wo auf eingefahrenen Gleisen nicht weiter- und aller jener, die unschuldig an den Rand unserer zukommen war. Darüber hinaus haben Sie auch an Wohlstandsgesellschaft gedrängt wurden, anzuneh- der Entwicklung der darstellenden Kunst regen An- men. Sie haben uns ins Gewissen geredet. teil genommen und durch Ausstellungen in der Villa Hammerschmidt begabten Künstlern den Weg zur Die Ausschüsse des Deutschen Bundestages waren Öffentlichkeit geebnet. Für Ihr soziales und kulturel- regelmäßig bei Ihnen zu Gast. Viele wertvolle An- les Engagement und für die liebenswürdige und un- regungen für unsere Parlamentsarbeit ergaben sich nachahmliche Weise, mit der Sie Ihren Gatten in aus den freimütigen Gesprächen, die die Abgeord- seinem verantwortungsvollen Amte unterstützt ha- neten dieses Hohen Hauses bei solcher Gelegenheit ben, sind wir Ihnen Dank schuldig. mit Ihnen führen konnten. Seit 1919, schon als Stu- Nun aber darf ich mich Ihnen, Herr Dr. Heine- dent, waren Sie politisch tätig. Mit Ihrem Rat, den mann, persönlich zuwenden, um Ihnen unseren Dank Sie aus Ihrem reichen Erfahrungsschatz als Rechts- zu sagen für alles, was Sie in der Ausübung Ihres anwalt, als an der Leitung von Industrieunterneh- Amtes für die Bundesrepublik Deutschland und ihre men Beteiligter, als Kirchenmann, Kommunal- und Bürger getan und geleistet haben. Ich weiß sehr Landespolitiker, als Bundestagsabgeordneter, Bun- wohl, daß Sie, Herr Dr. Heinemann, kein Freund desminister und schließlich als Bundespräsident ver- großer Worte sind. Es fiele mir jedoch sehr schwer, mitteln konnten, haben Sie denen zur Seite gestan- Sie aus dem Amt scheiden zu lassen, ohne wenig- den, die politische Entscheidungen zu vollziehen stens andeutungsweise die von Ihnen gesetzten und zu verantworten haben, wie Sie es schon in Schwerpunkte Ihrer Präsidentschaft zu würdigen. Ihrer Antrittsrede versprachen. Sie haben damit eine Aufgabe erfüllt, in die die Öffentlichkeit kaum Sie haben das höchste Amt unseres Staates mit einen Einblick haben konnte, die aber gleichwohl zu dem Vorsatz angetreten, allen Bürgern mit beson- den bedeutsamen Funktionen dieses Amtes gehört. derer Aufgeschlossenheit und in betont unkonven- tioneller Weise zu begegnen. Durch Ihr ständiges Ihre Verbundenheit mit Berlin hat Sie, verehrter Gespräch mit den Bürgern aller Bevölkerungsgrup Herr Heinemann, die Herzen der Berliner gewinnen Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 7621 Präsident Frau Renger lassen. Sooft wie nur möglich haben Sie sich mit erhielt durch Sie viele Impulse. Über 20 Jahre lang Ihrer Gattin während Ihrer Amtszeit zu jeweils sind Sie Mitglied ides Deutschen Bundestages ge- mehrtägigen Besuchen in der alten deutschen Haupt- wesen, zeitweilig auch einer seiner Vizepräsidenten, stadt aufgehalten. Sie haben dadurch dokumentiert, und vorher waren Sie bereits im Landtag. Als Bun- daß Berlin mit der Bundesrepublik Deutschland ver- desminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu- bunden ist und bleibt. Die Stadt Berlin hat Sie zu ständig für die Entwicklungspolitik, lernten Sie das ihrem Ehrenbürger ernannt und dadurch ihren Dank Feld der internationalen Beziehungen von einer bekundet. Seite kennen, die großes Verständnis, aber auch Sie haben während Ihrer Amtszeit diejenigen Realitätssinn verlangt. Als Außenminister und Vize- Nachbarstaaten der Bundesrepublik Deutschland be- kanzler haben Sie dann bis vor kurzem an entschei- sucht, die während der unseligen Jahre des Hitler dender Stelle die Politik unseres Landes mitbe- stimmt. - Krieges besonders leiden mußten. In den Nieder- landen, in Dänemark und in Norwegen, in Italien, Mit Ihrem Vertrauen in die Vernunft, Ihrer Zu- in Luxemburg und in Belgien konnten Sie durch Ihr versicht, Überzeugungstreue und Ihrer der Welt zu- Auftreten bereits geschlagene Brücken der Verstän- gewandten, zupackenden Art haben Sie schwierigste digung festigen und dank Ihrer eigenen politischen politische Führungsaufgaben zu meistern verstan- Vergangenheit das neue demokratische Deutschland den. Seit nunmehr auch beinahe 20 Jahren haben beispielhaft vertreten. Sie haben zugleich den Un- Sie sich durch Ihre Arbeit in den europäischen Ver- terschied zwischen hergebrachtem Nationalismus sammlungen, Parlamenten und Räten die Angele- und unverzichtbarem Patriotismus deutlich zu ma- genheiten Europas zu eigen gemacht. Internationale chen verstanden, gemäß der Maxime aus Ihrer An- Zusammenarbeit ist für Sie nie eine bloß deklama- trittsrede, in der Sie sagten: torische Formel gewesen. Dies alles hat Ihnen viele Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist zu Freunden gemacht und große Sympathien in Deutschland. Aber es ist uns er Vaterland. Deutschland wie im Ausland eingetragen. Damit Hier leben und arbeiten wir. Darum wollen wir haben Sie einen Fundus an Vertrauen erworben, unseren Beitrag für die eine Menschheit mit der es Ihnen erlaubt, mit Zuversicht den Aufgaben entgegenzublicken, die jetzt auf Sie als Träger dieses diesem und durch dieses unser Land leisten. höchsten Amtes unserer Republik zukommen wer- Ihr Sinn für Rechtschaffenheit, Ihr oft sehr direk- den. tes Ansprechen vieler Probleme, die uns bedrängen, Ich weiß, daß Ihre hochverehrte Gattin Ihnen haben uns allen gutgetan. Gutgetan hat auch die ebenso zur Seite stehen wird. Offenheit, in der Sie die Bürger unseres Staates stets darauf hingewiesen haben, daß sie erst dann als Ich wünsche Ihnen für dieses Amt Gesundheit, mündige Bürger zu bezeichnen sind, wenn sie außer Kraft und Segen. den ihnen zustehenden Rechten auch die Pflichten Das Wort hat jetzt der scheidende Herr Bundes- gegenüber der Gemeinschaft des Volkes anerken- präsident. nen. Sie haben dies vorgelebt und dadurch nach den (Beifall.) fünf Jahren Ihrer untadeligen Amtsführung einen tiefen Eindruck hinterlassen. D. Dr. Dr. Gustav W. Heinemann: Frau Bun- Als einer der letzten noch im vorigen Jahrhundert destagspräsidentin! Herr Bundesratspräsident! Meine geborenen aktiven Politiker treten Sie nun, wie Sie Damen und Herren! Als ich vor fünf Jahren das Amt selbst sagten, in die Reihen der Bürger zurück. Dem des Bundespräsidenten antrat, habe ich hier gesagt: scheidenden Bundespräsidenten bekunden wir un- „Die Leistungen von gestern