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Anselm Haverkamp Klopstock / Milton – Teleskopie der Moderne Eine Transversale der europäischen Literatur

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Abhandlungen zur Literaturwissenschaft Anselm Haverkamp

Klopstock/Milton – Teleskopie der Moderne

Eine Transversale der europäischen Literatur

J. B. Metzler Verlag Der Autor Anselm Haverkamp ist Emeritus Professor of English der New York University (1989–2014) und Emeritus der EUV Viadrina Frankfurt/Oder (1994–2011), seither Honorarprofessor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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ISBN 978-3-476-04683-3 ISBN 978-3-476-04684-0 (eBook)

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Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

J. B. Metzler, Stuttgart © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 Inhalt

Kurzes Vorwort zu Versäumnis und Verspätung Milton, Beckett und Methode . 1 Bildlegende Giovanni di Paolo – Teleskopie der Moderne . 5

Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik . 9 Vorbemerkung . 11 Ausführliche Inhaltsübersicht . 13 Einleitung Klopstockicität – Klopstock als Paradigma . 15 Panorama Saving the Subject: Lektüregeschichte der Lyrik und Psychohistorie des Subjekts von Klopstock bis Nina Hagen . 29 Erster Hauptteil Der Messias – Erlösung angesichts des Verlornen Paradieses . 47 Zweiter Hauptteil Oden und Elegien – Empathie auf der Zürcher See und Melancholie in der Klopstock-Nachfolge . 87 Wirkungsmuster Klopstock Illusion und Empathie – Die Struktur der teilnehmenden Lektüre in den Leiden Werthers . 120

Klopstock mit Milton . 147 Distant Information Die komparatistische Bedeutung Miltons . 149 FEST/SCHRIFT Festschreibung unbeschreiblicher Feste – Klopstocks Ode von der Fahrt auf der Zürchersee 1750 . 163 Milton’s Counterplot Lycidas: Dekonstruktion und Trauerarbeit 1637 . 184 All Passion Spent — Te End Samson Agonistes oder: Das Ende der Gerechtigkeit . 198 Heteronomie: Mickels Klopstock Milton, Klopstock, Dante, Brecht und die epische Tradition . 214 VI Inhalt

Résumé . 227 Milton und Klopstock . 229

Teleskopage . 235 Ein knebbes Ding in einem Wort Ungedachte Natur in postlapsaren Welten und Zeiten . 237 Beauty is Truth Keats’s Ekstase des Ästhetischen: Ode on a Grecian Urn . 251 Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte . 259

Anhang: Gedichte . 273 John Milton Lycidas (1637) . 275 Friedrich Gottlieb Klopstock Fahrt auf der Zürcher See (1751) . 278 Friedrich Gottlieb Klopstock Der Messias (1751) . 280 John Keats Ode on a Grecian Urn (1819) . 284 Besuch bei den verbannten Dichtern (1937) . 286 Karl Mickel Inferno XXXIV. Für Kirsten (1972) . 287 Nina Hagen Naturträne (1978) . 288

Nachweis der Texte . 290

Personenregister . 291 Kurzes Vorwort zu Versäumnis und Verspätung Milton, Beckett und Methode

également Klopstock entre autres1

Dies ist ein verspätetes Buch, mit dem der Autor seit Jahrzehnten nicht mehr ge- rechnet hatte; ob die Umstände den schließlichen Druck rechtfertigen, übersieht er nicht. Allerdings meint er damit ein Interesse zu bekräfigen, daß nicht über- holt, sondern dringender geworden ist und im Untertitel einen Ausdruck gefunden hat, den er zwanzig Jahre später dem Philosophen und Kunsthistoriker Louis Marin zu verdanken kam.2 Die Kunstgeschichte scheint es einfacher zu haben, nationalen Rahmungsansinnen zu entkommen, aber selbst das täuscht. Das Format der Na- tionalliteraturen, so obsolet es seit Jahrzehnten sein sollte, ist immer noch weit davon entfernt, literarhistorisch und kunsttheoretisch überwunden zu sein. Nicht nur steht politisch zuviel auf dem Spiel, sondern die Erfordernisse einer Neuschreibung der national fxierten Geschichten sind methodisch so wenig geklärt, daß sie angesichts des von der Forschung über zweihundert Jahre Ausgefeilten, in den nationalen Be- zügen verlegenheitshalber Bestärkten unvorstellbar scheinen. Wilhelm von Humboldts Maxime, die Hans Robert Jauß einmal zitiert hat, »daß die Idee nationaler Individualität der unsichtbare Teil jeder Tatsache sei, und daß diese Idee auch an einer Folge literarischer Werke die Form der Geschichte dar- stellbar mache«, scheint schwer ersetzbar; sogar die Rezeptionsästhetik war um eine vergleichbar plausible nicht-nationale Antwort verlegen.3 Das Vorgängerpostulat, das Herder anläßlich der Aesthetica Baumgartens vorgegeben hatte, »mit jeder Regel der Schönheit eine Entdeckung der Seelenlehre (zu) tun«, drängte auf ein anthro-

1 Samuel Beckett, Commen c’est (Paris: Minuit 1961); Wie es ist, zweisprachige Ausgabe von Elmar Tophoven (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1961), 110/111. Teodor W. Adorno, Ästheti- sche Teorie (Gesammelte Schrifen 7), ed. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, 21974), 36. 2 Vf. »Latenz des Barock: Der Riß im Bild der Geschichte« (2002), Das Bild ist der König: Repräsentation nach Louis Marin, ed. Vera Beyer, Jutta Voorhoeve und Anselm Haverkamp (München: Fink 2006), 205–214. In engl. Neufassung »To Destroy Painting: Te Baroque Caesura of History. Louis Marin Mourning the Revolution«, Productive Digression: Teo- rizing Practice (/Boston MA: de Gruyter 2017), 156–170. 3 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970), 152 (Humboldt-Zitate im Zitat kursiv). 2 Kurzes Vorwort zu Versäumnis und Verspätung pologisches Format statt des nationalen Wesens der Kunst.4 Herders Lösung für die national-literarische deutsche Verspätung führte im Windschatten bereits die Fra- gen nach »Formprozessen« mit sich, auf die Friedrich Schlegel die Kraf der Kunst festlegen wollte. Daß die »Literatur sich jetzt über Teorie statt über Rhetoriken und Poetiken ihrer selbst vergewissert«, wie Schlegel von Rüdiger Campe weitergedacht wird, führt keine neue, andere Teorie ein, sondern entfaltet nur, was zuvor zwar theorielos geblieben, aber fgural von langer Hand angelegt war.5 Marins Konzeption der Transversalen, der Gebiete und Bereiche durchkreuzen- den Kraflinien, machte einen ersten, vielleicht radikalen Unterschied. Statt eine nationale Idee zu verkörpern, durchqueren Transversale den Zeiten-Raum und ma- chen anschaulich, wie die Form von Geschichte quer zur Produktion der nationalen Phantasmen und Identitätsansinnen als eine Rücksicht auf Darstellbarkeit entsteht und sich hält: »le rapport symbolique entre le texte et l’espace«.6 So etabliert die von Marin erforschte Transversale Caravaggio–Poussin ein erstes Paradigma, in dem der Begrif der Geschichte die Hypothek der Revolution involviert, die Milton mit Klop- stock verbindet. Im Konstrukt der Transversalen, die unterhalb des ikonographisch oder semantisch manifesten Artikulationsniveaus verläuf, aber hyperrefexiv mit diesem verfochten ist, legte Marin ein Spurenensemble epochaler Voraussetzungen frei, das – in Fortführung des Spätwerks von Maurice Merleau-Ponty – eine Poetik intermedialer Efekte und a-mimetischer Aspekte denkbar macht, wie es sie in der Dichtung Klopstocks erst noch zu entdecken gibt.7 Davon war ich weit entfernt, aber die Spur war gelegt. Die alles andere als national-literarische Transversale Milton–Klopstock als »Pa- radigma der Rezeptionsästhetik« auszuarbeiten, blieb ein erster, kaum zuende ge- dachter Versuch. Die Übernahme eines amerikanischen Lehrstuhls in einem ande- ren Fach (der englischen statt der deutschen Literatur), das zudem in einem anderen akademischen Biotop zu praktizieren war (zuerst in Yale, dann in New York), machte die Weiterführung und Publikation der Konstanzer Habilitationsschrif illusorisch. Nun umfaßte schon die erste Fassung eine Einleitung und einen exemplarischen Re- zeptionsschluß, die separat zugeschnitten und publiziert wurden, und dasselbe pas- sierte mit weiteren Kapiteln, die sich in der Ausarbeitung zu selbständigen Beiträgen vom ursprünglichen Entwurf entfernten und die Milton-Seite in den Vordergrund rückten; den ersten Anlaß bot meine New Yorker Milton-Vorlesung der neunziger Jahre. Diese Stücke sind in der neuen Form als ein zweiter Teil zusammengeführt. Damit ist das ältere Vorhaben zwar nicht gewahrt (das ließ sich schlecht fngieren),

4 Christoph Menke, Die Kraf der Kunst (Berlin: Suhrkamp 2013), 9 (Zitat aus Herders Baumgarten-Rezension). 5 Rüdiger Campe, »Das Argument der Form in Schlegels ›Gespräch über die Poesie‹: Eine Wende im Wissen der Literatur«, Merkur 68 (2014), Hef 777, 110–121: 117 (Zitat aus Schlegels ›Gespräch‹) und 121 (Fazit). 6 Patrick Boucheron, Faire profession d’historien (Paris: Publications de la Sorbonne 2016), 133. 7 Zum theoretischen Ort und Begrif der Transversalen vgl. Vf. »Poetik als Dekonstruktion«, Poetik und Poetizität (Grundthemen der Literaturwissenschaf IX), ed. Ralf Simon (Berlin/ Boston: De Gruyter 2018), Teil II.1.5, 342–358: 351 f. Das theoretisch unübertrofene Werk Louis Marins ist in seinen historischen Konsequenzen immer noch völlig unterschätzt. Kurzes Vorwort zu Versäumnis und Verspätung 3 aber der methodische Nexus verdeutlicht, der in der Klammer von Vorblick und Rückblick – von Giovanni di Paolo und Milton bis zu Klopstock und Baumgarten – über die ursprüngliche Intention hinausführte. Klopstock/Milton bedeutet deshalb Klopstock »über« Milton in dem tentativ doppelten Sinne von »mit Milton« und »über ihn hinaus«. Der Fall einer verwandten Transversalen, des unterschätzten und vernachläßigten Petrarkismus, gehört in dieselbe Zeit.8 Günter Eichs Maulwürfe (1968, fortgesetzt 1970) oder Hans Magnus Enzensbergers Mausoleum (1975) boten für solche Bezüge eine bessere Perspektivhilfe als die germanistischen Regressionen von Arno Schmidts Dya Na Sore (1958) und, vollends, Peter Rühmkorfs Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich (1975). Dagegen war Nina Hagens Naturträne (1978) ein starkes Stück Klopstock-Rezeption, die in Karl Mickels Gelehrtenrepublik (1976) einen unerhörten Stand der historischen Refexion angedeutet hatte, in Nina Hagen aber dazu noch die performative Potenz des historisch Verblaßten zurückrief. Klopstock war und bleibt ein im Grundsätzlichen interessanter Autor, obwohl er – trotz der nationalen Klänge, notorisch des Dichters als Führers in der deutschen Klassik in dem von Walter Benjamin denunzierten Monument Max Kommerells (1929) mit Klopstock als »Lehrling der Griechen« an der ersten Stelle – in den Natio- nalgeschichten der deutschen Literatur auf der Strecke geblieben ist. Die Tese oder Hypothese, die im Raume stehen blieb und nur sporadisch am Rande interessierte, ist seine Einbettung in eine andere Rezeptionslinie, von der die Zeitgenossen, allen voran Bodmer, noch eine klarere Vorstellung hatten. In der für den englischen Kanon unübertrofen von Samuel Beckett apostrophierten Reihe der Dante, Bruno, Vico, Joyce (man fndet sie ähnlich prägnant bei Borges) trif Klopstock auf ein Schema der literarischen Filiation, das ihm die Vorläuferrolle für Goethe oder Hölderlin erspart, aber auch diese Bezüge anders zu situieren hilf. Frauke Berndts glückliche Paarung von Baumgarten und Klopstock war in der Tat diskursprägend.9 Historisch bahn- brechend war sie aber zudem, weil Klopstock Baumgarten in eben dem Maße afn ist, wie dieser dem ramistischen, von Milton literarisch ausgeprägten rhetorischen Strang der Tradition, den von Harold Bloom bis in die amerikanische Postmoderne geführten Tropen des ›re-troping‹ entspricht und in der Ästhetik Baumgartens, von Blooms Map of Misreading übersehen (1975), eine späte Frucht der im Deutschland der konfessionellen Bürgerkriege verhinderten Renaissance und ihrer möglichen poetologischen Standards hervorgebracht hat. Die probate Faustregel, daß »Klop- stock lesen« (wie Winfried Menninghaus in bester germanistischer Manier die Akte geschlossen hat) seit jeher heißt: »ihn mit ihm gegen ihn lesen«, führte immerhin über die in der ersten Rezeptionsphase befangenen Bildbegrife hinaus in solche der

8 Vf. »Lauras Metamorphosen. Dekonstruktion einer lyrischen Figur in der Prosa der Maul- würfe« (Habilitationsvortrag Konstanz 1983), DVjs 58 (1984), 420–449. Engl. Kurzfassung »Laura’s Metamorphoses: Eich’s Lauren«, Comparative Literature 36 (1984), 312–327; repr. in Modern German Poetry (Critical Cosmos), ed. Harold Bloom (New York NY: Chelsea House 1989), 173–184. 9 Frauke Berndt, Poema/Gedicht: Die epistemische Konfguration der Literatur um 1750 (Ber- lin: de Gruyter 2011), 6–9, 133 f. 4 Kurzes Vorwort zu Versäumnis und Verspätung puren sprachlichen Bewegtheit.10 Mein Ansatz zu einer »Rhetoric of Empathy« (so der Arbeitstitel einer nicht zustande gekommenen Übersetzung), die in Werthers Leiden auf das Verlorene Paradies mit Richardson und Rousseau reagierte, zielte auf die von Paul de Man als ›second degree deconstruction‹ ins Auge gefaßte Analyse- Ebene, zu der Lottes Ausruf »Klopstock!« die Losung ausgab.11 konnte mit Fritz Zorns Zürcher Kultbuch Mars (1977) mühelos das von Kierkegaard bis Lacan und Roland Barthes aktive Rezeptions-Drama Werther aufrischen.12 Durch Milton und mit Baumgarten war Klopstock – bald überholt vom jungen Goethe, gewiß, aber dann doch weit über ihn hinweg – weniger ein nationaler Autor als der markante Zeuge einer in der literarischen wie in der philosophischen Auflärung weggebrochenen rhetorisch-poetischen Tradition, könnte er also Anlaß zu einer Neusituierung der deutschen Literatur sein – nicht im utopischen Format einer Weltliteratur, aber im Kontext einer real gegebenen europäischen Tradition, und sei es auch nur als der verblaßte Anteil ihrer in Baumgartens Latein gegossenen und mit ihm versunkenen Fundamente.13 Hölderlins Anknüpfung an Klopstock war die eine Seite, Keats’ Übereinkunf mit Baumgarten steht für die andere.

10 Winfried Menninghaus, »Klopstocks Poetik der schnellen Bewegung«, Nachwort zu Klop- stock, Gedanken über die Natur der Poesie: Dichtungstheoretische Schrifen (Frankfurt a. M.: Insel 1989), 259–361: 327, zit. 259. 11 Paul de Man, »Semiology and Rhetoric« (1972), Allegories of Reading: Figural Language in Rousseau, Nietzsche, RiIke, and Proust (New Haven CT: Yale University Press 1979), 18/19. Vf. Figura cryptica: Teorie der literarischen Latenz (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002), Teil II. 12 Vf. »Die neueste Krankheit zum Tode. Das Werthersyndrom in der Verständigungsliteratur der siebziger Jahre: Fritz Zorn, Mars« (Konstanzer Antrittsvorlesung 1984), DVjs 60 (1986), 667–696. Vgl. Vf. »Literatur als Terapie?« (Rez. Neue Zürcher Zeitung 1982), Adolf Muschg, ed. Manfred Diercks (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989), 85–89. 13 Rüdiger Campe, Anselm Haverkamp, Christoph Menke, Baumgarten-Studien: Zur Genea- logie des Ästhetischen (Berlin: August 2014). Bildlegende Giovanni di Paolo – Teleskopie der Moderne

Giovanni di Paolo, Creation and Expulsion from Paradise (1445). The Metropolitan Museum of Art, New York; © picture-alliance/akg

Giovanni di Paolos »Erschafung der Welt und Vertreibung aus dem Paradies« blendet zwei Bilder in eines, wobei das zweite die Ansicht des ersten soweit prägt, daß man denken könnte, das erste, die Erschafung der Welt, sei mit dem Zweck des zweiten, der Vertreibung aus dem Paradies, erst nachträglich darstellbar ge- worden.1 Der vielgefügelte zürnende Gott naht über den Sphären der von ihm ge-

1 Einführung in die New Yorker Milton-Vorlesung des Vf.s (New York University 1991 und öfer). Die in den Fußnoten nachgewiesenen Texte von Merton, Lewis, Bloom wurden als Ausgangs- und Begleitlektüre behandelt. 6 Giovanni di Paolo – Teleskopie der Moderne schafenen Welt heran, als eilte er dem Menschenpaar nach, das sein Engel bereits an den goldenen Paradiesesbäumen vorbei aus dem Garten Eden vertreibt. Sein Finger weist im Kalender der Sterne voraus auf das Datum, an dem sich auf der darunter, im Zentrum der kosmischen Ordnung liegenden Erde, die Erlösung an- bahnen wird: Mariae, der zweiten Eva Geburt zum Frühlingsanfang am 25. März. Es ist eine Geste, die sich dem Blick der Vertriebenen entzieht: vom Schwert des Engels geblendet, schwindet ihnen der Glanz der Bäume, und was hinter ihrem Rücken, im Lichtschatten des ersten Bildes geschieht, wird erst in Generationen nach der stattgehabten Erlösung im Bild faßbar, einem modernen Bild (im mittelalterlichen Sinne der moderni). Das wird erst in Miltons Generation, im Lichte von Burtons Anatomy of Melancholy (1621) und vollends von Tristram Shandy’s (1759) Revision des Kanons aus einsichtig werden.2 Dem derzeit undurchschauten Anachronismus moderner Historismen fern, zeigt es die Erde im Kreis der antiken Sphären, aber auf dem Stand der neuesten Kartographie, in Süd-Nord-Orientierung statt der späteren Nord-Süd-Orientierung, die hier den Orient – ex oriente lux – links liegen läßt, im linken Bildteil, aus dem Gottvater auf Flügeln heranrauscht, während sein Engel die Vertreibung westwärts vollstreckt. Nicht allein die Auseinander-Entwickelung der Abbildungen ist von Interesse, in deren Ost-West-Gefälle die individuelle aus der kollektiven Eschatologie ent- springt und am Datum der Geburt Mariens, der neuen Eva, und nicht des von Ewig- keit gezeugten Sohnes, ihren weltgeschichtlichen Fluchtpunkt gewinnt. Von noch größerem Interesse ist die quasi a-historische Anachronie der Umkehrung, die in die narrative Grammatik des Buches Genesis die anagrammatische, vorhistorische Konstitution der geschafenen Welt in ein Doppel an Abbildung bringt. Die heils- geschichtliche, nun auch heilsgeographisch bewahrheitete Entfaltung der Welt in der Geschichte erscheint in der kartographischen Projektion sub specie aeternitatis ein- gelagert. Was dem Gang der Geschichte vorgezeichnet ist, erscheint ihr als von An- beginn eingezeichnet. Das trif nicht nur den perfekten Zufall, durch den die Gestalt der neuzeitlichen Welt in die Ringe der antiken Sphären wie in eine wahr gewordene Prophezeihung einzeichnet werden kann. Die anachronistische Projektion ist Ergeb- nis der neuzeitlichen Darstellbarkeit, in der sich im Schattenriß der alten umbrae die fgura des Neuen abzeichnet. Die buchstäbliche Rück-Sicht der Darstellung besteht in der Rückprojektion auf die a-historische Fläche, deren Überlagerung Giovanni di Paolo in der Phase der Ablösung des in Miltons ›sekundärem Epos‹ dramatisierten postlapsarischen Anfangs auf der paradiesischen Folie festhält und, der Intertextua- lität von Miltons Verlorenem Paradies vorgreifend, in das Doppelbild des Umschlags der Heils-Vorgeschichte in die durch diesen Anfang vorbestimmte, geprägte Welt- geschichte, bringt.3 Die Synchronie der Projektion hebt die Diachronie in sich auf; es ist die Leistung der Teleskopie der Projektion, in der die frühe Moderne ihre

2 Vgl. Robert Merton, On the Shoulders of Giants: A Shandean Postscript (New York NY: Te Free Press 1965). 3 C. S. Lewis, A Preface to Paradise Lost (Oxford: Oxford University Press 1942). Die Un- terscheidung des ›sekundären Epos‹ Vergils und Miltons vom primären Epos Homers ist historisch unterfangen in Lewis’ Tese Te Discarded Image: An Introduction to Medieval and Renaissance Literature (Cambridge: Cambridge University Press 1964). Giovanni di Paolo – Teleskopie der Moderne 7

Voraussetzungen neu defniert, nicht ohne sie zu bewahren, ja in ihrer untergründig vorbestimmten Bedeutung noch zu steigern.4 Die aus der Form der umbra darstellbar gewordene fgura verdankt sich keiner eigenen Evidenz; im Gegenteil bezieht sie ihre enargeia (die evidentia Quintilians) aus einer Verkehrung der fguralen Übertragungsrichtung, die als Metalepsis die in der fgura unterstellte translatio, die metaphora continuata der Allegorie, unterläuf.5 Der totale Kollaps des heilsgeschichtlichen Modells reagiert auf die Teleskopie der Moderne, indem in dieser, wenn nicht post-historisch, so doch post-heilsgeschicht- lich, der doppeldeutige Lauf der civitas permixta, wie ihn Augustinus vorhergesehen hatte, auf das weltgeschichtliche Programm hin durchsichtig wird. Gegen den Strich der typologischen Konstruktion der fgura deckt die Anti-Figur der Metalepsis (der transsumptio Quintilians, die Puttenham 1589 neu pointiert hat) auf, was die Me- taphorik in der Allegorie kontinuierlich gemacht hatte: die caesura, die der Kon- tinuität der Geschichte als diskontinuierliche Setzung vor allem Anfang vorausliegt und der Grammatik der Erzählung nur ana-grammatisch, gegen den Strich ihrer Konstruiertheit, zu entnehmen ist. Giovanni di Paolo dokumentiert die Metalepse, in der das Teleskop die fgura der beginnenden Heilsgeschichte auf den topos der Vertreibung zurückbringt, als eine Kippfgur: Die Erde, über der Gott als Schöpfer seiner Schöpfung schwebt, ist der exakt selbe Ort, an den der Engel die gefallene Menschheit, als wär’ es gestern, vertrieben hatte. Als Metalepse der Schöpfung ist das irdische Paradies seither, wenn irgendwo, bei Milton und Klopstock, eine Ver- gangenheit mit Zukunf, welche bei Harold Bloom über die Rezeption Miltons bis in die Post-Moderne der Wallace Stevens, Elizabeth Bishop, James Merill, John Ashberry reicht.6 Das Teleskop des »Tuscan artist« Galilei – prominente Szene in Paradise Lost (I.288) – gibt Milton das technische Mittel an die Hand, das die Allegorie der ent- leerten Metapher, welche die Metalepsis ist, in ein zeitgemäßes Bild bringt. Doch kann auch dieses Bild nicht anders, als die metaleptische Verkehrung der optischen Metapher weiterführen, die Giovanni di Paolo illustriert hat. In der Bearbeitung von Paradise Lost erscheint sie auf ihren textuellen Kern, auf die akustische Materie der Intertexte reduziert, deren Echo, nicht deren optische Repräsentation, aus der Tiefe der Zeiten nachklingt. Dem Echo der fernen Ofenbarung mit dem Instrument der Teleskopie zu begegnen, übersetzt die Doppelstruktur des literarisch Überlieferten in das hermeneutische Paradox, das seither Moderne heißt: die technische Re-prä- sentation eines Hören-Sagens von Tradition in einer, sei es nun freudig belebten, sei es zunehmend skeptischer erwarteten und betrachteten Zukunf.

4 Vf. Begreifen im Bild: Methodische Annäherung an die Aktualität der Kunst (Berlin: August Verlag 2009). Engl. Original »To Conceive of, in Pictures: Antonello da Messina, August Sander« (Messenger University Lecture, Cornell University 2008), Res — Aesthetics and Anthropology 59–60 (Cambridge MA: Harvard University Press 2011), 266–282. 5 Vf. »Die Wiederkehr der Allegorie in der Ästhetik der Avantgarde: Baumgarten in der Vorgeschichte des New Criticism«, Allegorie (DFG-Symposion 2014), ed. Ulla Haselstein (Berlin: de Gruyter 2016), 245–273. 6 Harold Bloom, A Map of Misreading (New York NY: Oxford University Press 1975), Kap. 7, wo die Metalepse als Meta-Figur des ›re-troping‹ behandelt ist. 8 Giovanni di Paolo – Teleskopie der Moderne

Postscriptum

Die Paradigmen von Rezeptionsästhetik, Intertextualität, Dekonstruktion konver- gieren in der Unhintergehbarkeit literarischer Werke nicht im Blick auf die humanis- tischen Werte, welche sie verkörpern könnten, die sie ganz im Gegenteil durchkreu- zen. Die Konvergenz liegt in der transhistorischen Qualifkation der ›Epoche‹, die sie einmal machten: der Geschichte, die sich in ihnen konstituierte und refektiert fndet. Die Transversale Milton–Klopstock prägte eine solche Epoche. Die Geschich- te, die sich in ihr konstituierte, dauert an. Sie als ganze in den Blick zu nehmen, als historische Großformation zu beschreiben, ist beim Stand der Forschung nicht leicht. Jede Einsicht in historische Konstitutionsbedingungen ist verstellt durch Er- wartungen, die ihre Erforschung selbst einmal produziert und propagiert hat, bis hin zu dem Postulat, daß das, was Epoche mache in der Literatur, der Erfahrung zugänglich sein müsse und in einem praktischen Erkenntnisinteresse an Verständi- gung – der Verständigung über Literatur und dem Verständigtsein in Literatur – nur gut aufgehoben sein könne. Zwischen 1500 und 1750 hat sich dieser Erwartungs- horizont von Literatur eingestellt und eingebürgert, aber was sich an ihm als natur- wüchsiges Stück Auflärung beweisen sollte, ist so undurchsichtig geworden, daß man es als Auflärung genau so gut vergessen konnte. Das ist keine ›Dialektik‹ mehr der Auflärung, sondern beider, der Dialektik wie der Auflärung, falscher Begrif von Literatur. Der ihr angemessene liegt anderswo; er ist in den epochalen Wehen der Auflärung und ihren transversalen Quersummen zu eruieren und nachzulesbar zu machen.

Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik Vorbemerkung

Der Text von 1982 ist bis auf Angleichungen der Zitierweise in der von der UB Kon- stanz 1983 archivierten Endfassung gedruckt. Diese umfaßte am Anfang und Ende zwei Kapitel, die im selben Jahr bereits in verselbständigten Fassungen erschienen. Die benutzten Ausgaben der Primärtexte sind nicht veraltet und deshalb bei- behalten; sie bieten für den vorliegenden Zweck eher Vorteile, weil sie unbelastet von unnötigen neueren philologischen Positivismen und den daraus entstandenen Sophismen sind. Die zitierten Texte und Lesarten sind an der inzwischen fortge- schrittenen Hamburger Ausgabe leicht zu überprüfen. In der Arbeit selbst standen die Rezeption und darauf gerichtete theoretische Fragen im Vordergrund. Sie re- präsentieren einen Stand unerledigt liegengebliebener methodischer Probleme, an die zu erinnern nicht völlig überfüssig sein mag. Die Bibliographie ist weggelassen; sie entspricht nicht mehr dem Stand der For- schung. Dafür sind die Nachweise in den Fußnoten ergänzt. Neueres ist den Ab- handlungen des zweiten Teils zu entnehmen und im Lichte des gleichzeitig erschei- nenden Handbuchs einzuordnen. Hauptzweck ist hier der Zugang zu dem Text von 1982 und nicht dessen zweifellos nötige Überarbeitung oder die wünschenswerte Verbesserung auf dem Stand neuerer Erkenntnisse und Interessen des Vfs. Die Zitierweise ist durchgehend angeglichen. Überschneidungen waren nicht zu vermeiden; sie zeigen den alten Text als Teil eines Patchwork von Wiederaufnahmen und Perspektiv-wechseln im Übergang, to be continued. Dafür sind die behandelten Primärtexte, um Wiederholungen zu vermeiden, in einem Anhang zusammenge- stellt, welcher – so sprunghaf er ist – die transhistorische Pointierung bestärkt. Das Projekt des Klopstock-Handbuchs bietet abschließend Gelegenheit, die methodische Beschränkung der älteren Textteile zu öfnen und mit dem Ergänzten in die Umrisse eines revidierten Entwurfs zu bringen. Mein Dank gilt heute wie damals den Konstanzer Lehrern und Gutachtern, denen die Arbeit sichtlich verpfichtet ist: Wolfgang Preisendanz, Wolfgang Iser, Hans Ro- bert Jauß, sowie mit ihnen Richard Alewyn, der die ersten Anregungen gab. Ausführliche Inhaltsübersicht

Einleitung Klopstockicität – Klopstock als Paradigma 15 Das Klopstockische Siegel – Denken und Empfnden – sentimentalische Dich- tung – literarische Öfentlichkeit – Mobilität und Empathie – Kongikt der Inter- pretationen – Doppelsinn – Dekonstruktion – Wiederholung – Umbesetzung der allegorischen Lektüre – individuelle Eschatologie – Melancholie – empathische Lektüre – compensatio und recompensatio – anxiety of inguence – lyrische Sub- jektivität – personal myths – Rezeptionshorizonte

Panorama Saving the Subject – Lektüregeschichte der Lyrik und Psychohistorie des Sub- jekts 29 Neue Subjektivität – Lyrik und Gesellschaf – Regression – Strukturzwang vs. Lektüre – Cramer vs. Heyne – Brief und Ode – allegorische vs. biographische Lektüre – mittelalterliche Hermeneutik – Klopstock! – Politik vs. Hermetik – Hegel wie Heyne – Himmelsmaschine und Rückläufges Wörterbuch – Konstruk- tion und Dekonstruktion – Introjektion und Pubertät – antizipierte Nachträg- lichkeit – entlastete Subjektivität – Naturträne

Erster Hauptteil Der Messias – Erlösung angesichts des Verlornen Paradieses 47 Klopstock und Milton – Programm des Messias – Arbeit am biblischen Mythos – Mythos und Dogma – Epos und Heilsgeschichte – primäres und sekundäres Epos – Kompensation – Rhetorik des Sündenfalls – mythisches Analogon – im- pliziter Sünder und mit-implizierter super-reader – Grundmythos und Remythi- sierung – mythische Terminologisierung – Wahrscheinlichkeit – teilnehmende Lektüre – Umbesetzung – Allegorie vs. Ironie – metonymische Arbitrarität – metalepsis – Hyperbolik – epische Plausibilisierung – Versinnlichung und Besee- lung – Erhabenheit als Schema – Verdichtung – Melancholie ironisch – prolep- sis – Episoden – kommunikativer Nexus – Teilnahme und Tod – Rückseite des Festgeschriebenen – heilige Poesie – selber denken – Verallgemeinerungsfähig- keit – Cidli und Lazarus – Sulamith und Ida – Fanny – regexiver Mechanis- mus – counter-plot – Metapher diesseitiger Träume – wohlfeile Verwegenheit – Zersetzung des mythischen Analogons – soziale Kompetenz – Ausdruck 14 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Zweiter Hauptteil Oden und Elegien – Empathie auf der Zürcher See 87 Rang des Erlebnisses – Erlebnis und Dichtung – ästhetische Erfahrung als Ergänzung – gehobener Ausdruck – Stimmung – Freundschaf – Freude – Funk- tionswandel der Repräsentation – Erlebnisform als Sprachspielgrammatik – Syntax und Bedeutung – Subjektivität als sprachliche Rolle – lyrisches Ich als Figur des Imaginären – lyrisches Du als Instanz des Intersubjektiven – neue Allegorien – Ode und Brief – regexives Moment und Selbst-Tematisierung Tematisches – Melancholie – teilnehmende Beobachtung – Schildern vs. Rühmen – Ironie – Kommunikativität – exemplarische Norm vs. parabolische Ofenheit – Lernen – Adoleszenz als intermediäres Moratorium – Zyklen und Augenblick – biographisches Interesse – Umstände des Lebens – Ich weiß nicht wie – zweites Lesen – Empathie – Einfühlung als Postulat – Rollengexibilität – Masche – Introjektion und Projektion – empathische Gegenseitigkeit vs. melan- cholische Gefühlsschwärmerei – fremde Rede – Syndrom und Epoche – personal myths and identity themes – Wiederholung

Wirkungsmuster Klopstock Illusion und Empathie – Die Struktur der teilnehmenden Lektüre in den Leiden Werthers 120 Erzählforschung – Transfer – Identifkation – Illusion – Negativität – das Ima- ginäre – Applikation – teilnehmende Beobachtung als Paradigma – Empathie als Grundoperation – Empathie, Ironie, Humor – Subjektivierung – exempla- rische Lektüre vs. empathische Lektüre – gexibler Übergang – Kompetenz und Habitus – soziale Kompetenz und regexiver Mechanismus – Rollentheorie und -metaphorik – Empathie und Bindung – fktive Einzigartigkeit – Regexivität und Regexion im Akt des Lesens Autobiographie und Briefroman – Rhetorik der Unmittelbarkeit – latente Ambivalenz – Dichtung und Wahrheit – Sprachspiel – pretending – Julie und Werther – typologische Konstruktion – Dekonstrukton der Allegorie – Heraus- geberfktion – aedifcatio und consolatio – Paradoxien – Verlegenheiten – para- doxe Verschreibung – Reisers Lektüre – Ironie und Melancholie – mißbrauchte Empathie – rhetorischer Auslöser – Zündkraut zu einer Explosion – Rezeption – rhetoric of empathy – Aura Einleitung 15

Einleitung Klopstockicität – Klopstock als Paradigma

... daß Klopstock der grellste Fall dieser Art ist.

Zitat (Männerstimme; anzüglich spitz): Wer wird nicht einen Klopstock loben? / : Doch wird ihn Jeder lesen? : Nein ! / – : Wir wollen weniger erhoben, / und fleißiger gelesen sein! (dringend; aber schon leiser) : Wer wird nicht einen Klopstock loben ?! / : (verhallend): Doch wird ihn Jeder lesen ????*

Von »Klopstockicität« spricht Klopstocks treuester Anhänger Carl Friedrich Cra- mer, als er in einem Brief an den alternden Dichter die Eigentümlichkeit seiner Werke rühmt.1 Das »Klopstockische Siegel« erkennt Lessing 30 Jahre früher auf zwei Gedichten, von denen eines tatsächlich ein geistliches Lied des älteren Cramer ist.2 Lessings Urteil ist nicht ohne die Ambivalenz der Verse, mit denen er 1752 seine Sinngedichte eröfnet hatte: »Wer wird nicht einen Klopstock loben?« hieß hier die rhetorische Frage, mit der Lessing Distanz zum zeitgenössischen Geschmack nimmt, und seine Antwort ist als Fazit sprichwörtlich geworden: »Doch wird ihn jeder lesen? Nein.«3 In der späteren Kritik der »Literaturbriefe« schreibt er über Cramers Lied: »Es ist, – wie des Herrn Klopstocks Lieder alle sind; so voller Empfndung, daß man of gar nichts dabei empfndet.« Klopstockisch heißt eine lyrische Masche, die nach Art einer literarischen Manier funktioniert und am deutlichsten an den Werken wird, die nicht von ihm selbst, sondern – of unter seinem Namen gedruckt – von Anhängern wie Cramer oder Füßli stammen. Daß sie erfolglos gewesen sei, kann man Lessings Versen nicht entnehmen, wohl aber, daß dieser Erfolg nicht nur (oder weniger) mit ›Lesen‹ in Lessings Verstand zu tun hatte. Seit Klopstock dann tatsäch- lich nicht mehr gelesen wurde, hat es den Anschein, als sei er nie gelesen worden und immer nur das empfndsame Losungswort gewesen, das aus Lottes Mund im Werther überliefert wird.4 Die mit Klopstocks Namen verbundene Rezeptionsweise ist zu erfolgreich gewesen, als daß man Klopstocks schnelle Wirkungslosigkeit damit

* Arno Schmidt, »Klopstock, oder Verkenne Dich Selbst!«, Dya Na Sore (Karlsruhe: Stahl- berg 1958), Nachrichten von Büchern und Menschen I (Frankfurt a. M.: Fischer 1971), 58– 85: 59 und 85 (Schluß). 1 Carl Friedrich Cramer an Klopstock »Kiel, den 27. Juni 1785«, nach Detlev W. Schumann, »Aus Klopstocks Umwelt: Fünfundzwanzig Briefe an ihn und seine zweite Gattin«, Jahr- buch des Freien Deutschen Hochstifs (1964), 1–58: 41. 2 , »Briefe, die neueste Literatur betrefend«, 51. Brief (1759), Ge- sammelte Werke, ed. Paul Rilla IV (Berlin/Weimar: Aufau 21968), 262–269: 262. 3 Gotthold Ephraim Lessing, »Die neuen Sinngedichte an den Leser« (1752), Gesammelte Werke I: 133. 4 Richard Alewyn, »Klopstocks Leser«, Festschrif für Rainer Gruenter, ed. Bernhard Fabian (Heidelberg: Winter 1978), 100–121: 100 und 116. 16 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik in Einklang bringen könnte; sie hat Klopstocks eigene Werke nahezu spurlos absor- biert. Die Bedeutung seines Namens scheint nurmehr mit historischen Argumenten an den Werken erklärbar und in den seltensten Fällen nachvollziebar. In Lessings Worten »feissiger gelesen sein« impliziert eine Leseeinstellung, die zwar in der Intensität des Vollzugs, nicht aber in der Intention auf Klopstocklektüre zutrif. Das liegt an einer eigentümlichen Verschränkung von ›Denken‹ und ›Emp- fnden‹, die bei Klopstock angeblich noch ungeschieden sind, nämlich nach seinen eigenen Worten nicht voneinander zu trennen seien.5 Seine Kritik gegen Einwände vertiefend, räumt Lessing ein:

Es kann wahr sein, dachte ich, daß Herr Klopstock, als er seine Lieder machte, in dem Stande sehr lebhafter Empfindungen gewesen ist. Weil er aber bloß diese Empfindun- gen auszudrücken suchte, und den Reichtum von deutlichen Gedanken und Vorstellun- gen, der die Empfindungen bei ihm veranlaßt hatte, durch den er sich in das andächtige Feuer gesetzt hatte, verschwieg und uns nicht mitteilen wollte: so ist es unmöglich, daß sich seine Leser zu eben den Empfindungen, die er dabei gehabt hat, erheben können. Er hat also, wie man im Sprüchworte zu sagen pflegt, die Leiter nach sich gezogen, und uns dadurch Lieder geliefert, die von Seiten seiner so vollen Empfindung sind, daß ein unvorbereiteter Leser oft gar nichts dabei empfindet.6

Charakteristisch ist die Leiter-Metaphorik, die in unserem Jahrhundert am wir- kungsvollsten Wittgenstein eingesetzt hat, als er den Schluß seines Tractatus vor- bereitet: wovon sich nicht reden lasse, darüber solle man besser schweigen.7 Lessing betont den vehikulären Aspekt der beanspruchten Empfndungen und beklagt ihre maschenhafe Verselbständigung – mit der bezeichnenden Wendung gegen sich selbst: »Desto schlimmer aber für Lessingen, wenn seine Fabeln nichts als witzig sind!« Denn was der aufgeklärte Witz als Vehikel zu leisten imstande war, trif auf Klopstocks Empfndungen als Vehikel nicht mehr zu. In den Termini der metaphern- theoretischen Unterscheidung von Richards, die eine emotivistische Literaturtheo- rie ablöst, interagieren Tenor und Vehikel in Klopstocks Denken und Empfnden derart, daß sich das alte rhetorische Verhältnis von emotivem Tenor und gedank- lichem Vehikel umkehrt.8 Dies mag seine begrifsgeschichtlichen Gründe haben, seine Bedeutung aber hat es im Vorgrif auf romantische Positionen, denen Richards seine Unterscheidung abgewinnt. Bei Coleridge erscheint der Tenor in sein Vehikel

5 Vgl. Gerhard Kaiser, »Denken und Empfnden: Ein Beitrag zur Sprache und Poetik Klop- stocks« (1961), Text + Kritik, Sonderband »Friedrich Gottlieb Klopstock« (München: Text+Kritik 1981), 10–28: 16. 6 Gotthold Ephraim Lessing, »Briefe, die neueste Literatur betrefend«, 111. Brief (1760), Ge- sammelte Werke IV, 408–411: 411. 7 Vgl. Hans Blumenberg, »Ausblick auf eine Teorie der Ungegrifichkeit« (1979), Teo- rie der Metapher, ed. Anselm Haverkamp (Darmstadt: Wissenschaflich Buchgesellschaf 1982), 438–454: 444. 8 I. A. Richards, Te Philosophy of Rhetoric (New York NY: Oxford University Press 1936), 120 f.; vgl. dazu meine »Einleitung in die Teorie der Metapher«, Teorie der Metapher, 1–27: 8 f. Einleitung 17 eingeschmolzen (»fused«): »Tus the imaginative metaphor is untranslatable«.9 Richards’ emotivistisches Dilemma, wie auch ex negativo Wittgensteins frühe Kon- sequenz, markieren letzte Rückzugspositionen eines rhetorischen Paradigmas der Applikation, dessen Standards wesentlich früher außer Kraf geraten; das bezeugt Lessings Auseinandersetzung mit Klopstock, deren zukunfsweisende Implikationen so schnell nicht auszuformulieren sind.10 Die abschließende Würdigung Klopstocks, der bis heute nichts an die Seite zu stellen ist als die Ratlosigkeit der Forschung, steht in Schillers Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung«. Abwechselnd in der Vorläufer- und Wegbe- reiterrolle für Goethe und Hölderlin, nicht zuletzt auch Schiller selbst, stagniert die Forschung über der geistesgeschichtlichen Crux von ›Denken und Empfnden‹ (wo- für der Wiederabdruck des einschlägigen Aufsatzes von 1961 im Jahre 1981 ausrei- chender Beleg ist). Schiller war deutlich genug: »In der sentimentalischen Dichtung (...) möchten wenige aus den neuern und noch wenigere aus den ältern Dichtern mit unserm Klopstock zu vergleichen seyn.«11 Als Prototyp der Moderne ist Klopstock ein zu schwieriges Paradigma, als daß sich die Aporien des Sentimentalischen nicht in seiner Behandlung niedergeschlagen hätten. Das will ich hier nicht ins einzelne gehend zeigen. Entscheidend sind die Probleme, die Schiller an Klopstock gesehen und als Probleme einer neuen Rezeptionsweise formuliert hat:

Beynahe jeder Genuß, den seine Dichtungen gewähren, muß durch eine Übung der Denkkraft errungen werden; alle Gefühle, die er, und zwar so innig und so mächtig in uns zu erregen weiß, strömen aus übersinnlichen Quellen hervor. Daher dieser Ernst, diese Kraft, dieser Schwung, diese Tiefe, die alles charakterisiren, was von ihm kommt; daher auch diese immerwährende Spannung des Gemüths, in der wir bey Lesung des- selben erhalten werden.

Wie Lessing vom unvorbereiteten Leser spricht, der durch ein Übermaß der Emp- fndungen überfordert werde, so Schiller von den Anstrengungen, die Klopstocks Lektüre erfordere, und einer eigenen Gemütsspannung, in die sie versetze. Als spe- zifsche ›Bewußtseinsspannung‹ hat man diesen Sachverhalt phänomenologisch beschrieben und im »Vertauschen von Erlebnisstilen« die modernen Anforderun- gen charakterisiert, die damit verbunden sind.12 In Umkehrung der rhetorischen Relationen werden nicht Empfndungen und Gemüt bewegt für einen wie immer exemplarischen Schluß oder didaktischen Zweck. Die Diferenz erläutert Schiller an Hallers Trauerode, an der der Übergang handgreifich wird:

9 Murray Krieger, Te New Apologists for Poetry (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1956), Kap. 3: 62. Vgl. I. A. Richards, Coleridge on Imagination (London: Routledge Kegan Paul 1932), 75 f. 10 Vgl. Paul Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung I (Hamburg: Hofmann und Campe 1949), Kap. V: 530. 11 , »Ueber naive und sentimentalische Dichtung« (1795), Schillers Werke (Nationalausgabe), ed. Benno von Wiese XX (Weimar: Böhlau 1962), 413–503: 455, dann 457. 12 Alfred Schütz/Tomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt I (Darmstadt: Wissenschafli- che Buchgesellschaf 1975), Kap. 50. 18 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Wenn Haller den Tod seiner Gattin betrauert (man kennt das schöne Lied) und folgen- dermaaßen anfängt: Soll ich von deinem Tode singen O Mariane welch ein Lied! Wenn Seufzer mit den Worten ringen Und ein Begriff den andern flieht u. s. f.

so finden wir diese Beschreibung genau wahr, aber wir fühlen auch, daß uns der Dich- ter nicht eigentlich seine Empfindungen, sondern seine Gedanken darüber mittheilt. Er rührt uns deswegen auch weit schwächer, weil er selbst schon sehr viel erkältet seyn mußte, um ein Zuschauer seiner Rührung zu seyn.13

Haller teilt Gedanken mit über Empfndungen, Klopstock Empfndungen über Ge- danken, könnte man den Gegensatz versuchsweise formulieren, wobei freilich alles an der veränderten Funktion des »über« hängt. Davon handelt Klopstocks Teorie der ›Darstellung‹, deren zentrale Auskunf lautet: »Durch genau wahren Ausdruck der Leidenschaf.«14 Im Blick hierauf pointiert Schiller den Unterschied Hallers zur Klopstockischen Dichtung: »Daher lehrt er durchgängig mehr, als er darstellt.« In Schillers Fußnote zur ›musikalischen‹, nicht ›didaktischen‹ Dichtung Klopstocks kündigt sich der »bei Klopstock keineswegs klare Gedanke« an, »auf Grund ihres Mediums Sprache erzeuge die Dichtung ihre Gegenstände selbst«.15 Die Unklarheit dieser Vorahnungen wird verstärkt durch den gegenläufgen Versuch der zeitgenös- sischen Lyriktheorie, ältere rhetorisch-poetische Vorstellungen auf einen neuen as- soziations-psychologischen Stand zu bringen.16 Die Kontroverse um eine lyrische Funktionalisierung der Empfndungen, die zwischen Mendelssohn und Herder aus- getragen wird, versinkt bei Schiller in Bedeutungslosigkeit. Zwischen der romanti- schen Charakteristik des musikalischen und der traditionellen Charakteristik des didaktischen Dichters vermittelt der Begrif des Sentimentalischen, der im Falle Klopstocks einen Funktionswandel des Allegorischen impliziert:

Seine (Klopstocks) Sphäre ist immer das Ideenreich, und ins Unendliche weiß er alles, was er bearbeitet, hinüberzuführen. Man möchte sagen, er ziehe allem, was er behan- delt, den Körper aus, um es zu Geist zu machen, so wie andere Dichter alles geistige mit einem Körper bekleiden.17

Natürlich verwendet Schiller den Terminus nicht, was zu seiner Zeit auch nur mißverständlich sein könnte. Aber er erwähnt den Sachverhalt, daß »andere Dich-

13 Friedrich Schiller, »Ueber naive und sentimentalische Dichtung«, XX: 452–453 und 454. 14 Friedrich Gottlieb Klopstock, »Von der Darstellung« (1799), Ausgewählte Werke, ed. Karl August Schleiden (München: Hanser 1962), 1031–1038: 1034. 15 Wolfgang Preisendanz in der Diskussion »Zur Teorie der Lyrik im 18. Jahrhundert«, Im- manente Ästhetik – Ästhetische Regexion (Poetik und Hermeneutik II), ed. Wolfgang Iser (München: Fink 1966), 335–418: 403 f. 16 Vgl. Klaus R. Scherpe, »Analogon actionis und lyrisches System«, Poetica 4 (1971), 32–59: 58. 17 Friedrich Schiller, »Ueber naive und sentimentalische Dichtung«, 456 und 457 f. Einleitung 19 ter alles geistige mit einem Körper bekleiden«, und sieht Klopstocks Darstellung in Umkehrung der allegorischen Darstellung ›geistigen Sinns‹ durch sinnliche Vehikel. Umgekehrt würden diese bei Klopstock zum Tenor, wie man mit der Musikmetapher von Richards sagen kann, sofern die musikalische Dichtung »bloß einen bestimm- ten Zustand des Gemüths hervorbringt, ohne dazu eines bestimmten Gegenstandes nöthig zu haben«. Was es mit einem solchen Tenor der Empfndungen auf sich hat, der nicht vehikulär um- und auszumünzen ist nach dem Muster rhetorischer Per- suasion, steht dahin und ist mit dem Hinweis auf ein ›Ideenreich‹ nicht geklärt. Die Verlegenheiten der Schillerschen Konzeption will ich hier nicht ein weiteres Mal darstellen.18 Sie sind in vieler Hinsicht symptomatisch, in diesem Fall für die pa- radigmatische Rolle Klopstocks für die Entstehung einer Rezeptionsweise, die weder in pragmatischen Termini der Rhetorik, noch in solchen einer idealistischen Äs- thetik zu fassen.19 Es ist für Fragen dieser Art ohnehin ein zweifelhafes Postulat, daß sie aus der zeitgenössischen Teoriediskussion herauszuentwickeln seien. Ich gehe von einer ganz anderen Hypothese aus, für die sich in der Rhetorik und Ästhetik der Zeit nur symptomatische Refexe, in der Kritik nur symptomatologisch aufzufassende Be- obachtungen fnden. So vergißt Schiller an der eben zitierten Stelle nicht, die sozial- psychologische Seite einzubeziehen: »Nur in gewissen exaltierten Stimmungen des Gemüths« sei Klopstock zu empfehlen, könne er »gesucht und empfunden« werden: »deswegen ist er auch der Abgott der Jugend, obgleich bey weitem nicht ihre glück- lichste Wahl ...« Zugestandenermaßen wird es Schiller »etwas bange«, möchte er den »Jüngling« eher »aus dem Reiche der Ideen in die Grenzen der Erfahrung« zurück- bringen. Befürchtungen dieser Art, für die die Wertherwirkung die bekanntesten Belege liefert, geben Hinweise auf sozial- und psychohistorische Aspekte moderner Dichtung, die Schiller im Begrif des Sentimentalischen überspielt. Immerhin kann er in eben dem Moment, in dem Klopstocks Wirkung historisch geworden ist, von ihren Dimensionen noch einen Begrif geben. Der of beklagte Nachteil, daß dieser Begrif kein spezifsch ästhetischer sei, ist symptomatologisch sein Vorteil. Die sozialgeschichtlichen Untersuchungen andererseits, die einen neuen Typus li- terarischer Öfentlichkeit zum Gegenstand nehmen und die psychologischen Aspek- te der neuen Rezeptionsweise von Literatur unter deren Bedingungen beschreiben, nutzen die literarischen Quellen, als wüßten sie schon, wie sie zu lesen seien.20 Das geschieht nicht ohne schlechtes Gewissen, aber in umgekehrter Richtung: daß sie nur mangels verläßlicherer Zeugnisse und härterer Daten zu verwenden seien. »Der Forscher muß sich an die besten erreichbaren Unterlagen halten«, hört man die Re-

18 Vgl. Dieter Henrich, »Der Begrif der Schönheit in Schillers Ästhetik«, Zeitschrif für phi- losophische Forschung 11 (1967), 527–547: 546, und Hans Robert Jauß, »Schlegels und Schillers Replik auf die Querelle des Anciens et des Modernes« (1967), Literaturgeschichte als Provokation (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970), 67–106: 102 f. 19 Vgl. Heinz-Dieter Weber, Friedrich Schlegels Transzendentalpoesie: Untersuchungen zum Funktionswandel der Literaturkritik im 18. Jahrhundert (München: Fink 1973), Kap. VII/2: 129 f. 20 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öfentlichkeit (Neuwied/Berlin: Luchterhand 1962), Kap. II, und Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter (Hamburg: Rowohlt 1957), Kap. IV. 20 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik signation heraus, »und diese entstammen im Bereich von Hochkulturen nun einmal wesentlich literarischen Quellen«.21 Der Rückzug auf anthropologische Gemeinplätze zeigt (hier wie anderswo), daß das literar-ästhetische Defzit in ein historisches Defzit eingeht: die Frage nach dem historischen Quellenwert literarischer Texte. Daß der erforschte soziologische Ge- genstand (im zitierten Fall die ›Freundschaf‹) von spezifsch literarischer Konsti- tution sein könnte, kommt nicht in den Blick: Literatur gilt bestenfalls als unzuver- lässiger ›Ausdruck‹ sozialer Situationen. Auch wo »literarische Äußerungen ernst genommen« werden sollen, behalten sie eine ständige Irritation und provozieren, wo nicht Anregungen (forschungspsychologisch), Reduktionen (forschungslogisch).22 Das liegt freilich in der Tücke des literarischen Objekts, seiner Kommunikativität. Die Lesbarkeit literarischer Texte geht in den Codes der öfentlichen Sprache nicht auf: das macht sie zur ästhetischen Provokation wie zum hermeneutischen Problem. Die historischen Bedingungen, unter denen es dazu kam, sind nur sehr pauschal und hypothetisch aus einer allgemeinen Entwicklung der Verständigungsverhältnisse und ihrer zunehmenden ideologischen Verzerrung abzuleiten. Gerade unter ideo- logiekritischen Vorentscheidungen ergeben sich leicht Reduktionen des ästhetischen Potentials der Texte auf eine rhetorische Struktur ihrer Aussagen. Daß dieses Poten- tial weiter ist, setzt innerhalb bestimmter Bedingungen öfentlicher Kommunikation eine Lesefähigkeit voraus, die in ihrer hermeneutischen Intention der rhetorischen Intention öfentlichen Redens nicht mehr komplementär ist. Ich habe an anderer Stelle die kommunikative Funktion von Literatur im Übergang der repräsentativen in eine frühe bürgerliche Öfentlichkeit behandelt und in einer ersten Vorstudie auch den Einfuß von Mobilität und Empathie auf den systematischen Wandel der Le- seeinstellungen im Prozeß fortschreitender Modernisierung dargestellt.23 Den dabei gesetzten Rahmen will ich hier nicht neu diskutieren und überschreiten, sondern lediglich in dieser sehr spezifschen Hinsicht ausarbeiten: der Diferenzierung im Begrif der Lektüre, die den modernen, empathischen Akt des Lesens von der alten, allegorischen Lektüre trennt. Da eine ästhetikgeschichtliche Diskussion ihre eigenen Tücken hätte und ein symptomatologisches Verfahren eigener Art erforderte, stelle ich eine Art Panorama an den Anfang, das den Umfang des Paradigmas Klopstock vor Augen führen soll und den in Tomas S. Kuhns Teorie implizierten parabel- hafen Charakter hat.24 Der jüngste Aufritt einer ›Neuen Subjektivität‹ in der Lyrik und die damit verbundenen Strategien lyrischer ›Unmittelbarkeit‹ hat seine histori- sche Pointe nicht zuletzt in der Hintergehung der ›Dialektik der Auflärung‹ (1944) durch den ›Strukturwandel der Öfentlichkeit‹ (1962). Der Rückgang hinter den von Adorno aufs 19. Jahrhundert datierten ›Verblendungszusammenhang‹ bürgerlicher

21 Friedrich H. Tenbruck, »Freundschaf«, Kölner Zeitschrif für Soziologie und Sozialpsycho- logie 16 (1964), 431–456: 432, vgl. 438. 22 Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaf (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969), 10 f. 23 Vf. Typik und Politik im Annolied: Zum Kongikt der Interpretationen im Mittelalter (Stutt- gart: Metzler 1979) und »Illusion und Empathie«, Erzählforschung (Stuttgart: Metzler 1982), hier als Rezeptionskonsequenz im Anhang. 24 Vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (Bonn: Bouvier 1960), Kap. II und VI, und Tomas S. Kuhn, Te Structure of Scientifc Revolutions (Chicago IL: University of Chicago Press 1962), Kap. V. Einleitung 21

Ideologie auf das von Habermas im 18. Jahrhundert beschriebene Selbstverständnis ›bürgerlicher Öfentlichkeit‹ begleitet und befestigt einen Paradigmawechsel: von Baudelaire und Hölderlin zu Rousseau und Klopstock. Der Name Klopstock bedarf in diesem Wechsel einer eigenen Begründung, die der Hölderlins umgekehrt propor- tional ist: Ist Hölderlins späte Wirkung Musterbeispiel einer »im fortschreitenden Horizontwandel ästhetischer Erfahrung« entfalteten ›Bedeutsamkeit‹ des Werks, so liefert Klopstocks frühe Wirkung und fortschreitende Vergessenheit den umgekehr- ten Fall, der zum Problem der Progressionsthesen ästhetischer Erfahrung werden muß.25 In der Expansion hermeneutischer Horizonte läßt sich die Geschichte ästhe- tischer Erfahrung nur als verkappte ›Arbeit am Mythos‹ beschreiben (und das hieße in ihrem Anteil am ideologischen Verblendungszusammenhang), nicht in ihrer kommunikativen Funktion, die fortschreitender Verschüttung unterliegt oder doch wechselnden Verzerrungen. Wie immer man den Prozeß der Moderne in seiner Dia- lektik aufassen möchte, bleibt der ›Konfikt der Interpretationen‹ aufällig, der die Lektüre zwischen kognitivem Interesse (›Neugier‹) und emotiver Bewegung (›Moti- vation‹) schwanken läßt, in diesem Schwanken (›Oszillieren‹) aber jede dogmatische Festlegung auf exemplarische wie auch jede ideologische Festlegung auf politische Konsequenzen meidend.26 Gegenstand dieses Konfikts ist das Muster (in Kuhns Termini: das Paradigma, die Matrix), das von der gnostischen ›Pseudomorphose‹ bis zur hermeneutischen ›Horizontverschmelzung‹ die dogmatische wie die ideo- logische Ausnutzung und Anwendung der Lektüre bestimmt hat: die allegorische Auslegung von ›Wahrheit‹ mittels ›Methode‹.27 Ich lasse es bei diesen pauschalen Hinweisen und komme zur hermeneutischen Problemstellung im engeren Sinne. Nicht von ungefähr geht auch Ricoeur in seiner Abhandlung über den Doppelsinn, mit dem es der Konfikt der Interpretationen zu tun hat, von der allegorischen Prägung des Problems aus.28 Entscheidend ist dabei freilich nicht, wie es die linguistischen Reformulierungen nahelegen, die ›referential fallacy‹, die den Literalsinn als ›mimetische‹ Folie versteht, vor der Doppelsinn als allegorisch-fguraler sich aufaue.29 Nicht ein mimetischer Sinn (›Darstellung‹) wird in dem fraglichen Konfikt destruiert, sondern dessen fgurale Destruktion (›Ver- fremdung‹) in der Lektüre wird ihrerseits de-konstruiert, wie der modische Ausdruck seit Jacques Derrida und Paul de Man heißt. Der Sinnefekt, den die Doppelsinn- struktur im Konfikt der Interpretationen hat, ist nicht die allegorische Verschmel-

25 Vgl. Hans Robert Jauß, hier »Geschichte der Kunst und der Historie«, Literaturgeschichte als Provokation, 208–251: 234. Siehe Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979). 26 Vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966), Teil III, und Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968), Teil III. 27 Vgl. Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I (Göttingen: Vandemhoeck und Ruprecht 1934), und Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (Tübingen: Mohr Siebeck 1960). 28 Paul Ricoeur, »Le problème du double-sens comme problème herméneutique et comme problème sémantique« (1966), Le congit des interprétations (Paris: Seuil 1969), 64–79: 65 f. 29 Vgl. Michael Rifaterre, Semiotics of Poetry (Bloomington IA: Indiana University Press 1978/London: Methuen 1980), Kap. I, und Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979), passim. 22 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik zung, sondern ›Dissemination‹.30 Wie die pauschale hermeneutische Unterstellung einer universalen Horizontverschmelzung ist die ebenso pauschale Hypothese eines universellen Prozesses der Dissemination von allenfalls heuristischem Wert: sie bringt der ›authentischen Potenz‹ des Doppelsinns vor seiner katachretischen Be- reinigung in der öfentlichen Sprache näher und damit der authentischen Wirkung doppelsinniger Texte vor ihrer sekundären Bearbeitung im Bewußtsein der Leser. Gabriele Schwab hat dies nach der psychogenetischen Seite hin untersucht und den Doppelsinn der poetischen Sprache als Vermittler von Primärprozeßhafem in der Ordnung der Sekundärprozesse beschrieben.31 Diese Tese hat den Vorteil, die prä- stabilierte Harmonie von allegorischer Konstruktion und ironischer Dekonstruktion zu unterlaufen, die Doppelsinn als gegenläufgen Trend und damit als Eigenschaf einer und derselben bewußten Lektüreeinstellung entschärf. Nach meiner eigenen Hypothese handelt es sich um einen konfikthafen Übergang von der einen in eine andere Lektüreeinstellung, den man wohl im allgemeineren phänomenologischen Horizont von ›Zeitlichkeit‹ als eine historische ›Umbesetzung‹ beschreiben kann, aber in seiner Radikalität nicht unterschätzen darf. Als gemeinsamer Nenner, durch den sowohl die logische Widersprüchlichkeit als auch die psychologische Tiefe des Konfikts charakterisiert ist, kann der Begrif der Wiederholung dienen, wie er von Kierkegaard in Opposition zur Hegelschen Dialektik geprägt worden ist.32 Die tradi- tionale Wiederholung der Allegorie wird in der Melancholie hofnungslos, in der Ironie dagegen unabsehbar. Im Aufschub, den diese Unabsehbarkeit anstelle der Hofnungslosigkeit gewährt, artikuliert sich Widerstand, im Widerstand freilich auch die inauthentische Maske der Abwehr.33 Für Kierkegaard zwei Seiten derselben Krankheit, sind Melancholie und Ironie zwei Seiten derselben fguralen Konstruk- tion, auf der die allegorische Lektüre beruht, und in die sie mit Fortschreiten der Moderne auseinanderfällt.34 Als moderne (und in ihrer Modernität psychologische) Figuren des Lesens tragen Melancholie und Ironie ihre Vergangenheit in sich, ohne daß soweit klar wäre, in welchem Verhältnis des Aufgehobenseins hermeneutische Tradition und moderne Applikation hier stehen. Zur Beantwortung dieser Frage gibt es zwei Wege, die sich gegenseitig ergän- zen. Die Verfallsgeschichte der allegorischen Lektüre läßt sich am Zerfall ihres In-

30 Jacques Derrida, »La diférance« (1968), Marges de la philosophie (Paris: Minuit 1972), 3–29; La dissémination (Paris: Minuit 1972). Vgl. Geofrey H. Hartman, Saving the Text (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1981), Kap. 2. 31 Gabriele Schwab, »La genèse du sujet, l’imaginaire et le langage poétique«, Diogène 115 (1982), 59–86: 78 f., engl. »Te Subject Genesis, the Imaginary, and the Poetical Language«, Diogenes 115 (1981), 55–80: 73 f. 32 Vgl. Paul de Man, »Te Rhetoric of Temporality«, Interpretation – Teory and Practice, ed. Charles S. Singleton (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1969), 173–209: 190 f. und meine Skizze »Allegorie, Ironie und Wiederholung«, Text und Applikation (Poe- tik und Hermeneutik IX), ed. Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß und Wolfart Pannen- berg (München: Fink 1981), 561–565: 562 f. 33 Vgl. Jacques Lacan, Die vier Grundbegrife der Psychoanalyse (Das Seminar von Jacques Lacan XI, 1964) (Olten/Freiburg: Walter 1978), Kap. V. 34 Vgl. Walter Benjamin, Charles Baudelaire – Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969), Kap. III, sowie Jean Starobinski, »Ironie und Melan- cholie«, Der Monat 18 (1966), 22–35: Schluß. Einleitung 23 strumentariums beobachten und als Umbesetzung ihres Applikationsmusters be- schreiben. Es lassen sich in dieser Umbesetzung aber auch die Ansätze der neuen Lektüre rekonstruieren. Ich beginne mit der ersten Möglichkeit. Für die Entstehung der neueren Hermeneutik hat Szondi den einschlägigen Verdacht geäußert: »Es fällt schwer zu glauben, daß die neue Hermeneutik, die von Schleiermacher und seinen unmittelbaren Vorläufern geschafene, den Begrif der grammatisch-historischen Interpretation übernimmt, ohne sich in einer bestimmten Weise, und sei’s auch kritisch, auf die alte zu beziehen.« Mit eben dieser bestimmten Weise der Kritik, die Adornos ›bestimmte Negation‹ zitiert, ist der Konfikt der Interpretationen in seinem hermeneutischen Refex getrofen: Es erweise sich nämlich, »daß die Lehre von den verschiedenen Interpretationsweisen die Lehre vom mehrfachen Schrif- sinn nicht bloß ersetzt, sondern bestimmt negiert: sie steht im Zusammenhang mit der bereits in der Reformation einsetzenden antischolastischen Tendenz, die auf der Einheit des Sinns besteht.«35 Entsprechend hatte er zuvor von einer in der Chladen- schen Auslegungslehre implizieren »generalisierten und säkularisierten Neufassung der alten Unterscheidung von sensus litteralis und sensus spiritualis« gehandelt. Jauß hat in explizitem Anschluß an Szondis Vorlesungen die Hypothese bekräfigt, »daß die Genese der neuen Hermeneutik der mehrfachen Auslegungsweise aus einer Umbesetzung von Funktionen der alten Lehre vom mehrfachen Schrifsinn erklärt werden kann«, dies dann wie Szondi am Verhältnis von Auslegung (explicatio) und Anwendung (applicatio) seit Luther angelegt gesehen und wie Gadamer in der pie- tistischen Unterscheidung dreier hermeneutischer Operationen (subtilitates) aus- gebaut gefunden.36 Allerdings scheint die Radikalisierung der Applikationsfrage nur ein sekundäres Moment, aus dem eine prinzipielle Pluralität der Auslegungsweisen noch nicht folgt; derartige Probleme der Anschließbarkeit stehen bereits am An- fang der Allegorese, wenngleich sie über weite Strecken dogmatisch vorentschieden und mithin theologisch entschärf werden. Entscheidend radikalisiert sich die Ap- plikationsfrage erst in der ihrerseits radikalisierten Konkurrenz literarischer Texte zum einen Text der Heiligen Schrif und damit zum Schrifprinzip der protestan- tischen Auslegung. »Der Augenblick, in dem die singularisierende in die plurali- sierende Hermeneutik umkippte, kam erst dort, wo dieser hermeneutische Streit blutig wurde«, plausibilisiert Odo Marquard das entscheidende Moment.37 Erst als die theologische Applikation der einen Schrif in ihrem dogmatischen Anspruch wie ihren exemplarischen Konsesequenzen endgültig unglaubwürdig geworden und durch kriegerische Praxis widerlegt waren, lautet Marquards Vermutung, kommt es zu einem neuen, strukturell gewandelten Bedarf an Applikation: »Die Hermeneutik antwortet auf diese Tödlichkeitserfahrung des hermeneutischen Bürgerkriegs um den absoluten Text, indem sie – zur pluralisierenden, d. h. literarischen Hermeneutik

35 Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975), 179, im folgenden auch 54. 36 Hans Robert Jauß, »Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik«, Text und Applikation (Poetik und Hermeneutik IX), 459–481: 467 (464 f.). 37 Odo Marquard, »Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist«, Text und Applikation (Poetik und Hermeneutik IX), 581–589, hier in der erweiterten Fassung in Abschied vom Prinzipiellen (Stuttgart: Reclam 1981), 117–146: 129–130. 24 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik sich wandelnd – den nichtabsoluten Text und den nichtabsoluten Leser erfndet: also den, den es – außer bei den Frühmerkern: den Humanisten – vorher im Grunde noch gar nicht gab: nämlich den literarischen Text und den literarischen Leser.« Der Witz der Formulierung bagatellisiert das Phänomen freilich, das mit den Humanis- ten allenfalls angedeutet wird: den Ursprung einer Literatur, an der der literarische Leser dies nichtabsolute Lesen lernt. Einen Übergangstext gibt es allerdings, an dem Marquards Überlegungen Konturen gewinnen könnten: Miltons Paradise Lost, an das Klopstocks Messias anknüpf. Die Umbesetzungsthese steht und fällt nicht mit der Unterscheidung von Literal- und Spiritualsinn, sondern mit der Umbesetzung der im vierfachen Sinn unterschie- denen drei Applikationsweisen, deren Stelle umzubesetzen ist. Die Ineinssetzung von Literalsinn und historischem Sinn scheint dabei am unproblematischsten, wie- wohl hier die erwähnte ›referential fallacy‹ nicht weit ist. Die von Szondi und Jauß frei nach Ast und Schleiermacher diskutierte Parallele von Spiritualsinn und psycho- logischer Interpretation ist in ihrer unspezifschen Allgemeinheit symptomatisch: sie bezeichnet die Verlegenheit mit dem moralischen und dem anagogischen Sinn. Ich will diese Verlegenheit nicht ins einzelne gehend ausbreiten, sondern gleich meine eigene Lösung skizzieren. Sie beruht auf jener Verdoppelung der Anagogie, die Blumenberg als Auseinandertreten von individueller und kosmischer Escha- tologie beschrieben hat.38 Lubac hat aus anderen Gründen in der scholastischen Ausarbeitung der Lehre vom vierfachen Schrifsinn eine Verdoppelung gefunden, die im tropologischen und anagogischen Sinn eben dies Auseinandertreten von individueller und kollektiver Eschatologie indiziert: als Innenwendung einer ver- bindlichen ›Moral‹ und als Individualisierung eines überindividuellen Schicksals.39 Der historische Sinn der überlieferten Lebensformen wird in seiner doktrinalen Ver- mittlung zunehmend problematisch und verlangt nach individueller Anwendung und innerer Aneignung. Was den moralischen Sinn angeht, macht das vorerst keine größeren Schwierigkeiten; als tropologischer Sinn war er immer schon auf exem- plarische Applikation aus, die nun eine diferenziertere Rhetorik verlangt. Anders in der Anagogie, die zunehmend ›utopisch‹ wird. Entscheidend wird hier ein Moment, das ich soweit zurückgestellt habe, das in der scholastischen Form der Allegorese wie ihren modernen akademischen Rekonstruktionen auch gar keine Beachtung gefunden hat: die spätestens jetzt hervortretende hermeneutische Diferenz von Tro- pologie und Anagogie. Ist die Tropologie vorzüglich rhetorischer Natur und auf eine entsprechende pastorale Vermittlung durch die Predigt angelegt, so hat die Anagogie zwei Seiten, deren eine die liturgische Repräsentation, deren andere das Lesen ist. Repräsentation des Mysteriums aber und seine mystische Aneignung in der Lektüre (lectio divina) sind es, die im Prozeß der Moderne auseinanderfallen. Dürers Melencolia I, Panofskys und Saxls Untersuchung, nicht zuletzt Benjamins Wort vom »Ausfall aller Eschatologie« zeigen den ehemals anagogisch eingestellten

38 Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 56 (Die Legitimität der Neuzeit, 33). 39 Henri de Lubac, Exégèse médiévale I/2 (Lyon: Aubier 1959), 555 und 624. Vgl. das Referat von Michel van Esbroeck, Herméneutique, structuralisme et exégèse (Paris/Tournai: Desclée 1968), Teil III: 132 f. Einleitung 25

