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Die . Hintergründe und Hauptelemente neurechten Denkens Haas, Julia; Schmincke, Imke; Salzborn, Samuel et al. (2020)

DOI (TUprints): https://doi.org/10.25534/tuprints-00012853

Lizenz:

CC-BY 4.0 International - Creative Commons, Namensnennung Publikationstyp: Buch Fachbereich: Zentrale Einrichtungen Quelle des Originals: https://tuprints.ulb.tu-darmstadt.de/12853 DIE NEUE RECHTE HINTERGRÜNDE UND HAUPTELEMENTE NEURECHTEN DENKENS mit Beiträgen von

LEO ROEPERT

JULIA HAAS

IMKE SCHMINCKE

SAMUEL SALZBORN

THOMAS WAGNER Zitiervorschlag: [Autor*in] 2020, [Titel des Beitrags]. In: Engel, Daniel / Lanza, Adriana / Meier-Arendt, David (Hg.) Die Neue Rechte. Hintergründe und Hauptelemente neurechten Denkens. Darmstadt: TU Prints. [70 Seiten] DIE NEUE RECHTE Inhalt

08 Vorwort Die Herausgeber*innen Hauptsache Nebensache? Rassismus als Gegenstand 09 der Populismus-Debatte LEO ROEPERT

Die "Neue Rechte" im bundesdeutschen 21 Rechtsextremismus SAMUEL SALZBORN

Der facettenreiche Antifeminismus der Neuen Rechten - Zwischen klassischem Antifeminismus 31 und der Instrumentalisise- JULIA HAAS rung feministischer Politiken

Sex, Gender und Vielfalt als Gefahr für Familie und Gesellschaft? IMKE SCHMINCKE 45 Aktuelle Angriffe und Kulturkämpfe des Rechtspopulismus

Die Neue Rechte und die THOMAS WAGNER 57 Kunst der Provokation

4 Herausgegeben von Daniel Engel, Adriana Lanza, David Meier-Arendt

Spätestens seit der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2017 überschlagen sich die Publikationen, welche mit immer neuen Ansätzen und Thesen zu jenem Phänomen aufwarten, über dessen Bezeichnung immer noch heftig gestritten wird. Die Debatten drehen sich dabei um die Frage, unter welche der vorhandenen oder unter welche neuen begrifflichen Konzepte dieses Phänomen zu sub- sumieren ist. Handelt es sich um eine parteilich organi- sierte rechtspopulistische Bewegung? Oder ist die Partei selbst nur Ausdruck eines allgemeinen kulturellen Wan- dels in der Gesellschaft? Liegt die Ursache des Phäno- mens insgesamt primär in der Beschaffenheit gegenwär- tiger sozio-ökonomischen Strukturen im Neoliberalismus? Diese verhältnismäßig kleine Aufzählung zeigt bereits, wie unüberschaubar, verschränkt und kontrovers die Diskussion um die Benennung des Phänomens, das in diesem Band mit ‚Neue Rechte‘ betitelt wurde, und des- sen Ursachen ist. Die Kritik an der Begrifflichkeit ‚Neue Rechte‘ wird unter anderem auch Gegenstand einiger Beiträge dieses Readers sein. Der vorliegende Band möchte jedoch nicht vornehmlich ein Definitionsangebot für das Phänomen in die Debatte einbringen, sondern versammelt stattdessen unterschiedliche Beiträge in Form von inhaltlichen Auseinandersetzungen und Kont- roversen, die im Rahmen der Vorträge und Diskussionen der Reihe ‚Die Neue Rechte: Hintergründe und Hauptele- mente neurechten Denkens‘ entstanden sind. Was hier unter dem Begriff ‚Neue Rechte‘ subsumiert wurde, scheint eine Bewegung zu sein, die in vielen ge- sellschaftlichen Teilbereichen an Einfluss gewinnt. Die bereits erwähnte Frankfurter Buchmesse steht nicht nur für diesen Einfluss im Bereich der Publizistik und der Po- litik, vielmehr zeigt sich dort auch, dass diese Entwicklun- gen nicht isoliert voneinander stattfinden, sondern sich verschiedene ideologische Formationen miteinander

verschränken und gegenseitig ergänzen. VORWORT

77 Diese Entwicklungen lassen demnach keine isolierte Kri- tik zu, sondern verlangen eine Analyse und Darstellung der unterschiedlichen Facetten, Hintergründen und Hauptelementen dieser Bewegung. Um dies zu gewähr- leisten, beginnt der vorliegende Band mit einer kritischen Diskussion gegenwärtiger Ansätze und Perspektiven der Forschung zum Thema Populismus. Dazu beschreibt Leo Roepert Rassismus und Antisemitismus als ‚Blinden Fleck der Populismusforschung'. Liegt Roeperts Fokus auf der kritischen Rassismusforschung, liefert der an- schließende Beitrag von Samuel Salzborn einen Über- blick über die Entwicklungen rechtsradikaler Bewegun- gen und die ‚Neue Rechte‘. Einen weiteren zentralen Themenblock stellen die Beiträge zu ‚Anti-Genderismus‘ bzw. Antifeminismus von Imke Schmincke und Julia Haas dar. Während Imke Schmincke einen Überblick über die Hintergründe und Entstehung unterschiedlicher Anti- Genderismus-Bewegungen gibt, fokussiert der Beitrag von Julia Haas gezielt die unterschiedlichen Facetten des Antifeminismus in der ‚Neuen Rechten‘. Der abschließen- de Beitrag von Thomas Wagner verfolgt personelle Über- schneidungen, Berührungs- und Referenzpunkte zwi- schen dem italienischen Futurismus, frühen Faschismus sowie der ‚Neuen Rechten‘ und der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik. Die Dokumentation der Vortragsrei- he in diesem Band möchte unterschiedliche Perspekti- ven auf die sogenannte ‚Neue Rechte‘ vereinen. Das Ziel der Organisator*innen ist es dabei, einen Diskussions- rahmen zu eröffnen, in dem die unterschiedlichen Grun- delemente (neu)rechten Denkens beleuchtet werden. Hiermit ist die Hoffnung verbunden, zu einer begriffli- chen Schärfung der analytischen Perspektiven und der Formulierung einer emanzipatorischen Kritik beizutra- gen, ohne sich in den Fallstricken oberflächlicher Ausein- andersetzungen zu verfangen. VORWORT

8 8 LEO ROEPERT Leo Roepert Hauptsache Nebensache? Rassismus als Gegenstand der Populismus-Debatte

AfD, Trump und Co. werden in Politik, Medien und reotypen arbeitet und eher die Gefühle als die Vernunft Wissenschaft meistens als populistisch oder rechts- anspricht (Priester 2012, S. 32-50). Eine der einfluss- populistisch charakterisiert. Abgeleitet vom populist reichsten und elaboriertesten formalen Bestimmungen movement, einer Bewegung von US-amerikanischen des Populismus stammt von Ernesto Laclau (2007). Für Farmern, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts orga- ihn ist der Populismus „a way of constructing the po- nisierte, um u.a. gegen die überhöhten Transportpreise litical“ (ebd., S. xi), der darin besteht, unterschiedliche der großen Eisenbahngesellschaften zu protestieren, unbefriedigte Bedürfnisse einer Bevölkerung in einer hat sich Populismus in den Sozial- und Geschichts- kollektiven Identität zu verbinden und dadurch zu ar- wissenschaften als Sammelbegriff für eine ganze Rei- tikulieren. Allerdings wurden die formalen Definitionen he politischer Parteien und Bewegungen etabliert. Als vielfach kritisiert, da sich Vereinfachung, Personalisie- historisch bedeutende Erscheinungsformen des Popu- rung, eine emotionale Ansprache und die Anrufung von lismus werden in der Literatur die sozialrevolutionäre Kollektiven bis zu einem gewissen Grade bei allen poli- Bewegung der Narodniki im russischen Zarenreich, die tischen Bewegungen und Parteien finden lassen. Popu- Steuerprotestbewegung der Poujadisten in Frankreich lismus könne auf diese Weise nicht als eigenständiges und die populistische Tradition in Südamerika (ange- Phänomen verstanden werden. In den letzten Jahren fangen bei Juan Perón bis hin zu den linken Populis- gab es daher verschiedene Anläufe, den Populismus musvarianten bei Hugo Chávez und Evo Morales) ge- inhaltlich zu bestimmen. Einer weithin geteilten nannt (Mudde/Kaltwasser 2017; Priester 2012). Definition von Cas Mudde zufolge ist der Populismus Die Vielzahl unterschiedlicher Phänomene, die mit eine “ideology that considers society to be ultimately dem Begriff belegt wurden, machte es schwierig, eine separated into two homogeneous and antagonistic allgemeine Definition zu finden. Viele Wissenschaft- groups, ‘the pure people’ versus ‘the corrupt elite’, lerInnen versuchten, den Populismus nicht durch be- and which argues that politics should be an expres- stimmte Inhalte, sondern über formale Merkmale zu sion of the volonté générale (general will) of the bestimmen. Populismus wurde dann etwa als ein folk- people” (Mudde 2004, S. 543). loristischer Stil in Sprache und Auftreten verstanden, Eine andere vielzitierte Definition, die der von Mudde durch den PolitikerInnen „Volksnähe“ und „Boden- Vorgeschlagenen ähnelt, stammt von Jan-Werner ständigkeit“ zu demonstrieren versuchen, oder als Müller. Ihm zufolge ist Populismus „eine ganz be- eine bestimmte Form politischer Rhetorik, die Sach- stimmte Politikvorstellung, laut der einem mora- verhalte vereinfacht, mit Personalisierungen und Ste- lisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische,

10 korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen – wo- gelnden) politischen Repräsentation erklären. Auf der bei diese Art von Eliten eigentlich gar nicht wirklich anderen Seite stehen Ansätze, die im Rechtspopulis- zum Volk gehören“ (Müller 2016, S. 42). Neben der mus den Ausdruck eines kulturellen Konflikts zwi- Eliten-Kritik vom Standpunkt des Volkes gibt es für schen Kommunitaristen und Kosmopoliten sehen. Beide Müller noch ein zweites Merkmal, das den Populismus Erklärungsstränge sind in ihren Begrifflichkeiten und kennzeichnet, nämlich „der dezidiert moralische An- Grundargumenten so strukturiert, dass die Margina- spruch, dass einzig die Populisten das wahre Volk ver- lisierung und Dethematisierung des rechtspopulisti- treten“ (ebd., S. 44). Die Entgegensetzung von Volk und schen Rassismus bereits angelegt ist. Elite bildet demnach das inhaltliche Grundmuster, das allen Formen des Populismus gemeinsam ist. Dieser populistische „Kern“ kann mit verschiedenen weite- ren Elementen (Ideologien, sozialpolitischen und öko- Interessen und Abstiegsängste nomischen Programmen, usw.) kombiniert werden, so dass unterschiedliche Varianten von Populismus mög- Die polit-ökonomischen Erklärungen des Rechtspo- lich sind. Eine davon ist der Rechtspopulismus: pulismus sind die aktuell am weitesten verbreiteten „Der Rechtspopulismus fügt nun der Differenz zwi- und meistdiskutierten. Dabei lassen sich eine Main- schen »korrupter Elite« und »gutem Volk« eine wei- streamvariante und eine linke Variante unterscheiden. tere, dritte Unterscheidung hinzu: die Unterscheidung In der Mainstreamvariante ist der polit-ökonomische zwischen dem guten Eigenen (Volk, Nation, Gemein- Ansatz häufig mit dem Stichwort der „Modernisie- schaft) und dem bedrohlichen Fremden (Ausländer, rungsverlierer“ verknüpft (Spier 2010), das bereits auf Migranten, Muslime)“ (Jörke/Selk 2017, S. 69). die zugrundeliegenden modernisierungstheoretischen Für das dritte Element, das die Spezifik des Rechtspo- Annahmen verweist. Modernisierungstheorien be- pulismus ausmachen soll, finden sich in der Popu- haupten, dass Gesellschaften auf dem Pfad von Demo- lismusforschung unterschiedliche Bezeichnungen. kratie und Marktwirtschaft immer weiter voranschrei- Häufig verwendete Begriffe sind Fremdenfeindlich- ten und dabei notwendigerweise bestimmte Phasen keit, Islamophobie und Nativismus, einige AutorInnen und Umbrüche durchlaufen, die vor allem in ökono- sprechen von kulturellem Rassismus. Insgesamt fällt mischer Hinsicht immer mit „Chancen“ und „Risi- jedoch auf, dass sich der Mainstream der Forschung zu ken“ verbunden sind und dementsprechend „Gewin- Rechtspopulismus vor allem für dessen „populistische ner“ und „Verlierer“ hervorbringen. Letztere würden Dimension“ interessiert. Ausführlich wird etwa disku- sich, gerade in Zeiten besonders heftiger und schnel- tiert, ob das Verhalten der politischen Eliten zum Auf- ler Modernisierungsschübe, rechten und populisti- stieg des Rechtspopulismus beigetragen hat und ob die schen Kräften zuwenden, die einfache Lösungen und populistische Anrufung des Volkes nur als „Gefahr“, Sicherheit versprechen. Auch in der linken Variante oder auch als „nützliches Korrektiv“ für die Demokra- wird davon ausgegangen, dass es vor allem die öko- tie zu betrachten sei (Decker 2017; vgl. auch Priester nomisch Depravierten sind, die sich rechten Kräften 2012, S. 51 - 71). Dem rassistischen Bild der bedrohli- zuwenden (Dörre 2016, Eribon 2016, Nachtwey 2016, chen Fremden und den daran anknüpfenden Vorstel- Streeck 2017a, Streeck 2017b). Allerdings wird die lungen einer „Überfremdung“ oder „Islamisierung“ ökonomische Entwicklung hier nicht als notwendi- des Eigenen wird hingegen weit weniger Beachtung ger, quasi-objektiver Wandel beschrieben, sondern als geschenkt, obwohl sie im rechtspopulistischen Welt- Krisenprozess, der zumindest teilweise auf politische bild offensichtlich einen zentralen Stellenwert haben. Entscheidungen zurückzuführen ist und der systema- Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Tatsache, dass tisch und zunehmend mehr „Verlierer“ als „Gewin- der Zusammenhang von Rassismus und Rechtspopu- ner“ hervorbringt. Dabei werden jeweils unterschied- lismus bisher kaum theoretisch reflektiert und em- liche Momente und Entwicklungen in den Mittelpunkt pirisch untersucht wurde, als ein Effekt der vorherr- der Analyse gestellt: die Globalisierung des Kapitals, schenden Erklärungsansätze zum Rechtspopulismus welche Menschen, Regionen und Länder einer zuneh- verstanden werden kann. Innerhalb der akademi- mend destruktiven Standortkonkurrenz aussetzt; die schen Populismus-Debatte lassen sich zwei dominan- neoliberale Deregulierung der Arbeitsmärkte und die te Stränge unterscheiden: Auf der einen Seite stehen zunehmende Ökonomisierung aller gesellschaftlichen polit-ökonomische Ansätze, die den Rechtspopulis- Felder, die die Ausbreitung prekärer Beschäftigungs- mus aus ökonomischen Interessen und ihrer (man- verhältnisse befördern, die Reallöhne sinken und die

11 Ungleichheit zunehmen lassen; der Umbau des So- werden. In dieser Situation komme es zu neuen For- zialstaates, der die Unsicherheit und den ökonomi- men des „Aufbegehrens“, zu denen Nachtwey neben schen Druck auf die Individuen erhöht. Sowohl in der Phänomenen wie den neuen Arbeitskämpfen und der modernisierungstheoretischen als auch in der linken Occupy-Bewegung auch die -Demonstratio- Variante steht die polit-ökonomische Erklärung des nen zählt: „Pegida ist […] Ausdruck einer von Abstieg- Rechtspopulismus vor zwei Problemen: Zum einen ha- sängsten geplagten und radikalisierten Mitte – und ben zahlreiche quantitative Studien gezeigt, dass der des regressiven Aufbegehrens gegen eine marktkon- vermutete Zusammenhang zwischen objektiven De- forme Demokratie“ (Nachtwey 2016, S. 218). Wie bei privationsmerkmalen (etwa niedriger beruflicher Sta- Occupy seien es „Fragen der Demokratie, der Vertei- tus, niedriges Einkommen, Arbeitslosigkeit, usw.) und lung von Ressourcen und der gesellschaftlichen Hi- einer rechtspopulistischen Orientierung nicht eindeu- erarchie, welche die Pegida-Anhänger auf die Stra- tig und allgemein nachgewiesen werden kann (Berg- ße treiben – dieses Mal werden diese Punkte jedoch mann et al. 2017; Halikiopoulou/Vlandas 2016; Manow von rechten Wutbürgern thematisiert“ (ebd., S. 219). 2018). In einigen Fällen scheint der Zusammenhang Eine ähnliche Einschätzung findet sich bei Klaus Dör- zwar der Tendenz nach vorhanden zu sein, allerdings re (2016), der PEGIDA zum Ausgangspunkt für eini- zeigt sich auch dort, dass es nicht nur die „Verlierer“ ge allgemeine Thesen zum Rechtspopulismus macht: im Sinne der unteren Einkommensschichten, der pre- „Der neue Rechtspopulismus ist – nicht ausschließ- kär Beschäftigten und der Arbeitslosen sind, die den lich, aber doch signifikant – eine Bewegung gegen Rechtspopulismus unterstützen, sondern dass er seine die Zumutungen und Zwänge des Marktes […]“ (Dör- AnhängerInnen auch aus bestimmten Fraktionen der re 2016, S. 261). Es sei davon auszugehen, dass soziale Mittel- und Oberschichten rekrutiert (Koppetsch 2019, Gerechtigkeit ein entscheidendes Protestmotiv für die S. 97-106). Diese Befunde haben viele AutorInnen dazu TeilnehmerInnen der PEGIDA-Märsche ist. Die Bewe- gebracht, die „Modernisierungsverlierer“-These zu gung müsse als marktkritisch beurteilt werden, da sie modifizieren und zu behaupten, dass nicht nur die ob- sich gegen die „Universalisierung von Marktvergesell- jektive Betroffenheit von ökonomischen Globalisie- schaftung und Konkurrenz“ richte (ebd., S. 261 f.). rungsfolgen, sondern auch subjektiv wahrgenommene Beide Autoren sehen ökonomische Ursachen hinter ökonomische Benachteiligungen und Abstiegsängs- dem Rechtspopulismus und schreiben den Teilneh- te für eine Hinwendung zum Rechtspopulismus aus- merInnen an den PEGIDA-Demonstrationen ökono- schlaggebend sein können. mische Motive zu. Nachtweys Vergleich mit Occupy Diese subjektive Variante der Modernisierungsverlie- macht das besonders deutlich: bei beiden Bewegun- rer-These führt allerdings zu einem zweiten Problem, gen gehe es im Grunde um Gesellschafts- und Kapi- welches den Stellenwert betrifft, der ökonomischen talismuskritik, nur die Form der Thematisierung un- Themen im rechtspopulistischen Diskurs zukommt, terscheide sich. Nun reicht allerdings schon ein kurzer und das sich gut an den Analysen der PEGIDA-Be- Blick in die Literatur oder auch in die mediale Bericht- wegung von Oliver Nachtwey und Klaus Dörre ver- erstattung, um zu sehen, dass „die Zwänge des Mark- anschaulichen lässt. Nachtwey (2016) beschreibt in tes“ oder die „marktkonforme Demokratie“ bei den seinem Buch "Die Abstiegsgesellschaft" die gesell- PEGIDA-Demonstrationen keine Rolle spielen. Weder schaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte als in den Reden und Forderungskatalogen der PEGIDA- einen Krisenprozess, den er vor allem auf der ökono- OrganisatorInnen, noch in den Sprechchören oder auf mischen Ebene verortet: Seit der Ölpreiskrise der 70er den Transparenten der TeilnehmerInnen findet sich Jahre sei in den entwickelten kapitalistischen Ökono- etwas, das auch nur im Entferntesten an Markt- oder mien ein Rückgang des Wachstums zu beobachten. Kapitalismuskritik erinnert (Walter et al. 2015; Vor- Auch die neoliberale Wirtschaftspolitik und die von länder et al. 2016). Die einzige Verteilungsfrage, die bei Nachtwey als „regressive Modernisierung“ bezeich- PEGIDA diskutiert wird, ist die nach der Verteilung von neten politischen Maßnahmen (wie etwa die „Agenda Geflüchteten. 2010“) hätten an dieser Tendenz nichts ändern kön- Was am Beispiel PEGIDA besonders deutlich hervor- nen. Inzwischen sei die Arbeitswelt geprägt von pre- tritt, gilt für den Rechtspopulismus insgesamt: seine kären Beschäftigungsverhältnissen und Unsicherheit. eigentlichen Themen sind die Identität und Souverä- Das Aufstiegsversprechen, das den sozialstaatlich ein- nität des Eigenen und deren Zerstörung durch Migran- gehegten Kapitalismus der „sozialen Moderne“ aus- tInnen einerseits und das zersetzende Handeln der Eli- gezeichnet habe, könne nicht mehr aufrechterhalten ten andererseits. Diese Themen sind nicht ökonomisch,

12 sondern, wie man in erster Annäherung sagen könnte, Rechtspopulisten zu wenden. Ein zentraler Grund dafür „kulturell“. Zwar thematisiert der Rechtspopulismus sei, dass die linken und insbesondere die sozialdemo- auch ökonomische Fragen, bei näherer Betrachtung kratischen Parteien, die traditionell die Interessen der zeigt sich aber, dass diese immer mit „kulturellen“ Lohnabhängigen vertreten hatten, spätestens seit den Annahmen verknüpft sind oder dass „kulturelle“ An- 1990er Jahren zum Neoliberalismus übergelaufen sind. liegen im Zweifelsfall vor ökonomischen Interessen Auf diese Weise sei eine Repräsentationslücke auf der den Vorrang haben. Ein prominentes Beispiel dafür linken Seite des politischen Spektrums entstanden, die sind die konservativen und rechtspopulistischen Bre- sich nun der Rechtspopulismus zunutze mache, indem xit-HardlinerInnen, die im Namen der „nationalen er als einzige politische Kraft eine grundlegende Sys- Souveränität“ bedingungslos den Austritt Großbritan- temkritik formuliere und auf die Interessen und Sorgen niens aus der EU anstreben, obwohl sich ein Großteil derjenigen eingehe, die unter dem neoliberalen Regime der ÖkonomInnen und Wirtschaftsverbände einig sind, leiden. Deren Hinwendung zum Rechtspopulismus dass insbesondere ein Austritt ohne eine Regelung der müsse daher als „eine Art politische Notwehr“ (Eribon zukünftigen politischen und ökonomischen Beziehun- 2016, S. 124) verstanden werden. Diese Deutung impli- gen für beide Seiten verheerende wirtschaftliche Fol- ziert zum einen, dass die rechtspopulistische Eliten- gen hätte. „Nationale Souveränität“ erscheint hier als kritik zwar etwas ungehobelt und überspitzt sein mag, ein Wert an sich, für den buchstäblich kein Preis zu der Sache nach aber berechtigt ist: Die regierenden hoch ist. Auch die ökonomischen Argumente, die ge- Parteien und das politische Establishment haben sich gen Migration vorgebracht werden, beruhen immer tatsächlich insofern von den Interessen und Sichtwei- auf Annahmen über das „kulturelle“ Wesen der Mi- sen „des Volkes“ entfernt, als sie eine Politik betrieben grantInnen. Auf diesen Punkt werde ich weiter unten haben, die wenigen Reichen genutzt, der Mehrheit der noch einmal zurückkommen. Menschen jedoch geschadet habe.¹ Zum anderen wird Für die polit-ökonomischen Ansätze ergibt sich also nahegelegt, dass in wesentlichen Punkten keine in- das Problem, die Diskrepanz zwischen den angenom- haltliche Übereinstimmung zwischen den rechtspo- menen ökonomischen Ursachen bzw. Motiven und den pulistischen WortführerInnen und ihrer Anhänge- primär „kulturellen“ Themen des Rechtspopulismus rInnenschaft besteht. Populistische PolitikerInnen erklären zu müssen. Wenn die AnhängerInnen des mögen zwar mitunter „Tabubrüche“ begehen, etwa Rechtspopulismus tatsächlich ökonomische Motive in Form „unschöner“ Aussagen über MigrantInnen, haben, wenn sie die Ungerechtigkeit des Kapitalismus Frauen und Minderheiten, der überwiegenden Mehr- kritisieren oder auch einfach nur ihre ökonomische Si- heit der WählerInnen gehe es jedoch lediglich darum, tuation verbessern wollen, wieso artikulieren sie ihre ihre Unzufriedenheit mit der Demokratie und der öko- Kritik oder ihre Interessen dann nicht direkt? Wäre es nomischen Ungerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen. nicht naheliegend, eine linke Partei oder Bewegung zu Entsprechend besteht bei AutorInnen, die ihren Ana- unterstützen, die ökonomische Ungerechtigkeiten und lysen explizit oder implizit die „Notwehr“-These zu- Probleme adressiert und sich dafür einsetzen, diese zu grunde legen, die Tendenz, den Rassismus (aber bei- beheben? Warum also äußert sich die angeblich öko- spielsweise auch die Misogynie und den obsessiven nomische Unzufriedenheit und Kritik in der Form eines Antifeminismus) des Rechtspopulismus nur am Rande rechtspopulistischen Diskurses, der sich gegen „Über- oder gar nicht zu thematisieren. Die Debattenbeiträge fremdung“ und „Islamisierung“ richtet und den Eliten von Wolfgang Streeck (Streeck 2017a, 2017b) sind ein nicht etwa Ausbeutung, sondern die Aushöhlung nati- Beispiel dafür. Die aktuellen politischen Verschiebun- onaler Souveränität und die Zersetzung der Identität gen versteht er als eine „Wiederkehr der Verdrängten“ des Eigenen vorwirft? (Streeck 2017a), als Protest derjenigen, die ihre Inte- ressen von der neoliberalen Globalisierung verletzt

1. Einige AutorInnen machen keinen Hehl aus ihren Sympathien Die „Notwehr“-These für die rechtspopulistische Elitenkritik und beteiligen sich zum Teil selbst ausgiebig an der Polemik gegen die „kosmopolitischen“ und Eine gerade bei VertreterInnen der linken Erklärungs- „abgehobenen“ Eliten. Die realistische Deutung, die im tatsächlichen Verhalten der Eliten den Hauptgrund für die rechte Elitenkritik aus- variante beliebte Form, mit dieser Diskrepanz um- macht, blendet jedoch die wahnhafte und paranoide Dimension des zugehen, besteht in der These, dass die Depravierten rechtspopulistischen Elitenbildes aus, die in verschwörungstheore- gar keine andere Wahl haben, als sich mit ihren öko- tischen, antisemitisch konnotierten und zum Teil auch offen antise- mitischen Narrativen, Zuschreibungen und Bildern zum Ausdruck nomisch begründeten Ängsten und ihrer Wut an die kommt.