werden morgen schon seren tiefempfundenen Dank und unser aller An- nicht mehr zählen." Ich habe Anlaß, heute mich erkennung. Zu seinen Ehren erheben sich die Mit- selbst an dieses Wort zu erinnern; es macht beschei- glieder der gesetzgebenden Körperschaften, um vor den und selbstkritisch. Die anerkennenden Worte, der Öffentlichkeit im Namen des deutschen Volkes mit denen in diesen Tagen des Abschieds meine zu bezeugen: Tätigkeit gewürdigt wurde, höre ich dankbar. Ich Gustav Heinemann hat sich um das Vaterland danke insbesondere auch Ihnen, Frau Bundestags- verdient gemacht. präsidentin, und den Mitgliedern der hier versam- melten gesetzgebenden Körperschaften. Wie sollte Meine Damen und Herren, dem Dank an den ich mich nicht freuen, wenn mein Wollen und Tun scheidenden Bundespräsidenten schließe ich einen bei vielen Verständnis und Zustimmung gefunden herzlichen Willkommensgruß an den neu gewählten hat. Bundespräsidenten Walter Scheel an. Damit ist aber die Frage nicht abgetan, ob in den Sie bringen, Herr Bundespräsident, aus Ihrer bis- Jahren von 1969 bis 1974 von mir und uns allen, herigen Arbeit eine große politische Erfahrung mit. die wir in politischer Verantwortung stehen, getan Ihre politische Laufbahn begann unmittelbar nach oder versäumt worden ist, was nötig war, um den Ihrer Rückkehr aus dem Kriege. Sie haben damals Aufgaben unserer Zeit gerecht zu werden. Dieser mit Tatkraft für den Aufbau einer wirtschaftlichen Frage hat sich jeder zu stellen, zumal aber der, der Existenz für sich und Ihre Familie gearbeitet und sein Amt in andere Hände gibt. Sie ist die Frage ich gleichzeitig der politischen Arbeit für unser derer, für die wir arbeiten, und die Frage derer, Land zur Verfügung gestellt. In beidem bewiesen die nach uns kommen. Jeder muß für sich selbst Sie eine glückliche Hand, und die deutsche Politik diese Frage beantworten. 7622 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 D. Dr. Dr. Gustav W. Heinemann Ich möchte in dieser Stunde dreierlei aussprechen: einen gemeinsamen Weg unserer Völker in die Zu wofür ich zu danken habe, worum es mir ging und unft zu ebnen. Gern hätte ich deshalb auch die an was ich wünsche. mich ergangene Einladung zum Besuch der Sowjet- Ich danke zuerst meinen Mitarbeitern im Bundes- union wahrgenommen, was leider nicht mehr mög- präsidialamt. Ich danke darüber hinaus allen denen, lich war. die mir durch hilfreiche Beratung, durch stärkende Zu Hause soll der Bundespräsident unbeschadet Ermunterung, durch mitdenkende Kritik geholfen eigener politischer Meinung über den Parteien ste- haben. Darin sind eingeschlossen Anhänger verschie- hen. Er soll zu allen Gruppen im Lande Fühlung hal- dener politischer Richtungen, wie denn auch Freund- ten und zu ihrer Zusammenarbeit beitragen. Man hat schaften und persönliche Beziehungen über die Gren- mich manchmal „Bürgerpräsident" genannt. Damit zen der Parteien hinweg ungetrübt geblieben sind. ist wohl meine Bemühung gemeint, den Abstand,--k der mit dem höchsten Staatsamt zu den Bürgern ge- Ein Bundespräsident hat den Vorzug, dieses Land geben ist, so weit wie möglich zu verringern. Ich kennenzulernen wie wenige andere, seine verschie- wollte nicht abgetrennt sein von den täglichen Sor- denen Gegenden, unzählige Menschen, die unter- gen und Hoffnungen meiner Mitbürger. Ich wollte schiedlichsten Einrichtungen, Gruppen und Bestre- helfen, Untertanengesinnung und Unterwürfigkeit in bungen. Dabei war es für mich immer erneut be- staatsbürgerliches Selbstbewußtsein und staatsbür- wegend zu erfahren, wieviel aufopfernden Einsatz, gerliche Mitverantwortung zu verwandeln. Wir alle wieviel treue Pflichterfüllung, wie vielfältige Ini- wissen, daß hier bei uns eine Vergangenheit nach- tiativen es gibt, um auf herkömmliche oder neu- klingt, die sich mit lebendiger Demokratie nicht artige Weise Notstände zu lindern, kleine und große verträgt. Hier liegt auch der Grund dafür, daß ich Probleme anzugehen, neue Möglichkeiten des Le- mich bemüht habe, die Erinnerungen an freiheitliche bens zu gestalten, zugleich auch, wie wach und mit Bewegungen in unserer Geschichte lebendig zu ma- sorgend öffentliche Angelegenheiten mitbedacht chen. Von daher auch meine Versuche, am steifen werden. Dies alles hat mich in der Gewißheit be- Protokoll einiges zu ändern. stärkt, daß freiheitliche Demokratie die menschen- würdigste Form von Staat und Gesellschaft ist. Nur Die vielen Bittschriften an den Bundespräsidenten in ihr kann sich so viel Eigenständiges und so viel als „Bundesklagemauer" deuten auf vielfältige Nöte Teilnahme an den Fragen des Gemeinwohls ent- und Bedrängnisse. Viel zu groß sind dabei freilich wickeln. Es hat mich in der Zuversicht bestärkt, daß die Erwartungen. Denn die Vollmachten dieses Am- die Demokratie nun endlich tiefe Wurzeln in un- tes sind sehr begrenzt und müssen in einem Rechts- serem Volke schlägt. Dies ist der sicherste Schutz, staat begrenzt bleiben. Ich bin froh, wenn es mit den ein demokratischer Staat haben kann. Hilfe des Bundespräsidialamtes in manchen Fällen Worum ging es mir? Die Bestimmungen des gelungen ist, die Maschinerie etwas beweglicher zu Grundgesetzes über die Aufgaben des Bundespräsi- machen und zu vermenschlichen. denten haben sich nach meiner Erfahrung bewährt. Den verschiedenen Randgruppen in unserer Ge- Nur was die Dauer der Amtszeit des Bundespräsi- sellschaft hat die besondere Aufmerksamkeit von denten anlangt, so frage ich, ob es nicht angebracht meiner Frau und mir gegolten. Die großen und an wäre, sie etwa auf sieben Jahre zu stellen, jeden- Zahl leider zunehmenden Gruppen der körperlich falls aber eine Wiederwahl auszuschließen. So und geistig Behinderten sind eine Aufgabe für uns wenig ich selbst angesichts meines Alters das Ver- alle, die über gesunde Glieder verfügen. Unsere so langen hätte, noch länger zu amtieren, so könnte sehr auf Leistung und Wettbewerb ausgerichtete eine etwas längere, aber dann nicht weiter verlän- Gesellschaft ist ja nur dann eine menschliche Ord- gerbare Amtszeit die Verwertung von Erfahrungen nung, wenn sie behinderten Minderheiten volle Ach- verbessern und vor allem allseitig eindeutige Ge- tung, volle Gemeinschaft und ein Höchstmaß an gebenheiten schaffen. Eingliederung gewährt. Die