Leser als Melancholiker, der mit »melancholischem Blick« die ihres allegorischen Verweisungszusammenhangs beraubte Welt auszuhalten hat.40 Die Persistenz der allegorischen Muster bis zum Barock steht außer Frage. Es ist allerdings wenig sinn- voll, sie in literarischen Texten nachzuweisen, ohne die an ihnen vorgehenden Ver- änderungen in Rechnung zu stellen; dadurch geht ihre hermeneutische Umfunk- tionierung und ästhetische Verfremdung verloren, wie dann auch am Begrif der Melancholie vorzüglich seine rhetorische Eignung zu Zwecken der Difamierung hervortritt.41 Andererseits liegt der repräsentativ-rhetorische Charakter kollektiver Eschatologie in mittelalterlicher Literatur ebenso auf der Hand, wie sich umgekehrt in der Anwendung der mittelalterlichen Hermeneutik auf sogenannte profane Texte das »Verhältnis der Seele zu ihrem ewigen Schicksal« als individuelles Eschaton aus- gebildet fndet und in Parzival als insanus anagogicus thematisch wird.42 Die Pro- blematik der profanen Anwendung liegt also nicht in einer wie immer fraglichen hermeneutischen Legitimität, sondern in ihren modernen Qualifkationen, die mit dem Stichwort der Individualisierung längst nicht geklärt sind und höchstens vage gattungsspezifsche Assoziationen provozieren: im Roman solche der kollektiven, in der Lyrik solche der individuellen Eschatologie.43 Nimmt man die Diferenz ernst, die das Lesen als hermeneutischen Akt qualif- ziert und von den Formen rhetorischer Ansprache und liturgischer Repräsentation unterscheidet, so wäre zunächst an die spezifsche ›Kompetenz‹ zu denken, die im Lesen als einer sozialen Fähigkeit habituell ausgebildet wird: als Lesefähigkeit, die in der Reproduktion eines repräsentierten oder anzuwendenden Sinns nur ihre äußer- liche Seite hat.44 Als individuell ausgeprägter Habitus impliziert er keine bloße Emp- fängerhaltung, wie sie das informationstheoretische Reduktionsmodell von Rezepti- on vorsieht, sondern eine aktive Einstellung, die aus der kontemplativen Einstellung des Gottverlangens herausdrängt.45 Nicht mehr am Wiederkäuen des einen Textes und in der Routine der Stundengebete diszipliniert, gewinnt Lesen an der Pluralität jedes einzelnen Textes Anreize, die Reaktionen nach sich ziehen, aber nach Art einer Partitur, die vom Interpreten Selbstinterpretation verlangt.46 Sie haben ihre körper- liche Resonanz, die nun nicht mehr in abgeschiedenem Lesegemurmel besteht und noch nicht jene autistischen Symptome der Regression zeigt, die mit fortschreitender

40 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), ed. Rolf Tiedemann (Frank- furt a. M.: Suhrkamp 1963), 72. Vgl. Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Dürers Melencolia I. Studien der Bibliothek Warburg II (Leipzig/Berlin: Teubner 1923). 41 Vgl. etwa Hans-Jürgen Schings. Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gry- phius (Köln: Böhlau 1966), Kap. B III, sowie Melancholie und Auflärung (Stuttgart: Metzler 1977), Einleitung. 42 Vgl. Alois M. Haas, Parzivals tumpheit bei (Berlin: de Gruyter 1964), Teil II: 276 f. 43 Siehe Georg Lukács, Die Teorie des Romans (Berlin: Cassirer 1920, 2Neuwied/Berlin: Luchterhand 1963), Teil II. Vgl. Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman (Berlin: Junker und Dünnhaupt 1932), 143 f. 44 Vgl. ansatzweise Pierre Bourdieu, »Elemente zu einer soziologischen Teorie der Kunst- wahrnehmung« (1968), Zur Soziologie der symbolischen Formen (Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1970), 159–201: 182 f. (§ 3.2.1). 45 Vgl. Jean Leclercq, L’ amour des lettres et le désir de Dieu (Paris: Cerf 1957), Epilog. 46 Vgl. Roland Barthes, S/Z (Paris: Seuil 1970), und Le plaisir du texte (Paris: Seuil 1973). 26 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Moderne die Rezeption begleiten.47 Sie bringt eine kommunikative Vermitteltheit der individuellen Verarbeitung zum Tragen, die weit entfernt von bloß kollektiver Betrofenheit ist: im Falle Klopstocks und seit Klopstock buchstäbliche Tränen.48 Läßt sich der Verfall der mittelalterlichen Auslegungsmuster auf den Nenner der Melancholie bringen, so fndet ihre Umbesetzung im Begrif der Empathie die plau- sibelste Hypothese, für die die Begleiterscheinungen des neuen Lesens die Symp- tome liefern. Ich bemühe mich der Unschärfe des Begrifs die positive Seite abzuge- winnen, daß ihm jener Efekt des Imaginären anhafet, der als ästhetischer Haken seiner phänomenologischen, soziologischen und psychologischen Terminologisie- rung entgegensteht.49 Als allgemeiner Nenner für die im Prozeß der Modernisierung erforderliche Mobilität ist er phänomenologisch unproblematisch, soziologisch ein- seitig, psychologisch umstritten. Die kognitive Mobilität des Perspektivwechsels kann als efektvolle Hintergrundmetaphorik der phänomenologischen ›Einfühlung‹ dienen; die soziale Mobilität des Rollentauschs kann als plausibles Modell die Il- lusionserfahrung illustrieren; das Zusammenspiel von Projektion und Introjektion kann als psychogenetisches Muster der Identitätsbildung die individuelle Wirkung der Lektüre beschreiben. So oder ähnlich kann ich die (durchaus unterschiedlich gelagerten) Ausgangshypothesen zusammenfassen, die sich im Empathiebegrif lektürespezifsch überschneiden. Sie nicht nur literarisch zu plausibilisieren, heißt ihre Relevanz aus dem Defzit vorliegender Begrife abzuleiten und in der Umbeset- zung der alten Muster für die Ausarbeitung des neuen zu nutzen. Die Übergangs- fgur der Umbesetzung wäre nach Marquard die der Kompensation, die in der kom- munikativen Einstellung auf Gegenseitigkeit literarisch kompensierte, was in der religiösen Einstellung auf Jenseitigkeit als recompensatio verheißen war.50 Sie zur hermeneutischen Patentlösung zu erheben, bedeutete freilich nur die neueste Ver- sion der Horizontverschmelzung. Das hat Marquard just an dem Beispiel vorgeführt, das Milton der Anlaß war, Lesen als kompensatorischen Heilsweg anzubieten: als felix culpa des Verlorenen Paradieses.51 Als Übergangsfgur der Horizontabhebung, nicht der Verschmelzung hat Kompensation ihre historische Funktion, kann sie aus der Not der Veränderung die Tugend der Diferenzierung machen. Als Über-

47 Vgl. Teodor W. Adorno, »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« (1938), Dissonanzen (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1956), 9–45; Philosophie der neuen Musik (Tübingen 1949/Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1958), Zweite Hälfe. 48 Siehe Helmuth Plessner, Lachen und Weinen (Bern: Francke 1941, 21950) 155 f. (letzter Teil). 49 Vgl. Wolfgang Iser, »Zur Problemlage gegenwärtiger Literaturtheorie: Das Imaginäre und die epochalen Schlüsselbegrife«, Auf den Weg gebracht: Idee und Wirklichkeit der Univer- sität Konstanz, ed. Horst Sund und Manfred Timmermann (Konstanz: Universitätsverlag 1979), 355–374, Schluß. 50 Odo Marquard, »Kompensation: Überlegungen zu einer Verlaufsfgur geschichtlicher Pro- zesse«, Historische Prozesse (Teorie der Geschichte II), ed. Karl Georg Faber und Christian Meier (München: dtv 1978), 330–362 (Material); »Kunst als Kompensaion ihres Endes«, Ästhetische Erfahrung (Kunst und Philosophie I), ed. Willi Oelmüller (Paderborn: Schö- ningh 1981), 159–168 (Tese). 51 Odo Marquardt, »Felix culpa? Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3«, Text und Applikation (Poetik und Hermeneutik IX), 53–71: 68 f. Einleitung 27 sprungsfgur indes hat sie Verlegenheitscharakter, denn was sie kompensiert, ist kein Verlust, sondern eine Tradition, die selbst kompensierte, was sie als compensatio nicht einlösen konnte. Miltons Verlorenes Paradies bietet den paradigmatischen, alles vorentscheiden- den Fall, auf dessen Konsequenz Klopstock die ebenso paradigmatische Probe aufs Exempel macht. Ich nutze dieses exemplarische Replikverhältnis in quasi typologi- schen Ausmaßen, das in sich Allegorie in Ironie verwandelt, in zweifacher Hinsicht. Zum einen zur Horizontabhebung der hermeneutischen Problematik, wobei der Umstand (zufällig?) zur Hilfe kommt, daß es sich um die gezielte Durchbrechung der kollektiven Eschatologie durch individuelle ›counter-plots‹ handelt. Zum an- deren zur methodischen Alphabetisierung der in dieser Hinsicht hofnungslosen Klopstockforschung, die von der biographisch-positivistischen Behandlung ihres Temas (Muncker, Hamel) bis zu seiner form- und geistesgeschichtlichen Erledi- gung (Schneider, Kaiser) über die Aporien des Vorläufersyndroms nicht hinausge- kommen ist. Anders die Miltonforschung, die angesichts vergleichbarer Obsoletheit ihres Gegenstands nicht nur den Kontakt zur literaturwissenschaflichen Diskussion aufrecht gehalten, sondern eine paradigmatische Rolle in der Entwicklung ihrer Te- sen gespielt hat. Am Paradigma Milton läßt sich Klopstocks Eignung zum Paradig- ma kontrollieren. Klopstockforschung auf den Stand der Miltonforschung bringen hat hier allerdings nicht mehr als heuristischen Wert. Er läßt sich abschätzen an der ›Anxiety of Infuence‹, zu deren Prototyp Bloom Milton erklärt hat.52 Als Teorie des ›mis-reading‹ entwickelt Bloom als erster eine Art Umbesetzungsmodell rheto- rischer Termini in psychologische. Dies freilich in psychologistischer Verkürzung auf die Fähigkeit zur Anknüpfung und die Notwendigkeit der Abwehr auf Seiten der Autoren im Verhältnis zu ihren Vorläufern – in den Termini also der genie- ästhetischen Annahmen, unter denen Klopstock seinen Nachfolgern erlegen war: verdrängte Anagogie, die der Anamnese bedarf. Die psychologistische Wendung des Verhältnisses von Anamnesis und Anagogie, das nach Bloom den intertextuellen Zusammenhang von Traditionsbildung und -abbruch bestimmt, kann Anregung sein, den Prozeß der Reaktionsbildungen auf Seiten der Leser zu untersuchen und nach Defensivstrukturen (Verarbeitungsmustern) zu beschreiben. Holland hat dies in empirischer Beschränkung auf die Artikulation einzelner ›personal myths‹ vor- geführt und bei aller Diferenz der Lektüren ihre Kommunikativität plausibel ge- macht.53 Einem ersten Teil über den Messias (kollektive Eschatologie) lasse ich einen zwei- ten folgen, in denen diese Kommunikativität der Oden (individuelle Eschatologie) Gegenstand ist. Ich gehe dabei vom Text der Darmstädter Ausgabe der Oden und Elegien von 1771 aus, die mit der gleichzeitigen Hamburger Ausgabe die erste Phase der Klopstock-Rezeption abschließt, im Unterschied zur Hamburger Ausgabe aber auf ältere Vorlagen zurückgeht. Die kommunikative Struktur der Oden Klopstocks

52 Harold Bloom, Te Anxiety of Inguence (New York: Oxford University Press 1973), Einl., sowie A Map of Misreading (New York: Oxford University Press 1975), Teil III. 53 Norman Holland, zusammenfassend Poems in Persons (New York NY: Norton 1973), Teil III; 5 Readers Reading (New Haven CT: Yale University Press 1975). Vgl. Michael Rutschky, Lektüre der Seele (Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein 1981), Kap. 8. 28 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik im Kontext bürgerlicher Briefultur ist insbesondere in der bekannten Ode von der Fahrt auf der Zürcher See thematisch geworden, die deshalb im Mittelpunkt dieses Teils steht. Die verspätete, nachträgliche Publikation der Oden leitet eine zweite Pha- se der Klopstockrezeption ein, die zur ersten nur noch sehr vermittelten Zugang hat. Pauschal gesagt schlägt die Empathie der frühen Klopstocklektüre nun in Melan- cholie zurück, eine historische Regression, für die die »süße Melancholey« des Göt- tinger Hains die eindrücklichsten Beispiele liefert. Göttinger Hain, Goethes Werther und Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland bezeugen Anfang der siebziger Jahre die ebenso nachträgliche wie vergebliche Einsicht in die historisch gewordene Wirkung Klopstocks. Dabei werden eine ganze Reihe literarhistorischer Temen deutlich, deren ausführliche Behandlung mir im Rahmen dieser Abhandlung nicht möglich ist: so die weitere Ausarbeitung des Rezeptionshorizonts von 1770–72, also der Göttinger und Wetzlarer Melancholie als einer »Krankheit zum Tode«; dann aber und ebenso wichtig die Rekonstruktion des psychogenetischen Musters (›personal myth‹), das Klopstocks frühe Gedichte an Fanny und Cidli entwerfen, das ihren un- mittelbaren Erfolg in den fünfziger Jahren begründet hat und zwanzig Jahre später zum Schema für Melancholie geworden ist. Daß dieses Lektüreschicksal unaus- weichlich war, hat Klopstock selbst thematisch gemacht und insbesondere im Rück- blick auf das Zürcher Ereignis refektiert. Ich beschränke mich soweit auf die derart thematisierte Empathie und ihre gattungsspezifschen, strukturellen Momente. Die im engeren Sinne psychologischen Aspekte kommen so nur funktional ins Spiel. Li- terarhistorisch hätten sie in Petrarca ihr bedeutendstes Vorbild, fände in Klopstocks Wirkung die dunkle Vermutung von Hans Pyritz ihre Auflärung, im 18. Jahrhun- dert sei »auch der echte, der unmittelbare, unabgeleitete Petrarca wieder entdeckt« worden.54 Klamer Schmidts Übersetzung des biographischen Petrarca-Kommentars von de Sade und Cramers Klopstock-Kommentar stehen in engem Zusammenhang, ohne daß beide anderes als Neben- und Irrwege in der Arbeit am genieästhetischen Mythos vom lyrischen Subjekt darstellen könnten.55 Das Mißverständnis des Petrar- kismus mit Petrarca und die Vergessenheit Klopstocks hinter Goethe und Hölderlin haben funktionale Ähnlichkeit. »Bei Petraca blieb die Glückserfahrung bei allem Illusionsverdacht immerhin noch eine Erlebnisdimension des lyrischen Ichs«.56 Das läßt sich bei aller antizipierten Melancholie auch für Klopstock so sagen, bevor diese Antizipation im Hain das Übergewicht gewann. Bei Hölderlin wie bei Baudelaire ist die Verschiebung ins Historische endgültig, die Illusion dahin, mit der Illusion aber auch die kommunikative Erfahrung, der sie dient, trivial geworden.

54 Hans Pyritz, »Petrarca und die deutsche Liebeslyrik des 17. Jahrhunderts« (1931), Schrifen zur deutschen Literaturgeschichte (Köln: Böhlau 1962), 54–72: 71 f. 55 (J. F. P. A. de Sade) Nachrichten zu dem Leben des Franz Petrarca, übersetzt von K. E. C. Schmidt I–III (Lemgo: 1774–79); Carl Friedrich Cramer, Klopstock. ER; und über ihn I–V (Hamburg 1780, Dessau 1782, Leipzig/Altona 1790–92). 56 Rainer Warning, »Imitatio und Intertextualität: Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion: Dante, Petrarca, Baudelaire« (1. Fassung 1981), MS 38; Lektüren romanischer Lyrik (Frei- burg/Brsg.: Rombach 1997), 105–141: 135. Panorama 29

Panorama Saving the Subject: Lektüregeschichte der Lyrik und Psychohistorie des Subjekts von Klopstock bis Nina Hagen Die psychogenetische Rolle der Lyrik in der Geschichte der beschädigten Subjektivität und das Versagen der Interpretation

»Es ist genau fünf Minuten vor zwölf, fünf Minuten vor zwölf« (statt Motto)*

»Die Verlassenheit ist ein gigantischer Autofriedhof im Zwielicht« (Motto)**

Zu den Gemeinplätzen, die inzwischen die Literatur betrefen, gehört der Lyrik- Boom, der in den siebziger Jahren eine im Kursbuch nicht vorgesehene Art der ›Alphabetisierung‹ anzeigt und statt der Veränderung der politischen Verhältnisse eine Veränderung der Lyrik von sich reden machen läßt.1 »Gedichte werden wieder wahrgenommen, nicht nur gedruckt und schlecht verkauf. Es ist wieder erlaubt, Gedichte zu lesen und zu interpretieren ...«, verkünden die Herausgeber der Akzente, als sie ›programmatische Texte‹ zu dieser Entwicklung zusammenstellen.2 »Verän- derung der Lyrik«, so bringt gleichzeitig einer der aufälligsten der neuen Autoren in einer eigenen Monographie dieses Titels die unterschiedlichen Trendmeldungen auf einen Nenner, heißt »Ende der hermetischen Lyrik«, »unartifzielle Formulierung«.3 Über das Ende der hermetischen Lyrik hatte zwanzig Jahre zuvor, als ihre späte Blü- te kaum ins literarische Bewußtsein getreten war, Adornos »Rede über Lyrik und Gesellschaf« (1957) Vermutungen angestellt: »Heute, da die Voraussetzung jenes Begrifs von Lyrik, von dem ich ausgehe, der individuelle Ausdruck, in der Krise des Individuums bis ins Innerste erschüttert scheint, drängt an den verschiedensten

* Te Beatles Live! At the Star-Club in Hamburg, : 1962 (Lingasong LNL 1: Bellaphon BLS 5560), Intro. ** Karin Kiwus, »Allegorie«, Von beiden Seiten der Gegenwart (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976), 17. 1 Siehe Hans Magnus Enzensberger, »Gemeinplätze, die Neueste Literatur betrefend«, Leit- aufsatz Kursbuch 15 (1968), 187–197; dann in Palaver (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 41–54. 2 Hans Bender/Michael Krüger, »Nachbemerkung« zu Was alles hat Platz in einem Gedicht? Aufsätze zur deutschen Lyrik seit 1965 (München: Hanser 1977), 213–214: 213. Vgl. die Bi- bliographie »Gedichtbände 1970–1977«, Lyrik-Katalog Bundesrepublik, ed. Jan Hans, Uwe Herms und Ralf Tenior (München: Goldmann 1978), 567–606. 3 Jürgen Teobaldy/Gustav Zürcher, Veränderung der Lyrik (München: Text + Kritik 1976), Kap. 1 und 2: 25. Der zitierte Satz steht auch im Nachwort zu Teobaldys Anthologie Und ich bewege mich doch ... (München: Beck 1977), 220–230: 223. 30 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Stellen der kollektive Unterstrom der Lyrik nach oben, erst als bloßes Ferment des individuellen Ausdrucks selbst, dann aber doch auch vielleicht als Vorwegnahme eines Zustandes, der über bloße Individualität positiv hinausgeht.«4 Es tut dieser Diagnose keinen Abbruch, daß Adorno an Lorca und Brecht dachte; Enzensbergers verteidigung der wölfe erschien noch im selben Jahr. Interessant ist der Zweifel, ob nun, wie Adorno fortfährt, »das dichterische Individuationsprinzip in einem höhe- ren aufgehoben ward, oder ob der Grund Regression, die Schwächung des Ichs ist.« Die Veränderung der Lyrik, die Teobaldy behauptet, hört auf Namen wie »Neue Sensibilität«, »Neue Subjektivität«, populärer auch »Neue Innerlichkeit«, und will doch hinaus auf: »Mitteilung (aber) statt Monolog, Erlebnis statt Idee, Wörter statt des Worts, Umgangssprache statt Chifre – damit entziehen sich die neuen Gedichte der Verfügungsgewalt weniger Spezialisten, ohne deswegen nur bessere Schlager- texte zu sein.« Adornos Diagnose ist nicht überholt, sein Zweifel, so scheint es, nicht ausgestanden. Teobaldy selbst hat diesen Zweifel, wenn er Schlagertexte abwehrt, die Regression ins bloße Ferment einer Subkultur. Die Alternative der lyrischen Hermetik dagegen war die Regression auf die Struktur der Texte. Wie Adorno hat Teobaldy Angst vor dem kollektiven Unterstrom der Lyrik – romantische Vorstel- lung, die es erleichtert, nach unten statt nach vorn zu schauen: Vorwegnahme eines Zustandes, der über bloße Individualität, die sich hinter die Struktur des herme- tischen Gedichts zurückgezogen hat, hinausgeht. Der Mut zur Kommunikativität, zur »unartifziellen Formulierung«, wie sie zuerst Höllerers »Tesen zum langen Gedicht« (1965) forderten, ist ofenbar schwierig.5 Er hat, wie man der Struktur der modernen Lyrik ansieht, seine lange, verfahrene Geschichte. Diese Geschichte will ich versuchsweise neu und von vorn erzählen, nicht als Strukturgeschichte der Texte, sondern als Geschichte ihrer verhinderten Lektüre. Die Geschichte der modernen Lyrik ist so alt wie die Moderne. Sie reicht jedenfalls weiter zurück als der von Hugo Friedrich auf Baudelaire und seine romantischen Vorläufer datierte »Strukturzwang«.6 Das liegt daran, daß die moderne Struktur der Texte eine bestimmte Struktur der Lektüre schon voraussetzte, genauer gesagt:

4 Teodor W. Adorno, »Rede über Lyrik und Gesellschaf« (1957), Noten zur Literatur I (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1958), 73–104: 90; Gesammelte Schrifen XI (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 48–68: 59. Vgl. seine Ästhetische Teorie. Gesammelte Schrifen VII (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, 21972), 133. 5 Walter Höllerer, »Tesen zum langen Gedicht«, Akzente 12 (1965), 128–130; dann auch zu Anfang der Aufsatzsammlung Was alles hat Platz in einem Gedicht? 7–9. 6 Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik (Hamburg: Rowohlt 1956, Neuausgabe 1967), hier 22. In der anschließenden Diskussion, von der ich ausgehe, siehe Hans Otto Burger, »Von der Struktureinheit klassischer und moderner deutscher Lyrik« (1959) und Hans Robert Jauß, »Zur Frage der ›Struktureinheit‹ älterer und moderner Lyrik« (1960), beide dokumentiert in dem Band Zur Lyrik-Diskussion (Wege der Forschung 111), ed. Rein- hold Grimm (Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1966) 255–270 und 314–367. Vgl. danach Immanente Ästhetik – Ästhetische Regexion: Lyrik als Paradigma der Moderne (Poetik und Hermeneutik II), ed. Wolfgang Iser (München: Fink 1966); sowie die Rezension von Paul de Man, »Lyrik and Modernity«, Blindness and Insight (New York NY: Oxford University Press 1971), 169–185, samt der Replik von Hans Robert Jauß, »Lyrik als ›Traum einer Welt in der es anders wäre‹«, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik I (München: Fink 1977), 333–342. Panorama 31

Strukturprobleme der modernen Lektüre von Texten. Ich lasse es vorerst bei dieser Vermutung und greife einen Fall aus der frühen Lektüregeschichte der modernen Lyrik heraus, also aus der Vorgeschichte der Struktur moderner Lyrik, wie sie bis heute maßgeblich geblieben ist. Es handelt sich um ein Gedicht, das unter dem Titel »Furcht der Geliebten« in den Klopstock-Ausgaben zu fnden ist, nachdem es bis zur Hamburger Ausgabe seiner Gedichte (1771) als eins der Gedichte »An Cidli« zwan- zig Jahre in Abschrifen der Freunde Klopstocks bekannt war. Cidli wiederum ist der den zeitgenössischen Lesern bekannte Lektürename Meta Klopstocks. Schon am Titel kann man die Probleme der Lektüre ablesen: Meta wird literarisch zu Cidli (was auf den Messias zurückgeht), hört privat auf den Namen Cläri (was ihren Freund Richardson zitiert), erscheint im Druck schließlich zur »Geliebten« verallgemeinert. Weil es mit der Lektüre Klopstocks seine Schwierigkeiten hat, schreibt ein Klop- stock-Freund der zweiten Generation, der jüngere Carl Friedrich Cramer, dessen Vater noch zu den Bremer Beiträgern zählte, einen Klopstock-Kommentar, der den präzisen Titel trägt »Klopstock. Er; und über ihn (in 5 Bänden 1780–1792). Cramer berichtet von einer Kontroverse über Prinzipien der Klopstock-Lektüre mit dem Göttinger Altphilologen Heyne, einem der bedeutendsten Gelehrten seines Jahrhun- derts, Pindar-Spezialisten, Lehrer und Kritiker des Göttinger Hains, darunter der Homer-Übersetzer Voß und Stolberg (um nur die wichtigsten Berührungspunkte mit Klopstock zu nennen).7 Im allgemeinen hat es Cramer mit der berüchtigten »Dunkelheit« Klopstocks zu tun. Davon kann im vorliegenden Fall nicht die Rede sein; er zeigt vielmehr, daß es um wesentlichere »Grundsätze« der Kritik geht, die an Klopstocks »dunklen Wortfügungen« nur verlegenheitshalber sich festbeißt. Ich stelle das Gedicht voran und lasse einen ausführlicheren Auszug aus Cramers Exkurs dazu folgen:

CIDLI, du weinest, und ich schlummre sicher, Wo im Sande der Weg verzogen fortschleicht; Auch wenn stille Nacht ihn umschattend decket, Schlummr’ ich sicher. Wo er sich endet, wo ein Strom das Meer wird, Gleit’ ich über den Strom, der sanfter aufschwillt; Denn, der mich begleitet, der Gott gebots ihm! Weine nicht, Cidli.

Als ich mich vor ohngefähr zehn Jahren in Göttingen aufhielt, genos ich unter andern Vergnügen, deren ich mich mit Dankbarkeit gegen mein Schiksal erinre, auch des Um- ganges von – Heyne. Unter Gesprächen, wovon ein nicht kleiner Theil Klopstock, sein Genie, seine Gedichte, auch seine Dunkelheit betraf, ward im Beisein von Boie auch einmal diese Ode an Cidli vorgenommen, und ich von ihm über den Sin davon befragt. Es mußte sich treffen, daß ich gerade nichts Schweres darin finden konte; ich sagte, daß

7 Über Heyne vgl. Clemens Menze, Wilhelm von Humboldt und Christian Gottlob Heyne (Ratingen: Henn 1966), Kap. IV; über sein gebrochenes Verhältnis zur Klopstockverehrung im Hainbund siehe das Nachwort zur Anthologie Der Göttinger Hain, ed. Alfred Kelletat (Stuttgart: Reclam 1967), 401–446: 415 f. 32 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

ich die Ode für einen Trostgesang an Meta hielt, von der Klopstock damals, als er sie dichtete, getrent gewesen sein müßte. Ihm genügte diese einfache Erklärung nicht; er glaubte einen viel verstekteren Sin da- rinnen zu finden, »altiorem, quam verborum fert ratio, sententiam,« würde ein Interpret sagen; und kurz: sie enthalte – eine vortrefliche Allegorie auf das ewige Leben. Verwundert über das Neue in dieser Erklärung, und das sich durch Scharfsin zu emp- fehlen schien, nam ich die Ode noch einmal in die Hand. Aber ich konte Heynens Mei- nung nicht sein; fand nichts vom ewigen Leben darin, und widersprach mit Zuversicht: So würde die Ode sicherlich nicht richtig gefast; man müße sie ganz eigentlich, dem Buchstaben nach, verstehn. Es käme der klärste Sin heraus. Klopstock, sagte ich, war dazumal in Hamburg bei Meta, und mußte gegen das Ende des Herbsts sich wieder von ihr trennen, nach Copenhagen zu gehn. Wie Sie ihn liebte, wie sie sich grämte, wie sie für ihn fürchtete wenn er von ihr abwesend war, das weis man. Er tröstet sie hier. Ich getraue mich sogar, Ihnen das Locale davon anzugeben. Der Weg der im Sande verzogen fortschleicht, ist der ordentliche Postweg in Fühnen oder Holstein. Den schlummert er sicher. Warum? das Schif liegt im Belte, das ihn sicher herüberbringt; denn der ist das Meer, das von beiden Inseln gedrängt, ein Strom wird; und über den Strom, der sanfter aufschwillt, gleitet er hin. Ach, weine nicht Meta! Heyne wußte gegen diese Erklärung nichts einzuwenden, als: ja! denn hieße die Ode ja nichts! Nichts? rief ich aus, indem unser freundschaftlicher Streit sich erhizte, nichts? Eine ein- fältig erzählte wehmütige Empfindung getrenter Liebe, die der Geliebte zu beruhigen sucht, durch den großen Gedanken an den, deßen Aussehn unsern Odem bewahrt, ist das nichts? Diese Beruhigung, nebst der ganzen Situation eines Reisenden in so edle Worte gekleidet, mit so ein Paar individuellen Zügen mir vors Auge gebracht, nichts? freilich alsdenn sind wir am Ende unsers Streits; sind wir da, wo man nicht mehr ana- lysiren, nichts mehr demonstriren kan; wir dissentiren über wesentliche ästhetische Grundsäze. Ich sezte drauf noch einiges hinzu; davon, daß Klopstocks Gedichte, be- sonders der damaligen Zeit, fast alle aus seines Herzens individuelsten Empfindungen gequollen, und auf wirkliche Veranlassungen gemacht wären: daß er sich nie hingesezt und gedacht hätte: nun wil ich ein Gedicht machen; sondern, daß ihn allemal ein be- sonderes gelegentliches Gefühl gedrängt. Hier wäre also eine solche individuelle Ver- anlaßung, (...). Demohngeachtet aber, wies im Streite fast immer geht, wenn unsre Seele sich durch Prädilection einer Meinung der Wahrheit verschliest, beharte ein jeder auf seiner Erklärung: ich auf der eigentlichen, und er auf der allegorischen. Ich compro- mittirte auf Klopstocks Entscheidung selbst; Boie reiste nach wenig Tagen eben nach Hamburg; er brachte sie mit, nämlich – Antwort: es sei dabei an keine Allegorie aufs ewige Leben gedacht.8

8 Friedrich Gottlieb Klopstock, »Furcht der Geliebten«; Text nach der Ausgabe der Aus- gewählten Werke, ed. Karl August Schleiden (München: Hanser 1962), 70. Unter dem Titel »An Cidli« bei Carl Friedrich Cramer, Klopstock. ER; und über ihn. Dritter Teil 1751–1754 (Dessau: Buchhandlung der Gelehrten 1782), 405. Die im folgenden zitierte »Erklärung der Ode« steht in einer »Beilage« 455–458. Panorama 33

Diese Auskunf Klopstocks kann man inzwischen, zweihundert Jahre später, er- gänzen aus dem 1956 publizierten Briefwechsel der Meta Klopstock, den Cramer nicht kannte. Zu dem Gedicht gehört ein Brief Klopstocks an Meta, geschrieben in Kopenhagen am 20. Oktober 1752, dessen einschlägige Stellen wie folgt lauten:

Ach, meine Kleine! wo soll ich anfangen, dir zu sagen, wie glücklich, wie in allem glück- lich dein Klopstock seine Reise vollendet hat. Dein Klopstock, weil ich deswegen alle die Sorgen eines nur möglichen Unglücks empfunden habe, weil du sie empfunden hast. (...) — Ich wollte dir von meiner Reise sagen. (...) Vergnügter ist man niemals über den grossen Belt gekommen, als ich. Mondschein, die blaulichthelle See, u ein so guter, bra- ver, ehrlicher Wind, daß wir die vier Meilen, zween in anderthalb Stunden, u. die letzten in einer halben Stunde machten. – Siehst du nun, du Kleine, daß ich recht geweissagt habe? Und daß alles, was du weinen kannst, nur für die Freude des Wiedersehens ge- spart werden muß. (...)

Darauf die postwendende Antwort Metas vom 24. Oktober:

Mittags um halb 2. Eben bekomme ich deinen Brief. O wie bin ich bewegt! Wie voll ist mein Herz! Wie voll von Dank u Freude! Du bist glücklich da! So sehr glücklich da! Ach mein Kl mein Kl! Ich habe eben sehr geweint, ich weine noch. Aber es ist Freude. –9

Das ist, wie Cramer hervorhebt, kein Sonderfall, sondern ein Muster für Klopstock- Lyrik und Klopstock-Lektüre. Cramer sieht ihn im Zusammenhang mit Klopstocks bekanntester Ode auf den Zürchersee, deren Titel genauer Ode von der Fahrt auf der Zürchersee hieß und also ihren datierbaren Anlaß schon im Titel trug. Bevor sie mit den wichtigsten Stücken Klopstocks 1771 weitere Verbreitung fand, kursierte sie als Beilage von Briefen, vornehmlich der Briefe, in denen sich die Teilnehmer einer denkwürdigen Bootspartie vom 10. Juli 1750 gegenseitig das Ereignis in Er- innerung riefen und den abwesenden Freunden vor Augen brachten. Klopstocks Oden gehören zur Gattung der Briefe, hat Richard Alewyn den Zusammenhang von neuer Lyrik und brieficher Kommunikation überscharf formuliert und am Funk- tionsübergang vom odischen zum briefichen »Du« plausibel gemacht.10 Jedenfalls sind Klopstocks frühe Oden ohne den Kontext der Briefe kaum verständlich, wie Cramers kommentierende Anstrengungen eine Generation später zeigen. Gemein- same Erinnerung, die Gegenstand nachträglicher brieficher Verständigung war, habe in ihnen »nur gehobenen Ausdruck gefunden«, meinte Fritz Brüggemann.11 Was es mit diesem Aufgehobensein gegenseitiger Verständigung in der überlieferten Form der Ode auf sich hat, ist nun allerdings erst die Frage.

9 Meta Klopstock, Briefwechsel mit Klopstock, ihren Verwandten und Freunden, ed. Hermann Tiemann I–III (Hamburg: Maximilian Gesellschaf 1956), I: 304 und 307. 10 Richard Alewyn, »Klopstocks Leser«, Festschrif für Rainer Gruenter, ed. Bernhard Fabian (Heidelberg: Winter 1978) 100–121: 115 f. 11 Der Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren (Deutsche Literatur in Entwicklungs- reihen, Reihe Auflärung VII), ed. Fritz Brüggemann (Leipzig: Reclam 1935/ Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1966), »Einführung« 5–20: 10. 34 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Cramer läßt über die Alternative in seiner Kontroverse mit Heyne keinen Zweifel: es handelt sich um allegorisch-verallgemeinernde und biographisch-individualisie- rende Lektüre, mittelalterliche Lektüre in ihrer Spätphase und moderne in ihren An- fängen. Ich beschränke mich zunächst darauf, plausibel zu machen, wie wenig dieser Konfikt der Interpretationen an Aktualität verloren hat, und versuche dann, seine Bewandtnis für die Lektüre moderner Lyrik und die Chancen einer Veränderung der neuesten Lyrik anzudeuten. Die Leseverhältnisse sind zugestandenermaßen kom- plexer geworden als zu Klopstocks Zeiten. Deshalb hat – Cramers Worte könnten deutlicher nicht sein – die andauernde literarische Diskussion an Klarheit nicht ge- wonnen, so daß es nützlich ist, die Voraussetzungen in Erinnerung zu rufen, unter denen sie steht. Die allegorische Lektüre sucht den tieferen Sinn, mit dem sich die »individuel- len Züge«, von denen Cramer redet, für ein überindividuelles Schicksal, das ewige Leben, verallgemeinern lassen. Sie ist, wie Klopstocks Gedicht zeigt, nicht so ohne weiteres zu widerlegen durch die Intention des Autors, die Cramer sicherheitshalber einholt. Der im Sand verzogene Weg, an dessen Ende der Übergang über das zum Strom verengte Meer wartet; der sichere Schlummer auf der Reise, der nach Gottes Willen eine sanfe Überfahrt verheißt; die über der fortschleichenden Spur vergos- senen Tränen, die durch diese Verheißung getröstet werden: vortreficher sind die Muster der Allegorese in der Tat nicht vorzuführen. Auch Cramer räumt ein:

Ich begreife: der Weg der im Sande verzogen wegschleicht, könte tropisch »das mensch- liche Leben« sein; auf dem Wege schlummern, könte heißen, sicher und unbesorgt in Absicht seines Schiksales sein, u. s. w. – aber was wäre denn der Strom, zu dem das Meer wird? den Tropus entwickle er mir einmal!12

Der heutige, tiefenhermeneutisch gewitzte Leser wäre um Antworten nicht verlegen und hätte auch solche parat, weshalb sie Cramer ofensichtlich nicht geben konn- te. Ich will diese modernen Möglichkeiten hier nicht im einzelnen behandeln und mich nur an den einfachsten Grund halten, weshalb Cramer die allegorische Lektüre ausgerechnet in der anagogischen Konsequenz abbricht und verweigert: Er weiß es besser, er kennt nämlich die »individuelle Veranlassung« des Gedichts, die seiner anagogischen Deutung entgegensteht. Er vermittelt sogar eine Ahnung von der In- version, der die anagogische Konsequenz der allegorischen Lektüre unterzogen wird: »Umgekehrt, ein Strom, der zum Meere würde, da begrife ichs noch.«) Wie immer man seine Verlegenheit in dieser Kontroverse einschätzen mag, macht er doch so- viel klar, daß die allegorischen Muster hier nicht mehr ›angewendet‹, sondern nur noch ›zitiert‹ sind – so wie der Name der angeredeten Cidli den Messias zitiert und das Versmaß des Gedichts dem Paradigma Die todte Clarissa folgt (Cramers einzige Anmerkung zum Text). Die allegorische Lektüre wird dementiert, nicht ohne daß ihre Muster im Dementi erinnert wären. In der Zurücknahme auf eine individuelle Erfahrung, nicht ihrer kollektiven Verallgemeinerung, wird die allegorische Lektüre

12 Carl Friedrich Cramer, Klopstock. Er; und über ihn, Dritter Teil, 466 f. Auf den voran- gegangenen Seiten 460 f. zitiert Cramer Heynes Ablehnung der alten Vergil-Allegorese. Die Anmerkung zum Silbenmaß des Cidli Gedichts steht unter dem Text 405. Panorama 35 depotenziert um den ›geistigen Sinn‹ der Anagogie (des ewigen Lebens). Das heißt freilich nicht, wie man meinen wollte, an der Stelle der Allegorie kündige sich nun das Symbol an. Davon, daß in diesem Gedicht das individuelle Leben des Dichters symbolisch für das Schicksal der Menschen stehe und die Furcht der Geliebten exemplarisch für die Erwartung der Leser werde, kann nicht die Rede sein. Die mo- derne Lektüre hat Mühe, wie Cramers Anstrengungen zeigen, sich von einer älteren frei zu machen, die im Hintergrund übermächtig präsent bleibt und provoziert, wie Heynes Beispiel zeigt, wozu die moderne imstande ist.13 Bereits diese ältere, allegorische Lektüre setzt nicht nur Schriflichkeit, sondern die bewußte Wahrnehmung des Texts voraus. Ihre letzte maßgebliche Prägung er- hielt sie in der mittelalterlichen Bibellektüre der Mönche, deren vielfältige Diferen- zierungen scholastisch vereinheitlicht und für die Zwecke der Schule zum hand- lichen Bündel des vierfachen Schrifsinns zusammengefaßt wurden.14 Ich will mich über die weithin ungeklärten Vermittlungs- und Umbesetzungsprobleme bis hin ins 18. Jahrhundert nicht weiter äußern und nur richtigstellen, was auf den gängigen Gemeinplätzen der mittelalterlichen Hermeneutik of irreführend dargestellt und jedenfalls leicht falsch verstanden wird: Die Lehre vom vierfachen Schrifsinn ist erst in zweiter Linie (und wird erst spät) eine Lehre vom mehrfachen Sinn, der aus der Bibel und später aus profanen Texten herauszuholen ist. In erster Linie ist sie eine Methode der mehrfachen Lektüre, zunächst des einen Textes der Bibel, dann davon abgeleitet auch profaner Werke. Es ist die Qualifkation von Texten gegenüber anderen Äußerungen, daß sie mehrfach gelesen werden können: diese Erfahrung wurde von der mittelalterlichen Hermeneutik methodisch ausgenutzt. Die mehr- fache Lektüre nach dem vierfachen Sinn war genauer eine doppelte Lektüre in drei Versionen, die für die literarische Entwicklung bin in die Moderne die Bahnen vor- zeichnete. Die erste dieser drei Möglichkeiten, einen vorliegenden Text zu lesen, ist die historische, die zu gesteigerter heilsgeschichtlicher Selbstgewißheit verhilf und in eschatologische Erwartungen mündet. Die zweite Möglichkeit ist die mora- lische, in deren Grenzen sich hauptsächlich der Prozeß der Literarisierung der volks- sprachigen Literaturen abspielte. Die erste dieser Lektüren hat es mit Geschichte zu tun und verfährt typologisch; die zweite hat es mit Geschichten zu tun und verfährt exemplarisch (oder ›gegen den Strich‹ gelesen satirisch). Gegenüber dem histori- schen Sinn der überkommenen Institutionen und dem moralischen Sinn der über- lieferten Lebensformen ist die dritte Möglichkeit der Lektüre im modernen Sinne ›utopisch‹. Sie heißt anagogisch und hat es mit dem ewigen Leben zu tun, in dem die eschatologische Konsequenz der Heilsgewißheit zum Ziel kommt. Wie Heynes Klopstocklektüre anzeigt, tritt in der Moderne die biographisch-psychologische Lektüre der Lyrik an die Stelle der alten anagogischen Lektüre. Es kündigt sich be-

13 Vgl. als paradigmatisch die Rousseu-Lektüre von Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979), Teil II, sowie für die Muster der ›Reaktionsbildung.‹ die Teorie der ›Anxiety of Infuence‹ von Harold Bloom, A Map of Misreading (New York NY: Oxford University Press 1975), Kap. 2 und 5. 14 Man vgl. die klassischen Titel bzw. Untertitel von Friedrich Ohly, »Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter« (1958), jetzt in Schrifen zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung (Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1979), 1–31, oder von Henri de Lubac, Exégèse médiévale: Les quatre sens de l’écriture I–IV (Paris: Aubier 1959–1964). 36 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik reits tief im Mittelalter an und wird mit seinem Ende manifest, daß die kollektive Eschatologie der Kirche in eine kosmologische Variante des jüngsten Gerichts und eine individuelle Variante des eigenen Endes auseinanderfällt.15 Die literarisch ver- breitete. Vorstellung vom besonderen Gericht, das jeden Verstorbenen im Augen- blick seines Todes ereilt, macht deutlich, in welchem Umfang das Interesse an der allgemeinen Eschatologie vom Interesse an der individuellen Eschatologie jedes Einzelnen absorbiert wurde. Gegen Heynes anagogische Lektüre, die im individuellen Fall die allgemeine Bewandtnis, das überindividuelle ewige Leben an der Erfahrung des Einzelnen festmachen will, setzt Cramer in einer Art naiven Besserwissens die »einfältig er- zählte wehmütige Empfndung«, die »mit ein paar individuellen Zügen (mir) vors Auge gebracht« sei. Einfältig heißt hier ohne weiteren, anagogisch weiterführenden Sinn. Daß dies »nichts« sei, wie nach Heyne für zweihundert Jahre eine lange Reihe prominenter Lyrik-Verächter behaupten, widerlegt im vorliegenden Fall Klopstocks Brief, der im Privaten sagt, was an sozialem Mehrwert in sein Gedicht eingegangen sei.16 »Dein Klopstock«, schreibt er (»Dein« unterstrichen), »weil ich deswegen alle die Sorgen eines nur möglichen Unglücks empfunden habe (»möglichen« unterstri- chen), weil du sie empfunden hast.« Die »neue Sensibilität« der Sozialbeziehungen, von Liebe, Freundschaf, Freude, mit der Klopstocks Lyrik die lyrische Moderne be- ginnt, sei »aus seines Herzens individuellsten Empfndungen gequollen«, versichert Cramer. Sie ist von allgemeinem Interesse nur durch ihre individuelle Wirkung und wird verallgemeinerungsfähig nur durch ihre individuelle Veranlassung: weil und solange sie individuell bleibt. Ihre ungeheure Wirkung auf die Zeitgenossen kam nicht von ungefährt und war doch, unter veränderten Verhältnissen, nach einer Generation schon verfogen. Klopstock wurde zum Prototyp des sprichwörtlich ungelesenen Klassikers, dessen ursprüngliche Wirkung vergessen wäre, würde sie nicht in der Gewitterszene Werthers mit Lotte überliefert, von der es im Brief vom 16. Juni heißt:

Sie (Lotte) stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: »Klopstock!«.17

15 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966) 33, in der Neuausgabe Teil I und II Säkularisierung und Selbstbehauptung (Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1974), 56. Vgl. meinen Entwurf von »Allegorie, Ironie und Wiederholung, Text und Applikation (Poetik und Hermeneutik IX), ed. Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß und Wolfart Pannenberg (München: Fink 1981), 561–565: 562. 16 Vgl. Wolfdietrich Rasch, Freundschafskult und Freundschafsdichtung im deutschen Schrif- tum des 18. Jhs. (Buchreihe der Deutschen Vierteljahresschrif, 21) (Halle: Niemeyer 1936), Kap. VIII, und die soziologische Weiterformulierung von Friedrich H. Tenbruck, »Freund- schaf«, Kölner Zeitschrif für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964) 431–456: 436 f. 17 Vgl. zur Stelle Richard Alewyn, »Klopstock!« Euphorion 73 (1979), 357–364: 361 f., und Gerhard Sauder, »Der zärtliche Klopstock« (1978), Text + Kritik, Sonderband Friedrich Gottlieb Klopstock (München: Text + Kritik 1981), 59–69: 67. Panorama 37

Daß die Lektüre Klopstocks »zum »bloßen Mittel« wurde, wie Alewyn zweifelnd zitiert: zum »Medium der Kommunikation« individueller Empfndungen, hat seine antiallegorische Pointe darin, daß der Blick gen Himmel auf den Anderen zurück- fällt, genauer hier der Blick des Anderen (Lottes) auf mich (Werther) zurückkommt, der darin eben die Tränen sieht, die seit Klopstock zum Zeichen der von jenseitigen Hofnungen in gegenseitige Liebe zurückgebrachten Strebungen geworden sind (was im Werther nach seiner problematischen Seite entwickelt ist). Ein Jahr nach Er- scheinen der Oden Klopstocks setzt diese Szene das durch Klopstock geschafene Lektüremuster in eben dem Moment ins Bild, in dem es historisch geworden ist: Paradigma einer »Vereinigung von Strebensrichtungen, deren eine aufs Unendliche, deren andere auf Hingabe ging«, und in ihrer Vermittlungsproblematik noch lange nicht bewältigt war.18 So wichtig die allegorische Folie bleibt, auf die Heyne hinweist, so entscheidend ist für und seit Klopstock der Prozeß der Ablösung von ihr, auf dem Cramer besteht, vorschnelle Versöhnungen von sich weisend. Für Klopstock ließe sich der Vorrang der Ablösungsproblematik leicht an der Alternative jener gleich- zeitigen pietistischen Gemeindegesänge verdeutlichen, die man fälschlich mit ihm in Verbindung bringt, die nämlich in kollektivem Zwang dem ewigen Leben näher- brachten und nicht erst Tilman Moser zur »Gottesvergifung« verholfen haben (da- von handelt der Anton Reiser).19 Daraus läßt sich lernen, wenn man heute über »Selbsterfahrung und Neue Sub- jektivität« der Lyrik liest. Jörg Drews spricht in seiner Grazer Kritik der neueren Lyrik zwar nicht vom ewigen Leben, aber er vermißt doch »in der Strenge der Selbsterforschung und Selbsterfahrung (...) meist das, was man psychoanalytisch ›Durcharbeiten‹ nennen würde«.20 Man sieht, die Anforderungen sind eher strenger geworden und jedenfalls puritanisch geblieben. Schlechten Gewissens, dies Durch- arbeiten könne in Begrifen geschehen, »für die Lyrik meist nicht der richtige Platz« sei, reduziert Drews den jenseitigen Anspruch der anagogischen Lektüre, wie das seit dem Ausgang des Mittelalters guter protestantischer Brauch ist, auf den mora- lischen Anspruch exemplarischer Verallgemeinerungsfähigkeit: »daß Rückzug aufs Ich, wenn er sich in Poesie und Erkenntnis soll rechtfertigen können, erfordert, daß einer mit intellektueller und afektiver Radikalität sich selbst und seiner Situation sich stellt.« Klopstock-Leser Peter Rühmkorf zieht aus dem gleichen Grund, daß Rückzug aufs Ich sich rechtfertigen können sollte, die epigrammatische Einfachheit der politischen Kleinlyrik ins Lächerliche, die Kommunikativität ohne »neue In- nerlichkeit« versucht und die »neue Sentimentalität« verachtet: »Um nicht mißver- standen zu werden«, schreibt Rühmkorf: »diese einfachen Gedichte sind alles andere als unterentwickelt, sie sind fießbandreif. Ihr formaler Spezialismus (einerseits – andrerseits – peng!), ihre programmatische Ausnüchterung der Sprache zum Lehr-

18 Für die Entwicklung des Schemas siehe Dieter Henrich, »Hegel und Hölderlin«, Hegel im Kontext (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971), 9–40: 27. 19 Vgl. Tilman Moser, Gottesvergifung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976), Zweite Hälfe »Die Macht deiner Lieder«, besonders 55–57, und Karl Philipp Moritz, Anton Reiser (1785– 1790), ed. Wolfgang Martens (Stuttgart: Reclam 1972), Erster Teil, paradigmatisch 20–22. 20 Jörg Drews, »Selbsterfahrung und Neue Subjektivität der Lyrik«, Akzente 24 (1977), 89–95: 92. Dieser und die daran anschliessenden Beiträge derselben Zeitschrif auch im Teil »Ly- rik-Diskussion« des Lyrik-Katalogs, hier 453–462: 458. 38 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik material, ihr radikaldemokratischer Verzicht auf Persönlichkeitsrechte und der totale Mangel an individuellem Spielraum, deuten einen Endpunkt an ...«.21 Die alternativen Vorwürfe – hier Kommunikativität ohne subjektive Deckung – dort Subjektivität ohne kommunikatives Interesse – sind sich gleich geblieben. Wir sind nach zwei Jahrhunderten moderner Lyrik und weiteren Jahrhunderten moderner Vorläufer höchst unsicher und nur zu Zeiten imstande, Lyrik zu akzeptieren, ohne der lyrischen Subjektivität weiterreichende Vorschrifen zu machen; und die Dichter sind nur in seltenen Augenblicken, die kaum über eine Generation hinausreichen, in der Lage, gegen diese Widerstände anderes als Rückzugsmanöver in Struktur aus- zuführen. Ich mache also einen großen Sprung zurück, ans Ende der hermetischen Lyrik, deren Aporien die Lektüre neuer Lyrik weiterbeherrschen. Die Lektüregeschichte der modernen Lyrik ist noch zu schreiben: Die Struktur der modernen Lyrik, deren Geschichte Hugo Friedrich 1956 skizziert, deren Krise Adorno 1957 diagnostiziert, und deren Kanon Enzensberger 1960 in einem Museum der modernen Poesie in- ventarisiert hat, läßt ahnen, welche Anstrengungen dazu nötig wären. Die wich- tigste Diagnose aus ihren ersten Anfängen, als von ihrer Struktur so noch kaum die Rede sein konnte, Ausgangspunkt der Diagnose Adornos, steht in Hegels Äs- thetik. Die Partikularität der Kunst hat in der Lyrik ihr höchst spezifsches Para- digma. Ist »der eigentliche Quell der Lyrik«, wie Hegel sich ausdrückt, »die innere Subjektivität«, dann ist sie die von Partikularität besonders betrofene Gattung, die »leicht zu der falschen Prätension fortgehen (kann), daß an und für sich schon das Subjektive und Partikuläre von Interesse sein müsse.« Hegels Beispiel ist – Klop- stock: wir seien »nicht geneigt«, schreibt er, »etwa die partikulären Einbildungen, Liebschafen, häuslichen Angelegenheiten, Vetter- und Basengeschichten kennen- zulernen, wie dies selbst bei Klopstocks Cidli und Fanny der Fall ist; sondern wir wollen etwas Allgemeinmenschliches, um es poetisch mitempfnden zu können, vor Augen haben.«22 Ich sehe die Struktur der modernen Lyrik als Reaktionsbildung der sich (frei nach Hegel) in sich verhausenden sprachlosen Subjektivität (für die Hölderlin das Paradigma ist) wie auch einer tendenziell subjektlosen Sprachmagie (für die Mallarmé das Paradigma ist) gegen den hermeneutischen Zugrif, den Hegel wie vor ihm Heyne und nach ihm die Menge der Kritiker verordnen; Adorno ist die Ausnahme. Die hermetische Lyrik der fünfziger und sechziger Jahre endet in Resig- nation oder Verzweifung; dafür steht das Schicksal Celans, den ich hier nur nenne, und die Konsequenz Eichs, die ich gleich zitiere. Die allegorische Lektüre, in der Heyne Klopstock zurückzuholen versuchte aus der Partikularität seiner häuslichen Angelegenheiten, ist in ihren beiden kontroversen Spielarten, der kollektiven wie der individuellen Anagogie, nach wie vor einschlägig, wenn es darum geht, Hegels

21 Peter Rühmkorf, »Kein Apolloprogramm für Lyrik«, Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich (Hamburg: Rowohlt 1975) 181 bis 190: 186 f. Dieser Teil steht auch am Schluß von Was alles hat Platz in einem Gedicht? 191–200: 196. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, ed. Friedrich Bassenge I–II (Berlin und Weimar: Aufau 1966), I: 479. Zur Partialitätsthese Dieter Henrich, »Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel)«, Immanente Ästhetik – Ästhetische Regexion (Poetik und Hermeneutik II), 11–32: 15–17. Panorama 39

Allgemeinmenschliches der lyrischen Subjektivität abzugewinnen und poetisch mitempfnden zu lassen. Zwei Autoren, in der einen und der anderen Richtung er- fahren, refektieren schreibend darüber wie folgt, 1970 im Todesjahr Celans: in der einen Richtung Hans Magnus Enzensbergers erste von »37 Balladen aus der Ge- schichte des Fortschritts« (als innerweltlicher Metamorphose der mittelalterlichen Eschatalogie); in der anderen Richtung Günter Eichs zweite Folge der Maulwürfe (Inbegrif des lyrisch verhausten Subjekts, das blind seine Partikularität an die Ober- fäche stößt). Im übergeordneten Zusammenhang seiner Fortschrittsgeschichte trägt Enzensbergers Gedicht wie alle folgenden desselben Bandes als Titel die Initialen seines Helden, in diesem Fall Giovanni de’Dondis (1318–1389). Die ältere und kür- zere Fassung, die ich hier nach der Sammlung von 1971 zitiere, nennt im Titel den Gegenstand Himmelsmaschine und erläutert ihn als Fortschrittsprodukt mit einem Motto aus den Schrifen seines Erfnders, das in der späteren Version in den Text eingearbeitet ist. Es führt das Tema des Gedichts, den Zusammenhang von Lektüre und poetischer Konstruktion im prosaischen Zitat ein, in Enzensbergers eigener Lektüre also:

HIMMELSMASCHINE Wenn du diese Uhr nicht selber bauen könntest, von der ich spreche, wozu solltest du dann, der du mich liest, deine Zeit mit meinem Manuskript vergeuden? Giovanni de’Dondi

Giovanni de’Dondi aus Padua verbrachte sein Leben mit dem Bau einer Uhr. Einer Uhr ohne Vorbild, unübertroffen vierhundert Jahre lang. Das Gangwerk mehrfach, elliptische Zahnräder, verbunden durch ein Gelenkgetriebe, und die erste Spindelhemmung: eine unerhörte Konstruktion. Sieben Zifferblätter zeigten den Zustand des Himmels an und die Revolutionen der Planeten. Ein achtes Blatt, das unscheinbarste, wies die Stunde, den Tag und das Jahr: A. D. 1364. Zwecklos und sinnreich wie die Trionfi, eine Uhr aus Wörtern, erbaut von Francesco Petrarca. Eine Rechenmaschine, und zugleich 40 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

der Himmel noch einmal. Aus Messing, aus Messing. Unter diesem Himmel leben wir immer noch. Die Leute von Padua sahen nicht auf die Uhr. Ein Putsch folgte dem andern. Pestkarren rollten über das Plaster. Die Bankiers stellten ihre Positionen glatt. Es gab wenig zu essen. Der Ursprung jener Uhr ist unbegreiflich. Ein Analog-Computer. Ein Menhir. Ein Astrolab. Trionfi del tempo. Überbleibsel. Zwecklos und sinnreich wie ein Gedicht aus Messing. Nicht Guggenheim sandte Giovanni de’Dondi Schecks zum Ersten des Monats. Petrarca hatte keinen Kontrakt mit dem Pentagon. Andere Raubtiere. Andere Wörter und Räder. Aber derselbe Himmel. In diesem Mittelalter leben wir immer noch.23

Enzensbergers Text leistet, seinem Motto getreu, konstruktive Lektüre de’Dondis. Die Konstruktion, zu der es anleitet, ist das Mausoleum des Fortschritts, bitteres Gegenstück zum 15 Jahre älteren Museum der modernen Poesie. Im Kontext dieses Mausoleums erscheint der zitierte Text de’Dondis zur puren rhetorischen Frage verkommen: »Aber wozu vergeudet ihr eure Zeit mit meinem Manuskript, wenn ihr nicht fähig seid, es mir nachzutun? Handelt das Mausoleum vom monumentalen Resultat der »Dialektik der Auflärung«, die der Rhetorik des Fortschritts auf dem Fuße folgt, so die Himmelsmaschine von deren mittelalterlichen Voraussetzungen: Sie ist Allegorie der allegorischen Lektüre im Stand ihrer kosmischen Illusionen. Am Anfang des Fortschritts stehen sie noch einträchtig nebeneinander, die Technik de’Dondis, die Poesie Petrarcas; die Mechanik der Himmelsuhr ist das Analogon poetischer Trionf: »sinnreich und zwecklos«. (De’Dondi, nicht zu vergessen, war des alten Petrarcas Freund und ärztlicher Berater, der im letzten Briefwechsel vor dessen

23 Hans Magnus Enzensberger, »Himmelsmaschine«, Gedichte 1955–1970 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971), 122 f. Die zweite Fassung in Mausoleum – Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975), 7 f. Vgl. sein Museum der modernen Poesie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1960). Über Giovanni Dondi und Petrarca siehe in Kürze Ernest H. Wilkins, Life of Petrarch (Chicago IL: Chicago University Press 1961), 225–228. Panorama 41

Tod vergeblich die medizinische Kunst gegen die Vorurteile der klassischen Bildung zur Geltung zu bringen versuchte.) Traditionell ist die Natur allegorisch ein Buch, dann wird das Buch allegorisch eine Maschine: Denkmaschine der konstruktiven Lektüre. Mit dem Satz »A book is a maschine to think with« beginnt gleichzeitig mit Valéry, dem bedeutendsten Vertreter der konstruktiven Lektüre, der Begründer der neuen literarischen Kritik, I. A. Richards seine Principles of .24 Valérys konstruktive Lektüre, Modell aller lyrik-theoretischen Äußerungen von Hugo Friedrich bis Adorno, beginnt destruktiv mit der refexiven Entautomatisie- rung des Mechanismus der alten, allegorischen Lektüre; erst danach setzt die viel zitierte Maxime ein, seine Verse hätten den Sinn, den man ihnen (konstruktiv) gebe. Gadamer, Adornos Gegenspieler auf Hegels Spuren, nannte dies »hermeneutischen Nihilismus«.25 Enzensbergers Lektüre, über deren Sinn man nicht so leicht ins Un- klare kommen kann wie über der Vieldeutigkeit Valérys, verfährt nicht destruktiv, sondern re-konstruktiv. Gedicht und Uhr, Errungenschafen ohne Vorbild in »Ar- beit und Interaktion«, funktionieren sub specie aeternitatis: als Himmelsmaschinen bilden sie allegorisch die Ordnung der Dinge, mechanisch den Ablauf der Zeit ab. Erst auf dem achten Blatt der Uhr, abgeleitet vom Zustand des Himmels, den Re- volutionen der Planeten, liest man der Menschen: erst in achter Hinsicht das individuelle Schicksal des vielfach subsumierten Subjekts. Uhr und Gedicht sind Überbleibsel des Fortschritts, bleiben übrig mit extremen Konsequenzen für die Ar- beit nach übergeordneten Zwängen und die Lektüre in übergeordneter, allgemein- menschlicher Perspektive. Andere Zwänge, andere Gedichte, aber dieselbe Lektüre: »In diesem Mittelalter leben wir immer noch.« Enzensberger richtet ein »Mausoleum« des Fortschritts ein, Eich richtet sich ein in seinem »Büro«. Ein Tibeter in meinem Büro: fernöstlicher Lektürespezialist am Arbeitsplatz des Dichters? Auch hier sind die Konsequenzen unabsehbar, west-öst- liche Horizont-Verschmelzung im Stil der japanischen Heidegger-Lektüre. Eichs Maulwürfe sind ein nachlyrisches, wie Enzensbergers Balladen ein anachronis- tisches Genre: nach-lyrisch, sofern die Zeilen wieder vollgeschrieben werden, Lyrik in ihnen unkenntlich geworden ist. Wie die allegorischen Trionf Petrarcas im Mau- soleum übrigbleiben als fernwirkende Überbleibsel eines unbewältigten Fortschritts, so bleibt die lyrische Zeile in der Prosa des Büros erhalten, verschüttete Lektüre, die einen archäologisch de-konstruktiven Leser sucht. Ich überdehne diese Lizenz der Lektüre und verkürze dabei prosaisch den thematischen Faden des folgenden Maulwurfs:

24 Ivor Armstrong Richards, im Vorwort seiner Principles of Literary Criticism (London: Routledge Kegan Paul 1924), vii. Zum Verhältnis von Maschinen- und Buchmetaphorik siehe Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Archiv für Begrifsgeschichte 6 (Bonn: Bouvier 1960), Kap. VI. 25 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (Tübingen: Mohr Siebeck 1960), 90. Vgl. den Kommentar vom Vf. »Valéry in zweiter Lektüre«, Text und Applikation (Poetik und Hermeneutik IX), 341–360: 342 f. 42 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Rückläufiges Wörterbuch Gegrüßet seist du, Vera Holubetz, Vorbesitzerin meines Wörterbuchs. Ein Name in Sütterlin. auf dem Vorsatzpapier. Deutsch-Sürtterlin und Sütterlin-Deutsch, eine kleine Auflage. Birne heißt Kummer, Vera heißt Holubetz. So verschieden sind die Sprachen. Was Kummer heißt, will ich nicht wissen, Vera Kummer kenne ich nicht. Ich kenne auch Vera Holubetz nicht, habe keine Vermutung, will keine haben, auch keine Gewißheiten. Ich bleibe bei ihrem Gruß in Sütterlin. Sütterlin ist ein Ort in der Steiermark. In der Stei- ermark sollen die Bauern kahlköpfig sein. Sie essen Arsen, das macht lustig. Schnitterlie- der erklingen, die Frauen rächen das Heu und das Heu hat es verdient. Und alle sprechen in Sütterlin, eine Arsensprache. Gleich am Bücherkarren habe ich angefangen zu lesen, eine Trouvaille. Das Wörterbuch ist rückläufig, fängt bei Saba an und endet mit Negerjazz. Neuartig, noch dazu exotisch, viel Stoff für Illuminationen. Ich brauche kaum noch Licht. Sovieles bewegt einen da. Nicht nur philologisch, auch rein menschlich. Warum hat Vera das Buch verkauft? Ist sie von Sütterlin abgekommen? Brauchte sie eine kleine Summe für Fruchtbonbons? Interessierte sich mehr für technisches Zeichnen? Oder stammt das Buch etwa aus einem Nachlaß? Über diese Möglichkeit komme ich nicht hinweg. Irgendwie hatte ich doch an eine ent- scheidende Begegnung gedacht. Sollte sie schon auf dem Vorsatzpapier und gewesen sein? Man würde wieder einmal auf das ewige Leben verwiesen. Nun, ich neige meinen kahlen Kopf.26

Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden: Maria heißt Vera; vera heißen in der Sprache der mittelalterlichen Teologie die kanonischen Gewißheiten, im Unter- schied zu den credenda, den fakultativen Lesefrüchten der frommen Bibellektüre, die zum rechten Glauben verhelfen: ad recte credendum. Ist es der Rede wert, daß erst in der Epoche der modernen Lyrik und umgekehrten Allegorese, zu Zeiten Baudelaires und Mallarmés, Maria aus dem Bereich der fakultativen credenda in den Bestand der kanonischen vera erhoben wurde, ihre mögliche Individualität der Kirche zu riskant, ihre allgemeinmenschliche Vorherbestimmung stattdessen dogmatisch wurde? Eichs Vera heißt Holubetz: die lyrische Wahrheit ist individuell, dogmatische Gewißheit nicht am Platze. Die Individualität der Wahrheit steckt in der Signatur. Darunter liegt der Kummer innerer Subjektivität verborgen; den will er nicht wissen. Er hält sich an die Signatur, deren Züge er nicht durchschaut. Anders in der Lektüre: Illuminationen wie Inventionen sind eine Trouvaille des Reimwörter- buchs; die Fragen stellen sich ein nach seinem Verkauf: Sovieles bewegt einen dann auch rein menschlich. Individuelle Hofnung indes bleibt Vorsatz, die entscheidende Begegnung auf dem Papier und gewesen: eine letzte lyrische Zeile in der Prosa der

26 Günter Eich, »Rückläufges Wörterbuch«, Ein Tibeter in meinem Büro (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970), 17; in den Gesammelten Maulwürfen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 83. Varianten, Vera Holubetz betrefend, stehen im Apparat der Ausgabe der Gesammelten Werke I–IV (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973), I: 436 (zu 345). Von der »Brauchbarkeit eines rückläufgen Wörterbuchs als Reimlexikon« spricht der Klappentext des zitierten Werks von Erich Mater, Rückläufges Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Leip- zig: VEB Enzyklopädie 1964, 21967). Panorama 43

Resignation. Eich neigt seinen kahlen Kopf: Man sei »wieder einmal auf das ewige Leben verwiesen«. (»In diesem Mittelalter leben wir immer noch.«) Eichs Konsequenzen sind erheblich. In eigener Sache heißt der nächste Maulwurf. »Der Übergang vom Essen zur Literatur ist eine Pubertät«, heißt es dort zu Anfang. »Einmal genügt. Nachtigallen kann auf die Dauer nur ertragen, wer schwerhörig ist«, weiter unten. Lyrik steht im Übergang von introjektiver Einvernahme zur er- wachsenen Kommunikation. Essen als Lektüremetapher der Allegorese von der »geistlichen Speise« der Mönche bis zum »geistigen Abendmahl« Hegels gehört ins Vorpubertäre.27 Lyrik ist Pubertät; danach erst kommt literarische Arbeit, Maul- würfe zunächst. Eich nimmt die Wendung Hegels ins Allgemeinmenschliche, das poetisch nachzuempfnden sei, nicht zum Anlaß allegorischer Verallgemeinerungen seiner inneren Subjektivität, noch erlaubt er sich die Regression in die hermetische Signatur: Bei Lyrik kann es nicht bleiben im Leben. Stattdessen nimmt er in der prosaisch unscheinbaren Refexion eines Maulwurfs die anagogische Perspektive der individuellen Eschatologie zurück auf eine lebensgeschichtliche Phase, die der Ausbildung einer erwachsenen Identität vorausgeht. An die Stelle der anagogischen Lektüre, die lyrische Erfahrung in die allgemeinmenschliche Perspektive eines überindividuellen Zusammenhangs zwingt, tritt eine psychologisch refektierende Lektüre, die der gleichen Erfahrung den Spielraum eines lebensgeschichtlich spe- zifschen Prozesses der Individuation zugesteht. Das steht so freilich nicht mehr im Text. Lyrische Pubertät trägt für Eich die schmerzlich resignativen Züge der eigenen Verspätung, einer zu spät überwundenen Phase, die Primanerlyrik assoziiert und regressive Momente. Deutlich sind in der Tat, mit dem Psychoanalytiker Helm Stierlin zu reden, »eine gewisse adoleszente Sensitivität und Konfikthafigkeit« lyrischer Kreativität, und es ist nicht schwer, unter den großen Lyrikern das Übergewicht der Adoleszenz wahr- zunehmen, angefangen bei Klopstock, Hölderlin und bis hin zu Rimbaud, Trakl und Dylan Tomas.28 Bei Goethe kann man zu seinen lyrischen Phasen eine wiederholte Adoleszenz beobachten, man denke an Marianne von Willemer und den West-östlichen Divan, an Ulrike von Levetzow und die Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten. Allgemeiner gefaßt wäre Lyrik ein krisenspezifsches Mittel der »Innenverarbeitung« von Identitätskonfikten. Arnold Gehlen hat diese Innenverarbeitung als »Psychisierung« beschrieben und, ebenfalls unter dem Titel eines »neuen Subjektivismus«, auf das Jahrhundert Klopstocks datiert.29 Gestande-

27 Vgl. für die Mönche Klaus Lange, »Geistliche Speise«, Zeitschrif für deutsches Altertum 95 (1966), 81–122; für den jungen Hegel Werner Hamacher, »Pleroma«, Einleitung zu G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums (Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein 1978), 7–333: 220 f.; für die Psychoanalyse James Strachey, »Some Unconscious Factors in Reading«, International Journal of Psycho-Analysis 11 (1930), 322–331: 324 f. 28 Helm Stierlin, »Hölderlins dichterisches Schafen im Lichte seiner schizophrenen Psy- chose« (1972), Von der Psychoanalyse zur Familientherapie (Stuttgart: Klett-Cotta 1974), 65–82: 73. Vgl. auch Pierre Bertaux, Friedrich Hölderlin (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978), 396. 29 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter (Hamburg: Rowohlt 1957), 58. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öfentlichkeit (Neuwied und Berlin: Luchterhand 1962), 60–63. 44 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik ne Männer geben sich mit Lyrik selten ab und schon die begeisterten Klopstock- Leser waren ohne Ausnahme sehr junge Leute. Wie Goethes Vater darüber dachte, als ihn die zehnjährigen Kinder mit Deklamationen aus dem Messias erschreckten, ist in Dichtung und Wahrheit nachzulesen. T. S. Eliot, mit Valéry eines der promi- nenten Gegenbeispiele, refektiert in seinem ersten berühmten Essay die notwen- dige Auseinandersetzung mit der poetischen Tradition, die jedem bevorstehe, der über sein 25. Lebensjahr hinaus Gedichte schreiben wolle.30 Für Valéry bedeutete es eine mehr als zwanzigjährige Pause, deren Ende La Jeune Parque ein Erwachen zu ›bewußtem Bewußtsein‹ poetischer Arbeit bedeutete. An Valéry und Eliot hat die moderne Lyrik jene Paradigmen, in denen sich die »pubertäre« Kommunikativität lyrischer Individualität in eine traditionsvermittelte Intertextualität aufgehoben: die individuelle Krisenverarbeitung in eine über-individuelle Tradition zurückge- führt fndet. Die nachträgliche Einsicht in die psychogenetische Rolle der Lyrik, wie sie Eich zum Tema macht, kennzeichnet eine persönliche Flexibilität, die Goethes Alterslyrik auszeichnet, und die Valérys späte Gedichte refektieren. Sie literarisch zu machen, läßt sich nicht antizipieren, sondern ist allenfalls als Antizipation einer Verspätung zu fngieren, wie Eliot zeigt. In der Struktur des modernen Gedichts schlägt sie nur noch refexiv zu Buche. Antizipierte Nachträglichkeit repräsentiert als Fiktion lyrischer Unmittelbarkeit die Verspätung der modernen Struktur der Lyrik gegenüber ihrem kommunikativen Interesse. Daß die neuere Lyrik in ihren besten Stücken statt hermetischen Mimikrys die Brücken zur Intertextualität des Museums der modernen Poesie abgebrochen und sich einen Zug zur aggressiven Selbstbehauptung zugelegt hat, verschaf diesem Interesse neue Geltung. Daß es mit Intentionen und Programmen schon getan wäre, folgt daraus sicher nicht. Was sie zuwege zu bringen imstande sind, läßt sich soweit noch nicht absehen. Aller- dings handelt es sich um einen veränderten Kontext, in dem das neue Interesse an der Kommunikativität der Lyrik aufommt. Michael Rutschky, in der Doppelspra- chigkeit von Leserreaktionen bestens bewandert, hat schlicht vom »Erfahrungs- hunger« gesprochen, der »konstitutiv (sei) für diese Subjektivität, die bei weitem älter ist, als die siebziger Jahre«.31 In der kompensatorischen Funktion einer im Le- sen und Schreiben projektierten äußeren Subjektivität für die vermißte innere hätte die Veränderung der Lyrik ihre neue Qualität. Daß diese Neue Subjektivität nur ein Surrogat für die alte wäre, verfnge nur, wäre nicht schon die alte Surrogat für eine neue gewesen. Statt sprachloser Sujektivität und subjektloser Sprache ginge es die- ser Lyrik um kommunikativ entlastete Subjektivität. Der Zustand, der über bloße Individualität positiv hinausginge, wäre einer, in dem die eigene Individualität in allen Diskontinuitäten kommunikabel bliebe, sie auf Grund aller Diskontinuitäten die Kommunikation auch lohnte.

