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Rundbrief 3+4/07 AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE

Foto: Aris Papadopoulos

Aktuelles zu Antifaschismus und Rechtsextremismus INHALT

EDITORIAL

Die neue LINKE – woher kommt sie, wohin geht sie … 3 Professor Dr. Lothar Bisky, MdB

DAS THEMA: AKTUELLES ZU ANTIFASCHISMUS UND RECHTSEXTREMISMUS

Rechtsextremismus heute – die größte Bedrohung des 21. Jahrhunderts? 4 Dr. André Hahn MdL

Neonazis im Internet 7 Dr. sc. Roland Bach

Thesen zu einer offenen gesellschaftlichen Zukunftsfrage 12 Petra Pau MdB

Schulgeschichte(n) und Rechtsextremismus 15 Professor Dr. Klaus Böttcher

„Wir haben nur unsere Pflicht getan“ 18 Dr. Daniel Siemens

Die Schändung der Gedenkstätte für die gefallenen Sowjetsoldaten in Talinn 21 Professor Dr. Karl-Heinz Gräfe

HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS

Die Anfänge des Kirchenkampfes im Berliner Bezirk 26 Oliver Reschke M. A.

Bewusst vergessen? 28 Dr. Günter Wehner

Boris Sludzki: „Die Kölnische Grube.“ 32 Heide Kramer

Redaktionelle Vorbemerkung 36

Bundesregierung antwortet auf Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE 37 zum Treffen der Gebirgsjäger

Gebirgsjäger der Wehrmacht in Griechenland 1941–1944 40 Dr. Martin Seckendorf

BERICHTE UND INFORMATIONEN

Kurt Goldstein zum Gedächtnis 46

Zur Kampagne „nonpd“ der VVN-BdA 47 Thomas Willms

Dritter Antifaschistische Ratschlag Sachsen in Chemnitz am 27. Januar 2007 48 Dr. Horst Helas LESERBRIEFE

Leserbrief zu Reiner Zilkenat: Christian Klar, Inge Viett, die RAF und DIE LINKE 49

Leserbrief zu Dirk Burczyk: „Die Kraft der Jugend“ 50

REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN

Die Harzburger Front 1931 – Der Anfang vom Ende der Weimarer Republik? 51 Dr. Reiner Zilkenat

Neues zum antifaschistischen Widerstand in Sachsen-Anhalt 52 Professor Dr. Helmut Meier

Stille Helden im antifaschistischen Widerstand 53 Dr. Horst Helas

Raketentechnik und Kriegswirtschaft in Nazi-Deutschland 54 Dr. Günter Wehner

Erschreckende Parallelen. Eine Broschüre der Linkspartei Teltow-Fläming 55 Dr. Nick Brauns

Guernica. Die Odyssee eines Wandbildes 56 Dipl. soz. René Senenko

Appeasement – Hitlers Freunde in England 56 Dr. Reiner Zilkenat

Zur Geschichte der VVN-Bund der Antifaschisten 58 Dr. Cornelia Domaschke

Deutscher Konservatismus nach 1945 59 Dr. Gerd Wiegel

Der „Oberhalb-Denker“ der Neuen Rechten 60 Dr. sc. Roland Bach

Die „“ und die „Konservative Revolution“ 62 Dirk Burczyk M.A.

AUTORENVERZEICHNIS 64 EDITORIAL Die neue LINKE – woher kommt sie, wohin geht sie …

Die ersten 100 Tage der Partei DIE LIN- Linken. Auch das ist neu, nicht nur für Der Austausch zwischen den Kommu- KE sind vorüber. Weder höfliches Ab- die, die die WASG gegründet hatten, nalpolitikern der LINKEN hat begonnen. warten, geschweige denn ein Bonus auch für die über 3.600 Neumitglieder Ein Werkzeugkoffer gegen Rechtsextre- wurde uns nach der Gründung am 16. der LINKEN, die sich gleich zwei Partei- mismus und analytisches Material ist auf Juni in gegönnt. Ich will mich kulturen aneignen müssen. Wir „Lang- unseren Websites abrufbar. Doch von nicht beklagen, dass unsere Existenz jährigen“ haben mehrfache Verantwor- einer geläufigen Querschnittsaufgabe, ein Teil des politischen Sommerlochs tung. Wir müssen auf neue Art zuhören den Kampf gegen Rechtsextremismus gefüllt hat. Die Prognosen über eine lernen und erkunden, welche Hoffnun- in den kommenden Wahlkämpfen, in der veränderte Parteienlandschaft gehör- gen andere mit der neuen LINKEN ver- Parteibildung, in der Programmatik und ten zum sachlichen Teil der politischen binden. Wir müssen zugleich darauf bei der politischen Schwerpunktset- Auseinandersetzung. Die Ausfälle bei achten, dass unsere Kompetenzen gar zung im Auge zu haben – davon sind wir der SPD gegenüber der LINKEN sind keine geringen sind, sondern eher ge- noch weit entfernt. Häufig wird Rassis- inzwischen dort angekommen, wo ich wachsen und unsere Unterschiedlich- mus als Jugend- oder Randgruppenpro- deren Ursachen immer gesehen habe, keit ein Schatz ist, den wir wirklich blem verharmlost, einseitig auf soziale in Richtungsdebatten der SPD. Anfang heben wollen. Soziale und emanzipa- Konflikte, auf mangelnde Perspektiven Oktober auf dem Bundeskongress von torische Politik gehören für uns zusam- zurückgeführt. Dagegen hilft nur Aufklä- ver.di habe ich in meinem Grußwort men. Dass friedliche Konfliktlösung un- rung, transparente Informationen über festgehalten, dass die SPD mit ihrer ters Dach des Völkerrechts gehört, ist rechtsextreme Straftaten, die Zusam- Agenda-2010-Politik die Hebamme der ein Fazit deutscher und europäischer menarbeit in demokratischen Bündnis- neuen LINKEN war. Die Chance, über Geschichte. Doch rechtsextreme De- sen und auch ganz deutliche Forderung die PDS hinaus, auch im Westen der Re- magogen geben im Gewand sozialer vor Ort und im Bund, die politische und publik zu einer polischen Kraft zu wer- Forderungen wieder und wieder men- kulturelle Antifa-Arbeit in planbaren den, entstand mit dem Aufbruch vieler schenverachtende Antworten und ka- und stabilen Strukturen weiterführen im Westen, sich politisch gegen Sozial- schieren sie als Ausweg globaler Dere- zu können. Es ist eigentlich keine Zeit, und Demokratieabbau neu zu organi- gulierung. Rechtsextremismus ist ein umständlich nach politischen Aufgaben sieren. Die PDS brachte in die Neugrün- europäisches Problem, eine gefährliche der neuen LINKEN zu suchen. Sie liegen dung ihre Parteigeschichte, den Bruch Reaktion auf die Krise politischer Insti- auf der Strasse und wir haben es in der mit dem Stalinismus als System, ihre tutionen und zugleich ein massiver An- Hand, für ein soziales und weltoffenes inzwischen vielseitigen politischen Er- griff auf demokratische Öffentlichkei- Klima mehr Politik zu machen, bundes- fahrungen in den Kommunen, den Län- ten, auf Leib und Leben von Menschen, weit, vor Ort, in Europa. dern, in Europa mit. Unsere Mitglieder die internationalistisch denken und le- sind auch Mitglieder der europäischen ben. Professor Dr. Lothar Bisky, MdB

3 DAS THEMA: AKTUELLES ZU ANTIFASCHISMUS UND RECHTSEXTREMISMUS Rechtsextremismus heute – die größte Bedrohung des 21. Jahrhunderts?1

Ich möchte mich in diesem Beitrag einer ließ sich Georg Milbradt allen Ernstes zu genzuwirken, den Neonazis ihren Nähr- Frage widmen, von der ich weiß, dass der Aussage hinreißen: „In Mügeln hat boden zu entziehen. ich darauf keine erschöpfende Antwort keine Hetzjagd auf Ausländer stattge- Für den Aufschwung der extremen werde geben können, der Frage näm- funden, sondern eine Hetzjagd auf die Rechten gibt es bekanntlich viele Ursa- lich, ob der Rechtsextremismus, der Ne- Mügelnerinnen und Mügelner.“ chen, aber er ist natürlich auch ein Er- ofaschismus, wie wir ihn heute erleben, Das Protokoll vermerkte an dieser Stelle gebnis der sozialen Misere in unserem vielleicht die größte politische Bedro- heftigen Applaus der CDU-Delegierten. Land, die in manchen Gegenden für im- hung des 21. Jahrhunderts darstellt. Ich sage: Wer so redet, verharmlost die mer mehr Menschen regelrecht exis- Wohlgemerkt: Es geht mir um die größ- Gefahren durch Nazis in diesem Land tenzbedrohend wird. te politische Bedrohung, denn ich kann und macht Ausländerfeindlichkeit hoffä- Natürlich ist es zutreffend, dass Nazis und will diese Problematik des Rechts- hig. Ich meine: Selbst wenn es die Kor- dort eine Chance haben, wo Menschen extremismus nicht aufwiegen mit der ruptions- bzw. Verfassungsschutzaffäre verzweifelt und verbittert sind. Natür- globalen Erwärmung, der drohenden und das Desaster mit der Landesbank lich ist eine Jugend, die zu wenig Bil- Klimakatastrophe, der zunehmenden nicht gegeben hätte – allein wegen die- dung, Ausbildung und Arbeit findet, be- Globalisierung in den unterschiedlichen ser völlig indiskutablen Äußerung müss- sonders anfällig für braune Propaganda, Bereichen oder mit dem demografi- te Georg Milbradt eigentlich zurücktre- für vermeintlich uneigennützige „Küm- schen Wandel. ten. merer“, die sich tatsächlich kümmern: Doch was die Politik anbelangt, so kann Hier wünschte ich mir im Übrigen auch Um Dorffeste, um Lagerfeuer und Ju- man wohl mit einigem Recht sagen, klarere Worte seitens der sächsischen gendarbeit und mancherorts versuchen dass der anwachsende und längst bis in Sozialdemokraten, dem Koalitionspart- sie sogar schon, die Feuerwehr oder die so genannte Mitte der Gesellschaft ner der CDU, die derartige Positionen den Sportverein zu übernehmen. Inzwi- hineinreichende Rechtsextremismus mit Sicherheit nicht teilen. Sie sollten schen – so hört man – übernimmt die neben der leider ebenfalls wachsenden sich zumindest unmissverständlich von NPD in einigen Regionen sogar schon Armut vieler Menschen den größten Milbradts Äußerungen distanzieren, an- den Eigenanteil für Klassenfahrten bei Skandal in der Bundesrepublik Deutsch- statt nur permanent zu beteuern, man Kindern, deren Eltern sich dies nicht land, nicht zuletzt im Bundesland Sach- stünde „ohne Wenn und Aber“ zur Ko- leisten können. Wo der demokratische sen, darstellt. alition und wolle diese sogar noch über Staat, wo unser Sozialsystem versagt, 2009 fortsetzen. versuchen die Nazis einen Fuß in die Tür Erfahrungen aus Die jüngsten Wahlumfragen in Sachsen zu bekommen, doch genau diese Chan- dem Bundesland Sachsen zeigten, wohin das führen kann. Die Na- ce dürfen wir ihnen nicht bieten. Seit der letzten Landtagswahl im Jahr zis liegen bei den Demoskopen auf Lan- Die Existenz der sozialen Misere ist un- 2004 darf die extreme Rechte über die desebene inzwischen teilweise schon streitig, aber sie entschuldigt nichts. Die NPD auch im Sächsischen Landtag all vor der SPD! Im Kreistag Sächsische Gesellschaft und wir selbst müssen uns das verkünden, was wir Antifaschisten Schweiz, in dem ich auch ein Abgeord- schon fragen, was getan werden kann, verachten, vor dem wir seit Jahren ein- netenmandat innehabe, müssen wir die- was zu tun ist gegen den anwachsenden dringlich warnen und was wir seit lan- se Situation bereits seit drei Jahren er- Neofaschismus. gem auf demokratischem Wege, aber tragen, denn dort verfügen die Nazis doch mit aller Entschiedenheit bekämp- schon jetzt über mehr Mandate als die Zu einem neuerlichen fen. Sozialdemokraten. Das ist und bleibt ei- Verbotsverfahren gegen die NPD Es ist traurige Realität, dass Gewalt, ne Katastrophe! Aber natürlich ist und bleibt auch die dass die Jagd auf Minderheiten und Auf Landesebene haben wir noch maxi- Politik gefordert. Ein möglicher und aus die offene Verhöhnung der Demokratie mal zwei Jahre Zeit, um eine solche Si- meiner Sicht unumgänglicher Schritt hierzulande Konjunktur haben. tuation für den Landtag abzuwenden, wäre ein Verbot der NPD. Ich unterstüt- Und was macht die herrschende Politik? aber das wird mit Sicherheit nicht ge- ze diesbezüglich ausdrücklich das En- Sie schaut weitgehend hilf- und oft auch lingen, wenn sich die demokratischen gagement und die Unterschriftensamm- tatenlos zu. Dies gilt ganz besonders in Parteien gegenseitig die Schuld für die lung des VVN-BdA. Sachsen, von dem der damalige Minis- anwachsenden Aktivitäten der NPD und Zugleich aber füge ich hinzu: Ein noch- terpräsident Kurt Biedenkopf sogar ein- anderer rechtsextremer Gruppen zuwei- maliges Scheitern eines Verbotsverfah- mal behauptete, dieses Bundesland sei sen, sondern nur dann, wenn bei allen rens wäre eine Katastrophe, deshalb immun gegen Rechts. Zurückgenom- Differenzen in anderen Fragen bei der muss dessen Einleitung sorgfältig vorbe- men hat er diese Äußerung übrigens Bekämpfung des Rechtsextremismus reitet werden und vor allem die Hinwei- bis heute nicht. Geäußert hat sich aber möglichst gemeinsam und abgestimmt se des Bundesverfassungsgerichts aus kürzlich ein anderer, nämlich sein Nach- agiert wird. dem ersten Verfahren berücksichtigen. folger im Amt des Ministerpräsidenten. Und vor allem muss endlich damit an- Solange der Verfassungsschutz – wie Auf dem jüngsten CDU-Landesparteitag gefangen werden, den Ursachen entge- selbst zugegeben – an zentralen Stellen

4 bei der NPD noch immer V-Leute imp- einen zweiten Anlauf wagen – und dies- Das Treiben der NPD im Sächsischen lantiert hat, besteht die Gefahr, dass mal einen ernsthaften.“ Landtag wird intensiv durch die Medien das Parteiverbot aus formalen Gründen Ich kann diesen Aussagen des Kom- begleitet, wobei ich mir allerdings nicht erneut nicht verfügt werden kann. Dies mentators der „Süddeutschen Zeitung“ ganz sicher bin, ob die permanente Be- darf auf keinen Fall riskiert werden. nur zustimmen. richterstattung über diverse NPD-Skan- Deshalb fordern wir nach wie vor einen Die Politik ist auch gefragt, wenn es um dale dem eigentlichen Problem gerecht sofortigen Abzug aller V-Leute aus der die Förderung von zivilgesellschaftli- wird. Einerseits taucht diese neofa- NPD. Erst dann hat ein Verbotverfahren chem Engagement und von antifaschis- schistische Partei dadurch regelmäßig Aussicht auf Erfolg. tischen Initiativen geht. Hier wird noch in Radio, Fernsehen und Zeitungen auf, Die Rufe nach einem Parteiverbot wer- immer viel zu wenig getan, wenngleich andererseits verstehen die Nazis es im- den gleichwohl immer lauter. Inzwi- man nicht gering schätzen sollte, dass mer wieder, ihrer Anhängerschaft zu schen liegt auch dem anstehenden es neben den Bundesmitteln inzwischen erklären, dass alle Medien sozusagen SPD-Bundesparteitag ein entsprechen- auch ein Landesprogramm für Weltof- „system-gesteuert“ sind und somit lo- der Antrag des Vorstands vor. fenheit und Toleranz gibt, selbst wenn gischerweise negativ über sie berich- Erst gestern, am 15. Oktober 2007, gab es an den Voraussetzungen und Verga- ten. es dazu auch einen erfreulich deutlichen bemodalitäten sowie an Kürzungen in Unbestreitbar ist, dass die NPD durch Kommentar in der „Süddeutschen Zei- anderen Bereichen nach wie vor einiges ihre Medienpräsenz weitaus bekannter tung“. Unter der Überschrift „Die NPD zu kritisieren gibt. geworden ist, als sie es noch vor fünf endlich verbieten“ äußert sich Peter Jahren war. Sie ist im Bewusstsein vie- Fahrenholz dort wie folgt: Wir brauchen einen streitbaren ler Sachsen als mehr oder weniger lega- „Das im März 2003 gescheiterte Ver- Humanismus und das Lernen le Partei verankert. Es ist schwer, Men- fahren zum Verbot der NPD gehört zu aus der Geschichte! schen im Gespräch zu erklären, dass den größten Blamagen des deutschen Zu kritisieren ist auch die immer wieder diese Nazis zwar demokratisch in die Rechtsstaates. Denn das Bundesver- stattfindende Gleichsetzung von rechts Parlamente gewählt wurden, dass das fassungsgericht hat den Antrag damals und links, die Gleichsetzung der so ge- aber noch lange nicht heißt, dass die nicht etwa deshalb verworfen, weil es nannten zwei deutschen Diktaturen, NPD auch eine demokratische Partei das Belastungsmaterial gegen die NPD egal ob durch den sächsischen Minister- ist. von vornherein als zu dünn eingeschätzt präsidenten, durch den als Festredner Dennoch wird sie staatlich alimentiert, hätte. Sondern, weil nicht klar gewesen zum Tag der Deutschen Einheit denkbar allein im Sächsischen Landtag mit jähr- ist, ob es nicht von Spitzeln des Verfas- ungeeigneten Joachim Gauck oder auch lich fast 700.000 Euro. Hinzu kom- sungsschutzes stammt, die als staatlich in einigen der „neutralen“ Sendungen men die Wahlkampfkostenerstattungen alimentierte Provokateure die Verfas- des öffentlich rechtlichen Rundfunks. durch Bund und Land; im Laufe der Le- sungswidrigkeit der NPD erst provo- Ich bleibe dabei: Wer die Zeit des Hitler- gislatur summieren sich die staatlichen ziert haben, die man dann vor Gericht faschismus mit der DDR gleichsetzt, der Gelder auf mehrere Millionen Euro! beweisen wollte … Dass der organisier- betreibt eine absolut unverantwortliche Beim aktuellen Agieren der NPD füh- te Rechtsextremismus ohne die Spit- Verharmlosung der Nazi-Verbrechen! len wir uns im Landtag oft genug an das zel der Sicherheitsbehörden zu einem Wir Antifaschisten haben gemeinsam folgende Goebbels-Zitat von 1928 erin- schwarzen Loch würde, von dem dann eine ganz konkrete Aufgabe, nämlich ei- nert: niemand mehr etwas wüsste, ist maß- ne Kultur zu fördern, die Rechtsextre- „Wir gehen in den Reichstag hinein, um los übertrieben. Längst sind sowohl die mes und Nazistisches obsolet macht. uns im Waffenarsenal der Demokratie Aktivitäten der NPD als auch ihre poli- Auch unter schwierigen Verhältnissen. mit deren eigenen Waffen zu versorgen. tischen Absichten hinreichend bekannt Wir brauchen einen streitbaren Huma- Wir werden Reichstagsabgeordnete, um und dokumentiert …“ nismus. Ohne den Geist der Aufklärung die Weimarer Gesinnung mit ihrer eige- Und der Kommentar endet dann wie gerät der Ungeist des Rassismus und nen Unterstützung lahmzulegen. Wenn folgt: „Mit einem Verbot der NPD wird seiner braunen Brüder immer wieder die Demokratie so dumm ist, uns für der Rechtsextremismus in Deutsch- aus der Flasche. diesen Bärendienst Freifahrkarten und land nicht beseitigt. Das ist eine Auf- Es stimmt: All das begann nicht erst Diäten zu geben, so ist das ihre eigene gabe nicht nur für den Staat, sondern nach der Wende im Herbst 1989. Es gab Sache.“ für die ganze Gesellschaft. Vermutlich erste Anzeichen bereits in den achtziger 1933 sprach Goebbels dann nochmals wird sie nie ganz gelöst werden können. Jahren in der DDR. Es war ein Anzeichen Klartext, fünf Jahre später und nunmehr Aber muss man deshalb den parlamen- dafür, dass nicht mehr alles in den Fu- mit der Macht in den Händen: tarischen Arm des Rechtsextremismus gen war. Zum Beispiel Jugendforscher „Das wird immer einer der besten Wit- dulden? Muss man zusehen, wie er sich, und Soziologen wussten es – aber sie ze der Demokratie bleiben, dass sie ih- vor allem im Osten immer weiter aus- durften darüber nicht öffentlich spre- ren Todfeinden die Mittel selbst stellte, breitet und mit Hilfe staatlicher Gelder chen. durch die sie vernichtet wurde. Die ver- seine Organisation stärken kann? Und nach der Wende waren es dann folgten Führer der NSDAP traten als Ab- Ein Verbot der NPD (und gleichgerichte- Flammenzeichen. Rostock-Lichtenha- geordnete in den Genuss der Immunität, ter Nachfolgeorganisationen) würde den gen, Hoyerswerda und auch in Dresden, der Diäten und der Freifahrkarte. Damit Rechtsextremismus nachhaltig und auf damals wurde Jorge Gomodai getötet, waren sie vor dem Angriff der Polizei ge- Jahre hinaus stark schwächen. Es wür- nach einer Hatz aus der Straßenbahn sichert und durften sich mehr zu sagen de die Neonazis lehren, dass sie nicht geworfen. Die Täter sind wieder unter erlauben als gewöhnliche Staatsbürger nur mit Sonntagsreden und Lichterket- uns. und ließen sich außerdem die Kosten ih- ten, sondern mit allen Mitteln bekämpft An dieser Stelle sei ein Blick auf einige rer Tätigkeit vom Feinde bezahlen.“ werden, die ein demokratischer Rechts- aktuelle Ereignisse und Zusammenhän- Es gibt verdammt viel zu tun, dass sich staat dafür parat hat. Deshalb muss er ge in Sachsen geworfen. dieser „Witz“ nicht wiederholt. Oft hört

5 man den Vergleich zwischen heute und gesteuert werden soll. Stattdessen wird ihr bis dato kein Exemplar vorliegt, um der Zeit vor 1933. rechts und links permanent gleichge- die Strafbarkeit prüfen zu können. Aber dann wird schnell wieder beru- setzt, stattdessen werden Antifaschis- Wenn man der Gefahr von Faschismus, higt: Die Menschen wüssten ja, was ten kriminalisiert und scheut man nicht Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus nach 1933 alles passiert ist, sie wer- einmal davor zurück, die VVN-BdA vom und Rassismus in diesem Land begeg- den wachsam sein. Aber sind sie es Bundesamt für Verfassungsschutz beo- nen will, muss es ein abgestimmtes Vor- wirklich? Ich will hier niemanden Angst bachten zu lassen. gehen innerhalb der Regierung, in allen machen, aber angesichts dessen, was In Sachsen existieren bekannterma- Ministerien geben. Doch davon kann sich Ende September im Muldenta- ßen genügend Probleme mit dem Ver- bislang keine Rede sein. ler Kreistag abgespielt hat, muss man fassungsschutz. Aber dass es dort auch Es wäre sinnvoll und an der Zeit, Minis- noch lauter fordern: Lernt aus der Ge- in der Auseinandersetzung mit Faschis- terpräsident Milbradt würde sich um schichte! mus und Rechtsextremismus genügend diese Dinge kümmern – solange er noch Defizite gibt, ist augenscheinlich. Da im Amte ist. Ansonsten wird Mügeln lei- Versäumnisse von CDU und SPD existiert zum Beispiel ein neues politi- der wohl nur ein weiteres trauriges Bei- Meine Landtagskollegin Kerstin Köditz sches Konstrukt. Es nennt sich „Bünd- spiel für die Zustände in Sachsen blei- hat mir über den Vorfall berichtet. Was nis für Sachsen“, das den Platz zwi- ben. Dass es auch in anderen Städten ist passiert? Durch den Wechsel von schen CDU und NPD besetzen soll. Dort und Gemeinden Merkwürdigkeiten im Kreisräten waren Neuwahlen für Aus- treffen sich dann ehemalige Mitglieder Umgang mit Vorkommnissen am rech- schüsse notwendig. Der dortige Land- der NPD mit den sächsischen Überres- ten Rand gibt, ist leider immer wieder rat, ein mittlerweile gebranntes Kind ten der REPUBLIKANER, weiteren diver- feststellbar. im Umgang mit den Nazis, hatte den sen Splitterparteien der extremen Rech- Nehmen wir zum Beispiel den 3. Ok- demokratischen Fraktionen zuvor ganz ten und einigen DSU-Leuten. tober 2007. Für diesen Tag wurde von klar gesagt, nur wenn alle ihrer Abge- Die Staatsregierung ignoriert diese Ent- den „Freien Kräften Borna“ – einer so ordneten anwesend sind, bekommt die wicklung. Da können wir in parlamen- genannten Kameradschaft, deren Mit- NPD keine Plätze in den Ausschüssen. tarischen Anfragen auf noch so viele glieder schon des Öfteren durch Ge- Von der CDU fehlten von Anfang an fünf Vorkommnisse hinweisen, es herrscht walttätigkeiten gegen Andersdenkende Kreisräte, zwei weitere verließen die Schweigen. Wahrscheinlich hofft man aufgefallen sind – eine Demonstration laufende Sitzung, darunter der neu ge- darauf, dass beide Lager der extremen angemeldet. wählte stellvertretende Fraktionsvorsit- Rechten, also NPD und das so genann- Das Motto sollte lauten: „Deutschland zende. Bei der SPD waren zum Schluss te „Bündnis“, die 5-Prozent-Hürde ver- ist größer als die brD“, wobei nur das D noch drei von acht Kreisräten zur Ab- fehlen; die Gefahr einer weiteren „Nor- für Deutschland großgeschrieben wird. stimmung anwesend. malisierung“ von nationalistischem und Für die Verantwortlichen aus dem Land- Wer in dieser Weise mit Demokratie, rassistischem Gedankengut wird dabei ratsamt kein Anlass, ein Verbot zu prü- Wählerwillen und Erfahrungen aus der aber zumindest billigend in Kauf genom- fen. Das Motto sollte einfach nur geän- Geschichte umgeht, braucht sich nicht men. dert werden. Es kam letztlich doch zu zu wundern, dass nun die NPD im Mul- Aktuell findet ein Schülerwettbewerb einem Verbot, aber nur deshalb, weil dentalkreis in allen Ausschüssen vertre- statt. Im Aufruf heißt es: „Findet Ant- der Anmelder einschlägig vorbestraft ten ist, denn die drei NPD-Kreisräte blie- worten gegen rechtsextremistische Ge- ist. In meinen Augen ist aber das ge- ben natürlich bis zum Schluss. Ich kann walt, Fremdenfeindlichkeit und Diskri- wählte Motto der beantragten Demons- nicht Demokratie einfordern und dann minierung. Setzt ein Zeichen für eine tration das eigentliche Problem. Wer ein derart fahrlässig mit ihr umgehen. Gesellschaft, in der für Rechtsextremis- solches Motto wählt, zeigt seine revan- Wir alle sind jetzt gefordert, denn auch mus kein Platz ist.“ Dagegen ist nichts chistische Gedankenwelt in aller Offen- die auf das nächste Jahr 2008 vorgezo- einzuwenden. heit. genen Kreistagswahlen werden in dieser Aber wieso wird dieser Schülerwett- Ich fand es sehr begrüßenswert, dass Frage vermutlich leider keine Entspan- bewerb vom Justizministerium ausge- sich Antifaschisten und Linke vor Ort zu nung bringen. Durch die Tatsache, dass schrieben? Warum nicht vom Kultus- eigenen Aktivitäten entschlossen und NPD-Abgeordnete im Landtag sitzen, ministerium? Warum wird gerade dort dabei auch ganz bewusst Fahnen un- kann sie überall ohne Unterstützungs- immer wieder fahrlässig mit dem The- serer Nachbarländer mit sich führten. unterschriften antreten. Angesichts ih- ma umgegangen? Aus meiner Sicht ist Wenn es in Deutschland wieder mög- rer Wahlergebnisse und den Ergebnis- es vollkommen inakzeptabel, dass in lich wird, davon zu faseln, Deutschland sen der jüngsten Umfragen, wird es sehr der 10. Klasse der Mittelschule der Ge- sei größer als die BRD, dann sind alle schwer werden, ihren Einzug in weitere schichtsunterricht nicht mehr obligato- friedliebenden Menschen aufgefordert, Kreistage zu verhindern. Und die NPD risch ist, sondern als Wahlfach von den deutlich zu zeigen, dass es in diesem wird ihre Präsenz in den Kreistagen da- Schülerinnen und Schülern abgewählt Land eine Mehrheit gibt, die nicht so zu nutzen, um sich auf die 2009 statt- werden kann. denkt, der die Nachbarn Freunde sind, findenden Stadt- und Gemeinderats- Sehr spät erst erfolgte auch eine inhalt- an die man keinerlei Gebietsansprüche wahlen vorzubereiten. Selbst bei einem liche Auseinandersetzung mit der NPD- richtet. schlechten Wahlergebnis ist zu befürch- Schülerzeitung „Perplex“. Warum gibt ten, dass die Nazis vermutlich die Zahl es bei dieser Staatsregierung kein ab- Zum Umgang mit Geschichte ihrer kommunalen Mandate in Sachsen gestimmtes Agieren in dieser Frage? im Bundesland Sachsen verdoppeln können. Das Landesamt für Verfassungsschutz Merkwürdigkeiten gibt es viele in Sach- Ein geschlossenes Agieren aller Demo- warnt vor der erwähnten Schülerzei- sen. Der Umgang mit Geschichte bleibt kraten in den Parlamenten und im au- tung, das Kultusministerium reagiert höchst kritikwürdig. Ein neues Gedenk- ßerparlamentarischen Raum wäre mehr mit Verzögerung und die Staatsanwalt- stättengesetz soll es in dieser Legisla- als notwendig, wenn hier noch gegen- schaft beschwert sich öffentlich, dass turperiode nicht mehr geben, erklärte

6 die zuständige Ministerin in der Presse. aller Entschiedenheit wehren, ohne die – und das angesichts der Existenz von Man lebt inzwischen seit über fünf Jah- DDR zu verklären und damals tatsäch- Dutzenden Kameradschaften in Sach- ren mit dem unhaltbaren Zustand, dass lich vorhandene Defizite zu verschwei- sen. Geändert hat sich für die Situati- die Vertreter der Opferverbände aus der gen. on der Jugendlichen nur wenig. Aber sie NS-Zeit, dass der Zentralrat der Juden Nur ganz nebenbei sei noch angemerkt, waren glücklich am Tag der Antifa-De- und auch die VVN-BdA aus Protest ge- dass ein Gedenkstein oder eine Ge- mo in Mittweida, denn sie waren nicht gen das geltende Gesetz nicht dem ent- denktafel nach allen historischen Re- allein. Gedacht hatten sie, dass ihretwe- sprechenden Beirat angehören. geln ja wohl an etwas erinnern soll, was gen vielleicht 500 Leute nach Mittwei- IGleichzeitig werden neue, zum Teil ab- auch tatsächlich geschehen ist, nicht an da kommen würden, am Ende waren es surde Tatsachen geschaffen. etwas, was womöglich von irgendwem über 2.000! Ich erinnere hier nur an die ominöse theoretisch geplant wurde. Wir Antifaschisten brauchen diese Soli- Gedenkstele in Hohnstein im Landkreis Die Proteste in Hohnstein hatten lei- darität. Es gibt unzählige Opfer – auch Sächsische Schweiz. Auf der dazugehö- der keinen Erfolg, die CDU-Mehrheit im heute wieder. Aber es gibt auch das En- rigen Tafel steht unter anderem: „Die Stadtrat lehnte die Forderung nach ei- gagement vieler dagegen. Lassen wir es Nationalsozialisten hatten 1933–1934 ner Korrektur des Textes der Tafel ab. nicht zu, dass wir Antifaschistinnen und auf der Burg ein Schutzhaftlager ein- Zumindest aber haben wir eine öffent- Antifaschisten gegeneinander ausge- gerichtet. Das Ehrenmal ist den inhaf- liche Diskussion anstoßen können und spielt werden. tierten Opfern gewidmet. Von der SED die neuerliche Geschichtsverfälschung Wenn ich eingangs die Frage aufgewor- war hier ein zentrales ‚Isolierungslager‘ nicht widerstandslos hingenommen. fen habe, ob der heutige Rechtsextre- für politisch Andersdenkende des Bezir- Widerstand ist heute immer wieder not- mismus die größte politische Bedrohung kes Dresden geplant, das jedoch nie zur wendig. im 21. Jahrhundert ist, so mag jeder ein- Ausführung kam.“ Und niemand von uns sollte den Mut da- zelne sich dazu sein eigenes Urteil bil- Ich habe bereits vor der Einweihung zu verlieren. Es gibt Hoffnung. Sie darf den. Eine der größten Bedrohungen ist der neuen Stele öffentlich gegen die- nicht sterben. es allemal. Diese Gefahr so weit wie ir- sen Text protestiert, und ich bleibe auch Ich kenne zum Beispiel die Erlebnisbe- gend möglich zu minimieren, muss auch heute noch dabei: Ich halte diese For- richte junger Leute aus dem Kreis Mitt- in den kommenden Jahren unser aller mulierung für ahistorisch, geschichts- weida. Immer wieder wurden sie Opfer Anliegen sein. verfälschend, naziverharmlosend und von Nazi-Gewalt, sie wurden geschla- infam. Wieder einmal wird von interes- gen, ihre Jugendklubs wurden überfal- Dr. André Hahn MdL sierter Seite – der Hohnsteiner Bürger- len. Niemand half ihnen, das Thema meister ist Mitglied der CDU – de facto wurde lange, viel zu lange klein gere- eine Gleichsetzung des Hitler-Faschis- det. Dann wurde nach Monaten anhal- 1 Geringfügig überarbeitete Rede auf der Landes- konferenz der VVN-BdA Sachsen am 16. Oktober mus mit der DDR-Zeit vorgenommen. tender Gewalt endlich die Kamerad- 2007. Die Zwischenüberschriften sind von der Re- Dagegen müssen wir uns immer und mit schaft „Sturm 34“ verboten. Ein Verbot daktion des „Rundbriefs“ hinzugefügt worden.

Neonazis im Internet

In seinem umfangreichen Werk „Terro- lich biete das Internet neue und erwei- staltungen, die Plattform für Diskussio- rismus – der unerklärte Krieg“ geht der terte Möglichkeiten zur Beschaffung nen und Strategien, die Werbung neuer amerikanische Autor Bruce Hoffman von Spendengeldern für illegale Aktivi- Mitglieder, die Rolle als „Propagandaab- auch darauf ein, in welch umfassender täten und Untergrundgruppen.1 teilung“, die Bühne für die rechtsextre- Weise das Internet heute durch einzel- In ähnlicher Weise lässt sich heute der me Musikszene genannt. Nicht zuletzt ne oder Gruppen von Terroristen überall Umgang der Neonazis mit dem Internet spielt für die Neonazis das Internet auch in der Welt genutzt wird. Es habe für sie und dem World Wide Web beschreiben, eine bedeutsame Rolle für den Handel, die Funktion der Kommunikation, des wobei diese in ihrem Germanisierungs- die Bedienung des umfangreichen An- schnellen, oft in Echtzeit erfolgenden, fimmel nur Begriffe wie „Weltnetz“, gebots der Verlage und Versandagentu- umfassenden und vor allem kosten- „Heimatseite“ usw. verwenden. Die ren, sowie für die Beschaffung von Geld günstigen weltweiten Informationsaus- Nutzung dieses Mediums durch die Par- für sich selbst und die Szene. tausches. Es vermag staatliche Zensur- teien, Organisationen, Gruppierungen bemühungen zu umgehen, Nachrichten und Netzwerke der extremen Rechten Explosionsartiges Wachstum mühelos und anonym zu verbreiten, ih- und durch einzelne Neonazis hat explo- rechter Homepages re Aktionen in dem Kontext zu verbrei- sionsartig zugenommen. Ohne Internet, Eine Zeitlang hatten Öffentlichkeit und ten, wie sie sich wünschen – ohne Be- so stellen die verschiedenen Analyti- Behörden geglaubt, dass Neonazis und hinderung durch den Filter, die Auswahl ker und in ihrer Folge die Verfassungs- andere Rechtsextremisten keine Bezie- und die Perspektive der etablierten Me- schutzberichte klar, sei der moderne hung zu Computern und moderner Kom- dien. Es ermögliche „Informationswä- Neonazismus nicht denkbar. Als Funkti- munikationstechnik hätten. Das sollte sche“ zu betreiben, das heißt, provoka- onen, die das Internet für die Neonazis sich bald als totale Fehleinschätzung tive Video- oder Audioclips ins Netz zu erfüllt, werden u. a. das „Schaufenster“ erweisen. Bereits 1994 konstatierte stellen, dadurch „Internetsensationen“ der Parteien und Gruppierungen, der Bernd Wagner, dass die rechtsextreme zu schaffen, die dann ihren Weg in die Koordinierungsplatz, die Mobilisierung Szene durchaus über ein weitläufiges Mainstream – Medien finden. Schließ- und Werbung für Aktionen und Veran- Netz von Mailboxen verfügt, dass Re-

7 publikaner das Datennetz der Telekom Vom „Thulenetz“ zu „You Tube“ ist, konnte nun via Thulenetz bequem nutzen und auch die NPD Seiten im Btx- Vom Thulenetz war szene-intern be- ins eigene Wohnzimmer geholt werden. System besitzt.2 reits Anfang der neunziger Jahre die Re- Der von den USA aus agierende ame- Der NPD-Parteivorstand hatte einen Ar- de. Schon 1993 liefen über das Thule- rikanische Nazi Gerry Lauck, Gründer beitskreis „Neue Medien und Techni- netz Anleitungen zum Sprengstoff – und und „Propagandaleiter“ der am Vorbild ken“ gebildet. Briefbombenbau. Bernd Wagner nannte Adolf Hitlers und der NSDAP aufgezo- Die rasche Erweiterung der Propaganda 1994 als an das Thulenetz angeschlos- genen NSDAP/Aufbauorganisation ver- und Volksverhetzung durch die rechts- sene Boxen in Erlangen, Schwetzingen, büßte zwar in Deutschland von August extreme Szene über das Internet ist da- Kassel, Bonn, Weinstadt, Krefeld und 1996 bis März 1999 eine Haftstrafe we- ran zu erkennen, dass für das Jahr 1996 Nürnberg, die sich in eine Vielzahl wei- gen Volksverhetzung, Aufstachelung zu die Zahl der im WWW abrufbaren Home- terer Knotenpunkte und letztlich in User Rassenhass und Verbreitung von Propa- pages mit rechtsextremistischen Inhal- aufgliederten. Hier tummelte sich bald gandamitteln verfassungswidriger Orga- ten noch mit 32 angegeben wurde, für die gesamte rechtsextreme und neo- nisationen. Aber bald nach seiner Rück- das Jahr 2000 aber schon mit 800. Als nazistische Szene – von der NPD, der kehr in die USA stellte er seine Hetze höchste Zahl für Deutschland nannte DVU, den Republikanern bis zur „Hilfsor- weitgehend ins Internet und wurde seit- das Bundesamt für Verfassungsschutz ganisation für nationale politische Ge- dem nicht mehr belangt. 1.300 (im Jahre 2001). In den Folgejah- fangene“ (HNG). Auch Funktionäre von Auf seiner in 19 Sprachen abrufbaren ren war ein zahlenmäßiger Rückgang verbotenen Organisationen wie der Homepage bot Lauck umfangreiches festzustellen (2002: etwa 1000; 2003 „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpar- neonazistisches Propagandamaterial, und 2004: je 950), dann wieder ein tei“ oder der „Deutschen Alternative“ antisemitische Schriften und Compu- leichter Anstieg bis 2006 auf 1000. Da- mischten mit. Kopf des Netzes war da- terspiele (z. B. „KZ Rattenjagd“, „SA- bei ist zu berücksichtigen, dass es an- mals der ehemalige Informatikstudent Mann“, „Die Säuberung“) an. Abrufbar fänglich einen häufigen Wechsel gab, Thomas Hetzer (Pseudonym: Alfred wurden ein „Nazi Internet Radio“ und ein die Qualität der dort handelnden Per- Tetzlaff). Die Szene tauschte Informati- „Nazi Internet Fernsehen“. Ein Link aus- sonen nicht besonders hoch war, ver- onen aus, koordinierte deutschlandweit gehend vom Thulenetz führte auch zu altetes Material liegen gelassen wur- ihre politischen Aktionen und verbreite- anderen strafbaren Inhalten, beispiels- de. Jüngste Einschätzungen sprechen te rechtsradikale Online-Zeitschriften. weise zu „Stormfront“, dem US-ameri- aber von einer fortschreitenden Etab- Aber nur ein Teil des Nazinetzes war öf- kanischen Zentralorgan der nationalisti- lierung und Professionalisierung, vom fentlich, die Führungsebene debattierte schen Rechten. In einer Grafikbibliothek Erreichen einer teilweise beachtlichen in abgeschotteten Bereichen. wurden massenhaft Hakenkreuzbilder, Qualitätsstufe der Gestaltung, was ih- 1996 übernahm dann „Eichenschild“ NSDAP-Abzeichen, SS-Runen und SS- re Anziehungskraft natürlich beträcht- alias Kottke den Auftrag, das Thulenetz Totenkopf-Abzeichen zum Download lich erhöht. Der zeitweise Rückgang der ins Internet zu bringen, wozu er seine bereitgestellt. Zahl der Beiträge hat auch damit zu tun, berufliche Tätigkeit nutzen konnte. Die allzu offensichtliche faschistische dass immer mehr strafbewehrte Inhalte Am 27. Juni 1996 wurde beim kanadi- Ausrichtung, zunehmender Verfolgungs- vom Netz genommen werden mussten schen Web-Seiten – Discounter „ICA druck und der Ausbau von Internetprä- und die Umstellung auf das Betreiben Canada Online, Inc.“ in Toronto die neue senzen der rechtsextremen Parteien vom Ausland her nicht schnell gelang. Internet-Domain des Thulenetzes (Thu- führten letztlich zu einem Bedeutungs- 2004 wurde bei allgemeiner Stagnation lenet.com) eingerichtet. Mit den Thu- verlust des Thulenetzes. 1997 begann der Zahlen eine Zunahme der interak- lenetz-Aktivitäten im Internet kam die stattdessen der Aufbau des sogenann- tiven Dienste festgestellt. Die Zahl der internationale Vernetzung der rechtsex- ten „Stoertebeker-Netzes – Nachrichten in den einzelnen Bundesländern be- tremen Szene einen Riesenschritt vor- und Kommentare“, das sich als „unab- triebenen rechtsextremen Homepages an. Waren sie mit ihren Mailboxen von hängiges Portal aus Pommern“ bezeich- ist sehr unterschiedlich, für Thüringen der Öffentlichkeit bislang weitgehend net und heute als eines der einfluss- wurde ihre Zahl kürzlich mit 60 ange- isoliert, konnten Rassenfanatiker, Ho- reichsten Netze im deutschsprachigen geben. locaustleugner und Geschichtsrevisio- Raum zu betrachten ist. Als Betreiber gilt Das Magazin „Chip“ enthüllte im März nisten ihre Propaganda nun schnell und Axel M., der sich gern anonym gibt, des- 1997, wie Neonazis heimlich den Inter- problemlos an ein Millionenpublikum sen Wirken in der rechtsextremen Szene netzugang eines Computerzeitschrif- richten. Auf den Thule-Internet-Seiten des östlichen Vorpommern aber durch- tenverlages für ihre Bestrebungen hetzte man beispielsweise gegen den aus bekannt ist. Das Stoertebeker-Netz nutzten.3 Drahtzieher war ein Münche- Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ist „unabhängig“ in dem Sinne, dass es ner Software – Redakteur bei der Zeit- und die dort ergangenen Urteile, gegen oft auch kritische Beiträge zu Aktionen schrift „Amiga“: Ralf Kottcke. Der Spezi- das „Weltjudentum“, die „Völkervermi- und Aussagen der NPD bringt, aber mit alist für Computer – Spiele liebte nicht schung“, propagierte den „arischen Wi- aggressiver antisemitischer Propagan- nur Kampf – und Söldnerspiele („Met- derstand“ und listete seitenlang Namen da und nationalistischer Hetze stellt es zelspiele“ wie er sie selbst nannte), son- und Anschriften der politischen Gegner gerade für „autonome“ Kameradschaf- dern leidenschaftlich engagiert im brau- auf („Anti-Antifa“). ten und Aktionsbüros umfangreiche Ar- nen Sumpf, führte er auch ein geheimes Die Macher und Verbreiter des neona- tikulationsmöglichkeiten bereit. Der be- Doppelleben in der deutschen Neonazis- zistischen Gedankengutes waren dabei kannte Hamburger Neonazi Christian zene. Unter dem Tarnnamen „Thorin Ei- vor dem Zugriff der bundesdeutschen Worch ist fast täglich bei Stoertebeker chenschild“ betrieb er als „Sysop“ (Sys- Staatsanwälte ziemlich sicher. Deren vertreten. Zugleich ist das Stoertebeker- temoperator) die „Janus BBS“ – Mailbox rechtliche Möglichkeiten endeten an der Netz eingebunden in den internationalen in München, die auch der Verfassungs- deutschen Grenze. Braune Propaganda Netzverbund „Altermedia“ als dessen schutz bald als Filiale des rechtsradika- in Kanada ist für sie unerreichbar. Mate- deutsche Filiale (im Logo: „Altermedia len Thulenetzes erkannte. rial, das in Deutschland streng verboten Deutschland – Störtebeker-Netz“).

8 Altermedia verkörpert eine neue Stufe zeigt sich, dass im Stoertebeker – Netz Umfangreich ist zunächst die Bandbrei- der Internationalisierung der rechtsextre- auch die Funktion der Mobilisierung für te der Dokumentationen in You Tube (in men, neonazistischen, antisemitischen, Neonazikundgebungen weit oben auf der Regel Filmaufnahmen und Collagen) zum Teil aber auch anti-islamistischen der Liste steht. Werbung für Bücher zu allem, was mit dem Zweiten Weltkrieg Netzpropaganda. Daneben enthält es und Zeitschriften nationalistischer und aus deutscher Sicht zu tun hat. Von Be- Artikel allgemeineren Charakters, die rassistischer Art ist zwar weniger aus- schreibungen und Anschauungsmateri- sicher einen etwas seriöseren Eindruck geprägt, aber ebenfalls anzutreffen – al einzelner Waffen, über Dokumentati- vermitteln sollen. Angeschlossene Net- so zum Beispiel für die Neuherausga- onen einzelner Waffengattungen oder ze existieren in Österreich, Belgien (da- be des Nazi-Grundlagenwerkes „Das 3. verschiedenen Einzelgefechten geht es zu gesondert für Flandern), Frankreich, Reich“ von Möller van den Bruck oder dann schnell hinüber zu offenen Glori- Deutschland, Griechenland, Italien, Por- für das in Großbritannien erscheinende fizierung und Verherrlichung des deut- tugal, Russland, Rumänien, Großbritan- „Vierteljahresheft für freie Geschichts- schen Soldaten im Zweiten Weltkrieg nien (gesondert auch für Schottland), forschung“ mit dem Schwerpunkt der bis zu heftigen Kampfszenen, Zerstö- Spanien, Schweden, in der Schweiz antisemitischen Holocaust-Konferenz in rungen und menschenverachtenden Er- (gesondert für die französischsprachi- Teheran im Dezember 2006. Inzwischen eignissen wie Hinrichtungen. Es wird ge und die deutschsprachige), die Nie- ist das weltweite Netz jedoch noch wei- nicht hinterfragt, kritisch bewertet oder derlande und die USA. Artikel sind bei ter im Wandel. Es entwickelt sich vom in die historische Forschung eingebun- Altermedia in den Kategorien anti-war, Informationsmedium zu einer Art „Netz den, sondern einfach nur neutral oder civil-rights, corruption, diversity, doub- zum Mitmachen“. Nutzer gestalten die glorifizierend dargestellt. Oft werden le-standards, general, immigration, is- Inhalte selbst – in Form von Tagebü- bereits vorhandene Dokumentationen lams/muslims, media-lies, race, tre- chern, politischen Foren, Kontaktbör- benutzt (etwa aus Fernsehfilmen), bei ason, video und in einem ein Jahr zurück sen oder auf Videoplattformen. denen die Tonspur des Filmes entfernt reichenden Archiv abzurufen. Die Grundlage dafür bildet die derzeit und durch Musik aus martialischen Um ein Bild von der rassistischen, an- attraktivste Internetplattform „You Tu- Märschen, Naziliedern oder Rechtsrock tisemitischen und neonazistischen Aus- be“, die im US – Bundesstaat Kaliforni- ersetzt, womit die ursprünglich aufklä- richtung des Stoertebeker-Netzes zu ge- en gegründet wurde, bei einem ameri- rerischen Berichte in neonazistisches winnen, genügt eine Untersuchung der kanischen Provider angesiedelt ist und Propagandamaterial umgewandelt wer- Inhalte nur weniger Tage. So wurden in mittlerweile den Betreibern der Inter- den. der zweiten Maihälfte 2007 zahlreiche netsuchmaschine Google gehört. Da- Ähnliches geschieht mit Videozusam- Artikel zum G8-Gipfel in Heiligendamm mit unterliegt You Tube dem US – ame- menschnitten aus dem Nazialltag im veröffentlicht, von denen die meisten rikanischen Gesetz, welches, wie schon deutschen Reich nach 1933. Aus Bildern aber im Sinne der rechten Anti-Globali- erwähnt, eine mehr als liberale Auffas- von Nazipublikationen, Filmsequenzen sierungskritik zugleich antijüdische und sung zur Meinungsfreiheit hat und das aus Wochenschauen und Nazi-Propa- antiamerikanische Töne enthielten. Ein- Recht auf freie Meinungsäußerung bis gandafilmen entstehen in der Zusam- deutige rassistische bzw. antisemitische zum Äußersten, d. h. auch für offen fa- menführung mit Hetze, Drohungen ge- Hetze zeigten Artikel über den Besuch schistische und rassistische Äußerun- gen politische Gegner, Antisemitismus des von Neonazis zum Krüppel gemach- gen, vertritt. Mit You Tube ist ein Medi- und Fremdenhass wiederum durch Un- ten farbigen Engländers Noel Martin in um für Millionen Nutzer des Internets terlegung mit Musikspuren aus alter Na- Brandenburg („Gemeinheiten zum Sonn- vorhanden, in dem allen eingetragenen zimusik, Rechtsrock und Beifügung von tag – Neger auf Rädern“) und über den Mitgliedern vollkommen offen steht, Symbolen heutiger rechtsextremer Par- neuen französischen Staatspräsidenten welche Inhalte sie dort verbreiten. So teien neue Propagandawerke. Nicolas Sarkozy („Der erste Jude in Eur- findet man neben zahllosen Hitlerkari- Nicht selten werden auch Werbemittel opa, der die politische Bühne von rechts katuren und Hitlersatiren, also antifa- des politischen Gegners, also insbeson- betritt“). Dazu wurde auch eine Rede schistischen Inhalten, auch die gesamte dere von Antifa – Gruppierungen, aus des den Holocaust leugnenden irani- Bandbreite neonazistischer und anderer dem Internet entnommen und neu zu- schen Präsidenten Ahmadinedschad rechtsextremistischer Materialien. Über rechtgeschnitten, mit anderer Musik „an die Deutschen“ ins Netz gestellt. You Tube sind heute Millionen von Vide- unterlegt und unter neuem Namen wie- Mit Befriedigung konnten Rechtsextre- os, vor allem auch selbst produzierte, der eingestellt. me die Meldungen über die ablehnen- abrufbar, was natürlich auch hinsicht- You Tube wird selbstverständlich von de Haltung der Bundestagsmehrheit lich der Qualität und Professionalität al- den rechtsextremen Parteien und Grup- gegenüber den Anträgen der Linksfrak- le Schattierungen erkennen lässt. pen zur Eigenwerbung benutzt, weil dies tion zur Zurückdrängung des Rassismus Dass die rechtsextreme Szene You Tu- wesentlich kostengünstiger ist, als eige- lesen und über die Freude des „Akti- be bald als grandioses Mittel zur Kom- nes Material wie Plakate oder Flyer zu onsbüros Westdeutschland“, dass ein munikation entdecken würde, bedarf produzieren bzw. werden live-Mitschnit- Gericht das Absingen des Horst-Wes- keiner Erläuterung. Sie ist nicht das ein- te von Parteitagen, Kundgebungen, sel-Liedes manchmal doch erlaube (ein zige und auch nicht das wichtigste Mit- Wahlauftritten und Demonstrationen Betrunkener hatte es mit verfremdetem tel zur szeneinternen Kommunikation, dokumentiert. Als gefährlich ist auch die Inhalt gesungen, die Anklage war aber stellt aber eine vielseitig verwendbare auf You Tube anzutreffende Filmart zur fallengelassen worden). Plattform mit hoher Innenwirkung in der Verfolgung und öffentlichen Beleidigung Am Beispiel des Abdrucks von Beiträ- Szene und mit einem ausgedehnten Po- von Gegnern mit der Kamera – Durch- gen des Hamburger NPD – Chefs, Im- tential zur Außenwerbung dar. Vor allem brechen der Privatsphäre, unterschwel- mobilienbeschaffers und Rechtsanwalts bietet sie den Nutzern durch garantierte liger Aufruf zu Straftaten gegen die be- Jürgen Rieger, der auch Anmelder der Anonymität eine bestimmte Sicherheit treffenden Personen – einzustufen. Bei Gedenkkundgebungen für Hitlers Stell- vor den Strafverfolgungen in Deutsch- täglich etwa 70.000 neuen Einstellun- vertreter Rudolf Heß in Wunsiedel ist, land. gen von Usern in You Tube ist weder ei-