Pflichten des Amtes nach meinen Kräften zu Die ausländischen Arbeiter in unserer Mitte dür- erfüllen und seine Möglichkeiten auszuschöpfen, fen nicht Objekte der Ausbeutung sein. Sie müs- war mein Bestreben. Nach außen kam es darauf an, sen als Mitarbeiter gewertet werden, die mit uns die Verständigung zu unterstützen, die auf fried- Anspruch auf die Früchte gemeinsamer Arbeit ha- liche Beziehungen zu allen Staaten, sonderlich zu ben. den europäischen Nachbarn, zielt. Dabei konnten die In alledem ging es mir darum, einen Beitrag zu Belastungen, die durch das Unheil des National- leisten für ein Leben unserer Bürger in Frieden sozialismus, das über die Nachbarn und über uns und Freiheit, für die Verankerung der Demokratie, selbst gekommen ist, nicht ausgespart werden. Es für die Festigung und Humanisierung des Rechts- mußte darüber in Offenheit gesprochen werden, da- staates und für seine Entwicklung zu einer sozialen mit deutlich wurde, was wir daraus gelernt haben. Demokratie. Eben hierauf zielen auch meine Wün- Darum habe ich z. B. bei der ersten Auslandsreise sche für die Bundesrepublik Deutschland. in Amsterdam die Schowbourg, d. h. den Sammelort der holländischen Juden vor ihrem Abtransport in Oft und immer wieder habe ich auf die Schatten die Vernichtungslager, und bei deren letzten Aus- über dem heutigen Weg der Menschheit hingewie- landsreise in Belgien das Fort Breendonk, die Hin- sen: Hunger, Unterdrückungen, Rohstoffkrisen, Zer- richtungsstätte der belgischen Widerstandskämpfer, rüttung des Gefüges der Weltwirtschaft, Umwelt- besucht. Ich bin dankbar dafür, daß ich auf diese zerstörungen, Rüstungswettlauf, — um nur einige Weise helfen konnte, über das Geschehene hinweg Bedrängnisse zu nennen. Diese Schatten sind in den Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 7623 D. Dr. Dr. Gustav W. Heinemann letzten fünf Jahren nicht heller, eher noch dunk- Ich grüße alle Bürger unseres Staates und die ler geworden. Es kann uns nicht beruhigen, daß wir Bürger des anderen deutschen Staates mit dem noch so gut dran sind. Wie sollen Kinder und Enkel Wunsche einer friedlichen Zukunft. auf einer Erde leben können, die wir ausrauben und Meine Frau und ich grüßen Herrn Bundespräsi- zerstören? Das ist die Frage. denten Walter Scheel und seine Frau. Ich wünsche Mich erfüllen. Unruhe und Ungeduld über die Ihnen, Herr Bundespräsident, Kraft und Weisheit noch immer bei uns herrschende Kurzsichtigkeit. für das Amt, das nun Ihrer wartet. Vieles von dem, was wir treiben, worüber wir uns (Langanhaltender lebhafter Beifall.) streiten, müßte uns endlich klein erscheinen im Ver- hältnis zur Größe der Gefahr, die es abzuwenden gilt. Wer heute nur für sich selbst sorgen will, ver- Präsident Frau Renger: Meine Damen und spielt mit ,der Zukunft anderer auch die eigene. Das Herren, Sie haben dem scheidenden Bundespräsiden- richtet sich auch gegen Reformmüdigkeit, von der ten mit großem Beifall gedankt. heute oft gesprochen wird. Freilich, wir erfahren, Meine Damen und Herren, am 15. Mai dieses wie schwer Reformen durchzuführen sind. Aber es Jahres hat die Bundesversammlung Herrn Walter muß uns klar sein: in einer so schnell sich verän- Scheel zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik dernden Welt kann nur bewahren, wer zu ver- Deutschland gewählt. Vor den versammelten Mit- ändern bereit ist. Wer nicht verändern will, wird gliedern der Bundesversammlung hat er die Wahl auch das verlieren, was er bewahren möchte. angenommen und mit dem heutigen Tage das Amt Ich gebe zu, daß ich erst im Laufe der Jahre er- des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutsch- kannt habe, wieviel Vordergründiges auch mich land angetreten. vom Wesentlichen abgelenkt hat. Um so dringender Nach Artikel 56 unseres Grundgesetzes leistet der wünsche ich allen Verantwortlichen in den Parla- Bundespräsident bei seinem Amtsantritt vor den menten wie außerhalb der Parlamente, daß sie versammelten Mitgliedern des Bundestages und des näher zusammenrücken möchten und daß jede un- Bundesrates den in unserer Verfassung vorgeschrie- serer Regierungen, wie immer sie aussieht, Mut und benen Eid. Herr Bundespräsident, ich darf Sie bitten, Tatkraft finde, ohne Rücksicht auf Wählerstimmen zur offen auszusprechen, was vor uns steht und wie sie Eidesleistung dem begegnen will. Ist das ganze Haus bedroht, ver- zu mir heranzutreten. zankt sich die Familie nicht um Haushaltsgeld oder Küchenzettel. Sie wird sich im Not-Wendenden zu- (Die Anwesenden erheben sich.) sammenfinden. Herr Bundespräsident, ich überreiche Ihnen die So gilt es auch für uns heute, nüchtern, uner- Urschrift des Grundgesetzes für die Bundesrepublik schrocken und mit Weitblick unsere Arbeit auf die Deutschland und bitte Sie, den Eid zu sprechen. Zukunft auszurichten, mögen uns auch manchmal Gefühle der Ratlosigkeit oder der Ohnmacht an- Walter Scheel, Bundespräsident: Ich schwöre, fechten. Es ,gilt, ihnen zum Trotz die relative Utopie daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Vol- einer besseren Welt, von der ich in meiner An- kes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von trittsrede sprach, als Leitbild festzuhalten. ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des In einer Erörterung der Frage nach dem Sinn Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten unseres Lebens las ich kürzlich folgende Begeben- gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen heit: In der Mitte des vorigen Jahrhunderts tagte jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe. in einem Staat des nordamerikanischen Mittel- westens das Parlament dieses Staates. Und wie es Präsident Frau Renger: Meine Damen und dort manchmal vorkommt, zog ein fürchterliches Herren, ich stelle fest, daß der Herr Bundespräsident Unwetter herauf, ein Orkan, und verdunkelte den Walter Scheel den vorgeschriebenen Amtseid ge- Himmel. Es wurde schwarz wie die Nacht. Die Par- leistet hat. lamentarier wollten voll Entsetzen die Sitzung ab- Herr Bundespräsident, im Namen der hier ver- brechen und aus dem Sitzungssaal stürmen. Darauf sammelten Mitglieder des Bundestages und des sagte der Sprecher des Parlaments: „Meine Herren! Bundesrates spreche ich Ihnen die herzlichsten Entweder die Welt geht jetzt