30 T. S. Eliot, »Tradition and the Individual Talent« (1919), Selected Essays (London: Faber and Faber 1932), 7–19: 11, bzw. Selected Prose of T. S. Eliot, ed. Frank Kermode (London: Faber and Faber 1975), 37–44: 38. 31 Michael Rutschky, Erfahrungshunger – Ein Essay über die siebziger Jahre (Köln: Kiepen- heuer und Witsch 1980), 248. Vgl. Oskar Negt und , Öfentlichkeit und Erfahrung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970), und Geschichte und Eigensinn (München: Zweitausendeins 1981). Panorama 45

Dafür hat nicht die Struktur der modernen Lyrik, sondern die der Medien: des Films und des von Teobaldy bereitwillig abgewehrten »Schlagers« ein eigentüm- liches Potential entwickelt, an dem die neueste Lyrik teilhat. Man weiß was gemeint war, wenn Adorno in seinen musiksoziologischen Schrifen vom Schlager sprach.32 Er sei die andere, ideologieverfallene Seite der Lyrik, die in deren moderner Struktur erfolgreich vermieden sei. Die Kehrseite dieser Vermeidung zeigte freilich, daß mit der vermiedenen Ideologie die in sie verstrickte Konstitution des Subjekts vermieden war. Gegen das Gerede vom Schlager, der Lyrik nicht sei, richtete sich und beschimpfe die »ausgebufen Kerle (...), die sich Lyriker nennen las- sen. Da sitzen sie, irgendwo unsichtbar, und haben mal irgendwas von sich gegeben, jetzt halten sie die kulturellen Wörter besetzt, anstatt herumzugehen und sich vieles einmal anzusehen, lebende Tote, die natürlich schwerer zu beseitigen sind als die so- genannten großen, alten Vorbilder in den Regalen moderner Antiquariate. Welcome to the Rolling Stones! Die Texte der Fugs sind besser. Woran liegt das?«33 Sicher nicht daran, daß nun mit der Kulturindustrie ein Auskommen gefunden wäre. Womöglich aber daran, daß der Strukturzwang moderner Lyrik in deren Antizipation so zur Alle- gorie der neuen Verhältnisse wurde, daß sie von ihrer Ideologie nicht unterscheidbar blieb. Unvermittelt wird an Ideologie nun klarer, was an Allegorie als aus zweiter Hand refektiert scheint und in zweiter Refexion aufgehoben bleibt.

Postscriptum

Die Tränen, die Klopstocks Cidli und Werthers Lotte weinen, sind noch die ihrer Ureltern angesichts des Verlornen Paradieses: »Some natural tears they dropp’d, but wip’d them soon«, läßt Milton seine Helden am Ende ins irdische Leben scheiden.34 Daß diese Tränen nach frommem Lesen im tätigen Leben so schnell zu trocknen wä- ren, wie Milton es wollte, hat die nach ihm kommende Lektüregeschichte widerlegt. Nina Hagen, Brecht-Enkelin in mehrfacher Hinsicht (Tochter der Brecht-Sängerin Eva-Maria Hagen, aufgewachsen im Haus Wolf Biermanns) und Pippi Langstrumpf- Leserin in eigener Konsequenz, singt die Naturträne der lyrischen Moderne wie folgt zuende:

Naturträne

Offnes Fenster präsentiert Spatzenwolken himmelflattern. Wind bläst, meine Nase friert

32 Teodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1962), Kap. II »Leichte Musik«. 33 Rolf Dieter Brinkmann, »Notiz«, Die Piloten (Köln: Kiepenheuer und Witsch 1968), 5–7: 6; jetzt in Standphotos – Gedichte 1962–1970 (Hamburg: Rowohlt 1980), 184–186: 185. 34 John Milton, Paradise Lost, Buch XII, 645; hier nach dem Kap. »Salvation through Reading« bei Robert Crosman, Reading Paradise Lost (Bloomington IA: Indiana University Press 1980), 248. Vgl. Stanley E. Fish, Surprised by Sin (New York NY: Macmillan 1967/Berkeley CA: University of California Press 1971), Kap. 1. 46 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

und paar Auspuffrohre knattern. Ach, da geht die Sonne unter: rot mit gold, so muß das sein. Seh ich auf die Straße runter, fällt mir mein Bekannter ein. Prompt wird mirs jetzt schwer ums heiß Herz, ich brauch nur Vögel flattern sehn und fliegt mein Blick dann himmelwärts tut auch die Seele weh, wie schön! Natur am Abend, stille Stadt verknackste Seele, Tränen rennen, das alles macht einen mächtig matt und ich tu einfach weiterflennen ...35

Die vortreficher nicht mehr zu karikierende Tradition der lyrischen Subjektivität nach Milton – von der Fenster-Metaphorik bis zum himmelwärts fiegenden Blick der melancholisch nicht mehr schönen Seele – ist auch im bloßen Abdruck des Texts, ohne die Interpretation der Sängerin erkennbar. Was dann freilich durch den buchstabengetreuen Abdruck des gesungenen Texts nicht wiederzugeben ist, macht erst die Pointe des Liedchens aus: die schier endlos und ohne Worte weitergefennte, durch kunstvolle Koloraturen zu einem letzten Japser geführte Träne. Als kunstvoll vorgeführte ›zweite Natur‹, die seit Milton und Klopstock, von Rousseau bis Pippi Langstrumpf die Leser vereint, löst sich die Masche der alten Innerlichkeit in end- losen Koloraturen zu einem letzten Schluchzer der Erschöpfung.

35 (Catharina) Nina Hagen, »Naturträne«, Nina Hagen Band, CBS 83136 (1978), Textbeilage Seite 3; die Verschreibung »heiß« für »Herz« auf dem Cover steht für einen gezielten Ver- sprecher. Spätere Druckfassungen variieren oder streichen das gestrichene heiß und fügen die anschließenden Koloraturen als ein lang ausgeführtes »Aaah« an. Erster Hauptteil 47

Erster Hauptteil Der Messias – Erlösung angesichts des Verlornen Paradieses Die allegorische als Horizont der empathischen Lektüre und der Ablösungsprozeß der individuellen von der kollektiven Eschatologie

Surprised by Sin Overheard by God Saved through Reading (statt Motto)*

If endless ages can outweigh an hour, Let not the laurel, but the palm, inspire. (Motto)**

Daß Klopstock von Milton nicht sonderlich beeinfußt worden sein will, hat es der Forschung zu leicht gemacht. Man konnte sich an die Überbietungstopik vom Wett- lauf der englischen und der deutschen Muse halten, die Klopstock freilich eher mit Seitenblick auf Young als auf Milton selbst entworfen und einer Entscheidung in fernerer Zukunf anheimgegeben hatte. »Let not the Laurel, but the Palm, inspire«, war der Vers aus den Night-Toughts, auf den sich Klopstock bezog.1 Ging es nicht mehr nur um weltlichen Lorbeer, sondern um die geistliche Palme, ließ sich der Sieg leicht aus Klopstocks Programm ableiten, und es war das Programm des Messias eher als das endlich ausgeführte Werk, das Milton überlegen sein mußte: »Milton hatte zum Glücke nicht den höchsten Gegenstand weggenommen«, resumiert Cho- levius die entscheidenden Passagen aus Kopstocks Abschiedsrede von der Schulpfor- te: »Er forderte die Zuhörer auf, in der ächten Poesie eine zweite Ofenbarung des göttlichen Geistes zu sehen ... Den alten Epikern habe Eins zur Vollendung gefehlt: ihre Welt entbehrte der christlichen Wahrheit.«2 In der zweiten, poetischen Ofen- barung dieser Wahrheit aber verhält sich Klopstock zu Milton wie das Neue zum Alten Testament: widmet sich Klopstock der Erlösung selbst, deren Vorgeschichte bei Milton nachzulesen ist. Die Frage, inwiefern die christliche Wahrheit denn auf Poesie angewiesen sei, wird durch das Postulat verdeckt, daß das neue Epos in eben

* Stanley E. Fish, Surprised by Sin (New York NY: Macmillan 1967); Anthony D. Nuttall, Overheard by God (London: Methuen 1980); Robert Crosman, Reading Paradise Lost (Bloomington: 1980), Kap. VIII »Salvation through Reading«. ** Edward Young, Night Toughts on Life, Death, and Immortality (1741–1745), Te Complete Works, ed. James Nichols I–II (London: William Tegg 1854), I: 1–244: 96 (VI, 74/75). 1 Friedrich Gottlieb Klopstock, Die beyden Musen (1752), Klopstocks Oden und Elegien (Darmstadt 1771), ed. Walther Bulst (Heidelberg: Winter 1948), 49–51: 50; vgl. »An Young« (1753), 76. 2 Carl Leo Cholevius, Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen I–II (Leipzig: Teubner 1854–56), I: 437. 48 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik dieser Wahrheit ihren adäquaten Gegenstand habe. Hatte es das alte Epos mit dem Mythos zu tun, so bekam es das neue mit der Wahrheit zu tun – einer Wahrheit, die den Mythos hinter sich gelassen hatte, ohne ihn vollends los geworden zu sein. Daß nun die biblische Welt, von der Milton und Klopstock handeln, »eine ganz andersartige Arbeit« erfordere als die Arbeit am antiken Mythos, hat Hans Blumen- berg auf die »Festgeschriebenheit« der biblischen Oberlieferung zurückgeführt: »Was die Gestalten der Bibel dem Zugrif des Dichters entziehe«, referiert er eine Bemerkung von Jacob Bernays, »sei die Festlegung in einem geschriebenen Buch und die unvergleichliche Präsenz dieses Buches im Gedächtnis der Menschen. Wer hier auch nur im kleinen erweitere oder verforme, müsse an den Grenzen zur Parodie scheitern.«3 Die von Bernays beschriebene »verlockende Täuschung« ist die, der Milton und Klopstock unterlagen: »daß die biblischen Stofe den epischen ähnlich sein müßten.« Die Eigenart der nötigen Arbeit am mythischen Substrat der christlichen Wahrheit ist von der Festlegung auf das eine Buch der Bibel als kano- nische Quelle geprägt: »Die festgeschriebenen Bilder implizieren«, wie Blumen- berg erläutert, »eine Art verbales Bilderverbot, das nicht gleicherweise die bildende Kunst trif, weil ihre Mittel nicht kanonisch vorgeprägt und ausgegeben sind. Die Beschreibung dieses Sachverhalts ist die erste und formlose Berührung, die man mit der Antithetik von Mythos und Dogma in unserem kulturellen Horizont haben kann.« Das poetische Pendant zur hermeneutischen Diferenz von Mythos und Dog- ma ist die Unverträglichkeit von Epos und Heilsgeschichte: »Die christliche Heils- geschichte, wie die Bibel sie darbietet, verträgt keinen Umguß in pseudo-antike Formen«, befndet Ernst-Robert Curtius und nennt kurzerhand das Bibelepos »eine hybride und innerlich unwahre Gattung, ein genre faux«.4 Das ist nicht ohne Wider- sinn im Kontext europäischer Literatur des lateinischen Mittelalters, dokumentiert aber umso deutlicher, welche Grenzverletzung des literarischen Terrains zur Debatte steht. »Es ist bezeichnend, daß das poetische Programm hier primär ist«, verdeutlicht Max Wehrli den Anschluß Klopstocks an Milton.5 Die formale Inkommensurabilität der Paradigmen (des epischen Mythos und der heilsgeschichtlichen Wahrheit) hat ihr Skandalon in der Frage, ob nun Paradise Lost einen christlichen Leser erfordere, mutatis mutandis der Messias eine ästhetische Lektüre erlaube. Über den Daumen der Forschung gepeilt, scheint Milton diesseits, Klopstock jenseits ästhetischer An- sinnen – eine Einschätzung, die der Bedeutung des einen und der Vergessenheit des anderen (was seinen Messias betrif) entspricht. Denkt man freilich die form- geschichtliche Unverträglichkeit der Genre im Hinblick auf die ihr zugrundeliegen- de hermeneutische Problematik neu durch, so deutet sich in der Metakinetik der Diferenz von Mythos und Dogma eine Umkehrung an, in der Milton dem Mythos zwar kommensurabler, Klopstock aber der Ästhetik näher wäre.

3 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979), 241 und 240. 4 Ernst-Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern: Francke 1948), 457. 5 Max Wehrli, »Sacra Poesis: Bibelepik als europäische Tradition« (1963), Formen mittel- alterlicher Erzählung (Zürich: Artemis 1969), 51–71: 70. Erster Hauptteil 49

Als »Epos ohne Mythologie« hat Gerhard Kaisers Klopstock-Monographie den Messias behandelt und die Unverträglichkeit von Epos und Heilsgeschichte von der gattungsgeschichtlichen Verlegenheit, die mit dem Mythos ihre liebe Not hat, zur Tugend erhoben, die »Religion und Dichtung«, wie der Untertitel verspricht, doch noch versöhnt.6 Kaiser referiert die »Unmöglichkeit eines christlichen Epos« und die damit verbundene Einschätzung des Messias nach Schellings Philosophie der Kunst, dessen Philosophie der Mythologie nach Blumenbergs Arbeit am Mythos einen sehr spezifsch »neuzeitlichen Typus von Kunstmythos« darstellt, wie er »durch Verlet- zung dogmatischer Regeln der Teologie zustande kommt«.7 Neben dem neuen, idealistischen ›Grundmythos‹ hat das neue Epos Klopstocks wie Miltons keine Chance mehr, ist es hegelsch historisch geworden: War es dem alten Epos gegen- über hofnungslos verspätet, so ist es nun dem neuen Mythos gegenüber veraltet. Die historische Mittellage freilich zwischen antikem Mythos und modernem Idealismus spricht nicht nur für die ästhetische Relevanz des Problems, sondern charakterisiert näherhin die Qualifkation des ›Sentimentalischen‹, als dessen bedeutendsten Ver- treter Schiller nicht von ungefähr ausgerechnet Klopstock einführt. Was die eigentümliche Rolle des literarhistorisch gemeinhin schlicht verdrängten christlichen Epos angeht, liefert wohl C. S. Lewis die parktikabelste Ausgangsunter- scheidung: die von ›primärem‹ und ›sekundärem Epos‹, die überdies den Vorteil hat, die unliebsame Reihe von Tasso über Milton bis Klopstock zurückzuführen auf keinen geringeren als Vergil selbst, demgegenüber nunmehr nur noch Homer als primär übrigbleibt. »Te style of Virgil and Milton arises as the solution of a very defnite problem. Te Secondary epic aims at an even higher solemnity than the Primary; but it has lost all those external aids to solemnity which the Primary enjoyed. Tere is no robed and garlanded aoidos, no altar, not even a feast in a hall, only a private person reading a book in an armchair.« Die Defnition durch den neuen Lesehabitus ist entscheidend: »Te Virgilian and Miltonic style is there to compensate for – to counteract – the privacy and informality of silent reading in a man’s own study.«8 Natürlich ist diese Tese für die christlich-lateinische Phase der Bibelepik zu modifzieren, ohne daß sie deshalb an Kraf verlöre. Für die lectio der mittelalterlichen Mönche liefert die Metapher der ruminatio, das »Wiederkäuen« in der Abgeschiedenheit der Zelle, eine trefiche Chrakteristik.9 Reinhart Herzogs Bi- belepik präzisiert anhand eines Alkuin-Zitats qui in secreto cubili inter scolasticos tuos tantummodo ruminari debuisset: »Diese ›private‹ ruminatio bezeichnet ofenbar eine nicht didaktisch-vermittelnde Haltung zum Text, ein ›Wiederkäuen‹, ein poetisches Nachvollziehen des Sakralen – man kann es als Andachtsbedürfnis bezeichnen, seine Einlösung als Erbauung«.10 In der frommen Paraphrase der biblischen Ereig- nisse wird der rechte Glaube befördert, räumen die Scholastiker ungern ein, in der berechtigten Befürchtung um den dogmatischen Kern der Lehre: »in der poetischen

6 Gerhard Kaiser, Klopstock – Religion und Dichtung (Gütersloh: Mohn 1963), Kap. IV. Vgl. im folgenden Kap. I: 9. 7 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 238. Vgl. 625 f. 8 C. S. Lewis, A Preface to ›Paradise Lost‹ (Oxford: Clarendon Press 1942), 40–41. 9 Jean Leclerq, L’ amour des lettres et le désir de Dieu (Paris: Cerf 1957), 22 f. und 84 f. 10 Reinhart Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike I (München: Fink 1975), xxxix. 50 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Rezeptionsöfnung«, wie Herzog es nennt, »erscheint die gläubige Deformation des Sakralen als Anreicherung durch antike Vorprägungen, erscheint andererseits Andacht als Rezeptivität.« Es ist freilich nicht so, daß es der Bibelepik schlicht um private Erbauung zu tun wäre, bei der der fromme Leser auf nichts als sich selbst gestellt wäre (von den Virtuosen der Mystik einmal abgesehen, die sich auch nicht mit derartiger Lektüre aufielten). Im Gegenteil muß der Akzent auf dem kom- pensatorischen Moment liegen, mit dem Ergebnis dessen, was sich Lewis nicht »the poet’s unremitting manipulation of the reader« zu nennen scheut: »how he sweeps us along as though we were attending an actual recitation and nowhere allows us to settle down and luxuriate on any one line or paragraph. Is is common to speak of Milton’s style as organ music. It might be more helpful to regard the reader as the organ and Milton as the organist. It is on us he plays, if we will let him.« Ob wir ihn lassen, ist mittlerweile eine Frage des bewußten Einlassens geworden; für den Leser des 17. Jahrhunderts war es das ofenbar nicht. Milton nimmt nicht einen in der privaten Erbauung eröfneten Rezeptionsraum nur wahr, er kompensiert die darin neu entstandene Freiheit, indem er die vom Zwang der Lehre entlastete Rezeptivität erneut bindet: »Not so much a teaching as an intangling« lautet die neue List der dogmatischen Vernunf.11 Wie man leicht sieht, ist die kompensatorische Leistung des neuen Epos ein zweischneidiges Schwert (»to compensate for – to counteract«), das die Rezeptivität des neuen Lesens nutzt und gegen ihre eigenen Anfälligkeiten wendet: »Te defects of our hearers«, die Fish nach der aristotelischen Rhetorik zi- tiert, ermöglichen eine Rhetorik des Sündenfalls, die den Rückfall in die Sünde zu vermeiden trachtet. Das neue, christliche Epos Miltons kompensiert den Verlust des kollektiv Sakralen durch ein ›mythisches Analogon‹, wie man mit besonderem Recht Lugowskis Begrif zitieren kann.12 Als sekundäres Epos ist dies Analogon ein im engeren Sinne mythisches. Analog zu Milton wiederum kann es sich bei Klopstocks Messias nicht um das Stück »enthusiastisch-eschatologische Liturgie« handeln, das Kaiser dort inszeniert sieht, sondern allenfalls um ein liturgisches Analogon.13 Die Kompensationshypothese, die ich hier durch die Rede vom mythischen Ana- logon präzisiere, rechnet mit zweierlei Kompensationen: Einmal kompensiert das neue Epos die sakrale Sphäre durch ein Analogon; zum andern begegnet es der vom Dogma entlasteten Rezeptivität mit dem Mythos. Die private Lektüre kompensiert den kollektiven Vollzug des Kults, indem und insofern ihr mythisches Substrat die von diesem Vollzug freigestellte Subjektivität afziert. Die mythische Analogie ist dabei wohlgemerkt die der sekundären zur primären Epik: Vergils zu Homer. Ihre Pointe liegt im typologischen Verhältnis der sekundären zur primären Epik, für das Vergils Bezug auf Homer paradigmatisch ist.14 Dieses mythische Analogon zum

11 Stanley E. Fish, Surprised by Sin (New York NY: Macmillan 1967/Berkeley CA: University of California Press 1971), Kap. 1. 12 Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman (Berlin: Junker und Dünnhaupt 1932), 12. 13 Gerhard Kaiser, Klopstock, 190 f. Vgl. Klaus Weimar, »Teologische Metrik«, Hölderlin Jahrbuch 16 (1969/70), 142–157: 146. 14 Georg Nikolaus Knauer, Die Aeneis und Homer (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1964), Kap. V: 345 f. und 353 f. Vgl. Vinzenz Buchheit, »Vergilische Geschichtsdeutung«, Grazer Beiträge 1 (1973), 23–50: 27 f. Erster Hauptteil 51 typologischen Bezug der beiden Testamente entautomatisiert die dogmatische Aus- münzung der biblischen Allegorese. Indem Milton die profane epische Variante zur biblischen Typologie an der Bibel selbst wiederholt, erweitert und erneuert er das typologische Schema der allegorischen Lektüre auf der Folie der profanen Traditi- on. Der allegorische Horizont der Lektüre wird zum mythischen Analogon verall- gemeinert. Die Bedeutung dieses – wenn man so will – Säkularisierungsschrittes in der Entwicklung der allegorischen Verfahren ist kaum zu überschätzen. Für Blooms Map of Misreading wird Milton zum unüberbotenen Paradigma einer modernen Intertextualität, in der das typologische Verhältnis von fgura und implementum erst seine literarische Qualität gewinnt; Lewis überbietend spricht Bloom vom ›tertiären Epos‹, das Paradise Lost sei.15 Die mythische Synchronie, in die sub specie des alles entscheidenden Falles die Diachronie der Tradition projeziert wird, ermöglicht jene exemplarische Verlebendigung des episch Erzählten, die den Erfolg wie auch den Skandal provoziert haben. Erfolg wie Skandal des ›englischen‹ Milton samt seiner satanischen Rhetorik setzen eine neue Inanspruchnahme des Lesers voraus, die in der literarischen Kri- tik unterschiedliche Lager geschafen hat. »Te cosmic story – the ultimate plot in which all other stories are episodes – is set before us. We are invited, for the time being, to look at it from outside« behauptet Lewis, um einzuräumen: »And that is not, in itself, a religious exercise. When we remember that we also have our places in this plot, that we also at any given moment, are moving either towards the Messianic or towards the Satanic position, then we are entering the world of religion.«16 Dies ist die eine Seite, auf der Klopstocks Messias als konsequente Fortsetzung des Te- mas Religion und Dichtung erscheint. Die andere Seite ist die Attraktivität Satans, die, indem sie den Fall Adams und Evas plausibel macht, den Leser seiner eigenen Gefallenheit innewerden läßt: »surprised by sin«. Die Rolle des derart ertappten Lesers ist die des ›impliziten Sünders‹, wobei freilich wichtig ist, daß dieser Leser als Sünder liest und als Sünder im Akt des Lesens der Erlösung näher kommt.17 Es ist nicht ohne Hintersinn, daß der Akt des Lesens als kompensatorischer Heilsweg der puritanischen Ethik seine moderne Karriere beginnt und der alten Bedeutung der Kompensation ihre neue Ersatzbedeutung verschaf.18 Daß der implizite Leser seit dem Verlornen Paradies paradigmatisch der sündig ertappte Leser ist, hat zur stillen Voraussetzung einen ›archilecteur‹, wie ihn seither die Literaturwissenschaf als methodisches Phantom kennt: »the presence of an extra (inhuman) reader: that which is written for man is always and necessarily read also by God.«19 Der mit-im- plizierte göttliche Zuhörer aber, auf den Nuttall mit Recht aufmerksam macht, bringt

15 Harold Bloom, A Map of Misreading (New York NY: Oxford University Press 1975), Kap. 7: 125 f. 16 C. S. Lewis, A Preface to Paradise Lost, 193. Vgl. alternativ William Empson, Milton’s God (London: Chatto and Windus 1961), Kap. 1. 17 Wolfgang Iser, »Bunyans Pilgrim’s Progress: Die kalvinistische Heilsgewißheit und die Form des Romans« (1960), Der implizite Leser (München: Fink 1972), 13–56: 18 f. 18 Odo Marquard, »Felix culpa? Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3«, Poetik und Hermeneutik IX (1981), 53–71: 56. 19 Michael Rifaterre, »La description des structures poétiques« (1966), Essais de stylistique structurale (Paris: Flammarion 1971), 307–364: 327. 52 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Milton in die Verlegenheit: »If God is listening Milton is in trouble.«20 Denn Gottes Argumente sind zwangsläufg Miltons Fiktion, sei es auch zum besseren Ende der Menschen. Satans Einreden hingegen sind Produkte der gemeinsamen Gefallenheit, dergegenüber Gott notwendig ›unfair‹ sich verhält. Kein Wunder also, daß Satans Rhetorik angesichts der Hypostasierung einer solchen Instanz, die sich als Dogma zum Mythos verhält, zum romantischen Urbild dessen taugt, was Bloom Anxiety of Inguence getauf hat.21 Den »höchsten Gegenstand«, den Milton zu Klopstocks Glück übriggelassen hatte: »der sündigen Menschen Erlösung«, wie er im ersten Vers des Messias ge- nannt wird, hat Milton nicht ganz und gar ausgelassen. In Paradise Regained wird die Erlösung vorverlegt auf die in der Versuchung auf dem Berge siegreich beendete Auseinandersetzung mit dem Satan: »Te action of Paradise Regained begins with the baptism, an epiphany which Satan sees but does not understand (Te Father recognizes Jesus as the son at the baptism), and ends with an epiphany to Satan alone, the nature of which he can hardly fail to understand (Satan recognizes him on the pinnacle in a diferent, yet closely related, sense).«22 Die Passion selbst ist Milton nurmehr notwendige Konsequenz demonstrativer Art: sie bringt der Menschheit vor Augen, was in der Auseinandersetzung mit Satan schon entschieden worden war. Diese Vorverlegung der Erlösung wie auch Klopstocks Teil, das verbliebene Ende zu übernehmen, ist kennzeichnend für eine Grundverlegenheit des derart alternativ zuende gebrachten Mythos. Es handelt sich immer noch und nun zum literarisch letzten Mal um die Beantwortung der Frage, die nach Blumenberg den Grundmythos des Mittelalters hervorgebracht hat:

Cur deus homo ist der Titel des für die Grundeinstellung der ganzen mittelalterlichen Scholastik paradigmatischen Werkes des Anselm von Canterbury. Man sollte vermuten, diese Frage wäre in dem Jahrtausend seit den Heilsdaten der christlichen Geschichte vielfach gestellt und beantwortet gewesen. Erstaunlicherweise ist das nicht so. Ein neuer Typ der systematischen Problementwicklung kündigt sich damit an. Anselm, der Erfinder des berühmtesten und philosophisch schlechthin grenzwertigen der Gottes- beweise, läßt erkennen, daß er seine theologische Kernfrage nur beantworten kann, wenn sich auch die nach dem Grund der Erschaffung des Menschen beantworten ließ. Nur damit war das göttliche Interesse an dieser Kreatur abzuleiten. Es besteht kurz gesagt darin, daß die im göttlichen Plan vorgesehene Zahl der seinen ewigen Jubelchor bildenden Engel nach dem Sturz des Luzifer und seiner Gefolgschaft wieder auf den sta- tus quo ante zu bringen war und dies durch Aufrücken der in Schuldlosigkeit bewährten Menschen geschehen sollte.23

Ich lasse das in dieser Länge zunächst überschüssige Zitat nicht zuletzt deshalb ste- hen, weil sein Verfasser in ihm ironisch alle jene Wendungen wiederholt, die für das

20 Anthony D. Nuttall, Overheard by God (London: Metuen 1980), ix und 110. 21 Harold Bloom, Te Anxiety of Inguence (New York NY: Oxford University Press 1973), 11. 22 Northrop Frye, Te Return of Eden: Five Essays on Milton’s Epics (Toronto: University of Toronto Press 1965), 143. 23 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 276, dann 278 f. und 281. Erster Hauptteil 53

Ende des referierten Mythos von Milton bis Mark Twain charakteristisch sind. Was Milton – viel zitiert – als »some graver subject« bei aller manichäisch-mythischen Anlage seines ›plot‹ interessiert und die mythische Auseinanderlegung erst rechtfer- tigt, ist die erneut zu behauptende und damit in ihrer Fraglichkeit bestätigte göttliche Autarkie: »An dem Traktat Anselms schält sich ein Grenzwert der dogmatischen Disziplin heraus, der implizite zu Lasten der Seinsgrundfrage geht«, erläutert Blu- menberg: Gott hätte seine Identität als Normerfüllung seiner Attribute nur einhalten können, wenn er auf die Schöpfung ganz verzichtet hätte. Anders ausgedrückt: Was zu seiner Autarkie hinzutritt, wird eo ipso zum Mythos.« Es sind quasi dogmatische Restriktionen, die Milton den Mythos vom Verlornen Paradies vorzeitig zu einem Ende bringen lassen. »Seither«, schreibt Blumenberg mit Bezug auf Anselm, »konnte man wissen, daß es keine erfolgreiche, keine erträgliche Entmythisierung des Chris- tentums geben würde.« Miltons Wiedergewinnung des Paradieses läßt der Erlösung selbst die Rolle mythischer Überschüssigkeit, die Klopstocks Problem und Möglich- keit wird. Die Beoachtung, die Jauß an der mittelalterlichen Allegorese zum Tema »Remythisierung« gemacht hat: »daß man Mythen nicht ungestraf in Bewegung setzen und wieder arretieren konnte«, hat hier die späte Pointe, daß der von Milton arretierte Grundmythos den ›höchsten Gegenstand‹ aus seiner dogmatischen Fest- geschriebenheit befreit, ohne daß er anders als dogmatisch fortzuschreiben wäre.24 Die allgemeinere Hypothese, die Jauß von Weinrich übernimmt: »in der Allegorie ist der Mythos zum Stillstand gebracht«, instrumentalisiert Benjamins Tese vom ›dialektischen Bild‹: einer ›Dialektik im Stillstand‹.25 Als dialektisches Bild – so ver- kürze ich mutwillig – weist der allegorisch stillgestellte Mythos über sich hinaus. Das hat seine ideologiegeschichtliche Seite in dogmatischen Interessen und interes- segeleiteten exemplarischen Anwendungen. Es hat aber auch seine ästhetische Seite, deren kritisches Potential mit dem Begrif der Allegorie steht und fällt, genauer mit der Frage, wie die allegorische Lektüre mit der exemplarischen Anwendung oder ihrer satirischen Desavouierung verbunden sei. Daß die allegorische Lektüre nicht mehr zwangsläufg exemplarische Lektüre ist, zeigt ihre satirische Perversion, ihre parodistische Aufebung, endgültig aber das, was ich im Blick auf Blumenberg ihre mythische ›Terminologisierung‹ nennen möchte.26 Terminologisierung cha- rakterisiert die »Übergänge von der Metapher zum Begrif« auf dem sprichwörtlich gewordenen Weg vom Mythos zum Logos. Ihr ästhetisch einschlägiges Paradigma ist die ›Wahrscheinlichkeit‹. Die mythische Terminologisierung der allegorischen Lektüre kulminiert in der Wahrscheinlichkeit des von Milton und Klopstock zu- ende gebrachten Mythos. Als psychologische Wahrscheinlichkeit plausibilisiert sie

24 Hans Robert Jauß, »Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos«, Terror und Spiel (Poe- tik und Hermeneutik IV), ed. Manfred Fuhrmann (München: Fink 1971), 187–209: 194 und 189 (dort in Antwort auf Weinrich 611); dann in Alterität und Modernität der mittel- alterlichen Literatur (München: Fink 1977), 285–307: 285–307: 292 und 287. 25 Vgl. das Referat nach dem (derzeit) unveröfentlichten Passagen-Werk bei Rolf Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins (Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1973), 152 f. sowie die Konsequenzen bei Teodor W. Adorno, Ästhetische Teorie (Frank- furt a. M.: Suhrkamp 1970, 21972), 130 f. 26 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (Bonn: Bouvier 1960), Kap. VIII: 88. 54 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik die von Fish beschriebene exemplarische Wirkung von Paradise Lost, die in ihrer dogmatischen Intention durch die von Northrop Frye beschriebene typologische Erfüllung in Paradise Regained abgesichert ist. Die Absicherung ihrerseits macht auf Kontrollprobleme der Lektüre aufmerksam, wie die augenscheinliche Anfälligkeit der sündig ertappten Menschheit zustandekommt. Das mythische Analogon der im Sündenfall identischen Leser verlangt anstelle der Nachfolge Christi qua Exempel die Nachfolge Adams und Evas qua Identifkation: »We leave the role of spectator to become a participant in the action of Paradise Lost«, resumiert Robert Crosman: »Te eighteenth-century critic Jonathan Richardson has said that at the end of Pa- radise Lost we stand on even ground with Adam, unable to look down upon him as our inferior either in knowledge or in virtue. Te remark, though just, does not go far enough. In Book XII we become Adam and supply, from our own imagination and memory, information about his inner life that the poem itself studiously omits.«27 Die allegorische Lektüre wird durch eine ›teilnehmende Lektüre‹ umbesetzt: »Te story, in other words, is still sacred myth«, formulieren Scholes und Kellog das Di- lemma: »But it is not allegorical; Milton’s Adam and Eve are the representation of a human couple, a whole man and a whole woman.«28 Diese Umbesetzung der allegorischen Lektüre nach einer imaginären Wahr- scheinlichkeit impliziert einen Strukturwandel der Einstellung, dessen rhetorischer Nenner (terminus) der der Metapher (translatio) ist.29 Sofern die Allegorie selbst als fortgesetzte Metapher (metaphorá continua) das rhetorische Modell (Paradigma) für die Struktur der Übertragung liefert, bedeutet die Umbesetzung der Allegorie nichts weniger als erneute Übertragung, nämlich eine weitere Ausdiferenzierung des tra- ditionellen Modells der Allegorie. Ihr Resultat ist seiner kompensatorischen Funk- tion zufolge das erwähnte mythische Analogon. Als Ausdiferenzierung des rheto- rischen Modells der Allegorie trägt dies mythische Analogon weiterhin den Namen der Allegorie, was nicht ohne Probleme ist. Vico etwa beschreibt die Mythen selbst als ›univoke Allegorien‹.30 Ihre ›immanente Bedeutung‹ (signifcazione univoca) charakterisiert die »phantasiegeschafenen Allgemeinbegrife«, wie Ferdinand Fell- mann gezeigt hat, als welche die Mythen keine metaphorischen Wahrheiten liefern, die durch Analogien zu erklären wären, sondern sinnliche Wahrscheinlichkeiten, wie sie das judicium sensitivum Baumgartens meint.31 Die Allegorese ist demgegen- über Epiphänomen und sekundäre Rationalisierung. Das mythische Analogon, das Miltons Paradise Lost schaf, fngiert vom Standpunkt solcher sekundären Vermit-

27 Robert Crosman, Reading Paradise Lost (Bloomington IA: Indiana University Press 1980), 230. 28 Robert Scholes/Robert Kellog, Te Nature of Narrative (New York NY: Oxford University Press 1966), 148 f. 29 Hans Blumenberg, »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik« (1971), Wirklichkeiten in denen wir leben (Stuttgart: Reclam 1981), 104–136: 129. 30 Giambattista Vico, La scienza nuova (1744), ed. Fausto Nicolini (Bari: Laterza 1974), 190 (§ 403); in der Übersetzung von Erich Auerbach (1924), Die neue Wissenschaf über die gemeinschafliche Natur der Völker (Hamburg: Rowohlt 1966), 78 (dort »immanente Be- deutung« für »signifcazione univoca«). 31 Ferdinand Fellmann, Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte (Freiburg/Brsg.: Alber 1976), 39 f. Erster Hauptteil 55 telung, rekonstruiert in der Perspektive menschlicher Gefallenheit den Mythos des Falls als univoke Allegorie. Rhetorisch heißt die univoke Allegorie totale Allegorie (tota allegoria) und gilt im Unterschied zur gemischten ofenen Allegorie (permixta apertis) als poetisches Mittel. In Vicos Rekonstruktion der Rhetorik wird dieses Mit- tel historisch: mythisch. Seine rhetorische Charakteristik, nach Lausberg: daß in der vollkommenen Allegorie »keine lexikalische Spur des Ernstgedankens zu fnden ist«, kennzeichnet den ursprünglichen Literalsinn der Mythen und bestimmt ihre durch- gehend absolute Metaphorik als etymologisch.32 Miltons mythischer ›Realismus‹, seine pseudoplatonische »confusion of spirit and matter«, wie Dr. Johnsons Ver- dikt lautete, ist derart unmetaphorisch literarischer Natur.33 Daß sich bei Milton, wie übrigens bei Klopstock auch, keine Metaphern ausmachen lassen, heißt deshalb nicht, es handle sich um keine Allegorie, sondern nur um keine Allegorie, die meta- phorisch und per analogiam funktionierte. Da es sich aber bei Milton wie Klopstock nicht um den Mythos selbst, sondern um seine Fiktion als Bedingung der Möglich- keit seiner Wiederaufnahme und seines Zuendebringens handelt: sein mythisches Analogon also, ist es mit einer solchen Charakteristik ex negativo nicht getan. Allerdings hat die Beschreibung ex negativo ihre rhetorische Tradition und ihren eigenen Terminus, der von Quintilian als dritte Variante des allgemeinen Begrifs der Allegorie neben der totalen Allegorie und der ofenen Allegorie wie folgt ein- geführt wird:

allegoria, quam inversionem interpretantur, aut aliud verbis aliud sensu ostendit aut etiam interim contrarium (8.6.44), um dann wie folgt benannt zu werden: in eo vero genere, quo contraria ostenduntur, ironia est; illusionem vocant (8.6.54).

E contrario bleibt Ironie eine Allegorie, das mythische Analogon ein Mythos. So- fern freilich die mythische Geschlossenheit der univoken Allegorie im mythischen Analogon nur kompensatorischer Art und Illusion ist, trägt die analog zum Mythos geschafene epische Fiktion per se ironische Züge. Lugowskis Satz: »die Zersetzung des mythischen Analogons ist selbst das eigentliche Werden des Einzelmenschen, das sich in den beiden Linien der Absonderung aus der Totalität und der Verzeit- lichung bewegt«, dient der substantialistischen Emphase des Mythischen und geht aufosten seiner funktionalen Bestimmung als Analogon. Unter dem Primat der Darstellung heißt das: »wo immer der Einzelne beginnt, sich zu zeigen, da erscheint er als Zersetzungsprodukt« (meine Hervorhebung).34 In der rhetorischen Beschrei- bung zeigt sich die Zersetzung des Mythischen im Analogon als Verunsicherung der Zuschreibung. »Certain large divisions between tropes we have noted; about most of them there is some uncertainty,« gesteht Tuve, »so that one must frequently say of a

32 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik I–II (München: Hueber 1960), 442 (§ 897, im folgenden § 896). 33 Vgl. C. S. Lewis, A Preface to Paradise Lost, 108 f. und A. D. Nuttall, Overheard by God, 91 f. 34 Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, 204. 56 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik given image ›probably ironia‹, or, ›as I read it, allegoria‹.«35 Fryes analytische ›Ana- tomy‹, ursprünglich als Teorie der Allegorie gedacht, hat den Prozeß der Moderne als Aufösung der Allegorie durch Ironie beschrieben. Ich greife wieder zu einem längeren Zitat: »Within the boundaries of literature we fnd a kind of sliding scale, ranging from the most explicitly allegorical, consistent with being literature at all, at one extreme, to the most elusive, anti-explicit and anti-allegorical at the other. First we meet the continuous allegories, like Te Pilgrim’s Progress and Te Fairie Queene, and then the free-style allegories ... Next come the poetic structures with a large and insistent doctrinal interest, in which the internal fctions are exempla, like the epics of Milton. Ten we have in the exact center, works in which the structure of imagery, however suggestive, has an implicit relation only to events and ideas, and which includes the bulk of Shakespeare. Below this, poetic imagery begins to recede from example and precept and become increasingly ironic and paradoxical. Here the modern critic begins to feel more at home...«36 Fryes Skizze hat den Vor- teil, die moderne kritische Vorliebe des New Criticism für Metapher und Ironie zu ergänzen und das »Strukturprinzip« der Ironie, das die semantischen Ambiguitäten und Paradoxien zu fassen sucht, von der Allegorie, die auf der Metapher beruht, zu unterscheiden. Brooks und seinen Nachfolger in Yale, Paul de Man, auf einen Nenner bringend, kann man sagen, daß die ehemals allegorische Lektüre in der iro- nischen ›Textur‹ moderner Texte ihre Umbesetzung erfährt.37 Semantische ›Unbestimmtheit‹ als Wirkungsbedingung der Literatur in der Moderne von Richards bis Booth und Iser hat in der Ironie ihren hergebrachten Terminus.38 Ihre Vorgeschichte ist in der Aufwertung der Ironie spätestens seit Vossius zu suchen, auf deren Diskussionsstand sich Vico bezieht. Was Milton und seine deutsche Rezeption betrif, ist wohl Bodmers »Abhandlung« charakteristisch. In einem Kapitel »Von der Anbringung der Mythologie« gesteht er den »Poeten ein natürliches Recht« zu, »sich dieser mythologischen Fabeln zu ihrem Gebrauche zu bemächtigen, weil es Früchte eben der Einbildungs-Kraf und des Witzes sind, welche sie anbauen und ausüben.« Als historisch bedingte »Hirngespinste«, wie er schreibt, allgemeiner als »die Geschichte einer derer Welten, welche die Poeten er- funden oder doch in Besitz genommen«, haben sie exemplarischen Charakter.39 Sie stehen für das, was bei seinem Kollegen Breitinger »Nachahmung der Natur in dem ihr Möglichen« heißt.40 »Als Produkt eines ›Wahns‹ im weitesten Sinne, als aspekt-

35 Rosemond Tuve, Elizabethan and Metaphysical Imagery (Chicago IL: Chicago University Press 1947), 253. 36 Northrop Frye, Anatomy of Criticism (Princeton NJ: Princeton University Press 1957), 91. 37 Vgl. Vf. »Einleitung in die Teorie der Metapher«, Teorie der Metapher (Wege der For- schung 389), ed. Anselm Haverkamp (Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1982), 1–27: 10 und 26. 38 Vgl. die Polemik über »Criticism, Indeterminacy, Irony« bei Geofrey H. Hartman, Criti- cism in the Wilderness (New Haven CT: Yale University Press 1980), 265–283: 278 f. 39 Johann Jacob Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. In einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohrnen Paradiese (Zürich: Orell 1740), ed. Wolfgang Bender (Stuttgart: Metzler 1966), 202. 40 Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst, Worinnen die Poetische Mahlerey in Ab- sicht auf die Erfndung im Grunde Untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Erster Hauptteil 57 gebundene Wirklichkeit also wird das Wunderbare glaubwürdig«, lautet das ein- schlägige Referat von Preisendanz: »seine Wahrscheinlichkeit hängt davon ab, daß es sich als subjektive Erfahrung manifestiert.«41 Von diesem modernen Erfahrungs- begrif rückschließend, kann Bodmer Milton erlauben, »die mythologischen Fabeln selbst als Wahrheiten vorzutragen, die geglaubet werden; nemlich in allen denen Fäl- len, da dramatische Personen von der mythologischen Religion eingeführet werden, für welche der Poet das Wort nimmt.« Das christliche Epos zitiert den heidnischen Mythos nach der Art dramatischer Personen und nicht ohne dramatische Ironie. Bodmer selbst zitiert den »Fall Mulcibers vom Himmel«, vielzitiertes Beispiel bis heute für Miltons mythische Varianten zum biblischen Sündenfall: »So melden sie, sagt Milton, aber sie irren. Mulcibers Fall geschah lange zuvor mit den rebellischen Engeln.«42 Das mythische Zitat hat den Zweck, so Bodmers Fazit, »das Wunderbare in dem Gedichte Miltons wahrscheinlicher zu machen.« Sofern das zur Folge hat, »die Beschreibungen der alten Poeten zu übertrefen«, ist die ironische Brechung unausweichlich: »ich nehme in denen Vorstellungen, die Milton aus den heidnischen Poeten nimmt, allemahl eine heimliche Ironie wahr, die sie nur zur Verkleinerung auführet.« Die typologische Steigerung im Verhältnis von sekundärer und primärer Epik (Vergils zu Homer), die in der mittelalterlichen Bibelallegorese ihre heilsgeschicht- liche Entsprechung und Entfaltung fndet, wird durch die ironische Verkleinerung bestätigt, eine »heimliche Ironie« freilich, deren rhetorische Beschreibung die ange- deuteten Tücken hat. Bodmer spricht zu ihrer Charakteristik zu Recht von »Miltons Allusionen auf die Mythologie« und macht gegen Voltaires Einwände geltend: »Der französische Criticus hätte ohne Zweifel einen weit stärkeren Eindruck, u. mehr Ver- gnügen von Miltons Vorstellungen empfangen, wenn er eine mehrere Belesenheit in den alten Poeten gehabt hätte ...« Als Beispiel führt er ein Vergil-Zitat Miltons an von der Vermählung Jupiters und der Juno: »Nur ungelehrte sehen hier nicht, daß der englische Poet so wohl als der lateinische durch Jupiter die Luf und durch Juno die Erden verstanden hat; und daß diese Vermählung und Schwängerung eine deutliche Metapher in sich enthält.« Die Deutlichkeit der Metapher – darin liegt die Heimlich- keit der damit verbundenen Ironie – ist eine eingeschränkte:

Wenn denn ein Fehler hierinnen lieget, so entstehet solcher von dem Gebrauche dieser beyder Nahmen, die hier für Luft und Erde gesetzet werden, insoweit solche andere Begriffe erwecken als diese. Alleine wir können hier nichts anders dadurch verstehen, denn wenn der homerische Jupiter auf dem Berg Ida die Juno seine Schwöster und Ge- mahlin küsset, so entstehet aus dieser Paarung kein saamenschwangerer Regen, der die Frühlings-Blumen erzeuge. Bey den heidnischen Poeten ist die Metonymie nichts

Alten und Neuern erläutert wird (Zürich: Orell 1740), ed. Wolfgang Bender (Stuttgart: Metzler 1966) 57. 41 Wolfgang Preisendanz, »Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands«, Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik I), ed. Hans Robert Jauß (München: Eidos/Fink 1964), 72–95: 78. 42 Johann Jacob Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren, 210–211 und 213; im folgenden Abschnitt 201 und 213–215. Vgl. J. J. Breitinger, Critische Dichtkunst, I: 345. 58 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

ungewöhnliches, nach welcher sie unter den Nahmen ihrer Götter die Eigenschaften oder Würkungen derselben verstanden haben ...

Die metaphorische Substitution, in der Jupiter und Juno für Luf und Erde stehen, beruht auf metonymischer Arbitrarität, entschärf Bodmer das mythische Zitat Miltons: In der Allusion des Mythos wird dessen allegorische Struktur ironisch de- konstruiert, die in ihm überlieferte metaphorische Ordnung der Dinge auf die ihm zugrundeliegende metonymische Willkür zurückgeführt. Die Naturwüchsigkeit der metonymischen Verhältnisse im Mythos sei die von Etymologien, charakterisiert Vico die »immanente Bedeutung« der Mythen: »Achilles ist eine Idee der Tapferkeit, die allen Starken gemeinsam ist; ebenso Odysseus eine allen Weisen gemeinsame Idee der Klugheit. Es müssen also solche Allegorien die Etymologien der poetischen Sprechweisen sein, so daß sie uns ihre Ursprünge stets aus den Dingen selbst geben, während die der vulgären Sprache meist aus der Analogie kommen.«43 Es ist die in der Allegorese stattfndende Vulgarisierung der Mythen, die an der Stelle der Meto- nymien Metaphern liest, und es ist diese allegorische Interpretation, die als Modell jeder poetischen Interpretation Metaphorik über Metonymik setzt: »Similarity su- perimposed on contiguity imparts to poetry its throughgoing symbolic, multiplex, polysemantic essence«, lautet die bekannte Formel Jakobsons für die Poetik.44 Die Entdeckung des ›Witzes‹ als Quelle der Erfndung und der Erkenntnis von ›Ähn- lichkeiten‹ privilegiert die Metapher als »das echte Hauptmittel der Poesie«, wobei die Schweizer nicht von ungefähr die Hintergrundmetaphorik der ›Malerei‹ für die Anschauung bevorzugen.45 Jakobson seinerseits endet mit einem Goethe-Zitat: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.« Als vergangener ist der zitierte Mythos nurmehr ein Gleichnis, als Gleichnis braucht er nurmehr wahrscheinlich zu sein. Ihre poetische, wie Jakobson sagt: ihrem Wesen nach symbolische Wahrheit hat diese Wahrscheinlichkeit nur im Nachhinein, das besseren Wissens, wie Bodmer geltend macht, als deutliche Metapher erkennen läßt, was der immanenten Logik des Mythos zufolge auf Metonymien gebaut ist. Wie die strukturalistische Diskussion gezeigt hat und schon das 18. Jahrhun- dert wußte, ist die Unterscheidung von Metapher und Metonymie höchst efektiv: »Man kann alles zur metaphora und metonymia bringen: und also vervielfältiget man die tropos ohne Noth«, liest man in der zeitgenössischen Schulrhetorik.46 Wie aber Jakobsons Goethe-Zitat zeigt, ist es mit der puren linguistischen ›Projektion‹ in die Synchronie der Bedeutungsmodifkationen nicht getan. In der Synchronie des mythischen Analogons herrscht ein Spiel intertextueller Allusionen, das durch

43 Giambattista Vico, La scienza nuova, 190 (§ 403); in der Übersetzung von Auerbach, Die neue Wissenschaf, 78. 44 Roman Jakobson, »Linguistics and Poetics«, Closing Statement zu Style in Language, ed. Tomas A. Sebeok (Cambridge MA: MIT Press 1960), 350–377: 370. 45 Vgl. Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhun- derts bis zur Kritik der Urteilskraf (Halle: Niemeyer 1923/Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1957), 144 f. 46 Friedrich Andreas Hallbauer, Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie (Jena: Goll- witzer 1725, 1728, 1736), 476. Vgl. tendenziell Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (Leipzig: Breitkopf 1730, 17, 1742, 1751), 263. Erster Hauptteil 59 die Arbitrarität metonymischer Zusammenhänge nicht hinreichend beschrieben ist. Nun argumentiert Bodmer apologetisch und meint mit der Verkleinerung der »heid- nischen Ideen« die Steigerung des christlichen Epos, mit der »heimlichen Ironie« also die heimliche Allegorie, die als gattungsbestimmendes Moment des mythischen Analogon wirksam ist. Dies freilich nicht mehr durch die typologische Konstruktion einer per analogiam allgegenwärtigen Metaphorik. Ihre heimliche Wirkung beruht namentlich auf der Metonymie, genauer aber jener Art, »nach welcher sie (die heid- nischen Poeten) unter den Nahmen ihrer Götter die Eigenschafen oder Würkungen derselben verstanden haben«. Das läßt sich rhetorisch präzisieren, »particularly as the scheme of transumption or metaleptic reversal«, das Bloom als Errungenschaf Miltons wiedererkennt: »Poems triumph by triumphing over the limitations of their own metaphors, and Post-Miltonic poems tend to know this in their patterns, by replacing metaphors by schemes of transumption, or versions of the ancient trope of metalepsis.«47 Als »vom Grund zur Folge gerichtete Beziehung« ist in der Metalepsis (oder transumptio) derjenige Tropus beschrieben, in dem das fgurale Verhältnis der typologischen Konstruktion wie die Diachronie in der Synchronie aufgehoben er- scheint. Bodmers Rede von der »heimlichen Ironie« aufgreifend, läßt sich vermuten, daß die im mythischen Analogon Miltons aufgehobene Allegorie latent ironische Züge gewinnt, sofern die qua Analogon fngierte univoke Allegorie des Mythos il- lusionär ist und imaginären Charakter hat. Andererseits läßt sich sagen, daß für die von Bloom erstellte literarische Reihe bis zur englischen Romantik die Metalepsis die Latenz des allegorischen Schemas belegt, das erst in dieser Latenz von dogmatischen und exemplarischen Auslegungsinteressen befreit wird und ästhetische Relevanz gewinnt. Der latent allegorische Charakter der Metalepsis läßt sich kaum schöner als durch ihre typologische Bestimmung bei Beda belegen:

metalepsis est dictio gradatim pergens ad id quod ostendit, et ab eo quod praecedit id quod sequitur insinuans.48

Ironische Züge und vollends ästhetische Relevanz gewinnt sie, sobald diese Latenz nicht mehr durch typologische Konstruktion vorentschieden und abgesichert ist. Ihr heimlicher Skopus – allegorisch oder ironisch – dient nach Blooms Diagnose der Absicht Miltons und seines Epos »to make of its belatedness an earliness«. Im Nach- hinein besseren Wissens kann das christliche Epos wahrscheinlicher sein als das im vorchristlichen Mythos befangene antike Epos, das mythische Analogon ursprüng- licher als der Mythos selbst. Entscheidend ist die Heimlichkeit des tropisch impli- zierten Schemas: der in der Metalepse implizierten Allegorie oder Ironie. Wie die Deutlichkeit der Metaphern im besonderen und der Tropen im allgemeinen hat die- se Heimlichkeit der fguralen Intention terminologischen Charakter, den nicht von ungefähr Baumgartens Ästhetik hervorkehrt: Omnis tropus, heißt es da, est fgura,

47 Harold Bloom, A Map of Misreading, 100; vgl. »Te Breaking of Form«, Deconstruction and Criticism (New York NY: Seabury 1979), 1–37: 12. 48 Beda Venerabilis, »De schematibus et tropis«, Rhetores latini minores, ed. Carolus Halm (Leipzig: Teubner 1863), 607–620: 612. 60 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik sed cryptica (§ 784).49 Das ist nicht nur oder so sehr eine Wiederaufnahme Quintili- ans, als eine Ankündigung der neuen Abgrenzungslösung, die Genette bei Fontanier zuerst gefunden hat.50 Entscheidend ist der Vorrang der ›fguralen Intention‹, wie ich versuchsweise sage, die den hermeneutischen Skopus der Texte bestimmt und ihre ästhetische Relevanz wie ihre hermeneutische Pertinenz ausmacht.51 Wie immer man nun die fgurale Intention des mythischen Analogons Milton- scher Prägung einschätzen mag, ist die Metalepsis ein symptomatischer Anhalt für die Reduktionsstufen der Allegorie, wie sie seit Vossius diskutiert werden und Vossius zufolge auch nicht mit der seit Ramus fortschreitenden logischen Redukti- on der Figurenlehre konform gehen.52 Die seit Burke und White betriebene Uni- versalisierung der auf Vico datierten, aber seit Ramus bei Vossius und anderen bis hin zu Gottsched und Baumgarten behandelten »Four Master Tropes« Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie übersieht diesen Diskussionszusammenhang, vor dem Vicos Konzept erst Sinn macht.53 Nach der Destruktion der Metapher jedenfalls gewinnt die Metalepsis nicht ohne Grund an Boden, zumal sie analog der typologischen Konstruktion der Allegorie zweistufg gebaut ist. Ganz allgemein durch die »Verwendung eines semantisch ungeeigneten Synonyms«, also durch Ab- weichung charakterisiert, fndet sich diese Zweistufgkeit bei Lausberg wie folgt be- schrieben: »Hierbei stellt das Auswechseln (immutatio) von Synonymen als solches die erste (normale) Stufe dar. Die zweite Stufe besteht in der (verfremdenden) über- schreitung der Kontextschranke«.54 Dies allgemeinste Modell einer Zweistufgkeit hat seine besondere Variante in der synekdochischen Reduktion der Metapher durch die Lütticher Rhetorik.55 Daß es sich allgemeiner noch als an der Metapher an der Metalepsis darstellen läßt, die sie bei Milton ablöst, hat zur historischen Pointe die typologische Reduktion der Allegorese, die sie vollendet.56 Zweistufgkeit ist das all- gemeinste Resultat, deren revolutionierendes Moment Lausberg auf den modernen

49 Alexander Gottlieb Baumgarten, Aestheticorum pars altera (Frankfurt/Oder: Kleyb 1758), 533 (§ 784). Vgl. Marie Luise Linn, »A. G. Baumgartens Aesthetica und die antike Rhe- torik« (1967), Rhetorik: Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland, ed. Helmut Schanze (Frankfurt a. M.: Athenäum 1974), 105–125: 123.70. 50 Gérard Genette, »La rhétorique des fgures«, Introduction a Pierre Fontanier, Les fgures du discours (1830), ed. Gérard Genette (Paris: Flammarion 1968, 1977), 5–17: 10; vgl. »La rhétorique restreinte« (1970), Figures III (Paris: Seuil 1972), 21–40: 23 f. 51 Jean Cohen, Structure du langage poétique (Paris: Flammarion 1966), 114 f. 52 Gerardi Ioannis Vossi Commentariorum rhetoricorum sive Oratoriarum institutionum Libri sex (Leyden: Maire 1606, 31630, 1646), Pars altera 192 f.; auszugsweise »Rhétorique de l’ironie«, tr. Catherine Magnien-Simonin, Poétique 9 (1978), 495–508: 505 f. 53 Kenneth Burke, »Four Master Tropes« (1941), A Grammar of Motives (Berkeley CA: Uni- versity of California Press 1945), 503–517, und Hayden White, Metahistory (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1973), 31 f. Vgl. Hans Kellner, »Te Infatable Trope as Narrative Teory: Structure or Allegory?«, Diacritics 11 (1981), 14–28, und Wallace Mar- tin, »Floating an Issue of Tropes«, Diacritics 12 (1982), 75–83. 54 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik II: 747 f. (zu § 571). 55 Jacques Dubois, F. Edeline, J. M. Klinkenberg, P. Minguet, F. Pire, H. Trinon, Rhétorique générale (Paris: Larousse 1970), 110 f. Tzvetan Todorov, »Synekdoques«, Communications 16 (1970), 26–35. 56 Vgl. meinen Rekonstruktionsversuch in Typik und Politik im Annolied: Zum Kongikt der Interpretationen im Mittelalter (Stuttgart: Metzler 1979), Teil I: 37 f. (§ 5). Erster Hauptteil 61

Nenner der ›Verfremdung‹ bringt. Im Falle Miltons führt diese metaleptische Ver- fremdung zur Zweideutigkeit dessen, was seit Empson und Hartman als ›double plot‹ bzw. ›counterplot‹ beschrieben worden ist, wobei im ersten Fall tendenziell ofene ›ambiguity‹, im zweiten Fall fortschreitende ›indeterminacy‹ das moderne Ergebnis ist.57 Es hängt von der Funktion dieser epischen Doppelstrukturen ab, in- wieweit die von Bloom qua Metalepsis beschriebene Intertextualität des mythischen Analogons Paradise Lost den Rahmen sekundärer Epik sprengt und sich der vollends tertären Epik von Finnegans Wake annähert. Hartman spricht antäßlich der schon zitierten Geschichte von Mulcibers Fall von einem »second plot, simultaneously ex- pressed with the frst, which may be called the counterplot. Its hidden presence is responsible for the contrapuntal efects of the inserted fable«; Empson zeigt »the vague suggestiveness of the double plot« an Miltons antikisierender Ausmalung des Paradieses, in der dieses noch die alten loci amoeni übertrefe: »A man who had gi- ven his life to the classics might easily have suspected it; it is to Milton that the pagan beauty of these gardens appealed more richly than the perfection of the garden of God«.58 Entscheidend für beide Beispiele ist die Horizontfunktion des einen ›plot‹ für den zweiten, der aus dem ersten seine Relevanz und seine Konsequenz ableitet. Zwar wird angesichts göttlicher Vorsehung die Diferenz der zitierten Traditionen gleichgültig, aber nicht zum Zweck eines kontemplativen Spiels der intertextuellen Erhellung, sondern zur exemplarischen Provokation eines tätigen Lebens. Von der vita contemplativa in die vita activa hinüberführend zählt zur Provokation dieses Lesens freilich auch der vorzügliche Reiz der paganen Idylle vor dem Ernst der pu- ritanischen Ethik.59 Was Klopstock anbelangt, wird man sich hüten wollen, von metaleptischer Ver- fremdung zu reden, wiewohl die Gegenläufgkeit der eingelegten Episoden auf der Hand liegt. Allerdings wird die rhetorische Diferenziertheit Klopstocks wie schon der Schweizer leicht unterschätzt und allenfalls von ›Bildlichkeit‹ und ihrem ›herz- rührenden‹ Nutzen gehandelt. Immerhin hat Karl Ludwig Schneider die »mächtige Hyperbolik der Bilder Klopstocks« hervorgehoben, von der er freilich feststellt, daß sie »aus dem Zusammenhang der herzrührenden Schreibart nicht hinaus (führt)«.60 Im entsprechenden Kapitel der Critischen Dichtkunst heißt es die »oratorischen und poetischen Figuren« seien »auch nichts anders als die natürliche Sprache dieser Af- fecten, die in unsrer Brust aufgewecket werden«, wobei die Hyperbole nach Longin »ihre Wahrscheinlichkeit in der Natur der erhitzten Leidenschaf« habe und deshalb schwer zu handhaben sei.61 Manfred Windfuhr, der »Pietistische Verinnerlichung

57 William Empson, Some Versions of Pastoral (London: Chatto and Windus 1935, 1966), Kap. II: 58, und Geofrey H. Hartman, »Milton’s Counterplot« (1958), Beyond Formalism (New Haven CT: Yale University Press 1970), 113–123: 120. 58 Geofrey H. Hartman, »Milton’s Counterplot«, 114; William Empson, Some Versions of Pastoral, 141 f. 59 Geofrey H. Hartman, »Milton’s Counterplot«, 123; William Empson, Some Versions of Pastoral, 155. 60 Karl Ludwig Schneider, Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert (Heidelberg: Winter 1960), Kap. V: 104, im folgenden 105. 61 Johann Jacon Breitinger, Fortsetzung der Critischen Dichtkunst (II), Abschn. VIII: 362 und 382. 62 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik und Bildtheorie der Schweizer« im selben Kapitel behandelt, weist auf die »psycho- logischen Bedingungen« hin, denen die Rhetorik als natürliches Organon der Af- fekte genügen müsse, und denen gegenüber die lange Diskussion über die Möglich- keit von Neubildungen in der Tat sehr sekundär ist.62 Bodmer äußert die bestimmte Hofnung:

Wer die Natur, den Lauf, die Zusammenstimmung und Vermischung der Affecte, die er vorstellen soll, kennet, und weiß, was vor Symptomata sie nach dem Grad ihrer Heftig- keit, und ihrem eigenen Schwung, mit sich führen, dem wird sein menschliches Hertz an Worten, Arten und Formen dieses auszudrücken keinen Abgang leiden lassen.63

Die Wahrscheinlichkeit der Figuren entspricht der Geschlossenheit der univoken Al- legorie bei Vico. Anders als die metonymische Minimalisierung der heilsgeschicht- lichen Anlage durch die Metalepsis, die das Epos Miltons als mythisches Analogon ermöglicht, überschreitet die hyperbolische Steigerung Klopstocks den mythischen Charakter eines solchen Analogons. Zwar ist dadurch nicht »die rationale Grund- struktur seiner Bilder« gestört, die der immanenten Logik der univoken Allegorie entspricht: »Die von ihm mit aufallender Vorliebe benutzten Bildtypen des Ver- gleichs und des Gleichnisses lassen in der Parallelisierung des Bildvorgangs durch den Realvorgang keinen Zweifel am Illusionscharakter des Bildes aufommen und zwingen stets zur Rückkehr auf die Ebene des ›eigentlichen‹ Sprechens«, faßt Schnei- der seine Beobachtungen zusammen: »Klopstocks Gleichnisse reißen zwar den Real­ vorgang mächtig in die Bewegung des herzrührenden Bildes hinein und verändern insofern die Gewichtsverhältnisse des statischen Gleichnisses, doch kommt es niemals zu einer Aufebung der Bewußtseinslage des doppelten Sprechens.« In der Statik der Gleichnisse wird die immanente Bedeutung des episch Erzählten gewahrt und die Wahrscheinlichkeit des mythischen Analogons als eines analog gebauten präsent gehalten.64 Hyperbolik steigert diese Wahrscheinlichkeit durch »momentane Evidenz«, die mit Blumenberg zu reden die »Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes«, der univoken Allegorie von der Teilnahme lesender Subjekte abhängig macht und so die Evidenz des Mythos zum Analogon der Lektüre erhebt. Das heißt genauer, daß die hyperbolisch provozierte Evidenz des Mythischen durch die Teil- nahme der Leser Intersubjektivität bildet: »Wirklichkeit als sich konstituierender Kontext ist ein der immer idealen Gesamtheit der Subjekte zugeordneter Grenzbe- grif, ein Bestätigungswert der in der Intersubjektivität sich vollziehenden Erfahrung und Weltbildung« – wobei Blumenberg nicht nur die »gleichsam ›epische‹ Struk- tur« des Wirklichkeitsbegrifs der Neuzeit betont, sondern diskussionsweise auch Bodmers und Breitingers ›Wunderbares‹ als dessen »genaues Korrelat« bezeichnet

62 Manfred Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker (Stuttgart: Metzler 1966), Teil III/4: 459. Vgl. Eric A. Blackall, Te Emergence of German as a Literary Language 1700– 1775 (Cambridge UK: Cambridge University Press 1959), Kap. IX–X. 63 Johann Jacob Bodmer, Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter (Zürich: Orell 1741), 312–313. 64 Johann Jacob Breitinger, Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Ge- brauche der Gleichnisse (Zürich: Orell 1740), ed. Manfred Windfuhr (Stuttgart: Metzler 1967), Abschn. X: 314 f. Erster Hauptteil 63 hat.65 Der Wirklichkeitsbegrif des wunderbar Wahrscheinlichen verlangt ein epi- sches Analogon, dessen mythische Qualität in der Konstituierung von Intersubjekti- vität liegt. Milton hatte ein solches Analogon durch metaleptische Verbreiterung des Mythischen geschafen und dabei den alten Mythos als Horizont vergangener Inter- subjektivität benutzt (Verlornes Paradies). Bei Klopstock liegen die Dinge anders. Er erreicht durch hyperbolische Übersteigerung, daß der mythische Horizont als ein vergangener überboten und eine neue Intersubjektivität als Verheißung (Messias) plausibel wird. Fungierte bei Milton der antike Mythos als gegenläufge Provokation eines christlichen Analogons, so garantiert bei Klopstock die hyperbolisch provo- zierte Teilnahme dieses Analogon als episch plausibilisierte Verheißung. Daß der Messias ein »Epos ohne Mythologie« sei, hat Kaiser durch die Behaup- tung gestützt, Klopstock sei »nicht mehr naiv genug, um Miltons Vermenschlichung der Geister einfach zu übernehmen. Seine Tendenz zur Erhabenheit ist nichts an- deres als der Versuch, die nach dem Gleichnis des Menschen gebildete christliche Mythologie früherer christlicher Epen zu ›entmenschlichen‹. Er will eine Bildspra- che schafen, die nicht aus der Ähnlichkeit der Geisterwelt mit der Menschenwelt, sondern aus der Unähnlichkeit beider Welten lebt. Der antike Mythos in der Dich- tung Homers ist geglaubte oder zumindest halbgeglaubte Göttersage. Der christliche Mythos Miltons ist Bildungs- und Kunstprodukt. Klopstock dagegen nimmt das in der Wurzel unmythische Denken des Christentums in seiner Dichtung ernst.«66 Der im folgenden von Kaiser entwickelte Unterschied ist der von naiver Anschaulich- keit und erhabener Abstraktion. Für wie naiv man auch immer die Anschaulichkeit Miltons halten mag, ist die Erhabenheit Klopstocks als ein das mythische Analogon miltonischer Prägung tendenziell überschreitendes Moment oder genauer als ein der Analogie des Mythos spottendes einer Überlegung wert. Dies Moment liegt freilich nicht in der bloßen Abstraktion. Versuchsweise hat Windfuhr den Gegen- satz von Vermenschlichung und Abstrahierung durch den von Versinnlichung und Beseelung ersetzt. Denn daß der Messias selbst nicht Liturgie, sondern ein allenfalls liturgisches Analogon ist, das ein liturgisches Geschehen kompensatorisch in der Lektüre repräsentiert, bestätigt die funktionale Analogie zum Mythos; daß aber diese Analogie im Messias nicht metaleptisch organisiert ist, sondern hyperbolisch funktioniert, ›zersetzt‹ die Analogie, mit Lugowski zu reden, und weist auf eine neue Leistung der kompensatorischen Funktion des Lesens, für die ›Beseelung‹ der angemessene zeitgenössische Ausdruck ist. Das Erhabene mit andern Worten, für dessen Funktion die Hyperbolik das symptomatische Schema liefert, radikalisiert die epische Analogie zum Mythos; wobei korrekterweise erwähnt werden muß, daß es sich bei Klopstock um ein anderes als das Erhabene handelt, für das Milton vor ihm paradigmatisch war – um ein hyperbolisch radikalisiertes.67 Sofern Miltons

65 Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegrif und Möglichkeit des Romans«, Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik I), ed. Hans Robert Jauß (München: Eidos/Fink 1964), 9–27: 12–13, sowie in der Diskussion der Vorlage von Wolfgang Preisendanz, »Auseinan- dersetzung mit dem Nachahmungsbegrif«, 200. 66 Gerhard Kaiser, Klopstock, 207. Vgl. den Einwand von Manfred Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit, 465.33. 67 Vgl. Samuel H. Monk, Te Sublime (New York: MLA 1935/Ann Arbor MI: University of Michigan Press 1960), 56 f. für Milton, und Karl Vietor, »Die Idee des Erhabenen in der 64 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Erhabenheit paradigmatisch war für die epische Gattung insgesamt, läßt sich aller- dings auch sagen, daß das hyperbolisch Erhabene Klopstocks die Gattungsgrenzen des Epos sprengt. Als Indiz, dem ich im folgenden größere Aufmerksamkeit widmen will, kann der Erfolg der eingelegten Episoden im Messias gelten, die aus dem epi- schen Zusammenhang in charakteristischer Weise herausfallen. In ihnen tritt ›Be- seelung‹ in den Vordergrund, wie sie an ihnen auch für das himmlische Personal erst plausibel wird. Schelling, die Reihe Vergil, Milton, Klopstock repetierend, liefert Kaiser die Tese, »daß der Stof, welchen Klopstock gewählt hat (...), kein epischer Stof sey«. Wenn überhaupt »das Leben und der Tod Christi episch behandelt wer- den könnte, so müßte es rein menschlich genommen und mit der größten Einfalt – fast idyllisch – behandelt werden«.68 Allenfalls »als absolute Entgegensetzung gegen das antike Epos« sei ein solches Unternehmen zu denken. Damit verkennt er die Funktion des Erhabenen, durch die im Messias in der Tat »das Unendliche im End- lichen repräsentiert« ist, wie Kaiser Schelling zitiert, allerdings in der umgekehrten fguralen Intention: als ein »angewandtes Unendliches«, wie die ›ideale Erhabenheit‹ Kants und Schillers auf die Füße stellt.69 Eine der immer wieder aus ihrem größeren Zusammenhang herausgelösten und von Klopstock zum Zweck des Vorlesens abgerundeten Episoden benutzt Mendels- sohn in seiner frühen Abhandlung »über das Erhabene und Naive«. Nachdem er zwei ›Gattungen‹ des Erhabenen unterschieden und deren erste, derzufolge »der vorzustellende Gegenstand an und für sich« Bewunderung verdient, vorgeführt hat, erläutert er die schwierigere zweite, »da die Bewunderung mehrenteils auf das Genie und die außerordentlichen Fähigkeiten des Künstlers zurück fällt«.70 Wie nach ihm Schiller in seiner Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« fällt Mendelssohn für diese zweite Art vornehmlich Klopstock ein: »Wie erhaben ist die folgende Beschreibung eines Sterbenden« und zitiert aus dem Messias:

— Dem Sterbenden brechen die Augen, und starren, Sehen nicht mehr. Ihm schwindet das Antlitz der Erd’ und des Himmels Tief in die Nacht. Er höret nicht mehr die Stimme des Menschen, Noch der Freundschaft zärtliche Klagen. Er selbst kann nicht reden, Und mit bebender Zunge den bangen Abschied kaum stammeln, Atmet tiefer herauf! Ein kalter ängstlicher Schweiß läuft Über sein Antlitz, das Herz schlägt langsam, dann steht’s, dann stirbt er.71

deutschen Literatur« (1937), Geist und Form (Bern: Francke 1952), 234–266: 248 f. für Klopstock. 68 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst (Stuttgart/Augsburg: Cotta 1859/Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1966), 300; vgl. 85. 69 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, ed. Norbert Miller (München: Hanser 1963), 106 (§ 27). 70 Moses Mendelssohn, »Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschafen« (1758), Gesammelte Schrifen (Jubiläumsausgabe), ed. Ismar Elbogen, Julius Guttmann und Eugen Mittwoch I (Berlin: Voß 1929/Stuttgart: Frommann-Holzboog 1971), 191–218: 194 und 206, im folgenden 207–208. 71 Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Messias, V. Gesang, 216–222 (in Hamels Zählung 217– 223); Mendelssohn zitiert nach der ersten Fassung, die ich hier nach der Oktavausgabe von 1751 wiedergebe, ed. Eberhard Haufe (Berlin: Union 1975), 135. Zum Vorzug dieser Aus- Erster Hauptteil 65

Die Pointe, um derentwillen ich diese Stelle anführe, liefert Mendelssohn auf dem Fuße. Er sieht »eine große Aehnlichkeit mit der Beschreibung der eifersüchtigen Lie- be, der Sappho, die uns Longin aufehalten, und davon der engländische Zuschauer sagt, daß dieses Fragment eines Gedichts dasjenige für die Dichter sey, was der be- kannte antike Rumpf für den Michael Angelo gewesen«. Das heißt: »Bewunderung fällt auf die Vollkommenheit des Künstlers zurück«, sofern Klopstock das klassische Paradigma des lyrisch Erhabenen zitiert und zwar nach Maßgabe der dafür zustän- digen Schrif Über das Erhabene. »Sappho ›takes up‹ the circumstances attendant on passion by looking at the symptoms as they really are«, paraphrasiert Russells Kom- mentar: »But it is in her selection of the most important facts and arrangement of those she selects that she shows her exellence.«72 Zu der von Longin paradigmatisch gemachten und von Mendelssohn referierten rhetorischen Qualifkation, »sich der allerkleinsten Umstände so glücklich zu bedienen«, tritt bei Klopstock eine weitere hinzu, nämlich das derart paradigmatische Arrangement erneut anzuwenden. Für Longin entscheidend und in Addisons Spectator gepriesen ist das, was im rhetorischen Jargon der Zeit constipatio heißt.73 Die körperliche Symptomatik lei- denschaflicher Liebe wird derart ›verdichtet‹, daß ein quasi ›organisches Gebilde‹ entsteht.74 Es ist diese in der modernen Übersetzung sich zwangsläufg einstellende symbolische Verdichtung des Symptomatischen, die das zweite Erhabene ausmacht, von dem bei Mendelssohn die Rede ist. In rhetorische Termini gebracht beruht sie auf der Metaphorisierung dessen, was in der Arbitrarität der Symptome metony- misch assoziiert ist. (Das ist der von Jakobson beschriebene Sachverhalt, dem Lacan den Freudschen Terminus der ›Verdichtung‹ kompatibel gemacht hat.)75 Wie immer man im einzelnen die Terminologisierung des Erhabenen und die dafür maßgebliche assoziationspsychologische Reformulierung der rhetorischen in ästhetische Termini zusammenfassen will, handelt es sich bei dem von Mendelssohn beobachteten ›Zu- rückfallen‹ auf das ›Genie‹ des Künstlers (›Dichters‹) um ein refexives Moment, des- sen Doppelbewegung sich endgültig bei Burke geltend macht: »a twofold movement of the soul, a response to the object and a self-refection«, wie Walter Hipple her- vorhebt.76 Als ein selbst-refexives Moment hat es nicht nur den genie-ästhetischen Aspekt, auf den Mendelssohn Wert legt, sondern einen rezeptions-ästhetischen, den Burke im Anschluß an Longin entwickelt. Dieser hatte an einer Stelle den Efekt des Erhabenen auf die Seele soweit getrieben, daß sie davon derart in Hochstimmung

gabe vgl. Christiane und Martin Boghardt, »Die Messias-Drucke von 1751/52«, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifs (1971), 1–21: 17. 72 ›Longinus‹, On the Sublime, ed. D. A. Russell (Oxford: Clarendon Press 1964), 100 f. (zu X, 2); »Introduction« vi. 73 Dionysii Longini De sublimitate commentarius, curante Georgio Miller (Dublin: Mercier 1797), 69 (zu X, 2); sowie dessen Referat »An Essay on the Origin and Nature of our Ideas of the Sublime«, Transactions of the Royal Irish Academy 5 (1794), 17–36: 25. 74 Vgl. die Übersetzung von Reinhard Brandt, Pseudo-Longinos Vom Erhabenen (Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1966), 49 (X, 1). 75 Jacques Lacan, »L’ instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud« (1957), Écrits (Paris: Seuil 1966), 493–528: 511. 76 Walter John Hipple, Te Beautiful, the Sublime, and the Picturesque in Eighteenth-Century British Aesthetic Teory (Carbondale IL: Southern Illinois University Press 1957), Kap. VI: 89. 66 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik versetzt werde, »als habe sie, was sie da höre, selbst geschafen« (7.2). »Hence pro- ceeds«, so Burke, »what Longinus has observed of that glorying and sense of inward greatness, that always flls the reader of such passages in poets and orators as are sublime«.77 Hipples Fazit: »it exites delight from presenting ideas of pain and danger without actually aficting us, and it is accompanied with self-glorifcation of the soul for conceiving such objects with equanimity.« Blumenbergs Kommentar: »Auf diese Weise wird die Produktion des Werkes selbst in der Rezeption mit thematisch, nicht nur ihr Resultat, sondern der Vollzug ihres Gelingens geht in den ästhetischen Genuß mit ein.«78 Was nun Sapphos berühmteste Ode angeht, sofern sie bei Longin als Muster des Erhabenen überliefert ist, entsteht diese ihre Erhabenheit im Nachvollzug nicht der leidenschaflichen Liebe selbst, sondern eben jener Auswahl ihrer Symptome, deren verdichtetes Arrangement (constipatio) diese Liebe darstellt. Klopstocks Begrif der ›Darstellung‹ hat diesen Sachverhalt sehr genau erfaßt und den »genau wahren Aus- druck der Leidenschaf« durch die »Wahl kleiner, und doch vielbestimmender Um- stände«, die »Innerlichkeit, oder Heraushebung der eigentlichen innersten Beschaf- fenheit der Sache« durch den »herzlichen Anteil des Dichters an dem, was er sagt«, erläutert und in insgesamt neun Punkten auseinandergelegt, mit dem Schluß: »Dies reizt zu gleicher Teilnehmung. Wer kennt die Folgen der Teilnehmung nicht?«79 Klopstocks eigene Darstellung im vorliegenden Fall beruht auf einer Nachahmung des Musters der Sappho, die ein Rearrangement in der Wahl der ›Umstände‹ und eine Umorientierung in der Heraushebung der eigentlichen und ›innersten Beschaf- fenheit‹ beinhaltet. Die Umbesetzung des Musters scheint mit Miltons Metalepsis vergleichbar; doch ist ein genaueres Eingehen auf die nötigen Vermittlungsschritte am Platze. Ich zitiere Sapphos Gedicht in einer modernen englischen Übersetzung, die außer ihrer Qualität den Vorteil hat, den Inhalt neutral wiederzugeben.80 Die Situation ist bekanntermaßen die der Eifersucht: »Fortunate as the gods he seems to me ...« Deren Konsequenz ist Sprachlosigkeit: »when I look at you a moment, then I have no longer power to speak ...« Daraufin lassen die Strophen 3 und 4 die berühmte Beschreibung folgen:

But my tongue keeps silence, straigtway a subtle flame has stolen beneath my flesh, with my eyes I see nothing, my ears are humming,

77 Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757), ed. James T. Boulton (London: Routledge and Kegan Paul 1958, 1967), Teil I/17: 51. 78 Hans Blumenberg in einem Diskussionsbeitrag zu Herbert Dieckmann, »Teorie der Lyrik im 18. Jahrhundert in Frankreich, mit gelegentlicher Berücksichtigung der englischen Kri- tik«, Immanente Ästhetik – Ästhetische Regexion (Poetik und Hermeneutik II), ed. Wolfgang Iser (München: Fink 1966), 73–112: 97, Diskussion 395–418: 408. 79 Friedrich Gottlieb Klopstock, »Von der Darstellung« (1779), Ausgewählte Werke, ed. Karl August Schleiden (München: Hanser 1962), 1031–1038: 1034–1035. Vgl. Wolfgang Prei- sendanz’ Beitrag zu der bereits zitierten Diskussion von H. Dieckmann, »Teorie der Lyrik im 18. Jahrhundert«, 403 f. 80 Denys Page, Sappho and Alcaeus (Oxford: Clarendon Press 1955, 1959, 1965), 19–33: 19. Erster Hauptteil 67

A cold sweat covers me, and a trembling seizes me all over, I am paler than grass, I seem to be not far short of death ...

