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DAS UNHEIMLICHE IM ERZÄHLEN

EINE STRUKTURANALYSE DES ZUSAMMENHANGS ZWISCHEN ERZÄHLEN UND ERZÄHLTEM IN RAINER MARIA RILKES DIE AUFZEICHNUNGEN DES MALTE LAURIDS BRIGGE

Aantal woorden: 27060

Bruce Defoor Studentennummer: 01400253

Promotor: Prof. dr. Benjamin Biebuyck

Masterproef voorgelegd tot het behalen van de graad master in de Taal- en Letterkunde Duits - Engels

Academiejaar: 2018 – 2019

Vorwort

An erster Stelle danke ich meiner Mutter Ann, die mich erzogen hat.

Meiner Oma danke ich für das Waschen meiner Hemden und für das herrliche Essen, das sie mir bereitet. Ihrem Mann Jan bin ich dankbar, weil er immer dabei ist, es aufzuessen.

Meine Freundin Louise hat mir geholfen, wenn ich darum bat, eine seltsame Qualität. Sie hat mir zwei Kaninchen gebärt, das eine mutig-nonchalant und fett, das andere ängstlich aber von adligem Blute. Nini, unser erstes Kaninchen, der Nonchalante, frisst wie ein dekadenter Pariser Bourgeois und achtet auf nichts. Geld und das okkasionelle Kabarett sind seine Interessen. Die Tagen, an denen er im Vormittag völlig betrunken ist, sind gottseidank seltsam, aber wenn das der Fall ist, ruft er „Schnurzpiepegal!“ und rennt von der einen Mauer zur anderen, den gottganzen Tag. Zum Glück seltsam.

Nachts ist er ein anderes Geschöpf. Dann liegt er wie ein türkischer Pascha auf dem Sofa ausgestreckt und flüstert Langvergessenes und Geheimes vor sich hin. Seine Augenwimper sind lang.

Thérèse, dagegen, ist russischer Herkunft, eine junge Aristokratin. Thérèse schläft schlecht. Sie hat Angst vor den Kommunisten, die ihren Familienschmuck rauben wollen. Nini erwähnt sie im Flüstern.

Obwohl die beiden, wie gesagt, Geschwister sind, vermuten Louise und ich, dass es eine inzestuöse Beziehung gibt, die allerdings erst im Dunkel der Nacht manifest wird. (Weil wir alle nette Menschen sind, wird dies alles selbstverständlich totgeschwiegen.)

Ich danke dem Betreuer der Arbeit, Professor Benjamin Biebuyck, für seine passgenaue Betreuung und für seinen höchstqualitativen Unterricht, den ich vier Jahre genießen durfte. Es wäre nicht übertrieben, hinzuzufügen, dass er einer der besten Lehrer ist, dem ich je begegnet habe.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Einführung: die Sprachkrise in der Moderne ...... 1

1 Die Forschungsfrage ...... 5

1.1 Einschränkung der Forschungsfrage ...... 11

2 Sinn eines neuen Paradigmas: eine Refutation ...... 14

2.1 Die These vom Identitätsverlust ...... 14

2.2 Metareflexion: Probleme des Romanparadigmas und der These vom Identitätsverlust ... 17

2.2.1 Das Problem mit der Prämisse ...... 18

2.2.2 Das Problem mit der Schlussfolgerung...... 26

3 Über die angemessene Methodologie: Wie können die Aufzeichnungen gelesen werden? .... 32

3.1 Das Erzählte wahrnehmen ...... 34

3.1.1 Die anti-positivistische Moderne ...... 40

3.2 Das Erzählen wahrnehmen ...... 45

4 Analyse: Erzählen und Erzähltes ...... 51

4.1 Die Psychoanalyse und das Unheimliche des Textes ...... 51

4.2 Labov und Waletzky: ein analytischer Rahmen für Erzählen über persönliche Erfahrung ...... 56

4.3 Die Erzählstruktur des Unheimlichen ...... 57

4.3.1 Eine schlanke, hellgekleidete Dame ...... 58

4.3.2 Mamans Geschichte ...... 61

4.3.3 Von der Hand ...... 64

4.3.4 Der Spiegel ...... 68

5 Anekdotisches Erzählen ...... 72

Schlussfolgerung ...... 76

Bibliographie ...... 80

Bibliographie der Abbildungen...... 86

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Martins Erzählstrukturen ...... 73

Einführung: die Sprachkrise in der Moderne

„Mit keinem anderen Werk gelang R. der Durchbruch zur literarischen Moderne überzeugender als mit seinem einzigen Roman, den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“1, ist der erste Satz des Aufsatzes über Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) im Rilke- Handbuch. Im Aufsatz werden die älteren und neueren Forschungsansätze systematisch wiedergegeben, widersprüchliche Thesen werden verglichen, und die Thesen, die die Forschungsgemeinschaft für konsensvertretend, für exemplarisch hält, werden betont. Der Satz enthält zwei grundlegende Propositionen über Die Aufzeichnungen, dass sie ein Roman sind und dass sie modern sind. Dadurch ist dieser konsensvertretende Satz einerseits exemplarisch für die gängige Verneinung des Textes in der Sekundärliteratur, andererseits ein Andeuten, das der Aufklärung bedarf, und so zu einem tieferen Textverständnis führen wird. Die Grundannahme der vorliegenden Arbeit ist: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sind ‚modern‘. Warum sind Die Aufzeichnungen ‚modern‘? Die Frage nach ihrer Modernität ist innig mit der Eigenständigkeit ihrer Form verknüpft. Eigenständigkeit heißt hier, dass die Form nicht als Leerstelle betrachtet wird, sondern als konkrete Form, mit einem eigenständigen Strukturprinzip, das nicht das des Romans ist. Die moderne Erzählung lässt sich durch die Selbstreferentialität ihrer Sprache von dem klassischen Strukturprinzip eines Romans unterscheiden. In der vorliegenden Arbeit wird ein neues Paradigma eingeführt, das es ermöglichen wird, die Aufzeichnungen so zu interpretieren, wie sie uns wirklich erschienen sind, „in jene[r] einsame[n] Souveränität […], aus der sie in ihrem abrupten Sein erst als zur Literatur gewordene[n] wieder erscheinen.“2 Mit diesen Worten umschreibt Michel Foucault die Selbstreferentialität der Sprache, Phänomen der Sprachkrise in der Moderne. „Aufgrund seiner innovativen Erzähltechnik gilt dieser zu Recht als der erste genuin moderne Roman in deutscher Sprache“3, ist der zweite Satz des vorher genannten Aufsatzes im Rilke-Handbuch. Wenn die Modernität in der Form räsoniert, sollen Die Aufzeichnungen im reinen

1 Dorothea Lauterbach: „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.“ In: Rilke-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2004, S. 318. 2 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. Fischer 1971, S. 81. 3 Lauterbach: „Die Aufzeichnungen“, S. 318.

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Lichte ihres formalen Wesens gelesen werden, statt dass ihr Inhalt von der Form getrennt wird, um dann das Erste als Bestandteile einer wiederherzustellenden Romanerzählung zu behandeln, denn die Romanstrukturerwartungen, die man auf den Text projiziert, sind mit der Selbstreferentialität der Sprache unversöhnlich – sie verneinen das „abrupt[e] Sein“4 des Textes. Im Rilke-Handbuch wird das Erzählen „innovativ“ genannt und damit wird gemeint, dass Rilke einen Roman geschrieben hat, ohne den äußerlichen Anschein desselben. Die „einsame Souveränität“5 der Sprache, ihre Selbstreferentialität, ist ein „Problem“6 der Moderne, das „dem linguistic turn zugeschrieben wird.“7 In der vorliegenden Arbeit werden Die Aufzeichnungen in dieser Tradition der Philosophie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gesehen. Die Aufzeichnungen sind eine Antwort auf die Sprachskepsis der „Sprachkrise“.8 Ob die Wirklichkeit objektiv erkennbar und mit Hilfe von sprachlichen und literarischen Mitteln darstellbar sei, ist die Hauptfrage der Sprachskepsis. Was implizieren die Fragen der Sprachskeptiker? Wenn die Sprache die Welt nicht mehr objektiv darstellen könnte, kann man dann noch Romane schreiben? Die Implikatur ist nein, weil eine objektive, das heißt eine mitteilbare Welt die Voraussetzung der Handlung ist. Auch Romane mit personalem Erzähler setzen ein Handeln voraus – im Roman wird nicht an erster Stelle von Figuren berichtet! Der Kern des Romans ist Handlung. Der Roman stellt handelnde Figuren dar, Aktanten. Wenn die Handlung der Kern des Romans ist, was ist dann dessen implizite Prämisse? – eine objektive Sphäre, ein Handlungsraum außerhalb dem des Subjekts – was die Narratologen ‚diegesis‘ nennen! Diese Prämisse kennt keine Resonanz in den Aufzeichnungen. „Malte [ist] nichts an einer, im landläufigen Sinne ‚wirklichkeitsgetreuen‘, realistisch-mimetischen Wiedergabe gelegen […], sondern an der Herausstellung dessen, was ihm am Erlebten, Gesehenen, Gelesenen bedeutsam ist, eben seine ganz individuelle Wahrnehmung und Weltdeutung“9. Die Handlung ist in den Aufzeichungen zu einer völlig Subjektiven geworden. Epistemologische Prozesse und deren

4 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 81. 5 Ibidem. 6 Stefan Börnchen: “Literatur der Moderne”. In: Handbuch Literatur & Psychoanalyse. Hg. von Frauke Berndt; Eckart Goebel. : Walter De Gruyter 2017, S. 554. 7 Ibidem. 8 Ibidem, S. 555. 9 Lauterbach: „Die Aufzeichnungen“, S. 339.

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Dynamik rücken in den Vordergrund – könnte man demzufolge behaupten, dass noch von einem Passieren, vom einem Geschehen im klassischen Sinne berichtet wird?

Ich lerne Sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist mir aufgefallen, daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.10

„Damit ist ein Zweck seines Tagebuchs bereits offensichtlich“11, schreibt Renate Kellner über die Aufzeichnungen, die sie wegen der paratextuellen Markierungen als Sonderform des Tagebuchromans charakterisiert. „Es dient [Malte] als Mittel, das neue Sehenlernen zu dokumentieren und ist Ersatz eines Briefes, da Malte nur noch für sich selbst schreiben zu können meint.“12 Sogar die Addressatenrollen eines klassischen personalen Erzählers werden ostentativ verneint. Um den Grund, dass sowohl das Geschehen als die Form explizit in den Bereich des Subjektiven gerückt werden, positioniert Malte sich als sprechende Instanz in der philosophischen Tradition der Sprachskeptiker. Die Aufzeichnungen werden in der vorliegenden Arbeit in diesem philosophischen Rahmen gelesen – ihre Form ist eine Antwort auf die Sprachkrise, die „[d]ie Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts“13 ausdrücken durch ihren „Zweifel an der Sprache“, ein modernes „Problem à la longue durée“, das heißt, ein Problem, das nicht nur bei den Modernen der Jahrhundertwende festzustellen ist, sondern ein Problem, dessen Behandlung ein Zeichen der Modernität überhaupt ist, wie Michel Foucault es in seinem Werk Les mots et les choses begreift. Das Vorliegende ist eine diskursive Analyse der Aufzeichnungen, weil erst durch diese Linse die Eigenständigkeit des Nicht- Romans aus dem blinden Fleck der Narratologie herausgeholt wird. Worin besteht dann die

10 : Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Berlin: Verlag der Contumax 2016, S. 4 [im Folgenden: AMLB]. 11 Renate Kellner: Der Tagebuchroman als literarische Gattung. Thematologische, poetologische und narratologische Aspekte. Berlin: Walter De Gruyter 2015, S 112. 12 Ibidem. 13 Börnchen: „Literatur der Moderne“, S. 554.

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diskursive Annäherung an den Aufzeichnungen? Diese Frage fordert die Entwicklung einer neuen Methodologie. Warum sollten Die Aufzeichnungen im Rahmen der Sprachskepsis gelesen werden? Weil sie die diegetische Ebene der Handlung verlassen. Die Antwort auf diese Frage betrifft also die Form der Aufzeichnungen, die Struktur der Erzählung. Die Dynamik dieser Form besteht darin, dass subjektive Prozesse erzählbar gemacht werden, und das durch die einem Tagebuch ähnliche Form der Aufzeichnungen. Die These der vorliegenden Arbeit ist, dass die dargestellten subjektiven Prozesse eine Struktur aufweisen.

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1 Die Forschungsfrage

Die vorliegende Forschung muss also in der Forschungstradition verstanden werden, in den Aufzeichnungen ein Strukturprinzip aufzuweisen. Wenn man die Proposition, dass Die Aufzeichnungen „[Rilkes] einzige[r] Roman“14 seien, überdenkt, begegnet man einer Frage, die in jener oder anderer Form schon seit dem Erscheinen der Aufzeichnungen gestellt wird: Was ist die Form der Aufzeichnungen? Weisen sie überhaupt ein Strukturprinzip auf? Sind Die Aufzeichnungen ein Malte-Roman? „Immer wieder tauchte in der Forschung die Behauptung auf, daß dem Malte- Roman eine innere Einheit fehle“15, schreibt Walter Seifert, der in seiner Arbeit über Die Aufzeichnungen mit einer Übersicht über die Strukturanalysen seiner Vorgänger anfängt. Fritz Martini zufolge fehlen in den Aufzeichnungen alle Bedingungen des realistischen Romans:

Die Geschlossenheit, Logik und Kausalität der Handlung, die vorwärtstreibende Energie und Klarheit der Linienführung zu einem sich entwickelnden festen Ziel hin, die Einfügung eines persönlichen Weltblicks in die Objektivität der breit andrängenden Weltfülle, die epische Aufnahme der dinglichen Lebensbreite, die Rückbindung des Geschehens an genau bestimmte Ordnungen von Raum und Zeit.16

Statt der konventionellen Form des realistischen Romans sind die Aufzeichnungen:

[L]ockere Komposition, welche in den ‚Aufzeichnungen‘ Fragmente, Skizzen, Reflektionen, Beobachtungen, Erinnerungen, Episoden, Begegnungen ohne Rücksicht auf eine kausal zusammenhängende thematische Motivierung, auf ihre genaue zeitliche Abfolge, ihre räumliche oder lebensgeschichtliche Zusammengehörigkeit aufreiht, ohne eine episch vorwärtsdrängende Spannung zu einem zielgebenden Resultat hin, gleichsam ohne rechten Beginn und ohne rechtes Ende.17

Seifert unterscheidet in der Sekundärliteratur zwei entgegengesetzte Tendenzen: einerseits diejenige Analysen, die in den Aufzeichnungen eine „Formlosigkeit“18 wahrnehmen, wie Heinz Risse, laut dem Die Aufzeichnungen „ähnlich wie bei Joyce, jedenfalls mit dem Wort ‚Roman‘ nicht

14 Lauterbach: „Die Aufzeichnungen“, S. 318. 15 Walter Seifert: Das Epische Werk Rainer Maria Rilkes. Bonn: H. Bouvier u. Co. 1969, S. 196. 16 Fritz Martini: Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn. Stuttgart: Klett- Cotta 1954, S. 139. 17 Ibidem. 18 Heinz Risse: „Zum Wiederlesen empfolen: Rilke, Malte Laurids Brigge“. In: Neue literarische Welt 3.21 (1952), S. 4.

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mehr zu bezeichnen“19 sind, und diejenige, die dem Text ein Strukturgesetz nachweisen glauben zu können. Seifert situiert sich selber in der letzten Kategorie. Seifert hat mit seinem Werk Das epische Werk Rainer Maria Rilkes den bisher ausführlichsten Versuch gemacht, ein Strukturprinzip auf Die Aufzeichnungen zu projizieren. Die vorliegende Arbeit soll im Rahmen dieser Tradition gelesen werden, obwohl hier in einem wesentlich unterschiedlichen Paradigma gedacht werden wird. Die Aufzeichnungen sind kein Text der „Regellosigkeit […] oberhalb der Unordnung“20, oder „das Werk einer gefährlichen Lücke, von einem großen geistigen Reichtum und von einer sehr schwachen Form“21, dass „[i]n dieser Dunkelheit und Verlorenheit […] zu den negativsten Büchern der Weltliteratur [gehört]“ – Nein, Die Aufzeichnungen weisen eine klare Form auf – Nein, nicht die des Romans, wie Seifert argumentiert – Nein, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sind dasjenige, womit sie im Titel bestimmt werden: Aufzeichnungen. Die Analysen, die Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge als Malte-Roman lesen, beruhen auf fundamental anderen Prämissen als die vorliegende Arbeit. Bereits Ulrich Fülleborn, der in der Seifert’schen Deutungstradition ein Strukturprinzip in den Aufzeichnungen aufzuweisen versucht, erkennt die Beschränkungen des Romanparadigmas:

Hier hat sich einer der großen deutschen Buchlyriker des 20. Jahrhunderts an ein umfangreiches Prosawerk gewagt, und das Ergebnis ist eine innere Form, die, im Gegensatz zu der des modernen Romans, zunächst nicht mit negativen, auf die herkömmliche Romanform bezogenen Kategorien erfasst werden darf.22

Das Problem mit den Prämissen des Romanparadigmas wird im Kapitel über den Sinn eines neuen Paradigmas erörtert. Die Sekundärliteratur, die von einem „Malte-Roman“23 handelt, hat das Wesen des Werkes vernachlässigt. Die Dissonanz zwischen dem Titel des Werkes und seiner Umbenennung in der Sekundärliteratur ist eine Anregung zur Infragestellung der Form. Was sind die Kennzeichen der literarischen Aufzeichnung? Wie, das heißt, aus welcher methodologischen

19 Ibidem. 20 Adolf von Grolman: „Die Aufzeichnungen des M.L. Brigge“. In: Grolman, Europäische Dichterprofile. Hg. von Adolf Grolman. Düsseldorf: Bastion-Verlag 1948, S. 47. 21 Johannes Klein: „Die Struktur an Rilkes Malte“. In: Wirkendes Wort 2 (1952), S. 93. 22 Ulrich Fülleborn: „Form und Sinn der „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Rilkes Prosabuch und der moderne Roman.“ In: Materialien zu Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Hrsg. von Hartmut Engelhardt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 182. 23 Walter Seifert: Das Epische Werk Rainer Maria Rilkes, S. 196.

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Position, kann man sie wahrnehmen und beschreiben? Auf diese Fragen wird im methodologischen Kapitel geantwortet. Neben der Anerkennung, dass Walter Seifert in seiner Arbeit an die Prämissen des Romanparadigmas gebunden ist, sollte man einsehen, dass die vorliegende Arbeit einige dieser Prämissen teilt. Vor allem die Prämisse, dass Form und Inhalt des Textes miteinander verknüpft sind, in einem komplementären Zusammenhang stehen. Man kann die Aufzeichnungen nicht als solche begreifen, wenn man ihre Form vom Inhalt trennt. Seifert schreibt, dass „epischer Wille zur Totalität und Formzertrümmerung […] also aufeinander bezogen [sind], und sie bewirken mit innerer Notwendigkeit die besondere Form dieses Romans.“24 Wie erzählt wird, wird wesentlich durch das Worüber, durch den Inhalt, durch das Erzählte der Erzählung bestimmt. Im Einklang mit Fritz Martini sieht Seifert die Verknüpfung von Form und Inhalt als eindeutige Subjekt-Objekt- Beziehung, denn die

Strukturbestimmung des Malte-Romans muß davon ausgehen, daß Malte einem Übergewicht an objektiver Realität ausgeliefert ist und daß sein Inneres ins Bodenlose durchbricht, so daß er in sich keine rettende Substanz finden kann.25

Das Subjekt Malte, mit einem „epische[n] Wille[n] zur Totalität“, überwindet dann ein Objekt, die „Formzertrümmerung“, die durch „äußere Entfremdung“26 zustande gekommen ist. Das Erzählte ist also eine Überwindung der Erzählung, die Begründung eines latenten Strukturprinzips in einer negativen Umwelt.27 Was ist laut Seifert das latente Strukturprinzip? – das „Gesetz seines Selbst“.28 Da der primäre Gegenstand der diskursiven Analyse das Wie der Erzählung, also die Form, ist, muss die Frage nach dem Erzählten, dem Was, hier erneut gestellt werden, damit der Forschungsgegenstand näher bestimmt werden kann. Die Beziehung von Form und Inhalt ist nicht eindeutig; die Form ermöglicht den Inhalt, und dieser wiederum bestimmt die Form. Wie und Was sind innig und wechselseitig verbunden. Auf den wechselseitigen Bezug zwischen Form und Inhalt und auf die Frage, wieso dieser Bezug denn wechselseitig ist, und nicht, wie Seifert ihn auffasst, eindeutig, wird in der Analyse der vorliegenden Arbeit weiter eingegangen. Seiferts These basiert

24 Seifert: Das epische Werk, S. 201. 25 Ibidem, S. 205. 26 Ibidem. 27 Ibidem. 28 Ibidem.

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auf der Erfahrung der „Entfremdung“ basiert, einer häufig thematisierten „Denkform“29 des Expressionismus. Thomas Anz schreibt über den Begriff ‚Entfremdung‘, dass er „freilich in der Geschichte seines Gebrauchs eine Vieldeutigkeit bekommen [hat], die vor ihm zurückschrecken lassen müßte“, und sieht sich wegen der „Vieldeutigkeit“ dazu gefordert, die Bedeutung auf existentiale Erfahrungsbedingungen zu beschränken:

Heimat steht in semantischem Kontrast zu Fremde. Außerhalb der Heimat ist einem die Umwelt nicht mehr vertraut, sie ist einem fremd. In Bereichen, mit denen man nicht vertraut ist, die einem also fremd oder sogar unheimlich sind, fühlt man sich unsicher, orientierungslos, verloren, ohne Halt. Was einem fremd ist, versteht man nicht; es erscheint chaotisch und sinnlos.30

Anz sieht das Unheimliche als fortgeschrittenes Stadium der Entfremdung – „fremd oder sogar unheimlich“.31 Hier liegt der Crux. Rilke thematisiert in den Aufzeichnungen das Fremde, weil es zum Unheimlichen gehört. Wie unten untersucht werden soll, ist das Unheimliche nicht eine Übertreibung des Fremden; vielmehr kann das Fremde auf das Unheimliche zurückgeführt werden. Die Grunderfahrung an der Basis der Aufzeichnungen ist nicht das Fremde der Großstädte, sie ist das „Große“, das „Unsagbare“, das Unheimliche. Erst einem Fremden – durch die Dimension seines Fremdenblickes – gelingt der Zugang zur Unheimlichkeitserfahrung. Seifert hat das Entfremdete im Text nicht hinterfragt. Was ist also das Erzählte in der Erzählung? Es ist das Unsagbare des Unheimlichen, nicht die Entfremdung als solche, sondern die Entfremdung, die auf das Unheimliche zurückgeführt werden kann. Dieses Erzählte bestimmt die Form.

Ich saß ganz tief im Sessel, die Zähne schlugen mir aufeinander, und ich hatte so wenig Blut im Gesicht, daß mir schien, es wäre kein Blau mehr in meinen Augen. Mademoiselle –, wollte ich sagen und konnte es nicht, aber da erschrak sie von selbst, sie warf ihr Buch hin und kniete sich neben den Sessel und rief meinen Namen; ich glaube, daß sie mich rüttelte. Aber ich war ganz bei Bewußtsein. Ich schluckte ein paarmal; denn nun wollte ich es erzählen. Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht auszudrücken, so daß es einer begriff. Gab es Worte für dieses Ereignis, so war ich zu klein, welche zu finden. Und plötzlich ergriff mich die Angst, sie könnten doch, über mein Alter hinaus, auf einmal da sein, diese Worte, und es schien mir fürchterlicher als alles, sie dann sagen zu müssen. Das Wirkliche da unten noch einmal durchzumachen, anders,

29Thomas Anz: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart: Metzler, 1977. S. 61. 30Anz: Literatur der Existenz, S. 60. 31Ibidem.

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abgewandelt, von Anfang an; zu hören, wie ich es zugebe, dazu hatte ich keine Kraft mehr.32

Welche Implikationen hat das erfahrene Unheimliche? Malte will es „sagen und konnte es nicht“, denn es „war nicht auszudrücken, so daß es einer begriff.“ Es bringt Malte „ganz bei Bewußtsein.“ Zwischen der subjektiven Intensität der Unheimlichkeitserfahrung und deren Unsagbarkeit, deren radikalen Individualität, entsteht eine Dissonanz. Einhergehend mit der Feststellung der Dissonanz soll eine zweite Beobachtung über das Zitat gemacht werden: das Fürchterliche der Unheimlichkeit. Das Unheimliche ist ein „Bewußtsein“, vor dem man sich fürchtet. Das Bewusste, das „nicht auszudrücken“ ist, ist das Unverständliche im Unheimlichen. Wie kann ein Subjekt seine Welt verstehen, wenn das Unheimliche unverständlich ist? Das Verstehen heißt hier nicht das in Gesetzen Zusammenfassende, sondern das Konstruieren eines übergreifenden Strukturprinzips, dessen Funktion es ist, das Leben erfahrbar zu machen, nicht, wie in einem positivistischen Sinne, es vorherzusagen, es zu bestimmen – das Verstehen ist die Eröffnung einer neuen Welterfahrung, einer anti-rationalistischen Epistemologie. Käte Hamburger hat den einflussreichsten Forschungsbeitrag33 über die Beziehung zwischen Edmund Husserls Phänomenologie und Rilkes Lyrik gemacht. Hamburger argumentiert, dass Rilkes Lyrik in Bezug zu der phänomenologischen epistemologischen Linse analysiert werden sollte. Die Motivierung hinter diesem Forschungsansatz seien, laut Hamburger, die „zeitgeschichtliche[n] Parallele“34 zwischen Husserl und Rilke. Lauren Shizuko Stone hat unlängst noch Hamburgers Gedankengang weitergedacht in seinem Versuch, die Husserl’sche Phänomenologie spezifisch mit den Aufzeichnungen in Verbindung zu bringen.35 ‚Sehen‘ wird in den Aufzeichnungen zum irrationellen epistemologischen Verfahren.