9 ne Zensur noch eine Strafverfolgung in wichtigste Artikel aus der aktuellen Aus- Kommunal- und Kreisparlamenten dar- nennenswertem Umfang möglich. gabe und aus mehrere Jahre zurücklie- stellten, ist aktuell nur noch eine ent- genden Ausgaben heruntergeladen wer- sprechende Aktivität von der Zentrale NPD, DVU, REP, HDJ im Internet den können, zur „Schulhof-CD“ und in und aus Nordrhein-Westfalen zu verneh- Die NPD: Rubriken für Kontakte und Service auf. men. Schon im April 2007 hieß es, dass Nach Meinung des NPD-Vorsitzen- Über die Verbindungen zu den Landes- die Internetseiten von Brandenburg, Nie- den hat das „Weltnetz“ für verbänden Sachsen und Mecklenburg- dersachsen, Mecklenburg-Vorpommern die NPD einen Stellenwert, der ganz Vorpommern gelangt der Nutzer auch und Saarland nicht mehr erreichbar sei- weit oben angesiedelt wäre. Es sei ei- zu den NPD-Landtagsfraktionen in die- en. Die Seite des Bundesarbeitskreises ne „wunderbare Möglichkeit“, die Po- sen Bundesländern. der Republikaner-Jugend wurde zuletzt sitionen der Partei ohne Zensur darzu- Aufmerksamkeit erregen immer wie- 2004 aktualisiert. Die Seite der Bun- stellen. Die NPD behauptet, dass ihre der auch Versuche von NPD-Funktio- deszentrale enthält noch das Parteipro- Netzseiten etwa 10.000 Zugriffe am Tag nären, außerhalb des NPD-Netzes Ma- gramm, das Porträt und den Lebenslauf hätten, in Wahlkampfzeiten seien es terialien einzustellen. Das Beispiel von von Parteichef Rolf Schlierer sowie ein- aber deutlich mehr bis zum Zehnfa- Jürgen Rieger im Stoertebeker-Netz zelne Erklärungen von ihm, Dokumente chen! Der Verfassungsschutzbericht für wurde schon erwähnt. Aber auch der des letzten Parteitags und einige Ausei- das Jahr 2003 zählte rund 80 aktive Ho- Landesvorsitzende der NPD in Hessen, nandersetzungen zur aktuellen Politik, mepages von NPD und ihrer Jugendor- Marcus Wöll, fiel auf, als er im Herbst z. B. zu den Lobreden für Filbinger des ganisation JN, auf denen Berichte und 2006 eine eigene Nachrichtensendung baden-württembergischen Ministerprä- Kommentare zu aktuellen Ereignissen, „Die Woche“ als eine Art NPD-Wochen- sidenten Oettinger, zur polizeilichen Kri- Demonstrationsaufrufe, Pressemeldun- schau in You Tube plazierte. Wöll zeigte minalstatistik, zum Islamismus. Jegliche gen, programmatische Aussagen sowie dort selbstgedrehte Videos von Aufmär- parteiinternen Auseinandersetzungen, sonstige Informationen über die Partei- schen, Aktionen der NPD, Interviews Austritte und andere Zeichen des Zer- verbände angeboten werden. mit UdoVoigt und Jürgen Rieger oder falls werden jedoch verschwiegen. Man- Mit der Neugestaltung der NPD-Webs- kommentierte politische Ereignisse lo- che Seiten sind nur für Mandatsträger eite im Jahre 2005 wurde die zentrale kaler Art, aber auch Welt-Nachrichten. zugänglich (über Benutzernamen und Steuerung verstärkt, das Erscheinungs- Antisemitische Hetzartikel durften nicht Kennwort.) Unter der Regie der Stellver- bild modernisiert und insbesondere ei- fehlen. Schließlich gab es Proteste und treterin Schlierers, Ursula Winkelsett, ne laufende Aktualisierung gesichert. You Tube nahm seine Filme vom Netz, gibt es auf der Landesseite von Nor- Zu Grunde lag eine kritische Bestands- die dann nur noch auf den Neonazisei- drhein-Westfalen aktuelle Meldungen aufnahme des bisherigen Erscheinungs- ten „Freier Widerstand“ und „Infoportal über die Tätigkeit einzelner Kreisverbän- bildes und ein von den Mitarbeitern des 24“ zu sehen waren. de (Minden, Herne). Neue Aktivitäten Referats „Neue Medien“ und der Netz- zeichnete im Mai auch die Landessei- redaktion der NPD verfasster Leitfaden DVU: te Rheinland-Pfalz auf, so u. a. aus dem „Unser Erscheinungsbild“ mit Richtlini- Auch die DVU nutzt seit Jahren das Inter- Kreisverband Trier-Saarburg. en zur Gestaltung von Dokumenten und net zur Selbstdarstellung und Agitation. Netzseiten, der auch den Untergliede- Für die 1997 eingerichtete Domain ist Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ): rungen und Verbänden der NPD überge- die Münchener Zentrale verantwortlich. Die realen Entwicklungen in der Neona- ben wurde. Als neue Elemente wurden Auf ihr finden sich Parteiprogramm und ziszene werden auch in diesem Falle gut eine farbig gestaltete „oberste Leiste“, tagesaktuelle Themen, Hinweise auf ge- widergespiegelt. Die neue nazistische die den Verbund von NPD-Seiten ver- plante Veranstaltungen und Pressemit- Jugendorganisation „Heimattreue Deut- stärken sollte, indem sie Schnellver- teilungen sowie Kontaktadressen. Links sche Jugend“ möchte ihre Rolle als eine weise zu den wichtigste Organen und führen zur „Nationalzeitung“ und zum Art Nachfolgeorganisation der verbote- Verbänden der NPD sowie zum Bündnis- “DSZ-Druckschriften-Zeitungsverlag nen Wikingjugend gern verstecken und partner DVU bereithält, ein System von GmbH“. Gegenüber dem Internetauftritt stellt zunächst ein unscheinbares An- „Karteikarten“, mit dem man schnell in der NPD bleibt die DVU allerdings weit gebot für Freizeit und Ferien-Lager von die wichtigsten Bereiche der Seite ge- zurück. Die meisten Landesverbände Kindern und Jugendlichen vor. Ihre Ideo- langen kann, eine Suchmaschine und der DVU führen keine eigenen Seiten. logie verbirgt sich dann im geschlosse- ein Schnellzugang zu den Präsenta- Wichtig sind aber die mit den Landtags- nen Bereich für ihre Mitglieder. tionsseiten der einzelnen Landesver- fraktionen in Brandenburg und Bremen bände eingeführt. Da die meisten Lan- verbundenen Webseiten, über die Mate- Der „Freie Widerstand“ im Netz desverbände auch eigene Netzseiten rial aus den vergangenen Wahlkämpfen Der Charakter der Gruppierungen, die betreiben, geht es von dort aus auch wie z. B. Plakate, oder Reden von DVU- als Kameradschaften, Aktionsbüros weiter zu vorhandenen Kreisverbands- Abgeordneten aus den Landtagsdebat- und andere Netzwerke operieren und seiten, deren Zahl inzwischen beträcht- ten heruntergeladen werden kann. als „organisationsunabhängig“ gelten lich zugenommen hat. wollen, gestattet es im allgemeinen Inhaltlich gliedert sich die NPD-Websi- Republikaner: nicht, im Internet mit festen Netzen und te in eine wechselnde zentrale Parole, Die Internetseiten der Partei „Die Re- Adressen präsent zu sein. Es gibt aber in aktuelle Meldungen aus NPD-Sicht publikaner“, die inzwischen nicht mehr zahlreiche Ausnahmen. So richtete das (Übersicht über eine Woche siehe An- im Verfassungsschutzbericht auftaucht, den Ton angebende „Aktionsbüro Nord- hang B), in Presseveröffentlichungen spiegeln ihren Zerfallsprozess deutlich deutschland“ 2002 NASAN ein, über der NPD, Angaben zu Terminen und wider. Nannte der VS-Bericht für das das im Internet Termine der Demonst- Veranstaltungen, Verweise zum Par- Jahr 2003 noch ca. 120 Webseiten, auf rationen mitgeteilt, Pressemeldungen teiprogramm und zur Satzung, zur Par- denen sich Bundesverband, Landes- zu aktuellen politischen Themen, dar- teizeitung „Deutsche Stimme“, deren , Kreis- und Ortsverbände, Vertreter in unter Proteste gegen die Militärinter-

10 vention der USA im Irak, veröffentlicht verschmähten, unerträglichen antise- Widerstand gegen Neonazis im Netz wurden, die dann auch als Flugblätter mitischen Hetztiraden von Mahler auf Der Widerstand gegen und die Zurück- und Plakate zum Herunterladen ange- dessen Homepage, die eher lächer- drängung von menschenverachtender boten wurden. Im Frühjahr dieses Jah- lich anmutenden Erklärungen der soge- Hetze im Internet, die ja letztlich zu res erschien eine Homepage des „Frei- nannten „Deutschen Reichsregierung“, entsprechenden Gewalt-Taten führen en Widerstandes Bergisches Land“, auf aber auch der wegen Volksverhetzung kann, ist zu einer der wichtigsten Sei- der sich der wegen Volksverhetzung 33 und Verunglimpfung des Ansehens Ver- ten im Kampf gegen Rassismus, Antise- Monate in Haft sitzende Neonazi-„Gau- storbener rechtskräftig verurteilte frü- mitismus und Neonazismus geworden. leiter“ von Köln, Axel Reitz, mit einem here Herausgeber der „Staatsbriefe“, Über die offiziellen Gegenstrategien hat Interview aus der Justiz-Vollzugsanstalt Hans-Dietrich Sander. Dieser hat nicht Klaus Parker im „Handbuch Rechtsradi- Rheinbach zu Wort melden konnte. nur seine Publikationen vollständig auf kalismus“ aussagekräftig informiert.5 Der „Freie Widerstand“ ist vor allem die Internetausgabe umgestellt, son- Er geht dort nicht nur auf die Möglichkei- durch den raschen Wechsel der spezi- dern versucht in jüngster Zeit auch wie- ten der Filterung von Software und die ellen Seiten mit Aufrufen zu Aktionen der über andere Kanäle wie z. B. Arti- Sperrung rechtsextremistischer Seiten und Veranstaltungen charakterisiert. kel bzw. Interviews in der NPD-Zeitung durch Zugangsanbieter ein, sondern be- So erschienen Webseiten zur Mobilisie- „Deutsche Stimme“ oder der öster- handelt auch ausführlich die Rechtslage rung für die Naziaufmärsche in Halbe, reichischen Zeitschrift „Neue Ordnung“ und die Wirksamkeit von Gegenstrategi- für die Gedenkkundgebungen in Wun- Gehör zu finden. Selbstverständlich ver- en. Auch wenn das Internet seinen ei- siedel anlässlich des Todestages von zichtet auch neben sei- genen technischen Grundlagen zufolge Rudolf Heß oder auch für die Dortmun- nen anderen Auftritten nicht auf eine ei- jegliche nationalstaatliche Grenzen und der Großkundgebung der Neonazis am gene Seite im Netz. damit auch die Rechtsordnungen igno- 1. Mai 2007 in Dortmund. Als Ausrich- Weit wichtiger sind jedoch die nicht nur riert, sind die Neonazis dort nicht un- ter für den 5. Thüringentag der „natio- propagandistischen Zwecken dienen- gestört. Nach dem internationalen Pakt nalen Jugend“ riefen im Vorjahr die „Na- den, sondern vor allem auf Werbung vom 19. Dezember 1966 verpflichten tionalen Sozialisten Altenburger Land“ und Profit abgestellten umfangreichen sich die Vertragsstaaten, jedes Eintre- im Internet auf. Parallel zum „Helden- Seiten im Netz mit Neonazi-Musik, An- ten für nationalistischen, rassistischen gedenken“ in Halbe wurde am 18. No- geboten des Versandhandels und der oder religiösen Hass, durch welches vember 2006 erstmalig von Neonazis Verlage. Die besonders für Jugendli- zur Diskriminierung, Feindseligkeit oder auch eine „Internet-Demonstration“ che gedachten „Schulhof-CD“, von de- Gewalt aufgestachelt wird, zu verbieten. durchgeführt. Das „Organisationskomi- nen allein die NPD auf ihren Seiten drei Der Konvention sind 154 Staaten bei- tee“ versuchte mit Unterstützung eines zum Herunterladen bereit hält, werden getreten, in der rechtlichen Ausgestal- speziellen Computerprogramms, die ge- dabei nicht verkauft, sondern kostenlos tung kommen Österreich, die Schweiz, gen die Nazi-Großveranstaltung gerich- abgegeben und verteilt. Geworben wird Frankreich, die Niederlande und Israel tete Homepage des antifaschistischen im Internet für zahlreiche größere Kon- der rechtlichen Situation in Deutsch- Aktionsbündnisses zu blockieren, was zerte der Rechtsrockszene, für die Plat- land sehr nahe. Die größte Lücke be- allerdings an den entsprechenden Vor- ten der Nazibands sowie für die Songs steht in Bezug auf die USA, die zwar der kehrungen auf dieser Seite der Barrika- der neonazistischen Liedermacher. Für Konvention ebenfalls beitraten, wo aber de nicht gelang. eine Veranstaltung am 31. März 2007 durch den ersten Zusatzartikel zur Ver- Vielfältig nutzt zum anderen der „Na- in Neufeld bei Brunsbüttel, Eingeweih- fassung durch die unbeschränkte Rede- tionale Widerstand“ (vor allem zur De- te sprechen vom neuen „Mekka“ der freiheit das Tor auch für die Verbreitung batte) das Stoertebeker-Netz. Da vom Rechtsrockszene, wurde mit glorifizier- faschistischer Propaganda ins Ausland „Freien Widerstand“ zahlreiche Gewalt- tem Kopf der nicht mehr existierenden weit offen bleibt. Mit dem sogenannten taten ausgehen, besteht in dessen Ver- britischen Neonaziband „Screwdriver“ Thoben-Entscheid des Bundesgerichts- lautbarungen natürlich ein großes Be- unter „No surrender day“ von einem La- hofes vom 12. Dezember 2001 gilt je- streben, die Dinge anders darzustellen, bel aus Lauderdale in den USA gewor- doch das deutsche Strafrecht auch bei das Opfer-Täter-Verhältnis umzukehren ben – Grundlage dazu sind die Seiten Volksverhetzungsdelikten, wenn der Tä- und die antifaschistischen Gegner zu von „Blood and Honour“. ter die strafbaren Inhalte vom Ausland verleumden. Der Hamburger Journalist Patrick Gen- her ins Netz gestellt hat, sofern die- sing urteilt: „Der Handel mit Musik und se in Deutschland abrufbar sind und Andere neonazistische Szeneartikeln entwickelte sich in den die Inhalte gerade auf das Publikum in Aktivitäten im Netz vergangenen Jahren zum wichtigsten Deutschland zugeschnitten sind. Mit den bisher dargestellten Beispielen wirtschaftlichen Standbein der Neona- Die Folgen dieser Entscheidung sind ist das Spektrum neonazistischer Ak- zi-Bewegung, neben dem Geld aus der weitreichend, vor allem durch indirek- tivitäten im Internet bei weitem nicht Parteienfinanzierung der NPD.“4 Als te Wirkungen. Rechtsextremisten in erschöpft. Zu erwähnen ist zunächst, Beispiel für eifrige Nazihändler ist ne- Deutschland, die ja von der Person her dass es eine ganze Reihe neonazisti- ben den NPD-Vorstandsmitgliedern Do- unschwer zu identifizieren sind, sind ge- scher Grüppchen und Einzelpersonen ris Zutt und Thorsten Heise in jüngster zwungen, ihr Internetangebot knapp un- gibt, die ihre antisemitischen, rassisti- Zeit besonders der im sächsischen Wur- ter der Grenze der Strafbarkeit zu halten. schen und den Nationalsozialismus ver- zen ansässige Thomas Persdorf mit sei- Wo nicht, gibt es nicht nur Verfolgungs- herrlichenden Absonderungen ins Inter- nem kleinen Firmenimperium aufgefal- druck durch kritische Organisationen, net einspeisen. In diese Reihe gehören len, der 10 bis 15 Leute beschäftigen sondern auch durch staatliche Instan- seit Jahren die Ergüsse des „Deutschen soll. Verlage mit rechtsextremer und zen. Im Frühjahr wurde der ehemalige Kolleg“ (, Reinhold Oberler- neonazistischer Literatur im Angebot NPD-Kreisvorsitzende von Ostvorpom- cher, Uwe Meenen), die von großen Tei- sind im Internet praktisch von A bis Z mern/Greiswald, Christian Deichen, zu len der Neonaziszene inzwischen selbst zu finden. einer Geldstrafe und Einzug von Compu-

11 tern verurteilt, weil er im Jahre 2006 als Hier bieten sich Hilfen auf den Internet- gung des großen Einflusses der Neo- Betreiber einer Internetseite der NPD seiten der Bundeszentrale für politische nazis in manchen Regionen und Orten diese mit einer verbotenen Webseite Bildung, der Antonio-Amadeo-Stiftung durch alternative Politik- und Kulturan- verlinkt hatte, auf der der Holocaust ge- („Mut gegen rechte Gewalt“), von apabiz, gebote auch dem Internet gebührende leugnet und zur Ermordung von Juden von den Mobilen Beratungsteams, von Aufmerksamkeit zu schenken. Hier surft aufgerufen wurde. der VVN-BdA und weiteren antifaschis- die Jugend und hier müssen die aufklä- Gegen Neonazihetze im Netz kämpfen tischen Initiativen an. Die Linkspartei rerischen Kräfte wirksam werden. jedoch vor allem antifaschistische Or- startete ihre Aufklärung schon vor Jah- ganisationen und Gruppen, demokrati- ren unter dem Motto „Nazis raus – aus Dr. sc Roland Bach sche Wissenschaftler und Journalisten. dem Netz“. Die „Daten-Antifa“ schaffte Ihr Ansatz ist, neben repressivem Vor- es mehrfach, an interne Informationen gehen des Staates vor allem Aufklärung der Neonaziszene zu gelangen, knack- 1 Vgl. Bruce Hoffmann, Terrorismus – der unerklärte Krieg, Frankfur a. M. 2006, S. 310f. über die Gefahren, Hintergründe und te Angebote von Online-Händlern und 2 Vgl. Bernd Wagner, Hrsg. Handbuch Rechtsextre- Auswirkungen des Agierens der Neona- veröffentlichte Tausende Kunden-Datei- mismus, Reinbek 1994, S. 177. 3 Vgl. Das Thulenetz, in: CHIP, Heft 3/1997, zis im Netz zu betreiben, gegen jede Ha- en im Internet. Auch staatliche Ermitt- S. 256ff. te-Speech-Seite mehr Information und ler nutzten offenbar schon Hinweise aus 4 Patrick Gensing, Neonazis und das Internet, in: Wahrheit zu setzen, auch wenn dabei den gehackten Dateien. http://www.bpb.de/themen (Jugendkultur) 5 Vgl. Klaus Parker, Rechtsextremismus im Internet, die Chancen gegenüber der „Konkur- Schlussfolgerung aus all dem kann nur in: Thomas Grumke u. Bernd Wagner, Hrsg., Hand- renz“ gering erscheinen. sein, beim Ringen um die Zurückdrän- buch Rechtsextremismus, Opladen 2002, S. 129ff.

Thesen zu einer offenen gesellschaftlichen Zukunftsfrage Dialog beim American Jewish Committee Einführungsbeitrag von Petra Pau, MdB Berlin, 4. September 2007

1. Die Frage, ob ich heute mit ihnen 2. Ich möchte Ihnen vorab eine Episo- 3. Seit Jahren frage ich Monat für Mo- sprechen könnte, erreichte mich in To- de schildern, eine Episode mit Nach- nat die Bundesregierung: Wie viele kio. Ich war mit Bundeskanzlerin Mer- schlag. Anfang dieses Jahres wurde in Straf- und Gewalttaten mit rechtsextre- kel sowie einer Regierungs- und Parla- Berlin eine jüdische Schule nebst Kin- mistischen Hintergrund wurden regist- mentsdelegation in der VR China und in dergarten besudelt. „Juden raus“ war riert. Der Befund ist schlimm. Im bun- Japan. Ich habe zugesagt, wohl wissend, danach an der Fassade des Gebäudes desweiten Schnitt werden stündlich 2,5 dass mir wenig Zeit für die Vorbereitung zu lesen. SS-Runen waren auf Kinder- Straftaten und Tag für Tag 2,5 Gewalt- auf unser Gespräch bleibt. Aber sie woll- spielzeug geschmiert worden. Als wir taten registriert. Die Zahlen sind „vor- ten meine Sicht kennen lernen und ich uns danach in der Synagoge zum soli- läufig“. Und sie stapeln tief. Querver- möchte ihre Sicht kennen lernen. Des- darischen Gebet sammelten, fragte ein gleiche belegen, dass die realen Zahlen halb vielen Dank für die Einladung. Rabbiner: „Wie soll ich das den Kindern zwei bis drei Mal höher liegen. Nun gibt es schönere Themen als erklären?“ Entsprechend größer ist die Zahl der Op- Rechtsextremismus, Rassismus und Ich habe den Umgang mit Kindern er- fer, die von rechtsextremistischer Gewalt Antisemitismus in Deutschland. Aber lernt, studiert und als Lehrerin prakti- betroffen sind. Das heißt: Rechtsextre- sie gehören zum Alltag. Wir haben es ziert. Aber auf diese einfache Frage hat- mismus, Rassismus und Antisemitismus dieser Tage gerade in der sächsischen te auch ich keine Antwort. Ich war ratlos. sind hierzulande längst wieder eine Ge- Kleinstadt Mügeln erlebt. Vielleicht ha- Diese Geschichte schilderte ich später fahr für Leib und Leben. Nachgewiesen ben sie die aktuelle Geschichte ver- genauso, als ich vom Moses-Mendels- ist, dass allein in den zehn Jahren zwi- folgt. Bei einem Volksfest gab es plötz- sohn-Zentrum eingeladen war. Danach schen 1990 und 2000 mindestens 100 lich eine Hatz auf acht Inder. Ich werde las ich in der „Jüdischen Allgemeinen“ Menschen zu Tode kamen. Die aktuelle auf diesen ausländerfeindlichen Vorfall einen Kommentar. Sinngemäß hieß es Liste dürfte umfangreicher sein. Nur: Es noch zurück kommen. da: So weit sind wir gekommen. Selbst gibt sie nicht, jedenfalls nicht offiziell. Sie werden von mir einen sehr kriti- Politiker drücken sich vor Antworten. Damit komme ich zu meiner ersten schen Befund hören. Gerade deshalb Diese Episode mit Nachschlag habe ich These: Die Gefahren, die von Rechts- sage ich eingangs genauso klar: Die vorangestellt, weil ich wirklich keine fer- extremismus, Rassismus und Antise- Verhältnisse in der Bundesrepublik tigen Antworten habe. Und weil ich fin- mitismus ausgehen, werden noch im- Deutschland anno 2007 sind aus mei- de: Auch Politiker haben zuweilen ein mer unterschätzt und heruntergespielt. ner Sicht nicht gleichzusetzen mit den Recht, sprachlos zu sein. Aber in einem So lange ich Mitglied des Bundestages Verhältnissen in der Weimarer Republik irrt die Autorin des Kommentars: Ich wei- bin, gab es dazu keine wirklich ernstzu- anno 1932/33 – nicht politisch, nicht che dem Problem nicht aus. Und selbst, nehmende Debatte mit tatsächlichen wirtschaftlich, nicht gesellschaftlich. wenn ich keinen Königsweg als Lösung Konsequenzen. Es gab Appelle, es gab Mit Ausnahme einer Frage: Wie stabil anbieten kann, so kann ich doch zumin- Demonstrationen, es gab Programme. und belastbar sind die Demokratie und dest beschreiben, was keine Lösungen Aber es mangelt schon an einer gründ- die Verfassung? sind. Und das ist mehr als nichts. lichen Analyse.

12 4. Mit dieser Kritik meine ich die gro- ist eine offene Andockstelle, die zum tik heraus, die sich alltäglich rechtsext- ße Politik, auch etliche relevanten Medi- Beispiel von der NPD oder von rechts- remistischen Strategien und Praktiken en, nicht aber zahlreiche Initiativen der extremistischen Kameradschaften of- widersetzen und für Toleranz und De- Zivilgesellschaft, auch nicht engagier- fensiv genutzt wird. mokratie werben. Nur: Sie stehen leider te Wissenschaftler. Es gibt viele Umfra- nicht hoch im Kurs. Mit dem jüngsten gen, soziologische Untersuchungen und 6. Nun komme ich noch mal auf den Bundes-Programm wurden sie ausge- fundierte Meinungen, die als Politik-Be- aktuellen Vorfall in Mügeln zurück. Er ist bootet. Der Kampf gegen Rechts wurde ratung eingestuft werden könnten und nämlich durchaus typisch und das auf verstaatlicht und in die Hände von Bür- ernst zu nehmen sind. Aber sie fallen zwei Ebenen. Ich beginne mit der loka- germeistern wie in Mügeln gelegt. bislang zumeist auf unfruchtbaren Bo- len Ebene. Der Bürgermeister wiegelte den – ein gefährlicher Leichtsinn. sofort ab. Rechtsextremismus gebe es 8. Mügeln habe ich als aktuelles Bei- Damit bin ich bei meiner zweiten These: in Mügeln nicht, schon gar keinen orga- spiel angesprochen und damit zugleich Rechtsextremismus wird vorwiegend nisierten, auch keine Ausländerfeind- indirekt ein Klischee bedient, das Ost- als Thema der Innenpolitik oder der Jus- lichkeit. Zur Erinnerung: 50 Teilnehmer Klischee. Denn wenn hierzulande all- tiz behandelt. Das ist kurzsichtig. Kurz- eines Volksfestes hatten plötzlich acht gemein über Rechtsextremismus die sichtig, weil es auf Repression, statt auf Inder gejagt. Rede ist, dann wird es vorwiegend als Prävention setzt. Kurzsichtig, weil es Ich kannte Mügeln bis dahin nicht. Al- Rand-, Jugend- oder Ostproblem behan- alle Fragen ausblendet, die rechtsext- so machte ich mich kundig. Nach einer delt. Das ist falsch. Wir haben es mit ei- reme Einstellungen und Taten begüns- halben Stunde wusste ich: Vor weni- nem bundesweiten Problem zu tun, das tigen. Und kurzsichtig, weil es die Ge- gen Jahren gab es in Mügeln einen Ju- inmitten der Gesellschaft zu Hause ist, sellschaft und die Individuen aus der gendclub, den Rechtsextreme für sich in Ost wie West, stets abrufbar und das Verantwortung entlässt. als „national-befreite Zone“ reklamiert alltäglich. Der oft gepriesene „starke Staat“ ist hatten. Die NPD wurde zuletzt von fast Vor Jahren gab es den Versuch, in keine Antwort auf den latenten Rechts- zehn Prozent aller Wähler gewählt. Und Deutschland endlich eine doppelte extremismus, Rassismus und Antise- im Ort ist noch immer ein Versandhan- Staatsbürgerschaft einzuführen. Die mitismus. Auch, weil der so genannte del registriert, der unter anderem CD‘s Grünen wollten es, die SPD schien ge- starke Staat immer weniger als demo- mit fremdenfeindlicher Hass-Musik ver- neigt und meine Partei hielt das ohne- kratischer, sozialer und gerechter Staat treibt. hin für überfällig. Dann ging die Union wahrgenommen wird. Die Menschen Ein Bürgermeister, der das nicht wahr- auf die Straße, im Westen. Sie sammel- spüren das. Demokratieverdruss gras- haben will, ist wirklich auf dem rechten te Unterschriften und sehr viele kamen siert. Genau das aber ist ein Einfallstor Auge blind. Aber das Problem liegt wie- und fragten. „Kann man hier endlich ge- für rechtsextreme Kameraden mit ihren derum tiefer. Offensichtlich gibt es wirk- gen Ausländer unterschreiben?“ Solche nationalistischen Parolen. lich keine organisierte rechtsextreme Motive und Vorbehalte sind bundesweit Szene, die das Pogrom von Mügeln vor- verbrieft. 5. Wir erleben diesen Einfall derzeit be- bereitet hat. Die nationale Volksseele Ein ähnliches Beispiel: Bundeskanzler sonders in den neuen Bundesländern. hatte sich unorganisiert Luft gemacht. Schröder wollte Computer-Spezialisten Das liegt an den Hinterlassenschaften Das ist viel schlimmer. Und der örtliche aus Indien anwerben. Die CDU konterte der DDR, lautet die bevorzugte Erklä- Bürgermeister findet noch immer, er mit dem rassistischen Slogan: „Kinder rung. Ja, das auch. Aber auch das ist und sein Mügeln würden diffamiert. statt Inder!“. Nun wurden in Mügeln In- eine oberflächliche Erklärung. Und die der gejagt. Es gibt keinen direkten Zu- Antworten, die folgen, sind es ebenso. 7. Nun zur zweiten Ebene, die Bun- sammenhang. Aber dieselben Politiker, Etwa: Der Osten habe ein Toleranz-De- despolitik. Sie reagierte nicht bes- die sich nach so genannten Vorfällen fizit. Oder: Es mangele den neuen Bun- ser, sondern nach erprobtem Muster. wundern, dass es brennt, legen häufig desländern an einer couragierten Zi- Erst schwappte die Empörung hoch. selbst die Lunte an einen latent aktivier- vilgesellschaft. Mein Befund ist viel Dann folgten wechselseitig parteipoli- baren Rassismus. schlimmer. tische Schuldzuweisungen. Wie zu er- Zunehmend schwindet in den neu- warten wurde debattiert, ob das Thema 9. Meine erste These war: Die Gefah- en Bundesländern die Zivilgesellschaft Rechtsextremismus besser beim Fami- ren, die von Rechtsextremismus und überhaupt, insbesondere in ländlichen lienministerium oder beim Innenressort Rassismus ausgehen, werden noch im- Regionen. Sie veröden, es gibt keine Ar- aufgehoben sei. Und dann folgte der mer unterschätzt. Das ist gefährlich. beit und mithin für viele auch keine Zu- Seitwärtsschritt: Nun müsse die NPD Meine zweite These hieß: Rechtsextre- kunft. Wer kann, der flieht in den Wes- endlich verboten werden. mismus wird vorwiegend als Thema der ten. Zurück bleiben Alte und minder Die Bundesebene reagierte also keinen Innenpolitik oder der Justiz behandelt. Qualifizierte. Meine Beschreibung ist Deut besser, als die Politik vor Ort. Auch Das ist kurzsichtig. Meine dritte These holzschnittartig. Aber sie beschreibt ein die Medien agierten wie gewohnt. Sie lautet: Rechtsextremismus wird in al- reales Problem, das weder durch die wallten auf und nach einer Woche war ler Regel als Störfall behandelt. Das wi- Polizei, noch durch die Justiz gelöst wer- alles wieder weg, raus aus den Schlag- derspricht aber den alltäglichen Tatsa- den kann. zeilen und raus aus dem Sinn. Damit bin chen. Viele Menschen fühlen sich entwürdigt, ich bei meiner dritten These: Rechtsex- Es gibt übrigens noch einen weiteren zunehmend auch in westlichen Regio- tremismus, Rassismus und Antisemitis- Debatten-Pfad. Der meint: Rechtsextre- nen. Sie fühlen sich machtlos gegenü- mus werden noch immer vorwiegend mismus und Rassismus gibt es in allen ber den Verhältnissen. Sie wollen sich als Vorfall behandelt, nicht aber als per- großen EU-Ländern, in Österreich eben- erheben. Und sie erheben sich gegen manente Herausforderung. so wie in Frankreich, Italien oder Spani- andere, indem sie diese erniedrigen. Wieder nehme ich alle Initiativen, Bünd- en. Eine stabile Demokratie müsse das Das ist keine Rechtfertigung. Aber das nisse und Organisationen aus dieser Kri- bis zu einem bestimmten Grad verkraf-

13 ten. Ich halte diese Auffassung für zy- den: die Bildungspolitik, die Kommunal- Aber es gibt auch andere Zeichen. Man nisch. Denn bevor Rechtsextremisten politik, die EU-Politik, die Kulturpolitik, braucht sich nur den Alltag ansehen: eine Gefahr für die Demokratie werden, die Sozialpolitik, die Sportpolitik, die Fi- Synagogen werden mit Pollern bewährt. sind sie eine Gefahr für Menschen. nanzpolitik und so weiter und so fort. Jüdische Kindergärten müssen von Po- In dieser Argumentation steckt zugleich Deshalb brauchen wir auch einen neu- lizisten bewacht werden. Bei Jüdischen eine Unterschätzung des Rechtsextre- en strukturellen Ansatz, der sich die- Fest- oder Gedenkveranstaltungen gilt mismus. Wir wissen von der NPD, dass sem umfassenden Anspruch öffnet. die höchste Sicherheitsstufe. Und Gide- sie eine klare Strategie verfolgt und Beide Vorschläge korrespondieren üb- on Joffe hat allen Berlinerinnen und Ber- zwar durchaus mit Erfolg. Sie will an rigens durchaus mit einem aktuellen linern als Härtetest empfohlen, sie soll- die Macht: erst im Kiez, dann im Land, Anliegen des Moses-Mendelssohn-Zen- ten nur mal einen Tag mit einer Kippa schließlich, wie sie sagt, im IV. deut- trums und zahlreicher Nichtregierungs- durch die Stadt gehen. schen Reich. Das darf man nicht als Organisationen. Sie regen einen Jah- Es gibt keine Normalität für Jüdinnen mitteleuropäische Normalität hinneh- resbericht der Bundesregierung über und Juden in Deutschland. Und die Nor- men und akzeptieren. Das muss als un- antisemitische Aktivitäten an. Beide, malität, die es gibt, ist alles andere, als normal geächtet werden. die unabhängige Beobachtungsstelle beruhigend. Berlin definiert sich selbst und eine Bundesbeauftragte für Demo- als eine weltoffene, tolerante Metropo- 10. Nun habe ich beschrieben, wie man kratie und Toleranz, könnten dafür hilf- le. Verschiedene Kulturen und Religio- das Problem aus meiner Sicht nicht in reich sein. nen gelten als Bereicherung und Chan- den Griff bekommt. Meine vierte The- ce. Das ist offizielle Senats-Politik. Das se ist daher: Wir brauchen endlich ei- 12. Nun will ich auf zwei weitere Vor- wird von Millionen Berlinern so gelebt. ne ressortübergreifende Strategie, die schläge eingehen, die im Gespräch sind. Aber der Alltag ist kein Karneval der Kul- sich auf Sachkompetenz stützt und auf Der erste zielt auf ein erneutes Verbots- turen. Er ist widersprüchlicher. die Stärkung der Zivilgesellschaft zielt. verfahren gegen die NPD. Ich bin da – Ich weiß, das klingt wie eine übliche Po- aus Erfahrung – sehr skeptisch. Das 14. Es gibt zahlreiche Umfragen, Un- litiker-Floskel. Deshalb will ich die drö- erste Verfahren war gescheitert, weil tersuchungen und Forschungsarbeiten ge Formel mit einigen praktischen poli- das Verfassungsgericht nicht mehr un- zum Thema „Antisemitismus“. Auch das tischen Vorschlägen illustrieren. terscheiden konnte, welches Verbotsar- American-Jewisch-Komittee hat ja eige- Wir, und damit meine ich DIE LINKE, for- gument originär von der NPD stammte ne in Auftrag gegeben. Ich brauche hier dern seit langem für die Bundesrepublik und welches von V-Leuten der Polizei also keine Zahlen zitieren. Sie weichen Deutschland eine unabhängige Beob- und Geheimdienste. Dieses Problem zuweilen auch voneinander ab. Und achtungsstelle für Rechtsextremismus, besteht fort. manche Methoden oder Definitionen, Rassismus und Antisemitismus nach Der zweite Vorschlag zielt auf einen De- nach denen „Antisemitismus“ messbar EU-Vorbild. Sie könnte stimmige Analy- mokratie-Gipfel, an dem von der Poli- gemacht werden soll, sind umstritten. sen erarbeiten. Das wäre wichtig. Denn tik über die Kirchen bis zu den Gewerk- Das alles will ich hier nicht beurteilen. ohne stimmige Analysen kann es auch schaften alle gesellschaftlich relevanten Aber eines belegen alle Erhebungen: Es keine klugen Strategien gegen Rechts- Gruppen teilnehmen. Einen solchen Gip- gibt einen latenten Antisemitismus, der extremismus, Rassismus und Antisemi- fel kann man einberufen. Aber er wird sich aus verschiedenen Quellen speist tismus geben. nichts lösen. Er kann bestenfalls eine und der jederzeit aktivierbar ist, bis hin Ich sprach eingangs über Zahlen, die Initialzündung sein und signalisieren, zu Gewalttaten. Wieder gilt das für Ost tiefstapeln. Zwei Gründe dafür will ich dass man gemeinsam die Herausforde- und West gleichermaßen. Und wieder nennen. Vielfach wird bei den Ermitt- rung Rechtsextremismus ernst- und an- gilt: So, wie es Ausländer-Feindlichkeit lungen vor Ort der rechtsextremistische nehmen will. ohne Ausländer gibt, so gibt es auch An- Hintergrund einer Tat nicht erkannt. Mehr nicht, womit ich bei meiner fünf- tisemitismus ohne Jüdinnen und Juden. Oder er wird bewusst geleugnet, weil ten These wäre: Im Kampf gegen Sie führen offenbar ein Eigenleben im Politiker Sorge um das Image oder um Rechtsextremismus, Rassismus und Deutschsein. den Wirtschafts-Standort ihrer Stadt Antisemitismus hilft uns kein „Aufstand Nun weiß ich auch, dass es sich nicht oder des Landes haben. Eine unabhän- der Anständigen“ mehr, dem alsbald die um ein deutsches Phänomen handelt, gige Beobachtungsstelle hätte diese Zuständigen abhanden kommen – wie sondern um ein weltweit anzutreffen- Blockaden nicht. im Jahr 2000 nach den Anschlägen auf des. Aber Antisemitismus in Deutsch- Jüdinnen und Juden in Düsseldorf. Wir land hat noch immer einen einmalig-bit- 11. Noch ein zweiter Vorschlag leitet brauchen vielmehr einen Marathon aller teren Beigeschmack. Deshalb habe ich sich aus meiner vierten These ab, al- Demokratinnen und Demokraten und mich übrigens seit Anfang der 90er Jah- so der nach einem ressortübergreifen- das mit langem Atem. re für das Mahnmal für die ermordeten den Ansatz. Ich habe vorgeschlagen, Jüdinnen und Juden eingesetzt. Und ich eine Beauftragte des Bundestages für 13. Im letzten Teil meines Beitrages freue mich, welchen Zuspruch es seit Demokratie und Toleranz einzusetzen, möchte ich explizit noch etwas zum Anti- seiner Eröffnung findet. die im Bundeskanzleramt alle Aktivitä- semitismus sagen. Wir hatten dieser Ta- ten gegen Rechtsextremismus und Ras- ge ja zwei herausragende Ereignisse in 15. Gleichwohl haben wir es beim Anti- sismus koordiniert. Auch, um damit von Berlin: erst in Berlin-Prenzlauer Berg die semitismus mit einer besonderen Form der verengten Zuständigkeit der Innen- Wiedereröffnung der größten Synagoge des Fremden-Hasses zu tun. Antisemi- politik und der Justiz wegkommen. in Deutschland und dann die feierliche tismus ist keine Einstellung, die sich Denn ich finde: Alle politischen Ressorts Einweihung des Chabad-Lubawitsch- vorwiegend im rechten Spektrum fin- haben eine Verantwortung dafür, dass Zentrums in Berlin-Wilmersdorf. Beide det. Man findet sie massiv in islamis- Rechtsextremismus, Rassismus und wurden zu Recht als Zeichen deutscher tisch geprägten Milieus. Man findet sie Antisemitismus zurückgedrängt wer- Zukunft im neuen Berlin gewürdigt. am linken Rand. Und man findet sie

14 selbst in Parteien, die sich ausgespro- fechterin von Pflicht-Literatur. Aber Vic- nicht arbeitslos sind – als Gemüsehänd- chen liberal sehen und sich selbst für tor Klemperers „LTI“ sollte schon wieder ler, als Apotheker, als Lehrer, als Putz- die eigentliche Partei der Mitte halten. etwas bekannter werden. frau oder als Gastwirt arbeiten. Ich meine die FDP. Sie schilderten mir plausibel und aus Ich habe noch gut in Erinnerung, wie der 16. Fakt ist, dass sich zuweilen eigenar- eigenem Erleben, wie sich die großen FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann mit tige Allianzen finden. Linke marschieren Welt-Konflikte bei der Jugend im Kiez seinem „Projekt 18“ auf Stimmenfang auf Pro-Hisbolla-Demonstrationen mit. spiegeln. Dass sich dort Gangs bilden, ging und dabei auch antisemitische Vor- Extrem-Rechte verbünden sich mit Mus- die sich entweder Pro-Israel oder Pro- urteile bediente. Am „Projekt 18“ hat limen, die Gewalt verherrlichen. Durch- Palästina definieren. Dass sie sich zu- mich übrigens schon die Bezeichnung aus berechtigte Kritik an der Politik Isra- nehmend bewaffnen. Dass sie sich des erregt. Denn „18“ ist bekanntlich ein els – ich habe sie auch – vermischt sich Nachts belauern und übereinander her- Code alter und neuer Nazis. Es steht für so mit blankem Juden-Hass. Ich habe es fallen. Es geht um 12- bis 16-Jährige, um den ersten und den achten Buchstaben in Berlin selbst gesehen. Scheinbare po- die kommende Generation. Es geht um im deutschen Alphabet, für „A“ und „H“, litische Lager werden fließend, unbere- Berlin, das weltoffene und tolerante. für „“. chenbar, gefährlich. Was bei Möllemann möglicherweise Ab- Vor kurzen war ich in Berlin-Neukölln Schluss-Satz: Auch darauf habe ich sicht war, ist bei anderen vielleicht pu- bei Sozialarbeitern. Sie haben sich zu noch keine brauchbare Antwort. Aber re Unwissenheit. Ich werde jedenfalls einem Verein zusammen geschlossen. auch dieses Beispiel belegt: Rechtsex- immer hellhörig, wenn selbst in öffent- Sie engagieren sich gegen Gewalt und tremismus, Rassismus und Antisemitis- lich-rechtlichen Nachrichten von „Mau- Fremdenfeindlichkeit. Sie sind im Kiez mus sind keine Störfall aus der Vergan- scheleien“ die Rede ist, nachdem in der aktiv. Dort, wo verschiedene Nationa- genheit, sondern eine politische und vor Wirtschaft oder in der Politik ein Korrup- litäten leben, wo ihre Kinder zur Schu- allem gesellschaftliche Herausforderung tionsfall publik wurde. Ich bin keine Ver- le gehen und wo die Eltern – wenn sie für die Gegenwart und die Zukunft.

Schulgeschichte(n) und Rechtsextremismus Anmerkungen über Immobilien und Aufarbeitung von Geschichte bei der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus im Landkreis Barnim

Schon seit geraumer Zeit gibt es ge- chendere Zielstellung in der Auseinan- Geschichtsaufarbeitung zielte Aktivitäten der NPD und anderer dersetzung mit Rechtsextremismus und im Baudenkmal Rechtsextremisten, für die Schulung ih- rechtem Zeitgeist. Bereits Anfang Dezember vergangenen rer Kader, für Übungszwecke verschie- Sicher gibt es hinsichtlich der Kaufge- Jahres fand in Bernau bei Berlin, kon- denster Art und für neue Möglichkeiten lüste der NPD auch manche Spekulati- kret in einem sehr geschichtsträchti- in der Öffentlichkeitsarbeit geeignete on und Überschätzung ihrer tatsächli- gen Gebäude eine bemerkenswerte Immobilien, größere Areale oder auch chen Möglichkeiten. Manchmal hat es wissenschaftliche Veranstaltung statt, kleine Läden zu erwerben. den Anschein, die NPD suche bewusst an der seitens der Arbeitsgemeinschaft Delmenhorst, Verden, kleine Orte im fla- über diesen Weg öffentliche Plattfor- Rechtsextremismus/Antifaschismus chen Land der Prignitz oder jüngst Na- men. Auch sind wiederholt genannte fi- beim Parteivorstand der Linken Prof. Dr. zi-Läden in den Hansestädten Rostock nanzielle Manipulationen oder illegale Rolf Richter vom Sprecherrat und Prof. und Wismar fanden in diesem Zusam- Spenden von Besitzern der Immobilien Dr. Klaus Böttcher teilnahmen. Die Ne- menhang ein starkes Interesse in Medi- zugunsten der Neonazis schwer zu be- onazis hatten im Vorfeld mit massiven en und Öffentlichkeit. weisen. Störungen gedroht, beließen es aber bei In der Regel, manchmal allerdings auch Fest steht indes mit großer Sicherheit, der Ankündigung. erst nach Impulsen überregionaler Medi- dass der Erwerb von Immobilien eine Bei dem betreffenden Gebäude handelt en, formierte sich nach Aufdeckung der spezifische Funktion in der Durchset- es sich um die 1928 im Bauhausstil er- Absichten der Rechtsextremen rasch zi- zung rechtsextremistischer Strategien richtete Bundesschule des Allgemei- vilgesellschaftlicher Widerstand. Neue hat. Unstrittig dürfte auch sein, dass nen Deutschen Gewerkschaftsbundes Bündnisse entstanden, Bürgermeister Neonazis zielstrebig auf der Suche sind, (ADGB). Vielen ehemaligen DDR-Bür- stellten sich an die Spitze des Protes- aus welchen Motiven auch immer, und gern auch bekannt als Gewerkschafts- tes, viele praktische Initiativen fanden sich auch gern in Gebäuden umsehen, in hochschule „Fritz Heckert“ des FDGB, Zuspruch – vom symbolischen Auskeh- denen früher zeitweilig der braune Geist die dort nach dem 2. Weltkrieg ihren ren des braunen Unrats in den Orten bis zu Hause war und wo sich eventuell et- Sitz hatte. zu Geldsammlungen und Spenden für was für die Traditionspflege tun lässt. Obwohl ich früher sehr häufig dort war, „Rückkäufe“ der von den Neonazis ins Die beiden folgenden Einrichtungen im hatte ich nunmehr schon viele Jahre die- Visier genommenen Objekte. Landkreis Barnim wurden ausgewählt, sen Gebäudekomplex nicht mehr gese- In mehreren Orten blieb der Protest weil sich der Autor nachhaltig mit ihnen hen. Offen gestanden, ich war von den nicht begrenzt auf die Erreichung des und ihrer Tätigkeit in den Jahren huma- Veränderungen tief beeindruckt und unmittelbaren Ziels, der Verhinderung nistischer Bildung und gelebter Solidari- noch mehr von der Leistung, die der des Kaufes, sondern er bekam eine sta- tät verbunden fühlt. Beispiele ähnlicher ehrenamtlich tätige Verein „baudenk- bilere und längerfristige sowie weitrei- Art aber gibt es viele in diesem Land. mal bundesschule bernau“ zur Rettung

15 dieses einzigartigen Baudenkmals er- wurden in diesem international bedeut- dafür, dass all das, was bereits über die- bracht hat. samen Baudenkmal Verbrechen gegen sen Ort des Verbrechens bekannt war, Die Veranstaltung selbst schien auf den die Menschlichkeit geplant und Füh- was man über diesen Täterort wusste, ersten Blick, schaut man auf den Ver- rungskräfte zu ihrer Verwirklichung ge- nur die Spitze des Eisbergs war. einsnamen, etwas deplaziert zu sein. schult. In der Tat, die Teilnehmer erfuhren scho- Nahm sie doch ein Thema auf, das sich, Angesichts der beunruhigenden Aktivi- ckierende Fakten, die Betroffenheit aus- sieht man von einem sehr informativen täten von Neonazis und Rechtsextremis- lösen und an die eigene heutige Verant- und faktenreichen Beitrag zur Rezepti- ten sei die Aufarbeitung dieses Kapitels wortung appellierten. onsgeschichte der Bundesschule des der Geschichte auch eine besonders ak- Im Einzelnen handelt es sich um sieben ADGB in Bernau 1928–2005 ab, in der tuelle und dringliche Aufgabe. Beiträge, plus den bereits erwähnten Tat nicht vorrangig mit Architektur, Bau- Die Aufarbeitung der Geschichte sol- Beitrag zur Rezeptionsgeschichte und haus oder Weltkulturerbe beschäftigte. le helfen, möglichst viele Menschen in einen Beitrag über die Eröffnung der Aber wie gesagt, wirklich nur auf den Kenntnis der Verbrechen der Vergan- Reichsführerschule im Spiegel der loka- ersten Blick schien die Veranstaltung genheit rechtzeitig zum Widerstand ge- len Presse. vom Thema her etwas aus dem Rahmen gen neue Gefahren aufzurütteln und sie Inhaltlich konzentrieren sich die Beiträ- des Vereins zu fallen. Das Gegenteil war mit Wissen und Argumenten für die Aus- ge auf die Zeitschiene der jeweils funk- der Fall, diese Veranstaltung war ganz einandersetzung mit dem Rechtsextre- tionalen Nutzung der Gewerkschafts- und gar nicht abwegig in diesen Räu- mismus ausrüsten. Es werde manche schule zwischen 1933 und 1945. men, sondern sogar dringend erforder- Betroffenheit geben über bisherige Un- Beginnend mit dem Raub gewerkschaft- lich. Über 100 interessierte Teilnehmer, kenntnis bzw. ungenügende Kenntnis lichen Eigentums und der Indienststel- unter ihnen viele Gewerkschafter und über das Ausmaß der Verbrechen, die lung der Gewerkschaftsschule für das Kommunalpolitiker; natürlich – und ich hier geplant und umgesetzt wurden. Naziregime, behandeln weitere Beiträ- schreibe dies mit allem Respekt – auch Dieser Verantwortung müsse man sich ge die Zeit als Reichsführerschule der der Bernauer Bürgermeister Hubert nicht nur in Bernau stellen. NSDAP und der Deutschen Arbeiter- Handtke (CDU), sahen das offensicht- Gleichzeitig wurde betont, dass falsche front (DAF), danach als Ausbildungs- lich ebenso. Betroffenheit ebenso wenig helfe wie und Schulungsstätte von Sicherheits- Organisiert und inhaltlich getragen vom denunziatorische Ansätze. Es gehe bei polizei und Sicherheitsdienst der SS, Verein bbb, dem Zentrum für Antisemi- der Darstellung geschichtlicher Fakten folgend als Trainingsort für die Insze- tismusforschung an der Technischen weder um Sensationslust noch um ei- nierung des Überfalls auf Polen und Universität Berlin und der Handwerks- ne Stigmatisierung der Stadt Bernau bei schließlich als Außenstelle des Reichs- kammer Berlin, wurde ein Thema auf- Berlin, auf deren Territorium dieses Are- sicherheitshauptamtes, der Terrorzent- gegriffen, das sich mit dem dunkels- al lag bzw. liegt. rale des Nazi-Regimes. ten Kapitel dieser Einrichtung befasste, Offensichtlich Bezug nehmend auf die Den Autoren dieser Beiträge Miriam Bis- das aber nicht ausgeklammert werden Situation in vielen Kommunen, in de- trovic, Dagmar Lieske, Angelika Benz, darf, eben weil es zu dessen Gesamt- nen sowohl bei historischen Fakten als Peter Steininger, Phillip Wegehaupt, Ma- geschichte gehört, dem „Schicksal der auch aktuellen Aktivitäten von Neona- rio Wenzel, Yasemin Shooman, Hendryk ADGB-Bundesschule im Dritten Reich zis aus Furcht vor angeblichen Image- Rohn und Tobias Hillmer ist ausdrück- 1933–1945“. schäden und „Nestbeschmutzern“ im- lich für ihre wissenschaftliche Tief- Inzwischen sind die vorgestellten For- mer wieder verschwiegen, verharmlost gründigkeit und historische Akribie zu schungsergebnisse unter dem genann- und gedeckelt wird, wurde wiederholt danken. Hier nur einzelne Fakten her- ten Titel vom Verein bbb und unterstützt betont, dass die Stadt Bernau keine ne- auszugreifen, erscheint wenig sinnvoll. von der Landeszentrale für Politische gative Sonderstellung gegenüber ande- Es lohnt sich, nachzulesen! Bildung im Land Brandenburg in einem ren Städten in Deutschland einnehme. Nur auf zwei Dinge sei abschließend umfänglichen Heft der Reihe „Beiträge Sie sei kein Ort der Täter. noch verwiesen. Die in dieser Einrich- zur Bau-und Nutzungsgeschichte“ ver- Es gehe vorrangig um den souveränen tung tätigen, an Lehrgängen teilneh- öffentlicht worden und können einem Umgang souveräner Bürger mit der Ge- menden oder dort als Gast weilenden breiten Leserkreis empfohlen werden: schichte ihres Ortes. Enträtselung der Leute waren nicht irgendwelche kleine Für eine Gebühr von vier Euro zu be- Vergangenheit sei in erster Linie Auf- Nazis, sondern sie gehörten zu deren ziehen über Verein baudenkmal bun- klärung und Aufklärung bedeute keines- ranghöchsten, gefährlichsten und skru- desschule bernau e. V./Hannes Meyer wegs Imageverlust. Die Stadt könne da- pellosesten Vertretern. Campus 9, 16321 Bernau, Tel.: 03338 bei nur gewinnen und die Erfahrungen Adolf Hitler, Adolf Eichman oder Julius 767875. besagen auch eindeutig, dass man mit Streicher sind schon Aussage genug. In den einleitenden bzw. abschließen- einer wissenschaftlichen und sachli- Auch handelte es sich nicht nur um so den Bemerkungen verwiesen Prof. Dr. chen Geschichtsaufarbeitung auch Ne- genannte Schreibtischtäter, sondern Heinz Deutschland vom Verein bbb, der onazis nicht in die Hände arbeitet, son- auch um Nazis, die direkt und führend Geschäftsführer der Handwerkskammer dern sie vor allem entlarvt. an der Ermordung vieler Menschen be- Berlin und Prof. Dr. Wolfgang Benz, Lei- Die auf der Veranstaltung vorgestellten teiligt waren. Auch das wird in den Bei- ter des Zentrums für Antisemitismusfor- Ergebnisse, es handelte sich übrigens trägen nachgewiesen. Von vielen Per- schung, auf die aktuelle Relevanz des um ein Projekt von Studenten der Ge- sonen liegen biographische Angaben Themas und die zwingende Notwendig- schichtswissenschaft an der TU Berlin (auch nach 1945) vor. Sie zeigen einer- keit seiner sachlichen Aufarbeitung. unter der wissenschaftlichen Leitung seits die Dimension der begangenen In der fast achtzigjährigen Bau- und Nut- von Prof. Dr. Wolfgang Benz, waren fak- Verbrechen, aber andererseits auch, zungsgeschichte der Einrichtung waren tenreiche Resultate intensiver Forschung wie abgeurteilte Straftäter in der Bun- die Jahre der Nazibarbarei nur eine rela- und lieferten, wie es Prof. Deutschland desrepublik beträchtliche Höhen auf tiv kurze Zeit. Aber gerade in dieser Zeit ausdrückte, den überzeugenden Beweis Karriereleitern erklimmen konnten. An-

16 gesichts dessen im „verordneten Anti- sammenhang mit Verkaufsangeboten obwohl er so nahe lag. Das muss ich ak- faschismus“ der ehemaligen DDR eine des Landes Berlin als Eigentümer, das zeptieren. Hauptursache für den heutigen Rechts- allein für die notdürftige Unterhaltung Doch dann nach gut einhundert Me- extremismus in den neuen Bundeslän- der Immobilie jährlich 255 000 Euro tern Fußweg war die Gruppe angekom- dern auszumachen, so Heinz Deutsch- ausgibt, und der gleichzeitigen Sorge, men, wie es auch gesagt wurde, bei der land, sei mehr als fragwürdig. Auch der dass damit auch NPD-Begehrlichkeiten nächsten Diktatur, der späteren Jugend- Geschäftsführer der Handwerkskammer zum Erwerb dieser Immobilie geweckt hochschule. Dort habe ich mich sehr unterschied sehr wohl zwischen zwölf werden könnten. höflich an der Diskussion beteiligt, zu sehr dunklen Jahren und den mehr als Letzteres ist ziemlich ausgeschlossen, lückenhaft und klischeebeladen waren sechzig folgenden. weil alles mehrere Nummern zu groß die dort geäußerten Vorstellungen über für diese Partei wäre und es auch kein das Leben an dieser Bildungsstätte. Schwierigkeiten mit der Wahrheit anderer normaler Bieter zulassen wür- Ich redete also über die Geschichte der am Bogensee de, das große Objekt vielleicht mit der Einrichtung, über das tägliche Leben, Etwa fünfzehn Kilometer von Bernau NPD zu teilen, sollte diese vielleicht nur über Lehrpläne und Höhepunkte; auch entfernt, nahe Wandlitz und inmitten ei- das Goebbelschen Anwesen oder Teile über Fehler, Irrtümer und Versäumnis- nes großen Waldgebietes am idyllischen davon erwerben wollen. se. Ich sagte auch, dass ich mich histo- Bogensee gelegen, gibt es eine weitere Dennoch halte ich es für sehr richtig, rischen Tatsachen und ihrer sachlichen ehemalige zentrale Bildungseinrichtung. dass sich frühzeitig Widerstand regt Darstellung verpflichtet fühle. Zu mei- Vielen bekannt als Jugendkochschu- und der NPD oder anderen Neonazis nem eigenen Erstaunen wurde ich nur le „Wilhelm Piek“. Bis 1989 studierten klar gemacht wird, dass demokratische mit Nachfragen, sogar recht vielen, un- hier und an ihren Außenstellen jährlich Kräfte es nicht zulassen werden, even- terbrochen. fast 500 junge Leute, meist Mitglieder tuelle Kaufgelüste zu realisieren. Die Wanderer waren überrascht, zu er- der FDJ oder von linken Jugendorganisa- Wichtige Entscheidungsträger sind sen- fahren, dass hier FDJler zusammen mit tionen aus vielen Ländern. sibilisiert. Der Wandlitzer Bürgermeis- Jugendlichen aus über 50 Ländern welt- Ähnlich wie die ehemalige Gewerk- ter hat sich wiederholt in Medien geäu- offen, freundschaftlich und tolerant zu- schaftshochschule hat auch diese Ein- ßert und die Gemeindevertretung, die sammen studierten und lebten. Ras- richtung eine geteilte Traditionslinie. Sie über das Planungsrecht für das Gelän- sismus blieb außen vor. Zutiefst fühlte wurde nach dem 2. Weltkrieg, übrigens de verfügt, wird auf Beteiligung dringen, man sich antifaschistischen Idealen weitgehend aus Ruinenmaterial der zer- sollten irgendwelche Entscheidungsver- verpflichtet und traf sich oft mit Men- störten Hauptstadt erbaut auf einem fahren des Senats anstehen. Auch die schen, die den Faschisten Widerstand weitläufigen Areal, auf dem sich auch Barnimer Landtagsabgeordneten Ralf geleistet hatten und in Konzentrations- der ehemalige Landsitz des Nazi-Ideolo- Christoffers und Margitta Mächtig von lagern gepeinigt wurden. Die Schule gen Josef Goebbbels befand bzw. noch der Partei „Die Linke“ haben sich be- war 1985 (übrigens: 10 Jahre später or- befindet. reits mehrfach mit Vertretern des Ber- ganisiert von der Brandenburger Lan- Bis auf eine kleine Waldschule in einem liner Senats verständigt. desregierung erneut) Gastgeber für al- der ehemaligen Goebbelschen Häuser All das ist zu begrüßen, doch es reicht le damals noch lebenden Häftlinge des bietet der gesamte Komplex ein trost- nicht, wenn gleichzeitig DDR – Ge- KZ-Sachsenhausen. Die Studenten hat- loses Bild. Nachdem der Internationale schichte, auch die Geschichte am Bo- ten sich „selbst verordnet“, Jahr für Jahr Bund als Nachnutzer den Standort vor gensee, willkürlich umgeschrieben, ver- am Tag der Beendigung ihres Studiums Jahren verlassen hat, stehen die Häuser fälscht, verschwiegen oder gar entsorgt nach Sachsenhausen zu fahren, um der leer und sind dem Verfall preisgegeben. wird. Opfer der faschistischen Diktatur zu ge- Die seit 1999 denkmalgeschützten Ge- Ein kleines Beispiel: Zum Bogensee denken. bäude wirken auf den Besucher wie ei- kommen viele Wandergruppen, manche Der antifaschistische Geist, der hier ne riesige Filmkulisse in der Drehpause. einfach „nur so“ und andere auf kom- herrschte, könnte sehr hilfreich sein Die Natur holt sich nach und nach das merzieller Basis und geführt unter Slo- bei der Vertreibung des braunen Spuks Areal zurück. gans wie „Geheimnisvoller Bogensee“, „ heute. Man sollte darüber sprechen, in Zum zeitweiligen Publikumsmagneten Das Geheimnis am See“ usw. der Kommune und in den Medien. wurde die Einrichtung wiederholt, als Ich schließe mich einer etwa zwanzig- Aber es wird geschwiegen und ver- im SFB und später mehrfach im RBB ein köpfigen Wandergruppe aus dem West- schwiegen. Sogar im „Neuen Deutsch- Dokumentarfilm von Dora Heinze über teil an. Nein, keine braunen Ge- land“ wird in einem Bericht über das den „geheimnisvollen Bogensee“ ge- sellen oder totalitär verbohrte Leute. Sie teure Anwesen am Bogensee nur über sendet wurde und Stefan Berkholz im wandern halt und wollen sich bilden. den „leer stehenden Landsitz des eins- Linksverlag das Buch „Goebbels Wald- Alles am ehemaligen Landhaus von Go- tigen NS-Propagandaminister Joseph hof am Bogensee – Vom Liebesnest ebbels Gesagte (hier schrieb er zum Goebbels“ oder über das „weitläufige zur DDR-Propagandastätte“ herausgab. Beispiel am 1. Mai 1933 in sein Tage- Areal von Goebbels Waldhof am mär- Beiden Autoren kann ich bescheinigen, buch: „Und morgen werden wir die Ge- kischen Bogensee“ geschrieben. Über viel hinterfragt und sich um Objektivi- werkschaftshäuser besetzen!“) konnte vierzig Jahre Jugendhochschule finden tät bemüht zu haben, auch wenn diese ich nur unterstreichen: Der Wanderlei- mit keiner Silbe Erwähnung. Wer sich nicht in allen Teilen sichtbar wurde und ter wusste viel über den braunen Spuk, da wohl ins Fäustchen lacht. besonders im Film einige Halbwahrhei- wirklich eine kurze, aber interessante Und was das Geheimnisvolle betrifft, ten und sogar Lügen einer ehrlichen Ge- Geschichtsstunde. Viel zu wenig wur- so wären ebenfalls viele Fakten dage- schichtsbetrachtung vorgezogen wur- de dieser Wahnwitz des faschistischen gen zu nennen, die belegen, dass die den. Hauptideologen später an der Jugend- Jugendhochschule gewiss kein öffent- In jüngster Vergangenheit kam Bogen- hochschule aufgearbeitet, nicht tief- liches Ausflugslokal am See war, son- see wieder in die Öffentlichkeit im Zu- gründig und nicht umfassend genug, dern dass es trotz mancher übertriebe-