Es ist unwahrscheinlich, daß Klopstock sich am Wortlaut einer zeitgenössischen Übersetzung orientiert hätte, etwa dem der vorliegenden bekannten Longin-Über- setzung.81 Er kannte auch seinen Catull zu gut, dessen Carmen 51 eben diese Stro- phen übersetzt, freilich mit einem anderen Schluß. Schon die erste Zeile enthält eine latente Verkehrung der Akzente: Ille mi par esse deo videtur (jener mir statt mir jener).82 Sie wird in der letzten Strophe Catulls manifest. Die voraufgehende Beschreibung der Symptome endet: gemina teguntur/ lumina nocte; es fehlt der Liebestod, dessen Hintergrundmetaphorik das Krankheitsbild der Symptomatik bestimmt. Ihn in die Latenz der symptomatischen Implikationen zurücknehmend, überspielt er ihn mit Melancholie: otium, Catulle, tibi molestum est ... Die selbstiro- nische Entschärfung entbehrt nicht narzißtischer Züge.83 Deren Gegenteil, wenn nicht Gegenzug, prägt Klopstocks Erhabenheit im Messias. Das Ensemble der Symptome, wie es bei Catull thematisch wird (omnis sensus) und in der Refexion ihres Nexus aufgehoben ist, wird bei Klopstock beim Wort genommen: nicht der Tod als Metapher der Liebe, sondern der in dieser Metaphorik überlieferte »Sam- melplatz aller Neigungen«, wie es bei Heineken trefend heißt, als Paradigma des Todes und seiner emotionalen Besetzung. Nicht die »vom Grund zur Folge gerich- tete Beziehung« der Metalepsis, die im sekundären Verhältnis Catulls wie Vergils zu ihren Vorbildern die Rolle spielt, die sich Milton zunutze macht, sondern deren Umkehrung – »metaleptic reversal«, wie Bloom unklar genug andeutet. Der in Me- lancholie ironisch ›verdrängte‹ Tod feiert seine Wiederkehr; ehemals Allegorie der Leidenschaf, wird er zum erhabenen Gegenstand der leidenschaflichen Lektüre. Indem Klopstock der Metaphorik vom Liebestod auf den Grund ihrer Symptomatik geht, sie beim Wort nimmt und übersteigert: »brechen die Augen, starren,/ Sehen nicht mehr« – geht er nicht dem Todestrieb in der Liebe, sondern der Liebe im Tod auf den Grund. Das erhellt der weitere Kontext der Stelle. Klopstock faßt ihn in einem Brief an Schlegel, der einen späteren Ausschnitt derselben Passage zitiert, wie folgt: »Ich muß Ihnen einige Verbindung zu dieser Stelle sagen. Es redet ein Vater eines Menschen- geschlechts, das unschuldig blieb, u. nicht sterblich wurde. Er hat seinen Kindern

81 Dionys Longinus, Vom Erhabenen griechisch und teutsch, nebst dessen Leben, einer Nach- richt von seinen Schrifen und einer Untersuchung, was Longin durch das Erhabene verstehe, von Carl Heinrich Heineke (Dresden: 1737, 21742/Basel: Universitätsbuchdruckerei 1784), 95 f. Heineken führt in den Anmerkungen zur eigenen Reimübersetzung von Catull bis hin zur letzten Sappho-Übersetzung von Stählin 1734 alles an, »so viel ich nemlich (habe) fnden können« (99–107: 100) 82 Gaius Valerius Catulus, ed. C. J. Fordyce (Oxford: Clarendon Press 1961), Comm. 218 f. Vgl. Bruno Snell, »Sapphos Gedicht phaínetaí moi kênos«, Hermes 66 (1931), 71–90: 79 f. 83 G. W. Williams, Tradition and Originality in Roman Poetry (Oxford: Clarendon Press 1968), 252; und T. E. Kinsey, »Catulus 51«, Latomus 33 (1974), 372–378: 376. 68 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik kurz vorher unsern Tod beschrieben«.84 Die Außenperspektive eines fremden Sterns verfremdet den Tod und hebt ihn als den ›unsern‹ in ein Bewußtsein, das ihn als Bedingung jedes mythischen Analogon aufaßt: ›denkt & empfndet‹.85 Das darauf gegründete Analogon des Mythos ist ursprünglich wie die Ofenbarung selbst. Im eschatologischen Horizont des menschlichen Todes, vor dem alle gleich sind, nicht in der mythischen Perspektive des Sündenfalls, kehrt sich das liturgische Analogon Klopstocks von der mythischen Anamnese zur christlichen Anagogie. Dafür gibt es eine Reihe quasi liturgischer Lesehilfen, wie Weimar exemplarisch gezeigt hat, »im Vers die Zeit des Lesenden zu gestalten«.86 Der Akt des Lesens ist demnach in der Mikrostruktur der Lektüre wie der ganzen Anlage des Messias zufolge proleptischer Natur: er beruht darauf, »daß in der syntaktischen Spannung des auf sein Ende zie- lenden Satzes das Objekt proleptisch gegenwärtig sei; daß die abgemessene Zeit ohne Vermehrung der Information gefüllter werde; daß gegenrhythmische Stauungen die Sukzession aufören lassen; daß Erwartung und Erfüllung in einem Wort konzen- triert werden.« Anders freilich als Weimar und Kaiser glauben machen, ist es nicht diese Qualität eines liturgischen Analogon, die qua eschatologischer ›Stimmung‹ die Identifkation der Leser als »heiße Teilnahme der Seelen« nach sich zieht.87 Diese ist vielmehr die Voraussetzung unter der das epische Analogon des Mythos einen quasi liturgischen Charakter gewinnt und entsprechende exemplarische Verwendung fn- den kann. »Der Verfasser hat disen Teil seines Plans frü und of durchdacht«, ruf Klopstock in einem späten Brief an Cramer in Erinnerung, als er auf die Episoden seines Gedichts zu sprechen kommt:

Engel, gute lebende Menschen, Selen der Fäter, auch anderer Gestorbener, und Selen noch ungeborener Menschen, nemen im Messias an der Handlung, welche Si so nahe anget, größern und innigern Anteil, als die Zuschauer in irgend einem Gedichte, an däm, was geschit nämen können. Man siehet di Ursache warum di Zuschauer im Messias iren Anteil oft zeigen dürfen, oder filmer müssen. Dazu komt noch, daß durch dise heiße Teilname die Handlung in ein helleres Licht konte gesetzt wärden, als dis durch andre Mittel möglich war.88

Es ist die Funktion der Episoden, die teilnehmende Lektüre zu ermöglichen und derart den Horizont der kollektiven Eschatologie durch individuelle Erfahrung erst zu ›beleben‹. Die in den Episoden aufretenden Personen fungieren dabei als Per- spektivhilfen: als ›Rückenfguren‹, wie ich an anderem Ort ausführlicher erläutert

84 Klopstock »An Johann Adolf Schlegel, Langensalz den 8 Oct. 1748«, Werke und Briefe (Hamburger Klopstock-Ausgabe), Briefe I, ed. Horst Gronemeyer (Berlin: De Gruyter 1979), 21–25: 24, im folgenden 23 (Nr. 18). 85 Vgl. Gerhard Kaiser, »Denken und Empfnden: Ein Beitrag zur Sprache und Poetik Klop- stocks« (1961), Text+Kritik, Sonderband »Friedrich Gottlieb Klopstock« (München: Text+Kritik 1981), 10–28: 13 f. 86 Klaus Weimar, »Teologische Metrik«, 155; vgl. Gerhard Kaiser, Klopstock, 202 f. und 247 f. 87 Gerhard Kaiser, Klopstock, 196 f.: 202; und Klaus Weimar, »Teologische Metrik«, 145. 88 Klopstock an C. F. Cramer, Hamburg, den 29sten Juni 99, Briefe von und an Klopstock, ed. Johann M. Lappenberg (Braunschweig: Westermann 1867), 396–402: 400–401 (Nr. 213). Erster Hauptteil 69 habe.89 In der zitierten Stelle zeugt davon die Präzisierung und Engführung der »Stimme des Menschen« zu »der Freundschaf zärtlichen Klagen«: Freundschaf, deren Stimme versagt, nicht Eifersucht, deren Symptomatik das Gedicht kompen- siert. Klopstock mischt hier ein Zitat aus Edward Youngs Night Toughts ein, das die Selbstwahrnehmung des lyrischen Ichs um die Gegenseitigkeit der Fremdwahr- nehmung ergänzt:

And, O! the last, last – what? (can words express, thought reach it?) the last – silence of a friend! (II: 660–661)

»Das ist schon schrecklich genung für einen Unsterblichen, Sterben!/ Das zu den- ken«, lautet der Vers, der in der zitierten Episode die Sappho-Catull-Young-Collage einleitet. Sie provoziert Aufmerksamkeit für den Nachvollzug und Einfühlsamkeit in die Rolle der teilnehmenden Freundschaf. Es folgt eine sorgsame Climax von Sterbebildern, deren letztes das der »teuren Geliebten an der Brust des zärtlichen Jünglings« ist.

In dem Arme der liebenden Mutter, die gern mit ihr stürbe Und nicht sterben kann, stirbt die Tochter. Umfaßt von dem Vater, Und an sein Herze gedrückt, stirbt ein aufblühender Jüngling, Seines Vaters einziger Sohn. Vor jammernden Kindern Sterben Eltern, ihr Trost und die Stütze der wankenden Jahre. In ihr Elend vertieft, stirbt eine teure Geliebte An der Brust des zärtlichen Jünglings. Die himmlische Liebe Ist beinah nur allein in paradiesischer Schönheit Einer einsamen Zahl von edleren Sterblichen übrig! Aber nicht lange! Sie sterben: Und Gott erbarmt sich nicht ihrer! Nicht des abschiednehmenden Lächelns der frommen Geliebten, Nicht der brechenden Augen, die gern noch weinten, der Angst nicht, Die sie betet und Gott, nur um einer Stunde noch, anfleht; Nicht der Verzweiflung des bebenden Jünglings, der stumm sie umarmet; Deiner auch nicht, bekümmerte Tugend, zu welcher die Liebe Und ihr zartes Gefühl die sterblichen beiden erhöhte.

Die Wirkung dieser letzten Passage ist von den Zeitgenossen in den höchsten Tönen beschrieben worden. Klopstock selbst hat sie in dem erwähnten Brief an Schlegel in einer früheren Fassung überliefert, als er dem Freund die Aussichten bei seiner großen Liebe Maria Sophia Schmidt, der späteren Fanny, zunächst noch Daph- ne, schildert; zunächst angesichts einer Ode des Horaz, dann dieser Stelle seines Messias:

89 Vf. »Illusion und Empathie: Die Struktur der teilnehmenden Lektüre in den Leiden Wer- thers«, Erzählforschung (DFG-Symposien IV), ed. Eberhard Lämmert (Stuttgart: Metzler 1982), 243–269: 253; im folgenden als letzter Teil. 70 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

O mein Gott, was hat sie da für Gedanken! Und welche Empfindungen, die die Stimme des Menschen nicht sagen kann. – – Ich habe noch keine Hofnung, durch diese Liebe glücklich zu seyen. Aber in manchen Stunden, wenn ich recht süß träume, bezeugt mir mein Herz, daß ich Geliebet werde. Meine göttliche Daphne versteht die kleinsten Wen- dungen meines Herzens, auch da, wenn sie kaum zu Minen werden. Mich deucht, da ich einmal an ihrer Hand weinte, habe ich Sie zittern gesehn. Sie empfindet den Messias, wie Sie ihn empfinden. Eine Stelle aus dem fünften Ges. die Sie mich etlichemal hinter einander lesen hieß, u bey der Sie mir die Hand sanft drückte, u seufzte, ist mir noch immer heilig u unvergeßl. ... (Es folgt die Stelle.)

Daß Sterben schrecklich genug zu denken ist (auch für einen Unsterblichen, dem dadurch seine paradiesische Verfassung erst klar wird), verstärkt das gemeinsame Empfnden derer, die dem Tod ins Auge sehen, und indem sie das tun, die Gemein- samkeit ihres Empfndens kennen lernen. Es ist nicht das gemeinsame Jenseits, das in einer eschatologischen Stimmung kommensurabel würde, sondern die Inkommen- surabilität des Todes, die die Gemeinsamkeit der Empfndungen stifet; die wech- selseitige Teilnahme im Diesseits, die über das gemeinsame Schicksal im Jenseits tröstet. Es ist ein eigenes Tema, wieweit dabei das Jenseits entschärf und in Wohl- gefallen aufgelöst wird. Das Diesseits und die in ihm begründete Gegenseitigkeit der menschlichen Bindungen ist der primäre Gegenstand des Messias, genauer der kommunikative Nexus, unter dem die erhabenen Gegenstände des Epos ihre Erha- benheit (und das heißt ihre Gegenständlichkeit) erst gewinnen. Daß im Erhabenen »die Produktion des Werkes selbst in der Rezeption mit thematisch wird«, wie ich Blumenberg zitiert habe: also »der Vollzug ihres Gelingens (...) in den ästhetischen Genuß mit ein(geht)«, heißt für Klopstock nichts weniger, als daß ein Analogon des Mythos durch die Fähigkeit der Leser zur individuellen Teilnahme erst erzeugt wird, im Vollzug dieser Teilnahme erst gelingt und durch die Angewiesenheit auf dieses Gelingen erst eine im strengen Sinne ästhetische Wirkung begründet. Der un- geheure Erfolg des klopstockischen Unternehmens – erstmals »Zündkraut zu einer Explosion«, wie Goethe die neue Rezeptionsweise im Rückblick auf seinen Werther charakterisiert – ist Bestätigung der brachliegenden kommunikativen Fähigkeiten; das ebenso große Risiko des Messias, in seinem Gelingen von der Teilnahme eines auf ihn eingestellten Publikums abhängig zu sein, wird durch die spätere Verdrängt- und schließliche Vergessenheit bestätigt. Um diese ästhetisch riskante Dimension reduziert wird der Messias zum theo- logisch toleranten Gemeinplatz, allenfalls zum geistesgeschichtlich interessanten Dokument, dem auch die bloße formgeschichtliche Analyse nicht aufelfen kann: »Der Mensch zwischen Sünde und Erlösung, zwischen Gericht und Versöhnung gewinnt durch den Tod Christi die Gewißheit, daß er nicht verworfen ist, daß die irdische Geschichte nur als Heilsgeschichte wahrhaf begrifen werden kann«, re- feriert Böckmann die einschlägigen Gemeinplätze, die auch Kaiser sich zu wieder- holen nicht scheut. »Dadurch dringt in die Darstellung eine Geschehenswelt ein, die im Grunde nicht sinnlich greifar werden kann«, meint Böckmann: »die nur im Gefühlsaufschwung metaphorisch aufeuchtet und wieder verblaßt«, wiederholt er die Muster der erhabenen Ratlosigkeit. »Es gibt wohl kaum eine deutsche Dichtung, in der so entschlossen wie im Messias die anthropozentrische Betrachtungsweise Erster Hauptteil 71 aufzugeben gesucht wird«, mischen sich Behauptung und Zweifel.90 Sicher ist das Ausweichen auf fremde Sterne bemerkenswert, aber aus andern, den entgegen- gesetzten Gründen. Der Wechsel von der alten geschlossenen Welt zum neuen un- endlichen Universum ist nur sehr vordergründig dem literarischen Wechsel von der mythischen Welt des alten Epos zur christlichen Universalität des neuen Epos kompatibel zu machen, mag dies den zeitgenössischen Kontroversen auch noch so sehr entsprechen und insbesondere die theologische Aufwertung des Messias gegenüber dem Verlornen Paradies gefördert haben.91 Immerhin gab die Abkehr von den theologischen Besetzungen des alten Weltbilds Gelegenheit zur Entauto- matisierung hergebrachter allegorischer Zusammenhänge und der darauf spezia- lisierten Refexe der Interpreten. Indem am weltbildhafen Untergrund geändert wird, ändert sich die Festgeschriebenheit der vor diesem Hintergrund allegorisch festgelegten Bilder. »Was die Gestalten der Bibel dem Zugrif des Dichters entziehe, sei die Festlegung in einem geschriebenen Buch und die unvergleichliche Präsenz dieses Buches im Gedächtnis der Menschen«, referiert Blumenberg Jacob Bernays: »Nur bei Figuren, die ganz im Hintergrund stehen, wie Johannes der Täufer, sei vielleicht etwas möglich.«92 Auf dem neuen Untergrund ergeben sich neue Mög- lichkeiten, werden neue Nischen für neue Hintergrund-Figuren entdeckt: aus der Weltraumperspektive anderer Menschengeschlechter läßt sich mit der unzweifel- hafen Präsenz der biblischen Welt anderes anfangen. Dafür ist die Typologie der zitierten Sterbesituationen ein Indikator. Zwar hat Kaiser recht, wenn er die Erzähl- perspektive im Messias als »situativ, nicht psychologisch bestimmt« erkennt; sie ist jedenfalls eher situativ als psychologisierend, behandelt eher »eine repräsentative, nicht eine individuelle Subjektivität«.93 Was dabei genauer gemeint ist, scheint das applikative Moment der dem Leser angebotenen Rollen, die repräsentativ sind, aber als repräsentative der individuellen Ausfüllung bedürfen; sie stellen keine fremde, umso weniger vorbildliche Individualität dar, der nach zu folgen wäre, sondern bieten den Vollzug der eigenen an, durch den nun exemplarische Folgen erhof werden. Klopstock selbst hat sich hierüber einigermaßen eindeutig ausgelassen in Be- antwortung der allgemeinern Frage »Ob es erlaubt sei, den Inhalt zu Gedichten aus der Religion zu nehmen?«94 Ohne die Problematik von Mythos und Dogma zu fiehen, versteht er es, die applikative Relevanz der Frage unverzüglich in den Mit-

90 Paul Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung I (Hamburg: Hofmann und Campe 1949), Kap. VI: 581. Vgl. im folgenden Karl Richter, »Die kopernikanische Wende in der Lyrik von Brockes bis Klopstock«, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaf 12 (1968), 132–170. 91 Vgl. Alexandre Koyré, From the Closed World to the Infnite Universe (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1957), Kap. XI; Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981), X. 92 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 240 (wie anfänglich zitiert). 93 Gerhard Kaiser, Klopstock, 254 und 255; sowie im folgenden Klaus Weimar, »Teologische Metrik«, 145. 94 Friedrich Gottlieb Klopstock, »Von der heiligen Poesie« (1755), Ausgewählte Werke (Schleiden), 997–1009: 998–999, im folgenden 1000 f. und Schluß. Vgl. dagegen Kaisers Kommentar, Klopstock, 333 f. 72 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik telpunkt zu stellen und als Problem der Festgeschriebenheit der Ofenbarung zu behandeln:

Der Teil der Offenbarung, der uns Begebenheiten meldet, besteht meistenteils nur aus Grundrissen, da doch diese Begebenheiten, wie sie wirklich geschahn, ein großes aus- gebildetes Gemälde waren. Ein Dichter studiert diesen reichen Grundriß, und malt ihn nach den Hauptzügen aus, die er in demselben gefunden zu haben glaubt. Zugleich weiß man von ihm, daß er dies für nicht mehr als Erdichtungen ausgibt.

Der Dichter mithin nutzt nur die Lücken, die neben den dogmatischen vera für fakultative credenda bleiben, da auf der Rückseite der Festgeschriebenheit notwen- dig Nicht-Festgeschriebenes ofen geblieben ist und zum Kummer der Dogmatiker dem frommen Denken nicht entzogen werden konnte. Klopstock ist hier sichtlich bemüht, die Hände des Dichters in der gebotenen dogmatischen Unschuld zu wa- schen: »Er tut, in seiner Art, nichts weiter, als was ein anderer tut, der, aus den nicht historischen Wahrheiten der Religion, Folgen herleitet. Sie dachten, auf verschiedene Weise, über die Religion nach.« Als fktive Denkhilfen liefert die »heilige Poesie«, wie sie Klopstock verteidigt ein Analogon zur Dogmatik, ein episches Analogon wohl gemerkt, das die narrativen Lücken der biblischen Ofenbarung dem frommen Nachdenken anheimgibt. Die Analogie zum Mythos ist endgültig entschärf durch den spezifschen Zweck der Fiktion, der seinerseits in Analogie zur dogmatisch an- geleiteten exemplarischen Ausmünzung der Bibellektüre vorgestellt wird: Analog zur exemplarischen Applikation steht die teilnehmende Lektüre als phantasiegelei- tete, vergegenwärtigende Anwendung, in der das fromme Nachdenken vor den er- weckten individuellen Bezügen keine Angst mehr hat.

Wenn aber ein andrer aus noch zärterer Sorgfalt (läßt Klopstock es an Ironie nicht fehlen, nämlich: »nichts Fremdes in die Religion einmischen zu lassen«), einwendet: Der Dichter bringt mich, durch seine mächtigen Künste dahin, daß ich zu der Zeit, da ich ihn lese, oder auch noch länger, vergesse, daß es ein Gedicht ist. Ist es erlaubt, daß jemand mich und viele zu einer solchen Art zu denken verleite, daß wir unvermerkt Ge- schichte, von denen wir nicht gewiß wissen, daß sie geschehen sind, für Geschichte von so großer Bedeutung, von solchen Endzwecken, für Geschichte der Religion, ansehn? Wenn jemand diesen Entwurf im Ernste machen könnte, würde ich sagen: Die Folgen, die er aus den Geschichten zieht, welche er, in diesem Feuer des Herzens oder der Ein- bildungskraft, für wahr hält, sind seinem moralischen Charakter nicht schädlich. Sobald die Geschichte von einer Art wären, daß sie dieses sein könnten, so wird er gewiß, eh er darnach handelt, sich erinnern, daß es Erdichtungen sind.

Es ist also gewiß nicht so, wie Kaiser meint: »Die Bedeutung der moralischen Wahr- heit der Bibel«, die er hervorgehoben fndet, ist allenfalls apologetisch zu motivieren. Wer moralisch abwegige Schlüsse ziehen will, wird sich nicht auf die heilige Poesie Klopstocks berufen können: »Die höhere Poesie ist ganz unfähig, uns durch blen- dende Vorstellungen zum Bösen zu verführen.« Stattdessen entschließt er sich zu terminologischen Kompromißbildungen wie der »moralischen Schönheiten« und hält es im übrigen mit kritischen Lesern, von denen er in kantischer Prägnanz sagt: Erster Hauptteil 73

»Sie haben gelesen und selbst gedacht.«95 Entscheidend dabei, »auch nach poetischer Denkungsart, dasjenige, was uns die Ofenbarung lehrt, weiter zu entwickeln«, ist nach Klopstock eben nicht eine moralische Wahrheit, wie sie aus jeder dogmati- schen Abhandlung der Religion folgt, sondern die zeitweise, momentane Evidenz, die »unvermerkt« die Fiktion der Wahrheit gleichkommen läßt: »Das Herz ganz zu rühren, ist überhaupt, in jeder Art der Beredsamkeit, das Höchste, was sich der Meister vorsetzen, und was der Hörer von ihm fordern kann. Es durch die Religion zu tun, ist eine neue Höhe, die für uns, ohne Ofenbarung, mit Wolken bedeckt war.« Daß Lesen als ein Akt des Selber-Denkens auf solche Höhen führen kann, ist eine Frage der Auflärung – in Kants späteren Worten: sich »seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« zu entledigen. Ich sehe nicht, wie Kaiser dazu kommt, Lessings folgendes Urteil als ein »ironisch gemeintes Lob« zu lesen: »Wann der Verfasser des Messias kein Dichter ist, so ist er doch ein Verteidiger unserer Religion. Und dieses ist er, mehr als alle Schrifsteller sogenannter ›geretteter Ofenbarungen‹ oder ›untrüglicher Beweise‹.« Denn dies ist er nicht als Verfasser des »Erbauungsbuches«, das Kaiser beschreibt. »Er weiß«, erläutert Lessing, »in seinen Lesern den Wunsch zu erwecken, daß das Christentum wahr sein möchte; gesetzt auch, wir wären so unglücklich, daß es nicht wahr sei.«96 Der Wunsch, daß es wahr sein möchte, macht sich unbeschadet der Möglichkeit geltend, daß es unwahr sein könnte: »Unser Urteil schlägt sich allezeit auf die Seite unsres Wunsches.« Jenseits aller melancholischen Blicke, unter denen sich die Religion den spätbarocken Kontroversen als »ein großer Schauplatz von Trümmern« darbietet, besteht Klopstock auf diesem Wunsch, und er zögert nicht, ihm zuliebe die Wahrheit seiner Fiktionen ins Licht der relativen Arbitrarität zu rücken, das die Wahrscheinlichkeit der Mythen erhellt. »Denn nicht selten«, wendet er gegen seine kleingläubigen Kritiker ein, »verwandeln sogar kleine Züge, die sie verkannten, den Tempel für sie in Trümmer. Und gleichwohl haben sie, wenn mir diese kühnste unter allen Vergleichungen erlaubt ist, die Mythologie studiert, den Homer zu verstehen.« (Ende der Abhandlung!) Es wäre einen eigenen Abschnitt wert, Lessings frühe Kritik am Eingang des Mes- sias durchzugehen, die in eigenwilliger Unterscheidung von primärer und sekundä- rer Epik (im Vorgrif zugleich auf naive und sentimentalische Dichtung) den unbe- haglichen Gegenstand nicht ironisiert, sondern in seinen literarischen Qualitäten würdigt.97 In der Tat zeigt die Selbstanrede (»Sing, unsterbliche Seele«) wie auch die des Werks selbst (»Aber, o Werk«) eine wichtige Diferenz zur vorangegange- nen epischen Tradition einschließlich Miltons. Dessen Verlohrnes Paradies hebt in Bodmers zweiter Ausgabe von 1742, die Klopstock vorlag, mit dem konventionellen Musenanruf an (»Singe, himmlische Muse«), um sich erst im weiteren an den Hei-

95 Immanuel Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Auflärung?« (1783) und Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Werke, ed. Wilhelm Weischedel I–X (Wiesbaden: Insel 1964), VI: 53–61 und 395–690: 61 (A 491). 96 Gotthold Ephraim Lessing, »Das Neueste aus dem Reiche des Witzes« (Monat Mai 1751), Gesammelte Werke, ed. Paul Rilla I–X (Berlin/Weimar: Aufau 21968), III: 349–367: 355– 356. 97 Gotthold Ephraim Lessing, »Briefe« 15–17 (1751), Gesammelte Werke (Rilla) III, 431–448: 436 f. und 444 f. Vgl. das Urteil von Max Kommerell, Lessing und Aristoteles (Frankfurt a. M.: Klostermann 1940, 31960), 28. 74 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik ligen Geist zu wenden (»Und du vornehmlich, o Geist«).98 Milton selbst (wie auch Bodmers andere Ausgaben, mit dieser Ausnahme) bringt den Anruf der Muse erst am Ende einer längeren Periode (Vers 6), bevor er in wohlkalkulierter Steigerung der Wiederholung des Anrufs (Vers 13) die Anrufung an den Geist folgen läßt (Vers 17). Klopstocks »unsterbliche Seele« steht in pointiertem Kontrast zur »himmlischen Muse« Miltons; die Anrufung der personifzierten heiligen Poesie als Urania ist bei ihm in die Seele des Dichters zurückgenommen und zwar auf jenes Organ, dessen Unsterblichkeit für die Möglichkeit der Erlösung einsteht – ohne daß freilich sein Anteil an der Erlösung auch manifest würde, wie es sich Lessing gewünscht hätte.99

Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung ...

Immerhin zielt Klopstocks Anfang in die von Lessing gewünschte Richtung, sofern er vor dem Anruf des »Geist Schöpfers« (Vers 10) das Werk selbst anredet (Vers 8) und in späteren Bearbeitungen als »Tat« apostrophiert, derart seinen performativen Charakter heraus streichend.100

Aber, o Werk, das nur Gott allgegenwärtig erkennet, Darf sich die Dichtkunst auch wohl aus dunkler Ferne dir nähern? (1748) Aber, o That, die allein der Allbarmherzige kennet, Darf aus dunkler Ferne sich auch dir nahen die Dichtkunst? (1799) Weihe sie, Geist Schöpfer, vor dem ich im stillen hier bete (1748) / vor dem ich hier still anbete ... (1799)

Die folgende Passage ist bis ins wörtliche Zitat Auseinandersetzung mit Miltons Text und konfrontiert die himmlische Eingebung mit der menschlichen Ausführung: ei- ner ›Performanz‹, deren poetische ›Kompetenz‹ auf der Unsterblichkeit der mensch- lichen Seele als ihrer Fähigkeit zur Erlösung beruht. Miltons Anrufung: »Und du vornehmlich, o Geist, der mehr von einem aufrichtigen und reinen Hertzen hält, als von allen Tempeln ...« antwortet Klopstock:

Rein sey das Herz! So darf ich, obwohl mit der bebenden Stimme Eines Sterblichen, doch den Gottversöhner besingen, Und die furchtbare Bahn, mit verziehnem Straucheln, durchlaufen. (1799)

Reinen Herzens aber heißt in dieser Bescheidenheitsformel eines Sterblichen, der im Vollbesitz seiner unsterblichen Seele ist: unverstellter Empfndungen fähig und

98 Johann Miltons Episches Gedicht von dem Verlohrnen Paradiese (Zürich: Orell 1742), ed. Wolfgang Bender (Stuttgart: Metzler 1965), 1–2; im Anhang die »Parallel-Texte zur pro- positio des Ersten Buches«. 99 Vgl. Johann Jacob Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, 217 f. und Lessing, 17. Brief, 445. 100 Der Messias, I. Gesang, 1, sowie 8–10 und 15–17, im Vergleich des Originaltexts von 1748 und der letzten Ausgabe von 1799, Klopstocks Werke I–IV (Deutsche National-Litteratur 46–48), ed. Richard Hamel (Berlin/Stuttgart: Spemann 1884), I: 4–5. Erster Hauptteil 75 eigenen Denkens mächtig. Die Apostrophe dieser unsterblichen Seele anstelle der himmlischen Muse impliziert die Verallgemeinerungsfähigkeit der Intention. Über den »Dichterberuf« des Messias-Dichters, wenn auch meistens allein in der hölderlinschen Konsequenz, ist of genug gehandelt worden; von der eigentümlichen Rhetorik der Verallgemeinerungsfähigkeit, deren er sich in Ausübung dieses Be- rufs bedient, dagegen kaum einmal. Im Messias dienen die allgemeinmenschlichen Episoden der rhetorischen Plausibilisierung. Indem sie Teilnahme ermöglichen, ersetzen sie exemplarische Konsequenzen durch individualisierende Beseelung der exemplarisch vorgeführten Situationen. Ein besonders eindrucksvolles und auch er- folgreiches Beispiel ist die verhinderte ›Afaire‹ zwischen Lazarus und Cidli, in deren Liebe man – nicht ohne Zutun Klopstocks – dessen Liebe zu seiner Fanny wieder- erkannte, wodurch die teilnehmende Lektüre des Messias über die Teilnahme an den Liebesleiden des Dichters einen zusätzlichen Außenhalt erhielt: ein Schema, das in Goethes Werther seine säkulare Erfüllung fand. Der Name Lazarus, den Prototyp des von den Toten Erweckten bezeichnend, erwies sich nachträglich als zu einseitig be- setzt, als zu ältlich und leidend, um der Tochter des Jairus ein plausibler Partner sein zu können, für die Klopstock den Namen Cidli erfndet. Also ersetzt er ihn ab 1755 durch den passenderen Jüngling von Nain, dem er den Namen Semida gibt (über die irdisch ›halbierte‹ – Semi-da – Existenz dieses Jünglings handelt die Episode). Über den Kontext informiert die von Klopstock der Ausgabe von 1755 beigefügte Inhaltsangabe am schnellsten:

Der Messias naht sich Jerusalem und schickt Petrus und Johannes in die Stadt, das letzte Abendmahl für sie zu bereiten. Petrus sieht von dem Söller des Hauses der Mutter Jesu, Lazarus, den Auferweckten, Maria, seine Schwester, den Jüngling von Nain, und Cidli, Jairus’ Tochter kommen, die Jesus suchen. Diese sehen Petrus und kommen hinauf. Jo- hannes, daß Jesus bald von Bethanien her kommen würde. Maria wartet; Jeder ist still. Die fromme Liebe zwischen dem Jüngling von Nain und Cidli. Maria kann nicht mehr warten. Sie glaubt ihren Sohn auf dem Wege von Bethanien zu finden. Jesus nimmt einen andern Weg und verweilt sich bei Golgatha.101

Bei aller Naivität der narrativen Reduktion ist die Rafnesse des Designs nicht zu verkennen: die Nische, die Klopstock an bedeutungsvoller Stelle vor dem Abendmahl eingerichtet hat – eine Fermate zwischen Marias Warten und Nicht- mehr-Warten, die gleichwohl in die Irre führt. In der Aufzählung der Haupt- und Nebenpersonen wird Semida als eine Abspaltung des Lazarus deutlich, die Ab- grenzung der Episode vom Hauptgang der Ereignisse durch den vergleichbaren Status der in ihr aufretenden Nebenpersonen und ihrer fktiven Namen verstärkt. Lazarus erscheint bereits wieder abgekoppelt und völlig jenseitig zentriert, gera- des Gegenteil der Ablösungsproblematik vom Irdischen, an der Cidli und Semida leiden.

101 Der Messias, IV. Gesang, »Inhalt«, sowie im folgenden 658–660, 665/666 und 674–699, Klopstocks Werke (Hamel) I: 176 und 199–201. Man vgl. im folgenden Jörn Dräger, Ty- pologie und Emblematik in Klopstocks ›Messias‹ (Diss. Göttingen 1971), Teil B III: 114, die freilich zu entgegengesetzten Schlüssen kommt. 76 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Lazarus dachte den Tod, und die Auferstehung vom Tode, Da er zu dem Messias, wie zu des Ewigen Anschaun, Aus dem Staube, gefaßt von dem Schauer Gottes, heraufstieg.

Weibliches Gegenstück ist ihm seine Schwester »Maria, die fromme Hörerin Jesus«, die Lukas 10.39–42 zu dessen Füßen sitzt und seiner Rede zuhört, während sich Martha unnötig viel zu schafen macht: »mit Todesblässe bedeckt« ist sie nicht durch irdische Leidenschaf gezeichnet wie Sappho, sondern durch jenseitige Erwartung: »In dem Auge voll Wehmuth/ Hielt sie die rührendste Träne zurück, die jemals ge- weint ward.« Wo möglich eng an biblische Reminiszenzen gelehnt, kommt darauf- hin Cidli, deren Vorgeschichte nach Markus 5.38–43 nacherzählt wird:

Neben ihr ging die sittsame Cidli, die Tochter Jairus. Still in Unschuld waren ihr kaum zwölf Jahre verflossen, Als sie, dem jungen Leben entblühend, heiter und freudig In die Gefilde des Friedens hinüberschlummerte ...

Daß sie erst zwölf war, steht im biblischen Text ebenso wie das Jesus-Wort, daß sie nur schlafe (ich kürze ab:)

Heilig trägt sie die Spuren der Auferstehung; doch kennt sie Jene Herrlichkeit nicht, mit der ihr Leben gekrönt ist, Nicht die zartaufblühende Schönheit der werdenden Jugend, Noch ihr himmlisches Herz, dir, edlere Liebe, gebildet.

Die Eigengesetzlichkeit der Episode kündigt sich an. Angesichts heiliger Spuren der Auferstehung scheint vorerst eindeutig, wie himmlisch ihr Herz und welches die ed- lere Liebe sei, die es erfüllt; doch ist da »jene Herrlichkeit« und »die zartauflühende Schönheit der werdenden Jugend«, die diese Eindeutigkeit verunsichern. Die Grenze wird überschritten im rückgreifenden Vergleich mit der alttestamentarischen Sula- mith und ihrer irdischen Beschreibung, einst Prüfstein der Hohelied-Allegorese:

So ging, da sie erwuchs, der Israelitinnen schönste, Sulamith, als die Mutter am Apfelbaume sie weckte, Wo sie die Tochter gebar, in der Kühle des werdenden Tages. Sanft rief sie der schlummernden Tochter, mit lispelnder Stimme Rief sie: Sulamith! Sulamith folgte der führenden Mutter, Unter die Myrrhen, und unter die Nacht einladender Schatten, Wo, in den Wolken süßer Gerüche, die himmlische Liebe Stand, und in ihr Herz die ersten Empfindungen hauchte, Und das verlangende Zittern sie lehrte, den Jüngling zu finden, Der, erschaffen für sie, dieß heilige Zittern auch fühlte. So geht Cidli ...

War die Hoheliedauslegung schon durch das Mittelalter hindurch der Ort einer »außergeschichtlichen Begegnung der Seele mit Christus in der unio und com- Erster Hauptteil 77 passio«, so tritt nun das schwer bewältigte Konfiktpotential in seinen Umrissen deutlicher zutage und gewinnt den vollen Umfang seiner literalen Provokations- möglichkeiten zurück.102 Anders als in der Paradieses-Auslegung läßt sich für das Hohelied ja nicht sagen, daß es »zwar nicht außerhalb, wohl aber jenseits unserer Erfahrungsmöglichkeiten liege«. Das Problem Cidlis ist die Jenseitigkeit paradiesischer Aussichten, die der Kenntnis hiesiger Erfahrungsmöglichkeiten nicht standhalten. Einmal von den »Spuren der Auferstehung« gezeichnet, »kennt sie jene Herrlichkeit nicht«, nämlich die hiesige: bleibt ihr »die zartauflühende Schönheit der werdenden Jugend« äußerlich wie der Literalsinn des Hoheliedes dessen allegorischer Bestimmung. Es ist die Pointe des Hohelied-Zitats (wie auch der vergilischen Anaphorik, auf die Hamel hinweist), daß im Rückgang aufs Alte Testament (wie auch die Antike) auf den vorallegorischen Literalsinn rekurriert wird: die Erfüllung der irdischen Liebe das Höchste scheint, was himmlische Liebe verheißen kann. »Kehre wieder, kehre wieder, o Sulamith«, heißt es Sal. 6.12: »kehre wieder, kehre wieder, daß wir dich schauen!« Was die zwölfährige Cidli angeht, hinter der die Leser Fanny vermuteten, führt sie zu einem Schlüsselerlebnis des jungen Klopstock zurück, dessen Wiederkehr noch anläßlich der Oden beschäf- tigen wird: »Eine zärtliche Neigung zu einem zwölfährigen Mädchen, das er Ida nennt«, erzählt Muncker, »führte im Mai 1739 zu gegenseitigem Geständnis der Liebe im Duf einer Frühlingslaube; der Ruf der Schwester trennte die Glücklichen, die in stummem Entzücken schüchtern sich gegenüberstanden.«103 »Unter dem Apfelbaum weckte ich dich ...«, hebt die entsprechende Hohelied-Stelle an (8.5). Nun könnte man einwenden, die irdische Mutter Cidlis, der Jesus die auferweckte Tochter wiedergab wie die Mutter Sulamiths, führt die Tochter ihrer allegorischen Bestimmung: dem himmlischen Bräutigam zu; aber es ist diese allegorische Logik der Sache, gegen die der Leser sich wehren lernt, und der die Natur der Sache zu- wider läuf. Identifkationsfgur und Anhalt der implizierten Leserrolle ist Lazarus/ Semida bzw. der Dichter selbst, dessen Rolle durch die Unsterblichkeit der eigenen Seele autorisiert ist und von jenem »Vorschmack« der Jenseitigkeit proftiert, der Lazarus wie Semida plagt:

Schön, wie der Jüngling David, wenn er an Bethlehems Quelle Saß, und entzückt in der Quelle den großen Allmächtigen hörte; Aber nicht lächelnd wie David, begleitet die sittsame Cidli Semida, den von dem Tode bey Nain der Göttliche weckte.

Das »Denkmal«, das Klopstock seiner Fanny gesetzt hat, ist nachträglich bedeu- tenden Umarbeitungen unterworfen worden, wobei nicht die geringste Rolle Meta,

102 Friedrich Ohly, Hohelied-Studien (Wiesbaden: Steiner 1958), 311, Vgl. Reinhold R. Grimm, »Von der explikativen zur poetischen Allegorese«, Text und Applikation (Poetik und Her- meneutik IX), ed. Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß und Wolfart Pannenberg (Mün- chen: Fink 1981), 567–576: 571. 103 Franz Muncker, Friedrich Gottlieb Klopstock: Geschichte seines Lebens und seiner Schrifen (Stuttgart: Göschen 1888, 21900), 12–13. (Hier wie im übrigen beziehe ich mich, wo nicht eigens nachgewiesen, auf Munckers Mitteilungen.) 78 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik seine neue Cidli gespielt haben dürfe. Die Korrekturen sind einer eigenen Durch- sicht wert; ich komme darauf zurück. Im folgenden halte ich mich aus historischen Gründen an die erste (Lazarus-)Fassung von 1751. Der Eingang der bis jetzt zitier- ten späteren Fassung zeigt die erwähnte säuberlichere Trennung der Episode vom Hauptgang der Geschichte, der die Abtrennung Semidas von Lazarus entspricht. Die Umwidmung umfaßt ein Scharnier von nicht mehr als vier Zeilen, bevor der Text in der neuen wie der alten Bahn weiterlaufen kann.104 Ich setze im Blick darauf die ersten vier Zeilen der auf Cidli umgeschriebenen späteren Fassung und kehre in ihrem Lichte zurück zu der Lazarus-Version von 1751:

Alle schwiegen, und Lazarus Schwester, die Hörerin Jesus, Neigte sich sanft an ihre geliebtere Cidli; zu Cidli Trat itzt Semida näher; doch schwieg er, und sah zu der Erde. Diese kannte den Schmerz, der lange schon Semida’s Herz traf...//

Alle schwiegen, und Lazarus Schwester, die junge Maria, Neigte sich sanft an ihre geliebteste Cidli; ihr Bruder Stand bey Cidli, und sah mit schweigender Traurigkeit nieder. Diese kannte den Schmerz, der lange schon Lazarus Herz traf, //

Und sie blickte seitwärts ihn an, und sah die Empfindung Seiner Seelen im Auge voll Wehmut, sahe die Hoheit, Welche mit Zügen der Himmlischen schmückt die leidende Tugend. Da zerfloß ihr das Herz, und lispelte diese Gedanken: Edler Jüngling, um mich bringst du dein Leben mit Wehmut, Deine Tage mit Traurigkeit zu! Ach, war ichs auch würdig? Daß du so himmlisch mich liebst, wars deine Cidli auch würdig?

Das »Auge voll Wehmut« spiegelt die in anagogischer Hinsicht hofnungslos gewor- denen Strebungen: das in Aussicht des himmlischen Paradieses versperrte irdische Glück. Melancholisch ist von »der Väter Zeit« die Rede und der Liebe der »Töchter Jerusalems« – einer alttestamentarischen Vergangenheit, die paradiesischer scheint als das durch die Erlösung zurückgewonnene Paradies. Die Paradoxie der Begrife ist beabsichtigt; mit fortlaufendem Text kann daran kein Zweifel bleiben. »Ach war ich’s auch würdig? Daß du so himmlisch mich liebst, war’s deine Cidli auch würdig?« Das ist kein Selbstzweifel, sondern Verzweifung. Himmlisch heißt diese Liebe im Blick auf ein Paradies, das sie als irdische nicht zuläßt; das ihre himmlische Transfor- mation auf eine zweifelhafe Zukunf verschiebt; das einen Triebaufschub als Trieb- aufebung verordnet, von dem nicht absehbar ist, wie er das im Aufschub Aufgeho- bene aufwiegen kann. Zusammen mit der »Weisheit der liebenden Mutter« wird die »Stimme Gottes« beklagt. Das traurige ›Lispeln‹ Cidlis wiederholt das freudige, mit

104 Der Messias, IV. Gesang, 735–883 (in Hamels Zählung 740–889), nach der Oktavausgabe 1751 (Haufe), 109–113. Vgl. Richard Hamel, Klopstock-Studien III (Rostock: Boldt 1880), 76 f. Hamel erläutert seinen historischer Kompromiß, »etwas ... der historischen Treue wegen in der ersten Fassung« von 1751 zu geben I: 203, ad 740. Erster Hauptteil 79 dem Sulamiths Mutter die Tochter dem himmlischen Bräutigam zugeführt hat. In dieser Wiederholung verkehrt sich Verheißung in Melancholie – eine Melancholie, die der Rücknahme der Anagogie in die Seele der betrofenen Leser Vorschub leistet. Die völlige Verkehrung der Perspektiven bricht an eben jener Zeitstelle der Hand- lung hervor, an der sich im Warten der Muttergottes Maria die irdische Angst um den Sohn durchsetzt, der »viel zu erhaben für eine sterbliche Mutter« ist.

Daß du so himmlisch mich liebst, wars deine Cidli auch würdig? Lange schon wünsch ich, die Deine zu seyn, und von dir zu lernen, Wie sie so schön ist, die selige Tugend! Dich zärtlich zu lieben, Wie zu den Zeiten der Väter die Töchter Jerusalems liebten; Wie ein jugendlich Lamm um deine Winke zu spielen; Gleich den Rosen im Thal, die der frühe Tag sich erziehet, So in deiner reinen Umarmung gebildet zu werden, Dein zu seyn, und dich ewig zu lieben! Ach, meine Mutter, Warum gebotest du doch das himmlische strenge Gebot mir? Zwar ich schweig, und gehorche der Weisheit der liebenden Mutter. Und der Stimme Gottes in ihr! Dem bin ich gewidmet! Ich bin auferstanden! Ich bin zu heilig, die Mutter Sterblicher Söhne zu werden! Nur du must deine Betrübniß, Deine zärtlichen Klagen, du edler Jüngling, auch mindern! Würde doch meinem Leben der Trost noch einmal gegeben, Daß ich in deinem Gesicht das süße Lächeln erblickte, Da du keine Thränen noch kanntest, als Thränen der Freude, Da du ein Knabe noch warst, und ich aus dem schmeichelnden Arme Deiner schönen Schwester, Maria, in deinen Arm hinflog. Also denkt sie. Er bricht ihr das Herz, sie kann sich nicht halten, Stille Thränen zu weinen. Es sah sie Lazarus weinen, Ob sie mit ihrem silbernen Schleyer ihr Antlitz gleich deckte. Lazarus geht still aus der Versammlung, und da er hinauskömmt, Sieht er mit traurigem Angesicht nieder, und denkt bey sich selber: Warum weint sie? Ich konnte sie länger weinen nicht sehen, Denn es brach mir mein Herz! Ach, theure zärtliche Thränen, Schöne Thränen, so still, so zitternd im Auge gebildet!

Der Trost Cidlis kann nicht trösten; er ist von der Einsicht in die gemeinsame Trostlosigkeit geleitet: »Nur du mußt deine Betrübnis«, bittet sie verzweifelt, »auch mindern!« Das Einverständnis läuf über die gemeinsam vergossenen Tränen, das die hofnungslos Liebenden und die teilnehmend Lesenden verbindet: »Also denkt sie. Es bricht ihr das Herz, sie kann sich nicht halten ...« Zwangsläufg kommt es zu Tränen, proleptisch zutage geförderten Symptomen der Vergegenwärtigung. Als Symptome sind sie nicht ohne Ambivalenz, ist die über sie laufende kommunikative Vermittelung nicht ohne Risiko: »Warum weint sie?« ist die nachträgliche Refexi- on der anderen Seite – Denken des Empfndens, das den refexiven Charakter des einen im Bezug auf das andere zeigt, nicht ihre Identität, aber ihren zwangsläufgen Zusammenhang, in dem das Denken des Empfndens als ›refexiver Mechanismus‹ 80 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik wirksam wird.105 Wie das Denken des Denkens in philosophischer Refexion, so wird das Denken des Empfndens in der ästhetischen Refexion der Zeit thematisch.106 »Ich konnte sie länger weinen nicht sehen, denn es brach mir mein Herz! Ach, teure, zärtliche Tränen, schöne Tränen, so still, so zitternd im Auge gebildet!« Die zwangs- läufg mechanische Refexion des Unwillkürlichen unterstreicht die momentane Iso- lation der verhinderten Empfndungen und löst sie in melancholische Zweifel auf: »Wäre nur eine von euch um meinentwillen geweinet; o so wollt’ ich noch selig mich preisen! Mein Leben voll Qual, mein trauriges Leben, ist immer von ihr ein einziger langer Gedanke!« Die Pointe ist hier, daß dies Leben durch die Aussicht aufs Paradies nicht entlastet, sondern erst beschwert wird und als Qual Gedanke, der an die Stelle der auf den Moment beschränkten Empfndung tritt. Die Anrede der Tränen wie der sie produzierenden Seele ist rhetorische Rückwendung der vergeblichen Kom- munikativität: »O du! welches in mir unsterblich ist, dieser Hütte hohe Bewohnerin, Seele, Hauch Gottes, Tochter des Himmels ...« Die Unsterblichkeit der Seele, die des Sängers Geschäf: »der sündigen Menschen Erlösung« zu singen, begründet, soll der Aussichtslosigkeit des Denkens und Empfndens eine Lehre liefern gegen ihre eigene melancholische Depression. Deutlicher kann die Gegenläufgkeit von exem- plarischer Norm und Melancholie in der Erfahrung des Lesens kaum dargestellt werden, so daß man fast von einer Allegorie des Lesens hier sprechen könnte, wie Blooms Anxiety of Inguence Miltons Satan zur Allegorie des modernen Dichtens nach ihm erklärt.107 Bei aller Ambivalenz des allegorischen Untergrunds bleibt die teilnahmehei- schende Melancholie dominant für diese Episode, verstärkt sie sich eher, als daß sie abgeschwächt oder zurückgenommen würde. Wie im Fall des refexiv Erhabenen der Sappho-Rezeption herrscht Refexion vor im Denken der Empfndung, um in Resignation rhetorisch zu erstarren: »Warum weckt von der Lippe der Cidli die silberne Stimme, warum vom Auge der mächtige Blick (genauer später: »vom Aug’ ihr Blick voll Seele«) mein schlagendes Herz mir zu Empfndungen auf, die mich allmächtig ergreifen (»mit dieser Stärke mich rühren«)? ...« Die spätere Fassung präzisiert und ergänzt, indem sie auch den zunächst unterdrückten Gedanken aus- spricht: »Wenn ich, sie liebe mich nicht! den trüben Gedanken! entfalte? ...« Todes- phantasien und Selbstbehauptung liegen in aussichtslosem Widerstreit: »Of will ich dann mit gewaltigem Arm den Kummer bestreiten. Meine Seele versammelt in sich die Empfndungen alle, die ihr von ihrer hohen Geburt und Unsterblichkeit zeugen. Sei (so red ich sie an), sei wieder dein, die du himmlisch, die du bist unsterblich erschafen! So red’ ich ihr Hoheit und Standhafigkeit zu. Sie aber verstummt, sich zu trösten, schaut auf ihre Wunden herab und weinet und zittert.« Der Vergleich mit Sapphos Todessymptomatik drängt sich auf: In der refexiven ›Versammlung‹

105 Vgl. Karl Ludwig Schneider, Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache, 101; und Gerhard Kaiser, »Denken und Empfnden«, 13. 106 Vgl. Niklas Luhmann, »Refexive Mechanismen« (1966), Soziologische Auflärung I (Op- laden: Westdeutscher Verlag 1970), 92–112: 101, sowie meine Ausführungen in »Illusion und Empathie«, Teil I (unten). 107 Harold Bloom, Te Anxiety of Inguence, »Introduction«; Geofrey H. Hartman, »War in Heaven« (1974), Te Fate of Reading, 41–56: 44. Erster Hauptteil 81 der Empfndungen erschöpf sich die dichterische Subjektivität, versagt die Stimme der lyrischen persona, reduziert sich die Rhetorik der Unsterblichkeit auf eine ir- dische Krankheit zum Tode – selbstironische Melancholie bei Catull, bei Klopstock gänzlich unironischer Appell zur Teilnahme. Im Wechsel von emphatischem Ausruf und rhetorischer Frage entsteht jene erhabene Afektion der Seelen, die in der teil- nehmenden Lektüre ihre Vollendung fndet: »Welchen Himmel erschuf sich mein Geist, wenn du, Cidli, mich liebtest! ... Oh darf ich noch einmal, süßer Gedanke, dich denken? Und wird dich mein Schmerz nicht entweihen? Du warst, Göttliche, mein! Durch keine kürzere Dauer als durch die Ewigkeit mein!« Die Beteiligung der lesenden Seelen lebt von der ebenso willkürlichen wie zwangsläufgen Unterstellung des durch den Autor in der Fiktion autorisierten ›Wahren‹, wie in dieser Kollusion umgekehrt durch Ausruf und Frage und Anrede das Unglück aus der doppelten Unsicherheit der irdisch unerfüllten und himmlisch unerfüllbaren Liebe herrührt. Daß Klopstock als Sänger des Messias ungeliebt blieb, wollte keinem in den Kopf, und wie sich Teologen um die Begnadigung des guten Teufels Abbadona beim Verfasser bemühten, legte Bodmer einfältig genug ein gutes Wort ein bei der »ir- dischen Muse« des Dichters.108 Der durch des Dichters Erfahrung autorisierte und seiner Leser Teilnahme mit vollzogene »süße Gedanke« läßt sich nicht rückgängig machen, der damit verbundene Wunsch nicht widerlegen. Die Vergangenheit des »Du warst mein!« hält der Zukunf der Unsterblichkeit die Waage, selbst auf die Ge- fahr hin, nichts als verlorene Hofnung einer vergangenen Fiktion und somit vorbei und gewesen zu sein. »Das nannt’ ich für mich geschafen!« Der Anruf des süßen Gedankens, der mit dem Anruf der unsterblichen Seele konkurriert, bringt die un- versöhnliche Diferenz zwischen individueller und kollektiver Eschatologie an den Tag: Diskrepanz eines überpersönlichen Schicksals (der Unsterblichkeit), dem in der Zukunf zu entsprechen ist, mit dem individuellen Wunsch (der Liebe), dem in der Vergangenheit nicht zu entsprechen war. Die Erlösung nimmt davon unbeeindruckt ihren Lauf, und es ist dieser Lauf der Welt, in dessen gottgewollter Planung menschliche Liebe episodisch bleibt. Die ältere Fassung endet in Trauer und Jammer: »Ich verkenne die Herrlichkeit meines Lebens!« Die spätere Version diferenziert, rationalisiert, zensiert, bringt es aber da- bei zu Pointen, die unvermutet verschärfen. Sie schließt an die immer neu umkreiste Frage und Beschwörung Cidlis an:

Sage, was denkt da dein Herz? Was fühlt es? Wie ist es ihm möglich? Dies mein Herz, das so liebt, mein blutendes Herz zu verkennen?

Beim Selbstmitleid des ausgebreiteten Herzbluts soll es im Nachhinein nicht bleiben. Schließlich hatte Klopstocks Fanny andere Gründe als Cidli; nicht zuletzt fand Klop- stock nach Fanny Meta, der er in Oden und Elegien den Namen Cidli gibt. Die Unerlöstheit der Liebe und darin beschädigten Subjektivität wird nicht durch den Messias behoben, sondern in der Befriedung durch irdische Liebe. So dämmert es in nachträglich ambivalenten Gedanken, die auf Versöhnung der Gegensätze aus sind,

108 Bodmer an Maria Sophia Schmidt »Zürch den 5ten Oct. 1748«, Klopstock Briefe I (Grone- meyer), App. 227–228 (zu Nr. 19). 82 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik in ihrer Bagatellisierung das Drängen der an den Tag gedrungenen Wünsche aber nur bestärken:

Daß wir von neuem vielleicht nicht sterben! und beide zu höhern, Besserem Leben ... Doch schweigt, zu kühne, zu feurige Wünsche! Dieser Gedanke führte vielleicht mich zu weit, und ich liebte Sie zu heftig! ...109

Der unausgeführte Gedanke von »besserem Leben ...« enthält den von Lessing be- nannten Wunsch, der sich nicht abweisen, aber auch als christlicher nur wünschen läßt.

Sie zu heftig! Wie kann ich zu sehr die lieben, mit der ich Jenes erhabnere Leben vielmehr, als dieß an dem Staube Wünsche zu leben? Mit der, es sey dort, oder auf Erden ...

Jenseits oder auf Erden – das ist gleich, solange eine vage Hofnung bleibt. »Reiß denn von einem Kummer dich los, der dich nur angeht, Trauernder« wird der Über- gang zum biblischen Fortgang der Erlösung unvermittelt eingeleitet, schreitet das Epos unverzüglich seinem übergeordneten Ende entgegen. Es bleibt nachzutragen, daß selbst in der Reihe der Erscheinungen, in denen Klopstock später den Messias seinem endlichen Ende näherbringt und Cidli zusammen mit Semida verklärt, die Ambivalenzen der Episode nachwirken.

Sie kamen sich näher. Da schwanden Ihre Gedanken! und sie, die beyden glücklichen, wurden Schnell verklärt!

Schnelle Verklärung macht die Leiden der Betrofenen gegenstandslos, aber ein Nachdenken ihrer verfossenen Gedanken nicht überfüssig:

Wiedersehen, o du der Liebenden Wiedersehen, Wenn bey dem Staube des Einen nun auch des Anderen Staub ruht, Selbst der Gedank’ an dich ist nur ein Traum von den Freuden Cidli’s, (nun weinten sie andere Thränen) und Semida’s Freuden!

Denn ein Traum von den jenseitigen Freuden der beiden ist der in der Anrede the- matisch gemachte Gedanke der Vereinigung nur unter den irdischen Tränen der teilnehmenden Leser, die über ihren diesseitigen Leiden vergossen werden. Allerdings hat die zweite Hälfe des Messias mehr und mehr Erfüllungscharakter. Die ofene Wirkungsstruktur der frühen Episoden wird nachträglich geschlossen, in sich ein interessantes Phänomen, das hier außer Betracht bleiben soll. Die kom-

109 Hier und im folgenden Messias, IV. Gesang, 868–875 und 884/5, nach Klopstocks Werken (Hamel) I: 207 und 208; sodann XV. Gesang, 1542–1544 und 1546 bis Schluß, Werke II: 288. Erster Hauptteil 83 munikative Funktion der Episoden ist im Nachhinein nicht zu ändern, allenfalls zu integrieren in den monumentalen Gesamtzweck des Unternehmens, dessen Pro- grammatik, nicht dessen zweifelhafer Vollendung sie entsprach. Für einen Vergleich mit Miltons Satan bietet sich die Geschichte Abbadonas an, die als eine Übersteige- rung des Motivs vom verlorenen Sohn angelegt ist und folgerichtig mit Abbadonas Rettung endet. Die entsprechende Passage ist sehr früh entstanden, die Rettung des reuigen Teufels also nicht auf Druck der Leser zustandegekommen, sondern geplant gewesen; indem Klopstock das Schicksal Abbadonas bis zum Schluß ofen hielt, hat er die Spannung am Fortgang des Werks wenigstens teilweise erhalten können, die ihm sonst so abgeht.110 Daß auch ein armer Teufel Teilnahme auf sich ziehen und von der Erlösung der Menschheit proftieren kann, mag theologisch brisant gewe- sen sein, hat aber die Kehrseite, eben diese Erlösung für die Menschheit weniger plausibel zu machen: Daß für einen Teufel erst die Erlösung vollkommen ist, läßt Zweifel an der Relevanz dieser Erlösung für den Menschen aufommen. Daß nach Luzifers fernem Sturz letztlich die Erlösung gefallener Engel plausibler sein muß als die Erlösung der zu ihrem Ersatz bestimmten und gleichwohl mitgefallenen Menschen, macht Blumenbergs Referat des mittelalterlichen Grundmythos über- deutlich.111 Klopstocks Messias kann die mythisch fraglosen Inkonsistenzen nicht fraglos tradieren. Bei Milton lag der Fall klar; Satans rafnierte Rhetorik macht die exemplarische Konsequenz der Lektüre desto dringlicher und unausweichlicher. Anders bei Klopstock; hier ist vom teilnehmenden Vollzug der Lektüre nicht einmal der Teufel völlig ausgeschlossen. In seiner Abneigung gegen den Messias hat Herder am ehesten die überschüssige Kraf der Episoden gegenüber dem Gesamtplan des Epos erkannt, und zwar ohne deren epische Integration zu bezweifeln. Im fktiven »Gespräch zwischen einem Rabbi und einem Christen über Klopstocks Messias« läßt Herder, nachdem der Rab- bi »das große Geschöpf seiner Phantasie Abadonna« bewundert hat, den Christen antworten:

Und im Zärtlichen sieht man K. immer sein Herz schildern: Benoni, Lazarus und Cidli, Maria und Porcia, Mirjam und Debora; alles vortrefliche und liebenswürdige Scenen. Überhaupt würde unser Gespräch, wenn es die Schönheiten aus einander sezzen woll- te, sehr spät zu Ende kommen; alles, alles ist bei K. in Theilen schön, sehr schön, nur im Ganzen nicht der rechte Epische Geist.112

Was immer der rechte epische Geist hätte sein können (Herder war sich darüber nicht gänzlich klar), es sind die liebenswürdigen Szenen, die zu endlosen Ge- sprächen Anlaß geben: Teile, die das Ganze auszeichnen, ohne darin aufzugehen.