13 sehen. Den Ausdruck Populismus lehnt Streeck ab, da manifestieren würde, so es denn vorhanden wäre. Dass er zu einem Kampfbegriff geworden sei, mit dem die in Nord- und Mitteleuropa nichts dergleichen passiert „Globalisierungsgläubigen“ versuchen, „nationale Al- und stattdessen der Rechtspopulismus immer stärker ternativen“ zur Globalisierung zu diskreditieren (ebd., wird, spricht dafür, dass es nicht an linken Angebo- S. 261). Überhaupt gerate der „Protest gegen materielle ten mangelt, sondern schlicht an einer linken „Nach- und moralische Degradierung […] unter Faschismus- frage“. Inzwischen gibt es einige Studien, die zeigen, verdacht“ (ebd., S. 263). Dass das damit zu tun haben dass sexistische und rassistische Einstellungsmuster könnte, dass sich der vermeintliche Protest gegen die bei der rechtspopulistischen AnhängerInnenschaft Globalisierung vor allem in rassistischen Stereotypen weit verbreitet sind (Schaffner et al. 2018; Schröder gegenüber MigrantInnen und „dem Islam“ äußert, 2018; Schwarzbözl/Fatke 2016). Alles spricht dafür, wird von Streeck mit keinem Wort erwähnt. Nur an ei- dass die Rechtspopulisten von der Mehrheit ihrer ner Stelle heißt es verklausuliert, dass es zu "Verstößen AnhängerInnen nicht trotz, sondern gerade wegen gegen die geltenden Regeln zivilisierten öffentlichen der Aussagen zu MigrantInnen, Frauen und Minder- Sprechens“ (ebd., S. 263) kommt. Streecks Erklärung heiten gewählt werden. dafür lautet, dass den „plebejischen Klassen“, nach- dem ihre ehemaligen Repräsentanten zur „Globalisie- rungsfraktion“ übergelaufen sind, „für die Artikulation Ökonomischer Reduktionismus von Protest gegen den kapitalistischen Modernisie- rungsdruck nur noch das unbehandelte sprachliche Eine andere weit verbreitete Form, mit der Diskrepanz Rohmaterial vorpolitischer Deprivationserfahrungen zwischen den unterstellten ökonomischen Motiven zur Verfügung steht“ (ebd., S. 263). Wenn bei PEGIDA- und den „kulturellen“ Themen des Rechtspopulismus Veranstaltungen „Absaufen!“ skandiert wird, liegt das umzugehen, besteht darin, Rassismus und Nationa- dieser Lesart zufolge also daran, dass man die Kritik lismus zwar zur Kenntnis zu nehmen, anschließend am „kapitalistischen Modernisierungsdruck“ nicht aber auf ökonomische Ursachen oder Funktionen zu anders auszudrücken weiß (Dalkowski 2018). reduzieren. Dörre (2016, S. 262) etwa spricht davon, Spätestens bei Beiträgen wie denen von Streeck wird dass sich die ökonomische Marktmacht, da sie dif- deutlich, dass die These von der Repräsentationslü- fus und abstrakt sei, nicht eindeutig zuordnen las- cke und der daraus folgenden „Notwehr“ nicht nur se, weshalb die Kritik an ihr sowohl emanzipatorisch theoretisch wenig überzeugend ist, sondern darüber als auch reaktionär-nationalistisch politisiert wer- hinaus eine stark verharmlosende bis apologetische den könne. Der Rechtspopulismus „besetzt die sozi- Schlagseite aufweist. Zwar ist nicht von der Hand zu ale Frage und deutet sie in einen Verteilungskampf weisen, dass sich die sozialdemokratischen Parteien um, der zwischen Innen und Außen, zwischen zivili- „neoliberalisiert“ haben und die Interessen ihrer alten sierten und vermeintlich minderwertigen Kulturen Stammklientel nicht mehr vertreten. Daraus eine Re- ausgetragen wird“ (ebd., S. 260). Unklar bleibt, wer präsentationslücke abzuleiten, ist jedoch nicht beson- genau diese Umdeutung vornimmt und zu welchem ders plausibel. Denn zum einen wurde die Lücke, die Zweck. Sind es die rechtspopulistischen AnführerIn- die Sozialdemokratie hinterlassen hat, in vielen poli- nen, die die ökonomisch Bedrängten für ihre rassisti- tischen Systemen von anderen (z.T. neu gegründeten) sche Agenda gewinnen wollen? Dann wäre die Frage, linken Parteien ausgefüllt, von denen viele weiterhin warum dieses Deutungsangebot bei den AdressatIn- sozialdemokratische Konzepte verfolgen und von de- nen verfängt. Oder gibt es bei den AnhängerInnen des nen einige, wie Podemos in Spanien und Syriza in Grie- Rechtspopulismus eine spontane Neigung, den öko- chenland, auch politische Erfolge verbuchen konnten. nomischen Konflikt zwischen „oben“ und „unten“ In den nord- und mitteleuropäischen Ländern sind als kulturellen Konflikt zwischen dem Eigenen und diese Parteien aber marginal geblieben und erhalten den Fremden wahrzunehmen? Dörre belässt es bei bei Wahlen aktuell im Schnitt weniger Stimmen als die der These und geht diesen Fragen nicht weiter nach. Rechtspopulisten. Zum anderen kann davon ausge- Eine zweite Variante des ökonomischen Reduktio- gangen werden, dass sich ein im weitesten Sinne lin- nismus besteht darin, Rassismus und Nationalismus kes, gegen materielle Ungleichheit und Not oder gar über eine ökonomische oder strategische Funktion zu gegen den Kapitalismus gerichtetes Potential auch erklären, die ihnen in einem Verteilungskonflikt zu- außerparlamentarisch – etwa in Form von Demonst- kommen soll. Nachtwey etwa charakterisiert PEGIDA rationen und Initiativen sozialer Selbstorganisation – als „identitäre soziale Bewegung“ (Nachtwey 2016, S.

14 219), deren Islamfeindschaft „das neue Gewand eines dastehenden Mittelschichten sich dem Rechtspopu- Rassismus [ist], der die vermeintliche kulturelle Über- lismus anschließen. Schließlich argumentiert Manow, legenheit der westlichen Kultur herausstellt“ (ebd., S. dass der Rechtspopulismus in den südeuropäischen 223). Ohne weiter auf die Inhalte des Identitätsden- Ländern nur deshalb keinen großen Zulauf hat, weil kens und des Rassismus einzugehen, schreibt er ih- der Wohlfahrtsstaat dort stark klientelistisch orga- nen eine machtstrategische Funktion zu: „In Wahrheit nisiert ist und MigrantInnen kaum Zugang zu Sozial- geht es dabei jedoch nicht um die Anerkennung eth- leistungen haben. Das Hauptproblem der südeuropä- nischer Differenz, sondern um den Erhalt von Etab- ischen Länder sei daher nicht die Migration, sondern liertenvorrechten“ (ebd., S. 219). Auch wenn Nachtwey die Staatsschulden und die Austeritätspolitik, weshalb den Punkt nicht weiter ausführt, legt die Formulie- sich dort vor allem linkspopulistische Parteien eta- rung nahe, dass er die kulturelle Argumentation für bliert haben. Für Manow lässt sich die Ablehnung der vorgeschoben hält. Die PEGIDA-AnhängerInnen wür- Fremden also gänzlich aus ökonomischen Verteilungs- den dann nur behaupten, Angst vor „Überfremdung“ konflikten erklären, entweder um Arbeitsplätze, oder und „Islamisierung“ zu haben, während es ihnen ei- aber um wohlfahrtsstaatliche Leistungen. Sie erscheint gentlich darum geht, ihre Privilegien zu verteidigen. dann als eine vielleicht unschöne, aber dennoch rati- Auch der Begriff des Wohlfahrtschauvinismus, der in onale und damit nachvollziehbare Haltung. Da es hier der Debatte um den Rechtspopulismus immer wie- schlicht um die Wahrnehmung von Interessen gehen der auftaucht, zielt in diese Richtung. Die Identifika- soll, ist bei Manow konsequenterweise an keiner Stelle tion mit Volk und Nation ist demnach nichts anderes von Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit die Rede. als die Formulierung eines Anrechts auf den Schutz Die These, dass sich die Migrationsfeindlichkeit aus des Wohlfahrtsstaates vor den Gefahren der Globali- der Konkurrenz zwischen „Einheimischen“ und Frem- sierung, während die Abwertung und Dämonisierung den ergibt, erweist sich jedoch bei genauerer Betrach- der Fremden den strategischen Sinn hat, die knappen tung als Scheinerklärung. Konkurrenz bezeichnet das wohlfahrtsstaatlichen Leistungen nicht mit ihnen tei- Verhältnis, in dem sich – zumindest potentiell – alle len zu müssen. Für Philipp Manow (2018) ist der Kon- Individuen in der kapitalistischen Gesellschaft zuein- flikt um wohlfahrtsstaatliche Leistungen die Erklärung ander befinden. Auch die „Einheimischen“ konkurrie- dafür, dass nicht nur ökonomisch prekäre Gruppen den ren untereinander um Arbeitsplätze und (in gewisser Rechtspopulismus unterstützen. Seine These lautet, Hinsicht) um Sozialleistungen. Um eine Konkurrenz dass das gegenwärtige Erstarken des Rechtspopulis- zwischen „Einheimischen“ und Fremden behaupten mus zwar ökonomische Ursachen habe, diese sich je- und wahrnehmen zu können, müssen diese Gruppen doch je nach Wirtschaftsmodell unterscheiden (ebd., bereits unterschieden sein. Die Kriterien, nach de- S. 61-69). Im westlich-angelsächsischen Wirtschafts- nen Menschen im rechtspopulistischen Diskurs als modell, das sich durch liberale Arbeitsmärkte und ei- der einen oder der anderen Gruppe zugehörig defi- nen wenig großzügigen Wohlfahrtsstaat auszeichnet, niert werden, und die Eigenschaften, die diesen Grup- komme es im Zuge der Globalisierung vor allem in pen zugeschrieben werden, sind allerdings weder rein den prekären Arbeitsmarktsegmenten zu einer Kon- ökonomisch, noch orientieren sie sich ausschließlich kurrenz zwischen „Einheimischen“ und Arbeitsmig- am rechtlichen Status der Staatsbürgerschaft, son- rantInnen. Manow hat hier vor allem Großbritannien dern ergeben sich aus einer bestimmten Vorstellung vor Augen, das einen großen Zuzug von osteuropäi- von „Kultur“. Die Zuordnung zu einer Gruppe erfolgt schen EU-BinnenmigrantInnen zu verzeichnen hatte. anhand unterstellter oder tatsächlicher Einstellungen, Im nord- und mitteleuropäischen Wirtschaftsmodell Verhaltensweisen und Lebensstile (etwa muslimischer sind die Arbeitsmärkte stärker reguliert, der Wohl- Glaube), der Hautfarbe und anderer äußerer Merkma- fahrtsstaat jedoch großzügig, weshalb diese Länder zu le oder der Abstammung („Migrationshintergrund“). einem Hauptziel der Fluchtmigration werden. In der Auch die Gründe für die Ablehnung der Fremden sind Folge entstehe ein Konflikt um die Verteilung wohl- entsprechend zu einem großen Teil „kulturell“: sie be- fahrtsstaatlicher Leistungen, der nicht nur Arbeitslo- ziehen sich auf ihre Lebensweise, die „ganz anders“ als se und prekär Beschäftigte betrifft, sondern auch die die eigene sei, daher nicht „zu uns“ passe und darüber gut integrierten Beschäftigten, die auf einen funkti- hinaus durch ihren expansiven Charakter das Eigene zu onierenden Wohlfahrtsstaat angewiesen sind, der sie verdrängen drohe. Auch da, wo dezidiert ökonomische vor Arbeitsmarktrisiken schützt. Auf diese Weise sei Gründe für die Ablehnung der Fremden vorgebracht es zu erklären, dass auch Teile der ökonomisch gut werden, stehen kulturelle Zuschreibungen im Hinter-

15 grund. Das Argument etwa, dass die Aufnahme von Ge- Machtpositionen und bestimmt das Geschehen in Po- flüchteten notwendigerweise zu einer Überlastung des litik, Wissenschaft und Medien. Wichtige politische Sozialstaates führen müsse, der sich doch zunächst Entscheidungen und der öffentliche Diskurs reflektie- mal um die Nöte der „Einheimischen“ kümmern soll- ren die Sichtweise der Kosmopoliten, während die der te, beruht auf der Prämisse, dass die Geflüchteten ih- Kommunitaristen nur wenig Berücksichtigung findet. rem Wesen nach ungebildet und unproduktiv sind und Der (Rechts-)Populismus könne nun, so die These, daher jetzt und in Zukunft nur als „Empfänger“ von als Ausdruck einer kommunitaristischen Gegenbewe- Sozialleistungen, nicht aber als „Einzahler“ in Be- gung zur gesellschaftlichen Dominanz der Kosmopo- tracht kommen. Es werden demnach tendenziell auch liten verstanden werden. Die Rechtspopulisten führen die MigrantInnen abgelehnt, die Jobs machen, die die einen symbolischen Klassenkampf zur Wiederher- „Einheimischen“ entweder nicht machen wollen oder stellung der alten Ordnung (vgl. Koppetsch 2019, S. können, gegen die also weder ein Konkurrenzinteresse 126 ff.). Gegen den Individualismus soll die Familie noch die „nationalökonomische Vernunft“ spricht. und die Gemeinschaft, gegen Flexibilität und Selbst- verwirklichung die alten Mittelschichtstugenden, ge- gen die „Political Correctness“ der „gesunde Men- schenverstand“ wieder zur Geltung gebracht werden. Kommunitaristen vs. Kosmopoliten Die Interpretation des Rechtspopulismus als Kultur- kampf zwischen Kommunitaristen und Kosmopoliten Der zweite einflussreiche Deutungsstrang innerhalb hat zunächst eine hohe Plausibilität. Im Gegensatz zu der Rechtspopulismusdebatte verzichtet auf die An- den polit-ökonomischen Deutungen kann erklärt wer- nahme ökonomischer Ursachen und interpretiert den den, warum Fragen der Identität und der Lebensweise Rechtspopulismus als ein genuin kulturelles Phäno- im rechtspopulistischen Diskurs eine so zentrale Rolle men. Dabei dient oftmals die These als Ausgangs- spielen. Allerdings konzentriert sich auch diese Deu- punkt, dass die westlichen Gesellschaften der Gegen- tung auf den Gegensatz von „Volk“ und „Elite“, also wart in zwei kulturelle Lager gespalten seien, die in auf die „populistische Dimension“ des Rechtspopu- der deutschsprachigen Literatur häufig als Kommunita- lismus. Die Ablehnung der Fremden wird nur am Ran- risten und Kosmopoliten bezeichnet werden (Koppetsch de thematisiert, die entsprechenden Zuschreibungen, 2019; Merkel 2017; Reckwitz 2017; Rensmann 2017); Bilder und Narrative werden kaum untersucht. Der Be- der britische Publizist David Goodhart spricht in seiner griff des Rassismus wird – sofern er überhaupt auf- vieldiskutieren Studie von Somewheres und Anywheres taucht – weitgehend deskriptiv verwendet. Bezüge zu (Goodhart 2017). Beide Gruppen unterscheiden sich sozialwissenschaftlichen Rassismustheorien finden nicht primär durch ihre ökonomische Lage oder ihre sich auch in diesem Deutungsstrang kaum. Goodhart politische Orientierung, sondern vor allem durch ihre etwa gesteht zwar zu, dass es innerhalb der Gruppe Werte und ihren Lebensstil. Die Kommunitaristen sind der Somewheres auch eine Minderheit von Rassisten unterdurchschnittlich gebildet, sozial stark an ihren und „hard authoritarians“ gebe (die etwa 5 % der Ge- Herkunftsort gebunden und von Gemeinschafts- und samtbevölkerung ausmachen) (Goodhart 2017, S. 44 Familienwerten geprägt. Die Kosmopoliten verfügen f.). Insgesamt sei die Weltsicht der Somewheres aber hingegen in der Regel über eine akademische Bildung, nicht als rassistisch, sondern als „anständiger Popu- sind beruflich und privat mobil und zeichnen sich lismus“ zu charakterisieren: konservativ, kommunita- durch individualistische Leistungs- und Selbstver- ristisch, moderat nationalistisch (ebd., S. 6 und S. 14 f.). wirklichungsorientierungen aus. Der „linke“ Rassismusbegriff ist für Goodhart zu weit, Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren in den west- weil er auch „normal human feelings“ als Rassismus lichen Gesellschaften kommunitaristische Werte und klassifiziere (ebd., S. 32). Für skeptische bis ablehnen- Sichtweisen vorherrschend, während die Gruppe der de Haltungen gegenüber Migration hat er eine andere Kosmopoliten lediglich eine kleine Minderheit dar- stellte. Durch die Bildungsexpansion seit den 1960er 2. Goodhardt schätzt auf Grundlage von Meinungsumfragen, dass die Gruppe der kosmopolitischen Anywheres in Großbritannien etwa Jahren und den Strukturwandel hin zu einer Wissens- 20 bis 25 % und die kommunitaristischen Somewheres etwa 50 % und Kulturökonomie wächst die Gruppe der Kosmo- der Bevölkerung ausmachen. Etwa 25 – 30 % ließen sich keiner der politen jedoch allmählich und wird schließlich gesell- beiden Gruppen eindeutig zuordnen („Inbetweeners“) (vgl. Goodhart 2017, S. 4). Andreas Reckwitz schätzt, dass die kosmopolitischen schaftlich dominant. Obwohl numerisch nach wie vor neuen Mittelklassen etwa ein Drittel der Gesellschaft ausmachen in der Minderheit 2 , besetzt sie die gesellschaftlichen (vgl. Reckwitz 2017, Kapitel V).

16 Erklärung: Da Gesellschaften auf gemeinsamen Wer- dass Deutschlands Leistungsfähigkeit abnehme, weil ten, auf Familiarität und Vertrauen beruhen, die das Muslime möglicherweise aufgrund von „Erbfakto- Zusammenleben und die Kooperation für das Gemein- ren“ nur über eine unterdurchschnittliche Intelligenz wohl erleichtern, führe ein Übermaß an Migration – verfügen, interpretiert Koppetsch explizit nicht als insbesondere aus Ländern, deren Kultur sich sehr von Rassismus, sondern als wohlfahrtschauvinistischen der eigenen unterscheidet – dazu, dass sich die Iden- Versuch, die gesellschaftliche Klassenhierarchie fest- tität der Gesellschaft zu schnell verändert, was vie- zuschreiben. Den Mittelschichten und prekären Milieus le Menschen überfordere und verunsichere (ebd., S. hingegen gehe es darum, eine identitätsstiftende Ge- 22 f.). Diese Argumentationen, die sich in ähnlicher meinschaft gegenüber Außenseitern zu verteidigen. Zu Form auch bei anderen VertreterInnen einer kultu- diesem Zweck werde, einer „kompensatorischen Logik rellen Erklärung findet, tendiert allerdings dazu, die der Wiederaufrichtung des Selbstbildes“ folgend, eine Identitätskategorien des rechten Denkens zu repro- Differenz zwischen dem „Volk“ und den Zugewander- duzieren. Denn Goodharts Behauptung, dass das ge- ten konstruiert (ebd., S. 140). Dabei gehe es der Mit- sellschaftliche Zusammenleben auf geteilten Werten, telschicht in ihrer „klassenpolitischen Strategie“ vor Familiarität und Vertrauen beruht, kann kaum als eine allem um die Wiederherstellung eines kulturellen Al- angemessene Beschreibung des heutigen, hochgradig leinvertretungsanspruchs, während die prekären Mi- ausdifferenzierten und institutionell vermittelten Ka- lieus das Ziel verfolgen, unliebsame KonkurrentInnen pitalismus gelten. Vielmehr entspringt sie einem Deu- um Arbeitsplätze und Sozialleistungen auszugrenzen tungsmuster, in dem nicht nur die Fremden, sondern (ebd., S. 140 f). Obwohl Koppetsch sich merklich be- auch das Eigene als homogenes Kollektiv bzw. als Ge- müht, dem Stellenwert der „Islam- und Migrations- meinschaft verstanden wird. Statt die Ursachen dafür kritik“ innerhalb des Rechtpopulismus Rechnung zu zu untersuchen, warum einige gesellschaftliche Grup- tragen, verfällt sie letztendlich in dieselben Redukti- pen individualistischen Deutungsmustern anhängen, onismen, die sich bei den polit-ökonomischen Erklä- während andere in Kollektivkategorien denken, wer- rungsansätzen finden. Alles, was im rechtspopulisti- den letztere einfach in die wissenschaftliche Beschrei- schen Diskurs über die "Fremden" gesagt wird, ist Teil bung des Phänomens übernommen. Das Erklärungs- einer Strategie und erfüllt eine Funktion. Lediglich die bedürftige wird auf diese Weise Teil der Erklärung. Rede von der „kompensatorischen Logik der Wieder- Im Gegensatz dazu versucht Cornelia Koppetsch, eine aufrichtung des Selbstbildes“ verweist auf eine dar- andere prominente Vertreterin einer kulturellen Er- über hinausgehende Dimension des Phänomens, der klärung, die identitären Diskurse um das Eigene und Koppetsch an dieser Stelle jedoch nicht weiter nach- das Fremde theoretisch ernst zu nehmen. Allerdings geht. An späterer Stelle finden sich sozialpsychologi- gelangt auch sie nicht zu einer fundierten Rassismus- sche Ausführungen zu Angst und Rigidität, die sie mit analyse. So führt sie zwar aus, dass das aus der „Neuen dem Wunsch nach Abschottung und der Ablehnung Rechten“ stammende Konzept des Ethnopluralismus von Migration in Verbindung bringt (ebd., S. 157 ff). Sie innerhalb rechtspopulistischer Diskurse eine große bleiben aber insgesamt vage und werden nicht mit den Rolle spielt, lässt aber offen, ob sie darin eine Fort- vorher angestellten Überlegungen vermittelt. führung oder eine Abkehr vom Rassismus sieht (Kop- petsch 2019, S. 133 f.). Später spricht Koppetsch dann nur noch vom „Islam- und Migrationsthema“ oder Rassismus als Leerstelle der auch – den rechtspopulistischen Sprachgebrauch re- Populismus-Debatte produzierend – von „Islam- und Migrationskritik“, die sie als „allgemeine symbolische Klammer“ ansieht, Ich habe zu zeigen versucht, dass die beiden Erklä- die die verschiedenen Strömungen der rechtspopulis- rungsmuster, die die sozialwissenschaftliche Debatte tischen AnhängerInnenschaft verbindet (ebd., S. 135 f.). zum Rechtspopulismus dominieren, dazu tendieren, Dabei vertritt sie die These, dass das „Islam- und Mi- die Frage des Rassismus auszublenden oder redukti- grationsthema“ jeweils unterschiedliche Funktionen onistisch zu behandeln. Bei den polit-ökonomischen erfüllt. Für die konservativen Oberschichten diene der Erklärungsansätzen, die für viele eine große Plausi- Diskurs dazu, durch Naturalisierungen gesellschaft- bilität zu haben scheinen, wird die „kulturelle“ Argu- liche Hierarchien festzuschreiben, was Koppetsch am mentation des Rechtspopulismus um die Identität des Beispiel von Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" Eigenen, die durch die Ausbreitung der Fremden bedroht zu illustrieren versucht. Seine Spekulationen darüber, sei, entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder

17 aber als ein Epiphänomen ökonomischer Ursachen in- deutungsmuster verstanden, das individuelle und kol- terpretiert, indem suggeriert wird, dass die eigentlichen lektive Identitäten, gesellschaftliche Praktiken und In- Themen des Rechtspopulismus, die sich hinter der Rede stitutionen gleichermaßen strukturiert. von Identität und Kultur verbergen, ökonomische Inte- Über die Gründe, warum der Rassismus in der deutsch- ressen, die „soziale Frage“ oder gar Kritik am Kapita- sprachigen Debatte um den Rechtspopulismus nur am lismus seien. Die kulturellen Erklärungsansätze hinge- Rande vorkommt und kaum theoretisch reflektiert gen haben zwar im Allgemeinen einen schärferen Blick wird, lässt sich spekulieren. Eine zentrale Rolle spielt dafür, dass im Rechtspopulismus vor allem Fragen der sicherlich die allgemeine Tendenz, das Thema Ras- Identität und Lebensweise verhandelt werden; wenn es sismus in der Öffentlichkeit und auch in den Sozial- darum geht, den rechtspopulistischen Diskurs über die wissenschaften zu verdrängen, weil sich die Einsicht, Fremden zu analysieren, neigen sie jedoch häufig dazu, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht nur historisch die rechten Identitätskategorien unhinterfragt zu las- auf dem Rassismus aufbaut, sondern ihn strukturell sen, wenn nicht gar zu übernehmen, oder ebenfalls auf immer wieder hervorbringt, nicht gut mit ihrer positi- ökonomische Reduktionismen zurückzugreifen. ven Selbstbeschreibung verträgt. Wie ein Vergleich mit Letztendlich ergibt sich ein paradoxes Bild: obwohl dem angelsächsischen Raum deutlich macht, gilt das in weiten Teilen der Sozialwissenschaften, aber auch für Deutschland in besonders starkem Maße. Weit ver- der breiteren Öffentlichkeit Einigkeit darüber beste- breitet ist eine Vorstellung, die Rassismus mit der nati- hen dürfte, dass die Ablehnung von MigrantInnen onalsozialistischen Rassenbiologie gleichsetzt und als und „des Islam“ einen herausragenden Stellenwert etwas behandelt, das zusammen mit dem Nationalso- im rechtspopulistischen Weltbild hat, gibt es eine er- zialismus überwunden wurde bzw. nur noch in neona- staunlich geringe Bereitschaft, sich empirisch, vor al- zistischen Kreisen am Rand der Gesellschaft zu finden lem aber theoretisch mit diesem Themenfeld ausei- ist. Die Bereitschaft, ein umfassenderes Verständnis nanderzusetzen. So gibt es in keinem mir bekannten von Rassismus zu entwickelt, welches auch der aktu- Beitrag, der den Rechtspopulismus im Allgemeinen zu ellen, oftmals mit kulturellem Vokabular daherkom- beschreiben und zu erklären beansprucht, eine ge- menden Form gerecht wird, ist beschränkt. Bei eini- nauere Analyse des gegen "die Fremden" gerichteten gen AutorInnen mögen zudem politische Hoffnungen Diskurses. Rassismus und verwandte Begriffe werden eine Rolle spielen: wenn der Rechtspopulismus, wie es überwiegend rein deskriptiv verwendet. Verweise auf insbesondere die linke Variante polit-ökonomischer die sozialwissenschaftliche Rassismusforschung fin- Erklärungen behauptet, vor allem ein Ausdruck miss- den sich nur punktuell, eine tatsächliche Rezeption achteter ökonomischer und politischer Interessen ist, und Auseinandersetzung mit ihren Befunden und the- dann lässt er sich durch eine linke Politik (mehr Um- oretischen Konzepten findet nicht statt. Dabei würde verteilung, Sozialstaat usw.) bekämpfen. Konserva- eine nähere Analyse des rechtspopulistischen Diskur- tive hingegen dürften die kulturelle Erklärung bevor- ses über "die Fremden" – kombiniert mit einem Blick zugen, die impliziert, dass sich der Rechtspopulismus in die Geschichte – schnell und einfach zeigen können, eindämmen lässt, wenn man die Migration begrenzt dass die dort vorherrschenden Überwältigungs- und und „kommunitaristischen“ Werten und Lebensstilen Untergangsphantasien, die auf Vorstellungen von der wieder mehr politische Geltung verschafft. Insgesamt Schwäche und dem Verfall des Eigenen und von der verkennt die Debatte um den Aufstieg des Rechtspo- archaischen Potenz "der Fremden" aufbauen, in der pulismus, wie tief der Rassismus in den Strukturen der historischen Tradition des europäischen Rassismus zu bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verankert ist verorten sind. Eine adäquate Deutung des Rechtspo- und wie er durch ihre historische Dynamik immer wie- pulismus müsste daher auf die empirische Forschung der in neuen Formen entsteht. und Theoriebildung zu historischen und gegenwärti- gen Erscheinungsformen des Rassismus Bezug neh- men. Auch wenn es innerhalb der Rassismusforschung verschiedene Stränge gibt, besteht weitgehende Einig- keit darüber, dass ökonomische Reduktionismen, die, wie ich gezeigt habe, in der Rechtspopulismusdebatte häufig anzutreffen sind, für das Verständnis des Ras- sismus unzureichend sind. Rassismus wird vielmehr als eigenständiges Herrschaftsverhältnis und Welt-

18 Literatur

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19 20 SAMUEL SALZBORN Samuel Salzborn Die "Neue Rechte" im bundesdeutschen Rechtsextremismus1

Der Begriff „Neue Rechte“ ist einer derjenigen Termini nen formal nachvollziehbar formuliert sein sollen und in der Rechtsextremismusforschung, die sehr unter- dass sie in ihrer Bezugnahme auf dritte Referenzen schiedlich und nicht selten auch diffus verwandt wer- dem Anspruch einer intellektuellen Auseinanderset- den. Es existieren mindestens drei Begriffsverständ- zung genügen. Dies meint Intellektualisierung auch im nisse, die sich oft auch überlappen. Zum einen wird Sinne der „Neuen Rechten“: dass die völkischen Posi- der Begriff als eine vor allem chronologisch intendierte tionen, die (auch) von der „Neuen Rechten“ vertreten Beschreibung verwandt, zum anderen – sehr eng ge- werden, umfangreich begründet und mit Referenzen fasst – mit Blick auf alle Strömungen der extremen aus der Geistes- und Ideengeschichte fundiert werden Rechten, die sich selbst als neurechts verstehen und sollen. Dabei geht es der „Neuen Rechten“ um „kultu- schließlich – vor allem in analytischer Intention – als relle Hegemonie“, das heißt sie ist eine lose Bewegung, Kategorie, die nicht nur die Selbstbeschreibung ein- die politische Macht gerade nicht durch Erringung von zelner Akteure umfasst, sondern darüber hinaus auch parteipolitischer Regierungsverantwortung erreichen funktional danach fragt, was oder wer als „Neue Rech- will, sondern ihre Positionen gesellschaftlich als hege- te“ beschrieben werden kann bzw. sollte. monial durchsetzen möchte. Das kann dann auch be- Das politische Ziel der „Neuen Rechten“ lässt sich im deuten, dass eine Partei ihre Positionen (schleichend) Wesentlichen unter zwei Schlagworten zusammenfas- übernimmt, orientiert aber mehr darauf, Einstellun- sen: die Intellektualisierung des Rechtsextremismus gen und Werthaltungen auf einer breiten gesellschaft- durch die Formierung einer intellektuellen Metapolitik lichen Ebene zu beeinflussen. und die Erringung einer (rechten) „kulturellen Hege- Der historische Entstehungszusammenhang der monie“ (vgl. Cremet u.a. 1999; Brauner-Orthen 2001; „Neuen Rechten“ ist das Scheitern der NPD auf dem Griffin 2000; Pfahl-Traughber 1998). Beim Begriff der parlamentarischen Weg Ende der 1960er Jahre – was Intellektualisierung mag sich, aus einer gesellschafts- auch zeigt, dass bereits entstehungsgeschichtlich eine kritischen Perspektive, spontan Unbehagen einstellen, Trennung von „alter“ und „neuer“ Rechter wenig weil mit ihm umgangssprachlich ein aufgeklärtes, re- sinnvoll ist, weil es diese nicht ohne jene geben würde flektiertes, selbstkritisches Denken verbunden wird und beide faktisch strategische Optionen des Rechts- – allesamt Kategorien, die nicht nur im Widerspruch extremismus darstellen, die nicht substanziell (welt- zum Rechtsextremismus stehen, sondern auch von anschaulich oder organisatorisch) getrennt wären, Rechtsextremisten abgelehnt werden. „Intellektuali- sondern sich lediglich in bestimmten Nuancen und sierung“ kann aber eben auch, in einem wertneutra- eben strategischen Überlegungen unterscheiden. Zu- len Sinn verwandt, meinen, dass die eigenen Positio- gleich ist die „Neue Rechte“ in Deutschland aber auch