17 ner Sicherheitsmaßnahmen zugänglich Nachsatz torischen Wahrheiten und antifaschis- und offen war für sehr viele. Nur Nazis Vor kurzem bildete sich auf Initiative ei- tischen Lebensmaximen verpflichtet mussten immer draußen bleiben! nes jungen Mannes aus Sachsen, des- fühlt. Von den Leuten der Wandergruppe ver- sen Eltern als Lehrer am Bogensee tä- Die Aufgabe, zu verhindern, dass noch abschiedete ich mich per Handschlag. tig waren und der seine Kindheit dort einmal Nazis die Gebäude in Besitz neh- Für mich war es ein schöner Nachmit- verbrachte, ein Freundeskreis der Ju- men könnten, stand bei dem ersten tag, der die Erkenntnis schärfte, dass es gendhochschule „“. Ein Treffen mit etwa fünfzig Teilnehmern da- manchmal auch die kleinen Dinge sind, loser Zusammenschluss, bei dem nos- bei ganz oben. die etwas gegen rechtsextreme Ideolo- talgische Erinnerungen sicher ziemlich gie und Gewalt bewirken können. weit hinten stehen, der sich aber his- Professor Dr. Klaus Böttcher

„Wir haben nur unsere Pflicht getan“ Zur Geschichte der HIAG, der Lobby der Waffen-SS, in der Bundesrepublik Deutschland1

Karlburg im Juli 1957. Der Saal ist zum kel 131 des Grundgesetzes profitieren waren. Im Verlauf des Krieges stieg die Platzen gefüllt. Biertische in langen Rei- konnten. Die HIAG war aber auch ei- Mitgliederzahl in der Waffen-SS, die nun hen. Männer in Anzügen, die meisten ne Lobbygruppe, der es über Jahrzehn- „quasimilitärische Funktionen“ erfüll- nicht mehr ganz jung, aber auch noch te hinweg gelang, die Beteiligung der te, stark an und lag Ende Juni 1944 bei nicht alt, springen auf, begeistert. Hier Waffen-SS an Kriegsverbrechen zu ver- fast 600.000 Mann. Ab 1943 wurden lebt sie noch, die alte Kameradschaft schleiern. Zu diesem Zweck, so legte es auch Ausländer und ursprünglich nicht des Krieges, so empfinden es die Teil- die Satzung der HIAG fest, sollten „sta- SS-taugliche Freiwillige eingegliedert, nehmer, allesamt ehemalige Mitglie- tistische, soziologische und geschicht- zudem verpflichtete das Regime auch der der Waffen-SS. Man habe sein Le- liche Erhebungen über die Entwicklung Wehrpflichtige gegen ihren Wunsch zur ben nicht der Befriedigung materieller und den Einsatz der ehemaligen Waffen- Waffen-SS. Deren schwer bewaffnete Bedürfnisse, sondern einem „sinnvol- SS“ angefertigt werden. Das Urteil des Verbände kämpften häufig mit „exzes- leren Zweck gewidmet“, sagt der Red- Nürnberger Hauptkriegsverbrecherpro- siver Härte“. Sie waren an zahlreichen ner. Es ist , „Panzermeyer“, zesses vom 1. Oktober 1946, das die Kriegsverbrechen beteiligt, unter ande- ehemaliger General der Waffen-SS, Rit- Waffen-SS zu einer „verbrecherischen rem an dem Massaker gegen Zivilisten terkreuzträger und im Jahr 1944 Kom- Organisation“ erklärte, wiesen die Ve- im französischen Oradour-sur-Glane, an mandeur der 12. SS-Panzerdivision teranen entschieden zurück. Sie sahen Zivilistenerschießungen in Italien sowie „Hitlerjugend“ in der Normandie. Seine sich selbst als „Opfer“, die im Krieg nur an „Racheaktione“ gegen vermeintliche Zuhörer blicken zu ihm auf, dem „unge- ihre Pflicht getan hätten und nun in un- Partisanen auf dem Balkan. beugten Kriegshelden“. „Haltung“, „Eh- gerechtfertigter Weise als Sündenböcke Trotz dieser Vergangenheit waren die re“, „Treue“ – solche Worte hört man hingestellt würden. Man habe sich, wie HIAG und andere Veteranenverbän- oft an diesem Tag. Von der eigenen Ver- es auch die ehemaligen Wehrmachtsan- de ein weitgehend akzeptierter Teil der antwortung für die Verbrechen im deut- gehörigen für sich in Anspruch nah- bundesrepublikanischen Öffentlichkeit schen Faschismus ist nicht die Rede. men, nichts vorzuwerfen. Auch sei man der 1950er Jahre. Die Amnestierung nicht bereit, „auf die Dauer die Paria zu und Integration von ehemaligen Na- Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten min- spielen“, zugunsten der „Herren Kolla- zis wurde parteiübergreifend als eines destens 250.000 ehemalige Angehörige borateure und Gewinner des Dritten der vordinglichen innenpolitischen Pro- der verschiedenen Waffen-SS-Einheiten Reichs“. bleme verstanden. Entgegen den Ent- in Deutschland, die meisten von ihnen nazifizierungsbemühungen der Besat- im Westen. Aus ihren Reihen wurden „Totale Kampfgemeinschaft“ zungsmächte herrschte in der jungen seit 1949 die ersten „Hilfsgemeinschaf- Die 1934 von Heinrich Himmler ins Le- Bundesrepublik eine „Schlußstrichmen- ten auf Gegenseitigkeit der ehemaligen ben gerufene „SS-Verfügungstruppe“ talität“. Die Gesellschaft „entnazifizier- Angehörigen der Waffen-SS“ (HIAG) ge- wurde im Herbst 1939 mit den so ge- te“ sich gleichsam selbst, indem sie gründet, die sich 1953 zu einem einge- nannten Totenkopfverbänden vereinigt, sich, wie der Historiker Norbert Frei tragenen Verein zusammenschlossen. in Waffen-SS umbenannt und perso- überzeugend herausgearbeitet hat, mit Die HIAG verfolgte praktische und ide- nell massiv aufgestockt. Es handelte den vermeintlich „Entnazifizierungsge- ologische Ziele. Sie sollte in Not gera- sich um eine relativ kleine Eliteeinheit schädigten“ solidarisch erklärte. Schuld tenen Mitgliedern bei der Arbeitssuche von zunächst nur 25.000 Mann, die an den Verbrechen des „Dritten Reichs“ helfen, Angehörige ehemaliger „Kame- sich aus Freiwilligen rekrutierte, die den sei allein ein kleiner Kreis von höchsten raden“ unterstützen und vermisste Waf- völkischen „Rassekriterien“ entspre- NS-Funktionsträgern gewesen. fen-SS-Mitglieder suchen. Zudem streb- chen mussten. Diese Männer bezeich- In diesem Klima gelang es den Solda- te sie die rechtliche Gleichstellung der nete der Historiker Bernd Wegner als tenverbänden, die Legende vom „unbe- Soldaten der ehemaligen Waffen-SS „politische Soldaten“, die eine „tota- fleckten Soldaten“ erfolgreich zu etablie- mit ehemaligen Wehrmachtsangehöri- le Kampfgemeinschaft“ formen sollten ren – wobei ihnen der beginnende kalte gen an, damit die SS-Männer ebenfalls und stolze Träger und Künder der na- Krieg und die Einbindung der Bundesre- von Versorgungsleistungen gemäß Arti- tionalsozialistischen Weltanschauung publik in das westliche Verteidigungs-

18 bündnis zu Hilfe kamen. Die aggressive Der SPD-Vorsitzende rechtfertigte sein der bundesrepublikanischen Vergan- antikommunistische Agitation der West- Treffen mit der HIAG kurz darauf in ei- genheitsbewältigung möglichst vermie- mächte ließ sich ohne große Probleme nem Brief an den bekannten jüdischen den werden. Revanchistische Parolen, als Fortsetzung des Hitlerschen Antibol- Professor Liebmann Hersch, selbst über- wie sie etwa der Fallschirmjägergene- schewismus verstehen. Die große Ak- zeugter Sozialist, indem er die meisten ral Hermann Bernhard Ramcke beim zeptanz des Antikommunismus in der Waffen-SS-Mitglieder verblendete junge HIAG-Treffen 1952 in Verden an der Al- Bundesrepublik erschwerte die selbst- Menschen nannte, die „sich selbst als ler verbreitete, indem er die „Väter des kritische Auseinandersetzung mit der eine Art vierter Wehrmachtsteil gefühlt“ Versailler Vertrages“ als die „wahren eigenen Vergangenheit. hätten und „damals auch so gewertet Kriegsverbrecher“ bezeichnete, nannte Die HIAG bekannte sich zum Grundge- worden“ seien. Wenn man Kumms Erin- Bundeskanzler Konrad Adenauer verär- setz der Bundesrepublik und verstand nerungen glaubt, die er 1978 in der HI- gert eine „äußerst schädliche Angele- sich als politisch „neutral“. So schrieb AG-Verbandszeitschrift „Der Freiwillige“ genheit“ und „unverantwortlich“. Trotz- im Jahr 1951 (1880 bis publizierte, sagte Kurt Schumacher da- dem besuchte er 1953 den eingangs 1972), ehemaliger SS-Oberstgruppen- mals sogar zu, sich „nach Kräften“ für genannten Kurt Meyer im Zuchthaus in führer und Generaloberst der Waffen- eine „Aufhebung der Diffamierung“ ein- Werl, wo dieser als verurteilter Kriegs- SS, an die Bundestagsfraktionen der zusetzen. verbrecher einsaß. Im gab Parteien, „dass die HIAG jeden Radika- Die FDP tat dies bereits systematisch. Adenauer wenige Wochen später sogar lismus, sei er von rechts oder von links“, Der Bundestagsabgeordnete Erich Men- eine „Ehrenerklärung“ für die Waffen-SS ablehne. Gegen die Bezeichnung „Neo- de und Wehrmachts-Major a. D., spä- ab, die ganz der Verbandsrhetorik der faschisten“ verwahrte er sich „schärfs- ter Minister für Gesamtdeutsche Fra- HIAG folgte. Die Waffen-SS sei scharf tens“. Die HIAG propagierte jedoch ein gen, legte auch nach dem Krieg sein von der regulären SS zu unterscheiden strenges Leistungsprinzip und das „Le- 1944 erhaltenes Ritterkreuz öffentlich und mit Wehrmachtsverbänden ver- bensgesetz des Kampfes“. Intern war an und pflegte beste Verbindungen zu gleichbar. 1959 wurde Meyer der erste sie nach dem „Führerprinzip“ organi- den Veteranen der Waffen-SS. Die In- Vorsitzende des sich nun „Bundesver- siert. Der jeweilige Bundesvorstand for- tegration der ehemaligen Soldaten und band der Soldaten der ehemaligen Waf- derte unbedingte Loyalität von den Orts- SS-Männer war ein wichtiges Ziel der fen-SS e. V. (HIAG)“ nennenden Organi- verbänden und einzelnen Mitgliedern, FDP-Bundestagsfraktion, deren Mitglie- sation. Im Hause Meyer, so schildert es seine Ziele versuchte er rücksichtslos der im Verteidigungsausschuss 1956 sein Sohn Kurt in seinem 1998 in einem zu erreichen. Die HIAG stand in unge- nachdrücklich für die Einbeziehung Freiburger Verlag veröffentlichten, kriti- brochener Kontinuität zu Vorstellungen, der Waffen-SS-Veteranen in die Ver- schen Erinnerungsbuch „Geweint wird, wie sie die sich selbst als Elite verste- sorgungsregelung nach Artikel 131 des wenn der Kopf ab ist“, waren die nati- hende Waffen-SS und deren Vorgänger- Grundgesetzes eintraten. 1961 erlangte onalsozialistischen Symbole weiterhin organisationen seit den 1930er Jahren dieses Vorhaben mit wenigen Ausnah- präsent. Im Wohnzimmer hing ein Bild propagiert hatten. Zumindest für ihre men Gesetzeskraft. Adolf Hitlers – neben dem Porträt des Führung blieb die Nazideologie weiter- Im Vorfeld der Bundestagswahl 1953 preußischen Königs Friedrich II. hin der weltanschauliche Referenzrah- trafen sich in Hamburg Vertreter von Die Mobilisierungskraft der HIAG war men, trotz aller Neutralitätsbekundun- CDU, SPD, BHE (Bund der Heimatver- beachtlich. Nach Ergebnissen des Biele- gen gegenüber der Bonner Republik. triebenen und Entrechteten), FDP und felder Historikers Karsten Wilke, der sich DP (Deutsche Partei) mit den ehema- seit einigen Jahren mit der Geschich- Parteiübergreifende Kontakte ligen Waffen-SS-Männern, um für ihre te der Hilfsgemeinschaft beschäftigt, Für führende Vertreter der großen Par- Parteien zu werben. Ein Jahr später re- waren mindestens 20.000 Männer im teien in der Bundesrepublik war die ferierte der spätere Bundeskanzler Hel- Bundesverband der HIAG organisiert. HIAG von Anfang an ein legitimer Ge- mut Schmidt, damals bereits Mitglied Andere Quellen sprechen von 70.000 sprächspartner. Bereits im Herbst 1951 im Bundesvorstand der SPD, auf einem Mitgliedern. Genaue Zahlen sind nicht kam es zu einem längeren Gespräch Treffen der HIAG-Hannover über „Solda- bekannt; entsprechende Statistiken zwischen dem damaligen SPD-Vorsit- tentum und Sozialdemokratie“. Es war fehlen auch in den Unterlagen der HI- zenden Kurt Schumacher und dem ehe- seine erklärte Absicht, „Schwierigkei- AG, die heute im Militärgeschichtlichen maligen SS-Brigadeführer und General- ten aus dem Weg zu räumen“, denen Forschungsamt in Freiburg aufbewahrt major der Waffen-SS , einem die „HIAG-Fürsorgearbeit noch immer werden. Die lokalen HIAGs schafften es der führenden Köpfe der HIAG. Auch von Seiten der SPD begegnet“. Treffen in den 1950er Jahren, Großveranstaltun- die Sozialdemokraten Annemarie Ren- zwischen SPD-Vorstandsmitgliedern gen mit mehreren tausend Teilnehmern ger und Herbert Wehner sollen an dem und HIAG-Funktionären fanden in den zu organisieren. In Verden kamen 1952 Treffen teilgenommen haben. Schuma- 1950er Jahren mehrfach statt. rund 5.000 Leute zusammen, in Minden cher überschätzte indes die Zahl der Auch die CDU/CSU stand mit der HIAG in (1954) und in Hameln (1959) sollen es ehemaligen Mitglieder der Waffen-SS regelmäßigem Kontakt. Durch ihre Rolle über 10.000 gewesen sein. in der Bundesrepublik. Er rechnete mit als Regierungspartei war das Verhältnis Gegen diese Treffen demonstrierten rund 900.000 Mann – ein großes Wäh- der CDU/CSU zu den Waffen-SS-Vete- wechselnde Bündnisse von Gewerk- lerpotential bei knapp über 30 Millionen ranen jedoch nicht frei von Spannun- schaftern, Verbänden von Opfern des Wahlberechtigten in den 1950er Jahren. gen. Einerseits war man der Meinung, Faschismus, Studenten und Ortsverei- Schumacher sagte in dem Gespräch mit bei der anstehenden Wiederbewaffnung nen der SPD, ohne jedoch auf große Re- Kumm, er wolle dafür eintreten, dass nicht auf ehemalige Soldaten und ihre sonanz zu stoßen. Die HIAGs verstanden seine Partei die Beschäftigung ehema- Veteranenorganisationen verzichten zu es geschickt, den karitativen Charakter liger Angehöriger der Waffen-SS bei Be- können, zu denen man auch die HIAG ihrer Organisation, besonders als Such- hörden und Betrieben nicht länger ab- zählte, andererseits mussten internati- dienst für vermisste Soldaten, hervor- lehne. onale Irritationen über den Fortschritt zuheben. Zu ihrer gesellschaftlichen

19 Akzeptanz trugen Bündnisse mit aner- ren zu können. In seiner Argumentation Verleumdungen gegen die Soldaten der kannten Organisationen wie dem Deut- bezog er sich explizit auf die Ausführun- Deutschen Wehrmacht, der Waffen-SS schen Roten Kreuz ebenso bei wie mit gen Kurt Schumachers aus den frühen und der auf deutscher Seite kämpfen- Lokalpolitikern, die als Gastredner bei fünfziger Jahren; dessen Partei warf er den Ausländer werden immer dreister.“ den Veteranenveranstaltungen auftra- Geschichtsvergessenheit vor. Als Reaktion auf angeblich „unver- ten. Die politische Auseinandersetzung er- schämte Lügen“ und „pseudowissen- reichte mit dem umstrittenen Besuch schaftliche Mahnausstellungen“ hat Halbherzige Distanzierung Helmut Kohls und des US-Präsidenten der Verlag eine virtuelle Galerie eröff- In den sechziger Jahren begannen die Ronald Reagan auf dem Soldatenfried- net, auf der Bilder ehemaliger Soldaten großen Parteien zaghaft, sich von der hof Kolmeshöhe nahe Bitburg, auf dem von Angehörigen unter dem Slogan „Wir Interessenvertretung der Waffen-SS- auch 49 Mitglieder der Waffen-SS be- sind stolz auf Euch“ veröffentlicht wer- Veteranen zu entfernen. Zu einer förm- stattet sind, ihren Höhepunkt. Kohl ar- den können. lichen Distanzierung von der Organisa- gumentierte im Vorfeld des Besuchs In den letzten Jahren haben jünge- tion kam es jedoch nicht. Für die CDU vom 5. Mai 1985, Teile der Waffen-SS re Sympathisanten, die oftmals in der saß mit Hans Wissebach, ehemals An- seien zwar an Kriegsverbrechen be- rechten Szene aktiv sind, bestimmen- gehöriger der „Leibstandarte Adolf teiligt gewesen, doch hätten viele jun- den Einfluss auf die verbliebenen alten Hitler“, sogar noch in den siebziger Jah- ge Männer „gar keine Chance gehabt, Herren der ehemaligen Waffen-SS ge- ren ein führendes Mitglied der HIAG im dem Einberufungsbefehl zur Waffen-SS wonnen. Die in Jahrzehnten aufgebau- Bundestag. Erst in den achtziger Jahren zu entgehen“. Noch in seinen vor eini- ten Netzwerke der HIAG und anderer stießen Veranstaltungen der HIAG auf gen Jahren erschienenen „Erinnerun- „Traditionsverbände“ werden von heute nachhaltige öffentliche Proteste. Anti- gen“ verteidigt Kohl diese Haltung. Er aktiven neonazistischen Gruppierungen faschistische Initiativen protestierten schreibt, dass die ganz überwiegende genutzt, vermutlich auch in finanzieller beispielsweise 1983 im hessischen Bad Mehrzahl der Waffen-SS-Veteranen zu Hinsicht. Man veranstaltet gemeinsa- Hersfeld und 1984 in Nesselwang im Unrecht verantwortlich gemacht wür- me Erinnerungsfahrten zu den Schau- Allgäu gegen die Veteranentreffen, die de für die „Verbrechen des Sicherheits- plätzen des Zweiten Weltkrieges oder ihrer Meinung nach zur Verharmlosung dienstes, der SD und der Menschenver- zum Soldatenfriedhof nach Halbe, süd- deutscher Kriegsverbrechen beitrügen. nichtungsaktionen“. lich von Berlin. Nach Informationen der Zudem würden sie junge Leute in die Journalisten Oliver Schröm und Andrea rechte Szene locken. Dies veranlasste Verfassungsschutz schweigt Röpke veranstaltete zudem die Bremer nun auch die überregionale Politik zum Der Historiker Wilke vertritt die The- HIAG in den 1990er Jahren monatliche Handeln. se, dass die „Kultur der Viktimisierung“ „Wehrsportübungen“ mit Jugendlichen. Die Parteien auf der Linken gingen de- im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Auf dem Programm: die Benutzung von monstrativ auf Distanz zur HIAG, die sich Weltkrieg maßgeblich zur Integration Maschinenpistolen und Schnellfeuer- prompt über das „Trommelfeuer gegen der HIAG in die Gesellschaft der jun- gewehren. Der Verfassungsschutz hat ehemalige Soldaten“ beklagte. Die Sozi- gen Bundesrepublik beitrug. Zugute ka- seine systematische Beobachtung der aldemokraten fassten 1981 einen förm- men den SS-Veteranenverbänden dabei Waffen-SS-Veteranen vor mehr als zehn lichen Unvereinbarkeitsbeschluss; eine auch die beiden Straffreiheitsgesetze Jahren eingestellt. Doppelmitgliedschaft in der SPD und von 1949 und 1954, die bereits verur- der HIAG war von nun an ausgeschlos- teilte NS-Verbrecher begnadigten und Dr. Daniel Siemens sen. 1985 stellte die Bundestagsfrak- ihre Strafen sowie die Urteile aus dem tion der Sozialdemokraten zudem den Strafregister strichen. Damit wurde die Antrag, die Treffen der ehemaligen Waf- strafrechtliche Aufarbeitung von Kriegs- 1 Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der Tages- zeitung „Junge Welt“, 20.7.2007, S. 10. Wir danken fen-SS-Angehörigen zu verurteilen und verbrechen durch die personell selbst dem Chefredakteur Arnold Schölzel für die Geneh- die Länder sowie „alle demokratischen stark belastete deutsche Justiz ebenso migung, diesen Artikel in unserer Zeitschrift abdru- Parteien und Organisationen“ aufzuru- wie eine substantielle öffentliche Dis- cken zu dürfen. fen, solche Veranstaltungen zu missbil- kussion um die Schuld einzelner Grup- ligen und wenn möglich zu verhindern. pen an den Verbrechen des „Dritten In den Veteranentreffen sahen die So- Reiches“ weiter erschwert. Der Glaube zialdemokraten nun primär Zusammen- an eine „saubere Wehrmacht“ hielt sich künfte von revanchistischen „Unbelehr- gar bis Mitte der 1990er Jahre, ehe er baren“. Soziale Dienste waren bei der durch die Ausstellung „Verbrechen der HIAG in der Tat längst in den Hinter- Wehrmacht“ des Hamburger Instituts grund getreten. für Sozialforschung nachhaltig erschüt- Der Antrag der SPD wurde jedoch mit tert wurde. den Stimmen der Regierungsparteien Der Dachverband der HIAG löste sich CDU/CSU und FDP abgelehnt. Die da- 1992 auf. Einige regionale Gruppierun- malige Regierung unter Bundeskanz- gen, „Truppenkameradschaften“ sowie ler Helmut Kohl vertrat die Auffassung, die 1993 gegründete „Kriegsgräber- dass auch die Veteranen der Waffen-SS stiftung – Wenn alle Brüder schwei- in das offizielle Gedenken an den Zwei- gen“ existieren jedoch bis heute. Auch ten Weltkrieg aufzunehmen seien. Kohl die Verbandszeitschrift „Der Freiwil- meinte, zwischen direkt an den Nazi- lige“, gegründet 1956, erscheint wei- verbrechen Beteiligten und einer ganz terhin. Auf der Homepage des heraus- überwiegenden Mehrheit von „unschul- gebenden Munin-Verlages heißt es im digen“ Waffen-SS-Männern differenzie- seit Jahrzehnten gepflegten Jargon: „Die

20 Die Schändung der Gedenkstätte für die gefallenen Sowjetsoldaten in Talinn Folgen einer „Denkmalentsorgung“ in Estland

In einem der kleinsten Mitgliedstaaten löschten, wie sich das für eine „demo- Estnischer Geschichtsrevisionismus der EU, in Estland (1,3 Millionen Ein- kratische und unabhängige“ Presse hat seine europäischen Vorbilder wohner – davon 65 Prozent Esten und gehört, die für die Regierung, die den Die Regierung gab nur rechtfertigende 30 Prozent Russen, die mehrheitlich kei- brutalen Einsatz der Polizei zu verant- offizielle Erklärungen ab und verschanz- ne Staatsbürgerrechte besitzen), kam worten hat, unangenehmen Zuschrif- te sich. Das Parlament wurde mit einem es im Vorfeld des diesjährigen Jahres- ten. Zaun gesichert, die Zufahrt durch Pan- tages der Befreiung der Völker Europas Der Stellvertretende Vorsitzende der zersperren aus Stahlbeton abgeschot- vom deutschen Faschismus zu einem Russischen Partei Estlands, Genna- tet. Schuld an diesem Blutbad – so die internationalen Skandal. 1947 wurde di Afanassjew, zugleich Abgeordneter Regierenden – seien die Protestieren- im Stadtzentrum Talinns auf dem Hügel des Stadtrates von Narwa, analysierte den selbst, denn diese seien angeb- Tönismägi im Park vor der Karlskirche den Konflikt wie folgt: „Die Eskalation lich nur „Randalierer“ und „Plünderer“ und der Staatsbibliothek ein Ehrenmal ist vor allem dem Vorgehen der Polizei gewesen. Der Protest gegen die Grab- für die bei der Befreiung Estlands 1944 geschuldet. Das, was in der Nacht vom schändung der bei der Befreiung Tal- gefallenen sowjetischen Soldaten er- Donnerstag zum Freitag (26./27. April linns gefallenen Sowjetsoldaten, die richtet – symbolisiert durch den „Bron- 2007) in der vergangenen Woche in Kundgebung gegen diesen pietätlosen zenen Soldaten“ vor einer Gedenkmau- Tallinn passiert ist, war nicht nur eine und provokatorischen politischen Akt, er und den dort unmittelbar nach den Folge der Entscheidung der estnischen gilt in der neuen estnischen „Demokra- Kämpfen am 22. September beigesetz- Regierung, sondern eines gravierenden tie“ offenbar als nicht schützenswert. ten 13 Rotarmisten. Insgesamt gibt es Fehlers der Sicherheitskräfte. Die vor- Die estnische Botschafterin in Moskau, in Estland 450 Soldatengräber für die erst friedlich versammelten Demonst- Marina Kaljurand, erklärte kaltschnäu- während der Befreiung Estlands von ranten wurden mit Gewalt vom Denk- zig, es gäbe ja in Estland noch 200 Stät- deutschen Okkupanten und estnischen mal weg in die Stadtmitte gedrängt. In ten gefallener Rotarmisten, an denen Kollaborateuren im September/Okto- den kleinen Gassen Tallinns lösten sich die Russen ihre Blumen am 9. Mai ab- ber 1944 gefallenen 24.000 Sowjetsol- die Emotionen und die gestaute Wut legen könnten.2 daten. und schlugen in wilde Straßenschlach- Auch in Moskau kam es zu Reaktionen. In einer Nacht- und Nebelaktion schän- ten und Pogrome um. Zu den Demons- Aktivisten der Bewegung „Naschi“ (Die dete die rechte Regierung unter An- tranten gesellten sich dann auch ande- Unseren) und „Junges Russland“ und drus Ansip in der Nacht zum 27. April re Jugendliche, die aus Spaß anfingen, anderer Organisationen protestierten 2007 das hauptstädtische Denkmal. Scheiben einzuschlagen und Waren- vor der estnischen Botschaft und for- Der Bronzesoldat wurde bis zu den Fü- häuser zu plündern. So etwas hätte derten die Wiederherstellung des Ehren- ßen abgesägt, abtransportiert und drei verhindert werden können, wenn die mals. Das estnische Außenministerium Tage später auf dem hauptstädtischen Regierung vorher einen Dialog mit den evakuierte daraufhin die Familien der Kriegsfriedhof aufgestellt. Dorthin sol- Menschen eingegangen wäre. Die est- Botschaftsmitarbeiter nach Tallinn. Die len auch die sterblichen Überreste der nische Regierung hat heute bemerkt, estnische Staatsspitze hatte schließlich Soldaten umgebettet werden. dass es in ihrem Land eine russische auch eine „Begründung“ für die Besei- Daraufhin kam es in der Nacht zum 27. Bevölkerung gibt. Nach offizieller Sta- tigung des sowjetischen Ehrenmals im April und danach zu spontanen Pro- tistik kann man heute genau sagen, Stadtzentrum parat: Für viele sei das testkundgebungen. Gegen die 3.000 dass es nicht nur die russischsprachi- Ende des Zweiten Weltkrieges nur der russischen und estnischen Demonst- ge Bevölkerung war. Mehr als ein Drit- „Tausch eines totalitären Regimes gegen ranten gingen die eingesetzten Sicher- tel der 1.000 Festgenommenen waren ein anderes“ gewesen. Regierungschef heitskräfte mit unverhältnismäßiger Esten. Es waren vorwiegend junge Leu- Ansip von der so genannten Reformpar- Gewalt vor und verletzten 150 Perso- te, die am Denkmal Wache hielten und tei erklärte: „Das Soldatendenkmal war nen schwer, der zwanzigjährige Dimtri dessen ‚Verlegung‘ verhindern wollten, ein Mittel bei der Realisierung der ge- Ganin verstarb, da er keinerlei medi- zwölfjährige, 14jährige … Das Durch- planten Sowjetisierung Estlands gewe- zinische Hilfe erhielt. 1.200 Demonst- schnittsalter liegt der Statistik nach sen … Selbst wenn das Soldatendenk- ranten – darunter ein Drittel estnische bei 16 Jahren. Sechzehn Jahre – das ist mal für viele Russen in Estland nicht nur Jugendliche – wurden im Tallinner Ha- genau die Zeit, die unser Land abhän- ein Symbol des Respekts im Andenken fen unter unmenschlichen Bedingun- gig ist. Das zeigt, dass die Aktivisten an die Soldaten ist, so kann man auch gen eingesperrt und misshandelt. Aus Jugendliche sind, die in Estland gebo- nicht abstreiten, dass gerade dieses Furcht vor neuen Protesten verbot die ren und aufgewachsen sind und die mit Denkmal im Stadtkern zu einem Ort ge- Regierung für das ganze Land bis zum der Sowjetunion nichts zu tun haben. macht wurde, an dem die Feindseligkeit 11. Mai 2007 alle öffentlichen Kund- Trotzdem setzen sie sich für das Denk- und Widerstand gegen den estnischen gebungen und Demonstrationen. Die mal ein und repräsentieren einen an- Staat entfacht wurden.“3 führende estnische Zeitung Postimees deren Teil der Meinung der estnischen Wäre nicht der großen russische Min- wurde von einer Spam-Flut überrannt. Bevölkerung. Diese Jungen und Mäd- derheit, also nicht jedem dritten Staats- Tausende kritischer Kommentare aus chen sind in einen unfairen Kampf mit bürger des Neustaates „Estnische Re- aller Welt trafen ein. Darauf ließen die hart vorgehenden Polizeikräften verwi- publik“, das Recht auf die in Europa Techniker den Zugang sperren und ckelt worden.“1 üblichen freien Wahlen zum Parlament

21 seit Anfang der 90er Jahren des vori- der UdSSR. Warum hätte auch ein bun- de sei immerhin als „schönster Teil … gen Jahrhunderts entzogen worden (als desdeutsches Gericht die oberste est- dem Recht beigeordnet.“7 Sandberger „Staatenlose“ können sie nur an Regi- nische Marionette Nazideutschlands, fand bei einer Firma als Justitiar Anstel- onalwahlen teilnehmen), würde es heu- den Juristen Mäe, aburteilen sollen? Ka- lung. Ein Wiederaufnahmeverfahren der te eine solche Regierung mit derarti- men doch die deutschen Anstifter und Staatsanwaltschaft Stuttgart Anfang gen Entscheidungen gar nicht geben. Hauptorganisatoren des Massenmords der 70er Jahre scheiterte. Aber die Verletzung von Minderhei- an Juden, Roma, estnischen Kommunis- Zu den estnischem „Neuaufarbeitern“ ten- und Menschenrechten durch die ten und sowjetischen Kriegsgefangenen der Geschichte des Neustaates und der mit der „Singenden Revolution“ 1989 nach 1945 ungeschoren davon. Wer deutsch-estnischen Nazivergangenheit an die Macht gelangten „neuen Demo- den „Juden-Referenten“ im Nazi-Reichs- zählt der an der Universität Tartu aus- kraten“ ist allerdings bemerkenswerter ministerium des Innern, den Ministe- gebildete Geschichtslehrer Mart Laar Weise vom übrigen demokratischen Eu- rialrat Dr. Hans Globke, als Staatssek- (Jahrgang 1960), der 1983 anonym in ropa nicht grundsätzlich beanstandet retär ins Bundeskanzleramt befördert der kanadischen Emigrantenzeitschrift worden. Jene europäischen und spe- hatte, der konnte auch an Dr. Mäe, der Vaba Eestlane in einer „wissenschaftli- ziell deutschen Politiker, die mit kriti- deutsch-estnischen Marionette 1941– chen“ Abhandlung estnische Täter als schen Kommentaren nicht geizen, wenn 1944, nichts Anstößiges finden. „nationale Freiheitskämpfer“ darstell- aus ihrer oft interessenbedingt engen Über einen der deutschen Haupttäter, te.8 Laar war von 1987 bis 1990 im Kul- Sichtweise tatsächlich oder angeblich den Leiter des mobilen Einsatzkomman- turministerium der Estnischen SSR die irgendwo in der Welt Menschenrechte dos 1 a und Kommandeurs von Sicher- Leitung der Abteilung Kulturelles Er- und Demokratie verletzt werden, haben heitspolizei und Sicherheitsdienst für be anvertraut worden. Als Vorsitzender die Aufnahme Estlands in die EU 2004 das „Generalkommissariat Estland“, Dr. der christlich-rechtskonservativen Par- trotz alledem beschlossen. Achtung der Martin Sandberger, stellte das US-Mi- lamentsfraktion der rechten Partei Isa- Rechte einer so großen Minderheit wie litärgericht im Prozess im Jahre 1948 maa (Vaterland), die sich auf das nati- die der Russen in jenem Lande gehör- fest: „Es ist (eine) Tatsache, dass für onalistisch-autoritäre Pätsregime der ten offenbar ebenso wenig zu einem besondere Aktionen die estnische Mi- Zwischenkriegszeit beruft, schaffte es Aufnahmekriterium wie das praktische liz Sandbergers Zuständigkeit und Kon- Laar, von 1992 bis 1994 und von 1999 Bekenntnis zu humanistischen europä- trolle unterstellt war.“ Sandberger aber bis 2003 zum Ministerpräsidenten Est- ischen Traditionen, zu denen auch der behauptete damals dreist wider alle lands zu avancieren. Nun erst gab der Antifaschismus gehört. Tatsachen: „Aber sie [die Ermordeten, „mutige Dissident“ seine Autorenschaft Führenden EU-Politikern dürfte doch d. Verf.] sind nicht unter meiner Ver- bekannt und besorgte 1993 die estni- wohl nicht entgangen sein, welches po- antwortung erschossen worden. Unter sche Ausgabe seines Buches und 1995 litische und geistige Format einige der meiner Verantwortung waren es etwa eine mehrteilige Fernsehreihe zu diesem tonangebenden estnischen Spitzenpoli- 350.“5 Er wurde trotzdem wegen sei- Thema. Verschwiegen und übersehen tiker besaßen und besitzen, was sie mit ner Gesamtverantwortung am Massen- werden in diesem Buch die ungeheu- ihrer grundlegenden Geschichtsrevisi- mord in Estland im „Fall 9“ angeklagt erlichen Verbrechen, die die deutschen on, die sie als „Aufarbeitung“ der est- und zum Tode verurteilt. Der Jurist Dr. Besatzer und ihr estnischen Helfershel- nischen Geschichte ausgeben, bisher Sandberger gehörte aber zu denen, die fer in der Estnischen Sowjetrepublik in schon in Gang gesetzt hatten. Für eine nicht hingerichtet, sondern unter Kanz- den Jahren von 1941 bis 1944 begin- solche Umdeutung sorgten vor und nach ler Adenauer begnadigt wurden. Ein gen: 61.307 ermordete Zivilisten (dar- 1989 baltendeutsche und estnische wichtiger Befürworter der Amnestie war unter fast alle 1.000 in Estland noch Exilhistoriker, zumeist vor der Roten Ar- vor allem der wieder zugelassener ehe- verbliebenen jüdischen Bürger, min- mee mit ihren nazideutschen Beschüt- malige SS-Jurist Dr. Werner Best: Hier destens 12.000 Juden aus anderen eu- zern geflohene faschistische Kollabora- handelte es sich um niemand anderes ropäischen Ländern, 800 Roma, zehn- teure.4 Erinnert sei an den Führer des als den ehemaligen Stellvertreter Rein- tausende estnische Kommunisten und faschistischen Estnischen Freiheits- hard Heydrichs im Reichssicherheits- andere Linke), 64.000 erschossene und kämpferbundes und Chef der sog. Est- hauptamt, der 1939 gegründeten Ter- verhungerte sowjetische Kriegsgefan- nischen Landesverwaltung von Hitlers rorzentrale des NS-Regimes, und um gene, mehr als 10.000 in Konzentrati- Gnaden 1941–1944, Dr. Haljmar Mäe, den Organisator der ersten Einsatzgrup- onslagern internierte estnische Bürger, der mit seinen deutschen Beschützern pen. Eine Begnadigung verlangten auch 74.226 nach Deutschland deportierte nach Westdeutschland floh; schließ- das FDP-Vorstandsmitglied Mayer, der Zwangsarbeiter.9 lich war dieser estnische Faschist und Württembergische Landesbischof Haug Für den Geschichtslehrer und Staats- Unternehmer schon 1939 deutscher und der sozialdemokratische Vizepräsi- mann Laar gehört das letzte Kriegsjahr Staatsbürger geworden. Nach seiner dent des deutschen Bundestages, Prof. 1944, die Endzeit der Verbrechen deut- Entlassung aus den US-Internierungs- Dr. Carlo Schmidt. Letzterer begründete scher Besatzer und ihrer estnischen lagern Moosburg, Darmstadt und Lud- die Freilassung Sandbergs damit, dass Kollaborateure, zu den „stolzen Mo- wigsburg 1946 konnte er ungehindert „dieser Mann kein blindwütiger Fana- menten“ in der estnischen Geschichte, nach Österreich ziehen. Er war dort bis tiker gewesen sein kann … Er war ein die zeigen „wie groß das estnische Volk zu seiner Pensionierung 1970 Journa- fleißiger, intelligenter und begabter Ju- sein kann“. Was war nun der stolze Mo- list und Angestellter in der steirischen rist (sic!) … Man sollte Martin Sandber- ment, auf den heute das estnische Volk Landesverwaltung. In dieser Zeit mach- ger eine Chance geben, sich im Leben so stolz sein soll? Es war der verbreche- te Ex-Faschistenführer Mäe seine Karri- neu zu bewähren.“6 Schließlich setzte rische Kriegseinsatz von 90.000 Esten ere in der „freien Welt“ – als Berater des sich auch Bundespräsident Prof. The- in der 20. (Estnischen) SS-Legion, in den österreichischen Bundeskanzlers Klaus odor Heuss (FDP) für den Chef des fa- 36 Bataillonen und sieben Regimentern und des deutschen Bundeskanzlers schistischen Mordkommandos SK1a in der estnischen Hilfspolizei an der Seite Konrad Adenauer zu Fragen der Politik Estland wohlwollend ein, denn die Gna- der Wehrmacht und SS Hitlerdeutsch-

22 lands: Die Verteidigung der Brücken- Nachfolgestaat Russland soll diskredi- rad Adenauer gab im Bundestag eine köpfe nördlich von Narwa bei Riggi und tiert und genötigt werden, „Wiedergut- Ehrenerklärung für die Angehörigen der Siiversi-Vepsküle oder die Kämpfe auf machung“ an Estland zu leisten. Waffen-SS ab. Zur angeblich „sauberen den Sinimäe-Bergen („Sinimäe-Schlach- Die neuen politischen Eliten Estlands Wehrmacht“ gesellte sich nun auch die ten“). Das sind für den ehemaligen est- betreiben seit 1989 eine revisionisti- „saubere Waffen-SS“, deren Bundes- nischen Regierungschef die „stolzen sche Politik der „Wiederaneignung der verband HIAG alles Erdenkliche für de- Momente“ estnischer Geschichte und Geschichte“. In diesem Zusammenhang ren Reinwaschung tat. 1961 waren die des „nationalen Widerstandes gegen werden nicht selten die Täter des Mas- SS-Veteranen in die Versorgungsregeln die „glotzenden Mongolengesichter“ – senmordes und des Krieges in Opfer nach Artikel 131 des Grundgesetzes ein- wie er die Befreier Estlands vom deut- und Helden verwandelt. Die ehemali- bezogen worden; das traf auch für ihre schen Faschismus verunglimpft. Einer gen estnischen Angehörigen der Wehr- „ausländischen Kameraden“ zu. Die est- der deutschen Hauptkriegsverbrecher, macht, der Hilfspolizei, der SS und der nische SS-Veteranen kamen allerdings der Reichsführer-SS Heinrich Himmler, so genannten Waldbrüder, die den Krieg erst seit 1993 in den Genuss dieser ma- erscheint in Laars Buch als ernsthafter als „Untergrund-Kämpfer“ bis zum An- teriellen Vergütung. Bei alledem sollte Befürworter der estnischen Autonomie. fang der 50er Jahre in der Estnischen nicht in Vergessenheit geraten: Helmut Die „Verteidigung“ Tallinns und die Aus- SSR fortsetzten, gelten nun als die Na- Kohl demonstrierte mit Ronald Reagan rufung der „Regierung des Freistaates tionalhelden der jüngsten estnischen bei der gemeinsamen Kranzniederle- Estland“ durch den estnischen Kollabo- Geschichte. Als „Opfer des Kommunis- gung auf dem Soldatenfriedhof in Bit- rationspolitiker und letzten Regierung- mus“ erhalten sie zu ihrer Rente einen burg 1985, ein Friedhof, auf dem auch schef der nationalistischen Pätsdikta- staatlichen Zuschuss, auch aus dem SS-Männer begraben worden waren, tur der Zwischenmkriegszeit, Uluots, Land der damaligen Täter, an deren Sei- dass die Veteranen der Waffen-SS in drei Tage vor der Befreiung der Haupt- te sie in besonderer Nibelungentreue das offizielle Gedenken an den 2. Welt- stadt, ist nach Laars Sichtweise ebenso standen. Die Uminterpretation der Ge- krieg aufzunehmen sind. von „symbolischer Bedeutung für Est- schichte Estlands hat nicht nur prak- Man weiß also in Tallinn wie auch in lands Ringen um nationale Unabhängig- tische Konsequenzen auf dem Gebiet Riga sehr wohl, in welchem Verhält- keit.“10 der Kriegsentschädigung, sondern auch nis die führenden deutschen Partei- der estnischen Denkmalspolitik. Das en zur Waffen-SS standen und stehen Was soll verdrängt betrifft nicht nur die Schändung von und hat deswegen kaum eine Kritik von und vergessen werden? Denkmalen der sowjetischen Befreier. deutscher Seite zu befürchten. Sicher- Die 621.000 Sowjetsdoldaten (darun- Die sterblichen Überreste des letzten lich ist diesen Politikern auch die deut- ter zwei estnische Divisionen mit über Kommandeurs der 20. Estnischen SS- sche Praxis der „Denkmalsentsorgung“ 30.000 Mann) der 1. Baltischen Front Freiwilligendivision und Ritterkreuzträ- gut bekannt. Ich erinnere an die „Nach- setzten in der Militäroperation vom 14. gers mit Eichenlaub, Obersturmbann- wendezeit“, wo beispielsweise am Platz September bis 20. Oktober 1944 mit ih- führer Alfons Rebane, wurden 1999 aus der Einheit (heute Albert-Platz) das so- rem Leben (es fielen in diesen drei Wo- der Bundesrepublik Deutschland nach wjetische Denkmal zu Ehren der in den chen 24.181 Soldaten und Offiziere) Estland gebracht und in einem Staats- Kämpfen in Dresden gefallenen Rotar- dem Massenmord und der Ausplünde- akt auf den Tallinner Friedhof überführt. misten der 5. Gardearmee auch ohne rung in der von „Großdeutschland“ ein- Das im August 2004 in Pärnu von ei- internationale Kritiken weggeschafft verleibten Estnischen Sozialistischen nem protestantische Pfarrer mit dem wurde – im Interesse der „Verschöne- Sowjetrepublik ein Ende.11 27 Millionen Ruf „Sieg Heil“ eingeweihte Denkmal rung“ des Stadtbildes. Die ehemalige Sowjetbürger verloren in diesem bisher des estnischen Soldaten in deutscher Straße der Befreiung gibt es ebenfalls opferreichsten Krieg der Menschheits- Wehrmachtsuniform musste allerdings nicht mehr. Die meisten deutschen Po- geschichte ihr Leben. Unter den Milli- aufgrund internationaler Proteste wie- litiker hätten daher in der Auseinander- onen sowjetischen Soldaten, die den der entfernt werden. Aber an dieser setzung mit ihren Tallinner Kollegen kei- größten Teil Europas 1944/45 befrei- Stelle des Friedhofes steht noch heute nerlei Glaubwürdigkeit. te, nahmen auch 70.000 Esten teil. Von eine Tafel mit der Aufschrift: „Hier stand Die Museen in Estland sind ebenso Stüt- den fünf Esten, die als Helden der So- ein Denkmal für die estnischen Frei- zen der Geschichtsfälschung geworden. wjetunion ausgezeichnet wurden, lebt heitskämpfer.“ Der neureiche Este Leo Der ehemalige estnische Dissident Hei- heute nur noch Arnold Meri. Er gehör- Tammiksaar errichtete auf seinem Pri- ki Ahonen wurde nach seiner Auswei- te zu den Befreiern Tallinns und war da- vatgrundstück in Parnu ein SS-Museum. sung aus der Estnischen SSR Mitarbei- bei, als am 22. September 1944 die im An den Treffen der SS-Veteranen neh- ter bei Radio Free Europe in München Stadtzentrum gefallenen 13 Rotarmis- men auch namhafte Politiker teil.13 und Prag (seit 1995 Direktor der Abtei- ten beigesetzt wurden, deren sterbliche Diese politisch Unbelehrbaren ahmen lung Estland), ehe er 1998 mit Unter- Überreste in diesem Jahr geschändet nur das nach, was Politiker aus den stützung eines US-Sponsors das Muse- und beseitigt worden sind.12 Die Befrei- einstigen faschistischen Täterländern um der Okkupation in Tallinn aufbaute. ungstat der Roten Armee der Sowjetu- nach 1945 vorgemacht haben. In der Ahonen informierte auf einer Tagung nion vor über sechs Jahrzehnten soll BRD entstanden schon 1949 die ers- der Stiftung Ettersberg 2004 über die nach den Willen der derzeit Regieren- ten Hilfsgemeinschaften auf Gegensei- Darstellung der Rolle der „zwei Okku- den in Tallinn nicht nur in Vergessen- tigkeit der ehemaligen Angehörigen der pationsmächte“ in seiner musealen Ein- heit geraten, sondern auch noch in eine Waffen-SS (HIAG). Obwohl die Waffen- richtung. Das „rote Jahr“ 1940 sei sehr angebliches „Menschheitsverbrechen“ SS in Nürnberg 1946 zur verbrecheri- opferreich gewesen, die deutsche Be- umgedeutet werden. Mehr noch: Die schen Organisation erklärt worden war, satzung hingegen „forderte wenige To- UdSSR, die mit dem Großen Vaterländi- wurde die HIAG im Jahre 1953 als ein- desopfer und das Ausmaß der Unterdrü- schen Krieg das Schicksal der Mensch- getragener Verein zugelassen. Nicht ckung war nicht so groß wie während heit zum Besseren wendete, und ihr nur der damalige Bundeskanzler Kon- der vorangegangen und folgenden sow-

23 jetischen Besatzungszeit“. Er kann die- ränen Staat und EU-und OSZE-Mitglied extreme und populistische Rechte in se These allerdings nicht belegen, denn seiner entschiedenen Unterstützung, Ungarn. sie ist und bleibt eine Lüge. Obwohl die wenn es seine inneren Angelegenheiten Es gibt Anzeichen, dafür, dass die Ukrai- Hälfte der monatlichen 2.000 Besu- regelt.“ Präsident George W. Bush hat ne unter dem Einfluss der „Orangenen cher Ausländer seien, habe die Ausstel- das während seines Staatsbesuchs in Revolutionäre“, angespornt durch ihre lung seines Museum „ganz offensicht- Riga am 7. Mai 2007 bekräftigt und die ausländischen Beschützer und Förderer, lich den Nerv getroffen“. Er räumt aber sowjetische „Besetzung und kommunis- diesen Beispielen bald nacheifern wird. auch ein: „Wir haben noch kein gemein- tische Unterdrückung“ Estlands, Lett- Präsident Juschtschenko sprach am 9. sames Verständnis gefunden, das von lands und Litauens verurteilt. Mai 2007 über die Helden des ukrai- mehr oder weniger jedem in der Gesell- Nicht grundsätzlich anders verhal- nischen Widerstandes. Er nannte nicht schaft akzeptiert wird.“14 Das rechtlose ten sich die maßgeblichen EU-Gremi- den Namen des kommunistischen Par- Bevölkerungsdrittel Estlands, aber auch en. Die EU-Kommission ließ am 2. Mai tisanenführers Kowpak, wohl aber den nicht wenige Esten, werden gewiss die 2007 wissen, dass sie über die Ereig- des Kommandanten der Ukrainischen dort dargebotene Geschichtsrevision nisse vor der estnischen Botschaft in Aufstandsarmee (UPA) Schuchewitsch, nicht akzeptieren. Moskau besorgt sei, nicht etwa über der 1941/1942 als ranghoher Offizier das Beiseiteräumen des sowjetischen im berüchtigten deutsch-ukrainischen Im Schutze ihrer mächtigen Herren Ehrenmals und des brutalen Vorgehens „Bataillon Nachtigall“ der Wehrmacht Warum wagt die führende Politikerkas- der estnischen Polizei gegenüber rus- diente und am Judenmord beteiligt war. te eines Landes, das kaum politisches sischen und estnischen Demonstran- Noch wagten es die „orangenen“ Füh- Gewicht und Macht in Europa und in der ten. Auch Bundeskanzlerin Angela Mer- rer in diesem Jahr nicht, einen Fackel- Welt besitzt, solche politischen Schritte kel versicherte am 2. Mai 2007 ihrem zug der ukrainischen SS-Division Galizi- und Provokationen gegenüber seinem estnischen Amtskollegen Ansip, dass en in Kiew zu genehmigen, wie das die russischen Nachbarn, aber auch gegen- Deutschland alles mögliche tun werde, Veteranen der lettischen Waffen-SS in über der europäischen Öffentlichkeit? damit Russland seine internationalen Riga seit 1993 an jedem 16. März vor- Diese Politiker haben ihre großen inter- Pflichten anerkenne. Denn es sei Mos- exerzieren. Anfang Mai 2007 erreichte nationalen Beschützer, die in ihnen das kaus „erste Pflicht, die Sicherheit der die estnische, ungarische und polnische „neue Europa“ sehen. Dazu gehört in Botschafterin und der Diplomaten zu Protestbewegung gegen sowjetische erster Linie die gegenwärtige US-Regie- garantieren“.15 Gegen diese von rechts- Ehrenmale auch den Westen der Ukrai- rung. Die USA anerkannten vor 60 Jah- extremen Anschauungen gespeiste Ak- ne. Rechtsextremisten und Antisemiten ren, dass die UdSSR die letztlich maß- tion der estnischen Regierung hat le- in Lwiw/Lemberg forderten den Abriss gebliche militärische Kraft war, die den diglich die Europäische Linkspartei des dortigen sowjetischen Ehrenmals. bisher größten und mörderischsten An- zusammen mit der Estnischen Links- Am 12./13. Mai wurden Grabstätten schlag der drei faschistischen und mi- partei entschieden protestiert und die von Rotarmisten geschändet und auf litaristischen Regimes in Berlin, Rom rohe Gewalt gegen friedliche Demons- die große Synagoge in Dnepropetrowsl und Tokio samt ihrer Satelliten und Kol- tranten verurteilt: Diese Geschehnis- ein Anschlag verübt. laborateure auf die Völker der Welt un- se seien gefährlich für Europa und die Verantwortliche Politiker der großen ternahmen, abgewehrt und zugleich die Welt, weil damit die Erinnerung an al- russische Minderheit, vor allem vertre- größten Opfer gebracht hatte. US-Prä- le, die gegen den Faschismus gekämpft ten durch die Russische Partei Estland, sident Franklin D. Roosevelt sicherte haben, getilgt werden soll. Gefordert forderten von Anfang an zur friedlichen der Sowjetunion 1944/1945 zu, dass wird, dass die große russische Minder- Konfliktlösung und zum Dialog auf: „Wir das Baltikum integraler Bestandteil der heit gleiche Recht erhält wie alle ande- redeten mit der Bevölkerung, vor al- UdSSR bleiben solle. ren Landesbewohner. lem mit den jungen Leuten. Am Sonn- Doch daran wollen die Herrschenden in Man wird sich nicht wundern, wenn das tag (dem 28. April 2007) sind wir auf den USA heute nicht erinnert werden, Beispiel des kleinen Estland nicht nur die Straße gegangen und haben sowohl denn sie brauchen die „neuen Europäer“ bei den anderen baltischen Staaten und mit den Jugendlichen als auch mit den (so der ehemalige US-Verteidigungsmi- in ganz Osteuropa Schule macht. Die Polizeikräften, die nach wie vor über- nister Donald Rumsfeld) für ihre aggres- rechtsextreme polnische Kaczynski-Re- all präsent sind, gesprochen. Unsere siven hegemonialen Ziele. Sie beliefer- gierung solidarisierte sich – ähnlich wie Partei hat auf der Ratssitzung eine An- ten ja die neue estnische Demokratie die deutsche Bundesregierung – umge- sprache an die Bevölkerung Estlands mit einem aus den USA stammenden hend mit der Aktion in Tallinn und dem verfasst. Wir appellieren, auf jegliche Verteidigungsminister. Aus der Erklä- estnischen Regierungschef. Der pol- gewaltsame Auseinandersetzungen zu rung des Senats der Vereinigten Staa- nische Kulturminister Kazimierz Ujaz- verzichten. Eine weitere Eskalation des ten vom 4. Mai 2007 geht hervor, dass dowski erklärte offenherzig, dass sei- Konflikts bedroht die Sicherheit unse- man zwar „alle Opfer, darunter die Sol- ne Regierung bis zum 15. Mai 2007 ein res Landes und dessen Bevölkerung. daten der Roten Armee, die ihr Leben Gesetz verabschieden werde, mit dem Wir fordern alle öffentlichen und politi- im Kampf gegen den Nazismus geben es leichter fallen werde, „Symbole der schen Kräfte Estlands zu einem soforti- mussten“ achte. Aber die „Denkmalver- kommunistischen Diktatur“ aus Polens gen Dialog auf. Außerdem schlagen wir legung“ in Tallinn sei eine „innere Ange- öffentlichem Raum zu verbannen. Dazu die Bildung einer öffentlichen Vereini- legenheit“ der Esten. Der US-Senat ist zählte er auch Ehrenmale zur Erinnerung gung aus Vertretern der estnischen und der Auffassung, „dass die brutale jahr- an die auf polnischer Erde für die wäh- russischsprachigen politischen und ge- zehntelange Besatzung Estlands durch rend der Befreiung Polens vom faschis- sellschaftlichen Eliten für eine gemein- die Sowjetunion ungesetzlich und ille- tischen Okkupationsregime 1944/45 same Lösung des Problems vor. Heute gitim war und das Recht Estlands auf gefallenen 600.000 Sowjetsoldaten.16 hängt von unserem Verstand und unse- Selbstbestimmung offen verletzte. … Ähnliche Aktionen gegen sowjetische rem gemeinsamen Handeln die weitere Der Senat versichert Estland als souve- Ehrenmale organisierten im Vorjahr die Zukunft unseres Staates ab.“17

24 Leider gibt es keinerlei Hinweise dafür, dass die estnische Regierung auf diese vernünftigen Vorschläge einzugehen ge- denkt. Es hat stattdessen den Anschein, als würde uns die Thematik Rechtsext- remismus und Geschichtsrevisionismus auch hinsichtlich Estlands, aber auch anderer Staaten in Mittel- und Osteuro- pa, auch zukünftig beschäftigen.