110 Messias, XIX. Gesang, 91–235, Klopstocks Werke II (Hamel), 369–373. Vgl. Richard Hamel, Klopstock Studien, III: 141 f.: 155 f. und 196 f. 111 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 276 f. (wie ausführlich zitiert). Vgl. im folgenden Ernst Bloch, Atheismus im Christentum (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968), 320. 112 Johann Gottfried Herder, »Ueber die neuere Deutsche Litteratur – Zwote Sammlung von Fragmenten« (1767), Sämtliche Werke, ed. Bernhard Suphan (Berlin: 1877), I: 241–356: 284. 84 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

»Als Dichter, der seine eigenen Empfndungen Sprache werden läßt, ist Klopstock für Herder das unerreichte Vorbild in der zeitgenössischen Literatur«, konstatiert Dieter Lohmeier: »Doch Klopstock zielt höher – und darin will Herder ihm nicht folgen. Klopstock betrachtet die Bewegung der Seele nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel: nach der Lektüre soll der Leser ›Gott, den Mittler/ Ernster betrachten, und heilig leben‹.«113 Das Zitat aus den Stunden der Weihe, ursprünglich unter dem Titel Als der Dichter den Messias zu singen unternahm (dort: »den Messias/ Ernsthaf betrachten«), gibt unzweifelhaf die Intention Klopstocks wieder, da es ihm darum geht die geistliche Palme, nicht den weltlichen Lorbeer zu erringen.114 Auf der Rück- seite dieser Absicht, die in erhabener Kontemplation dem exemplarischen Zweck zugute zu kommen schien, setzt sich anderes durch und fndet in der Wirkung seine Bestätigung. Nicht daß es Klopstock doch um den Lorbeer zu sehr zu tun gewesen wäre; die Palme bot hinreichend Entschädigung auch für den Ehrgeizigsten. Was sich in der Einschätzung des Messias nach Herder zum Gemeinplatz erweitert: daß die in den schönen Stellen betriebene ›Bewegung der Seele‹ das eigentliche Ver- dienst Klopstocks ausmache und sich gegen seine expliziten Intentionen in der Wirkung durchsetze, überschießt das religiöse Programm des Messias. Indem es sich dem religiösen Programm gegenüber als überschüssig zeigt, wird es zum äs- thetischen Potential. Nur mithilfe des religiösen Vehikels erzielt der emotive Tenor der herzrührenden Schreibart seine ästhetische Wirkung.115 Insofern – Richards’ Teorie zu nutzen – läßt sich sagen, die im Messias als mythischem Analogon vor- gestellte Erlösung sei die ›Metapher‹ diesseitiger Träume. Daß diese Träume, bei Klopstocks Ausdruck zu bleiben, im Epos nur episodisch artikulierbar sind, um schließlich dem höheren Zweck gegenüber zu verstummen, schwächt ihre Wirkung nicht ab, sondern macht sie als ästhetische historisch erst möglich und provoziert allenfalls Skandal. Herder wie das ganze zeitgenössische Publikum konnte und wollte deshalb von den individuellen Implikationen und biographischen Anlässen des Messias-Dichters nicht absehen; es ist nicht sehr nützlich, die Naivität dieser Lesehilfe zu belächeln, sondern nötig, ihre sentimentalische Funktion zu erkennen. Während es Miltons Dichten auszeichnet, die Stimme des Dichters zurückzunehmen hinter den über- geordneten Zweck seiner Dichtung, bleibt Klopstock unüberhörbar. »We have«, schreibt Fish über Miltons Lycidas, »a poem that relentlessly denies the priviledge of the speaking subject, of the unitary and seperate consciousness, and is fnally, and triumphantly, anonymous.«116 Für Klopstock trif das Gegenteil zu: so trium- phierend am Ende des Messias auch die Posaunen des Jüngsten Gerichts alle Sorgen der individuellen Eschatologie übertönen, so unüberhörbar bleibt die Stimme Klop-

113 Dieter Lohmeier, Herder und Klopstock (Bad Homburg v. d. H.: Gahlen 1968), Kap. I des Hauptteils: 112. 114 Klopstock, Als der Dichter den Messias zu singen unternahm (1748), Klopstocks Oden und Elegien (Bulst), 30–31: 30 (15/16). 115 Nach der metapherntheoretischen Terminologie von I. A. Richards, Te Philosophy of Rhe- toric (New York NY: Oxford University Press 1936), Kap. V: 96 f. 116 Stanley E. Fish, »Lycidas: A Poem Finally Anonymous«, Glyph 8 (1981), 1–18: 16. Vgl. John Crowe Ransom, »A Poem Nearly Anonymous« (1953), Milton’s Lycidas – Te Tradition and the Poem, ed. C. A. Patrides (New York: 1961), 68–85: 75. Erster Hauptteil 85 stocks, an der sich die Teilnahme der Leser orientiert. Seine Ode An Gott gipfelt in der skandalösen Bitte um seine Geliebte und die irdische Erfüllung seiner Liebe zu ihr: »Ach gieb sie mir, dir leicht zu geben ... will ich mit ihr/ Hier schon das ewige Le- ben fühlen«.117 Lessings kompromißloser Kommentar: »Was für eine Verwegenheit, so ernstlich um eine Frau zu bitten! Kostet in den Voßischen Buchläden hier und in Potsdam 1 Gr.«118 Daß diese Verwegenheit wohlfeil sei, hat der Erfolg bestätigt. Karl Mickel hat in schöner Polemik bemerkt: »das kolossale metaphorische Sys- tem zielt auf die Erlösung aus extrem geschärfen und verfestigten Widersprüchen. Aber Klopstocks Denkweise reproduziert, gerade im Messias-Epos, die mörderische Schizophrenie, welche er wieder und wieder unterdrückt.«119 Die emotive Gegen- läufgkeit, durch die Episoden zu ›counter-plots‹ werden und in zweiter Lektüre ihre semantische Unbestimmtheit als simultane Widersprüchlichkeit ofenbaren, geht bis in die Mikrostruktur kleinerer ›double plots‹ auf deren unabsehbare Ambiguitäten Mickel aufmerksam macht: »Sadomasochistische Züge mit überwiegendem Maso- chismus: Einfühlend beschreibt der aufrechte Antifeudale, wie der Sohn vor dem Va- ter sich auf dem Bauch windet und, in früher Fassung, winselt; lange vor Erschafung der Welt genießt Gottsohn die Vorlust der Kreuzigung. Das Gegengewicht ist Hybris; der Sänger, der den Mittler beschwört ist der Mittler. Klopstock der Menschensohn begnadigt Abbadonna, den reuigen Teufel.« Dem ist nichts hinzuzufügen; die Be- obachtungen kann man erweitern und modifzieren. Mir kommt es soweit nur auf den grundlegenden Gegenzug der teilnehmenden Lektüre zur Gewaltsamkeit der Erlösung und Erlösungsgeschichte an, weniger schon auf die Perversionen, die in deren Verlauf aufreten; sie sind erst dem historisch diagnostizierenden Blick ofen- kundig. Unter dem Gesichtspunkt menschlicher Teilnahmefähigkeiten verzerrt sich das Verhältnis der göttlichen Personen zueinander; entzerrt sich gleichzeitig das Ver- hältnis zur gefallenen Kreatur, und sei es der Leibhafige. Jesus selbst als der andere Leibhafige gerät in die Ambivalenz widersprüchlicher Vermittlung. Der Ausweg der zeitgenössischen Leser und Vorleser, die Episoden an den eigens abgerundeten Bruchstellen herauszulösen und an der Stelle der gewaltsam kollektiven Eschatologie die individuelle Biographie als Kontext einzusetzen, hat systematischen, nicht zufäl- ligen Charakter. Er läßt sich auflären, wenn man anstelle des heilsgeschichtlichen Ablaufmodells der Religion das biographische auf seine Artikulationsbedingungen hin untersucht, die nach Klopstocks Meinung poetisch statt dogmatisch sind. Als Teil einer sozialen Kompetenz organisieren sie eine neue Art von Sprachspielen, in denen die Fähigkeit zu individuellem Ausdrucks geregelt wird.120 Diese in Briefen, Tagebüchern und Autobiographien ausgebildete und ausgeprägte Fähigkeit, deren Efekt nach Lugowski die ›Zersetzung‹ des mythischen Analogons ist, entsteht in der Absetzung der individuellen von der kollektiven Eschatologie; sie hat aber in der auf

117 An Gott (1751), Klopstocks Oden und Elegien (Bulst), 9–13: 12 und 13 (95 und 123/4). 118 Gotthold Ephraim Lessing in der Berlinischen Privilegierten Zeitung, 146. Stück (1751), Ge- sammelte Werke III (Rilla): 68–69: 69; vgl. zuvor die Kritischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit, 51. Stück (1751), 38–39. 119 Karl Mickel, »Gelehrtenrepublik«, Text+Kritik, Sonderband Klopstock, 82–96: 84. 120 George Steiner, »Te Distribution of Discourse« (1978), On Difculty and Other Essays (Oxford:Oxford University Press 1979), 61–94: 74 f. und 83 f. 86 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik fktiver Gegenseitigkeit aufauenden Kommunikativität einer neuen literarischen Öfentlichkeit auch ihre eigene soziale Realität, dergegenüber die alte Realität der dogmatisch gestützten mythischen Analoga ideologisch wird.121

121 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öfentlichkeit (Neuwied/Berlin: Luchterhand 1962), Kap. II: 60. Zweiter Hauptteil 87

Zweiter Hauptteil Oden und Elegien – Empathie auf der Zürcher See und Melancholie in der Klopstock-Nachfolge

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch einmal denkt.*

Doch goldig strahlet, wie Glanz der Unsterblichkeit, Der Purpurblick, mit welchem du, Scheidende! Zurück zur Erde siehst und sanfter Lächelnd die Freundin noch einmal segnest.**

»Diese wie vom südlichen Zauber angewehte Landschaf ist mehr als schön: sie ist vom Erlebnis dichterischer Gemeinsamkeit durchgeistigt«, schließt Max Kommerell ein Klopstock-Kapitel, das er unter Klopstocks Titel Der Lehrling der Griechen stell- te.1 Er präzisiert damit auf seine Weise Schillers Beschreibung Klopstocks als des sentimentalischen Dichters: »Seine Sphäre«, hieß es bei Schiller, »ist immer das Ideenreich, und ins Unendliche weiß er alles, was er bearbeitet, hinüberzuführen. Man möchte sagen, er ziehe allem, was er behandelt, den Körper aus, um es zu Geist zu machen, so wie andere Dichter alles geistige mit einem Körper bekleiden.«2 Nach Kommerell möchte man sagen, es sei dies der Geist »dichterischer Gemeinsamkeit«, der zu Beginn desselben Kapitels »nicht als Spielart des Schriftums sondern als Rang des Erlebnisses« bei Klopstock begründet wird. Benjamin, der konservativen magna charta vom »Dichter als Führer« von der »anderen Seite« begegnend, hat die Ideologie einer »Heilsgeschichte der Deutschen«, die Kommerell von Klopstock bis Hölderlin entfaltet, entlarvt und die tragenden Ideologeme benannt: »Der Deutsche ist der Erbe der griechischen Sendung; die Sendung Griechenlands die Geburt des Heros. Es versteht sich, daß diese Griechheit aus allen Zusammenhängen gelöst als mythologisches Kraffeld erscheint.«3 Gleichzeitig mit Kommerell und mit ver- gleichbar substanziellen Ansprüchen hatte Lugowski aus Erwin Rohdes ›Mythos-

* Friedrich Gottlieb Klopstock »Fahrt auf der Zürcher See« (1750), Klopstocks Oden und Elegien (Darmstadt: Wittich’sche Hofuchdruckerei 1771), 95–98; ed. Walther Bulst (Hei- delberg: Winter 1948), 72–74. In der Hamburger Ausgabe unter dem Titel Der Zürchersee, Oden (Hamburg: Bode 1771), 116–120. Für Varianten vgl. Friedrich Gottlieb Klopstocks Oden, ed. Franz Muncker und Jaro Pawel I–II (Stuttgart: Göschen 1889), hier 83–85. ** Johann Friedrich Hahn, »Der Abend« (1772), Matthissons Anthologie XI, nach Der Göttin- ger Hain, ed. Alfred Kelletat (Stuttgart: Reclam 1967), 311. 1 Max Kommerell, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (Berlin: Georg Bondi 1928/ Frankfurt a. M.: Klostermann 21929), 34, im folgenden 11 und 60. 2 Friedrich Schiller, »Über naive und sentimentalische Dichtung« (1795/96), Schillers Werke (Nationalausgabe), ed. Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese XX–XXI (Weimar: Böhlau 1962–63), XX: 413–503: 457. 3 Walter Benjmain, »Wider ein Meisterwerk« (1930), Angelus Novus (Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1966), 429–436: 430–431. 88 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Gemeinsamkeit‹ im griechischen Roman das ›mythische Analogon‹ entwickelt, als dessen »Zersetzungsprodukt« die »moderne Individualität im Roman« erscheint.4 Benjamin versäumt nicht, auf Kommerells »Vernichtung der beiden Schlegels in einer Konfrontation mit Schiller« hinzuweisen und auf die darauf aufauende Ver- leugnung des »Ursprungs der Erneuerung deutscher Lyrik, die George vollzog.« Die Entdeckung Hölderlins und seines lyrischen Objektivitätsanspruchs«, der in Adornos Worten »sich von der subjektiven Ausdruckslyrik um ihrer Hinfälligkeit willen entfernt«, läßt in Klopstock »die Würde des Vorbereiters« entdecken, an der Kommerells Darstellung gelegen ist. Adorno lehrt Hölderlins ›Parataxis‹ als ein Stil- prinzip erkennen, das als »Widerspruch zur dichterischen Gestalt selber« fungiert – Funktionalisierung des bei Kommerell wie Lugowski substantiell besetzten mythi- schen Horizonts, in der das kompensatorische Moment des mythischen Analogons bestimmend wird.5 Spätestens an Hölderlin wird die Begrenztheit der erlebnispsy- chologischen Fragestellung und die kommunikative Problematik der Tesen vom Erlebnis und der Dichtung handgreifich. Das mythische Analogon »dichterischer Gemeinsamkeit« wird in der Fahrt auf der Zürchersee durch das gemeinsame Erlebnis der Freunde konstituiert, nicht durch die literarische Tradition des ›Schriftums‹, behauptet Kommerell. Dilthey selbst, bevor er darangeht, Schillers Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung zu reformulieren, spricht von der ›Bedeutsamkeit‹, zu der ein Gescheh- nis durch das Erlebnis »erhoben« wird und von dem darauf beruhenden »Gehalt einer Dichtung, welcher das einzelne Geschehnis zur Bedeutsamkeit erhebt«6. Das derart ›Erhabene‹, das durch Bedeutsamkeit, nicht durch allegorische Bedeutung charakterisiert ist, heißt lebensphilosophisch ›Erlebnis‹: »Der Ausgangspunkt des poetischen Schafens ist immer das Erlebnis und die Besinnung über dasselbe in der Lebenserfahrung. Jeder der unzähligen Lebenszustände, durch die der Dichter hin- durchgeht, kann in psychologischem Sinne als Erlebnis bezeichnet werden: hier soll dieser Ausdruck nur diejenigen unter den Momenten seines Daseins bezeichnen, welche ihm einen Zug des Lebens aufschließen. So aufgefaßt wird das Erlebnis ein Bestandteil der Lebenserfahrung.« Das betrif nicht nur die Herkunf der Dichtung aus dem Erlebnis, sondern hat seine rezeptionsästhetische Seite, die gerne übersehen wird: »Das Geschehnis wird so zu seiner Bedeutsamkeit erhoben. Es ist der Kunst- grif des Dichters, es so hinzustellen, daß der Zusammenhang des Lebens selbst und sein Sinn aus ihm herausleuchtet. Der Dichter ruf in seinem Leser oder Hörer das stärkste Gefühl der im Geschehnis enthaltenen Lebensmomente und ihrer Werte hervor.« Die Genesis der neuen, auf dem Erlebnis beruhenden Rezeptionsweise hat Wil- helm Dilthey in der Anthropologie des 17. Jahrhunderts skizziert:

4 Vgl. Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer (Leipzig: Breitkopf und Här- tel 21900), 12 f. und Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman (Berlin: Junker und Dünnhaupt 1932), 8 f. 5 Teodor W. Adorno, »Parataxis – zur späten Lyrik Hölderlins« (1963), Noten zur Litera- tur III (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1965), 156–209: 196 f. 6 Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung (Leipzig: Teubner 1906), 158–159. Zweiter Hauptteil 89

Wir müssen die Illusion, welche in der Wertbestimmung eines Gutes liegt und in Antrie- ben zu Handlungen, dergleichen der Zorn ist, welcher das Zweckmäßige überschreitet, erfahren, um belehrt zu werden. Von dem was andere durchleben, von ihren Leiden durch ihre Passionen bis zu ihrem Untergang geht dann eine Erfahrung über den Le- benswert der einzelnen Affekte in dem Grade aus, als die Eindrücke davon mit sinnlicher Stärke auf uns wirken und wir die inneren Zustände zu reproduzieren vermögen. Eine Ergänzung solcher Erfahrungen liegt im Durchleben der Affekte in der Poesie oder der künstlerischen Geschichtsdarstellung. Durch die besondere Art von Erfahrung, die im Miterleben stattfindet, erleben wir in der Dichtung die schmerzlich süße Spannung der Leidenschaft, die Auflösung der Illusion über den Wert ihrer Befriedigung, die äußeren Folgen der in ihr wirksamen grenzenlosen Steigerung einseitiger Begierde, anderer- seits aber das ruhige Glück der auf die stetigen, der Außenwelt konformen rationalen Gewöhnungen gegründeten Lebenszustände, der heroischen Seelenstärke, der Hingabe an die über unser Dasein reichenden großen Objektivitäten. An diesem Punkt erlangen wir einen tieferen Einblick in die Funktion der Poesie im Haushalt der menschlich ge- schichtlichen Welt.7

Ich lasse das Zitat in dieser Ausführlichkeit stehen, weil es die »besondere Art« der ästhetischen Erfahrung aus ihrer kompensatorischen Funktion einer »Ergänzung« herausarbeitet, aber gleichzeitig den Begrif des Erlebnisses als eines »Miterlebens« völlig unproblematisiert läßt. In der erlebnispsychologischen Vulgärversion, die nach Dilthey erfolgreich wurde, bleibt es bei Bewußtseinserlebnissen, die mit ei- nem ›Unbewußten‹ in keine Relation zu setzen sind, denengegenüber also weder die besondere Erfahrungsart, noch das kompensatorische Ergänzungsverhältnis von Literatur plausibel ist und die Rede vom Miterleben tautologisch bleiben muß.8 Blumenberg, dessen Arbeit am Mythos den Mythos als mythisches Analogon re- defniert, spricht von einem »eigenen Wirklichkeitsbezug«, dem die Bedeutsam- keit Prägnanz und Gestalt verleiht.9 Diltheys Rede vom Erlebnis in der Dichtung meint diese Gestaltqualität des Prägnanten, die als Bedeutsamkeit des Erlebten mit- erlebbar und kommunikabel wird – sei es auch um den Preis der Fiktion oder des Widerspruchs gegen sie, geglückter Anamnesis oder ihrer Unmöglichkeit in der Dichtung.10 Klopstocks Fahrt auf der Zürcher See ist ein in jeder Hinsicht paradigmatischer Fall, vergleichbar etwa mit Petrarcas erster Besteigung des Mont Ventoux: »ein kul- turgeschichtliches Dokument von einzigartiger Bedeutung« zumindest.11 In Brüg- gemanns psychohistorischem Konzept (er selbst nennt es psychogenetisch) über-

7 Wilhelm Dilthey, »Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahr- hunderts« (1904), Gesammelte Schrifen II (Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 51957), 416–492: 481. 8 Moritz Geiger, Fragment über den Begrif des Unbewußten und die psychische Realität (Sonderdruck des Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung IV) (Halle: Niemeyer 1921), I. Abschn. 9 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979), Teil I; Kap. III: 78. 10 Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 66 f. und Teodor W. Adorno, »Parataxis«, 202 f. 11 Fritz Brüggemann/Helmut Paustian, Einführung, Der Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Reihe Auflärung VII), ed. 90 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik wiegt das kulturgeschichtliche, im weitesten Sinne sozialhistorische Interesse unter weitgehendem Verzicht auf kunst- oder literaturspezifsche ›Diferenzqualitäten‹. Bei ihm fndet sich eine quasi realistische Terminologisierung des von Kommerell esoterisch gemachten Mythos. Die Behauptung, Klopstocks Landschaf sei »vom Erlebnis dichterischer Gemeinsamkeit durchgeistigt«, erscheint in Brüggemanns Behandlung des Gedichts ganz auf der Linie der Tradition, in der dieser Text un- trennbar mit seinem Anlaß verbunden bleibt, der Fahrt auf dem Zürcher See am 30. Juli 1750. In seiner ausführlichen Dokumentation hat Brüggemann auch das erste Dokument dieser Tradition abgedruckt, einen Brief Johann Kaspar Hirzels an Ewald von Kleist, der zusammen mit einem Brief Klopstocks die Quelle abgibt für eine Reihe prominenter Darstellungen des Ereignisses. Brüggemann selbst meint, Hirzels Bericht sei »von derselben Stimmung getragen, die in der Ode nur gehobenen Aus- druck gefunden hat.« Daß dieser Ausdruck ein »nur« gehobener sei, lokalisiert das Erlebnis samt dadurch ermöglichtem Miterleben in einer Sphäre kommunikativen Handelns, die nicht in der Dichtung konstituiert wird, sondern ihr als ›Stimmung‹ vorausliegt, so daß ihre Erhabenheit sich von ihr abhebt. Als ›Ausdruck‹ kann sie nur Gehobenheit dieser Stimmung sein: »Inhalt dieser Stimmung aber ist das Be- wußtwerden des großen Erlebnisses einer neuen, ungleich engeren gefühlsmäßigen Verbindung der Menschen untereinander, als sie die voraufgegangenen Jahre jemals erlebt hatten. Die vierziger Jahre hatten nur ein Gemeinschafsgefühl im Sinne der allgemeinen sozialen Verbundenheit gekannt, die den Inhalt dessen ausmachte, was die Zeit die Tugend nannte«; und die Freundschaf beruhte für diese Zeit im wesentlichen nur auf einer Gesinnungsgemeinschaf im Sinne dieser die Redlich- keit und die Uneigennützigkeit preisenden Tugend (...) Dem steht hernach in der Minna von Barnhelm die reale Freundschaf gegenüber (...) Sie ist nicht mehr ein Ausdruck der Sachlichkeit, sondern ein subjektives Parteinehmen für den andern, und sie bedeutet im ersten Sturm des Empfndens unter Umständen gar Blindsein für die Schwächen des Freunds. Noch nicht so konkret, aber im gleichen Sinne einer Gefühls- und nicht nur einer Gesinnungsgemeinschaf verbindet Klopstock in Leipzig eine Freundschaf mit Cramer, Schmidt, Ebert und Giseke. Und das in diesem Bund erlebte Gefühl innigerer Verbundenheit beseelt Klopstock aufs neue in Zürich in dem jugendlichen Kreis, der sich in warmer subjektiver Parteinahme um den innig verehrten Dichter schart und sich schwärmerisch diesem neuen Freund- schafsgefühl ergibt. Und wir werden Zeugen des bedeutungsvollen Vorganges, wie um die Mitte des Jahrhunderts die Freundschaf geboren wird, von der die zweite Hälfe des Jahrhunderts so übervoll ist. In der Ode Der Zürcher See steigt sie zum erstenmal in der deutschen Dichtung leuchtend empor, und in ihrem Gefolge bringt sie etwas Neues mit, das mit ihr über die Seelen der Menschen gekommen ist: die Freude. Die vierziger Jahre hatten noch nicht von diesem schwärmerischen Zustand der Freude gesprochen, sie hatten immer nur die Tändelei als höchsten Ausdruck geselligen Verkehrs gekannt.« Als Dokument einer weitreichenden psychohistorischen Entwicklung steht die Ode von der Fahrt auf der Zürcher See paradigmatisch für die Entstehung einer li-

Fritz Brüggemann (Stuttgart: Reclam 1935/Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1966), 5–20: 10–13. Zweiter Hauptteil 91 terarischen Öfentlichkeit, die ihrerseits Leitbild bürgerlicher Öfentlichkeit gewesen wäre. Zwar spricht Habermas in seiner idealtypischen Rekonstruktion bürgerlicher Öfentlichkeit mit Bedacht von der »fktiven Identität der zum Publikum versammel- ten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und als Menschen schlecht- hin«, sind mithin literarische und politische Öfentlichkeit nur fktiv »identisch«, sofern nämlich in der Meinung der »gebildeten Stände« sowohl »sich die Privatleute im literarischen Räsonnement qua Menschen über Erfahrungen ihrer Subjektivität verständigen«, als auch »im politischen Räsonnement qua Eigentümer über die Re- gelung ihrer Privatsphäre«; aber diese ofenkundige Fiktion, setzt Habermas außer Zweifel, sei darum nicht »Ideologie schlechthin«, sofern sie nämlich als literarische Fiktion von der kommunikativen Verbesserung der ›Verständigungsverhältnisse‹ (Henrich), nicht der Verschlimmerung des ideologischen ›Verblendungszusammen- hangs‹ (Adorno) zeuge.12 Ich will die anschließende ideologiekritische Debatte nicht aufrollen, sondern nur kenntnlich machen, wie deren Aporien von der naiven Ein- schätzung des historischen Quellenwerts literarischer Texte herrühren, denen allen- falls eine vage Verhältnismäßigkeit des Ausdrucks zum Ausdruck der Verhältnisse zugemutet wird, die rhetorisch nützlich und insofern ideologisch anfällig ist, als »die Humanität der literarischen Öfentlichkeit der Efektivität der politischen zur Ver- mittlung« etwa dienen kann. Das Zürcher »Erlebnis dichterischer Gemeinsamkeit«, das nach Kommerell ein neues mythisches Analogon als Ideologie begründen hilf, ist nach Brüggemann Ausdruck einer neuen Sozialität, die im Gedicht Steigerung und Verstärkung erfährt. Als Ausdruck von Stimmung schaf der gedichtete Text Gemeinsamkeit sowenig wie Ideologie, ist er freilich zur Ideologiebildung anstelle fehlender Gemeinsamkeiten geeignet. Wie im Falle des Epos der Mythos und seine mythische Terminologisierung, so sind im Falle des modernen Gedichts die Ideo- logie und ihre lebensweltliche ›Realisierung‹ zwei Seiten derselben methodischen Crux, deren kommunikative Aufösung mit einem allgemeinen Ideologieverdacht so gut wie mit dem speziellen Verdikt der »Heresy of Paraphrase« oder »Hérésie didac- tique« belegt ist.13 Im vorliegenden Fall ist davon die wechselseitige Erhellung von Gedicht und Brief betrofen, die Brüggemann vorschlägt: Hirzel wie auch Klopstock hätten briefich diskursiv und also geradeheraus und unverstellt mitgeteilt, was im Gedicht poetischer Steigerung qua ›Verdichtung‹ unterläge und folglich unverzüg- lich aufzuklären wäre. Fragt sich folglich, wozu Steigerung nötig und Verdichtung gut sein konnte, wenn der kommunikative Zweck auch briefich zu erreichen war. Zwar steht außer Zweifel, daß im Falle der Fahrt auf der Zürcher See der Einblick in die Briefe zum selben Ereignis nützlich sein kann, aber der Wert der ›Ergänzung‹, den Dilthey zufolge das Gedicht für die Partner der briefichen Verständigung ge- habt haben sollte, und der Mehrwert des »gehobenen Ausdrucks«, den Brüggemann ihm unterstellt, bleiben einigermaßen unklar. Das heißt, wenn wir eine bestimm- te Struktur der Verständigungsverhältnisse unterstellen, die in der Gegenseitigkeit brieficher Kommunikation ihren Niederschlag fndet, können wir die kommuni-

12 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öfentlichkeit (Neuwied/Berlin: Luchterhand 1962), Kap. II: 67 f. 13 Vgl. Heinz Dieter Weber, »Das Ärgernis der Interpretationen«, Receptie Onderzoek, ed. H. van Gorp, R. Ghesquiere und R. T. Segers (Leuwen: Peters 1981), 213–236: 224 f. 92 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik kative Funktion des Gedichts dieser Struktur zuordnen, die in ihm repräsentiert wäre. Der gehobene Ausdruck, der in einem derart repräsentativen Moment des Gedichts zum Zuge käme, wäre verständigungsdienlich, sofern sie die Intention der Verständigung thematisch machen und gegen alle Mängel ihrer Erfüllung vor Augen führen würde. Konsequenz wäre, daß der Strukturwandel, von dem Haber- mas spricht, das repräsentative Moment der Herrschaf in ein selbstrepräsentatives Moment der Verständigung transformiert hätte; der Strukturwandel der Öfentlich- keit ginge mit einem Funktionswandel der Repräsentation Hand in Hand. Dem ent- spricht der Strukturwandel der Allegorie (vorsichtiger des Allegorischen), der im Funktionswandel des Lesens von der exemplarischen (im rhetorischen Sinne allego- rischen) Lektüre zur empathischen (im modernen Sinne ästhetischen) Lektüre sich vollzieht. Was »die Funktion der Poesie im Haushalt der menschlich geschichtlichen Welt« angeht, hat Dilthey das »Durchleben der Afekte in der Poesie« als eine ofenbar notwendige »Ergänzung« gedacht, durch die »die besondere Art von Erfahrung, die im Miterleben stattfndet« als ästhetische die lebensweltliche Erfahrung erst zur Er- fahrung komplettiert; dafür steht das Erlebnis, das in refexiver Tematisierung des Erfahrungshorizonts moderne Lebenserfahrung kommensurabel und kommuni- kabel macht. Dilthey mit Norbert Elias (via Freud) ergänzend, wird man in dieser besonderen Art der Erfahrung gerne den Ort der ›Afektmodellierung‹ sehen, die im »Prozeß der Zivilisation« nötig wird.14 Dem psychohistorischen (bei Elias wie Brüg- gemann psychogenetischen) Gemeinplatz ist die lebensphilosophische Begründung für den klassischen Wechsel von der Allegorie zum Symbol leicht verträglich zu machen; nicht von ungefähr ist Goethe das Paradigma für das Tema Erlebnis und Dichtung. Ich will die Problematisierung der vorliegenden Gemeinplätze nicht ab- schließen, ohne das probate Mittel zu erwähnen, mit dem Klopstock seinen literar- historischen Ort bei Gerhard Kaiser fndet: nicht mehr allegorisch wie die Lyrik vor ihm, sei er noch nicht symbolisch, wie Goethe nach ihm.15 Was dann an zuviel Re- ligion in der Dichtung einerseits und zuwenig Erlebnis in der Dichtung andererseits: liegen soll. Abermals wäre zwischen diesen beiden Stühlen der kommunikativen Funktion zuviel zugemutet und der ästhetischen Wirkung zuwenig zugetraut. Immerhin ist – angesichts der schwierigen Vermittlung von kommunikativer Funktion und ästhetischem Mehrwert – der kommunikative Erfolg wie die ästheti- sche Wirkung Klopstocks und insbesondere seiner Oden unbestritten. Dafür steht das in der Fahrt auf der Zürcher See thematische Phänomen der Freundschaf und die damit verbundene Idee der Freude, die Brüggemann zufolge die der Tugend überfügelt. Rasch spricht von »Klopstocks Odenform als Erzeugnis des Freund- schafserlebnisses«, wobei die seither als Geheimtip der Klopstockforschung gehan- delte Dissertation von Ernst Kaußmann die wesentlichen Argumente dafür liefert, »daß die Gestalt der Klopstockschen Ode bis in die Einzelheiten ihrer sprachlich

14 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation I–II (Basel: Haus zum Falken 1939/Bern: Francke 21969), Kap. V des »Entwurfs«. 15 Gerhard Kaiser, Klopstock – Religion und Dichtung (Gütersloh: Mohn 1973), Kap. VI: 283 und 287. Zweiter Hauptteil 93 formalen Eigenart die neue Erlebnisform der Freundschaf zur Voraussetzung hat«.16 Voraussetzung ist indes die »eigentümliche Grundform dieser Ode, die Sprache, An- lage und Ton bestimmt« und als ›Erlebnisform‹ grammatisch-rhetorischer Natur ist: »die Anrede eines Du, an das die Selbstaussprache des Dichters als an ein selbständi- ges, in einer bestimmten Spannung zu ihm stehendes Gegenüber gerichtet ist«. Die soziale Sphäre der Freundschaf, die in Klopstocks Ode nun nicht »nur gehobenen Ausdruck« gefunden hat, sondern in ihr ihre Erlebnisform hat, beruht auf einem ›Sprachspiel‹, dessen ›Grammatik‹, mit Wittgensteins gleichzeitiger Philosophie zu sprechen, einer ›Lebensform‹ entspricht.17 Rasch zitiert Kaußmanns Tese, nach der Klopstocks Ode »die zur Sprache gewordene Spannung aus einer einmaligen, gegen- wärtigen, menschlichen Ich-Du-Beziehung« darstelle, deren »stilgebendes Prinzip« die »Äußerung eines erregten Ich zu dem ihm verbundenen, aber doch nicht unter- geordneten Du« sei und also in der Struktur der Ode »den Stil dieser Freundschaf selbst darstellen« helfe. Ich sehe von den Eigenarten des Klopstockschen Darstel- lungsbegrifs erst einmal ab, in denen der Funktionswandel der Repräsentation seine Spuren hinterlassen hat, und bleibe zunächst bei der Beschreibung des linguistischen Befunds. Benveniste hat die pragmatische (genauerhin universalpragmatische in Haber- mas’ Sinn) Implikation der Personalpronomen ›ich‹ und ›du‹ im Unterschied zur 3. Person des ›er‹ herausgearbeitet:

Chaque instance l’emploi d’un nom se réfère à une notion constante et ›objective‹, apte à rester virtuelle ou à s’actualiser dans un objet singulier, et qui demeure toujours iden- tique dans la représentation qu’elle éveille. Mais les instances d’emploi de je ne con- stituent pas une classe de référence, puisqu’il n’y a pas d’›objet‹ définissable comme je auquel puissent renvoyer identiquement ces instances. Chaque je a sa référence propre, et correspond chaque fois à être unique, posé comme tel. Quelle est donc la ›réalité‹ à laquelle se réfère je ou tu? Uniquement une ›réalité de discours‹, qui est chose très singulière. Je ne peut être défini qu’en termes de ›locution‹, non en termes d’objets, comme l’est un signe nominal. Je signifie ›la personne qui énonce la présente instance de discours contenant je ... Par conséquent, en introduisant la situation d’›allocution‹, on obtient une définition symétrique pour tu, comme ›l’individu allocuté dans la présen- te instance de discours contenant l’instance linguistique tu‹.«18

Entscheidend ist die Beziehung von Indikator und anwesender Diskursinstanz, wie Benveniste hervorhebt. Die pragmatische Implikation kommunizierender Personen verweist nicht auf eine ›Realität‹, sondern ist ›autoreferentiell‹, so daß man von die- sen sogenannten ›pronominalen‹ Formen sagen kann, sie refektieren ihre eigene

16 Wolfdietrich Rasch, Freundschafskult und Freundschafsdichtung im deutschen Schriftum des 18. Jahrhunderts (Buchreihe der Deutschen Vierteljahresschrif 21) (Halle: Niemeyer 1936), Kap. VIII: 242. Vgl. Ernst Kaußmann, Der Stil der Oden Klopstocks (Diss. Leipzig 1931), im folgenden 8 und 18. 17 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), Schrifen I (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1960), 296 und 300, in den sprichwörtlichen §§ 19 und 23. 18 Emile Benveniste, »La nature des pronoms« (1956), Problèmes de linguistique générale I–II (Paris: Minuit 1966), I: 251–257: 252–254. 94 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Anwendung: »L’ importance de leur fonction se mesurera à la nature du problème qu’elles servent à resoudre, et qui n’est autre que celui de la communication inter- subjective. Le langage a résolu ce problème en créant un ensemble de signes ›vides‹, non référentiels par rapport à la ›réalité‹, toujours disponibles, et qui deviennent ›pleins‹ dès qu’un locuteur les assume dans chacque instance de son discours ... Leur rôle est de fournir l’instrument d’une conversion, qu’on peut appeler la conversion du langage en discours. C’est en s’identifant comme personne unique prononcant je que chacun des locuteurs se pose tour à tour comme ›sujet‹. L’ emploi a donc pour condition la situation de discours et nulle autre.« Daß Subjektivität als sprachliche Rolle, Intersubjektivität als entsprechende Rol- lenverteilung linguistischer Natur ist, wäre Kaußmann und Rasch zufolge in Klop- stocks Ode thematisch geworden. Das lyrische Ich als Subjekt der Rede thematisch machen (also: Subjektivität zum Gegenstand lyrischer Rede machen), heißt nun gerade nicht, das lyrische Ich als »ein Aussagesubjekt« aufreten lassen, sei es auch, daß diese Aussage »keine Funktion in einem Objekt- oder Wirklichkeitszusammen- hang haben« wollte, wie Käte Hamburgers Logik der Dichtung widersprüchlich ge- nug formuliert.19 Als Subjekt der Äußerung, nicht der Aussage wird das lyrische Ich thematisch. Es thematisiert Subjektivität, indem es als persona die illokutive Rolle thematisch macht, die der grammatischen Kompetenz entspricht, als Subjekt der eigenen Rede aufzutreten: »la capacité du locuteur à se poser comme ›sujet‹«, sagt Benveniste: »Est ›ego‹ qui dit ›ego‹. Nous trouvons là le fondement de la ›subjec- tivité‹, qui se détermine par le statut linguistique de la ›personne‹.«20 Unter Te- matisierung verstehe ich hier zunächst nur, daß das lyrische Ich seine grammatisch vorgezeichnete illokutive Rolle nicht erfüllt, sondern sie als leere zur Disposition stellt, indem es das Muster zu ihrer Erfüllung liefert: es als ›Paradigma‹ thematisch macht. Als Selbst-Tematisierung des grammatischen Paradigmas Ich fungiert das lyrische Ich als ein ›refexiver Mechanismus‹.21 Freilich ist die Tematisierung des Selbst durch das Ich in dieser Redeweise allegorisierender Art: dies Selbst ist ima- ginäres Resultat eines Selbst-Tematisierungsprozesses, in dem die Refexion auf »es selbst« für das Ich Subjektivität entwirf. Das dabei thematisch gemachte und paradigmatisch gewordene Muster ist als grammatisches ›pattern‹ in einem auch rhetorisches ›Schema‹: »conversion du langage en discours«, wie Benveniste sagt; das lyrische Ich mithin ›Figur‹ des Imaginären, die als ›Metapher‹ des grammatischen Ichs zustande kommt. Ich will meine Lacan-Lektüre nicht ausbreiten und die Dis- kussion der ›shifers‹ zurückstellen, die von Roman Jakobson ausgelöst und durch Benvenistes Pronomen-Aufsatz in der Jakobson-Festschrif zu weitreichenden Kon- sequenzen provoziert worden ist, unter denen Lacans Jakobson-Lektüre, sowie Jacques Derridas Husserl-Lektüre und Lacan-Kritik die wichtigsten sind.22 Das

19 Käte Hamburger, Logik der Dichtung (Stuttgart: Klett 1957, 21968), Kap. »Die lyrische Gat- tung«: 188 und 213. 20 Emile Benveniste, »De la subjectivité dans le langage« (1958), Problèmes de linguistique gé- nérale I, 258–266: 259–260. 21 Niklas Luhmann, »Selbst-Tematisierung des Gesellschafssystems« (1973), Soziologische Auflärung II (Opladen: Westdeutscher Verlag 1975), 72–102: 74 f. 22 Roman Jakobson, »Shifers, Verbal Categories, and the Russian Verb« (Russian Language Projekt, Department of Slavic Languages and Literatures, Harvard University 1957), Essais Zweiter Hauptteil 95

Motiv der lyrischen ›Erhebung‹ ist hier anzuschließen, das traditionellerweise das Erlebnis des Gedichts durch die im lyrischen Ich gesteigerte Präsenz dichterischer Subjektivität begründen soll, denn »Aufschwung und Aufstieg« seien in der Lyrik »als Bewegungen des Ich zu seinem Selbst« aufzufassen, »als Akte also, mit denen sich das Ich seiner Identität vergewissert«.23 Anders im Falle Klopstocks, wo das lyrische Du prominenter als das lyrische Ich ist und deshalb die von Benveniste entworfene Konzeption in vollem Umfang zum Tragen kommt. Was ich zunächst die Selbst-Tematisierung des grammatischen im lyrischen Ich nenne und in der Lyrik als refexiven Mechanismus beschreiben würde, der sekundär-grammatisch (also im rhetorischen Verstande gattungsspezifsch) die illokutionäre Rolle des Ich paradigmatisch macht, kennt im Prozeß der Literarisie- rung unterschiedliche Abstufungen, die nicht lyrik-spezifsch sind. Sie sind para- digmatisch im autobiographischen Schreiben entstanden und in der allmählichen Fiktion des autobiographischen Ich als einer ›Metapher‹ des Selbst verfestigt worden. Für die komplementäre Rolle des Du ist die Entwicklung des Briefschreibens ein- schlägig und Klopstocks Oden sind im entsprechenden Verhältnis zur briefichen Kommunikation zu sehen. Klopstocks Ode, so lautet meine Anschlußthese, ist in genau dem Sinne die Erlebnisform der Freundschaf, in dem sie das Muster der briefichen Kommunikation refektiert, das diese Freundschaf zum ›Freundschafs- erlebnis‹ macht: »Erzeugnis des Freundschafserlebnisses« wäre sie, sofern dies Er- lebnis im Brief zustandekäme und das briefiche Du im lyrischen Du selbst-refexiv würde. »Die häufgen Evokationen von Lesern und Hörern in Klopstocks Oden«, vermutet Alewyn, hätten vor allem einen Grund, »nämlich die ihm eigentümliche Bevorzugung der zweiten Person des Verbums, die Anrede also, deren Adressat zwar nicht immer, aber häufg eine menschliche Person ist«.24 Brief und Ode haben soviel auf den ersten Blick gemeinsam, daß ihr Adressat (immer) eine menschliche Person ist, wiewohl in der Ode häufg nicht (oder nicht bloß) diese Person angeredet ist. Daß es sich bei Oden (immer) um Oden An Fanny oder An Meta, An Herrn Ebert und An Herrn Gleim handelt, heißt nicht, daß in ihnen allein Fanny und Meta, Ebert und Gleim Gegenstand der Anrede sind.25 In der Fahrt auf der Zürcher See geht die Anrede wie schon einmal zuvor An des Dichters Freunde und im Erstdruck aus gegebenem Anlaß geht ihr die Ode An Herrn Bodmer voraus. Daß die Ode einen Adressaten hat und darin dem Brief gleicht, macht es nicht nötig, in manchen Fällen gar überfüssig, daß dieser als grammati- sches Objekt der Anrede im Text aufaucht. Vorausgesetzt sind die grammatischen Positionen des Ich und Du als Diskursinstanzen des Briefs, genauer als diejenigen Instanzen, durch die briefiche Äußerungen zum Diskurs werden: »Ainsi les indica-

de linguistique générale (Paris: Minuit 1963), 176–196: 178–181. Vgl. hier das Ref. von Samuel M. Weber, Rückkehr zu Freud (Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein 1978), Kap. VI– VII: 72 f. und 90 f. 23 Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich: Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik (Berlin: De Gruyter 1970), Schluß: 348. 24 Richard Alewyn, »Klopstocks Leser«, Festschrif für Rainer Gruenter, ed. Bernhard Fabian (Heidelberg: Winter 1978), 100–121: 115. 25 In der Darmstädter Ausgabe von Klopstocks Oden und Elegien (Bulst), Nr. 33 und 39, 22 und 43, im folgenden Nr. 24 und 34. 96 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik teurs je et tu ne peuvent exister comme signes virtuels, ils n’existent qu’en tant qu’ils sont actualisés dans l’instance de discours, où ils marquent par chacune de leurs propres instances le procès d’appropriation par le locuteur.« Wenn ich davon rede, daß Brief und Ode zusammengehören: Klopstocks Ode insbesondere das Muster der briefichen Kommunikation voraussetzt, dann in diesem Sinne einer gemein- samen linguistischen Diskursbasis. Das läßt sich leicht durch historisch-empirische Beobachtungen plausibel machen: etwa daß Klopstocks Oden lange vor ihrer ersten Publikation in der Darmstädter und Hamburger Ausgabe in Briefen verschickt und als Teil brieficher Kommunikation gelesen, wie auch in Briefen oder als Beilage zu ihnen verfaßt und mit ihnen addressiert wurden; daß das Abschreiben und Weiter- verschicken von Oden wie von zugehörigen Briefen die Hauptverbreitungsart war; und daß die Mehrfachadresse und der gemeinsame Brief an gemeinsame Freunde dabei eine wichtige Rolle spielten. Gerade aus der Vorgeschichte der Ode vom Zür- cher See ist ein solcher gemeinsamer Brief Klopstocks, Gleims, Sulzers und Schult- hessens überliefert, in dem auch die Schreiber untereinander korrespondieren und Gleim an Klopstock einen Abschnitt über die Bedeutsamkeit seiner Zürcher Ex- pedition verfaßt: »Sie mein liebster Klopstock! haben ein Amt, welches ich Ihnen beneide. Sie sind unser Gesandter an die Schweizer, die wir lieben und ehren, die mit uns das sind, was wir mit ihnen sind. ... Ach! könnte ich doch den ehrlichen Bodmer mit Ihnen zugleich sehn! – – Gleim.« Adressiert ist dieser Gemeinschafsbrief »An die Herren Rabener, Gellert, Rothe, in Leipzig; Cramer und Cramerina, Schlegel in Crellwitz;« usw. an insgesamt 22 namentlich aufgeführte Freunde, unter denen auch »Schmidt und Fanny in Langensalze« sind.26 Der erste Druck der Ode bestätigt als Privatdruck das Schema, indem er die Ode An Bodmer voransetzt, die auf diese Wei- se Teil, und zwar der Teil lokaler Pertinenz des In-Szene Vorgeführten ist. Was qualifziert nun die Ode von der Fahrt auf der Zürcher See innerhalb des Ensembles der sie umgebenden Briefe, unter denen Klopstocks eigene Briefe an Schmidt und Fanny über dies Ereignis und Hirzels Bericht besonders aufschlußreich sind? Die Kommunikationsform der Ode vorausgesetzt, beschränkt die Ode vom Zürcher See sich auf ein Du, das rein odisch ist, also bestimmte Personen nicht an- ruf, sondern »Mutter Natur« und »Göttin Freude«. Briefich nicht unüblich, aber beschränkt auf emphatische Ausrufe – Oden-Zitate, wenn man so will – wird so die Anrede sich selbst thematisch als jene »double instance conjugée«, von der Benve- niste spricht: »instance de je comme référent, et instance de discours contenant je, comme référé«, mutatis mutandis als diejenige Diskursinstanz, welche die linguis- tische Instanz Du enthält (siehe oben). Als Diskursinstanz thematisch geworden, apostrophiert das odische Du eine allegorische ›Person‹, die Allegorie der gram- matischen Instanz, der sie als ihrer eigenen Metapher unterschiedliche Namen ver- schaf. In der älteren Ode An des Dichters Freunde, deren späterer Titel Wingolf die Tendenz bestätigt, waren es noch vornehmlich die Freunde selbst, die einer nach dem anderen angerufen und in ihrer Freundesart besungen wurden: »Unsterblich

26 »An mehrere Freunde, auf der Reise, 12. bis 25. Juli 1750«, Klopstock Briefe I (Hamburger Ausgabe), ed. Horst Gronemeyer (Berlin/New York: De Gruyter 1979), 110–127 (Nr. 75): 111. Zweiter Hauptteil 97 sing’ ich meine Freunde«.27 Im Zürcher See fehlt das Ich des Dichters wie das Du der Freunde, obwohl beides, das Lied des Dichters und das Erlebnis der Freundschaf thematisch ist. Stattdessen nennt das Du der Anrede »Mutter Natur« und »Göttin Freude«, den »fröhlichen Lenz«, die »Liebe« und »fromme Tugend, dich auch«, um am Ende im Wir die Freunde zusammenzufassen. Am aufälligsten nächst der »Mutter Natur« die »Göttin Freude«, die Hagedorns Ode An die Freude zitiert, wo sie in anderer Verwandtschaf, als »muntre Schwester süßer Liebe« fguriert.28 Man hat sie vor Hagedorn, die sich nach Hagedorn von Uz bis Schiller in die vordersten Ränge der Menschlichkeits-Allegorien vorgearbeitet hat, nicht nachweisen können; als neue Göttin personifziert sie den Shafesburyschen Enthusiasmus, den Hage- dorn aus England mitbrachte und Klopstock dem »Lenz« als seiner »Begeisterung Hauch« zuschreibt.29 Hagedorn endet die Klimax der gemeinsamen Lektüren Haller, Kleist, Gleim. Der Enthusiasmus, den er in der Göttin Freude auf seinen enthusiastischen Nenner bringt, fungiert als eine Art Klebemittel, das die Stimmung freudiger Kommunika- tivität auszeichnet. Nicht von ungefähr hat Shafesbury selbst in Brieform darüber gehandelt in einem Letter Concerning Enthusiasm, der mit allen Mitteln der Briefk- tion operiert einschließlich eines angeblich nicht zur Veröfentlichung bestimmten Widmungsschreibens.30 Gleich mit der individuellen Anrede des Briefs »My Lord«, und der beiläufgen Ankündigung seines Inhalts als einer »sort of idle thoughts, such as pretend only to amusements«, werden derartige moderne Pretentionen mit dem alten »Air of Enthusiasm« in Vergleich gesetzt, das den Brauch des Musenanrufs auszeichne.31 Das Horaz’sche Postulat, das auch Klopstock gern gebraucht: »to be able to move others, we must frst be moved ourselves, or at least seem to be so«, versagt vor den antiken Göttern, denn deren Anruf lasse sich von Modernen nicht einmal mehr plausibel pretendieren; der antike Dichter »might with probalitity feign an Extasy, tho he really felt none: and supposing it to have been mere Afectation, it wou’d look however like something natural, and coul’d not fail of pleasing.« »Mutter Natur«, »fröhlicher Lenz« und »Göttin Freude« repräsentieren diesen Zusammen- hang der Natürlichkeit, den Klopstock nach Hagedorn zum Tema und als Tema zum Gegenstand der Anrede an der Stelle der alten Götter macht. Nach Hagedorn heißt hier Hagedorn singend die gemeinsame Stimmung der Freundschaf zum Ge- genstand der Anrede erheben und zur Muse zu machen: anstelle der alten Muse sie als deren moderne Metapher zu pretendieren. Klopstock zitiert nur diese Fiktion, die mit dem Namen Hagedorns verknüpf ist; indem er sie nur zitiert, refektiert er

27 Klopstocks Oden und Elegien (Bulst), 85–94: 85, im folgenden 87 f. 28 Friedrich von Hagedorn, Oden und Lieder (Hamburg: 1744), in des Herrn Friedrichs von Hagedorn sämtlichen Poetischen Werken, Dritter Teil (Hamburg: 1757), 42. 29 Franz Schultz, »Die Göttin Freude«, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifs (1926), 3–38: 5 f. 30 Vgl. Erwin Wolf, Shafesbury und seine Bedeutung für die englische Literatur des 18. Jahr- hunderts (Tübingen: Niemeyer 1960), 2. Kap.: 51 f. 31 Anthony Ashley Cooper, Tird Earl of Shafesbury, »A Letter Concerning Enthusiasm, To My Lord *****« (1707), Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times I (London 1711, 1714, 1723), Standard Edition (Sämtliche Werke), ed. Gerd Hemmerich und Wolfram Benda I (Stuttgart: Frommann-Holzboog 1981), 302–275: 308 und 310. 98 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik in der grammatischen Instanz der Anrede den metaphorischen Prozeß der Umbe- setzung, in dem die neuen Musen als ›heuristische Fiktionen‹ modernen Sozialver- haltens die alten Musen und Götter ablösen.32 Die implizite Rhetorik der derart hypostasierten Leitidee hat Klopstock dann in seinen politischen Oden rhetorisch ausgemünzt: »O Freiheit, Silberton dem Ohre« beginnt er die Ode Das neue Jahrhundert und schlägt aus der Apostrophe leitender Ideen Gewinn.33 In der Ode vom Zürcher See kündigt sich dies als Strategie an; sie bildet den Abschluß der älteren geselligen Oden und markiert den Übergang zu den späteren revolutionären Stücken. Noch handelt es sich um die Sphäre der erlebten Sozialität. Das ›Vehikel‹ für die enthusiastische Stimmung, deren ›Tenor‹ die Freude ist, liefert »Mutter Natur«: es ist die Landschaf, auf deren »Fluren zerstreut« sie ihrer »Erfndung Pracht« darbietet. Als Vehikel für Paradieses-Stimmung hat Landschaf eine lange Tradition, die vom ambrosianischen Harmonieträger bis zur Valéryschen Dekonstruktion der davon getragenen allegorischen Lektüre reicht.34 Richards’ Terminologie von ›Tenor‹ und ›Vehikel‹ ist wegen ihrer musikalischen Hintergrund- metaphorik besonders ergiebig: »from the period of Enlightenment on,« beobachtet Spitzer, »European mankind came to lose the feeling of a central ›musicality‹; it is other Afektkomplexe which dominate our times«.35 Der Enthusiasmus der Freund- schaf kompensiert die kosmische Musikalität im musikalischen Analogon der Stim- mung. Bei Klopstock bereits gewinnt der Tenor der Metapher die Überhand, steht und fällt der natürliche Kosmos sinnreicher Bezüge mit dem »frohen Gesicht«, das die Bezüge »noch einmal denkt«. Unmerklich fast wiederholt dieses »noch einmal« nicht mehr Abbildungstheoreme, sondern mimetisches Verhalten zur Teleologie der Natur.36 Als ein ›Gedachtes‹ freilich ist es in jenem Sinne sentimentalisch, den Schiller Klopstock absieht, die Stimmung melancholisch, wie es bei Shafesbury heißt: »Tere is a melancholy which accompanies all enthusiasm.« Kommerell hat das in seiner Analyse nicht unterschlagen: »Ruhm und Freundschaf, und das Lied das anhob zum Preis des Gegenwärtigen verklingt in Wehmut und Sehnsucht.« In der Tat endet die Ode mit einem ›frommen Wunsch‹ und es ist nur konsequent und liegt auf der Linie des Messias, daß Frömmigkeit nun nurmehr unfromme Melan- cholie bedeutet. Denn die Anrufung der abwesenden Freunde: »Möchtet ihr auch hier sein, die ihr mich ferne liebt ...« verneint die Gegenwart; der Wunsch nach ewiger Anwesenheit: »O! so wollten wir ... Ewig wohnten wir ... ewig!« ist Irrealis:

32 Hans Blumenberg, »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik« (1971), Wirklichkeiten in denen wir leben (Stuttgart: Metzler 1981), 104–136: 129. Vgl. meine »Einleitung in die Teorie der Metapher«, Teorie der Metapher, ed. Anselm Haverkamp (Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1982), 1–29: 4. 33 Franz Schneider, Pressefreiheit und politische Öfentlichkeit (Neuwied/Berlin: Luchterhand 1966), Kap. IV: 146. 34 Vf. »Valéry in zweiter Lektüre«, Text und Applikation (Poetik und Hermeneutik IX), ed. Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß und Wolfart Pannenberg (München: Fink 1981), 341–360: 349 f. 35 Leo Spitzer, Classical and Christian Ideas of World Harmony: Prolegomena to an Interpre- tation of the Word ›Stimmung‹ (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1963), Kap. II–III: 78. 36 Teodor W. Adorno, Ästhetische Teorie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, 21972), 86 f. Zweiter Hauptteil 99

»wir nennten dann ...« Der Zürcher See erinnert Tempe und Elysium, indem er die Fahrt auf der Zürcher See als unerfüllte Intention nach klassischem Muster erinnert. Brüggemanns Rede vom »gehobenen Ausdruck« jener Stimmung, die in der Ode wie in den Briefen der Freunde zum Tragen komme, lokalisiert den Ausdruck der Freundschaf als Ausdruck eines neuen Erlebnisses unterhalb des Gedichts. Der briefiche Ausdruck kommt als Bewußtwerden des neuen Erlebnisses der Freund- schaf zustande, das vom unrefektierten Vollzug neuer Verhältnisse zum Erlebnis wird. Das refexive Moment des Erlebens der Freundschaf im Brief ist allerdings kein »refektierendes«, wie Geiger sagt: »kein rückschauendes«.37 Im gehobenen Ausdruck der Ode wird das refexive Moment der briefichen Vergegenwärtigung erst ein derart refektierend rückschauendes. Der gehobene Ausdruck, den Brügge- mann meint, produziert gesteigertes Erlebnis, das nicht etwa unmittelbarerer Aus- druck des gemeinsamen Erlebnisses ist, sondern (nur) refektierender Ausdruck eines Erlebnisses, dessen refexiver Vollzug auf dem Vehikel des Briefs beruht. Als Selbst-Tematisierung der neuen Kommunikationsform beruht die Gattung Ode, so wie sie Klopstock betreibt, auf der Selbstrefexion neuer kommunikativer Ver- hältnisse. Ihr Inhalt ist nicht das Erlebnis auf dem Zürcher See, das die Briefe zum Gegenstand haben, sondern die in diesem Erlebnis konstituierte Intersubjektivität, deren Name die Freundschaf und deren Allegorie die Göttin Freude ist. Das re- fexive Moment des Erlebens, das nach Art eines ›refexiven Mechanismus‹ in der Refexivität brieficher Kommunikation aus dem Erlebten Erlebnisse macht, wird zur ästhetischen Refexion der über diese Erlebnisse hergestellten Intersubjektivität.38 Sie setzt die in Briefen geschulte Kompetenz kommunikativer Teilnahme voraus. So- fern sie wie die wechselseitig in Briefen fngierte Identität ein fktives Resultat nach- träglicher Refexion ist, erweist sie das der Erfahrung voraufgegangene Erleben als defzitär – sei es auch nur darin, daß sie sich als Erfahrung im Akt des Lesens nicht auf Dauer stellen, sondern allenfalls als vergangene refektieren läßt. Die eingesetzte Empathie zieht ironische Distanzierung nach sich, sie verlangt humoristische Ver- söhnung oder (im Falle Klopstocks) schlägt zurück in Melancholie. Das bedeutet nicht die Priorität der refektierten Temen vor den behandelten Ereignissen und Personen.39 Im Gegenteil betont Cramers Kommentar zurecht den Vorrang des »Lokalen« und die kommunikative Vermittlung des Tematischen.40 Der »Plan« der Ode, den er sich nicht in ihrem »Hauptinhalt« zu paraphrasieren scheut; die rousseauistischen Implikationen der Darstellung, die er in einem länge- ren Zitat aus der Nouvelle Héloise zu verdeutlichen sucht; die topischen Beziehungen zwischen Freude und Menschlichkeit, deren Metaphorik er zu explizieren ansetzt; all diese Bezüge sind als Voraussetzungen einer historisch gewordenen Kommuni- kationssituation auflärenswert, nicht als Temen des Gedichts. Nicht hintergeh- bar dagegen sind die Namen und Orte, die für Teilnehmer und Ereignisse stehen:

37 Moritz Geiger, Fragment über den Begrif des Unbewußten, Kap. V: 49. 38 Vf. »Illusion und Empathie«, Erzählforschung (DFG-Symposien IV), ed. Eberhard Läm- mert (Stuttgart: Metzler 1982), 243–268: 251 f. 39 Vgl. Jean Murat, Klopstock: Les Tèmes principaux de son oeuvre (Paris: PUF 1959). 40 Carl Friedrich Cramer, Klopstock. ER: und über ihn. Zweiter Teil 1748–1750 (Leipzig und Altona: Kaven 1790), 409–416. 100 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik der See mit seinen »Traubengestaden«, »hier lokal schweizerisch«. Entsprechend zieht Cramer dem Ausruf »Ist, beim Himmel! nicht wenig!« die seltenere, bis heute ungern gedruckte, auch in der Darmstädter Ausgabe zensierte Fassung »Ist, Gold- häufer! nicht wenig!« vor, die angesichts der Zürcher ›Goldküste‹ die genauere Ad- resse als der Himmel selbst ist.41 Die vorangegangene Apostrophe »Liebe, dich«, der »Fromme Tugend, dich auch« sichtbar nachgeordnet ist, gewinnt nicht im Jenseits, sondern vor dem Diesseits ihre, wie Cramer sagt, »Fruchtbarkeit«. Umgekehrt gibt Cramer statt der »fühlenden Sch==inn« den geläufgeren Text, der eindeutig von der »fühlenden Fanny« handelt. Die Darmstädter Ausgabe hatte dagegen den ursprüng- lichen Wortlaut; Cramer wußte sie deshalb an anderer Stelle als »eine seltne, aber von einer Seite sehr merkwürdige Ausgabe« zu schätzen: »Nämlich die Oden stehen mit ihren ältesten Lesarten drinn: und verschiedne sind da befndlich, die sonst nir- gends gedruckt worden«.42 Die literarische Bereinigung, die Cramer in diesem Fall vorzieht, ist sehr charakteristisch, denn als Fielding-Zitat alliteriert »Fanny« nicht nur, sondern assoziiert ihr Name literarische Empfndsamkeit aus zweiter Hand, steht Klopstocks »Fanny« wie Hallers »Doris« für die literarische Stimmung, nicht mehr für das im Gedicht zum Erlebnis verdichtete Geschehen. Daß die »Sch==inn« für Fanny stehen, nämlich »Schmidtinn« heißen könnte, war den anwesenden wie den abwesenden Freunden klar; daß sie aber gewiß nicht gemeint sei, sondern die »Schinzinn«, die es Klopstock auf der Fahrt angetan hatte, wußten die Teilnehmer und konnten die Abwesenden aus Briefen entnehmen. Es hätte also nichts dagegen gesprochen, Fanny wie andernorts auch geradeheraus als seine »geliebte Schmid- tinn« anzuführen. So freilich werden die Leser zu augenzwinkernden Mitwissern, wer auf dem Zürcher See Fanny vertreten habe. Die Leerform der »Sch==inn« mar- kiert die Rolle der literarischen Fanny, die in Klopstocks Realität bekanntermaßen von der »Schmidtinn« eingenommen und auf dem Zürcher See von der »Schinzinn« gespielt wird. Indem Klopstock später von der »fühlenden Fanny« spricht, verstärkt er die Tendenz des Gedichts, seinen Anlaß mit Bedeutsamkeit zu überwuchern – ein Autor, der sein Gedicht »noch einmal denkt«. An der umstrittenen Konstruktion der beiden Verse »Hallers Doris sang uns, sel- ber des Liedes wert, Hirzels Daphne, den Kleist zärtlich, wie Gleimen liebt« wird der Übergang handgreifich. Cramer setzt umständlich ins Reine: »Hirzels Daphne, des Liedes wehrt, die selber wehrt ist, besungen zu werden, sang Hallers Doris, sang das bekannte Lied von Haller, das Doris überschrieben ist«, und die kritische Ausgabe von Muncker und Pawel scheut sich nicht, »Hallers Doris« der Deutlichkeit halber in Anführung zu drucken. Die Zweideutigkeit Klopstocks ist indes nicht ohne Hin- tersinn. Die grammatische Austauschbarkeit von Hallers Doris und Hirzels Daphne besiegelt den Prozeß der nachträglichen Literarisierung, in dem Hirzels Frau als »Daphne« Hallers »Doris« zum Verwechseln ähnlich wird und Doris wie Daphne als Metonymien der von Haller, Kleist und Gleim gesungenen Lieder für den von Hagedorn begründeten Enthusiasmus stehen: denn »wir Jünglinge sangen und

41 ›Goldküste‹ noch bei Fritz Zorn, Mars, ed. Adolf Muschg (München: Kindler 1977) und Adolf Muschg, Literatur als Terapie? (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981), §§ 21 f. 42 Carl Friedrich Cramer, Klopstock. Er; und über ihn. Erster Teil 1724–1747 (Hamburg: Schniebes 1780), 222–223 (»Aeltere Lesarten zu Wingolf«). Zweiter Hauptteil 101 empfanden wie Hagedorn«. Abermals könnte man von einer in Bodmers Worten heimlichen Verkleinerung reden, die der Allegorie der Göttin Freude implizit ist und in der metonymischen Reduktion auf die Arbitrarität des Zürcher Sees zum Zuge kommt.43 Allerdings handelt es sich nicht um die heimliche Ironie, in der sich der moderne Poet den alten Poeten überlegen weiß, sondern um eine durchaus un- heimliche Melancholie, der die Gegenwart der Empfndungen erst im Nachhinein und als vergangene gewärtig wird. Wenn es richtig ist, was Benjamin von Valéry zitiert, daß Erinnerung die Zeit verschafe, die im Erleben zum Erlebnis fehle, dann schaf nachträgliche Lektüre, »was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹ widerfahren ist«.44 Am Erlebnis hafet der melancholische Blick auf Vergangenes, der freilich den kommunikativen Vorteil hat, die ehemals anwesenden und die abwesenden Freunde im Lesen zu vereinen. Wie die Subjektivität des lyrischen Ich, so läßt sich Lacans Freud-Lektüre und Derridas Husserl-Lektüre ergänzen, beruht die Intersubjektivität des odischen Du auf der Struktur einer antizipierten Nachträglichkeit, deren Vehikel die Schrif und deren Medium die Lektüre ist.45 Allerdings ist bei Lacan wie bei Derrida – Derridas Lacan-Kritik noch beiseite gelassen – zwar vorzüglich, aber nicht grundsätzlich von ›Dichtung‹ die Rede. Ich selbst habe mich soweit, was die Diferenz von Brief und Ode angeht, auf die Selbst-Tematisierung und Selbstrefexion beschränkt, welche die Ode als Gattung charakterisiert und im odischen Du über den Brief ›erhebt‹. Nicht von ungefähr – wenn auch ohne methodische Weiterungen – überwiegt auch bei Lacan und Derrida die Tematisierung des Vehikels Brief samt der zugehörigen postalischen Metaphorik.46 Das aber heißt: der refexive Mechanismus der Selbst- thematisierung des Kommunikationsmusters Brief steht in der Gattung Ode für ein Säkularisierungssyndrom, das in der Briefmetaphorik sein bevorzugtes Paradigma hätte: »an ode is ›a poem with a postage stamp attached‹,« ist ein leichthin bedienter Gemeinplatz der modernen Odentheorie.47 Der historische Einwand, die Du-An- rede der Ode säkularisiere die Du-Anrufung der Götter und werde durch sie erst plausibel, fällt aber hinter Shafesbury zurück. Tertium comparationis, das derart his- torisch herzuleiten wäre, ist die metaphorische Verallgemeinerung des Gesprächs mit Abwesenden: den Briefpartnern wie zuvor den Göttern.48 Als sermo absentis ad absentem – so die alte rhetorische Qualifkation – ersetzt der Brief aushilfsweise ein Gespräch, ohne die Abwesenheit der Partner anders als fktiv in Anwesenheit

43 Johann Jacob Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (Zürich: Orell 1740), ed. Wolfgang Bender (Stuttgart: Metzler 1966) 201 (wie im voranstehenden Kapitel zitiert). 44 Walter Benjamin, »Über einige Motive bei Baudelaire« (1936), Charles Baudelaire – Ein Ly- riker im Zeitalter des Hochkapitalismus (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969), 111–164: 119 f. 45 Samuel M. Weber, Rückkehr zu Freud, 12. Vgl. Jochen Hörisch, »Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins«, Einleitung zu Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979), 7–50: 33. 46 Jacques Derrida, »Le facteur de la vérité« (1975), La carte postale de Socrate à Freud et au- delà (Paris: Flammarion 1980), 439–524: 448 f. 47 Vgl. George N. Shuster, Te English Ode from Milton to Keats (New York NY: Columbia University Press 1940), 255; und Kurt Schlüter, Die englische Ode (Bonn: Bouvier 1964), 41. 48 Eduard Norden, Agnostos Teos: Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede (Leipzig: Teubner 1913), Zweiter Teil. 102 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik verwandeln zu können.49 Die Möglichkeiten dieser auf Gegenseitigkeit beruhenden gemeinsamen Tätigkeit des Fingierens liegen im Imaginären der Vorstellung und übersteigen in der Abwesenheit das Maß dessen, was in der Anwesenheit zu errei- chen wäre und im Wunsch nach Vergegenwärtigung zum Ausdruck kommt. »Izt empfng uns die Au’ ...« beschwört Klopstock den vergangenen Augenblick auf der Insel im Zürcher See: »Da, da kamst du, o Freude! Ganz in vollem Maas über uns.« Die in der Anrufung herbeigerufene Gegenwart der Götter wird in der Anrede der »Göttin Freude« zitiert, im klassischen Zitat der in eigenem Erleben gehegte Wunsch autorisiert.: »O so wollten wir hier ... Ewig wohnten wir hier ...« Die Emphase des Hier lebt von den klassischen und biblischen Vorstellungen (»Inseln« der Seligen und »Hütten der Freundschaf«), ohne ein Jetzt anders denn »ewig« entwerfen und in alten Namen nennen zu können (»Tempe« und »Elysium«). Hirzels »Brief über das Jugendfest auf dem Züricher See«, von Brüggemann unter diese Überschrif gesetzt, liefert die andere Seite.50 Unmittelbar nach dem denkwürdigen Ereignis datiert (»Zürich, den 4. August 1750«), verblüf er auf den ersten Blick durch eine Ähnlichkeit mit Klopstocks Gedicht, für die man, wenn nicht seine Kenntnis, so doch eine gemeinsame Entstehung annehmen möchte: »Unser neun Freunde entschlossen uns«, beginnt Hirzel ohne Umschweife, »Klop- stock durch eine Lustschifahrt die Schönheiten der Gegenden am Zürchersee und zugleich die Schönheit unsrer Mädchen kennen zu lehren. Jeder von uns verband sich, ein Mädchen auszusuchen, welches freundschaflicher Empfndungen fähig wäre und die Schönheiten der Natur und des Geistes fühlte. Wir waren in der Aus- wahl glücklich. Die meisten hatten den Frühling mit Ihnen gefühlt; einige kannten den Wert unsers teuersten Klopstock schon aus seinem göttlichen Gedichte ...« Wie im Gedicht ist zuerst von den »Schönheiten der Gegenden« die Rede, mit denen »zugleich die Schönheit unserer Mädchen« zu erleben war: »ein froh Gesicht« hieß auf dieser Fahrt »freundschaflicher Empfndungen fähig«; »noch einmal denken« hieß »die Schönheiten der Natur und des Geistes fühlen«; »fühlen« schließlich – im refexiven Verhältnis von Denken auf Empfnden – ›spiegeln‹. Die im frohen Gesicht der beigebrachten Weiblichkeit gespiegelte Natur liefert den ›Rahmen‹ der enthusiastisch erlebten Freundschaf.51 Entscheidend, daß dieser Rahmen nicht als ein natürlich gegebener, sondern in Empfndungen refektierter wirksam ist. Hier wie im folgenden durchgängig liefert Hirzel die Beschreibung eines Sachverhalts, die sich zu Klopstocks odischer Behandlung wie die Intention zur Erfüllung verhält. In der Tat beschreibt sein Brief im Geschehen die Intention der Teilnehmer: die In- szenierung des Fests in der Einstellung der Freunde. Das ließe sich durch den Text der Einladung, die Rahn verfaßt und verschickt hat, bekräfigen.52

49 Paul Mog, Ratio und Gefühlskultur (Tübingen: Niemeyer 1976), Kap, I: 13. 50 Johann Kaspar Hirzel an Ewald von Kleist, Zürich, den 4. August, Der Anbruch der Gefühls- kultur (Brüggemann), 134–144: 134. Vgl. Ewald von Kleist’s Werke, ed. August Sauer I–III (Berlin: Hempel 1881–82), III: 121–134: 121 f. (Nr. 50). 51 Vgl. August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts: Rationalismus und Rahmenschau (Jena: Eugen Diederichs 1934/Darmstadt: Wissenschaf- liche Buchgesellschaf 1965). 52 Hartmann Rahn, Zürich, 27. (?) Juli 1750, Klopstock Briefe I (Gronemeyer), 127–128 (Nr. 76) und 378–380 (Anm.). Zweiter Hauptteil 103

Hirzel selbst fährt seinen Brief mit einem Gedicht fort, daß er zur Einladung gedacht und mit einer ausladenden Beschreibung der zu erwartenden Schönheiten der Gegend ausgestattet hatte; es artikuliert vorab, was im frohen Gesicht der Teil- nehmer seine gespiegelte Steigerung erfährt. Im Unterschied zur eigenen ›Schil- derung‹ des Ereignisses, der Charakteristik seiner Teilnehmer wie der Beschreibung der Gegend, heißt es von Klopstock, er »rühmte die Schönheiten unsrer Gegenden und – oh, könnte ich Ihnen mein Kleist, diese Aussicht zeigen!« bricht Hirzel selbst an der geeigneten Stelle in einen jener Ausrufe aus, deren Ich-Du-Intention den Gang der Ode markiert. Er tut es indessen nicht des Rühmens willen, sondern um eine Beschreibung des Erlebten an den Freund einzuschieben: »vor uns die Wasser- fäche mit dem Wechsel ihrer Farben und Schattierungen, dann die fruchtbaren Hü- gel, hinter welchen des Albis schwarzer Rücken hervorragt, und das mit Dörfern und zerstreuten Häusern reich besetzte Ufer! – Doch schien unser Dichter weniger davon gerührt als von der Mannigfaltigkeit der menschlichen Charaktere, die sein Scharf- blick auszuspähen vorfand. ... Nie sah ich jemand die Menschen aufmerksamer be- trachten; er ging von einem zum andern, mehr die Mienen zu beobachten, als sich zu unterreden.« Schärfer könnte der Kontrast kaum herausgearbeitet sein. Was für die anwesenden wie die mit ihnen briefich verbundenen abwesenden Freunde im refexiven Moment einer Stimmung unrefektiert bleibt und im refexiven Mecha- nismus der Briefe über den Augenblick hinaus aufgehoben ist, rückt für den Dichter in eine Distanz, in der schon Hirzel am Werk sieht, was man im sozialwissenschaf- lichen Jargon ›teilnehmende Beobachtung‹ nennen sollte. Hirzels Bericht gibt im genauen Sinne das Paradigma einer derartigen Teilnahme qua Beobachtung, an dem die Metapher des Beobachtens ablesbar ist: »mehr die Mienen zu beobachten, als sich zu unterreden«. Die stilistische Diferenz des ›Schilderns‹ und ›Rühmens‹ ist das Resultat des Ein- stellungswechsels, das kunsttheoretisch in der Ausdiferenzierung des ›Pittoresken‹ als eines romantisch Interessanten in der Landschaf zu Buche schlägt.53 Die end- gültig un-allegorische Deskription wird in ihrer kommunikativen Funktion (»sich zu unterreden« oder briefich zu verständigen) durch die Refexion des Beobachters überbesetzt. Diese Überbesetzung der Wahrnehmung kommt in der Distanz zu- stande und wird in ›Rühmen‹ umgesetzt statt in kommunikatives Schildern; ihr stilistisches Mittel ist der zitierte gehobene Ausdruck der Ode. Das kommunikative Moment ist darin nicht aufgehoben, aber aufgeschoben. Im Falle Klopstocks ist bei aller Melancholie die Depression fern, in der die Überbesetzung der Wahrnehmung zur Depersonalisierung des in der Selbstbeobachtung sich aufösenden Ich führt (Werthers Leiden).54 Im Gegenteil handelt Hirzels Brief von der Balance, in der die teilnehmende Beobachtung ihr erkenntnisleitendes Interesse der Teilnahme ver- dankt. Wird sozialtechnisch leicht Teilnahme in Beobachtung umgemünzt, so fießt

53 Vgl. Walter John Hippie, Te Beautiful, the Sublime, and the Picturesque in Eighteenth-Cen- tury British Aesthetic Teory (Carbondale IL: University of Southern Illinois Press 1957), Kap. 12; und Eckhard Lobsien, Landschaf in Texten (Stuttgart: Metzler 1981), Kap. IV. 54 Vgl. Edith Jacobson »Depersonalization« (1959), Depression: cComparative Studies of Normal, Neurotic, and Psychotic conditions (New York NY: International Universities Press 1971), Kap. V. 104 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik hier Beobachtung in Teilnahme zurück. Das praktische Interesse an Kommunika- tion, das im Briefwechseln seinen Ausdruck fndet, fndet sich hier explizit in ein emanzipatorisches verwandelt: es dient der »Emanzipation von Erlebnissen«, von der Benjamin für Baudelaire gesprochen hat.55 Daß der Stil der Oden Klopstocks die kommunikative Funktion der Briefe überschieße, wie man so schön sagt, liefe nicht auf ein Dementi, sondern die refexive Verstärkung des kommunikativen Moments hinaus – eine Verstärkung freilich, die den zugrundeliegenden Verständigungsver- hältnissen nicht die idealtypische Ausprägung bescheinigt, die Habermas in ihnen sieht. Der Selbst-Tematisierung des refexiven Mechanismus der Briefe in der Ode korrespondiert die deskriptive Tematisierung der Ode in den Briefen. Sie erschöpf sich nicht im Zitat an passender Stelle. In diesem Fall hat sie ihre besondere Pointe darin, daß Hirzel seinerseits den in Menschenbeobachtung vertiefen Klopstock be- obachtet und ihrer rühmenden Ausarbeitung in der Ode die eigene Schilderung im Brief an die Seite setzt. Den melancholischen Zügen der Ode entsprechen iro- nische im Brief: selbstironisch, wo er der geselligen Veranstaltung nicht mehr folgen kann, aber auch ironisch gegenüber dem Enthusiasmus der Freunde und Klopstocks ambivalentem Verhalten. Beim Spaziergang auf der Au kann er nicht mithalten: »die brennende Sonnenhitze gab mir ein Gefühl des höheren Alters; ich suchte meinen R(ahn), dem Klopstock sein Mädchen genommen hatte. Der half mir den Alten ma- chen ...«. Nach Klopstocks Lektüre der Cidli-Szene aus dem Messias ist man einiger- maßen verunsichert ob der ofenbaren Zweideutigkeiten des »göttlichen Gedichtes«:

Man wagte nicht, über jene himmlische Liebe zu sprechen, bis einer von der Gesellschaft das Stillschweigen mit der gelehrten Anmerkung unterbrach, nirgends hätte er noch die platonische Liebe so prächtig geschildert gesehen. Klopstock, der die wahre Liebe, die Tochter der Natur, allzugut kennt, verwarf diesen Beifall und versicherte, daß er hier ganz eigentlich die zärtlichste Liebe im Auge gehabt habe, die ungleich höher wäre als die platonische Freundschaft; Lazarus liebte seine Cidli ganz und gar. – Wir stimmten ihm aus vollem Herzen bei, und Plato war nicht unser Mann.