1. Der Beitrag basiert auf der Darstellung in Salzborn 2018a; dort finden sich auch weiterführende Literaturhinweise.

22 ein bewusster Gegenpol zur in den späten 1960er Jah- Adaptionen an die politische Linke, insbesondere den ren entstehenden Neuen Linken der Anti-Vietnam- italienischen Hegemonietheoretiker kriegs- und Studierendenprotestgeneration, die von unübersehbar; das strategische Ziel besteht darin, durch dieser bestimmte strategische Ansätze übernimmt, Mimikry – also durch äußerliche (terminologische) man könnte auch sagen: plagiiert. Dazu zählt auf der Anpassung an die jeweilige (politische, mediale) Um- einen Seite die Strategie, losen Zirkeln und Gruppen gebung – die eigenen Ziele zu verschleiern und so in den Vorzug vor einer großen, einheitlichen Organisa- den gesellschaftlichen Mainstream hineinzuwirken, tion zu geben, zum anderen die starke Orientierung diesen nicht in Detailfragen zu verändern, sondern im auf die intellektuelle Auseinandersetzung im medialen Sinne einer Metapolitik grundlegende Denkrichtungen Raum und schließlich auch der fluide Charakter von einer Gesellschaft zu prägen und zu bestimmen, um so vorhandenen Organisationen, an die sich im Spektrum den Bereich der (politischen) Kultur zu besetzen, der der „Neuen Rechten“ weniger geklammert wird, als dann – mittel- oder langfristig – auch zu einer poli- beispielsweise im Parteienspektrum. So nimmt es auch tischen Neuordnung im Sinne der „Neuen Rechten“ wenig Wunder, dass nicht nur die als Abspaltung von führen soll. Es ist also ein Umweg, der auch scheinbar der NPD 1972 gegründete Aktion Neue Rechte schnell vor- und unpolitische Felder wie Kunst und Musik ein- in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, die neurech- schließt, als Teil der strategischen Erwägungen jen- ten Wertvorstellungen allerdings an anderen Orten seits der Parteiförmigkeit des Rechtsextremismus. weiter diskutiert und lanciert werden. Mit Blick auf die weltanschaulichen Ankerpunkte der Die 1970er Jahre sind nämlich auch das Jahrzehnt der „Neuen Rechten“ muss zunächst betont werden, dass Gründung zahlreicher Publikationsorgane, die sich das Adjektiv „neu“ hier auch tendenziell auf eine falsche teilweise zu wesentlichen Organen der neurechten Fährte lockt – denn, mit Ausnahme des Terminus des Szene entwickeln werden (wie z.B. das bieder aufge- „Ethnopluralismus“, ist nichts an der Weltanschau- machte Magazin Criticón), andere aber, nachdem in ung der „Neuen Rechten“ wirklich neu (vgl. Bötticher ihnen einflussreiche Debatten geführt, sie aber an 2008), sondern nimmt vielmehr, ausdrücklich und ex- Verbreitung verloren haben, auch sang- und klanglos plizit, Anleihe bei der – von (1950), der untergehen (wie die nationalrevolutionäre wir selbst, wie kaum ein zweiter für das Bestreben nach Integra- deren Chefideologe in der Frühpha- tion zwischen den Spektren im rechtsextremen Milieu se der neurechten Bewegung maßgeblichen Einfluss stand – so etikettierten Konservativen Revolution der auf die Ideologieproduktion, aber auch die Brückenbil- Weimarer Republik, deren Protagonisten ihrerseits re- dung bis in die grün-alternative Szene hatte; vgl. Heni trospektiv zurecht als weltanschauliche Vordenker und 2007). Ebenfalls nicht zu unterschätzen, wenngleich Wegbreiter des Nationalsozialismus gesehen wurden, auch erst in den späten 1980er, frühen 1990er Jahren zugleich diesem aber intellektuell auch überlegen wa- wirklich einflussreich in der bundesdeutschen Szene, ren. Insofern sind die ideengeschichtlichen Referen- ist auch die französische mit ihrem zen innerhalb der „Neuen Rechten“ auch jene Intel- organisatorischen Kern der GRECE um den Chefden- lektuelle der Weimarer Zeit, die das weltanschauliche ker (vgl. Weber 2011), der im Bereich Grundgerüst des Nationalsozialismus - direkt oder in- der Begriffspolitik vor allem durch sein Konzept des direkt - geprägt haben, wie Max Hildebert Boehm, Ar- ethno-différencialisme prägend war (vgl. Taguieff 1994; thur Moeller van den Bruck, , Othmar Spektorowski 2003: 111ff.) – eine begriffliche Variati- Spann, , Martin Heidegger, , on der ethnischen Ungleichheitsideologie des Rechts- Edgar Julius Jung, und Ernst Jünger (vgl. extremismus, die allerdings kulturalistisch und nicht Beyme 2013; Lenk u.a. 1997; Prehn 2013). rassistisch argumentiert und an das Konzept des Die „Neue Rechte“ geht dabei, wie alle Teilsegmente „Ethnopluralismus“ anknüpft, dessen Formulierung des Rechtsextremismus, von einer Ungleichheit der wesentlich Henning Eichberg zugeschrieben wird. Menschen aus, die nach wie vor ethnisch, aber nicht Die politische Strategie der „Neuen Rechten“ ist, in mehr explizit rassistisch zu begründen versucht wird Erweiterung der Aspekte einer (weitgehenden) Or- und deren Antiuniversalismus nicht, wie in der NS- ganisationslosigkeit und der Adaption linker Kul- Ideologie, in der Vernichtungs-, sondern einer Seg- turtechniken, gekennzeichnet durch eine politische mentierungsvorstellung mündet, der konsequenten Mimikry und den Versuch, eine intellektuelle Meta- räumlichen Separierung und geopolitischen Trennung politik mit dem Ziel einer konservativen Kulturrevolu- von Menschen nach ethnisch-kulturalistischen Krite- tion zu betreiben. Auch hier sind die terminologischen rien („Ethnopluralismus“).

23 Diese ethnische Kategorialtrennung basiert auf ei- So hatten es auch einige neurechte Intellektuelle ge- nem homogenisierenden und soziobiologischen Dif- schafft, in den Medien ein Netzwerk der gegenseitigen ferenzdenken, in dem einerseits Menschen nur in und wechselseitigen Rezeption zu etablieren, die die ihrer ethnisch-kulturellen Identität – und nicht in eigenen Thesen einer größeren Öffentlichkeit bekannt ihrer Subjektivität – gedacht werden, immer nur als machten (vgl. Junge u.a. 1997; Butterwegge/Hentges Teil eines (unabänderlichen) Kollektivs, das anderen 1999), im Fahrwasser des Historikerstreits war es ei- Kollektiven gegenüber- und entgegensteht, im Sin- nem der wichtigsten Vordenker der Neuen Rechten in ne einer auch kämpferisch und kriegerisch gedachten Deutschland, Karlheinz Weißmann (1995) gelungen, Freund-Feind-Dichotomie, die sich mit einem homo- seine Sicht über den Nationalsozialismus in der re- erotisch-heroischen Männlichkeitsideal zur „männ- nommierten Reihe „Propyläen Geschichte Deutsch- lichen Nation“ (Kämper 2005) amalgamiert. Mit Blick lands“ unterzubringen (der Band wurde, kurz nach auf den Gesellschaftsaufbau dominiert innenpolitisch Erscheinen, wegen seiner geschichtsrevisionistischen ein völkischer Nationalismus in Verbindung mit einem Positionen wieder vom Markt genommen), neurechte autoritären Etatismus, der sich außenpolitisch in eth- und rechtsextreme Intellektuelle lancierten weit ver- nopluralistische Konzepte übersetzt. Ein gewichtiger breitete Aufrufe wie den zum 50. Jahrestag der Be- Faktor in der neurechten Diskussion ist zudem die Spi- freiung vom Nationalsozialismus unter dem Titel „8. ritualität und das Ganzheitlichkeitsdenken, was nicht Mai 1945 – Gegen das Vergessen“ (FAZ, 07.04.1995), nur eine organische und hierarchische Staatsorgani- dessen Intention es war, die Deutschen zu Opfern zu sation umfasst, sondern auch eine starke Hinwendung stilisieren und die deutsche Verantwortung für den zu religiösen Vorstellungen, neben christlich-funda- Nationalsozialismus klein zu reden – an sich nichts mentalistischen Programmatiken besonders zu (neu-) ungewöhnliches in der rechtsextremen Szene, nur dass heidnischen, naturreligiösen oder germanischen Viel- dieser Aufruf nicht einfach in rechten Postillen er- götterglauben. schien, sondern in der meinungsführenden Frankfurter Die Hochzeit der „Neuen Rechten“ in Deutschland sind Allgemeinen Zeitung – und hier, was auf die Strategie zweifelsfrei die 1990er Jahre, was nicht zuletzt aus der Verwischung der Grenzen zwischen Rechtsextre- dem Kontext der so genannten geistig-moralischen mismus und politischer Mitte verwies, auch gemein- Wende resultiert, die die Regierung Kohl seit 1982 pro- sam mit zahlreichen Unterschriften von Politikern der klamiert und die sich, nicht nur weltanschaulich, son- Unionsparteien und FDP. dern auch personell, in den 1990er Jahren nachhaltig Zugleich war die in den 1990er Jahren als Flaggschiff verfangen hatte: denn das Programm, ein völkisches der „Neuen Rechten“ geltende Wochenzeitung Junge Nationenselbstverständnis (wieder) salonfähig zu Freiheit (vgl. Braun/Vogt 2007; Kellershohn 1994) um machen, die offizielle Geschichtsschreibung mit Blick intensive, intellektuell anspruchsvolle Debattenfüh- auf den Nationalsozialismus zu revidieren und sich rung und Lancierung von Themen bemüht und die im selbst zu Opfern zu stilisieren, waren wesentliche Po- neurechten Spektrum anzusiedelnden Monatsmaga- litikinhalte nicht nur der extremen Rechten, sondern zine wie Criticón und Mut schafften es nicht nur, im- auch von Teilen der christlich-liberalen Regierungs- mer wieder auch Autor(inn)en außerhalb des rechten koalition. Insofern waren die, wie man sozialwissen- Spektrums zu gewinnen, sondern auch, neben politi- schaftlich sagt, Gelegenheitsstrukturen für die „Neue schen und historischen Themen, ästhetisch-kulturel- Rechte“ günstig, das grundsätzliche Klima in der Bun- le Fragen intensiv zu thematisieren. Mitte/Ende der desrepublik war staatsoffiziell rechtskonservativ, das 1990er Jahre wurden aber die Differenzen innerhalb Asylrecht 1993 mit den Stimmen fast aller Parteien so des Konservatismus wieder stärker – das mag zum ei- nachhaltig eingeschränkt, dass zeitgenössisch oft von nen damit zu tun haben, dass eine der in Sachen Rechts- dessen faktischer Abschaffung gesprochen wurde, die extremismus wenigen wirklich aufmerksamen Verfas- rassistischen Morde und Anschläge auf Asylbewerbe- sungsschutzbehörden (die von Nordrhein-Westfalen, runterkünfte über lange Zeiträume von der Staatsge- nachdem Hamburg zuvor das Thema kurz zuvor auf- walt toleriert und oft nur mit der Sorge bedacht, sie gegriffen hatte) begann, sich intensiv mit der „Neuen könnten dem Ansehen Deutschlands in der Welt scha- Rechten“ als Teil des Rechtsextremismus zu befassen, den, herrschte ein politisches Klima Anfang der 1990er zum anderen damit, dass die Detailstudien zu Teilas- Jahre, in denen neurechte Positionen auch außerhalb pekten der rechtsintellektuellen Bewegung deutlich der rechtsextremen Szene Fuß fassen konnten (vgl. zunahmen und intensive Reflexionen sowohl über Gessenharter 1994; Lenk 1994). die (neu-)heidnischen und esoterischen (vgl. Heller/

24 Maegerle 2001), die ökologisch-lebensschützenden beide Seiten profitierten –, vor allem funktionale As- (vgl. Geden 1996; Sierck 1995; Wölk 1992), die män- pekte der „Neuen Rechten“: War sie ein Scharnier, war nerbündischen (vgl. Heither u.a. 1997) oder auch die sie eine Brücke, war sie ein Bindeglied zum Konserva- geschichtsrevisionistischen Aspekte (vgl. Salzborn tismus? Sollte man also die „Neue Rechte“ als rechts- 2000; Wiegel 2001) stattfanden, und schließlich sicher extremen Teil des Konservatismus begreifen – oder als auch damit, dass die „geistig-moralische“ Vorherr- vom Konservatismus zunächst unabhängige Strömung schaft des rechten Konservatismus in den Unionspar- des Rechtextremismus? Oder zielte sie möglicherwei- teien nicht nur durch den rot-grünen Regierungs- se, fluktuierend zwischen allen Szenen, vor allem dar- wechsel 1998 politisch gebrochen wurde, sondern dass auf, ihre kulturalistisch-völkische Sichtweise in mög- der offen rassistische Flügel in der Union – sei es aus lichst vielen politischen Spektren zu lancieren und Einsicht, sei es aus machtpolitischem Kalkül – zuneh- platzieren, war sie also, wie ein Begriff in der Debatte mend von (wieder) stärker transatlantisch orientierten lautete, möglicherweise ein politisches Chamäleon? Kräften dominiert wurde und insofern auch innerpar- Damit führte die Diskussion zurück in einen Bereich, teilich an Einfluss verlor. der in der Rechtsextremismusforschung immer wie- Außerdem sollte auch nicht vernachlässigt werden, der diskutiert worden war – die so genannte Grauzone dass gerade im Bereich der neurechten Medien das bzw. das so genannte Brückenspektrum. Also dasjeni- intellektuelle Potenzial geradezu dramatisch zusam- ge Spektrum von Organisationen, die sich selbst nicht mengebrochen ist, es etwa bei der Jungen Freiheit eine als Teil des Rechtsextremismus sehen, aber weltan- nachhaltige Hinwendung zum gesamten rechten Spek- schaulich in wesentlichen Punkten mit rechtsextre- trum (und damit eine massive Entintellektualisierung) men Positionen übereinstimmen und durch perso- gegeben hat und die bundesdeutsche Rechte an ihr in- nelle oder organisatorische Überschneidungen selbst tellektuelles Potenzial der 1990er Jahre über länge- auch immer wieder Brücken zwischen Konservatismus re Zeiträume hinweg zunächst nicht mehr anknüpfen und Rechtsextremismus bauen. Der Begriff der Grau- konnte, schlichtweg weil das (Diskussions-)Niveau zone betont den stufenweisen (weltanschaulichen) (wieder) einfältiger und primitiver geworden ist. Eines Übergang vom Rechtsextremismus zur politischen der großen, einflussreich intendierten Werke der „Neuen Mitte (ist aber analytisch schwach, weil eine Grauzo- Rechten“, das vom Criticón-Chef Caspar von Schrenck- ne letztlich alles sein kann und damit faktisch nichts Notzing herausgegebene Lexikon des Konservatismus ist; vgl. Salzborn 2012), der des Brückenspektrums die (1996), das sich vor allem dadurch auszeichnete, dass Funktion bestimmter Gruppen für die Etablierung des es um nachhaltige Differenzverwischungen zwischen Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft. Die Konservatismus und Rechtsextremismus bemüht war zwei wichtigsten sozialen Milieus, die weltanschaulich und zugleich auf ästhetisch-kulturellem Gebiet Do- wie organisatorisch über längere Traditionen verfü- minanz entwickeln wollte, erschien nicht nur in einem gen und strukturell in dieses Spektrum fallen, sind die abseitigen österreichischen Verlag, sondern verpuffte Vertriebenenverbände (vgl. Salzborn 2000, 2001) und in der Szene weitgehend. Die FAZ (05.05.1997) – we- Teile der studentischen Verbindungen, vor allem die nige Jahre zuvor noch ein wichtiger Hebel neurechter Burschenschaften, die Gildenschaften und die VDSt- Intellektueller, um ihre Positionen zu platzieren – ver- Verbindungen (vgl. Heither u.a. 1997; Projekt „Konser- riss es in wenigen Zeilen wegen seiner einseitigen Aus- vatismus und Wissenschaft“ 2000; Weidinger 2015). richtung sogar als „schwachbeinig“. Beide verbindet eine starke (völkische) Traditions- Seit den späten 1990er Jahren hat sich insofern der orientierung, ein reaktionäres Familien- und Ge- Einfluss der „Neuen Rechten“ gewandelt, was auch an schlechterbild, ein Festhalten an organisatorischen der sozialwissenschaftlichen Diskussion abzulesen ist: und gesellschaftlichen Hierarchien ebenso, wie eine Die von Wolfgang Gessenharter und Hartmut Fröch- rassistisch und/oder ethnoplural begründete Ableh- ling bzw. Wolfgang Gessenharter und Thomas Pfeiffer nung des Universalitätspostulats und damit ein völ- herausgegebenen Bände Rechtsextremismus und Neue kisches Menschen- und Gesellschaftsbild sowie eine Rechte in Deutschland. Neuvermessung eines politisch- starke Tendenz zu geschichtsrevisionistischen Po- ideologischen Raumes? (1998) und Die Neue Rechte – sitionen, insbesondere mit Blick auf die Umkehr des eine Gefahr für die Demokratie? (2004) diskutierten, nun Täter-Opfer-Verhältnisses. Damit vertreten beide Mi- bemerkenswerterweise sogar in einem ernsthaften Di- lieus, die sich oft auch personell mit dem organisier- alog zwischen Verfassungsschutz und Wissenschaft – ten Rechtsextremismus überlappen, wesentliche As- ein seither nicht mehr wiederholtes Novum, von dem pekte der neurechten Weltanschauung, die zwar nicht

25 aus dieser Tradition stammen, aber trotzdem diesel- thek des Konservatismus: Das Institut für Staatspoli- ben soziostrukturellen Funktionen erfüllen, wie die tik, das in keiner Beziehung zu einer Universität steht „Neue Rechte“ sich ihr programmatisch verschrieben (der Terminus „Institut“ wird zwar fast ausschließ- hat. Insofern erweitern sich die sozialwissenschaftli- lich von Universitäts-Instituten verwandt, ist aber chen Debatten der Rechtsextremismusforschung über kein geschützter Begriff; dass das IfS ihn verwendet, die „Neue Rechte“ zunehmend (wieder) in Richtung ist Teil der neurechten Mimikry-Strategien, bei dem eines intellektuellen Brückenspektrums, das selbst- man gerade gegenüber Unwissenden suggeriert, wis- beschreibend zwar nicht Teil der „Neuen Rechten“ ist, senschaftlich auf universitärem Niveau zu arbeiten), ihr weltanschaulich aber nahe steht (vgl. Butterwegge wurde im Mai 2000 unter maßgeblicher Führung von u.a. 2002; Schmidt 2001; siehe hierzu auch Weiß 2017; drei Gildenschaftern gegründet: , Chef- Salzborn 2017). redakteur der Jungen Freiheit und Gildenschafter der Waren die späten 1990er und frühen 2000er Jahre Freiburger Hochschulgilde, Karlheinz Weißmann, Gil- die Zeit des Niedergangs der „Neuen Rechten“ in der denschafter der Göttinger Hochschulgilde sowie Götz Bundesrepublik und ihrer öffentliche Marginalisie- Kubitschek, langjähriger Aktivensprecher der Deut- rung, so waren sie zugleich auch die Zeit der internen schen Gildenschaft und zeitweilig Ressortchef für den Sammlung und Reorganisation neurechter Strukturen Bereich „Sicherheit und Militär“ bei der Jungen Frei- – fernab der großen öffentlichen Bühne wurden neue heit (vgl. Kellershohn 2001: 1). Kubitschek übernahm Organisationen und Zeitschriften gegründet, neue Ak- die Geschäftsführung des IfS, zusätzlich aber auch die tionsformen entwickelt und über die Frage diskutiert, redaktionelle Leitung der Sezession sowie des neuini- in welcher Weise denn der Anspruch auf eine rechte tiierten Verlags Edition Antaios. Das IfS fokussiert auf kulturelle Hegemonie durch eine intellektuelle Meta- fünf thematische Kernbereiche: „Staat und Gesell- politik mit dem Ziel einer konservativen Kulturrevolu- schaft“, „Politik und Identität“, „Zuwanderung und tion erreicht werden könnte. Integration“, „Erziehung und Bildung“, „Krieg und Im Umfeld der Wochenzeitung , die in den Krise“ und führt regelmäßig Sommer- und Winteraka- 1990er Jahren das Flaggschiff der „Neuen Rechten“ war demien durch und veröffentlicht wesentliche der dort und maßgeblich für die Verbreitung eines „völkischen gehaltenen Vorträge in Aufsatz- oder Broschürenform Nationalismus“ (Kellershohn 1994) in der öffentli- (vgl. Kellershohn 2009). Dem Institut für Staatspolitik che Debatte verantwortlich, entwickelten sich – nach fällt im neurechten Spektrum die Funktion der „Wis- dem vorübergehenden intellektuellen Niedergang der senschaft und Bildung sowie der Politik- und Medi- Zeitung – in den beginnenden 2000er Jahren mehre- enberatung“ zu, wie Helmut Kellershohn (2001: 1), re Projekte zur Reorganisation der „Neuen Rechten“. schreibt, wobei das IfS dabei eine operationelle Aufga- Der Jungen Freiheit selbst kommt dabei – wieder – die benteilung mit Junger Freiheit und der Edition Antaios Funktion der Strukturierung von Debatten und der In- eingeht: Während die Junge Freiheit die Medienöffent- tegration verschiedener rechter Strömungen zu, wobei lichkeit schafft, fokussiert die Edition Antaios auf die sie mit einer verkauften Auflage von rund 28.000 Ex- „Publikation von Arbeitsergebnissen, die im Kontext emplaren wöchentlich (Stand: 6/2016; zum Vergleich: dieses Netzwerkes entstehen“. Anfang 2008 waren es noch etwas mehr als 15.000) die Ein weiterer Baustein in diesem institutionellen Netz- Rolle eines rechten Leitmediums erfüllt. werk der „Neuen Rechten“ in Deutschland ist die Bi- Die Entwicklung der „Neuen Rechten“ seit der Jahr- bliothek des Konservatismus, die wie das IfS im Jahr tausendwende vollzog sich in zwei unterschiedli- 2000 entstanden ist: Die Bibliothek des Konservatis- chen Schritten: Der erste bestand in der Schaffung mus entstand auf Betreiben des vormaligen Criticón- neuer Institutionen bzw. Organisationen, vor allem Chefs Caspar von Schrenck-Notzing, der im Jahr 2000 dem Institut für Staatspolitik (IfS) und der Bibliothek eine gemeinnützige Förderstiftung Konservative Bil- des Konservatismus, sowie der Gründung neuer Zei- dung und Forschung (FKBF) ins Leben rief und diese tungsprojekte, vor allem der Sezession und der Blauen wiederum eng mit der Jungen Freiheit verzahnte, als Narzisse, der zweite in der Entwicklung und dem Ein- er im Jahr 2007 den Stiftungsvorsitz an den Chefre- satz neuer Formen sozialer Bewegung von rechts, vor dakteur der Jungen Freiheit, Dieter Stein, übergab. Die allem in der Adaption der Identitären Bewegung in FKBF verwaltete zunächst die rund 15.000 Bände um- Deutschland (vgl. Bruns u.a. 2014). Die beiden zentra- fassende Privatbibliothek von Schrenck-Notzing so- len, neu geschaffenen neurechten Strategieorte waren wie das Archiv der Criticón, rekrutierte aber zahlreiche und sind das Institut für Staatspolitik und die Biblio- Spenden, so dass im Jahr 2011 an zentraler Stelle in

26 Berlin eine Bibliothek des Konservatismus eingeweiht verändert, ja das antiamerikanische und eurozentri- werden konnte, die mittlerweile auf drei Etagen um- sche Anliegen der rechtsintellektuellen „Neuen Rech- fangreiche Bestände an Literatur zur Verfügung stellt, ten“ vom Islam und Islamismus vor grundlegend neue, aber auch Vortragsveranstaltungen organisiert, eige- eben nicht nur religiöse, sondern gerade politische He- ne Publikationen herausgibt und langfristig das Ziel rausforderungen gestellt wurde. Das Generalziel der verfolgt, „eine konservative Denkfabrik mit verschie- Sezession ist dabei eine Resakralisierung der Politik, die denen Veranstaltungsformaten, vielleicht sogar hin aber nicht einfach gleichzusetzen ist mit einer reinen zu einer Akademie oder einem hochschulähnlichen Rückholung oder Umkehrung der Aufklärungs- und Zweig“ (Fenske 2014: 5) zu etablieren. Man wolle die Säkularisierungsprozesse in Deutschland und Europa, „konservativen Eliten von morgen“ mit dem „geisti- sondern diese vielmehr in die Weltbildformulierung gen Rüstzeug“ ausstatten (vgl. Moritz 2014: 5), also einbezieht, sich damit also nicht nur gegen den Prozess für das neurechte Konzept – das hier begrifflich streng der Säkularisierung, sondern zugleich auch gegen den orientiert an der Terminologie der Konservativen Re- der Individualisierung von Religion wendet. Die Agen- volution der Weimarer Republik als „konservativ“ eti- da der Sezession ist gegen eine „heillose Welt“ (Ger- kettiert wird – einer Intellektualisierung durch Meta- lich 2011: 29) gerichtet, gegen eine „‚judenchristlich‘ politik den Ort schaffen. inspirierte deutsche Reformation“ (ebd.) und für ei- Nachdem Medien wie die Criticón oder die wir selbst, nen „in ‚politische Form‘ gebrachten Katholizismus“ die die intellektuelle Debatte der neurechten Szene vor (ebd.). allem in den 1980er Jahren maßgeblich und intensiv Eine ähnliche Agenda, allerdings nur auf dem intellek- geprägt hatten, ihr Erscheinen eingestellt hatten, war tuellen Niveau einer anspruchsvollen Schülerzeitung, eine für die neurechte Szene eklatante Lücke entstan- verfolgt die Blaue Narzisse (die 2004 ursprünglich auch den: Anfang der 2000er Jahre gab es keinen medialen als Schülerzeitung in der ostdeutschen Stadt Chemnitz Ort mehr, der die intellektuelle Diskussion neurech- entstanden ist): die Popularisierung neurechter Ide- ter Themen jenseits des Tagesgeschäfts organisierte en, allerdings nicht wie bei der Sezession adressiert an und strukturierte. Diese Lücke sollte die vom Institut fest in der Szene integrierte und weltanschaulich über- für Staatspolitik herausgegebene Zeitschrift Sezession zeugte Anhänger neurechter Ideologie, sondern ge- schließen, die seit 2003 mit zunächst vier, dann mit richtet an ein jüngeres Publikum, das zwar empfäng- sechs Ausgaben jährlich erscheint. Als intellektueller lich für rechte Ideologie, aber eben gerade noch nicht und metapolitischer Debattenort der „Neuen Rechten“ gefestigt und in die Szene integriert ist. Auch wenn die arbeitet sie an einer Reaktualisierung der Theorien der Blaue Narzisse teilweise mit gedruckten Papierausga- Konservativen Revolution der Weimarer Republik und ben erscheint, ist ihr zentrales Schlachtfeld das In- integriert deren Positionen in aktuelle politische und ternet, wo neurechte Weltanschauungen in niedrig- gesellschaftliche Debatten. Die erste Ausgabe der Se- schwelliger Weise vermittelt und somit an Rezipienten zession erschien im April 2003, das Editorial eröffnet verbreitet werden, die intentional möglicherweise nie mit dem an Carl Schmitt erinnernden Satz: „Der Ernst- auf die „Neue Rechte“ gestoßen wären, aber auf diese fall hat den Vorzug, die Tatsachen deutlicher hervor- Weise fast zufällig den ersten Kontakt zur Szene her- treten zu lassen.“ (Weißmann 2003: 1). Auch wenn der gestellt bekommen. Die Blaue Narzisse ist insofern im damalige Chefideologie der Sezession und wichtigste neurechten Netzwerk der gegenwärtigen Bundesrepu- Vordenker der „Neuen Rechten“ im Deutschland der blik eine Vorfeldinstitution für Agitation und Propa- Gegenwart, Karlheinz Weißmann, damit zunächst nur ganda, die eine Einstiegsmöglichkeit auf geringem in- ein Heft mit dem Themenschwerpunkt „Ernst Jünger“ tellektuellem Niveau, aber mit zentralen Themen und einleitete, in dem es aber faktisch fast nur um Krieg Strategien der „Neuen Rechten“ ermöglicht. ging, konnte dieser Satz programmatisch für das Ge- Ähnlich einzuschätzen ist auch die Entstehung der samtanliegen der Sezession gelesen werden. Getreu Identitären Bewegung in Deutschland (vgl. Goetz u.a. des ersten Satzes in Carl Schmitts Politischer Theologie 2017; Speit 2018), die – wie schon die „Neue Rech- (1922), nach dem souverän sei, wer über den Ausnah- te“ bei ihrer Entstehung in den 1970er Jahren – zen- mezustand entscheide, attestiert Weißmann hier als tral von den Entwicklungen in Frankreich inspiriert Anliegen den „Ernstfall“, in den sich der neurechte wurde (vgl. Bruns u.a. 2014). Die Identitäre Bewegung Rechtsextremismus in Deutschland und Europa ver- Deutschland entstand im Oktober 2012 zunächst vir- setzt sieht, nachdem sich die weltpolitische und geo- tuell – auf Facebook; sie begreift sich als Ableger der strategische Kartografie aufgrund von 9/11 nachhaltig französischen Jugendorganisation Génération Identi-