nicht unter, und unser Glückwünsche für Ihr hohes Amt aus. Herr kommt noch nicht — dann ist kein Grund vor- handen, die Sitzung abzubrechen. Oder unser Herr Herr Bundespräsident, ich darf Sie nunmehr bitten, kommt jetzt — dann soll er uns bei der Arbeit das Wort zu ergreifen. finden. Die Sitzung geht weiter!" Walter Scheel: Bundespräsident: Frau Präsi- (Heiterkeit und Beifall.) dent! Herr Bundesratspräsident! Meine sehr verehr- Mit solcher Gesinnung möchte ich selber, so- ten Damen und Herren! Der Eid, den ich soeben ab- lange Gott mir Kraft gibt, auf meine Weise an un- gelegt habe, ist mir ernste Verpflichtung. Mit Ehr- seren gemeinsamen Aufgaben weiterhinbeteiligt furcht vor der Aufgabe und mit Liebe zu unserem werden. Land will ich das Amt des Bundespräsidenten der Ich verabschiede mich von Ihnen allen mit herz- Bundesrepublik Deutschland ausfüllen. lichen Wünschen für Ihre Arbeit und Ihr persön- Ihr freundliches Willkommen, Frau Präsident, zu- liches Ergehen. gleich im Namen meiner Kollegen — ich muß wohl 7624 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 Bundespräsident Walter Scheel sagen: meiner ehemaligen Kollegen — des Deut- innerem Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand schen Bundestages, ermutigt mich. ist weit verbreitet. Millionen Deutsche kennen heute Ich wäre nicht aufrichtig, wollte ich in dieser Lebenschancen, von denen ihre Eltern nur träumen Stunde verschweigen, daß mir der Abschied aus die- konnten. sem Hause schwerfällt. 21 Jahre hatte ich die Ehre, Und dennoch: Wenn wir uns bei uns und in der mitten unter Ihnen die Interessen meiner Wähler, Welt umsehen, entdecken wir Probleme von neuen, die Interessen unseres Volkes zu vertreten. Hier nie gekannten Dimensionen. Die technisch-wirtschaft- habe ich mein politisches Rüstzeug erhalten. Der liche Entwicklung hat uns an die Grenzen des Mög- Bundespräsident der nächsten fünf Jahre ist ein lichen geführt und die Grenze des Vernünftigen an Parlamentarier mit Leib und Seele. manchen Stellen bereits überschritten. Immer schwer- wiegender wird die Gefährdung des Ganzen durch Aber diese Jahrzehnte der Zusammenarbeit mit einseitige Expansion einzelner Zweige. Wirtschaft- Ihnen haben auch viele menschliche Bindungen über licher Wohlstand kann in Raubbau umschlagen, der die Parteigrenzen hinweg wachsen lassen. Die ver- die Lebensgrundlage kommender Generationen ge- ehrten Kollegen mögen mir verzeihen, wenn ich hier fährdet. Wir dürfen an einer solchen Entwicklung nur einen Namen nenne. Ich meine den Mann, des- nicht mitschuldig werden. sen Stellvertreter im Amt des Bundeskanzlers ich in den letzten viereinhalb Jahren gewesen bin; ich Die weltwirtschaftliche Lage hat sich im letzten meine . Jahr in erdbebenartigen Schockwellen nachhaltig verändert. Die abrupten Verschiebungen in den Fünf Jahre Regierungszusammenarbeit mit der ohnedies gestörten Zahlungsbilanzen und die daraus CDU/CSU, viereinhalb Jahre in Koalition mit der resultierenden Gefahren für die internationale Han- SPD und — nicht zu vergessen — fünfeinhalb Jahre dels- und Währungsordnung sind dabei nur die eine Vorsitzender der FDP: das wird die parteipolitische Seite der Medaille; die andere Seite ist die mit Neutralität des Bundespräsidenten zu dem werden dieser globalen Umverteilung von Einkommen ver- lassen, was sie sein soll: eine Bindung, die nicht änderte weltpolitische Konstellation. Wir sehen, daß Ferne, sondern Nähe zu allen schafft. es jetzt innerhalb der Entwicklungsländer eine neue Sie, verehrter Herr Heinemann, haben uns Gruppe der plötzlich reichen Erdöl- und Rohstoff- in den vergangenen fünf Jahren immer wieder auf- länder gibt, und wir müssen erkennen, daß immer gefordert, ein natürliches, entspanntes Verhältnis mehr Länder — reich geworden oder arm geblieben zum Staat und zu seinen Institutionen zu finden. — einen grundlegenden Wandel der weltwirtschaft- Noch vor wenigen Tagen, am 25. Jahrestag des lichen und weltpolitischen Ordnung anstreben. Welt- Grundgesetzes, haben Sie uns bleibende Wertungen wirtschaft und Weltpolitik bleiben nicht ohne Folge und Mahnungen auf den Weg gegeben. Wir alle sind für Europa und für die Bundesrepublik in Europa. Ihnen dankbar dafür. Der Dank für Ihr Werk schließt Einem Land, das der Leistung seiner Bürger, aber die bedeutende Leistung Ihrer Gattin mit ein. Auf auch der Gunst mancher Umstände, eine vergleichs- dem, was Sie, Herr Heinemann, und die ersten bei- weise starke und widerstandsfähige Volkswirtschaft den Bundespräsidenten, Theodor Heuss und Hein- verdankt, kommt in der neuen Lage in der Welt rich Lübke, an ausgewogenem Staatsbewußtsein in eine besondere Verantwortung zu. diesem Lande geschaffen und gefördert haben, kann Wenn es uns bei den wirtschaftlichen Problemen ich weiterbauen. von morgen mit all ihren weltweiten Abhängigkeiten Nichts charakterisiert die Entwicklung der letzten nicht gelingt, die wirtschaftspolitische Diskussion Jahre augenfälliger als das Verhalten der jungen über die Anwendung der geeigneten Mittel in die- Menschen diesem Staat gegenüber. Am Ende der sem Lande zu versachlichen, werden wir die schwe- sechziger Jahre demonstrierten viele — und nicht ren Zeiten, denen wir entgegengehen, sicherlich nicht nur Studenten — gegen den Staat. Heute gehen bewältigen. viele auf die Straße, um den 25. Jahrestag des Im Zentrum der wirtschaftlichen und politischen Grundgesetzes zu feiern. Auseinandersetzungen in unserem Lande steht der Wir alle brauchen diesen Staat. Groß sind die Lei- Ruf nach Stabilität. Das ist gut und richtig so. Innerer stungen der letzten 25 Jahre; noch größer sind die Friede und sozialer Fortschritt können auf Dauer Probleme, die vor uns liegen. Eine neue Generation nur auf der Grundlage einer stabilen Währung ge- ist herangewachsen. Sie geht in ihren Erwartungen deihen. Stabilität ist aber mehr als Preisstabilität. von dem aus, was heute ihre Lebenswirklichkeit ist. Eine Volkswirtschaft kann auch bei geringen Preis- Sie hat nicht in die Abgründe der deutschen Ge- steigerungen unausgeglichen sein. Wir müssen die schichte geschaut, und vielen sagen ihre Höhepunkte Ausgewogenheit aller wirtschaftlichen Daten im nichts. Auge behalten — nicht zuletzt unser Verhältnis zu unseren Partnern auf den