In the scenes of Malte’s childhood, Rilke vividly depicts mental acts relating to things in space, or what Husserl calls „transcendent objects“ (Ideen §41-44). By reconsidering Malte’s obsession with „sehenlernen“ along the lines of Hussel’s notion of intentionality, it is possible to demonstrate how learning prodives for a rejection of the rational apparatuses one develops after childhood. For Rilke, seeing now becomes a poetic procedure, demanding a peculiar attitude of consciousness of (or attention to) seeing as if

32 Rilke: AMLB, S. 56. 33 Käte Hamburger: Philosophie der Dichter Schiller Rilke. Stuttgart: Kohlhammer 1966. 34 Ibidem, S. 179. 35 Lauren Shizuko Stone: “Rilke’s ‘Kinderstube’: Phenomenology in Childhood Spaces.” In: The German Quarterly 90.4 (2017), S. 476 – 491.

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unburdened. The poet, like Husserl’s philosopher, must learn to see – or, in other words, adopt the attitude of a child.36

Das Begreifen der Bedeutungen, die man nicht versteht, ist Maltes Sehen, sein irrationelles poetisches Verfahren („poetic procedure“37): „Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.“38 Was geschieht in diesem Inneren, in das „alles tiefer in [ihn] ein[geht]“39? Die Welt wird begreiflich gemacht. Die Erfahrungen des Unheimlichen haben dazu Anlass gegeben, dass das Subjekt Malte mit dem blinden Fleck des Verstehens konfrontiert wird. Es hat seinen epistemologischen Griff über die Welt verloren und die Lösung für dieses Problem hat die Menschheit schon gefunden. Die Aufzeichnungen sind eine Rückkehr zu dieser ursprünglichen Lösung: Man fühlt sich in der Welt zuhause, weil man sie in Erzählungen begreift. Die radikale Unverständlichkeit und daher Unsagbarkeit wird letztendlich mit einem Mythos überwunden, in diesem Fall, dem Mythos des verlorenen Sohnes, die sich im letzteren Teil der Aufzeichnungen manifestiert. Die neue epistemologische Brücke zwischen Subjekt und Objekt, die Mythologisierung der Welt, ist die Wiederbegegnung mit dem Göttlichen, dem Wahren, das die Sprachskeptiker verloren glaubten. Die unheimliche Erfahrung ist Malte eine Offenbarung:

Junger Mensch irgendwo, in dem etwas aufsteigt, was ihn erschauern macht, nütz es, daß dich keiner kennt. Und wenn sie dir widersprechen, die dich für nichts nehmen, und wenn sie dich ganz aufgeben, die, mit denen du umgehst, und wenn sie dich ausrotten wollen, um deiner lieben Gedanken willen, was ist diese deutliche Gefahr, die dich zusammenhält in dir, gegen die listige Feindschaft später des Ruhms, die dich unschädlich macht, indem sie dich ausstreut.40

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist das Hinterfragen der Funktion der Form und deren Zusammenhang mit dem Erzählten der Erzählung – dem Irrationellen. Wie bestimmt das Thema des Irrationellen die Form der Aufzeichnungen? Welche narrative Dynamik zeigt die Darstellung des Irrationellen auf? Oben wurde schon die Unheimlichkeitserfahrung erwähnt, aber hier soll zuerst die Frage geklärt werden, ob der psychoanalytische Begriff ‚das Unheimliche‘ überhaupt ein Symptom des Irrationellen genannt werden kann. Und was sind die narrativen Implikationen des

36 Ibidem, S. 480 – 481. 37 Ibidem, S. 480. 38 Rilke: AMLB, S. 4. 39 Ibidem, S. 4. 40 Ibidem, S. 48.

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Irrationellen? Es ist dieses latente Strukturprinzip, das die vorliegende Arbeit aufklären will. Der Zusammenhang von Erzählen und Erzähltem muss aufgeklärt werden, und dies aus einer radikal textinhärenten Position, die die formale Eigenständigkeit der Aufzeichnungen beachtet. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist demzufolge zweifach: Es ist zuerst und vor allem die Absicht, eine neues Paradigma zu entwickeln, mit dem die Aufzeichnungen ihrer Natur nach analysiert werden können. Nach der Erörterung und Begründung dieser angemesseneren Methodologie, soll den Anfang einer Analyse mit den Prinzipien der neuen Methode gemacht werden, in der die Beziehung von Erzählen und Erzähltem strukturell erforscht wird.

1.1 Einschränkung der Forschungsfrage

Die oben gestellte Forschungsfrage, die nach dem Zusammenhang und gegenseitigem Einfluss zwischen Erzählen und Erzähltem in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, muss jedoch, aus praktischen Gründen, eingeschränkt werden. Eine gründliche Strukturanalyse der Aufzeichnungen bedarf, wie oben erwähnt, einer völlig neuen Methodologie, deren Parameter die Textinhärenz ist. Was dieses Wort ‚Textinhärenz‘ konkret bedeutet, wird im methodologischen Kapitel erörtert. Da eine solche gründliche Strukturanalyse ein umfassendes methodologisches Apparat braucht, ist es praktisch nicht möglich, alle Aufzeichnungen in einer Magisterarbeit zu behandeln. Ich hoffe dass meine Gedanken zu frischem und kritischem Denken über die Lektüre anregt, da ich selber nicht den ganzen Text analysieren kann. In der vorliegenden Arbeit wird um diesen Grund auf den ersten Teil der Aufzeichnungen tiefer eingegangen. Dieser erste Teil ist der Bereich, der textuelle Raum, in dem der Forschungsfrage gestellt wird. Die Methodologie dagegen ist für den vollständigen Text gemeint. Ihr Geltungsbereich ist nicht betroffen von der Einschränkung, die nur auf die eigentliche textuelle Analyse zutrifft. Was wird unter ‚erster Teil‘ begriffen? Seifert argumentiert in seiner Strukturanalyse für eine Zweiteilung des Textes. Er begründet die Zweiteilung mit einem Brief, den Rilke an seinen Verleger schrieb, denn die „Teilung des Malte-Romans in zwei Bände geht nicht auf einen Gestaltungsplan Rilkes, sondern auf einen nachträglichen Einfall zurück“.41 Rilke habe also den

41 Seifert: Das Epische Werk, S, 268.

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Text geschrieben, ohne dass er eine Zweiteilung im Kopf beabsichtigt hatte; er habe aber später seinem Verleger gestanden, dass eine Zweiteilung in zwei Bände angemessen wäre.42 Nur das Manuskript des zweiten Teiles ist bis heute erhalten, das sogenannte Berner Taschenbuch. Seifert fügt hinzu, dass „in dem gewählten Einschnitt [dennoch] eine innere Berechtigung, ja Notwendigkeit [liegt].“43

Hat der erste Teil mit Maltes Ankunft in Paris begonnen und dabei seinen Auszug vorausgesetzt und ausgespart, so beginnt der zweite Teil in einer Steigerung damit, daß Auszug und Wandel zum übergreifenden Gesetz der Wirklichkeit geworden sind […]. 44

Seifert situiert das Ende des ersten Teiles nach der Beschreibung der „Wandteppiche“45, auf denen die „Dame à la Licorne“46 abgebildet ist. Seiferts Beitrag zur Sekundärliteratur ist in diesem Aspekt eine seltsame, denn in der Sekundärliteratur gibt es den oft vertretenen Standpunkt, dass die Zweiteilung keine inhaltliche Zweiteilung reflektiert, und demzufolge in der Strukturanalyse unbeachtet bleiben sollte.47 Rochelle Tobias, der in ihrem Aufsatz ein strukturiertes geistesgeschichtliches Kommentar zu den Aufzeichnungen schreibt, betont, im Einklang mit Seifert, die Legitimität der Zweitteilung für eine Strukturanalyse des Werkes:

Yet the division of the Notebooks into two books is not incidental. It places at the heart of the work a caesura that enables it to continue, albeit along a different path without Malte’s here-and-now as its point of orientation or anchor. If the first half of the novel is devoted to Malte’s efforts at learning to see, the second is devoted to his efforts at learning to love. If the first records his adventures in Paris – where he lives in destitute poverty – the second records the adventures of others in a distant past and, at times, distant places. If the first focuses on Malte’s experiences as a writer whose authority is threatened at every turn, the second considers models of writing that are immune to the threat of the loss of authority. The list of opposing attributes could be continued, but suffice it to say that the distinction between the first and second books is clear, consistent, and thorough. Yet this distinction is hardly addressed in the secondary literature.48

Es geht in der vorliegenden Arbeit nicht darum, dass ein Beitrag zur Diskussion über die in der Sekundärliteratur zu wenig beachtete Zweiteilung geleistet wird. Dafür reicht der Umfang der

42 Ibidem. 43 Ibidem. 44 Ibidem. 45 Rilke: AMLB, S. 75. 46 Ibidem, S. 77. 47 Rochelle Tobias: „Rilke’s Landscape of the Heart: On ‘The Notebooks of Malte Laurids Brigge’”. In: Modernism/modernity 20.4 (2013), S. 667. 48 Tobias: „Rilke’s Landscape“, S. 668.

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Arbeit nicht. Wohl geht es darum, dass es tatsächlich legitime Gründe gibt, den Text inhaltlich in zwei Einheiten zu spalten, und daran anknüpfend, dass es zu einem tieferen Textverständnis führen sollte, wenn die oben gegebene Forschungsfrage tatsächlich eine kohärente Struktur im ersten Teil des Textes nachweisen kann. Der Begriff ‚Struktur‘ ist in diesem Kontext, das heißt, mit Bezug auf die Natur und den Leistungsumfang der Forschungsfrage, sowohl inhaltlich als formell gemeint.

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2 Sinn eines neuen Paradigmas: eine Refutation

Welcher Methodologie bedarf der Text? Bevor die Aufzeichnungen als Aufzeichnungen gelesen werden können, muss der Grund für das neue Paradigma gegeben werden. Die Antwort auf die Frage nach der Methode kann erst formuliert werden, wenn die These vom Identitätsverlust problematisiert worden ist. Es soll die Frage geklärt werden, warum das Verlassen des Romanparadigmas eine fruchtbare Sicht auf Rilkes Aufzeichnungen ist, das heißt, es soll die Frage nach dem Sinn der Arbeit geklärt werden. Das alte Paradigma ist das Denken mit nicht-textuellen Prämissen, weil es keine text-basierten Gründe gibt, den Text als Roman zu lesen. In diesem Unterkapitel werden das Romanparadigma und dessen Folgen für die Lektüre dargestellt. Danach werden die nicht-textuellen Prämissen dieses Paradigmas behandelt. Nachdem der Sinn eines neues Paradigmas in diesem Unterkapitel klargemacht worden ist, wird das neue Paradigma eingeführt.

2.1 Die These vom Identitätsverlust

Die Aufzeichnungen weisen eine Fülle an Stoffen und Ereignissen auf, die nicht linear-kausal strukturiert sind. Von einem epischen Kontinuum kann also nicht die Rede sein. Trotzdem stellt der Text noch Geschichte dar, denn in aller Heterogenität von Raum, Zeit und Handlung ist der Ich- Erzähler Verfasser aller Aufzeichnungen. „Die notwendige Einheit war nicht mehr die eines Gedichtes, es war die der Persönlichkeit, welche von Anfang bis zu Ende in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit lebendig werden mußte,“ schreibt Rilke an Maurice Betz, den französischen Malte-Übersetzer.49 Dieser Erzähler, der als Nexus von Ereignissen funktioniert, scheint durch die Form dem Themenbereich des Textes eine deutliche Richtung zu geben: Das Problem der Individualität in der Moderne bilde den Kern der Aufzeichnungen.50 Der Gedankengang der Sprachkrise hat in der Sekundärliteratur zu einer Hinterfragung der Identität und damit der Individualität geführt. Else Buddeberg schreibt über das „Person-Problem“ in Bezug auf die Spiegelsymbolik bei Rilke.51 In ihrer These nähert sie sich dem Text teilweise

49 Lauterbach: „Die Aufzeichnungen“, S. 321. 50 Seifert: Das epische Werk, S. 253. 51 Else Buddeberg: „Spiegel-Symbolik und Person-Problem bei R.M. Rilke.“ In: Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. S. 360-386.

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wieder an, während man ihm aus einer anderen Hinsicht wieder verlässt. Im Vorliegenden wird die Problematik einer solchen These angedeutet. Die Kritik besteht darin, dass die nicht-textuelle Begrifflichkeit des Romanparadigmas und der Text in einer Dialektik stehen, die die These vom Identitätsverlust als logische Folge hat. Anders formuliert: man kommt erst zur These des Individualitätsverlustes, weil man Die Aufzeichnungen als Roman liest. Die Legitimität der These wird dadurch in Frage gestellt. Die These des Identitätsverlustes in der Sekundärliteratur verlässt einerseits den Bereich des Textes, weil der Erzähler Malte das Persönliche seiner „Krankheit“52 hervorhebt, was ein textueller Beleg dafür ist, dass er keinen Identitätsverlust beschreibt. Obwohl die Aufzeichnungen auf verschiedene Räume in ihrer jeweiligen Zeitlichkeit Bezug nehmen, muss angenommen werden, dass alle in Paris, in dem ärmlichen Zimmer des Protagonisten, notiert worden sind. Beim Interpretieren der Textstellen über die Kindheit darf der diegetische Entstehungskontext der Aufzeichnungen nicht aus dem Auge verloren werden („Ich liege in meinem Bett, fünf Treppen hoch, und mein Tag, den nichts unterbricht, ist wie ein Zifferblatt ohne Zeiger“53). Auch die Beschreibung der Kindheit in dem ländlichen Dänemark kann dadurch durch die Linse der Individualitätsproblematik der Großstadt gesehen werden. Malte schreibt über den Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge, der „nun seit vielen Tagen auf Ulsgaard [lebte] und redete mit allen und verlangte.“54 Die Rückwendung zum „böse[n], fürstliche[n] Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang an sich getragen und aus sich genährt hatte,“55 könnte man, nach den Beobachtungen über das „Hôtel-Dieu“, in dem die Kranken „[n]atürlich fabrikmäßig“56 sterben, als eine Anklage gegen die Desindividualisierung der modernen Großstadt lesen. Thomas Anz, die Autorität in der Forschung der Moderne, stimmt dieser Interpretation zu. Anz schreibt über Maltes „Hôtel-Dieu“57:

Es scheint nicht mehr möglich oder nötig, zu seinem Tod ein eigenes Verhältnis zu entwickeln. Er wird von außen geregelt und so zu einem ichfremden Ereignis. Maltes Großvater dagegen war noch seinen eigenen Tod gestorben. Man hatte ihm nicht

52 Rilke: AMLB, S. 37. 53 Ibidem, S. 38. 54 Rilke: AMLB, S. 8. 55 Ibidem, S. 10. 56 Ibidem, S. 6. 57 Ibidem, S. 5.

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vorgeschrieben, wie er zu sterben hatte. Er vermochte das Ereignis des Todes seiner im 58 Leben entwikkelten [sic] individuellen Persönlichkeit anzupassen. Die Großstädte, als literarisches Sujet der Moderne, problematisieren Individualität, weil sie einen Raum bilden, in dem menschliche Beziehungen auf wirtschaftliche Tauschmöglichkeiten reduziert werden. Die These des Identitätsverlustes verbindet den Malte mit dem zeitgenössischen Soziologen Georg Simmel. „Geldwirtschaft und Verstandesherrschaft stehen im tiefsten Zusammenhange,“ schreibt Georg Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903), „ihnen ist gemeinsam die reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen, in der sich eine formale Gerechtigkeit oft mit rücksichtsloser Härte paart.“59 Das Denken der Geldwirtschaft, die Ursache für das soziale Klima in der Großstadt, ist für Simmel eine übertriebene Rationalität.

Der moderne Geist ist mehr und mehr ein rechnender geworden. Dem Ideale der Naturwissenschaft, die Welt in ein Rechenbeispiel zu verwandeln, jeden Teil ihrer in mathematischen Formeln festzulegen, entspricht die rechnerische Exaktheit des praktischen Lebens […].60

Die Entwicklung der Individualität, im ländlichen Dänemark möglich war, steht dann in Kontrast zum diegetischen Entstehungskontext der Aufzeichnungen: der Großstadt und dem übertrieben rationalen Geisteszustand, mit dem sie assoziiert wird. Der Protagonist versucht sich von seiner Gegenwart abzutrennen und flieht in seine Erinnerungswelt:

„in mir [geht] etwas vor sich, das anfängt mich von allem zu entfernen und abzutrennen […]. Wenn meine Furcht nicht so groß wäre, so würde ich mich damit trösten, daß es nicht unmöglich ist, alles anders zu sehen und doch zu leben. […] Ich würde so gerne unter den Bedeutungen bleiben, die mir lieb geworden sind.“61

Die Erinnerungswelt der Kindheit ist demzufolge der Bereich des Inneren. Das Verstehen des Inneren durch die Dialektik von Gegenwart und Vergangenheit führt zu der individuellen Entwicklung. Walter Seifert sieht diese Dialektik als das Strukturprinzip der Aufzeichnungen:

Wenn Rilke der Desintegration der modernen Realität eine Integration der Vergangenheit gegenüberstellt, so ist das keine Flucht in die Vergangenheit, denn er verarbeitet am Maßstab der Vergangenheit die Elemente der Gegenwart. So wie die idealtypische

58 Anz: Literatur der Existenz, S. 118. 59 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben [1903]. Georg Simmel Gesamtausgabe: Band 1. Hg. von Otthein Rammstedt. Erste Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 118. 60 Ibidem, S. 119. 61 Rilke: AMLB, S. 31.

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Aufzeichnung über den Großvater Brigge die moderne Realität richtet, führt umgekehrt die Verbindlichkeit der Großstadterfahrung dazu, daß Malte sein eigenes früheres, ja das Versagen der ‚Jahrtausende‘ radikal kritisiert. Die Gegenpole seines Bewußtseins, die Vergangenheit und Gegenwart, stellen sich gegenseitig in Frage, und da auf diese Weise das Übergewicht der Gegenwartsrealität durch eine Antithese kompensiert wird, kann Maltes Bewußtsein in der Dialektik der Gegengewichte zu sich selbst kommen.62

Das Innere ist dem Protagonisten also von epistemologischer Bedeutung. Durch dieses Innere kann Malte ‚zu sich selbst kommen‘, das heißt, die Bildungsstadia eines realistischen Romans durchlaufen. Dem Rechnen der Naturwissenschaften gegenübergestellt ist das wissenschaftlich unzuverlässige und höchst subjektive „Sehen“:

Ich lerne Sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.63

Jedoch muss Malte laut Seifert noch einige dialektische Zyklen durchmachen, bevor er den Realitätsverlust des Großstadtbewohners endgültig überwinden kann:

Die doppelte Konfrontation der Großstadtrealität zuerst mit dem Großvater Brigge, dann mit dem Großvater Brahe hat zwar im Ansatz eine polare Struktur des Bewußtseins erkennen lassen, insofern Malte mit der Konzeption von Gegengewichten der totalen Determination und dem Identitätszerfall entgegenzuwirken versucht hat, aber die Darstellung der Vergangenheit als Gegengewicht lenkt noch ab von der Gegenwartsrealität und verhindert deren unmittelbare Verarbeitung und Überwindung.64

Die These vom Identitätsverlust sollte in diesem Subkapitel in ihren spezifischen Einzelheiten klargemacht worden sein. Der nächste Schritt in der Argumentation, im nächsten Unterkapitel, ist die metareflexive Problematisierung dieser These und des Denkens im Romanparadigmas, durch das diese These entstanden ist.

2.2 Metareflexion: Probleme des Romanparadigmas und der These vom Identitätsverlust

In diesem Subkapitel werden die Probleme der These des Identitätsverlusts im Bezug zum vorliegenden Text behandelt. Wie oben bemerkt wurde, taucht in diesem Romanparadigma die

62 Seifert: Das epische Werk, S. 212. 63 Rilke: AMLB, S. 4. 64 Seifert: Das epische Werk, S. 218.

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These vom Identitätsverlust auf. Diese These ist problematisch, weil sie eine Folge der Anwendung des Romanparadigmas auf einen Text ist, der nicht mit diesem Romanparadigma kompatibel ist. Die These und ihr Paradigma stehen in einer kausalen Beziehung. Mit dem determinierenden Einfluss des Paradigmas auf die Lektüre entsteht eine unwissenschaftliche Schlussfolgerung – unwissenschaftlich, wegen der Distanz zum Text. Das Romanparadigma und die These sind beide textfremde Gedanken, die, in einer genaueren Lektüre, dem Text nicht entsprechen. Darum wird in dieser Arbeit ein neues Paradigma vorgeschlagen, ein Paradigma, dessen Parameter seine Textinhärenz ist. Mit dem Begriff ‚Textinhärenz‘ wird eine absolute Textbezogenheit gemeint: Zitate zuerst, danach wissenschaftliche Konzepte. Wie der konkrete methodologische Apparat dann formuliert werden sollte, und warum dieser Apparat textinhärent ist, wird im Kapitel über die Methodologie erörtert. Um die Legitimität und Notwendigkeit einer neuen Methode zu begründen, um ihr einen wissenschaftlichen Sinn zu verleihen, soll zuerst auf die Probleme einer Malte-Lektüre als Malte-Roman zurückgekommen werden. Zuerst müssen die Prämissen des Romanparadigmas in ihrem Bezug zu den vorliegenden Aufzeichnungen verstanden werden, das heißt hier, in einem Bezug zur Non-Kompatibilität. Nach der Behandlung der Prämissen komme ich zurück auf die oft formulierte These vom Identitätsverlust. Dieser These fehlt es an Legitimität, einerseits weil sie in einer Kausalität mit der problematischen Prämisse des Romanparadigmas steht, andererseits weil sie nicht mit den formalen und inhaltlichen Eigenschaften des Textes übereinstimmt. (Kann man in einem Egodokument einen Identitätsverlust darstellen?)

2.2.1 Das Problem mit der Prämisse Maria Krysztofiak versucht in ihrem Aufsatz65 die Aufzeichnungen mit der kanonisierten Literaturgeschichte der Moderne zu versöhnen. Krysztofiak formuliert ihren status quaestionis in Bezug auf den jeweiligen Romantypus, den die Aufzeichnungen im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte zugeteilt wurden:

Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge gilt allgemein als einer der ersten modernen Romane des 20. Jahrhunderts, er wird von seinen Interpreten oft

65 Maria Krysztofiak: „‚Ein Däne in Paris.‘ Das Spannungsfeld von Großstadt und Provinz in Rilkes ‚Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ‘“. In: Folia Scandinavica 2 (1994), S. 19 – 27.

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intendiert als Entwicklungsroman gelesen und auch in diese Traditionsreihe eingeordnet. In der Konfrontation mit dieser Traditionslinie ist es relativ einfach seine modernistischen Züge herauszuarbeiten. Die Modernität, die zwar, wie Fülleborn bemerkte, gar nicht konsequent ist, gibt doch dem Roman seinen Stellenwert in der europäischen Romangeschichte. […] Von hier aus gesehen, sollte man Rilkes Buch möglicherweise als einen modernen Stadtroman lesen, aber auch so interpretiert, hebt sich dieses Werk deutlich von seinen zeitgenössischen Vorbildern, etwa von den Stadtromanen von Zola, Strindberg, Hamsun oder Dostojevski ab.66

Krysztofiak bemerkt, dass Die Aufzeichnungen „oft intendiert als Entwicklungsroman gelesen“67 werden. Vor allem das Wort ‚intendiert‘ sollte hier als wissenschaftlich verdächtig gelten. Was ist der Grund für eine solche Intention? Weil man dem Text dann „seinen Stellenwert in der europäischen Romangeschichte“68 zuschreiben kann? Krysztofiak vertritt nicht zufällig den gleichen Interpretationsstandpunkt wie Seifert – nicht zufällig, weil beide den Text als Extrementwicklung der Romanform zu lesen versuchen. Beide betrachten die individuelle Entwicklung Maltes als den Krux des Textes, denn „[Rilke] beobachtet die Dingwelt, im Roman tut das sein Held Malte, um sich von seinen Empfindungen, die er in Aufzeichnungen umsetzt, zu überzeugen, anders gesagt, um sich selbst besser kennenzulernen.“69 Auf dem ersten Blick ist das Problem mit einer Lektüre in der Tradition des Entwicklungsromans die analytische Überbetonung der Großstadterfahrung. Wie oben in der Einführung schon bemerkt, ist die Beziehung Rilkes zum zeitgenössischen Soziologen Georg Simmel der implizite – in Seiferts Fall – oder explizite – in Krysztofiaks Fall – Grund für diese analytische Überbetonung. „Rilkes Großstadt Paris läßt sich nicht vorbehaltlos in eine der geläufigen Stadttheorien modellartig einordnen,“ schreibt Krysztofiak, „obwohl soziologische Theorien von Georg Simmel hier mitunter behilflich sein können.“70 Unter dem Einfluss der Simmel’schen Theorie der modernen Großstadt wird die Großstadt zum Ort des Negativen und des Gegenwärtigen.