In dieser Ironie ist der Brief selbst der Melancholie des Gedichts überlegen, dessen Schluß eine vom Autor erleichterte Lesart gewinnt:

Mich befiel eine Traurigkeit über das Hinschwinden dieses Tages (nimmt Hirzel einmal mehr die vordergründige Artikulation der gemeinsamen Stimmung auf seine Kappe). Ach, rief ich, ach, daß wir so der Ewigkeit zufahren könnten! – Klopstock fand diesen Wunsch zu ausschweifend, wünschte sich für einmal nur eine Ewigkeit von vier Tagen und forderte meine Doris auf, noch einmal Hallers Doris zu singen.

Es fällt auf, daß die Ironie durch Klopstock allemal autorisiert ist, wenn nicht gar durch sein Verhalten motiviert wird. Der ironische Gegenzug zur Melancholie, für

55 Walter Benjamin, »Über einige Motive bei Baudelaire«, 122. Vgl. Jürgen Habermas, »Bewußtmachende oder rettende Kritik«, Zur Aktualität Walter Benjamins, ed. Siegfried Unseld (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972), 173–223: 216 f. Zweiter Hauptteil 105 den der Autor gegen sein Werk ins Feld geführt wird, verdeutlicht die Balance im Verhältnis von Literatur und Leben, die Klopstocks Oden zur Kommunikativität der Briefe halten – refexive Verstärkung, die nicht bedroht: »Die Melancholie wird durch die Ironie geheilt«, ist die Formel für das Rückzugsgefecht der Allegorie bis hin zur romantischen Ironie.56 Die rezeptionsästhetische Gretchenfrage, wie es Kommunikation mit ästhetischer Erfahrung halte, nämlich umgekehrt ästhetische Erfahrung in kommunikatives Verhalten umzusetzen sei, hat im Verhältnis von Ode und Brief ein eigentümliches Paradigma.57 Es zeigt den postulierten Vorgang des Umsetzens in einem Zustand von nahezu unvermittelter Naturwüchsigkeit. Noch vor der Transformation, die der Leser nach Norman Holland als »re-maker of the poem« in der Lektüre vollzieht, liegen die schriflichen Versionen des gemeinsamen Erlebnisses, die das Gedicht festschreibt und in dieser Festgeschriebenheit vergleichbar: nämlich kommunikabel macht. Es ist leicht zu sehen, wie hier die gemeinsame Arbeit am Erlebnis die Arbeit am Mythos ersetzt und modifziert – in gegenläufger Richtung: Nicht die Gemein- samkeit eines mythischen Analogon, sondern die Möglichkeit zur individuellen Teil- nahme macht die Kommunikativität dieser Texte aus. Hollands empirische Unter- suchung hat es mit dem späten Verfall dieser Kommunikativität zu tun:

A democracy of letters becomes an anarchy in which one reading is as good as ano- ther, and nobody can claim a more valid interpretation than anybody else. Each reading becomes privat and personal, ultimately unsharable and untestable. A single poem thus turns into as many poems as there are readers. Or so it would seem.58

Die Vorsicht ist berechtigt, daß die private Vereinzelung der Lektüren in anarchi- sche Willkür münde und jede »validity in interpretation« unmöglich mache, wie es E. D. Hirsch befürchtet.59 Tatsächlich ist es umgekehrt, macht die private oder persönliche Lektüre das Gedicht zu einer kommunikativen Instanz, die im Kontext literarischer Öfentlichkeit eine Verständigung über ›personal myths‹ und ›identity themes‹ ermöglicht und allererst lohnt.60 Genauer gesagt, gewinnen diese Mythen und Temen erst im kommunikativen Austausch Sinn und Profl, mythischen Cha- rakter und thematische Konsistenz, die persönliche Identität schaf. Person und Identität des Autors werden dabei paradigmatisch in einem neuen Sinne. Sie sind nicht länger exemplarisch, wie im mittelalterlichen Exempel die Geschichte »auf etwas außerhalb ihres Geschehens Liegendes bezogen (wird), auf einen moralischen

56 Jean Starobinski, »Ironie und Melancholie«, Der Monat 18 (1966), 22–35: 32. Vgl. Paul de Man, »Te Rhetoric of Temporality«, Interpretation – Teory and Practice, ed. Charles S. Singleton (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1969), 173–209: 192. 57 Vgl. zuerst Hans Robert Jauß, »Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode« (1973), Rezeptionsästhetik, ed. Rainer Warning (München: Fink 1975), 380–394: 393. 58 Norman Holland, Poems in Persons (New York NY: Norton 1973, Kap. III: 101 f. 59 Eric Donald Hirsch, Validity in Interpretation (New Haven CT: Yale University Press 1967), Kap. IV. 60 Michael Rutschky, Lektüre der Seele (Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein), Kap. VIII: 150 f. 106 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Typus der zeitenthoben ist«.61 Allerdings ist auch hier die »höhere Kraf des Fak- tischen« entscheidend, die der exemplarischen Norm wie der ästhetischen Evidenz aufilf.62 Aber diese Faktizität steht nicht mehr ein für eine normgeleitete Nachfolge; sondern für die Relevanz des Sprachspiels, in dem ihr Fall Verwendung fndet. Der Fall wiederum steht nicht nur für eine typische Situation: »Tat it is a paradigm is closely connected with its being a perfectly clear case, yet to call it a ›paradigm‹ is to say something new«, pointiert Max Black den Paradigmabegrif Wittgensteins.63 Ein Paradigma fungiert nicht nur als Standard für die korrekte Anwendung einer Norm, sondern vor allem auch als Prototyp für neue Anwendungsmöglichkeiten, kurz: für eine Applikation, die Lernprozesse in der Sprache voraussetzt und ein- schließt. Gegenüber der elliptischen Geschlossenheit des alten Exempels gewinnt das Paradigma eine parabolische Ofenheit. Die Einführung eines neuen Paradigmas begründet ein Sprachspiel, dessen Flexibilität nicht von semantischen Normen be- grenzt wird, sondern von der kognitiven Mobilität der Metapher ist – in der rhetori- schen Redeweise, die Wittgenstein bevorzugt: »etwas, womit verglichen wird«.64 (Als Hintergrundmetaphorik relevant für das lyrische Ich: die Metapher des Subjekts.65) Die Vergleichbarkeit erwächst freilich nicht aus der alten Analogie der Fälle, sondern sie wird kommunikativ erst hergestellt für die Kontingenz der Fälle und die Willkür der Zufälle; sie hat es – wie schon angedeutet – mit metonymischer Arbitrarität zu tun statt metaphorischer Ähnlichkeit. Wie die kollektive Eschatologie ihr mythisches Analogon hervorbringt, das den Verlust einer Mythosgemeinsamkeit kompensiert, so entwickelt nun die individuel- le Eschatologie ein psychogenetisches Analogon, das den Verlust des mythischen Paradieses in der Aufösung entwicklungspsychologisch tiefsitzender Beziehungen lokalisiert und zu ihrer Kompensation ein intermediäres Feld des Imaginären in- stalliert.66 Um ein Analogon von mythischer Qualität handelt es sich, sofern Er- wartung und Erinnerung im allegorisch bewährten Verhältnis von Anamnese und Anagogie verbunden werden. Kompensatorisch-erlösenden Charakter hat dies Analogon, sofern der Verlust der Kindheit zum intermediären Moratorium wird: zur Adoleszenz als einer eigenen Lebensstufe, deren Sensitivität die Krise des Weiterlebens zum Erleben von Erlebnissen steigert.67 Die Biographie des Dichters wird zum notwendigen Kommentar der Krisen und Wendepunkte, deren Erlebnis

61 Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der göttlichen Komödie (Frankfurt a. M.: Kloster- mann 1942), 29. 62 Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik I (München: Fink 1977), 156. 63 Max Black, »Making Something Happen« (1958), Models and Metaphors (Ithaca NY: Cor- nell University Press 1962), 153–169: 156 und f. 64 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 316 (I 50), nach Gunter Gebauer, Wortgebrauch, Sprachbedeutung (München: Finkl 1971), Kap. II: 27 f. 65 Vgl. Jacques Lacan, »La Métaphore du Sujet« (1961), Ecrits (Paris 1966, 21966), 889–892 (App. II). 66 Vgl. Gabriele Schwab, »La Genèse du sujet, l’imaginaire et le langage poétique«, Diogène 115 (1981), 59–86; »Te Subject Genesis, the Imaginary, and the Poetical Language«, Dio- genes 115 (1981), 55–80. 67 Vgl. Erik H. Erikson, »Te Problem of Ego Identity« (1956), Identity and the Life Cycle (New York NY: Norton 1959), Teil III. Zweiter Hauptteil 107 die Dichtung motiviert hat und dokumentiert. Dichtung und Wahrheit bringt dies Verhältnis auf seinen selbstironischen Nenner; Diltheys Erlebnis und die Dichtung macht Goethe deshalb zurecht – wenn auch mit zweifelhafen psychologistischen Implikationen – zum Paradigma. Kommerell spricht dann vom ›Lebenslauf‹ als dem begründenden Prinzip der Gedichtzyklen Goethes, das die »Entstehung aus dem Augenblick« erst ermögliche: »Der Augenblick, durch den Zyklen möglich werden, ist wichtig, ein Einschnitt im Leben. Er scheidet ein Vorher und ein Nach- her ...«68 Lange vor Goethe hatte dieses Prinzip seine prägende Anwendung auf Pe- trarcas Canzoniere gefunden. Im Gegenzug zur allegorischen Lektüre entsteht das, was man abfällig den Liebesroman Petrarcas und Lauras genannt und als solchen verkannt hat. Er hat die erste Version in der kommentierten Ausgabe Alessandro Vellutellos (1525) und erfährt seine letzte Ausarbeitung in den Mémoires pour la vie de Francois Pétrarque von Jacques Francois de Sade (1764), die in umgekehrter Proportion keine lebensgeschichtlich kommentierte Ausgabe der Gedichte mehr, sondern eine in Gedichten dokumentierte Biographie bieten.69 Um den Kunstcha- rakter besorgt, zitiert Friedrich, nicht ohne zuvor die Quelle gehörig ausgeschöpf zu haben, Herders Ablehnung jeder biographischen Neugier an der historischen Laura und empfehlt die goethesche Formel von der »inneren Geschichte eines Lieben- den«.70 Sades Biographie, genauer »Nachrichten« werden von Gleims Schüler und Klopstock-Freund Klamer Schmidt ins Deutsche übersetzt und zum Vorbild für Cramers Unternehmen Klopstock. Er; und über ihn; Schmidt selbst hat wesentlich später aus Gleims Nachlaß die Briefsammlung Klopstock und seine Freunde folgen lassen.71 »Die schöne Laura hörte auf ein allegorisches Hirngespinst zu seyn. Man spottete über jene Pedanten, die in ihr die Poesie, die Buße oder die Jungfrau Maria gefunden hatten. Aber wer war denn diese Schöne ...?« Wie Cramer nach ihm ar- tikuliert auch Sade ein biographisches Interesse, das bewußt gegen jede Allegorese gerichtet ist, ohne das Verhältnis von Zyklus und Gedicht, Lebenslauf und Augen- blick in ein mehr als zufälliges Verhältnis wechselseitiger Erhellung bringen zu kön- nen.72 Entscheidend dabei ist, wenn auch keineswegs refektiert, daß das einzelne Gedicht als Fragment, wie es in Petrarcas Titel heißt, keinem ofensichtlichen Plan unterworfen und der darin festgehaltene Augenblick dem Lebenslauf nicht kom- mensurabel ist. Dieser Eigenart der Modernen entspricht eine neue Tendenz im Umgang mit den Alten, nämlich statt des ganzen Horaz nun das einzelne Gedicht als ein »sonderbares Ganzes« nach einem »schön versteckten Plan« auszulegen und

68 Max Kommerell, Gedanken über Gedichte (Frankfurt a. M.: Klostermann 21959), 219. 69 Il Petrarca con l’espositione di M. Alessandro Vellutello (Venezia: Gabriel Giolito 1525/Vin- cenza Valgrif 1560); Jacques Francois de Sade, Mémoires pour la vie de Francois Pétrar- que I–III (Amsterdam/Avignon: Arskee & Mereus 1764–67). 70 Hugo Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik (Frankfurt a. M.: Klostermann 1964), Kap. IV: 194. 71 Klopstock und seine Freunde. Aus Gleims briefichem Nachlasse ed. Klamer Schmidt I–II (Halberstadt: Bureau für Litteratur und Kunst 1810), Vorrede. 72 (J. F. P. A. de Sade) Nachrichten zu dem Leben des Franz Petrarca, übers. von Klamer Eber- hard Karl Schmidt I–III (Lemgo: Meyer 1774–79), hier I: 38. Vgl. zuvor Klamer Eberhard Karl Schmidt, Phantasien nach Petrarka’s Manier (Halberstadt und Lemgo: Meyer 1772). 108 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik zu verstehen.73 Lessing gibt dieses Stichwort in einer Kritik der Oden des älteren Cramer – im Kontrast zu solchen, auf denen das »Klopstockische Siegel« nicht zu verkennen sei: Cramers Produkten mangle »der schön versteckte Plan, der auch die kleinste Ode des Pindars und Horaz zu einem so sonderbaren Ganzen« mache.74 Ich will die ästhetische Diskussion, in die dieses Lessing-Zitat gehört, hier nicht verfolgen; nicht nur das Konzept des ›beau désordre‹ und die Longin-Rezeption seit Boileau, insbesondere auch die Lyrik-Konzeption Herders und die eigentümliche Rolle Klopstocks in ihr verdienten größere Aufmerksamkeit.75 Gegen den Trend der Forschung wäre die Zwiespältigkeit im Verhältnis Herders zu Klopstock nicht bloß in persönlichen Animositäten und atmosphärischen Unausgeglichenheiten zu suchen, sondern als Verlegenheit einer Teorie im Übergang zwischen Rhetorik und Ästhetik aufzufassen.76 »Man kann sogar sagen, daß Herder selbst die Liebeslyrik noch mißversteht, denn in Klopstocks Augen ist sie nicht privat, sondern reprä- sentativ für alle anderen Seelen, so wie eine leibnizische Monade das ganze Univer- sum repräsentiert«, verkehrt Dieter Lohmeier die Fronten und zitiert gleich Kaiser: Klopstock dichte »aus dem Bewußtsein, im Aussage-Ich ein Stück Weltordnung, in seinem Leiden ein Leid der Welt, in seinem Glück ein Glück der Welt zu haben«.77 Es handelt sich, wie angedeutet, um einen Funktionswandel der Repräsentation, in dem das individuelle Schicksal des Autors paradigmatisch wird, ohne deshalb exemplarisch sein zu müssen, wie es Kants Kritik der Urteilskraf gern hätte und für das Geschmacksurteil doch nur als eine unbestimmte Norm des ›Gemeinsinns‹ verbindlich machen kann. (Kants Kritik hat modernere Implikationen als die der exemplarischen imitatio.78) Lohmeier weiß immerhin von einer »jüngeren Gene- ration der Empfndsamkeit und des « zu berichten, »die sich der Unverwechselbarkeit ihrer Seele oder ihres Genies so sehr bewußt« sei, daß sie nicht zögere, »sich in die Situation des Dichters zu versetzen und sein Erlebnis nachzufüh- len«. Und er zitiert als Beispiel einen Brief Herders an Caroline, dessen größerer Zusammenhang wie folgt ist: »Ich habe in Gött(ingen) von Klopst (ock) Etwas von der Geschichte seines Lebens gehört, das mir seinen Lazarus und Cidli, seine zwie- fache Cidli im Meßias und seine Oden auf Fanny insonderheit auflärt ... Ich weiß

73 Ernst A. Schmidt, »Das Interesse am horazischen Einzelgedicht«, Geschichte des Textver- ständnisses am Beispiel von Pindar und Horaz (Wolfenbütteler Forschungen XII), ed. Walther Killy (München: Beck 1981), 19–70: 24 f. 74 Gotthold Ephraim Lessing, »Briefe, die neueste Literatur betrefen« 51 (1759), Gesammelte Werke, ed. Paul Rilla IV (Berlin/Weimar: Aufau 21968), 262–269: 262. 75 Vgl. Herbert Dieckmann, »Zur Teorie der Lyrik im 18. Jahrhundert in Frankreich, mit gelegentlicher Berücksichtigung der englischen Kritik«, Immanente Ästhetik – Ästhetische Regexion (Poetik und Hermeneutik II), ed. Wolfgang Iser (München: Fink 1966), 73–112: 83 f. 76 Klaus Dockhorn, »Epoche, Fuge und Imitatio: Rhetorische Komponenten des Historis- mus« (1966), Macht und Wirkung der Rhetorik (Bad Homburg: Gehlen 1968), 105–128: 121 f. Vgl. Heinz-Dieter Weber, Friedrich Schlegels ›Transzendentalpoesie‹ (München: Fink 1973), Kap. VII: 110. 77 Dieter Lohmeier, Herder und Klopstock (Bad Homburg: Gehlen 1968), Kap. IV: 170, im folgenden 16 zu Gerhard Kaiser, Klopstock, Kap. VI: 290. 78 Vgl. Günther Buck, »Kants Lehre vom Exempel«, Archiv für Begrifsgeschichte 11 (1967), 148–205: 181 f. und Lernen und Erfahrung (Stuttgart: Kohlhammer 1967), 112 f. Zweiter Hauptteil 109 nicht, was diese Oden jetzt tausendmal mehr Leben, Rührung für mich haben, da ich sie als nichts als ›Umstände des Lebens‹ betrachtend, sie am 2. mal las«.79 Die Briefe an Caroline, darauf hatte Paul Böckmann schon hingewiesen, zeigen genauer als alle Teorie, worauf es auch bei Herders Klopstock-Lektüre ankommt: In der gemeinsamen Lektüre mit Caroline bekommt es der Teoretiker mit dem Leser zu tun, muß er kalte Kritik vor entrüsteter Empfndung verteidigen und selbst Farbe bekennen: »Ich fühle Klopstock nicht? ich fühle ihn nicht? Antworten Sie selbst, meine Freundin, ich fühle ihn nicht? ich, der ich von allen Seiten von Hamburg nach Zürich schreibe, um seine kleinsten Stücke zu bekommen?« Die dreifache Emphase spricht für sich.80 Das uneingestandene Interesse an den »Umständen des Lebens« bleibt in seinem ästhetischen Mehrwert allerdings schwer einzuschätzen und ist in der Identifkation mit der Situation des Dichters nicht erklärt, wie Herder selbst klar genug sah und deutlich genug artikuliert. Der Ort solcher Artikulationen ist die briefiche Verständigung, deren Tenor im psychologischen Alltagsjargon immerhin Identifkation heißen mag oder Mitleid. Dies allerdings in Termini der sogenannten ›naiven Teorien‹ einer populären All- tagslogik kommunikativen Verhaltens.81 Eine Topik der naiven Lesetheorien des 18. Jahrhunderts wäre ein lohnendes Unternehmen, könnte freilich sowenig wie die der neuesten ›Volkstheorien‹ beim Wort genommen werden, sondern müßte in ihrer eigentümlichen ›Doppelsprachigkeit‹ analysiert werden.82 Ihr Zentralbegrif ist der des Mitleids, wie es heute der der Identifkation ist, ohne daß sich das eine aus dem anderen so ohne weiteres entwickeln ließe – sowenig wie Rezeptionsästhetik umstandslos aus Rhetorik.83 Herders Briefe an Caroline zeigen, daß »sich in die Situation des Dichters zu versetzen und sein Erlebnis nachzufühlen« nicht als Iden- tifkation, sondern als kommunikativer Akt zu denken ist, der seinen paradigma- tisch bestimmten Ort im Sprachspiel der Briefe hat: Identifkation nicht im strengen Sinne, sondern Identifkation als Muster der Verständigung über gemeinsame Lek- türe. Innerhalb des empathischen Grundmusters brieficher Kommunikation ist die Identifkation mit Dritten so etwas wie die Probe aufs Exempel. Herders Brief über das in Göttingen in Erfahrung Gebrachte läßt daran keinen Zweifel: »Fanny ist die Schmidtin, seine erste Geliebte, mit der er erzogen worden; aber die Eltern habens endlich soweit gebracht, daß sie ihr Wort einem Kaufmann hat geben müßen, der jetzt mit ihr in Eisenach lebt – (denken Sie, wie? ein Frauenzimmer von der Art? von

79 Johann Gottfried Herder, »An Caroline, Bückerburg, den 7. März 1772«, Herders Brief- wechsel mit Caroline Flachsland (Schrifen der Goethe-Gesellschaf 39 und 41), ed. Hans Schauer I–II (Weimar: Goethe- und Schiller Archiv 1926 und 1928), I: 43–47: 45/46 (Nr. 94). 80 Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland I, 66–76: 68 (Nr. 12). Vgl. Paul Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung I (Hamburg: Hofmann und Campe 1949), Kap. VI: 600 f. 81 Uwe Laucken, Naive Verhaltenstheorie (Stuttgart: Klett-Cotta 1974), Kap. I. 82 Vgl. Michael Rutschky, Erfahrungshunger (Köln: Kiepenheuer und Witsch 1980) und die Glosse »Basis-Ashram für Volksfront-Meditation«, Der Deutschunterricht 34 (1982), 90– 100. 83 So etwa Hans-Jürgen Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch (München: Fink 1980), 10. Vgl. Jochen Schulte-Sasse, Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Auflärung (München: Fink 1971), Kap. I: 40 f. 110 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik dem Gefühl? sich jetzt im Munde und dem Herzen von ganz Deutschland zu lesen, und sich dagegen von einem Kaufmann in einem elenden Winkel Deutschlands kalt und ehemännisch lieben laßen? – Ueber den Zustand muß nichts gehen, wenn nicht, glaube ich, Zeit und Gewohnheit auch hier abhärtete – ich wäre äußerst begierig, diese Märtrerin zu sehen?)« Die Rhetorik der Betrofenheit: der syntaktischen Ab- brüche und Einschübe, der rhetorischen Fragen und diakritischen Gesten ist eindeu- tig; es ist kaum nötig, sich Herders Situation gegenüber Caroline zu versichern, um vermuten zu können, wie die Kommunikation über Klopstock zur Verständigung über die eigene Gegenseitigkeit wird, umgekehrt: wie das ästhetische Potential der Lektüre in kommunikativer Gegenseitigkeit erst ausgeschöpf wird. Die »Umstände des Lebens« sind der thematische Anlaß, aus dem sich jenes »Ich weiß nicht« ergibt, das ihm in der zweiten Lektüre »tausendmal mehr Leben, Rührung« bedeutet. Die Stelle hat es in sich: »Darauf nun, sehen Sie, auf dieses Schicksal (Kl. ist darüber in eine Todeskrankheit und vorher in langen Gram verfallen) gehen die Oden«. Auch Herder schreibt also im März 72 über eine Krankheit zum Tode, wenn es auch nicht Werthers, sondern Klopstocks ist, den Werther und Lotte auf den Lippen haben. »Auch die Liebe der Cidli, sieht man, ist in einer Seele entstanden, die durch dies Feuer, den Gedanken einer ewigen Trennung auf dieser Welt durchgegangen ist«, erläutert nun der Verlust Fannys den Messias, dann auch die späteren Oden: »An Meta ist er nur durch eine Art von Mitleid gekommen. Sie tritt, da sie ihn so elend sieht, zu ihm, nimmt Teil – das rührt ihn so sehr«. Die Faszination von Herders zweiter Lektüre entzündet sich an Klopstocks zweiter Liebe: »Ists also auch nicht wahr; Kl. hat nur Fanny gesungen? in Meta nur immer Fanni, oder eine gewiße himmlische Klarheit gedichtet, die Alles, Alles, nur nicht mehr die Jugend ist, mit der er Fanni liebte. Mich dünkt der Unterschied so unendlich, und wenn ich nun in das Herz Kl.s das Alles verwandle – insonderheit die späteren Oden auf Cidli in seiner großen Sammlung, wo er nur ein Andenken an Fanni gelaßen hat und hat laßen können.« Die Fülle der Einsichten, die ich vorerst unkommentiert lasse, ent- steht in der Gegenseitigkeit der Gefühle, die sie refektiert: »Leben Sie wohl, meine Freundin, und lieben Sich mich nur, wie ich Sie liebe ...« Anders als die ›leibnizische Monade‹, die Lohmeier mit Kaiser zitiert, ist Klop- stock nicht »repräsentativ für alle anderen Seelen«, liefert seine Lyrik kein Rollen- angebot beliebiger Wiederholbarkeit. Der Empathiebegrif, der die Rede vom iden- tifzierenden Hineinversetzen und Einfühlen terminologisch faßt, hat seine Pointe nicht im Bezug auf feste Rollen, sondern auf deren zunehmende Unschärfe, die Zu- schreibung und Übernahme von Rollen erst problematisch macht. Die umständliche soziologische Diskussion der Rollentheorie und ihre zunehmende Problematisie- rung durch ›Rollendistanz‹ und ›Rollenambiguität‹ haben die rollentheoretische Defnition der Empathie als ›Rollenfexibilität‹ so schwierig gemacht, wie es ihre phänomenologische Beschreibung als ›Einfühlung‹ war.84 Einigkeit besteht allenfalls darin, daß es sich um jene Art Mobilität handeln soll, die den Prozeß der Moder- nisierung charakterisiert und, sofern dieser auf funktionaler Diferenzierung beruht, auf funktionsspezifsche Probleme des Diferenzierungsprozesses bezogen ist. Daß

84 Vgl. meinen Überblick in »Illusion und Empathie«, Erzählforschung (DFG-Symposien IV), ed. Eberhard Lämmert (Stuttgart: Metzler 1982), 243–268: 250 f. Zweiter Hauptteil 111 diese Probleme ausgerechnet rollentheoretisch faßbar seien, scheint am Ende der Debatte um Modernisierungstheorien mehr als fraglich: »Es wird häufg betont, daß eine höhere Rollendiferenzierung mehr individuelle Mobilität erfordere«, liest man bei Niklas Luhmann:

Aber das ist nur ein Aspekt neben anderen, die vielleicht wichtiger sind und sich speziell aus der Funktionsdifferenzierung ergeben. Die Funktionsdifferenzierung erfordert nicht nur Ausdifferenzierung von Leistungsrollen, sondern auch Ausdifferenzierung beson- derer Komplementärrollen (...) Damit zerfallen alte Vorstellungen von Gleichheit und Reziprozität und Ausgewogenheit wechselseitiger Rechte und Pflichten. Die Basisbezie- hungen der gesellschaftlichen Ordnungszusammenhänge werden jetzt asymmetrisch, und die Normierung symmetrisch wechselseitiger Sozialität wird abgedrängt in den Sonderbereich folgenloser Geselligkeit.85

Mit anderen Worten: Probleme der Rollenkomplementarität, insbesondere ihre zu- nehmende Asymmetrie, machen Rollendistanz lebensnotwendig, ohne daß Rollen- fexibilität dadurch schon gefördert wäre, ja mehr als eine Illusion sein könnte. Als Ideal dieser illusorischen Flexibilität fungiert die Einfühlung. Empathie als Einfüh- lung postuliert eben das, was Empathie als Rollenfexibilität nicht leistet. Zwischen dem Ideal der Einfühlung und dem Dilemma bloßer Rollendistanz hat Empathie deshalb ihren eminent literarischen Ort, der funktional zur Ausdiferenzierung li- terarischer Öfentlichkeit im 18. Jahrhundert sich verhält: als intermediäres Feld im Übergang von rollenkonstanten und rollentransparenten Verhältnissen zum Wild- wuchs moderner Asymmetrien. Als ideales Modell fungiert, wie Habermas richtig gesehen hat, die kleinfami- liale Privat- und Intimsphäre, seit die Familie, in Arnold Gehlens Worten, als die »einzige ›symbiotische‹ Sozialform zurück(geblieben)« ist: »sie erscheint als der eigentliche Gegenspieler aller Öfentlichkeit, als Asyl der Privatheit.«86 Daß der Schein trügt, liegt nicht zuletzt an den repräsentativen Resten der alten Öfentlich- keit. Immerhin: Der »Bezug auf öfentliche, auf Selbstdarstellung und Verstellung angewiesene Geselligkeit tritt im 18. Jahrhundert zurück, und dem entspricht eine Verschiebung von instrumenteller zu idealisierter Sozialität.«87 Wie immer man sich historisch zwischen Habermas und Luhmann entscheiden möchte, handelt es sich um Abkoppelung und Ausgrenzung in eine Sphäre der idealisierten Beziehungen und (scheinbar) »folgenlosen Geselligkeit«. Auseinander gehen die Meinungen erst in der kritischen oder konservativen Einschätzung des Sachverhalts. Dafür ist die neue Sozialform der Freundschaf das einschlägige Paradigma: »Man sieht«, gibt sich Luhmann betont neutral, »Freundschaf ist auf dem Weg von der Funktionsent- lastung zur Idealisierung, auf dem Weg zur Ausdiferenzierung ins Private, das noch

85 Niklas Luhmann, »Frühneuzeitliche Anthropologie«, Gesellschafsstruktur und Semantik I (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980), 162–234: 166 f. 86 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter (Hamburg: Rowohlt 1957), Kap. IV: 57 f. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öfentlichkeit, 59. 87 Niklas Luhmann, »Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert«, Gesellschafsstruktur und Semantik I, 72–161: 146 f. 112 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Idealmodelle hervorbringen kann, aber zugleich ins eigene Bewußtsein aufnimmt, daß das Gesellschafssystem auf anderen Sozialformen beruht.« Von den klassischen Gemeinplätzen (Aristoteles, Cicero) ausgehend, hatte Friedrich Tenbruck noch sehr substantialistisch argumentiert: »Hier gelingt in einer sozial heterogenen Welt die Stabilisierung des Daseins durch die Freundschafsbeziehung. In der persönlichen Beziehung entgeht der Mensch der Desorganisation, mit welcher ihn die Hetero- genität seiner sozialen Welt bedroht.«88 Luhmann handelt nicht mehr von Entlastung qua Stabilisierung, sondern von Entlastung qua Idealisierung. Nicht als neue Weise des Zusammenlebens, sondern stattdessen und kompensatorisch: als Ideal in nicht idealen Verhältnissen fungiere Freundschaf, kurzum als literarische Fiktion. Unter dem ideologiekritischen Verdacht der allgegenwärtigen Afrmation bestehender Verhältnisse kann es um die kompensatorische Funktion der literarischen Freund- schaf nicht gut bestellt sein. Ihr Nenner ist in loser Anknüpfung an Benjamins In- tentionen die Melancholie, die Wolf Lepenies als bürgerliches Symptom für gesell- schaflichen Rückzug und politischen Machtverzicht dingfest machen will:

Der Rückzug aus der Gesellschaft bringt eine eigentümliche Verlagerung der sozialen Beziehungen mit sich: den Brief- und Freundschaftskult. Im ersten wird die Distanz zur Welt auch noch in die persönliche Beziehung projiziert; der Freundschaftskult dient we- niger als Kontaktform denn als Mittel zur Verdoppelung der melancholischen Gefühls- schwärmerei. Die Gesellschaftsaversion läßt höchstens den ›anderen‹ als Spiegelbild zu – nirgends ist vom ›generalized other‹ etwas zu spüren.89

Der sozialdiagnostische Wert des Melancholiebegrifs liegt seit Burton auf der Hand. Er thematisiert die Kehrseite aussichtslos gewordener Rollendistanz, deren Aktivitäten in psychologischer Selbstbeobachtung und literarischer Selbstrefexion des Lesers als eines nicht mehr Handelnden liegen.90 Lepenies beschreibt dement- sprechend die Freundschaf als gefühlsschwärmerische ›Masche‹: als ›Ersatzgefühl‹ für eine gesellschaflich funktionslos gewordene Sphäre der Intimität, deren Ideal der kleinfamilialen Symbiose abgeschaut ist.91 Allerdings nimmt Lepenies in seiner Argumentation zwei Schritte auf einmal. Zunächst erläutert und ergänzt er Elias bekannte Hypothese von der modernen Um- strukturierung des Afekthaushalts, wonach, »um es schlagwortartig zu sagen, das Bewußtsein weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewußtseinsdurchläs- sig« werden.92 Dann handelt er von Ersatz- und Reaktionsbildungen, die innerhalb

88 Friedrich H. Tenbruck, »Freundschaf: Ein Beitrag zur Soziologie der persönlichen Bezie- hungen«, Kölner Zeitschrif für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), 431–456: 441. 89 Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaf (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969), Kap. IV: 103. 90 Vgl. Gert Mattenklott, Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang (Stuttgart: Metz- ler 1968), Kap. I, und Stanley E. Fish, Self-Consuming Artifacts (Berkeley CA: University of California Press 1972), Kap. VI. 91 Vgl. Fanita English, Transaktionsanalyse: Gefühle und Ersatzgefühle in Beziehungen, dt. Be- arbeitung (Hamburg: Iskopress 1980). 92 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation II: 390; danach Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaf, 89. Zweiter Hauptteil 113 dieses Haushalts für Afekte eintreten, die Verinnerung der Afekte also ihrer Ver- drängung gleichmachen. Nun leitet sich nach Lepenies Melancholie zwar aus einer »Hypertrophie der Refexions-Sphäre« ab, aber sofern sie durch »Ausschluß von der realen Machtausübung« erzwungen ist. Wie immer man die Anteile des psychischen Haushalts und der sozialen Verhältnisse sozialpsychologisch verrechnen will, darf man jedenfalls die Pointe des Afekthaushalts als einer eigenen Instanz nicht ver- schenken: unter Voraussetzung seiner Umstrukturierung kommt es zu Mustern der Gefühlsäußerung, deren Kehrseite erst die Gefühlsschwärmerei ist. Als Äußerungs- muster verleiten sie zur maschenhafen Anwendung, aber nur sofern sie primär der Äußerung dienen, dem Ausdruck, und der Dialektik seiner Verzerrungen in der mündlichen wie der schriflichen Kommunikation unterliegen. Das Sprachspiel der Briefe funktioniert nicht per se als Masche, wiewohl es de facto bald dazu wird. Die dabei transportierte Freundschaf wird nur dort zur Gefühlsduselei, wo sie für ande- re, nicht zugelassene Gefühle ausgeschlachtet wird – was zu untersuchen und gewiß nicht in bloßer Gesellschafsaversion zu fnden wäre. Zu Recht spricht Lepenies von einem Übergewicht der projektiven Anteile in der Briefultur, einer Identifzierung, die am ›Anderen‹ als Objekt vollzogen wird.93 Als projektive Entäußerung steht sie im Gegensatz zur introjektiven Verinnerlichung, die keine bloße Objektbeziehung, sondern eine intersubjektive Beziehung ist und in psychoanalytischen Termini die »Entdeckung des Subjekts im Objekt« voraussetzt.94 Das Gleichgewicht beider aber, von Projektion und Introjektion, heißt Empathie. Die psychoanalytische Aufeilung in Projektion und Introjektion dient der Dife- renzierung des Konzepts der Identifzierung, sofern dies mehr als einen psychischen Mechanismus unter anderen, nämlich die Konstitution des Subjekts meint: seine Identität. Entsprechend dient die rollentheoretische Ausarbeitung des Empathie- begrifs einem sozialpsychologischen Begrif von Identität. Beidemale handelt es sich um Faktoren aus ›Kindheit und Gesellschaf‹ (Erikson), die durch individuelle Prägung und soziale Formung die erlebnispsychologische Fassung des Einfühlungs- begrifs hinterfragbar machen. Dessen Gegenstand waren nicht unbewußte Einfüs- se und rollenspezifsche Ansprüche, sondern »die Mitteilung von Gedanken durch Worte«, wie von dem klassischen Vertreter der Einfühlungstheorie Teodor Lipps ausgeführt:

Das in Worten mir Mitgeteilte kommt für mich zustande durch meine eigene Vorstel- lungstätigkeit. Aber eben diese erscheint als mitgeteilt, d. h. als mit gegeben durch eine objektive Tatsache, einen Gegenstand, von dem mir das ›Mitgeteilte‹ mitgeteilt wird, zu eigen. Mein eigenes Vorstellen stammt nicht aus mir, ist also insofern auch wiederum nicht ›mein‹ Vorstellen, sondern Sache des Mitteilenden. Mein Erleben des ›Mitgeteil- ten‹ ist Passivität, aber von eigener Art. Es ist das eigenartig neue Bewußtseinserlebnis, das ich um dieser seiner Eigenart willen auch wohl mit dem besonderen Namen der

93 Vgl. Jean Laplanche/Jean Baptiste Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse I–II (Paris: PUF 1967 / Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973), I: 222 f. (hier ohne terminologischen Umweg über die französische Freud-Adaption nach der dt. Ausgabe zitiert). 94 Helm Stierlin, Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971), Kap. IV: 72. 114 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

›Gebundenheit‹ meiner an den Gegenstand, oder der objektiven Gebundenheit meiner bezeichne.95

Das ist trefend gesagt, geht freilich in der Pointe des Objektivismus an der Sache vorbei: daß hier sachliche Gebundenheit den Vorrang habe, wie man von Dilthey bis Gadamer noch als hermeneutische Faustregel lesen kann.96 Immerhin ist der Sachverhalt getrofen, daß die eigene Vorstellungstätigkeit durch Mitteilung in Gang und als mitgeteilte zustande kommt: in der Vermittlung durch Sprachspiele eine intersubjektive Gebundenheit besitzt. Es wäre lohnend, führte aber gewiß zu weit, wollte ich die Entwicklung der phänomenologischen Teorien des Fremdverständ- nisses referieren, die Lipps zum Anstoß und Ausgang nehmen.97 An ihrem Ende steht der Befund von Alfred Schütz, daß »alles echte Fremdverstehen auf Akten der Selbstauslegung des Verstehenden fundiert« sei und keineswegs unmittelbar zu den Erlebnissen anderer zustande komme.98 Gleichlautend spricht Heinz Kohut von der Empathie des Psychoanalytikers »innerhalb eines Bezugsrahmens von aktuell oder potentiell durch Introspektion erfahrbaren Erlebnissen«.99 Ich komme zurück zu Herders Brief an Caroline und der intersubjektiven Bin- dung beider an den Gegenstand ihrer gemeinsamen Vorstellungstätigkeit, wobei entscheidend hinzukommt, daß diese Tätigkeit auf dem Akt des gemeinsamen Lesens beruht. Der introjektive Anteil der literarischen Kommunikation ist durch die Hintergrundmetaphorik der ›Einverleibung‹ des Gelesenen hinreichend belegt, während der projektive Anteil in der gemeinsamen Einfühlung läge. Wie Herders Mißtrauen gegenüber den fremden Lebensumständen ausdrücklich macht, ist das nicht im Sinne der noch naiven Einfühlungstheorie zu verstehen, deren General- thesis nach Schütz nicht viel mehr besagt, als »daß jedes Du als Nebenmensch die Konstitution seiner Bewußtseinserlebnisse in der gleichen Weise vollzieht, wie ich die meiner eigenen Erlebnisse«.100 Selbst diese Formulierung sagt noch zuviel, denn Herder geht ofenbar vom Bewußtsein unüberbrückbarer Fremdheit des anderen aus, während die naive Einfühlung nicht mehr als einen »blinden Glauben« an die Existenz des anderen darstelle: »Es ist uns in voller Evidenz gewiß, daß das Erlebnis des alter ego von seinem Handeln ein prinzipiell anderes ist, als unsere Erlebnisse von unserem (phantasierten oder reproduzierten) Handeln mit gleichem Hand- lungsziel, weil eben der gemeinte Sinn eines Handelns ... prinzipiell subjektiv und

95 Teodor Lipps, Leitfaden der Psychologie (Leipzig: Engelmann 1903), Kap. XIV: 187–188. 96 Vgl. Peter Krausser, Kritik der endlichen Vernunf (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968), 23 (für Dilthey); Fritz Koppe, Sprache und Bedürfnis (Stuttgart: Frommann-Holzboog 1977), (für Gadamer). 97 Teodor Lipps, »Das Wissen von fremden Ichen«, Psychologische Untersuchungen 1 (1907), 694–722; Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (Bonn: Cohen 1913, 21923), Teil C; Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (München 1928), Teil III. 98 Alfred Schütz, Der sinnhafe Aufau der sozialen Welt (Wien: Springer 1932, 21960), 3. Abschn.: 122–123. 99 Heinz Kohut, »Introspektion, Empathie und Psychoanalyse« (1959), Titelaufsatz zu Intro- spektion, Empathie und Psychoanalyse (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977), 9–35: 10. 100 Alfred Schütz, Der sinnhafe Aufau der sozialen Welt, 126 und f.; vgl. Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, 277 f. Zweiter Hauptteil 115 nur dem je eigenen Bewußtseinsablauf zugänglich ist.« Die ›poetische Heuristik‹ des eigenen Empfndens, die Herders bekanntes Stichwort ist, impliziert diese Evi- denz in wünschenswerter Deutlichkeit. In seinem Brief an Caroline verweigert er die schlichte Projektion der eigenen Gefühlslage in die fremden Umstände, die ihm umgekehrt zum Anlaß werden, die eigenen Gefühle, Wünsche und Ängste für die gemeinsame Lektüre zu artikulieren und an ihrer Wirkung als ästhetischen Faktor zu bemerken. Daß dies in der Qualität eines »Ich weiß nicht« die uneingestandene und möglicherweise abgewehrte Wirkung einer vorangegangenen Lektüre kom- munikabel macht, erlaubt quasi die Probe aufs Exempel: Die im gemeinsamen Aus- tausch zum gemeinsamen Gegenstand der Vorstellungstätigkeit gewordene Lek- türe dient nicht der Identifkation mit Klopstock als dem Helden seiner Gedichte, sowenig sie exemplarische Konsequenzen auf Seiten seiner Leser nach sich zieht; sie erschöpf sich in einer empathischen Gegenseitigkeit, die im vorliegenden Fall weit von melancholischer Gefühlsschwärmerei entfernt ist. Weder bloßes Spiegel- bild gegenseitiger Projektionen, noch ›generalized other‹, wiewohl das von Mead derart defnierte Selbstbewußtsein zu der verantwortlichen Übernahme sozialer Rollen und damit verbundener Bindungen durch die empathische Fähigkeit zu in- dividueller Kommunikation erst in der Lage ist.101 Wie Herders Beispiel zeigt, ist die intersubjektiv motivierte Introspektion nicht nur empathisch erfolgreich, sondern auch diagnostisch höchst kreativ. Die Caroline mitgeteilte Einschätzung Klopstocks ist längst nicht ausgeschöpf und erst über die psychogenetische Seite des Empathie- begrifs ins Auge zu fassen. Von der sozialpsychologischen Seite bleibt die Schwierigkeit der ›fremden Rede‹, der linguistischen Sachlage, daß es »keine syntaktischen Formen (gibt), die die Ein- heit des Dialogs konstruieren«.102 Wie Benvenistes Arbeit über die Pronomina zu entnehmen war, ist Subjektivität linguistisch gesehen die Fähigkeit eines Sprechers, als Subjekt aufzutreten. Man sieht leicht, wie das Dilemma der projektiven Einfüh- lungstheorien seine linguistische Entsprechung hat:

La conscience de soi n’est possible que si elle s’éprouve par contraste. Je n’emploie je qu’en m’adressant à quelqu’un, qui sera dans mon allocution un tu. C’est cette conditi- on de dialogue qui est constitutive de la personne, car elle implique en réciprocité que je deviens tu dans l’allocution de celui qui à son tour se designe par je. C’est la que nous voyons un principe dont le conséquences sont à derouler dans toutes les directions.103

In der Richtung derartiger Konsequenzen liegt die frühe Vermutung Vološinovs, »nicht das Wort (sei) der Ausdruck der inneren Persönlichkeit, sondern die innere Persönlichkeit ist das ausgedrückte oder nach innen gekehrte Wort.« In der Ode auf den Zürcher See wird die linguistische Basis empathischen Verhaltens als grammati-

101 Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979), 12. Vorl.: 269. 102 Valentin N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie (Leningrad 1930), dt. Ausgabe von Samuel M. Weber (Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein 1975), Teil III: 180 und 228. 103 Emile Benveniste, »De la subjectivité dans le langage« (1958), Problèmes de linguistique gé- nérale I, 260. 116 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik sches Muster sozialer Kompetenz thematisch und an der Stelle alter Götter in allego- rischen Status erhoben. Das setzt einen Stand der persönlichen Beziehungen voraus, der die grammatischen Gegebenheiten in einer neuen Weise nutzt: das odische Du vom Götteranruf zurückholt und als dialogisches Mittel installiert für symmetri- sche Beziehungen, die in der Freundschaf erlebbar und, heißt das hier, artikulierbar werden. Sofern die neue Fähigkeit der Empathie mit zunehmender Modernisierung ebenso notwendig als Kompetenz wie eingeschränkt als Performanz ist, ergibt sich die Abkoppelung in ein intermediäres Feld des Lernens und Probehandelns, das Jugend, Freundschaf und Lyrik zu einem psychohistorischen Syndrom zusammen- schließt. Und dieses Syndrom ist sozialhistorisch wie sozialpädagogisch kein völlig unbeschriebenes Blatt.104 Der Versuch von Hans Heinrich Muchow einer Kultur- morphologie der Pubertät datiert es auf die Großepoche von 1770–1920, an deren Ende Siegfried Bernfelds Arbeiten stehen. An ihrem Anfang steht Klopstock oder, genauer, die zweite Phase der Klopstockrezeption: »Das neue Lebensgefühl der Jüng- linge um 1770« nach Muchow. Von mehr als einem allgemeineren kulturkritischen Interesse sind derartige Ansätze allerdings erst, seit es eine im engeren Sinne psycho- genetische Erforschung der Adoleszenz als Phase der Identitätsbildung gibt und die rollentheoretischen Festschreibungen des Empathiebegrifs durch ontogenetische Diferenzierungen zum Rollenerwerb in der Sozialisation fexibler werden.105 In der Phaseneinteilung der Identitätsbildung, wie sie im Umkreis von Habermas vorgenommen wird: von der natürlichen Identität des Kleinkinds zur rollengebun- denen Identität des Schulkinds und zur fexiblen Ich-Identität des Erwachsenen, steht Adoleszenz in Analogie zur ödipalen Krise als Ablösungskrise im Vorder- grund; vorherrschendes Kriterium ist die Steigerung der Diferenziertheit der Inter- aktionssysteme.106 Empathie als »identitätsfördernde Fähigkeit«, wie es optimistisch bei Lothar Krappmann heißt, läßt sich dann systematisch auf »die mit den Kom- munikationsrollen von Ich und Du eingeübte performative Einstellung zwischen Interaktionsteilnehmern« beziehen, »deren Perspektiven aufeinander reziprok be- zogen sind«, denn: »Das System der Personalpronomina bringt die entscheidende Verknüpfung der Perspektivenverschränkung von Ego und Alter mit den Trans- formationsmöglichkeiten zwischen teilnehmender und beobachtender Einstellung zum Ausdruck: die reziprok verschränkten Perspektiven können nun aus der Per- spektive eines Dritten wahrgenommen werden.«107 Das ist der Sachverhalt, den ich Herders Brief an Caroline entnommen habe und bereits in der Ode vom Zürcher See thematisiert sehe. Das Fazit der Habermas’schen Zusammenfassung trif die

104 Siegfried Bernfeld, Vom dichterischen Schafen der Jugend (Leipzig/Wien/Zürich: Interna- tionaler Psychoanalytischer Verlag 1924), und Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (Leipzig/Wien/Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1925). Hans Heinrich Muchow, Jugend und Zeitgeist (Hamburg: Rowohlt 1962), im folgenden Teil I. 105 Vgl. den überblick von Rainer Döbert/Jürgen Habermas/Gertrud Nunner-Winkler (Ed.), Entwicklung des Ich (Köln: Kiepenheuer und Witsch 1977), Einführung 9–30: hier 15. 106 Rainer Döbert/Gertrud Nunner-Winkler, Adoleszenzkrise und Identitätsbildung (Frank- furt a. M.: Suhrkamp 1975), 38 f. Vgl. Lothar Krappmann, Soziologische Diemensionen der Identität (Stuttgart: Klett-Cotta 1969), 41975), Kap. 2 107 Rainer Döbert/Habermas/Nummer-Winkler, Entwicklung des Ich, 22; vgl. Lothar Krapp- mann, Soziologische Dimensionen der Identität, Kap. 4. Zweiter Hauptteil 117 felxible Beherrschung der Interaktionskompetenz ebenso wie die Einstellung der Lektüre, die ihrer Performanz nützt: »Soziale Rollen können sich erst konstituieren, wenn die Interaktionsteilnehmer nicht nur die Perspektive des anderen Beteiligten übernehmen, sondern die Teilnehmerperspektive gegen die Beobachterperspektive auswechseln können.« Dafür war Hirzels Brief das einschlägige Zeugnis. Daß Lesen derart bei der Ausbildung einer fexiblen Identität nützlich sein kann, heißt etwas anderes als das Lernen nach exemplarischen Vorbildern, wiewohl auch dort schon früh eine fortschreitende Psychologisierung festzustellen war.108 Gleichwohl setzt die prinzipielle Fähigkeit, neue Identitäten aufzubauen – so denn diese nach der Lektüre Klopstocks wirklich der rechte Begrif wären – und zugleich mit den überwundenen in ein Leben zu integrieren, wenn nicht die Konstanz, so doch die Variationsfähig- keit voraus, die partikularen Kerne überwundener und aufgegebener (Quasi-)Iden- titäten als biographische Spuren des eigenen Lernvorgangs refexiv aufzufassen. Das ist gemeint, wenn von ›identity themes‹ die Rede ist, die sich in der Persistenz eines ›personal myth‹ wiederholen. So hat Herder die Fähigkeit zur Wiederholung mit der zugehörigen Krisensymp- tomatik an Klopstocks Liebesgedichten durchaus erkannt: »Ists also auch nicht wahr; Kl hat nur Fanny gesungen?« Wie die am 10. Februar 1748 an Fanny geschick- te, von Klopstock im Nachhinein auf 1747 vordatierte Elegie mit dem späteren Titel Die künfige Geliebte zeigt, entstand Fanny ihrerseits in Antizipation, war sie selbst Wiederholung einer unter dem Namen Ida erinnerten ersten, in der Verheißung gebliebenen Liebe:

Dir nun, liebendes Herz, Herz, euch meinen vertraulichen Thränen, Sing’ ich traurig allein dieses wehmütige Lied ... Ach! warum, o Natur, warum unzärtliche Mutter, Gabst du zur Empfindung mir ein zu biegsames Herz? Und ins biegsame Herz die unbezwingliche Liebe, Ewiges Verlangen, keine Geliebte dazu?109

Also »in Meta nur immer Fanni, oder eine gewisse himmlische Klarheit«, wie Herder vermutet, hieß himmlisch sie für die poetisch antizipierte Verklärung des Irdischen nehmend, die der Messias verkündet. Für die Variationen seines persönlichen My- thos gilt die Substitutionsformel der Sch==inn, die Fanny mit der Schinzinn vari- iert, und steht der Name Cidli, der Fanny und Meta verbindet. Was bleibt sind die schwarzen Augen der Mademoiselle Schinz wie später die der Maximiliane Brentano im Werther. Als Schema der Wiederholung begrifen und wiederholt werden Klop- stocks Verse zur melancholischen Masche. Man nehme nur Höltys vortrefiches Gedicht An die Apfelbäume, wo ich Laura erblickte, in dem außer der Naturkulisse

108 Vgl. Otto Herding (Ed.), Jakob Wimpfelings ›Adolescentia‹ (München: Fink 1965), etwa 39 f. und 132 f. 109 Friedrich Gottlieb Klopstock, Elegie (1748), Oden und Elegien (Bulst), 54–57; 54 und 55; Die künfige Geliebte, Oden I (Muncker/Pawel), 31–35: 31 f. Vgl. Franz Muncker, Friedrich Gottlieb Klopstock (Stuttgart: Göschen 1887, 21900), 12 f. (wie schon zitiert). 118 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik nichts als des »verherrlichten Mädchens Namen!« bleibt als eine Metamorphose des neuen, nun ›echten‹ Petrarkismus.110 Kierkegaard, der die Krankheit zum Tode als Zitat der frühen siebziger Jahre zum Titel gemacht hat, hatte zuvor schon unter dem Titel Die Wiederholung einen letzten Refex des Syndroms wiedergegeben. Beispiel sind ihm einige Verse von Poul Martin Möller, der im dänischen Klopstockeinfuß aufgewachsen ist und einen Studenten- roman in Werther-Manier hinterlassen hatte:

Im Lehnstuhl mich ein Traum beschlich Aus meiner Jugend Frühlingswonne. Nach dir erfüllt ein Sehnen mich, Du aller Frauen Licht und Sonne.

Die abgeklapperten Verse entstehen nicht erst in der Übersetzung; sie charakterisie- ren die Misere des jungen Mannes (»Jünglings«), die Kierkegaard beschreibt:

Sein Auge füllte sich mit Tränen, er warf sich auf einen Stuhl, dauernd wiederholte er den Vers. Auf mich machte diese Szene einen erschütternden Eindruck. Großer Gott, dachte ich, eine solche Melancholie ist mir in meiner Praxis noch nie vorgekommen. Ich wußte wohl, daß er melancholisch war, aber daß eine Verliebtheit so auf ihn wirken konnte. Und doch, wie folgerichtig ist jeder zwar abnorme Seelenzustand, wenn er nor- malerweise da ist.111

Der Wiederholungszwang überspringt und tritt, indem er zur zwanghafen Über- sprungshandlung wird, an die Stelle dessen, was er überspringt:

Er war tief und innerlich verliebt, das war klar, und doch war er imstande, gleich an einem der ersten Tage sich an seine Liebe zu erinnern. Im Grunde war er mit dem gan- zen Verhältnis fertig. Indem er beginnt, hat er so einen erschreckenden Schritt getan, daß er das Leben übersprungen hat. Mag das Mädchen morgen sterben, das wird keine wesentliche Veränderung, hervorrufen. Er wird sich wieder hinwerfen, wieder wird sich sein Auge mit einer Träne füllen, wieder wird er das Dichterwort sprechen.

Ich weiß keine bessere Beschreibung, die ich für den vorläufgen Schluß meiner Ar- beit zitieren könnte, um das Erstarren des von Klopstock so erfolgreich begründeten psychogenetischen Musters zum Schema der Melancholie anzudeuten. Die ehemals heilbringende Ironie, die man der Übersetzung kaum noch anmerken kann, ist un- fruchtbar geworden, was zur Aufgabe der ästhetischen Dimension zwingt: »Das

110 Ludwig Christoph Heinrich Hölty, An die Apfelbäume, wo ich Laura erblickte (1774), Sämt- liche Werke, ed. Wilhelm Michael I–II (Weimar: Gesellschaf der Bibliophilen 1914), I: 147 (Nr. 81). Gesammelte Werke und Briefe, ed. Walter Hettche (Göttingen: Wallstein 1998), 180, Kommentar 515. 111 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung (1843), Werke, ed. Liselotte Richter I–IV (Hamburg 1961), II: 11 (Möllers Gedicht und Reaktion) und 19–20 (Fazit). Vgl. Die Krankheit zum Tode (1849), IV: 73 f. Zweiter Hauptteil 119

Schwere an seinem Geschick war, daß er das Mädchen wirklich liebte, aber um sie zu lieben, mußte er erst aus der dichterischen Verwirrung herausgebracht werden, in welche er gekommen war.« Die Aktivität des empathischen Lesens, resumiert Kierkegaard, ist der Gefühlsmasche aufgesessen. Was für den Klopstock-Leser Her- der (oder auch den Klopstock-Leser Rühmkorf) noch ins eigene Leben umgesetzt werden will oder soll, bleibt gefangen, nämlich »von der aufsteigenden Angst, ob es ihm je glücken werde, das Versäumte einzuholen«. 120 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Wirkungsmuster Klopstock Illusion und Empathie – Die Struktur der teilnehmen- den Lektüre in den Leiden Werthers

»Paradox! sehr paradox!« rief Albert aus. – (Werther, Am 12. August 1771)1

I Rezeptionsästhetik

Erzählforschung handelt vorwiegend von zweierlei Strukturen: sie betreibt ›Gram- matik‹ der Textstrukturen und ›Rhetorik‹ der Appellstrukturen narrativer Texte, wobei Linguistik in Gestalt von Transformationsgrammatik und Textpragmatik die aktuellen Modelle liefert.2 Die hermeneutische Applikation (in der Hintergrund- metaphorik des Triviums die Stelle der ›Dialektik‹) bleibt einer Interpretationspraxis überlassen, deren Teorie keine Grammatik narrativer Strukturen und keine Rheto- rik der Fiktion sein kann, sondern erst eine Hermeneutik der Lektüre. Rezeptionsäs- thetik ist für diese Problemlage insofern charakteristisch, als sie mit der Rhetorik der Fiktion hermeneutisch umgeht, nämlich die Textstruktur als Aktstruktur interpre- tiert, um die vom Text ermöglichte Lektüre, wie Wolfgang Iser zeigt, im Text selbst festmachen zu können: »Textstruktur und Aktstruktur verhalten sich zueinander wie Intention und Erfüllung.«3 Die Rhetorik der Fiktion wird in der komplementären Rhetorik der Lektüre als Ermöglichungsstruktur verstanden, durch die Textstruk- turen als Strukturen möglicher Lektüren beschreibbar werden: »Elle ne pretend pas décrire le ›contenu‹ des lectures possibles, mais les procédures textuelles qui rendent ces lectures possibles.«4 Die strukturale Analyse und funktionale Bestimmung li- terarischer Kommunikation hat es soweit primär mit der Kommunikationsstruktur der Texte und dem Kommunikationsverhältnis von Text und Leser (›rhetorisch‹ der Instruktion des Lesers) zu tun, nicht mit der Kommunikationsstruktur der Lektüre, die den Transfer literarischer Verständigung zustande bringt (›dialektisch‹ vermit-

1 Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther in der zweiten Fassung von 1787, nach der Hamburger Ausgabe (HA) von Goethes Werken, ed. Erich Trunz I–XIV (Hamburg: Wegner 1951/61965), VI: 48. Ich verzichte im folgenden auf umständlichere Nachweise und zitiere wo möglich auch nach den dort zusammengestellten »Quellen und Daten«. 2 Vgl. beispielsweise, repräsentativ, Roger Fowler, Linguistics and the Novel (London: Me­ thuen 1977), Ch. 3–5. 3 Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens (München: Fink 1976), 63. 4 Michel Charles, Rhétorique de la lecture (Paris: Seuil 1977), 63. Vgl. Wayne C. Booth, Te Rhetoric of Fiction (Chicago IL: Chicago University Press 1961), von der Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte (Konstanz: Universitätsverlag 1970) ausgeht, und Gerard Genette, »Discours du récit«, Figures III (Paris: Seuil 1972), Après-propos 271 f. Siehe auch Titel wie Textual Strategies, ed. Josué V. Harari (Ithaca NY: Cornell University Press 1979), und Te Reader in the Text, ed. Inge Crosman und Susan Suleiman (Princeton NJ: Princeton Uni- versity Press 1980). Wirkungsmuster Klopstock 121 telt). Aus der rhetorischen Provokation der im Text ermöglichten Lektüren folgt des- halb in rezeptionsästhetischer Konsequenz nicht die historisch-empirische Analyse »je historischer« Lesevorgänge, sondern die systematische Analyse des Transfers, der »im Erwartungshorizont einer Lebenspraxis ästhetische Erfahrung in kommunika- tive Verhaltensmuster« umsetzt.5 Das hermeneutische Problem, ästhetische Erfahrung in kommunikative Verhal- tensmuster umzusetzen, hat Jauß einschlägig veranschaulicht an der Identifkation des Lesers mit dem Helden, in der die Teilnahme am fngierten Geschehen ana- log der Teilnahme an wirklichem Geschehen erfahren und beschrieben, aber wo- möglich auch ›quasi-pragmatisch‹ reduziert wird.6 Sich in der Darstellung und mit dem Dargestellten identifzieren, beschreibt die Erfahrung der Illusion, die in der Lektüre fktionaler Texte gemacht wird. Dadurch, daß diese Erfahrung als Iden- tifkation beschrieben wird, ist die Wirkung der Illusion allerdings nicht erklärt, sondern nur vorausgesetzt.7 Die eingetretene Wirkung zu beschreiben, dient der Verständigung derer, die gemeinsam in ihr befangen sind. Insoweit formuliert der Identifkationsbegrif ein Stück ›naive Lesetheorie‹, das die Erfahrung der Lektüre in den Termini eines alltäglich bewährten naiv-psychologischen Wissens artikuliert und als Erfahrung verfügbar hält.8 Als Teil naiven Alltagswissens bezeichnet Iden- tifkation ein Schema der alltäglichen Verständigung über Fiktion, das die Wirkung der Illusion als Wirkung begreifich macht, als Illusion aber bestätigt. Insofern dies Schema die individuelle Teilnahme des Lesers als allgemeine Bedingung literari- scher Kommunikation refektiert, enthält es eine Hypothese darüber, wie das Rol- lenangebot der Texte durch Lektüredispositionen der Leser interpretierbar ist. ›Ana- logisierende‹ Schlüsse auf psychische Dispositionen und Einstellungen bleiben aber illusorisch, solange sie die Wirkung der Illusion als eine bewußte oder unbewußte Wahrnehmung von Ähnlichkeiten zur erlebten Wirklichkeit interpretieren, ohne den postulierten Transfer der Analogie zu erklären.9 Die Vermutung etwa, »daß sich die Wahrnehmungsstruktur der ästhetischen Einstellung und die Verfassung von Personalität mit derselben Terminologie beschreiben lassen«, hat Dieter Henrich durch eine Korrespondenz von »komplexer Wahrnehmungsprägnanz« und »kom-

5 So Hans Robert Jauß’ »Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode«, Neue Hefe für Philosophie 4 (1973), 30–46 (1–46): 44: sowie Rainer Warning, »Rezeptions- ästhetik als literaturwissenschafliche Pragmatik«, Rezeptionsästhetik, ed. Rainer Warning (München: Fink 1975), 9–39: 25. Warning spricht später von ›Pragmasemiotik‹. 6 Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik I (München 1977), Teil B, 212 f. Von ›quasipragmatischer Rezeption‹ spricht Karlheinz Stierle. »Was heißt Rezeption bei fktionalen Texten?« Poetica 7 (1975), 345–387: 357, wogegen Jauß 221 eine ›mittlere Ebene‹ der ›naiven Rezeption‹ vorschlägt. Vgl. Rainer Wartung, »Pour une prag- matique du discours fctionnel«, Poétique 10 (1979), 321–337: 336. 7 Vgl. den »Exkurs über Identifkation« von Eckhard Lobsien, Teorie literarischer Illusions- bildung (Stuttgart: Metzler 1975), 33 f. 8 Vgl. Uwe Laucken, Naive Verhaltenstheorie (Stuttgart: Klett-Cotta 1974), 18 f. Zum Ver- hältnis von ›naiver Teorie‹ und Lesen exemplarisch Michael Rutschky, Erfahrungshunger (Köln: Kiepenheuer und Witsch 1980), dessen Untertitel »Ein Essay über die siebziger Jahre« genauer »Essay über Lesen in den siebziger Jahren« heißen müßte. 9 Vgl. die Teorie des ›analogizing‹ bei Simon O. Lesser, Fiction and the Unconcious (New York NY: Random House 1962), 148. 122 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik plexer Motivationsstruktur« zu erläutern versucht.10 Einen solchen Zusammenhang zwischen ästhetischer Einstellung und kommunikativen Dispositionen kann die im Identifkationsbegrif unterstellte Analogie von Illusion und Wirklichkeit nicht voraussetzen: er kommt ja im Transfer der Lektüre erst zustande. Die Frage nach der Transferstruktur der Lektüre, die der Wirkung literarischer Illusion zugrunde liegt, wäre also mit der Frage nach der kommunikativen Funktion der ästhetischen Einstellung zu verbinden. Die behaupteten ›Komplexionen‹ lassen darauf schließen, daß die im Identifkationsbegrif beschriebene Erfahrung als Wahrnehmung einer Analogie von Dargestelltem und Erlebtem eine Mobilität erfordert, die von Wissens- soziologen als fexibles »Vertauschen von Erlebnisstilen« beschrieben worden ist.11 Soll das keine bloße Metapher für den Vorgang des Identifzierens sein, muß die in der ästhetischen Einstellung der Lektüre ermöglichte Vertauschung in ihrer fktiven Qualität bestimmt werden: als Mobilisierung, die in Analogien der Erfahrung ar- tikulierbar ist. Wird in der Illusionserfahrung die Wirkung der Fiktion im lebensweltlichen Horizont der Lektüre faßbar, so sind die Bedingungen, unter denen die Illusion im Medium der Fiktion zustandekommt, gerade nicht in der Analogie zur lebenswelt- lichen Wirklichkeit zu suchen, die dadurch begründet wird. Sucht man sie statt- dessen in der Diferenz, stößt man auf ein difus Imaginäres, das die »mangelnde Identität der Fiktion mit dem von ihr Repräsentierten« kennzeichnet.12 Wolfgang Iser spricht deshalb pointiert von der ›Negativität‹, durch die die mangelnde Iden- tität des imaginären Gegenstands der Fiktion zum »Antriebsmoment« wird, »durch das die Nicht-Gegebenheit der Verursachung für die Erscheinungsweise des imagi- nären Gegenstandes im Rezeptionsbewußtsein artikuliert werden kann.« Negativität ist also auf Seiten der Darstellung diejenige Qualität der Fiktion, die den Transfer zum vorstellungsmäßigen Gegenstand im Bewußtsein des Lesers ermöglicht; das Imaginäre folglich aufseiten der Wirkung die komplementäre Qualität der durch Fiktion hervorgerufenen Illusion, deren Erfahrung im Identifkationsbegrif ana- log zur alltäglichen Erfahrung beschrieben wird – als ein quasi transzendentales ›Ding an sich‹ der im Modus der Fiktion vermittelten ästhetischen Erfahrung. Ist im Begrif des Imaginären das Potential der in Fiktion intendierten Wirkung trans- zendental formuliert, so ist die Erfüllung dieser Intention in der bewirkten Illusion im Begrif der Identifkation auf ein hermeneutisches Schema gebracht, das diese Wirkung lebensweltlich kommunikabel macht. Beide Begrife konvergieren darin, daß sie eine Wirkung postulieren, die der Sinnkonstitution des Textes und seiner hermeneutischen Applikation vorausliegt: die der Illusion, deren Aura das Imaginäre

10 Dieter Henrich, »Ästhetische Perzeption und Personalität«, Poetik und Hermeneutik VII (1975), 543–546: 545: sowie Jauß’ Replik, Ästhetische Erfahrung, 137 f. 11 Alfred Schütz/Tomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt I (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979), 50. Vgl. Norbert Elias, »Problems of Involvement and Detachment«, British Journal of Sociology 7 (1956), 226–252: 236. 12 Wolfgang Iser, »Zur Problemlage gegenwärtiger Literaturtheorie: Das Imaginäre und die epochalen Schlüsselbegrife«, Auf den Weg gebracht: Idee und Wirklichkeit der Gründung der Universität Konstanz, ed. Horst Sund und Manfred Timmermann (Konstanz: Univer- sitätsverlag 1979), 355–374: 372 f.: sowie im folgenden »Negativität als tertium quid von Darstellung und Rezeption«, Poetik und Hermeneutik VII (1975), 530–533: 532. Wirkungsmuster Klopstock 123 und deren alltägliche Beschreibung die Identifkation ist. Illusion besteht phänome- nologisch darin, Merleau-Ponty zu zitieren, »daß sie sich für echte Wahrnehmung ausgibt, deren Bedeutung dem Sinnlichen selbst entspringt und nirgendwo anders. Sie ahmt jene Erfahrungsart nach, die sich auszeichnet durch die Deckung von Sinn und Sinnlichem, durch die im Sinnlichen sichtbare oder sich bekundende Artikula- tion des Sinnes.«13 So scheint es, als könne literarische Illusion »Verhaltensweisen in der Art der Wahrnehmung hervorrufen«, nämlich derart, wie Sartre erläutert, daß sich »Refexe bei Gelegenheit der Vorstellungskonstitution einstellen«: dem illusio- nierten Leser das Wasser im Munde zusammen- oder die Wangen hinunterläuf.14 Das heißt nicht, daß im Prozeß der literarischen Illusionsbildung Vorstellung und Wahrnehmung halluzinatorisch zu verwechseln sind. Doch tritt der ›Sinnhorizont‹ in der aktuellen Illusionserfahrung des Lesens soweit zurück, daß er »nur durch eine bewußte Abstraktion« thematisch zu machen ist. Weil ›Sinn‹ im Dargestellten nur perspektivisch ›mitgegeben‹ ist, kann er nur auf Kosten einer von der Wirkung »abstrahierenden Interpretation« gewonnen werden, so daß man sagen kann: »Illusion und Sinnkonstitution schließen sich gerade aus.«15 Diese Trennung er- scheint umso einschneidender, als literarische Illusion semantisch vermittelt ist und in ihrer sprachlichen Vermittlung folglich die unterschiedlichsten Brechungen und Verfremdungen erlaubt. Wirkt literarische Illusion auch durch Brechungen und Ver- fremdungen hindurch, so kann der dabei mitspielende Sinn doch nur nachträglich zum Prozeß der Illusionsbildung und durch bewußte Abstraktion von ihr explizit gemacht werden. Der Modus der Fiktion, dessen Wirkung derart unzugänglich ist, wird deshalb sprachanalytisch gerne dadurch charakterisiert, daß seine Semantik pragmatisch unbestimmt sei. Seine pragmatische Relevanz wird zum Problem einer hermeneutischen Applikation, die Sinn inform abstrahierender Interpretationen gewinnt. Identifkation als komplexitätsreduzierendes Paradigma der hermeneuti- schen Applikation ›übersetzt‹ die Erfahrung des Imaginären in Sinn und hält sie verallgemeinerungsfähig. Liefert der Begrif der Identifkation das vorherrschende Paradigma der hermeneutischen Applikation, der die Wirkung der Illusion in Inter- pretationen unterzogen wird, so kennzeichnet der Begrif des Imaginären dieselbe Wirkung, bevor ihre sekundäre Bearbeitung in der Sinnkonstitution des Textes voll- zogen ist und die hermeneutische Applikation einsetzt. Was in der Identifkation zu einer ›Realisierung‹ des Imaginären führt, ist im Imaginären als eine ›Irrealisierung‹ des Realen spürbar. Beide Seiten der so ein- gegrenzten Wirkung der Illusion sind nicht zu trennen. In der Aura des Imaginären beruht Illusion auf einer Irrealisierung, die der Begrif der Identifkation überspielt. Daß der Leser sich in der Illusion von der eigenen Gegenwart distanziert sieht, ist