Professor Dr. Karl-Heinz Gräfe

1 Zitiert nach: Junge Welt, 3. Mai 2007. 2 Vgl. Argumenty i fakty, Nr. 18, Moskva 2007, S. 2. 3 Postimees, 9. Mai 2007. 4 Vgl. u. a. das Standardwerk von Boris Meissner, Die baltischen Nationen Estland-Lettland-Litauen, 2., erweiterte Auflage, Köln 1991. 5 Das Urteil im Einsatzgruppenprozess, Berlin 1962, S. 173f. 6 Zitiert nach Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Ver- brechen, München 1996, S. 299 (Anm. 28). 7 Ebenda, S. 300 (Anm. 28) und S. 298 (Anm. 26). 8 Mart Laar, Eesti 1944. Tundamatu autori silme läbi (Estland 1944. Durch die Augen eines unbekann- ten Autors) Tallinn 1993; vgl. auch die Rezension von David Feest, in: Nordost-Archiv, Neue Folge, Bd. VI, 1996, H.2, S. 154ff. 9 Vgl. M. Ju. Krysin, Pribaltika mezdu Stalinym i gitle- rom, Moskva 2004, S. 176 und 291. 10 Zitiert nach David Feest, S. 155. 11 Vgl. A. I. Petrenko, Pribaltika protiv faschisma. So- vetskie pribaltiskie divisii v Velikoj Otetschestven- noj Vojne, Moskva 2005, S. 95ff. 12 Argumenty i fakty, Nr.7, Moskau 2007, S. 20. 13 Vgl. Komsomolskaja Pravda, Nr. 12, 18–24. März 2005, S. 12f. 14 Heiki Ahbonen, Wie gründet man ein Museum? Zur Entstehungsgeschichte des Museums der Okkupa- tion in Tallinn, in: Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln/Weimar/Wien, S. 110, 114 und 116. 15 Vgl. Http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regi- onen/Estland/ehrenmal.html 14.08.2007. 16 Zitiert nach: Tomasz Konicz, Streit über das sowje- tische Ehrenmal dauert an, in: Junge Welt, 3. Mai 2007. 17 Zitiert nach: Interview des stellvertetenden Vorsit- zenden der Russischen Partei Estlands und Abge- ordneten des Stadtrates von Narwa, Gennadi Afa- nassjew, in: Junge Welt, 3. Mai 2007.

25 HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Die Anfänge des Kirchenkampfes im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg

Prolog tionalsozialistischen Ideologie und Po- Gewählte Mitglieder der kirchlichen Auf einer großen öffentlichen Massen- litik innerhalb der evangelischen Kirche Gemeindekörperschaften versammlung am 1. Februar 1929 in institutionalisieren sollte. Im Vorfeld Aelt. – Kirchenälteste den „Prachtsälen am Märchenbrun- der Kirchenwahlen innerhalb der preu- Verord. – Gemeindeverordnete nen“, Am Friedrichshain 29–32, mit ßischen Landeskirche am 13. Novem- dem Thema: „Das Zentrum als Tod- ber 1932 formierten deshalb Anhänger Kirchenkreis Berlin Stadt I. (Stimmen) feind der deutschen Freiheit! Eine Ab- der NSDAP unter den evangelischen Liste D. Chr. Pos. Lib. rechnung mit dem politischen Konfes- Christen am 6. Juni 1932 die DC aus Kirche sionalismus“, griff Joseph Goebbels die mehreren Verbänden. Da die Mehrheit A d v e n t 13 21 1113 4 6 2 katholische Zentrumspartei scharf an. der Mitglieder des Deutschen Evange- Immanuel 1223 1917 - Außerdem sprach noch Wilhelm Ku- lischen Kirchenbundes national-konser- be, NSDAP-Fraktionsführer im Preu- vativ eingestellt und von völkisch-anti- ßischen Landtag und Kirchenältester semitischen Tendenzen gezeichnet war, Kirchenkreis Berlin Stadt III. (Zahl der der Gethsemanegemeinde, der mit sei- sowie starke Sympathien für Monarchie Aelt. u. Verord.) nen ehemaligen Mitstreitern aus der und Militär hegte, trafen die DC beim Liste D. Chr. Pos. Lib. Deutschvölkischen Freiheits-Partei (Dv- deutschen Protestantismus durchaus Kirche FP) abrechnete. auf fruchtbaren Boden.3 Elias 5 u. 18 12 u. 37 1 u. 5 Diese Versammlung war eine Reaktion Während des Wahlkampfes zu den Kir- Gethsemane 6 u. 20 10 u. 33 2 u. 7 auf vorhergegangene angebliche Ver- chenwahlen führten die „Deutschen leumdungen aus dem sich im Nieder- Christen“ am 29. Oktober 1932 eine gang befindenden „völkischen“ Lager, Kirchenwahlkundgebung in der Aula Kirchenkreis Berlin Stadt III. (Stimmen) die den „jesuitisch-verseuchten“ Nati- des Heinrich-Schliemann-Gymnasiums, Liste D. Chr. Pos. Lib. onalsozialisten einen „Kotau vor Rom“ Gleimstraße 49 (heute 11. Grundschule), Kirche vorgeworfen haben sollen. Unter den durch, auf der der Reichs- und Gaupres- Segen 499 831 52 Versammlungsteilnehmern befanden sewart der DC, Pg. Pfarrer D. Freitag, Paul Gerhardt 800 1783 276 sich deshalb viele neugierige ehemali- über das Thema: „Ein deutscher Christ, ge Mitglieder der DvFP. Im „Angriff“, der was ist das?“ sprach.4 Am 11. Novem- Quelle: Der Angriff, Nr. 236, 14.11.1932. Berliner Zeitung der NSDAP, lautete die ber 1932 veranstalteten die DC dann ei- das Zentrum betreffende Stelle: „Die ne große Wahlkundgebung im „Saalbau An der Adventkirche, Elbinger Stra- Religion aber als Aushängeschild für Friedrichshain“, Am Friedrichshain 16– ße 23, Ecke Schneidemühler Straße 1 rein politische Zwecke zu gebrauchen, 23. Diese Aktivitäten der Nazis inner- (Danziger Straße 201–203, Ecke Heinz- wie dies das Zentrum tut, ist geradezu halb der evangelischen Kirche blieben Bartsch-Straße), hielt ein DC-Pfarrer Lo- gotteslästerlich.“1 im Bezirk Prenzlauer Berg – wie auch erzer ab dem 20. November 1932 regel- Zwar gab sich die NSDAP bis 1930 bei anderswo – nicht ohne Erfolg. mäßig Gottesdienste und Bibelstunden ihrem Bemühen um die Gewinnung Wie der „Angriff“ meldete, hätten die ab. Auch an der Immanuelkirche, Prenz- kirchlicher Kreise legal und gemäß ih- „Deutschen Christen“ bei den Kirchen- lauer Allee 28, Ecke Immanuelkirchstra- rem Parteiprogramm von 1920 religi- wahlen „einen glänzenden Erfolg im ße 1, wurden seitdem Gottesdienste onsneutral, trennte sich vom religiösen Hort der kirchlichen Reaktion errun- und Bibelstunden von einem DC-Pfar- Flügel der völkischen Bewegung und gen“, da sie zwischen 30 und 50 Pro- rer Lies abgehalten. Gelegentlich wur- betonte ab 1930 sogar ausdrücklich die zent der Stimmen auf sich vereinen de dafür auch der Sitz des Gemeinde- Vereinbarkeit von Nationalsozialismus konnten.5 Tatsächlich erhielten die DC kirchenrates (GKR) im Drunselweg 1 7 und Christentum,2 doch ist der Vorwurf in Berlin ein Drittel der Stimmen und (vorher Zelterstraße, heute Rietzestra- der Gotteslästerung im Hinblick auf die damit auch zahlreiche Sitze in den Ge- ße) genutzt. An der Gethsemanekirche, 1932 von den Nationalsozialisten ge- meindekirchenräten.6 Stargarder Straße 77, schließlich wirkte gründete Glaubensbewegung „Deut- der DC-Pfarrer Dr. Thom ab dem 18. De- sche Christen“ (DC) und deren Bestre- Ergebnisse in den Kirchen des zember 1932.8 bungen nach 1933 dann doch mehr als Verwaltungsbezirkes Prenzlauer Alle drei Pfarrer waren überdies Mitglie- erstaunlich. Berg bei den Kirchenwahlen vom der der NSDAP. Pfarrer Loerzer hielt so- 13. November 1932 gar am 20. November 1932 eine Toten- Die Anfänge der „Deutschen gedenkrede auf der ersten Kreistagung Christen“ im Bezirk Prenzlauer Berg Listen: des im Spätsommer 1932 gebildeten Schon ab 1931 bemühten sich Ver- D. Chr. – Glaubensbewegung „Deut- NSDAP-Kreises VII (Bezirke Prenzlau- treter der NSDAP, nicht zuletzt Wil- sche Christen“ er Berg und Friedrichshain).9 Pfarrer helm Kube, um die Gründung einer Pos. – Positiver Parochialverein Lies hielt am 4. Dezember 1932 auf ei- Organisation, die den Einfluss der na- Lib. – Liberale Christen ner Adventsfeier der NS-Frauenschaft

26 der Ortsgruppe Humann (von Humann- Ernst Steinhausen war Kandidat der DC. mig beschloss, um seine gänzliche Ab- platz) eine Ansprache.10 Pfarrer Dr. Später legte er sein Amt als Kirchenäl- berufung zu ersuchen. Allerdings drang Thom war auch Leiter der Arbeitsge- tester nieder und trat gleichfalls aus der die Gemeinde beim Evangelischen Ober- meinschaft der Pfarrer der Glaubens- Kirche aus. Die DC erlangten 7 von 18 kirchenrat damit nicht durch. Erst Ende bewegung.11 Er hielt auf der Weih- Sitzen im GKR und stellten 23 von 60 1946 musste Pfarrer Lies die Gemeinde nachtsfeier der Ortsgruppe Arnim (von Gemeindevertretern. Trotzdem erhoben verlassen.17 Arnimplatz) am 21. Dezember 1932 die sie Einspruch gegen die Wahl, den sie Einen treuen Mitstreiter hatte Lies in Festansprache.12 mit einer angeblichen Benachteiligung Erich Loos, der schon seit 1913 Küster durch Versagen der Gemeinderäume der Immanuelgemeinde war. Als Mit- Die Anfänge des Kirchenkampfes begründeten und indem sie Vertreter glied der NSDAP und späterer Mitarbei- in der Immanuelgemeinde des Parochialvereins der Wahlmanipula- ter der setzte sich Loos stets Berlin war Zentrum der Auseinanderset- tion und Wählerbeeinflussung beschul- für die Belange der DC ein.18 zungen zwischen „Deutschen Christen“ digten. Der Einspruch wurde vom GKR und Bekennender Kirche. Allerdings abgelehnt. Die Beschwerde der „Deut- Epilog brach der so genannte Kirchenkampf in schen Christen“ gegen diesen Bescheid Gemäß der Auskunft einer Protokollan- anderen Gemeinden erst zur Kirchen- wurde vom Kreissynodalvorstand zu- tin der Entnazifizierungskommission wahl im Jahre 1933 aus. Ein Verdienst rückgewiesen. Die Einführung der ge- Prenzlauer Berg wäre der Bürgermeister der Fallstudie von Christine Knop ist wählten Körperschaften fand am 19. Fe- und Kirchenälteste Bombach nach dem es, nachgewiesen zu haben, dass es in bruar 1933 statt.15 Einzug der Roten Armee in Weißensee der Immanuelgemeinde bereits 1932 zu Im Vorfeld des Volkstrauertages am 1945 mit seinem Stab noch mehrere Ta- scharfen Konflikten gekommen war.13 12. März 1933 hatte die Fraktion der ge in Berlin im Auto umher geirrt. Als er Bereits vor den Kirchenwahlen im No- „Deutschen Christen“ im Februar 1933 schließlich keinen Ausweg mehr wuss- vember 1932 eskalierten die Ausein- einen Kranz mit Hakenkreuzschleife te, hätte er sich und seine Frau sowie andersetzungen in der Gemeinde zwi- zum Gedenken an die Kriegstoten des seine Schwiegermutter in der Schule in schen den Mitgliedern des „Positiven I. Weltkrieges in der Kirche angebracht. der Prenzlauer Allee 227/228 vergiftet. Parochialvereins“ (Positive) und der Die DC-Gruppe widersetzte sich mit äu- Die Leichen sollen dann gegenüber an DC. Die Mittel der DC im kirchenpoliti- ßerster Aggressivität der vom GKR ge- der Immanuelkirche begraben worden schen Machtkampf waren „Einschüch- forderten Entfernung der Schleife. Der sein.19 terung von Gemeindemitgliedern, Be- DC-Kirchenälteste Bombach versuchte schwerden bei der Kirchenbehörde, hierbei seine Mitgliedschaft im Preu- Oliver Reschke M. A. Drohungen und Unterstellungen von ßischen Landtages auszunutzen, in- marxistischen Ideen.“ Der GKR der Im- dem er in einem Schreiben mit dem manuelkirche wehrte sich gegen die Briefkopf des Preußischen Landtages 1 Der Angriff, Nr. 5, 4.2.1929 und Nr. 6, 11.2.1929; Machtansprüche der „Deutschen Chris- vom 8. März 1933 an den GKR ankün- vgl. auch Nr. 4, 28.1.1929, Anz. 2 Christine Knop, Evangelischer Kirchenkampf am ten“, indem er ihnen die Benutzung der digte, die Hakenkreuzschleife erneut Beispiel der Berliner Immanuelgemeinde in den Gemeinderäume zu Wahlvorbereitun- am Kranz zu befestigen. Ferner droh- Jahren von 1932 bis 1945, Hausarbeit am Institut für katechetischen Dienst Berlin 2002, S. 4. gen verweigerte, worauf sich die DC- te er im Falle ihrer Entfernung mit ei- 3 Ebd., S. 3/4; Hans-Rainer Sandvoß, Widerstand in Gruppe beim Generalsuperintendenten nem Strafantrag. Doch der Gemeinde- Prenzlauer Berg und Weißensee, Bd. 12 der Schrif- beschwerte. Bei einer großen Kirchen- kirchenrat unter Pfarrer Heinecke blieb tenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 16 bis 1945, Hrsg. Gedenkstätte Deutscher Wider- wahlkundgebung der DC-Gruppe der standhaft. stand, Berlin 2000, S. 236, vgl. auch S. 16; Vgl. Immanuelgemeinde am 11. Novem- Besonders durch den Einfluss des DC- ebenso: Der Angriff, Nr. 190, 21.9.1932: „Zu den ber 1932 im „Saalbau Friedrichshain“ Gründungsmitgliedes Pfarrer Ferdinand Kirchenwahlen“ und Nr. 33, 8.2.1933: „Erster Kul- turabend der Glaubensbewegung ‚Deutsche Chris- zum Thema: „Die Evangelische Kirche Lies (1884–1949) wurde der Kirchen- ten‘“. und wir!“, bei der u. a. auch Pfarrer Lo- kampf in der Immanuelgemeinde mit 4 Der Angriff, Nr. 223, 29.10.1932, Anz. Zu Pfarrer erzer sprach, trat Pfarrer Lies als Red- solcher Heftigkeit ausgetragen. Lies war Freitag vgl. Der Angriff, Nr. 254, 6.12.1932: „Gau- kirchentag der ‚Deutschen Christen‘“. ner mit antijüdischen Ausfällen auf und seit 1930 in der Gemeinde tätig. Schon 5 Der Angriff, Nr. 236, 14.11.1932: „Bisheriges Er- diffamierte die Positiven und den GKR. im Juni 1922 hatte er wegen eines skan- gebnis der Kirchenwahlen“. Pfarrer Carl Heinecke, Vorsitzender des dalösen Zeitungsartikels anlässlich der 6 Knop, S. 6; Sandvoß 12, S. 236. 7 Vgl. Knop, M4: Schreiben an den Gemeindekir- Gemeindekirchenrates, protestierte ve- Ermordung des damaligen Reichsau- chenrat der Immanuelkirchengemeinde. hement gegen die Diffamierung beim ßenministers Walther Rathenau Aufse- 8 Vgl. Ankündigungen in: Der Angriff ab Nr. 239 vom Superintendenten.14 hen erregt. Ein Jahr später war gegen 18.11.1932. 9 Der Angriff, Nr. 242, 22.11.1932. Zu den Kirchenwahlen 1932 trat die Lis- ihn ein Strafverfahren wegen Beleidi- 10 Der Angriff, Nr. 252, 3.12.1932. te „Deutsche Christen“ gegen die Lis- gung des Reichspräsidenten Friedrich 11 Vgl. Der Angriff, Nr. 254, 6.12.1932: „Gaukirchen- te „Evangelium und Volkstum“ der Po- Ebert, den er öffentlich einen „Schwei- tag der ‚Deutschen Christen‘“. 12 Der Angriff, Nr. 269, 23.12.1932. sitiven an. Der NSDAP-Kreisleiter VIII nehund“ nannte, anhängig. Lies galt am 13 Knop, S. 6, 24. (Bezirke Weißensee und Pankow), Karl Anfang des Kirchenkampfes als „Speer- 14 Ebd., S. 15/16, M2. Bombach, von 1928 bis 1932 Sektions- spitze“ der DC-Gemeindegruppe. Seine 15 Ebd., S. 16, zu den Kandidaten S. 27. 16 Ebd., S. 15/16, M1. führer Prenzlauer Berg, seit 1929 Be- Neigung zum Alkohol, sein Lebenswan- 17 Ebd., S. 15, 24, 26, zum Wirken von Lies an der zirksverordneter in diesem Stadtbezirk, del und sein Auftreten im Amt riefen je- Immanuelkirche nach 1933 siehe auch S. 17–23; war Spitzenkandidat der „Deutschen doch Kritik selbst in den eigenen Rei- Sandvoß 12, S. 251. 18 Knop, S. 27. Christen“. Er wurde nach der Wahl einer hen hervor. Dies führte schließlich dazu, 19 Schreiben der Else Paulke vom 31.10.1946 (am von insgesamt sieben DC-Kirchenältes- dass ihm von der Amtskirche der Vorsitz 16.7.1948 an Eidesstatt versichert), im Bestand: ten. Als er 1934 zum Bürgermeister von im GKR, den er von 1935 bis 1936 inne C Rep. 105 Magistrat von Berlin, Abteilung Finan- zen, Nr. 2338 Treuhandstelle – Sondervermögens- Prenzlauer Berg ernannt wurde, trat er hatte, entzogen wurde und der Gemein- verwaltung Berlin-Pankow, Liegenschaft Homeyer- aus der Kirche aus. Auch der Apotheker dekirchenrat 1937 sogar fast einstim- straße 30, unpag.

27 Bewusst vergessen? Zum antifaschistischen Widerstand der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP)

Beim Durchforschen bisher nicht zu- lebten die meisten SAP-Mitglieder, kon- zunächst ohne unmittelbare Mitarbeit gänglicher Akten des Spezialarchivs sequent gegen das Hitlerregime auf. der Gestapo geführten Ermittlungen der über NS-Verbrechen beim ehemaligen Zu den herausragenden führenden Per- Genannten ergaben, daß sich in Berlin Ministerium für Staatssicherheit der sönlichkeiten der SAP im Ringen gegen die Reichsleitung der SAP befindet, die DDR, nach 1990 dem Bundesarchiv den deutschen Faschismus gehörten über einen Kurierdienst auf dem Wege Dahlwitz-Hoppegarten zugeordnet, fand Max Seydewitz, Dr. Kurt Rosenfeld und Berlin – Herzberg – Dresden – Prag un- ich Prozessakten gegen Antifaschisten, Jacob Walcher, die auch nach erzwunge- mittelbare Anweisungen von dort durch die der SAPD angehörten. Im Frühjahr ner Emigration den Widerstand der im Kurt Liebermann erhält. 1934 wurden sie verhaftet und nach Lande verbliebenen SAP-Mitglieder ziel- In Zusammenarbeit mit der hiesigen brutalen Verhören in einem mehrtägi- strebig organisierten. Dienststelle wurden durch die genau gen Prozeß vor dem Volksgerichtshof zu Das geschah über Max Seydewitz aus informierten Herrn der politischen Ab- langjährigen Haftstrafen verurteilt. der Tschechoslowakei und – nach er- wehrstelle Dresden zunächst die 6 Ber- 24 Angeklagte unterschiedlichsten Al- neuter Flucht – aus Norwegen und spä- liner Führer der Reichsleitung und daran ters, der jüngste Angeklagte war erst ter aus Schweden. Dr. Kurt Rosenfeld anschließend die 6 Leiter der Reichslei- 15 Jahre alt, standen in Berlin vor dem hielt aus Kontakte nach Berlin. Er tung des SJV verhaftet (der SJV war die Volksgerichtshof. setzte sich bis 1939 in Frankreich für die Jugendorganisation der SAP – G. W.). Aus den Akten der Gestapo ist zu ent- Herstellung einer breiten antifaschisti- Die weiteren Ermittlungen führten in nehmen, daß im „Reichsgebiet“ meh- schen Einheits- und Volksfront ein. Nach Berlin bis jetzt zur Verhaftung von 22 rere Hundert Personen verhaftet und Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wirk- Personen, die sich führend teils in der verurteilt wurden wegen Hochverrat, te er in Amerika, zuletzt in den USA, bis Leitung, teils als Kuriere betätigt ha- wie es im Sprachgebrauch der braunen zu seinem Tod im Jahre 1943 für die Ein- ben. Machthaber hieß. heit der deutschen und deutschsprachi- Es wurde weiter festgestellt, daß sich In der historischen Fachliteratur er- gen Hitlergegner. Jacob Walcher wirkte diese Organisationen von Berlin aus scheint der Name SAP bzw. SAPD. Nur ebenfalls über Frankreich und ab 1941 über das ganze Reich erstreckten und wenige wissen aber etwas mit der Ab- aus den USA nach Deutschland im Sin- bereits in Köln, Hannover, Stettin, Bres- kürzung anzufangen oder sie zu deu- ne der Einheit aller Antifaschisten, um lau, Braunschweig, Nürnberg, Frank- ten. das Naziregime zu stürzen und den sinn- furt a/Main, Hamburg groß ausgebaute Die am 2. Oktober 1931 gegründete So- losen Krieg zu beenden. Zentralen besitzt. zialistische Arbeiterpartei Deutschlands Die vorliegende Anklageschrift aus dem So meldete auf telefonische Rückspra- setzte sich aus linken Sozialdemokraten Jahr 1934 hebt als besonders „hoch- che hin das Polizeipräsidium Köln die zusammen, die nicht länger gewillt wa- verräterisch“ die Auslandskontakte der Verhaftung des dortigen Leiters, eines ren, die Tolerierungspolitik ihres Partei- Angeklagten zu den emigrierten führen- gewissen Paul Keller und seines Vaters, vorstandes und der Reichstagsfraktion den Männern der SAP hervor. Die An- des Regierungsobersekretärs Paul Kel- gegenüber der Regierung Heinrich Brü- klageakte, die das Wirken der Wider- ler, bei dem ebenfalls wichtiges Mate- ning angesichts des drohenden deut- standskämpfer analysiert und wertet, rial gefunden wurde. Es wurden in Köln schen Faschismus mit zu tragen. Die läßt die Wut sowie die Ohnmacht erken- bis zum 1.9.33 mittags bereits 5 lei- Mitglieder der SAP suchten nach einem nen, dass es in Deutschland eine weit- tende Persönlichkeiten festgenommen eigenen Weg des Ringens gegen den verzweigte illegale Gruppierung gab, die und weitere etwa 50 Verhaftungen bis in Deutschland immer stärker werden- sehr intensiv politisch in Erscheinung zum Abend des 2.9. in Aussicht gestellt. den Einfluß der Nazis, die im Bündnis getreten war. Der Anklageschrift des Wie Köln mitteilte, ist einer der haupt- mit bedeutenden Teilen des deutschen Volksgerichtshofes war folgender zu- sächlich dort tätigen Personen, ein ge- Großkapitals agierten. Allerdings grenz- sammenfassender Bericht der Gestapo wisser Kühn, ins Saargebiet entflohen, te sich die junge Partei auch gegen dog- über die Verhafteten vorangestellt: während die anderen in Frage kommen- matische Tendenzen in der Politik der den Führer gefaßt werden konnten bzw. KPD ab. Nicht wenige unzufriedene „Bericht über Auflösung der SAP noch gefaßt werden sollen. Mitglieder der KPD schlossen sich der Gelegentlich der Festnahme eines Ku- Ebenso wie in Berlin wurde auch in Köln SAP an. Die SAP blieb eine Splitterpar- riers der SAP durch die politische Ab- festgestellt, daß es sich um eine auch tei; viele ihrer rund 30.000 Mitgliedern wehrstelle I. c./B der Brigade Dresden im Rheinland weit verzweigte, sehr re- stellten sich in antifaschistischen Aktio- wurde bei diesem eine Deckadresse für ge und ausgezeichnet durchorganisier- nen an die Seite der Kommunisten; ei- Berliner Verbindungen mit der in Ber- te illegale Organisation handelt, die in nige ihrer führenden Persönlichkeiten lin befindlichen Reichsleitung der illegal der verschiedensten Form getarnt ist standen aber auf antikommunistischen sehr rege arbeitenden SAP gefunden. und über einen sehr guten Nachrichten- Positionen. Objektiv war die Gründung Seitens der Abwehrstelle Dresden, bei dienst verfügt. der SAP nicht unbedingt förderlich für der in dieser Sache bereits 150 Per- Hannover meldet ebenfalls die Festnah- die notwendige Aktionseinheit gegen sonen einsitzen, wurden daraufhin die me des Leiters des dortigen Bezirkes die drohende NS-Diktatur. Nach Errich- Herrn Geissler und Fährmann zur Zu- und kündigt gleichzeitig weitere Fest- tung der faschistischen Terrorregimes sammenarbeit mit der hiesigen Dienst- nahmen im größeren Umfange an. traten die SAP-Mitglieder in mehreren stelle J. III B 3 (Berlin ist damit ge- Der in Solingen sitzende Bezirksleiter Großstädten, vor allem in Berlin, hier meint – G. W.) nach Berlin beordert. Die soll durch die Düsseldorfer Polizeistelle

28 in Verbindung mit dem Polizeipräsidium es durch Fabian nach Paris und teilwei- Ferner wurden 4 Schreibmaschinen Köln festgenommen werden (Meldung se auch unmittelbar an die Emigration und 1 Abziehapparat beschlagnahmt, steht Zurzeit noch aus). Die Bezirkslei- Prag weiterleitet. die der Reichsleitung zur Herstellung tung des 13. Bezirks Nürnberg ist, ver- Ein gewisser Prozentsatz der kassierten von Vervielfältigungen und der oben ge- mutlich eines taktischen Fehlers der Po- Mitgliederbeiträge ging unmittelbar an nannten Zeitungen dienten. lizeistelle Nürnberg entkommen, jedoch den Eckstein – Fonds nach Paris, wäh- Die SAP, eine Absplitterung der radikals- besteht die Möglichkeit, einige Mitar- rend der Rest für Regieunkosten und ten Elemente der SPD, hat sich im Febr. beiter vielleicht noch zu fassen. Gehälter der Reichsleitung verwendet d. Js. (1933 – G. W.) zwecks besserer il- wurde. Letztere betrugen zurzeit mo- legaler Arbeitsmöglichkeiten selbst auf- Der Kurier- und Nachrichtendienst natlich etwa 200 Mark pro Kopf. gelöst und sofort begonnen, den Aufbau Wie durch die hiesige Dienststelle ge- Die Summe, die die Reichsleitung zur- illegaler Basis neu zu organisieren. meinsam mit der Abwehrstelle I. c/B zeit von den Bezirken aus kassierten Durch diesen Schachzug ist es der SAP Dresden festgestellt worden ist, war der Beiträgen erhielt, betrug monatlich et- gelungen, noch andere, ihr bis dahin Nachrichtendienst außerordentlich gut wa 100 bis 1.500 Mark. fernstehende radikale Elemente zu sich aufgezogen. heranzuziehen und ungestört ihre regie- Der Apparat verfügt teilweise auch zur Druckmaterial, Nachrichten rungsfeindliche Tätigkeit weitgehendst Zeit noch einen über ganz Deutschland und Zeitschriften auszubauen. So sind die Mehrzahl ausgedehnten Nachrichtendienst, des- Durch die verschiedenen Haussuchun- der Mitglieder des Antifaschistischen sen Verbindungen, wie bisher einwand- gen, bisher für Berlin etwa 40, wurde Kampfbundes, große Teile der SPD und frei feststeht, an den Grenzen ganz glatt festgestellt, daß außer dem erwähnten der KPD geschlossen in dieser Organi- in die angrenzenden Auslandsgebiete, Nachrichten durch Geheimbriefe die sation im Verborgenen tätig. über Dresden unmittelbar nach Prag, hiesigen Bezirke maschinenschriftliche Der SJV ist lediglich die Jugendorganisa- über das Saargebiet unmittelbar nach Mitteilungen und Zeitschriften aus Prag tion der SAP und ihrer Nebenorganisa- Paris reichen. erhielten, die wieder in der vorgefunde- tionen. Bezüglich des Kurierdienstes Prag – nen illegalen Zeitschrift ‚Das Banner‘ Da es der SAP durch obiges Manöver Dresden – Berlin wurde festgestellt, daß und ‚Märzbriefe‘ sowie in Sonderrund- gelungen ist, die Aufmerksamkeit von die aus Prag von Kurt Liebermann kom- schreiben verwendet wurden. sich abzulenken, war es ihr möglich, ei- menden Anweisungen und Materialsen- Für den Bezirk Groß-Berlin wurden 2 ille- nen über ganz Deutschland verzweig- dungen zunächst nach Dresden gingen. gale Zeitungen hergestellt und regelmä- ten, großzügigen und gut arbeitenden Von dort wurden sie mittels Kurier nach ßig verausgabt. Die herstellende Stelle illegalen Apparat aufzuziehen, der teil- einer bzw. mehreren Berliner Deckad- des ‚Banners‘ wurde ausgehoben und weise weitaus besser und sicherer ar- ressen befördert. Die Nachrichten wa- die Apparate sichergestellt. In Berlin beitete als der der KPD. ren inhaltlich völlig harmlose Briefe (so- erschien ‚Das Banner‘ und für den SJV Die SAP ist vor allen Dingen auch heu- weit es sich nicht um Druckmaterial die ‚Märzbriefe‘. Jeder einzelne Bezirk te noch eifrig bestrebt, alle links stehen- handelte), in die mit Geheimtinten die gibt bzw. gab seine eigene maschinen- den Parteien vor allem die KPD und die eigentlichen Nachrichten eingeschrie- schriftliche Zeitung heraus. (z. B. Dres- SPD, zu einer Einheitsfront gegen die ben waren (durch Erwärmen lesbar). Ei- den ‚Die Klassenfront‘, Chemnitz ‚Der Regierung unter ihrer Führung zusam- ne weitere Verbindung ergab sich durch Prolet‘ usw.). menzufassen. Unbestritten ist der SAP einen solchen aufgefangenen Geheimb- Die einzelnen Herausgeber der illegalen dies auch, wie sich auch aus den bis- rief aus der Schweiz mit einem gewis- Zeitungen wurden von der hier festge- her vorliegenden auswärtigen Meldun- sen Jakobsohn aus . nommenen Reichsleitung unmittelbar gen ergibt, dadurch weitgehendst ge- mit dem aus Prag und dem Auslande lungen, daß sie es verstanden hat sich Geldmittel kommenden Material durch Kuriere ver- der Beobachtung und Kontrolle gründ- Als Geldgeber kommen außer den Bei- sehen. U. a. wurden auch die neusten lichst zu entziehen. Inwieweit eine hier trägen der allein Groß-Berlin etwa Ausgaben des in der Tschechei erschei- festgestellte Organisation, der Reichs- 1.000–1.500 Personen betragenden nenden ‚Neuem Vorwärts‘ sowie ein verband deutscher Volksrechtshilfe Mitgliederzahl, wie festgestellt wur- Bericht der Pariser ‚Reichstags- Brand- (früher Reichsverband der Vorbestraf- de, vorwiegend Spenden hiesiger jüdi- kommission‘ vorgefunden und sicherge- ten und Angeklagten) dessen Reichs- scher Geldgeber in Frage. So wurde im stellt. Es ist anzunehmen, daß die fest- leitung hier in Berlin lag und der noch Juli d. Js. in Paris der sogenannte Eck- genommenen Mitglieder der hiesigen heute den ebenfalls festgenommen stein – Fonds gegründet, der zuletzt in Reichsleitung insbesondere der schon Reich als Rechtsvertreter beim Amts- Deutschland von dem Zahnarzt Ewald lange für die SAP schriftstellerisch tä- gericht Mitte (Stadtbezirk Berlin-Mitte Fabian verwaltet wurde. Letzterer, der tige Zweiling und ebenso Köhler ihrer- gemeint – G. W.) arbeiten ließ, eine ge- Bruder des Arztes Fabian, Berlin Hohen- seits Berichte aus Deutschland für den tarnte SAP-Organisation ist, steht noch zollerndamm, ist flüchtig und wohnte ‚Neuen Vorwärts‘ geliefert haben. Wei- nicht einwandfrei fest. Sicher ist jedoch, bis zum 1.8. 33 in Berlin Hohenzollern- ter wurde das beiliegende Heftchen vor- daß dieser Reichsverband, der auch ei- damm 192. Wie einer der Geheimbrie- gefunden, in dem durch den genannten ne Hauptgeschäftsstelle in Stettin un- fe nachweist, sowie durch Aussage der Zweiling, Mitglied der hiesigen Reichs- terhält, wenigstens in den führenden Festgenommenen werden die Gelder leitung, in den ersten Tagen des März Persönlichkeiten sehr stark an die SAP des Eckstein – Fonds zur Unterstützung zu scharfer illegaler Arbeit aufgefordert angeschlossen und links eingestellt ist der politischen Flüchtlinge und Inhaf- wird. Einer Auflösung verstand er sich bisher tierten verwendet. Ebenso erfolgt Zah- Insgesamt wurden bisher etwa 15–20 zu entziehen. (Der genannte Reichsver- lung an die Emigration Prag. Die einzel- Zentner Flugblattmaterial, marxisti- band wurde durch den Juristen Dr. Kurt nen Bezirke Deutschlands liefern das sche und kommunistische Literatur und Rosenfeld inhaltlich und organisatorisch Geld an die hiesige Reichsleitung, die Schundliteratur erfaßt und vernichtet. geprägt – G. W.)

29 Der innere Aufbau der illegalen SAP 1) Max Köhler, 26. 7. 1897 Berlin schuldig gemacht zu haben, außerdem Es wurde festgestellt, daß noch zurzeit Köhler ist alter Spartakuskämpfer und hat sie Informationsblätter herausgege- die Einteilung der inneren Organisation von jeher radikal links eingestellt. Er ben, Anweisungen mit unsichtbarer Tin- der SAP folgendermaßen aussieht: war zunächst Bezirksleiter von Berlin- te geschrieben, verteilt, sowie direkte Der in Berlin befindlichen Reichsleitung Mitte der SAP und dann seit etwa Mai Verbindung mit Kurt Liebermann in Prag waren für Berlin 20 Ortsgruppen, die ds. Js. Verantwortliches führendes Mit- über Dresden unterhalten. in einer Bezirksleitung zusammenge- glied der Reichsleitung. Köhler ist unbe- 4) Karl Baier, 3. 1. 1887 Magdeburg faßt waren, unterstellt. Der SJV verfügte dingt als rechte Hand der beiden geflo- (wirkte 1933 in Berlin – G. W.) über den gleichen Aufbau bezüglich der henen eigentlichen Parteileiter Walcher Baier nennt sich zwar selber nur Mit- Jugend und hatte seine Reichsleitung und Enderle anzusehen. Nach Aussage arbeiter der Reichsleitung ist aber tat- ebenfalls in Berlin. Außerdem waren der Mitbeschuldigten ist er als Kopf der sächlich als vollgültiges Mitglied der und sind noch heute entsprechend den illegalen Reichsleitung anzusehen und Reichsleitung zu betrachten. Er gibt Reichstagsbezirken über ganz Deutsch- kommt auch als Hersteller des ‚Banner‘ selber zu, daß um die illegale Arbeit land die einzelnen Bezirke verteilt, denen in Frage. Seiner Behauptung, daß nicht möglichst geheim zu halten, nur drei dann wieder die Ortsgruppen angeglie- er, sondern der geflohene Enderle für Personen Mitglieder der Reichsleitung dert sind. Alle Nachrichten und Anwei- alles verantwortlich zu machen sei, ist waren, während die anderen führenden sungen der Reichsleitung gingen den wenig Glauben zu schenken, zumal er Personen sich nur Mitarbeiter nannten, Ortsgruppen bzw. den Deckadressen auch mit der Sekretärin des genannten um auf diese Weise behaupten zu kön- in den Ortsgruppen durch die zuständi- Enderle die gesamte Kurierdienstabfer- nen, nicht Mitglied der Reichsleitung zu gen Bezirke ebenfalls über Deckadres- tigung und Geheimpostabfertigung er- sein. Baier verfolgt die Taktik, obwohl sen zu und umgekehrt. Die Ermittlungen ledigte. Auch die Tatsache, daß er über er über alles orientiert sein muß, unbe- bezüglich der bisher festgenommenen den im Juli in Paris gegründeten Eckste- quemen Fragen dadurch auszuweichen, Personen und deren Geständnisse, so- infond genau Bescheid weiß, dessen daß er sich hinter das angebliche Wis- wie das vorgefundene beschlagnahm- Vorhandensein den meisten unbekannt sen ins Ausland geflüchteter Reichslei- te Material sind soweit abgeschlossen, ist, beweist seine Führerrolle. Seine Be- tungsmitglieder versteckt. Die Verneh- daß voraussichtlich im Laufe der kom- hauptung, seine Reise nach Dänemark mungen haben gezeigt, daß Baier sich menden Woche diese Personen wegen habe keinen politischen Charakter ge- ebenfalls führend in der Reichsleitung Hochverrats dem Vernehmungsrichter habt, erscheint sehr zweifelhaft. betätigt hat. Auch er ist sich vollkom- zugeführt werden können. Es ist jedoch Es ist als sicher anzunehmen, daß Köh- men darüber im Klaren, daß er bewußt zur Zerschlagung des gesamten Appa- ler noch vieles verschweigt. So ist er hochverräterische Handlungen began- rates eine weitere eingehende Bear- bestimmt auch über die auf Bl. 3 seiner gen hat. beitung sämtlichen Materials an Hand Vernehmung vom 7. 9. 1933 genannten 5) Charlotte Adel, 7. 12. 1893 des Retentenvorgangs in engster Zu- Ortsgruppen, vor allen Dingen die Na- 5 a) Lilli Adel, 6. 6. 1916 sammenarbeit, teilweise in persönlicher men der Ortsgruppenleiter, bedeutend Charlotte und Lilly Adel, und zwar insbe- Fühlungsnahme mit den auswärtigen besser orientiert als er zugeben will. sondere bezügl. der Jugendgruppe und Polizeistellen unerläßlich. Falls es nicht Sicher ist, daß bei Köhler die genannten ihre Mutter Charlotte in Bezug auf die gelingt, auch diese Bezirksstellen rest- Fäden des illegalen Apparates zusam- Partei dürften als die Zentralstelle des los zu erfassen, muß bei der intensiven menlaufen. gesamten Reichskurierdienstes für Par- Arbeit die seitens der SAP bisher geleis- 2) Hans Beldner, 17. 4. 1912 Berlin tei und Jugend anzusehen sein. tet wurde, unbedingt mit einem Neuauf- Beldner nennt sich selber Reichsjugend- Während die Tochter Lilly Adel den Mut bau auch einer Reichsleitung an ande- techniker und gibt zu, sich der Tragweite hat, sich offen zu ihren hochverräteri- ren Stellen gerechnet werden. seiner hochverräterischen Handlungen schen Handlungen zu bekennen und Friedrich von Platten (handschriftlich voll und ganz bewußt gewesen zu sein. diese einzugestehen, wenn sie auch be- unterzeichnet – G. W.) Er hat in der Hauptsache die Jugendbe- hauptet durch Beldner bzw. Erika Böl- Berlin, den 12. Sept. 1933“ arbeitung des SJV (Reichsjugendleitung) zer, verleitet worden zu sein, zeigt sich unter sich gehabt. Im Wesentlichen er- die Mutter außerordentlich hartnäckig „In Fortsetzung des Berichts streckt sich sein Arbeitsgebiet auf die und verstockt. Wie Lilly Adel selber zu- vom 12. 9. ist ergänzend zu melden: technische und organisatorische Seite, gibt, ist sie in der SAJ bereits in Funk- Die Vernehmungen der Inhaftierten, so- d. h. er war für die Abwicklung des Ku- tionärstellung gewesen. Der gesamte wie die Zeugenvernehmungen ergaben rierdienstes etc. sowie alle organisatori- ausländische Kurierdienst spielte sich keine wesentlichen neuen Tatsachen. schen Fragen verantwortlich. in der Wohnung der Adels ab, bzw. die Es wurden eine größere Anzahl weite- 3) Edith Baumann, 1. 8. 1909 Berlin Kuriere trafen sich dort und wurden von rer Adressen von etwa 40 heute noch Edith Baumann ist Reichsleiterin der hier aus weiter befördert. (…) illegal arbeitenden SAP- und SJV-Mit- Jugendorganisation des SJV in Zusam- Es sei an dieser Stelle festgestellt, daß gliedern ermittelt, die noch nachgeprüft menarbeit mit der SAP für das gesamte sich sämtliche genannten Personen, werden sollen. Reich. Sie hat den über sämtliche Bezir- die in lauter verschiedenen Stadtteilen Es ist durch die Geständnisse und Zeu- ke verteilten illegalen Apparat gemein- wohnten, sämtlichst führend im illega- genaussagen einwandfrei nachgewie- sam mit Beldner, Baier, Jahr, Bergner, len Apparat tätig waren. Daß die Mut- sen, daß es sich um eine staatsfeindli- Charlotte und Lilli Adel, Wolfgang und ter, Charlotte Adel, ganz genau über che und hochverräterische Betätigung Erika Bötzer, sowie den beiden flüchti- alles Bescheid weiß, geht aus den ver- handelt und daß die bestehende illega- gen Mitarbeitern Bruno Scholz und Her- schiedenen Aussagen der anderen Be- le Reichsleitung sowie die Bezirksleitun- bert Georg gemeinsam geleitet. Ihre schuldigten hervor. Es dürfte als sicher gen der SAP den Zweck verfolgen, die Anweisungen waren für sämtliche Grup- anzusehen sein, daß alle sehr stark un- linksradikalen Elemente zu einer Ein- pen des Reiches maßgebend. Sie gibt ter dem Einfluß von Beldner gestanden heitsfront zusammenzuschließen. ohne weiteres zu, sich des Hochverrats haben. Die Aussage von Charlotte Adel

30 beweist ebenso wie die der anderen Die Urteilsschrift zer, z. Zt. im Arbeitsdienstlager Krojan- Mitbeschuldigten, daß der Zusammen- „Im Namen des deutschen Volkes (…) ke b. Schneidemühl, jetzt in Kronefeld/ schluß der linksradikalen Elemente un- In der Strafsache gegen den Frankfurt a/O, geb. 10 Dez. 1912 in Ber- ter Führung der SAP angestrebt wurde. 1) den Reisenden Hermann Max Köhler lin, ledig unbestraft, 6) Wolfgang Bötzer, 3.4.1918 Berlin aus Berlin-Neukölln, Manitiusstr 3, geb 15) den Versicherungsangestellten 6 a) Erika Bötzer, 7.7.1912 Berlin a. 26 Juli 1897 in Berlin geschieden, un- Werner Helmuth Jahr a. Berlin-Wilmers- Am auffallendsten, aber auch am belas- bestraft, dorf, Kaiser-Allee 26, geb. a. 6. Juni tendsten für die gesamte illegale Tätig- 2) den Physiker Dr. phil. Klaus Johann 1913 in Böhlitz – Ehrenberg, ledig, un- keit, ist die Tatsache, daß ein 15jähri- Gottfried Richard Zweiling a. Berlin NO bestraft, ger Junge und ein 17jähriges Mädchen 18, Palisadenstr, 2, geb. a. 18. Febr. 16) den Handelsvertreter Erich Arthur nahezu den gesamten Kurierdienst für 1900 in Berlin-Moabit, verheiratet, vor- Drucker a. Charlottenburg, Leibnitzstr SAP und SJV in Händen hatten. Der bestraft, 63, geb. 25 Januar 1905 in Berlin, ledig, 15jährige Bötzer, der bei seiner Ver- 3) den früheren Geschäftsführer des unbestraft, nehmung einen äußerst hinterhältigen Reichsverbandes Deutscher Volks- 17) den Landwirtschaftspraktikanten und verschlossenen Eidruck machte, rechtshilfe Eduard Hermann Reich a. Peter Bernhard Löwy a. Oberstdorf, ist ebenso, wie seine Schwester Erika, Berlin C 25, Dirksenstr. 42, geb. a. 16. Post Trebnitz an der Ostbahn, bei Besit- vollkommen über die illegale Organisa- Januar 1886 in Klein-Opitz b. Tharandt zer Pehlke, geb. a. 27. Juni 1909 in Ber- tion orientiert. Er hat die gesamte Be- Bez. Dresden, verheiratet, unbestraft, lin-Wilmersdorf, ledig, unbestraft, förderung der unter Deckadressen oder 4) den Büroangestellten Karl Rudolf 18) den Journalisten Stefan Szende a. durch Kuriere eingehenden Briefe und Kaspar Baier a. Berlin NO 55 Weißen- Berlin W 30, Frankenstr. 9 bei Lilienthal, den entsprechenden illegalen Partei- burgerstr. 79 II, geb. 3. Januar 1887 in geb. a. 10. April1901 Szombachheley in stellen, sowie die Weiterleitung der Ku- Magdeburg, verh., unbestraft, Ungarn, verh. Ungarischer Staatsange- riere selbst, mittels eines von Helmuth 5) die Stenotypistin Edith Selma Bau- höriger, unbestraft, Jahr zur Verfügung stehenden Fahrrads mann a. Berlin N 113, Stolpischestr. 25, 19) den Dr. med. dent. Georg Weinberg durchgeführt. Er sowie seine Schwester geb. a. 1. Aug. 1909 in Berlin, ledig, un- a. Charlottenburg, Dahlmannstr. 34, haben auch für das richtige Verteilen bestraft, geb. a. 4. Dez 1885 in Berlin, verheira- der illegalen Zeitschriften ‚Banner‘ und 6) den Kaufmannslehrling Hans Wil- tet, unbestraft, ‚Märzhefte‘ gesorgt. Beide geben ohne helm Beldner a. Berlin N 58, Lychener- 20) den Arbeiter Gustav Kleinert a. Ber- weiteres zu, sich bewußt und trotzdem str. 131, geb. a. 17. April 1912 in Berlin, lin-Schöneberg, Hauptstr. 4, geb. a. 18 sie durch den Vormund mehrfach drin- ledig, unbestraft, Okt. 1903 in Köln a. Rhein, verheiratet, gend verwarnt worden sind, hochver- 7) den Sterotypeurlehrling Gustav Karl unbestraft, räterisch betätigt zu haben. Wolfgang Seeger a. Berlin-Mariendorf, Chaussee- 21) den kaufmännischen Angest. Ernst ging sogar soweit, zu erklären, daß er str. 296, geb. a. 20 Juni 1912 in Marien- Konrad Zander a. Berlin-Charlottenburg, der Ansicht sei, diese Bestrebungen sei- dorf, ledig unbestraft, Reichstr. 8 b. d. Mutter, geb. a. 2. Dez. en die einzig richtigen. Während der An- 8) das Lehrmädchen Käthe Maria 1908 in Berlin-Charlottenburg, ledig, gabe der Erika Bötzer, daß sie sich in Zu- Kirschnik a. Berlin NO 55, Weißenbur- unbestraft, kunft jeder politischen Arbeit fernhalten gerstr. 66, geb. 7. Mai 1913 in Berlin, le- 22) den kaufmännischen Angest. Erich werde, Glauben zu schenken sein dürf- dig, unbestraft, Ernst Willi Günther Keidl a. Berlin, Brei- te, erscheint dies bei dem Charakter 9) die Stenotypistin Ilse Dorothea testr. 29 b Böttcher, geb. a. 5. April des Wolfgang B. mindestens fraglich. Bertha Schnieber a. Berlin N58, Swine- 1909 in Berlin, ledig, unbestraft, Des jugendlichen Alters wegen und ge- münderstr. 117, geb. a. 21 April 1915 in 23) die Malerin Käthe Fanny Schuf- gen Sicherheit des Vormundes wurden Berlin, ledig unbestraft, tan a. Berlin-Wilmersdorf, Hohenzol- beide auf freiem Fuß belassen. (…) Bei- 10) den Kaufmannslehrling Peter Ernst lerndamm 206 b. Frankenstein, geb. a. de haben illegale Fahrten und Treffs or- Keller a. Köln-Mauenheim, Guntherstr. 12. Januar 1899 in Breslau, ledig, unbe- ganisiert. So hat Erika Bötzer, wie die 117, geb. a. 17. Sept. 1914 in Königsberg straft, Aussagen der Mitbeschuldigten erge- i/Pr. ledig, unbestraft, 24) den Pressestenographen Hans Ils ben haben, noch am 1. Mai ds. Js. eine 11) die Stenotypistin Charlotte Agnes a. Berlin-Halensee, Kurfürstendam 136, sozialistische Maifeier gemeinsam mit Klara Adel geb. Sonntag a. Berlin NO55, geb. a. 12. Mai 1906 in Weißenhorn in Beldner geleitet. (…) Weißenburgerstr. 79, geb. a. 7. Dez. Bayern, ledig unbestraft, Über die sich aus den Vernehmungen 1893 in Berlin-Tempelhof, geschieden, zu 1 bis 7, 11, 15, seit dem 15. Septem- an Hand des Retentvorganges erge- unbestraft, ber, zu 10 seit dem 30. Januar 1934, bende Tätigkeit innerhalb der einzelnen 12) die Kinderpflegerin Lilly Karoline zu 16, 20, 21 u. 24 seit dem 20. März Ortsgruppen Großberlins, sowie im Rei- Dorothea Adel, früher in Berlin NO 55 1934 zu 23 seit dem 23. April 1934 u. che, werden gesonderte Ermittlungsak- Weißenburgerstr. 79, jetzt bei Gastwirt zu 17 seit dem 5. April 1934 in Unter- ten angelegt. Reinhold Sonntag in Niederlehme Kr. suchungshaft, wegen Vorbereitung zum Es hat sich weiter herausgestellt, daß Beeskow-Storkow, Wensdorferstr. 30, Hochverrat pp. hat der Volksgerichts- gleichartige Teile der Organisation in geb. a. 20. Juni 1916 in Charlottenburg, hof, 2. Senat in den Sitzungen vom 26. Hannover, Köln, Hamburg, Bremen, ledig, unbestraft, Nov. bis 1. Dez. 1934 (…) für Recht er- Stettin und Breslau bestehen. Die Be- 13) den Schüler Wolfgang Karl Wilhelm kannt: arbeitung dieser illegalen Bezirksleitun- Bötzer in Berlin-Zehlendorf, Hauptstr. Wegen Verbrechens der gemeinschaft- gen erfolgt von hieraus gesondert und 58 b. Gastal, geb. a. 3. April 1918 in Ber- lichen Vorbereitung eines hochverräte- in Verbindung mit den in Frage kom- lin, Vormund Landesobersekretär Paul rischen Unternehmens werden auf ihre menden Polizeistellen. Scholz in Berlin-Zehlendorf, Bölkerstr. 7, Kosten verurteilt: Friedrich von Platten“ (handschriftlich unbestraft, 1. Der Angeklagte Köhler zu einer Ge- unterzeichnet – G. W.)1 14) die berufslose Erika Luise, Böt- fängnisstrafe von 3Jahren abzüglich

31 ein Jahr 3 Monaten erlittener Untersu- 10. Der Angeklagte Jahr zu einer Ge- nate erlittener Untersuchungshaft, chungshaft, fängnisstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten, I. Es werden auf Kosten der Reichskas- 2. Der Angeklagte Zweiling zu einer die durch die erlittene Untersuchungs- se freigesprochen: Gefängnisstrafe von 3 Jahren abzüg- haft als verbüßt gilt, 1. Die Angeklagte Kirschnick, lich 1 Jahr 3 Monate erlittener Untersu- 11. Der Angeklagte Drucker zu einer 2. die Angeklagte Schnieber, chungshaft, Gefängnisstrafe von 2 Jahren und 3 Mo- 3. die Angeklagte Lilly Adel, 3. Der Angeklagte Reich zu einer Ge- naten abzüglich 1 Jahr erlittener Unter- 4. der Angeklagte Wolfgang Bötzer, fängnisstrafe von einem Jahr 3 Mona- suchungshaft, 5. die Angeklagte Erika Bötzer (…) te, die durch die Untersuchungshaft als 12. Der Angeklagte Loewy zu einer Ge- verbüßt gilt, fängnisstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten Gründe 4. Der Angeklagte Baier zu einer Ge- abzüglich 10 Monate erlittener Untersu- Bei der Ermittlung des Sachverhaltes fängnisstrafe von 2 Jahren und 6 Mona- chungshaft, hat der Senat in keiner Weise berück- ten abzüglich 1 Jahr und 3 Monate erlit- 13. Der Angeklagte Szende zu einer sichtigt, was die Angeklagten bei ihren tener Untersuchungshaft, Zuchthausstrafe von 2 Jahren abzüglich polizeilichen Vernehmungen ausgesagt 5. Die Angeklagte Baumann zu einer ein Jahr erlittener Untersuchungshaft, haben. Einige Angeklagte haben Ein- Gefängnisstrafe von 3 Jahren abzüglich 14. Der Angeklagte Weinberg zu einer wendungen gegen die Verwertbarkeit 1 Jahr und 3 Monate erlittener Untersu- Gefängnisstrafe von 1 Jahr 3 Monaten der polizeilichen Protokolle, die ihnen chungshaft, abzüglich 8 Monate erlittener Untersu- zum Teil vorgehalten worden sind er- 6. Der Angeklagte Beldner zu einer Ge- chungshaft, hoben. (So umschrieb die faschistische fängnisstrafe von 2 Jahren und 6 Mona- 15. Der Angeklagte Kleinert zu einer Justiz die barbarischen Gestapo Verhör- ten abzüglich 1 Jahr und 3 Monate erlit- Zuchthausstrafe von 2 Jahren abzüglich methoden – G. W.) Nach Lage der Sa- tener Untersuchungshaft, 1 Jahr erlittener Untersuchungshaft, che erschienen dem Senat dies Einwen- 7. Der Angeklagte Seeger zu einer Ge- 16. Der Angeklagte Zander zu einer dungen beachtlich. (…)“ 2 fängnisstrafe von 1 Jahr und 3 Monate, Zuchthausstrafe von 2 Jahren abzüglich Auch angesichts dieser in Dahlwitz-Hop- die durch die erlittene Untersuchungs- 1 Jahr erlittener Untersuchungshaft, pegarten aufgefundenen Akten scheint haft als verbüßt gilt, 17. Der Angeklagte Keil zu einer Ge- es an der Zeit zu sein, sich eingehend 8. Der Angeklagte Keller zu einer Ge- fängnisstrafe von 1 Jahr und 9 Mona- mit den Widerstandsaktionen der SAP fängnisstrafe von 1 Jahr und 9 Monate ten abzüglich 1 Jahr erlittener Untersu- gegen den Faschismus zu befassen. abzüglich 1 Jahr 3 Monate erlittener Un- chungshaft, tersuchungshaft, 18. Die Angeklagte Schuftan zu einer Dr. Günter Wehner 9. Die Angeklagte Charlotte Adel zu ei- Gefängnisstrafe von 2 Jahren abzüglich ner Gefängnisstrafe von 1 Jahr 6 Mona- 1 Jahr erlittener Untersuchungshaft, 1 Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegar- te abzüglich 1 Jahr und 3 Monate erlitte- 19. Der Angeklagte Ils zu einer Zuchth- ten, Z/C 10856, Bd. IV, Bl. 14ff. ner Untersuchungshaft, ausstrafe von 2 Jahren abzüglich 11 Mo- 2 Ebenda, Bd. I, Bl. 515ff.