Der Roman ist so konstruiert, daß die Stadt als Beobachtung und Wahrnehmung geschildert wird, die Provinz hingegen als Erinnerung und Nachdenken auftaucht. Die entfremdende Urbanität wird auch narrativ durch die integrierende Erinnerung

66 Ibidem, S. 19. 67 Ibidem. 68 Ibidem. 69 Ibidem, S. 21. 70 Krysztofiak: „‚Ein Däne in Paris,‘“ S. 25.

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konterkarriert [sic]. Die Stadt erzeugt diverse Gefühle, Kälte, Einsamkeit, Anonymität, sie ist aber auch grausam und erschrekkend [sic].71

Das Schloss des alten Grafen Brahe ist in diesem Gedankengang der provinzielle Ort, der sich zur Großstadt kontrastierend verhält. Der Kontrast beruht auf der Überbetonung der Großstadterfahrung, denn in ihm bleiben die Eigenschaften der Räumlichkeitserfahrung im alten Schloss entweder unbeachtet oder – wie sich zeigen wird – falsch interpretiert. Wenn der städtische Raum „grausam[e] und erschrekkend[e][sic]“72 Gefühle erzeugt, welche werden dann in der „Provinz“ hervorgerufen? Nachdem sie die Aufzeichnung über „jene[n] Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend um sieben Uhr“73 zitiert, argumentiert Krysztofiak, dass

Das Schloss in der Provinz […] Ruhe aus[strahlt], es gibt Geborgenheit, es steht für Kontinuität, es ist in jeder Hinsicht das Gegenteil des zerstörten Hauses in der Stadt, das für Verfall und Diskontinuität steht. Das Gefühl der Zugehörigkeit zur Landschaft der Provinz wird in Maltes Erinnerung aussschließlich auf einen engen Familienkreis reduziert. Eine andere soziale Realität im Sinne der Ungleichzeitgkeit der beobachteten Stadt Paris wird in der Provinz nicht ins Auge gefaßt. Das Bild der Erinnerung wird als eine heile Welt aufbewahrt und der Pariser Realität des Zerfalls entgegengestellt.74

Diese Proposition, dass man das „Schloß in der Provinz“ als Ort der Ruhe und Geborgenheit bezeichnen kann, stimmt nicht. Denn – der Grund hierfür wird im methodologischen Kapitel über das Wahrnehmen des Erzählten behandelt – man macht einen Gedankenfehler, wenn man die Motive des Textes, die Gegenstände und Orte, worüber Malte schreibt, als Dinge-an-sich betrachtet. Die Motive dieses Textes werden durch die Erinnerung der sprechenden Instanz Malte vermittelt. Durch eine solche Evaluierung hat Krysztofiak sich zu einer stark leserorientierten Lektüre bekannt. Die Motive sind, wegen ihrer Vermittlung durch die Malte-Instanz, mit der sprechenden Instanz verflochten, mit einer Instanz, die das alte Schloss überhaupt nicht mit Ruhe oder Geborgenheit assoziiert, was aus dem Akt des Erinnerns deutlich wird:

So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment, aufbewahrt ist. In dieser

71 Ibidem, S. 23. 72 Ibidem. 73 Rilke: AMLB, S. 15. 74 Krysztofiak:„‚Ein Däne in Paris,‘“ S. 25.

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Weise ist alles in mir verstreut, – die Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich niederließen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen Tür hinausgedrängt wurde: – alles das ist noch in mir und wird nie aufhören, in mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen.75

Lauren Stone, die über den Einfluss der Husserl’schen epistemologischen Methode in den Beschreibungen der Kinderszenen in den Aufzeichnungen schreibt, betont gerade die Unruhe und Ängstlichkeit, die in der Erinnerung des alten Schlosses dominant sind:

Explicitly formulated by the shape of the house itself, the mechanism of perception seems so labyrinthine and fragmentary that it could not produce the totality of an original, complete structure even if it were somehow reassembled […]. Not only a representation of the fallibility of memory, this can also be read as the particular experience of a home whose looming scale, maze-like layout, and peculiar rules of etiquette remain ungraspable from the child’s perspective. […] Rilke’s child figure, Malte, reveals that even interior spatial arrangements are “hard” to fathom […]. Rilke’s haunting depiction of the Brahe residence reflects […] epistemological anxiety about childhood intuition […].76

Die Proposition Krysztofiaks, deren Denken vom Romanparadigma determiniert ist – ja, diese Behauptung, die dem Text völlig fremd ist, dass es in Maltes Erinnerung ein „Gefühl der Zugehörigkeit zur Landschaft der Provinz“77 gab – diese Proposition muss sich, nach einer genaueren Lektüre – nach einer Lektüre aus einer textinhärenten Sicht! – als falsch herausstellen. Es ergibt sich, dass hinter der Überbetonung der Großstadt ein weit fundamentaleres Problem des Romanparadigmas steckt: die rücksichtslose Annahme einer Diegese, einer erzählten Welt. Denn das Nichtbeachten von Maltes Erinnerungsakt ist die Folge einer Lektüre, in der das alte Schloss als ein eigenständiger Raum im Text betrachtet wird – ein Raum, der von einem unsichtbaren übergeordneten Erzähler vermittelt wird. Es wird sich zeigen, dass es in den Aufzeichnungen keinen unsichtbaren Erzähler gibt, der etwa eine erlebte Rede verwendet, und der eine Diegese gestaltet; es gibt nur Malte, der Aufzeichnungen macht über die aus ihm herausquellenden Gedanken und Bilder. Die Annahme einer Diegese ist die wichtigste Prämisse des Romanparadigmas, weil der Kern dieser Erzählform die Handlung ist. Eine Handlung kann nur in einer Diegese stattfinden, welche dadurch

75 Rilke: AMLB, S. 15. 76 Lauren Shizuko Stone: “Rilke’s ‘Kinderstube’: Phenomenology in Childhood Spaces.” In: The German Quarterly 90.4 (2017), S. 482. 77 Krysztofiak:„‚Ein Däne in Paris,‘“ S. 25.

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zu einer fundamentalen Bedingung der Handlung wird. Der eigentliche metareflexive Einwand gegen das Romanparadigma ist demzufolge die Annahme dieser Diegese, dieser vom Erzähler gestalteten Welt, die, wie oben illustriert sein sollte, zu Fehlinterpretationen führt. Um die Möglichkeit eines unsichtbaren Erzählers auszuschließen und dadurch den Analysen des Romanparadigmas entscheidend zu widersprechen, sollte man auf Rilkes Erzähltechnik und ihre Einbettung in die evolvierende erzähltechnische Tradition der literarischen Moderne zurückkommen. Die großen Erzähltechniker der literarischen Moderne, wie Arthur Schnitzler, Virginia Woolf, Marcel Proust, Henry James und James Joyce, entwickelten den inneren Monolog als moderne Darstellungsmöglichkeit, aus der der klassische Erzähler immer mehr verschwand.78 In dieser Darstellung der inneren Rede kann der Erzähler mit einer Figur verschmelzen, was in der Form der erlebten Rede der Fall ist. Von ‚erlebter Rede‘ kann in Rilkes Text aber nicht mehr die Rede sein. In dem vorliegenden Fall ist der Erzähler eine reine Leere, die gänzlich von der sprechenden Instanz gefüllt ist. Rilke hat mit diesem Text den Erzähler getötet, diesen mimetischen Darsteller und Träger der Handlung in der Form und Auffassung des Romanparadigmas. Dieses Werk „hat die tradierte Form durchbrochen, es kennt nicht mehr Handlung und Zeitablauf in bisheriger Verwendung.“79 Denn in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge besteht

[d]ie Kohäsion einer folgerichtigen oder gar geordneten Welt […] nicht mehr, es gibt keinen chronologischen Ablauf und keine entsprechende Entwicklung mehr dazu. Die beschriebenen Phänomene sind nicht länger aus der Perspektive einer mimetischen Konvention gestaltet, als fingierte Tatsachen, sondern erscheinen als strukturierte Bildketten eines sich beschreibenden Innenbewußtseins. Wohl tritt Malte noch als Protagonist auf, aber er ist nicht mehr Träger einer Handlung […].80

Craig Morris, der über den verschwundenen Erzähler in der Moderne schreibt, listet vier erzähltechnische Schwierigkeiten auf, die sich in einem solchen erzählerlosen Text manifestieren. Morris‘ Begriff ‚der Monologisierende‘ ist mit dem hier verwendeten Begriff ‚die sprechende Instanz‘ gleichzusetzen. Morris nennt den erzählerlosen Text einen „vollständige[n] innere[n]

78 Craig Morris: „Der vollständige innere Monolog: eine erzählerlose Erzählung? Eine Untersuchung am Beispiel von ‚Leutnant Gustl‘ und ‚Fräulein Else‘“ In: Modern Austrian Literature 31.2 (1998), S. 30. 79 Margret Eifler: Die subjektivistische Romanform seit ihren Anfängen in der Frühromantik: ihre Existenzialität und Anti-Narrativik am Beispiel von Rilke, Benn und Handke. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1985, S. 52. 80 Eifler: Die subjektivistische Romanform, S. 52.

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Monolog“81. Die erzähltechnischen Probleme, die Morris nennt, sind auch Signale, durch die man den erzählerlosen Text erkennen kann; diese Probleme sind Gattungseigenschaften:

Jedoch bringt der Verlust einer erzählenden Stimme erzähltechnische Schwierigkeiten mit sich. 1) Der Erzähler ist nicht mehr da, um wichtige Handlungsmomente zu schildern, deshalb bleibt der Leser den Eindrücken des Monologisierenden überlassen. 2) Der Monologisierende kann wiederum von der Existenz des Lesers nicht wissen (nur der Verfasser des Textes weiß von dessen Existenz) und spricht, oder besser: denkt für sich allein, d. h., im Gegensatz zum traditionellen Erzähler versucht er nicht, die Erzählung verständlich zu machen. 3) Der v. i. (vollständige innere) Monolog eignet sich folgerichtig besser für einen handlungsarmen Erzählstoff, in dem der Monologisierende relativ ungestört von seiner Umwelt über sein Leben nachsinnen kann. 4) Letztlich muß auch eine Sprache für das Unausgesprochene in der Psyche gefunden werden, denn die Sprache der erlebten Rede, der direkten Reden usw. bedarf natürlich eines Erzählers.82

Es sollte klar gemacht werden, dass die Aufzeichnungen in der Tat diese vier Kennzeichen aufweisen. Das erste Kennzeichen, dass „der Leser den Eindrücken des Monologisierenden überlassen bleibt“83, ist im Grunde ein epistemologisches Kennzeichen. Es gibt in den Aufzeichnungen viele Textstellen, in denen es deutlich wird, dass der Leser von Maltes Eindrücken abhängig ist:

Eingestellt auf die Helligkeit da oben und noch ganz begeistert für die Farben auf dem weißen Papier, vermochten meine Augen nicht das geringste [sic] unter dem Tisch zu erkennen, wo mir das Schwarze so zugeschlossen schien, daß ich bange war, daran zu stoßen. Ich verließ mich also auf mein Gefühl und kämmte, knieend und auf die linke gestützt, mit der andern Hand in dem kühlen, langhaarigen Teppich herum, der sich recht vertraulich anfühlte; nur daß kein Bleistift zu spüren war.84

Malte umschreibt in dem Zitat oben Gegenstände mit Adjektiven und Verben, die auf den Tastsinn zurückgeführt werden können, weil Maltes „Augen nicht das geringste unter dem Tisch“ sehen können. Malte ist der (einzige) epistemologische Apparat der Aufzeichnungen. Das zweite Kennzeichen eines erzählerlosen Textes ist, laut Morris, die angebliche Unverständlichkeit. Da es schwer zu belegen ist, wenn und für wen etwas als unverständlich gilt, und da man in einer Forschung des Unverständlichen den literaturwissenschaftlichen Bereich

81 Morris: „Der vollständige innere Monolog“, S. 30. 82 Morris: „Der vollständige innere Monolog“, S. 30. 83 Ibidem. 84 Rilke: AMLB, S. 55 (Hervorhebungen vom Verfasser).

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verlassen würde, muss hier eine oft gemachte85 Bemerkung aus der Sekundärliteratur eingefügt werden:

Rilkes ‚Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ machen es dem Leser nicht leicht. Vieles sperrt sich völlig dem Verständnis, erscheint im einfachen Sinn des Wortes unverständlich, wenn der Leser nicht bereit ist, alle ihm sonst geläufigen Voraussetzungen gedanklichen Begreifens aufzugeben und auf den Wert empirisch begründeten Wissen zu verzichten.86

Das dritte Kennzeichen eines erzählerlosen Textes, dass diese Erzählform sich besser für einen handlungsarmen Erzählstoff eignet, ist in den Aufzeichnungen vorhanden, um den Grund, dass es eine Handlung im klassischen Sinne nicht gibt. Es passiert dem Protagonisten Malte eigentlich nichts. Alle Dynamik in der Erzählung befindet sich auf einer psychologischen Ebene. Dieses dritte Kennzeichen korreliert mit der Abwesenheit einer Diegese, die eine notwendige Basis und Bedingung für eine Handlung wäre. Die folgenden zwei Textstellen sind Musterbeispiele des handlungsarmen Erzählstoffes:

Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken: […]87

Malte verbringt seinen Tag entweder in seinem Zimmer, oder er läuft ziellos in den Pariser Straßen herum. Von einer Handlung im klassischen Sinne kann hier nicht die Rede sein:

Es ist gut, es laut zu sagen: „Es ist nichts geschehen.“ Noch einmal: „Es ist nichts geschehen.“ Hilft es? Daß mein Ofen wieder einmal geraucht hat und ich ausgehen mußte, das ist doch wirklich kein Unglück. Daß ich mich matt und erkältet fühle, hat nichts zu bedeuten. Daß ich den ganzen Tag in den Gassen umhergelaufen bin, ist meine eigene Schuld. Ich hätte ebensogut im Louvre sitzen können.88

85 Cfr.: Peter Por: „‚Hyperbel [des] Weges‘ und ‚Inschrift [des] Daseins‘: ‚Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘.“ In: Colloquia Germanica 31.2 (1998), S. 121; Renate Kellner: Der Tagebuchroman als literarische Gattung. Thematologische, poetologische und narratologische Aspekte. Berlin: Walter De Gruyter 2015, S. 111. 86 Ernst Fedor Hoffmann: „Zum dichterischen Verfahren in Rilkes ‚Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42.2 (1968), S. 202. 87 Rilke: AMLB, S. 15. 88 Ibidem, S. 26.

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Aus diesem Zitat kann gefolgert werden, dass die Aufzeichnungen mit Recht als ‚handlungsarm‘ bezeichnet werden. Die Ereignisse im Text sind notwendigerweise psychologischer Natur, denn, so führt Malte fort:

Oder nein, das hätte ich nicht. Dort sind gewisse Leute, die sich wärmen wollen. Sie sitzen auf den Samtbänken, und ihre Füße stehen wie große leere Stiefel nebeneinander auf den Gittern der Heizungen. Es sind äußerst bescheidene Männer, die dankbar sind, wenn die Diener in den dunklen Uniformen mit den vielen Orden sie dulden. Aber wenn ich eintrete, so grinsen sie. Grinsen und nicken ein wenig. Und dann, wenn ich vor den Bildern hin und her gehe, behalten sie mich im Auge, immer im Auge, immer in diesem umgerührten, zusammengeflossenen Auge. Es war also gut, daß ich nicht ins Louvre gegangen bin.89

Das eigentliche Ereignis in dieser Textstelle ist also Maltes Wahrnehmen von, oder besser: sein Nachdenken über „gewisse Leute“, die ihn „im Auge, immer im Auge, immer in diesem ungerührten, zusammengeflossenen Auge“90 behalten. Die Bedingung, dass der „Monologisierende relativ ungestört von seiner Umwelt über sein Leben nachsinnen“91 können muss, ist damit erfüllt. Die vierte und letzte Charakteristik der erzählerlosen Erzählung bezieht sich auf die sprachliche Ebene des Textes. Es soll „eine Sprache für das Unausgesprochene in der Psyche“92 gefunden werden. Ernst Fedor Hoffmann schreibt über das dichterische Verfahren in den Aufzeichnungen, und vergleicht die fiktiven Aufzeichnungen mit Rilkes persönlichen Briefen. Diese Methodologie hat Hoffmann erlaubt, seine These zu bestätigen, dass Malte, mittels seines dichterischen Verfahrens, eine „Unverständlichkeit“93 erzeugte. Durch die Erzeugung dieses ‚Unverständlichen‘ beim Leser gelingt es Malte, den Leser „mit in die Maltesische Welt“94 hineinzuziehen. Auf diese Weise wird die unausgesprochene „Hilflosigkeit“, die Malte empfindet, mit dem Leser geteilt:

Durch [Rilkes] Auslassung [einer Kausalkette] im Buch [, im Gegensatz zu dem korrelierenden Geschehen in Rilkes Briefen,] hat Rilke den kausalen Zusammenhang, den er scheinbar intakt läßt, unerhört und fremd gemacht. Rilke hat nicht nur gerechtfertigt, daß die Vorgänge Malte „fast gespenstisch“ anmuten, sondern hat den Leser mit in die Maltesische Welt hineingezogen, in der die Erfahrung keine Schlüsse auf den Verlauf

89 Ibidem, S. 27. 90 Rilke: AMLB, S. 27. 91 Morris: „Der vollständige innere Monolog“, S. 30. 92 Ibidem. 93 Hoffmann: „Zum dichterischen Verfahren“, S. 202. 94 Ibidem, S. 203.

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zukünftigen Geschehens zuläßt. […] und wer Maltes Bericht liest, erlebt [seine] Hilflosigkeit mit.95

Die Störung der Kausalität durch einen unverständlichen „quasi-ursächlich[en] Zusammenhang“96 ist ein Mittel dazu, dem Leser das Unausgesprochene in Maltes Psyche zu vermitteln. Die Sprache des Unausgesprochenen kann mit einem semantischen Blick nicht wahrgenommen werden. Sprachwissenschaftlich fängt hier der Bereich der Pragmatik an. Die „unerhört[en] und fremd[en]“ Kausalitäten sind eine Störung der Kohärenz der Sprache, was in diesem Text zu neuen Implikaturen führt, zu bedeutungstragenden Implikaturen, die dasjenige überbringen, was nicht gesagt wird, und die, noch stärker, dem Leser das Implizite simulieren. Die Kausalitätsstörung ist die Sprache von Maltes Psyche. Um den Grund, dass die Aufzeichnungen den vier Merkmalen des erzählerlosen Textes entsprechen, kann geschlussfolgert werden, dass es in den Aufzeichnungen, wegen des ostentativen Nicht-Vorhandenseins eines Erzählers, keine Diegese, keinen Handlungsraum mehr gibt. Da die Diegese eine Prämisse des Romanparadigmas ist, sollte es klar sein, dass die Beziehung von Rilkes Text zu diesem Paradigma eine der Non-Kompatibilität ist.

2.2.2 Das Problem mit der Schlussfolgerung Nachdem die Prämisse der Diegese des Romanparadigmas in Bezug auf die Aufzeichnungen problematisiert ist, sollte die Aufmerksamkeit auf eine der Schlussfolgerungen des Romanparadigmas gelenkt werden. Der zweite metareflexive Einwand gegen das Romanparadigma bezieht sich konkret auf die These vom Identitätsverlust. Dieser Einwand ist zweifach: Einerseits ist die These vom Identitätsverlust problematisch, weil sie eine direkte Folge von der Annahme einer Diegese ist, einer Annahme, die oben als inadäquat herausgestellt sein sollte. Andererseits ist die These vom Identitätsverlust sehr schwer mit textuellen Belegen zu versehen, da die sprechende Instanz Malte mit Recht als allumfassend bezeichnet werden kann, was im vorigen Subkapitel

95 Ibidem. 96 Ibidem.

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anhand von Textstellen und der wissenschaftlichen Forschung von Eifler97 und Morris98 verdeutlicht sein sollte. Die zweite Facette des Einwandes gegen die These vom Identitätsverlust bezieht sich viel mehr auf die Gattung der Aufzeichnungen, in der keine Identitätsverneinung ermittelt werden kann, da eine Identitätsverneinung in Bezug auf die Gattung eines Ego-Dokumentes höchst paradox ist. Die Aufzeichnungen können als ‚personal document‘ bezeichnet werden, eine Form in der Kategorie der Ego-Dokumente. Zuerst wird auf die erste Facette des Einwands gegen die These vom Identitätsverlust tiefer eingegangen, dass diese These eine direkte Folge der Annahme einer Diegese ist. Die Frage, die hier erörtert werden sollte, ist: Was ist die Beziehung zwischen einer Diegese und dieser These? Oder genauer formuliert: Wieso kann man das Warum dieser These auf die Prämisse der Diegese zurückführen? Weil die Annahme einer Diegese eine Subjekt-Objekt-Differenz voraussetzt. Ein Erzählmodell mit einer allumfassenden sprechenden Instanz weist diese Differenz nicht auf. Eine identitätsverneinende Tendenz wäre erst in dem philosophischen Rahmen möglich – aber es geht genau genommen noch weiter: Erst in einer subjekt-objekt-spaltende Diegese wäre eine Verneinung der Identität überhaupt denkbar. Eine Verneinung der Identität bedeutet in diesem Modell dann eine Einschränkung des Subjektiven vis-à-vis dem Objektiven; es bedeutet eine Gewalt, die von der Umwelt ausgeht und auf den Protagonisten einwirkt. Eifler, obwohl sie in den Aufzeichnungen keine Diegese feststellt, sieht den Text noch in dieser Subjekt-Objekt-Spaltung:

[Maltes] dichterische Aussagen sind anfänglich Wiedergabe sensitiver Lebenseindrücke, später sind sie Vorstellungen von Lebensschicksalen. Es zeigt sich, daß ersteres Nachvollzug eines qualvollen Sich-Aussetzens gegenüber der Realität ist, letzteres aber imaginäre Vorwegnahme existentieller Verhaltensweisen am Beispiel und Vorbild anderer. Der Künstler Malte gewinnt dem Menschen Malte ein allmählich erstarkendes Bewußtsein und die Möglichkeit, den existentiellen Prozeß nicht mehr passiv leidend zu ertragen, sondern aktiv-erkennend zu erleben.99

Am Anfang des Textes – Malte befindet sich schon in der desindividualisierenden Großstadt Paris – schreibt er über dasjenige, das er sieht. Malte schreibt über die Dinge, nicht um ihretwillen, sondern um des Einflusses, der sie auf ihn ausüben, willen. Er betont das Sehen, nicht dasjenige,

97 Margret Eiflert: Die subjektivistische Romanform seit ihren Anfängen in der Frühromantik: ihre Existenzialität und Anti-Narrativik am Beispiel von Rilke, Benn und Handke. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1985. 98 Craig Morris: „Der vollständige innere Monolog: eine erzählerlose Erzählung? Eine Untersuchung am Beispiel von ‚Leutnant Gustl‘ und ‚Fräulein Else‘“ In: Modern Austrian Literature 31.2 (1998), S. 30-51. 99 Eifler: Die subjektivistische Romanform, S. 55.

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dem er begegnet, was man von der vielfachen Wiederholung der aktiven Verba mit Malte in der Subjektposition ableiten kann: 11. September, rue Toullier. So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das.100

Aussagen, wie „das ersparte mir den Rest“101 und „Ja, sie war noch da“102, machen es dem Leser klar, dass es hier nicht um etwa eine mimetische Wiedergabe einer objektiven Umwelt geht, sondern um eine sichtbare Omnipräsenz des wahrnehmenden Subjektes, Malte. Wenn nur die Wahrnehmung des Subjektes dargestellt wird, ohne den Referenten in der Objektivität, den nicht dargestellt werden kann, weil es den Erzähler nicht gibt, dann wird im Text die Subjekt-Objekt- Spaltung aufgehoben. Das Subjekt wird eine Omnipräsenz; man kann das Vorhandensein von einer Objektivität nicht textuell belegen. Andreas Huyssen, der über Maltes fragmentierten Körper in einem psychoanalytischen Denkrahmen schreibt, macht dieselbe Feststellung und fügt hinzu, dass man die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung nicht nur in der visuellen Wahrnehmung erkennen kann, sondern auch in der auditiven Perzeption. Huyssen behauptet, dass die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung sogar mit dem Sprachgebrauch im Text überhaupt verflochten ist:

But first let me stay with the way in which Rilke presents such dissolutions of the boundaries of the self. Already at the beginning of the novel there is a description of such a crisis of boundaries, limited here, it seems, to the specifics of auditory perception. […] But the breakdown of the inside / outside boundary is not limited to auditory perception. In the famous passage in which Malte describes the horrifying, almost hallucinatory recognition of the residual inside wall of a demolished house as outside wall of the adjacent building, revealing an inside that is no longer there, the loss of boundary is clearly described in a language that again approximates the human body, just as throughout the novel the dissolution of boundaries affects the boundary between the body and things, the animate and the inanimate […].103

100 Rilke: AMLB, S. 3 (Hervorhebungen vom Verfasser). 101 Ibidem. 102 Ibidem. 103 Andreas Huyssen: “Paris/Childhood: The Fragmented Body in Rilke’s ‘Notebooks of Malte Laurids Brigge’”. In: Modernity and the Text: Revisions of German Modernism. Hg. von Andreas Huyssen u. David Bathrick. New York: Columbia University Press 1989, S. 119.