13 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Paris: Gallimard 1945 / ­ Berlin: De Gruyter 1966), 41. 14 Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre: Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraf (Pa- ris: Gallimard 1940 / Hamburg: Rowohlt 1971), 222 sowie 239 f. 15 Lobsien, Teorie literarischer Illusionsbildung 59: dort die einschlägigen Zitate von Sartre, Merleau-Ponty und Gombrich. Vgl. Wolfgang Iser, »Der Lesevorgang« (1972), Rezeptions- ästhetik, ed. Rainer Warning (München: Fink 1975), 253–276: 265 f. 124 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik indes nur die Kehrseite einer Teilnahme, die der Begrif der Identifkation forciert.16 Der Psychologe Harding widerlegt deshalb die naive Psychologie der Identifkation (als ›vicarious experience‹) mit dem Hinweis auf die Doppelrolle des Teilnehmers (›participant‹) und Zuschauers (›onlooker‹), in die literarische Illusion den Leser versetzt.17 Das Modell der ›teilnehmenden Beobachtung‹ berichtigt die projektive Einseitigkeit des Identifkationsbegrifs und macht zugleich das quasi pathologische Defzit tatsächlicher Identifkationen in der Lektüre zum Indikator für systemati- sche Verzerrungen literarischer Kommunikation, die Gegenstand einer historisch- empirischen Rezeptionsforschung sein können.18 Als Modell des empathischen Grundmusters dagegen, das der Wirkung der Illusion zugrunde liegt, bleibt der Be- grif der Beobachtung metaphorisch. Denn die Irrealisierung, in der die Negativität der Fiktion das lesende Subjekt von der eigenen Wirklichkeit entfremdet, ist Voraus- setzung einer Teilnahme, in der Beobachtung Teil der Illusion, nicht ihrer Objektivie- rung ist. Die mögliche Selbstwahrnehmung im Akt des teilnehmenden Lesens unter- scheidet die ästhetische Erfahrung der literarischen Illusion von der bilanzierenden Beobachtung des Sozialwissenschaflers, der die eigene Teilnahme zum heuristischen Instrument macht. Umgekehrt kann der empirischen Forschung die teilnehmende Beobachtung nur dienen, wenn die heuristisch eingesetzte Teilnahme einschlägige kommunikative Erfahrungen der beobachteten Interaktionen schon voraussetzen kann bzw. einen Lernprozeß auf Seiten des Beobachters einplant. So ist das Modell der teilnehmenden Beobachtung auf die literarische Illusion nur anwendbar, weil sie ebenfalls auf der Transferstruktur einer Teilnahme beruht, die nun als ein ei- gener Modus der Lektüre, nicht der Beobachtung aufzufassen ist: Empathie als die hermeneutische Grundoperation, die der Wirkung der Illusion in der Lektüre zu- grunde liegt, genauer noch als diejenige hermeneutische Qualifkation, die erforder- lich ist, um die von der Fiktion bewirkte Illusion in der Lektüre zu ›realisieren‹. Die gängige Alternative von naiver Identifkation und ironischer Distanz zeugt also von der Problematik der noch nicht oder nicht mehr beherrschten Empathie. Dabei ist historisch der Erfolg der ironischen Lektüre bemerkenswert, die einen bestimmten Umgang mit dem empathischen Vermögen der Lektüre konventionalisiert. Ironische Kontrolle wie humoristische Beherrschung von Empathie sind mögliche Varianten der Reaktionsbildung auf ein empathisches ›Paradigma‹ der Lektüre, das den Kom- munikationsmodus moderner Fiktion defniert. Das Problem jeder Rhetorik fktionaler Texte scheint nun darin zu liegen, daß sie einen Kommunikationsmodus der Lektüre unterstellt, wie er der teilnehmenden Lektüre nicht mehr oder nur noch metaphorisch zugrunde liegt. Der metaphorische Titel einer Rhetorik der Fiktion hätte einen problematischen Vorzug darin, Fiktion in den Termini eines Kommunikationsmodus zu beschreiben, der in Fiktion seine

16 Vgl. Georges Poulet, »Phenomenology of Reading«, New Literary History 1 (1969/70), 53– 68: 58 f. 17 D. W. Harding, »Psychological Processes in the Reading of Fiction«, British Journal of Aes- thetics 2 (1962), 133–147: 140 f. Für den Film Christian Merz, Le signifant imaginaire (Pa- ris: Minuit 1977), 71 f., der Identifkation nach Projektion und Introjektion unterscheidet. 18 Vgl. den Begrif der ›objektiven Neurose‹ bei Jean-Paul Sartre, L’ idiot de la famille III (Paris: Gallimard 1972). Wirkungsmuster Klopstock 125

Grenze hat. Diese Grenze bezeichnet ziemlich präzise der Begrif der Illusion, der im Verhältnis von rhetorischer Instruktion (durch den Text) und hermeneutischer Applikation (durch den Leser) nicht mehr aufgeht. Die Appellmetaphorik von Pro- vokation und Rezeption bezieht sich im Fall der Illusion auf eine Wirkung, die zwi- schen dem ›stimulus‹ des Imaginären und dem ›response‹ der Identifkation eine ›black box‹ bleibt. Ihre Auflärung kann historisch dort ansetzen, wo die Rhetorik der Fiktion ihr metaphorisches Potential gewinnt: am Übergang vom rhetorischen Kommunikationsmodus der exemplarischen Lektüre zum ästhetischen der em- pathischen Lektüre, deren Diferenz leichter historisch zu beschreiben als systema- tisch zu fassen ist. Wieweit dieser Übergang in der Konsequenz der Rhetorik selbst lag und von den Zeitgenossen zurecht oder nur aushilfsweise in rhetorischen Be- grifen beschrieben wurde, ist dann auch geistesgeschichtlich ein beliebtes Tema, das von Seiten der Ästhetik wie der Rhetorik in etwa auf den gleichen Nenner einer ›Subjektivierung der Formensprache‹ zur ›Ausdruckssprache‹ gebracht worden ist.19 Das hat im Geniebegrif seine bekannte produktionsästhetische Perspektive, in der »die Wiederkehr des schöpferischen Subjekts auf der anderen Seite, auf der der Rezeption« nicht eingeplant scheint.20 Tatsächlich überschreitet aber schon die Rhetorik der »subjektiven Erfahrung«, die das ›Wunderbare‹ Breitingers wahr- scheinlich und als »aspektgebundene Wirklichkeit« glaubwürdig macht, den rhe- torischen Kommunikationsmodus der exemplarischen Lektüre in dieser Richtung: das »Spektrum subjektiv bedingter Diktionen«, der »Pluralismus sprachlicher Ver- haltensweisen«, die sich so ankündigen, verlangen vom Leser eine schöpferische Mobilität, die kaum mehr auf die Wirkung eines rhetorischen Efekts zu reduzieren ist.21 Natürlich kommt sie über die Erzählweise zustande, durch die ein persönlicher Erzählen seine Subjektivität zur Geltung bringt.22 Doch ist eben diese Subjektivität des Autors, sofern sie literarisch geworden ist, eine Appellqualität des Romans, die eine komplementäre Subjektivität des Lesers erfordert. Die Rhetorik der Fiktion unterschätzt die Dynamik dieser Komplementarität, in der die kommunikative Intention des ›impliziten Autors‹ von der kommunikativen Rolle des ›impliziten Lesers‹ konterdeterminiert ist, und sucht sie in einer Rhetorik der Ironie zu ent-

19 Vgl. Paul Böckmanns Formgeschichte der deutschen Dichtung I (Hamburg: Hofmann und Campe 1949) und Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode (Tübingen: Mohr Sie- beck 1960) auf der einen Seite, sowie auf der anderen Seite Klaus Dockhorns »Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur- und Geistesgeschichte« (1949), Macht und Wirkung der Rhetorik (Bad Homburg: Gehlen 1968). 20 So Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979), 95; vgl. Die Les- barkeit der Welt (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981), 300. 21 Wolfgang Preisendanz. »Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland«, Poetik und Hermeneutik I (1964), 72–95: 78 f. und Blumenbergs Diskus- sionsbeitrag dazu 200: ergänzend Preisendanz, »Mimesis und Poiesis in der deutschen Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts«, Rezeption und Produktion. Festschrif für Günther Weydt (Bern/München: Francke 1972), 537–552: 546 f. 22 Für Erzähler und Erzählweise maßgeblich geworden Wolfgang Kayser, Entstehung und Krise des modernen Romans (Stuttgart: Metzler 1955), 12 und 26. Vgl. hier den kritischen Exkurs »Zum Problem des Erzählers« bei Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraf (München: Fink 1963), 334 f. 126 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik schärfen.23 So gesehen erscheint der Übergang von der exemplarischen zur ästheti- schen Rezeptionsweise fießend: als Übergang von der allegorischen zur ironischen Lektüre. Als Schwundstufe allegorischer Kontemplation verkennt die viel zitierte ironische Distanz das ästhetische Potential des neuen Kommunikationsmodus der Fiktion. Anders als rhetorische Ironie setzt Fiktionsironie das empathische Grund- muster der Lektüre voraus, stellt sie freilich auch nur eine bestimmte Variante im Umgang mit Empathie dar.24 Historische Diferenzierungen, die etwa zwischen der humoristisch-sentimentalen und der ironisch-distanzierten Beherrschung der empathischen Lektüre zu vermuten sind, können erst von der grundlegenden his- torischen Diferenz aus beschrieben werden, die zwischen dem rhetorischen und dem ästhetischen Kommunikationsmodus besteht, zwischen exemplarischer und empathischer Lektüre. Im rhetorischen Kommunikationsmodus der Lektüre, so ließe sich diese Dif- ferenz abkürzend skizzieren, war der latente Konfikt von antiker Rhetorik und mittelalterlicher Hermeneutik, der die rhetorische Tradition durchzieht, zu einem kompromißhafen Ausgleich gebracht, der dem Problem der hermeneutischen Ap- plikation eine dauerhafe Lösung garantierte: Der kontemplativ am Text der Bibel geschulten Hermeneutik kam in der Applikation eine exemplarisch verfahrende Rhetorik zu Hilfe, die den in der Lektüre allegorisch erarbeiteten Sinn zu prakti- schen Konsequenzen führte.25 Was die ironische Lektüre als alternativen Modus der allegorischen Lektüre angeht, konnte die Applikation immer auch schon mit einem problematischen Bewußtsein verbunden sein, und der exemplarischen Anwendung des Gelesenen die ironische Abwendung fälliger Konsequenzen gegenübertreten. Ironische Distanz gegenüber den exemplarischen Mustern der Lektüre beeinträch- tigte das rhetorische Modell nicht. Satirische Provokation und karnevalistische Al- ternativen setzten den Modus der exemplarischen Applikation voraus, gegen den sie sich richteten. Rhetorischer Angelpunkt der exemplarischen Applikation ist die Faktizität des exemplarisch gemachten Falls, der durch die Evidenz einer anschau- lich gemachten Fabel gestützt oder durchkreuzt, aber nicht reduziert wird.26 In der exemplarischen Anwendung so gut wie ihrer ironischen Suspendierung appelliert

23 Cleanth Booth, Te Rhetoric of Fiction, gefolgt von A Rhetoric of Irony (Chicago IL: Chicago University Press 1974). Vgl. zu meinem Gebrauch der Termini Rainer Warning, »Formen narrativer Identitätskonstitution im höfschen Roman«, Poetik und Hermeneutik VIII (1979), 553–589: 574 f. bzw. Grundriss der romanischen Literaturen im Mittelalter IV/1, ed. Jean Frappier und Reinhold R. Grimm (Heidelberg: Winter 1978), 25–59: 45 f. Für den ge- neralisierenden Umgang mit dem Ironiebegrif in der Erzählliteratur siehe Robert Scholes/ Robert Kellog, Te Nature of Narrative (New York NY: Oxford University Press 1966), Ch. 7. 24 Vgl. zum Problem Rainer Warning, »Ironiesignale und ironische Solidarisierung«, Poetik und Hermeneutik VII (1976), 416–423: 419 f. zu Harald Weinrich, Linguistik der Lüge (Hei- delberg: Schneider 1966), 63 f. 25 Vgl. meine Skizze »Allegorie, Ironie und Wiederholung«, Poetik und Hermeneutik IX (1981), 561–565, sowie die Applikation Typik und Politik im Annolied: Zum Kongikt der Interpretationen im Mittelalter (Stuttgart: Metzler 1979), 59 f. 26 Jauß, Ästhetische Erfahrung 156, sowie Alterität und Modernität der mittelalterlichen Litera- tur (München: Fink 1977), 37 f. Wirkungsmuster Klopstock 127 der Text an einen Adressaten, vermittelt die Lektüre ›handlungsorientierende In- struktionen‹ oder hebt sie in ›sinnorientierenden Instruktionen‹ auf.27 Es entspricht dem Funktionswandel der Literatur im neuen Kontext einer bürger- lichen Öfentlichkeit, daß die neue Rhetorik der Fiktion dem Leser eine Rolle ein- räumt, die ihn am exemplarischen Schluß beteiligt. In der Rhetorik dieser Betei- ligung, für die Fieldings Umgang mit dem Leser charakteristisch ist, gewinnt der Akt des Lesens seinen Aktcharakter, der ihn von der kontemplativen Einstellung der allegorischen Lektüre und ihrer exemplarischen Konsequenz unterscheidet. Die in Anspruch genommene ›kommunikative Kompetenz‹ der Leser ist nicht mehr nur rhetorisch diszipliniert, sie gewinnt Qualitäten, die in der pragmatischen Aus- richtung auf repräsentative Verständigungsverhältnisse ausgeschlossen waren.28 Eine entpragmatisierte Rezeptionsweise ebenso wie die ästhetische Freisetzung des Subjekts sind für diesen Sachverhalt antirhetorische Beschreibungen, die sich an die Adresse der Tradition richten. Positiv gewendet läuf die rhetorische Mobilisierung des Lesens auf einen ›fexiblen Übergang‹ der Sphären des kontemplativen Lesens und exemplarischen Handelns hinaus. Darin freilich bleibt sie rhetorisch, daß sie ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Autor und Leser postuliert, so wie sie literari- sche Öfentlichkeit exemplarisch macht für politische. Die prästabilierte Harmonie der rhetorisch instruierten Sinnbildung, die in der Lektüre vollzogen wird, gerät in ein Oszillieren, das die Geschichte des ›impliziten Lesers‹ prägt. Es provoziert den irritierten Leser, »aus seiner passiven, harmlosen Rolle« herauszutreten und »ein bißchen mehr als Lesen« beim Lesen ins Spiel zu bringen, wie Jean-Bertrand Pontalis an Henry James zeigt.29 Den Wandel der hermeneutischen Einstellung systematisch zu fassen, der sich so bemerkbar macht, setzt einen Begrif der Lektüre voraus, der die spezifsche kommunikative Funktion des Lesens, wie auch sein evolutionäres Po- tential im Prozeß der Modernisierung zu beschreiben geeignet ist: den Begrif einer empathischen Lektüre, in der die kommunikativen Fähigkeiten des Lesers entwickelt werden und zum Tragen kommen. Statt von der notorischen kommunikativen Kom- petenz, deren Teil diese Lesefähigkeit ist, spreche ich im folgenden von dem Habitus, der das Lesen als eine kommunikative Fähigkeit qualifziert. Gegenüber dem Begrif der Kompetenz hat der des Habitus mehrere Vorteile, die eng mit seiner mittelalterlichen Herkunf zusammenhängen und ihre besondere Be- wandtnis für die Geschichte des Lesens haben. Die scholastische Unterscheidung des habitus naturalis von einem gottgegebenen habitus infusus entspricht der doppelten Ausprägung des Kompetenzbegrifs in eine kommunikative Kompetenz und daraus

27 Hilmar Kallweit, Transformation des Textverständnisses (Heidelberg: Winter 1978), 146 f. 28 Vgl. Jürgen Habermas Strukturwandel der Öfentlichkeit (Neuwied/Berlin: Luchterhand 1962) und seine »Vorbereitenden Bemerkungen zu einer Teorie der kommunikativen Kompetenz«, Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Teorie der Gesellschaf oder Sozialtech- nologie? (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971), 101–141: 120: Zu dem ›fexiblen Übergang‹ vom kommunikativen Handeln zum ›Diskurs‹ siehe Herbert Schnädelbach, Regexion und Diskurs (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977), 144 f. 29 Jean-Bertrand Pontalis, »Der Leser und sein Autor« (1958), Nach Freud (Paris: Juillard 1965: Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968), 303. Vgl. Isers Kapitel »Historische Diferenzierung der Interaktionsstruktur«, Der Akt des Lesens, 315 f., sowie Der implizite Leser (München: Fink 1972). 128 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik abgeleitete, gelernte Fähigkeiten.30 Wie die theologische ist die mentalistische Hypo- these einer eingeborenen Metakompetenz irreführend: »Invoking ›Innateness‹ only postpones the problem of learning; it does not solve ist.«31 Die Analogie zur genera- tiven Transformationsgrammatik, der zufolge der Leser mit der syntaktischen und semantischen Kompetenz eine literarische oder ästhetische Kompetenz verbinde als Teil oder anstelle der pragmatischen Kompetenz, liefert nur ein problematisches Postulat dessen, was im Lesevorgang vorgeht.32 Umgekehrt scheint es eher so, als erlaube der Begrif des Habitus erst, die Analogie zum linguistischen Kompetenz- begrif plausibel zu machen. Historisch setzt die scholastische Ausbildung eines habitus naturalis die Einsicht in die Lernbarkeit dessen voraus, was zuvor aufgrund des habitus infusus habituell vollzogen wurde und zur ›zweiten Natur‹ geworden ist. Im Kontext der vorscholastischen, symbolischen Teologie rechnete die allegorische Lektüre der Bibel mit göttlicher Eingebung, nicht mit menschlicher Methode. Scho- lastischer Methode unterzogen, wird sie zu einem Habitus, der durch Lernen an- zueignen ist: habitus acquisitus. Dabei ist entscheidend, daß im Lesen die naturaliter angelegte kommunikative Kompetenz nicht nur ausgebildet wird, sondern die auf ihr beruhenden Fähigkeiten im Lesen gelernt oder verstärkt werden. Für das Lernen von Lernen verantwortlich, wird der Habitus des Lesens zu einem ›refexiven Mechanis- mus‹, dessen Leistung auf dem Repertoire der topisch bereitgehaltenen Gegenstände der Rede beruht.33 Der topische Bezug des scholastischen Habitus der Lektüre ga- rantiert die exemplarische Konsequenz, in der die hermeneutische Applikation des Gelesenen rhetorisch wirksam wird. Als Habitus ist die durch Lektüre vermittelte Bildung »weder ein gemeinsamer Code, noch ein allgemeines Repertoire von Ant- worten auf gemeinsame Probleme, noch gar eine Anzahl einzelner und vereinzelter Denkschemata, sondern eher ein Zusammenspiel bereits im voraus assimilierter Grundmuster.«34 Dies Zusammenspiel wird durch die Refexivität des Mechanismus sowohl garantiert, als auch begrenzt, der den »Habitus als ein System verinnerlichter Muster« defniert, »die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und

30 Zum scholastischen Kontext dieser Unterscheidung samt ihrer neuscholastischen Rezep- tion und rhetorischen Verwendung siehe Gerhard Funke, Gewohnheit (Bonn: Bouvier 1958), 168 f. Vgl. auch Günter Buck, Lernen und Erfahrung (Stuttgart: Kohlhammer 1967). 31 Hilary Putnam, »Te Innateness Hypothesis and Explanatory Models in Linguistics« (Noam Chomsky/Hilary Putnam/Nelson Goodman, Symposium on Innate Ideas 1968), Te Philosophy of Language, ed. John R. Searle (Oxford: Oxford University Press 1971), 130–139: 139. 32 Vgl. Stanley E. Fishs Stichwort »Literature in the Reader« (1970), Self-Consuming Artifacts (Berkeley CA: University of California Press 1972), 406 f.; sowie das Referat von Jonathan Culler, Structuralist Poetics (London: 1975), 113 f. Auch die Teorie des Habitus von Pierre Bourdieu ging von der Analogie zur Transformationsgrammatik aus: »Elemente zu einer soziologischen Teorie der Kunstwahrnehmung« (1968), Zur Soziologie der symbolischen Formen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970), 159 f. und 178 f. 33 Niklas Luhmann, »Refexive Mechanismen« (1966), Soziologische Auflärung I (Opladen: Westdeutscher Verlag 1970), 94 f. 34 So Pierre Bourdieus Panofsky-Nachwort »Der Habitus als Vermittler zwischen Struktur und Praxis« (1967), Zur Soziologie der symbolischen Formen 143. In Erwin Panofskys Gothic Architecture and Scholasticism (Latrobe PA: Archabbey 1951), 20 f. war die Rede von ›men- tal Habits‹, ähnlich von ›mental set‹ in Ernst H. J. Gombrichs Art and Illusion (London: Phaidon 1960 & 1962), 53 f. Wirkungsmuster Klopstock 129

Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese.« Das grammatische Ana- logon ist irreführend, weil es für ein generatives Moment verantwortlich gemacht wird, das rhetorisch, nicht schon grammatisch ist. Als refexiver Mechanismus ist der rhetorische Habitus pragmatisch verallgemeinerungsfähig, Paradigma zu einer Teorie der Praxis, wie sie der rhetorischen Tradition zugrunde lag. In einer prag- matischen Teorie der kommunikativen Praxis sind Habitus als »systèmes de dis- positions durables et transposables« Gegenstand rhetorischer Refexivität.35 In der Terminologie der Kompetenzen werden sie als soziale Kompetenz, spezifscher als Rollenkompetenz aufgefaßt. Wie Rhetorik Grammatik setzt jede soziale Kompetenz Sprachkompetenz als notwendige, nicht als hinreichende Bedingung voraus: die in beiden wirksame kommunikative Kompetenz wird von Grammatik und Rhetorik habituell ausgebildet, die Fähigkeit kommunikativen Handelns in ihnen ›gelernt‹.36 Mit dem rhetorischen Modell stünde alles in bester Ordnung, wären die rheto- rischen Bestimmungen des Rollenbegrifs im Begrif der Rollenkompetenz tatsäch- lich gedeckt. Daß »wir alle Teater spielen«, hat seine soziologische Pointe nicht im rhetorischen Modus der repräsentativen Vergegenwärtigung, in dem Rollen exemplarisch gemacht werden, sondern in der Relativierung dieser Rollen und der Komplizierung der mit ihrer Übernahme verbundenen sozialen Fähigkeiten.37 Der hermeneutische Vorzug der Teatermetaphorik für die Beschreibung sozialen Ver- haltens liegt also in der historischen Diferenz, in der moderne Rollenkompetenz am Modus ihrer ehemals rhetorischen Vermittlung thematisch geworden ist.38 Daß an der Metapher der öfentlich gespielten Rolle thematisch werden konnte, was im Prozeß der Modernisierung am Modus der rhetorischen Vermittlung problematisch geworden war, verdeutlicht das evolutionäre Potential des rhetorischen Modells. Rhetorisch bleibt der Begrif der Rollenkompetenz mindestens insofern, als er im metaphorischen Rückgrif den Prozeß der Modernisierung, den er beschreibt, als einen Prozeß der Übertragung charakterisiert, der durch Tematisierung zu bewäl- tigen sei. Sachlich ist daran soviel richtig, daß rhetorische Refexivität im Habitus der Lektüre das Repertoire der Rollen thematisch macht und derart nicht nur rollenkon- formes Verhalten, sondern auch Rollendistanz fördert. Da der Rollenbegrif auch in seiner rhetorischen Bestimmung nicht etwa konditioniertes Verhalten meint, ist Rollendistanz schon eine Voraussetzung exemplarischen Rollenverhaltens, die der Unschärfe der vorgegebenen Rollen entspricht. Entsprechend könnte man versucht

35 Pierre Bourdieu, Le sens pratique (Paris: Minuit 1980), 88 f.; vgl. Esquisse d’une théorie de la pratique (Genève: Droz 1972). 36 Vgl. Jürgen Habermas, »Notizen zum Begrif der Rollenkompetenz«, Kultur und Kritik (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973), hier 196: Zum Begrif der ›social competence‹ Michael Argyle, Social Interaction (London: Tavistock/Methuen 1969 & 1973), 330 f. 37 Wir spielen alle Teater lautet der deutsche Titel von Erving Gofmann, Te Presentation of Self in Everyday Life (Edinburgh: Social Sciences Research Center 1956/München: Hanser 1969); vgl. im folgenden auch »Role Distance«, Encounters (New York NY: Bobbs-Merrill 1961). 38 Vgl. Hans Robert Jauß, »Soziologischer und ästhetischer Rollenbegrif«, Poetik und Herme- neutik VIII (1979), 599–607: 602 f. Hans Blumenberg, »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik« (1971), Wirklichkeiten in denen wir leben (Stuttgart: Reclam 1981), im folgenden 118 f. 130 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik sein, Rollenfexibilität rhetorisch aufzufassen als Fähigkeit zur Übernahme meh- rerer Rollen. Der Rede von Rollendistanz, Rollenfexibilität und Rollenkompetenz wäre dann freilich die neue Qualität der sozialen Beziehungen, die sie beschreiben soll, nicht mehr anzumerken. Daß Rollendistanz rhetorisch zu bestimmen ist, hat seine Bewandtnis in der rhetorischen Vorgeschichte moderner Rollenkompetenz. Mit zunehmender Rollenambiguität gewinnt sie aber eine neue Bedeutung, die erst im Zusammenhang mit den neuen Anforderungen der Rollenfexibilität deutlicher wird. Rollenfexibilität andererseits ist nicht mehr durch bloße Ambiguitätstoleranz gegenüber der Unschärfe sozialer Rollen zu defnieren, sondern durch Probleme der Rollenkomplementarität bestimmt, mit denen es rollenkompetentes Verhalten im Prozeß der Modernisierung erst zu tun bekommt.39 Von Empathie statt Rollenfexibilität zu reden, macht zunächst die bekannten Schwierigkeiten des Einfühlungsbegrifs, auf die ich hier nicht weiter eingehen will: nämlich des problematischen transzendentalen Status der Einfühlung für das, was phänomenologisch die ›intersubjektive Konstitution der objektiven Welt‹ heißt.40 Von Vorteil dagegen scheint andererseits, daß die Rede von Empathie die mißver- ständlichen Assoziationen eines festen Rollensystems vermeidet, die dem Konzept des fexiblen Rollenübernehmens (›role taking‹) noch anhafen und die tieferliegen- de Einsicht Meads verdecken, »daß sich ein Verhalten zu sich nur in eins mit einem Verhalten zu anderen konstituiert«.41 Mead handelt allgemeiner vom Mitvollzug der Einstellung des anderen (»taking the attitude of the other«), einem Kommuni- kationsprinzip, das Teilnahme am anderen einschließt (»involving participation in the other«): »Tis requires the appearance of the other in the self, the identifcation of the other with the self, the reaching of self-consciousness through the other.«42 Diese zur schlichten Identifkation mit dem Helden umgekehrt proportionale Teil- nahme am anderen hat nicht nur mit der fexiblen Übernahme gegebener Rollen zu tun. Die Dynamik der Rollenmodifkationen, die sich zwischen den Polen der Rolleninduktion und -dislokation abspielt und den Konfikt von ›Rollengebern‹ und ›Rollenempfängern‹ charakterisiert, ist nicht allein durch Rollengegebenheiten zu beschreiben, sondern durch die Bindungen (»loyalties«), die bei der Übernahme von Rollen eingegangen werden und bei ihrer Änderung wirksam sind.43 Die Rol- lenkomplementarität, mit der Rollenfexibilität es zu tun hat, beruht genauer auf der empfndlichen Gegenseitigkeit solcher Bindungen, die Empathie erfordern. Die

39 Vgl. die Abschnitte über »Complementarity and Confict in Role Systems« bei John Spiegel, Transactions (New York NY: Norton 1971), 117 f. 40 Vgl. das Husserl-Referat bei Michael Teunissen, Der Andere (Berlin: De Gruyter 1965, 1967), 68 f. und 71 f. 41 Vgl. die Mead-Vorlesung und Kritik bei Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbst- bestimmung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979), 262 und 277 f. 42 George H. Mead, Mind, Self, and Society (Chicago IL: Chicago University Press 1934, 1962), 253. Vgl. Karlheinz Stierle, »Was heißt Rezeption bei fktionalen Texten?« 353. 43 Vgl. das von Spiegels Teorie der Rollenkonfikte abgesetzte Konzept der ›Delegation‹ bei Helm Stierlin, »Rolle und Aufrag in der Familientheorie und –therapie« (1976), Delegation und Familie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978), 16 f. und das Kap. »Eine Phänomenologie der Gegenseitigkeit«, Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen (Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1971), 66 f. Wirkungsmuster Klopstock 131 so nur sehr pauschal angedeuteten Qualifkationen modernen Sozialverhaltens sind im Begrif der fexiblen Rollenkompetenz zu ergänzen, soll er in seinen nachrheto- rischen Dimensionen faßbar werden. Die systematische Dimensionierung, in der den sozialen Anforderungen von Rol- lenambiguität und Rollenkomplementarität die personalen Fähigkeiten zu Rollen- distanz und Rollenfexibilität entsprechen, setzt den Wandel der Sozialverhältnisse im Übergang der Modernisierung wohl voraus, läßt aber der älteren rhetorischen Entsprechung von Rollenambiguität und Rollendistanz noch den Vorrang. Von den historischen Implikationen des Begrifs der Moderne ist hier immerhin schon die Hypothese deutlich, die den Prozeß der Modernisierung als einen Prozeß der sozia- len Mobilisierung aufaßt, denn es sind Merkmale der Mobilisierung, die Empathie als Fähigkeit, »sich selber in der Situation eines anderen zu sehen«, erfordern.44 Daß es gerade diese Fähigkeit ist, die den neuen Habitus der Lektüre auszeichnet, ist weniger bemerkenswert als die Vermutung, daß sie in ihm gelernt wird oder min- destens intendiert ist, wie exemplarisches Verhalten es im Habitus exemplarischen Lesens war. Darin jedenfalls läge der Erfolg des rhetorischen Modells und seiner metaphorischen Beschreibung des neuen Habitus der Lektüre, daß es seine kom- munikative Leistung relativ zu den Dimensionen sozialen Verhaltens beschreibbar hält. Seine Grenzen hat es weniger, wie der taxonomische Nutzen der Rollentheorie für die Soziologie nahegelegt, in der Beschreibung der literarischen Öfentlichkeit, als in der Beschreibung der an ihr beteiligten Subjekte, wie sie in der rollentheoreti- schen Fassung des Identitätsbegrifs vorliegt.45 In der schwierigen Balance von Dis- tanz und Nähe, in der Empathie die intersubjektive Konstitution der eigenen Iden- tität durch die der anderen beschreibt, wird Ich-Identität zur fktiven Vorgabe: zum ›Schwundtelos‹, wie Marquard meint, das den Verlust der anagogischen Perspektive allegorischen Lesens im Modus der Fiktion kompensiert.46 Wie Gofmans ›Stigma‹ die Notwendigkeit einer ›fktiven Normalität‹ nach sich zieht (›phantom normal- cy‹), so Habermas’ ›Öfentlichkeit‹ eine ›fktive Einzigartigkeit‹ der beteiligten In- dividuen (›phantom uniqueness‹).47 So fragt sich am Ende, wenn schon literarische Öfentlichkeit kein Exempel für politische Öfentlichkeit zu liefern vermag, wieweit literarische Empathie als hermeneutisches Paradigma der an literarischer Illusion geschulten Lektüre zum Modell der persönlichen Identität taugt – nicht daß wir alle

44 Daniel Lerner, Te Passing of Traditional Society (New York NY: Free Press 1958, 1965), 42, auszugsweise »Die Modernisierung des Lebensstils«, Teorien des sozialen Handels, ed. Wolfgang Zapf (Köln: Kiepenheuer und Witsch 1968), 361–381: 364. 45 Vgl. den »Anhang über den sozialpsychologischen Identitätsbegrif« von Erikson bis Habermas bei Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 282 f. Andererseits Tomas Luckmann, »Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz«, Poetik und Hermeneutik VIII (1979), 293–313: 306 f. 46 Odo Marquard, »Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz«, Poetik und Hermeneutik VIII (1979), 347–389: 358: vgl. seinen Überblick über ›Kompensation‹, Historische Prozesse, ed. Karl-Georg Faber und Christian Meier (München: dtv 1978), 330–362: 351 f. 47 Erving Gofman, Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity (New York NY: Si- mon & Schuster 1963/Harmondsworth: Penguin 1968), 129 f. Jürgen Habermas, »Stich- worte zu einer Teorie der Sozialisation«, Kultur und Kritik, 131 f. Vgl. im einzelnen auch Lothar Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität (Stuttgart: Klett-Cotta 1969, 1975), 75 f. 132 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Teater spielen, sondern daß wir alle Romane gelesen und in der Lektüre die eigene Mobilität probiert haben. In der Termini des zugrundeliegenden refexiven Mechanismus läßt sich die historische Veränderung im Habitus der Lektüre, die dem Übergang von der Rol- lendistanz zur rollenfexiblen Empathie entspricht, als Umstellung vom Modus der rhetorischen ›Refexivität‹ auf den der ästhetischen ›Refexion‹ beschreiben.48 Wie der Modus der Refexivität im Bezug auf Topik das Modell der exemplarischen Ap- plikation defniert, so beschreibt der Modus der Refexion das Modell einer em- pathischen Applikation, die Kritik auf sich nimmt, nicht auf Topik sich beruf. Ist Lesen im rhetorischen Modus der Refexivität eine Art Umweghandeln, in dem eine exemplarische Norm durch die exemplarische Anwendung des Gelesenen angestrebt und erreicht (oder durch Ironisierung abgewendet und erübrigt) wird, so wird Lek- türe im Modus der Refexion ästhetisch: Was den derart refexiven Akt des Lesens von der exemplarischen Konsequenz distanziert, ist die Aktivität des Lesens selbst, nicht die im Umweg aufgeschobene Konsequenz, sondern die im Aufschub begrif- fene Subjektivität, die sich im Vollzug der Lektüre konstituiert. War die rhetorische Struktur älterer Texte auf pragmatische Situationen bezogen, um in der Lektüre alte Erfahrungen zu vermitteln, für deren Transfer ein paradigmatischer Fall zur exem- plarischen Instanz wurde, so wird die ästhetische Struktur moderner Texte tenden- ziell situationslos, um in der Lektüre neue Erfahrungen zu ermöglichen, die im Akt des Lesens selbst gemacht werden.

II Werthers Leiden

Der neue Habitus der Lektüre hat im Übergang vom rhetorischen Modus der Re- fexivität zum ästhetischen der Refexion Autobiographie und Briefroman zu sei- nen Paradigmen, Tagebuch und Brief zu seinen alltäglichen Voraussetzungen. Die Problematik des Übergangs zu einer neuen Rezeptionsweise läßt sich deshalb nir- gendwo deutlicher machen als an den zeitgenössischen Versuchen, die Wirkung des Briefromans als Wirkung einer neuen Schreibweise rhetorisch zu beschreiben und mit Hilfe des rhetorischen Repertoires die ästhetische Intention zu erfassen, die in der Illusion der Lektüre eine ›synthetische‹ Aktivität des teilnehmenden Lesers ermöglicht.49 Dabei spielt für den Briefwechsel die Metapher des Dialogs, für den Briefroman die Metaphorik des Dramas eine besondere Rolle, Sowenig aber der Briefwechsel ein Dialog ist, sowenig ist der Briefroman ein Drama. Rhetorisch ein sermo absentis ad absentem, vergegenwärtigt der Brief aushilfsweise ein Gespräch,

48 Die Unterscheidung von Refexivität und Refexion wieder nach Luhmann, »Refexive Me- chanismen«, 99 f.; »Selbstthematisierungen des Gesellschafssystems« (1973), Soziologi- sche Auflärung II (Opladen: Westdeutscher Verlag 1975), 72–102. 49 Wilhelm Voßkamp, »Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen«, Deut- sche Vierteljahrsschrif 54 (1971), 80–116: Vgl. seine Romantheorie in Deutschland (Stutt- gart: Metzler 1973), 196 f. und Fritz Wahrenburg, Funktionswandel des Romans und äs- thetische Norm (Stuttgart: Metzler 1976), 239 f. Wirkungsmuster Klopstock 133 das gegenwärtig nicht stattfnden kann.50 Steht die Metapher des Dialogs also für den Modus der Refexivität, in dem der Brief das Gespräch ersetzt oder fortsetzt, so die Metaphorik des Dramas für den Modus der Refexion, in dem der Briefroman dies Mittel als Umweg thematisch macht. Dialogische Vergegenwärtigung im Brief fn- giert den Dialog von Abwesenden: dramatische Vergegenwärtigung im Briefroman inszeniert diese Fiktion vor Anwesenden (Dritten). Die fktive Unmittelbarkeit der Briefe wird zur Garantie einer entsprechend unvermittelten Rezeption. Sie ist freilich Teil der Illusion, die rhetorisch beschworen wird, um in der Lektüre durchkreuzt zu werden. Hinter der Rhetorik der gelungenen dialogischen Kommunikation steht die Dialektik der »gebrochenen Intersubjektivität«, in der die Aktivität des Lesers ihre Motivation fndet: »Das psychologische Interesse wächst von Anbeginn in der doppelten Beziehung auf sich selbst und auf den anderen: Selbstbeobachtung geht eine neugierige teils, teils mitfühlende Verbindung ein mit den seelischen Regungen des anderen Ichs. Das Tagebuch wird zu einem an den Absender adressierten Brief: die Ich-Erzählung das an fremde Empfänger adressierte Selbstgespräch; gleicher- maßen Experimente mit der in den kleinfamilial-intimen Beziehungen entdeckten Subjektivität.«51 Tatsächlich schaf die publikumsbezogene Privatheit der Briefe den Realismus der Briefktion von selbst: fngierte Briefe sind Briefe wie andere auch. Daß sie zum Druck gesammelt und nach Daten hintereinander sortiert sind, unterscheidet sie nicht von den publizierten Briefen berühmter Persönlichkeiten. Ihre Fiktion im Briefroman trennt von der Rhetorik der Briefsteller, die Richardson und Gellert auch verfaßten, nichts als der ästhetische Modus der Refexion, in dem die Lektüre anders als im Modus bloßer Refexivität auf die im Wechsel der Briefe lesend konstituierte Subjektivität gerichtet ist statt aufs Repertoire des Mitgeteilten. Die Vollständigkeit der Illusion, die im Mitlesen des Lesens erreicht wird, ist durch die Illusion der unmittelbaren Gefühlsaussprache, für die Richardson zitiert wird, und der individuellen Vielfalt, für die Diderots Eloge de Richardson zitiert wird, nur zur Hälfe beschrieben.52 Sie gleicht der dramatischen Illusion im Typ der mehr- fach adressierten Äußerung, durch die der Leser zum »mitangesprochenen Dritten« wird.53 Anders als in der dramatischen Handlung ist im Briefroman aber die In-

50 Für die bis ins 18. Jahrhundert maßgeblichen Gemeinplätze, wie sie in Georg Steinhausens Geschichte des deutschen Briefes I–II (Berlin: Gaertner 1889–91), II: 245 f. illustriert sind, siehe das Cicero-Kapitel bei Klaus Traede, Grundzüge griechisch-römischer Briefopik (München: Beck 1970), 60 f., sowie für Gellert im besonderen Paul Mog, Ratio und Ge- fühlskultur (Tübingen: Niemeyer 1976), Kap. 1. 51 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öfentlichkeit, 61 f.; vgl. Erkenntnis und Interesse (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968), 222. 52 So nach den Belegen bei Ian Watt, Te Rise of the Novel (London: Chatto and Windus 1957), wieder bei Dorrit Cohn, Transparent Minds (Princeton NJ: Princeton University Press 1978), 209. Vgl. Franz K. Stanzel, Teorie des Erzählens (Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht 1979), 172 f. und 281 f. 53 Rainer Warning, »Elemente zu einer Pragmasemiotik der Komödie«, Poetik und Herme- neutik VII (1976), 279–333: 308 f. Der Terminus der mehrfach adressierten Äußerung nach Dieter Wunderlich, »Zur Konventionalität von Sprechhandlungen«, Linguistische Pragmatik, ed. Dieter Wunderlich (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972), 11–58: 36 f. Vgl. auch Uri Rapp, Handeln und Zuschauen (Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1973), 220 f. 134 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik diskretion des Mediums Teil der Fiktion, wird im ›erzählten‹ Brief die empathische Wahrnehmung schon einberechnet: »il y a toujours du monde à côté«, zitiert Gérard Genette einen der Helden Balzacs.54 Der im Briefroman implizierte Mitleser ist als ein fktiver Leser (als »un narrataire intradiégétique«) die Refexionsfgur des im- pliziten Lesers, dessen Rolle er fngiert, nicht festlegt. Das aber heißt, daß wir uns mit dem Adressaten der Briefe nicht identifzieren können, mit dem ihm über die Schulter schauenden Publikum aber auch nicht identifzieren müssen. Die doppelte Illusion des Briefromans treibt die Möglichkeiten der literarischen Fiktion auf die Spitze. Analog der Illusion des ›skaz‹, die in der Fiktion des mündlichen Erzählens Kon- trast schaf zur Schriflichkeit des erzählten Texts, bringt die Fiktion der Briefe im Briefroman eine latente Ambivalenz mit sich, die auf der Dialogizität der Medien, der Briefktion einerseits und der Herausgeberfktion andererseits, beruht.55 Diese Ambivalenz ist Teil der Illusion. Man hat sie gelegentlich als ›polyperspektivisch‹ be- schrieben. Sie ist nämlich in der dialogischen Beziehung der dargestellten Perspekti- ven enthalten. Die der perspektivischen Illusion immanente Dialogizität bringt eine latente Ambivalenz mit sich, die unterschiedlich beherrscht wird und jedenfalls in Widerspruch zur monologischen Struktur des sogenannten auktorialen Erzählens steht. Im Efekt einer ›kommunikativen Ambiguität‹, der »etwas ganz anderes ist als Ironie«, wie Preisendanz betont, hat sie zur Folge, »daß im Leser Gegenmotive mobil werden«.56 Für die empathische Lektüre ist die latente Ambivalenz des Brief- romans, das bestätigt der Erfolg Richardsons, Rousseaus und Goethes, das ent- scheidende Paradigma. Da sie in der polyperspektivischen Illusion nur mitgegeben ist, in der Darstellung latent bleibt, nämlich allenfalls in der Relativität einer Per- spektive thematisch wird, zwingt sie zu einer eigentümlich gebrochenen Teilnahme, die in nachträglicher Abstraktion als Identifkation zu rationalisieren und erst aus der Distanz zu beurteilen ist. Blanckenburg hat dies an Goethes Werther einschlägig thematisiert.57 Die Ambiguität der Darstellung hat in der empathischen Lektüre eine Wirkung, die durch eine objektivierende Beschreibung der Ambivalenz des

54 Gérard Genette, »Discours du récit«, 266. Der Terminus des ›narrataire‹ bei Gerald Prince, »Notes Toward a Categorization of Fictional ›Narratees‹«, Genre 4 (1971), 100–105; und »Introduction à l’étude du narrataire«, Poétique 4 (1973), 178–196. Vgl. auch Seymour Chatman, Story and Discours (Ithaca NY: Cornell University Press 1978), 150 f. 55 Über ›Dialogizität‹ und ›Ambivalenz‹ nach Bachtin vgl. zuerst Julia Kristeva, »Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman« (1967), Semiotiké (Paris: Seuil 1969), 159. Für die Analo- gie zum ›skaz‹ vgl. vor allem Viktor Vinogradov, »Das Problem des ›Skaz‹ in der Stilistik« (1926), Texte der russischen Formalisten I, ed. Jurij Striedter (München: Fink 1969), 168– 207: 175 f. 56 Wolfgang Preisendanz, »Karnevalisierung der Erzählfunktion in Balzacs Les parents pauv- res«, Honoré de Balzac, ed. Hans-Ulrich Gumbrecht, Karlheinz Stierle und Rainer Warning (München: Fink 1980), 391–410: 406 f. und 410.20. Zur Einschlägigkeit Balzacs siehe Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegrif und Möglichkeit des Romans«, Poetik und Hermeneu- tik I (1964), 9–27: 23 f. 57 Vgl. Dietrich Harth. »Romane und ihre Leser«, Germanisch-romanische Monatsschrif NF 20 (1970), 159–179: 169 f. Über Blanckenburgs Werther-Rez. (1775) siehe das Nachwort von Eberhard Lämmert zu Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774), ed. Eberhard Lämmert (Stuttgart: Metzler 1965), 566. Wirkungsmuster Klopstock 135

Dargestellten nur indirekt zu fassen ist. Im Fall des Briefromans kommt historisch erschwerend hinzu, daß die für seine empathische Lektüre habituell vorausgesetzte Fähigkeit des Briefwechselns kaum zu simulieren ist. Wie das Landschafsbild als das »Korrelat einer Einstellung« entsteht, in der Landschaf als ästhetischer Gegenstand erst möglich wird, entsteht der Briefroman als Korrelat einer Einstellung, die den Brief als literarisches Medium ermöglicht.58 Ist der Brief des 18. Jahrhunderts das wichtigste Relais zur Verlagerung innerer Sprache nach außen, also dessen, was als Erfahrung latent auf Äußerung wartet, handelt der Briefroman von eben den sprach- lichen Möglichkeiten, nach außen zu bringen, was innen noch nicht sein kann, weil es als Erfahrung erst in der dialogischen Vermittlung nach außen zustande kommt.59 Goethe etwa, dessen Werther im folgenden einmal mehr als Beispiel dienen soll, hat die historischen Voraussetzungen des Briefromans aus der historischen Dis- tanz seiner autobiographischen Fiktion von Dichtung und Wahrheit zu Beginn des 13. Buchs kommentiert, in dessen Verlauf von der Entstehung des Werther zu be- richten ist. Ihr Efekt beläuf sich darauf, daß der Leser Werthers Briefe liest, wie er die Briefe beliebiger »Schatullen« zur Kenntnis nimmt, etwa aus »Leuchsenrings Schatullen«, von denen Goethe erzählt, daß sie »den vertrauten Briefwechsel mit mehreren Freunden enthielten: denn es war überhaupt eine so allgemeine Ofen- herzigkeit unter den Menschen, daß man mit keinem einzelnen sprechen, oder an ihn schreiben konnte, ohne es zugleich an mehrere gerichtet zu betrachten. Man spähte sein eigen Herz aus und das Herz der andern ...« (HA IX, 558).60 Nun hatte Goethe allerdings ein sehr genaues Bewußtsein von der »Wechselnichtigkeit« dieses Mediums, wie er in seiner allgemeinen Diagnose des 19. Buchs erkennen läßt: »und ich war so ziemlich auf dem Wege, mit jüngeren Freunden, wo nicht auch mit äl- teren Personen, in ein solches wechselseitiges Schönetun, Geltenlassen, Heben und Tragen zu geraten« (HA IX, 401). Die Erfahrung der wechselseitigen Verstärkung im gegenseitigen Lesen ist die Erfahrung einer Illusion, in der das Medium selbst transparent geworden, seine Ambiguität zum Verschwinden gebracht ist. Das im Brief fngierte Ich lebt von der Fiktion des im Wechsel konstituierten alter ego. Daß man »schließlich selbst seine Individualität zu tauschen« glaubte, sich imstande sah, seine »Empfndungen unmittelbar auf den Adressaten zu übertragen«, zeigt das Ausmaß der Illusion, die im Briefroman thematisch und in ihrer latenten Ambi- valenz kommunikativ wirksam wird.61 Das zugrundeliegende Sprachspiel beruht auf den Regeln eines gegenseitigen ›pretending‹, das zu jenen »ways and varieties of

58 Vgl. Manfred Smuda, Der Gegenstand in der bildenden Kunst und Literatur (München: Fink 1979), 12 f. Über das tertium comparationis der ›lyrischen Stimmung‹ siehe schon Georg Simmels »Philosophie der Landschaf« (1913), Brücke und Tor (Stuttgart: Kohlhammer 1957), 149 f. Die phänomenologische Analogie von Landschafsbild und Briefroman im 18. Jahrhundert verdiente eine ausführlichere Bearbeitung. 59 So die historische Applikation Wygotskis bei Georges Steiner, »Te Distribution of Dis- course«, Semiotica 22 (1978), 185–209: 194 f. Vgl. Titel wie Geofrey Hartmans Te Fate of Reading (Chicago IL: Chicago University Press 1975), 248 f. 60 Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, nach der Hamburger Ausgabe von Goe- thes Werken, ed. Erich Trunz IX (HA). 61 Vgl. die Beschreibung bei Norbert Miller, »Die Rollen des Erzählers«, Romananfänge, ed. Norbert Miller (Berlin: Literarisches Colloquium 1965), 37–91: 62 f. 136 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik not exactly doing things« gehört, die J. L. Austin beschrieben hat: Im unmerklichen Übergang eines ›pretending-to‹ zum ›pretending-that‹ kann man die Toleranzgrenze vermuten, die zwischen dem tolerierten Maß an Selbsttäuschung und der bewußten Täuschung des anderen liegt.62 Die unterstellte ›Logik der seelischen Ereignisse‹ postuliert die pretendierten Ereignisse dort, wo sie sich ›spontan‹ ausdrücken.63 Das tun sie in der unmittelbaren Gegenwart dessen, der seine Erfahrungen, Eindrücke und Empfndungen aufschreibt und einer ofenen Zukunf anheim gibt.64 »Die Art der Sicherheit«, schränkt Wittgenstein freilich ein, »ist die Art des Sprachspiels.« Als Medium des ›pretending-to‹ wird der Brief Gegenstand eines ›pretending-that‹, in dem der Briefroman die Ambiguität des Mediums: seine »Zweideutigkeit«, wie Wer- thers Herausgeber gegen Ende des Romans sagt, in die Illusion der Darstellung als Ambivalenz des Dargestellten überträgt. Die fktive Referenz der Darstellung wird in ihrer kommunikativen Bestimmtheit thematisch, die nach An des Sprachspiels der Briefe ihre Sicherheit in ihrer Zweideutigkeit hat.65 Die ›Wahrheit‹ der Briefktion also liegt in der referentiellen Unsicherheit der zitierten Briefe: einer Ambiguität, von der man seit dem Werther weiß, »daß sie im Leser Gegenmotive mobil macht«. Goethes abschätzige Behandlung der Briefe in der fktiven Vorgeschichte des Werther steht im Zusammenhang seiner impliziten Auseinandersetzung mit Rous- seau, in der Dichtung und Wahrheit auf die Confessions antwortet, und der Wer- ther auf das Muster der Nouvelle Héloise bezogen ist.66 Prompt fnden sich bei Leuchsenring namentlich einzig die Briefe einer Julie (Bondeli), die als »Rousseaus Freundin« Anlaß gibt zur Erinnerung an die »Glorie, die von ihm ausging« (HA IX, 558). Der implizite Hinweis auf Rousseaus Vorbild, in signifkante Ironie ver- packt, zielt auf die exemplarische Rolle die Rousseaus Handhabung des Mediums der Briefe, genauer also ihrer Ambiguität, für Goethes Werther gehabt hat. Rousseaus Julie, nicht Richardsons Clarissa war für den Werther maßgeblich, wiewohl Lotte im Werther wie Cornelia (Goethes Schwester) bei der Lektüre des Werther Richardson im Kopf haben. Sind in Richardsons Clarissa die Briefe noch vielfältiger Ausdruck

62 J. L. Austin, »Pretending« (1947), Philosophical Papers (Oxford: Clarendon Press 1961), 217 f. Damit unterschreibe ich nicht die Verallgemeinerungen von John R. Searle in »Te Logical Status of Fictional Discourse«, New Literary History 6 (1974/75), 319–332: 324. Vgl. Stanley Fish, »How to Do Tings with Austin and Searle« (1977), Is Tere a Text in Tis Class? (Cambridge MA: Harvard University Press 1980), 242 f. 63 Vgl. Hans Joachim Giegel, Die Logik der seelischen Ereignisse (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969), 143 f.; dort auch die einschlägigen Zitate von Wittgenstein, im folgenden aus den Philosophischen Untersuchungen (Oxford: Blackwell 1953), Schrifen I (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1960), 538. 64 Vgl. Voßkamp, »Dialogische Vergegenwärtigung« 98 f., und Eberhard Lämmert, Baufor- men des Erzählens (Stuttgart: Metzler 1955, 21967), 238. Allgemein Lionel Trilling, Sincerity and Authenticity (Cambridge MA: Harvard University Press 1972). 65 Vgl. Rainer Wimmer, Referenzsemantik: Untersuchungen zur Festlegung von Bezeichnungs- funktionen sprachlicher Ausdrücke am Beispiel des Deutschen (Tübingen: Niemeyer 1979), 173 f. zu Gottfried Gabriel, Fiktion und Wahrheit (Stuttgart: Frommann-Holzboog 1975). 66 Vgl. ex negativo argumentierend die Studie von Martin Sommerfeld, »Jean Jáques Rousse- aus Bekenntnisse und Goethes Dichtung und Wahrheit«, Goethe in Umwelt und Folgezeit (Leiden: Sijthof 1935), 11 f., sowie dann Karl Maurer, »Die verschleierten Konfessionen: Zur Entstehungsgeschichte von Goethes Werther«, Die Wissenschaf von deutscher Sprache und Dichtung. Festschrif für Friedrich Maurer (Stuttgart: Metzler 1963), 424–437: 428 f. Wirkungsmuster Klopstock 137 eines Lebens, das sie repräsentieren, aus dem folglich bei aller Ambiguität des dar- gestellten Mediums zu lernen ist, so sind die Briefe in Rousseaus Julie, nach einer glücklichen Prägung Derridas, bloße ›Supplemente‹, die quer zu einem Leben ste- hen, das sie nicht mehr repräsentieren, dem sie fktive Züge verleihen an der Stelle derer, die es nicht hat.67 Der Umschlag der Ambiguität des zitierten Mediums, der in der Herausgeberfktion dokumentierten Briefe, zur latenten Ambivalenz ihrer Repräsentation ist entscheidend. Er stellt die empathische Lektüre auf die eigenen Füße und entläßt sie aus der auktorialen Kontrolle exemplarischer Refexivität auf die natürliche Sittlichkeit, die das dargestellte Medium befördert, in die ästhetische Refexion der in diesem Medium intersubjektiv konstituierten Subjektivität. Freilich ist schon bei Richardson die moralische Intention des Autors Teil der Fiktion und charakterisiert eher die Ohnmacht des rhetorisch betriebenen Aufwands als seinen Erfolg: »Why Sir, said Dr. Johnson, if you were to read Richardson for the story, your impatience would be so much fretted that you would hang yourself.«68 Das Interesse an der menschlichen Gegenseitigkeit gewinnt die Überhand gegenüber der Story, das Medium wird unbemerkt zur Masche und transportiert Gefühle, die der Leser nirgends hat als in der Lektüre, in der er sie für sich entdeckt. Daß Lesen an die Stelle kommunikativen Handelns tritt, es ersetzt und nichts repräsentiert außer sich selbst, wird seit Rousseaus Nouvelle Héloise manifest. So gilt für Werther wie für Julie: »Te very pathos of the desire (regardless of whether it is valorized positively or negatively) indicates that the presence of desire replaces the absence of identity and that, the more the text denies the actual existence of a referent, real or ideal, and the more fantastically fctional it becomes, the more it becomes the representation of its own pathos.«69 Auch Werther »portrays a pathos in which all can share«, wenn auch in einer anderen Konsequenz, die ihn zu mehr als auch einem Stück Rousseau- Rezeption macht. Die Übereinstimmung lohnt es hier nur anzuführen der Diferenzen wegen, die sie erläutern. Dazu gehört die Zweiteiligkeit, sofern sie die Kürze des Werther im Unterschied zur Länge der Nouvelle Héloise charakterisiert. In der zweiten Hälfe der Julie, so zeigt de Man, unterliegt die Lektüre der ersten Hälfe einer peripathetischen Umkehrung, in der die romantisch-enthusiastische Verstrickung der Leidenschafen in der systematischen Verzerrung ihrer literarischen Vermittlung transparent wird. Als neue Héloise folgt Julie der alten, weil sie die Natur der Liebe in ihrer Vermitt- lung durch die wechselseitige Lektüre als Allegorie durchschaubar macht. Goethes

67 Jacques Derrida, De la grammatologie (Paris: Minuit 1967), 208 f., und Jean Starobinski, La relation critique (Paris: Gallimard 1970), 146 f. und 156 f., sowie Paul de Man, Blindness and Insight (New York NY: Oxford University Press 1971), 112 f. und 136 f. 68 James Boswell, Life of Johnson (1791), 6 April 1772: nach J. P. Hunter, »Te Loneliness of the Long-Distance Reader«, Genre 10 (1977), 455–484: 482. 69 Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979), 198, im folgenden 201 und 216. Vgl. als Folie das entsprechende Kapitel in Jean Starobinskis Rousseau-Buch La transparence et l’obstacle (Paris: Gallimard 1957, 1971), 102 f. Für die prinzipielle Diferenz von Allegorie (Julie) und Symbol (Werther), auf die ich im folgenden hinaus will, siehe schon de Mans Hinweise in »Te Rhetoric of Temporality«, Interpretation: Teory and Practice, ed. Charles S. Singleton (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1969), 173–209: 190 f. 138 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik

Werther nimmt die derart transparent gemachte Vermittlung in ihrer latenten Ambi- valenz auf, um im kulturellen Muster die verborgene naturgeschichtliche Kausalität aufzudecken: »Historiam morbi zu schreiben ohne angegebene Lehren a. b. c. d.«, wie Lavater überliefert.70 Ist in der Geschichte von Julie, Saint-Preux und Wolmar die Lektüre Supplement eines Lebens, das im Lesen allegorisch wird, so steht der Fall Werthers symbolisch für ein Leben, das Supplement zum Lesen bleibt und übers Lesen nicht hinauskommt. Wird in der Nouvelle Héloise die empathische Lektüre der ersten Hälfe in der zweiten Hälfe zur wiederholten Allegorie, so werden die Leiden Werthers in der empathischen Lektüre des ersten Teils symbolisch für die Lektüre des zweiten Teils. Wie immer man den Unterschied im einzelnen ausarbeiten will, bleibt Werthers Fall gegenüber der zur allegorischen Transparenz geführten Lektüre Julies unaufösbar symbolisch, die Lektüre des Werther gegenüber der der Nouvelle Héloise unaufebbar empathisch. Das Ende des ersten Teils präfguriert den Ausgang des zweiten Teils, aber nicht so, daß darin die empathische Lektüre ihrer allegorischen Vermittlung überführt würde, sondern sich in der typologischen Konstruktion der Lektüre die Naturwüchsigkeit ihrer empathischen Einstellung durchsetzen kann. Der Selbstmord Werthers kündigt sich am Ende des ersten Teils in einem Zustand der Depersonalisierung an, durch den der vermeintlich endgültige Abschied von Lotte (und Albert) begleitet ist (10. Sept.):

Sie gingen die Allee hinaus, ich stand, sah ihnen nach im Mondscheine und warf mich an die Erde und weinte mich aus und sprang auf und lief auf die Terrasse hervor und sah noch dort ihr weißes Kleid nach der Gartentür schimmern, ich streckte meine Arme aus und es verschwand. (HA VI, 59)

Schreibend erinnert Werther eine verzweifelte ›Pantomime‹ seiner selbst: »Sie gin- gen ... ich stand: sah ... und warf mich ... und weinte ... und sprang ... und lief ... und sah noch ...«71 In der Selbstbeobachtung des außer sich geratenen Ich charakteri- siert die ›Überbesetzung‹ der Wahrnehmung die fortgeschrittene Depression, wie das schon in den Mai-Briefen absehbar ist. Gleichzeitig bahnt die Dissoziation des schreibenden Werther von seinem verzweifelten Selbst die zwangsläufge Dissoziati- on des empathischen Lesers von der exemplarischen Konsequenz seiner Lektüre an (wie sie auch die des schreibenden Goethe von seiner Geschichte voraussetzt). Wird in der Lektüre der Nouvelle Héloise jede exemplarische Konsequenz des allegorisch ›Dekonstruierten‹ illusorisch und zum Schluß von Julies letztem Brief auch wider- legt, wird sie im Fall Werthers aporetisch, ohne daß die Aporie durch »eine kleine kalte Schlußrede« gemildert werden könnte, wie sie Lessing sich wünschte (nach HA VI, 522). Paradoxerweise geschieht dies in einem dritten Teil des »Herausgebers an den Leser«, der die dialogische Anlage der beiden voraufgegangenen Teile auf die Perspektive des verläßlichen Herausgebers verjüngt. Dessen Text nun beseitigt nicht

70 Vgl. Klaus Oettinger, »Eine Krankheit zum Tode«, Der Deutschunterricht 28 (1976), 66–73: 64 f.; dort das Zitat aus Lavaters Brief vom 10. Juli 1777. 71 Klaus Mog, Ratio und Gefühlskultur, 133; im folgenden Edith Jacobson, »Depersonali- zation« (1959), Depression (New York NY: International Universities Press 1971), 162. Wirkungsmuster Klopstock 139 die Ambiguität der herausgegebenen Briefe, sondern treibt sie im Versuch ihrer be- sonnenen Auflärung auf die Spitze. Die Herausgeberfktion der Leiden Werthers ist freilich von Anfang an durch die Paradoxie des Ausgangs gezeichnet. Ist die Verläßlichkeit des Herausgebers auch durch den Fall verbürgt, den er berichtet, kann er sich doch für die Lektüre nicht verbürgen. So schickt er eine Vorbemerkung voraus, die mit allen Wassern des emp- fndsamen Jargons gewaschen ist und gleichwohl für die einschlägige Wirkung die Verantwortung nicht übernehmen will.72

Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt, und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mirs danken werdet. Ihr könnt seinem Geiste und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen. Und du, gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst. (HA VI, 7)

Zwei Abnehmergruppen werden so fngiert und zwei Möglichkeiten der Lektüre. Beide sind in Termini der Identifkation beschrieben aber stehen unter entgegen- gesetzten Vorzeichen. Als exemplarischer Fall wird Werther zum Gegenstand ›ad- mirativer Identifkation‹.73 Sie zollt Charakter und Schicksal des armen Werther Bewunderung und Liebe und versagt, sofern die Individualität seines Charakters in diesem Schicksal »den Armen schuldig werden« läßt, auch Tränen nicht.74 Diese exemplarische Intention des Herausgebers, in der der berichtete Casus einer historia morbi zum Exempel gemacht wird, setzt sich ab von der projektiven Identifkation dessen, der in vorgeschobener Empathie die eigenen Leiden lesend wieder fndet. Sofern diese zweite Art der Lektüre jenseits der Erbauung (aedifcatio) auch noch Trost (consolatio) verspricht, richtet sie sich (anagogice) an die guten Seelen, die ihr Böses, wenn nicht im Leben, so doch im Lesen verwerfen wollen. Daß dies illu- sorisch wäre, kann sich der exemplarisch bedachte Herausgeber nicht denken. So provoziert seine moralische Beschränkung in der Einfühlung die ästhetische Ein- stellung jener Seelen, die ihre Tränen nicht aus Bewunderung und Liebe, sondern in der Illusion vergießen, ihre fktive Identität empathisch zu verwirklichen. Man hat zurecht vom »exponierten Nichtanfang« gesprochen, der den fexiblen Übergang vom kommunikativen Austausch im Briefwechsel zum fktiven Diskurs des Romans auszeichne. Diese Flexibilität wird in der Herausgeberfktion des Wer- ther ironisch gebrochen und doch gefördert, da die Ambivalenz der Lektüre der Iro- nie nicht vorgreifen kann und latent bleibt bis zum Ausgang des Buchs. Die Ankün-

72 Vgl. Victor Lange, »Die Sprache als Erzählform in Goethes Werther«, Formwandel. Fest- schrif für Paul Böckmann (Hamburg: Hofmann und Campe 1964), 261–271: 265 f. 73 Nach Jauß, Ästhetische Erfahrung, 144 und 218. Vgl. Reinhard Herzog, »Exegese – Erbau- ung – Delectatio«, Formen und Funktionen der Allegorie, ed. Walter Haug (Stuttgart: Metz- ler 1979), 52–69: 62 f. 74 Goethe im Zitat von Walter Benjamin, »Schicksal und Charakter« (1921), Gesammelte Schrifen II/1 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977), 175. 140 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik digung widerlegend und bestätigend, tritt die Ambiguität der Briefe um so schärfer hervor, als der Polyperspektivismus Richardsons, der eine Vielzahl von Figuren im gleichen Medium verbindet, zugunsten der einen Perspektive Werthers zurück- genommen wird, an der die Ambivalenz der Darstellung Wirkung gewinnt, ohne durch konkurrierende Möglichkeiten relativiert zu werden. Ambivalenz herrscht hier zwischen dem, was in der Lektüre des fktiven Herausgebers Bewunderung auslösen müßte, in der Lektüre der ›guten‹ Seele Trost spenden könnte und in der Diferenz zwischen beiden Empathie provoziert. Bewunderung sollte auslösen, was als Charakter Werthers im Sprachspiel der Briefe nicht zum Ausdruck kommt, son- dern prätendiert steht.75 Trost könnte spenden, was als Schicksal Selbstdarstellung Werthers bleibt, deren widersprüchliche Rhetorik nicht beim Wort genommen wer- den kann. Man nehme die bekannte Unterhaltung, die Werther mit Albert über die »Krankheit zum Tode« geführt hat (HA VI, 48). Der unverstandene Werther gibt dort unmißverständlich zu verstehen, daß am Ende »keiner leicht den anderen versteht« (HA VI, 50). Während der empathische Leser in seiner Lektüre dies wieder gut macht, war »Alberten« Werthers wortreiche Rhetorik »zu allgemein gesprochen« (VI, 48) Statt von sich zu reden, holt Werther zu einer eindrucksvollen Schauergeschichte aus: »Ich erinnerte ihn an ein Mädchen, das man vor weniger Zeit im Wasser tot gefunden.« Abermals wird verallgemei- nernd argumentiert: »Sieh Albert, das ist die Geschichte so manches Menschen« (VI, 49). Sieht man vom Inhalt der vorgetragenen rousseauistischen Gemeinplätze ein- mal ab, fällt ihre kommunikative Funktion ins Auge: Werther appelliert erzählend an Alberts Verständnis und verpackt diesen Appell in einer exemplarischen Geschichte. Dies nützt dem Leser, der die ihm abverlangte Teilnahme exemplarisch vergewissert sehen will. Der Teilnahme und dem Verständnis Alberts dagegen kann dies nichts nützen: Nichts wäre verfehlter, als in solchen Fällen in Verallgemeinerungen auszu- weichen. Ganz ofenbar, das zeigt sein beharrliches Insistieren, ist er auf dem besten Wege, zu verstehen. »Paradox! Sehr paradox!« sieht er den rationalen Aufwand Wer- thers im Verhältnis zu der Krankheit, die er ins Recht setzt. Werther überliefen diese Reaktion als Beleg dafür, daß er in seinem ›Diskurs‹ nicht verstanden wurde und verdoppelt die Anstrengungen. Was Werther im Brief plausibel zu machen versteht, soll der auf eben diese Plausibilität versessene Albert nicht verstanden haben. Daß Albert Werthers Ausweichen gleichwohl zu verstehen beginnt, kann der in seinen »Text« verbissene Werther nicht gelten lassen. Er kann es tatsächlich nicht, weil (und solange) beider Rollen nicht vereinbar sind. Auf die Unverstandenheit angewiesen, verweigert er Alberts Verständnis, durch das er sich dessen Realität unterwerfen würde, und zieht sich auf »ein andermal« zurück. Wesentlich später im zweiten Teil, als er Lotte gegenüber wegen einer Kleinigkeit zu einer seiner empfndsamen Aus- brüche ansetzt, wird er unterbrochen: »Sie redete was anders, um mich nicht tiefer in den Text kommen zu lassen« (HA VI, 85). Die Vermeidungsstrategie zeigt, welchen

75 Siehe das Werther-Buch von Roland Barthes, Fragments d’un discours amoureux (Paris: Seuil 1977), bes. 118. Vgl. auch ansatzweise Helmut Schmiedt, »Woran scheitert Werther?«, Poetica 11 (1979), 83–104: 101 f.; sowie über den entsprechenden realistischen Fehlschluß, »wie Werther wäre zu retten gewesen«, Leo Kreutzer, Mein Gott Goethe (Reinbeck: Rowohlt 1980), 22 f. Wirkungsmuster Klopstock 141

Lauf die Dinge genommen haben. Die Konfrontation, die Albert vergebens versucht hat, ist im zweiten Teil hofnungslos geworden, wie sie im ersten Teil der Zensur des Briefs anheimgefallen war. Daß Werther im Brief die Teilnahme Alberts endgültig hinter sich gelassen hat, sichert ihm freilich die Teilnahme der Leser, die ihn nicht ändert: nicht des Adressaten Wilhelm, demgegenüber er defensiv argumentiert, aber derjenigen, die ihm über die Schulter schauen. Indem diese miterzählten Leser die Teilnahmebedingungen rhetorisch festlegen, machen sie eine Identifkation unmög- lich, Empathie nötig. Empathisch reagiert der Leser, sofern er die fktive Leserrolle fexibel aufaßt und die zugemutete Teilnahme im Akt des Lesens refektiert. Dabei wird an Werther selbst die Nachträglichkeit deutlich, in die er zur Tätigkeit seines Schreibens gerät; am Medium der Briefe die naturgeschichtliche Zwangsläufgkeit, in der er Opfer der verhängnisvollen Kollusion wird, deren Medium das Sprachspiel der Briefe ist. In einer bemerkenswerten Passage von Dichtung und Wahrheit hat Goethe die Verlegenheit der empathischen Lektüre des Werther wie folgt karikiert. Er liest als erstem Merck das Buch vor, »ohne ihm ein Beifallszeichen abzulocken«, steigert das Pathos ohne Erfolg, ist »auf das schrecklichste« niedergeschlagen, verzweifelt an der Qualität des Werks: »Wäre ein Kaminfeuer zur Hand gewesen ...« Merck kann ihn später beruhigen, »daß er in jenem Moment sich in der schrecklichsten Lage befunden, in die ein Mensch geraten kann« (HA IX, 588 f.). Daß der Verfasser in der schrecklichsten Lage seines Freundes nicht imstande gewesen sei, von der erwarteten Wirkung seines Buchs abzusehen und sich stattdessen selbst empathisch zu verhalten, liefert die Pointe der vorausgegangenen Erinnerung zur Werther-Re- zeption: »dieses Büchlein, was mir soviel genützt hatte, ward als höchst schädlich verrufen.« Verrufen war dies Büchlein, weil man ihm zutraute, gute Seelen in der schrecklichsten Lage zu fatalen Konsequenzen zu veranlassen. Für Werther, wenn nicht für Goethe, war die Situation ernst genug. Steigende Frustration schlägt in Aggressionen um, von denen die »Hirngespinste« handeln, Albert zu töten, um an seine Stelle treten zu können (HA VI, 76). Für ihren Ernst, bevor er ihn auf sich selbst nimmt, ist die aufgeschlagene Emilia Galotti, Neuer- scheinung des Jahres 1771, ein letztes Signal.76 Entsprechend aufschlußreich ist die in der zweiten Ausgabe mit Rücksicht auf Kästner zurückgenommene Abwertung Alberts, deren Kontext in der Originalfassung klar genug war, im Wortlaut aber Anstoß erregte, die Behauptung nämlich, »sie wäre mit mir glüklicher geworden als mit ihm!«77 Das mochte in seiner antizipierten Nachträglichkeit illusorisch genug sein. »Ein gewisser Mangel an Fühlbarkeit« hingegen, das schien nicht mehr er- träglich. Dabei bleibt gerade in der ersten Ausgabe an kalkulierter Zweideutigkeit nichts zu wünschen übrig: »ein Mangel – nimm’s wie du willst, daß sein Herz nicht