27 taire und proklamiert – getreu der neurechten Strate- gie der Mimikry– eine formale Abgrenzung gegenüber offen nationalsozialistischen Positionen (und auch gegenüber linken Positionen, aber da dies inhaltlich offensichtlich und evident ist, handelt es sich hierbei auch um eine bewusste Strategie der analogisierenden Gleichsetzung, bei der es mit Blick auf die Rezipienten vor allem darum geht, nicht den Eindruck einer Nähe zum Rechtsextremismus zu erwecken). Gudrun Hentges u.a. (2014) haben in einer systema- tischen Untersuchung die Aktivitäten der Identitären Bewegung in Deutschland untersucht, die diese virtuell und im wirklichen Leben durchgeführt hat. Wie bei der Blauen Narzisse ist der Schwerpunkt der „Identitären“ dabei das Internet, das heißt, von einer wirklichen so- zialen Bewegung kann schon allein aufgrund mangeln- der Realpolitik nicht gesprochen werden; gleichwohl ist das Internet als Medium für die Agitation von parti- zipationsfernen Personen, die allerdings grundsätzlich über eine rechte Weltanschauung verfügen, der ideale Ort für die intensivere Einbindung in neurechte Denk- weisen. Die Strategie der Identitären besteht dabei da- rin, im realen Leben möglichst spektakuläre Aktionen (vor allem gegen Zuwanderung) durchzuführen, die dann gefilmt und online vermarktet werden – soin- szeniert, dass kaum auffällt, dass die tatsächliche „Be- wegung“ bei ihren Aktionen kaum mehr als eine Hand- voll Aktivisten versammeln kann, die aber filmisch so dargestellt werden, als seien sie eine große Bewegung:

„Das Internet ermöglicht mit einem geringeren Orga- nisationsaufwand die Simulation eines kontinuierli- chen Protestgeschehens, das überregional – gar trans- national und international vernetzt – aufrechtgehalten wird, so dass eine Diskrepanz zwischen den eigentli- chen Aktionen ‚auf der Straße‘, die bisweilen von nicht mehr als einem Dutzend Aktivisten durchgeführt wer- den, und dem virtuellen Echo, das diese Aktionen auf- grund viraler Verbreitung im Internet erfahren, ent- steht.“ (Hentges u.a. 2014: 9)

Die Identitäre Bewegung stellt damit so etwas wie den aktionistischen Arm der „Neuen Rechten“ dar, der neurechte Themenfelder wie Identitäts- und Heimat- politik oder Antimigrationsagitation besonders für Ju- gendliche attraktiv machen soll und hierfür moder- ne Kommunikationsformen adaptiert (vgl. Salzborn 2018b).

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30 JULIA HAAS Julia Haas Der facettenreiche Antifeminismus der Neuen Rechten – zwischen klassischem Antifeminismus und der Instrumentalisierung feministischer Politiken1

Antifeminismus gibt es, seit es Feminismus gibt – wo der extrem rechte, französische Schriftsteller Renaud für Freiheiten und Rechte gestritten, ja diese bereits Camus (2016) prägte. Hierbei wird auf dramatische erkämpft wurden, gibt es auch immer Stimmen, die Art und Weise vor der vermeintlichen Masseneinwan- den Weg zurückgehen möchten. Die jeweiligen Formen derung muslimischer Menschen, vorrangig Män- und Ausprägungen antifeministischer Ausdruckswei- nern, gewarnt. Durch die niedrigen Geburtenraten der sen haben sich im Laufe der Zeit ebenso verändert, wie „deutschen und europäischen Völker“ (IB Deutschland es feministische Strömungen und ihre Themen- und 2018) werde, so die Identitären, in gar nicht allzu ferner Schwerpunktsetzungen getan haben. Antifeministi- Zukunft ein Austausch der einheimischen Bevölkerung sche Argumentationsweisen variieren dabei zwischen stattfinden. Verantwortlich für diesen Prozess zeich- einem altgedienten klassischen Antifeminismus, der nen die Identitären in verschwörungstheoretischer beispielsweise „den“ Feminismus als verantwortlich Manier der „jüdischen Weltverschwörung“ eine kleine für kinder- und ehelose Karrierefrauen ansieht oder Gruppe von Menschen, die zum Ziel eine (wirtschaftli- Frauen aufgrund ihrer höheren Emotionalität am liebs- che) Schwächung Europas hätten. (vgl. Winkler 2017: ten aus dem politischen Geschehen verdrängen würde. 63) Wenn auch von manchen Aktivist*innen auf die ein Vertreter*innen der Neuen Rechten wie beispielsweise oder andere Weise herausgefordert, gehört das Denken die Identitären, die sich als hippe rechte Jugendbewe- in starren und konservativen Geschlechterrollen zum gung zu inszenieren versuchen, betreiben neben einem ideologischen Fundament der extremen Rechten. Die klassischen Antifeminismus auch eine Ablehnung von Erzählung des „Großen Austausches“ fügt diesem Bild allem rund um das Konzept Gender und geschlecht- der Frau als Mutter und Gebärerin die Feindschaft ge- licher Vielfalt. Sie inszenieren sich als „wahre Frau- gen einen „modernen Feminismus“ hinzu, da dieser enrechtlerinnen“, die sich gegen einen vermeintlich die Kinderlosigkeit von Frauen verschulde und Män- rückständigen Islam zur Wehr setzen müssten und ge- ner verweichliche, ja sie ihrer Wehrhaftigkeit berauben ben „dem“ Feminismus die Schuld an der – aus ihrer würde. Das Attentat in Halle am 09.10.2019 forderte Sicht – bedrohlichen einwanderungspolitischen Lage. zwei Menschenleben, geplant hatte der Attentäter ei- Um dieses Bedrohungsszenario zu untermalen bedie- nen Massenmord an zahlreichen Jüdinnen und Juden. nen sie sich, wie auch andere neurechte DenkerInnen², Zu Beginn seiner Tat ist folgender Satz auf dem Video- der Theorie des sogenannten „Großen Austausches“. Mitschnitt zu hören: "Feminismus ist Schuld [sic!] an In dieser verschwörungstheoretischen Erzählung, die der sinkenden Geburtenrate im Westen, die die Ursache

1. Der Beitrag basiert zu großen Teilen auf der Forschungsarbeit 2. An Stellen, an denen Bezug auf neurechte DenkerInnen und Ak- "Anständige Mädchen und selbstbewusste Rebellinnen - die Selbst- tivistInnen genommen wird, wird im Folgenden mit Binnen-I gegen- bilder identitärer Frauen", die im Februar 2020 bei Marta Press als dert, da deren Selbstverständnis lediglich ein zweigeschlechtliches Buch veröffentlicht wird (Haas 2020). Modell vorsieht und keine weiteren Geschlechter zulässt.

32 für die Massenimmigration ist. Und die Wurzel dieser mus der Neuen Rechten in seinen Facetten ausbreiten Probleme ist der Jude." (Bongen/Schiele 2019) In die- und skizzieren lässt. Hierfür ist das Verständnis neu- sen Worten wird nicht nur die zutiefst menschenver- rechter AktivistInnen einer Zweigeschlechtlichkeit, achtende Gesinnung des Attentäters offensichtlich, der gegenseitigen Anziehung von Mann und Frau und sondern auch die Verbindungslinien zwischen Anti- dem Anspruch „gleichwertig, jedoch nicht gleichartig“ semitismus, Antifeminismus und Rassismus. Neben zu sein ebenso eine Basis wie die identitätsstiftende den Aspekten Rassismus und Antisemitismus spielt und biologisch begründete „weibliche Essenz“ (Goe- der ausgedrückte Antifeminismus eine wichtige Rolle tz 2017: 258) bzw. männliche. Im Selbstbild identitärer im ideologischen Fundament der Neuen Rechten. Und und neurechter Aktivistinnen wird deutlich, dass Fe- doch hat er lange Zeit nicht die nötige Aufmerksam- minismus bzw. Elemente feministischer Politiken auf keit erhalten, die ihm in seiner „Scharnierfunktion“ unterschiedliche Weise verhandelt werden. Zum einen zwischen konservativen Kräften und extrem rechten ist nach innen, für die eigene Lebensweise, ein Einbe- Positionen zukommen sollte (ausführlich dazu Lang/ zug feministisch erkämpfter Werte und Freiheiten in Peters 2015). Nach den explizit antifeministischen unterschiedlichem Ausmaß zu erkennen. Nach außen Worten des Attentäters von Halle scheint die Beschäf- wird der vermeintliche Kampf um Frauenrechte für die tigung mit dem Thema Antifeminismus zumindest eigenen rassistischen Zwecke missbraucht und The- punktuell von Bedeutung zu sein, so titelte beispiels- men aufgegriffen, wie die Doppelbelastung von Frauen weise die Tageszeitung: „Rechtsextremismus: Femi- als Mutter und Berufstätige, die ebenso von feministi- nismus als Feindbild“ (Bongen/Schiele 2019) oder die scher Seite bearbeitet werden. Für diese gesellschaft- Frankfurter Rundschau „Antifeminismus und die be- liche Schieflage liefern sie jedoch keine progressiven drohte Männlichkeit der Rechten“ (Olson 2019). Um Ideen, sondern vereinfachte und reaktionäre Antwor- auf möglichst vielen Ebenen ihre rassistischen Ge- ten. Gemeinsam ist den Umgangsweisen zum Thema danken in gesellschaftliche Diskurse hineinzutragen, Feminismus eine Ablehnung eines Feminismus, der instrumentalisieren die neurechten Aktivistinnen fe- für Vielfältigkeit steht und die „natürlichen“ Grenzen ministische Positionen und Konzepte für ihre Zwecke der Geschlechter infragestellt. Um die folgenden an- und versuchen so ihr erklärtes Ziel „Frauen als politi- tifeministischen Argumentationen zu kontextualisie- sche Kraft“ (Stahn/Sellner 2018) zu gewinnen, umzu- ren, zeichne ich zunächst das geschlechterpolitische setzen. Die als „Frauenprojekt“ getarnte und unlängst Denken der identitären und neurechten AktivistInnen für beendet erklärte #120db-Kampagne der Identitä- in seinen Grundzügen nach. Anders als die mediale ren ist nur ein Beispiel für die sich schallplattenartig Berichterstattung es zu den Hochzeiten der Identitä- wiederholende Argumentation der Verteidigung von ren 2016/17 vermuten ließ, war das Auftauchen starker Frauenrechten und dem Schutz der körperlichen Un- und selbstbewusster Frauen in den vordersten Reihen versehrtheit (deutscher) Frauen vor einem vermeint- rechter Strukturen keine Neuerscheinung und auch der lich rückständigen Islam. Die neurechten AkteurInnen Einbezug feministischer Versatzstücke ist kein neues sind sich dabei nicht zu schade auf feministische Kon- Phänomen, wie Forscher*innen bereits seit den 2000er zepte zurückzugreifen, sich gleichermaßen jedoch von Jahren demonstrierten (vgl. Radvan 2013; Bitzan 1997a; einem „modernen“ Feminismus abzugrenzen. Köttig 2006). Anlehnend an Juliane Lang (2018a: 16- Die Identitären können als ein zumindest zeitweiliger 22) sehe ich die Ausprägungen des neurechten Antife- aktionistischer Arm der Neuen Rechten begriffen wer- minismus entlang der Argumentationslinien (1) klas- den und erfüllten diese Rolle bis vor einigen Monaten sischer Antifeminismus, (2) Ablehnung von allem rund mehr oder weniger umtriebig. Der neurechte Theoreti- um das Konzept Gender, (3) vermeintlicher Kampf um ker Götz Kubitschek, Mentor der Identitären, ließ sich Frauenrechte für die eigenen rassistischen Zwecke und vor einigen Wochen über deren Versagen aus und er- (4) der Anrufung einer wehrhaften Männlichkeit. Der klärte sie damit mehr oder weniger explizit dem Unter- Antifeminismus der Neuen Rechten zeigt sich in ver- gang geweiht (vgl. Rafael 2019). Diesen Aussagen ging schiedenen Facetten und äußert sich nicht nur in ei- eine gewisse Zeit voller gefloppter Aktionen, Untätig- nem klassisch und offen artikulierten Antifeminismus, keit und Repressionen durch Behörden gegenüber den sondern auch in Formen, die im ersten Moment sogar Identitären voraus – es wurde zunehmend still um die durch einen feministischen Anstrich glänzen, wie bei- selbsternannte „Bewegung“. Trotz ihres Bedeutungs- spielsweise die vermeintliche Verteidigung von Frau- verlustes bieten die Identitären eine eindrückliche enrechten. Folie, auf der sich der verbindendende Antifeminis-

33 Betonung der eigenen Weiblichkeit und dem Stolz auf Geschlechterpolitisches Denken der das eigene „Frausein“ wird in der Selbstdarstellung der Identitären identitären Aktivistinnen ein zweites wiederkehrendes Moment sichtbar, der Wunsch als selbstbewusst, stark Das Geschlechterbild der Identitären geht von einer und widerständig wahrgenommen zu werden. Zusam- binären Ordnung aus, der Existenz eines weiblichen mengenommen lassen sich beide Ausdrucksweisen und eines männlichen Geschlechts, die komplemen- in dem Begriff der „wehrhaften Femininität“ (Haas tär zueinander konzipiert sind und eine gegenseitige 2020) vereinen. Das Zusammenspiel von Wehrhaf- Anziehungskraft ausüben. Auch wenn Zugeständnisse tigkeit und femininem Auftreten tritt in ganz unter- an soziale Einflüsse gemacht werden, die Geschlech- schiedlicher Intensität bei den Aktivistinnen auf und terrollen durchaus beeinflussen können, liegt der auch die Art und Weise der Darstellung variiert stark Grundstein in einer „natürlichen“ Polarität von Mann zwischen den rechten Frauen. Es zeigt sich jedoch, je und Frau und deren Fähigkeit Kinder zu zeugen (vgl. stärker die Frauen feministisch geprägte Werte für Mayrl 2017; Goetz 2017: 258; Bruns/Glösl/Strobl 2014: sich in Anspruch nehmen und in ihr Leben integriert 168). Es ist ein Rückbezug auf eine „Essenz des Weib- haben, sich demnach aus der „schützenswerten Frau- lichen“ bzw. Männlichen erkennbar, so Goetz, gemeint enrolle“ entfernen, desto intensiver müssen sie Ele- ist damit: „[…] eine ohne weitere Argumente auskom- mente, die aus einer rechten Ideologie entspringen, mende, imaginierte Wesens- bzw. Naturhaftigkeit hervorheben. So sind gerade weibliche Aktivistinnen der Geschlechter“ (Goetz 2017: 258). Diese Essenz wird der Identitären, die sich einem Verhalten männlicher durch Konzepte rund um den BegriffGender angegriffen. Kameraden annähern, besonders bedacht darauf, ihre Grenzziehungen spielen in der identitären Argumen- Instagram-Kanäle mit aufreizenden und sexualisier- tationsstruktur auf mehreren Ebenen eine wichtige ten Bildern von sich zu füllen. Auch eine verbale Rück- Rolle. Für die eigene Identität benötige es immer ein besinnung auf eine weibliche Schutzbedürftigkeit, die Außen, ein anderes, wie Goetz einen identitären Ak- durch das sonstige Auftreten nicht wahrzunehmen tivisten wiedergibt. In diesem Gegensatz drücke sich ist, unterstreicht dieses Vorgehen. Die Aktivistin Me- der Wunsch der Identitären aus, die Dichotomie zwi- lanie Schmitz, offensiv und selbstbewusst auftretend, schen Mann und Frau zu bewahren (vgl. Goetz 2017: schreibt in einem ihrer Blogbeiträge: „Trotz allem 257). Ähnlich der ethnopluralistischen Argumentati- möchte ich am Ende des Tages in die Arme eines Man- on, der Andersartigkeit von Kulturen, werde auch die nes fallen und mich geschützt fühlen“ (Schmitz 2018b: Verschiedenartigkeit der (beiden) Geschlechter betont, 18.02.2018). Letztendlich schreibt sie, der Aussage fol- die nach einer unterschiedlichen Behandlung verlan- gend, doch einem/dem Mann an ihrer Seite die Aufgabe gen würden (vgl. Goetz 2017: 271). Eindrücklich zeigt „Schutz zu geben“ zu und bestärkt damit das vorherr- sich das Frauenbild der Identitären in ihrer Rolle im schende Bild der „soldatischen Männlichkeit“ (Debus/ „Großen Austausch“. Sie könnten (1) dem „Großen Laumann 2014: 21; 27). Austausch“ entgegenwirken, in dem sie selbst Kinder gebären, (2) trifft sie eine Teilschuld, da sie durch ihre gefühlsbetonte Art, den höheren Grad an Mitleid und Einbezug feministischer Positionen Altruismus einwanderungsfreundliche Parteien wäh- – (k)ein neues Phänomen? len und (3) seien die Frauen die ersten Opfer der Mas- seneinwanderung, denn sie würden von den aggres- Lange Zeit wurde die extreme Rechte aufgrund ihres siven migrantischen Männern angegriffen (vgl. Goetz inhärenten Sexismus und der patriarchalen Ordnung 2017: 255f.). Die Erzählung der „weißen Frau als Op- als Männer-Phänomen angesehen. Die hohe Gewalt- fer“ und die daraus resultierende Instrumentalisierung bereitschaft innerhalb der Rechten schien den Blick der vermeintlichen Schutzbedürftigkeit für die eigenen für Frauen als aktiv agierende in dieser Szene zu ver- rassistischen Zwecke zeigt eine lange historische Kon- sperren. In der feministischen Forschung zur extre- tinuität (ausführlich: AK Fe.In 2019: 166; Dietze 2019: men Rechten hat die strukturelle Unterschätzung von 54). Nach Goetz verlaufen die identitären Frauenbil- rechten Aktivistinnen einen Begriff – das Prinzip der der entlang „der Pole ‚Erhalt des Eigenen‘ (Mutter), „doppelten Unsichtbarkeit“ (Radvan/Lehnert). Ge- ‚Schönheit des Eigenen‘ (sexualisierte Objekte) [und], meint ist damit, dass Mädchen und Frauen „grund- deren Synthese im ‚Kampf für das Eigene‘ (Kampfge- sätzlich weniger eine eigene politische Meinung zuge- fährtin)“ (Goetz 2017: 267) ab. Neben der ständigen traut [wird]. Zudem gelten sie als friedfertig“ (Radvan/

34 Lehnert 2015: 181). Die Berichterstattung über Bea- Selbstbildes von rechten Frauen und differenziert drei te Zschäpe ist hierfür ein eindrückliches Beispiel. In auftretende Rollen: (1) die Mutter und Gebärerin „ras- öffentlichen Medien als „Mitläuferin“ (Röpke/Speit sereinen“ Nachwuchses, (2) eine modernisierte Form, 2011: 9f.) oder „Freundin von“ (Radvan 2013: 9) beti- bei der Frauen neben ihrem Mutter-Dasein auch poli- telt wird deutlich, wie ihre Aktivitäten innerhalb des tisch aktiv sein können/dürfen und ein dritter Typ (3) NSU-Kerntrios ³ verharmlost und ihr eine eigenstän- bei dem Frauen auch Kritik an sexistischen Strukturen dige Motivation abgesprochen wird. Wie Ina Pallinger sowohl in Gesellschaft als auch innerhalb der Szene beschreibt, setzen Mädchen und Frauen Gewalt sozi- äußern (Bitzan 2014). Zudem kommt sie in ihrer Stu- alisationsbedingt tatsächlich weniger häufig ein und die zu dem Schluss, „daß neben einer Vielzahl ‚klas- auch die Zustimmung zu dieser ist weniger häufig zu sisch‘ rechter Positionen in den Zeitschriftenartikeln verzeichnen. Die rassistische, antisemitische und völ- etliche Einzelaussagen von Autorinnen getroffen wer- kische Ideologie pflegen Frauen jedoch nicht weniger den, die denen feministischer Frauen recht nahe kom- als männliche Aktivisten (vgl. Pallinger 2016). In ih- men [sic!]“ (Bitzan 2000: 351). Die jahrzehntelangen rer klassischen Rolle als treusorgende Mutter kommt Kämpfe um Gleichberechtigung und deren Erfolge Frauen die Verantwortung für die Erziehung und die hätten einen gesellschaftlichen Wertekodex verändert, Weitergabe von ideologisch konformen Werten und „der wiederum auch von Rechten integriert und ge- Traditionen zu. Sie tragen somit maßgeblich zum Er- nutzt werden kann und wird“ (Bitzan 2000: 358). halt des „Volkskörpers“ bei (vgl. Botsch/Kopke 2018: Betrachtet man die Selbstbilder identitärer Aktivis- 66). Das Problem der skizzierten „doppelten Unsicht- tinnen lassen sich nach einem ersten oberflächlichen barkeit“ von rechten Frauen, die Nicht-Wahrnehmung Blick ganz ähnliche Typen wie die von Bitzan (2014) oder das Nicht-Zutrauen einer politischen, vor allem herausgestellten erkennen. Auf modernisierte Art und rechten, Meinung eröffnet die Möglichkeit für rechte Weise zeigen sich ebenso (1) eine klassische Mutter- Aktivistinnen, soziale Kontakte nach außen zu pfle- rolle und konservative Weiblichkeit, (2) eine moder- gen, sich in sozialen Einrichtungen wie Kindergärten nisierten Form, die politischen Aktivismus im Wind- oftmals unbemerkt zu bewegen und dort ihre Ideologie schatten von Männern ermöglicht, sowie (3) eine zu verbreiten. selbstbewusste Weiblichkeit, die sich auch in die ei- Frauen fühlen sich in der Rechten nicht nur in dem Kli- gene Szene hinein widerständig zeigt. Die verschiede- schee des „Heimchen am Herd“ wohl. Seit den 80er nen auffindbaren Selbstbilder identitärer Aktivistin- Jahren, spätestens jedoch seit den 90er Jahren beob- nen sind demnach nicht als gänzlich neues Phänomen achten Forscher*innen und Journalist*innen im Feld eines weiblichen rechten Aktivismus zu begreifen. Sie zunehmend rechte Frauen, die sich gegen das in der machen jedoch einen weiter fortgeschrittenen Ein- Szene dominierende Weiblichkeitsideal stellen und bezug feministischer Errungenschaften in die eigene sich selbst als Teil der „kämpfenden Front“ sehen (vgl. Lebensweise rechter Aktivistinnen sichtbar und zei- Röpke/Speit 2011: 18; Radvan 2013: 17f.). Sie fordern gen zudem die strategische Akzeptanz verschiedener Positionen in rechten Parteien oder Gruppierungen für weiblicher Lebensentwürfe innerhalb einer rechten sich ein und sind als rechte Musikerinnen, Geschäfts- Organisation auf. Im Zuge der Modernisierungsstra- frauen und Straßenkämpferinnen unterwegs (vgl. tegien der Neuen Rechten und der Identitären auf un- Röpke/Speit 2011). Mit ihrer 2000 veröffentlichten Un- terschiedlichen Ebenen ist auch eine Erneuerung in tersuchung zum "Selbstbild rechter Frauen - Zwischen der Verhandlung von geschlechterpolitischen Themen Antisexismus und völkischem Denken" (Bitzan 2000) zu erkennen. Immer wieder werden von AktivistIn- widerlegt Renate Bitzan die These eines homogenen nen die vielfältig lebbaren (vor allem) Frauenbilder hingewiesen, die IB spiegle „einen Querschnitt der 3. Der selbsternannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) verübte, soweit bekannt, in der Zeit zwischen 2000 und 2006 neun Bevölkerung“ (Identitäre Mädels und Frauen 2018b), Morde an migrantischen, in Deutschland lebenden Personen und so eine Aktivistin aus Bayern (auch Schmitz 2018a: einer deutschen Polizistin. Zudem sind die Mitglieder des NSU für Sprengstoffanschläge 1999 in Nürnberg und 2001 in Köln in der 12.03.2018; Karig 2016). Die Aussagen sollen ein „bei Probsteigasse sowie für das Nagelbomben-Attentat auf der Kölner uns ist für alle etwas dabei“ suggerieren, so halten sich Keupstraße verantwortlich. Nach fast 14 Jahren, in denen die Haupt- die Identitären für ein breites Publikum attraktiv und täterInnen – Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe – unbemerkt morden konnten, enttarnte sich der NSU im November die identitären Ideen und Gedanken sollen ihren Weg 2011 selbst. In kritischen Betrachtungsweisen des NSU wird von in den kulturellen Mainstream finden. Sicherlich ist es diesem als NSU-Komplex gesprochen, um die Ausmaße und Verstri- zu kurz gegriffen, die Vielfalt lediglich mit strategi- ckungen des sogenannten Kerntrios in die rechte Szene hinein deut- lich zu machen. (vgl. Frindte et al. 2016: 11; Röpke/Speit 2011: 9ff.). schen Gründen erklären zu wollen. Die eigene Sozia-