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Huyssen schlussfolgert, dass es nicht die bedrohende objektive Umwelt ist, die das Subjekt beschränkt. Es ist vielmehr eine Bedrohung, eine Ängstlichkeit, die aus dem Subjekt in das subjektive Bewusstsein heraufkommt, sodass hier nicht die Rede ist von einer Identitätsverneinung, sondern vielmehr vom Umgekehrten, von einer Subjekt- und Identitätserweiterung:

Indeed, the experience of horror cannot be attributed to the city alone, which, as it were, would overwhelm an overly sensitive but, deep-down, authentic subject. True, the horror passes right into him, outside to inside, but it also is already at home in him.104

Wieso kann man nun das Warum der These vom Identitätsverlust auf die Prämisse der Diegese zurückführen? Weil ein Verlust der Identität erst möglich wird, wenn es etwas außerhalb der Identität gibt, das einen Einfluss auf diese Identität ausübt. Voraussetzung für dieses ‚etwas außer der Identität‘ ist die Subjekt-Objekt-Spaltung. Die Annahme einer Diegese muss demzufolge die Annahme einer solchen Subjekt-Objekt-Spaltung sein. Wenn das Lesen der Aufzeichnungen aber eine Begegnung mit einer personalen Omnipräsenz ist, mit dem impliziten Autor der Aufzeichnungen, mit Malte, der dem Leser nichts außer seinem eigenen Selbst offenbart – die Frage ist in diesem Fall: Ist es überhaupt möglich, eine Objektivität, eine Diegese, mitzudenken? Die zweite Facette des Einwandes gegen die These vom Identitätsverlust bezieht sich auf die Gattung der Aufzeichnungen. Mit dem Begriff ‚Gattung‘ wird hier das Egodokument gemeint, das Selbstzeugnis, das die Äußerung von persönlicher Identität par excellence ist. Winfried Schulze plädiert für eine gründliche theoretische Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Ego-Dokument‘ und ‚Selbstzeugnis‘, da sie in der wissenschaftlichen Praxis oft ohne Erklärung oder sogar als Synonyme verwendet werden. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff ‚Ego-Dokument‘ als Bezeichnung für die Kategorie verwendet, in die Texte über das Selbst eingefügt werden, wie ‚personal documents‘ und ‚Selbstzeugnisse‘. Die Aufzeichnungen können in der Katergorie ‚document of life‘ situiert werden:

Als ‚document of life‘ werden in der psychoanalytischen, anthropologischen und soziologischen Forschung vor allen Dingen jene Quellen verstanden, die Einblick in die Biographie einer Person geben können, die lediglich ‚in some sense‘ als Autor zu verstehen ist. Neben den auch dem Historiker vertrauten Quellen wie Tagebuch, Brief oder oral

104 Ibidem, S. 120.

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history-Befragungen werden hier auch literarische und photographische Quellen, schließlich auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs einbezogen.105

Die Überschrift der ersten Aufzeichnung („11. September, rue Toullier.“106) suggeriert eine Tagebuchform – die Äußerung der Identität und prototypische Erscheinung eines ‚document of life‘. Die fiktiven Aufzeichnungen wollen den Eindruck erregen, als ob sie das verloren gegangene Notizenbuch von Malte sind, das der Leser dann zufällig entdeckt. Die Aufzeichnungen erregen also die Fiktion eines Gegenstandes „des täglichen Gebrauchs“.107 Das Wesen eines ‚document of life‘ ist der „Einblick in die Biographie einer Person […], die lediglich ‚in some sense‘ als Autor zu verstehen ist“108. Die Biographie in diesem Fall ist die Maltes. Dieser Einblick kann also kein Einblick in die Identitätsverneinung sein, in die Verneinung von demjenigen, der als Autor zu verstehen ist, da es logisch unmöglich wäre, einen Einblick ins Nichts zu erzeugen. Wenn die Aufzeichnungen die Gattungsmerkmalen von einem Text aufweisen, der einen Einblick in ein Etwas darstellt, kann dieses Etwas keine Verneinung eines Etwas sein. Das Etwas ist notwendigerweise ein Etwas im positiven Sinne, damit ein Einblick in dieses Etwas möglich ist – der Einblick in das Malte-Etwas! Und dieses Malte-Etwas ist die Sammlung seiner Aufzeichnungen, seiner Erfahrungen, denn mit Aufzeichnungen ist es so, wie mit Versen:

Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie früh schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes womöglich, und dann, ganz zum Schluß, vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen.109

Hiermit ist die These vom Identitätsverlust, eine Konsequenz des Romanparadigmas, problematisiert worden. Der Einwand gegen diese These ist zweifach: Einerseits ist sie problematisch, weil sie eine Folge einer illegitimen Prämisse ist, andererseits entspricht die These der fiktiven Gattung des Textes nicht, der Gattung eines ‚personal document‘. Es muss noch bemerkt werden, dass in der Argumentierung der These vom Identitätsverlust die Aufzeichnungen über die „Fortgeworfenen“ das stärkste Argument bilden, da diese Textstellen

105 Winfried Schulze: „Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung ‚Ego-Dokumente‘“. In: Ego-Dokumente. Hg. von Schulze. Berlin: Akad.-Verlag 1996, S. 14. 106 Rilke: AMLB, S. 5. 107 Schulze: „Ego-Dokumente“, S. 14. 108 Ibidem. 109 Rilke: AMLB, S. 12.

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tatsächlich den Eindruck gegen, als ob Maltes Individualität von einer anonymen homogenen Gruppe bedroht wird. Dieses Argument ist schwer zu widerlegen, da die ‚Fortgeworfenen‘ sich in einem Gegensatz zu Malte verhalten: Individuum – Masse. Dieser Gegensatz macht Malte ängstlich. Gegen dieses Argument könnte man einwenden, dass Maltes Angst gar nicht konsequent ist, und dass es nicht jedes Mal eine Masse ist, die ihn bedroht. Malte hat zum Beispiel Angst vor der namenlosen Krankheit, aber die Krankheit wird als identitätsbestätigendes Phänomen dargestellt, denn „die Krankheit“110, die Malte erfährt, ist eine persönliche Krankheit. Sie

hat keine bestimmten Eigenheiten, sie nimmt die Eigenheiten dessen an, den sie ergreift. Mit einer somnambulen Sicherheit holt sie aus einem jeden seine tiefste Gefahr heraus, die vergangen schien, und stellt sie wieder vor ihn hin, ganz nah, in die nächste Stunde. Männer, die einmal in der Schulzeit das hülflose Laster versucht haben, dessen betrogene Vertraute die armen, harten Knabenhände sind, finden sich wieder darüber, oder es fängt eine Krankheit, die sie als Kinder überwunden haben, wieder in ihnen an; oder eine verlorene Gewohnheit ist wieder da, ein gewisses zögerndes Wenden des Kopfes, das ihnen vor Jahren eigen war.111

Es bleibt noch die Frage nach Maltes persönlicher Krankheit. Wie kann sie wissenschaftlich beschreiben werden, wenn das Romanparadigma nicht dazu reicht? Die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der wissenschaftlichen Qualifizierung, sollte im nächsten Kapitel gegeben werden, denn in diesem Kapitel wird auf die adäquate Methodologie eingegangen, die die Leere des Romanparadigmas auffüllen sollte.

110 Rilke: AMLB, S. 38. 111 Rilke: AMLB, S. 38.

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3 Über die angemessene Methodologie: Wie können die Aufzeichnungen gelesen werden?

Das Kapitel über die Methodologie ist meine Antwort auf die Frage nach der Wahrnehmung des Textes. Das vorige Kapitel war der Widerlegung des Romanparadigmas gewidmet. Das führt zu der Frage, wie und mit welchen theoretischen Mitteln die Aufzeichnungen in der vorliegenden Arbeit gelesen werden – und vor allem: warum gerade diese Mittel bei der Lektüre eingesetzt werden. Die Dynamik zwischen Erzählen und Erzähltem ist dasjenige, was durch die Methodologie wahrnehmbar gemacht werden muss. Gegenstand der Malte-Lektüre ist das Erzählen über das Unheimliche in den Aufzeichnungen. Dieser Gegenstand lädt zu zwei initialen Fragen ein, deren Aufklärung das Kapitel über die Methodologie gewidmet ist. Die erste Frage lautet: was ist erzählen? Diese Frage ist nicht in einem allgemein- philosophischen Sinne gemeint. Man meint: Was ist Erzählen in der vorliegenden literarischen Form? Die Form ist die der Aufzeichnungen, die kein Roman sind. Wäre die klassische Narratologie, die aufgrund der Analyse von strikt linear-zeitlichen und kausalen Erzählungen entwickelt worden ist, im Stande, diese Form von Erzählen zu analysieren? Gewiss wären einige ihrer Prinzipien auf den Text zu projizieren, aber die ganze Untersuchung würde auf das Erkennen narratologischer Beschränkungen hinausführen, die mehr Einsicht in die Narratologie darbieten, als dass sie zu einem tieferen Textverständnis führen. Die Frage nach einer angemessenen Methodologie hängt also mit der Frage nach den Kennzeichen des analysebedürftigen Objektes zusammen. Was ist dieses Objekt? In der Metareflexion über das Romanparadigma wurde die Feststellung gemacht, das die Aufzeichnungen eine Art Ego-Dokument sein. Welche Art? – Ein ‚personal document‘. Da eine solche literarische Quelle, ein ‚personal document‘, nicht notwendigerweise den (vor allem für tragische Werke fruchtbaren) Handlungsdreieck von oder den Handlungsverlauf eines Bildungsromans aufweist, wäre es unwissenschaftlich, diese Prinzipien auf den Text zu projizieren, in der Hoffnung, dass etwas sich herauszeigen wird. Im Subkapitel über die Wahrnehmung des Erzählens wird daher zuerst auf die Eigenschaften des ‚personal document‘ im vorliegenden Text eingegangen, da das Verständnis dieser Eigenschaften erlaubt, eine Methode vorzuschlagen, die nichts hineininterpretiert, eine textinhärente Methode. Die zweite Frage lautet: Worüber wird erzählt? Was ist das Erzählte und in welcher Begrifflichkeit kann dieses Erzählte adäquat gefasst werden? Oben wurde bemerkt, dass in den

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Aufzeichnungen über das Unheimliche erzählt wird, den Freudschen Begriff, der aus Freuds Laienexpedition112 in die Ästhetik stammt. Wird in den Aufzeichnungen ‚das Unheimliche‘ dargestellt, weil das Unheimliche im semantischen Feld von Angst steht? Weil die dominante Thematik in den Aufzeichnungen Angst ist? „Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie einmal hat“113, schreibt Malte, der „gegen die Furcht [etwas getan hat]“ und deshalb Aufzeichnungen macht, deshalb „die ganze Nacht gesessen und geschrieben“114 hat. Denn ‚das Unheimliche‘ gehört

zum Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden […], und ebenso sicher ist es, dass dies Wort nicht immer in einem scharf zu bestimmenden Sinne gebraucht wird, so dass es eben meist mit dem Angsterregenden überhaupt zusammenfällt. Aber man darf doch erwarten, dass ein besonderer Kern vorhanden ist, der die Verwendung eines besonderen Begriffswortes rechtfertigt. Man möchte wissen, was dieser gemeinsame Kern ist, der etwa gestattet, innerhalb des Ängstlichen ein „Unheimliches“ zu unterscheiden.115

Die Behauptung, dass Malte Aufzeichnungen macht über ‚das Unheimliche‘, wie es im psychoanalytischen Sinne verstanden wird, und nicht über das Angsterregende überhaupt, wird im Kapitel über das Wahrnehmen des Erzählten belegt. Um die absolute Textinhärenz zu gewähren, wird die wesentlichere Frage, die Frage nach dem Wozu überhaupt der psychoanalytischen Begrifflichkeit, nicht außer Betracht gelassen. Die zwei Fragen sind zwei notwendige methodologische Schritte, da das Forschungsobjekt in einem größeren paradigmatischen Rahmen bestimmt werden soll. In der Einführung wurde das Forschungsobjekt als Dynamik zwischen dem Erzählen und dem Erzählten – zwischen Form und Inhalt – angekündigt. Aber dadurch wurde noch nichts genau bestimmt, denn der Text ist gänzlich Form, ist gänzlich Inhalt. Die zwei methodologischen Schritte sollten die Fragen nach dem Was des Inhalts und dem Wie der Form aufklären. Außerdem sollten die methodologischen Kapitel als ein paradigmatischer Rahmen funktionieren, ohne den die Strukturanalyse, der eigentliche Horizont der vorliegenden Arbeit, unverständlich wäre. Zuerst wird auf die Begrifflichkeit weiter eingegangen, mit der das Erzählte angedeutet und verstanden wird. Danach, in dem darauf folgenden Subkapitel,

112 Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919]. Studienausgabe: Band 4. Hg. von Alexander Mitscherlich et al. Frankfurt am Main: Fischer 1970, S. 241-274. 113 Rilke: AMLB, S. 5. 114 Ibidem, S. 10. 115 Freud: Das Unheimliche, S. 242.

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wird auf die andere Konstituente der Strukturanalyse weiter eingegangen, auf das Erzählen, auf die Form der Aufzeichnungen.

3.1 Das Erzählte wahrnehmen

Vielen Malte-Exegeten ist der oft zitierte Brief Rilkes an seinen polnischen Übersetzer Witold von Hulewicz bekannt. Rilke versuchte mit diesem Brief dem Übersetzer „eine Art ‚Navigationshilfe‘ durch Form und Inhalt seines Buches“116 anzubieten. Rilke gibt Auskunft darüber, wie der Leser „die vielfältigen Evokationen“117 der Lektüre aufnehmen sollte. Rilkes Ansichten in Bezug auf diese „Evokationen“118 entsprechen denen der vorliegenden Arbeit. Rilkes Brief gibt Auskunft darüber, wie das Erzählte in der Analyse wahrgenommen werden sollte.

Im „Malte“ kann nicht davon die Rede sein, die vielfältigen Evokationen zu präzisieren und zu verselbständigen. Der Leser kommuniziere nicht mit ihrer geschichtlichen oder imaginären Realität, sondern durch sie, mit Maltes Erlebnis: der sich ja auch nur mit ihnen einläßt, wie man, auf der Straße, einen Vorübergehenden, wie man einen Nachbarn etwa auf sich wirken läßt. Die Verbindung beruht in dem Umstande, daß die gerade Heraufbeschworenen dieselbe Schwingungszahl der Lebensintensität aufweisen, die eben in Maltes Wesen vibriert; wie etwa Ibsen […] für das in uns unsichtbar gewordene Ereignis sichtbare Belege aufsucht, so verlangt es auch den jungen M. L. Brigge, das fortwährend ins Unsichtbare sich zurückziehende Leben über Erscheinungen und Bildern sich faßlich zu machen; er findet diese bald in seiner Pariser Umgebung, bald in den Reminiszenzen seiner Belesenheit.119

Eine Forschung des Erzählten ist eine Forschung der „Erscheinungen und Bild[er]“ – ihr Ziel ist das Verstehen der Vibrationen der Lebensintensität in Maltes Wesen, das heißt, in dieser Forschung wird der Affekt untersucht, der aus der sprechenden Instanz Malte herausquillt. Mit Hinsicht auf ihr Ziel unterscheidet eine solche Forschung sich von einer leserorientierten Lektüre, die den Affekt im jeweiligen Leser analysieren will. Ihr Bestreben ist es, einen möglichst hohen Grad an Objektivität zu erreichen. Das endgültige Ziel der Arbeit ist dann, durch dieses Verständnis, durch diese Erfassung der Bilder, den von ihnen ausgelösten Einfluss auf das Erzählen zu analysieren.

116 Lauterbach: „Die Aufzeichnungen“, S. 326. 117 Zit. nach Lauterback: „Die Aufzeichnungen“, S. 326. 118 Ibidem. 119 Ibidem.

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Das Erzählte, das heißt, dasjenige, worüber Malte Aufzeichnungen macht, wird aus einem historischen Standpunkt betrachtet, nicht weil der Leser „mit ihrer geschichtlichen oder imaginären Realität [kommuniziere],“ sondern weil dieses Erzählte eine „Schwingungszahl der Lebensintensität“ aufweist, „die eben in Maltes Wesen vibriert“ – in einem Wesen, das historisch bedingt ist, das eine geschichtliche Wirklichkeit ist, das sich mit den „Bedeutungen […], die [ihm] lieb geworden sind,“ und deren fürchterliche „Veränderung“120 auseinandersetzt im Schreiben. Die Begrifflichkeit, mit der die Themen und Ideen des Werkes gefasst werden, ist daher eine Begrifflichkeit, die im zeitgenössischen kulturellen Raum des Textes zirkulierte, eine Ideengeschichte im synchronen Sinne („synchronic explanation“121), wie sie von Mark Bevir in seinem Werk The Logic of the History of Ideas, theoretisiert wurde. Genau genommen handelt es sich um Kapitel fünf („On synchronic explanation“122):

Explanation in the history of ideas begins with an attempt to explicate a particular belief in terms of the believer’s reasons for holding it. Historians who want to explain a sincere, conscious, and rational belief must begin by reconstructing the relevant individual’s beliefs as a fairly consistent web.123

Rilkes „Evokationen“ sind keine reinen Bilder, sie sind keine Dinge-an-sich. Wie oben in der Einführung schon angedeutet wurde, kann im Fall der Aufzeichnungen nicht die Rede von Diegesis sein, denn der Text wird von einer allumfassenden Subjektivität dominiert, einer Subjektivität, die sogar weiter reicht als der Text, und ins Extradiegetische herumgreift – hierzu Rilkes Brief an Manon zu Solms-Laubach:

Ich weiß nicht, wieweit man aus den Papieren auf ein ganzes Dasein wird schließen können. Was dieser erfundene junge Mensch innen durchmachte (an Paris und an seinen über Paris wieder auflebenden Erinnerungen), ging überall so ins Weite; es hätten immer noch Aufzeichnungen hinzukommen können; was nun das Buch ausmacht, ist durchaus nichts Vollzähliges. Es ist nur so, als fände man in einem Schubfach ungeordnete Papiere und fände eben vorderhand nicht mehr und müßte sich begnügen. Das ist, künstlerisch betrachtet, eine schlechte Einheit, aber menschlich ist es möglich, und was dahinter aufsteht, ist immerhin ein Daseinsentwurf und ein Schattenzusammenhang sich rührender Kräfte.124

120 Rilke: AMLB, S. 31. 121 Mark Bevir: The Logic of the History of Ideas. Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 174. 122 Bevir: The Logic of the History of Ideas, S. 174. 123 Ibidem, S. 204. 124 Zit. nach Lauterbach: „Die Aufzeichnungen“, S. 324.

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Es gibt in den Aufzeichnungen keine Motive im klassischen Sinne, keine Dinge überhaupt; es gibt nur Affekte, Evokationen – es gibt nur Malte. Deshalb wird das Erzählte nicht als eine Reihe an relevanten Erscheinungen betrachtet, das Erzählte muss eine Rekonstruktion der „relevant individual’s beliefs as a fairly consistent web“125 sein. Keine literarischen Motive, sondern Glauben, Überzeugungen und Ideen machen das Erzählte aus. Konkreter formuliert: das Erzählte steht immer in einem Zusammenhang mit der sprechenden Instanz Malte. Das Erzählte an sich zu betrachten, wäre eine Verneinung des Textes. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge werden immer wieder als ‚modern‘ bezeichnet. Diese Qualifizierung wurde in der Einführung als Grundannahme der Arbeit erwähnt. Da die Methode der synchronen Ideengeschichte herbeigeführt wurde, sollte die primäre Frage in Bezug auf das Erzählte, die Frage nach der Modernität, konkretisiert und mit dieser Methode kompatibel gemacht werden. In diesem Paradigma ist die wissenschaftlich legitime Frage nicht einfach: Inwiefern sind die Aufzeichnungen modern? – Diese Frage vernachlässigt die Subjektbezogenheit, deren Notwendigkeit oben motiviert sein sollte. Die Frage hier ist: Inwiefern offenbart die sprechende Instanz Malte sich als moderne Figur durch das Medium seiner Aufzeichnungen? In folgenden Subkapitel soll die Qualifizierung der Modernität motiviert werden, nicht nur um der Legitimität der Prämissen willen, sondern um der Verständlichkeit der Analyse willen. Denn wenn der Kern der vorliegenden Arbeit die Dynamik zwischen Erzählen und Erzähltem ist, dann ist dies Erzählte nicht im Sinne einer rezeptionsorientierten Lektüre gemeint, das heißt, die Perzeption des Lesers sollte die Ideen, die subjektiven – das heißt hier: die Brigge’schen – semantischen Einzelheiten des Textes, so wenig wie möglich beeinflussen. Die angebliche Modernität ist nicht nur ein Konstrukt des heutigen Forschungsstandes, sondern ein Attribut, das der zeitgenössische Leser den Aufzeichnungen ebenfalls zugeteilt hätte. Was hätte dieser Leser unter ‚modern‘ verstanden? Malte positioniert sich als sprechende Instanz in den ersten Aufzeichnungen als moderne Figur – hierin liegt der Kern seines Ethos, seiner Selbstkonstruktion. Modern ist der Großstadtbewohner, und die „literarische Moderne ist ein Phänomen der modernen Großstädte.“126 Malte ist der Großstadtbewohner; das sinnliche Chaos der Großstadt seine Ausgangsposition.

125 Bevir: The Logic of the History of Ideas, S. 204. 126 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 11.

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Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. […] Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache. […] Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. 127

„Die zahlreichen Synästhesien fügen sich zu einer bedrohlichen Szenerie, die den Beobachter Malte bedrängt“128, schreibt Renate Kellner über Maltes Großstadterfahrung. Die thematische Einführung des Chaos zwingt das Subjekt Malte in eine Kampfposition. Er muss etwas tun, oder im Chaos untergehen. Sein Lösungsversuch besteht darin, seine Aufzeichnungen zu machen: „Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht gesessen und geschrieben, und jetzt bin ich so gut müde wie nach einem weiten Weg über die Felder von Ulsgaard.“129 Malte ist im Grunde eine kämpfende Figur, eine Figur des Widerstandes. „Und ich wehre mich noch. Ich wehre mich, obwohl ich weiß, daß mir das Herz schon heraus hängt und daß ich doch nicht mehr leben kann, auch wenn meine Quäler jetzt von mir abließen,“130 schreibt Malte, der seine Kampfbereitschaft mit einem unabwendbaren Fatalismus verknüpft.

Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen. Bei alles Furcht [sic] bin ich schließlich doch wie einer, der vor etwas Großem steht, und ich erinnere mich, daß es früher oft ähnlich in mir war, eh ich zu schreiben begann.131

‚Modern‘ heißt, aus der Sicht der synchronen ideengeschichtlichen Methode, ein Großstadtbewohner, der kämpft, der „vor etwas Großem“132 steht. Die Phrase, „vor etwas

127 Rilke: AMLB, S. 3. 128 Renate Kellner: Der Tagebuchroman als literarische Gattung. Thematologische, poetologische und narratologische Aspekte. Berlin: Walter De Gruyter 2015, S. 111. 129 Rilke: AMLB, S. 10. 130 Rilke: AMLB, S. 31. 131 Ibidem, S. 32. 132 Ibidem.

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Großem“133 zu stehen, erinnert an das erste Manifest des Futurismus. „Wir stehen“, schrieb Marinetti 1909, wie „vorgeschobene Wachtposten vor dem Heer der feindlichen Sterne, die aus ihren himmlischen Feldlagern herunterblicken“.134 Maltes Sprache kann also mit dem typisch ‚modernen‘ Diskurs verknüpft werden, in dem Marinetti und die futuristische Bewegung, die Marinetti vertritt, sich befinden. Maltes Sprache ist die Rhetorik des Kampfes, die nicht nur in der literarischen Moderne, sondern in der Moderne überhaupt, der dominante Diskurs war. Da der Begriff ‚modern‘ im Laufe der Geschichte immer sehr umkämpft geblieben ist, reicht es nicht, die Figur Malte als ein moderne zu bezeichnen, weil sie eine kämpfende Großstadtfigur ist. Denn „lange vor dem Ersten Weltkrieg wurden soziale, ökonomische und kulturelle Konflikte mit Vorliebe in der Begrifflichkeit und Bildlichkeit des Kampfes beschrieben“135. Die Frage nach der Bestimmung der Aufzeichnungen als ‚modern‘ wurde bejaht, aber damit ist die Frage nach dem Wesen der spezifischen Modernität des Textes nicht beantwortet, denn

[d]ie Literatur der Jahrhundertwende bietet ein unübersichtliches Bild heftig miteinander konkurrierender, sich gegenseitig in ihrem Anspruch auf Modernität permanent überbietender, sich zum Teil aber auch überschneidender Stile, Programme und Gruppierungen. Die Simultanität und Pluralität unterschiedlicher literarischer Richtungen sind um und nach 1900 die übergreifenden Kennzeichen einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Kultur in einer hochkomplexen Gesellschaft. Sie sind damit ein charakteristisches Phänomen jenes Prozesses, den Historiker und Sozialwissenschaftler als ‚Modernisierung‘ bezeichnet haben.136

In den nächsten Subkapiteln sollten Maltes Aufzeichnungen mit zwei Kampfpositionen verknüpft werden, sodass die notwendige Frage nach der Qualität der Modernität beantwortet werden kann. Bevor eine Antwort formuliert werden kann, sollten einige metareflexive Bemerkungen über die Methode der synchronen Ideengeschichte gemacht werden. Die synchrone historische Perspektive soll ein Interpretationsrahmen sein, in dem der Gegenstand des Textes, das Erzählte, verstanden werden muss. Hier muss bemerkt werden, dass es um die Rekonstruktion eines Netzwerkes von Ideen geht, um die Ideen eines Individuums, Maltes Ideen. Der Text, nicht sein geistesgeschichtliches Umfeld, bleibt der Krux der Forschung. Bevir

133 Ibidem. 134 Zit. nach Asholt, Wolfgang; Fänders, Walter (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde 1909-1938. Stuttgart: J.B. Metzler 1995, S. 3. 135 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 15. 136 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 12.