Boris Sludzki: „Die Kölnische Grube“ Spurensuche: Ein unbekanntes Kriegsgefangenen-/Zwangsarbeiterlager

„Wir lagen, siebenzigtausend Gefan- Mach halt hier am Rand. Hier bleichen Sie haben ihr Linsengericht und wir uns- gene, im Grund einer riesigen Steil- unsre Gebeine im Sand. Wir waren sie- re Seele.“ schlucht lungernd, wortlos Verlangen- benzigtausend Gefangene. Wir fielen bei (Boris Sludzki, Die Kölnische Grube, de, trotzig Bangende, in einer Grube bei Köln für das Vaterland! Sie wollten uns 1944) Köln verhungernd. werben, sie wollten uns kaufen, wir soll- Da droben am Rand ist ein Platz hin- ten zum Brotbeutel überlaufen. Sie san- Im November 2006 Zeit fragte mich geflacht; der senkt eine schräge Ram- gen von Wein und von Weibern: ‚Komm René Senenko von der Hamburger pe ins Loch. Da wird, täglich einmal, ein mit!‘ Willi-Bredel-Literaturgesellschaft/ Schindgaul gebracht Und herunterge- Doch die Unsern flüsterten: Geschichtswerkstatt während eines Ge- worfen, lebendig noch. ‚Nicht einen Schritt!‘ dankenaustausches, ob mir das Gedicht Und wie der Gaul in die Tiefe poltert, Genau lest die Aufschrift auf unserm des sowjetischen Dichters Boris Sludz- und wie wir ihn teilen und wie wir da Grabe! Wir dürfen an Pflicht und Nach- ki „Die kölnische Grube“ bekannt sei. knabbern, und wie uns vor Fressgier die ruhm glauben! Hat einer zu leiden nicht Ich hatte noch nie davon gehört, wurde Zähne klappern – o Bürger von Köln, ob mehr die Gabe, so wird die Partei ihm neugierig, ließ mir berichten. Schließ- die Schmach euch nicht foltert! den Freitod erlauben. lich übermittelte mir René Senenko O Bürger von Köln, ja wie fügte sich Die ihr unser Herz, Bewusstsein, Gewis- äußerst informative Schriftstücke aus das? Wo wart ihr Nüchternen, Redlich- sen Habt kaufen gewollt für ein Linsen- dem Nachlass seines Vaters Dr. Heinz gewillten, als grün wie Gras, nein, grün gericht – Seht her, wie das Fleisch wir Senenko aus Sebnitz in Sachsen, und wie Aas im kölnischen Loch wir vor Hun- vom Handteller bissen Und dann unser ich erfuhr den historischen Hintergrund ger brüllten? Leben zerbrachen aus Pflicht! des Gedichtes. Bei diesem Dokument Mit Nägeln und Schlägeln, mit Messer Wir graben mit Nägeln und Krallen, wir handelte sich um einen sehr persönlich und Schabstift gruben in Stein wir die graben. Wir heulen wie Tiere aus rauher abgefassten Brief des Literaturwissen- eigene Grabschrift: Genosse Soldat! Kehle. Und alles bleibt, wie es war: schaftlers Professor Dr. Jirí Franˇek aus

32 Prag/Tschechien vom Jahre 1993 an versitäten in Bochum, Göttingen und Kriegsgefangenen- und Zwangsarbei- René Senenkos Vater. Tübingen als Lektor, Gastdozent und terlager existierten, aber weder eine so Jirí Franˇek gehörte zum kommunisti- Gastprofessor. Die Aussagen im Ge- überdimensional große Anzahl von Ge- schen Widerstand in Auschwitz. Er wur- dicht Sludzkis fanden zwar Interesse fangenen noch gab es die Bezeichnung de in die tausend Mann starke Gruppe in den Hörsälen, doch die Authentizität „Kölnische Grube“. Es sollen jedoch be- der tschechoslowakischen Juden einge- blieb spekulativ. Franˇeks Bemühungen, sonders in den letzten Kriegsmonaten reiht, die von den Nazis nach Deutsch- auf dem Schriftwege durch Kölner Sla- viele kölnische Zwangsarbeiter in das land deportiert wurden. Die Häftlinge wisten, die Stadtverwaltung Köln und Arbeitserziehungslager Hundswinkel sollten zur Wiederherstellung des durch zuständige NS-Dokumentationsstätten bei Lüdenscheid zum Einsatz gekom- alliierte Bomber zerstörten Synthese- im Raum Nordrhein-Westfalens Klärung men sein. Sie arbeiteten am Bau eines werks Schwarzheide (es produzierte zu erreichen, blieben erfolglos. Staudammes zur Süßwassergewinnung. Benzin aus Braunkohle) nördlich von „Als ich die ‚Kölner Grube‘ suchte,“ so Allerdings waren es keine 70.000 Rus- Dresden eingesetzt werden. Nur, weil er der Literaturwissenschaftler, „habe ich sen, aber doch eine beträchtliche An- bei einem weiteren Angriff der Alliierten die Stadt Köln, ich glaube es war die zahl von Menschen. auf die Fabrik von einer Bombe getrof- Kulturabteilung, gefragt. Diese hat auch Die in Nordrhein-Westfalen eingeholten fen und schwer verletzt wurde, entging bei den anderen Teilen des Magistrats, Auskünfte lagen so greifbar nahe, dass Jirí Franˇek dem Todesmarsch, den er oder wie es damals hieß, nach Auskunft ich mich bereits dicht am Ziel meiner gemeinsam mit anderen Häftlingen im gesucht. Besonders dieses Stadtamt Spurensuche wähnte, mich dann aber April 1945 noch antreten sollte. war sich sicher, dass es sich nicht um doch irrte. Die verletzten, kranken und erschöpf- Köln handelt. Vielleicht könnte die Kor- Ein weiterer Kontakt führte mich zu ME- ten Häftlinge, darunter Jirí Franˇek, wur- respondenz dort noch existieren? Es MORIAL Deutschland e. V. in Berlin. Von den mit zwei Bussen von Schwarzheide wurden unterschiedliche Theorien er- Dr. Vera Ammer erfuhr ich eine völlig aus in das Außenlager Sachsenhausen wogen, z. B. dass möglicherweise ein andere, aber sehr konkrete Version, die überstellt mit dem Ziel der unverzügli- Dorf oder ein Ort mit dem Namen Köln hier auszugsweise wiedergegeben sei: chen Vernichtung in der Gaskammer. o. ä. existiert. Ich habe auch den Kon- „Das Gedicht von Sludzki beruht auf Die Betroffenen waren darüber nicht un- takt mit der tschechischen Stadtverwal- dem Bericht eines Partisanen, der in terrichtet. Jirí Franˇek: „Als ein SS-Mann tung gesucht. Köln heißt tschechisch Kriegsgefangenschaft geraten war und kam und uns zu verstehen gab, ‚es gibt Kolin, und es existiert auch eine tsche- überlebt hatte (vielleicht geflohen war) kein Gas mehr, Ihr könnt gehen“, sind chische Stadt Kolin. Aber dieser Weg Zwei Zeilen aus dem Gedicht (auch die wir gegangen. Wir fanden keinen Platz hat sich als ganz falsch gezeigt. Man Zahl 70.000) entstammen offenbar die- im Lager, um wenigstens schlafen zu kann auch damit spekulieren, dass im sem Bericht. Aron Shneer (Historiker, können, haben nichts zu Essen bekom- Russischen ‚Kjol´skij‘ und ‚Umanskij‘ geb. in Riga, lebt in Jerusalem, arbeitet men und selbstverständlich auch kei- evtl. ähnlich sind. in Yad Vashem) zufolge hat es die „Köl- ne ärztliche Versorgung. Gott sei Dank Man müsste auch die Handschrift ner Grube“ in Wirklichkeit nicht gege- dauerte es nicht mehr lange, denn ‚die Sludzkis nachvollziehen können, denn ben. Shneer verweist auf das Kriegs- Russen‘ näherten sich Sachsenhausen es wäre möglich, dass in seiner Schrift gefangenenlager in Uman/Ukraine (die sehr schnell. Wieder wurde ein Todes- ‚Uman´skaja‘ und ‚Kjol´nskaja‘ ähn- „Umaner Grube“), wo über 100.000 so- marsch vorbereitet. Ich konnte wegen lich aussehen und er sich geirrt hat. wjetische Kriegsgefangene ums Leben meiner Verletzung nicht auf Transport Ich versuchte es, aber bei mir waren kamen. gehen. Die Verbliebenen sollten er- ‚Uman´skaja‘ und ‚Kjol´nskja‘ nicht Mir liegt das Gedicht auch auf Russisch schossen werden. Doch auf einmal wa- identisch, was aber nichts bedeutet.“ vor – die Übersetzung ist korrekt, es ren die Russen schon ganz in der Nähe Jirí Franˇek erfuhr also, dass die histo- heißt tatsächlich „Kölner Grube“, und und die SS innerhalb weniger Minuten rischen Abläufe in Deutschland nach im Weiteren werden die Kölner Bürger verschwunden. So bin ich zum zweiten 1945 nicht dokumentiert wurden und direkt angesprochen. Ich nehme an, Mal dem Tod ausgewichen“. ein Zwangsarbeiterlager in oder um dass Sludzki verschiedene Berichte ver- Der Pädagoge Dr. Heinz Senenko hat- Köln unter der Bezeichnung „Kölnische satzstückartig kombiniert hat“. te in den siebziger und achtziger Jah- Grube“ nicht existent war. Wie dem obi- So kam mir der Gedanke, unmittelbar ren gemeinsam mit seinen Schülern gen Wortlaut Franˇek zu entnehmen ist, bei Professor Dr. Aron Shneer in Yad Forschungsarbeiten zum Todesmarsch entstand somit die Vermutung, dass es Vashem/Jerusalem nachzuforschen. nach Theresienstadt durchgeführt. Da- sich möglicherweise um eine „literari- Seine aufgeschlossene Reaktion brach- durch war der Kontakt mit dem Litera- sche Fiktion“ des Dichters gehandelt te Klärung und somit das Ende meiner turwissenschaftler Jirí Franˇek und an- haben könnte. Recherchen und aller Spekulationen. deren Überlebenden aus der damaligen Boris Sludzki gab uns mit den Aussa- Professor Shneers Antwortbrief soll hier CSSR entstanden. Der heute Fünfund- gen in seinem Gedicht so große Rät- vollständig wiedergegeben werden: achtzigjährige gehörte bis vor kurzem sel auf, dass Diskussionen entstanden „Sehr geehrte Frau Kramer, es ist nicht dem Vorstand der Vereinigung der über- sind, vor allem aber der Wunsch nach klar, wie der Begriff ‚Umaner Grube‘ ent- lebenden Schwarzheide-Häftlinge an. Aufklärung. stand, aber ganz sicher ist die Tatsache, Im Brief an Dr. Heinz Senenko ist u. a. Ich entschloss mich zu ermitteln. dass es sich sehr schnell in der gan- nachzulesen, dass Franˇek bereits wäh- Meine Recherchen führten mich zu- zen Umgebung verbreitete, und nicht rend eines Deutschlandaufenthalts Mit- nächst in den nordrhein-westfälischen nur in den daneben liegenden Doerfern te der sechziger Jahre um Aufklärung Raum. Ich erfuhr von Ulrich Sander, und Staedten, sondern auch die Front- zum Sludzki-Gedicht „Die Kölnische Landessprecher der VVN-BdA Nor- linie ueberschritt: Die ‚Umaner Grube‘ Grube“ bemüht war. Der Literaturwis- drhein-Westfalen in Dortmund und war ein riesiger Canjon mit steilen Wa- senschaftler kam 1968 aus Prag. Er ar- Mathias Wagner in Lüdenscheid, dass enden von 5 bis 15 m hoch, die einst beitete insgesamt vier Jahre an den Uni- nachweislich in und bei Köln zwar Tonerde fuer das Ziegelwerk foerderte.

33 Gerade in dieser Grube wurde das KZ dem es gelang von dort zu fliehen, ge- machte die Menschen verrueckt, sie Stalag No. 349 gegruendet, wo die so- troffen hatte. Dolmatowski selbst ist nahmen sich das Leben. Sehr oft hat wjetischen Kriegsgefangenen, die Ende auf dieses Thema erst in den Achtzi- man die Kannibalen den Deutschen ue- Juli – Anfang August 1941 in der Nae- gern zurueckgekommen, als er ein Buch bergeben, die sie vor der Erschießung he des Waldes ‚Zelonja Brama‘ bei dem ‚Zeljonaja Brama‘ veroeffentlicht hat. In fotografierten. Spaeter nutzte man diese Dorf Podwisokojo gefangen und unter seinem Buch beschreibt er einen der Fotos fuer Propagandaziele aus, um die unmenschlichen Bedingungen einge- ersten Kaempfe des Krieges. Es gibt im Sowjetgefangenen als ‚Untermenschen‘ sperrt wurden. Buch auch eine Erinnerung ueber die zu zeigen. – A. Schneer. ‚Plen‘ (Gefan- Einer der Haeftlinge des Lagers, Avra- ‚Umaner Grube‘. genschaft). Jerusalem, 2003, Seite 190. ham Fradkin, der Anfang August 1941 in Sie koennen dort eine Szene mit dem Man muss nicht vergessen, dass die So- Gefangenschaft geriet, erinnert sich: ‚… Pferd finden, die der Beschreibung der wjetliteratur eine wichtige ideologische am Stadtrande von Uman – eine große oben genannten Erinnerung von Talis Waffe war, die als Propagandamittel Grube, mit vielen Menschen … Laeusen, entspricht. Solche Faelle gab es hauefig gegen den Feind in der Erziehung eine Schmutz und am schlimmsten – Hunger in den Lagern fuer sowjetische Kriegs- große Rolle spielte. Deswegen sind die …‘. Es kamen taeglich im Lager ca. 400 gefangene. Ich bringe in meinem Buch Werke wie z. B. ‚Nauka nenawisti‘ (Wis- Menschen ums Leben. In meinem Buch Tatsachen ueber Leichenessen und senschaft des Hasses) von A. Tolstoj, „Plen“ (Gefangenschaft), 1. Band, Sei- Kannibalismus in dem Lager. Diese Tat- ‚Ubej nemza‘ (Morde den Deutschen) ten 280–290) bringe ich die Erinnerun- sachen sind auch in der deutschspra- von K. Simonow, Artikel von Ehrenburg, gen von Yaakow Talis, der im Stab der chigen Fachliteratur zu finden. veroeffentlicht worden. Ich glaube nicht, 12. Armee als politischer Instrukteur Einige Zeilen aus meinem Buch ‚Iz NKVD dass solche Literaturwerke immer nach (Politruk) eingesetzt und der Haeftling v SS i obratno‘ (aus KWD in SS und zu- Vorschrift geschrieben wurden, aber sie des Lagers war: rueck, Seiten 70–71). Das sind Gesprae- zeigen die Position des Autors. Darum ‚In der Naehe von Uman haben die Fa- che mit einem sowjetischen Spion, der sehe ich die Umsetzung der tragischen schisten uns gefangen. Viele von uns sieben Jahre in der SS gedient hat. Mein Geschichte nach Deutschland als ganz nahmen sich das Leben. Ich versuchte Held ist Alexander Petrowitsch (A. P.), natürlich. Außerdem darf man nicht ver- auch Selbstmord zu begehen, aber da ich (A. S.): gessen, dass die Sowjetunion um die- ich verwundet war, konnte ich meine ‚A. P. Hier z. B. ‚Umaner Grube‘. Schmutz, se Zeit ihre Invasion nach Deutschland rechte Hand nicht richtig bewegen, um Regen, kein Obdach, Stacheldraht, kein vorbereitete und die negative Beschrei- aus der Pistole zu schießen. Man hat Essen. Der Mensch, von Hunger beses- bung eines Deutschen als Barbaren uns in die Umaner Grube geworfen, wo sen, wirft sich auf Stacheldraht. Was soll ganz stark unterstuetzt wurde. es schon Tausende von Menschen gab. der deutsche Waechter tun, er schießt. Man kann ahnen, dass Sludzki direkt Von dort wurden diejenigen, die Kraef- A. S. Warum gab man kein Essen? ueber ‚Umaner Grube‘ schreiben woll- te hatten, zur Arbeit geschickt, die Ver- A. P. Woher konnte man das bringen? te, aber die Zensur hat ihm das nicht er- wundeten sind am Ort erschossen wor- A. S. Man konnte doch mit Lebensmit- laubt. den. Es gab kein Essen. Man hat die teln versorgen. Außerdem hat die loka- Ich würde mich sehr freuen, wenn mei- Pferde gegessen … le Bevoelkerung ihre Lebensmittel ge- ne Bemerkungen Ihnen in Ihrer Arbeit Ich hatte mich entschlossen, mit zwei geben, die ihnen von den Deutschen helfen werden. anderen Offizieren zu fliehen. Schaiki- abgenommen wurden. Die Gefangenen Mit freundlichen Gruessen now wurde erschossen, aber mir und bekamen aber nichts davon. Dr. Aharon Schneer“ Malikow ist es gelungen, die Grube zu A. P. Ich kann Ihnen versichern, dass es verlassen und wegzulaufen …‘ in ‚Umaner Grube‘ solche Faelle nicht Quellen: Das Lager existierte bis zum 7. März gab. © Boris Sludzki: „Kjol‘nskaja jama“. 1944. Nach dem Zeugnis des ehema- A. S. Doch, es gab. Auch in anderen Or- (Deutsche Übersetzung: „Die kölni- ligen Haeftlings A. Pisatschkin gab es ten. Die Menschen, wenn sie hungrig sche Grube“ von Hugo Huppert). Aus: im Lager zur Zeit der Evakuierung etwa sind, koennen zu Kannibalen werden.‘ „Solang es dich, mein Russland, gibt“. 8.000 Menschen. Nach verschiedenen Kommentar 10. Schon im Herbst 1941 Russische Lyrik von Puschkin bis Jew- Angaben befanden sich im Lager von gab es Kannibalismusfaelle in den La- tuschenko, Herausgegeben von Roland 35–100tausend Gefangene. gern von Bobrujsk, Brjansk, Gomel, Re- Opitz, Verlag Philipp Reclam jun., Leip- Beachten Sie die Tatsache, dass das zekne, Salaspils, Osrow-Mazowiecki zig, 1960, 2. Auflage 1961. Gedicht von Sludzki im Jahre 1944 ge- und anderen: © René Senenko, Hamburg. Schriftstü- schrieben wurde. Genau wann – kann I. Getman. – Audioaufnahme mit dem cke aus dem Nachlass seines Vaters Dr. ich nicht sagen, aber ich denke nach Autor vom 26.6.1993. – Archiv von Yad Heinz Senenko. März 1944, d. h. nach der Befreiung von Vashem, O.3/6896, M.33/479, Seiten © Professor Dr. Jirí Franˇek, Prag/Tsche- Uman (am 10. März 1944). Damals gab 7,35,39,43; M.33/480, Seite 18,20,21. chien, Literaturwissenschaftler. es Moeglichkeiten, sich mit ehemaligen Die Beschreibung des Hungers im Lager © MEMORIAL Deutschland e. V., Mit- Haeftlingen des Lagers zu treffen, es Molodetschno gab in seinen Zeugnis- glied des Internationalen MEMORIAL erschienen die ersten Publikationen in sen am 1.4.1945 waehrend der Unter- (Sitz: Moskau) den Sowjetzeitungen. Ich empfehle Ih- suchung der Leiter der Lagerpolizei – Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin, www. nen, Ihre Aufmerksamkeit der Zeitung P. Krasnoperkin: ‚Die Menschen sind memorial.de, www.memo.ru ‚Krasnaya Zwezda‘ zu schenken. Kann total abgemagert, das Lager selbst war sein, dass Sludzki selbst sich mit einem ein riesiger Friedhof, wo alle Gestorbe- Publikationen zu diesem Thema (allge- ehemaligen Haeftling getroffen hat. Mo- nen ‚auferstehen sind‘. Die Menschen mein, nicht speziell zum Raum Köln): eglich waere, dass er sich auch mit E. litten furchtbar unter Hunger und Durst. Bonwetsch, Bernd: Die sowjetischen Dolmatowski – dem Dichter, der in der Die Hungerschwaeche hat aus den Men- Kriegsgefangenen zwischen Stalin und ‚Umaner Grube‘ als Haeftling war und schen Schatten gemacht. Der Hunger Hitler. In: Zeitschrift für Geschichts-

34 wissenschaft 41. Jg., H. 2, Berlin 1993, er hier das Studium der Literaturwissen- kamen am 3.7.1944 aus dem KZ Aus- S. 135–142. schaften ab. Bereits 1941 werden seine chwitz an und wurden in 10 Baracken Keller, Rolf, und Otto, Reinhard: Das ersten Gedichtzyklen veröffentlicht. untergebracht. Massensterben der sowjetischen Boris Sludzkis Teilnahme als Kriegsfrei- - Am 23.3.45 Transport von 300 Häft- Kriegsgefangenen und die Wehrmacht- williger im Juni 1941 hat eine schwere lingen von Schwarzheide über Ruhland bürokratie. Unterlagen zur Registrierung Verwundung zur Folge. Nach seiner Ge- ins Vernichtungslager Bergen-Belsen der sowjetischen Kriegsgefangenen nesung wird er als Politruk (politischer (kein Bezug zum hier genannten Todes- 1941–1945 in deutschen und russischen Leiter) in der Armee eingesetzt. 1943 marsch). Institutionen. In: Militärgeschichtliche tritt er in die Partei ein. - Von den einst 1.000 Häftlingen hatten Mitteilungen, 57. Jg., H. 1, München/ Seine Lyrik wird häufig von Erinnerun- bis zu Beginn der Evakuierung des La- Wien 1998. gen an den Krieg bestimmt, er bezieht gers im April 1945 mehr als 600 über- Kriegsgefangene/Wojennoplennyje. So- u. a. auch jüdische Themen ein. In ei- lebt. Sie wurden vom 18. April bis zur wjetische Kriegsgefangene in Deutsch- nigen Gedichten äußert er (noch vor Nacht vom 7./8. Mai 1945 auf den To- land – Deutsche Kriegsgefangene in der dem XX. Parteitag) deutliche Kritik an desmarsch geschickt. 325 von ihnen ha- Sowjetunion. Hg. Haus der Geschichte Stalin. Auf Sludzkis Teilnahme an der ben die Freiheit erlebt. Ein Großteil der der Bundesrepublik Deutschland. Düs- Hetzkampagne gegen Pasternak (im Zu- 1.000 Häftlinge waren Tschechoslowa- seldorf: Droste Verlag 1995. sammenhang mit dem „Doktor Schiwa- ken jüdischer Herkunft; ihr Leidensweg Die Tragödie der Gefangenschaft in go“) reagieren viele schockiert, so dass war stets der gleiche: Nach der Beset- Deutschland und in der Sowjetunion sich zumindest zeitweise etliche sei- zung der CSRˇ durch Hitler Deportati- 1941–1956. Hg. Klaus-Dieter Müller, ner Freunde von ihm abwenden. Die- on nach Theresienstadt, von dort nach Konstantin Nikischkin, Günther Wagen- sen Schritt hat sich Boris Sludzki später Auschwitz; von dort Rückruf als Arbeits- lehner. Köln – Weimar: Böhlau 1998, selbst nie verzeihen können. kräfte nach Schwarzheide (Außenlager S. 291ff. Seit 1953 erscheinen seine Gedichte des KZ Sachsenhausen) Streit, Christian: Keine Kameraden. vor allem in Zeitschriften, ferner meh- - Stationen der Todeskolonne (G = heu- Die Wehrmacht und die sowjetischen rere Gedichtbände, 1955 macht Ilja tige Gedenktafel/n bzw. Gedenkstätte/ Kriegsgefangenen 1941–1945. Bonn: Ehrenburg in einem Artikel auf Sludz- n zum beschriebenen Todesmarsch): Dietz Verlag 1991, Neuausgabe, Bonn ki aufmerksam. Zahlreiche seiner Wer- Deutschland: Schwarzheide (2x G), Ruh- 1997. ke werden allerdings zu seinen Lebzei- land, Bernsdorf, Schwepnitz, Kamenz Osterloh, Jörg: Sowjetische Kriegsge- ten in der Sowjetunion nicht publiziert. (G), Bischofswerda (G), Oberottendorf/ fangene 1941–1945 im Spiegel nationa- Sludzki übersetzt Lyrik aus dem Polni- Berthelsdorf (G), Neustadt/Sachsen ler und internationaler Untersuchungen schen, Deutschen und Englischen (Vgl. (G), Langburkersdorf (G), Abzweig Ru- (Berichte und Studien, 3). Hannah- Russische Lyrik, Gedichte aus drei Jahr- giswalde (G), Sebnitz (G), Hertigswalde Arendt-Institut für Totalitarismusfor- hunderten. Ausgewählt und eingeleitet (G), Saupsdorf (5x G) und Hinterherms- schung 1995. von Efim Etkind. München. dorf (3x G) Osterloh, Jörg: Verdrängt, Vergessen, Boris Sludzki stirbt am 22. Februar 1986 Tschechien (damals Sudetengau): Khaa- Verleugnet. Die Geschichte der sowje- in Tula. tal (2x G), Kreibitz/Chˇribská (G), Warns- tischen Kriegsgefangenen in der histori- Mit freundlicher Genehmigung von Frau dorf/Varnsdorf (G) schen Forschung in der Bundesrepublik Dr. Vera Ammer, MEMORIAL Deutsch- Am 5.5.1945 in Varnsdorf Trennung der und der DDR. In: Geschichte in Wissen- land e. V., Mitglied des Internationalen Kolonne in „arische“ und „nichtarische“ schaft und Unterricht, 47. Jg., H. 10, MEMORIAL (Sitz: Moskau), Berlin. Vgl. Häftlinge. Erstere gelangten zu Fuß über Seelze 1996, S. 608–619. auch: Haida/Nov´y Bor bis Langenau/Skalice Otto, Reinhard: Lager für sowjetische „Solang es dich, mein Russland, gibt“. in die Freiheit, während die jüdischen Kriegsgefangene in Westfalen (1941– Russische Lyrik von Puschkin bis Jew- Häftlinge in Kohlewaggons über Böh- 1945). In: Jahrbuch des Vereins für tuschenko, Herausgegeben von Roland misch Leipa/ˇCeská Lípa (G) nach Leit- Orts- und Heimatkunde in der Graf- Opitz, Verlag Philipp Reclam jun., Leip- meritz/Litomˇeˇrice gebracht wurden, schaft Mark, 1993, S. 155–185. zig, 1960, 2. Auflage 1961 wo am 8.5. die Wachmannschaft floh Otto, Reinhard: Wehrmacht, Gestapo und die Häftlinge noch am 8.5. das be- und sowjetische Kriegsgefangene im Anhang 2: freite Theresienstadt erreichten. deutschen Reichsgebiet 1941/42. Mün- Der Todesmarsch Schwarzheide – chen: Oldenbourg 1998. Theresienstadt 1945 – Daten Nach 1945: Zusammengestellt von der Gruppe - Errichtung von Gedenktafeln und – Anhang 1: Grenzlos, www.Grenzlos.info stätten seit 1946 auf dem Gebiet der Boris Abramovitsch Sludzki - Ausgangsort: Außenlager Schwarz- CSRˇ bzw. CSSRˇ im Khaatal/Kyjovské Eine kurze Biografie des Autors des heide des KZ Sachsenhausen – 50 km údolí, in Chˇribská, Varnsdorf und CeskᡠGedichts „Die kölnische Grube“ von nördlich von Dresden an der Autobahn Lípa. 1944 Dresden-Berlin gelegen. - In der DDR Erforschung dieses Todes- Boris Abramovitsch Sludzki wird am am Häftlinge arbeiteten (neben Kriegsge- marschs seit den 70er Jahren durch die 7.5.1919 in Slavjansk/Donbass gebo- fangenen und Ostarbeitern) für die BRA- AG Junge Historiker unter Ltg. von Dr. ren. BAG, die Braunkohlen- und Benzin AG Heinz Senenko (2005 verstorben); Er- Nach dem Schulbesuch in Char‘kov (heute BASF), welche für die Rüstung richtung von Gedenktafeln für die To- übersiedelt er 1937 nach Moskau, um synthetisches Benzin, Parafin, Briketts desmarschopfer in den 80er Jahren. am Moskauer Juristischen Institut ein u. a. produzierte. Nach der Bombardie- - im Juli 2005 Unterschutzstellung der Jurastudium zu beginnen, das er jedoch rung der Brabag durch die Alliierten wur- auf sächsischem Territorium befindli- bald abbricht, um zum Gorkij-Literatu- den zur Wiederherstellung des Werks chen „Gedenkmonumente zum Todes- rinstitut überzuwechseln. 1941 schließt Häftlinge angefordert. 1000 Häftlinge marsch“ in ihrer Gesamtheit durch das

35 Landesamt für Denkmalschutz gemäß fertigte nach dem Krieg auf 127 Blättern tel „Erinnerunen an den Todesmarsch“ § 2 Sächsisches Denkmalschutzgesetz ausdrucksstarke, kommentierte Zeich- (S. 43ff) – nur beim Autor erhältlich. (SächsDSchG). Diese Denkmalschutz- nungen (meist beidseitig) zu seinem Näser, Ute & Dietmar: Dokumentation maßnahme betrifft 16 Tafeln und Ste- Leidensweg von Auschwitz (Dez.1941) des Lehrpfads ‚Dem Schweigen entris- len zum beschriebenen Todesmarsch bis zu seiner Befreiung (Mai 1945) an. sen‘- Gedenkstätten, Tafeln, Grabstät- auf sächsischem Gebiet, davon 14 al- Zahlreiche Nachauflagen; antiquarisch ten der Todeskolonne von Schwarzheide lein in und um Sebnitz. Über Sachsen über Internet leicht erhältlich. nach Theresienstadt. Rugiswalde 2005, hinaus gibt es Tafeln in Schwarzheide Senenko, Heinz u. a.: Dem Schweigen 34 S., ill. – Fotodokumentation der To- (Land Brandenburg) und auf dem Ge- entrissen, Konferenzbericht [der AG- desmarsch-Gedenktafeln, erhältlich für biet der Tschechischen Republik. Ins- Mitglieder über ihre Forschungsresulta- 3 Euro bei der Gruppe Grenzlos gesamt zählt die Todesmarsch-Strecke te zum Todesmarsch], Sebnitz 1980, 42 Kral, Friedrich (Bedˇrich): Hungermarsch. vom Ausgangspunkt in Schwarzheide S, ill. – vergriffen. Prag 2005, 96 S., ill. – Tagebuchartige bis CeskᡠLípa (Böhmisch Leipa) heute Senenko, Heinz u. a.: Laßt die Glut nicht Nachkriegsaufzeichnung des deutsch- 22 Steine und Gedenkstätten. verlöschen. Sebnitz 1984, 54 S., ill. – sprachig-jüdischen Tschechoslowaken - Literatur (chronologisch nach Erschei- Biografische Berichte der AG-Mitglieder und Schwarzheider Todesmarsch-Häft- nungsjahr): über einzelne Überlebende; mit Chrono- lings B. Kral für den Zeitraum August Kantor, Alfred: Das Buch des Alfred Kan- logie des Marschs. Vergriffen. 1938 bis Mai 1945. Dieses Büchlein ist tor. Wien, München 1972. Das englisch- Pulda, Heinz: Das Außenlager Schwarz- in Tschechisch, Englisch und Deutsch sprachige Orig. erschien 1971 in New heide des KZ Sachsenhausen. Schwarz- erschienen. Erhältlich für 3 Euro bei der York. Alfred Kantor (1923–2003), jüdi- heide 1984, 28 S., ill. – vergriffen. Gruppe Grenzenlos. scher Tscheche aus Prag, war Häftling Stránsk´y, Pavel: Als Boten der Opfer. des oben skizzierten Todesmarschs und Prag 2002, S. 84, ill. Darin das Kapi- Heide Kramer

Redaktionelle Vorbemerkung

Die beiden folgenden Beiträge befas- knapper Form, gibt sich immer wieder Bei Gelegenheit der „Kameradentref- sen sich mit einem erschütternden Ka- ahnungslos, verweist auf Publikatio- fen“ schaffen sie durch Demonstratio- pitel aus der Geschichte des deutschen nen, flüchtet sich in allgemeine, nichts nen eine höchst notwendige Gegenöf- Faschismus, einer „Vergangenheit, die sagende Redensarten und verweist fentlichkeit. nicht vergehen will“, wie es Jürgen Ha- schlecht gelaunt auf Antworten zu frü- Der „Rundbrief“ wird sich auch in sei- bermas vor mehr als zwanzig Jahren for- her schon eingebrachten Anfragen. Von nen nächsten Ausgaben der verbreche- mulierte. Sein Diktum gilt, so scheint Empathie mit den zahlreichen Opfern rischen Politik des deutschen Faschis- es, unverändert. der Gebirgsjäger-Einheiten, darunter mus gegenüber den Völkern Europas Die Bundestagsfraktion der LINKEN Frauen und Kinder, ist in dieser skanda- widmen. hatte in einer Anfrage Auskunft vom lösen Antwort des übrigens selbst zum Verteidigungsminister darüber verlangt, Kameradenkreis der Gebirgsjäger gehö- R. Z. in welcher Weise das Treffen des „Ka- renden Parlamentarischen Staatssek- meradenkreises“ ehemaliger Angehöri- retärs Christian Schmidt keine Spur zu ger der Gebirgsjäger, darunter auch sol- entdecken. 1 Vgl z. B. Martin Seckendorf, Das Wunschprogramm cher der Nazi-Wehrmacht, zu Pfingsten Worum es beim Einsatz der Gebirgsjäger der IG Farbenindustrie AG zur wirtschaftlichen „Neuordnung“ in Jugoslawien und Griechenland 2007 von der Bundeswehr logistisch, ging, als sie im besetzten Griechenland vom 4. Juni 1941, in: Bulletin des Arbeitskreises ideell und finanziell unterstützt werde. ihre blutigen Verbrechen begingen, wird „Zweiter Welkrieg“, Nr. 3–4/1987, S. 5ff.; dersel- Die darauf erteilten Antworten spre- aus dem Artikel von Dr. Martin Secken- be, Hrsg., Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus in Jugoslawien, Griechenland, Albani- chen für sich selbst: Von einer ange- dorf ersichtlich. Der durch zahlreiche en, Italien und Ungarn 1941–1945, Berlin u. Hei- messenen Ehrung der nach Tausenden wissenschaftliche Publikationen aus- delberg 1992 (=Europa unterm Hakenkreuz. Die zählenden Opfer der Gebirgsjäger im gewiesene Faschismusforscher1 zeich- Okkupationspolitik des deutschen Faschismus 1938–1945, Bd. 6); derselbe, Nach dem Endsieg. okkupierten Griechenland bei diesen net nach, wie der deutsche Faschismus Deutsche Nachkriegsplanungen für Griechenland jährlich durchgeführten Versammlun- auch in Griechenland sein mörderisches 1940/41, in: Werner Röhr u. Brigitte Berlekamp, gen kann keine Rede sein. Stattdessen Potenzial exekutierte. Hrsg., „Neuordnung Europas“. Vorträge vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Welt- lässt sich der Eindruck einer gewissen Die VVN-BdA und der Arbeitskreis An- kriegsforschung 1992–1996, Berlin 1996, S. 47ff.; gesinnungsmäßigen Kontinuität der Ge- greifbare Traditionspflege sind seit lan- derselbe, Der Mitteleuropäische Wirtschafts- birgsjäger, vom „Dritten Reich“ bis in gem mit großem Engagement dabei, die tag – Zentralstelle der Großwirtschaft zur Durch- dringung Südosteuropas, in: Werner Röhr, Brigitte die Gegenwart hineinreichend, nicht Öffentlichkeit über die damals begange- Berlekamp u. Karl-Heinz Roth, Hrsg., Der Krieg vor aus der Welt schaffen. nen Kriegsverbrechen, aber auch über dem Krieg. Politik und Ökonomie der „friedlichen“ Das Bundesverteidigungsministerium deren Leugnung oder Verharmlosung in Aggressionen Deutschlands 1938/39, Hamburg 2001, S. 118ff.; derselbe, Das Deutsche Auslands- antwortet auf entsprechende Fragestel- der Gegenwart, eingehend zu informie- Institut (DAI), 1917–1945. Eine Übersicht (2004), lungen der LINKEN in unangemessen ren. in: www.2i.westhost.com/bg/index.html.

36 Bundesregierung antwortet auf Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE zum Treffen der Gebirgsjäger

Antwort der Bundesregierung auf die Seit fünf Jahren gibt es gegen dieses wurden. Hiervon hat sich der Kamera- Kleine Anfrage der Abgeordneten Ul- Treffen Proteste, die vor allem vom Ar- denkreis in der Vergangenheit eindeutig la Jelpke, Petra Pau, Sevim Dag’delen beitskreis Angreifbare Traditionspflege distanziert. Auf die Antwort zu Frage 10 und der Fraktion DIE LINKE. Gedenk- und der Vereinigung der Verfolgten des der Kleinen Anfrage, Bundestagsdruck- feier des Kameradenkreises der Ge- Naziregimes – Bund der Antifaschis- sache 16/1623, vom 29. Mai 2006 wird birgstruppe in Mittenwald, antifaschis- ten (VVN-BdA) getragen werden. Diese verwiesen. tische Proteste und die Haltung der führen parallel zum Treffen des Kame- Von einer verbrecherischen Geschich- Bundeswehr1 radenkreises eigene Veranstaltungen in te der Gebirgstruppen zu sprechen, ist Mittenwald durch. Dabei treten Histori- historisch falsch und angesichts der Vorbemerkung der Fragesteller kerinnen und Historiker auf, die sich mit Geschichte der Gebirgstruppe der Bun- Seit 1952 veranstaltet der Kameraden- den Kriegsverbrechen der Gebirgsjäger deswehr als Teil der Parlamentsarmee kreis der Gebirgstruppe e. V. an Pfings- beschäftigen, sowie Angehörige des Wi- in der Demokratie höchst unangemes- ten eine Gedenkfeier auf dem Hohen derstandes und Überlebende der fa- sen. Brendten nahe dem bayerischen Ort schistischen Massaker. Das in der Vorbemerkung dargestellte Mittenwald. Beim Veranstalter handelt In diesem Spannungsfeld zwischen der Spannungsfeld existiert nicht, da es die es sich um einen Zusammenschluss von Ehrung von an Kriegsverbrechen verur- unterstellte Dialektik zwischen der an- Soldaten der ehemaligen deutschen Ge- teilten Einheiten auf der einen, histo- geblichen „Ehrung von an Kriegsverbre- birgstruppen, darunter sowohl Wehr- rischer Aufarbeitung auf der anderen chen verurteilten Einheiten auf der ei- machts- als auch SS-Angehörige. Es Seite unterstützt die Bundeswehr nicht nen“ und „historische Aufarbeitung auf sind aber auch zahlreiche aktive Bun- die antifaschistische Veranstaltung, der anderen Seite“ nicht gibt. Zur histo- deswehrsoldaten im Kameradenkreis sondern jene des Kameradenkreises. rischen Aufarbeitung wird auf die Ant- organisiert. Auch in diesem Jahr will die Bundes- wort zu Frage 2 der Kleinen Anfrage, An der Gedenkfeier nehmen unter ande- wehr sowohl personelle als auch ma- Bundestagsdrucksache 16/1623, vom rem auch Angehörige der so genannten terielle Unterstützung gewähren. Wäh- 29. Mai 2006 verwiesen. Ordensgemeinschaft der Ritterkreuz- rend der Kameradenkreis für seine Zur Bewertung der Ordensgemein- träger teil, einer Vereinigung, gegen Veranstaltung das auf Bundeswehrge- schaft der Ritterkreuzträger und der die aufgrund ihrer wehrmachtsverherr- lände liegende Areal nutzen darf, wird von ihr durchgeführten Kranzniederle- lichenden Politik ein Kontaktverbot sei- dies dem Arbeitskreis Distomo ver- gung wird auf die Antwort zu Frage 24b tens der Bundeswehr ausgesprochen wehrt, wie aus einem Schreiben des der Kleinen Anfrage, Bundestagsdruck- wurde. Dennoch ist die Bundeswehr Kommandeurs der Mittenwalder Kaser- sache 16/1623, vom 29. Mai 2006 ver- ganz offiziell dort vertreten, unter an- ne hervorgeht. wiesen. derem mit Kranzträgern, außerdem hält der Kommandeur der Karwendelkaser- Vorbemerkung der Bundesregierung 1. Welche Erkenntnisse hat die Bun- ne Ansprachen. Die Bundesregierung teilt nicht die in desregierung über Kriegsverbrechen, Die Gedenkfeier selbst ist geprägt vom der Vorbemerkung der Kleinen Anfra- die von Gebirgseinheiten des Dritten Gedenken an die gefallenen bzw. ver- ge erneut formulierte Behauptung, die Reiches begangen wurden? storbenen Gebirgssoldaten des Dritten alljährliche Gedenkfeier des Kamera- Hierzu wird auf die Antwort zu Frage 7 Reiches. Die von diesen begangenen denkreises der Gebirgstruppe (GebTr) der Kleinen Anfrage, Bundestagsdruck- Kriegsverbrechen sind für den Kamera- e. V. diene „dem Gedenken an die ge- sache 16/1623, vom 29. Mai 2006 ver- denkreis kein Thema – unbelastet von fallenen bzw. verstorbenen Gebirgssol- wiesen. der verbrecherischen Geschichte der daten des Dritten Reiches“. Zum Cha- Gebirgstruppen pflegt er das Andenken rakter der Veranstaltung wird auf die 2. Warum hat die Bundesregierung die an seine „Kameraden“. Bei dem undif- Vorbemerkung der Bundesregierung zur Kleine Anfrage (Bundestagsdrucksa- ferenzierten Gedenken wird nicht un- Kleinen Anfrage, Bundestagsdrucksa- che 16/2525) zum Kameradenkreis terschieden zwischen jenen, die Opfer che 16/1623, vom 29. Mai 2006 ver- ausgerechnet vom Parlamentarischen von Kriegsverbrechen wurden, und je- wiesen. Staatssekretär Sch. Beantworten las- nen, die als Angehörige von Wehrmacht Die Bundesregierung tritt auch der Be- sen, obwohl dieser Mitglied des Kame- und SS eben diese Verbrechen began- hauptung entgegen, die von Gebirgsjä- radenkreises ist und sich daher mut- gen haben, es geht auch in keiner Weise gern im Zweiten Weltkrieg begangenen maßlich in einem Interessenkonflikt um die Aufarbeitung der Geschichte. Die Kriegsverbrechen seien für den Kame- befindet? politische Orientierung des Kameraden- radenkreis „kein Thema“ und „unbelas- Die Beantwortung erfolgte sachgerecht kreises kommt deutlich in dem Umstand tet von der verbrecherischen Geschich- und umfassend. Der unterstellte Inte- zum Ausdruck, dass er sich bis heute te der Gebirgstruppen“ pflege er „das ressenkonflikt ist konstruiert und tat- nicht von seinem mittlerweile verstorbe- Andenken an seine Kameraden“. Rich- sächlich nicht vorhanden. Der Kamera- nen früheren Ehrenvorsitzenden Gene- tig ist, dass auch von einzelnen Angehö- denkreis der GebTr e. V. bekennt sich in ral Hubert Lanz distanziert hat, einem in rigen und einzelnen Truppenteilen der seiner politischen Grundeinstellung zu Nürnberg verurteilten vieltausendfachen Gebirgstruppe während des Zweiten den Werten und Zielvorstellungen unse- Mörder und Kriegsverbrecher. Weltkriegs Kriegsverbrechen begangen rer verfassungsmäßigen Ordnung. Ein

37 parlamentarischer Staatssekretär ant- 5. In welcher Form will sich die Bun- ort für seinen antifaschistischen Pro- wortet nicht als Privatperson, sondern deswehr in diesem Jahr selbst am Ge- test auf dem Standortübungsplatz zu als parlamentarischer Vertreter eines denken beteiligen? überlassen, wohl aber dem Kamera- Bundesministeriums. Wie jedes Jahr werden Soldatinnen und denkreis für seine Gedenkfeier? Soldaten freiwillig an dem Feldgottes- Weder dem Arbeitskreis Distomo noch 3. Wird die Bundeswehr auch in die- dienst zur Ehrung von Opfern von Krieg dem Kameradenkreis der GebTr e. V. sem Jahr die Veranstaltung des Kame- und Gewaltherrschaft teilnehmen. Der wurde ein Versammlungsort auf dem radenkreises unterstützen, obwohl die Kommandeur der 10. Panzerdivision Standortübungsplatz überlassen. Gebirgseinheiten des Dritten Reiches und der Kommandeur Gebirgsjägerbri- an zahlreichen Kriegsverbrechen be- gade 23 werden Kränze niederlegen. 9. Wie wird der Zutritt zur Gedenkfei- teiligt waren? er geregelt? Ja. Die mit der Frage verknüpfte Kausa- 6. Treffen Informationen der Fragestel- a) Gibt es Einlasskontrollen bzw. Zu- lität ist nicht gegeben. ler zu, dass in der Zeitschrift des Ka- trittsbeschränkungen? meradenkreises des Öfteren Artikel Entsprechende Regelungen obliegen 4. Wenn Frage 3 bejaht wird: Welche von Presseoffizieren der Bundeswehr dem Kameradenkreis der GebTr e. V. als konkreten Unterstützungsleistungen erscheinen, und wenn ja, warum? Veranstalter. sind geplant? Grundsätzlich werden interessierten b) Wer nimmt diese vor und nach wel- a) Wieviele Soldaten sollen insgesamt Medien Informationen über die Bun- chen Kriterien? zum Einsatz kommen? deswehr, zum Beispiel in Form von Ar- Entsprechende Regelungen obliegen Es werden 21 Soldaten aus dem Stand- tikeln, zur Verfügung gestellt. Unter an- dem Kameradenkreis der GebTr e. V. als ort Mittenwald sowie das Gebirgsmu- derem werden auch der Zeitschrift des Veranstalter. sikkorps (GMK) mit 50 Soldaten einge- Kameradenkreises durch Dienststellen c) Prüft die Bundesregierung, ob der setzt. der Bundeswehr Artikel zur Veröffentli- Kameradenkreis der Auforderung des b) Mit welchen konkreten Aufgaben sol- chung zur Verfügung gestellt, in denen Standortältesten nachkommt, die Ver- len diese betraut werden? aus dem Bereich der Gebirgstruppe bei- anstaltung beim Landratsamt anzumel- 11 Soldaten werden als Verkehrsposten, spielsweise die Themen Ausrüstung, den? 4 Soldaten als Kranzträger, 4 Soldaten als Ausbildung, Beteiligung an Auslandsein- Der Kameradenkreis der GebTr e. V. hat Ehrenposten, ein Soldat als Kraftfahrer sätzen oder Personalwechsel in Dienst- die Veranstaltung als Gottesdienst an- und ein Soldat als Beifahrer eingesetzt. stellen der Gebirgstruppe abgebildet gemeldet. c) Welche Kosten entstehen dabei, und werden. Die Artikel wurden in Abhän- d) Warum ist der Kameradenkreis vom wer kommt für diese auf? gigkeit von der Thematik auch durch die Standortältesten gebeten worden, die Eine Vorkalkulation in Höhe von 1.078,81 verantwortlichen Presseoffiziere der je- Auffahrt zum Gedenkort „strikt zu kon- Euro wurde erstellt. Zur Begleichung der weiligen Dienststellen – meist vor Ort – trollieren“, und was befugt den Kamera- Kosten wurde ein Vertrag zwischen dem erstellt oder durch sie an die Zeitschrift denkreis, solche exekutiven Befugnisse Kameradenkreis der GebTr e. V. und des Kameradenkreises übersandt. auszuüben? dem Bundeswehr-Dienstleistungszen- Der Veranstaltungsort ist Privatgelän- trum (BwDLZ) Landsberg am Lech ge- 7. Wird ein Vertreter bzw. Angehöriger de des Kameradenkreises der GebTr schlossen. Die Kosten werden vom Ka- der Bundeswehr wieder eine Anspra- e. V. Die Auffahrt ist Bundeswehrgelän- meradenkreis der GebTr e. V. getragen. che halten? Wenn ja, wer? Beabsich- de und wird dem Veranstalter zur Verfü- Die Kosten für die Beschaffung eines tigt die Bundesregierung, diesem Ver- gung gestellt. Da das Parkverhalten eini- Kranzes und die Kosten für den Einsatz treter Anweisungen zu erteilen, nicht ger Veranstaltungsteilnehmer im letzten des GMK wurden in der Vorkalkulation eine allgemeine Beileidskundgebung Jahr zu beanstanden war, hat der Stand- nicht berücksichtigt. für Täter wie Opfer, sondern eine ent- ortälteste Mittenwald dem Kameraden- d) Welche materiellen Unterstützungs- schiedene Verurteilung der von den kreis der GebTr e. V. in diesem Jahr die leistungen werden erbracht, welche Gebirgseinheiten begangenen faschis- Auflage erteilt, den Personenkreis, der Kosten entstehen dabei, und wer kommt tischen Kriegsverbrechen (falls eine mit Fahrzeugen zum Veranstaltungsort für diese auf? solche Weisung nicht beabsichtigt ist, fahren darf, zu begrenzen und die Ein- Es werden 1 LKW 5.0 t, 1 KOM (Bus), 4 bitte begründen)? haltung dieser Auflagen zu kontrollie- VW-Busse, 8 Winkerkellen und 8 Warn- Ja. Der Parlamentarische Staatssekre- ren. westen gestellt. Die Kosten trägt der Ka- tär Christian Schmidt wird ein Grußwort e) Was ist unter Kontrolle zu verstehen? meradenkreis der GebTr e. V. Die Kos- sprechen. Es ist seitens der Bundesre- Der Kameradenkreis der GebTr e. V. hat ten sind in dem Betrag von 1 078,81 gierung nicht beabsichtigt, dem Parla- einige wenige Parkausweise ausgege- Euro enthalten. mentarischen Staatssekretär Christi- ben, z. B. an den teilnehmenden Parla- e) Welche weiteren Vergünstigungen an Schmidt diesbezüglich Weisung zu mentarischen Staatssekretär Schmidt werden dem Kameradenkreis gewährt? erteilen. Zur Frage der Würdigung aller und an den Kommandeur der 10. Pan- Es werden keine Vergünstigungen ge- Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zerdivision. Der Veranstalter lässt nur währt. wird auf die Vorbemerkungen zur Be- Personen mit Kfz passieren, die über ei- f) Werden im Vorfeld Unterstützungs- antwortung der Kleinen Anfrage, Bun- nen Parkausweis verfügen. Für Fußgän- leistungen für die Organisation und Vor- destagsdrucksache 16/1623, vom 29. ger gibt es von Seiten der Bundeswehr bereitung (inklusive Presse- und Öffent- Mai 2006 verwiesen. keine Beschränkungen. Über die vom lichkeitsarbeit) gewährt, und wenn ja, Landratsamt für den Schutz der Ver- welche? 8. Wie bewertet die Bundesregierung anstaltung erhobenen Beschränkungen Es werden keine Unterstützungsleistun- die Entscheidung des Kommandeurs liegen der Bundesregierung keine Er- gen im Vorfeld der Veranstaltung ge- der Karwendelkaserne, dem Arbeits- kenntnisse vor. währt. kreis Distomo keinen Versammlungs- f) Beabsichtigt die Bundesregierung da-

38 für Sorge zu tragen, dass der Zugang zur vorgegangen ist, und wenn nein, wie ist band einen faschistischen Kriegsver- Gedenkfeier nicht nur für die Sympathi- dann zu verstehen, dass die Bundesre- brecher zum Ehrenpräsidenten hatte? santen des Kameradenkreises, sondern gierung in ihrer Antwort auf Frage 6 Bei dem Kameradenkreis der GebTr e. V. auch den Opfern der faschistischen Ver- aus Bundestagsdrucksache 16/1623 handelt es sich um einen eingetragen brechen gewährt wird, und wenn ja, auf die genannten Bemühungen des Verein; er unterliegt nicht dem Einfluss wie? Generals hingewiesen hat und dessen der Bundeswehr. Es obliegt nicht der Die Zugangsregelung ist Angelegenheit Rolle „sehr nuanciert“ bewertet? Bundeswehr, Soldaten über den Verein des Kameradenkreises der GebTr e. V. Nein. Auf die Antwort zu Frage 6 der zu informieren. Er ist Veranstalter des Gedenkgottes- Kleinen Anfrage, Bundestagsdrucksa- dienstes für die Opfer von Krieg und Ge- che 16/1623, vom 29. Mai 2006 und 16. In welcher Form werden die Ange- waltherrschaft. Die Veranstaltung findet auf die Antwort 12 zur Kleinen Anfrage, hörigen der Gebirgseinheiten der Bun- auf Privatgelände statt. Bundestagsdrucksache 16/2525 vom deswehr darüber informiert, dass die 6. September 2007 wird verwiesen. Gebirgseinheiten des Dritten Reiches 10. Ist das Kontaktverbot zur Ordens- Nur eine wissenschaftlich differenzierte massenweise Kriegsverbrechen ver- gemeinschaft der Ritterkreuzträger Darstellung ist historisch sachgerecht. übt haben? noch in Kraft, und wenn ja, werden a) In welcher Form geschieht dies am sich uniformierte Bundeswehrsolda- 13. Sind Informationen der Fragestel- Beispiel des Massakers auf Kephalo- ten dennoch auch in diesem Jahr ne- ler zutreffend, dass sich auf dem Ge- nia, wo im September 1943 rund 4000 ben Angehörigen der Ordensgemein- lände der Karwendelkaserne ein Ar- Menschen von Gebirgseinheiten umge- schaft der Ritterkreuzträger aufstellen chiv des Kameradenkreises befindet, bracht wurden? oder gibt es Anweisungen, von diesen und wenn ja b) In welcher Form geschieht dies am Abstand zu halten? a) welchen Bestand beinhaltet dieses Beispiel des Massakers in Kommeno, Ja. Auf die Vorbemerkung wird verwie- Archiv? wo von der 12. Kompanie des Gebirgs- sen. b) Warum führt die Bundeswehr ein Ar- jäger-Regiments 98 der 1. Gebirgsjäger- chiv eines privaten Vereins, über dessen division aus Mittenwald 317 Zivilistinnen 11. Ist der Bundesregierung bekannt, Haltung zu Wehrmacht und Faschismus und Zivilisten umgebracht wurden? dass sich an dem Treffen auch eine sie nach eigenen Angaben keine Infor- c) In welcher Form geschieht dies am Abordnung der Veteranenvereinigung mationen einzuholen gedenkt (vgl. Bun- Beispiel des Massakers von Lyngiardes, der ehemaligen Divisione Monterosa destagsdrucksache 16/1623, Antwort wo am 3. Oktober 1943 87 Zivilistin- beteiligt, die eine von vier vom italieni- zu Frage 5)? nen und Zivilisten von Angehörigen des schen Diktator Mussolini aufgestellten c) Um welche Räumlichkeiten handelt Feldersatz-Bataillons 79 umgebracht Divisionen ist, ebenfalls Kriegsverbre- es sich bei dem Archiv (bitte Anzahl der wurden? chen begangen hat und deswegen vom Räume und Größe in Quadratmetern an- d) In welcher Form geschieht dies am offiziellen Alpini-Verband nicht aufge- geben)? Beispiel der zahlreichen weiteren Mas- nommen wird. d) Bezahlt der Kameradenkreis Mie- saker (bitte jeweils detailliert erläu- a) Falls dies der Bundesregierung be- te und Betriebskosten für die Überlas- tern)? kannt ist: Beabsichtigt sie, entspre- sung der Räumlichkeiten, und wenn ja, Die umfassende wissenschaftliche Er- chende Informationen einzuholen? wie viel? forschung des Zweiten Weltkriegs ist b) Falls dies der Bundesregierung be- e) Falls der Kameradenkreis keine Mie- insbesondere von der Bundeswehr kannt ist,: Welche Konsequenzen zieht te oder nur eine symbolische bezahlt: durch das Militärgeschichtliche For- sie, um den gemeinsamen Auftritt von Warum gewährt die Bundeswehr dem schungsamt (MGFA) geleistet worden. Bundeswehr und in der Tradition der fa- Kameradenkreis eine solche Unterstüt- Dem MGFA kam dabei viele Jahre die schistischen „Italienischen Sozialen Re- zung? „impulsgebende Rolle“ in der deutschen publik“ stehenden Einheiten zu verhin- f) Wie sind die Zutrittsregelungen zu Geschichtswissenschaft zu. Die Ergeb- dern? dem Archiv? nisse wurden und werden publiziert. Nach hiesiger Kenntnis nehmen seit g) Haben Nichtmitglieder des Kamera- Hierzu wird insbesondere auf das inter- Jahrzehnten Angehörige der so genann- denkreises und Zivilistinnen und Zivilis- national anerkannte Standardwerk „Das ten Division „Monterosa“ an der Ge- ten, beispielsweise Journalistinnen und Deutsche Reich und der Zweite Welt- denkfeier teil. Dies trifft auch für meh- Journalisten, Historikerinnen und Histo- krieg“ verwiesen, in dem alle nur denk- rere Alpini-Abordnungen zu, die einen riker sowie Studierende freien Zugang baren Aspekte sozial- und organisati- Kranz niederlegen. Über das Verhältnis zum Archiv? onsgeschichtlicher Provenienz dieses zwischen Alpini und der ehemaligen Di- Der Kameradenkreis der GebTr e. V. un- Krieges im Rahmen eines neuartigen vision „Monterosa“ liegen derzeit keine terhält in der Karwendelkaserne kein Forschungsansatzes in ausgewogener Erkenntnisse vor. Archiv. Weise thematisiert werden. Darin wird auch deutlich, dass sowohl Einzelperso- 12. Ist die fehlende Distanzierung des 14. Welche Binnenwerbung innerhalb nen als auch einzelne Truppenteile der Kameradenkreises vom verurteilten fa- der Bundeswehr-Gebirgseinheiten Wehrmacht an Kriegsverbrechen betei- schistischen Kriegsverbrecher General führt die Bundeswehr, um über das ligt waren. Lanz aus Sicht der Bundesregierung Stattfindfen des Gebirgssoldaten-Tref- Diese Ergebnisse der militärgeschichtli- deswegen nicht zu beanstanden, weil fens zu informieren? chen Forschung fließen auch in die mili- General Lanz sich in Griechenland um Keine. tärgeschichtliche Unterrichtung an den einen Waffenstillstand mit nationalis- Offizier- und Unteroffizierschulen ein. tischen Widerstandsgruppen bemüht 15. In welcher Form werden die Ange- Den verantwortlichen Disziplinarvor- hat und mit mörderischer Gewalt ge- hörigen der Gebirgseinheiten darüber gesetzten stehen Hilfen für die Unter- gen den kommunistischen Widerstand informiert, dass „ihr“ Traditionsver- richtsgestaltung zu NS-Zeit und Wehr-

39 macht zur Verfügung, die sie im Rahmen gruppe der historischen Verantwortung überzustehen, die die Massaker der der historischen und politischen Bildung Deutschlands. Gebirgseinheiten in den 1940er Jahren in den Verbänden und Einheiten nutzen überlebt haben, und wenn nein, warum können. Die Medien der Truppeninfor- 17. Werden die aktiven Angehörigen nicht? mation greifen regelmäßig Themen mit und Reservisten der Gebirgseinheiten Die Bundeswehr hat Ihre Soldaten nicht Bezug zu historischen Fragestellungen der Bundeswehr ermuntert, die Veran- ermuntert, entsprechende Veranstal- auf. Im dargestellten Rahmen werden staltungen des Arbeitskreises Angreif- tungen zu besuchen. Dies gehört nicht Kriegsverbrechen während des Zwei- bare Traditionspflege zu besuchen, um zu den Aufgaben der Bundeswehr. ten Weltkriegs allgemein oder exempla- ihre Kenntnisse über Tradition und Ge- risch thematisiert. Damit stellt sich die schichte der Gebirgseinheiten aus- Bundeswehr wie keine andere Berufs- zuweiten und dort ggf. jenen gegen- 1 Drucksache 16/5296 des Deutschen Bundestages.