35 lisation der Aktivistinnen, die mit erkämpften Freihei- nur von außen absurd wirken mögen“ (AK Fe.In 2019: ten und Möglichkeitsräumen aufgewachsen sind, lässt 144). Für den Kampf um kulturelle Hegemonie ist je- sie vor einem allzu konservativen Frauenbild zurück- doch ein oberflächlich geratener „neuer Anstrich“ der schrecken (vgl. auch Heß 2015). Auch hier ist ein stra- Neuen Rechten zu bemerken, der sich ebenfalls in der tegischer Gedanke zu erkennen, da die allzu deutliche Akzeptanz verschiedener gesellschaftlicher Weiblich- Ablehnung von feministischen bzw. frauenrechtleri- keitsbilder ausdrückt. In der Politikwissenschaft wird schen Errungenschaften für viele (junge) Frauen nicht ein sogenannter „Marine le Pen“-Effekt (Mayer 2013: ansprechend ist und somit dem Ziel, auch und gerade 163), der es Frauen (auch) aus strategischen Grün- Frauen für sich zu gewinnen, entgegenwirkt. Selbst die den ermöglicht, an die Spitze von rechten Parteien zu antifeministische und gegen Frauen in der Politik ar- gelangen, bereits seit längerem diskutiert. In der Be- gumentierende identitäre Aktivistin Annika Stahn will trachtung identitärer Aktivistinnen kommen dem- sich das Wahlrecht nicht mehr nehmen lassen (vgl. nach verschiedene Aspekte zusammen. Zum einen sind Stahn/Sellner 2017). Die US-amerikanische Soziologin es junge Frauen, die mit erkämpften Freiheiten und Susan Faludi (1993 [1991]) drückt dies in ihrem Anfang Rechten aufgewachsen sind und diese – auch wenn sie der 90er Jahre erschienen Buch "Backlash - Die Män- vordergründig abgelehnt werden – für sich nutzen und ner schlagen zurück" folgend aus:„Bei den Frauen der nicht bereit sind, sie in Gänze abzugeben. Zum ande- Neuen Rechten war es in mancher Hinsicht umgekehrt ren stecken strategische Überlegungen und Moderni- wie bei ihren progressiveren ‚Yuppie‘-Schwestern, sierungsgedanken einer neurechten Politik hinter den die sich in den Schlingen des Gegenschlags verfingen. vielfältigen akzeptierten weiblichen Lebensentwürfen Während die normalen berufstätigen Frauen häufi- in den eigenen Reihen. Die pluralen Frauenbilder sol- ger feministischen Prinzipien vertraten, innerlich je- len über das tief verankerte geschlechterkonservative doch mit den vom Gegenschlag bewirkten Selbstzwei- und biologistisch festgeschriebene starre Geschlech- feln und Vorwürfen zu kämpfen hatten, vertraten die terverständnis der Neuen Rechten hinwegtäuschen. Die Frauen der Neuen Rechten eine antifeministische Hal- Anerkennung und Darstellung pluraler Lebensentwür- tung – verinnerlichten aber gleichzeitig die Botschaft fe, deren Akzeptanz und Bündelung innerhalb einer der Frauenbewegung und integrierten deren Ziele wie Gruppierung, ist so als Mittel im Kampf um eine „Kul- Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Entschei- turrevolution von Rechts“ zu verstehen. dungsfreiheit klammheimlich in ihr eigenes Privatle- ben“ (Faludi 1993 [1991]: 348). Innerhalb der Neuen Rechten sind vielfältige Weib- Facetten des neurechten lichkeitsentwürfe lebbar, solange sie ideologisch kon- Antifeminismus form den Kern der eigenen Identität, in Bezug auf Ge- schlecht, die eigene weibliche oder männliche Essenz Faludi (1993 [1991]: 23) zeigt in ihrem Buch eindrucks- nicht infrage stellen. Dieses einerseits eisern festge- voll die Kontinuitäten antifeministischer Argumenta- schriebene Fundament der biologisch zugeschrie- tionsweisen, aber auch deren Erstarken in Zeiten, in benen Weiblichkeit oder Männlichkeit eröffnet an- denen sich feministische Kämpfe tatsächlich wirksam dererseits vielfältige Interpretationsräume und die zeigen, auf. Sie bezeichnet die sich in gewissen Abstän- Möglichkeit, auf gesellschaftlicher Ebene verschiede- den immer wieder aufbäumenden antifeministischen ne Formen und Ausdrucksweisen anzunehmen. Zudem Bewegungen als „Gegenschlag“ (vgl. ebd.). In Bezug stellt Bitzan fest, dass die Bestrebungen von Frauen auf die Neue Rechte in den 80er Jahren in den USA stellt um Gleichberechtigung und mehr Freiheiten inner- sie dabei fest:„Wenn der jetzige Gegenschlag einen halb der extremen Rechten jedoch immer dem Kampf Geburtsort hatte, dann hier in den Reihen der Neuen um das eigene Volk und die Nation untergeordnet sind Rechten, wo er zum ersten mal als Bewegung mit ein- (vgl. Bitzan 2011: 115; 1997b: 243). Es ist demnach fest- deutigem ideologischem Programm Gestalt annahm. zuhalten, dass das Auftreten selbstbewusster rechter Die Führer der Neuen Rechten gehörten zu den ersten, Frauen kein Phänomen ist, das seinen Anfang in den die den Kernpunkt des Gegenschlags formulierten – social media-Kampagnen der identitären Aktivistin- daß die Gleichberechtigung der Grund für die Unzu- nen nahm. Wie das Autor*innenkollektiv Fe.In fest- friedenheit der Frauen sei“ (Faludi 1993 [1991]: 316). stellt, bietet die rechte Szene „immer wieder ergän- Folgt man der Definition von Antifeminismus von Juliane zende weitere Rollenmodelle an und sie ist außerdem Lang und Ulrich Peters (2015) sind die identitären Ak- oftmals sehr offen für individuelle Abweichungen, die tivistInnen mit ihrer Ablehnung eines modernen und

36 geschlechterpluralen Feminismus in diesem Spektrum Männer. Durch feministische Bewegungen und Politi- deutlich zu verorten: „Als antifeministische AkteurIn- ken werde Männern Unrecht getan und ein regelrech- nen beschreiben wir hier heterogene AkteurInnen und ter Männerhass von Feministinnen propagiert. Männer Akteursgruppen, die sich – in organisierter Form – in würden, wenn nicht unter Generalverdacht gestellt, expliziter Gegnerschaft zu einem von ihnen als omni- dann doch zumindest klein gemacht und häufig zu potent beschriebenen Feminismus positionieren und/ „Schoßhündchen“ feministisch eingestellter Frauen oder sich in Diskussionen um familien-, geschlech- degradiert werden. Ein wiederkehrender Vorwurf ist ter- und sexualitätsbezogene Themen heteronorma- die Schuld des Feminismus an der (e) Ehe- und Kin- tiv gegen die Auspluralisierung sexueller, geschlecht- derlosigkeit von Frauen. Feministische Politiken hät- licher und familialer Lebensformen und eine damit ten dazu geführt, dass sich Männer und Frauen von- einhergehende Anerkennung derselben in ihrer Viel- einander entfernen und ein „Geschlechterkampf“ falt stellen“ (Lang/Peters 2015). Der verbindende An- (Identitäre Mädels und Frauen 2018a: 2016) entbrannt tifeminismus der Neuen Rechten zeigt sich in teils sehr sei. Feminismus, so Annika Stahn, trage die Haltung unterschiedlicher Form und Gestalt, wie ich folgend vor sich her, „Frauen bräuchten Männer wie Fische anlehnend an die Unterteilung von Lang (2018a: 16- Fahrräder“ (Info-Direkt/radikal feminin 2017: 35). 22) darstellen werde. Zudem würde der Feminismus Frauen dazu bringen nach (f) der Macht der Männer zu streben und sie im schlimmsten Fall derer zu berauben. Stahn kann nicht Klassischer Antifeminismus verstehen wie Frauen in politisch und wirtschaftlich höhere Positionen – die immer noch häufig Männern Einige der identitären Aktivistinnen greifen tief in vorbehalten sind – streben, wenn sie doch durch ihre die antifeministische Mottenkiste und bedienen An- natürliche Aufgabe von Geburt und Erziehung bereits feindungen und Erzählungen, die so bereits seit Jahr- eine besondere Macht in sich trügen. Schließlich wür- zehnten existieren. Darunter fällt beispielsweise der den Frauen erst dafür sorgen, dass Männer überhaupt Vorwurf Feminismus sei das „neue“ gesellschaftliche die Chefetagen dieser Welt erklimmen könnten (vgl. Unterdrückungsmoment (a) und traditionell-konser- Stahn/radikal feminin 2017). vative Rollenverständnisse würden geahndet werden Diesem Rat folgend propagiert die identitäre Aktivistin (Kelle 2013). Der Argumentation einer „Diktatur des Ingrid Weiss aus Leipzig unaufhörlich die besondere Feminismus“ (Kelle 2013: 50f.) folgend sei dieser (b) Schönheit ihres Mutter-Daseins auf ihrem Instagram- omnipräsent in Gesellschaft und Öffentlichkeit ver- Kanal (vgl. Weiss 2020). Diese „natürliche“ Mutterrol- treten. Nach der Aktivistin Stahn ist es für junge Frau- le wird gerade in einer extrem rechten Ideologie durch en nahezu unausweichlich, mit feministischen Inhal- ihre Aufgabe für den Erhalt des Eigenen, des „Volkes“, ten in Berührung zu kommen und davon indoktriniert aufgewertet (vgl. Dietze 2019: 156). Hinzu kommt zu werden. In der „Generation Feminismus“ würden die individuelle Aufwertung, die Frauen durch eine Frauen und Mädchen von feministischen Vorstel- Mutterschaft erfahren. Bisher als die Schwache und lungen beeinflusst, ohne es selbst zu bemerken und Schutzbedürftige wahrgenommen, findet ein Rollen- eine Wahlentscheidung zu haben, so die Meinung der wechsel statt und die Frau wird zur Schutz gebenden identitären Aktivistin (vgl. Info-Direkt/radikal femi- Person im Leben eines weiteren Menschen. Für diesen nin 2017: 34). Wenn man es genau betrachtet, würden erfüllt sie nun Eigenschaften wie Stärke, Durchset- Frauen, so argumentiert die Identitäre Stahn durch (c) zungskraft und Wehrhaftigkeit, wie sie sonst nur Män- Feminismus erst zum Opfer gemacht. Eine gesetzli- nern in der extremen Rechten zugedacht werden. Es che Gleichstellung zwischen Mann und Frau sei längst findet eine Herauslösung und auf eine zunächst viel- erreicht, denn „zumindest in Europa, [hätten Frau- leicht wenig überzeugende Art ein Wandel im Selbst- en] dieselben Rechte wie Männer und damit auch alle und auch ideologischen Frauenbild statt. Das Bild der damit einhergehenden Pflichten“ (Info-Direkt/radi- „Löwenmutter“ mag für manche rechte Frau einen kal feminin 2017: 35). Der heutige Feminismus schieße ganz eigenen Akt der Herauslösung aus einer zuge- übers Ziel hinaus und würde Frauen in eine „Opferi- schriebenen Passivität bedeuten. dentität“ (Identitäre Mädels und Frauen2018a, 2016) 4. Weitere AkteurInnen bzw. Aktionen sind beispielsweise der von zwängen, wo sie doch gar nicht mehr nötig sei. Stahn der AfD-Politikerin Leyla Bilge organisierte „Frauenmarsch“, „die Er- klärung 2018“ der ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Vera bedient eine weitere klassisch antifeministische Ar- Lengsfeld oder die Demonstrationen unter dem Motto „Kandel ist gumentationslinie, nämlich (d) die Parteinahme für überall“, bei denen auch identitäre Aktivistinnen mitwirkten.

37 nicht infrage stellen. Als Feindbild werden hingegen Ablehnung von Allem rund um feministische Bestrebungen adressiert, die sich gegen das Konzept Gender die rein biologisch festgelegte Unterschiedlichkeit der Geschlechter (in ihrer Vielfältigkeit) positionieren.(vgl. Ähnlich der neurechten Theoretikerin Ellen Kosit- Kositza 2008:10; Kelle 2015: 11). Die größte Gefahr – za, die für den neurechten Blog sezession.de schreibt und auf diesen Zustand steuern wir laut Kositza bereits und Verlegerin im neurechten Antaios Verlag ist, sorgt zu – wäre es, ein (soziales) Mischwesen zu produzie- sich der Sprecher der Identitären und bekanntes Ge- ren, ein Wesen, das keine natürlichen männlichen oder sicht – Martin Sellner aus Österreich – um eine dro- weiblichen Eigenschaften mehr kennt (vgl. Kositza hende „Vereinheitlichung der Geschlechter“ (Kositza 2008: 72). Ihre Sorge um die Reproduktionsfähigkeit 2008: 72). Durch die Gleichsetzung von Gleichwertig- dieser Gesellschaft drückt sie mit folgenden Worten keit mit Gleichheit und dieser wiederum mit Gerech- aus: „Als verlockendes, doch unheiliges Mischwesen, tigkeit, entstehe ein „Einheitsmensch“ (Sellner 2013). als bärtiger Paradiesvogel mit umgeschnallten Fleisch- Echte feminine Frauen und maskuline Männer, heißt brüsten. Diese vater- und mutterlose Welt hinterläßt die „natürlichen“ Verschiedenheiten betonend, droh- Kranke und Gestörte. Deren Schoß wiederum wird von ten zu verschwinden und so fordere die IB gerade diese zweifelhafter Fruchtbarkeit sei“ (Kositza 2008: 72). (zurück) (vgl. Goetz 2017: 260; Sellner 2013). Auf der Facebook-Seite der Identitären Mädels und Frauen wird die Ablehnung in folgendem Post deutlich: Vermeintlicher Kampf um Frauenrechte für „Unser Problem mit dem modernen 3. Welle Feminis- die eigenen rassistischen Zwecke mus ist, dass er lange nicht mehr die Interessen derer vertritt, deren Stimme er sein will: der Frauen. Hin- Entlang der ehemaligen Kampagne #120db der Iden- ter dem Begriff ‚Feminismus‘ steckt heutzutage eine titären und deren im Dezember 2016 veröffentlichten Ideologie der sozialen Konstruiertheit der Geschlech- Video „eine Botschaft an die Frauen“ (Identitäre Mä- ter, die Hand in Hand mit der Ideologie der katego- dels und Frauen 2016) lässt sich eindrücklich eine Ar- risch privilegierten bzw. unterprivilegierten Gruppen gumentationsweise aufzeigen, die so auch in weiteren zusammenarbeitet. Wer sich jenseits dieser Ideologie Kampagnen der letzten Monate zu finden ist. ⁴ Im Vi- für die greifbare Lebensrealität von Frauen interes- deo nehmen die Aktivistinnen Bezug auf die Kölner Sil- siert, wird als ‚Rechtsfeministin‘ diffamiert“ (Identi- vesternacht 2015/16, in der sie eine Art Wendepunkt se- täre Mädels und Frauen 2018a: 2017). hen. Seit den Geschehnissen auf der Kölner Domplatte Eine Pluralisierung von Geschlechtsidentitäten und könne die Gewalt, die von jungen geflüchteten Män- der Vorstellung eines sozial konstruierten Geschlechts nern an weißen Frauen begangen werde, nicht mehr greifen Überzeugungen eines binären und natürlichen verschwiegen werden, so die Meinung der Aktivistin- Geschlechtersystems in seinen Grundfesten an und nen (vgl. AK Fe.In 2019: 120). Christian Werthschulte erschüttern dieses. Es ist daher nicht verwunderlich, setzt dem eine Perspektive entgegen, die die Debatte dass die neurechten TheoretikerInnen wie AktivistIn- rund um die Kölner Silvesternacht vielmehr in „bereits nen sich gegen alles stellen, was diese Eindeutigkeit bestehende kulturelle Interpretationsmuster oder po- infragestellt und verunsichert. Wie Goetz (2017: 262) litische Initiativen überführt [..], die ihren Anfang vor es formuliert, zielten die geschlechterpolitischen Vor- Silvester genommen haben“ (Werthschulte 2017). In stellungen der Identitären „auf eine Rückgewinnung den beiden Videos treten identitäre Aktivistinnen auf, der damit verbundenen starren Ordnungsmuster sowie die Straftaten und (weibliche) Opfer geflüchteter und auf eine Rückvereindeutigung der durch Feminismus migrantischer Männer benennen. Durch diese drama- und Gender Theorie ins Wanken gebrachten normati- tische Inszenierung suggerieren sie eine drohende und ven Konzepte ab“ (Goetz 2017: 262). Passend dazu se- übermächtige Gefahr für vor allem (deutsche/europäi- hen die neurechten Theoretikerinnen Kositza und Kelle sche) Frauen (vgl. Identitäre Mädels und Frauen 2016). den Anfang vom Ende des „guten“ Feminismus in der Die #120db-Kampagne startete Ende Januar 2018 und Diskursverschiebung hin zu einer Trennung von bio- hat sich selbst zum Ziel gesetzt, „alle Erfahrungen von logischem (sex) und einem sozial konstruierten Ge- Frauen mit importierter Kriminalität ein(zu)fangen schlecht (gender). Beide beziehen sich teils positiv auf und öffentlich machen“ (#120db-Blog 2018) zu wol- differenzfeministische Ansichten, da diese die biolo- len. Nach eigenen Angaben der Aktivistinnen verste- gische Verschiedenartigkeit von Männern und Frauen hen sie sich als Ergänzung des Hashtags #MeToo. Das

38 Ziel des Ende 2017 gestarteten Hashtags war es auf se- tionen eine Möglichkeit bereit, sich auf dem Spielfeld xualisierte Gewalt, zunächst in Hollywood, aber auch des Politischen selbst nicht die Hände schmutzig ma- darüber hinaus und in anderen Ländern, hinzuweisen. chen zu müssen: „Eine Referenzgröße für ethnosexis- Entgegen der MeToo-Debatte stellen die #120db-Ak- tische Konstellationen ist die bedrohte Freiheit. Nun ist tivistinnen eine vermeintlich besonders schwere Ge- sexuelle Freiheit gegenüber anderen Freiheiten kos- fahr durch die „importierte Gewalt“ fest. Diese wür- tenneutral. Sie erfordert keine höheren Löhne, billi- de von MeToo-Anhänger*innen verschwiegen werden gere Mieten, bessere Altersversorgung oder mehr Kita und wäre gesellschaftlich nicht sagbar. Plätze. Insofern ist die Fokussierung auf sexuelle Frei- Die „Ethnisierung von Sexismus“ (Jäger 1996), das heit in Verbindung mit ihrer angeblichen Gefährdung heißt Sexismus als bestimmtes Merkmal einer ethni- durch die Immigration >rückständiger< Menschen aus schen Gruppe zu sehen, um diese abzuwerten weist dem globalen Süden zu seinem zentralen Staats- Dis- eine ebenso lange Geschichte auf, wie es die ergänzen- kurs geworden, der von neoliberalen Reduzierung der de Rolle der „weißen Frau als Opfer“ tut. In der Ar- Daseinsfürsorge ablenkt“ (Dietze 2019: 17). gumentation der identitären Aktivistinnen sind drei Ganz in diesem Sinne bemühen sich die neurechten Ak- Punkte besonders hervorzuheben. Zum einen findet teurInnen lediglich dann um Frauenrechte und ver- (1) eine Anerkennung einer feministisch erkämpften schreiben sich diesen, wenn sie zum einen über Wahrnehmung von sexualisierter Gewalt im Nahbe- vergangene und legitime Erfolge einer ersten Frau- reich statt. Die österreichische Aktivistin Ariane sagt enbewegung sprechen oder wenn es um die Themati- dazu im Gespräch mit Martin Sellner: „Es gab irgend- sierung von Gewalt von geflüchteten und/oder mus- wie den Vorwurf denk ich, das [sic!] gemeint wurde limischen Männern geht. In dieser Argumentation erstens gibt es die meisten Fälle von Gewalt in der Fa- beschränkt sich die Fürsorge jedoch lediglich auf die milie – das stimmt. Das ist wahr, da widersprechen wir körperliche Unversehrtheit von Frauen, was, wie Juli- überhaupt nicht“. Weiter betont sie: „Nur ist es schwer ane Lang (2018b: 158) kritisch anmerkt, kein Frauen- auf staatlicher Ebene etwas dagegen zu tun. Erstens das recht, sondern ein grundlegendes Menschenrecht ist. und zweitens, das wurde schon angesprochen in der Um tatsächlich frauenrechtliche und kostenintensive Vergangenheit und wir wollen jetzt etwas ansprechen Belange wie reproduktive Rechte und Forderungen wie was noch nie angesprochen wurde“ (Ariane/Sellner „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ kümmern sich die 2018). Nach der strategischen Anerkennung der hohen identitären reichlich wenig. Eine weitere Perspektive Zahlen von sexualisierter Gewalt⁵ im Nahbereich, (2) um den vermeintlichen Kampf für Frauenrechte ist, wirft sie den Lichtkegel auf eine scheinbar vollkommen wie das Autor*innenkollektiv Fe.In feststellt, auch eine neue, vorher nicht dagewesene Form der Gewalt. Statt Möglichkeit zur begrenzten „Emanzipation“ darin. bestehende Erkenntnisse zu leugnen, bedienen sich In diesem Diskurs werden Frauen nicht nur als Opfer die Identitären dem Kunstgriff, eine vermeintlich neue wahrgenommen, die es zu beschützen gilt, durch das Kategorie der „importierten Gewalt“ zu installieren. Thema eröffnen sich, so AK Fe.In: „Möglichkeiten der (3) Eine spezielle Form, die sich im öffentlichen Raum Partizipation, denn mit ihm kommen weibliche An- abspiele und gegen die – anders als bei sexualisierter liegen, Ängste und insgesamt das Thema sexualisier- Gewalt im Nahbereich – der Staat Eingriffsmöglich- te Gewalt in den Fokus der Aufmerksamkeit von Män- keiten hätte und sich dieser bedienen müsse. In den nern* in einer männlich geprägten politischen Arena“ Worten der Identitären hieße dies „“ und (AK Fe.In 2019: 180). So müsse das Engagement rechter eine restriktive Einwanderungspolitik. Eine letzte – Frauen auch als „Akt der Selbstermächtigung“ gesehen und die Gewalt im sozialen Nahbereich relativierende – werden, da sie die Möglichkeit bereithalte „den eige- ist die Argumentation (4) der vermeintlich besonderen nen begrenzten Wirkungsbereich zu überschreiten und Schwere dieser „neuen“ Gewalt: „[…] aber die anderen in relativer Autonomie Wirksamkeit und Sinnstiftung Vergewaltigungen von Flüchtlingen sind wirklich quä- zu erfahren“ (AK Fe.In 2019: 182). Diese „Emanzipati- lend. Man kann sehen, dass die Mädchen getreten wur- on“ stößt durch ihre Unterordnung unter die Volksge- den und blaue Arme haben, schrien und das passiert im meinschaft und den daraus resultierenden Strukturen öffentlichen Raum“. (Stahn/Ariane/Pettibone 2018). jedoch zwangsläufig an ihre Grenzen.

Wie Gabriele Dietze in ihrem Buch "Sexueller Exzep- 5. https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/gewalt-gegen-frauen- tionalismus - Überlegenheitsnarrative in Migrati- merkmale-und-tatsachen.html onsabwehr und Rechtspopulismus" aufzeigt, hält die Instrumentalisierung von sexistischen und Diskursen um sexualisierte Gewalt für rassistische Argumenta-

39 Anrufung einer wehrhaften Männlichkeit Die „Emanzipation von der Emanzipation“

Während sich das Frauenbild fortschrittlich entwick- Der Antifeminismus der Neuen Rechten zeigt sich in le, sei das Männerbild durch Regressivität und Rückzug verschiedenen Facetten. Ganz ähnlich ihrer Akzep- gekennzeichnet, von der konservativen Vorstellung tanz verschiedener Vorstellungen von Weiblichkei- des dynamischen Mannes als Jäger und Beschützer ten, solange sich die Aktivistinnen ihrer „natürlichen“ bleibe nicht viel übrig, meint die neurechte Denkerin Essenz bewusst bleiben, sind auch verschiedene Po- Ellen Kositza (vgl. Kositza 2008: 9f.). Ihre bereits ge- sitionen zu Feminismus, die sich zwischen den Polen teilte Sorge um den Verlust einer klaren männlichen „offen artikuliertem Antifeminismus“ und der „Ein- und weiblichen Identität schließt sich folgerichtig der beziehung feministischer Versatzstücke“ bewegen, zu Wunsch nach einer ausgeprägten Männlichkeit an. finden. Einigkeit muss letztlich jedoch in der Ableh- Ein echter Mann, beschreibt sie, sei durch Qualitä- nung eines sogenannten „Dritte-Welle-Feminismus“ ten wie Heldenmut, Beschützerinstinkt und Autori- (Identitäre Mädels und Frauen 2018a: 2017) mit seiner tät gekennzeichnet (vgl. Kositza 2016: 133). Er müs- Geschlechtergrenzen aufweichenden Agenda beste- se seine Frau verteidigen können, wenn nötig auch hen. Solange die als „natürlich“ wahrgenommenen handgreiflich, standhalten und nicht davonlaufen, Konstrukte wie die eigene Weiblichkeit/Männlichkeit, er sollte zusammengefasst: „keine Memme“ sein ein Zusammenleben von Mann und Frau, aber auch die (vgl. Kositza 2016: 142f.). Ins gleiche Horn blasen die „natürliche“ Aufgabe von Frauen, früher oder später identitären Aktivistinnen, wenn sie an die Männer da im Leben Kinder zu gebären, eingehalten werden, ist draußen appellieren keine „Waschlappen“ (Noe/ra- es angesichts eines sozialen gesellschaftlichen Wan- dikal feminin 2018: 11) zu sein oder Feminist*innen dels durchaus möglich für rechte Aktivistinnen, Nutz- dafür verantwortlich machen ihre Söhne zu „ver- nießerin feministisch erkämpfter Freiheiten zu sein weichlichen und unglaublich weiblich (zu) erziehen und diese auch zu befürworten. Wie die identitäre Ak- und ihnen [sic!], sie nicht in ihrer Männlichkeit be- tivistin Melanie Schmitz 2018 schrieb: „Ich persönlich stärken […]“ (Manescu/Sellner 2017). Die wohl öf- kann aber weder dem modernen Feminismus in sei- fentlichkeitswirksamste Anrufung an eine „wehr- ner heutigen radikalen Form etwas abgewinnen, noch hafte Männlichkeit“ stammt von Björn Höcke, der kann ich es nicht [sic!] lassen, peinlich berührt wegzu- auf einer Rede in Erfurt 2015 seine Problemanalyse schauen, wenn sich meine Mitstreiterinnen ungeniert offerierte: „Das große Problem ist, dass Deutschland, als Antifeministinnen bezeichnen“ (Schmitz 2018b). dass Europa ihre Männlichkeit verloren haben. Ich Die Neue Rechte und - in ihrer aktionistischen Form sage: Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentde- - die Identitären versuchen eine Bandbreite an Le- cken. Denn nur, wenn wir unsere Männlichkeit wie- bensentwürfen vor allem für weibliche Aktivistinnen derentdecken, werden wir mannhaft! Und nur, wenn zu offerieren, um sich nach außen für ein breites Pu- wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft. Und wir blikum attraktiv zu halten und so ihren „Kulturkampf müssen wehrhaft werden, liebe Freunde!“ (Stokowski von Rechts“ weiter voranzutreiben. So ist es möglich, 2015). Auch in der Lektüre von Kositzas Büchern ist es dass bekennende Antifeministinnen mit geschlechter- nur schwerlich möglich, über den neidvollen Blick hin konservativen Ansichten neben Aktivistinnen stehen, zu den von ihr als Feindbild konstruierten und doch mit die sich selbst als starke und emanzipierte Frauen ge- Anerkennung überformten „muslimischen Geschlech- rieren und dabei feministische Errungenschaften teils terordnungen“ hinwegzulesen. Anschließend an ihre anerkennend gegenüberstehen. Verbindende und die Sichtweise zum Untergang der „echten Männer“ sieht Differenzen versöhnende Positionen sind das allge- sie eine neue Herausforderung für Frauen: Diese wüss- mein geteilte Bekenntnis zur natürlichen Mutterrol- ten angesichts ihrer durch Genderideologie harmlos le von Frauen und der Ethnisierung von Sexismus. Im gemachten „eigenen deutschen“ Männer nicht, wie sie Denken der identitären Frauen ist eins deutlich zu se- mit den „nicht-domestizierten Nordafrikanern“ (Ko- hen: Es geht nicht um die Frage, ob Kinder gewünscht sitza 2016: 133) umgehen sollten. sind, sondern wann. Die positiven Erzählungen des Mutter-Daseins der Aktivistin Weiss, in denen sie ihre Entscheidung vor dem Studium zwei Kinder zur Welt gebracht zu haben glorifiziert, zeigen stellvertretend, welchen enormen Stellenwert nach wie vor die Rol- le von Frauen als „Gebärerin des ‚rassereinen‘ Nach-

40 Literatur

wuchses“ (Bitzan 2014) hat. Der Unterschied zu einer AK Fe.In (2019): Frauen*rechte und Frauen*hass. Antife- klassisch rechten Ideologie liegt in der Umdeutung des minismus und die Ethnisierung von Gewalt. Berlin: Ver- Verständnisses von Gleichberechtigung, wie die Jour- brecher Verlag. nalistin Brauner-Orthen (2001: 64) aufzeigt. Gleichbe- Ariane/Sellner (2018): GEZ für Tagesschau verleumdet rechtigung sei die Möglichkeit, die eigenen weiblichen #120db – Ariane reagiert. Erschienen am 04.02.2018 auf Fähigkeiten – Mutter zu sein – ausschöpfen zu können YouTube. Online verfügbar unter: https://www.youtube. (vgl. Brauner-Orthen 2001: 64). Bei all dem Druck von com/watch?v=mGpsxUI_KK4 (Stand: 26.10.2019). feministischer Seite, Frauen in den Arbeitsmarkt zu Bitzan, Renate (2014): Kann es einen «Feminismus von drängen, wird der Schritt „zurück“ ins traute Heim als rechts» geben? Renate Bitzan im Interview mit Toralf eine „Emanzipation“ propagiert. Aus dieser Perspek- Staud, Erschienen auf bpb.de am 29.1.2014. Online tive betrachtet sind die Aktivistinnen, die am stärksten verfügbar unter: www.bpb.de/politik/extremismus/rechts- für antifeministische Positionen einstehen, ebenso in extremismus/174172/kann-es-einen-feminismus-von- einem „Emanzipationsprozess“ wie auch ihre Kame- rechts-geben (Stand: 12.02.2020). radinnen, die teils feministische Inhalte teilen, näm- Bitzan, Renate (2011): „Reinrassige Mutterschaft“ versus lich dem der „Emanzipation von der Emanzipation“ (AK „nationaler Feminismus“ – Weiblichkeitskonstruktionen in Fe.In 2019: 183), den sie selbstbewusst und wehrhaft Publikationen extrem rechter Frauen. In: U. Birsl (Hrsg.), vollziehen. Rechtsextremismus und Gender (S. 115-127). Opladen/ Farmington Hills: Barbara Budrich Verlag. Bitzan, Renate (2000): Selbstbilder rechter Frauen. Zwi- schen Antisexismus und völkischem Denken, Tübingen: edition diskord Verlag. Bitzan, Renate (1997a): Themen und Positionen rechter Zeitschriftenautorinnen, in: Bitzan, Renate (Hrsg.): Rechte Frauen. Skingirls, Walküren und feine Damen (S. 12–17.), Berlin: Elefanten Press Verlag. Bitzan, Renate (1997b): Resümee. In: Dies. (Hrsg.), Rechte Frauen. Skingirls, Walküren und feine Damen (S. 242-248). Berlin: Elefanten Press Verlag. Bongen, Robert/Schiele, Katharina (2019): Feminismus als Feindbild. Erschienen auf tagesschau.de am 31.10.2019. Online verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/in- vestigativ/panorama/frauenhass-rechtsextremismus-101. html (Stand: 11.02.2020). Botsch, Gideon/Kopke, Christoph (2018): Der «Volkstod». Zur Kontinuität einer extrem rechten Paranoia, in: Lang, Juliane/Peters, Ulrich (Hrsg.): Antifeminismus in Bewe- gung. Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Viel- falt (S. 63–90), Hamburg: Marta Press. Brauner-Orthen, Alice (2001): Die Neue Rechte in Deutschland. Antidemokratische und rassistische Tendenzen. Opladen: Leske+Budrich Verlag. Bruns, Julian/Glösel, Kathrin/Strobl, Natascha (2014): Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, Münster: Unrast Verlag. Camus, Renaud (2016): Revolte gegen den Großen Aus- tausch, zusammengestellt und übers. von Martin Licht- mesz, Schnellroda: Antaios Verlag. Debus, Katharina/Laumann, Vivien (2014): Rechtsextre- mismus, Prävention und Geschlecht, Arbeitspapier 302 der Hans-Böckler-Stiftung. Online verfügbar unter: www. boeckler.de/pdf/p_arbp_302.pdf (Stand: 12.02.2020).