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warnt vor einer zu radikalen kausalitätsorientierten Forschung, wenn der Einfluss des geistesgeschichtlichen Umfeldes (in seiner Terminologie: „traditions“137) überschätzt wird:

No doubt some traditions discourage agency whereas others encourage it. But all traditions leave open the ways in which their adherents will develop the webs of belief they inherit. This is why traditions are not sufficient to explain why someone held the web of beliefs he did. Individuals are agents who can extend, modify, and even reject the traditions they inherit. Whenever a teacher imparts a tradition to a pupil, there remain several possible outcomes: the pupil might adopt the tradition, or modify it in a way unforeseen by the teacher, or even renounce it altogether. Thus, historians cannot explain why people held the webs of belief they did simply by associating these webs with traditions. They cannot do so because to come to hold beliefs people must internalise them, and when they internalise them, they make them their own in a way that enables them to transform them.138

Die synchrone ideengeschichtliche Methodologie, wie sie von Bevir beschrieben wird, ist damit im Einklang mit der fundamentalen Absicht der vorliegenden Arbeit, deren Analyse, im Gegensatz zu bereits existierenden Analysen der Aufzeichnungen, radikal textorientiert ist. Thomas Anz, der hier als Autorität im Bereich der literarischen Moderne und von deren Ideentendenzen betrachtet wird, stimmt in dieser Hinsicht mit Bevir überein. Anz hat einen ähnlichen Gedanken geäußert in einem Beitrag über den Einfluss der Psychoanalyse auf die literarische Moderne im deutschsprachigen Kulturraum. Die Psychoanalyse ist ein Beispiel für den Begriff ‚Tradition‘, mit dem Bevir sowohl wissenschaftliche Paradigmen als auch kulturelle Diskurse meint – die Psychoanalyse ist beides. „Forschungsbeiträge, die sich […] damalige oder neuere psychoanalytische Theoreme historisch und theoretisch distanzlos zueigen [sic] machen und […] Texte ihnen anzugleichen versuchen“, schreibt Anz, „wie sie unlängst noch, ganz ohne konkretere Verweise auf das Beziehungsgeflecht zwischen Psychoanalyse und literarischer Moderne, veröffentlicht wurden, fallen jedenfalls hinter den erreichten Stand der Forschung weit zurück.“ Anz schlussfolgert in methodologischem Einklang mit Bevir: „Ihnen entgeht nicht zuletzt die Eigenwilligkeit und Eigenständigkeit, mit der Autoren der Moderne […] sich das Wissen der Psychoanalyse aneigneten, es kritisierten, modifizierten und ihre literarischen Konzepte integrierten.“139 Dass Anz‘ Bemerkung sich spezifisch auf die Psychoanalyse bezieht, und nicht auf das allgemeinere Konzept ‚Tradition‘, worüber Bevir schreibt, ist kein Zufall. Das Beispiel von Anz wurde nicht leichthin gegeben. Der

137 Bevir: The Logic of the History of Ideas, S. 220. 138 Ibidem. 139 Thomas Anz: „Psychoanalyse.“ In: Kafka-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Manfred Engel; Bernd Auerochs. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 71.

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psychoanalytische Diskurs, vor allem Freuds Aufsatz über Das Unheimliche (1919), soll in der vorliegenden Arbeit als eine wesentliche Komponente im Netzwerk der Ideen von Malte betrachtet werden. Dieser Schritt in der Analyse wird im nächsten Kapitel erörtert. Nachdem die metareflexive Nuancierung der Methode der synchronen Ideengeschichte gemacht worden ist, sollte auf die Behandlung der oben gestellten Frage zurückgekommen werden. Was ist die Qualität der Modernität der Aufzeichnungen, im Hinblick auf die Methode der synchronen Ideengeschichte? Oben wurde angedeutet, dass, weil die Moderne sich durch die Bildlichkeit des Kampfes verstehen lässt, die Verbindung der sprechenden Instanz Malte mit einer konkreten Kampfposition uns einen ideengeschichtlichen Zugang zum Text darbieten kann. Maltes Kampfposition ist die der anti-positivistischen Moderne.

3.1.1 Die anti-positivistische Moderne Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sind ein Text, dessen ideologischer Hintergrund der der anti-positivistischen Moderne ist. Im Text werden die Grenzen des Rationellen überschritten. Es gibt eine Konfrontation mit dem Unverständlichen, dem Irrationellen. Dieses Unverständliche erscheint primär als das Bewusstwerden neuer Information, die noch nicht rationell interpretierbar ist. Malte ist „zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen […], wieviel Gesichter es gibt.“140 Die neuen Bewusstseinsdaten werden weiterhin mit Angst assoziiert, in diesem Fall: der Angst vor dem „Nichtgesicht“.141

Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Fügen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.142

Malte fürchtet sich vor „dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht“143. Zugleich empfindet er „unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus

140 Rilke: AMLB: S. 4. 141 Ibidem, S. 5. 142 Rilke: AMLB, S. 5. 143 Ibidem.

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ihnen abgerissen hatte.“144 Die Mischung von Angst und Interesse vor dem Irrationellen dominiert im Erzählten am Anfang der Aufzeichnungen. Bei diesen epistemologischen Untersuchungen des Irrationellen kommt dem „Sehen“ eine merkwürdige Bedeutung zu. Sehen wird traditionell mit einer aufgeklärten Form von Erkenntnis assoziiert, der positivistischen Wissensforschung. Die aufklärerische Form von Sehen, in der nach einer mimetischen Korrektheit gestrebt wird, soll im Kontext des Bildungsideals des rationalisierten Sehens betrachtet werden.

Vor allem im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts betonte der Zeichenunterricht nicht nur in der Schule die kognitiven Aspekte des Sehens, die vor allem in korrekt wiedergegebenen geometrischen Formen zum Ausdruck kommen sollten. Es handelte sich um eine weitgehende Rationalisierung des Sehens, die durch elementaristisches Fortschreiten an flächigen Mustern methodisch eingeübt wurde. Angestrebt wurde ein konzentriertes, genaues und richtiges Sehen, das von Fedor Flinzer als ein ‚bewusstes Sehen‘ bezeichnet wurde, und allgemein bildend dem Kinde helfen sollte, die Wirklichkeit richtig zu erfassen und sich darin zurechtzufinden.145

Im vorliegenden Text wird das Sehen aber explizit mit der Begegnung des Irrationellen verknüpft. Steffen Arndal, der über die visuelle Verarbeitung des Paris-Erlebnisses in den Aufzeichnungen schreibt, argumentiert, dass Maltes Sehen durch das Schauen der impressionistischen Malerei um 1900 wesentlich mitbestimmt worden ist, denn

Das Interesse für das Schauen, das sich um 1900 nicht nur bei Rilke geltend macht, ist natürlich weitgehend durch den Impressionismus in der Malerkunst mitbestimmt. […] Das Schauen der Impressionisten war deshalb meistens bewusst oberflächlich und flüchtig, weil es darum ging, den Weg des Gesichtseindrucks von dem Gegenstand durch die Augen und den Pinsel zum Leinwand so kurz als möglich zu halten, und zwar um die Nuancen einzufangen, bevor das Licht wechselte und der Maler wieder einpacken musste. Daraus ergab sich der leichte atmosphärische Nuancenreichtum des Impressionismus, der sich auch in der Prosa Rilkes geltend macht, etwa in der optimistischen Schilderung der Morgenstimmung an der Seine in Aufz. 12.146

Das Sehen Maltes wird zu einer subjektiven Epistemologie, die, wie bei den Impressionisten, das Schauen des Künstlers in den Vordergrund rückt, statt der objektiven Wahrnehmung eines positivistischen Wissenschaftlers, statt des Kant’schen Dinges-an-sich, statt „des sorgfältigen

144 Ibidem. 145 Steffen Arndal: „Sehenlernen und Pseudoskopie. Zur visuellen Verarbeitung des Pariserlebnisses in R. M. Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. In: Orbis Litterarum 62:3 (2007), S. 213. 146 Ibidem, S. 220.

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Studiums des Motivs im Atelier“147 – womit die naturalistischen Vorgänger der Impressionisten gemeint sind, dieser optischen Wissenschaftler, die aus ihrem Atelier ein Labor machten. Über die Bezeichnung von Maltes Sehen als subjektive Epistemologie gibt es in der Forschung einen weitreichenden Konsens.148 Aber was ist eine subjektive Epistemologie, und wie kommt Malte konkret zur Erkenntnis? Der Fokus der Fragestellung sollte hier vom Wesen des Sehens – das als anti-positivistisch und subjektiv bestimmt wurde – auf das konkrete Wie dieses Sehens verschoben werden, da die Proposition im Grunde leer bleibt, ohne eine konkrete, textbezogene Begründung. Unten werden zwei Beispiele genannt: Maltes Feststellung über „wieviel Gesichter es gibt“149, auf die oben hingewiesen wurde; und der Fall mit dem blinden Verkäufer, der „schrie: Chou-fleur, Chou-fleur, das fleur mit eigentümlich trübem eu.“150 Zuerst wird auf die Stelle über die Vielfalt der Gesichter tiefer eingegangen:

Habe ich es schon gesagt? Ich lerne Sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es gibt. Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere.151

Malte demonstriert den epistemologischen Gang ins Irrationelle mit seiner Feststellung über die Vielfalt der Gesichter. Der epistemologische Gang ist das Sehenlernen, wodurch er zu seinen Feststellungen gekommen ist. Der Begriff ‚Gang‘ soll den prozessualen und intentionalen Charakter des Sehenlernens betonen, denn „[d]as Verbum ‚lernen‘ macht deutlich, dass Malte sein Sehen mit einer neu hinzukommenden Intentionalität betreibt, mit einer verstärkten Aufmerksamkeit, die sich von dem automatisierten Sehen unterscheidet.“152 Die epistemologische Rückkehr zum subjektiven Sehen muss im Rahmen der Wissenschaftskritik der Moderne gesehen werden. Denn

[d]ie Wissenschaftskritik der Moderne zielte […] auf eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit Ausprägungen neuzeitlicher Rationalität. Wissenschafts-,

147 Arndal: „Sehenlernen und Pseudoskopie“, S. 219. 148 In-Ok Paek: Rilkes Poetik des 'neuen' Sehens in den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ und in den „Neuen Gedichten“. Konstanz: Hartung-Gorre 1996, S. 119. 149 Rilke: AMLB, S. 4. 150 Ibidem, S. 27. 151 Ibidem, S. 4. 152 Arndal: „Sehenlernen und Pseudoskopie“, S. 215.

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Rationalitäts-, Erkenntnis- und Sprachkritik gehen dabei eine enge Verbindung ein. Die Affinität des Begriffs der ‚Kritik‘ zu dem der ‚Krise‘ ist dabei nicht zu übersehen.153

Das neue Sehenlernen ist der Anfang einer neuen Welt, eine Offenbarung neuer Möglichkeiten, die Malte das wahre Wesen der Welt zeigen, denn

[Malte] sitz[t] hier und [ist] nichts. Und dennoch, dieses Nichts fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken: Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und einen Apfel?154

Wie Thomas Anz in Bezug auf die Wissenschaftskritik der Moderne bemerkt, ist die „Affinität des Begriffs der ‚Kritik‘ zu dem der ‚Krise‘ […] nicht zu übersehen.“155 Anz bestätigt damit die ideengeschichtliche Verwandtschaft zwischen den Begriffen ‚Krise‘ und ‚Kritik‘ im Rahmen der Moderne, eine Verwandtschaft, für die Historiker Reinhard Koselleck in seiner Studie Kritik und Krise156 das Fundament gelegt hat. Das „Nichts“, das Malte ist, erkennt die Leere seiner eigenen Existenz, aber Malte sieht diese Leere in dem größtmöglichen Kontext, dem der Menschheit überhaupt. Das „Man“, das „die Jahrtausende hat vergehen lassen“ ist eine Menschheit ohne wahre Narrative, ohne Weltdeutung, denn „man [hat] noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt“. Die Rationalitäts- und Wissenschaftskritik des neuen Sehens, das „[sieht], ohne zu begreifen,“157 ist eine Krise, die das Ende dieser alten unzureichenden Weltdeutungen einläutet.

Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von Möglichkeit hat, - dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen. Der Nächstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat, muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun; wenn es auch nur irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein anderer da. Dieser junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird sich fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht. Ja er wird schreiben müssen, das wird das Ende sein: […].158

Nach dem Doppelpunkt bricht eine Kindheitserinnerung Maltes aus, in der er das Unbegreifliche im alten Schlosse des Grafen Brahe erörtert. Auf die Wesensmerkmale dieses Unbegreiflichen, die für

153 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 112. 154 Rilke: AMLB, S. 14. 155 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 112. 156 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. 157 Rilke: AMLB, S. 22. 158 Ibidem, S. 15.

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die Strukturanalyse der Aufzeichnungen relevant sind, wird im Kapitel über das unheimliche Unbegreifliche weiter eingegangen. Die antirationalistische Grundhaltung an der Basis von Maltes Sehen und die Korrelation mit einem Krisenbewusstsein, ja eine Ahnung der Weltdämmerung, machen Die Aufzeichnungen zum prototypischen Text des Expressionismus.

„[Malte] spricht nicht mit nietzscheanischer Dynamik von der Umwertung aller Werte und er spricht nicht mit marxistischem Aktivismus von der Veränderbarkeit der Welt. Und dennoch adressiert er dasselbe Zeitgefühl eines epochalen Wandels.“159

Das Erzählen steht daher in Bezug „zu religiösen Prätexten“160 – der Tradition des „apokalyptischen Denkens“161, das von Klaus Vondung, im übergreifenden kulturellen Rahmen der Moderne, extensiv beschrieben wurde.

Der Gedanke der Erlösung jedenfalls bestimmte die Apokalypse bis in unser Jahrhundert, auch wenn sie sich von ihrem religiösem Ursprung entfernt hat: Die alte, unvollkommene und verdorbene Welt muß zerstört werden, damit eine neue vollkommene aufgerichtet werden kann. Stets kam es der Apokalypse letztlich auf diese neue Welt an; die Apokalypse war eine Erlösungsvision.162

Was versteht man unter dem Begriff ‚Expressionismus‘? Obwohl es ein „Sammelbegriff für konkurrierende Autoren und Gruppierungen“163 ist, setzte Kasimir Edschmidts Rede „Expressionismus in der Dichtung“ vom 13. Dezember 1917 in der zeitgenössischen Diskussion über den Begriff den Ton. Der Expressionismus ist eine Gegenbewegung gegen das Kausaldenken in Naturwissenschaften, gegen den Positivismus. Die Ideologie an der Basis des Positivismus ist der Glaube an die Erkennbarkeit der Welt. Die sprechende Instanz Malte soll in dieser anti-rationelle Tendenz im literarischen Bewusstsein situiert werden. Malte hat Angst vor dem „Unsichtbare[n]“164, das stärker ist als diejenigen, die glauben, sie könnten dieses Unsichtbare erforschen:

Die Gräfin war aufgestanden und wußte nicht, wo sie suchen sollte. Mein Vater drehte sich langsam um sich selbst, als hätte er den Geruch hinter sich. Die Marchesin, die sofort

159 Eifler: Die subjektivistische Romanform, S. 54. 160 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 45. 161 Klaus Vondung: „Mystik und Moderne. Literarische Apokalypse in der Zeit des Expressionismus“. In: Die Modernität des Expressionismus. Hg. v. Anz u. Stark. Berlin: J.B. Metzler 1994, S. 142. 162 Ibidem. 163 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 6. 164 Rilke: AMLB, S. 84.

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angenommen hatte, daß es ein garstiger Geruch sei, hielt ihr Taschentuch vor und sah von einem zum andern, ob es vorüber wäre. „Hier, hier“, rief Wjera von Zeit zu Zeit, als hätte sie ihn. Und um jedes Wort herum war es merkwürdig still. Was mich angeht, so hatte ich fleißig mitgerochen. Aber auf einmal (war es die Hitze in den Zimmern oder das viele nahe licht) überfiel mich zum erstenmal in meinem Leben etwas wie Gespensterfurcht. Es wurde mir klar, daß alle die deutlichen großen Menschen, die eben noch gesprochen und gelacht hatten, gebückt herumgingen und sich mit etwas Unsichtbarem beschäftigten; daß sie zugaben, daß da etwas war, was sie nicht sahen. Und es war schrecklich, daß es stärker war als sie alle.165

Die Beschäftigung mit einem Unsichtbaren, das „das Echte“ ist, aber nicht als „äußere Realität erscheint“ erinnert an die oben erwähnte Rede Kasimir Edschmids, der „die aktivistischen Komponenten des Expressionismus zur Abgrenzung vom Naturalismus und seinem ‚Photographieren der Wirklichkeit‘ geltend“166 macht:

Niemand zweifelt daran, daß das Echte nicht sein kann, was als äußere Realität erscheint. Die Realität muß von uns geschaffen werden. Der Sinn des Gegenstands muß erwühlt sein. Begnügt darf sich nicht werden mit der geglaubten, gewähnten, notierten Tatsache, es muß das Bild der Welt rein und unverfälscht gespiegelt werden. Das aber ist nur in uns selbst. So wird der ganze Raum des expressionistischen Künstlers Vision. Er sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er erlebt. Er gibt nicht wieder, er gestaltet. Er nimmt nicht, er sucht. Nun gibt es nicht mehr die Kette der Tatsachen: Fabriken, Häuser, Krankheit, Huren, Geschrei und Hunger. Nun gibt es die Vision davon. Die Tatsachen haben Bedeutung nur soweit, als durch sie hindurchgreifend die Hand des Künstlers nach dem greift, was hinter ihnen steht.167

Wenn das ‚Echte‘ hinter einer ‚äußeren Realität‘ steht, und wenn man den Text der Aufzeichnungen, im ideengeschichtlichen Rahmen des verhüllten ‚Echten‘, als ‚äußere Realität‘ betrachten sollte, was ist dann dieses ‚Echte‘? Die Antwort auf die Frage ist die konkrete Antwort auf die Frage nach dem Erzählten der Aufzeichnungen. 3.2 Das Erzählen wahrnehmen

Das methodologische Subkapitel ist der Methode gewidmet, mit der in der vorliegenden Arbeit das Erzählen in den Aufzeichnungen wahrgenommen wird. Ein großer Teil der vorliegenden Arbeit wurde dem Romanparadigma gewidmet. In den metareflexiven Gedanken über dieses Paradigma blieb eine fundamentale Frage im Hintergrund; diese Frage lautet: Wenn die Lektüre

165 Rilke: AMLB, S. 84. 166 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 7. 167 Kasimir Edschmid: „Expressionismus in der Dichtung“ [1918]. In: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910- 1920. Hg. von Thomas Anz u. Michael Stark. Stuttgart: J.B. Metzler 1982, S. 42.

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eines Malte-Romans wesentlich illegitim ist, was ist dann die angemessene Methode? Die Prämissen und Schlussfolgerungen des Romanparadigmas, dieser falsche Weg in den Text, werden weiterhin nicht mehr besprochen – hier sollte die große Leere erreicht sein, in dem ein methodologisches Fragezeichen steht. Das Erzählen der Aufzeichnungen, das das Erzählen in einem ‚personal document‘ ist, weist drei fundamentale Kennzeichen auf: einen hohen Grad an Subjektbezogenheit, einen organischen Stil und einen niedrigen Grad an Erzählbarkeit. Die Kennzeichen sollten im Folgenden Zitat nachgewiesen werden:

11. September, rue Toullier. So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das.168

Der hohe Grad an Subjektbezogenheit wurde oben schon behandelt: Malte ist die allgegenwärtige sprechende Instanz, durch deren phänomenologischen Blick ‚gesehen‘ wird („Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest“169). Mit der Bezeichnung eines ‚organischen Stils‘ wird den unüberlegten Charakter der Sprache beschrieben, was man an Einwortsätze (im Zitat hervorgehoben) erkennen kann. Die Tagebuchüberschrift („11. September, rue Toullier“170) bestätigt die Unüberlegtheit, weil diese Überschrift nicht konsequent wiederholt wird, um den Anschein zu erwecken, dass Malte sein Notizbuch als Tagebuch verwenden wollte, dies dann aber wieder vergaß und Aufzeichnungen über ein buntes Allerlei (die Pariser Gegenwart, die dänische Kindheit und einige Leseerfahrungen) machte. Die geringe Erzählbarkeit des Textes, schließlich, ist ein direkte Folge des Erzählstoffes und dessen Handlungsarm-Sein, das oben behandelt sein sollte. Dadurch, dass die Aufzeichnungen eine unüberlegte Spontaneität simulieren, weist dieser Text eine Ähnlichkeit mit Mikhail Bakhtins Begriff ‚primary genre‘ auf. Diese Ähnlichkeit erlaubt, es, den Text als ‚primary genre‘ zu analysieren, obwohl mit ‚primary genre‘ hauptsächlich gesprochene Texte gemeint sind:

168 Rilke: AMLB, S. 3 (Hervorhebungen vom Verfasser). 169 Ibidem. 170 Ibidem.

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It is especially important here to draw attention to the very significant difference between primary (simple) and secondary (complex) speech genres […]. Secondary (complex) speech genres – novels, dramas, all kinds of scientific research, major genres of commentary, and so forth – arise in more complex and comparatively highly developed and organized cultural communication (primarily written) that is artistic, scientific, sociopolitical, and so on. During the process of their formation, they absorb and digest various primary (simple) genres that have taken form in unmediated speech communion. These primary genres are altered and assume a special character when they enter into complex ones. For example, rejoinders of everyday dialogue or letters found in a novel retain their form and their everyday significance only on the plane of the novel’s content. They enter into actual reality only via the novel as a whole, that is, as a literary-artistic event and not as everyday life. The novel as a whole is an utterance just as rejoinders in everyday dialogue or private letters are (they do have a common nature), but unlike these, the novel is a secondary (complex) utterance.171

Hinter den Aufzeichnungen steckt die Intention, sie dem Leser als ‚primary genre‘ erscheinen zu lassen – obwohl die Aufzeichnungen als literarischer Text eigentlich ein ‘secondary genre’ sein. Rilkes dichterische Verfahren ähnelte laut Jacob Haubenreich dem spontanen maltesischen Stil nicht, denn

[in contrast to his poetic compositions,] the Rilke of the Aufzeichnungen was much more a Handarbeiter or Papierarbeiter, continually confronted with the materiality of paper and ink and struggling to bring the proliferating pages of text into a coherent form. In turn, the process of writing as well as the materiality and visuality of the manuscript with which Rilke struggled are crucial for understanding the Aufzeichnungen. Many of the characters, events, and themes of the novel are formed out of the physical process of writing and the concrete materiality of the manuscript, which emerged through a complex, at times tortured process of Schreiben and Durchstreichen.172

Maltes spontane nächtliche Schreiben bildet den äußerlichen Schein des Textes, hinter dem der schaffende Dichter Rilke steht, der poeta faber hinter dem stürmisch-romantisch schaffenden Malte. Die Diskrepanz zwischen den beiden führt zu der Frage, auf welches Schreiben die Strukturanalyse sich bezieht. Die Strukturanalyse bezieht sich auf Maltes Schreiben, weil der Fokus der Arbeit die Textinhärenz ist. Der Text an sich wird analysiert, nicht Rilkes Schreiben, denn in diesem letzteren Fall würde der Text als bloßer Zugang zum dichterischen Schaffen dienen. Rilkes Schaffensprozess soll hier weiterhin unbeachtet bleiben. Es gibt in der Sekundärliteratur übrigens keinen Konsens

171 Mikhail Bakhtin: „The Problem of Speech Genres“. In: The Lyric Theory Reader. A Critical Anthology. Hg. von Virginia Jackson u. Yopie Prins. Baltimore: John Hopkins University Press 2014, S. 225. 172 Jacob Haubenreich: “Text-corporeality and the Double Rend of the Page: The Specter of the Manuscript in Rilke’s ‘Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge’”. In: Monatshefte 105.4 (2013), S. 566.

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über die angebliche Nicht- oder Doch-Spontaneität dieses Schaffens, denn „Malte’s descriptions of Paris are in fact taken from Rilke’s letters with only slight modification, and the date that opens the Notebooks, „September 11th, rue Toullier,“ alludes to Rilke’s first address in Paris – 11, rue Toullier.“173 Im Gegensatz zu Rilkes Schreiben, kann Maltes Schreiben als eine Form der „unmediated communication“174 gelten, was die Voraussetzung eines ‚primary genre‘ in der Bakhtin’schen Terminologie ist. Die Aufzeichnungen sind radikal unvermitteld („unmediated“) weil sie ein ‚personal document‘ sein, in dem die sprechende Instanz seine psychologischen Vorgänge ohne Acht auf Verständlichkeit oder Kohärenz darstellt. Es gibt zum Beispiel Textstellen, wo Malte ohne Erklärung einen Adressat einführt, um diesen dann in der nächsten Aufzeichnung wieder zu verlassen: „Es gibt Teppiche hier, Abelone, Wandteppiche.“175 Dass Malte ohne formellen Übergang die textuellen Ebenen der Pariser Gegenwart, der dänischen Vergangenheit und des Gelesenen austäuscht, soll in dieser Argumentierung nicht unbeachtet bleiben, denn die Feststellung dieser verwirrenden Übergänge bestätigt die Assoziation mit einem ‚primary genre‘. Die Argumentierung, dass die Aufzeichnungen ein ‚primary genre‘ sind, führt aber zu einer weiteren Frage: Wie kann ein solches ‚primary genre‘ analytisch beschrieben werden? Das bahnbrechende Buch Living Narrative176 von Elinor Ochs und Lisa Capps ist in Bezug auf dieses Problem, das Problem der Analyse eines unvermittelten Textes, richtunggebend. Laut Capps und Ochs gibt es in jeder narrativen Aktivität (‚primary‘ und ‚secondary genres‘) einen Gegensatz:

Moreover, ordinary narrative crafted in everyday social encounters elaborately evidences the central tension that drives human beings to narrate. All narrative exhibits tension between the desire to contstruct an over-arching storyline that ties events together in a seamless explanatory framework and the desire to capture the complexities of the events experienced, including haphazard details, uncertainties, and conflicting sensibilities among protagonists. The former proclivity offers a relatively soothing Resolution to bewildering events, yet it flattens human experience by avoiding facets of a situation that don’t make sense within the prevailing storyline. The latter proclivity provides narrators and listeners with a more intimate, “inside” portrayal of unfolding events, yet narrators and listeners can

173 Tobias: „Rilke’s Landscape“, S. 669. 174 Bakhtin: “The Problem of Speech Genres”, S. 225. 175 Rilke: AMLB, S. 75. 176 Elinor Ochs; Lisa Capps: Living Narrative. Creating Lives in Everyday Storytelling. Cambridge: Harvard University Press 2001.