Gebirgsjäger der Wehrmacht in Griechenland 1941–19441

Heute vor 66 Jahren erfolgte der erste vasionsfall nicht wage, sich gegen die derlage. Die für Italien und die faschis- Großeinsatz deutscher Gebirgsjäger in Deutschen zu erheben. Durch die Ver- tische Achse desaströse militärische Griechenland. nichtung der Partisanen und die „Ru- Entwicklung mit ihren unkalkulierbaren Unterstützt von Fallschirmjägern, be- higstellung“ der Bevölkerung – so das politischen Weiterungen für den gan- gann die 5. Gebirgsdivision (Geb. Div.) Kalkül der deutschen Führung – hätte zen Balkan so kurz vor dem Überfall auf mit der Eroberung Kretas. man alle Truppen zur Abwehr der alliier- die Sowjetunion bestärkte die deutsche Während des Zweiten Weltkrieges wa- ten Landung einsetzen können und die Führung in ihren Aggressionsabsich- ren in Griechenland zu verschiedenen Nachschubwege gesichert. ten gegen Griechenland. Die deutschen Zeiten und mit unterschiedlicher Aufga- An dem Auftrag erkennt man bereits, Kriegspläne wurden durch den Sturz der benstellung zwei Gebirgsdivisionen und dass beide Divisionen nicht nur rein mi- „deutschfreundlichen“ Cvetkovic-Regie- ein der Wehrmacht unterstelltes SS-Po- litärische, sondern auch gewichtige be- rung in Jugoslawien am 27. März 1941 lizei-Gebirgsjäger-Regiment eingesetzt. satzungspolitische Aufgaben zu erfüllen noch einmal modifiziert. Griechenland - Zwischen April und Oktober 1941 war hatten. und Jugoslawien sollten nun zur glei- die 5. Geb. Div. in Griechenland statio- Um die Rolle der beiden Divisionen ex- chen Zeit überfallen werden. niert. Diese „Gams-Division“ unter Ge- akt einordnen zu können, soll nachste- Am Palmsonntag, dem 6. April 1941, neralmajor Ringel war mit annähernd hend ein Schnelldurchlauf durch 42 Mo- fielen deutsche Truppen von Bulgari- 14.000 Soldaten die militärische Haupt- nate Besatzung Griechenlands gewagt en aus in Griechenland ein und warfen kraft zur Besetzung der Insel Kreta. werden. das Land in einem dreiwöchigen „Blitz- Noch während der Kämpfe installier- krieg“, den letzten, den die Wehrmacht te die Division ein beispielloses Terror- 42 Monate Okkupationsgeschichte zu führen imstande war, nieder. In der regime gegen die Zivilbevölkerung der im Schnelldurchlauf Zeit vom 20. bis 30. Mai 1941 wurde in Insel. Die Division wurde im November Nachdem im Sommer 1940 die Wehr- einem Luftlandeunternehmen die Insel 1943 nach Italien verlegt, wo sie nicht macht fast das gesamte Europa nieder- Kreta besetzt. Griechenland wurde in nur im infanteristischen Kampf gegen geworfen hatte, verstärkte Deutschland drei Zonen aufgeteilt: die Anglo-Amerikaner, sondern auch zur seine Bemühungen, das neutrale Grie- Für seine Vasallendienste erhielt Bulga- Bekämpfung der Zivilbevölkerung einge- chenland in den deutschgeführten eu- rien wirtschaftlich wichtige Gebiete (et- setzt wurde. ropäischen Großraum einzugliedern. Da wa 15 Prozent des griechischen Territo- - Ab Frühsommer 1943 rückte, aus Ju- die griechische Führung dies ablehnte, riums) im Nordosten und einen Zugang goslawien kommend, die 1. Geb. Div., wurde in der deutschen Führung eine zur Ägäis. Aber die Bulgaren erhielten die „Edelweis-Division“, in Nordwest- Militäraktion erwogen. Der Krieg sollte nur eine eingeschränkte Souveränität, griechenland und Süd-Albanien ein. Ih- die Briten aus dem östlichen Mittelmeer denn die deutsche Wirtschaft hatte sich re Hauptaufgabe war – anders als die vertreiben, den traditionell starken briti- die ökonomische Nutzung dieser beson- der 5. Division – die Abwehr einer von schen Einfluss in Griechenland beseiti- ders landwirtschaftlich wichtigen Ge- der deutschen Führung erwarteten alli- gen, den Deutschen vielseitig verwend- bietsteile vorbehalten (Tabak, Baumwol- ierten Großlandung an der griechisch/ bare Militärstützpunkte bringen und die le, Naturseide, Getreide). albanischen Küste. Wesentlicher Be- Südostflanke des bevorstehenden deut- 70 Prozent des griechischen Territori- standteil des militärischen Auftrages schen Angriffs auf die Sowjetunion si- ums wurden den Italienern zur Sicherung war die Vernichtung aller Widerstands- chern. Griechenland sollte nach den übergeben. Dort aber lagen bedeuten- kräfte schon vor der alliierten Landung. deutschen Plänen hauptsächlich Ab- de Rohstoffe (Chrom, Bauxit) und wich- Außerdem glaubte man, die Zivilbevöl- sprungbasis für offensive Operationen tige Verkehrsinteressen der Deutschen. kerung in den voraussichtlichen Lan- östlich von Sizilien, in Nordafrika und Die deutsche Industrie hatte sich auch dungsräumen sei „deutschfeindlich“ Nahost werden. hier vor dem Einrücken der Italiener in eingestellt. Durch permanenten Terror Am 28. Oktober 1940 fielen italienische die ihnen von der Wehrmacht zugewie- sollte die Bevölkerung deshalb derart Truppen von Albanien aus in Griechen- sene Zone die Ausbeutung des Gebie- eingeschüchtert werden, dass sie im In- land ein und erlitten eine blamable Nie- tes gesichert. Die politische Vertretung

40 der deutschen Interessen in dieser Be- Drittens: Da die Zuführung deutscher und Tunnel waren zerstört. Die Loko- satzungszone, in der Deutsche und Ita- Kräfte und Mittel wegen der allgemei- motiven und Waggons waren entweder liener eine machtlose Kollaborationsre- nen Kriegslage nur begrenzt möglich nach Norden abtransportiert oder zer- gierung einsetzten, sollte ein deutscher war, versuchte man, die Kollaboration stört worden, so dass kein rollendes Ei- Reichsbevollmächtigter wahrnehmen. entscheidend auszuweiten. Die Kollabo- senbahnmaterial mehr zur Verfügung Die deutschen Zonen umfassten zu- rateure wurden bewaffnet und der Ver- stand. Alle die für das Land so wichti- nächst zwar nur 12 Prozent des grie- such unternommen, so genannte natio- gen Hafenanlagen mit den Anschlüssen chischen Festlandes und zwei Drittel nale Partisanen auf die deutsche Seite an das Hinterland waren zerstört. Die Kretas. Sie waren aber politisch und zu ziehen. Zum Hauptfeind erklärte man Geheime Feldpolizei der Wehrmacht militärstrategisch von herausgehobe- die linksgerichteten ELAS-Partisanen, schätzte im Oktober 1944 ein, dass ner Bedeutung und entsprachen exakt die 1943 fast 90 Prozent der bewaff- die von deutschen Sprengkommandos den deutschen Wünschen nach Errin- neten Widerstandskämpfer stellten und durchgeführten Zerstörungen im Hafen gung von Stützpunkten und Absprung- große Teile Griechenlands befreit hat- von Saloniki derart nachhaltig waren, basen (Thessaloniki mit großem Hinter- ten. Das Konzept der Deutschen, zuneh- dass man mindesten 10 Jahre zur Wie- land, Athen-Piräus bis Sunion, mehrere mend Griechen durch Griechen töten zu derinbetriebnahme des Hafens brau- Inseln in der Ägäis, zwei Drittel von Kre- lassen und damit die griechische Ge- chen würde. ta). Nach dem Ausscheiden Italiens aus sellschaft nachhaltig zu spalten, war in Drittens: Eine Konferenz der Sieger- dem faschistischen Bündnis am 8. Sep- diesem Punkt weitgehend aufgegangen. mächte in Paris bezifferte 1947 die ma- tember 1943 wurde auch der größte Teil Seit 1943 tobte – von Deutschen konzi- teriellen Schäden auf 7 Mrd. US-Dollar. der italienischen Zone von Deutschland piert und zunächst unter deutscher Füh- Viertens: Der schwerwiegendste Pos- besetzt. rung – ein Bürgerkrieg, der erst 1949 ten in der Besatzungsbilanz waren die Das Jahr 1943 brachte die Kriegswen- endete. Menschenverluste: de, markiert durch die Begriffe Stalin- Ab September 1944 zog sich die Wehr- Während der Hungerkatastrophe im grad, Kursker Bogen, Landung in Sizili- macht aus Griechenland gegen die an Winter 1941/42 – einem traumati- en. Deutschland geriet grundsätzlich in der Donau vorrückende Rote Armee zu- schern Ereignis in der neugriechischen die strategische Defensive, konnte kei- rück. Geschichte – starben mehrere Hundert- ne groß angelegten Operationen mehr Während die Briten nach einem im tausend Menschen. Die Säuglingssterb- durchführen. Dadurch änderte sich im Zweiten Weltkrieg einmaligen deutsch- lichkeit stieg auf 80 Prozent. D. h. 80 strategischen Kalkül der Deutschen britischen Abkommen die Wehrmacht von 100 Neugeborenen erreichten nicht auch die Funktion Griechenlands. Aus unbedrängt gegen die Rote Armee, ih- das erste Lebensjahr. Das Internationale der Absprungbasis für offensive Opera- ren Verbündeten, abziehen ließen, lie- Rote Kreuz schätzte, daß bis Mitte 1943 tionen des Jahres 1941 wurde eine Fes- ferte die ELAS den Deutschen schwere etwa 250000 Griechen verhungert sind. tung, die die weitgehend offene Südost- Gefechte. Dadurch geriet der deutsche Hunger und seine Folgekrankheiten be- flanke des deutschen Imperiums gegen Rückzug zur Flucht. Die Wehrmacht stimmten wesentlich den Alltag über eine alliierte Großandungen decken kam verspätet, abgekämpft und ohne die gesamte Besatzungszeit. sollte. schwere Waffen an der Donau an. Wesentliche Ursachen der Hungerka- Der Funktionswandel zur Festung hatte Die deutsche Herrschaft in Griechen- tastrophen waren ein ungeheurer Raub- für die Griechen beträchtliche Auswir- land endete am 2. November 1944, auf zug der Deutschen gleich zu Beginn der kungen: einigen Inseln am 8. Mai 1945. Okkupation und die den Griechen auf- Erstens: Die Besatzungstruppen wurden Während dieser 42 Monate Besatzungs- erlegte Kontributionen der Besatzungs- verdreifacht. In diesem Zusammenhang zeit sind in Griechenland Verbrechen an macht, deren Höhe allen Kriegsbräu- wurde auch die 1. Geb. Div. zugeführt. der Zivilbevölkerung verübt worden, die chen und internationalen Festlegungen Ein riesiges Festungsbauprogramm wur- vor allem in der Begehensweise, wie die eklatant widersprach. Der Raubzug ver- de aufgelegt. Die griechischen Rohstoffe Juristen sagen, durchaus mit den Unta- anlasste Benito Mussolini, den faschis- erhielten angesichts der Gesamtkriegs- ten deutscher Besatzer in den besetzten tischen Führer Italiens und engsten Ver- lage für die deutsche Kriegswirtschaft Gebieten der Sowjetunion und in Jugos- bündeten Hitlers, zu der sarkastischen erhöhte Bedeutung. Die Griechen muss- lawien, um zwei Synonyme deutscher Bemerkung, die Deutschen würden den ten Zwangsarbeit leisten, mehr Lebens- Okkupationspolitik zu nennen, ver- Griechen auch noch den letzten Schnür- mittel, Baumaterialien u. a. Werkstoffe gleichbar sind. Ein Tatbestand, der bis senkel davon tragen. Die Besatzungs- sowie Transportkapazität zur Verfügung heute kaum in das öffentliche Bewusst- kosten als entscheidender Teil der den stellen und das alles über Besatzungs- sein in Deutschland gedrungen ist. Griechen auferlegten Kontributionen kosten bezahlen. Eine in der Finanzge- Um den Umfang des Problems deutlich betrugen Anfang 1943 pro Kopf und schichte einmalige Inflation mit rapider zu machen, einige Grundzahlen: Monat 78 Reichsmark und waren damit absoluter Verelendung breiter Volks- Erstens: In Europa kennt man Oradur die höchsten in allen besetzten Gebie- schichten war die Folge. und Lidice als Symbole deutschen Be- ten. Es kam hinzu: Annähernd 59.000 Zweitens: Um die Truppen voll zur Ab- satzungsterrors. In Griechenland gab Juden wurden umgebracht. wehr einer Invasion einsetzen und die es hochgerechnet auf die gesamte Be- Fast 70.000 Menschen jeden Alters und ökonomischen Ressourcen im geplan- satzungszeit wöchentlich zwei Lidice. beiderlei Geschlechts sind im Verlauf so ten Umfang nutzen zu können, brauch- Über 400 Dörfer wurden zerstört, meist genannter Vergeltungs- oder Sühne- te man Ruhe in der Festung, Friedhofs- auch ihre Bewohner umgebracht. Jeder maßnahmen auf meist unbeschreibli- ruhe. Deshalb war die Vernichtung der sechste Grieche war nach dem Abzug che Weise ermordet worden. Partisanen und die Einschüchterung der der Deutschen obdachlos. In der Statistik über den Anteil der im Bevölkerung zur wichtigsten Aufgabe Zweitens: Mehr als drei Viertel der Gleis- Zweiten Weltkrieg umgekommenen für die deutschen Besatzungsorgane er- anlagen, fast alle Bahnhöfe sowie beina- Menschen im Verhältnis zur Vorkriegs- klärt worden. he alle Eisenbahn- und Straßenbrücken bevölkerung steht Griechenland welt-

41 weit an 4. Stelle nach der Sowjetunion, Griechen oder für Griechenland wichti- In dem Befehl heißt es: „Es ist einwand- Polen und Jugoslawien. 7,2 Prozent der gen Fragen wurden von der Wehrmacht frei festgestellt,… dass sich die Bevölke- Vorkriegsbevölkerung starben als Folge entschieden. rung von Kreta (auch Frauen u. Jugendli- von Krieg und Okkupation. che) im weitesten Umfange am direkten Bei alle dem ist zu beachten, dass die Die Befehlslage für die Wehrmacht, Kampfe beteiligt hat … Jetzt ist die Zeit Verluste und die Zerstörungen erfolg- insbesondere für die Gebirgstruppen gekommen, … Vergeltung zu üben und ten, obwohl in Griechenland bis auf 1. Kreta Strafgerichte abzuhalten, die auch als wenige Tage im April 1941 kein militä- Die ersten Befehle und Beispiele für kol- Abschreckungsmittel für die Zukunft rischer Großkampf stattgefunden hat. lektive Gewaltmaßnahmen gegen Zivi- dienen sollen. Als Vergeltungsmaßnah- Die Toten und Zerstörungen sind also listen sind aus Kreta überliefert. Im Mai men kommen in Frage: nicht Folgen „normalen“ Kriegsgesche- 1941 brachte eine kombinierte Luft- und 1.) Erschießungen; 2.) Kontributionen; hens, wie die in Deutschland noch im- Seelandung die Insel in deutschen Be- 3.) Niederbrennen von Ortschaften mer vorherrschende Meinung besagt. sitz. Die Eroberung wird bis heute – lei- (vorher Sicherstellung aller Barmittel); Es erhebt sich die Frage nach den Ursa- der nicht nur in der Trivialliteratur – als 4.) Ausrottung der männlichen Bevölke- chen der Menschenverluste und materi- einzigartige soldatische Leistung glorifi- rung ganzer Gebiete …“ ellen Schäden. Zwei Möglichkeiten sind ziert. Bei der Invasion trafen die Deut- Die Maßnahmen sollten „mit größtmög- denkbar: Waren die oft unbeschreibli- schen auf nicht für möglich gehaltenen licher Beschleunigung“ durchgeführt chen Massaker an Zivilisten Ausschrei- Widerstand. Die deutschen Verluste bei werden „unter Beiseitelassung aller For- tungen einzelner Soldaten bzw. Ausflüs- der Eroberung Kretas waren um ca. 20 malien u. unter bewusster Ausschaltung se intensiver faschistischer Aufhetzung Prozent höher als bei den vorausgegan- von Gerichten“. der Soldaten gegen die Griechen? genen Feldzügen gegen Jugoslawien und Danach kam es auf Kreta massenhaft Oder – das ist die zweite Möglichkeit – das griechische Festland zusammen. zu Tötungsaktionen und zu großflächi- waren sie Ausdruck und Ergebnis einer Der Nimbus der unbesiegbaren Wehr- gen Zerstörungen. Nach griechischen politisch-militärischen Konzeption zur macht so kurz vor dem großen Ostkrieg Schätzungen wurden in Vollzug dieses Machtsicherung. Sichere Anhaltspunk- war empfindlich beschädigt. Befehls innerhalb von drei Monaten te zur Beantwortung der Fragen – ob Besonders schockierte die Deutschen, mindestens 2000 Kreter ermordet. Exzess oder Konzept – bietet ein Blick dass sich die Zivilbevölkerung in gro- auf die den deutschen Truppen erteil- ßer Zahl an der Verteidigung beteilig- 2. Radikalisierung der Befehle te Befehle, in denen sich die Strategie te – ein von der Haager Landkriegsord- auf dem Festland und für die Okkupationspolitik widerspie- nung gedecktes Verfahren im Fall der nach dem Muster von Kreta geln muss. Denn, auch dass gehört zu Abwehr einer feindlichen Invasion. Für Die Vorgänge auf Kreta beeinflussten den historischen Rahmenbedingungen deutsche Militärs aber war bewaffneter in starkem Maße auch die Befehlslage und den Grundtatsachen: Im besetzten Widerstand des Volkes eine kriminelle, für die Bekämpfung von Widerstand auf Griechenland gab es keine oberste zivi- todeswürdige Handlung. Auf Kreta wur- dem Festland. Obwohl dort keine Ge- le Okkupationsbehörde. Die deutschen de die Wehrmacht zum ersten Male im birgsjäger stationiert waren, muss kurz Besatzungszonen waren vom ersten bis Zweiten Weltkrieg mit einem Volkskrieg auf diese Befehle eingegangen werden, zum letzten Tag der Besetzung Opera- konfrontiert. da sie ein Beispiel dafür sind, wie sich tionsgebiet der Wehrmacht mit perma- Die Wehrmacht reagierte mit ungeheu- durch die Entwicklung der Gesamt- nentem militärischem Ausnahmezu- rer Brutalität. Noch während der Kämp- kriegslage und das Anwachsen des Wi- stand. Die Militärs hatten die oberste, fe kam es zu Massenerschießungen und derstandes gegen die Besatzer das Be- die vollziehende Gewalt. Wegen ihrer zur Zerstörung von Dörfern. Der Kom- fehlssystem und die Besatzungspolitik juristischen und tatsächlichen Stellung mandeur der 5. Geb. Div., Generalma- radikalisierten. Außerdem schufen die im Okkupationsregime war die Wehr- jor Ringel, befahl, „für jeden deutschen Befehle der Jahre 1941/42 eine norma- macht nicht nur für die innere und äu- Verwundeten oder Gefallenen 10 Kre- tive Grundlage für das Wirken der Ge- ßere Sicherheit des besetzten Gebietes ter zu erschießen, Gehöfte und Dörfer, birgsjäger, als sie im Frühsommer 1943 zuständig. Sie war u. a. auch wesentlich in denen deutsche Truppen beschossen wieder nach Griechenland zurückkehr- für die „wirtschaftliche Ausnutzung“ werden, niederzubrennen, in allen Or- ten. des Landes verantwortlich. Anders als ten Geiseln sicherzustellen.“ Auf dem Festland kam es ab Juli/Au- in vielen anderen besetzten Gebieten Am 31.5.1941, nach Abschluss der gust 1941 zu Unruhen. Ursache war vor war die Wehrmacht in Griechenland Kämpfe, erhielt die 5. Geb. Div., der allem die immer schlechter werdende entscheidend auch an der „Endlösung auch Fallschirmjäger unterstellt wor- Lebenslage. Die Wehrmacht reagierte der Judenfrage“ beteiligt. Als der Rab- den waren, einen umfassenden Befehl nach dem auf Kreta praktizierten Mo- bi von Thessaloniki den Kollaborations- zur Handhabung der Terrormaßnahmen dell. Mit Massenhinrichtungen auf be- ministerpräsidenten darum bat, bei den gegen die Zivilbevölkerung. Der Grund- sonders grausame Weise sollten Wider- Deutschen gegen die Deportation der satzbefehl des auf Kreta führenden Ge- standsaktionen geahndet und in breiten fast 50.000 Juden Salonikis und damit neralkommandos XI. Fliegerkorps unter Bevölkerungskreisen lähmendes Ent- gegen die Vernichtung einer mehr als General Student folgte dem Prinzip, Ra- setzen erzeugt werden. Gegenüber Kre- 2.000 Jahre alten Kultur Einspruch zu che für die unerwartet hohen Verluste ta gab es zwei Neuerungen: Die Massa- erheben, wurde vom Befehlshaber Sa- und für die Auflehnung der Zivilbevölke- ker wurden zunehmend auch mit dem loniki-Ägäis veranlasst, ihn wegen Wi- rung zu nehmen sowie in starkem Ma- Vorwurf „kommunistischer Betätigung“ derstands gegen einen militärischen ße durch wahrlich maßlosen Terror vor- begründet und die Wehrmacht errich- Befehl mit samt seiner Familie zu de- beugend gegen möglichen Widerstand tet in Thessaloniki das erste nach deut- portieren. zu wirken. Es ist der in der deutschen schem Vorbild aufgebaute Konzentrati- Nicht SS- oder NSDAP-Bonzen be- Militärgeschichte bis dahin furchtbars- onslager auf griechischem Boden, das stimmten in Griechenland. Alle für die te Befehl. als Haft- und Richtstätte sowie als Gei-

42 selreservoir diente. Die deutsche Stra- Am 16.12.1942 erließ das OKW einen dass sie sich im Invasionsfall nicht gegen tegie zur Bekämpfung jeglichen Wider- Befehl, in dem folgendes angeordnet die Deutschen erhebe. Die Befehle der stands auf dem Kriegsschauplatz Balkan wurde: 1. Geb. Div. für ihren neuen Einsatzraum ist deutlich in den September-Befehlen Der Kampf gegen Partisanen solle „mit lagen ganz im Kontext der geltenden Be- des Oberkommandos der Wehrmacht den allerbrutalsten Mitteln“ geführt stimmungen. Am 8. April 1943 erließ (OKW) zu erkennen. Hitler forderte, „im werden. Die Truppe sei „berechtigt und der Kommandeur der 1. Geb. Div. einen Gesamtraum mit den schärfsten Mit- verpflichtet, ohne Einschränkung auch Sühnebefehl für das Operationsgebiet teln die Ordnung wieder herzustellen“. gegen Frauen und Kinder jedes Mit- der Division in Serbien. Darin heißt es, Am 16.9.1941, erließ der Chef des OKW, tel anzuwenden, was zum Erfolg führt. nicht nur Partisanen, sondern auch de- Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Rücksichten, gleich welcher Art, sind ren „Helfer“ seien sofort zu erschießen. Richtlinien, wie der Hitlerbefehl umzu- ein Verbrechen gegen das deutsche Unter dem Kapitel „Sühnequoten“ wur- setzen sei. Volk und den Soldaten an der Front. de befohlen: Für einen getöteten Deut- „Um die Umtriebe im Keime zu ersti- … Kein in der Bandenbekämpfung ein- schen fallen 50 Sühnegefangene, für ei- cken“, heißt es, „sind beim ersten An- gesetzter Deutscher darf wegen seines nen verwundeten Deutschen fallen 25 lass unverzüglich die schärfsten Mit- Verhaltens im Kampf gegen die Banden Sühnegefangene. Für jeden Anschlag tel anzuwenden, um einem weiteren und ihre Mitläufer disziplinarisch oder gegen geschützte Objekte fallen bis zu Umsichgreifen vorzubeugen. Dabei ist kriegsgerichtlich zur Rechenschaft ge- 100 Sühnegefangene. zu bedenken, dass ein Menschenle- zogen werden.“ Im Frühsommer zog die Division mit ben in den betroffenen Ländern viel- Die Ungeheuerlichkeit des Befehls, der der gleichen Aufgabenstellung weiter fach nichts gilt und eine abschrecken- mit dem überhöhten Superlativ eigent- in Richtung Griechenland. Für den Ein- de Wirkung nur durch ungewöhnliche lich schon nicht mehr in einer militäri- marsch in Griechenland hatte der Kom- Härte erreicht werden kann. Als Sühne schen Sprache geschrieben ist, wird mandeur am 7. Juli 1943 einen geson- für ein deutsches Soldatenleben muss bei einem Blick auf die Entstehungsge- derten Befehl erlassen. Darin werden im allgemeinen die Todesstrafe für 50 schichte deutlich. Am 1.12.1942 kam es folgende Richtlinien für die „Kampf- bis 100 Kommunisten als angemessen im „Führerhauptquartier“ zu einer Dis- führung“ angewiesen: „Bei Säuberung gelten. Die Art der Vollstreckung muss kussion über einen Befehlsentwurf zur bandengefährdeter Gebiete ist schärfs- die abschreckende Wirkung noch erhö- verschärften Partisanenbekämpfung. tens durchzugreifen. Alle Ortschaften, hen.“ Hitler forderte von der Generalität, der die den Banden als Zuflucht dienen Auf der Grundlage der Septemberbe- Befehl dürfe für das Verhalten der Sol- können, sind zu zerstören, die männ- fehle kam es in Griechenland zu zahl- daten keinerlei Beschränkungen er- liche Bevölkerung ist, soweit sie nicht reichen großen Tötungsaktionen. Allein halten, er müsse die Soldaten generell wegen Verdachts der Teilnahme am im Oktober 1941 wurden im Bereich des vor kriegsgerichtlicher oder disziplina- Kampf oder Unterstützung der Banden Befehlshabers Saloniki-Ägäis mehr als rischer Bestrafung schützen, aber alle, erschossen wird, restlos zu erfassen 800 Zivilisten umgebracht und mindes- die nicht so brutal vorgingen, als Volks- und als Gefangene abzuschieben. Bei tens 7 Dörfer zerstört. verräter diskriminieren. Der Chef des Sabotagefällen … sind strengste Sühne- Wehrmachtsführungsstabes, General maßnahmen gegen die Bevölkerung zu 3. Kriegswende: Das OKW verlangt Alfred Jodl, versicherte, die „Truppe“ un- treffen … Jede Weichheit in der Behand- Friedhofsruhe in der Festung terläge keinerlei Beschränkungen. Die lung der Bevölkerung wird der Truppe Mit der Kriegswende wurden die Befeh- Soldaten könnten auch mit Frauen und als Schwäche ausgelegt …“ Bemerkens- le weiter verschärft. Vom OKW bis zur Kindern „machen, was sie wollen“. Jodl wert an dem Befehl ist, dass schon der letzten Kreiskommandantur wurde un- hob hervor: „Sie dürfen sie aufhängen, „Verdacht“ ausreichte, um die gesamte verblümt zum Massenmord, auch an verkehrt aufhängen oder vierteilen.“ männliche Bevölkerung einer Ortschaft Frauen und Kindern, aufgefordert. In Der Tenor dieser zentralen Vorschrift zu erschießen. Die Tötungsquote, die den Einheiten erzeugte man eine dazu setzte sich in den Befehlen der Regio- vorher (siehe den oben genannten Be- passende antikommunistische Hysterie, nen fort. So erließ der Oberbefehlshaber fehl vom 8.4.43) noch penibel festge- die nun auch für Griechenland zuneh- Südost am 14. Juli 1943 einen Befehl an legt worden war, blieb nun nach oben mend mit rassistischen Argumenten un- die neu zugeführten Verbände, darunter offen und wurde nur begrenzt durch termauert wurde. Nach den Lagebeur- an die 1. Gebirgsdivision, zur Vorberei- die Zahl der habhaft gewordenen Män- teilungen der Militärs waren nämlich die tung auf eine alliierte Invasion, in dem ner. Das traf auch auf die angeordneten Griechen in ihrer Mehrzahl „deutsch- es hauptsächlich um die Einschüchte- „Sühnemaßnahmen“ bei Sachbeschädi- feindliche händlerische Levantiner“ rung der Bevölkerung ging – Partisanen gung durch Griechen zu, die als Sabo- und, was einem Todesurteil gleichkam, spielen in dem Befehl kaum keine Rolle. tagefälle kriminalisiert wurden. Schwer- zum größten Teil kommunistisch beein- Außerdem wird das OKW-Muster über- wiegend war auch die Festlegung, alle flusst. Außerdem tauchen in den Befeh- nommen – „schärfste Maßnahmen“ ge- Ortschaften, die den Partisanen als Zu- len zwei neue, verhängnisvolle Elemen- gen die Bevölkerung, Straffreiheit für flucht dienen können, zu zerstören und te auf: Den Soldaten wurde in jedem Maßnahmen der Deutschen, „weiches“ die männliche Bevölkerung, soweit sie Fall Straffreiheit zugesichert und eine Verhalten von Kommandeuren und Sol- nicht erschossen wird, in die Gefangen- „weichere“ Kampfführung als „Verrat daten wird als Verrat gebranntmarkt. schaft abzuführen, wo sie nach einem am deutschen Volk“ gebrandmarkt. Re- In dieser radikalisierten Atmosphäre Befehl Hitlers als militärische Zwangs- lativ neu in so hohen Befehlen ist auch wurde die 1. Geb. Div., die „Edelweis- arbeiter eingesetzt werden sollten. Ob der völkerrechtswidrige Begriff „Mitläu- Division“, vom „Osten“ auf den Balkan erschossen oder zur Zwangsarbeit ab- fer“, die, wie Partisanen, sofort und oh- verlegt mit der Aufgabe, eine alliierte geschoben wird, lag im Ermessen des ne Prüfung zu töten waren, wodurch die Landung abzuwehren, zuvor die Parti- jeweiligen Einheitsführers der 1. Geb. Massaker eine neue Größenordnung er- sanenbewegung zu zerschlagen und die Div. Nur bei „Erschießungen in größe- reichten. Bevölkerung derart einzuschüchtern, rer Anzahl“ musste die Genehmigung

43 eines Regimentskommandeurs einge- der 1. Geb. Div., Rudolf Schwarz, einen 5. Eskalation 1944 holt werden. Der Befehl sagt nichts dar- Ausschnitt seiner Tätigkeiten als Feld- Ende 1943 wurde die Befehlslage zur über aus, was mit den Frauen und Kin- geistlicher der Division in der Zeit vom Bekämpfung des Widerstandes modi- dern eines so ausgelöschten Dorfes 21. Juni bis 30. September 1943 in Grie- fiziert. Die Partisanen hatten 75 Pro- geschehen sollte. Außerdem hatte das chenland wie folgt: „Eine schwere inne- zent Griechenlands befreit und fügten OKW die Kommandeure auf dem Bal- re Belastung ihres Gewissens bedeutet den deutschen Truppen empfindliche kan ausdrücklich ermächtigt, anzuord- für viele das Töten müssen von Frauen Verluste zu. Eine alliierte Invasion wur- nen, „dass keine Gefangene gemacht und Kindern bei den Unternehmen ge- de immer wahrscheinlicher. Die Ge- werden bzw. dass Gefangene und im gen die Banden. Darüber wurde dem samtkriegslage erlaubte aber keine Kampfraum ergriffene Bevölkerung er- Pfarrer gegenüber des öfteren geklagt.“ Verstärkung der deutschen Truppen. schossen werden dürfen.“ Aber auch die nüchterne Diktion der Man verfiel auf die Idee, das ungüns- Wie diese Befehle umgesetzt wurden, schriftlichen Befehle ist Beweis genug. tige Kräfteverhältnis durch verstärk- wie also die okkupationspolitische Pra- Gegen alle Kriegsbräuche und die primi- te Propaganda auszugleichen. Ihr Ziel xis war, möchte ich an einem Dokument tivsten Regeln modernen Kriegsrechts sollte darin bestehen, den Zustrom zu zeigen, dessen Verfasser nicht verdäch- befahl der Kommandierende General den Partisanen zu stoppen und immer tigt werden kann, ein Feind der Deut- des XXII. Gebirgsarmeekorps, Lanz, ei- mehr Griechen zur Zusammenarbeit schen oder ein Sympathisant der Partisa- nen ungehemmten Rachefeldzug gegen mit den Deutschen auch im bewaffne- nen gewesen zu sein. Am 19. Dezember ein Gebiet, in dem ein Regimentskom- ten Bereich zu bewegen. Die Partisanen 1943 schrieb der Ministerpräsident der mandeur der 1. Geb. Div. im Oktober sollten vorrangig nicht mehr von Deut- von den Deutschen eingesetzten grie- 1943 mehr durch einen Verkehrsunfall schen, sondern von Griechen bekämpft chischen Kollaborationsregierung sei- als durch Einwirkung der Partisanen werden. Das wichtigste Mittel dazu war nem deutschen Dienstherrn, dem Mili- ums Leben gekommen war. In Vollzug eine bis dahin beispiellose antikommu- tärbefehlshaber Griechenland, General dieses Befehls wurden von der Edel- nistische Propaganda, verbunden mit Speidel, einen Brief. Darin beklagt er weis-Division im Gebiet um Arta etwa der Darstellung des deutschen Kamp- die Art des Kampfes der Deutschen ge- 200 Zivilisten umgebracht und 7 Dörfer fes als Schlacht für ein geeintes, vom gen die Partisanen. Er wies Speidel dar- ausgelöscht. Bolschewismus befreites Europa. Um auf hin, dass bei Fortsetzung dieser mehr Griechen auf die deutsche Sei- Kampfführung Griechenland in kurzer 4. Mord an italienischen Soldaten te zu ziehen, war es aber auch erfor- Zeit vollkommen zerstört sei. Über Vor- Ein weiteres blutiges Kapitel des Ein- derlich, dass das bislang politisch völ- kommnisse im Operationsgebiet der 1. satzes deutscher Gebirgsjäger in Grie- lig undifferenzierte Töten, bei dem oft Gebirgsdivision berichtete der Grieche: chenland bildeten die Mordaktionen an auch Kollaborateure und deren Angehö- „Bei dieser Gelegenheit sei es mir ge- Soldaten des ehemaligen Verbündeten rige nicht verschont wurden, aufhörte. stattet, Ihnen mitzuteilen, dass einige Italien. Innerhalb weniger Wochen nach Der Terror sollte sich wie die Propagan- Dörfer des griechischen Epirus, infol- dem Austritt Italiens aus dem faschisti- da zielgenauer gegen die linken Kräfte ge von Erschießungen völlig ausgerot- schen Bündnis am 8. 9. 1943 wurden an des Widerstandes richten und kollabo- tet wurden. So wurde das Dorf Kome- der griechischen Westküste und in Sü- rationsbereiten Griechen das Leben ga- no bei Arta, welches 1000 Einwohner dalbanien von deutschen Soldaten, vor- rantieren. Am 8. Dezember 1943 sagte zählte, das Opfer einer furchtbaren De- wiegend aus Einheiten der 1. Geb. Div., der Generalstabschef der Heeresgrup- zimierung. 750 Einwohner dieses Dor- etwa 5.000 italienische Militärangehöri- pe E auf einer Besprechung zu den fes wurden von deutschen Soldaten er- ge ermordet. Die Italiener wurden nach deutschen Planungen: „Es geht leider schossen. In dem Dorf Lyngiades bei der Gefangennahme umgebracht. Sol- nicht an, alle Leute zu köpfen“, da dies Paramythia wurden 82 Einwohner er- daten der 1. Geb. Div. richteten in die- nur immer mehr Griechen zu den Parti- schossen, unter diesen 42 Kinder unter sem Zusammenhang auf der ionischen sanen treibe. Man brauche nicht unbe- 15 Jahren. … So wurden in einem nur Insel Kefalonia das größte Einzelmassa- dingt weniger zu töten. Es komme dar- kleinen Gebiet über 1000 griechische ker auf griechischem Boden an. Mehr auf an, die „politisch richtigen“ Griechen Bürger getötet … Obige Dörfer wur- als 4.000 italienische Soldaten wurden zu treffen, die „wahrhaft Schuldigen“. den zur Gänze in Brand gesteckt, aber dort nach der Gefangennahme erschos- Ein Grundsatzbefehl vom 22.12.1943 die Zahl der in dem Bereich des Gene- sen. Natürlich lagen diesen Massakern fasste die neue Linie zusammen. ralgouvernements Epirus in Brand ge- Befehle von ganz „oben“ zugrunde (Be- Danach war nach einer Partisanenakti- steckten Dörfer beträgt nach offiziellen fehle des OKW vom 15. und 18.9.1943). on in folgender Reihenfolge zu töten: Meldungen an mich, mehr als 100.“ Der Aber bei dem Verhalten der deutschen 1. Die Täter. 2. Wenn diese nicht fassbar Grieche weist hier schon auf Komeno Gebirgsjäger spielten auch rassistische waren – was meist der Fall war –, soll- hin, das erst viel später in der histori- und volkskulturelle Ressentiments, ver- ten Mitschuldige erschossen werden, schen Literatur als eines der furchtbars- bunden mit Rachegefühlen gegen die nämlich Personen, bei denen man ei- ten Massaker an Frauen und Kindern „Verräter vom 8. September“, eine große ne „offene oder versteckte Mitwirkung bezeichnet wurde – ein Massaker ver- Rolle. Geschürt wurden diese Ressenti- oder ein bewusst passives Verhalten übt von einer Kompanie der 1. Geb. Div. ments durch die deutsche Propaganda gegenüber den Tätern“ vermutete. 3. am 16. August 1943. und das hohe Offizierkorps. Beide Kom- Schließlich heißt es: „Lassen sich derar- Es gibt aber auch indirekte Belege da- ponenten – der Befehl und die Hetze der tige Mitschuldige nicht finden, so muss für, dass die Kampfführung der Gebirgs- Propaganda und der Offiziere, u. a. vom auf Personen zurückgegriffen werden, jäger in Griechenland im Kontext mit Oberbefehlshaber der Heeresgruppe E, die ohne mit der einzelnen Tat in Ver- der schriftlichen Befehlslage ungeheu- Generaloberst Löhr, – führten dazu, dass bindung zu stehen, trotzdem als mit- er grausam gewesen sein muss. Unter die Massaker am einstigen Verbündeten verantwortlich anzusehen sind. Mitver- dem Punkt „Erfahrungen allgemeiner so entsetzlich grausam abliefen, vielfach antwortlich sind in erster Linie solche Art“ beschreibt der evangelische Pfarrer sadistische Züge aufwiesen. Personen, die sich zum Kommunismus

44 bekennen.“ Damit war die Dimension einer Partisanenaktion umgekommenen Wichtig ist, dass der Exzess, die Aus- des Vernichtungskrieges gegen Links Divisionskommandeur 325 Griechen er- schreitung von „Oben“ befohlen worden umrissen. Zur damaligen Zeit gehörten mordet – eine Quote, die selbst im „Os- war, um exzessiven Terror als Präventi- 1,6 Millionen Griechen (von rd. 6,5 Mil- ten“ selten erreicht wurde. Eine weitere on zu nutzen. Um die erwünschten Ab- lionen Einwohnern) den als kommunis- Ursache für die Eskalation des Terrors schreckungseffekte zu erreichen, soll- tisch bezeichneten politischen und mili- war die Festlegung, dass in Kampfge- ten die Tötungsaktionen so umfassend tärischen Verbänden des Widerstandes bieten die alten Bestimmungen gelten und so grausam wie nur möglich durch- an. Die nationale Befreiungsfront EAM, sollten, d. h. in den von der Wehrmacht geführt werden. die Gesamtvereinigung des „linken“ Wi- als „partisanenverseucht“ bezeichneten Das entscheidende Instrument zur derstandes, war die größte politische Regionen waren weiterhin alle Einwoh- Durchsetzung der deutschen Siche- Organisation, die es je in der griechi- ner, unabhängig von ihrer politischen rungsstrategie war der militärische Be- schen Geschichte gegeben hat. Haltung, „sühnefähig“. fehl. Demgegenüber hatte die politische Trotz des Bemühens, gezielter vorzuge- Der Befehl blieb bis zum deutschen und moralische Einstellung der Solda- hen, eskalierten die Todeszahlen. Aktio- Rückzug die Grundlage der Okkupati- ten und unteren Offiziere nur unterstüt- nen mit 100 und mehr Toten sowie rie- onspolitik zenden oder auch verzögernden Cha- sigen Verwüstungen wurden 1944 fast rakter. alltäglich In den drei Sommermonaten Schlussbemerkungen Bei den Diskussionen über die Wehr- des Jahres 1944 sind im statistischen Der kurze Blick auf die Strategien zur macht in Griechenland bleibt ein völker- Mittel täglich 106 bis 110 Griechen als Sicherung der deutschen Herrschaft in rechtlich und politisch-aktuelles höchst Geiseln oder bei „Sühnemaßnahmen“ Griechenland zeigt: bedeutsames Faktum fast unbeachtet. ermordet worden. Zur Bekämpfung des Widerstandes hat- Die Richter des Internationalen Militär- Eine Ursache für die Eskalation der Opf- te die deutsche Militärführung zwin- gerichtshofes gegen die Hauptkriegsver- erzahlen, die eigentlich wegen der auf gend die massenhafte Tötung von Zivi- brecher in Nürnberg werteten 1946 den „chirurgisch saubere Schnitte“ ange- listen sowie umfangreiche Zerstörungen Überfall der Wehrmacht am 6. April 1941 legten Orientierung gegenüber vorheri- angeordnet. als Verbrechen gegen den Frieden. ger Praxis sinken sollte, war, dass der Die Massentötungen im Verlauf von Der Überfall aber war die Vorausset- Befehl am Prinzip Prävention durch Ab- Sühne-, Vergeltungs- und Säuberungs- zung, in vielen Fällen auch direkte Ursa- schreckung festhielt. Die massenhafte aktionen waren nicht Folgen „normalen che, für alle anderen den Griechen zuge- Tötung auch von Frauen und Jugendli- Kriegsgeschehens“ oder Ausschreitun- fügten Leiden und auferlegten Lasten. chen war zwingend vorgeschrieben, der gen einzelner Deutscher, sondern Be- „sühnefähige“ Personenkreis durch den standteil und Ergebnis der Strategie zur Dr. Martin Seckendorf Straftatbestand „passives Verhalten“ Sicherung der deutschen Herrschaft. deutlich erweitert und für Erschießun- Die Tötungen dienten als Sühne für Wi- gen keine Obergrenzen festlegt worden. derstandaktionen, zu denen die Opfer in 1 Dieser Text entspricht weitgehend einem Vortrag, So wurden am 3. Mai 1944 für einen bei aller Regel keine Verbindung hatten. den der Autor am 20. Mai 2003 in Jena gehalten hat.

45 BERICHTE UND INFORMATIONEN Kurt Goldstein zum Gedächtnis

Wenn es um den Antifaschismus ging, die Soldaten 7 000 Kilogramm Frauen- im Hinblick auf das vorherzusehende hatte jeder, der es wollte, in Kurt Gold- haar, 836 525 Frauenkleider, 438 820 Ende des Lagers. Im November befiehlt stein, der am 24 September 2007 ge- Männeranzüge, Berge von Brillen, Ge- Himmler die Zerstörung aller Gaskam- storben ist, einen verlässlichen Partner. bissen, Wäsche, Schuhe, Koffer und mern und Krematorien und sonstigen Kurt stützte sich auf jahrzehntelange Kinderspielzeug. Der Goldschmuck, die Verbrechensspuren. Kamperfahrungen: Jungkommunist, Spa- Goldzähne, die den Opfern nach der Er- Dass die Ermordung aller in Auschwitz, nienkämpfer, Überlebender faschisti- mordung ausgerissen wurden, landete Birkenau, Monowitz und den anderen scher Konzentrationslager, Politischer gegen genaue Abrechnung in den Treso- Nebenlagern internierten jüdischen Funktionär in FDJ, KPD und SED, Journa- ren der Reichsbank, soweit nicht vorher Häftlinge nicht stattfand, haben die Er- list, Vertreter in internationalen Gremi- von SS-Banditen gestohlen wurde. finder der Endlösung wider Willen selbst en von Organisationen der Widerstands- Die SS errichtete im Lager von seiner in die Wege geleitet. Auf Befehl Hitlers kämpfer Europas und schließlich als Gründung 1940 an ein barbarisches, begann die Wehrmacht eine letzte Of- leidenschaftlicher Verteidiger des geleb- verbrecherisches Unterdrückungssys- fensive am 16. Dezember 1944 in den ten Antifaschismus in der DDR, an dem tem mit dem Ziel, jegliche Solidarisie- Ardennen. Es gelang zunächst, die alli- er selbst seit Ende des 2. Weltkrieges bis rung zwischen den Häftlingen, jeglichen ierten Truppen zu überraschen und zum zum Herbst 1989 großen Anteil hatte. organisierten Widerstand zu unterbin- Zurückweichen zu zwingen. Das veran- Seine Aufforderung: „Fragt uns!“ wurde den. Doch das Gegenteil trat ein. Wie laßte den englischen Regierungschef von Menschen verschiedener Generati- in allen KZ, Ghettos, Kriegsgefange- Churchill, sich am 5. Januar 1945 in ei- onen angenommen. Nach anfänglichem nen- und anderen Lagern bildeten sich nem Telegramm an den sowjetischen Zögern wegen seiner beeindruckenden Widerstandsorganisationen, meistens Regierungschef Stalin mit dem Ersu- Biographie verloren die Gesprächspart- unter der Leitung von Sozialisten und chen zu wenden, die für Anfang Februar ner ihre Hemmungen. Vertrauen wurde Kommunisten. vorgesehene Offensive der Roten Armee hergestellt. Die erste Widerstandsgruppe entstand vorzuziehen, um die Verbündeten in den Kurt Goldstein war es bis zuletzt auch 1940/41 aus polnischen Sozialisten Ardennen zu entlasten. Das geschah. gewohnt, vor vielen Menschen zu spre- und Berufsoffizieren. 1942/43 bildeten Die Weichsel-Oder-Offensive der sow- chen. So auch anlässlich des 60. Jahres- sich in den verschiedenen Nationalitä- jetischen Streitkräfte war so wuchtig, tages der Befreiung des Konzentrations- ten Widerstandsgruppen, die sich nach dass die Lagerführung am 18. Januar und Vernichtungslagers Auschwitz im Diskussionen um die „Kampfgruppe in aller Eile die Evakuierung des Lagers Januar 2005. Auschwitz“ zusammenschlossen. anordnete. In Fußmärschen wurden wir Seinerzeit hatte er uns erlaubt, seine Ihre Hauptaufgabe sah sie in der Samm- Häftlinge bei 10 bis 15 Grad Frost über Rede als Ehrenvorsitzender des Inter- lung von Informationen und Dokumen- tief verschneite Straßen gen Westen ge- nationalen Auschwitzkomitees im Berli- ten über die Verbrechen der Nazis und trieben. Wer nicht mehr mitmarschieren ner Schauspielhaus nachzudrucken. Am deren Übermittlung in die freie Welt. konnte, wurde von den begleitenden SS- Telefon machte er darauf aufmerksam, Sie erreichten in London die polnische Leuten erschossen. Es wurde im Freien dass ihm der letzte Satz seiner Rede, die Exilregierung und den britischen Regie- übernachtet. Wer morgens beim Kom- nicht im Manuskript gestanden hatte, be- rungschef Churchill und in Washington mando „Antreten“ nicht mehr hochkam, sonders wichtig sei. den Präsidenten Roosevelt. wurde erschossen. Das war der Todes- Bis heute ist diese Mahnung aktuell. Die herausragendste Widerstandsaktion marsch vom Januar 1945. Die Redaktion war der Aufstand des Sonderkomman- In Gedanken sind wir in diesen Ta- dos am 7. Oktober 1944. Mit Spreng- gen bei den Frauen, Männern und Kin- „Auschwitz ist der Größte Friedhof körpern, die sie von der Widerstands- dern, die für ewig in Auschwitz geblie- in der ganzen Welt“ gruppe im Frauenlager erhalten hatten, ben sind. Auschwitz mit seinen mehr als Ein einmaliges Verbrechen konnten sie das Krematorium IV teilwei- eineinhalb Millionen Toten ist der größte Rede von Kurt Julius Goldstein bei der se sprengen. Nach dem Scheitern des Friedhof in der ganzen Welt. Dort liegen Gedenkfeier des Internationalen Aus- Ausbruchs wurden fast alle Mitglieder Juden, Sinti und Roma, Polen, Russen, chwitz-Komitees am 25.1.2005 in Berlin des Sonderkommandos von der SS um- Frauen und Männer des Widerstandes Am 27. Januar 1945 erreichten die Sol- gebracht. aus allen Ländern Europas. Keiner hat daten der 100. Infanteriedivision der 60. Im Ergebnis der sich ständig verschlech- einen Stein des Gedenkens. Die Nazis Armee der 1. Ukrainischen Front die To- ternden Lage an den Fronten gab Himm- wollten, daß sie vergessen werden. Wir desfabrik Auschwitz. Sie fanden dort ler Anfang 1944 erste Anweisungen, die haben die Pflicht, ihrer zu gedenken. vor, was menschliche Fantasie sich nicht Spuren der unmenschlichen Verbre- 1995, anläßlich des 50. Jahrestages der ausdenken, bis auf den heutigen Tag, 60 chen zu beseitigen. In Auschwitz I wur- Befreiung, haben wir uns von hier in Jahre danach, kaum begreifen kann. de das alte Krematorium in einem Luft- Berlin aus mit dem „Ruf von Auschwitz“ Als sie am Nachmittag ins Lager kamen, schutzbunker umgebaut und vor allem an die künftigen Generationen gewandt. fanden sie dort etwa 8.000 zum Skelett die Todesmauer zwischen Block 10 und Mögen sie ihm Gedächtnis bewahren, abgemagerte Häftlinge, Frauen, Män- 11 vernichtet, an der Tausende Häftlin- dass Auschwitz durch die schier unvor- ner und Kinder, Berge von Leichen Ver- ge erschossen worden waren. Die Verle- stellbare Grausamkeit der dort began- hungerter und von SS-Kommandos Er- gung der nichtjüdischen Häftlinge in KZ genen Verbrechen gegen die Mensch- schossener. In den Magazinen fanden im Reichsinneren war eine Maßnahme lichkeit zu einem in aller bisherigen

46 Menschheitsgeschichte einmaligen Ver- derlage des Dritten Reiches die Nazii- nationale Begegnungen, das zur Ver- brechen geworden ist. Mögen sie sich deologie nicht verschwunden ist, dass ständigung der Völker, zur Errichtung daran erinnern, dass die Nazis mit Aus- faschistische und neonazistische Bewe- einer Welt mit mehr Solidarität und Brü- chwitz versucht haben, ihren schändli- gungen, Organisationen und Parteien derlichkeit beiträgt, einer Welt, in der chen Plan „Endlösung der Judenfrage“ sich anschicken, neues Unheil über die überall die Menschenrechte geachtet und Vernichtung von Sinti und Roma Menschheit zu bringen. werden, in der Frieden herrscht, in der zum Abschluß zu bringen und alle Op- Um für ewige Zeiten die vom National- es nie wieder ein Auschwitz geben wird. positionellen, die Angehörigen der euro- sozialismus begangenen Verbrechen Wenn ich heute in unserem Vaterland päischen Widerstandsbewegungen, die gegen die Menschlichkeit zu bezeugen, erlebe, dass Nazis auf den Straßen de- Kämpfer für die Freiheit in den von Hit- muss Auschwitz erhalten bleiben. Möge monstrieren dürfen und das höchste lerdeutschland unterjochten Ländern zu Auschwitz-Birkenau – Stätte des Völker- deutsche Gericht diese Aufmärsche we- vernichten. mordes an Juden, Slawen, Sinti und Ro- gen der Meinungsfreiheit schützt, dann Mögen die künftigen Generationen aber ma und Widerstandskämpfern aus ganz sage ich: Für uns ist das geradezu eine auch daran denken, dass mit der Nie- Europa – ein Zentrum werden für inter- unmenschliche Tat, wir leiden darunter!

Zur Kampagne „nonpd“ der VVN-BdA

Den Ausdruck Kampagne sollte man November 2007, wird vom Bundesbüro haben. Ablesen lässt sich dies an Hun- nicht leichtfertig in den Mund nehmen. der VVN-BdA und einer kleinen Arbeits- derten von Zuschriften und an den Ab- Viele, wahrscheinlich sogar die Mehr- gruppe geführt und von prominenten Er- sendern auf den Briefumschlägen mit zahl der Unternehmungen, die den Ti- stunterzeichnern öffentlich unterstützt. ausgefüllten Unterschriftenlisten, die tel „Kampagne“ führen, sind nämlich Sie ist erkennbar an einem professionel- täglich in der Bundesgeschäftsstelle der gar keine. Es lohnt, sich zunächst den len, einheitlichen Logo, das auf allen Ma- VVN-BdA eintreffen. Unter ihnen sind Ursprung des Begriffs aus dem militä- terialien, Plakaten, Aufklebern, T-Shirts, die Kreisverbände der Partei DIE LINKE rischen Bereich vor Augen zu führen. Er Mützen und Unterschriftenlisten zu fin- nahezu flächendeckend vertreten. Ih- meint nichts weniger als „Feldzug“, ist den ist. Das wichtigste technische Mittel nen und einigen Parlamentsfraktionen also eine begrenzte, trotzdem komple- ist eine effiziente, multifunktionale Kam- sowie Abgeordneten verdankt die Kam- xe und geplante Unternehmung zur Er- pagnen-Homepage, die Finanzen wer- pagne viel. reichung definierter Ziele. Im übertra- den durch einen Anfangsetat, basierend Es besteht kein Zweifel daran, dass die genen Sinne ist eine Kampagne eine auf Beiträgen von Aktivisten und Organi- Kampagne, mittlerweile vor allem unter „zeitlich befristete, thematisch begrenz- sationsgliederungen der VVN-BdA, gesi- dem Logo „nonpd“ bekannt, ein großer te, dramaturgisch angelegte, multimedi- chert. Die Kampagne ist überparteilich, Erfolg geworden ist. Das ursprünglich al operierende besondere Kommunika- offen für jedermann und konzentriert avisierte Ziel, im Kampagnenzeitraum tionsanstrengung, um ein bestimmtes sich inhaltlich auf das Wesentliche. 100.000 Unterschriften zu sammeln, Ziel zu erreichen“1, wie es in einer Hand- Es wurde nach Möglichkeit jeweils der konnte auf 150.000 ausgeweitet werden. reichung der Gewerkschaft ver.di heißt. Weg des am einfachsten zu Realisieren- Das politische Minimalziel – die Öffent- Man kann sich leicht vorstellen, dass das den eingeschlagen. lichkeit erneut für das Thema zu sensibi- Vorhaben, selbst eine Kampagne für das Es hat sich herausgestellt, dass der Ruf lisieren – wurde erreicht, das Maximal- Verbot der NPD durchzuführen, in der nach dem NPD-Verbot gut zu vermitteln ziel – ein konkretes Verbotsverfahren VVN-BdA auf viele Fragen stieß: Können ist, da eine Vielzahl von Menschen tag- tatsächlich anzustoßen – ist greifbar. Es wir das überhaupt mit den uns zur Ver- täglich mit den negativen Auswirkun- soll nicht behauptet werden, dass die in fügung stehenden Kräften durchführen? gen des anwachsenden Neofaschismus den letzten Wochen und Monaten statt- Nehmen wir uns nicht zu viel vor? Wie unter der Regie der NPD konfrontiert findenden und sich auf die Kardinalfra- sollten wir vorgehen? Welche Ziele wol- ist. Dies spiegelt die Kampagnenforde- ge, den Abzug der V-Leute der Verfas- len wir genau realisieren? Ein großer Teil rung – nämlich ein neues Verbotsver- sungsschutzämter aus den Gremien der dieser Fragen ließ sich durch sorgfältige fahren einzuleiten – wider. NPD, zuspitzenden Diskussionen inner- Analyse der Gegebenheiten und durch Probleme mit der Forderung nach dem halb der SPD und anderswo ausschließ- intensive Vorbereitung klären, der Rest NPD-Verbot haben vor allem debattier- lich auf „nonpd“ zurückgehen. Wie groß löste sich beim praktischen Handeln. freudige und zugleich handlungsunlusti- der Anteil der Kampagne daran ist, muss Im Verlauf der Kampagne kam es zu ge Linke und „Superdemokraten“. Auch nach einem gewissen zeitlichen Abstand komplizierten organisatorischen Situa- der Sache gewogene Parlamentarier realistisch beurteilt werden, und es wird tionen, auch konnten nicht alles gleich waren offensichtlich häufig gebrannt von uns selbst abhängen, inwieweit wir gut realisiert werden. Unseren Optimis- durch das Scheitern des ersten Verbots- auch künftig bei dieser Thematik imstan- mus ruinierte dies nie, da die auftau- verfahrens beim Bundesverfassungsge- de sind, offensiv zu handeln. Bislang ist chenden Schwierigkeiten im wesentli- richt in Karlsruhe. uns das, es sei bei aller Bescheidenheit chen aus dem extrem hohen Anklang Im Gegensatz zu den wenigen Kritikern gesagt, gut gelungen. in der Öffentlichkeit resultierten. Die im steht der überwältigende Zuspruch aus Vorfeld getroffenen Basisentscheidun- den Reihen der Gewerkschaften, von Thomas Willms gen erwiesen sich alle als richtig. Die Jugendverbänden, vieler anderer Orga- Eckpunkte der Kampagne kann man wie nisationen und unglaublich vielen Bür- folgt zusammenfassen: Die Kampagne gerinnen und Bürgern, die sich ansons- 1 Broschüre „Kampagnen organisieren“, hrsg. v. d. währt vom 25. Januar 2007 bis zum 9. ten eher selten mit Politik beschäftigt Bundesverwaltung der ver.di, Berlin 2004.