Weltmärkten. Maßgebend Wir leben in einem Gemeinwesen, das selbst in für die innere und äußere Stärke eines Staates ist vielerlei Hinsicht ein solcher Höhepunkt ist. Sozialer letztlich seine wirtschaftliche und politische Stabili- Ausgleich und sozialer Friede sind Wirklichkeit. tät. Beide sind untrennbar miteinander verbunden. Wissenschaft und Kunst können sich mit den Lei- stungen anderer Völker messen. Die großen Frei- Es gibt neue Aufgaben. Die Menschen suchen ein heiten der Meinungsäußerung, der politischen Betä- neues Gleichgewicht. Dabei blicken sie auf den tigung, der individuellen Entfaltung sind unbestrit- Staat. Er soll all das garantieren, was wir heute be- ten. Die Einsicht in den Zusammenhang von Freiheit, sitzen; er soll all das von uns fernhalten, was unser Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 7625 Bundespräsident Walter Scheel Wohlbefinden beeinträchtigen könnte. Den Staat, Einer solchen Ordnung der Toleranz, des Ver- der dies zu leisten vemöchte, gibt es nicht. Aber ständnisses und des Ausgleichs haben die Väter des wir haben schon einmal, gleich nach dem Kriege, Grundgesetzes den staatlichen Rahmen gegeben. vor Bergen von Schwierigkeiten gestanden. Auch Nur eine solche Ordnung ermöglicht Gerechtigkeit wenn die neuen Fragen in mancher Hinsicht anders und auch Freiheit unter den Menschen. Denn Frei- sind, ist es nützlich, sich darauf zu besinnen, wie heit muß auch für den Schwachen gewährleistet sein. wir damals damit fertig geworden sind. Den geisti- Wer eine freiheitliche Demokratie will, muß d e n gen und moralischen Kräften, die unser Volk aus Staat wollen, in dem sie sich allein verwirklicht. dem Chaos geführt haben, dürfen wir auch heute Wir verstehen uns zu Recht als ein pluralistisches vertrauen. Staatswesen. Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Ich denke vor allem an zwei Dinge: Als der deut- Organisationen und Gruppen bringen dem Staat sche Arbeiter, statt am schwarzen Markt zu han- gegenüber ihre Interessen zur Geltung. Das ist gut deln, für wertloses Geld seinen Betrieb wiederauf- so. Darin darf sich der Pluralismus aber nicht er- gebaut hat, als der deutsche Unternehmer jede ver- schöpfen. Die Würdigung der allgemeinen Zusam- diente Mark in seinen Betrieb steckte und sich selbst menhänge und die Suche nach übergeordneten Lö- mit einem bescheidenen Lebensstandard begnügte, sungen, die dem Gesamtinteresse dienen, müssen sind sozialer Friede und soziale Partnerschaft bei die Vertretung der Partikularinteressen bestimmen. uns begründet worden. Auch von daher rührt der Wer diesen Grundsatz mißachtet, richtet den frei- moralische Anspruch der Arbeitnehmer auf ein Mit- heitlichen Staat mit seiner inneren Vielfalt zu- wirkungs- und Mitbestimmungsrecht. Ein Recht, wie grunde. Verzichten wir also in der Wirtschaft wie es alle im Bundestag vertretenen Parteien in der in der Politik auf demagogische Bekundungen! Ge- einen oder anderen Form gesetzlich verankern wol- hen wir mit Solidarität und in Freiheit an die Lösung len. der Probleme! Diese aus der Erfahrung gewachsene Bereitschaft Aus dem allen ergibt sich für uns die große Lehre: der Sozialpartner zur Zusammenarbeit ist unser Miteinander, nicht gegeneinander! Und: Der freie wichtigstes Kapital, um die Zukunft zu meistern. Wille des Einzelnen ist entscheidend. Also: Solidari- Ich setze mein volles Vertrauen in die Vernunft tät und Freiheit. Ich vertraue auf die Einsicht der der deutschen Arbeiter und Unternehmer und in Verantwortlichen in diesem Lande. Was ich als die Bereitschaft aller Menschen unseres Landes, den Bundespräsident dazu beitragen kann, durch Ge- neuen Problemen unserer Zeit mit derselben Soli- spräch und Begegnung mehr staatsbürgerliche Ge- darität zu begegnen, die uns geholfen hat, bei aller meinsamkeit wachsen zu lassen und die Entfaltung Gegensätzlichkeit Gemeinsames zu schaffen. des Einzelnen zu fördern, das soll geschehen. Es gibt aber noch eine zweite Kraft und Erfah- Es war immer die Verbindung von Bürgerfleiß rung. In der Bundesrepublik hat die parlamenta- und schöpferischer Leistung, die unser Land ausge- rische Demokratie zum erstenmal in der deutschen zeichnet hat. Auch heute leistet die Bundesrepublik Geschichte die Probe bestanden. Ich glaube an die Deutschland einen stolzen Beitrag zur kulturellen Weisheit und Wirksamkeit der freiheitlichen Insti- Entwicklung Europas und der Welt. Die Vertreter tutionen und demokratischen Spielregeln. Man muß der Wissenschaften und der Künste haben einen sie nur beachten. Durch sie werden wir auch in Anspruch auf Mitsprache. Lassen wir es nicht zu, daß Zukunft den richtigen Weg finden. Das setzt aller- manche deutsche Leistung im Ausland besser be- dings voraus, daß wir in der Ordnung unserer kannt ist als bei uns! sozialen und wirtschaftlichen Dinge den Grundsatz beherzigen, der zusammen mit der Solidarität der Die Partnerschaft von Kapital und Arbeit und der Menschen uns vorwärts gebracht hat: Wir wollen Pluralismus im geistigen Leben sind zwei Säulen den einzelnen Menschen ermutigen, seine Möglich- unserer ausgeglichenen Gesellschaft. Das Zusam- keiten selbst zu suchen, seine Möglichkeiten selbst menwirken von Bund und Ländern ist die dritte. zu entfalten und sie einzubringen in das Ganze des Kurzfristige Interessen sollten uns nicht den Blick Gemeinsamen. Nur die persönliche Freiheit vermag verbauen für die historische Leistung des födera- die schöpferischen Kräfte freizusetzen, die wir in listischen Gedankens in Deutschland. 1945 haben den vor uns liegenden Jahren so sehr benötigen. Es wir in den Gemeinden nicht gewartet und nicht kommt auf den einzelnen an, auf seine Initiative, warten können, bis eine Zentralregierung das Zei- seine Mitwirkung, seine Entfaltung. chen zum Wiederaufbau gab. Lebensmut und Le- Unsere demokratische Ordnung ist kein totes Or- bensfähigkeit der kleineren Gebietseinheiten waren ganisationsprinzip mechanischer Kräfte. Sie regelt unzerstört. So haben wir uns da, wo wir standen, an einen lebendigen Organismus, in dem Spannungen die Arbeit gemacht. Das war angewandter Födera- und Konflikte entstehen und ausgetragen werden. lismus, und nur als Bundesstaat konnte unser Vater- Der Grad der Menschlickkeit in solchen Ausein- land sich neu erheben. andersetzungen wird durch die Toleranz bestimmt, Aber auch heute, da die angestammte und festge- mit der wir dem anderen und dem anders Denken- wurzelte Eigenständigkeit der lokalen menschlichen den begegnen. Gemeinschaften immer mehr von den ausgreifenden Die Kirchen haben sich beim Aufbau unserer Ge- Organisationsformen und den globalen Interessen sellschaft nach dem Kriege als wirkende Kraft be- von Wirtschaft und Technik verdrängt wird, bleiben währt. Sie haben durch ihr Verhältnis zueinander Gemeinde, Kreise und Länder unersetzliche Ent- das Bewußtsein für den Wert der Toleranz gestärkt. scheidungszentren und Zwischenglieder, die das 7626 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974