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find it unsettling to be hurtled into the middle of a situation, experiencing it as contingent, emergent, and uncertain, alongside the protagonists.177

Es gibt einen Gegensatz zwischen dem realitätsgetreuen Erzählen und dem kohärenten Erzählen. Das realitätsgetreue Erzählen tritt in einem ‚primary genre‘ stärker hervor. In dem vorliegenden Kontext darf man ‚realitätsgetreu‘ aber nicht mit ‚objektiv‘ gleichsetzen. Mimetisch ist der Text nur in Beziehung zur psychologischen Realität der sprechenden Instanz. Die Romanform muss offensichtlich dem Letzteren, der Kategorie des kohärenten Erzählens, zugeordnet werden, denn

[l]inear, coherent narratives generally have a plot structure that depicts a sequence of temporally and causally ordered events organized around a point, with a beginning that situates a significant, i.e. unexpected and hence tellable, incident and moves logically towards an ending that provides a sense of psychological closure.178

Mit seinen Aufzeichnungen hat Rilke einen radikal anderen Akzent gesetzt, nicht den der mimetischen Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern den der immersiven subjektiven Erfahrung. Der ideologische Hintergrund des Textes, der der anti-positivistischen Moderne, lehnt den Gedanken einer geteilten und teilbaren Wirklichkeit völlig ab. Das Problem, dass es „unsettling“ ist, eine Situation als „contingent, emergent, and uncertain“179 zu erfahren, wird in den Aufzeichnungen explizit genannt:

Die Angst, daß ein kleiner Wollfaden, der auf dem Saum der Decke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerne Nadel; die Angst, daß dieser kleine Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein Kopf, groß und schwer; die Angst, daß dieses Krümchen Brot, das jetzt von meinem Bette fällt, gläsern und zerschlagen unten ankommen würde, und die drückende Sorge, daß damit eigentlich alles zerbrochen sei, alles für immer; die Angst, daß der Streifen Rand eines aufgerissenen Briefes etwas Verbotenes sei, das niemand sehen dürfe, etwas unbeschreiblich Kostbares, für das keine Stelle in der Stube sicher genug sei; die Angst, daß ich, wenn ich einschliefe, das Stück Kohle verschlucken würde, das vor dem Ofen liegt; die Angst, daß irgendeine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat in mir; die Angst, daß das Granit sei, worauf ich liege, grauer Granit; die Angst, daß ich schreien könnte und daß man vor meiner Türe zusammenliefe und sie schließlich aufbräche, die Angst, daß ich mich verraten könnte und alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, daß ich nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist, – und die anderen Ängste... die Ängste.180

177 Capps & Ochs: Living Narrative, S. 4. 178 Capps & Ochs: Living Narrative, S. 5 (Hervorhebungen vom Verfasser). 179 Ibidem, S. 4. 180 Rilke: AMLB, S. 38-39 (Hervorhebungen vom Verfasser).

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Maltes Ängste sind in dem Maße einzigartig, dass sie fast unsagbar sein. In diesem Zitat kann das wesentliche Merkmal der ‚narrativen Exploration‘ nachgewiesen werden, eine narrative Tendenz, in der das Erzählen mehrdeutig, konfliktreich, unstabil, vielleicht sogar überhaupt unmöglich zu interpretieren ist.181 ‚Narrative Exploration‘ ist ein Medium

for airing unresolved life events. When people hear about or are directly involved in an unexpected situation, they often don’t have a clear sense of what transpired and why. They also may not grasp possible implications of an experience. In still other cases they may understand events in ways that diverge from and challenge prevailing narrative accounts.182

Dass das Erzählen der Aufzeichnungen ‘unstabil’ ist, wird par excellence durch die Prävalenz des Irrealis bestätigt. Malte versucht aktiv seine Erfahrung – das Wiederkommen der Kindheit und die Machtübername des Phantastischen, die damit einhergeht – und deren Implikationen zu verstehen:

Männer, die einmal in der Schulzeit das hülflose Laster versucht haben, dessen betrogene Vertraute die armen, harten Knabenhände sind, finden sich wieder darüber, oder es fängt eine Krankheit, die sie als Kinder überwunden haben, wieder in ihnen an; oder eine verlorene Gewohnheit ist wieder da, ein gewisses zögerndes Wenden des Kopfes, das ihnen vor Jahren eigen war. Und mit dem, was kommt, hebt sich ein ganzes Gewirr irrer Erinnerungen, das daranhängt wie nasser Tang an einer versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahren hätte, tauchen empor und mischen sich unter das, was wirklich gewesen ist, und verdrängen Vergangenes, das man zu kennen glaubte: denn in dem, was aufsteigt, ist eine ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer da war, ist müde von zu oftem Erinnern.183

Die Analyse bedarf also einer analytischen Methode, der im Grunde veränderlich ist, das heißt, modular konzipiert, wodurch die Analyse eines Textes, der die Tendenz der ‚narrativen Exploration‘ aufweist, erst strukturell möglich wird. Eine modulare Konzeption ist nicht auf der Voraussetzung der Kohärenz basiert, ermöglich aber das Wahrnehmen einer Struktur, ohne dass die Bestandteile dieser Struktur und ihre Reihenfolge das Gelingen oder Misslingen der Form bestimmen.

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181 Capps & Ochs: Living Narrative, S. 5. 182 Ibidem, S. 7. 183 Rilke: AMLB, S. 38 (Hervorhebungen vom Verfasser).

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4 Analyse: Erzählen und Erzähltes

4.1 Die Psychoanalyse und das Unheimliche des Textes

Oben wurden schon einige Anspielungen auf die Psychoanalyse im Rahmen der synchronen ideengeschichtlichen Methode gemacht. Die Psychoanalyse ist das adäquate Paradigma für die Aufzeichnungen, da das Erzählte auf ‚das Unheimliche‘ des Textes beschränkt wird. Das ‚Unheimliche‘ ist ein Begriff, der von Freud aufgegriffen und von ihm modifiziert und theoretisiert wurde. Über das ‚Unheimliche‘ und seine Qualitäten wurde schon vor der Psychoanalyse diskutiert. Kommen wir mal zurück auf das Zitat aus Kasimir Edschmids Rede: „Niemand zweifelt daran, daß das Echte nicht sein kann, was als äußere Realität erscheint.“184 Die Erschließung eines ‚Echten‘, das hinter der sichtbaren Wirklichkeit versteckt bleibt, eines ‚Echten‘, das „nur in uns selbst“185 ist, ist eine psychoanalytische Auffassung des Künstlers! Maltes Sehen, sein anti- positivistischer Einstieg in die wahre Erkenntnis, ist in seinem Wesen und seiner Intentionalität ein psychoanalytisches Verfahren. Malte ist der Begegnung mit dem eigenen Unbewussten ausgeliefert:

Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.186

Dies wird deutlicher, wenn man Joachim Pfeiffers Definition eines psychoanalytischen Verfahrens, und konkret eines psychoanalytischen literaturwissenschaftlichen Deutungsverfahrens, mitdenkt:

Die psychoanalytische Literaturwissenschaft versteht sich in erster Linie als interpretatives Verfahren, das – ausgehend von Freuds Traumtheorie – einen ‚Subtext‘, eine latente Bedeutung im literarischen Text zu erkennen versucht. Das psychoanalytische Deutungsverfahren setzt an schwer verständlichen oder erklärungsbedürftigen Textstellen an und geht davon aus, dass sich mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse eine Tiefenstruktur des Textes erschließen lässt.187

In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse schreibt Sigmund Freud über die drei „große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe“, die „die Menschheit im Laufe der Zeiten von

184 Edschmid: „Expressionismus in der Dichtung“, S. 42. 185 Ibidem. 186 Rilke: AMLB, S. 4. 187 Joachim Pfeiffer: “Literaturpsychologie / Psychoanalytische Literaturwissenschaft”. In: Literaturpsychologie 1945- 1987. Hg. von Bernd Urban u. Joachim Pfeiffer. Würzburg: Königshausen & Neumann 1989, S. 355.

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der Wissenschaft erdulden“ müsste. Die erste Kränkung, so schreibt Freud, war, als die Menschheit „erfuhr, dass unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist“ – hier verweist er auf Nikolaus Kopernikus –; die zweite, „als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte“ und ihn „auf die Abstammung aus dem Tierreich […] verwies“ – hier spielt Freud auf Charles Darwin an. Die dritte und laut Freud „empfindlichste Kränkung“ aber „soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem [Freud] nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause […].“188 Im dritten Punkt seiner Steigerung verweist er auf sich selbst: ein Beleg dafür, dass ihm die menschliche Eigenliebe auch nicht fehlt. Aus diesem Zitat könnte man einen wichtigen Unterschied folgern: Freud situiert sich selbst in einer Tradition der Wissenschaft, die trotz Widerstand die Aufklärung voranbringt. Die Bewegung der literarischen Moderne dagegen, in der die Psychoanalyse durch Künstler aufgegriffen und angewendet wird, diese Epoche ist ein deutlicher Bruch mit der Aufklärung. Freud sieht sich als aufgeklärte Figur, die sich in die terra incognita des Unbewussten wagt, um diese zu enthüllen. Aber die literarische Moderne thematisieren vor allem die radikale Unverständlichkeit des Lebens und des Selbst – dieses „Inneres, von dem [man] nicht wußte.“189 In dem Punkt liegt der Krux der ideengeschichtlichen Analogie mit der Psychoanalyse: Maltes Thematisierung des Unverständlichen, des Anti-Positivistischen, das die strukturierte, aber sinnlose Welt der Gegenwart bedroht und ihr Ende ankündigt, sollte als literarische Modifikation des Freudschen Unheimlichen betrachtet werden. Freud reagiert mit seinem Aufsatz über Das Unheimliche190 auf einen Artikel von Ernst Jentsch, „Zur Psychologie des Unheimlichen“191, der 1906 in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift veröffentlicht wurde. Jentsch bestimmt die Erfahrung des Unheimlichen auf den „gefühlserzeugenden Eindruck“192, der durch eine Begegnung mit dem Unbekannten, mit dem Fremden, mit einem Mangel an „intellectuelle[r]

188 Sigmund Freud: Gesammelte Werke XI: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Hg. von Anna Freud et al. Frankfurt am Main: Fischer 1998, S. 294-295. 189 Rilke: AMLB, S. 4. 190 Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919]. Studienausgabe: Band 4. Hg. von Alexander Mitscherlich et al. Frankfurt am Main: Fischer 1970, S. 241-274. 191 Ernst Jentsch: „Zur Psychologie des Unheimlichen.“ In: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 22/23 (1906), S. 195-198 und 203-205. 192 Ibidem, S. 195.

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Sicherheit“193, verursacht wird. Sowohl Freud als auch Jentsch beginnen ihre Definition des Unheimlichen mit einem Hinweis auf die Etymologie des Wortes ‚unheimlich‘ in der deutschen Sprache:

Mit dem Worte „unheimlich“ nun scheint unsere deutsche Sprache ein ziemlich glückliche Bildung zu Stande gebracht zu haben. Es scheint dadurch wohl zweifellos ausgedrückt werden zu sollen, dass einer, dem etwas „unheimlich“ vorkommt, in der betreffenden Angelegenheit nicht recht „zu Hause“, nicht „heimisch“ ist, dass ihm die Sache fremd ist oder wenigstens so erscheint, kurzum, das Wort will nahe legen, dass mit dem Eindruck der Unheimlichkeit eines Dinges oder Vorkommnisses ein Mangel an Orientierung verknüpft ist.194

Freud versucht Jentschs Deutung mit Hilfe von Daniel Sanders Wörterbuch von 1860 dezidiert zu widerlegen.195 Er ersetzt das Präfix „un“ durch „nicht mehr“, denn „das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“,196 und schlussfolgert,

Also ‚heimlich‘ ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz ‚unheimlich‘ zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich. Halten wir dies noch nicht recht geklärte Ergebnis mit der Definition des Unheimlichen von Schelling zusammen [:“Unheimlich nennt man alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.“197].198

Freud isoliert Schellings Definition des Unheimlichen aus ihren Kontext und baut darauf seine weitere Argumentation auf. Der Beleg dafür, dass das Unheimliche dasjenige ist, was „im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“, entstammt Schellings Philosophie der Mythologie (1842), „wo gegen Ende des Textes, im Zusammenhang antiker Mysterienkulte, das Orientalische als das Unheimliche des Griechischen behauptet wird.“199 Detlef Kremer bemerkt in seinem Artikel über die Rhetorik in Freuds Aufsatz Das Unheimliche, dass Freuds Autoritätsargument hier nicht legitim ist, denn „[d]iesen Zusammenhang [mit den antiken

193 Ibidem, S. 205. 194 Ibidem, S. 195. 195 Detlef Kremer: “Freuds Aufsatz ‚Das Unheimliche‘ und die Widerstände des unverständlichen Textes.“ In: Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Hg. von Peter-André Alt und Thomas Anz. Berlin: de Gruyter 2008, S. 61. 196 Freud: Das Unheimliche, S. 241. 197 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ausgewählte Schriften in sechs Bänden. Band VI. Hg. von Manfred Frank. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 661. 198 Freud: Das Unheimliche, S. 243. 199 Kremer: „Freuds Aufsatz ‚Das Unheimliche‘“, S. 61.

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Mysterienkulten] nimmt Freud nicht zur Kenntnis, und er übergeht Sanders Zurückweisung dieser Etymologie, ohne näher darauf einzugehen, oder das gar zu begründen.“200 Der Punkt, in dem Freud und Jentsch übereinstimmen, ermöglicht uns, nach dem kurzen ideengeschichtlichen Überblick des Unheimlichen, den Begriff ‚das Unheimliche‘ in den Aufzeichnungen aufzuweisen. Im Kontext der Polemik von Freud und Jentsch muss betont werden, dass die drei Textebenen der Aufzeichnungen eine Anwendung des Begriffes ‚unheimlich‘ auf den Text nicht nur möglich machen, sondern auch erfordern, denn sowohl die Ebene der Kindheit als auch die des Mythologisch-Sagenhaften sind Quellen des Unheimlichen:

Wie ein Ding, das lange verloren war, eines Morgens auf seiner Stelle liegt, geschont und gut, neuer fast als zur Zeit des Verlustes, ganz als ob es bei irgend jemandem in Pflege gewesen wäre –: so liegt da und da auf meiner Bettdecke Verlorenes aus der Kindheit uns ist wie neu. Alle verlorenen Ängste sind wieder da.201

Die Kindheit ist Malte „ein Geheimnis, [das] im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.“202 „Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist wiedergekommen, und ich fühle, daß sie immer noch so schwer ist wie damals und daß es nichts genützt hat, älter zu werden“203, schreibt Malte. Diese Textstelle suggeriert eine Anlehnung an das psychoanalytische Unheimliche, aber, wenn man Maltes Aufzählen von demjenigen, wovor er Angst hat, liest, kann man die Relevanz von Jentschs Begriff nicht bestreiten.

Die Angst, daß ein kleiner Wollfaden, der aus dem Saum der Decke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerne Nadel; die Angst, daß dieser kleine Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein Kopf, groß und schwer; die Angst, daß dieses Krümchen Brot, das jetzt von meinem Bette fällt, gläsern und zerschlagen unten ankommen würde, und die drückende Sorge, daß damit eigentlich alles zerbrochen sei, alles für immer; die Angst, daß der Streifen Rand eines aufgerissenen Briefes etwas Verbotenes sei, das niemand sehen dürfe, etwas unbeschreiblich Kostbares, für das keine Stelle in der Stube sicher genug sei; […].204

Laut Jentsch sind die „psychische[n] Unsicherheiten“205 die Ursache des Unheimlichen. Malte benutzt den Konjunktiv I. Dieser grammatische Modus drückt den psychischen Zustand der Unsicherheit aus, den Jentsch als Ursache der unheimlichen Erfahrung sieht.

200 Ibidem, S. 61. 201 Rilke: AMLB, S. 38. 202 Schelling: Ausgewählte Schriften, S. 661. 203 Rilke: AMLB, S. 39. 204 Ibidem, S. 38 (Hervorhebungen vom Verfasser). 205 Jentsch: „Zur Psychologie des Unheimlichen“, S. 197.

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Abgesehen von dem Mangel an Orientierung, der durch Unkenntniss des primitiven Menschen entsteht, eine Unkenntniss, welche ihm also durch die Alltäglichkeit unter gewöhnlichen Verhältnissen zum grossen Theile verschleiert wird, entstehen gewisse Regungen von Gefühlen psychischer Unsicherheit besonders dann leicht, wenn entweder die Unkenntniss sehr auffallend oder wenn die subjective Wahrnehmung des Schwankens abnorm stark ist. Das erstere beobachtet man leicht bei Kindern: das Kind hat noch so wenig Erfahrung, dass ihm einfache Dinge unerklärlich, nur wenig complizirte Situationen bereits dunkle Geheimnisse sein können. Es ist dies eine der wichtigsten Ursachen, warum das Kind meistens so ängstlich ist und so wenig Selbstvertrauen zeigt […].206

Maltes ‚neue Sehen‘ muss man auf den Blick des Kindes beziehen. Es ist durch dieses Schauen, durch das Schauen im Sinne von Husserls Phänomenologie, woraus eine psychische Unsicherheit im Sinne von Jentsch entsteht. Malte leidet an einem „Hang zu aussergewöhnlich starker Reflexivität“207 und an einer „üppig wuchernde[n] Phantasie“.208 Maltes „üppig wuchernde Phantasie“ erlaubt es, die gemeinsame Basis einer Unheimlichkeitsbestimmung zwischen Freud und Jentsch festzustellen. Kremer bemerkt, dass Freuds Bestimmung des Unheimlichen am Ende des zweiten Abschnitts seines Aufsatzes „bedenklich nahe an die Ausführungen Jentschs zurückführt.“209 Freud schreibt, dass

es nämlich oft und leicht unheimlich wirkt, wenn die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird, wenn etwas real vor uns hintritt, was wir bisher für phantastisch gehalten haben […]. Das Infantile daran, was auch das Seelenleben der Neurotiker beherrscht, ist die Überbetonung der psychischen Realität im Vergleich zur materiellen, ein Zug, welcher sich der Allmacht der Gedanken anschließt.210

Aber was heißt Vermischung von Phantasie und Wirklichkeit? Kann man im Fall der Aufzeichnungen überhaupt ‚Wirklichkeit‘ mitdenken, nachdem gegen das Romanparadigma argumentiert wurde, weil das Fehlen der Diegese festgestellt wurde? Es geht im Fall der Aufzeichnungen nicht um ‚Wirklichkeit‘ als solche, sondern um ein psychisches Bewusstsein von Wirklichkeit in der allumfassenden Subjektivität der sprechenden Instanz. Das Machtergreifen des Phantastischen in diesem realitätsvoraussetzenden Bewusstsein wird in der folgenden Textstelle durch die Bildlichkeit des Pathologischen signalisiert:

Und da, als es drüben so warm und schwammig lallte: da zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich

206 Ibidem, S. 196. 207 Ibidem. 208 Ibidem. 209 Kremer: „Freuds Aufsatz ‚Das Unheimliche‘“, S. 63. 210 Freud: Das Unheimliche, S.258.

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als Kind im Fieber lag: das Große […]. Es war später einfach ausgeblieben, auch in Fiebernächten war es nicht wiedergekommen, aber jetzt war es da, obwohl ich kein Fieber hatte. Jetzt war es da. Jetzt wuchs es aus mir heraus wie eine Geschwulst, wie ein zweiter Kopf, und war ein Teil von mir, obwohl es doch gar nicht zu mir gehören konnte, weil es so groß war. Es war da, wie ein großes totes Tier, das einmal, als es noch lebte, meine Hand gewesen war oder mein Arm. Und mein Blut ging durch mich und durch es, wie durch einen und denselben Körper. Und mein Herz mußte sich sehr anstrengen, um das Blut in das Große zu treiben: es war fast nicht genug Blut da. Und das Blut trat ungern ein in das Große und kam krank und schlecht zurück. Aber das Große schwoll an und wuchs mir vor das Gesicht wie eine warme bläuliche Beule und wuchs mir vor den Mund, und über meinem letzten Auge war schon der Schatten von seinem Rande.211 4.2 Labov und Waletzky: ein analytischer Rahmen für Erzählen über persönliche Erfahrung

Ihren Kennzeichnen nach sind die Aufzeichnungen nicht epischer Natur, sondern episodisch. Die episodische Methodologie, mit der die Aufzeichnungen analysiert werden können, ist der analytische Rahmen für Erzählen über persönliche Erfahrungen, der von William Labov und Joshua Waletzky entwickelt wurde. Obwohl Labov und Waletzky über mündliche Quellen schreiben, ist es möglich, ihre Konzepte auf die Aufzeichnungen anzuwenden. Labov und Waletzky haben in ihrem Aufsatz „Narrative Analysis: Oral Versions of Personal Experience“212 den Ansatz zu einem universellen methodologischen Rahmen für eine strukturbezogene Erzählanalyse gegeben. Labovs Methode unterscheidet zwischen sechs Phasen, die in bestimmten Kombinationen und Reihenfolgen die Struktur einer Erzählung bilden: ‚Abstract‘ ‚Orientierung‘, ‚Komplikation‘, ‚Evaluation‘, ‚Resolution‘ und ‚Coda‘. In diesem Modell ist der Abstract die Zusammenfassung des Erzählten. Die Funktion der Orientierung ist „to orient the listener in respect to person, place, time, and behavioral situation.”213 Die Komplikation ist eine “complicating action”214. Ein Erzähltes kann eine zyklische Natur aufweisen, in der es mehrere Komplikationen gibt. Die ‚Evaluation‘ ist der Teil des Erzählten, „which reveals the attitude of the narrator towards the narrative“215. Die Resolution ist “that portion

211 Rilke: AMLB, S. 37. 212 William Labov; Joshua Waletzky: “Narrative Analysis: Oral Versions of Personal Experience”. In: Essays of the Verbal and Visual Arts. Proceedings of the 1966 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society. Hg. v. June Helm. Seattle: University of Washington Press 1966, S. 12-44. 213 William Labov; Joshua Waletzky: “Narrative Analysis”, S. 32. 214 Ibidem, S. 32. 215 Ibidem, S. 37.

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of the narrative sequence which follows the Evaluation.”216 Wenn die Evaluation die letzte Phase der Erzählung ist, fällt die Evaluation mit der Resolution zusammen. Die Resolution ist die Antwort auf die ‚complicating action‘. Die letzte Phase ist die Coda. Die Coda ist nicht notwendig für die Vollständigkeit der Erzählung. Sie ist „a functional device for returning the verbal perspective to the present moment.”217

4.3 Die Erzählstruktur des Unheimlichen

In diesem Subkapitel werden vier von Maltes Begegnungen mit dem Unheimlichen im Sinne von Labovs Erzählphasen analysiert. Die Liste ist nicht exhaustiv gemeint. Die Aufzeichnungen enthalten mehr unheimliche Zitate als diese Textstellen allein. Die Textstellen wurden aufgrund ihrer narrativen Repräsentativität gewählt, weil viele unheimliche Zitate in den Aufzeichnungen eher eine Umschreibung, ein literarisches Tableau vivant sind. In diesen Zitaten wäre eine Struktur nicht aufzuweisen, weil sie in Maltes Schreiben als eine narrative Einheit funktionieren. Ein treffendes Beispiel eines solchen statischen Bildes wäre die Textstelle über den Mann, „der einen Gemüsewagen vor sich herschob.“218

Irgendwo habe ich einen Mann gesehen, der einen Gemüsewagen vor sich herschob. Er schrie: Choufleur, Chou-fleur, das fleur mit eigentümlich trübem eu. Neben ihm ging eine eckige, häßliche Frau, die ihn von Zeit zu Zeit anstieß. Und wenn sie ihn anstieß, so schrie er. Manchmal schrie er auch von selbst, aber dann war es umsonst gewesen, und er mußte gleich darauf wieder schreien, weil man vor einem Hause war, welches kaufte. Habe ich schon gesagt, daß er blind war? Nein? Also er war blind. Er war blind und schrie. Ich fälsche, wenn ich das sage, ich unterschlage den Wagen, den er schob, ich tue, als hätte ich nicht bemerkt, daß er Blumenkohl ausrief. Aber ist das wesentlich? Und wenn es auch wesentlich wäre, kommt es nicht darauf an, was die ganze Sache für mich gewesen ist? Ich habe einen alten Mann gesehen, der blind war und schrie. Das habe ich gesehen. Gesehen.219

Warum ist diese Textstelle unheimlich? Zuerst weil der phänomenologische Stil eine intellektuelle Unsicherheit, ein „Mangel an Orientirung“ im Sinne von Jentsch impliziert. Erst nach der Beschreibung des visuellen Eindrucks erwähnt Malte, „daß er blind war“220. Dieses

216 Labov; Waletzky: “Narrative Analysis”, S. 39. 217 Ibidem. 218 Rilke: AMLB, S. 27. 219 Ibidem. 220 Ibidem.

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hinzukommende Wissen bewirkt ein tieferes Verständnis, und eine Ahnung, dass hinter den scheinbar oberflächlichen Observationen („Neben ihm ging eine eckige, häßliche Frau, die ihn von Zeit zu Zeit anstießt“) eine düstere Bedeutung steckt, zum Beispiel, dass der Mann zutiefst hilflos ist. Hierher kommt ein zweiter Grund dafür, diese Textstelle unheimlich zu nennen. Jentsch sieht eine Beziehung zwischen den Sinnen und einer unheimlichen Unsicherheitsempfindung. Das „Ausfallen einer wichtigen Sinnesfunction kann solche Gefühle im Menschen stark steigern.“221 „So giebt es in der Nacht, die bekanntlich keines Menschen Freund ist, viel mehr und viel grössere Hasenfüsse, als bei hellem Tage,“222 schreibt Jentsch, der Blindheit in einem kausalen Zusammenhang mit Unheimlichkeitserfahrungen sieht. Ein dritter Grund ist das, was Freud „das Infantile“ in Maltes Schauen genannt hätte. Wenn Malte betont, dass das Wesentliche für ihn ist, dass er „einen alten Mann gesehen [hat], der blind war und schrie“, dann macht er hierdurch explizit, dass sein Seelenleben durch „die Überbetonung der psychischen Realität im Vergleich zur materiellen“223 beherrscht wird, „ein Zug, welcher sich der Allmacht der Gedanken anschließt.“224 Es kommt jetzt darauf an, das Wissen über das Unheimliche aus den zwei zeitgenössischen Primärtexten – Jentsch und Freud - auf die unheimlichen narrativen Episoden der Aufzeichnungen anzuwenden.