47 Dritter Antifaschistische Ratschlag Sachsen in Chemnitz am 27. Januar 2007

Chemnitz war diesmal der Zielort für et- te Hilfe e. V. Leipzig moderierten Work- sen.“ Ausstellung zu neonazistischer wa 150, vor allem junge sächsische An- shop E. Weder Moderatoren noch die Jugendkultur in Sachsen. tifas. Acht Landtagsabgeordnete der Teilnehmer brauchten Tipps und Hin- Die als Wanderausstellung angelegte Fraktion der Linkspartei.PDS und zwei weise – sie hatten alle schon mehr- Exposition kann bei ihren „Machern“ Bundestagsabgeordnete der Fraktion fach mit Polizei und Justiz praktische Er- geordert werden: Akubiz Sächsische DIE LINKE nahmen teil, hingegen nur ein fahrungen sammeln können. „Was tun Schweiz e. V. oder: a.l.i.a.s. Dresden. Mitglied des Landesvorstandes. wenn’s brennt?! – (Rechtshilfetipps auf Die Verdi Jugend Sachsens und AMAL Treffpunkt war das Alternative Jugend- Demonstrationen, bei Übergriffen, bei Sachsen unterstützten das Projekt. Se- zentrum (AJZ) in der Chemnitztalstra- Festnahmen, auf der Wache) – die klei- henswert!1 ße. Mit dem Bus Nummer 26 fast bis ne Broschüre, die diesem Workshop den Die Teilnehmer des 3. Antifaschistischen zur Endhaltestelle Glösa war zu fahren – Namen gab und die schon mehrere Auf- Ratschlags in Sachsen verabschiedeten dank der guten Wegebeschreibung fand lagen erlebt hat, fand reges Interesse. eine Erklärung: „Wehret den Zuständen! ich selbständig hin. Der Veranstaltungs- Der antifaschistische Ratschlag war Hinschauen statt wegschauen.“ Darin ort war nicht zu übersehen: Außen bunt auch diesmal wieder willkommene Ge- wenden sie sich entschieden gegen die bemalt und dann auch innen abwechse- legenheit, bei früheren Aktionen getrof- Gleichsetzung antifaschistischer Aktivi- lungsreich und kreativ von den Nutzern fene Gleichgesinnte wieder zu begeg- täten mit Rechtsextremismus. In Sach- des Zentrums gestaltet. nen, neue Kontakte zu knüpfen und für sen ist das Tragen des Symbols mit dem Das AJZ hängt nicht am Geldhahn der gemeinsames Handeln bei anstehen- durchgestrichenen Hakenkreuz aus- Kommune, die zudem kein Interesse ha- den Aktionen Verabredungen zu treffen. drücklich erlaubt – in Chemnitz war es ben dürfte, solch eine auffällige Jugend- Zwei davon seien genannt: Die Gegen- reichlich zu sehen. Einig war man sich in einrichtung im Stadtzentrum zu haben aktionen zur traditionellen bundeswei- Chemnitz auch, dass bei sich bietender … ten Nazi-Demo in Dresden am 13. Feb- Gelegenheit über den Begriffs-Wirrwarr Freya-Maria Klinger, jung wie die meis- ruar; diesmal sollte durch eine Blockade geredet werden sollte: Rechtsextremis- ten Anwesenden und MdL, eröffne- verhindert werden, dass die Rechtsext- ten, Rechtsradikale, Faschisten, Nazis, te den Tag mit Hinweisen zu jüngs- remisten von ihrem Treffpunkt aus über- Neo-Nazis, Rechte – nicht nur in Sach- ten rechtsextremistischen Aktivitäten haupt vorwärts kommen. sen geht es dabei bunt durcheinander. und geschichtsklitternden „Gedenkak- Und dann ist da noch Hohnstein. Auf In der Chemnitzer Erklärung heißt es tionen“. Christina Kaindl gab im Ein- dem Marktplatz soll neben die Gedenk- am Ende: „Wir wissen, dass eine gute leitungsreferat einen Überblick zum stätte für die Opfer des Faschismus ei- Sozialpolitik und eine gerechtere Wirt- Thema „Antikapitalismus und Globali- ne neue Tafel angebracht werden. De- schaftsordnung allein nicht zur Zurück- sierungskritik von rechts – Erfolgskon- ren Text soll an angebliche Planungen drängung der extremen Rechten füh- zepte für die extreme Rechte?“ Als Gast der SED zur Einrichtung eines „Isolie- ren werden. Wir wissen jedoch ebenso, von außerhalb fand ich erneut das Vor- rungslagers“ für politisch Andersden- dass eine ungerechte Wirtschaftsord- urteil widerlegt, dass junge Leute von kende erinnern. Völlig zu Recht protes- nung, steigende Zukunftsängste der theoretischen längeren Ausführungen tieren vielfältige gesellschaftliche Kräfte Menschen, das Abschreiben ganzer Re- nicht viel halten. Aufmerksam und kon- vor Ort (und auch beim Chemnitzer Tref- gionen, eine Politik des sozialen und zentriert wurde zugehört, und danach in fen) gegen diesen bundesweit einma- kulturellen Kahlschlags wie auch die acht Workshops nachgefragt und leb- ligen Fall von Geschichtsklitterung. Es weitere Verschärfung der Ungleichheit haft debattiert. Politische Bildung zum geht nicht mehr nur um die durchsichti- die Entwicklungs- und Existenzmöglich- Thema anbieten – dieses Ziel der Ver- ge Gleichsetzung zweier Diktaturen, von keiten der extremen Rechten fördern. anstaltung wurde erfüllt. denen die zweite bis 1989 angedauert Antifaschistische Politik steht für die Die Themen der acht Workshops sei- habe. Nun sollen angebliche oder tat- Verwirklichung von Gleichheit in allen en wenigstens genannt: A. Vertiefen- sächliche Planungen einzelner Instituti- Bereichen und von Demokratie auf al- der Workshop zum Einstiegsreferat; B. onen in der DDR im öffentlichen Raum len Ebenen. Faschistische Politik steht Eine Achse Dresden, Schwerin, Berlin?; manifest gemacht werden, auch wenn für die extremste Form der Ungleichheit C. Hakenkreuze und Halbmond? Der Is- sie nie realisiert worden sind. Der Sozia- bis hin zum Bestreiten des Lebensrech- lam und die extreme Rechte; D. Rech- lismushass hat, falls Kommunalpolitiker tes für ganze Menschengruppen und für te Wissenschaften in Sachsen; E. Was einzelner so genannter demokratischer einen autoritären Führerstaat. Zurück- tun, wenn’s brennt? Workshop zum Um- Parteien diese „Idee“ umsetzen wollen, drängung des Faschismus kann also gang mit staatlicher Repression. F: Au- die „Mitte der Gesellschaft“ in Deutsch- nur erfolgen durch mehr Gleichheit. Da- tonome Antifa – Geschichte, Strategi- land längst erreicht. Wen wundert es für stehen wir.“ en, Organisationsansätze eines radikal da, wenn rechtsextremistisches Gedan- Was bleibt als Eindruck? Respekt für linken Politikkonzepts; G. Extrem rechte kengut ebendort auch zu finden ist? das in Sachsen Geleistete und Hoffnung Tendenzen in den Jugendmusikszenen; Noch ein Werbeblock muss unbedingt auf Widerstehen gegen Rechtsextremis- H. Workshop zum Thema: Ignorieren, angefügt werden. Zeile für Zeile lasen mus von jung und alt. Skandalisieren, Konkurrieren – Was tun die Teilnehmer des Dritten Sächsischen gegen Nazi-Volksfeste? antifaschistischen Ratschlags die Texte Dr. Horst Helas Bei drei der Workshops habe ich mich einer Ausstellung und betrachten auf- eingemischt – mit mehr oder weniger merksam jedes Foto (oft mit Wiederer- Erfolg. Zum Beispiel bei dem vom Ro- kennungseffekt). „Rechtsrock in Sach- 1 Kontakt: [email protected]

48 LESERBRIEFE Leserbrief zu Reiner Zilkenat: Christian Klar, Inge Viett, die RAF und DIE LINKE Rundbrief 1–2/2007, S. 37ff.

Sehr geehrter Herr Dr. Zilkenat, über glaubte, die „Kritik der Waffen“ anwen- lem durch eine gewisse Intellektuellen- Ihren Artikel zur RAF, anhand Ihrer Kri- den zu müssen, wird die „Waffen der und Theorie-Feindlichkeit verursacht tik an Aussagen von Christian Klar und Kritik“ gerade dann, wenn sie an Deut- worden, die innerhalb der RAF stets Inge Viett, bin ich sehr verärgert. Das lichkeit keine Wünsche offen lassen, anzutreffen war? Wurden hier nicht hat nichts mit Ihrer inhaltlichen Kritik weder schlecht gelaunt noch weinerlich von Beginn an alle diejenigen ökono- zu tun. Ich finde es durchaus legitim, zur Kenntnis nehmen. Mit einer „per- mischen, sozialen und politischen Ent- sich kritisch mit den Inhalten und Zie- sönlichen Abrechnung“ des Autors hat wicklungen in der BRD und in der Welt len der RAF auseinander zu setzen. Ich dies nichts zu tun. aus dem eigenen Denken ausgeblen- halte es sogar für wichtig, weil die Aus- det, die nicht in das selbst gestrickte, einandersetzung mit dem bewaffneten 2. Im Leserbrief ist vom „bewaffneten dogmatisierte Weltbild passten? Ein Kampf immer wieder Thema sein kann Kampf“ und der Notwendigkeit die Re- Weltbild, wie es in seiner ganzen Ab- und wird und es für eine gesellschaftli- de, sich mit ihm auseinander zu setzen. surdität in den Verlautbarungen der che Veränderung wichtig ist, alte Fehler Hier ist die Autorin nolens volens auf RAF, nicht zuletzt nach der Ermordung nicht zu wiederholen. die verlogene Terminologie der RAF he- bzw. Entführung von Polizisten, Chauf- Was mich aber so verärgert hat, ist die reingefallen: Bei den Aktionen der RAF feuren, unbeteiligten Passanten, Politi- Art und Weise, in der Sie Christian Klar handelte es sich keineswegs um einen kern, Diplomaten und Managern, der und Inge Viett behandeln. In Ihrem Arti- „bewaffneten Kampf“, so wie er z. B. Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht kel werten Sie die Meinungen der beiden in völlig legitimer Weise gegen ein fa- wurde? Die gelegentliche „Anreiche- Menschen und damit Christian Klar und schistisches Regime geführt wird, son- rung“ der RAF-spezifischen Sprache Inge Viett als Gesamtperson ab. Dies er- dern um einen vollkommen sinnlosen, mit terminologischen Versatzstücken folgt mit Aussagen wie „pseudo-theore- verbrecherischen Terror, der überdies linker Theoretiker, z. B. von Karl Marx, tische Legitimation“, „rrradikal“ und „rr- unter den gesellschaftlichen und poli- Friedrich Engels und W. I. Lenin, wirk- revolutionäre Phrasendrescherei“, „in tischen Verhältnissen der BRD in den te dabei gelegentlich (unfreiwillig) ko- derartigen Hirnen einiger weniger, poli- 70er und 80er Jahren nur systemstabi- misch. tisch desorientierter Individuen“, „aben- lisierend und von großem Schaden für teuerliche Phrasen“, „kindlich-naive Vor- die Linke sein konnte. Insofern ist auch 5. Ich vermisse nach wie vor eine öf- stellung“ etc. Sie sprechen Christian Klar die Kennzeichnung der damaligen Akti- fentliche und unmissverständlich und Inge Viett keine eigene ernsthafte vitäten der RAF als „alte Fehler“ doch selbstkritische Analyse und Bewertung Meinung zu. Nachdem ich Ihren Artikel ein klein wenig, sagen wir einmal: un- der RAF-Geschichte, einschließlich der zu Ende gelesen habe, hatte ich den Ein- tertrieben. zahlreichen Morde, durch Inge Viett druck, dass es Ihnen vorrangig um ei- und Christian Klar. Solange diese nicht ne persönliche Abrechnung mit der RAF 3. Ich billige Christian Klar und Inge erfolgt, gibt es aus meiner Sicht für die ging, und dass in Ihren Worten Wut und Viett durchaus eine ernsthafte politi- Linke nur eine politisch sinnvolle Mög- Verzweiflung eine Rolle spielten, gleich- sche Meinung zu. Ernsthaft in dem Sin- lichkeit, sich mit ihnen auseinander zu wohl aber auch Überheblichkeit. ne, dass sie alles das, was sie zu Pa- setzen: eine grundsätzliche und rück- Diese unsolidarische Form der Ausein- pier bringen oder auf anderen Wegen haltlose Distanzierung. andersetzung halte ich für unakzeptabel der Öffentlichkeit mitteilen, sicherlich und respektlos. Ich wünsche mir, dass in so meinen, wie sie es sagen. Und ih- 6. Zuletzt: Ich halte es für erforder- der LINKEN der Umgang mit der ande- re Aussagen sind zweifelsfrei. Sie las- lich, dass Christian Klar aus humanitä- ren Meinung oder dem „Feind“ respekt- sen wenig Spielraum für Interpretati- ren Gründen möglichst rasch aus der voll geführt wird. Wenn Sie der Meinung onen. Dies gilt allemal für Inge Vietts Haft entlassen wird. Die vom Bundes- sind, dass Christian Klar in seiner Gruß- unsägliche Sottisen, in denen sie nach präsidenten nicht vollzogene Begnadi- adresse eine gravierende Fehleinschät- wie vor grundsätzlich den „bewaffneten gung, wobei offenbar das publizistische zung vorgenommen hat oder die Wort- Kampf“ rechtfertigt, allerdings in der Trommelfeuer der bürgerlichen Medi- wahl nicht eindeutig ist, dann halte ich Retrospektive seine mangelnde Effekti- en und die zahlreichen „gut gemeinten es für sinnvoll, genauer bei ihm nachzu- vität beklagt. Ratschläge“ konservativer Politiker ih- fragen, anstatt zu glauben, was er mit re Wirkung nicht verfehlten, ist skan- den Worten gemeint hat und dann zu sa- 4. Tatsächlich sind die zitierten Aussa- dalös. Dies gilt auch angesichts der gen „Rätsel über Rätsel“. Mit antifaschis- gen Klars und Vietts von Verbalradika- außerordentlichen Milde, mit der Na- tischen Grüßen Birgit Wulf, 12.8.2007. lismus, pseudo-revolutionärer Phrasen- zi-Verbrecher jahrzehntelang von der drescherei und einem staunenswerten westdeutschen Justiz behandelt wor- Einige Anmerkungen Mangel an realitätskonformer Analyse den sind – falls sie überhaupt vor die zu diesem Leserbrief: der gesellschaftlichen und politischen Schranken eines Gerichtes gerieten. 1. Polemik gehört zum politischen und (Kräfte-)Verhältnisse in der BRD ge- publizistischen Geschäft. Wer einst prägt. Ist dies möglicherweise vor al- R. Z.

49 Leserbrief zu Dirk Burczyk: „Die Kraft der Jugend“ Rundbrief 3/2006, S. 18ff. u. derselbe, Stuttgart-Weikersheim-Dresden. Eine geschichtspolitische Betrachtung zum „Fall Oettinger“, Rundbrief 1–2/2007, S. 32f.

Lieber Herr Burczyk, mit Wohlgefallen dort herrschten antimilitaristische und dische Milieu politisch nach vielen Sei- beobachte ich Ihr Interesse am Thema zugleich sozial engagierte Stimmungen ten hin offen (wie auch andere Jugend- „Geschichte bündischer Jugend“ – ich vor. Nach 1945 hat es allerdings bei den kulturen), aber es dominiert meines habe mich ja selbst früher intensiv mit „Neudeutschen“ auch recht kritische Erachtens heute dort eine Ideenwelt, diesen historischen Fragen beschäftigt. Auseinandersetzungen mit der eigenen die weder konservativ noch neu-rechts Zu Ihren Bemerkungen, „Neudeutsch- politischen Vergangenheit gegeben – al- oder rechtsextrem ist, siehe etwa die land“ betreffend, in dem Beitrag zum so nicht nur die „Filbinger“-Linie. Zeitschriften „stichwort“, „eisbrecher“, „Fall Oettinger“: Etwas missverständlich finde ich Ihren „Zeitung“, „rjb-Mitteilungen“. In der Tat war „Neudeutschland“ in der Hinweis darauf, dass die „Bündische Zur Filbinger-Geschäfte und Willi Graf Zeit vor und um 1933 weitgehend stän- Jugend … eine Scharnierfunktion zwi- siehe meinen Aufsatz „Eine ‚geschmäh- destaatlich-national-„soldatisch“ ge- schen Konservatismus und neu-rechten te Generation‘?, in: Blätter für deut- prägt, die Demokratie abwertend. Ganz und rechtsextremen Positionen“ einneh- sche und internationale Politik. Heft anders im Milieu damaliger katholischer me. Für einen erheblichen Teil der Bün- 7/1988. Jugendbewegung weite Teile des „Quick- dischen vor 1933 trifft das zu, aber das Freundliche Grüße born“, der „Jungborn“, die „Kreuzfah- lässt sich so auf die Gegenwart nicht Professor Dr. Arno Klönne rer“ und auch „Sturmschar-Gruppen“; übertragen. Nach wie vor ist das bün- 24.6.2007.

50 REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN Die Harzburger Front 1931 – Der Anfang vom Ende der Weimarer Republik?

Spurensuche Goslar e. V., Hrsg., Harz- wachsende Einigkeit im Lager der politi- der seine neue politische Heimat bei burger Front von 1931 – Fanal zur Zer- schen Rechten signalisieren sollte, mu- der FDP gefunden hatte. Auch er starb störung einer demokratischen Repub- tierte eher zu einem „Schaulaufen“ der als „Ehrenmann“ im Jahre 1981. lik. Historisches Ereignis und Erinnern Nazis, die in Bad Harzburg ihre führen- Den Autoren ist zuzustimmen, wenn in der Gegenwart – Eine Dokumentati- de Rolle auf der rechten Seite des poli- sie schreiben, dass „die Tatsache, dass on, Clausthal-Zellerfeld 2007 (Spuren tischen Spektrums demonstrierten, wo führende Nationalsozialisten wie der Harzer Zeitgeschichte, Heft 2). immer es ging. NSDAP-Ortsgruppenleiter und Bürger- Die Harzburger Front hat in der bürger- Die vorliegende, sehr verdienstvolle Ver- meister Berndt, der ab 1957 wieder lichen Geschichtsschreibung nicht im- öffentlichung setzt ihre Akzente aller- als Kurdirektor in Harzburg tätig war“ mer die ihr gebührende Aufmerksam- dings in anderer Weise. Zwar kommen (S. 49), entscheidend dazu beigetragen keit gefunden. Die politische Bedeutung Vorgeschichte und Ablauf der Harzbur- haben, dass die Nazi-Vergangenheit Bad dieser Zusammenkunft verschiedenar- ger Tagung, einschließlich der Wider- Harzburgs, aber auch die Schmiedung tiger faschistischer und konservativer sprüchlichkeiten und Gegensätze inner- der „Harzburger Front“ bereits fünfzehn Kräfte in dem beschaulichen Kurort im halb der selbst reklamierten „Front“, Monate vor der faschistischen Machtü- heutigen Niedersachsen wurde durch- nicht zu kurz (bes. S. 9ff). Verdienstvoll bernahme, lange unter den Teppich ge- aus unterschiedlich interpretiert, wobei ist es aber, dass die politische Situation kehrt werden konnten. In anderen Or- die Tendenz, diesem angeblich geschei- in Bad Harzburg selbst, im bereits von ten und Regionen der BRD hat es sich terten Treffen keinen besonderen Stel- den Nazis regierten Land Braunschweig schließlich nicht anders verhalten. Spä- lenwert attestieren zu wollen, die Regel ausführlich dargestellt wird. Die deut- testens mit dieser interessanten, gut darstellt. Worum ging es in Bad Harz- sche Geschichte in der Endphase der lesbaren, mehr als siebzigseitigen Bro- burg? Weimarer Republik, für die das Harzbur- schüre dürfte damit Schluss sein. Am 10. und 11. Oktober 1931 trafen ger Treffen keine geringe Rolle spielte, Die Autoren haben ihre Publikation mit sich hier die Repräsentanten u. a. der wird somit verwoben mit der regionalen zahlreichen Dokumenten aus staatli- NSDAP und der SA, der Deutschna- und lokalen Geschichte. chen Akten, mit der Wiedergabe von tionalen Volkspartei (DNVP) und des Dabei ist es z. B. von einigem Interesse, Zeitungsausschnitten, den Faksimiles Stahlhelms-Bund der Frontsoldaten, welche Teilnehmer aus der eigenen Re- von Flugblättern und Fotos angerei- des Alldeutschen Verbandes und des gion stammten, welche politische Karri- chert. Ein kurzes, aber die wichtigsten Reichslandbundes. Ein besonders gro- ere sie später durchliefen, einschließlich einschlägigen Veröffentlichungen be- ßes Interesse im In- und Ausland löste der Zeit in der Bundesrepublik Deutsch- rücksichtigendes Literaturverzeichnis die Teilnahme des ehemaligen Reichs- land. So ist die Rede von Dietrich Klag- (S. 66ff.), hilft allen, die sich ausführ- bankpräsidenten Dr. Hjalmar Schacht, ges, einem der „Chefideologen“ der licher und detaillierter über das Harz- des ehemaligen Reichswehr-Chefs Ge- deutschen Faschisten (vgl. S. 55f.). Der burger Treffen und die politische Situ- neraloberst a. D. Hans von Seeckt so- gelernte Volksschullehrer wurde 1931 ation, in der es stattfand, informieren wie zweier Söhne des letzten deutschen Innenminister, im Jahr darauf Minister- wollen. Kurzum: eine begrüßenswerte Kaisers aus. Einer von ihnen, Prinz Au- präsident in Braunschweig. Der im Nazi- Publikation, der möglichst viele Leser gust Wilhelm, von seinesgleichen Prinz reich zum SS-Obergruppenführer avan- zu wünschen wären. Bestellungen sind „Auwi“ genannt, nahm in der Uniform cierte Klagges wurde nach dem Krieg zu richten an: Spurensuche Goslar e. V., eines SA-Obergruppenführers an der zunächst zu einer lebenslänglichen Postfach 2505, 38615 Goslar. Veranstaltung teil. Haftstrafe verurteilt, 1957 jedoch aus Die so genannte Heerschau der politi- dem Gefängnis entlassen, wobei ihm Dr. Reiner Zilkenat schen Rechten in Deutschland litt von seine ungekürzten Rentenansprüche Beginn an unter dem Versuch Hitlers nach dem berühmt-berüchtigten 131er- und seiner NSDAP, sich um jeden Preis Gesetz zugesichert wurden! Er starb un- als die führende und tonangebende behelligt 1971 in Bad Harzburg. Oder re- Kraft zu präsentieren. Der Nazi-„Führer“ den wir über Adolf Schmidt-Bodenstedt brüskierte wiederholt die Deutschnatio- (vgl. S. 56): Bereits seit 1923 Mitglied nalen und den Stahlhelm, ließ sie spü- der NSDAP, 1927 zu ihrem Kreisleiter ren, dass die NSDAP und die SA sich im in Braunschweig-Land bestimmt, seit Aufwind befanden, während die Reprä- 1933 Vorsitzender der Nazi-Landtags- sentanten der DNVP für ihn rückwärts- fraktion, 1939 zum Ministerialdirigen- gewandte, immer noch der Zeit und den ten im Reichs- und Preußischen Minis- damals herrschenden Idealen des Kai- terium für Wissenschaft, Erziehung und serreiches verpflichtete Konservative Volksbildung aufgestiegen, zugleich Ge- darstellten, die nicht in der Lage sei- bietsführer der Hitler-Jugend in Südhan- en, mehrheitsfähige politische Konzep- nover-Braunschweig. Er tat sich nach te für die Zukunft zu entwickeln. Kurz- dem Krieg in Bad Harzburg als „Chorlei- um: Die geplante „Heerschau“, die eine ter“ und als Kommunalpolitiker hervor,

51 Neues zum antifaschistischen Widerstand in Sachsen-Anhalt

Werner Dietrich, Widerstand und Ver- Hindernisse in den Weg gelegt wurden. Haftanstalt in die andere verfrachtet folgung in Zeitz 1933 – 1945 – Antifa- So nahm er schließlich einen Ruf an die und landete schließlich im Konzentrati- schistische Lebensbilder. (Wider das Martin-Luther-Universität Halle-Witten- onslager Buchenwald, dass er erst nach Vergessen, Heft 5, Halle/Saale 2005, berg an, deren Rektorat er zwischen der Befreiung wieder als freier Mann 64 Seiten; Derselbe, Max Dankner – 1951 und 1953 innehatte. Einige Jahre verlassen konnte. Heimgekehrt stürzte Biographische Skizze eines kämpferi- stand er im diplomatischen Dienst der er sich in die Aufbauarbeit. Sein Haupt- schen Antifaschisten. (Wider das Ver- DDR, kehrte aber dann in die Wissen- betätigungsfeld war die Gewerkschafts- gessen, Heft 6, Halle/Saale 2006, 51 schaft als Direktor des Nordischen Ins- arbeit, die ihn zeitweilig in den Bezirk Seiten. tituts der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Cottbus verschlug. Die Stadt Zeitz wür- Beide Veröffentlichungen, auf die hier Greifswald zurück, eine Funktion, die er digte sein Kämpferleben mit der Verlei- aufmerksam gemacht werden soll, be- bis zu seiner Emeritierung 1965 beklei- hung der Ehrenbürgerwürde. ruhen auf eingehenden archivalischen dete. Ein besonders tragisches Schicksal er- Studien. In ihnen wird überzeugend War Rudolf Agricola einer der wenigen litt Dr. med. Gustav Flörsheim (vgl. nachgewiesen, mit welcher Brutalität deutschen Intellektuellen, die dem Na- S. 40ff.) Der aus Hessen stammende jü- das Naziregime seine politischen Geg- ziterror die Stirn boten, so war Richard dische Arzt überlebte die Nazizeit nicht. ner verfolgte. Der Lebens- und Leidens- Dietrich ein typischer Vertreter der an- Nicht nur die aktive Mitgliedschaft in weg der behandelten Personen zeigt tifaschistischen Kämpfer aus der Arbei- der SPD und der sich daraus ergeben- aber auch, woher sie die Kraft nahmen, terschaft (vgl. S. 22ff.). Soziale Herkunft de Widerstand gegen den Nazismus, um dem Nazi-Regime zu widerstehen. und Lebenserfahrungen hatten ihn früh sondern auch seine jüdische Herkunft In den beiden Schriften werden Wider- veranlasst, der SPD beizutreten, der er waren Gründe dafür, dass er sich der standskämpfer aus dem kommunisti- bis zur Vereinigung mit der KPD 1946, Verfolgung durch das nazistische Ter- schen und sozialdemokratischen Lager abgesehen von einer zwischenzeitlichen rorregime ausgesetzt sah. Er hatte sich vorgestellt, die sich aufgrund ihrer po- Mitgliedschaft in der USPD, treu blieb. besonders in der medizinischen Betreu- litischen Überzeugung dem Druck der Seit 1921 war er in Zeitz ansässig, wo er ung von Arbeiterfamilien einen guten Nazidiktatur entgegenstellten. Sie hat- sich als Gewerkschaftsfunktionär und Ruf erworben. Dem suchten die Nazis ten sich entschieden, im Interesse der engagierter Autor der SPD-Presse einen durch rassistische Verunglimpfungen arbeitenden Menschen für sozial ge- Namen machte. Auch in Zeitz standen entgegenzuwirken. Seine Unbeugsam- rechte und menschenwürdige gesell- sich Kommunisten und Sozialdemokra- keit bezahlte er mit Einkerkerung, wäh- schaftliche Verhältnisse einzutreten ten in der Weimarer Republik nicht gera- rend der er schweren Misshandlungen und bekämpften daher den Faschismus de freundlich gegenüber. Erst nach dem ausgesetzt war, die ihn schließlich das als menschenfeindliches und friedens- Machtantritt des Faschismus gelang es, Leben kosteten. bedrohendes System. zu gemeinsamen Aktionen gegen den Ein besonderes Heft hat Werner Diet- Die Stadt Zeitz kann sich rühmen, zu gemeinsamen Feind zu finden. Daran rich dem Antifaschisten und Kommunis- jenen Orten in Deutschland gehört zu hatte Richard Dietrich keinen geringen ten jüdischer Herkunft, Max Dankner, haben, in denen es einen niemals er- Anteil. Auch er war seit dem Beginn der gewidmet. Der gebürtige Dresdener trat lahmenden organisierten Widerstand Nazidiktatur Verfolgungen ausgesetzt, zunächst der SPD bei, wandte sich aber gegen die Nazidiktatur gab. Der Autor die ihn schließlich in das Konzentrati- später der KPD zu. Den Einstieg in die macht das an fünf besonders markan- onslager Sachsenhausen führten. Erst politische Arbeit vollzog er als Gewerk- ten Vertretern deutlich. die Niederlage des Naziregimes bedeu- schaftsfunktionär, wo er sich besonders Zu ihnen gehörte Prof. Dr. Rudolf Agri- tete für ihn Befreiung und Heimkehr, wo für die Arbeitsbedingungen der Lehrlin- cola (S. 6ff.). Den gebürtigen Kurpfälzer er sich sofort für den gesellschaftlichen ge und Jungarbeiter einsetzte. Wie von verschlugen berufliche Verpflichtungen Neubeginn engagierte. Er wurde beson- ihm bezeugte Aussagen erkennen las- nach Zeitz, wo er sich 1933 der KPD an- ders in der Kommunalpolitik und bei der sen, fühlte er sich besonders deswegen schloß, nachdem er bis dahin der SAP Propagierung einer antifaschistischen in der Arbeiterbewegung zu Hause, weil angehört hatte. Er war bemüht, im an- Gesinnung aktiv. er hier keine antisemitischen Vorurteile tifaschistischen Widerstand die Verbin- Ein ähnliches Schicksal erlebte Wal- vorfand (vgl. S. 10). dung zu ehemaligen Sozialdemokra- ter Retterath (vgl. S. 52ff). Auch er ge- Dankner hatte besonderen Anteil am ten und SAP-Mitgliedern zu suchen. langte auf der Suche nach Arbeit nach Aufbau der kommunistischen Jugend- Da er durch seine Aktivitäten während Zeitz. Erfahrungen seines Arbeitslebens organisation im Dresdner Raum. Das der Weimarer Republik bekannt gewor- und Kriegserlebnisse bestärkten ihn in machte ihn den Nazis besonders ver- den war, geriet er von Anfang an ins Vi- seinen sozialistischen Überzeugungen, hasst, und so wurde er bereits 1933 ver- sier des nazistischen Verfolgungs- und die ihn zunächst in die Sozialdemokra- haftet, sollte aber wegen der galizischen Repressionsappparates. Anhaltenden tie, später in die Reihen der KPD führ- Herkunft seines Vaters als „unliebsamer Verfolgungen ausgesetzt, blieb er sei- ten. Auch er hatte sich stark in der Ge- Ausländer“ Deutschland verlassen. Das nen Überzeugungen treu. Nach der Zer- werkschaftsarbeit engagiert, ehe er in gestattete ihm, in die Tschechoslowa- schlagung des Faschismus gedachte er Parteifunktionen tätig wurde. Sein gro- kei auszureisen, wo er sich im Auftrage zunächst in seiner pfälzischen Heimat ßer Bekanntheitsgrad in der Region hat- seiner Partei besonders der Organisa- am demokratischen Neuaufbau teilzu- te zur Folge, dass er seit der faschisti- tion der illegalen Grenzarbeit annahm. nehmen, musste aber bald erkennen, schen Machtübernahme Verfolgungen Nachdem seinem Wunsche stattgege- dass ihm als Kommunisten zunehmend ausgesetzt war. So wurde er von einer ben worden war, sich im Rahmen der

52 Internationalen Brigaden am Abwehr- doch seit der staatlichen Vereinigung auch Verdächtigungen als „Westemig- kampf der spanischen Republik gegen Deutschlands alles getan, um insbeson- ranten“ über sich ergehen lassen. Letz- die Franco-Putschisten zu beteiligen, be- dere den antifaschistischen Beitrag na- terer wurde zudem wegen Differenzen gab er sich nach Spanien, wo er in den mentlich der Kommunisten in Frage zu mit der Parteilinie der SED in den 60er Reihen des Thälmann-Bataillons kämpf- stellen, wobei bei dieser Gelegenheit Jahren trotz seiner großen Verdienste te. Nach der Niederlage der spanischen auch Widerstandskämpfer aus der So- im antifaschistischen Widerstand aus Republik trat er mit anderen Spanien- zialdemokratie in Mitleidenschaft ge- seinen gewerkschaftlichen und Partei- kämpfern nach Frankreich über, wo er zogen werden, erst recht, wenn sie als funktionen verdrängt. im Lager St. Cyprien interniert wurde. Bürger der DDR Mitglieder und Funkti- Dieses Herangehen des Verfassers ist Der Auslieferung an die Nazis entzog er onäre der SED waren. Wie anders soll ein überzeugender Beleg dafür, dass sich durch Flucht. Er schloss sich da- man es bewerten, dass die Straßen in eine sachlich-kritische Darstellung des nach der französischen Résistance an, Zeitz, die Dr. Gustav Flörsheim und Wal- Umgangs mit dem antifaschistischen in deren Reihen er als Leutnant den an- ter Retterath gewidmet waren, in den Widerstandskampf in der DDR befähigt, tifaschistischen Kampf fortsetzte. Nach 90er Jahren umbenannt wurden? sowohl die unbezweifelbare Tatsache zu der Befreiung kehrte er in sein Heimat- Die Forschungen von Werner Dietrich würdigen, dass in der DDR bis zu ihrem land zurück, um sich aktiv am Aufbau machen auch verständlich, warum sol- Ende der antifaschistische Grundan- eines neuen Deutschland zu beteiligen. che aktiven Widerstandskämpfer, wie satz lebendig blieb und gleichzeitig die Er übernahm Parteifunktionen im Land Max Dankner, Richard Dietrich, Walter Verengung und Routinisierung des Um- Sachsen-Anhalt und später im Bezirk Retterath und Rudolf Agricola nach der gangs mit dem Erbe des Antifaschismus Halle. Auf Parteibeschluss wurde ihm Befreiung Deutschlands ihre Kräfte in einer unnachsichtigen Kritik unterwor- die Aufgabe übertragen, als Bezirksvor- den Dienst des gesellschaftlichen Neu- fen werden kann – und muss. Die seit sitzender des FDGB zu wirken. In dieser anfangs im Osten Deutschlands und der den 90er Jahren zu beobachtenden Be- Funktion geriet er in Konflikt mit der da- späteren DDR stellten. Das lässt sich strebungen, die antifaschistischen Bil- mals verfolgten Parteilinie, die darauf nur erklären, weil sie trotz vieler Kon- dungs- und Erziehungsbemühungen in hinauslief, die Gewerkschaften nicht flikte und Probleme mit gutem Gewis- der DDR zu entwerten, müssen dage- so sehr als eigenständige Vertretung sen hier von einem bestehenden anti- gen auch dafür verantwortlich gemacht der Arbeiterinteressen anzuerkennen, faschistischen Grundkonsens ausgehen werden, dass es gegenüber neonazisti- sondern als Erfüllungsorgan der Politik konnten. schen Umtrieben zu einer verminderten der SED-Führung. Da Dankner nicht be- Allerdings weicht der Autor auch nicht Gegenwehr gekommen ist. Das in der reit war, seine Auffassung von gewerk- der Tatsache aus, dass in der DDR DDR durchaus stillschweigend akzep- schaftlicher Interessenvertretung auf- durch die Festlegung auf das sowjeti- tierte Verdikt über den Nazismus wur- zugeben, wurde er seiner Funktionen sche Gesellschaftsmodell eine zuneh- de als nicht mehr gültig und rechtens enthoben und in den Ruhestand ver- mende Verengung des antifaschisti- hingestellt und von neonazistischen Be- setzt. Als Parteiveteran setzte er jedoch schen Selbstverständnisses erfolgte, strebungen der Makel der Illegitimität seine Bemühungen um die Bewahrung die schließlich zu seiner vereinfachten genommen. Statt durch Überwindung des antifaschistischen Erbes in der DDR Identifizierung von Antifaschismus und der Defizite und Verengungen die anti- fort und widmete sich vor allem dem Parteipolitik der SED führte, so dass er faschistische Grundtendenz zu bekräfti- Gedenken an die Spanienkämpfer. als Legitimationsmittel der Politik zu gen und zu verfestigen, wurde damit be- Die Darstellungen über Leben und Wir- verkümmern drohte. Das hat dem an- reits Erreichtes und Bewährtes in Frage ken von Max Dankner, Richard Dietrich, tifaschistischen Gedanken in der DDR gestellt. Rudolf Agricola, Walter Retterath und ohne Frage geschadet. Deshalb ist sehr zu wünschen, dass ähn- Gustav Flörsheim belegen die unbe- Der Autor arbeitet das am Schicksal von liche Unternehmungen, wie sie mit der streitbare Tatsache, dass die überzeug- Richard Dietrich, Walter Retterath und Reihe „Wider das Vergessen“ in Sach- testen Anhänger der Arbeiterbewegung vor allem Max Dankner sehr plastisch sen-Anhalt unternommen werden, auch auch die entschiedensten Kämpfer ge- heraus. Sie sahen sich zum Teil unsinni- anderswo Nachahmer und auch öffent- gen den Faschismus stellten. Das ins gen Anfeindungen wegen „Sozialdemo- liche Unterstützung finden. öffentliche Bewusstsein zu heben, kratismus“ und „Versöhnlertum“ gegen- ist schon allein ein Verdienst, wird über und mussten, wie Max Dankner, Professor Dr. Helmut Meier

Stille Helden im antifaschistischen Widerstand

Gerd Kaiser, „Auf Leben und Tod“. Stil- schen Widerstandskampfes in Deutsch- Genannten, wie auch alle andern Wi- le Helden im antifaschistischen Wider- land betrifft, waren es in der DDR nur derstandskämpfer, die Opfer dieses Re- stand 1923 bis 1945, edition bodoni, wenige Menschen, deren Namen immer gimes wurden, konnten sich gegen den Berlin 2007. wieder genannt wurden, die sich als Umgang mit ihrer Biographie nicht weh- Die Wortverbindung „still“ und „Helden“ Schul- und Straßennamen oder Zusatz- ren. Sie selbst empfanden sich nicht als im Untertitel dieses Buches machte bezeichnung für Arbeitskollektive aller besondere Menschen, die ins Rampen- mich stutzig. Über Helden wird heute – Art wiederfanden. licht der Gesellschaft gehörten oder gar und wurde zu „DDR-Zeiten“ – entspre- Für Thüringen waren dies die Namen selbst dorthin drängten. Im Gegenteil. chend dem jeweiligen Geschichtsbild der von den Nationalsozialisten ermor- Hartnäckiges Widerstehen gegen die eher laut getönt als ruhig nachgedacht. deten Kommunisten Theodor Neuge- Hitler-Diktatur gebot den Einsatz kon- Was die Würdigung des antifaschisti- bauer und Magnus Poser. Diese oft spirativer Mittel. Unauffälliges Tun im

53 Verborgenen zeichnete Effizienz und Faschisierung Deutschlands deshalb zu Es folgt der eigentliche, mehrgliedrige Leistung des Widerstandes aus. Beginn der 20er Jahre. Anhang, der sicher von allen Gerd Kai- Gerd Kaiser stellt im umfangreichsten, Im zweiten Kapitel werden die Auf- und ser nachfolgenden Rechercheuren mit dem dritten Teil seiner Publikation 450 Abschwünge des Widerstandskampfes besonderem Dank gewürdigt wird: Ar- Thüringer Jugendliche, Frauen und Män- in Thüringen sowie örtliche Konzentra- chivalien, Quelleneditionen und Ausstel- ner vor, die aus verschiedener politi- tionspunkte vorgestellt. Selten in Pu- lungen zum Thema finden Erwähnung, scher Überzeugung heraus und durch blikationen dieser Art zu finden sind ein Literatur- und Abkürzungsverzeich- unterschiedliche Sozialisation geprägt auch Gerd Kaisers Erklärungsversuche, nis folgen, Personen- und Ortsregister kämpften und den Einsatz ihres Lebens aus welchen Handlungsmotiven heraus sowie ein Bildnachweis komplettieren nicht scheuten. Menschen aktiv wurden. Eingegangen die Darstellung, auch letzteres nicht zu Im ersten Teil der Publikation erwartet wird auf die familiäre, berufliche und unterschätzen. den Leser die Antwort, warum der Autor politische Sozialisation der Antifaschis- Bleiben zum Schluss einige Anregun- die erste Etappe des antifaschistischen ten. Spezielle Abschnitte werden Frau- gen. Widerstandskampfes in Thüringen mit en im Widerstand, aus religiösen Moti- Erstens (wie immer): die Empfehlung: dem Jahre 1923, zehn Jahre vor Hitlers ven Handelnden und dem militärischen dieses Buch kaufen, lesen und weiter Machtantritt, einsetzen lässt: Nach der Widerstand gewidmet. empfehlen. Niederschlagung des Kapp-Putsches Der vierte Teil des Buches ist mehr als Zweitens: Die für Bildung Zuständigen 1920 war in Thüringen wie anderswo in ein „Anhang“, wie ihn der Autor nennt. im Freistaat Thüringen, sollten Klassen- Deutschland die Gefahr nicht beseitigt, Zunächst ruft er Thüringer Orte der Re- sätze dieser Publikation allen Thüringer dass reaktionärste Kräfte einen neuen pression in Erinnerung, nur einige sei- Schulen als Lernmittel für politische Bil- Staatsstreich versuchen würden. Ernst en genannt: Zuchthaus Untermaßfeld, dung zur Verfügung stellen. zu nehmende Anzeichen gab es schon Sonderlager der SS Ohrdruf/Jonastal Drittens: Es wäre wünschenswert, wenn 1923 nicht nur in Bayern, sondern auch oder Arbeitserziehungslager der Ge- von Wahl zu Wahl wechselnde Verant- im angrenzenden Thüringen. Der Autor stapo Großer Gleichberg (bei Röm- wortliche in kommunalen Amtsstuben erinnert nicht nur an die kurze Existenz hild). Beschrieben werden Massenhin- dieses Buch vorfinden würden – zum einer rot-roten Landesregierung (wie in richtungen und Massenverhaftungen. Nachschlagen über einen wichtigen Ab- Sachsen), sondern auch in die Existenz Schließlich: Der Autor nennt Namen schnitt von Ortsgeschichte und als An- bewaffneter Arbeiterformationen, die von Tätern. Auch von Verrätern aus den regung für zeitgemäßen Umgang mit ge- zur Verteidigung der Weimarer Republik Reihen des Widerstandes ist die Rede, schichtlichem Erinnern. aufgestellt wurden und auf ihren Einsatz ohne diese einfach nur zu stigmatisie- warteten. Für Gerd Kaiser beginnt die ren. Dr. Horst Helas

Raketentechnik und Kriegswirtschaft in Nazi-Deutschland

Ralf Pulla, Raketentechnik in Deutsch- scher Kenntnisse bei den Lesern vor- verweist Ralf Pulla auch auf die unter- land. Ein Netzwerk aus Militär, Indus- aus. schiedlichsten Positionen in der Rake- trie und Hochschulen 1930 bis 1945, In der Einleitung verweist der Autor auf tentechnik-Debatte in den zwanziger Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main das enorme, stetig anwachsende Inter- Jahren des zurückliegenden Jahrhun- 2006, 265 Seiten. esse an der Raketentechnik – nicht nur derts. Sie reichten von der Geringschät- Der Titel der vorliegenden Publikation in Deutschland – und auf ihre Genesis zung der Rakete als Waffe und Instru- deutet bereits an, dass hier nicht in iso- im 20. Jahrhundert, insbesondere wäh- ment zukünftiger Raumfahrt bis zum lierter Weise das Problem der Entwick- rend des Zweiten Weltkrieges. technischen „Zaubermittel“. lung von Raketentechnik in Deutsch- Ralf Pulla hebt hier die neuen Formen Im Kapitel II („Die Rakete im Kalkül von land untersucht werden soll. Es geht der Forschungsorganisation zur Rake- Militär und Rüstungsplanung“) schildert stattdessen um das Aufdecken des Zu- tenentwicklung für den Zeitraum von der Autor detailliert die Ursachen, wes- sammenwirkens der Militärs, die erwar- 1930 bis 1945 in Deutschland hervor. halb das Heereswaffenamt der Reichs- teten, eine neue, letztlich kriegsent- Kurz und präzise erläutert der Autor die wehr sich bereits am Anfang der drei- scheidende Waffe zu erhalten, mit der methodische Orientierung und den Auf- ßiger Jahre auf die Entwicklung einer Rüstungsindustrie, die sich hohe Profi- bau der vorliegenden Dissertation. Er Rakete mit Flüssigkeitsantrieb orien- te und einen know-how-Vorsprung vor bezeichnet „das Modell des Netzwer- tierte. Treffend analysiert er, dass die ihren ausländischen Konkurrenten ver- kes“ als besonders geeignet für tech- deutschen Militärs – die Erfahrungen sprach und den Technischen Hochschu- nikhistorische Forschungen über das des Ersten Weltkrieges analysierend – len und Universitäten, die langfristig 20. Jahrhundert. sich auf ein technisiertes und „industri- angelegte, anspruchsvolle Forschungs- Im Kapitel I („Raumfahrt als Medium ei- alisiertes“ Schlachtfeld mit modernsten aufträge anstrebten und tatsächlich ner technischen Utopie“) schildert der Waffen vorbereiteten. Ralf Pulla hebt auch erhielten. Verfasser überzeugend und ausführlich hervor, dass bereits Ende 1920, unge- Das Buch ist übersichtlich in fünf Kapi- die Wünsche und utopischen Sehnsüch- achtet der einschneidenden Beschrän- tel gegliedert, setzt aber – das sei vorab te der Menschheit in Bezug auf Rake- kungen des Versailler Vertrages für die gesagt – ein relativ hohes Maß techni- ten und Raumfahrt. In diesem Kapitel Bewaffnung der Reichswehr, ein Waf-

54 fenamt als zentrale Institution für alle um schließlich über eine einsatzbereite Fachkenntnis, gestützt auf eine exakte waffentechnischen Belange, einschließ- Waffe verfügen zu können. Auswertung der Fachliteratur, auch auf lich Munition und Geräte, geschaffen Desgleichen untersucht und analysiert die Entwicklung der Raketentechnik in wurde. Bereits 1930, also bereits vor er im nachfolgenden Kapitel das Wirken der Sowjetunion und in den USA ein. der Machtübernahme der Nazis, ent- der Technischen Hochschulen im Netz- Zusammenfassend bemerkt er, dass die stand in Kummersdorf bei Berlin das werk der Raketentechnik-Forschung. Fernraketentechnologie zu den folgen- erste Raketenentwicklungszentrum des Hier belegt er mit vielfältigen Fakten die reichsten Innovationen des 20. Jahrhun- Heereswaffenamtes. Von diesem Aus- Verantwortung und Mitschuld der Tech- derts gehöre. Er betont dabei auch die gangspunkt spannt der Autor den Bo- nischen Hochschulen und Universitäten Verantwortung aller beteiligten deut- gen bis zur Produktion und dem Einsatz an der intensiven Mitarbeit der von den schen Techniker und Wissenschaftler der Fernraketen im Zweiten Weltkrieg. Nazis im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz am Massenmord der Zwangsarbeiter Besonderes Augenmerk richtet Ralf Pul- gebrachten Raketenwaffen. Ralf Pulla in den Produktionsstätten der Raketen- la dabei auf die „Wehrforschungsge- weist nach, dass die Zahl der involvier- waffe, wie z. B. bei der V 2-Herstellung meinschaft und Raketentechnik“. ten Institute und Wissenschaftler derart in den unterirdischen Produktionsstät- Im Kapitel III („Industrie und Raketen- groß war, dass er sich im Rahmen sei- ten des Konzentrationslagers Dora-Mit- steuerrungen“) geht der Verfasser auf ner Forschungen und bei der Erarbei- telbau. die technische Notwendigkeit der Ver- tung der vorliegenden Publikation nur Das Quellen- und Literaturverzeichnis netzung zwischen den Raketenentwick- auf die beiden größten Partner im „Vor- belegt mit den Tabellen zum Netzwerk lern und der Industrie ein, da nur die- haben Peenemünde“, auf die TH Darm- des Zusammenwirkens aller beteiligten se die technischen Voraussetzungen für stadt und die TH Dresden, beschränken Akteure an der Raketenentwicklung die die Realisierung des Raketenprogramms mußte. gründliche Recherchearbeit des Autors. besaß. Detailliert belegt er das enge Zu- Im abschließenden Kapitel geht der Au- sammenspiel der genannten Akteure, tor relativ ausführlich und mit hoher Dr. Günter Wehner

Erschreckende Parallelen. Eine Broschüre der Linkspartei Teltow-Fläming

Der 100. Geburtstag des Arbeitersport- Wie die in der Broschüre wiedergege- – analog zum von den Nazis gelegten lers Ernst Kloss am 4. September 2007 benen Polizeiprotokolle beweisen, ge- Reichstagsbrand – das Wort vom „van ist für die Partei „Die Linke“ im südlich schah der geplante Mord vor den Augen der Lubbe aus Großbeeren“ die Runde. von Berlin gelegenen Kreis Teltow-Flä- der Polizei. Anstatt die Täter zu über- Das heutige Wiedererstarken rechten ming Anlass für die Herausgabe der Bro- führen, wurden die Ermittlungen nur 18 Gedankengutes und das Einziehen rech- schüre „Standhafte Antifaschisten“. Ne- Tage später eingestellt und zehn Kom- ter Parteien in die Parlamente zeige er- ben dem von der SA ermordeten Boxer munisten in „Schutzhaft“ genommen. schreckende Parallelen zur vorfaschisti- Kloß werden auch der Reichsbannerak- Rudolf Haase geht in seinem Beitrag zu schen Zeit in den Jahren von 1929 bis tivist Karl Schlombach aus Großbeeren Kloß auch darauf ein, wie SPD und CDU 1933, betont Lothar Schreiber in sei- und der Jüterboger KPD-Stadtrat Erich nach der „Wende“ Straßennamen und nem Beitrag über den 1944 im KZ Sach- Jeserick, deren 110 Geburtstage sich in Gedenktafeln für Kloß entfernen ließen. senhausen ermordeten Jüterboger KPD- diesem Jahr jähren, in eigenen Beiträ- Jetzt soll auf Beschluss der Gemeinde- Stadtrat Erich Jeserick. Daraus ergebe gen gewürdigt versammlung eine Stele an den ermor- sich die Notwendigkeit, die Lehren der Kloß hatte sich nicht nur im KPD-nahen deten Antifaschisten erinnern. Geschichte nicht zu vergessen. Die 98 Rotsportverein in Luckenwalde einen Dem Vergessen entrissen wurde in- Seiten starke, teilweise bebilderte Bro- Namen als Boxer gemacht, sondern als zwischen auch der der Maurer Karl schüre der Teltower Linkspartei leistet Mitglied des Roten Frontkämpferbundes Schlombach. An den am 22. Februar hierzu einen kleinen Beitrag. seine Fäuste zum Schutze kommunisti- 1945 im KZ-Bergen-Belsen Umgekom- scher Versammlungen gegen Überfäl- menen erinnern seit März 2007 eine Dr. Nick Brauns le der SA gebraucht. Als die Faschis- Gedenktafel in Großbeeren und ein Stol- ten kurz nach ihrer Machtübernahme perstein vor seiner letzten Wohnung in Bestellungen gegen Spende von 2 Euro daran gingen, das „rote Luckenwalde“ Berlin-Steglitz. Im Mittelpunkt der von bei der Partei DIE LINKE. Teltow-Fläming, – eine SPD-Hochburg – zu zerschlagen, Fred Bruder gründlich recherchierten Zinnaer Str. 36, 14943 Luckenwalde, Tel. gehörte der Arbeitersportler zu ihren Biographie des Aktivisten der sozialde- 03371 632267, Fax 03371 636936. ersten Opfern. Am 8. April 1933 fand mokratischen Selbstschutzorganisati- in Luckenwalde ein Standartentreffen on Reichsbanner steht der so genannte von 1.200 SA-Männern und der Hitler- Armenhausbrand in Großbeeren. Neun jugend statt. Mitglieder des SA-Sturms Familien verloren bei dem Feuerüber- 206 verschleppten Kloß, verprügelten fall der SA auf Schlombach in der Nacht ihn und schossen ihn auf offener Stra- des 23. Februar 1933 das Dach über ße an. Zwei Tage später erlag dieser am dem Kopf. Als Schlombach unter Ver- 12. April 1933 seinen schweren Verlet- drehung der Tatsachen als angeblicher zungen. „Brandstifter“ verhaftet wurde, machte

55 Guernica. Die Odyssee eines Wandbildes

Gijs Van Hensbergen, Guernica. Bio- liefern uns heute noch bestes Anschau- anzugreifen, sollte nur noch acht Tage graphie eines Bildes, Siedler Verlag, ungsmaterial über die politischen Ver- auf sich warten lassen. München 2007, 416 Seiten. hältnisse vor Ort und im Lande. „Ich Der Verfasser verfolgt mit großer Sym- An welcher Stelle man das Buch auch habe nicht den Krieg gemalt, aber ich pathie für Picassos wichtigstes Werk aufschlägt, es liest sich wie ein Krimi. habe keinen Zweifel, dass der Krieg in dessen Odyssee – von der dramati- Ja, es ist ein Krimi, allerdings ein kul- den Gemälden steckt, die ich gemacht schen Vorgeschichte über all die aka- tur- und gesellschaftspolitischer. Picas- habe“, umschrieb es Picasso. Auch die demischen und politischen Auseinan- sos Wandbild „Guernica“ gab seit sei- marxistischen Kunstkritiker waren sich dersetzungen um das Bild bis zu seiner ner Schaffung Zündstoff hierfür genug. damals keineswegs einig in ihrem Ur- wohl letzten Aufstellung in Spanien. Wie Die Tatorte fand der Autor weltweit, die teil über die Qualität des Bildes. Eines wichtig dieses Bild für Picassos Hei- Täter, Ankläger, Verteidiger und Richter aber verband Kritiker und Verteidiger mat Spanien war, illustrierte die hölzer- nicht minder: Ob zur Pariser Weltausstel- von „Guernica“, seit sie es erstmals zu ne Transportkiste, in der das Wandbild lung 1937, umtost von Arbeitskämpfen Gesicht bekamen. Dieses Bild war aus nach Francos Tod von New York nach und politischen Auseinandersetzungen ihrem Bewusstsein nicht mehr wegzu- Europa zurückgebracht worden und die in Frankreich, die sechs Menschenle- denken! Das lag auch an seiner prophe- zum 100. Geburtstag Picassos in Mad- ben forderten, ob in der konservativen tischen Stärke: Überall, wo das Bild En- rid wie eine Reliquie ausgestellt worden Kunstprovinz Los Angeles, in der gerade de der 30er Jahre ausgestellt wurde, ob war. Die „endgültige“ Platzierung des einmal 735 Besucher den Weg zu „Guer- in Frankreich, England oder in die USA Bildes 1992 im spanischen Nationalmu- nica“ fanden, die Lokalpresse das Werk – immer gab es aktuelle politische Er- seum Reina Sofía in Madrid verlief zwar „ekelerregend“ und „hässlich“ nennt, eignisse, die die Botschaft des Bildes zu störungsfrei, doch reklamierte ein Graf- ja als „reinen Schrott“ abtat, – wäh- bestätigen schienen: Faschismus bringt fito an der Museumswand das Bild für rend dessen das liberalere New York Krieg und Tod. Als Mitte November 1939 das baskische Volk: „Guernica“ nach dem Picassofieber erlag und „Guernica“ im Museum of Modern Art New York ei- Gernika! Hatte es nicht der Bürgermeis- 60.000 Besucher bescherte. „Guernica“ ne Picasso-Ausstellung mit dem Guerni- ter der leidgeprüften Stadt der Basken machte Furore. Picassos gemalter Auf- ca-Bild eröffnet wurde, lag die brutale im Jahr zuvor klargestellt? „Wir werden schrei wurde verstanden und die kon- militärische Niederschlagung Polens ge- die Herausgabe des Bildes bis zu dem troversen Debatten in den lokalen Me- rade sechs Wochen zurück und Hitlers Tage fordern, an dem es hier eintrifft.“ dien der Städte und Bundesstaaten der Ankündigung seines „unabänderlichen USA, in denen das Bild Station machte, Entschlusses“, Frankreich und England Dipl. soz. René Senenko