Bundespräsident Walter Scheel Ganze erst lebendig werden lassen. Der demokra- Lage geschaffen hat, die uns einerseits praktische tische Wille zur Selbstbehauptung in alten, gewach- Erleichterungen bringt, andererseits aber den Zu- senen Ordnungen darf im Bestreben nach durchaus stand der Teilung noch deutlicher macht. Wenn der erwünschter Rationalisierung nicht durch unnötige Bundespräsident Berlin besucht, so tut er es, um Übertreibungen untergraben werden. jene Bindungen zu entwickeln, von denen das Ab- Ich bekenne mich zum ausgewogenen Föderalis- kommen spricht. mus. Er läßt sich nicht für eigensüchtige Zwecke miß- Alle diese Gedanken und Ziele würden im Winde brauchen. Eigenständiges und aktives Glied zu sein verwehen, wenn es nicht gelänge, unsere Jugend für das große Ganze, das ist der tiefste Sinn des dafür zu gewinnen. Es bleibt eine Schicksalsfrage, Föderalismus. Mehr denn je gilt für das Verhältnis ob sich die Jugend die Erfahrung der Älteren zu- von Bund und Ländern: Miteinander, nicht gegen- nutze macht. Wenn die Aufbauarbeit eines Vier- einander! teljahrhunderts, wenn die Politik dieses Landes Wir Deutschen hatten es immer ein wenig schwer, einen bleibenden Sinn haben soll, dann kann es nur zur äußeren Umwelt das rechte Verhältnis zu fin- der sein, unseren Kindern die Irrtümer und Fehler, den. Weltbürgertum und Verbrüderung sind immer die wir Älteren gemacht, erlebt und erlitten haben, wieder von Mißtrauen und Abkapselung abgelöst zu ersparen. Denn wer aus der Geschichte nicht ler- worden. nen will, muß sie wiederholen. Ein ausgewogenes Verhältnis zur Umwelt wird So laßt uns denn gemeinsam diese entscheidende noch schwieriger, wenn staatliche Macht und wirt- Aufgabe anpacken. Laßt uns immer und immer wie- schaftliche Leistungsfähigkeit auseinanderklaffen. der fragen, ob wir bei alldem, was wir tun, an die Während wir handelspolitisch in weltweiten Maß- Zukunft unserer Jugend denken. Laßt uns die Mau- stäben denken, gibt es in unserer Politik die Gefahr ern des Mißverständnisses und der Vorurteile nie- provinzieller Genügsamkeit. Wenn wir nur noch das derreißen. Wenn es uns nicht gelingt, die Verant- für wichtig halten, was bei uns geschieht, werden wortung rechtzeitig auf die junge Generation zu wir bald für niemanden mehr wichtig sein. übertragen, dann war alle Arbeit umsonst. Der Patriot dieses Jahrhunderts, in dem Millionen Aber auch die Jugend hat ihren eigenen und be- auf der Suche nach neuen Vaterländern zu Welt- sonderen Beitrag zur Lösung der gemeinsamen Auf- bürgern wurden, ist nicht der Gegenpart des Welt- gaben zu leisten. Ich sehe diesen vor allem darin, bürgers. Im Gegenteil, Patriotismus, der aus der To- daß die jungen Menschen ihren Sinn für die mora- leranz wächst, und Weltbürgertum schließen einan- lische Qualität des politischen Handelns zum Maß- der nicht aus — sie bedingen sich. stab des Urteils machen. In der Tat besteht ja ein Es gilt, unsere Aufmerksamkeit und unser Gewis- Staatswesen nicht um seiner selbst oder um einer sen zu schärfen für das, was in der Welt geschieht. abstrakten Leistungsfähigkeit willen, sondern um Hunger, Krankheit und Armut sind weiter verbrei- den Menschen ein reicheres, befriedigendes Leben tet denn je. Ich meine, das gesunde Eigeninteresse zu ermöglichen. Das kann der Staat nur tun, wenn müßte uns vor dem Versuch bewahren, eine Insel seine Träger an sich und ihr Handeln die höchsten von Privilegierten zu sein in einem Meer von Ar- Maßstäbe anlegen. Wohl dem Gemeinwesen, dem mut. Solidarität endet nicht an Staatsgrenzen. es gelingt, die Erfahrungen der Älteren zu verbin- den mit dem Sinn der Jüngeren für Recht und Un- Die Teilung Deutschlands hat dies alles nicht ein- recht. facher gemacht. Der Bundespräsident ist ein Staats- Die Vereidigung eines neuen Bundespräsidenten oberhaupt in Deutschland. Über das „Provisorium" ist nur ein Pulsschlag im Leben unseres Volkes. Wir ist viel Falsches gedacht und gesagt worden. Ein wissen nicht, was die Zukunft für uns bereithält. Vierteljahrhundert hat manches geklärt. Aber wir wissen, was uns Kraft gibt: die Lehren Aber eines ist nicht provisorisch: Die politischen aus unserer Geschichte, das Bild unserer Zukunft Kräfte in diesem Lande werden auch in Zukunft und die ungebrochene Schaffenskraft unseres Vol- nicht darauf verzichten, einen Zustand des Friedens kes. in Europa anzustreben, in dem das deutsche Volk Unser Weg führt uns zu einem Deutschland, das auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes seinen Platz in der Welt als Teil Europas einnimmt. seine Einheit wiedererlangt. Ein vereintes Europa wird der Welt ein Beispiel (Beifall.) geben: Ein Beispiel des friedlichen Zusammenwir- kens der Völker, ein Beispiel der Solidarität und Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, brauchen Gerechtigkeit, ein Beispiel der Freiheit, ja auch ein wir die Bundesrepublik Deutschland als Staat im Beispiel der Macht ohne Anmaßung. vollen Sinne des Wortes. Wenn auch die Verwirk- lichung des Selbstbestimmungsrechtes in histori- So verstehe ich auch die Worte des Amtseides, schen Dimensionen gedacht werden muß, so brau- den ich vor Ihnen geleistet habe. Das Wohl des chen wir dafür doch ein auf Dauer angelegtes In- deutschen Volkes, seinen Nutzen zu mehren, Scha- strument. Dies ist unser Staat, die Bundesrepublik den von ihm abzuwenden — das ist nicht wenig! Deutschland. Meine Kraft ist gering, wenn nicht die Hilfe der Bür- ger hinzukommt. In wenigen Tagen werde ich Berlin besuchen. Ich tue dies nicht im Geiste einer Demonstration. Ich Das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes weiß, daß das Viermächte-Berlin-Abkommen eine werden uns den rechten Weg weisen. Laßt uns alle Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 7627