4.3.1 Eine schlanke, hellgekleidete Dame Die erste Begegnung mit dem Unheimlichen, über die Malte schreibt, betrifft das Erscheinen der Christine Brahe, einer Gestorbenen. „Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern, zusammenhängt“, schreibt Freud, der die Wiederkehr der Toten das „stärkst[e] Beispiel von Unheimlichkeit“225 nennt.

221 Jentsch: „Zur Psychologie des Unheimlichen“, S. 197. 222 Ibidem. 223 Freud: Das Unheimliche, S.258. 224 Ibidem. 225 Ibidem, S.255.

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Die Mahlzeit schleppte sich weiter wie immer, und man war gerade beim Nachtisch angelangt,226

als meine Blicke von einer Bewegung ergriffen und mitgenommen wurden, die im Hintergrund des Saales, im Halbdunkel, vor sich ging. Dort war nach und nach eine, wie ich meinte, stets verschlossene Türe, von welcher man mir gesagt hatte, daß sie in das Zwischengeschoß führe, aufgegangen, und jetzt, während ich mit einem mir ganz neuen Gefühl von Neugier und Bestürzung hinsah, trat in das Dunkel der Türöffnung eine schlanke, hellgekleidete Dame und kam langsam auf uns zu. Ich weiß nicht, ob ich eine Bewegung machte oder einen Laut von mir gab, der Lärm eines umstürzenden Stuhles zwang mich, meine Blicke von der merkwürdigen Gestalt abzureißen, und ich sah meinen Vater, der aufgesprungen war und nun, totenbleich im Gesicht, mit herabhängenden geballten Händen, auf die Dame zuging. Sie bewegte sich indessen, von dieser Szene ganz unberührt, auf uns zu, Schritt für Schritt, und sie war schon nicht mehr weit von dem Platze des Grafen, als dieser sich mit einem Ruck erhob, meinen Vater beim Arme faßte, ihn an den Tisch zurückzog und festhielt, während die fremde Dame, langsam und teilnahmlos, durch den nun freigewordenen Raum vorüberging, Schritt für Schritt, durch unbeschreibliche Stille, in der nur irgendwo ein Glas zitternd klirrte, und in einer Tür der gegenüberliegenden Wand des Saales verschwand. 227

In diesem Augenblick bemerkte ich, daß es der kleine Erik war, der mit einer tiefen Verbeugung diese Türe hinter der Fremden schloß.228

Ich war der einzige, der am Tische sitzengeblieben war; ich hatte mich so schwer gemacht in meinem Sessel, mir schien, ich könnte allein nie wieder auf. Eine Weile sah ich, ohne zu sehen.

Dann fiel mir mein Vater ein, und ich gewahrte, daß der Alte ihn noch immer am Arme festhielt. Das Gesicht meines Vaters war jetzt zornig, voller Blut, aber der Großvater, dessen Finger wie eine weiße Kralle meines Vaters Arm umklammerten, lächelte sein

226 Rilke: AMLB, S. 20. 227 Ibidem. 228 Ibidem.

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maskenhaftes Lächeln. Ich hörte dann, wie er etwas sagte, Silbe für Silbe, ohne daß ich den Sinn seiner Worte verstehen konnte. Dennoch fielen sie mir tief ins Gehör, denn vor etwa zwei Jahren fand ich sie eines Tages unten in meiner Erinnerung, und seither weiß ich sie. Er sagte: "Du bist heftig, Kammerherr, und unhöflich. Was läßt du die Leute nicht an ihre Beschäftigungen gehn?" "Wer ist das?" schrie mein Vater dazwischen. "Jemand, der wohl das Recht hat, hier zu sein. Keine Fremde. Christine Brahe."--Da entstand wieder jene merkwürdig dünne Stille, und wieder fing das Glas an zu zittern. Dann aber riß sich mein Vater mit einer Bewegung los und stürzte aus dem Saale.229

Die erste narrative Begegnung mit dem Unheimlichen enthält grundsätzlich zwei unterschiedliche ‚Komplikations‘, obwohl die zweite ‚Komplikation‘ von der ersten ausgelöst wird. Obwohl es offensichtlich eine kausale Verbindung zwischen dem deutlich unheimlichen Erscheinen der Toten und der nicht explizit unheimlichen Reaktion des Vaters müssen die zwei doch als separate Instanzen des Unheimlichen betrachtet werden. Das Erscheinen der Toten kann man eindeutig dem Unheimlichen zuordnen, desto mehr, weil Malte schreibt, dass Christine Brahe noch dreimal gesehen wurde: „Wir hielten uns noch acht Wochen oder neun in diesem Hause auf, wir ertrugen den Druck seiner Seltsamkeiten, und wir sahen noch dreimal Christine Brahe.“230 In seinem Aufsatz über das Unheimliche legt Freud die Basis für seine spätere Schrift Jenseits des Lustprinzips, in der er den Regressionstrieb theoretisiert, der sich durch Wiederholung eines Traumes manifestiert und der latente Todeswunsch ist. In Freuds Aufsatz das Unheimliche wird der ‚Wiederholungszwang‘ noch nicht an sich erforscht, aber Freud erkennt „die unbeabsichtigte Wiederholung“ als Quelle des unheimlichen Effekts. Laurie Ruth Johnson schreibt über die Beziehung zwischen ästhetischer Angst und dem Unheimlichen und betonnt hierbei, dass Wiederholung charakteristisch für das Unheimliche ist. Die Wiederholung ist eine Markierung des unbewussten Wissens (und in der Terminologie der vorliegenden Arbeit: des irrationellen Wissens):

What Freud calls the „compulsion to repeat” repressed content is a necessary precondition for the eventual “impulsion to remember” that brings about insight and healing. The repetition inherent to the uncanny – the return of repressed content – is a way of revealing what the subject knows, but does not realize or admit that he or she knows.231

229 Ibidem, S. 21. 230 Rilke: AMLB, S. 22. 231 Laurie Ruth Johnson: Aesthetic Anxiety. Uncanny Symptoms in and Culture. Wien: Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 2010, S. 28.

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Christine Brahes Erscheinung steht also in einem direkten Bezug zur Bewusstseinserweiterung. Wie wird Malte diese Erweiterung gewahr? Diese Frage hängt stärker mit der Reaktion auf die Erscheinung zusammen als mit der Erscheinung an und für sich. Warum ist die Reaktion auf die Erscheinung, die Malte erst nach dem Verschwinden des Spuks gewahr wird, unheimlich? Hier muss an die ‚Allmacht der Gedanken‘ angeknüpft werden. Die Tatsache, dass Erik die Tote ebenfalls sieht und ihr sogar dient, ist dem verwirrten Malte der Beweis, dass er nicht nur psychische Vorgänge wahrnimmt, sondern eine materielle, überindividuelle Realität. Zweitens erkennt Malte Familienverhältnisse, die er noch nicht artikulieren kann, aber die sich in seiner Wahrnehmung manifestieren. Malte wird konfrontiert mit demjenigen, das er ahnt, aber nicht begreift, mit dem irrationellen Wissen und zugleich mit der Präsenz einer fundamentalen intellektuellen Unsicherheit: „Eine Weile sah ich, ohne zu sehen.“232 Auf die unverständliche Reaktion des Vaters reagiert Malte nicht – er kommt nicht einmal dazu, sie zu evaluieren. Es ist merkwürdig, dass keine Textstelle mit Labovs ‚Resolution‘ übereinstimmt. Auf diese Merkwürdigkeit komme ich noch zurück.

4.3.2 Mamans Geschichte Die zweite narrativ vollständige Begegnung mit dem Unheimlichen ist Mamans Geschichte. “[Maman] hatte die Überzeugung, daß alles zu kompliziert für sie sei“, schreibt Malte. „Aber in letzter Zeit schien [Maman] doch Ingeborg das, was am schwersten zu begreifen war.“233 Die Einführung in Mamans Geschichte sollte als Signal fungieren, dass diese Erzählung eine Erforschung des Unheimlichen ist. Die Unfähigkeit, das Leben zu begreifen, die Maltes Maman sich selbst zuschreibt, erinnert an ein Wesensmerkmal des Unheimlichen: die intellektuelle Unsicherheit. Das Thema eines verdrängten Vergangenes ist auf der Ebene der Geschichte vorhanden. Es wird über eine Tote gesprochen, Ingeborg, die plötzlich wieder erscheint.

232 Rilke: AMLB, S. 20. 233 Ibidem, S. 52.

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Und nun will ich die Geschichte aufschreiben, so wie Maman sie erzählte, wenn ich darum bat.234

Es war mitten im Sommer, am Donnerstag nach Ingeborgs Beisetzung. Von dem Platze auf der Terrasse, wo der Tee genommen wurde, konnte man den Giebel des Erbbegräbnisses sehen zwischen den riesigen Ulmen hin. Es war so gedeckt worden, als ob nie eine Person mehr an diesem Tisch gesessen hätte, und wir saßen auch alle recht ausgebreitet herum. Und jeder hatte etwas mitgebracht, ein Buch oder einen Arbeitskorb, so daß wir sogar ein wenig beengt waren. Abelone (Mamans jüngste Schwester) verteilte den Tee, und alle waren beschäftigt, etwas herumzureichen, nur dein Großvater sah von seinem Sessel aus nach dem Hause hin. Es war die Stunde, da man die Post erwartete, und es fügte sich meistens so, daß Ingeborg sie brachte, die mit den Anordnungen für das Essen länger drin zurückgehalten war.235

In den Wochen ihrer Krankheit hatten wir nun reichlich Zeit gehabt, uns ihres Kommens zu entwöhnen; denn wir wußten ja, daß sie nicht kommen könne.236

Aber an diesem Nachmittag, Malte, da sie wirklich nicht mehr kommen konnte –: da kam sie.237

Vielleicht war es unsere Schuld; vielleicht haben wir sie gerufen. Denn ich erinnere mich, daß ich auf einmal dasaß und angestrengt war, mich zu besinnen, was denn eigentlich nun anders sei. Es war mir plötzlich nicht möglich zu sagen, was; ich hatte es völlig vergessen. Ich blickte auf und sah alle andern dem Hause zugewendet, nicht etwa auf eine besondere, auffällige Weise, sondern so recht ruhig und alltäglich in ihrer Erwartung. Und da war ich daran – (mir wird ganz kalt, Malte, wenn ich es denke) aber, Gott behüt mich, ich war daran zu sagen: "Wo bleibt nur –"238

234 Ibidem. 235 Ibidem. 236 Rilke: AMLB, S. 53. 237 Ibidem. 238 Ibidem.

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Da schoß schon Cavalier, wie er immer tat, unter dem Tisch hervor und lief ihr entgegen.239

Ich hab es gesehen, Malte, ich hab es gesehen. Er lief ihr entgegen, obwohl sie nicht kam; für ihn kam sie. Wir begriffen, daß er ihr entgegenlief.240

Zweimal sah er sich nach uns um, als ob er fragte. Dann raste er auf sie zu, wie immer, Malte, genau wie immer, und erreichte sie; denn er begann rund herum zu springen, Malte, um etwas, was nicht da war, und dann hinauf an ihr, um sie zu lecken, gerade hinauf. Wir hörten ihn winseln vor Freude, und wie er so in die Höhe schnellte, mehrmals rasch hintereinander, hätte man wirklich meinen können, er verdecke sie uns mit seinen Sprüngen. Aber da heulte es auf einmal, und er drehte sich von seinem eigenen Schwunge in der Luft um und stürzte zurück, merkwürdig ungeschickt, und lag ganz eigentümlich flach da und rührte sich nicht. Von der andern Seite trat der Diener aus dem Hause mit den Briefen. Er zögerte eine Weile; offenbar war es nicht ganz leicht, auf unsere Gesichter zuzugehen.241

Jeden Teil der Erzählstruktur konnten wir bisher eindeutig mit einer Erzählphase assoziieren. Das Ende von Mamans Geschichte ist in dieser Hinsicht problematisch. Gilt der Schluss als ‚Resolution‘ oder als Weiterentwicklung der Komplikation? Obwohl am Schluss dieser Erzählung auf die ‚Komplikation‘ reagiert wird, kann dieses Ende nicht als ‚Resolution‘ betrachtet werden, wegen der erschütternden Eigenartigkeit der Handlung. Konkreter formuliert: Das Ende der Erzählung ist unheimlich, wie auch das Wiederkommen der toten Ingeborg. Man sollte hieraus folgern, dass es vielmehr um eine zweite, eigenständige ‚Komplikation‘ geht, als um eine eigentliche ‚Resolution‘. Diese zweite ‚comlication‘ steht wohl mit der ersten ‚Komplikation‘ in einem kausalen Zusammenhang, aber gilt als ‚unheimlich‘, um Gründe, die unabhängig von der ersten ‚comlication‘ qualifiziert werden können. Hierum wird in die Strukturanalyse eine ‚Komplikation #2‘ eingefügt:

239 Ibidem. 240 Ibidem. 241 Rilke: AMLB, S. 53.

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Und dein Vater winkte ihm auch schon, zu bleiben. Dein Vater, Malte, liebte keine Tiere; aber nun ging er doch hin, langsam wie mir schien, und bückte sich über den Hund. Er sagte etwas zu dem Diener, irgend etwas Kurzes, Einsilbiges. Ich sah, wie der Diener hinzusprang, um Cavalier aufzuheben. Aber da nahm dein Vater selbst das Tier und ging damit, als wüßte er genau wohin ins Haus hinein.242

Der Krux der Unheimlichkeit dieser Textstelle ist das Verb ‚wüßte‘. Der Konjunktiv deutet an, dass es für Maman (und demzufolge für Malte) unvorstellbar ist, dass jemand genau wüsste, was zu tun, wenn ein Hund durch ein Wahnbild ohnmächtig wird. Diese Konfrontation mit dem radikal Unverständlichen bleibt wiederum unkommentiert, das heißt hier, unevaluiert. Das Merkwürdige ereignet sich erneut: Die ‚Resolution‘ muss, wie im vorigen Fall, ausbleiben.

4.3.3 Von der Hand Die Erzählung von der Hand ist die dritte narrativ vollständige Begegnung mit dem Unheimlichen.

Einmal, als es über dieser Erzählung fast dunkel geworden war, war ich nahe daran, Maman von der 'Hand' zu erzählen: in diesem Augenblick hätte ich es gekonnt. Ich atmete schon auf, um anzufangen, aber da fiel mir ein, wie gut ich den Diener begriffen hatte, daß er nicht hatte kommen können auf ihre Gesichter zu. Und ich fürchtete mich trotz der Dunkelheit vor Mamans Gesicht, wenn es sehen würde, was ich gesehen habe. Ich holte rasch noch einmal Atem, damit es den Anschein habe, als hätte ich nichts anderes gewollt. Ein paar Jahre hernach, nach der merkwürdigen Nacht in der Galerie auf Urnekloster, ging ich tagelang damit um, mich dem kleinen Erik anzuvertrauen. Aber er hatte sich nach unserem nächtlichen Gespräch wieder ganz vor mir zugeschlossen, er vermied mich; ich glaube, daß er mich verachtete. Und gerade deshalb wollte ich ihm von der 'Hand' erzählen. Ich bildete mir ein, ich würde in seiner Meinung gewinnen (und das wünschte ich dringend aus irgendeinem Grunde), wenn ich ihm begreiflich machen könnte, daß ich das wirklich erlebt hatte. Erik aber war so geschickt im Ausweichen, daß es nicht dazu kam. Und dann reisten wir ja auch gleich. So ist es, wunderlich genug, das erstemal, daß ich (und schließlich auch nur mir selber) eine Begebenheit erzähle, die nun weit zurückliegt in meiner Kindheit. […]243

242 Ibidem, S. 54. 243 Rilke: AMLB, S. 54.

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Es ist ausgemacht, daß ich an jenem Abend einen Ritter zeichnete, einen einzelnen, sehr deutlichen Ritter auf einem merkwürdig bekleideten Pferd. Er wurde so bunt, daß ich oft die Stifte wechseln mußte, aber vor allem kam doch der rote in Betracht, nach dem ich immer wieder griff.244

Nun hatte ich ihn noch einmal nötig; da rollte er (ich sehe ihn noch) quer über das beschienene Blatt an den Rand und fiel, ehe ichs verhindern konnte, an mir vorbei hinunter und war fort.245

Ich brauchte ihn wirklich dringend, und es war recht ärgerlich, ihm nun nachzuklettern.246

Ungeschickt, wie ich war, kostete es mich allerhand Veranstaltungen, hinunterzukommen;247

meine Beine schienen mir viel zu lang, ich konnte sie nicht unter mir hervorziehen; die zu lange ein gehaltene knieende Stellung hatte meine Glieder dumpf gemacht; ich wußte nicht, was zu mir und was zum Sessel gehörte. Endlich kam ich doch, etwas konfus, unten an und befand mich auf einem Fell, das sich unter dem Tisch bis gegen die Wand hinzog. Aber da ergab sich eine neue Schwierigkeit. Eingestellt auf die Helligkeit da oben und noch ganz begeistert für die Farben auf dem weißen Papier, vermochten meine Augen nicht das geringste unter dem Tisch zu erkennen, wo mir das Schwarze so zugeschlossen schien, daß ich bange war, daran zu stoßen.248

244 Ibidem, S. 55. 245 Ibidem. 246 Ibidem. 247 Ibidem. 248 Rilke: AMLB, S. 55.

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Ich verließ mich also auf mein Gefühl und kämmte, knieend und auf die linke gestützt, mit der andern Hand in dem kühlen, langhaarigen Teppich herum, der sich recht vertraulich anfühlte; nur daß kein Bleistift zu spüren war. Ich bildete mir ein, eine Menge Zeit zu verlieren, und wollte eben schon Mademoiselle anrufen und sie bitten, mir die Lampe zu halten, als ich merkte, daß für meine unwillkürlich angestrengten Augen das Dunkel nach und nach durchsichtiger wurde. Ich konnte schon hinten die Wand unterscheiden, die mit einer hellen Leiste abschloß; ich orientierte mich über die Beine des Tisches;249

In der Erzählung von der Hand taucht eine Textstelle auf, die Labovs Theorie nach als ‚Resolution‘ bezeichnet werden kann. Maltes Entscheidung, hinunterzuklettern und den Stift zu suchen, ist eindeutig eine Reaktion auf das Problem der Narration im Sinne der ‚Resolution‘. In diesem Rahmen muss aber erkannt werden, dass dieses Problem, das Verlieren eines Stiftes, keine Begegnung mit dem Unheimlichen ist, sondern eine Banalität, die in keinerlei Hinsicht eine Bewusstseinserweiterung provoziert. Der Ton der Erzählung wird sich aber ändern, sodass von einer zweiten ‚Komplikation‘ die Rede ist – eine unheimliche Wendung.

ich erkannte vor allem meine eigene, ausgespreizte Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein Wassertier, da unten bewegte und den Grund untersuchte.250

Ich sah ihr, weiß ich noch, fast neugierig zu; es kam mir vor, als könnte sie Dinge, die ich sie nicht gelehrt hatte, wie sie da unten so eigenmächtig herumtastete mit Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet hatte. Ich verfolgte sie, wie sie vordrang, es interessierte mich, ich war auf allerhand vorbereitet.251

Aber wie hätte ich darauf gefaßt sein sollen, daß ihr mit einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine größere, ungewöhnlich magere Hand, wie ich noch nie

249 Ibidem. 250 Ibidem. 251 Ibidem, S. 56.

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eine gesehen hatte. Sie suchte in ähnlicher Weise von der anderen Seite her, und die beiden gespreizten Hände bewegten sich blind aufeinander zu.252

Die „größere, ungewöhnlich magere Hand“253 ist die Manifestierung des Unheimlichen, in diesem Fall in einer Form, die man aus den vorigen Unheimlichkeitserfahrungen kennen sollte – die Wiederkehr der Toten. Hier geht es nicht um eine bestimmte tote Figur, etwa Christine Brahe oder Ingeborg, sondern um den Prinzip des Todes überhaupt.

Meine Neugierde war noch nicht aufgebraucht, aber plötzlich war sie zu Ende, und es war nur Grauen da. Ich fühlte, daß die eine von den Händen mir gehörte und daß sie sich da in etwas einließ, was nicht wieder gutzumachen war.254

Mit allem Recht, das ich auf sie hatte, hielt ich sie an und zog sie flach und langsam zurück, indem ich die andere nicht aus den Augen ließ, die weitersuchte. Ich begriff, daß sie es nicht aufgeben würde,255

ich kann nicht sagen, wie ich wieder hinaufkam. Ich saß ganz tief im Sessel, die Zähne schlugen mir aufeinander, und ich hatte so wenig Blut im Gesicht, daß mir schien, es wäre kein Blau mehr in meinen Augen. Mademoiselle--, wollte ich sagen und konnte es nicht, aber da erschrak sie von selbst, sie warf ihr Buch hin und kniete sich neben den Sessel und rief meinen Namen; ich glaube, daß sie mich rüttelte. Aber ich war ganz bei Bewußtsein. Ich schluckte ein paarmal; denn nun wollte ich es erzählen. Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht auszudrücken, so daß es einer begriff. Gab es Worte für dieses Ereignis, so war ich zu klein, welche zu finden. Und plötzlich ergriff mich die Angst, sie könnten doch, über mein Alter hinaus, auf einmal da sein, diese Worte, und es schien mir fürchterlicher als alles, sie dann sagen zu müssen. Das Wirkliche da unten noch einmal durchzumachen, anders, abgewandelt, von Anfang an; zu hören, wie ich es zugebe, dazu hatte ich keine Kraft mehr.256

252 Rilke: AMLB, S. 56. 253 Ibidem. 254 Ibidem. 255 Ibidem. 256 Ibidem.

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Der ‚Komplikation‘ folgt wiederum keine echte ‚Resolution‘, sondern eine ‚Evaluation‘, deren semantischer Inhalt eine Verneinung der Möglichkeit des Evaluierenden ist – „es war nicht auszudrücken, so daß es einer begriff.“257

4.3.4 Der Spiegel Die Erzählung von Maltes Begegnung mit seinem verkleideten Selbst ist, wenn man ihre Einzelheiten in Betracht nimmt, eine Unheimlichkeitserfahrung. Diese Erzählung besteht aber aus eine umfangreiche, steigernde Entwicklung, die am Ende einen Umschlag macht. Da die Steigerung der Erzählung konkret ein großer textueller Raum ist, werden unten, in der Strukturanalyse, nur die Textstellen wiedergegeben, die für die Analyse eine wesentliche Konstituente sind.