Appeasement – Hitlers Freunde in England

Ian Kershaw, Hitlers Freunde in Eng- Das anzuzeigende Buch beweist aller- gen großer Banken und Konzerne auch land. Lord Londonderry und der Weg dings, dass immer noch relevante Quel- hinter den Kulissen gedacht wurde. Als in den Krieg, Deutsche Verlags-An- lenbestände existieren, die bislang der Luftfahrtminister engagierte er sich für stalt, München 2005. Forschung nicht zugänglich waren und die Modernisierung der Royal Air Force, Schon wieder eine Studie zur Appease- deren Auswertung manch’ neues Licht besonders die Schaffung einer Bomber- ment-Politik Großbritanniens? Dazu ist auf die Appeasement-Politik des „Trou- flotte lag ihm dabei am Herzen. doch längst alles gesagt und geschrie- bled Giant“ (Frederick S. Northedge) Aber nicht deswegen ist die Persönlich- ben worden – so reagierte der Rezen- werfen können. keit Londonderrys, der im Übrigen auch sent, als er dieses umfangreiche Buch Im vorliegenden Falle handelt es sich Teilhaber dreier Bankhäuser und ein des Hitler-Biographen Ian Kershaw in um den groß dimensionierten Nachlass sehr bedeutender Montanindustrieller Händen hielt. von Lord Londonderry, einem der pro- war, von so großem Interesse. Vielmehr Und tatsächlich ist seit der Öffnung minentesten Exponenten der britischen ist es seine Affinität zum deutschen Fa- der britischen Archive an der Wende Aristokratie, der in den Jahren von 1931 schismus, einschließlich seiner hervor- von den 60er zu den 70er Jahren des bis 1935 als Luftfahrtminister amtierte. ragenden Kontakte zu Nazi-Größen wie vergangenen Jahrhunderts eine wahre Verwandt und verschwägert mit fast al- Hermann Göring, Joachim von Ribben- Flut von Publikationen erfolgt, darunter len großen Adelshäusern auf der Insel, trop, aber auch zu Adolf Hitler, die eine auch viele aus der Feder deutscher His- so befand sich beispielsweise Winston biographische Studie rechtfertigen und toriker1, die wohl alle Facetten der briti- Churchill unter seinen Vettern, gern ge- neue Erkenntnisse zur britischen Ap- schen Außen- und Sicherheitspolitik in sehen bei Hofe, sein Haus in London peasement-Politik erwarten lassen. den 1930er Jahren, unter besonderer und sein Landsitz in Nordirland ein be- Zunächst sei hervorgehoben, dass der Berücksichtigung der Beziehungen zu liebter Treffpunkt der in Politik und aus alter Familie stammende Lord Lon- Nazi-Deutschland, eingehend analysiert Ökonomie Herrschenden – London- donderry mit seinen Sympathien für die haben. Mittlerweile existieren nicht we- derry war zweifellos ein Mann „mit Ein- Nazis sich in sehr guter Gesellschaft nige Veröffentlichungen, die in kompak- fluss“; jemand, der wusste, wie in Dow- befand. In der Anglo-German-Fellow- ter Form den erreichten Forschungs- ning Street No. 10, in den Ministerien, ship (vgl. S. 176ff.) und in der Cliveden- stand bilanzieren.2 im Parlament und in den Vorstandseta- Clique um Lord und Lady Astor trafen

56 höchst einflussreiche Mitglieder der „Nehmen wir offen die Tatsache der fing. An den Botschafter des Vereinigten „Gesellschaft“ – Geschäftsleute, Par- Rehabilitierung Deutschlands als Welt- Königreichs in Berlin, Sir Eric Phipps, lamentarier, Verleger, Angehörige der macht hin und versuchen wir, wenn wir schrieb er voller Begeisterung über die Aristokratie – aufeinander, die sich für können, in Harmonie mit ihm zu arbei- intensive „Betreuung“, die ihm die Na- gute Beziehungen zu Hitlerdeutschland ten, denn von unserem gegenseitigen zi-Führer hatten angedeihen lassen: engagierten, ja, die den Aufbau einer guten Willen hängt nach meiner Über- „Jede Minute war mit etwas anderem faschistischen Diktatur mit öffentlich zeugung in allererster Linie die Siche- ausgefüllt gewesen, ob nun mit einer zur Schau getragenem Wohlwollen be- rung des Friedens in den kommenden politischen Unterredung mit dem Füh- trachteten. Insofern ordnen sich Lon- Jahren ab.“ (Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. rer oder einer Hirschjagd in Carinhall, donderrys politische Überzeugungen 80, 3.4.1937) mit der wundervollsten Musik oder der in die damals in konservativen Kreisen Besichtigung hervorragender Kunstwer- Großbritanniens wahrnehmbare Ten- ke, Gemälde und Wandteppiche oder denz ein, dem deutschen Faschismus Von 1935 bis zum Einmarsch der „Wehr- damit, dass man sich in Garmisch (dort seine Legitimation keineswegs abzu- macht“ in die unbesetzte Tschechoslo- fanden gerade die Olympischen Winter- erkennen, sondern ihm innen- wie au- wakei im März 1939, der zu einer ge- spiele statt – R. Z.) Skirennen, Eiskunst- ßenpolitische Erfolge zu wünschen. Es wissen Ernüchterung Londonderrys wettkämpfe oder Eishockeyspiele an- kam hinzu, dass die Nazi-Diktatur hier hinsichtlich der Ziele Hitlers führte (vgl. schaute … Ich glaube, dass wir noch nie als Bündnispartner im Kampf gegen den S. 326ff.), war der Aristokrat unermüd- eine solch ausgefüllte, interessante und „Bolschewismus“ und gegen alles, was lich tätig, um in der politischen Klas- herrliche Zeit verbracht haben wie die als „links“ galt, durchaus willkommen se Großbritanniens eine positive Stim- letzten drei Wochen.“ (Zitat S. 172) war. Die sehr unterschiedlichen politi- mung für die Nazis hervorzurufen bzw. Die brutalen Repressionen gegen An- schen Systeme beider Länder sollten schon vorhandene Sympathien für den dersdenkende und die immer mehr um dem nicht entgegenstehen. deutschen Faschismus noch zu verstär- sich greifende Entrechtung der Juden? ken. Er organisierte entsprechende, Ak- Die so genannten Nürnberger Gesetze? tivitäten, die es beinahe gerechtfertigt Die Willkür der Gestapo? Der Terror ge- Lloyd George, ehem. Premierminister erscheinen lassen, von ihm als einem gen die Häftlinge in Konzentrationsla- Großbritanniens am 28. November 1934 unbesoldeten Botschafter des „Dritten gern und Zuchthäusern? Alles das war vor dem House of Commons Reiches“ zu sprechen. für Lord Londonderry kein Thema. Mit „Ich sage voraus, dass in einer sehr kur- Sein elitäres Verständnis von Politik und dem zur Staatsdoktrin erhobenen An- zen Zeit – vielleicht nicht ein, vielleicht Gesellschaft, ein ausgeprägter Antide- tisemitismus der deutschen Faschis- nicht zwei Jahre – die konservativen Ele- mokratismus, Antikommunismus und ten zum Beispiel hatte er keinerlei erns- mente in England auf Deutschland als Antisowjetismus – dies waren die geis- te Probleme. In einem Brief an Joachim ein Bollwerk gegen den Kommunismus in tig-politischen Grundlagen Londonder- von Ribbentrop vom Februar 1936 heißt Europa blicken werden. Wenn Deutsch- rys, von denen aus sein Verhalten ge- es hierzu u. a.: land vor dem Kommunismus nieder- genüber dem Nazi-Regime und seinen „Wie ich Ihnen sagte, hege ich keine bricht und der Kommunismus Deutsch- Repräsentanten erklärbar wird. große Zuneigung zu den Juden. Man land ergreift, so wird Europa folgen, weil Die imperialen Interessen des British kann ihre Teilnahme an den meisten in- die Deutschen es am besten bewerkstel- Empire erforderten aus seiner Sicht ein ternationalen Störungen nachweisen, ligen würden. Ihr werdet Deutschland Arrangement mit dem deutschen Fa- die in den verschiedenen Ländern so als Euren Feund begrüßen.“ (Deutsches schismus, dessen „Drang nach Osten“ große Schäden hervorgerufen haben.“ Nachrichtenbüro, Nr. 346, 28.11.1934, sowie nach Wiederaufrüstung nicht in (Zitat S. 179) Ian Kershaw bemerkt zu Bl. 23, in: Bundesarchiv Berlin-Lichter- Frage zu stellen sei, solange der Appe- diesem Thema: „Obwohl Londonderry felde, R 2501/4026, unfol.) tit des „Führers“ vor den Territorien des kein rassistischer Antisemit war, enthält eigenen, inzwischen fragil gewordenen sein Brief an Ribbentrop unverkennbare Duncan Sandys MP (Konservative Partei) Weltreiches Halt machen würde. In al- Spuren der lantenten oder abstrakten und Schwiegersohn Churchills, in einem ledem unterschied sich Londonderry Antipathie gegenüber Juden, die damals Artikel der „Europäischen Revue“ 1936 durchaus nicht wesentlich von den Vor- in der britischen Oberschicht weit ver- „Nach Jahren ergebnisloser politischer stellungen vieler anderer Politiker sei- breitet war.“ (S. 180) Eine Antipathie, Verzettelung hat das deutsche Volk nes Landes, allerdings stach bei ihm die die sich bei den Londonderrys auch nach den Regeln seiner Verfassung und über das normal „Diplomatische“ weit gegenüber der eigenen Tochter äußer- in Ausübung seines demokratischen hinausreichende, geistig-politische Nä- te, die es gewagt hatte, 1935 einen Ju- Wahlrechts dem Nationalsozialismus he zum „Dritten Reich“ hervor. den zu heiraten – ein in diesen Kreisen freiwillig die Macht überantwortet. Es Weithin bekannt wurde der britische der Aristokratie höchst unerwünschter wusste genau, wofür der Nationalsozi- Aristokrat durch seine Reise nach Schwiegersohn. alismus eintrat. Es traf seine Wahl mit Deutschland im Januar und Februar Als Bestätigung seiner Auffassungen offenen Augen, und die überwältigende 1936 (vgl. S. 165ff.). Mit einem vom über den Platz Hitlerdeutschlands in Zustimmung, die dem Führer bei einer deutschen Luftfahrtministerium ex- der europäischen Politik empfand Lon- Volksabstimmung nach der anderen zu- klusiv gecharterten Passagierflugzeug donderry das Diktat von München teil geworden ist, beweist zur Genüge, wurden er und seine Frau vom Londo- 1938. Zugleich gab es keinerlei Bekun- dass das deutsche Volk seine Entschei- ner Flughafen Croyden nach Berlin ge- dung von Empathie mit dem Schicksal dung nicht bereut hat.“ (Deutsche Allge- flogen. Hier traf er Adolf Hitler, Joach- der Tschechoslowakei, denn „in seinen meine Zeitung, Nr. 308, 4.7.1936) im von Ribbentrop, Constantin Freiherr Augen war München keine moralische, von Neurath, Rudolf Heß und Hermann sondern eine rein politische Angelegen- Lord Londonderry in einem Artikel des Göring, der ihn auf seinem Landsitz Ca- heit“ (S. 299), die dort vertraglich gere- „Berliner Lokal-Anzeigers“, April 1937 rinhall in der Schorfheide pompös emp- gelten Abmachungen hätten aus seiner

57 Sicht der Dinge schon viel früher ver- ten, war nicht einfach nur Ausdruck 1 Zu den wichtigsten dieser Arbeiten gehören: Bernd-Jürgen Wendt, Economic Appeasement. einbart werden sollen. Das Schicksal persönlicher Vorlieben oder ein histo- Handel und Finanz in der britischen Deutschland- der überaus funktionsfähigen bürger- rischer Zufall. Londonderry hat sich … Politik 1933–1939, Düsseldorf 1971; Gottfried lich-parlamentarischen Demokratie in nie mit dem britischen Faschismus ge- Niedhart, Großbritannien und die Sowjetunion 1934–1939. Studien zur britischen Politik der Frie- der CSR interessierte ihn nicht im Ge- mein gemacht. Dafür war sein sozial denssicherung zwischen den beiden Weltkriegen, ringsten. Erst nach der Besetzung der – und ideologisch sowie parteipolitisch München 1972; Reinhard Meyers, Britische Si- wie die Nazis es bezeichneten – „Rest- verwurzelter Konservatismus viel zu tief cherheitspolitik 1934–1938. Studien zum außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozess, Tschechei“ durch deutsche Truppen im in seinem Charakter verwurzelt. Den- Düsseldorf 1976; Gustav Schmidt, England in der März 1939 begann bei Lord London- noch hegte er aufgrund seiner sozialen Krise. Grundzüge und Grundlagen der britischen derry ein gewisser Prozess des Nach- Herkunft instinktiv Sympathie für viele Appeasement-Politik (1930–1937), Opladen 1981. Neuerdings: Jörg Später, Vansittart. Britische De- denkens über die Realitätsbezogenheit sowohl von der faschistischen als auch batten über Deutsche und Nazis 1902–1945, Göt- seiner Ansichten zum faschistischen von der konservativen Rechten propa- tingen 2003 (zu Lord Londonderry vgl. ebenda, Deutschland. Schließlich geriet er nicht gierten Werte.“ (S. 409f.) S. 107ff). 2 Genannt seien an dieser Stelle folgende Arbeiten, nur in die politische, sondern auch bis Zusammengefasst: Eine überaus wichti- die vor allem als kurz gefasst Einführung in die The- zu seinem Tod im Jahre 1955 in eine ge- ge, manchmal allerdings zu sehr in die matik für den akademischen Unterricht geschrie- sellschaftliche Isolation innerhalb der Details verliebte Studie zu einem in der ben worden sind: Keith Robbins, Appeasement, Oxford 1988, 2nd edition 1997; R.J.Q. Adams, Bri- herrschenden Elite. War dies nicht ein Appeasement-Forschung bislang nicht tish Politics and Foreign Policy in the Age of Ap- wenig heuchlerisch? Ian Kershaw ist angemessenen bearbeiteten Thema. peasement, 1935–39, Stanford (Calif.) 1993; Gra- zuzustimmen, wenn er abschließend Dass – wie es mittlerweile üblich gewor- ham Darby, Hitler, Appeasement and the Road to War 1933–41, London 1999; Frank McDonough, schreibt: „In mancher Hinsicht spiegel- den ist – für die Thematik einschlägige Hitler, Chamberlain and appaesement, Cambridge ten sich in Londonderrys Schwächen Literatur von DDR-Historikern wie z. B. 2002. In der BRD wurden mehrfach in der „Neuen auch diejenigen seiner sozialen Schicht Siegfried Bünger, Gerhart Hass, Mirjam Politischen Literatur” und in den „Militärgeschicht- lichen Mitteilungen“ Literatur- und Forschungsbe- wider. Dass so viele britische Aristokra- Kölling und Karlheinz Schädlich vom Au- richte aus der Feder von Gottfried Niethard, Gustav ten mit der extremen Rechten flirteten tor unberücksichtigt blieb, sei abschlie- Schmidt, Rainer Tamchina und Bernd-Jürgen Wendt (oder aus voller Überzeugung auf deren ßend noch der Vollständigkeit halber veröffentlicht. Seite standen), den Faschismus anzie- angemerkt. hend fanden und mit vielen Elementen des Nationalsozialismus sympathisier- Dr. Reiner Zilkenat

Zur Geschichte der VVN-Bund der Antifaschisten

Der zweite Sonntag im September. Ge- lung und auch das Lesebuch wurden Seit 1990 wird der Gedenktag als „Tag denken und Erinnern an die Opfer des von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geför- der Erinnerung, Mahnung und Begeg- Faschismus. Zur Geschichte des OdF- dert. Die Wanderausstellung war ab 12. nung“ fortgeführt. Tages, Broschüre/Begleitpublikation September 2005, einen Tag nachdem Die Ausstellung „Der zweite Sonntag zur Wander-Ausstellung 2005, 62 Sei- sie am zweiten Sonntag im September im September. Gedenken und Erinnern ten. auf dem Marx-Engels-Forum präsentiert an die Opfer des Faschismus. Zur Ge- 60 Jahre Vereinigung der Verfolgten worden war, bis Ende 2005 in der Rosa schichte des OdF-Tages“ kann ausgelie- des Naziregimes. Lesebuch zu Ge- Luxemburg Stiftung zu sehen. hen werden. Anmeldungen dafür nimmt schichte und Gegenwart der VVN, 94 Auf zwölf Tafeln dokumentiert die Aus- die Berliner VVN-BdA, Franz-Mehring- Seiten. stellung die wechselvolle Geschichte Platz 1, 10243 Berlin, 6. Etage, entge- Die von Karl-Heinz Lehmann gestalte- des OdF-Tages: In den Nachkriegsjah- gen. te Wander-Ausstellung wurde von Hans ren wurde der zweite Sonntag im Sep- Schulen, LehrerInnen und SchülerInnen, Coppi und Nicole Warmbold konzipiert. tember zum ersten Gedenktag für die die im RLS-Netzwerk AG „Geschichte für Die dazu erschienene Broschüre/Be- Opfer des Faschismus in Deutschland. die Zukunft“ eng mit uns zusammenar- gleitpublikation sowie das Lesebuch Schnell führte dabei der Kalte Krieg beiten, nutzen vor allem die beiden Bro- zu Geschichte und Gegenwart der VVN zu einer Erinnerungsteilung in Ost und schüren als Bildungsmaterial. haben Hans Coppi und Nicole Warm- West. In der Bundesrepublik und in Wander-Ausstellung, Broschüre zur bold herausgegeben bzw. verfasst. Dr. Westberlin war der von der VVN organi- Ausstellung und Lesebuch bilden ei- Hans Coppi ist freier Mitarbeiter der sierte „Tag der Opfer des Faschismus“ ne didaktische Einheit und sind ein Gedenkstätte Deutscher Widerstand alsbald Verboten ausgesetzt. Diese Ver- hervorragendes Material für die histo- Berlin, Vorsitzender der Berliner VVN- bote hielten bis in die 60er Jahre an, das risch-politische Jugendbildung, zumal BdA, Sprecher des Vorbereitungskrei- offizielle Gedenken wurde im Wesentli- die Möglichkeiten des kommunikativen ses zum „Tag der Erinnerung, Mahnung chen am 20. Juli festgemacht. Anders Erinnerns für Jugendliche nicht mehr und Begegnung“. Dr. Nicole Warmbold in der DDR: Der OdF-Tag hatte immer lange bestehen. Kurt Julius Goldstein, gehört zum Team des Vorbereitungs- einen festen Platz in der Erinnerungs- jüngst verstorbener Ehrenvorsitzender kreises. kultur. Aber er war auch nicht frei von der VVN-BdA und Ehrenpräsident des Die Entstehung, öffentliche Präsentati- Ritualen, Einseitigkeiten und Vereinnah- Internationalen Auschwitz Komitees, er- on und Verbreitung der Wanderausstel- mungen. klärt deshalb mit seinem Grußwort im

58 Lesebuch: „Als Überlebender von Aus- über die getrennten Wege in Ost- und gen und Ideale gegen Rassismus, Frem- chwitz und Buchenwald, als Kämpfer in Westdeutschland, über das kurze Leben denfeindlichkeit und Krieg getreu dem den Internationalen Brigaden muss ich der VVN in der SBZ/DDR und die mar- Schwur von Buchenwald zu vertreten sagen: Es liegt noch viel Arbeit vor uns. ginalisierte Fortsetzung ihrer Arbeit im und den neofaschistischen Gefahren Vor Euch – denn meine Generation legt Komitee der antifaschistischen Wider- die Stirn zu bieten.“ nun langsam und nicht ohne Schmerz standskämpfer. Es sind viele kurze, sehr Fred Dellheim und viele ZeitzeugInnen ihr Vermächtnis in Eure Hände. Wir wer- anregende Beiträge, die eine weitere in- der VVN-BdA haben die historisch-poli- den Euch begleiten, solange wir Kraft in haltliche Beschäftigung und Spurensu- tische Jugendbildungsarbeit der Rosa- uns spüren, doch dann wird es an Euch che geradezu herausfordern. Luxemburg-Stiftung von Anfang an in sein.“ Die zweite Hälfte des Lesebuches gibt enger Kooperation begleitet und maß- Weitere ZeitzeugInnen, Nachgeborene, Einblicke in die Arbeit der seit Oktober geblich unterstützt. Viele von ihnen, wie HistorikerInnen, befreundete Organisa- 2002 gesamtdeutschen VVN-BdA. Der Fred Dellheim und Kurt Julius Goldstein, tionen und WegbegleiterInnen kommen langjährige Vorsitzende der VVdN-BdA, sind nicht mehr unter uns. Das Ver- im Lesebuch zu Wort oder richten Gruß- Fred Dellheim, sagte rückblickend zu mächtnis, das sie den Nachgeborenen worte an die jungen AdressatInnen. Fer- den nicht immer einfachen Gesprächen in die Hände gelegt haben, will die Ro- ner erfahren die Leserinnen und Leser beider Verhandlungskommissionen sa-Luxemburg-Stiftung in Zusammenar- einiges über die Biografien der Grün- (VVdN-BdA und VVN-BdA): „… über 40 beit mit der VVN-BdA auch künftig mit dungsmitglieder, über den gescheiter- Jahre unterschiedliche Geschichte, das interessanten historisch-politischen Bil- ten Versuch, 1947 eine gesamtdeut- sind zwei Generationen, … und gewisse dungsprojekten für die Jugend erfüllen sche VVN zu konstituieren, über die erst Unterschiede gibt es auch heute noch. helfen. 1948 gebildete Berliner VVN auf Grund Aber das Gemeinsame ist das Entschei- der Teilung der Stadt in vier Sektoren, dende: unsere antifaschistischen Anlie- Dr. Cornelia Domaschke

Deutscher Konservatismus nach 1945

Ludwig Elm, Der deutsche Konserva- Schwergewicht der Darstellung liegt auf sche Vorstellung von Gesellschaft, die tismus nach Auschwitz. Von Adenauer der Adenauerzeit der frühen Bundes- die Notwendigkeit von Eliten behauptet, und Strauß zu Stoiber und Merkel, Pa- republik bis zum Beginn der sechziger ein genereller Skeptizismus hinsichtlich pyRossa –Verlag, Köln 2007. Jahre. Diese Schwerpunktsetzung be- der Erkenntnis- und Entwicklungsfähig- „Die Gesellschaft, das politische Sys- gründet sich aus der Tatsache, dass in keit des Menschen. Als Träger des Kon- tem und die vorherrschende Ideenwelt dieser Zeit die politischen Weichen des servatismus werden die politischen und in der Bundesrepublik am Beginn des größeren deutschen Teilstaates neu ge- wirtschaftlichen Eliten ausgemacht. 21. Jahrhunderts sind in den Grundten- stellt wurden und die konservative Aus- Wichtig ist dem Autor eine deutliche Ab- denzen konservativ“ (S. 24): Mit dieser richtung hier ganz eindeutig die Ober- grenzung zum Faschismus, wenngleich Einschätzung rechtfertigt Ludwig Elm hand gewinnt, womit die Auswirkungen er andererseits hervorhebt, dass die die erneute Thematisierung des deut- dieser Weichenstellung bis heute spür- (ideologischen) Grenzen hier fließend schen Konservatismus, mit dem sich bar sind. Die zentrale Perspektive in seien. Der konstitutiv barbarische, ter- der Autor in einem Großteil seiner wis- Elms Darstellung ist das Verhalten und roristische und menschenverachtende senschaftlichen und politischen Ar- Agieren der bundesrepublikanischen Kern des Faschismus unterscheide die- beiten seit Jahrzehnten auseinander- Eliten gegenüber den Hinterlassen- sen grundlegend vom Konservatismus gesetzt hat. Die zitierte Einschätzung schaften des Faschismus. Ignoranz, Re- (vgl. S. 38 u. 318). Gegenüber dieser erscheint einleuchtend und zugleich lativierung und Kumpanei kennzeichnen wichtigen und prinzipiellen Abgrenzung Diskussionswürdig und Elms Darstel- den Umgang der Konservativen in der bleibt das Verhältnis des Konservatis- lung liefert hierfür zahlreiche Belege, Anfangszeit der Bundesrepublik und in mus zum Liberalismus, als einer kon- bekannte und weniger bekannte Fa- diesem Hang zur Relativierung, verbun- kurrierenden bürgerlichen Leitideolo- cetten des deutschen Konservatismus den mit einer scharfen Wendung gegen gie, bei Elm weitgehend im Dunkeln, nach 1945. Wer, das sei an dieser Stel- die politische Linke, sieht Elm bis heute bzw. es löst sich der Liberalismus in sei- le schon vorweggenommen, sich mit ein wesentliches Kontinuitätselement nen vorherrschenden Erscheinungsfor- der Geschichte des Konservatismus in des Konservatismus. men nach 1945 – vielleicht mit Ausnah- Deutschland nach 1945, seinen Hand- Bei der Definition dessen, was unter me der sozialliberalen Ausprägung – im lungsträgern und seinen politischen Konservatismus zu verstehen ist, billigt Konservatismus auf. Dies trifft für den Wendungen auseinander setzen will, Elm diesem ein großes Maß an Flexibili- Autor anscheinend besonders für die der wird die vorliegende Darstellung tät zu: Die Ideologien der konservativen gegenwärtig hegemoniale Form des Ne- des Jenenser Historikers nicht außer Schichten änderten sich je nach der po- oliberalismus zu, die tatsächlich zahl- Acht lassen dürfen. litischen Gesamtkonstellation und auch reiche Anknüpfungspunkte für den Der von Elm verfolgte Ansatz der Dar- bedingt durch die Tatsache, dass immer Konservatismus bietet. Ob aber die stellung folgt chronologisch dem histo- neue Schichten in konservative Positi- Charakterisierung beispielsweise der rischen Ablauf und ist vor allem politik- onen gedrängt würden (vgl. S. 30). Als im neoliberalen Geiste agierenden wirt- geschichtlich orientiert – theorie- und Leitlinien konservativen Denkens gelten schaftlichen Funktionseliten als konser- ideologiehistorische Ansätze stehen Elm die quasi naturgesetzliche soziale vativ zutreffend ist, darüber ließe sich eher im Hintergrund. Ein deutliches Ungleichheit, eine organisch, hierarchi- trefflich streiten.

59 Die von Elm dargebotene Politikge- im Bundestag angesetzten Feierstun- Ist die Umsetzung markradikaler Kon- schichte der Adenauerzeit liest sich fes- de zum Gedenken an den 8. Mai 1945 zepte, wie sie die letzten Jahre über ver- selnd und zugleich bedrückend, insbe- teilzunehmen, ein Vorgang der sich fünf sucht wurde, wirklich als konservativ zu sondere in Bezug auf die aus heutiger Jahre später wiederholte (vgl. S. 184f.). bezeichnen? Ist die im Vergleich zu den Sicht unvorstellbare Ignoranz in der po- Die zentrale Rolle der Geschichtspolitik angelsächsischen Ländern dennoch ge- litischen und juristischen Auseinander- für das Selbstverständnis des Konser- mäßigte Ausprägung des Neoliberalis- setzung mit den alten NS-Eliten. Ob- vatismus wird hier deutlich, die insbe- mus ein Ausweis gerade des Konserva- wohl viele Fakten bekannt sind, vermag sondere in der Ära Kohl eine große Rol- tismus der Bundesrepublik oder scheint Elm hier mit seiner dichten Darstellung le spielte. hier ein anderer Traditionsstrang auf? ein erneutes Interesse für die Adenau- Die mit der deutsch-deutschen Vereini- Trifft die Charakterisierung im Verhält- erzeit zu wecken. gung wieder an Boden gewinnende To- nis zu den westlichen Nachbarn noch zu Neben den bekannten Fällen des Kanz- talitarismustheorie stellt für Elm den oder ist nicht, um ein Beispiel zu nen- leramts-Staatssekretärs Dr. Hans Glob- konservativen Leitfaden bei der Ausei- nen, die Elitenrekrutierung in Frank- ke (einst Ministerialrat und „Juden-Re- nandersetzung mit dem Erbe der DDR reich weitaus stärker auf den Machter- ferent“ im Nazi-Reichsministerium des dar. Dass es gerade keine Äquidistanz halt konservativer Schichte gerichtet? Innern) und des „Vertriebenen-Minis- zu beiden vermeintlichen Totalitaris- Wie ist der für die Bundesrepublik si- ters“ Prof. Dr. Theodor Oberländer men bei Konservativen gibt, macht Elm cherlich entscheidende kulturelle Ein- (prominenter „Ostforscher“ und NS- im völlig unterschiedlichen Umgang mit schnitt von 1968 zu bewerten und wel- Geheimdienstler) verdeutlicht Elm die den Eliten aus der Nazi-Diktatur und der che Spuren hat er in der Tiefenstruktur bereitwillige Aufnahme der mittleren DDR deutlich. Wurden erstere schnell des Landes hinterlassen? Wie verhält es Nazi-Eliten an zahlreichen auch weniger und weitgehend bruchlos in die ent- sich mit Frage der aktuellen Familienpo- bekannten Beispielen. stehende Bundesrepublik integriert, so litik in der Union und was ist von den Nach dem Machtverlust der Union 1969 sind die ehemaligen DDR-Eliten (und Vorhaltungen einer „Neuen Rechten“ schildert der Verfasser die Reorganisati- auch zahlreiche Mitläufer) bis heute der zu halten, die Union sei keine Partei für on und auch stärkere Reideologisierung öffentlichen Ächtung ausgesetzt. Konservative? des Konservatismus, der jetzt zahlrei- Die gegenwärtige Entwicklung der Bun- Vielleicht müsste zur Beantwortung sol- che neue Institutionen und Zeitschrif- desrepublik sieht Elm weiterhin konser- cher Fragen das Konzept eines unge- ten hervorbringt, von der Deutschland- vativ dominiert, Frau Merkel verortet er brochenen Konservatismus in der Bun- stiftung bis zu „Criticón“. Am Beispiel in der konservativen Linie der Union. desrepublik überdacht werden. Antonio der Deutschlandstiftung verdeutlicht Hier würde es sich lohnen, eine gene- Gramsci spricht im Zusammenhang mit Elm das ideologische Übergangs- relle Diskussion über die ideologischen der Hegemoniefrage von einem histori- feld zur extremen Rechten, das auch Inhalte, Veränderungen und Brüche des schen Block, der zweitweise diese He- durch einen der ersten Preisträger, Ar- Konservatismus zu führen. Wenn Elm gemonie repräsentiert. Möglicherweise min Mohler, veranschaulicht wird. Aus die Bundesrepublik im Vergleich zu den sah dieser historische Block in der Hoch- heutiger Sicht unvorstellbar, aber ge- meisten west- und nordeuropäischen zeit des Fordismus und der soziallibera- rade deshalb den Zeitgeist besonders Demokratien „unverändert als ausge- len Ära der siebziger Jahre anders aus gut charakterisierend, ist die von Lud- prägt konservativ“ beschreibt (S. 280) als zur Adenauerzeit und hat sich heute wig Elm angeführt Weigerung führen- und damit eine ungebrochen Kontinui- wiederum neu zusammengesetzt. der CDU-Politiker (Kiesinger, Strauß, tät andeutet, dann ergeben sich zumin- Carstens, Kohl), an der 1970 erstmals dest Fragen. Dr. Gerd Wiegel

Der „Oberhalb–Denker“ der Neuen Rechten

„Unsere Zeit kommt“. Götz Kubitschek Stimme“ im Januar 2007 ausweist, wo „Von der Gegenrevolution“, „Vom Zu- im Gespräch mit Karlheinz Weißmann, er sich verächtlich über die „Parteiende- stand der Welt“, „Letzte Fragen“) ist Verlag Edition Antaios, Schnellroda mokratie“ ausließ. der erste der umfangreichste. In ihm 2006, 133 Seiten. Im vorliegenden Bändchen, das im Haus- finden sich bereits alle Grundelemen- Götz Kubitschek ist auf dem Markt der verlag erschien, bietet er seinem Freund te der von Weißmann erstrebten neu- neurechten Ideologien mehr als rührig. Weißmann, Gymnasial-Lehrer aus Göt- rechten Gegenrevolution. Dazu gehört Mit Karlheinz Weißmann begründete er tingen und als strategischer Kopf der zunächst das Bekenntnis zur „Konser- im Jahre 2000 das „Institut für Staats- Neuen Rechten in Deutschland mit sei- vativen Revolution“, deren Vordenker in politik“ (IFS) in Schnellroda/Thürin- nen zahlreichen Büchern und Artikeln der Weimarer Republik wie Ernst Jün- gen. Als Verleger leitet er den dort an- bekannt, eine Tribüne für einen gro- ger und Moeller van den Bruck und spä- gesiedelten Verlag „Edition Antaios“, ßen Monolog über das, was dieser un- ter , ehemaliger Sekre- als Autor erscheint er oft in der „Jungen ter „rechts“ versteht. In bemerkenswert tär Jüngers und bekennender Faschist Freiheit“ und als Organisator ist er un- deutlicher Sprache öffnet Weißmann (dessen Buch „Die konservative Revo- entbehrlich für die Tagungen des IFS. hier sein Visier, legt auf Kubitscheks lution 1918–1932“ zum ersten Mal im Hinter den Kulissen betreibt er weiter- Fragen seine philosophischen und poli- Jahre 1950 erschien) sein Denken we- hin den Schulterschluss mit den Kräften tisch-strategischen Ansichten dar. sentlich beeinflussten. Weißmanns des rechtsextremen Lagers, wie sein In- Von den fünf Abschnitten („Rechts-Sein geistige Wurzeln reichen aber auch terview mit der NPD-Zeitung „Deutsche überhaupt“, „Rechts-Sein persönlich“, noch weiter zurück, so zum Beispiel zu

60 Friedrich Nietzsche. Sein Geschichts- und seine Attacken gegen die Deutung ständig für die politische Praxis“ und bild wird dominiert (W. nennt sie „Re- des 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ vermerkt, dass er niemals einer Par- ferenzepochen“) vom Ottonischen und genannt – seiner Faszination von dem tei angehört habe und gedenke, daran Staufischen Reich, von Preußen im 18. Gedanken zu folgen, „eine Gegenideo- nichts zu ändern (S. 85) Diese beque- Jahrhundert, den „deutschen Erhebun- logie aufzubauen, um der Linken Paro- me Position hindert ihn freilich nicht, zu gen“ von 1813, 1944 und 1953. Als sei- li zu bieten“ (S. 37). Seine Feindschaft einer ganzen Reihe aktueller politischer ne Idole benennt er Heinrich I., Fried- gegen die „1968 er“ ist daher so imma- Fragen Stellung zu nehmen, in gewis- rich den Großen, Stein, Gneisenau, nent, wie er sie bei den Ideologen der ser Weise auch darüber zu räsonieren Bismarck und Stauffenberg. (Klappen- „Dresdener Schule“ der NPD um Jür- (vor allem im Kapitel „Vom Zustand der text). In seinem Katalog gibt es nichts, gen Gansel und Karl Richter abschrei- Welt“). was den Göttinger Lehrer in Beziehung ben könnte. So fällt er harsche Urteile über den Zu- zu den großen demokratischen Traditi- Karlheinz Weißmann bezeichnet sich stand von CDU und CSU, die er perso- onen dieser Stadt oder zum Widerstand im Gespräch mit Kubitschek als einen nell für weitgehend ausgezehrt hält, die der Göttinger Atomwissenschaftler ge- „Rechten nach eigener Facon“, der man die geistfeindlichsten Parteien über- gen den Atomtod bringen könnte. durch eine Kopfgeburt werde, denn haupt seien und die außerhalb des Dafür wird gleich in Anknüpfung an sei- ihm fehle, was viele Rechte mitbräch- Machtgewinns überhaupt keine Ziele ne Vorgänger ein „Hauptfeind“ ausge- ten: die Herkunft aus einer entspre- mehr kennen würden. macht, der Materialismus. Der „Antima- chenden Tradition. Seine Familie gehör- Etwas wohlwollender benotet er die Er- terialismus“ verbindet Weißmann mit te zum „Kleinstbürgertum“. Und so wie folge der NPD als Protestpartei bei den einer breiten Front Konservativer ver- er sich zwischen den Schichten fühlte, Wahlen, eine Funktion, die sie sicher schiedener Ausprägung. Auf dem Klap- so versuchte er auch immer wieder ei- auch in Zukunft ausfüllen könne. Aber pentext ist jedoch als „Hauptfeind“ vor nen Standpunkt jenseits der großen er sehe nicht, wie diese Partei zu Perso- allem „die Dekadenz“ ausgewiesen, da „Denkfamilien“ einzunehmen, der völki- nal kommen wolle, das präsentabel sei er sich. in einer „Phase der Dekadenz“ schen, der liberalen, der faschistischen, und daraus eine konstruktive Program- wähnt, die sich allmählich vollendet. der traditionalistischen, der rechtsanar- matik machen könne. So wie Weißmann (S. 79) Ohne diese Lagebeschreibung chistischen. Und auf die direkte Nach- aber davon spricht, dass sich das „Völ- und ihre Dramatisierung ist – wie bei frage Kubitscheks nach seinem Stand- kische“ unter veränderten Umständen der extremen Rechten, die das „Sys- punkt präzisiert Weißmann, dass er wieder zurückmeldet, geht er doch da- tem“ anklagen und beseitigen wollen – „oberhalb“ dem „jenseits“ in Bezug auf von aus, dass der Faschismus auch zu- die Ausarbeitung von Ziel, Ausweg und diese Richtungen vorzöge. Das könn- künftig noch als denkbare politische Rettung nicht denkbar. Als deutlichs- te noch besser deutlich machen, dass Option wahrgenommen wird. Die Lin- tes „Kennzeichen der Dekadenz“ sieht er versuche, gewisse Einseitigkeiten zu ke an der Macht bietet für ihn nur einen Weißmann die Ausbreitung der Auffas- vermeiden und die eigentlichen Stär- „hässlichen Anblick“. Beim Nachdenken sung vom „Nur-Leben“ als höchstem ken der rechten Position zur Geltung zu über eine Alternative fällt ihm der lang Wert, ordnet aber als Folgen die Hoch- bringen (S. 45). dauernde Formierungsprozess der Grü- schätzung von Schlauheit und Feigheit, Nun also erneut die Propaganda für nen ein, die aus einer breiten Alternativ- die Urteilsschwäche, den Geburten- die „Gegenaufklärung“, die „Gegenöf- bewegung herauswuchsen. schwund, die Ausbreitung der Homo- fentlichkeit“ und die „Gegenrevoluti- Interessant ist, wo Karlheinz Weißmann sexualität und den Egalitarismus gleich on“. Letztere muss natürlich noch et- mit seinen außenpolitischen Erörterun- dazu. Mit dem Kampf gegen die Gleich- was warten, Gegenöffentlichkeit sieht gen landet. Er betrachtet zahlreiche heitsvorstellungen geht er sogleich er schon in der „Jungen Freiheit“ her- Entwicklungen in der Welt durchaus auch auf das Feld der Bildungspolitik angewachsen, er ist eifrig bei der Ge- nüchtern, verfällt nicht in die antigloba- über und es ist klar, dass er alles hasst, genaufklärung. Worauf setzt er seine listische und antiamerikanische Hetze was seinen elitären Auffassungen dort Hoffnungen? Im Büchlein antwortet er der Neonaziszene, verhehlt aber auch entgegensteht. Weißmann ist überzeugt Kubitschek vor allem mit zwei Ansagen: nicht seine Skepsis gegenüber der EU. davon, dass wir in den nächsten zehn erstens meint er in Erinnerung an Wins- Diese sei als politische Ordnung schon Jahren „eine dramatische Zuspitzung ton Churchill, dass nur „starken Män- am Ende, bevor sie auch nur die Chan- der Krise“ erleben werden, was die Un- nern“ gelingen könne, was die Schwät- ce hatte, eine militärische zu schaffen. fähigkeit oder den Unwillen der Politi- zer niemals erreichen werden. (Er redet Kritisch äußert er sich zu britischen und schen Klasse überdeutlich werden las- natürlich nicht von „Führern“). Und zwei- französischen Ambitionen, lehnt den se. (S. 80) tens setzt er auf die „historischen Mino- EU-Beitritt der Türkei ab und hat auch Zwar gibt er zu, dass er auf der Suche ritäten“, die zum einen aus der jüngeren keine Option für eine „Achse“ Paris-Ber- nach einem Ausweg schon einmal eine Generation nachwachsen sollen und lin-Moskau. Die bei manchen Vertretern Enttäuschung erlebte, als er Anfang der zum anderen auf die „freischwebende der Neuen Rechten umhergeisternde neunziger Jahre versuchte, mit einem Intelligenz“, die in allen Umbruchpha- Idee eines „Eurasien“ sei immer nur ei- Projekt „Neue demokratische Rechte“ sen eine wichtige Rolle gespielt habe. ne papierne Idee gewesen. nationalistische Kräfte zwischen den (S. 81) Da er sich offensichtlich selbst So muss sich Weißmann am Schluss herrschenden Kreisen der Kohl-Regie- dazu zählt, kann er dann auch selbstbe- seiner Denkoperationen natürlich die rung und der extremen Rechten zu sam- wusst formulieren: „Unsere Stunde wird Frage stellen, welche Handlungsmög- meln und ihm „die Bürgerlichen“ in den kommen“ (S. 84). Auf dem Titel des lichkeiten existieren. Eine Führungsrolle Rücken fielen.(S. 63) Aber das hielt ihn Umschlags heißt es leicht abgewandelt Deutschlands setzt er aus historischen nicht davon ab, mit immer neuen Vorstö- „Unsere Zeit kommt“. und aktuellen Gründen voraus. Da er ßen und Projekten – neben dem Institut Entsprechend der Rolle, die sich Weiß- aber konstatiert, der Rückzug auf die und den Tagungen seien besonders die mann selber zumisst, betont er aus- Nation als solche entfalle und der Aus- Gründung der Zeitschrift „Sezession“ drücklich: „… ich sehe mich nicht zu- bau der EU oder ein eurasisches Kon-

61 zept müsse zurückgewiesen werden, „neurechtes Denken“ doch als ziemlich manische Mythologie und deren feind- blieben nur noch zwei Optionen: „das angestaubt. seligen Schlachtruf „Odin statt Jesus“ karolingische Europa oder Mitteleuro- Am Ende des Buches, wenn Weißmann vollzogen. Das Heidentum Mohlers war pa“ (S. 101). Ersteres käme für ihn als auf „Letzte Fragen“ eingehen will, bleibt auch fast der einzige Kritikpunkt an sei- Zusammenschluss unter einer deutsch- er auch bei der Betrachtung von Reli- nem Vorbild. französischen Doppelspitze zustande, gion der „Oberhalb“–Denker. Er ver- Das Fazit: Karlheinz Weißmann bleibt das zweite als ein engerer Zusammen- mag sich zwar kritisch zur katholischen der legitime geistige Erbe Armin schluss aller Staaten zwischen Skandi- Glaubensrichtung und zur evangeli- Mohlers, dem es stets um die Entkop- navien im Norden und Italien im Süden, schen zu äußern, erörtert auch die reli- pelung zwischen der politischen Praxis der französischen Grenze im Westen giösen Züge in politischen Bewegungen des Nazifaschismus und dessen konser- und der russischen im Osten. Von die- wie der faschistischen, die Beziehun- vativen Vordenkern ging, um deren Ehre sen geistigen Höhenflügen herunter gen zwischen Judentum und Christen- zu retten und deren Auffassungen wei- stürzt er sodann auf das übliche Mus- tum, die Einflüsse des Islam usw., will ter wirken zu lassen. Weißmann ist zwar ter aller rechten und auch rechtsextre- aber den konkreten Fragestellungen lie- auch nach Auseinandersetzung mit den men Vorstellungen. Sein Mitteleuropa ber entkommen, indem er betont, dass französischen Begründern der „Nouvel- soll einen geschlossenen Handelsraum es sicher kein Europa ohne Christen- le Droite“ um Alain de Benoit und ande- bilden und sich gegen weitere Einwan- tum geben kann und dass unsere gan- ren rechtsgerichteten Ideologen nicht derung abschließen. Er betet zwar nicht ze Kultur eine Synthese aus Heidentum zum neuen Papst der Neuen Rechten die „Autarkie“-Phrasen der NPD nach, und Christentum bilde. Für sich selber emporgestiegen, aber sein Wirken soll- aber für „eine Art Autarkie“ votiert er wähle er daher eher die Bezeichnung ten Linke und Antifaschisten auch in Zu- schon. Und mit „Unbedingt!“ antwor- „hochkirchlich“. Damit hat er auch noch kunft genau beobachten. tet er auf die Frage, ob er eine „Festung einmal eine Abgrenzung zu den neona- Europa“ will (S. 105). So enthüllt sich zistischen Hochgesängen auf die ger- Dr. sc. Roland Bach

Die „Junge Freiheit“ und die „Konservative Revolution“

Stefan Kubon, Die bundesdeutsche Zei- möglichst große und breit gefächerte ge, in wie weit eine Verwendung des Be- tung „Junge Freiheit“ und das Erbe der weltanschauliche Strömung darzustel- griffs „“ richtig und sinnvoll „Konservativen Revolution“ der Wei- len. Kubon selbst zitiert im textanaly- ist. Widersprochen wird dem vor allem marer Republik. Eine Untersuchung tischen Teil der Arbeit (s. u.) allerdings unter Hinweis auf den klar antidemokra- zur Erfassung der Kontinuität „konser- wiederum nur wenige Autoren der „kon- tischen Kurs der „Jungen Freiheit“ und vativ-revolutionärer“ politischer Ideen, servativen Revolution“ – und als häufigs- die Kontinuität zur „konservativen Re- Dissertation, Würzburg 2006. ten Kronzeugen , dessen volution“. So richtig das einerseits ist, Vorneweg: Das Buch in einem Stil ge- Einordnung als „klassischer“ Vertreter so geht dabei doch auch der Blick auf schrieben, der wohl „akademisch“ sein der „konservativen Revolution“ doch zu- die spezifischen Erneuerungen (etwa soll. Aber auch das will erlernt und ge- mindest umstritten sein dürfte. die Bezüge auf Gramsci und die ökolo- übt sein, guter Wille allein reicht nicht Schließlich wird in der Diskussion bis- gische Frage als neue Rechtfertigungs- aus. Auch Doktorväter sollten das den heriger Forschungsergebnisse nahege- grund für eine Diktatur) verloren, die ihnen Anvertrauten beizeiten stecken; legt, eine fundierte Auseinandersetzung der Autor aber sehr wohl nennt. An die- ihnen und der Welt bliebe manches mit dem Erbe der „konservativen Re- ser Stelle ist die Argumentation schlicht Schriftstück erspart. volution“, insbesondere in der „Jungen inkonsistent. Manchmal lohnt es sich aber auch, Freiheit“, habe eigentlich nicht stattge- Den größten Platz innerhalb der Schrift sich durch einen fast unlesbaren Text funden. Das mag so stimmen, lässt ei- nimmt eine ausführliche Textanalyse zu kämpfen. Nicht so in diesem Fall. nen aber auch ein wenig ratlos zurück. der in der „Jungen Freiheit“ abgedruck- Das beginnt schon bei der Definiti- Die Feststellung verbindet sich mit dem ten Artikel ein, die mit Quellen der „kon- on der Begriffe; ihr klarer Gebrauch Anspruch, mit dem vorliegenden Text ei- servativen Revolution“ abgeglichen wer- ist Voraussetzung für jeden gelingen- nen Beitrag sowohl zur Konservatismus- den. Die hier zusammengetragenen den wissenschaftlichen Diskurs. Die als auch zur Rechtsextremismusfor- Zitate belegen die ideologische Kontinu- hier wesentlichen – „konservative Re- schung zu leisten. Dies wird am Schluss ität und geben für eine weitergehende volution“ und „Rechtsextremismus“ – der Arbeit diskutiert. Bezogen auf den Beschäftigung wertvolle Hinweise. Hier sind weitgehend von Armin Pfahl-Trau- Konservatismus geht es um die Frage müssen allerdings Einschränkungen ge- gber übernommen. Dessen Verengung nach der „Kontinuität des Konservatis- macht werden. der „konservativen Revolution“ auf die mus“. An keiner Stelle findet sich aber Erstens: Über die Systematik der Un- „Jungkonservativen“ lehnt der Autor mit ein Hinweis, warum die „konservative tersuchung und Darstellung kann man Hinweis auf Armin Mohler zwar ab, je- Revolution“ überhaupt als pars pro to- sicherlich geteilter Meinung sein; sie doch ohne zu erwähnen, dass Mohler to des Konservatismus genommen wer- erlaubt keine zeitliche Einordnung der selbst dem Kreis der „konservativen Re- den kann, eine im Übrigen auch höchst jeweiligen Zitate, ob es jeweils eine Ent- volution“ zuzurechnen ist und daher ein zweifelhafte These. Bezogen auf den wicklung von Positionen gegeben hat, politisches Interesse daran hat, sie als Rechtsextremismus geht es um die Fra- lässt sich nur schwer ablesen.

62 Zweitens: Als wichtiges Sprachrohr der Ideen durch die „Junge Freiheit“ allein stand gewesen, um ein Beispiel für sol- „konservativen Revolution“ vermisst unter der Fragestellung behandelt wird, che Anknüpfungspunkte ins vermeint- man hier die Zeitschrift „Die Tat“ (le- in wie weit „das ideologische Erbe der lich demokratische rechte Spektrum zu diglich Hans Zehrer wird vereinzelt zi- ‚konservativen Revolution‘ in einem de- gewinnen. Zentral ist ein solch diskurs- tiert). Gerade im Vergleich der beiden mokratischen Sinn“ umgestaltet wird. theoretischer Zugriff vor allem deshalb, Zeitschriften hätte sich untersuchen Ein diskurstheoretischer Zugriff fehlt weil nur so etwas über die eigentliche lassen, wie aktuelle politische Entwick- so völlig. Er hätte zum Gegenstand, wie Bedeutung der „konservativen Revoluti- lungen jeweils bewertet wurden bzw. die „Junge Freiheit“ versucht, im Kern on“ wie der „Neuen Rechten“ als politi- werden. Damit wäre ein Vergleich ein- völkische Ideen in die Mitte der Gesell- scher Strömungen, die vor allem durch facher und für die Leser leichter nach- schaft zu tragen, etwa mit dem Bild ei- den Bezug auf vor-politische (oder „me- vollziehbar gewesen, als mit der eklek- nes Westeuropa zwischen „Djihad“ und ta-politische“) Einstellungen versu- tischen Aneinanderreihung von Zitaten, „McWorld“ oder dem Ruf nach einem chen, wirksam zu werden. Das Bündnis die genauso gut zufällig zu einander wachsenden „deutschen Selbstbe- mit den Konservativen wird dabei über passen können. wusstsein“. Die sowohl in der „konser- die Kritik an der zensorischen „political Auffällig an der gesamten Arbeit ist das vativen Revolution“ historisch als auch correctness“ der 68er-Linke geschlos- Fehlen eines jeden diskursanalytischen in der „Jungen Freiheit“ aktuell kon- sen, dem angeblich so übermächtigen Ansatzes. Dadurch ist auch zu erklä- statierte „Schwäche“ des deutschen Gegner. ren, dass die begriffliche Verschleie- Volkes und sein drohender Untergang rung völkischer, anti-demokratischer wären ein idealer Untersuchungsgegen- Dirk Burczyk M. A.

63 AUTORENVERZEICHNIS

Dr. sc. phil. Roland Bach, Politikwis- Prof. Dr. phil. habil. Karl-Heinz Gräfe, Dr. phil. Martin Seckendorf, Historiker, senschaftler, veröffentlicht zu aktuel- Historiker, spezialisiert sich in seinen Veröffentlichungen u. a. zum Mitteleuro- len Problemen des Rechtsextremismus Forschungen auf die Geschichte und päischen Wirtschaftstag, zur NS-Außen- und Rechtspopulismus, unter besonde- aktuellen Probleme Mittel- und Osteu- politik und zur Geschichte des Zweiten rer Berücksichtigung der NPD, und ana- ropas, besonders Polens, sowie auf die Weltkrieges, unter besonderer Berück- lysiert die Wahlergebnisse rechtsextre- internationale kommunistische Bewe- sichtigung der faschistischen Okkupa- mer Parteien. gung. tionspolitik.

Prof. Dr. sc. phil. Lothar Bisky, Kultur- Dr. phil. André Hahn, Vorsitzender der René Senenko, Dipl. soz., Verleger, ak- und Medienwissenschaftler, Bundesvor- Fraktion DIE LINKE im Sächsischen tiv in der Willi-Bredel-Gesellschaft e. V. sitzender der Partei DIE LINKE. Landtag, Mitglied des Kreistages der in Hamburg. Sächsischen Schweiz. Prof. Dr. phil. Klaus Böttcher, Politik- Dr. phil. Daniel Siemens, Historiker. wissenschaftler, befasst sich mit ak- Dr. phil. Horst Helas, Historiker, Publi- tuellen Fragestellungen des Rechtsex- kationen vor allem zur jüdischen Ge- Dr. phil. Günter Wehner, Historiker, Pu- tremismus. Seit 1990 initiativ an der schichte, zum Antisemitismus sowie zur blikationen zum antifaschistischen Wi- Erarbeitung antifaschistischer Strategi- KPD/KI. Wissenschaftlicher Mitarbeiter derstand und zur Geschichte der Arbei- en der PDS/Linkspartei beteiligt. der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Bereich terbewegung, Mitautor des 12bändigen Politische Bildung). biographischen Handbuchs zum antifa- Dr. phil. Nick Brauns, Journalist und schistischen Widerstand, ehemals Mit- Historiker, Publikationen zur Geschichte Heide Kramer, VVN Celle/Niedersach- arbeiter des Museums für Deutsche Ge- der „Roten Hilfe“, zur politischen Lage sen. schichte. im Nahen und Mittleren Osten und zu aktuellen Entwicklungen im Rechtsext- Prof. Dr. sc. phil. Helmut Meier, Histo- Dr. phil. Gerd Wiegel, Politikwissen- remismus. riker, beschäftigt sich u. a. mit Fragen schaftler, wissenschaftlicher Mitarbei- des „Geschichtsbewusstseins“, der Ge- ter der Bundestagsfraktion der LINKEN, Dirk Burczyk M. A., wissenschaftlicher schichte der DDR und der Biographie Autor von Beiträgen zur „Grauzone“ zwi- Mitarbeiter der Bundestagsabgeordne- von Constantin Frantz. schen Konservatismus und Rechtsex- ten Ulla Jelpke, publiziert zu Problemen tremismus sowie zu Fragen aktueller der „Konservativen Revolution“ und der Petra Pau, Vizepräsidentin des Deut- „Geschichtspolitik“. „Bündischen Jugend“ in der Weimarer schen Bundestages seit 2005, Mitglied Republik sowie zu aktuellen Entwicklun- des Innenausschusses, 2000–2002 Dr. phil. Reiner Zilkenat M. A., Histori- gen im Rechtsextremismus. stellv. Bundesvorsitzende der PDS. ker, unterrichtet Wirtschafts- und Sozi- alkunde an einer Berufsfachschule, Re- Dr. phil. Cornelia Domaschke, Politik- Oliver Reschke M. A., Doktorand der dakteur des „Rundbriefs“. wissenschaftlerin, Veröffentlichungen Geschichte an der FU Berlin, Publika- zur politischen Entwicklung auf dem tionen zur Geschichte der NSDAP und Balkan, wissenschaftliche Mitarbeiterin SA in Berlin, Mitautor des 12bändigen der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Bereich biographischen Handbuchs zum antifa- Politische Bildung). schistischen Widerstand.

64 Rundbrief ISSN 1864-3833 Der Rundbrief erscheint bei Bedarf, in der Regel Gegenstand der Rundbriefe sind Analysen, Erfah- einmal je Quartal, und wird herausgegeben von rungen, Nachrichten, Rezensionen und Untersu- der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim chungen zum Thema Rechtsextremismus und Bundesvorstand der Partei DIE LINKE. rechter Zeitgeist. Damit soll die antifaschistische V.i.S.d.P. Dr. Reiner Zilkenat Arbeit demokratischer Organisationen und inter- essierter Personen unterstützt werden. Der Rund- Adresse: Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin brief ist über die AG zu beziehen. Telefon: 030 24009-447 Zuschriften und Beiträge sind willkommen. Telefax: 030 24009-215 Layout und Satz: MediaService GmbH E-Mail: [email protected] BärenDruck und Werbung