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43 Zum Verhältnis von Geschlecht und Kapital 44 IMKE SCHMINCKE Imke Schmincke Sex, Gender und Vielfalt als Gefahr für Familie und Gesellschaft? Aktuelle Angriffe und Kulturkämpfe des Rechtspopulismus

Mit dem Aufkommen rechtspopulistischer Bewegun- nese und Akteur_innen dieses neuen Antifeminismus gen und Parteien verändert sich das gesellschaftliche zu beschreiben und an zwei Beispielen aus dem bun- Klima. Sowohl im Stil wie in den Inhalten halten ag- desdeutschen Kontext, dem Kampagnenbündnis Demo gressive und antidemokratische Stimmungen verstärkt für alle und der Partei Alternative für Deutschland (AfD), Einzug in öffentliche Debatten. Grundthema der In- zu zeigen, wie die Argumente und Rhetoriken funkti- halte sind rassistische und nationalistische Ideologien, onieren. Schließlich möchte ich diskutieren, warum aber auffällig häufig sticht als Merkmal rechtspopulis- und auf welche Weise diese konservative Familien-, tischer Diskurse auch ein Antifeminismus heraus, der Geschlechter- und Sexualitätspolitik einen zentralen sich vor allem in einer kritisch-ablehnenden Haltung Baustein rechtspopulistischer Diskurse und Strategien gegenüber Geschlechtergerechtigkeit, Gleichstellung darstellt. Wenn im Folgenden meistens von Rechtspo- homosexuellen Partnerschaften und allgemeiner ge- pulismus die Rede sein wird, dann deshalb, weil sich genüber der Thematisierung von sexueller Vielfalt in diese Terminologie in diesem Kontext als Sammelbe- sexualpädagogischen Kontexten äußert.¹ Diese The- zeichnung anbietet für ein breites Spektrum an unter- men werden aber nicht einfach aufgegriffen, sie wer- schiedlichen rechten Gruppierungen, die fundamenta- den auf eine besondere Weise politisiert und Teil der listisch-religiös, konservativ oder aber rechtsextrem rechtspopulistischer Programmatiken. Der vorliegen- sein können. Das zentrale Kennzeichen des Populis- de Beitrag möchte den aktuellen Antifeminismus und mus ist es, gesellschaftliche Konflikte in ein polares dessen Geschlechter-, Familien- und Sexualitätspo- Raster zu übersetzen: Volk gegen Elite – und der Po- litik genauer beleuchten. Die dem Beitrag zugrunde- pulismus imaginiert sich in dieser Entgegensetzung liegende These ist, dass hierbei die Politisierung von als die Stimme des Volkes, der zu ihrem Recht verhol- „Gender“ sowie der Kampf gegen sexuelle Vielfalt fen werden müsse (Mude/Rovira Kaltwasser 2017: 5). und Sexualpädagogik einen Komplex bilden und dass Im Rechtspopulismus wird Volk vor allem ethnisch- dieser einen zentralen Baustein rechtspopulistischer völkisch verstanden und als homogene Einheit kons- Ideologie ausmacht. Dies soll im Folgenden genauer truiert, die gleichermaßen von ‚den Wirtschaftseliten‘ ausgeführt werden. Zunächst möchte ich das Phäno- oder ‚der EU‘ auf der einen Achse wie von den ‚frem- men als Ausdruck eines zeitgenössischen Antifemi- den‘ anderen auf der anderen Achse bedroht imagi- nismus deuten und rekonstruieren, um dann die Ge- niert wird. Alle möglichen Konflikte werden auf diese 1. Das Thema wird zunehmend auch wissenschaftlich beforscht, Perspektive auf aktuelle Antifeminismen vgl. Kováts/Põim (2015), vgl. für den bundesdeutschen Kontext die Beiträge in Hark/Villa Kuhar/Paternotte (2017), Köttig/Bitzan/Petö (2017), Verloo (2018). (2015a), Lang/Peters (2018), Näser-Lather/Oldemeier/Beck (2019), Außerdem die Schwerpunkthemen folgender Zeitschriften Ariadne Dietze/ Roth (2020) sowie Strube (2017), Blum (2019), Dietze (2019) 71/2017, Femina Politica 2017 (H1), Feministische Studien 36/2018 und Ak Fe.in (2019). Für eine europäische bzw. inter/ transnationale (H2), Signs 44/2019 (H3).

46 Achsen reduziert und hier verhandelt bzw. vor allem gegeben; sie bildet einen festen Bestandteil abendlän- attackiert. Vielfach wird dem (Rechts-)Populismus at- discher Kultur. Unter ‚Antifeminismus‘ soll hier nur testiert, dass er selbst darüber hinaus nur eine ‚dünne Frauenfeindlichkeit verstanden werden, die direkt als Ideologie‘ darstelle, eigentlich mehr einen Politikstil Reaktion auf die Frauenbewegung, als Widerstand ge- als programmatische Inhalte beschreibe und dass er gen deren tatsächliche oder vermeintliche Ziele anzu- sich daher immer an eine (substantielle) Ideologie an- sehen ist“ (Schenk 1980: 163). Antifeminismus bedeu- docken müsse. So definieren die Populismus-Forscher tet also eine konkrete Reaktion auf Forderungen oder Mudde/Rovira Kaltwasser den Populismus folgender- Errungenschaften des Feminismus und der Frauenbe- maßen: Populismus sei „a thin-centered ideology that wegung. Historisch war die Bezeichnung genau in die- considers society to be ultimately separated into two sem Zusammenhang entstanden: Mit der Entstehung homogeneous and antagonistc camps, ‚the pure peo- einer organisierten Frauenbewegung Ende des 19. ple‘ versus ‚the corrupt elite‘, and which argues that Jahrhunderts formierte sich auch ein Widerstand ge- politics should be an expression of the volunté générale gen die explizite Forderung nach Gleichheit und Teil- (general will) of the people“ (ebd.: 6). Die ‚dicke‘ Ideo- habe. In ihrem 1902 veröffentlichtem Essay Die Antife- logie, an die sich der Rechtspopulismus andockt, sind ministen entlarvte die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm Nationalismus, Rassismus und Autoritarismus, wahl- die Argumente zeitgenössischer Wissenschaftler als weise kommen dann noch Antisemitismus, Antifemi- Pseudobegründungen, die den Ausschluss von Frau- nismus/Homophobie und andere Ungleichheitsideo- en aus gesellschaftlich relevanten Bereichen vor allem logien dazu. Damit geht der Rechtspopulismus dann mit deren geistiger und körperlicher Minderwertig- eigentlich in den Rechtsextremismus über. Ich möchte keit zu legitimieren versuchten. Wie die Historikerin an dieser Stelle nicht die Debatte um Sinn und Zweck Ute Planert in ihrer lesenswerten Studie dargestellt dieser Terminologie eröffnen, sondern nur verdeutli- hat, bildete sich 1912 der „Deutsche Bund zur Bekämp- chen, dass ich selbst den Begriff des Rechtspopulismus fung der Frauenemanzipation“ als Sammelbecken pragmatisch gebrauche. Ich denke, für die von mir zu unterschiedlicher anti-emanzipatorischer Strömun- beschreibenden Akteur_innen trifft die Kennzeich- gen (nationalistisch-völkisch, antisemitisch etc.), die nung insoweit zu, da es bei ihnen tatsächlich auch um vor allem die immer lauter werdenden Forderungen eine ‚neue‘ Form der politischen Mobilisierung geht. nach einem Stimmrecht für Frauen bekämpften (Pla- Das schließt aber keineswegs aus, dass die Ideologie nert 1998). Interessant ist, dass Antifeminismus schon ‚dahinter‘ tatsächlich häufig als rechtsextrem zu qua- damals auch Ausdruck grundsätzlich negativer Ein- lifizieren ist und dass auch Akteur_innen dieser Politik stellungen gegenüber liberalen Werten moderner Ge- diesen Namen verdienen. sellschaften war und dass er als Klammer oder Vehi- kel unterschiedlicher konservativer bzw. reaktionärer Haltungen fungierte. Ich möchte den Antifeminismus Antifeminismus gestern und heute in diesem Zusammenhang als eine flexible Strate- gie begreifen, die sich gegen verschiedene gleichstel- In den letzten Jahren wurden vermehrt Stimmen ver- lungspolitische Forderungen bzw. Errungenschaften lautbar, die alles, was mit dem Wort ‚Gender‘ in Zu- wendet. Der Antifeminismus in seiner allgemeinen sammenhang steht, aufs Schärfste kritisieren und Form ist durch drei Merkmale charakterisiert: 1. er er- diffamieren. Konkreter wenden sich die Angriffe ge- weist sich als veränderbar und anpassungsfähig; 2. er gen Gender Mainstreaming und Gender Studies. Die tritt häufig als Element eines Konglomerats verschie- Kampfbegriffe in diesem Zusammenhang sind „Gen- dener autoritärer Ideologien und Diskurse und damit in derideologie“, „Gender Wahnsinn“ oder „Gender der Verschränkung mit beispielsweise einer völkisch- Gaga“. Diese Politisierung von „Gender“ von rechter rassistischen Ideologie auf; 3. er ist Ausdruck einer Ab- Seite ist als Ausdruck eines gewandelten Antifemi- wehr von Liberalisierung/Modernisierung und damit nismus zu begreifen. Mit Herrad Schenk lässt sich der des sozialen Wandels. Antifeminismus folgendermaßen bestimmen: „Es er- Der neue zeitgenössische Antifeminismus ist ebenfalls scheint sinnvoll, zwischen ‚Frauenfeindlichkeit‘ im als Reaktion auf Feminismus und Gleichstellungs- Allgemeinen und ‚Antifeminismus‘ im engeren Sinn zu bestrebungen zu verstehen. Nur agiert er – anders trennen, obwohl beide Phänomene gelegentlich inein- als seine Vorläufer vor hundert Jahren – auf dem Bo- ander übergehen. Frauenfeindlichkeit hat es, lang vor den einer in vielen Teilen gesellschaftlich veranker- dem Auftreten einer Frauenbewegung, immer wieder ten Gleichstellung. Er reagiert somit auf einen bereits

47 durchgesetzten bzw. vermainstreamten Feminismus. in Erscheinung. Ein weiteres Ereignis als Ausdruck die- Seine Argumente richten sich daher auch gar nicht ser zweiten Welle ist die mediale Kampagne gegen das mehr prinzipiell gegen Feminismus per se oder gleiche Handbuch Sexualpädagogik der Vielfalt 2014, in deren Rechte (die werden sogar anerkannt) sondern stär- Rahmen die Herausgeber_innen des Handbuchs aufs ker gegen „Gender“. Er kann gewissermaßen als An- Übelste im Internet beschimpft und diffamiert wurden. tifeminismus nach dem Feminismus bezeichnet wer- Mit Lang/Peters wäre daher festzuhalten, dass in der den. Ein weiteres Spezifikum ist, dass es sich hierbei zweiten Welle der Antifeminismus sich strategischer um ein gleichermaßen nationales wie transnationales auf die Themen Familie und Kinder ausrichtete. ³ Phänomen handelt, das von unterschiedlichen Grup- Wer sind die Akteur_innen dieses neuen Antifemi- pierungen getragen wird. Wie Kuhar/Paternotte aus- nismus? Ganz grob lassen sich die Vertreter_innen in führen, wurde der Begriff der „Genderideologie” vom fünf Gruppierungen zusammenfassen: konservative Vatikan als Gegenstrategie gegenüber der sich mit den bis rechtsextreme Journalist_innen/Publizist_innen UN-Konferenzen in Kairo (1994) und Peking (1995) und Publika; christlich-fundamentalistischen Grup- durchsetzenden Begrifflichkeit Gender geprägt (und pen in und außerhalb der Kirchen; konservative bis der damit einhergehenden Aufwertung von Gleichbe- rechtspopulistischen/rechtsextremen Strömungen rechtigung) und von verschiedenen katholischen In- und Parteien; Kampagnennetzwerke wie beispielswei- tellektuellen in unterschiedlichen nationalen Kontex- se der Demo für alle und die Männerrechtsbewegung ten in die Debatte gespeist (Paternotte/Kuhar 2018: bzw. maskulistische Internetplattformen. Zwischen 9ff.). Kampagnen gegen „Genderideologe“ gibt es in den Gruppierungen gibt es Kooperationen und perso- Ost- und Westeuropa genauso wie in Lateinamerika nelle Überschneidungen. Wie argumentiert der aktu- (vgl. Kováts/Põim 2015; Korolczuk/Graff 2018; Miscolci elle Antifeminismus? Im Zentrum stehen, wie bereits 2017). Die Akteur_innen sind sehr gut vernetzt. erwähnt, die Kampfbegriffe „Gender Ideologie“ und Für die Debatte im deutschsprachigen Raum nennen „Gender Wahnsinn“ bzw. „GenderGaga“. Mit diesen Lang/Peters zwei Wellen, in denen der aktuelle gegen sollen einerseits Gender Mainstreaming – als politi- „Gender“ polemisierende Antifeminismus an Fahrt sche Maßnahme der Herstellung von Geschlechter- aufnahm.² Die erste Welle markieren publizistische gleichheit – andererseits die Geschlechterforschung Beiträge zum Thema. Lang/Peters (2018: 21ff.) und diskreditiert werden. Die Argumentation ist sowohl Hark/Villa (2015b) datieren den ‚Beginn‘ auf das Jahr anti-etatistisch wie anti-wissenschaftlich bzw. an- 2006, denn da erschien in der Frankfurter Allgemeinen ti-intellektuell. Im Kern geht es darum, den Begriff Zeitung ein Beitrag, in welchem polemisch, verkürzend „Gender“ in Misskredit zu bringen. In der Geschlech- und alarmistisch vor Gender Mainstreaming gewarnt terforschung – aber mittlerweile auch darüber hinaus wurde. Lang/Peters halten hierzu fest: „Der organi- – bezeichnet der englische Begriff „Gender“ die so- sierte Antifeminismus richtete sich somit in den An- ziale Seite des Geschlechtes. D.h. ihm zugrunde liegt griffen gegen ‚Gender‘ und Gender Mainstreaming von die Einsicht – aus der Geschlechterforschung vielfach Beginn an gegen einen angeblich männerfeindlichen empirisch belegt –, dass die geschlechtliche Identi- Feminismus und einen von diesem getriebenen, wi- tät, Weiblichkeit/Männlichkeit, nicht Ausdruck einer dernatürlichen ‚Genderismus‘“ (2018: 24). Die zweite biologisch-natürlichen Veranlagung ist, sondern viel Welle datieren Lang/Peters dann auf die Jahre 2013/14, mit sozialen Normen und Stereotypen zu tun hat, da- in denen verstärkt gegen sexuelle Vielfalt und Sexu- mit, welche Bilder in einer Gesellschaft zu Weiblich- alpädagogik mobilisiert wurde. Zu nennen wäre hier keit und Männlichkeit vorherrschen und welche Aus- die Petition gegen die Verankerung von sexueller Viel- wirkungen diese auf die einzelnen haben. Tatsächlich falt als Querschnittsthema im Bildungsplan in Baden- hat sich in den letzten Jahren in verschiedenen Berei- Württemberg 2013/2014 (vgl. Billmann 2015). Nicht nur chen auch im Deutschen die Bezeichnung „Gender“ dass diese Petition auch überregionale mediale Beach- durchgesetzt, mit der auf die soziale Dimension von tung fand, auch tauchten im Kontext der Proteste ge- Geschlecht hingewiesen werden soll. Und genau die- gen den Bildungsplan das Kampagnennetzwerk Demo ses Verständnis von Geschlecht ist den Gegner_innen für alle sowie die Gruppierung Besorgte Eltern erstmals ein Dorn im Auge. Dabei überzeichnen und verdrehen 2. Als quasi Vorläufer sei auf die sich in den 1980er/90er Jahren bil- 3. Vgl. zur Instrumentalisierung der Sorge um die ‚bedrohten Kinder‘ dende Männerrechtsbewegungen verwiesen, die das neue Diskurs- Schmincke (2015). Eine sehr wichtige Beobachtung in diesem Zu- muster der Männer/Jungen als Opfer des Feminismus prägten und sammenhang bringt Scheele auf den Begriff. Er stellt fest, dass sich bereits früh gegen Gender Mainstreaming polemisierten, vgl. dazu der väterzentrierte Antifeminismus nun stärker als familienzentrierter die Studien von Kemper (2011), Rosenbrock (2012), Claus (2014). Antifeminismus artikuliere (vgl. Scheele 2016).

48 sie jedoch die Aussagen der Geschlechterforschung, für alle), das zwar nicht das neue Gesetz verhindern wenn sie behaupten, diese stelle Geschlecht zur völ- konnte, aber erfolgreich massenhaften Protest auf die ligen Disposition, jede/r könne sich jederzeit sein/ihr Straße und in der Folge auch in die Medien organisierte Geschlecht aussuchen. Aber im Kern geht es der Ge- (vgl. Schmincke 2015). In Deutschland bekam zeitnah schlechterforschung tatsächlich um ein Infragestellen ein anderes Ereignis große mediale Aufmerksamkeit: der Zweigeschlechtlichkeit als biologisch-anthropolo- ein evangelikaler Lehrer im Schwarzwald hatte eine gischer Tatsache und darum diese vielmehr als gesell- Petition gegen die Thematisierung sexueller Vielfalt im schaftlich-kulturelle Norm sichtbar zu machen. Und Bildungsplan der Landesregierung Baden Württem- damit auch die (mögliche) Vielfalt geschlechtlicher bergs eingereicht. Zur Unterstützung der Petition fan- Identifizierungen, die von dieser Norm verdeckt wird. den Anfang 2014 in Stuttgart verschiedene Demonst- In der antifeministischen Argumentation wird daraus rationen statt, die von den Initiativen Besorgte Eltern jedoch der Vorwurf, Menschen sollten verunsichert und Demo für alle unterstützt wurden. Insbesondere werden, man könne das Geschlecht beliebig wechseln letztere sollte seither immer mal wieder in Erschei- etc. – was in der Geschlechterforschung jedoch auch nung treten mit ihren massiven Kampagnen gegen die niemand behauptet. Der neue Antifeminismus beharrt „Ehe für alle“ und Sexualpädagogik in Bildungsplänen. darauf, dass Geschlecht immer schon binär, eindeutig 2014 organisierte sich im Internet außerdem ein Shit- und von Natur aus festgelegt sei. Dass auch ‚die Natur‘ storm gegen die Autor_innen des Handbuchs Sexual- nicht so eindeutig ist, wie wir es häufig gerne hätten, pädagogik der Vielfalt. An diesen Ereignissen und der wird dabei selbstverständlich unterschlagen. „Gender“ Aufnahme dieser Themen durch die AfD wurde zuneh- als Kampfbegriff der Rechten ist daher keineswegs de- mend deutlich, dass sich rechtspopulistische Gruppie- ckungsgleich mit „Gender“ als analytischer Katego- rungen mit einem neuen Thema in die öffentliche De- rie der Geschlechterforschung oder als deskriptiver batte brachten. Es geht tatsächlich in diesen Protesten Kategorie von Gleichstellungsmaßnahmen. Die mas- um eine spezifische Verknüpfung von „Gender“, sexu- siven Angriffe auf Gleichstellung und Geschlechter- eller Vielfalt und Sexualpädagogik. Meine These in die- forschung finden jedoch nicht nur im Feuilleton oder sem Zusammenhang ist zum einen, dass diese Themen in Form verbaler Attacken auf Einzelne statt, sondern – Gender/Geschlechtergerechtigkeit, sexuelle Vielfalt/ sind zunehmend auch Teil von Kampagnen und par- Anerkennung nicht heterosexueller Lebensweisen und teipolitischen Interventionen. Letzteres geht vor allem Sexualpädagogik/Sexualerziehung – von den Gegner_ auf die AfD zurück, aber auch die Junge Union hat die innen häufig kombiniert attackiert werden bzw. dass Reduzierung von Professuren, die zu Gender forschen, diese Trias einen gemeinsamen Komplex bildet. Und gefordert und die CSU hat die Kampfbegriffe „Genderi- zum anderen möchte ich verdeutlichen, dass dieser deologie“ und „Frühsexualisierung“ in ihr Grundsatz- Komplex kein zufälliges sondern ein zentrales Element programm aufgenommen. rechtspopulistischer Politik und Strategie ist. Im Folgenden soll dieser Komplex konkreter beleuch- tet werden anhand zweier Beispiele: dem Kampagnen- Gender + sexuelle Vielfalt bündnis Demo für alle und der AfD. + Sexualpädagogik

Aber nicht nur „Gender“ (und konkreter dann Gender Der Gender-Vielfalt-Sexualpädagogik Mainstreaming und Geschlechterforschung) wurden Komplex - am Bsp.Demo für alle und AfD Gegenstand rechtspopulistischer Attacken. Vielfach lässt sich seit den 2010er Jahren beobachten, dass ne- Demo für alle ben dem Thema „Gender“ auch die Themen sexuelle Vielfalt und Sexualpädagogik von konservativer und Die Demo für alle (DfA)⁴ trat, wie beschrieben, 2014 rechtspopulistischer Seite zur politischen Mobilisie- erstmals in Erscheinung. War zunächst die AfD Abge- rung genutzt werden. Große Aufmerksamkeit bekamen ordnete Beatrix von Storch und die von ihrem Ehemann in diesem Zusammenhang in Frankreich die Proteste organisierte Initiative Familienschutz verantwortlich, gegen die Ehe für alle (Marriage pour tous). Dafür hatte sich eigens 2012 ein breites, vor allem von der Kirche 4. Inwieweit die Tatsache, dass die Abkürzung als Anagramm (oder Palindrom?) zur Abkürzung der Partei Alternative für Deutschland und konservativen Gruppierungen gesteuertes Bünd- fungiert, zufällig oder gewollt ist, können sicher nur die Initiator_in- nis gebildet, die Manif pour tous (zu Deutsch: die Demo nen dieses Bündnisses beantworten.

49 so steht mittlerweile Hedwig von Beverfoerde an der Aussage vollkommen unsinnig ist, weil insbesondere Spitze des Kampagnennetzwerks, das in der Tat auch die von der DfA privilegierte Vorstellung von Ehe und bestens vernetzt erscheint. Lang/Peters schreiben: Familie eine sehr moderne Erfindung ist, wird erst in „Die Demo für alle steht beispielhaft für ein Netzwerk- weiteren Aussagen deutlich, dass hiermit ein sehr par- projekt, das aus unterschiedlichen Spektren des orga- tikulares Verständnis von Ehe und Familie gemeint nisierten Antifeminismus getragen wird – und welches ist: Da ist die Rede davon, dass Ehe einer Verbindung die Kontinuitäten in den Argumentationssträngen auf- von Mann und Frau vorbehalten sei und dass Familie zeigt“ (Lang/Peters 2018: 26). ein biologisches Verwandtschaftsverhältnis bezeich- Neben den zahlenmäßig nicht übermäßig frequentier- nen solle. Man sei außerdem gegen die „Abschaffung ten Demonstrationen veranstaltet die DfA Symposien der natürlichen Geschlechter durch das Gender Main- und organisiert Petitionen. Mit dem zentralen Slogan, streaming und die Zerstörung der Familie“. Auch hier der sich auf der Webseite und auf jeder Demo wieder- werden falsche Tatsachen behauptet, da das Gender findet – „„Ehe und Familie vor! Stoppt Gender-Ideo- Mainstreaming ja in Wirklichkeit nicht Geschlechter, logie und Sexualisierung⁵ unserer Kinder“ –, ist im sondern Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts Kern zusammengefasst, worum es der Initiative geht: abschaffen will. Und auch die Zerstörung ‚der‘ (wel- a) der Kampf für ein konservatives und partikulares cher?) Familie ist keineswegs Ziel von Gender Main- Verständnis von Ehe und Familie (soll ausschließlich streaming. Aber der Feind scheint gefährlich zu sein, heterosexuellen Paaren mit selbstgezeugten Kindern was an den durchweg negativen Beschreibungen des vorbehalten sein), b) eine Frontstellung gegenüber im Ganzen sehr diffus bleibenden Gegners zu sehen ist: „Gender“ und gegenüber c) der Vermittlung sexual- „Umerziehungsversuche“, „Lobbygruppen und Ideo- pädagogischer Inhalte im schulischen Kontext (hier logen“, „Indoktrination“. Eine Infragestellung wird sowohl die Thematisierung von geschlechtlicher und hier mal eben ohne Umschweife mit „Indoktrination“ sexueller Vielfalt wie Aufklärung durch externe Grup- gleichgesetzt. Ein obsessives Thema des Bündnisses ist pen zum Thema LGBTIQ. Ein weiteres wichtiges The- die Sexualität. Diese wird vor allem in Form derjeni- ma, für das sich die DfA vehement einsetzt und das gen, die der heterosexuellen Norm nicht entsprechen, gewissermaßen auch in den anderen enthalten ist, ist thematisiert und diskreditiert sowie in Form des un- die ‚Verteidigung‘ von Elternrechten. Damit verbun- schuldigen vor Sexualität zu schützenden Kindes, das den sind aktuell starke Proteste gegen die Einführung im Zentrum der Proteste gegen die Thematisierung von Kinderrechten ins Grundgesetz, die im Bundes- geschlechtlicher und sexueller Vielfalt steht. Die dis- tag debattiert wird. Bei diesem Thema geht es nicht kursive Verknüpfung zwischen beidem, also zwischen nur um die Kritik an einer möglichen Einflussnahme Homosexualität und dem unschuldigen Kind, ist die des Staates (und damit die bekannte antietatistische Figur des Pädophilen, die in den Argumentationen im- Rhetorik), sondern auch innerhalb der Eltern-Kinder- mer wieder aufgerufen wird. Und auch „Gender“ wird Beziehung um die Stärkung elterlicher Autorität. Da- in diesen Kontext gestellt. Kinder erscheinen in den hinter steht offenbar die Angst vor dem Kontrollverlust Texten der DfA als asexuelle Wesen, die erst durch die bzw. davor, dass sich Kinder als eigenständige Wesen Thematisierung sexueller Inhalte im Rahmen von Se- entwickeln und sich im Zweifelsfall gegen die Eltern xualaufklärung, wohlgemerkt – und nicht durch Por- positionieren könnten. Genauso wie das generationel- nofilme oder sexualisierte Werbung etc. –, überfordert le Verhältnis strikt binär und hierarchisch verstanden und verwirrt werden könnten. Analysiert man die Tex- wird, so wird auch das Verhältnis von Heterosexua- te der Demo für alle eingehender, so zeigt sich folgen- lität und Homosexualität als binär und hierarchisch des Argumentationsmuster (wie beispielsweise in der verstanden und das Verhältnis der Geschlechter zu- Aufklärungsbroschüre der Initiative Elternaktion): mindest als strikt binär. Widersprüchliches und Un- Kinder und Jugendliche werden a) verwirrt, b) über- eindeutiges hat in diesem autoritären Weltbild keinen fordert, c) verletzt durch die Thematisierung sexueller Platz bzw. wird diffamiert. So heißt es in der Selbstdar- Vielfalt (und anderer die Sexualität berührender The- stellung, das Bündnis trete ein „für Ehe und Familie, men). Die immer wiederkehrenden Formulierungen auf die unsere Gesellschaft seit Jahrtausenden grün- sind: „schamverletzend“, „übergriffig“, es werde der det“.⁶ Abgesehen davon dass eine solch ahistorische „natürliche Schutzschild der Scham“ verletzt, Kinder 5. Wahlweise ist in dem Slogan auch von „Frühsexualisierung“ die Rede. 6. Alle Zitate aus der Selbstdarstellung finden sich unter ht- tps://demofueralle.blog/home/wer-wir-sind/ [Letzter Zugriff am 12.12.2019].