Ich lernte damals den Einfluß kennen, der unmittelbar von einer bestimmten Tracht ausgehen kann. […]258

Zu meinem Verhängnis fehlte nur noch, daß der letzte Schrank, den ich bisher meinte nicht öffnen zu können, eines Tages nachgab, um mir, statt bestimmter Trachten, allerhand vages Maskenzeug auszuliefern, dessen phantastisches Ungefähr mir das Blut in die Wangen trieb. […]259

Was mich aber in eine Art von Rausch versetzte, das waren die geräumigen Mäntel, die Tücher, die Schals, die Schleier, alle diese nachgiebigen, großen, unverwendeten Stoffe, die weich und schmeichelnd waren oder so gleitend, daß man sie kaum zu fassen bekam, oder so leicht, daß sie wie ein Wind an einem vorbeiflogen, oder einfach schwer mit ihrer ganzen Last. In ihnen erst sah ich wirklich freie und unendlich bewegliche Möglichkeiten: eine Sklavin zu sein, die verkauft wird, oder Jeanne d'Arc zu sein oder ein alter König oder ein Zauberer; das alles hatte man jetzt in der Hand, besonders da auch Masken da waren,

257 Rilke: AMLB, S. 56. 258 Ibidem, S. 61. 259 Ibidem.

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große drohende oder erstaunte Gesichter mit echten Bärten und vollen oder hochgezogenen Augenbrauen. […]260

Schließlich, als ich nicht mehr konnte, hielt ich mich für hinreichend vermummt. Ich ergriff noch einen großen Stab, den ich, soweit der Arm reichte, neben mir hergehen ließ, und schleppte so, nicht ohne Mühe, aber, wie mir vorkam, voller Würde, in das Fremdenzimmer hinein auf den Spiegel zu. […] 261

Doch gerade in diesem feierlichen Moment vernahm ich, gedämpft durch meine Vermummung, ganz in meiner Nähe einen vielfach zusammengesetzten Lärm; sehr erschreckt, verlor ich das Wesen da drüben aus den Augen und war arg verstimmt, zu gewahren, daß ich einen kleinen, runden Tisch umgeworfen hatte mit weiß der Himmel was für, wahrscheinlich sehr zerbrechlichen Gegenständen. Ich bückte mich so gut ich konnte und fand meine schlimmste Erwartung bestätigt: es sah aus, als sei alles entzwei. […]Das Ärgerlichste aber war ein in tausend winzige Scherben zerschellter Flacon, aus dem der Rest irgendeiner alten Essenz herausgespritzt war, der nun einen Fleck von sehr widerlicher Physiognomie auf dem klaren Parkett bildete.262

Ich trocknete ihn schnell mit irgendwas auf, das an mir herunterhing, aber er wurde nur schwärzer und unangenehmer. Ich war recht verzweifelt. Ich erhob mich und suchte nach irgendeinem Gegenstand, mit dem ich das alles gutmachen konnte.263

Es gibt in dieser Narration eine ‘Komplikation’, die nicht als ‘unheimlich kategorisiert werden kann, wie in der Erzählung von der Hand. Das Sich-Vermummen eines Kindes ist, obwohl es laut Jentsch einen solchen Effekt ausüben kann, nicht unheimlich an und für sich:

Es ist durchaus nicht nothwendig, dass die fraglichen Prozesse sehr deutlich ausgesprochen sein müssen, um die wohlcharakterisirte Empfindung der psychischen Unischerheit hervorzurufen. Ja, selbst wenn sie genau wissen, dass sie von blossen harmlosen Trugbildern genarrt werden, können viele Menschen ein höchst unbehagliches Gefühl nicht unterdrücken, wenn sich ihnen eine entsprechende Situation aufdrängt. Die

260 Ibidem, S. 62. 261 Rilke: AMLB, S. 62. 262 Ibidem, S. 63. 263 Ibidem.

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Kinder trachten dadurch, dass sie sich im Spiele grotesk verkleiden und gebärden, einander direct starke Gemüthsbewegungen hervorzuruen […].264

Im Rahmen der Unheimlichkeitserfahrung ist es relevant, dass Maltes ‚Resolution‘ eine gescheiterte ist, da das Auftrocknen des Flecks sinnlos ist. Das Fehlschlagen der ‚Resolution‘ ist – obwohl die ‚Resolution‘ eine Reaktion auf eine nicht-unheimliche ‚Komplikation‘ ist – der Umschlag ins Unheimliche. Das Scheitern leitet eine ‚Komplikation‘ anderer Natur ein:

Aber es fand sich keiner. Auch war ich so behindert im Sehen und in jeder Bewegung, daß die Wut in mir aufstieg gegen meinen unsinnigen Zustand, den ich nicht mehr begriff. Ich zerrte an allem, aber es schloß sich nur noch enger an. Die Schnüre des Mantels würgten mich, und das Zeug auf meinem Kopfe drückte, als käme immer noch mehr hinzu. Dabei war die Luft trübe geworden und wie beschlagen mit dem ältlichen Dunst der verschütteten Flüssigkeit. Heiß und zornig stürzte ich vor den Spiegel und sah mühsam durch die Maske durch, wie meine Hände arbeiteten. Aber darauf hatte er nur gewartet. Der Augenblick der Vergeltung war für ihn gekommen. Während ich in maßlos zunehmender Beklemmung mich anstrengte, mich irgendwie aus meiner Vermummung hinauszuzwängen, nötigte er mich, ich weiß nicht womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild, nein, eine Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche monströse Wirklichkeit, mit der ich durchtränkt wurde gegen meinen Willen: denn jetzt war er der Stärkere, und ich war der Spiegel. Ich starrte diesen großen, schrecklichen Unbekannten vor mir an, und es schien mir ungeheuerlich, mit ihm allein zu sein. Aber in demselben Moment, da ich dies dachte, geschah das Äußerste: ich verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus. Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts außer ihm. Ich rannte davon, aber nun war er es, der rannte. Er stieß überall an, er kannte das Haus nicht, er wußte nicht wohin; er geriet eine Treppe hinunter, er fiel auf dem Gange über eine Person her, die sich schreiend freimachte. Eine Tür ging auf, es traten mehrere Menschen heraus: Ach, ach, was war das gut, sie zu kennen. Das war Sieversen, die gute Sieversen, und das Hausmädchen und der Silberdiener: nun mußte es sich entscheiden. Aber sie sprangen nicht herzu und retteten; ihre Grausamkeit war ohne Grenzen. Sie standen da und lachten, mein Gott, sie konnten dastehn und lachen. Ich weinte, aber die Maske ließ die Tränen nicht hinaus, sie rannen innen über mein Gesicht und trockneten gleich und rannen wieder und trockneten. Und endlich kniete ich hin vor ihnen, wie nie ein Mensch gekniet hat; ich kniete und hob meine Hände zu ihnen auf und flehte: "Herausnehmen, wenn es noch geht, und behalten", aber sie hörten es nicht; ich hatte keine Stimme mehr.265

264 Jentsch: “Zur Psychologie des Unheimlichen”, S. 196-197. 265 Rilke: AMLB, S. 63-64.

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Sieversen erzählte bis an ihr Ende, wie ich umgesunken wäre und wie sie immer noch weitergelacht hätten in der Meinung, das gehöre dazu. Sie waren es so gewöhnt bei mir. Aber dann wäre ich doch immerzu liegengeblieben und hätte nicht geantwortet. Und der Schrecken, als sie endlich entdeckten, daß ich ohne Besinnung sei und dalag wie ein Stück in allen den Tüchern, rein wie ein Stück.266

Dass Sieversen die Geschichte „bis an ihr Ende“267 erzählte, bestätigt die Unheimlichkeit des Inhalts, da die von einer radikalen Orientierungslosigkeit handelt. Hier kann eine Rückkopplung zu Capps und Ochs gemacht werden, die die einleuchtende Funktion des Erzählens im Rahmen eines Bakhtin’schen ‚primary genre‘ betonen.268 Ein ‚primary genre‘ ist das adäquate Medium für das Äußern ungelöster Lebensereignisse (‚airing unresolved life events‘269), weil die Komplexität dieser Ereignisse in der teleologischen vorgefertigte Struktur eines klassischen Narrativs nicht geäußert werden kann.

266 Ibidem, S. 64. 267 Ibidem. 268 Capps und Ochs: Living Narrative, S. 7. 269 Ibidem.

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5 Anekdotisches Erzählen

In der Strukturanalyse der Unheimlichkeitserfahrungen wurde eine Feststellung ‚merkwürdig‘ genannt: die Feststellung, dass nach einer unheimlichen Komplikation nie eine Resolution folgt und dass im Fall der Erzählung über den Spiegel eine gescheiterte Resolution sogar die Ankündigung der unheimlichen Wendung in der Komplikation ist. Labovs Erzählrahmen hat es ermöglicht, die Merkwürdigkeit in der Form festzustellen. Labovs Standardformel – Abstrakt, Orientierung, Komplikation, Resolution, Evaluation und schließlich Koda – hat sich nie manifestiert. Die Feststellung, dass die Standardformel sich nie ereignet hat, führt zu zwei metareflexiven Fragen. Erstens: Ist Labovs Methode doch nicht der adäquate Rahmen für eine Lektüre der Aufzeichnungen? Und zweitens: Sollte Labovs Methode, die schließlich aus den 1960er Jahren stammt, nicht überdacht und modifiziert werden, da ihre Standardformel sich offensichtlich als zu rigide für modernes Erzählen herausgestellt hat? Die erste metareflexive Frage ist nicht legitim, weil sie Labov zu eindeutig als Text betrachtet. Labovs narrativer Rahmen ist inzwischen zu einer Forschungstradition geworden, und es gibt einen Konsens unter Sprachwissenschaftlern, dass seine Beschreibung von Erzählen noch immer der wesentliche Beitrag zur Formulierung eines universellen narrativen Rahmens ist.270 Labov als zu Forschungstradition bestimmen, ergibt eine Antwort auf die zweite Frage: Labov sollte überdacht werden, und seine Theorie wird tatsächlich überdacht. Ein Beitrag zu dieser aktuellen Forschungstradition, die hier relevant ist, weil sie Abweichungen von der Labovs Standardformel benennt und qualifiziert, ist Martins Artikel „Negotiating Values: Narrative and Exposition“.271 Martin erkennt vier mögliche ‚story genres‘ (die nicht exhaustiv gemeint sind). Nur ein ‚genre‘ weist die Standardformel von Labov auf, das Narrative.272 Die anderen (‚recount‘, ‚anecdote‘ und ‚exemplum‘) haben eine andere Struktur:

270 Marina Lambrou: „Collaborative oral narratives of general experience: when an interview becomes a conversation”. In: Language and Literature 12.2 (2003), S. 153. 271 J. R. Martin: „Negotiating Values: Narrative and Exposition“. In: Bioethical inquiry 5 (2008), S. 41-55. 272 Ibidem, S. 45.

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Abbildung 1: Martins Erzählstrukturen.273

Wenn man die Unheimlichkeitserfahrungen der Aufzeichnungen im Rahmen von Martins Modell liest, kann man hieraus folgern, dass das Erzählen der Unheimlichkeitserfahrungen anekdotisches Erzählen ist. Im anekdotischen Erzählen ereignet sich ein Problem (Komplikation), das nicht gelöst wird. Es wird über dieses Problem reflektiert (Evaluation), mit dem Ziel, Empathie beim Zuhörer/Leser zu erzeugen.274 Die empathische Funktion der Form konnte erst durch die Einteilung in Labovs Erzählfasen erkannt und benannt werden. Aus dem Fehlen einer Resolution, der notwendigen narrativen Konstituente eines Narrativs, geht hervor, dass die frühexpressionistische Vokabel der „Unsicherheit“, die wesentlich für den Begriff ‚unheimlich‘ ist – hierin kommen Jentsch und Freud überein, in der Erzählstruktur der Unheimlichkeitserfahrungen zum Ausdruck kommt. Labovs Methodologie und die Ergänzungen von Martin, haben es möglich gemacht, eine formelle Ohnmacht im ersten Teil der Aufzeichnungen aufzuweisen, die sonst nur mit semantischen Belegen – mit Zitaten, in denen Malte seine Ohnmacht explizit macht – aufzuweisen wäre. Hier kann eine Rückkopplung zum Subkapitel über die anti- positivistischen Moderne gemacht werden, denn Anz nennt ‚Unsicherheit‘ eine Vokabel, die im Frühexpressionismus häufig gebraucht wurde:

Ein im Brenner erschienener Aufsatz von Carl Dallago trägt den Titel Der Triumph der Unsicherheiten. Die „Unsicherheit aller Dinge“ wird hier als „einzige Sicherheit“ bezeichnet. Kurt Hiller ruft entsprechend die Leser der Weißen Blätter dazu auf, sich und andere nicht zu belügen, sondern daran festzuhalten, „daß euer einzig sicherer Besitz die Unsicherheit, euer alleiniges Gesetz die Antinomie ist“. Die Existenzliteratur entspricht diesem Postulat ganz. Unsicherheit wird für sie zum Merkmal der Welt und des Menschen in ihr gleichermaßen. Der erste Teil von Alfred Wolfensteins Gedichtenband Die gottlosen

273 Ibidem. 274 Ibidem.

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Jahre (1914) ist überschrieben mit „Die Unsicherheit“. In Kubins Roman wird die Traumstadt als „Land der Unsicherheit“ charakterisiert […]. 275

Die existentielle Unsicherheit liegt in den Aufzeichnungen also nicht nur im Erzählten, sondern auch im Wie des Erzählens, in der Form. Wie könnte die Romanform denselben Effekt ausüben, wenn diese Form in ihrem Wesen eine Form der existentiellen Sicherheit darstellt, da sie, wie Ochs und Capps bestätigen, nicht mit der Komplexität ungelöster Lebenserfahrungen kompatibel ist? Im ersten Teil der Aufzeichnungen wird nichts gelöst. Die Funktion der existentiellen Unsicherheit ist, dass der Leser das Unverständlich-Irrationelle sieht. Was wird in diesem Zusammenhang mit ‚Sehen‘ gemeint – d.h. dem Zusammenhang zwischen der strukturellen Prävalenz der ‚Evaluations‘ und dem Begriff ‚Sehenlernen‘, der im Subkapitel über die anti-positivistische Moderne mit dem Irrationellen, mit ‚Begreifen‘ statt ‚Wissen‘, verknüpft wurde? Führt das Unheimliche zu einem solchen ‚Sehen‘?

In a usually late stage of successful psychoanalytic psychotherapy, the patient remembers earlier pain and experiences the feeling of freedom, analogous to pleasure, that comes of the awareness of the distance between past suffering and present „working-through” of conflicts created by that suffering. This stage can occur only when the patient has overcome his or her resistance to the therapy and to uncovering his or her real memories. What Freud calls the “compulsion to repeat” repressed content is a necessary precondition for the eventual “impulsion to remember” that brings about insight and healing. […] Uncanny encounters, which occur when something strangely familiar evokes a repressed affect and provokes anxiety, remind us of something lost; we thus re-experience the loss. This re-experience, or repetition, while disruptive to our momentary well-being, also serve the longer-term goal of individual […] progress.276

Die Beziehung mit ‚Sehen‘ soll im Rahmen der bewusstseinserweiternden Funktion des Unheimlichen verstanden werden. Das Unheimliche macht das Verborgene sichtbar: Es tritt aus der Verborgenheit heraus und verursacht eine Störung im Subjekt. Das Subjekt befindet sich in einem Zustand der Passivität, des Nicht-Handelns, einer Lage der Reflexion. Die Behauptung, dass Freud in seinem Unheimlichkeitsbegriff den Begriff des ‚Unbewussten‘ mitgedacht hat, ist nicht weit hergeholt. Das Unbewusste ist im Fall des Unheimlichen das Noch-Nicht-Bewusste, wonach der bewusste Teil des Ichs suchen muss, um seine Bewusstseinsstörungen zu heilen – das Ziel der Psychoanalyse!

275 Anz: Literatur der Existenz, S. 26. 276 Johnson: Aesthetic Anxiety, S. 28-29.

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Der Begriff eines Noch-nicht-Bewussten oder Bewusst-Werdenden kann im ideengeschichtlichen Rahmen des Psychoanalyse gedeutet werden, aber diese Deutung ist nicht Absicht, sondern Methode. Die Vokabeln der Psychoanalyse dienen dazu, den Zusammenhang zwischen Erzählen und Erzähltem zu erforschen. Das Noch-nicht-Bewusste, das in der Struktur des Erzählens eingebettet ist, manifestiert sich konkret in der Form der ‚Evaluations‘, die durch die unheimliche Begegnung ausgelöst werden.

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Schlussfolgerung

In der vorliegenden Arbeit wurde die Frage gestellt nach der Beziehung zwischen Form und Inhalt, zwischen Erzählen und Erzähltem in dem ersten Teil der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Rainer Maria Rilkes Prosabuch. Vorliegende Arbeit sollte demnach in der Tradition der Strukuranalysen dieses Werkes situiert werden. Der Katalysator der Arbeit waren die vielen Inkongruenzen und Konflikte in dieser Tradition, die dazu Anlass gegeben haben, dass der wissenschaftliche Rahmen von Strukturanalysen infrage gestellt wurde. Martini neigte dazu, den Aufzeichnungen absoluter Formlosigkeit vorzuwerfen, während Seifert das verneint, aber die Aufzeichnungen in die rigide Form des Romans einzupassen versucht. Durch die Non-kompatibilität des Romanparadigmas mit dem Text der Aufzeichnungen wurden in der Sekundärliteratur Interpretationen nach vorne geschoben, die weit vom Text standen, in dem Sinne, dass ihr Inhalt eher ein Produkt der eignen Prämissen als ein Produkt der eigentlichen Lektüre war. Wir haben hierbei festgestellt, dass die Kunst, was ihre Formen anbelangt, die Wissenschaft weit hinter sich gelassen hat. Die Streitigkeiten in der Sekundärliteratur um die Aufzeichnungen sind ein konkretes Beispiel davon, dass eine Künstlerinnovation als Formzerfall gedeutet wird, nur weil die Methoden noch nicht da sind, mit denen man die Forminnovation wahrnehmen kann. Das Zustandekommen neuer Formen in der literarische Moderne hat zu einer kulturwissenschaftlichen Verfallsthese geführt, der sogenannten Auflösung der Form – die Aufzeichnungen sind in diesem Kontext nur ein Artefakt der Moderne, das auf eine nachlässige Weise gelesen wurde:

Wo diese Bewegungen [die avantgardistischen Bewegungen] zuletzt anlangen und was sie letzten Endes erreichen wollen: das ist die totale Zerstörung von Zusammenhang und damit die absichtliche, das heißt aber die bewußte Zerstörung des Bewußtseins. Bewußtsein ist, wie gesagt, Wahrnehmung und Erkenntnis von Zusammenhang. Seit ihren Anfängen befaßte sich die Kunst mit der Herstellung von Form, sie war eine Bemühung, zur Form zu gelangen, und das heißt: in der Wirklichkeit einen Zusammenhang aufzuspüren […].277

Formlosigkeit besteht nicht – alles ist völlig Form. Labovs Erzählparadigma hat es erlaubt, eine Struktur im Erzählen zu erkennen, und sogar eine wiederkehrende Struktur in Bezug auf Maltes Unheimlichkeitserfahrungen.

277 Erich von Kahler: Die Auflösung der Form. Tendenzen der modernen Kunst und Literatur. München: List Verlag 1971, S. 96-97.

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Das Erzählen der Aufzeichnungen erzielt in Bezug auf ‚Bewusstsein‘: erstens, die künstlerische Darstellung eines psychischen Vorganges auf einem materiellen (und nicht sprachlichen) Niveau; zweitens macht es diese materielle Darstellung erzählbar, das heißt übertragbar, durch die Erzeugung von Empathie mit Hilfe der Form. Diese Künstlerinnovation – die der Materialität in der Form – sollte als Reaktion auf das in der Einführung erwähnte Problem der Sprachskepsis betrachtet werden. Konkret ist es eine Überwindung der Sprachskepsis, weil das Unsagbare erzählt wird. Was heißt die Darstellung des psychischen Vorganges im materiellen Sinne? Eine Unheimlichkeitserfahrung ist ein psychischer Vorgang. Dieser Vorgang wird nicht benannt (das Wort ‚unheimlich‘ fällt nur zweimal im ganzen Text), sondern gezeigt, dargestellt in dem eigentlichen Sinne des Wortes. Die Aufzeichnungen weisen eine mimetische Form auf. Die Mimetik der Form ist materialistisch, weil nicht auf das Unheimliche hingewiesen wird, sondern das Unheimliche ist da, in einem konkreten Sein, in der Stofflichkeit eines sprachlichen Dokuments. Die Aufzeichnungen sind aber nicht nur materialistisch in Bezug auf das Unheimliche, sondern sie sind auch formal vollkommen materialistisch. Der formelle Materialismus ist das Wesen eines ‚personal document‘, weil ein ‚personal document‘ unvermittelt da ist. Sein Inhalt liegt in seinem Sein, nicht in seiner Referentialität. Rilkes Innovation ist, dass er nicht nur über das Unheimliche geschrieben hat, sondern er hat unheimlich geschrieben – ein Unterschied, der die Aufzeichnungen zu einer hervorragenden künstlerischen Leistung macht. Was heißt es, dass das Unheimliche hierdurch übertragbar auf das Bewusstsein des Lesers wird? Die Form des anekdotischen Erzählens ermöglich das Überbringen des Unheimlichen auf den Leser, da das Anekdotische Empathie erzeugt. Das Unheimliche bestimmt die Form, weil das Unheimliche nur auf die anekdotische Weise erzählbar ist – die konkrete Antwort auf die Forschungsfrage. Eine narrative Begegnung mit dem Unheimlichen ist konzeptuell unmöglich, das heißt: Wenn die narrative Form eine ‚Resolution‘ voraussetzt, kann das Unheimliche nicht auf den Leser übertragen werden, denn die Bewusstseinsstörung, die das Unheimliche erzeugt, kann nur durch Reflektieren, durch Bewusstseinserweiterung, durch ‚Evaluation‘ gelöst werden, und nicht durch Handeln, nicht durch ‚Resolution‘. Die Bewusstseinsstörung, auf die das Subjekt mit ‚Evaluation‘ reagiert, mit Reflexion, könnte im Zusammenhang mit einem späteren Text von Freud betrachtet werden: seiner Abhandlung Jenseits des Lustprinzips (1920). In Jenseits des Lustprinzips hinterfragt Freud die

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Wirkungskraft seines vorher konzipierten Lustprinzips. Er entwickelt diesen neuen Gedankengang anhand seiner Beobachtungen der „traumatischen Neurose“278. Laut Freud muss der Ursprung der traumatischen Neurose in der Erfahrung des Schreckens liegen. Es werden drei Arten von Erfahrungen in ihrer Beziehung zur Gefahr unterschieden: Schreck, Furcht und Angst. Der Schreck wird als die Folge einer Gefahr umschrieben, in die man gerät, ohne auf sie vorbereitet zu sein. Freud betont dabei, dass die Überraschung des Schreckes einen permanenten Eindruck auf das Unbewusste macht. Dieser Eindruck ist permanent, „zeitlos“279. Der ‚zeitlose‘ Eindruck des Schreckens verursacht einen Wiederholungszwang, den Freud in Beziehung zum Todestrieb sieht. Ist die anekdotische Struktur der Aufzeichnungen eine formale Manifestierung des Wiederholungszwangs? Ist die Bewusstseinsstörung des Unheimlichen ein Schrecken im Sinne des Todestriebes? Diese Fragen müssen hier reine Spekulation bleiben. Eine Beziehung zwischen den Aufzeichnungen und Jenseits des Lustprinzips ist eine erwähnenswerte Möglichkeit, die von zukünftiger Forschung aufgegriffen werden könnte. Der Zusammenhang zwischen Erzählen und Erzähltem in den Aufzeichnungen ist zweifach: Die Form ermöglicht den Inhalt, und der Inhalt bestimmt die Form. Diese These wurde in der vorliegenden Arbeit im ersten Teil der Aufzeichnungen getestet. Dies wurde durch die Methodologie der synchronen Ideengeschichte und des universellen Erzählrahmens von Labov möglich, da die Verflechtung des Unheimlichen mit der Form vom Fehlen einer ‚Resolution‘ abgeleitet werden konnte. Aber sowohl die These, dass Form und Inhalt unentrinnbar seien, als auch die Methodologie, die für diese These angewendet wurde, wurden mit dem Anspruch formuliert, den ganzen Text der Aufzeichnungen zu analysieren. Die konkrete Erscheinung des Irrationellen im Texte war das psychoanalytische Unheimliche, aber die Frage bleibt noch, ob das auch für den zweiten Teil der Aufzeichnungen gilt. Oder manifestiert sich das Thema des Irrationellen hier in einer anderen Form? Diese Fragen, die als Ausblick gemeint sind, sind kein reines Tasten ins Leere, sondern konkrete Anregungen. Sie würden nicht gestellt werden, wenn die Antwort nicht schon geahnt würde. Hans Graubner schreibt über die erhabene Christusgestalt in Rilkes Dichtung. Wenn wir Graubners Definition des Erhabenen einbeziehen, wird die Distanz zwischen ‚unheimlich‘ und ‚erhaben‘ klein:

278 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips/Massenpsychologie und Ich-Analyse/Das Ich und das Es: Und andere Werke aus den Jahren 1920-1924. Berlin: Fischer 2010, S. 9. 279 Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 28.

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Das Erhabene ist ein ästhetisches Phänomen. Es bedeutet in der neueren Literatur die ästhetische Verarbeitung eines Schocks; des Schocks nämlich, der den Menschen beim plötzlichen Bewußtwerden seiner Vergänglichkeit erfaßt. Das Erhabene nimmt den Schrecken dieser Erfahrung auf und verwandelt ihn in ein poetisches Bild, das ihn erträglich, ja sogar im Sinne ästhetischer Lust genießbar macht. Diese Doppelfunktion ist das Kennzeichen des Erhabenen. Es stellt die Überwältigung durch den Schrecken dar und rückt ihn zugleich auf Distanz, indem es dieser Darstellung angenehme, ja sogar schöne Züge verleiht.280

Könnte man die Überwältigung des Schrecken mit dem Unheimlichen gleichsetzen? Und wie verhält sich der Schrecken des Erhabenen zum Freudschen Wiederholungszwang? Ist das Erhabene dann die gelungene Verarbeitung der Bewusstseinsstörung, die die Folge des Unheimlichen ist? Der zweite Teil der Aufzeichnungen stellen den psychischen Vorgang des Sublimen, des Erhabenen dar, eine Bewusstseinserweiterung, die einen Antipoden zu den Unheimlichkeitserfahrungen des ersten Teils bildet, weil das Sublime die Zusammenhörigkeit der Welt betont, und das Unheimliche eine radikale Orientierungslosigkeit ist. Diese analoge Manifestierung des Irrationellen geht mit einer analogen Form einher. Diese Schlussbehauptung muss aber Spekulation bleiben, da sie, ohne gründliche Analyse im Sinne der vorliegenden Methodologie, nicht legitim ist. In einer umfangreicheren Arbeit wäre die übergreifende These möglich, dass der unheimliche erste Teil der Aufzeichnungen die Entfremdung von Malte mit sich selbst und seinem In-der-Welt-Sein darstellt und dass der zweite Teil der Aufzeichnungen das Erhabene darstellt, wodurch Malte den Weg zu sich selbst und der Welt wiederfindet, wie ein verlorener Sohn.

280 Hans Graubner: “Rilkes Christus und das Erhabene der Zeit”. In: Monatshefte 95.3 (2003), S. 583.

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Abbildung 1) Martin, J.R.: „Negotiating Values: Narrative and Exposition“. In: Bioethical Inquiry 5 (2008), S. 41-55.

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