Bundespräsident Walter Scheel unsere Pflichten erfüllen und gegen jedermann Ge- der großen Gruppen unseres Volkes steht diesem rechtigkeit üben. Staat teilnahmslos oder gar ablehnend gegenüber. Diese positive Entwicklung darf nicht durch eine Damit unser Volk ohne Furcht in die Zukunft Verschärfung der politischen Auseinandersetzung blicken kann, möge uns allen Gott helfen. aufs Spiel igesetzt werden. An dieser Forderung (Anhaltender lebhafter Beifall.) müssen wir uns alle messen lassen. Eine weitere ge- genseitige Entfremdung der politischen Kräfte Präsident Frau Renger: Ich danke Ihnen, Herr würde gemeinsame politische Aktionen noch mehr Bundespräsident. Ich erteile nunmehr dem Herrn erschweren. Präsidenten des Bundesrates das Wort. Es ist ein Merkmal unserer Industriegesellschaft, daß der einzelne immer stärker hinter Organisatio- Präsident Dr. Filbinger: Herr Bundespräsi- nen und Verbänden zurücktritt. Die gesellschaft- dent! Verehrter Herr Dr. Heinemann! Frau Präsi- lichen Gruppierungen haben in der Tat eine wichtige dent! Meine Damen und Herren! Der Mann, der das und gestaltende Aufgabe. Sie sind in einer immer höchste Amt in diesem Staat fünf Jahre hindurch komplizierter werdenden Welt Sprachrohr und An- innehatte, ist wieder Bürger 'wie jeder andere in walt unzähliger Bürger, die auf sich allein gestellt dieser Republik. Er 'hat dem Wohle des deutschen ihre persönlichen Anliegen und ihre legitimen Be- Volkes seine Kraft gewidmet, wie er geschworen dürfnisse weniger deutlich in das politische Ge- hatte. schehen einbringen können. Gustav Heinemann gebührt Dank. Ihm gebührt Die Kehrseite dieser Entwicklung ist freilich nicht die nachdrückliche Anerkennung aller, die zu die- zu übersehen. Die organisierten Interessen gewin- sem Staat und zu seiner Verfassung stehen. Diesen nen mehr und mehr an Einfluß und Macht. Sie sind Dank und diese Anerkennung hier auszusprechen, aber von der Verfassung her nicht auf das Gemein- ist dem Präsidenten des Bundesrates vornehmste wohl aller Bürger verpflichtet. Die Verantwortung Pflicht. für die Gesamtheit trägt allein der Staat, und nie- Dem neuen Staatsoberhaupt der Bundesrepublik mand kann ihn hieraus entlassen. Um die persön- Deutschland ziemt unsere Reverenz. Sie, Herr Prä- liche Freiheit zu sichern, brauchen wir daher heute sident Scheel, haben ein verantwortungsvolles Amt mehr denn je einen kraftvollen demokratischen übernommen. In dieser Stunde Ihrer Vereidigung Staat. Er muß die verschiedenartigen Interessen und versichern Sie alle Demokraten in diesem Lande Bedürfnisse zusammenfassen und den notwendigen ihrer Unterstützung und ihrer Solidarität. Ausgleich herbeiführen. Nur der Staat gibt den ord- nenden Rahmen und garantiert die unerläßlichen Wir haben vorhin vieles über die Bedeutung und Spielregeln für unser Zusammenleben. die Aufgaben des höchsten Amtes in unserem Staate gehört. Lassen Sie mich einen Aspekt noch- Diesen Staat mit seiner freiheitlichen Rechtsord- mals hervorheben, der mir besonders wichtig er- nung gilt es daher zu schützen und zu stärken, nicht scheint. allein in Parlamentsreden und Feierstunden, son- dern dort, wo seine Grundordnung angegriffen wird. Das Grundgesetz hat in bewußter Abkehr von der Hier darf es keine Halbherzigkeit, hier darf es nur Weimarer Reichsverfassung das Amt des Bundes- die geschlossene Solidarität aller Demokraten geben. präsidenten von der Ausübung der politischen Ohne die lebendige Kraft des Staates und ohne ein Macht getrennt. Es hat ihm nicht jene außerge- entsprechendes demokratisches Staatsgefühl der wöhnlichen Vollmachten gegeben, welche den vom Bürger gibt es keine Freiheit und keinen wirklichen Volk gewählten Reichspräsidenten nahezu zwangs- Fortschritt. läufig in das Kräftespiel der politischen Gruppie- rungen hineingezogen haben. Der Bundespräsident Sie, verehrter Herr Dr. Heinemann, haben die Ge- steht über den Gewalten im Staat. Er kann deshalb samtheit der Interessen, das Ganze des Gemein- — über parteipolitische und sonst trennende Gegen- wesens in hervorragender Weise repräsentiert. Sie sätze hinweg — als unabhängige Instanz inmitten haben den Kontakt und den Meinungsaustausch mit der politischen Strömungen Brücken schlagen und allen unseren Mitbürgern, zumal mit der Jugend, ausgleichend wirken, aber auch Impulse geben und gesucht und gefunden. Es ist Ihnen in der Tat gelun- manche Dinge anstoßen. Es war ein Glück für uns gen, den Staat den Bürgern näher zu bringen. Das alle, daß Sie, verehrter Herr Dr. Heinemann, diese Vertrauen, das Sie während Ihrer Präsidentschaft er- integrierende Mittlerrolle des Präsidentenamtes worben haben, kommt uns allen zugute. Denn ein — wie Ihre Vorgänger — bejaht und während Ihrer Gemeinwesen kann nur Leben entfalten und zu sich Amtszeit mit Leben 'erfüllt haben. selber finden, wenn es vom Vertrauen seiner Bür- ger getragen wird. Erst aus dem Vertrauen erwach- Die verbindende Kraft und persönliche Auto- sen Gemeinschaftssinn und Frieden nach innen. rität des Staatsoberhauptes ist für das Gedeihen des Staates vor allem dort unentbehrlich, wo es um den Ich bin überzeugt, daß auch der föderative Aufbau Abbau der Polarisierung im politischen Raum geht. unseres Staates den gegenseitigen Konsens der Bür- Unsere freiheitliche Demokratie lebt aus der Soli- ger und ihren Gemeinschaftssinn stärkt. Das bundes- darität und von der Toleranz der Demokraten. Zum staatliche System — das können wir wohl mit Fug erstenmal in der Geschichte der deutschen Demo- und Recht sagen — hat sich insgesamt bewährt. Wir kratie haben wir erreicht, daß 97 % der Bürger in begreifen ja Föderalismus nicht negativ als partiku- Wahlen für demokratische Parteien stimmen. Keine lare Zersplitterung, sondern positiv als eine Ord- 7628 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 Präsident Dr. Filbinger nung, welche die regionalen Kräfte mobilisiert, das einer vorgefundenen Ordnung bewahrt und welche Engagement der Bürger stärkt und das politische als überholt oder hinderlich umgeformt oder auf- Handeln lebensnah