50 seien Grenzverletzungen ausgesetzt. Darüber scheint „Für ein klares Familienbild – Gender-Ideologie ist der Skandal an Sexualerziehung vor allem auch zu sein, verfassungsfeindlich“.⁷ Und in einem späteren Absatz dass sie die elterlichen Einflussmöglichkeiten womög- heißt es dann: „Gender-Ideologie marginalisiert na- lich tangieren könnte. Noch problematischer erscheint turgegebene Unterschiede zwischen den Geschlech- jedoch, wenn nicht die Lehrer_innen diese Aufklärung tern und stellt geschlechtliche Identität in Frage. Sie leisten, sondern „schulfremde“ Gruppen von außen, will die klassische Familie als Lebensmodell und Rol- d.h. LGBTIQ Gruppen wie Aufklärungsprojekt, die in die lenbild abschaffen. […] Wir lehnen daher Bestrebun- Schulen gehen, um dort sexualpädagogische Inhalt gen auf nationaler wie internationaler Ebene ab, die- zu vermitteln. Konkret ist der DfA die emanzipatori- se Ideologie durch Instrumente wie Gender-Studies, sche Sexualpädagogik ein Dorn im Auge, vor allem die Quotenregelungen z.B. für Frauen, Propagandaakti- Vermittlung von sexueller und geschlechtlicher Viel- onen wie den ‚Equal Pay Day‘ oder die ‚geschlechter- falt. Diese wird als übergriffig denunziert und darüber neutrale Sprache‘ umzusetzen“. diskreditiert, dass sie in die Nähe von Pädophilie ge- Auch hier werden also die Infragestellung ‚natürli- rückt wird. Diese widersinnige Argumentation stilisiert cher‘ Unterschiede sowie Maßnahmen zur Beseitigung die Schule als Ort sexueller Gefahr. Widersinnig ist sie von Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts als deshalb, weil der schulische Aufklärungsunterricht ja Ideologie und Propaganda abgetan. Die Angst dahin- primär zum Ziel hat, Kinder und Jugendliche zu befä- ter, ähnlich wie bei der DfA, ist, dass ein bestimmtes higen ihre Grenzen zu kennen und zu schützen. Außer- (konservatives) Familienmodell relativiert werden dem werden Kinder und Jugendliche an ganz anderen könnte. Ähnlich wie in der Selbstdarstellung der DfA Orten mit sexuellen Inhalten konfrontiert (vor allem wird hier einer „Gender Ideologie“ (bei der DfA war dem Internet, aber auch durch sexualisierte Werbung es vor allem das Gender Mainstreaming) unterstellt, oder Filme). Nicht zuletzt finden sexuelle Übergriffe ja dass sie Geschlechterunterschiede und die Familie ab- größtenteils nicht in der Schule oder in der Interakti- schaffen wolle. In einem späteren Paragraphen wird on mit ‚Fremden‘ statt, sondern gerade im familialen die Diskreditierung von „Gender“ dann darüber er- Nahraum. weitert, dass es in die Nähe von „Frühsexualisierung“⁸ gerückt wird. Zunächst wird „Frühsexualisierung“ je- doch im Kontext von sexueller Vielfalt eingeführt. So AfD formuliert das Parteiprogramm: „Eine einseitige Her- vorhebung der Homo-und Transsexualität im Unter- Die AfD hat in ihren Anfängen in vereinzelten Orts- richt, wie sie die sogenannten ‚Sexualpädagogik der verbänden Politik zum Thema „Gender“ und sexuelle Vielfalt‘ praktiziert, stellt einen unzulässigen Eingriff Vielfalt gemacht, spätestens seit 2015 ist diese Politik in die natürliche Entwicklung unserer Kinder und in jedoch einer ihrer Grundpfeiler, wie sich unter ande- das vom Grundgesetz garantierte Elternrecht auf Er- rem an den Wahlprogrammen für die Bundestags-, die ziehung dar. Dadurch werden Kinder und Jugendliche Europa- und diverse Landtagswahlen ablesen lässt. Bei – oft von schulfremden Personen und meist gegen den der AfD wird noch deutlicher als bei der DfA, dass und Willen der Eltern – in Bezug auf ihre sexuelle Identität auf welche Weise die konservative Familienpolitik als verunsichert, überfordert und in ihren Schamgefühlen völkisch-nationales Projekt verstanden wird und da- verletzt. Die AfD stellt sich allen Versuchen klar ent- mit unmittelbar anschlussfähig an den Rassismus ist. gegen, durch staatlich geförderte Umerziehungspro- So formuliert die AfD in ihrem Parteiprogramm zur gramme in Kindergärten und Schulen das bewährte, Bundestagswahl 2017, dass Familienpolitik Bevölke- traditionelle Familienbild zu beseitigen. Unsere Kinder rungspolitik sein soll, weil ihre Aufgabe dem Erhalt des dürfen nicht zum Spielball der sexuellen Neigungen ei- „eigenen Staatsvolks“ dienen müsse. Hierfür brau- ner lauten Minderheit werden. Das ideologische Expe- che es mehr stabile Familien mit mehr Kindern – dass riment der Frühsexualisierung ist sofort zu beenden“. hiermit aber nicht mehr migrantische Familien oder Auch hier finden sich viele suggestive Formulierungen: Regenbogenfamilien gemeint sind, geht aus den an- . Alle Zitate stammen aus dem Grundsatzprogramm der AfD, https:// deren Kapiteln des Parteiprogramms hervor. Die Maß- 7 www.afd.de/grundsatzprogramm/ [Letzter Zugriff am 12.12.2019]. nahmen hierzu sind dann: Scheidungen erschweren, 8. Diese Begrifflichkeit ist als Kampfbegriff zu verstehen, der von Väter(rechte) stärken, familiennahe Betreuung ‚wür- sowohl von der DfA wie der AfD wie auch anderen Gruppierungen, vor allem den „Besorgten Eltern“ prominent in die Debatte gebracht digen‘, Abtreibung erschweren, per Ehekredite Anrei- wurde. Die Formulierung wird nirgendwo näher erläutert und soll ze zum Kinderkriegen schaffen. Und last but not least: vermutlich vor allem suggestiv funktionieren und Ängste schüren.

51 „einseitige Hervorhebung“, „unzulässige[r] Eingriff stellen, müssen als Bedrohung abgewehrt und entwer- in die natürliche Entwicklung“, „staatlich geförderte tet werden. Dahinter steht ein autoritäres Weltbild, das Umerziehungsprogramme“ usw. Aber es wird deut- die soziale Ordnung als von ‚natürlichen‘ Hierarchien lich, dass offenbar „fremde“ und feindliche Gruppen geprägt versteht. Ich möchte im Folgenden drei sehr „unsere“ Kinder bedrohen. Wie auch in den Verlaut- unterschiedliche Erklärungsansätze für den Erfolg der barungen der DfA tauchen hier die bekannten Formu- rechten Familien-, Geschlechter- und Sexualitätspoli- lierungen auf, dass die Thematisierung sexueller und tik vorstellen. Unterschiedlich sind diese Ansätze, weil geschlechtlicher Vielfalt Kinder verunsichere, über- sie auf verschiedenen Ebenen die Mobilisierung zu er- fordere und in ihren Schamgefühlen verletze. Direkt klären versuchen. im Anschluss an den eben zitierten Absatz im Par- teiprogramm schließt sich die Behauptung an, dass die „Gender-Forschung“ keine seriöse, sondern eine Strategisches Bindemittel ideologische Forschung sei, weil sie die Geschlechter- – Scharnierfunktion polarität abschaffen wolle. Daher soll diese Forschung keine finanzielle Unterstützung mehr bekommen und Eine Reihe von Wissenschaftler_innen heben zu Recht entsprechende Professuren sollen nicht mehr besetzt hervor, dass die Besetzung des Themenkomplexes Ge- werden. Diese sehr weitreichenden und in der Sache schlecht-Sexualität-Familie eine strategische Funkti- sehr übergriffigen Forderungen machen deutlich, dass on hat und dass er als Scharnier fungiere (vgl. z.B. van der Polemik gegen „Gender“ auch Taten folgen sollen. Bargen/Unmüßig 2016). Hinzuzufügen ist aber, dass Insofern zeitigt diese Politik durchaus auch ganz kon- diese Scharnier-Funktion zwei Dimensionen hat. Zum krete materielle Konsequenzen. Erinnert sei an dieser einen ist es möglich, mit diesem Thema strategisch Stelle, dass die rechtskonservative Regierung in Un- unterschiedliche Gruppen für eine rechtspopulistische garn 2018 den Master-Studiengang Gender Studies Politik zu mobilisieren und damit auch in gemäßigtere einfach gestrichen hat.⁹ bürgerliche Milieus hinein zu agitieren, die mit offe- Im Folgenden soll diskutiert werden, warum rechtspo- ner rechtsextremen Themen wie Rassismus und An- pulistische bzw. rechtskonservative Parteien und Be- tisemitismus nicht so leicht zu gewinnen wären. Zum wegungen so sehr gegen Geschlechterforschung, ge- anderen fungiert das Scharnier auch nach innen, inso- gen Gleichstellungsbemühungen allgemein und vor fern als damit unterschiedliche Themen verknüpft und allem gegen die Thematisierung sexueller und ge- plausibilisiert werden können. So lässt sich die Vorstel- schlechtlicher Vielfalt kämpfen und warum der Kom- lung von Familie als Abstammungsgemeinschaft mit plex aus einer Politik gegen Gender, sexuelle Vielfalt der völkischen Ideologie einer als ethnisch homogen und Sexualpädagogik einen zentralen Baustein aktuel- vorgestellten Einheit verknüpfen, die sich nach Mög- ler rechtspopulistischer Ideologien darstellt. lichkeit selbst reproduzieren soll, um ihre ‚Reinheit‘ zu erhalten. Schulz/Barz haben im Auftrag der Evan- 9. Vgl. hierzu beispielsweise ein kurzer Bericht in der Wochenzei- tung Die Zeit: https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-10/gender- gelischen Kirche Hassmails als Reaktion auf kirchli- studies-ungarn-studienfach-abschaffung-universitaeten-viktor-or- che Positionen zu Gender und Vielfalt untersucht und ban [Letzter Zugriff am 18.12.2019]. stellen unter anderem fest, dass die diffamierende Kri- tik häufig auch mit diffamierenden Äußerungen zum Thema Flucht und Migration verbunden wird. Sie fol- Warum Element des gern daher: „Die Themenverknüpfungen dienen der Rechtspopulismus? argumentativen Verstärkung und der wechselseitigen Diffamierung verschiedener Aspekte von Vielfalt: Die Die Ablehnung von Gender, sexueller Vielfalt und Se- eine Abwertung macht die nächste plausibel“ (Schulz/ xualpädagogik steht in einem engen argumentativen Bartz 2017: 50). Osteuropäische Kolleginnen, die die Verweisungszusammenhang. Sie bildet den Kern einer Bedeutung des Antifeminismus in Polen und Ungarn konservativen bis rechtspopulistischen Geschlechter-, untersucht haben, haben diese Scharnierfunktion als Sexualitäts- und Familienpolitik. Dieser geht es dar- „symbolic glue“ bezeichnet (Kováts/Põim 2015). Im um, klare Hierarchien zu etablieren und diese als Na- dortigen Antifeminismus bündelten sich vor allem turtatsachen zu verklären: Männer vs. Frauen, Eltern auch Stimmen, die gegen den Neoliberalismus und da- vs. Kinder, sexuelle Norm vs. Abweichung. Alle Argu- mit verbunden die ‚Aufoktroyierung‘ liberaler Werte mente, die die Eindeutigkeit dieser Binaritäten in Frage Politik machten und das diesbezügliche Unbehagen auf

52 diese Weise einfingen. Wie Korulski/Graff insbesonde- für dieses rechtspopulistische Hegemonieprojekt als re mit Blick auf Polen herausarbeiten, bettet die dorti- „leerer Signifikant“ fungiere (Sauer 2017: 10; Mayer/ ge Rechte die Argumente gegen Gender und Vielfalt in Sauer 2017). Das bedeutet, dass Gender naturalisierte einen antikolonialen Deutungsrahmen. Die neoliberale Ungleichheitsideologien plausibel machen soll. Sauer Werte-Kolonisierung soll abgewehrt werden: „What is schreibt: „Geschlecht moduliert aufgrund seiner bi- new about the current phase is that the representati- när gedachten Struktur die rechtspopulistischen an- ves of the clergy and Catholic commentators not only tagonistischen Zuspitzungen. Zweigeschlechtlichkeit oppose women’s reproductive rights and stress the bildet ein Paradigma dafür, Gesellschaften in zwei di- connection between family planning and LGBT rights stinkte und hierarchisch angeordnete Gruppen zu tei- but also link both to the flaws of global capitalism“ len, und dafür, dass es ‚natürlicher‘ Weise ein jeweils (Korolczuk/Graff 2018: 803). In diesen Überlegun- ‚anderes‘ geben muss. Geschlecht dient in dieser Vor- gen zur inhaltlich-ideologischen Strategiefunktion stellung vor allem dazu, soziale Ungleichheit als not- schwingen bereits Argumente mit, die ich nun in dem wendig und ‚natürlich‘ zu präsentieren. Anhand der zweiten Erklärungsansatz kurz erläutern möchte. als natürlich angenommenen Geschlechterungleich- heit lässt sich die Vorstellung einer ‚prinzipiellen Un- gleichheit von Menschen‘ und daraus sich ergebende Kulturkampf – Kampf um Unter- und Überordnungen legitimieren“ (Sauer 2017: kulturelle Hegemonie 12f.). Mit dem Bezug auf Gender als „binär gedachte[r] Struktur“ lässt sich die rechtsextreme Ideologie ei- Die rechte Geschlechter- und Familienpolitik ist dar- ner ‚natürlichen‘ Ungleichheit der Menschen, an die über hinaus ein wichtiger Baustein in dem Kampf um der Rechtspopulismus andockt, unterfüttern. In den kulturelle Hegemonie und damit auch einer Politik, die Worten von Mayer/Ajanovic/Sauer: „Der Anti-Gen- verstärkt moralisch argumentiert und Werte zum Ein- der-Diskurs entpuppt sich damit als Vehikel, um die satz bringen will. Wie in den kurzen Beispielen deutlich Idee der ‚natürlichen Ungleichheit‘ der Menschen im geworden ist, wird permanent der Wert ‚der‘ Familie öffentlichen Diskurs zu festigen: Mittels der – schein- beschworen, ‚Familie‘ gilt als bedroht und als zu ret- bar wissenschaftlich begründeten und dem Alltags- ten. Tatsächlich geht es jedoch darum, den Begriff der verständnis unmittelbar einleuchtenden – Ablehnung Familie zu besetzen, ihn zu retraditionalisieren. Denn dekonstruktivistischer Vorstellungen von Geschlecht es geht ja gerade nicht um jede Familie und es geht tat- lässt sich ein zentrales Element rechtsextremer Ideo- sächlich auch nicht um alle Kinder; letztlich wird eine logie in zustimmungsfähiger Art und Weise artikulie- partikulare Form von Familie als Allgemeinheit ge- ren“ (2018: 56). Hintergrund dieser Überlegungen ist setzt und alles davon Abweichende ausgeschlossen. In die Beobachtung, dass der Rechtspopulismus auch als dem Anspruch, die Werte und Anliegen ‚der‘ Familie zu eine Reaktion auf gesellschaftliche Krisenerscheinun- verteidigen, drückt sich die politische Strategie eines gen zu verstehen ist, als Krise der politischen Syste- Kampfs um Deutungsmacht aus. Juliane Lang schreibt me, der Ökonomien und der Geschlechterverhältnisse. hierzu: „Im Kampf um Begriffe versuchen antifemi- Unabhängig davon, wie weit Krise eine objektive Grö- nistische AkteurInnen, liberalen Auffassungen ge- ße oder aber vor allem subjektiv wahrgenommen wird, schlechtlicher und familialer Lebensformen mit einem lösen Krisen vor allem emotionale Reaktionen aus, und gezielten öffentlichen Gegendiskurs zu begegnen“ genau hier setzen rechtspopulistische Strategien und (Lang 2015: 7). So ist ein explizites Projekt der sog. Neu- Mobilisierungen an. en Rechten Deutungshoheit über Begriffe zu gewinnen und das heißt die Bedeutung von Begriffen mitzube- stimmen bzw. herkömmliche Begriffe zu denunzieren. Denn mit der Setzung eines Begriffs hat man auch ein Thema gesetzt und nicht zuletzt eine bestimmte Wei- se über ein Thema zu denken – was sich anschaulich an der Setzung der Kampfbegriffe „Gender-Ideologie“ und „Frühsexualisierung“ zeigen lässt, ¹⁰ aber letztlich auch darin, wie der Begriff der Familie besetzt wird. 10. Beide Begriffe tauchen in vielen Kontexten ohne Anfürungs- Mit Birgit Sauer möchte ich noch auf eine inhaltliche zeichen auf (beispielsweise im Grundsatzprogramm der CSU), d.h. so als handelte es sich dabei um deskriptive oder analyti- Begründung eingehen, die argumentiert, dass Gender sche Begriffe und nicht um Kampfbegriffe.

53 Unsicherheiten schüren – affektive Mobilisierungen

Die Themen Gender, Sexualität und Familie eignen sich hervorragend, um eine emotionalisierte Politik zu be- treiben, wie sie für rechtspopulistische Gruppierungen typisch ist. Wie Ruth Wodak (2016) in ihren diskurs- analytischen Analysen zum Rechtspopulismus her- ausgestellt hat, arbeitet dieser mit einer „Politik der Angst“. Die Themen Gender, Sexualität und Familie sind affektiv hoch aufgeladen und mit ihnen lassen sich Unsicherheiten schüren bzw. lässt sich an diese ando- cken, um Leute für bestimmte politische Programma- tiken zu mobilisieren. Wimbauer/Motakef/Teschlade (2015) betonen in ihrer Analyse vor allem die Bedeu- tung von Gefühlen der Prekarität für die Zunahme an- tifeministischer Haltungen. In eine ähnliche Richtung argumentieren Chmilewski/Hajek (2017), die sich mit den Protesten der Demo für alle beschäftigt haben. Die Autorinnen erklären den Erfolg der rechten Familien- und Geschlechterpolitik damit, dass diese an Krisenge- fühle, Gefühle der Unsicherheit anknüpfen: „Unserer Analyse zufolge lässt sich der Erfolg der Neuen Rech- ten im Bereich der Familien- und Geschlechterpolitik daraus erklären, dass diese eine emotionale Pädagogik zur Bearbeitung der Krise der Subjektivierungsformen und der Selbstverhältnisse anbieten, in deren Zentrum die homophobe und sexistische Reaktivierung der he- terosexuellen Kleinfamilie steht“ (2017: 182). Der Antifeminismus des Rechtspopulismus ist daher auch als Reaktion auf sozialen Wandel zu begreifen, auf einen Wandel, der mal mit dem Schlagwort Neo- liberalismus, mal mit Globalisierung verbunden, mal mit Ökonomisierung oder Umbau des Sozialen und bei welchem es darum geht, dass Veränderungen als weder beeinflussbar noch zurechenbar und schon gar nicht als steuer- oder veränderbar wahrgenommen werden.

Fazit

Eine rechte Geschlechter-, Sexualitäts- und Familien- politik stellt keinen Nebenschauplatz rechtspopulisti- scher Kämpfe um politischen Einfluss und kulturelle Hegemonie dar, sondern sie ist ein zentrales Element autoritärere nationalistischer und rassistischer Poli- tiken, wie in diesem Beitrag verdeutlicht werden soll- ten. Im Umkehrschluss bedeutet diese Einsicht jedoch auch sich immer wieder darüber klar zu werden, dass die Anerkennung von Vielfalt ein Kernanliegen demo- kratischer Gesellschaften ist und als solche vehement verteidigt werden muss.

54 Literatur

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Imke Schmincke 56 THOMAS WAGNER Thomas Wagner Die Neue Rechte und die Kunst der Provokation

Im Jahr 2018 hatten der rechte Verleger Götz Kubitschek kam es, dass Kubitschek und Kositza die Gelegenheit und seine Frau, die Publizistin Ellen Kositza, auf der hatten, ihre Bücher doch noch zu präsentieren, die Frankfurter Buchmesse viele Lacher auf ihrer Sei- Diskussion um die Buchmesse ein weiteres Mal mit- te. Nach dem Tumult den der Auftritt des Verlags im zubestimmen und – indem sie die über sie kursieren- Jahr zuvor auslöste, musste er damit rechnen, dass die den Klischees karikierten – ihre Gegner und auch ein Buchmessen-Leitung ihm einen abgelegenen Stand- bisschen sich selbst auf die Schippe zu nehmen. An- platz zuteilen würde. Der Marginalisierung kamen sie ders, als viele überzeugte Antifaschisten glauben, be- mit einer gewitzten Aktion zuvor. Kubitschek teilte schränkt sich das Handlungsrepertoire der radikalen der verdutzten Öffentlichkeit mit, künftig im konser- Rechten keineswegs auf rohe Gewalt und stupide Pa- vativen Spektrum als Politikberater wirken zu wollen rolen. Wer ihnen unterstellt, sie seien humorlos oder und seinen Verlag Antaios an den bis dahin nicht in Er- geistige Tiefflieger, wird in der politischen Auseinan- scheinung getreten Zahnarzt Dr. Thomas Veigel ver- dersetzung in der demokratischen Öffentlichkeit, in kauft zu haben. Antaios, so heißt es in der Pressemel- der es immer auch darum gehen muss, die Mehrheit dung vom 10. Oktober 2018, werde »unter dem neuen des Publikums von den eigenen Argumenten zu über- Dach als Imprint weitergeführt und behält seinen Na- zeugen, das Nachsehen haben. Es macht daher Sinn, men. Ellen Kositza übernimmt als Programmleiterin sich die Strategien rechtsintellektueller Aufmerksam- die inhaltliche Ausrichtung«. Die Verlagsseite kün- keitserzeugung genauer anzuschauen, um für die ge- digte eine »Homestory« über das Verlegerehepaar an. genwärtigen Auseinandersetzungen besser gewappnet Aus dem Ankündigungstext: »Sie kamen zur Selbstin- zu sein. szenierung wie die Jungfrau zum Kinde: K&K. Hier erfährt man die „ganze Geschichte“ und sämtliche Hintergründe aus Schnellroda: Warum werden die Zie- 1. Auch ich, der ich mir die Loci-Verlagsseite zunächst nur ober- flächlich auf dem Smartphone angeschaut hatte, fiel einen Moment gen, der Hahn und die Ganter gesiezt, sämtliche Ha- lang darauf rein. Dass Kubitschek, den ich ein paar Jahre zuvor sen, Hennen, Entenfrauen aber geduzt? Was treibt der eher als einen wenig an praktischer Politik interessierten Literaten eingeschätzt hatte, mittlerweile Geschmack daran gefunden haben Kubitschek überhaupt in seiner Freizeit? Und warum könnte, in diesem Feld eine beratende Tätigkeit auszuüben, hielt ich müssen die hauseigenen Kinder erst gehäkelte und ge- zu diesem Zeitpunkt nicht mehr für abwegig. klöppelte Werkstücke abliefern, bevor sie unter stren- 2. Da heißt es: »Künstler sind Kreaturen ihrer Epoche. Die höchste Kunst wird diejenige sein, die in ihren Bewusstseinsinhalten die tau- ger Betreuung ein Buch lesen dürfen«? Die Verlagsseite sendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, dass ziert ein Zitat aus dem Dadaistischen Manifest von Ri- sie sich VON DER EXPLOSION DER LETZTEN WOCHE werfen ließ, chard Huelsenbeck, datiert auf den 12. April 1918.¹Alle die ihre Glieder immer wieder UNTER DEM STOSS DES LETZTEN TAGES zusammensucht. Die besten und unerhörtesten Künstler angekündigten Bücher haben einen Umfang von 124 werden diejenigen sein, die stündlich die Fetzen ihres Leibes aus Seiten und kosten 19.18 Euro. Eine ganze Menge Jour- dem Wirrsal der Lebenskatarakte zusammenreißen. VERBISSEN IN DEN INTELLEKT DER ZEIT, blutend an Händen und Herzen. nalisten übersahen, die Hinweise auf den Fake, fielen GEGEN DIE WELTVERBESSERNDEN THEORIEN literarischer Hohl- darauf herein und transportierten die Botschaft.2 So köpfe!«