gestaltet. Gerade in unserer gegeben werden müssen. Das ist ein ungemein Zeit, in der die Abhängigkeit des einzelnen im Ge- schwieriges Unterfangen. Viel einfacher wäre es da, flecht sozialer und wirtschaftlicher Zwänge ständig in revolutionärem Rigorismus die bestehenden zunimmt, wird der demokratische Wert einer bun- Strukturen allesamt einzureißen, alle Wertvorstel- desstaatlichen Verfassungsordnung spürbar. Es lungen über Bord zu werfen. nimmt uns deshalb nicht wunder, daß die Anzie- Nun sind aber Freiheit und Selbstverwirklichung, hungskraft des föderativen Systems mehr und mehr Achtung vor dem Leben und der Würde des Men- wächst, wie uns ja der Blick auf manche unserer schen, Ehe und Familie für uns unverzichtbare Be- Nachbarstaaten zeigt. So sehe ich auch in den unter- standteile eines menschenwürdigen Zusammen- schiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundes- lebens, und das müssen sie auch bleiben. Das gilt rat kein Unheil, sondern einen Normalfall in einem auch für das Leistungsprinzip, das Tragen von Ver- Bundesstaat, eine Situation, der sich die demokrati- antwortung sowie für die Bereitschaft zur Pflicht- schen Kräfte verantwortungsbewußt stellen müssen. erfüllung und zum Verzicht. Wenn wir den Men- Der Bundesrat hat sich in der Vergangenheit als schen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der verantwortungsvolles Gesetzgebungsorgan erwie- Reformen stellen wollen, können wir diese Werte sen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eines nicht beiseite lassen. Sie müssen vielmehr sozial erwähnen: Seit 1969 und bis auf den heutigen Tag eingebunden und für eine humane Gesellschaft ist noch kein einziges Bundesgesetz am Bundesrat fruchtbar gemacht werden. gescheitert, und zwar nicht zuletzt dank der Arbeit Meine Damen und Herren, allein die freiheitliche des Vermittlungsausschusses. Ich würde es daher Demokratie ermöglicht den notwendigen Wandel sehr begrüßen, wenn auch der neue Bundespräsident auch den Wechsel der staatlichen Macht — ohne Ge- — gewählt aus Bund u n d Ländern — seine ausglei- walt. Was bleiben muß, ist unsere Verfassungsord- chende Vermittlerrolle darauf richtet, Verständnis nung. Sie bildet die gemeinsame Grundlage für das für Arbeit und Funktion des Bundesrates zu wecken. politische Handeln. Sie enthält die Wertordnung, an Meine Damen und Herren, wir können heute in der sich dieses Handeln auszurichten hat. Aufgabe Teilen unserer Gesellschaft eine große Ungeduld des Bundespräsidenten wird es weiterhin sein, die feststellen. Verbesserungen und Veränderungen sol- Werte der Verfassung im Bewußtsein der Bürger len möglichst sofort und möglichst weitgehend her- lebendig zu halten, auf das sie fortwährend ver- beigeführt werden. Nicht selten gerät in Vergessen- wirklicht werden. heit, daß nur Ausdauer und zähe, oft mühevolle Ich bin überzeugt, daß auch Sie, Herr Bundes- Arbeit zum Erfolg führen. Viele sehen im übrigen präsident Scheel, dies als eine wichtige Aufgabe des nicht, daß die Mittel immer begrenzter werden. Präsidenten dieser Republik ansehen. Ihre reiche So ist auch der Blick auf das, was wir in 25 Jahren politische Erfahrung hat Sie die Verantwortung er- Aufbauarbeit erreicht haben, durch den Nebel einer kennen lassen, die Sie für diesen Staat tragen. Diese Inflation der Wünsche verdunkelt worden. Das Wort Erfahrung wird Ihnen sicher helfen, die vielfältigen Reform ist dabei in Mißkredit geraten. Eine Rück- Aufgaben Ihres neuen Amtes zu bewältigen und da- besinnung auf das politisch und wirtschaftlich Mög- bei auch das politische Klima in unserem Lande liche tut Not. Dabei dürfen wir freilich nicht stehen- günstig zu gestalten. bleiben. Es wäre gefährlich, in eine Reformmüdig- In Ihrem schwierigen Amte wünschen Ihnen alle, keit zu verfallen, auf die Diskussion von Grund- die zu diesem Staate stehen, Kraft und Erfolg zum sätzen und Leitbildern zu verzichten. Ohne den Wohle unserer Demokratie, zum Wohle der Bürger freien Wettstreit der überzeugenden Ziele und Pro- der Bundesrepublik Deutschland. gramme würden wir bald einen Stau vorfinden, der gewaltsam nach Entladung drängt. Wir brauchen (Lebhafter Beifall.) Reformen, wir wollen Reformen. Nur müssen wir uns darüber klar sein, daß Re- Präsident Frau Renger: Ich danke dem Herrn form nicht heißen kann: Ablehnung alles Gegebenen. Präsidenten des Bundesrates. Es ist das große Verdienst der modernen Natur- Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit wissenschaften, namentlich der Verhaltensforschung, ist die gemeinsame Sitzung des Bundestages und des uns die Augen für den Wert und die Notwendigkeit Bundesrates geschlossen. von Erfahrung und Tradition wieder geöffnet zu haben. Es geht um die Prüfung, welche Elemente (Schluß der Sitzung: 11.23 Uhr.) Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode - 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 7629*

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage Abgeordnete (r) entschuldigt bis einschließlich

Liste der entschuldigten Abgeordneten Katzer 2. 7. Dr. Kempfler ** 4. 7. 2. 7. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Kiep Kleinert 2. 7. Alber ** 4. 7. Dr. Kliesing ** 4. 7. Dr. Artzinger * 4. 7. Lagershausen ** 4. 7. Behrendt 5. 7. Lautenschlager * 5. 7. Frau Benedix 2. 7. Lemmrich** 4. 7. Dr. Dr. h. c. Birrenbach 5. 7. Dr. Lohmar 5. 7. Dr. Blüm 5. 7. Lücker * 4. 7. Büchner (Speyer) ** 3. 7. Memmel * 5. 7. Dr. Burgbacher * 1. 7. Müller (Mülheim) * 7. 7. Dr. Corterier * 5. 7. Dr. Müller (München) ** 4. 7. Entrup 5. 7. Frau Dr. Orth * 5. 7. Flämig * 5. 7. Rainer 1. 7. Dr. Freiwald 5. 7. Richter ** 4. 7. Gewandt 2. 7. Ronneburger 5. 7. Dr. Gradl 2. 7. Schedl 1. 7. Grüner 1. 7. Schmidt (München) * 5. 7. Dr. Haenschke 5. 7. Schmidt (Wattenscheid) 5. 7. Herold 5. 7. Schmidt (Würgendorf) 5. 7. Frau Hürland 2. 7. Sieglerschmidt ** 3. 7. Jäger (Wangen) 5. 7. Springorum * 2. 7. Dr. Jahn (Braunschweig) * 3. 7. Dr. Starke (Franken) 1. 7. Kahn-Ackermann ** 4. 7. Dr. Vohrer ** 4. 7. Kater * 4. 7. Walkhoff * 2. 7. Frau Dr. Walz * 2. 7. Wendig 2. 7. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Par- Dr. laments Wienand 5. 7. ** Für die Teilnahme an Sitzungen der Beratenden Ver- Wilhelm 15. 7. sammlung des Europarates von Wrangel 2. 7.