58 Kubitscheks subversives Manifest

Die »kluge, arrogante, witzige, schockierende, plötz- 3. Der zunächst als Einzelband in der Antaios-Reihe »Kaplaken« liche, stete, situative Provokation« sei nach wie vor erschienene Text wurde wieder abgedruckt in Götz Kubitschek: Die ³ Spurbreite des schmalen Grats. 2000 -2016, hier Seite 73. das geeignete Mittel im Kampf gegen untragbar ge- 4. Gesinnungsgenossen empfiehlt er neben einschlägigen theore- wordene Institutionen, heißt es in dem 2007 erschie- tischen Schriften von Ernst Jünger, Alain de Benoist und anderen ausdrücklich die Lektüre von schöner Literatur. »Vermutlich eignen nenen Büchlein «Provokation» von Götz Kubitschek. sich Romane sogar noch besser als theoretische Schriften für die Darin nutzt der ehemalige Oberleutnant der Reserve Suche nach dem rechten Maß. Kennt ihr ‚Der Vater‘ von Jochen mit ausgeprägtem literarischen Interesse ⁴ das Bei- Klepper (über Dienst und Demut)? ‚Die Kinder der Finsternis‘ von Wolf von Niebelschütz (über die Entschlossenheit)? ‚Der Großtyrann spiel avantgardistischer Kunst und des studentischen und das Gericht‘ von Werner Bergengruen (über die Missachtung Protests der außerparlamentarischen Opposition des Maßes)? Oder ‚Die vierzig Tage des Musa Dagh‘ von Franz Werfel (über die Aufopferung), ‚Jürg Jenatsch‘ von Gottfried Keller (APO), um einen eigenen Aktionsstil zu begründen. ⁵ (über Politik und Schuld), ‚Die schwarze Weide‘ von Horst Lange Vorhergegangen war ein jahrelanger Austausch mit (über das Verhängnis)? Wer sich von solchen Schulen des Lebens den 68ern Günter Maschke und Bernd Rabehl. ⁶ Sie ge- nicht belehren lässt« , so Kubitschek, »wer sich während einer sol- chen Lektüre nicht aufrichtet, um sein Leben zu ändern, der wird die hörten neben Dieter Kunzelmann, Herbert Nagel, Rudi Türe nie finden, durch die wir gegangen sind. Dutschke und Frank Böckelmann zur Subversiven Ak- 5. Er war allerdings nicht der erste Rechte, der sich darin versuchte. tion. Das Theorieblatt der »Subversiven Aktion« hieß In der Bundesrepublik reicht die »Geschichte der provozierenden Performance von rechts« bis in die späten fünfziger Jahre zurück, Anschlag, was zugleich auf eine Veröffentlichungs- als Marcel Hepp gemeinsam mit seinem Bruder Robert diese Me- form (Aushang, Plakat), das Antippen oder Zupfen von thode nutzte, um seine »Katholische Front« – später: »Konservative Front« – bekannt zu machen. Sie verteilten Flugblätter, organisier- Musikinstrumenten und auf eine Aktionsform verwies: ten Go-ins und Teach-ins. Dass sie dabei auch Professoren verbal das Zuschlagen oder Putschen. Kubitscheks Schrift angriffen, war für die damalige Zeit ungewöhnlich. »Diese rechten »Provokation« wiederholt diese Geste. »Wozu sich er- Studentengruppen agierten an den Universitäten Tübingen und Erlangen und stellten sich gegen die Aufarbeitung der deutschen klären? Wozu sich auf ein Gespräch einlassen, auf eine Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs«, (vgl. Weiß, Volker: Beteiligung an einer Debatte? Weil Ihr Angst vor der Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart 2017, Seite 125). Durch die Vermittlung von Abrechnung habt, bittet Ihr uns nun an einen Eurer Armin Mohler wurde der bereits 1970 an den Folgen einer Krebser- runden Tische? Nein, diese Mittel sind aufgebraucht, krankung verstorbene Marcel Hepp persönlicher Referent von Franz und von der Ernsthaftigkeit unseres Tuns wird Euch Josef Strauß und Chefredakteur des Bayernkurier. 6 . Mir gegenüber erklärte Götz Kubitschek im Herbst 2016: »Ich kein Wort überzeugen, sondern bloß ein Schlag ins Ge- habe mich mit Rabehl darüber unterhalten, wie die Atmosphäre in sicht«. ⁷ Und: »Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am den Jahren 1962, 1963, 1964 war und wie sie dann 1966 und 1968 Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht war, als etwas durchbrach, das sich lange vorbereitet hatte. Auch mit Günter Maschke habe ich über diese Fragen gesprochen. Beide ein Mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der konnten das sehr plastisch beschreiben. Dabei stellt sich die Frage, Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Par- welche katalytische Bedeutung solchen Gruppen wie der Kommu- ne, den Situationisten und der Subversiven Aktion um Fritz Teufel, ty«. ⁸ Immer wieder wird behauptet, diese Sätze sei- Dieter Kunzelmann oder auch Frank Böckelmann zukam. Sie haben en ja nun der ultimative – gewissermaßen der schla- damals bestimmte Provokationsstrategien auf die Spitze getrieben. gende – Beweis dafür, dass den Rechtsintellektuellen, Das geschah nicht aus Lust und Laune heraus, sondern reflektiert, mit einem unglaublichen Aufwand an Selbstrechtfertigung. Ich bin die sich heute in die Fußstapfen der »Konservativen mir nicht klar darüber, wie wichtig die Impulse dieser Gruppen am Revolution« stellen, an wirklichen inhaltlichen Kont- Ende waren. Ob es sich nicht um Tendenzen handelte, die einfach zum Zuge kamen. Jedenfalls kenne ich Rabehl sehr gut und habe roversen gar nicht gelegen sei. Ich denke, das ist ein ⁹ Begrifflichkeiten und Theorieansätze von ihm übernommen« (zit. n. Kurzschluss. ¹⁰ Kubitscheks Text atmet den Geist ra- Thomas Wagner: Die Angstmacher. 1968 und die Neue Rechte. dikaler Künstler-Manifeste des 20. Jahrhunderts. Man Berlin 2017). 7. Ebenda, Seite 77f. sollte ihn nicht als politisches Programm oder umfas- 8. Ebenda, Seite 75f. sende politische Handlungslehre missverstehen. Als er zum ersten Mal veröffentlicht wurde, war der Erfolg einer Rechtspartei wie der AfD noch nicht abzusehen. In meinen Augen handelt es um einen symbolischen Akt, mit dessen Hilfe eine sich selbst als marginali- siert empfindende Gruppe sich überhaupt erst einmal Gehör und damit Zugang zum öffentlichen Diskurs zu verschaffen versucht. ¹¹ Ob, und wenn ja, wie man sich

59 9. Auch der von mir geschätzte Autor Richard Gebhardt tat das System auf diese Weise als repressiv entlarvt werden. vor einem Jahr im Argument. Vgl. Richard Gebhardt: »“... bloß ein Das politische Kalkül war seit Ende der fünfziger Jah- Schlag ins Gesicht“ 1968, die Neue Rechte und die Grenzen des po- litischen Diskurses«, in: Das Argument 324, 2018, Seite 556-563 so- re innerhalb der linksgerichteten Situationistischen wie meine Antwort: Thomas Wagner: » Wer die Rechte bekämpfen Internationale um den französischen Experimental- will, muss ihr Denken kennen. Eine Antwort auf Richard Gebhardt«, in: Das Argument 325, 2018, Seite 107-114. filmer Guy Debord und den dänischen Künstler Asger 10. Das betont martialische Auftreten der Subversiven Aktion hat Jorn entwickelt worden. Die Situationisten wollten die einen Mann wie Dutschke keineswegs davon abgehalten, immer sie umgebende Realität nicht nur spiegeln, sondern die wieder die argumentative Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu suchen. Selbst seinen Attentäter, dem rechtsradikalen Gesellschaft verändern, indem sie »revolutionierende Josef Bachmann, hat er in Briefen bekanntlich von der guten sozia- Situationen« ¹³ herstellten. Als das geeignete Mittel listischen Sache zu überzeugen versucht. dazu erschien ihnen die Provokation etablierter Insti- 11. Wie gering man vor dem Durchbruch der AfD in diesem Kreis die Chance einschätzte, jemals selbst politisch Wirkung entfalten zu tutionen. Die Vertreter des Establishments sollten aus können, geht aus einem bei Antaios erschienenen Gesprächsband der Reserve gelockt werden. Deren »Reaktionen sollten hervor: Ellen Kositza/Götz Kubitschek: Tristesse Droite. Die Abende entlarven, entblößen oder auch nur für Augenblicke von Schnellroda. Schnellroda 2015. 12. Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kul- Zustände, Vorurteile, Hass und Emotionen aufleuchten turrevolution 1967 – 1977. Frankfurt am Main 2011, Seite 43. lassen«. ¹⁴ Es ging darum, den Widerspruch zwischen 13. Böckelmann, Frank/Nagel, Herbert: Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern. Frankfurt a.M. 2002, Seite 35. dem, was ist, und dem, was sein könnte, zu verdeutli- 14. Rabehl, Bernd: »Die Provokationselite: Aufbruch und Scheitern chen und im Hier und Jetzt bereits Elemente der ange- der subversiven Rebellion in den sechziger Jahren«, in: Siegward strebten anderen Ordnung vorwegzunehmen.«Arbeite Lönnendonker/Bernd Rabehl/Jochen Staadt: Die antiautoritäre Re- volte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Tren- rbewegung und Marxismus schienen in revolutionärer nung von der SPD. Band 1: 1960 – 1967. Wiesbaden 2002, Seite 405. Hinsicht versagt zu haben. Im Westen hatte es zur Er- 15. Bernd Rabehl 2002, S. 405. oberung der politischen Macht nicht gereicht und die 16. Auch für die Identitäre Bewegung sind die Aktionsformen der APO von 68 und Rudi Dutschke eingestandenermaßen ein Vorbild. Massen schienen sich in der kapitalistischen Konsum- gesellschaft dauerhaft einrichten zu wollen, im Osten waren Parteidiktaturen etabliert worden. Nichts schien mehr zu gehen, eine wunderbare Situation um etwas Neues auszuprobieren. »Das Experiment und der Pro- zess der Kunst sollten auf die Politik übertragen wer- den« schreibt Rabehl im Rückblick. ¹⁵ Das geschah mit bemerkenswertem Erfolg, so dass sich heute rechte Ak- tivisten daran orientieren. Kubitschek rief die Konser- als politischer Gegner darauf einlässt – also die Frage, vativ Subversive Aktion ins Leben, die es im Jahr 2008 ob man mit Rechten reden soll, kann oder darf, ist eine mit einigen spektakulären Aktionen bis in die großen losgelöst davon zu klärende Frage, die an dieser Stelle Zeitungen und – infolge der Störung einer Buchvor- nicht erörtert werden soll. stellung des Schriftsteller Günter Grass – einmal so- Seit dem Herbst 1964 agierte der Berliner Zweig der gar in die Tagesthemen hineinschaffte. Dann gerieten »Subversiven Aktion« auch unter dem Namen »An- diese Aktionsformen ein paar Jahre ins Vergessen, bis schlag«. Federführend waren Rabehl und Rudi Dutsch- sie von einer neuen Generation rechter Aktivisten, den ke. Ihre Absicht: Den SDS von den Rändern her zu ra- Identitären, wieder aufgriffen wurden. ¹⁶ Heute sind es dikalisieren. Das gelang vor allem in Berlin. Im Januar nicht konservative Spießer, sondern die verbürgerlich- 1965 trat die Berliner Mikrozelle dem SDS bei und bil- ten, überwiegend linksliberal eingestellten Akteure des dete seine antiautoritäre Fraktion. Auf diese Weise ver- Kulturbetriebs, die sich auf diese Weise verunsichern wandelte sich der altbackene linke Studentenbund »zu lassen. Man lässt unliebsame Bücher von Bestseller- einer revolutionär auftretenden Jugendavantgarde«, ¹² listen verschwinden, erteilt prophylaktisch symboli- aus der 1967 auch die Kommune 1 hervorgehen sollte. sche Hausverbote an potenzielle Theaterbesucher von Durch die gezielte Provokation etablierter Instituti- Rechtsaußen und führt eine nicht enden wollende De- onen sollen die Vertreter des Establishments aus der batte darüber, ob und unter welchen Umständen und Reserve gelockt, zu Überreaktionen verleitet und das zu welchem Zweck man mit Rechten reden soll.

60 schon noch schockieren. Sonst hätten sich aktionisti- Das Erbe der Kunstavantgarde sche Regelverstöße durch Akteure der Studentenrevol- te nicht so gut als Mittel der Aufmerksamkeitsgenerie- Ich möchte nun etwas zur Genese der Kunst der po- rung einsetzen lassen. Anders die in Theaterhäusern litischen Provokation anfügen. Meine bisherige Dar- in ganz Italien stattfindenden Abendvorstellungen der stellung könnte den Eindruck erwecken, dass die Neue Futuristen. Der Effekt war enorm. Wenn hier die üb- Rechte alles Wesentliche bei den Linken abgekupfert lichen Genregrenzen zwischen Malerei, Literatur und habe. Ganz so einfach ist es nicht. Denn die Kunst der Musik gesprengt wurden und offene Formen gewählt Provokation hat in der Moderne eine lange Traditi- wurden, wollte der überwiegende Teil des Publikums on, die – wenn man den Zeitstrahl rückwärts entlang das Geschehen keineswegs als Kunst begreifen. Die schreitet – von der Situationistischen Internationale Kunsthistorikerin Ann-Katrin Günzel hat herausge- über die Surrealisten und Dadaisten bis in das Italien arbeitet, inwiefern es sich bei dem, was damals in den der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreicht. ¹⁷ Bei Theatern geschah, um eine frühe Form von Aktions- näherer Betrachtung zeigt sich: Die von links wie von kunst handelt. ¹⁹ Darin zeigt sie, dass die Futuristen auf rechts genutzten Formen der symbolischen Interven- der Bühne keine fiktiven Personen darstellten, sondern tion haben eine gemeinsame Wurzel: die von den ita- als Einheit von Autor und Darsteller agierten. Als das lienischen Futuristen um den Dichter Filippo Tomma- Publikum nach den ersten Auftritten wusste, was es zu so Marinetti damals entwickelte Aktionskunst. ¹⁸ Alle erwarten hatte, reichte ihr bloßes Erscheinen auf der wichtigen Elemente der späteren Performance-Kunst Bühne, um den von Marinetti und seinen Mitstreitern sind bei ihnen schon vorhanden: das Aufbrechen eta- intendierten Tumult zu erzeugen. Die aktive Beteili- blierter Formen, die Auflösung der Grenzen von Kunst gung des Publikums machte jede Aufführung zu einem und Wirklichkeit, die Publikumsbeschimpfung und Erlebnis, das für einem Moment die Grenze zwischen Partizipation der Besucher und Besucherinnen der ent- Fiktion und Wirklichkeit aufzuheben schien. Für ei- sprechenden Veranstaltungen. Die avantgardistischen nen großen Teil des Publikum, die Kunst traditioneller Künstler legten es darauf an, die bürgerliche Öffent- Weise als Präsentation ästhetischer Fertigkeiten ver- lichkeit zu schockieren. Sie kombinierten Gedichtvor- standen, war das als Kunstform nicht nachvollziehbar. träge, Manifeste und Reden sowie die Aufführung der Man hielt die Protagonisten auf der Bühne für Scharla- Geräuschmusik von Luigi Russolo, dessen selbstge- tane. Die Reaktionen waren entsprechend ungehalten. baute Instrumente den Sound der Großstadt in den Aber dadurch, dass es sich provozieren ließ, spielten Bühnensaal hineintragen sollten. Was die Einstür- die geschockten Theaterbesucher das Spiel der Futu- zenden Neubauten später unter den besonderen Be- risten mit. Diese verstanden sich darauf, die oft ohne- dingungen Westberlins seit Anfang der 1980er Jahre hin gereizte Stimmung durch gezielt eingesetzte Pub- wiederholen sollten. Allerdings darf bezweifelt wer- likumsbeschimpfungen noch zu verstärken. So am 21. den, dass die Post-Punk-Gruppe bei ihrem Publikum April 1914, als im Mailänder Teatro Dal Verne eine fu- eine ähnlich durchschlagende Wirkung hatten. Die als turistische Abendveranstaltung stattfand, bei der Rus- besonders cool geltende Berliner Szene soll wenig zu solo seine ganze Palette selbstgebauter Geräuschinst- beeindrucken gewesen sein und ein in alle möglichen rumente zum Einsatz brachte. Da die anfangs durchaus Richtungen erweiterter Kunstbegriff mochte zwar interessierte Zuhörerschaft bald dazu überging, den nicht allen gefallen, doch schockieren ließ man sich in Lärm mit Gelächter, Gesang, Geschrei und anderen den interessierten Kreisen davon wohl ebensowenig, Geräuschen zu übertönen, begann Marinetti mit einer wie den kunstverständigen Soziologen Arnold Gehlen Schimpfkanonade. Damit löste er einen regelrechten bei einer Düsseldorfer Podiumsdiskussion mit Joseph Aufruhr aus, bei dem zahreiche Gegenstände durch die Beuys über Kunst und Antikunst am 27. Januar 1970. Luft flogen: Obst, Gemüse, Hüte, Schals, Handschu- Er habe als Schüler im Jahr 1920 eine der ersten Da- he und andere Kleidungsstücke. Das zerstörte Mobi- da-Veranstaltungen besucht. Was dort passiert sei, sei liar flog in Richtung Bühne und schließlich detonier- wirklich provokativ gewesen, sei aber «nun natürlich te dort sogar eine Rauchbombe. Als es darüber hinaus nicht mehr herzustellen». Allerdings schloss er wohl zu Schlägereien kam, griff die Polizei in das Gesche- zu forsch von sich auf die Mehrheit der Zeitgenossen, hen ein. Das Ganze wurde von Russolos Geräuschmu- als er sagte: «Ich möchte den sehen, der sich noch von sik begleitet. Solche Tumulte, bei denen die Bestuhlung Kunst provozieren lässt». Die Massen hingegen lie- und das Mobiliar der Veranstaltungsorte regelrecht ßen sich durch «Antikunst» in den 1960er Jahren wohl zerlegt wurden, waren bei den Auftritten der Futuris-

61 ten nicht die Ausnahme sondern die Regel. Nicht sel- ten schritt die Polizei ein, um die von den Künstlern mit Absicht entfesselten Saalschlachten zu beenden. Schon im Jahr 1913 hatten sich die Tumulte so sehr verselbständigt, dass der Auftritt der Futuristen bei- nahe wie eine bloße Kulisse für die von allen Seiten er- warteten Krawalle wirkte. Die Futuristen um Marinetti waren also Aktionskünstler, viele Jahrzehnte bevor es den Begriff überhaupt gab. Alle wichtigen Elemente der späteren Performance-Art und des Fluxus sind bei ih- nen schon vorhanden: die Auflösung der traditionellen 17. Die Überlegungen dieses Abschnitts knüpfen an einen Essay Genregrenzen zwischen Dichtkunst, Malerei, Theater an, den ich am 24. Mai 2018 in der NZZ veröffentlicht habe: Thomas Wagner: »Nicht die Linken haben die Kunst der politischen Provoka- und Konzert, die Publikumsbeschimpfung und die Zu- tion erfunden: Es waren die präfaschistischen Futuristen«. schauerpartizipation. Bei der Lektüre zeitgenössischer 18. Als ich diese Spur verfolgte, hatte ich eine mich stutzend ma- Schilderungen fühlt man sich an Schilderungen der chende Bemerkung von Martin Sellner im Ohr, die der Kopf der Iden- titären Bewegung in Österreich mir gegenüber in einem Gespräch ersten Auftritte von Punkbands in den 1970er-Jahren machte. Er sagte, dass die Mittel, die die Identitären von der Linken erinnert, bei denen die Bands das Publikum bespuck- adaptiert haben, im Grunde gar nicht so richtig zu dieser passten. ten, das wiederum zurück spuckte.²⁰ Ohne das Bei- Sie seien mit einem starken Ästhetizismus verbunden und hätten einen symbolischen Charakter, der fast schon an magische Ritua- spiel der Futuristen wäre das am 5. Februar 1916 in le erinnere. »Das entspricht«, so Sellner, »eher einer rechten Hal- der Spiegelgasse 1 in Zürich von Hugo Ball und Emmy tung gegenüber der Welt. So wie der Vogel sein Nest bauen muss, braucht der Mensch seine Helden, Lieder und Erzählungen. Das ist Hennings eröffnete Cabaret Voltaire wahrscheinlich auch der Grund, warum alle Rechtsintellektuellen Essayisten wa- nie entstanden. Die späteren Dada-Künstler kannten ren und warum sie immer gern Romane geschrieben haben oder die Positionen der Futuristen nicht nur aus Beiträgen zumindest Romanciers gewesen wären, wenn sie das Talent dazu gehabt hätten«. der von Herwarth Walden herausgegebenen Zeitschrift 19. Ann-Katrin Güntzel: Eine frühe Aktionskunst: die Entwicklung «Der Sturm» und aus Ausstellungen. Sie unterhiel- der ‚arte-azione‘ im italienischen Futurismus zwischen 1910 und ten auch persönliche Kontakte zu den italienischen 1922. Ein Vergleich mit Happening und Fluxus. Berlin 2005. 20. Der Musikjournalist und Kulturhistoriker Greil Marcus zeigt in Künstlern. Die Dichtung des Dada orientierte sich an seinem 1989 veröffentlichten Buch »Lipstick Traces. Von Dada bis Marinettis Idee, das Wort von allen Konventionen des Punk«, wie sehr sich die provokativen Gesten und die Haltungen der frühen Punks, der Situationisten und der Dada-Künstler bis zur Versmasses zu befreien. Ihre Abendveranstaltungen Ununterscheidbarkeit ähneln. Sie demonstrierten durch ihr eigenes glichen dem Bühnenspektakel der Futuristen zuweilen Beispiel, dass es eine Alternative zu den herrschenden Konventio- bis aufs Haar. Gemeinsam erklärte man dem die Feind- nen gab. Die Institutionen hatten eine Geschichte, aber ihre Zukunft war noch nicht festgeschrieben. Die italienischen Futuristen streift schaft, was die damalige bürgerliche Gesellschaft als Marcus in seiner Darstellung nur ganz am Rande. schön bezeichnete. Allerdings gab es – ungeachtet die- 21. Während der allerersten »serata« am 12. Januar 1910 auf der ser gemeinsamen antibürgerlichen Frontstellung ge- Bühne des Teatro Politeama Rossetti in Triest erhob Marinetti in ei- ner patriotischen Rede Anspruch auf die damals noch zu Österreich- gen hergebrachte Konventionen – wichtige politische Ungarn gehörende Hafenstadt. Als er am 15.Februar 1910 das auf- Überzeugungen, in denen sie sich von den Futuristen gebrachten Publikum des Mailänder Teatro Lirico mit der Parole »Nieder mit Österreich« aufwiegelte, schritt die Polizei ein und ent- unterschieden. So propagierten Letztere einen äußerst fernte ihn und seine Mitstreiter von der Bühne. aggressiven Nationalismus.²¹ Während Marinetti den Krieg als Ferment der Erneuerung verherrlichte, leh- ten die Dadaisten die Gewalt als Mittel staatlicher Po- litik ab. Während die Futuristen um Marinetti die alten Werte zerstören wollten, um eine neue, von den Künst- lern bestimmte Ordnung an ihre Stelle zu setzen, kulti- vierten die Dadaisten eine Haltung des Nihilismus, der radikalen Negation von allem und jedem. Der mit dem Faschistenführer Benito Mussolini befreundete Mari- netti schloss sich mit einigen seiner Mitstreiter der fa- schistischen Bewegung an. Der anfangs auf die Zerstö- rung aller konventionellen Formen drängende Dichter legitimierte als hoher Kulturfunktionär die repressive Ordnung des faschistischen Staats.

62 Was die Ähnlichkeit im Aktionsstil betrifft, lag Jürgen Habermas nicht falsch, als er sich 1967 bei der von Rudi Dutschke propagierten Provokationsstrategie an ent- sprechende Aktionen des frühen italienischen Bewe- gungsfaschismus erinnert fühlte. Im Juni 1967 sagte Habermas auf dem Hannoveraner Kongress »Hoch- schule und Demokratie«, die APO-Strategie bewusster »Provokationen« der herrschenden Institutionen sei »ein Spiel mit dem Terror (mit faschistischen Implika- tionen).« ²² Dafür erntete er heftigen Widerspruch aus der studentischen Protestbewegung und von anderen Linksintellektuellen. ²³ In einem Brief an den Dichter Erich Fried erklärte Habermas, was er mit seiner Äu- ßerung meinte. Das politische Konzept der Antiauto- ritäen ähnle »gewissen, an Sorel anknüpfenden linken Tendenzen des frühen italienischen Faschismus«. Er fügte hinzu, »dass das sozialpsychologische Poten- tial, an das Dutschke appelliert, höchst ambivalent ist und fast ebenso gut 'rechts' wie 'links' kanalisiert werden könnte, weil die Befriedigung (...) nicht aus der Realisierung eines bestimmten politischen Ziels, son- dern aus der Aktion um ihrer selbst willen« ²⁴ gezo- gen werde. Im Nachhinein kann man sage, dass Ha- bermas damals einen guten Riecher hatte. Denn bei aller Gegensätzlichkeit in den politischen Zielen: In ihrer antibürgerlichen Haltung und den Mitteln der Aufmerksamkeitserzeugung ähnelten sich die avant- gardistische Rechte des frühen 20. Jahrhunderts und der antiautoritär-subversive Zweig der Linken in den 1960er Jahren auf eine auffällige Weise. Würde sich die Linke über solche Zusammenhänge mehr Klarheit ver- schaffen, stünde sie den Provokationen der Rechten womöglich weniger rat- und hilflos gegenüber.

22. Zit. n. Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deut- sche Kulturrevolution 1967–1977. Frankfurt am Main 2011, Seite 25. 23. So in dem Sammelband: Oskar Negt (Hg.): Die Linke antwortet Jürgen Habermas. Frankfurt am Main 1968; vgl. Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. München 1986, Seite 686f. 24. Zit. n. Gerd Koenen, a.a.O,, Seite. 25 Wiggershaus: Die Frank- furter Schule. München 1986, Seite 686f.

63 ten nicht die Ausnahme sondern die Regel. Nicht selten Ordnung des faschistischen Staats. schritt die Polizei ein, um die von den Künstlern mit Was die Ähnlichkeit im Aktionsstil betrifft, lag Jürgen Absicht entfesselten Saalschlachten zu beenden. Schon Habermas nicht falsch, als er sich 1967 bei der von Rudi im Jahr 1913 hatten sich die Tumulte so sehr verselb- Dutschke propagierten Provokationsstrategie an ent- ständigt, dass der Auftritt der Futuristen beinahe wie sprechende Aktionen des frühen italienischen Bewe- eine bloße Kulisse für die von allen Seiten erwarteten gungsfaschismus erinnert fühlte. Im Juni 1967 sagte Krawalle wirkte. Die Futuristen um Marinetti waren Habermas auf dem Hannoveraner Kongress »Hoch- also Aktionskünstler, viele Jahrzehnte bevor es den schule und Demokratie«, die APO-Strategie bewusster Begriff überhaupt gab. Alle wichtigen Elemente der »Provokationen« der herrschenden Institutionen sei späteren Performance-Art und des Fluxus sind bei ih- »ein Spiel mit dem Terror (mit faschistischen Implika- nen schon vorhanden: die Auflösung der traditionellen tionen).«22 Dafür erntete er heftigen Widerspruch aus Genregrenzen zwischen Dichtkunst, Malerei, Theater der studentischen Protestbewegung und von anderen und Konzert, die Publikumsbeschimpfung und die Zu- Linksintellektuellen.23 In einem Brief an den Dichter schauerpartizipation. Bei der Lektüre zeitgenössischer Erich Fried erklärte Habermas, was er mit seiner Äu- Schilderungen fühlt man sich an Schilderungen der ßerung meinte. Das politische Konzept der Antiauto- ersten Auftritte von Punkbands in den 1970er-Jahren ritäen ähnle »gewissen, an Sorel anknüpfenden linken erinnert, bei denen die Bands das Publikum bespuckte, Tendenzen des frühen italienischen Faschismus«. Er das wiederum zurück spuckte. fügte hinzu, »dass das sozialpsychologische Poten- Ohne das Beispiel der Futuristen wäre das am 5. Feb- tial, an das Dutschke appelliert, höchst ambivalent ruar 1916 in der Spiegelgasse 1 in Zürich von Hugo Ball ist und fast ebenso gut 'rechts' wie 'links' kanalisiert und Emmy Hennings eröffnete Cabaret Voltaire wahr- werden könnte, weil die Befriedigung (…) nicht aus scheinlich nie entstanden. Die späteren Dada-Künstler der Realisierung eines bestimmten politischen Ziels, kannten die Positionen der Futuristen nicht nur aus sondern aus der Aktion um ihrer selbst willen«24 ge- Beiträgen der von Herwarth Walden herausgegebenen zogen werde. Im Nachhinein kann man sage, dass Ha- Zeitschrift «Der Sturm» und aus Ausstellungen. Sie bermas damals einen guten Riecher hatte. Denn bei unterhielten auch persönliche Kontakte zu den italie- aller Gegensätzlichkeit in den politischen Zielen: In nischen Künstlern. Die Dichtung des Dada orientierte ihrer antibürgerlichen Haltung und den Mitteln der sich an Marinettis Idee, das Wort von allen Konventio- Aufmerksamkeitserzeugung ähnelten sich die avant- nen des Versmasses zu befreien. Ihre Abendveranstal- gardistische Rechte des frühen 20. Jahrhunderts und tungen glichen dem Bühnenspektakel der Futuristen der antiautoritär-subversive Zweig der Linken in den zuweilen bis aufs Haar. Gemeinsam erklärte man dem 1960er Jahren auf eine auffällige Weise. Würde sich die die Feindschaft, was die damalige bürgerliche Gesell- Linke über solche Zusammenhänge mehr Klarheit ver- schaft als schön bezeichnete. schaffen, stünde sie den Provokationen der Rechten Allerdings gab es – ungeachtet dieser gemeinsamen womöglich weniger rat- und hilflos gegenüber. antibürgerlichen Frontstellung gegen hergebrachte Konventionen – wichtige politische Überzeugungen, in denen sie sich von den Futuristen unterschieden. So propagierten Letztere einen äußerst aggressiven Na- tionalismus.21 Während Marinetti den Krieg als Fer- ment der Erneuerung verherrlichte, lehnten die Da- daisten die Gewalt als Mittel staatlicher Politik ab. Während die Futuristen um Marinetti die alten Werte zerstören wollte, um eine neue, von den Künstlern be- stimmte Ordnung an ihre Stelle zu setzen, kultivierten die Dadaisten eine Haltung des Nihilismus, der radi- kalen Negation von allem und jedem. Der mit dem Fa- schistenführer Benito Mussolini befreundete Marinetti schloss sich mit einigen seiner Mitstreiter der faschis- tischen Bewegung an. Der anfangs auf die Zerstörung aller konventionellen Formen drängende Dichter le- gitimierte als hoher Kulturfunktionär die repressive

64 65 66 67 Die Neue Rechte Hintergründe und Hauptelemente Neurechten Denkens Herausgegeben von Daniel Engel, Adriana Lanza, David Meier-Arendt

Erscheinungsjahr: 2020

AStA der TU Darmstadt Hochschulstraße 1 64289 Darmstadt

Bilder und Gestaltung Zani Arkadina

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