76 Vgl. Leonard Forster, »Werther’s Reading of Emilia Galotti«, Publications of the English Goethe Society NS 27 (1957/58), 33–45: 43 f. Siehe auch Erwin Leibfried, »Goethes Wer- ther als Leser von Lessings Emilia Galotti«, Text–Leser–Bedeutung, ed. Herbert Grabes (Großen-Linden: Hofmann 1977), 145–156: 151 f. 77 Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers in der ersten Ausgabe von 1774, nach Hanna Fischer-Lamberg (Ed.), Der junge Goethe I–V (Berlin: De Gruyter 1968), IV: 156 f. Zu dieser und ähnlichen Stellen vgl. Richard Alewyn, »Klopstock!«, Euphorion 73 (1979), 357–364: 363. 142 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik sympathetisch schlägt bey – Oh! – bey der Stelle eines lieben Buchs, wo mein Herz und Lottens in einem zusammentrefen.« Der parenthetisch gesteigerte Trugschluß, Übereinstimmung der Herzen sei in gemeinsamem Lesen zu erreichen und für ein gemeinsames Leben genug, konnte entwafnender nicht eingefädelt werden. Was das Leben nicht bringt, ersetzt die Lektüre in der aushilfsweisen Verständigung über die Handlung eines Dritten. Der in die Lektüre des Werther verstrickte Leser möchte es glauben. »Lieber Wilhelm! – zwar er liebt sie von ganzer Seele, und so eine Liebe was verdient die nicht –« Der Freund bringt die uneingestandene Wahrheit an den Tag, die der mitadressierte Leser ersparen soll. »Ein unerträglicher Mensch«, vertief der Schreiber die Fronten, »hat mich unterbrochen. Meine Tränen sind getrocknet. Ich bin zerstreut. Adieu Lieber.« Mit der Tinte sind die Tränen getrocknet: der Entzug des Schreibens macht den Leerlauf der darin produzierten Gefühle ofensichtlich. In der Konsequenz der widersprüchlichen Appelle Werthers liegt der tragische Ausgang seines Falls. Rhetorisch gesehen hat er die Form der ›paradoxen Verschrei- bung‹.78 Goethe hat sie in den bekannten Versen zur 2. Aufage der ersten Fassung explizit gemacht: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach!« (HA VI, 528) Als pa- radoxe Instruktion zeigt Werthers Ende eine Konsequenz, in der die Unmöglichkeit des Instruierens deutlich wird. Lenz hat das in seinen Briefen zum Werther klar ausgesprochen: »Daß Werther ein Bild ist, welchem vollkommen nachzuahmen eine physische und metaphysische Unmöglichkeit« sei: »Bedenkt ihr denn nicht«, lautet seinerseits die rhetorische Frage:

Daß, eh ihr das aus euch macht, was er war, eh er anfing zu leiden, und was er doch sein mußte, um so leiden zu können, euer halbes Leben hingehen könnte? Daß ihr also nicht sogleich von Nachahmung schwatzen müßt, wenn ihr die Möglichkeit in euch fühlt, ihm nachahmen zu können? Und daß es alsdann mit der Nachahmung keine Gefahr haben würde? (nach HA VI, 529)

Werthers Selbstmord stellt die empathische Lektüre vor eine Konsequenz, in der die Unmöglichkeit der exemplarischen Applikation ofenkundig, die Möglichkeit der admirativen Identifkation vereitelt wird.79 Der ästhetische Modus der Refexion widerspricht der expliziten Botschaf, die derart paradox ist. So hat man die zum Ende hin massiv betriebene Stilisierung der Leiden Werthers als einer passio lange übersehen, in der die subjektive Gefühlsaussprache Werthers dem Muster der auf Nachfolge (imitatio) angelegten Erbauung (aedifcatio) folgt, ohne daß einem beim versprochenen Trost (consolatio) wohl und bei seiner Umwandlung in ästhetischen Genuß (delectatio) geheuer sein könnte.80 Es ist nicht von ungefähr, daß diese im rhetorischen Paradox endende Umbesetzung der exemplarischen Lektüre erst ma-

78 Der Begrif der ›paradoxen Verschreibung‹ nach Mara Selvini Palazzoli & al. Paradoxon und Gegenparadoxon (Milano: Feltrinelli 1975/Stuttgart: Klett-Cotta 1977). 79 Vgl. zum Fall mit umgekehrtem Ausgang Heinz-Dieter Weber, »Stella oder die Negativi- tät des Happy End«, Rezeptionsgeschichte oder Wirkungsästhetik, ed. Heinz-Dieter Weber (Stuttgart: Klett-Cotta 1978), 142–167: 147 f. 80 Vgl. Herbert Schöfer, »Die Leiden des jungen Werther« (1938), Deutscher Geist im 18. Jahrhundert (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1956), 165 f., aber auch die Hinweise von Richard Brinkmann, »Goethes Werther und Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzer- Wirkungsmuster Klopstock 143 nifest wird im letzten, dem Herausgeberteil des Buchs. Der Held der ehemals ad- mirativen Identifkation wird dort zum Opfer der von ihm im Medium der Briefe entwickelten Gefühle, wo in der Herausgeberfktion das empfndsame Interesse des Publikums wieder thematisch wird, der empathische Leser vom Herausgeber nicht beim Wort, doch beim mittlerweile hinreichend investierten Gefühl genommen und zur paradoxen Konsequenz geführt wird. Mit ihr erledigt sich in einem die zu Anfang fngierte Doppelung des Publikums: Die angeredete gute Seele, der Trost versprochen wird, ist ein fktiver Leser, der die Möglichkeit einer Identifkation vor- spiegelt, die im Roman gerade nicht möglich ist, für die sein Schluß nämlich ein zynischer Hohn wäre. Ein Trost wäre dies Buch nur dem, der in ihm seine projektive Disposition getröstet fände. Was das angeht, liefert Karl Philipp Moritz in der Lektüre Anton Reisers die kon- geniale Diagnose zur Wertherwirkung. Reiser, der sich im Werther »wiederzufn- den« glaubt, sieht sich ganz in der zitierten Rolle der guten Seele, der dies Büchlein als ihr Freund empfohlen wird: »An diesen Worten dachte er, soof er das Buch aus der Tasche zog – er glaubt sie auf sich vorzüglich passend.«81 Der ›Herausgeber‹ Moritz hingegen hält mit Ironie nicht zurück und führt im Detail aus, wie er »die zu of wiederholte Lektüre des Werthers« zur bloßen Verstärkung seiner Melancholie benutzt (AR 295). Daß er »eher seine eigenen Leiden als die Werthers« liest, wie man voreilig schließt, ist nur die eine Seite daran und zwar die falsche.82 Die Frage ist ja, warum sich ausgerechnet Werther für Reisers Leiden so vorzüglich eignet. Ofenbar nicht als Folie eigener Wünsche, sondern aufgrund der melancholischen Verfassung, keine eigenen zu haben. »Die Teilnehmung« an den »eigentlichen Leiden Werthers«, heißt es ausführlich bei Moritz, ging ihm ab: »denn ein Mensch der liebte und geliebt ward, schien ihm ein fremdes ganz von ihm verschiedenes Wesen zu sein, weil es ihm unmöglich fel, sich selbst jemals als einen Gegenstand der Liebe von einem Frauenzimmer zu denken« (AR 292) Reiser ›vereinnahmt‹ Werthers Gefühle, ohne ihren Gegenstand teilen und (wichtiger) sich selbst als Gegenstand komplementärer Gefühle denken zu können. Er nimmt die fktive Identität Werthers für bare Münze; das Medium der wechselseitigen Anteilnahme, die sie stützt, als Botschaf der eige- nen »Menschheit«: »nicht mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Wesen (zu) sein« (AR 295). Die Illusion der empathischen Lektüre untergräbt die im pietistischen Habitus des Lesens vermittelte Disziplin der Selbst-Vernichtung.83 Auf nichts paßt

historie«, Versuche zu Goethe. Festschrif für Erich Heller (Heidelberg: Winter 1976), 167– 189: 183 f. 81 Anton Reiser – Ein psychologischer Roman, herausgegeben von Karl Philipp Moritz I–IV (1785–90), ed. Wolfgang Martens (Stuttgart: Reclam 1972), 294 f., im folgenden 292 f. (ab- gekürzt AR). 82 So Dietrich Weber, »Lektüre im Anton Reiser«, Leser und Lesen im 18. Jahrhundert, ed. Rainer Gruenter (Heidelberg: Winter 1977), 58–61: 60; so auch Hans-Jürgen Schings, Me- lancholie und Auflärung (Stuttgart: Metzler 1977), 251. Vgl. dagegen schon die ältere For- schung, insbesondere Hermann Blumenthal, »Karl Philipp Moritz und Goethes Werther«, Zeitschrif für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaf 30 (1936), 28–64: 37 f. 83 Siehe Robert Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus (Berlin: Junker und Dünnhaupt 1936/Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 252 f. über Madame Guyons Kurzes Mittel. Vgl. auch Tilmann Mosers Gottesvergifung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976), Teil II. 144 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik deshalb die paradoxe Verschreibung vom Ende Werthers besser als auf die ›Mittel‹ der Madame Guyon. Was Wunder also, schreibt Moritz, »daß seine ganze Seele nach einer Lektüre hing, die ihm, soof er sie kostete, sich selber wiedergab!« Die fktive Rollenkomplementarität zwischen Werther und Reiser refektiert ironisch die prästabilierte Harmonie von Textstruktur und Aktstruktur, wie sie die Rhetorik der Fiktion propagiert. Im Projekt des »psychologischen Romans«, das Moritz im Anton Reiser verfolgt, hat das eine eigene rhetorische Pointe darin, daß ein individuelles Schicksal als Fall der »Erfahrungsseelenkunde« exemplarisch werden soll. Dabei wird das pietistische Instrument der Introspektion zum rheto- rischen Mittel der psychologischen Fiktion.84 Sie bringt zum Vorschein, was im autobiographischen ›fshing for empathy‹ als Rhetorik des Narzißmus am Werk ist. Indem Reiser Werthers narzißtischen Appell übernimmt und ihn sich statt dessen fataler Tendenz für vitale eigene Zwecke aneignet, zeigt er sich außerstande zu em- pathischen Reaktionen, die er wie Werther auf sich selbst ziehen will. Gegenüber der projektiven Identifkation, vor der Goethe seinen Werther bewahrt wissen will, markiert die introjektive Lektüre, durch die Moritz die Misere seines Reiser charak- terisiert, die extreme Gegenposition. Wie die dem Werther umgekehrt proportionale Wirkung des Anton Reiser zeigt, bekam dieser es mit erheblichen Widerständen zu tun: sieht sich sein Leser schnell in die Rolle mißbrauchter Empathie gedrängt, de- ren zugehörige Reaktionsbildung man aus dem ironischen Refex einer Bemerkung Heines kennt, es handle sich um »die Geschichte einiger hundert Taler, die der Ver- fasser nicht hatte, und wodurch sein ganzes Leben eine Reihe von Entbehrungen und Entsagungen wurde, während doch seine Wünsche nichts weniger als unbe- scheiden waren« (Nordsee, 3. Abt.). Das Interesse, exemplarisch Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und sei es zu therapeutischem Nutzen anderer, das man dem Werther gegen die besseren Absichten seines fktiven Herausgebers nicht ernsthaf unterstellen kann, Karl Philipp Moritz bei der Herausgabe seines Reiser hingegen ernsthaf genug zubilligen muß, steht der empathischen Einstellung im Weg, die sie provozieren will: Empathie läßt sich nicht exemplarisch machen. Reisers Lektüre des Werther zeigt symptomatisch wie Narzißmus und Empathie zusammenhängen, der Bedarf des einen den Appell des anderen hervorbringt, ohne daß aus der Not dieser Einsicht die Tugend der Empathie so leicht zu befördern wäre, wie es Moritz hof. Das Wirkungspotential seines Romans scheint im Gegenteil darin zu liegen, daß er, wie gesagt, Widerstände mobilisiert und refexives Durcharbeiten nötig macht. Die Wirkung des Werther dagegen und seine paradigmatische Rolle in der Ge- schichte des Lesens, das illustriert die Lektüre des Anton Reiser ex negativo, liegt darin, daß die Transferstruktur der Teilnahme im narzißtischen Appell einen rheto- rischen ›Auslöser‹ fndet, der ohne eine entsprechende Disposition auf seiten des le- senden Subjekts nicht funktioniert (und historisch nicht denkbar ist). Goethe selbst scheint diese Bedeutung des Werther im Auge zu haben, als er Napoleons Einwand für sich und die Nachwelt ins rechte Licht rückt: er habe »Motive des gekränkten Ehrgeizes mit denen der leidenschaflichen Liebe«, wie der Kanzler von Müller refe-

84 Vgl. Josef Fürnkäs, Der Ursprung des psychologischen Romans (Stuttgart: Metzler 1977), 24 f. und 93 f., mit dem ich hier nicht übereinstimme. Allgemein Heinz Kohut, Introspek- tion, Empathie und Psychoanalyse (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977). Wirkungsmuster Klopstock 145 riert, ›vermischt‹. Goethe räumt ein, daß durch die narzißtische Verzerrung »etwas Unwahres« in die naturgemäße Darstellung der Liebe hineingebracht werde, und nennt es einen »leicht nicht zu entdeckenden Kunstgrif«, dessen er sich »bediene, um gewisse Wirkungen hervorzubringen, die er auf einem einfachen natürlichen Wege nicht hätte erreichen können« (HA VI, 537–38). Daß die ›Wahrheit‹ der Dar- stellung zugunsten der Wirkung rhetorisch beeinträchtigt sei, beruht auf der Bedeut- samkeit, die Goethe dieser Wirkung abgewinnt: »Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer«, schließt er in Dichtung und Wahrheit das Kapitel Werther und greif dabei ein erstes Mal zur Metapher vom »Zündkraut einer Explosion«, die er im folgenden für die Wirkung des Prometheus aufgreif (HA IX, 589).85 Wie dort sind es die unbewußten Tendenzen des Zeitalters, die seinem Werk die Wirkung einer Ex- plosion verschafen, zu der es das bloße Zündkraut liefert, dessen verborgene Funk- tion Napoleon als »fein versteckte Naht« in der Appellstruktur des Textes entdeckt haben soll (HA VI, 538). Die Verborgenheit des auslösenden Kunstgrifs entspricht der Tiefe der Krise, die sich in der Wirkung des Werther Ausdruck verschaf: denn explosionsartig war seine Wirkung, so Goethe, »weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein jeder mit sei- nen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschafen und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam« (HA IX, 590). Die Selbstentlastung des Autors beruf sich auf eine Bilanzierungsleistung des Werks, mit der seine primäre Rezeption historisch wird. Das hat Konsequenzen für die Rezeptionsgeschichte, um die der spätere Leser nicht mehr herumkommt. Goethes Selbsthistorisierung autorisiert eine exemplarische Entschärfung der Lektüre, durch die der Text rückwirkend zur Allegorie der dargestellten Verhältnisse wird. So nennt Lukács den Werther einen der größten Romane der Weltliteratur, »weil Goethe das ganze Leben seiner Periode mit allen ihren Konfikten in diese Liebestragödie konzentriert hat.«86 Die Rhetorik der Fiktion, könnte ein vorläufges Fazit lauten, provoziert die teil- nehmende Lektüre durch eine Textstruktur, deren Appellcharakter seinerseits eine kommunikative Einstellung (Intention) zur Voraussetzung hat, die sich in der Lek- türe realisiert (erfüllt). Weniger strukturiert der Text die Lektüre, als strukturiert sich der Text in der Lektüre: Nur insoweit läßt sich die Lektüre am Text festmachen, als sich der Text auf die Lektüre festlegen läßt. Tendiert die Rhetorik der Fiktion dazu, die Illusion der Teilnahme als Appellqualität der Darstellung auszugeben, so funktioniert das erfolgreich nur unter der hermeneutischen Voraussetzung, daß die Wahrscheinlichkeit dieser Illusion in der Lektüre zur Qualität der Teilnahme wird – nicht List der Vernunf, sondern Hinterlist des Subjekts, für das Lektüre im Modus der ästhetischen Refexion die eigene Konstitution refektiert. War in der alten, exemplarischen Lektüre Allegorie das rhetorische Mittel des hermeneutischen Aktes

85 Vgl. das erste der Goethe-Kapitel in Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos 452 und 465. 86 Georg Lukàcs in seinem Werther-Kapitel (1939), Goethe und seine Zeit (Bern: Francke 1947), 28, auf dessen Linie Klaus R. Scherpe, Werther und Wertherwirkung (Bad Hom- burg: Gehlen 1970), liegt. Zur Allegorie ›bürgerlicher Öfentlichkeit‹ gerät der Werther bei Gerhart von Graevenitz, »Innerlichkeit und Öfentlichkeit«, Deutsche Vierteljahrsschrif 49 (1975), Sonderhef 18. Jahrhundert, 1*–82*: 77* f. Vgl. für den alten Goethe siehe Heinz Schlafer, Faust Zweiter Teil: Die Allegorie des 19. Jahrhunderts (Stuttgart: Metzler 1981). 146 Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik der Applikation, so wird Empathie zur hermeneutischen Funktion eines ›rhetori- schen‹ Prozesses der Identitätsbildung: ›Rhetoric of Empathy‹, auf der die ›Rhetoric of Fiction‹ hermeneutisch beruht, und mit der sie rhetorisch operiert wie die exem- plarische Lektüre mit der Allegorie. Daß die Teilnahme des Lesers an der Illusion des Textes als Empathie beschreibbar ist und als Identifkation erfahren wird, hat zur Voraussetzung nicht nur einen Gegenstand, der zur Teilnahme aufordert, sondern eine Disposition zur Teilnahme, die ihren Gegenstand schaf, insofern er ihr zu kompensieren hilf, was ihr als Disposition (noch) fehlt, sie sich qua ›Identifkation‹ aber nachträglich selbst zu gute halten kann. Nicht von ungefähr ist das Identifka- tionsschema in der Verständigung über Gelesenes so erfolgreich, wird es auch in der Konkurrenz der Interpreten so abgewertet: reklamiert es nämlich fehlendes als eigenes und verdirbt so das Geschäf. Die Kollusion von Narzißmus und Empathie manifestiert sich nicht umsonst in den Schwierigkeiten der Psychoanalyse, das em- pathische Interesse des Analytikers nicht zur bestätigenden Verstärkung des ana- lysierten Narzißmus werden zu lassen.87 Dem entspricht die Freude einer literatur- wissenschaflichen Diskursanalyse, die psychoanalytische Wahrheit des Werther in der Darstellung seines Narzißmus wiederzuerkennen, ohne die Evidenz dieses Wie- dererkennens auf die im Akt des Lesens in Anspruch genommene Transferstruktur der Empathie zurückzubeziehen, in der, wie es heißt, eine »intersubjektive Logik des Begehrens« metaphorisch ihr (metonymisches) Wesen treibe: als Rhetorik eines Unbewußten, die Zugang zur anderen Szene (der Szene des ›Anderen‹) verspricht.88 Was es mit diesem Versprechen, das von der Aura des Imaginären umgeben ist, in der Lektüre auf sich hat, ist durch die Symptomik der Symbole nur auf Kosten ihrer kommunikativen Wirkung aufzuklären. Indem diese Auflärung die Lektüre um ihre Wirkung brächte, wäre sie als Auflärung selbst illusorisch geworden. Sozialhistorische und psychoanalytische Allegorese neutralisieren Wirkung glei- chermaßen. Aber im einen Fall hof man, aus der exemplarisch gemachten Ver- gangenheit für die Gegenwart der Lektüre noch zu lernen, im anderen Fall bleibt die Gegenwart vermieden, bleiben die anfallenden Widerstände unbearbeitet, er- scheinen sie übergeordneten Mächten anheimgegeben und werden im Nachbild verstärkt.

87 Siehe etwa Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979); vgl. im einzelnen das Referat von Otto F. Kern- berg, »Te Syndrome« (1967), Borderline Conditions and Pathological Narcism (New York NY: Aronson 1975), 30 f. 88 Reinhart Meyer-Kalkus, »Werthers Krankheit zum Tode«, Urszenen: Literaturwissenschaf als Diskursanalyse und Diskurskritik, ed. Friedrich A. Kittler und Horst Turk (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977), 76–138: 86. Siehe zum Syndrom Samuel M. Weber, Rückkehr zu Freud (Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein 1978), 60 f. Über die Wurzeln der Empathie im Imaginären vgl. Das Seminar von Jacques Lucan II (1954–55), Das Ich in der Teorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (Paris: Seuil 1978/Olten-Freiburg: Walter 1980), 225 f. und 310 f.

Klopstock mit Milton Distant Information 149

Distant Information Die komparatistische Bedeutung Miltons

Milton ist ein in Deutschland eigenartig unbekannter Autor und von vernachläs- sigenswerter Bedeutung, ein in dieser Vernachlässigung nahezu bewährter Autor, historisch geworden und vergessen samt seinem Nachfolger Klopstock und der er- staunlichen Wirkung, die beide einmal hatten. Im Gegensatz zu der historischen Erledigung beider steht die akute Lebendigkeit Miltons in Amerika, wie sie nicht nur die forierende akademische ›Milton-industry‹ bezeugt, sondern weit mehr noch die unübersehbare Präsenz dieses Autors in den öfentlichen Diskursen; ich erwähne nur die ›conversation of justice‹, die als epochemachendes politisches Prinzip von John Rawls bis hin zu Stanley Cavell und Richard Rorty den neopragmatischen Kon- sens in den Vereinigten Staaten bestimmt.1 Rortys rhetorische Frage läßt keinen Zweifel: »What else would better fulfll the purposes we share with Sokrates, Milton, and Habermas?«2 Selbst wenn man der amerikanischen Bedeutung Miltons nur regionales Interesse zubilligen könnte, von komparatistischem Interesse wäre sie gleichwohl durch den exemplarischen Stellenwert des Paradigmas Milton in der Entwicklung der jüngeren Literaturtheorie, einem Paradigma durchaus in dem Sinne, den dies Wort seit To- mas Kuhns Structure of Scientifc Revolutions in der Wissenschafstheorie ­gewonnen und aus derselben rhetorisch-grammatischen Tradition bezogen hat, in der Milton als Paradigma seinen Ort hat.3 Ich fange mit einer Skizze des Umfangs dieses Paradigmas an und lege dabei besonders auf die rhetorisch-poetischen Konturen Wert, die mit der rhetorisch-grammatischen Herkunf des Paradigma-Begrifs zu

1 Stanley Cavell, Conditions Handsome and Unhandsome (Chicago IL: Chicago University Press 1990), xxxii, mit ständigem Bezug auf John Rawls, A Teory of Justice (Cambridge MA: Harvard University Press 1971). 2 Richard Rorty, Consequences of Pragmatism (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1982), 174. Als locus classicus zitiert Rorty in seinem Essay »Te Priority of Demo- cracy to Philosophy« Tomas Jeferson »in dem von Milton in den Aeropagitica formu- lierten Wortlaut«, Objectivity, Relativism, and Truth. Philosophical Papers 1 (Cambridge UK: Cambridge University Press 1991), 176.2; dt. Solidarität oder Objektivität? (Stuttgart: Reclam 1988), 112.2. Siehe den Kommentar zu Miltons Areopagitica bei Francis Barker, Te Tremulous Private Body: Essays on Subjection (London: Routledge 1984), 42: »Areopagitica operates to call into being a new state-form, and to inscribe there a novel citizen-subject« – nicht ohne ungeahnte Kontrollinstanzen mit auf den Plan zu rufen, denen gegenüber Mißtrauen am Platz ist, zuletzt erläutert bei William Kolbrener, »Plainly Partial: Te Liberal Areopagitica«, English Literary History 60 (1993), 57–78. 3 Tomas S. Kuhn, Te Structure of Scientifc Revolutions (Chicago IL: University of Chi- cago Press 1962, 2nd ed. 1970). Paul Feyerabend, Against Method (London: New Lef Books 1975), der Kuhns terminologische Wahl nicht unterschreibt, verzeichnet dafür im Sach- register unter dem Stichwort ›Rhetorik‹ lakonisch die Seiten 1–411, das ganze Buch also (revidierte dt. Ausgabe Wider den Methodenzwang, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976), 432). Kuhns Structure ist grammatisch motiviert; Feyerabends »anarchistische Erkenntnis- theorie« rhetorischer Natur. Gleichwohl zitiert Kuhn – und wird deshalb hier zitiert – die Grammatik der Rhetorik, die er in den Dienst der Logik der Forschung nimmt, während Feyerabend ihre anarchische Kraf hervorkehrt. 150 Klopstock mit Milton tun haben und der andauernden Aktualität dieser Tradition – nicht zuletzt, nämlich paradigmatisch, in der Literatur und ihrer Kritik. Milton als Gemeinplatz dieser Tradition des Gemeinsinns ist durch einen der Rhetorik konträren, in ihr über die Zeiten immer wieder mühsam entschärfen, ihre Topoi bedrohenden und in ihnen rafniert aufgehobenen Sachverhalt charakteri- siert, den der Verspätung. Milton ist chronisch verspätet, seine Formen überholt, die Gattung des Epos ein monumentaler Anachronismus, und doch ist er der erste Dichter, der einen Königsmord – die Hinrichtung Karls I. 1749 – rechtfertigt und die Möglichkeit einer zivilen Regierung begründet, der erste, der ein ziviles Schei- dungsrecht auf der Grundlage der ›conversation of justice‹ fordert. Die Umwand- lung seiner Verspätung in Verfrühung, einer poetischen Verspätung in politische Verfrühung, ist der Grundzug seiner Rhetorik. Der rhetorische Terminus für diese Umkehrung ist die Metalepse, ihre Embleme sind das Teleskop und das Echo, der trügerische Nachklang des Vergangenen und die künstliche Sicht auf in der Ferne Verborgenes: ›speculative instruments‹ nicht eines theoretischen Programms, son- dern einer Praxis des Lesens.4 Entsprechend gehorchen die Paradigmen der neo-pragmatistischen Wissen- schafstheorie eines Tomas Kuhn nicht der Logik der einen oder anderen Teorie, keiner Logik der Dichtung etwa, sondern der auf sich selbst gesetzten Pragmatik normaler Forschung. Im Spektrum solch normaler Forschung bezeichnet die Li- teraturwissenschaf den doppelten Grenzwert einer, der einzigen, in der Routine der allernormalsten Fortschreibung von Tradition unausgesetzt mit dem Bruch von Traditionen und der Innovation von Regeln befaßten Disziplin. Die unklare, un- mögliche, allenfalls selbst wieder heuristische Trennung von Allgemeiner und Ver- gleichender Literaturwissenschaf, Erzähltheorie und Erzählforschung, Bauformen des Erzählens und Allegorien des Lesens, ist Ausdruck dieser notwendigen Doppel- rolle der Praxis von Teorie, und die pragmatische Verlagerung von einer Typologie der literarischen Formen auf ihre exemplarische Situierung Teil einer wissenschafs- theoretischen Wende, die ihrerseits nicht ohne historischen Zusammenhang mit der rhetorischen Vergangenheit des Fachs ist. Erich Auerbachs fgura, die über Dante hinaus in die irdische Welt der Mimesis gedacht ist, hatte davon eine Ahnung; die Metalepse Miltons ist im Gegenzug zu ihr entstanden; sie verkehrt das Paradigma, das wir Auerbach verdanken.5

4 I. A. Richards, Speculative Instruments (London: Routledge 1955). Cavell liest im Vorwort seiner Conditions Handsome and Unhandsome, xxxiii, Rawls Teory of Justice als Anleitung zu einer solchen Praxis. 5 Erich Auerbach, »Figura« (1939), Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie (Bern: Francke 1962), 55–92, schreibt die Vorgeschichte seines älteren Buchs Dante als Dichter der irdischen Welt (Berlin: de Gruyter 1929), systematisch fort. Daran knüpf die amerika- nische Danteforschung von Charles S. Singleton, John Freccero, Giuseppe Mazzotta an. Cavell in Conditions Handsome and Unhandsome, XXX, versäumt es nicht, die dort geltend gemachte Bedeutung Dantes für den Begrif des ›return‹ zu erwähnen. Die generalisierte Anwendung Auerbachs, Mimesis (Bern: Francke 1946), heißt bei Geofrey Hartman, Criti- cism in the Wilderness (New Haven CT: Yale University Press 1980), 235: »perhaps the only true literary history we have.« Das ›true‹ bezieht sich auf ›literary‹: diese Geschichte der Literatur zeigt deren Wirklichkeitsbegrif als Variationen einer Figur auf. Ob nur einer, und als Entfaltung nur dieser einen Figur, ist die Frage. Siehe Hartmans Schülerin Jill Robbins, Distant Information 151

Es kommt nicht von ungefähr, daß das rhetorische Äquivalent zum grammati- schen Paradigma, das Auerbachs fgura darstellt, unter dem Einfuß seiner Schüler in Yale, insbesondere Geofrey Hartmans, aber auch Harold Blooms und der Dante- Forscher John Freccero und Giuseppe Mazzotta, zum Paradigma einer von Augus- tinus über Dante auf Milton geführten literarischen Vorgeschichte der Dekonstruk- tion wurde. Die pragmatistische Paradigma-Gebundenheit der Dekonstruktion ist auf diese Weise ablesbar an der Reihe Milton, Dante, und Hölderlin, die Paul de Mans Einleitung in die Allegorien des Lesens als Paradigmen der Dekonstruktion auführt, bevor er selbst sich Proust und Rousseau zuwendet, einer anderen nach- augustinischen Filiation, die über Port-Royal und Pascal führt.6 Im Hintergrund zeichnet sich die Konfrontation der beiden antiken Paradigmen ab, die den Rahmen meiner Skizze sprengen, aber doch genannt gehören, des Augustinus und Ovids, der Transformations-Poetik der Metamorphosen und der Conversions-Poetik der Confessionen. An Ovid, so meine Hintergrund-Hypothese arbeitet sich Milton ab, während Bloom, im Widerspruch zu Auerbachs Augustinus verharrend und gegen seinen Dante anschreibend, ins Alte Testament ausweicht und den Jahwisten als ur- sprünglichsten aller Autoren ins Recht setzt gegen Miltons Gott.7

I

»While it must be admitted that Milton is a very great poet indeed, it is something of a puzzle to decide in what his greatness consists.«8 Die Ambivalenz dieses ersten

Prodigal Son/Elder Brother: Interpretation and Alterity in Augustine, Petrarch, Kafa, Levi- nas (Chicago IL: Chicago University Press 1991), 4, 19. 6 Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979), 17. Der implizite Bezug der Autoren Milton (Bloom und Hartman), Dante (Freccero und Maz- zotta), Hölderlin (de Man) auf das gleichzeitig mit den Allegories of Reading erschienene Unternehmen Deconstruction and Criticism (New York NY: Seabury Press 1979), liegt auf der Hand. Harold Blooms Beitrag zu diesem Band, »Te Breaking of Form«, ist die Kurz- fassung seiner Map of Misreading (New York NY: Oxford University Press 1975). Geofrey Hartmans Monographie Wordsworth (New Haven CT: Yale University Press 1968), ist im Gegenzug zu der Milton-Lektüre Blooms zu lesen, wie aus seiner weiterführenden Ergän- zung, Te Unremarkable Wordsworth (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1989), XX, hervorgeht. 7 Siehe Harold Bloom, Ruin the Sacred Truth (Cambridge MA: Harvard University Press 1989), gefolgt von Te Book of J (New York NY: 1991), als dessen unübertrofener Autor eine Frau postuliert wird. Damit antwortet Bloom bereits auf Reaktionen gegen die in sei- nem psychoanalytischen Schema der Anxiety of Inguence (New York NY: Oxford Univer- sity Press 1973), noch stillschweigend vorausgesetzten Gender-Implikationen der männ- lichen, gegen einen Vorläufer ödipal erstrittenen Autorschaf. Siehe die exemplarische, an der Rezeption Ovids orientierte Studie von Joan de Jean, Fictions of Sappho 1546–1937 (Chicago IL: Chicago University Press 1990). 8 T. S. Eliot, »Milton I« (1936), Selected Prose of T. S. Eliot, ed. Frank Kermode (London: Faber & Faber 1975), 258–264, 258. Blooms Anxiety of Inguence spart sich den Hinweis auf den ›precursor‹ Eliot noch und bestätigt in dieser Verleugnung das Schema. Dafür hatte Blooms Yale-Dissertation, Shelley’s Mythmaking (New Haven CT: Yale University Press 1962), den romantischen Autor favorisiert, der Eliots Verdikt weitestgehend entging. 152 Klopstock mit Milton

Satzes von T. S. Eliots Milton-Essay ist unüberhörbar; sie hält sich durch als ein einmal angeschlagener Ton, der Miltons Schicksal im 20. Jahrhundert durchzieht. »Milton I« endet mit dem vernichtenden Verdikt des Schadens, den Milton bis in die fortgeschrittene Moderne hinein angerichtet habe. Sein Einfuß zerstört Ansätze, an denen dem Dichter Eliot gelegen ist; die lange Vergessenheit der eben erst wieder entdeckten ›Metaphysical Poets‹ ist symptomatisch. Die Abwehr des Einfusses von Milton indessen, so stellt sich schon in Eliots eigenem Text heraus, ist selbst noch ein Einfuß Miltons. Eliots »Milton I« – das wird zum Tema von »Milton II« – beweist die Ambivalenz der Wirkung Miltons als das mächtigste Moment dieses Einfusses. Harold Bloom wird dies auf den trefenden, insbesondere Eliot trefenden Nenner von der ›anxiety of infuence‹ bringen. Eliots eigene Lesart nimmt sich natürlich anders aus, als Abwehr einer kulturellen Bedrohung. Der Schaden, den Milton angerichtet habe, sei eine »dissociation of sensibility«, die bis heute nachwirke. »Keats and Shelley died«, heißt es lakonisch über das De- saster der Zwischenzeit, »and Tennyson and Browning ruminated«.9 Der Mangel an Sensibilität manifestiere sich in einem grundsätzlichen Verlust an visueller Bild- lichkeit, der im tatsächlichen Erblinden des Dichters eine drastische Bestätigung gefunden hätte. Aber schon der Vergleich mit dem ebenso erblindeten Joyce, den Eliot heranzieht, macht ofensichtlich, wie wenig es sich um eine bloße Abwertung Miltons handeln kann. Milton hat für Eliot in Joyce einen vergleichbar ungeheuren Nachfahren gefunden, der die Ausmaße des Problems Milton deutlich macht. In »Milton II« wird er Henry James und Mallarmé hinzufügen, sich im wesentlichen aber an notorische Bemerkungen Dr. Johnsons anschließen und das nachgerade aus- ländische Idiom Miltons beklagen, den babylonischen Dialekt, der den Verlust an plastisch-visueller Sinnlichkeit als einen Mangel an heimischer Kompetenz, einer im Gegenteil unheimlichen Entfremdung beweist. In René Welleks und Austin Warrens Teorie der Literatur, einer Gründungs- urkunde des Fachs aus der Mitte der 40er Jahre, ist Eliots Urteil zu archetypischer Bedeutung erweitert. Dante und Shakespeare als Meistern einer umfassenden Bild- lichkeit steht Milton gegenüber als Vertreter einer aufs Akustische geschrumpfen, bloßen »auditory imagination«.10 Wellek und Warren wenden sich gegen die zu ihrer Zeit im englischen Kanon noch vorherrschende Tendenz, die ernst zu neh- mende Geschichte der Literatur mit Milton überhaupt enden zu lassen und Späteres

9 T. S. Eliot, »Te Metaphysical Poets« (1921), Selected Prose of T. S. Eliot, 59–67, 65. Eliots Aufsatz ist eine enthusiastische Rezension der von Herbert J. C. Grierson zusammen- gestellten Ausgabe der Metaphysical Lyrics and Poems of the Seventeenth Century (Oxford: Clarendon Press 1921), in der Donne der beherrschende Name ist, und für den Grierson die exemplarische kritische Werkausgabe erarbeitet hatte (Oxford: Clarendon Press 1912). Milton ist in den Metaphysical Lyrics nur am äußersten Rande vertreten, eine Tendenz, die sich in den späteren Ausgaben eher noch verstärkt, so auch in Helen Gardners, der Herausgeberin von Donnes Divine Poems (Oxford: Clarendon Press 1952), Ausgabe Te Metaphysical Poets (Harmondsworth: Penguin 1955). 10 René Wellek and Austin Warren, Teory of Literature (New York NY: 1942/Harmondworth: Penguin 1963), 187–188, 198. Herkunf und Phänomenologie des alten Gemeinplatzes vom Vorrang des Auges hat zur selben Zeit Hans Jonas nach den platonischen Quellen beschrie- ben, »Te Nobility of Sight«, Philosophy and Phenomenological Research 14 (1953/54), 507– 519. Distant Information 153 pauschal den Spezialisten des poetischen Verfalls und der Formen modernistischer Verkümmerung zu überlassen; sie übersetzen die Scharnierfunktion Miltons in einen nicht weniger grundlegenden Kontrast der Talente: neben dem »Adel des Au- ges« verlange das Ohr, ebenso perzeptiv, aber vernehmend statt bildend, ein gleiches Recht. Der historische Kompromiß dieses zur Typologie entschärfen Paradigma- wechsels vom Modell der visuellen zur akustischen Einbildungskraf hat nicht ge- halten und halten können, hing doch der ofene Horizont der Moderne daran. Ernst Robert Curtius hatte zur selben Zeit eine Geschichte des Verfalls der anti- ken Topoi entworfen, die als wirkungsmächtige Klischées die Moderne undurch- schaut durchziehen.11 Ihre geisterhafe Präsenz hat Frances Yates in einer viel be- wunderten Studie, Te Art of Memory, illuminiert, indem sie die in der Renaissance zum letzten Mal zur Blüte gebrachte Gedächtniskunst der Antike in ihrer Vorläufer- rolle für die Geschichte der romantischen Imagination geschildert hat.12 Auf dem Umschlag trägt ihr Buch das emblematische innere Auge, das in der Metaphorik der Mnemotechnik das Gedächtnis als eine optische Begabung erscheinen läßt. Vor diesem Hintergrund hebt sich die Blindheit Miltons, die des blinden Homers nach innen gekehrtes Auge wieder wahr werden läßt, ab. Aber die Erfüllung des Proto- typs vom blinden Sänger Homer steht bei Milton unter den entgegengesetzten Vor- zeichen nicht innerer Bilder, sondern dessen, was die Poetik von Puttenhams Arte of English Poesie (1589) bis zu Campbells Philosophy of Rhetoric (1776) eine Katachrese nennt, so etwa John Hoskyns, der 1599 die Signifkanz dieses Tropus an der Wen- dung »a voice beautiful to his ears« erläutert (bei Campbell ist auch das Gegenteil genannt, »melodious to the eye«). Miltons Imagination setzt diese Katachrese, das Zusammenstürzen von Bild und Ton voraus, sie ist keine der bloßen Bilder, sondern eine von Texten, der Intertextualität der Topoi, über deren archetypisch urbildliche Qualitäten Curtius sich Illusionen machte, und deren buchstäbliche Bildlichkeit Frances Yates ein letztes Mal zu retten versuchte. So wie die großen scholastischen Systeme des Mittelalters die Form mnemotech- nischer Apparate besitzen, so muß man sich Paradise Lost vorstellen als ein über- dimensionales kulturelles Gedächtnis der literarischen Überlieferung. In der Tat ist wohl Miltons Gedächtnis seine erstaunlichste, im Interesse seines Genies gern über- sehene Fähigkeit. Seit seinem 44. Jahr blind, schrieb er auswendig, also innerlich, komponierte und diktierte er aus dem Gedächtnis ein Riesenwerk, dessen hoch- komplexe Verweisstruktur Generationen von Forschern ins Brot setzte. Sie kennen die Anekdote, daß er, wenn die Schreiber, die er beschäfigte (zeitweise seine beiden Töchter), des Morgens nicht zeitig zur Stelle waren, wie vor Schmerz schrie und ver-

11 Ernst-Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern: Francke 1948), wogegen sich als Gegenmittel Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphoro- logie (Bonn: Bouvier 1960), empfehlt. Vgl. Vf. »Einleitung in die Teorie der Metapher«, Teorie der Metapher (Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1983), 1–27: 22. 12 Frances Yates, Te Art of Memory (Chicago IL: Chicago University Press 1966). Als Gegen- gewicht zu Yates’ Präokkupation mit der Renaissance-Imagination lenkt Mary Carruthers, Te Book of Memory (Cambridge GB: Cambridge University Press 1991), das Augenmerk auf die ältere, mittelalterliche Lesekultur zurück. Siehe Vf. »Text als Mnemotechnik«, Ge- dächtniskunst: Bild-Raum-Schrif, ed. Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Frank- furt a. M.: Suhrkamp 1991), Einleitung 7–15. 154 Klopstock mit Milton langte, gemolken zu werden, weil er die Menge des über Nacht entstandenen Texts nicht länger an sich halten könne. Was Miltons dichterische Produktion bestimmt, ist keine Einbildungskraf, wie sie die Romantiker von ihm aus zweiter Hand und, wie Eliot klagt, als bloße Manier übernehmen, sondern eine rafniert geschichtete Intertextualität, die ihre Topoi nach allen Regeln der rhetorischen memoria ordnet, und das heißt nicht plan wie die Versatz-Stücke in Curtius’ Warenhaus der Motive, sondern fgurativ doppelkodiert wie bei Cicero und Quintilian vorgesehen und bei Yates nachzulesen ist. Eliots ›anxiety of infuence‹ bezeugt Widerstand gegen den Super-Topos Milton, eine Art Platzangst in der gewaltigen Ausdehnung des in Miltons Texten eröfneten Gedächtnisraums. Virginia Woolfs A Room of One’s Own bezeugt zur gleichen Zeit (1929) einen tieferliegenden Grund für Eliots und seiner Mitbewerber um den Lor- beer der Moderne Angst vor »Milton’s bogey«. Bloom hat Eliots Ambivalenz zu einer kompletten Abwehrformation systematisiert, die nach dem Muster von sechs rhetorischen Figuren gebildet ist. Im Zusammenspiel dieser Tropen entsteht das, was Kuhn die ›disciplinary matrix‹ des Paradigmas Milton nennen würde. Bloom konstruiert sie vom durchschauten Ende der von Milton über die europäische Ro- mantik sich erstreckenden Epoche her, vom nächsten Paradigma also, dem Freuds, das nach Bloom imstande ist, die rhetorische Formation in der psychoanalytischen aufzuheben; vor Freud ist Milton die Schlüsselfgur.13 Die Aufebung überschreitet die Bedeutung Miltons und tendiert dazu – wie könnte es anders sein – ihr zu wider- sprechen. Jenseits der von Milton so efektiv behaupteten, in Blooms Abwehrtropen eingeigelten männlichen Autorschaf lauert ihre Entmännlichung, die Joan De-Jeans Fictions of Sappho und Sandra Gilberts und Susan Gubars Madwoman in the Attic gegen Milton und Bloom anstrengen.14 Was Sappho, die ofenkundig eine ›anxiety‹ schon vor, wenn auch nicht für Milton selbst war, als untergründige Alternative er- möglicht, wird bei Milton-Leserinnen wie Mary Shelley und den Schwestern Bronte bis hin zu Virginia Woolf zur Entlarvung eines Betrugs, den Milton als Name nicht des einen, sondern jeden Vaters darstellt. Die andere Seite des Einfuß-Schemas, die in der Ambivalenz verdeckt ihre Wir- kung ausübt, ist die fgurale Konstruktion, ihr Skopus die Metalepsis, ›master trope‹ der Erneuerung für spätgeborene Dichter. Sie wird von Puttenham vor Milton und Johnson nach Milton als Teleskopie verstanden – was die katachretische Metaphorik des Visuellen für das Von-weitem-Hergeholte, Zitierte verschärf, das sie bezeichnet. Doch das Zitierte ist kein Gehörtes, sondern in Schrif Eingefrorenes, Gelesenes. Dr. Johnson war sich der Tücke der gemischten Metaphorik noch im Klaren; er spricht von der Brille der Bücher, durch die Milton alles gesehen habe, »through

13 Harold Bloom, Te Anxiety of Inguence und A Map of Misreading, gefolgt von dem Freud- Buch Agon; Towards a Teory of Revisionism (New York NY: Oxford University Press 1973, 1975 und 1982). Siehe die Neueinschätzung Virginia Woolfs bei dem Bloom Schüler Perry Meisel, Myth of the Modern (New Haven CT: Yale University Press 1985). 14 Den Ort Virginia Woolfs in der Milton-Rezeption haben Sandra Gilbert und Susan Gubar, Te Madwoman in the Attic (New Haven CT: Yale University Press 1979) ausführlich be- handelt. Distant Information 155 the spectacles of books«15. Er sah aber nicht wirklich, sondern er las, hatte gelesen, und zwar alles. Teleskopisch vergrößert bringe er die Bruchstücke der Sprachen zu- sammen in ›magical interaction‹.16 So die nach-romantische Hofnung, die Angus Fletcher, ein anderer dezidiert Moderner, aus Puttenham, »the Elizabethan subver- sive’s«, Poetik bezieht. Das Beispiel Dr. Johnsons war kein beliebiges; er schreibt an der zitierten Stelle seines »Life of Milton«: »He expands the adventitious image beyond the dimensions which the occasion required. Tus, comparing the shield of Satan to the orb of the moon he crowds the imagination of the telescope« – einer teleskopischen Vergrößerung, deren Efekts wegen die Metalepsis bei Puttenham »the farfetcher« heißt.17 Bloom, der Fletchers Hofnung teilt, hat deshalb die Leistung Miltons in einer eher inkonsequenten Anwendung der eigenen Map of Misreading auf die Freisetzung von alten Schematen hin perspektiviert, die freilich nicht von alltäglichen, aber doch von tradierten Text-Wahrnehmungen befreie. Daß es so ein- fach nicht sein könne, hatte Eliot, sowenig er mit Miltons Katachrese zurechtkam, zu Recht bezweifelt. Worin aber besteht das Ärgernis, das der sprachlichen Teleskopie Miltons die Unnachahmlichkeit sichert, wenn es nicht die bloße Freisetzung des sprachlichen Materials sein kann? Das Problem versteckt sich in der Metalepsis, zu deren Irritation die formidable Metapher der Teleskopie erheblich beiträgt. Sie wird noch Benjamin und Lacan fas- zinieren. Denn die Metalepse ist eine strikt sprachliche, anti-bildliche Figur, und die Metaphorik des Echos, des sinnlosen Wieder-Hallens des lautlichen Sprachein- drucks ist ihre Vorzugsgestalt. Sie ist die präzisere Metapher, nicht nur der Leere wegen, die sie mit-impliziert, sondern auch wegen der Entstehung der Täuschung, die sie benennt, denn das Echo schallt zurück.18 Es ist die Figur einer Umkehrung, wie sie radikaler nicht gedacht werden kann und keineswegs aufgeht in willkürlicher Konfusion; das ist nur die spätere, selbst wieder undurchschaute Verkennung des

15 Samuel Johnson, »Life of Milton«, Prefaces, Biographical and Critical to the Works of the English Poets (1779), hier nach Milton, Te Critical Heritage, ed. John Shawcross (London: Routledge 1976), 303. 16 Angus Fletcher, Allegory: Teory of a Symbolic Mode (Ithaca NY: Cornell University Press 1964), 182–184, 328. Blooms Anknüpfung an Fletcher ist am besten bei John Hollander, Te Figure of Echo: Milton and Afer (Berkeley CA: University of California Press 1981), nachzulesen. Fletchers Gegenzug zu Eliot, der seinerseits in »Milton II« sich Dr. Johnsons Einwände zu eigen gemacht hatte, ist ofensichtlich. Den Einspruch der Milton-Forschung gegen Eliot haben ungefähr gleichzeitig J. B. Broadbent, Some Graver Subject (London: Chatto and Windus 1960), und Christopher Ricks, Milton’s Grand Style (Oxford: Claren- don Press 1963), auf eine systematische, Broadbent auf eine stilistische, Ricks auf eine eher dubiose, ›expressive‹ Grundlage gestellt. 17 Fletcher, Allegory, 328, unterstreicht den durchgängig ironischen Charakter der Tropen bei Puttenham, und das heißt hier abermals die vorromantische Rolle der optischen Verbild- lichung der Metalepsis als einer teleskopischen Figur. Während Fletcher dies als bloß ›allu- sives‹ Verfahren unterschätzt, hatte J. B. Broadbent, »Milton’s Rhetoric«, Modern Philology 56 (1959), 224–242, Puttenhams Figuren in Miltons Texten die Anlage zu Widerspruch und Kontrast bestätigt. 18 Paul de Man, »Anthropomorphism and Trope in the Lyric«, Te Rhetoric of (New York NY: Columbia University Press 1984), 248, spricht vom Echo, Ovid zitierend, als bloßer »delusion of the signifer«, die den Anthropomorphismus der Lyrik verkörpert. Siehe dazu Vf. Laub voll Trauer: Hölderlins späte Allegorie (München: Fink 1991), 69. 156 Klopstock mit Milton eigenen Größenwahns kleinerer Poeten. Technisch beruht die Metalepse auf der in der Erwartung buchstäblicher Bilder vergessenen Kunst der doppelten Figuration, des ›re-troping‹ nach Bloom. Nichts Neues gibt es unter der Sonne seit dem Fall, nur tropische Vorgaben, die der Umfgurierung harren, wie sie aus ›retropings‹ auch her- vorgegangen sind. Unter ihnen ist die Katachrese diejenige Figur, die die Doppelung verleugnet und als Mißbrauch, abusio, verdammt. Puttenhams und Miltons Favorit für die Poetik, die Metalepsis, ist schon bei Quintilian am entgegengesetzten Ende der Skala der Figuren gelegen (Institutio oratoria 8.6.37). Nicht nur macht sie die Doppelung zur Regel, sie kehrt sie um und erhebt die Umkehrung zum Verfahren. Was späte Einsicht nötig hat, holt die Metalepse aus der Ferne heran und schmilzt es in teleskopischer Vergrößerung zusammen. Das Schema der Typologie, Auerbachs fgura, kippt um, und das Alte Testament wird lesbar als Version des Neuen. Wäh- rend die grammatische Einheit, in der sich all dies vollziehbar zeigt, Paradigma heißt und als eine grammatische Metapher für den Topos der memoria steht, deren Dichte Miltons Gedächtnis zugänglich macht und hält. Entscheidend für die Umbesetzung von Paradigmen bis hin zum Sprung der Pa- radigmawechsel – so läßt sich aus der Poetik für die Rhetorik der Forschung ler- nen – ist nicht so sehr eine Ausschöpfung bis zur Erschöpfung, wie sie bei Kuhn die Konstellation der Paradigmen umspringen läßt, sondern die in der Defguration sitzende Latenz zur Re-fguration. Deshalb ist die Katachrese nur Grenzfgur und der Schrecken, der dahinter lauert, das Erhabene, eine ästhetische, die ästhetische Innovation. Burke zitiert Milton dort, wo sich die Bildlichkeit optisch auslöscht, wo die Pracht der herangezogenen Bilder bei der Annäherung an Gott erlischt in ex- zessiver Überbelichtung der Szene: »Dark with excessive light thy skirts appear« (III, 380).19 »Dark with excessive light« illuminiert das Versagen der Lichtmetapher in der Katachrese. Das Dunkel Miltons entsteht in Überbelichtung der aus der künst- lichen Beleuchtung der Texte entwickelten Ofenbarung. Der ex negativo provozierte Efekt ist eine Nachbildlichkeit, an der, wenn man sie bloß bildlich aufaßt, die un- proportionale Sprache stört. Worunter Eliot zufolge die Romantik litt, und noch Geofrey Hartmans Wordsworth, der die ästhetischen Möglichkeiten Miltons positi- viert, ist aus dem Bann des Paradigmas Milton nicht so leicht zu erlösen. Er bleibt, sagt Hartman, Te Unremarkable Wordsworth; seine ästhetische Wendung gegen Milton kommt ohne Milton nicht aus. Die englischen Nach-Miltone, angefangen mit Blake und Keats, bleiben, anders als das in der amerikanischen Milton-Wirkung möglich ist, nach Visionären einer neuen, ›unmediated vision‹ und Melancholikern des erneuten ›vanishing‹ aller ›aesthetics‹ zu unterscheiden.20

19 Edmund Burke, A Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beau- tiful (1757), ed. James T. Boulton (London: Routledge Kegan Paul 1958), 80 (misquoting »light« for »bright«). Über Milton zeigt sich, daß der gängige Eindruck, Burkes Essay »owes little or nothing to L[onginus]«, hier in der Einleitung des Herausgebers von D. A. Russell, On the Sublime (Oxford: Clarendon Press 1964), xiv, trügt. 20 Northrop Frye, Fearful Symmetry (Princeton NJ: Princeton University Press 1947). Geof- frey Hartman hat in seiner Yale-Dissertation, Te Unmediated Vision (New Haven CT: Yale University Press 1954) die Karriere dieses ästhetischen Gemeinplatzes in Valéry gipfeln lassen; Carol Jacobs, Uncontainable Romanticism (Baltimore MD: Te Johns Hopkins Uni- versity Press 1989), hat die Gegendarstellung der Ästhetik als ›vanishing aesthetics‹ bei Distant Information 157

Worauf es ankommt in der Geschichte der Forschung nach Kuhn, die exem- plarische, zur ›normalen‹ Praxis der Forschung gefestigte Anwendung von Teorie, die zu Paradigmen geronnen, die Geschichte der Forschung deklinierbar macht, hat ihr geheimes Paradigma in der Intertextualität der Nach-Miltonischen Poetik. Das ist Rorty in seiner Neueinschätzung des Neopragmatismus nicht verborgen geblie- ben; in seinen Consequences of Pragmatism stellt er »Kuhn’s romantic philosophy of science« und »Bloom’s philosophy of romantic poetry« parallel nebeneinander und beruf sich dabei auf Emerson, Blooms amerikanischen Milton: »Te pragmatist reminds us that a new and useful vocabulary is just that«, schreibt Rorty, »not a sudden unmediated vision of things or texts as they are.«21 Milton selbst hatte nicht gezögert, eine zusätzliche Vorrichtung ins Spiel zu bringen, um das Problem des refgurativ zu Erreichenden zu lösen und es auf der Höhe der erhaben aporetischen Defguration, seiner Entbildlichung im Erhabenen, umschlagen zu lassen in hiesiges politisches Leben: das Epos. Es ist ein Ärgernis geblieben, das Milton mit einer un- plausiblen Mythologie belastet hat (so Voltaire trotz Bodmers Verteidigung), einem geschichtsphilosophisch überholten Schema (so Schelling) und einem obendrein fragwürdigen Publikumserfolg (so Dr. Johnson). Vor allem Empson der Ambigui- tätsforscher hat die Vorwandhafigkeit des Epischen bei Milton erkannt und Paradi- se Lost als die Inszenierung einer heteronomen Sprachbabylonik analysiert, als kon- trapunktisch komponiertes Arrangement von ›double plots‹ und ›counter-plots‹.22 Die epische Stimme Miltons ist danach nurmehr abstrakter Träger und Ver- stärker der teleskopisch eingefangenen und herausvergrößerten Szenen aus einem literarischen Gedächtnis, das zum neuen Grundmythos arrangiert wird. Teile des Arrangements, vor allem die Inszenierung des in der Gefallenheit mitimplizierten Lesers, des ›guilty reader‹ von Henry James’ Romanen und Stanley Fish’s rhetori- scher Analyse in Surprised by Sin, beweisen die andauernde Aktualität auch der my- thischen Konstruktion von Paradise Lost.23 Aber sie verstellen nicht von ungefähr

Wordsworth beginnen lassen. Aus der bei Emerson einsetzenden amerikanischen Milton- Rezeption ragen Walt Whitman und Wallace Stevens heraus, auf die sich Harold Bloom konzentriert hat, Te Visionary Company (New York NY: Oxford University Press 1970), sowie Wallace Stevens (New Haven CT: Yale University Press 1976). 21 Rorty, Consequences of Pragmatism, 153, mit implizitem Bezug nicht nur auf die mit Cavell geteilte Emerson-Lektüre Blooms, sondern auf Hartmans frühe Unmediated Vision und Blooms Eliot-Lektüre. Siehe Hartmans späte Essaysammlung Minor Prophecies: Te Lite- rary Essay in the Culture Wars (Cambridge MA: Harvard University Press 1991), Introduc- tion »Pastoral Vestiges«, 6. 22 William Empson, Some Versions of Pastoral (London: Chatto and Windus 1935/Harmond- worth: Penguin 1966, überführt seinen Begrif des ›double plot‹ von Shakespeare auf Mil- ton über das Zitat der Teleskopie-Diagnose Johnsons. Geofrey Hartman schließt daran seine Vorstellung von »Milton’s Counterplot« (1958) an, Beyond Formalism, New Haven CT: Yale University Press 1970). An Empson’s Analyse der ›double plots‹ hatte Fletcher angeknüpf, während Wellek und Warren den durch Empson bestimmten Stand der Dinge referiert hatten. Siehe Vf. »Miltons Counterplot. Dekonstruktion und Trauerarbeit 1637«, DVjs 63 (1989), 608–627. 23 Stanley Fish’s Surprised by Sin: Te Reader in Paradise Lost (Berkeley CA: California Uni- versity Press 1967) antwortet auf C. S. Lewis Surprised by Joy, in dem sich die Milton-Lek- türe von dessen Preface to Paradise Lost (Oxford: Clarendon Press 1942) niederschlägt. Fish’s Tese vom impliziten Sünder ist von Wolfgang Iser, Der implizite Leser (München: 158 Klopstock mit Milton die in der Episierung verschlifenen und schließlich verlorengegangenen Konturen der im engeren Sinne poetischen Konstruktion. Die Verschleifung äußert sich nicht nur, oder nur oberfächlich, als wachsendes Mißverständnis. Sie ist das Oberfächen- Symptom einer systemischen Ausreizung der disziplinären Matrix und spielt sich, fgural gesprochen, zwischen ›Defguration‹ und ›Refguration‹ des Paradigmas ab. Beide Möglichkeiten der Ausschöpfung des paradigmatisch Möglichen will ich ab- schließend an zwei exemplarischen Momentaufnahmen im Rezeptionsschicksal Miltons illustrieren.

II

Ausgerechnet Klopstock, der auch von den Engländern als epischer Nachfolger Mil- tons anerkannt und dann allerseits als sein schlechteres episches Selbst verworfen worden ist, hat hier eine Antwort parat. Winfried Menninghaus hat in einem bemer- kenswerten Alleingang ganz gegen die Trends der in Sachen Klopstock wahrhafig nicht sehr präsenten Forschung die Leistung der Poetik Klopstocks restituiert, und was bei dieser nachgerade archäologischen Grabung unter den Ruinen des Klop- stockschen Ruhms herausgekommen ist, macht zum ersten Mal paradigmatische Qualitäten sichtbar. Menninghaus reserviert ihm einen Platz als Vorläufer von No- valis, im Vorlauf also zum frühromantischen Paradigma. Das verträgt sich nicht nur gut mit dem Paradigma Milton, es verspricht eine Vergleichbarkeit mit jenen englischen Romantikern, die Eliot unter Miltons ungutem Einfuß sieht. Klopstock radikalisiert eine rhetorisch-poetische Crux, die im Paradigma Milton nicht zu solcher Zuspitzung geführt worden ist. Er tut es in dem, was Menninghaus seine »Metaphysik der Bewegung« nennt, in der Zuspitzung des unbildlichen, akustischen Moments zur absoluten Priorität der »metrischen Bewegung der Worte«.24 Miltons Musikalität, Funktion seines blinden Zurechtfndens im literarischen Gedächtnis, das in seiner tatsächlichen Blindheit zur vollen Entfaltung kam, kennt eine ähnliche Priorität der Bewegung, aber es ist die Losgelöstheit von jeder anderen linguistischen Funktion, auf die Klopstock hinauswill. Nicht daß bei Milton etwas anderes zählte als die lautliche Entfaltung der Verse; auch Milton ist an nichts an- derem so interessiert.25 Aber das Metrum ist für ihn kein vollständiger Maßstab, mit dem dem Laut der Worte beizukommen wäre; im Gegenteil, was bei Milton

Fink 1972) nach den puritanischen Wurzeln für die Geschichte des englischen Romans ver- allgemeinert worden. Darin trif er sich mit C. S. Lewis’ verallgemeinernder Analyse von Paradise Lost als ›secondary epic‹. 24 Winfried Menninghaus, »Klopstocks Poetik der schnellen Bewegung«, Nachwort zu Klop- stock, Gedanken über die Natur der Poesie (Frankfurt a. M.: Insel 1989), 309. Schon Klop- stocks frühe Lyrik neigt bei aller Belebtheit zu diakritischen Grenzphänomenen, insbeson- dere im Mittel der zitierten, im Zitat stillgelegten Prosopopeia. 25 F. T. Prince, Te Italian Element in Milton’s Verse (Oxford: Clarendon Press 1954) hat in der doppelsprachigen Versanlage Miltons das akustische Analogon zum ›double plot‹ Schema nachgewiesen. Leider hat er das mögliche Zusammengehen seiner Analysen mit denen von Empsons Seven Types of Ambiguity (London: Chatto and Windus 1930/New York NY: New Directions 1947) nicht gesehen. Distant Information 159 nach der Ausschaltung der unmittelbaren Bildlichkeit in der Teleskopie der fguralen Konstellationen, und das heißt an Echos der metaleptischen Doppelkonstellationen übrigbleibt, ist auch metrisch doppelkodiert. So wie sich in dem Palimpsest, das Paradise Lost ist, die intertextuellen Verweise vielstimmig und gegenläufg äußern, so tun es die Metren. Es gibt Stellen bei Milton, wo im fortlaufenden epischen Ton Sonette nicht nur eingelegt erscheinen, sondern sich mit anderen Formen kontra- punktisch überschneiden. Klopstock kann solche Spaltungen und Überlagerungen im Metrum aus guten Gründen nicht zulassen. Indem er die Rhetorik der Figuren radikal bis an die Grenze ihres metrischen Stellenwertes treibt und damit alle Gegen- stände und Anlässe zweitrangig werden läßt, ersetzt er nicht nur – und zersetzt er nicht nur, wie Paul de Man in den Allegorien des Lesens sagt – die Rhetorik der Persuasion; er stellt sie auf andere Füße, Versfüße. Wo üblicherweise Figuren dem Zweck der Überredung aufelfen sollen, da herrscht bei Klopstock der aller solcher ornamentalen Hilfsmittel entlastete pure Rhythmus, der unvermittelt in die Seele eingreif und sie, seelenverwandt, wie es die rhetorische Ideologie von alters will, bewegt. Solche »autonome Evokation« der Passionen aus ihrer adäquaten Repräsen- tation in der Bewegung der Worte nennt Klopstock ›Darstellung‹ (im Gegensatz zu den Darstellungsbegrifen der Zeit). Aber das ist nicht alles; sie eröfnet den Raum einer »Teorie des Wortlosen«, das auf dem Rücken solcher Darstellung, im Zug der Wortbewegung einzieht ins Gedicht und aus der lacuna der entleerten Figur die Arabeske einer Nullfgur beschwört. Ich halte bei dieser Vorstellung einen Augenblick inne und halte fest, was im Verhältnis zu Milton passiert. Klopstock naturalisiert Miltons Rhetorik; er schreibt der ›Natur der Poesie‹ zu, was bei Milton ihrer Tradiertheit, dem kulturellen Ge- dächtnis der Tradition zukommt und den mehr oder minder souveränen Umgang mit ihm ausmacht. Die Unmittelbarkeit, mit der nach Klopstocks Wünschen die Metren rhythmisch in der schönen Seele Anhalt und Korrespondenz fnden, ist bei Milton wie bei Cicero Inbegrif des persuasiven Erfolgs. Nicht diese wird bei Klopstock eigentlich zerstört, sondern die Vehikel der fguralen Vermittlung und was sie über ihre unmittelbare Mittelhafigkeit hinaus transportieren. Dies ehedem Transportierte, tropologisch Vernetzte »wandelt« nun wortlos einher im Gedicht. Menninghaus macht sich ein unübertrefiches Zitat Klopstocks zu eigen, dessen Suggestion ich mich nicht entziehen kann, von dem »Wortlosen«, das »in einem guten Gedicht umher [wandelt], wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehenen Götter«. Es wandeln diese Götter zwar auch, und von wenigen gesehen, in Miltons Paradies umher, aber nicht wortlos, sondern in der Tarnung paradiesischer, ungetrübter Tropen. Während Klopstock in der Tat einen Vorgeschmack vom Ghost Dance späterer Medien vermittelt und der Halluzination medialer Vernetzungen. Ihm selbst indessen liegt nicht an diesem Efekt, der ihm im Messias auch ordentlich danebengegangen wäre, sondern am Schweigen der Wortlosigkeit im bloßen, noch der Musik entbehrenden Tanz, lautlosem Tanz auf dem Eis. Miltons Musikalität ist weniger transzendental, als es die in puren Figuren aufs Eis gezeichnete Metrik Klopstocks will. Auch sie war lange unspielbar und operierte hart am Rande realisierbarer Aufassungen. Sein spätes Drama Samson Agonistes, den in Paradise Lost geschafenen Grundmythos in sich zusammenstürzen lassend, ist allenfalls Einstein-on-the-Beach-haf vorstellbar und transportiert doch ganz das 160 Klopstock mit Milton politische Ärgernis des unmöglichen alten Mannes, der Milton werden mußte, die Historizität der rhetorisch manipulierbar gewordenen Zeit in den Tropen und Figu- ren einer ganz und gar nicht serenen Szene. »Tese are the days my friends« ist der unendliche Refrain der Einsteinschen Muse, für den Samsons Selbstmord immer schon ein Ende bereit hatte. Das H-Bomben Szenario on the Beach war für Miltons Menschheit von Anfang an und immer neu der Fall; es war ablesbar und absehbar seit Samsons Katastrophe.26 Das Supplement, das Samson Agonistes zu Paradise Lost nachliefert, den Widerruf, den dieser Samson als Komplement zu Paradise Regained bildet, überfutet dramatisch das geschichtstheoretische Szenario des Epos.27

III

Paradise, not yet lost; wir befnden uns im IV. Buch. Eva, Adam frisch aus der Rippe geschnitten, noch bevor sie seiner gewahr wird, entdeckt den Himmel gespiegelt im Wasser eines Sees und, indem sie sich über den Spiegel des Wassers beugt, sich selbst:

As I bent down to look, just opposite, A Shape within the wat’ry gleam appear’d Bending to look on me, I started back, It started back, but pleas’d I soon return’d, Pleas’d it return’d as soon with answering looks (IV, 461–65)

Göttliche Ofenbarung unterbricht in der Folge den aus Ovid herbeizitierten nar- zißtischen Moment und verwandelt ihn in sokratische Selbsterkenntnis: unter der Platane aus Platons Phaidros erblickt sie ihn, Adam, zum ersten Mal, der von ihrem Bericht geschmeichelt und von ihrer Gestalt berückt (in dieser Reihenfolge) ganz unrefektiert »Smil’d with superior Love, as Jupiter« (IV, 499). Der männliche Narziß Ovids im III. Buch der Metamorphosen erliegt seiner Selbstliebe, ohne sie je durch- schaut zu haben; so auch Adam, dem dies hier an der Wiege gesungen wird, so wie es dem Narcissus Ovids prophezeit war durch den in der Bisexualität erfahrenen Tiresias. Darauf verweist die Erwähnung Jupiters an dieser Stelle.28 Adam erliegt

26 Philip Glass, Robert Wilson, Einstein on the Beach (New York: Dunvagen 1976, 1984, 1992). Vermittelnd zwischen Milton und Einstein steht Samuel Beckett’s Endgame, wie Cavell es gelesen hat, zuletzt in Conditions Handsome and Unhandsome, 130–133, zuvor in Must we mean what we say? (Cambridge UK: Cambridge University Press 1976), 133–38. 27 Jacques Derrida, De la grammatologie (Paris: Minuit 1967), hat diese Logik dem Dunkel ihres Funktionierens bei Rousseau entrissen; Paul de Man, Derrida rezensierend, »Te Rhetoric of Blindness«, Blindness and Insight (New York: Oxford University Press 1971/ Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1983), hat dieselbe Logik als Rationalisie- rung des defgurierenden Moments der Texte verstanden. Sie ist Teil der vom Vf. an Miltons Samson Agonistes erläuterten »Gerechtigkeit der Texte«, Poetik und Hermeneutik 15 (1993), 17–27, ausführlicher »All Passion Spent: Te End. Samson Agonistes oder: Das Ende der Gerechtigkeit«, Poetik und Hermeneutik 16 (1994), 267–282. 28 Die geschlechterpolitischen Implikationen des Echo-Narcissus Topos sind inzwischen von Gayatri Chakravorty Spivak, »Echo«, New Literary History 24 (1993), 17–43, ausführlich Distant Information 161 der göttlich inspirierten Appellqualität Evas. Es bedarf nichts als der geringfügigen Intrige eines eifersüchtigen Teufels. Der Plot von Paradise Lost beruht zu großen Teilen auf solchen Beispielen von »adventurous Eve’s« unfreiwilliger kognitiver Überlegenheit, in der Miltons Gott das Risiko des Falls eingegangen ist, ihn quasi programmiert hat. Catherine Belsey hat in ihrer glänzenden Einarbeitung dieses Motivs in das Paradigma Milton die Doppel- sprachigkeit des Texts auf eine witzige Schlußfolgerung gebracht: »God ought to have thought of that. It would have made all the diference in the world.«29 Gott hat aber nicht daran gedacht, daran zu denken. Der mit Gottes Hilfe durchschaute Nar- zißmus bleibt Evas und Gottes Geheimnis bei Milton. Im Gegenteil, in ungerührter Behauptung seiner Schöpferkraf, die Miltons Satan zum Vorschein zwingt, bleibt Gott Herr der Dinge, indem er die menschliche Komödie der Geschlechterdiferenz als gerechte Strafe, ist man versucht zu sagen: als schlechte Mimesis seiner Macht, in Zahlung nimmt – und Eva zahlt durch ihr besseres Wissen wie Adam durch sei- ne narzißtische Befangenheit im Unwissen, die ihn in seiner superiority bestärkt. »What is strange«, schreibt Belsey, »is that God apparently learns nothing from the event. Afer the fall he simply reinstates the same patriarchal relation which brought it about.«30 Genauer gesagt, er nimmt sie in Kauf zu seiner höheren Ehre, und der Autor Milton folgt ihm darin in seiner notorischen Misogynie zur höheren Ehre der eigenen Autorschaf. Gleichzeitig ist aber klar, daß der Autor Milton in Wahrneh- mung dieser Autorschaf Gott hinterrücks die Verantwortung tragen läßt – nicht für den Fall natürlich, aber für den Trick, der ihn möglich macht und das Wissen Evas durch das eigene Mitwissen ausgleicht und zum Geheimnis der eigenen auktorialen Rolle macht. Hier ergibt sich der Ausblick auf den rhetorisch entscheidenden Trick der Inkorporation weiblichen Wissens durch auktoriale Männlichkeit, wie er von Miltons Meisterschüler in der neuen Gattung des Romans, einem weiteren Adepten Ovids, Samuel Richardson in Clarissa entwickelt werden wird.31

behandelt worden, einschließlich der paradigma-konformen Komplizität der Versionen Freuds mit Milton (hier: 24); des letzteren nach John Brenkman, »Narcissus in the Text«, Georgia Review 30 (1976), 293–327. 29 Catherine Belsey, John Milton: Language, Gender, Power (Oxford: Blackwell 1988), 66–67. Joseph Wittreich, Feminist Milton (Ithaca NY: Cornell University Press 1987), bestätigt so- wohl die Tendenz der von Gilbert und Gubar geschriebenen Rezeptionsgeschichte, zeigt aber auch, wie bruchlos sie in Forschung über- und in ihr weiter geht. Evas Narzißmus war vor Belsey exemplarischer Gegenstand von Christine Froula, »When Eve Reads Milton: Undoing the Canonical Economy«, Critical Inquiry 10 (1983). 30 Belsey, John Milton, 105. Eine Idee von der »Satanic dimension of justifying the ways of God to men«, die der romantischen Rezeption Miltons Rechnung trägt, fndet sich in- zwischen ausgeführt bei Victoria Kahn, »Allegory and the Sublime in Paradise Lost«, John Milton, ed. Annabel Patterson (London: Longman 1992), 185–201. 31 Barbara Vinken, Unentrinnbare Neugierde: Die Weltverfallenheit des Romans – Richardsons Clarissa und Laclos’ Liaisons dangereuses (Freiburg/Brsg: Rombach 1992), in Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte Ovids für Richardson und den englischen Roman. Die Paten- schaf Ovids für Miltons ›satanic heroic mode‹, etwa in Barbara Kiefer-Lewalskis Topologie Paradise Lost and the Rhetoric of Literary Forms (Princeton NJ: Princeton University Press 1985), 71–75, verdeckt diese wirkungsmächtige Pointe zugunsten Adams Interessenblind- heit. 162 Klopstock mit Milton

Mit anderen Worten, nicht Gott begründet in Paradise Lost die patriarchalischen Verhältnisse, sie stellen sich postlapsarisch, nach dem Fall, erst her; Gott läßt sie einreißen als Figur der postlapsarisch verderbten Mimesis an seine Macht. Sie sind eine Funktion seiner Macht, und Miltons Autorschaf zehrt von dieser Macht, indem er Anteil an ihr nimmt, seinen Anteil von ihr nimmt über die dichterische Metamor- phose Ovids, die den Transfer der Gegenübertragung, der männlichen anxiety of infuence auf die göttliche Einrichtung der Geschlechter, Evas Klugheit mit anderen Worten, möglich macht. Das böse Erwachen Adams behauptet Priorität vor der frühen Erkenntnis Evas (Metalepsis) und versichert sich im Autor Milton der Kom- plizenschaf des Gottes, der Anlaß zu solcher Autorschaf gibt und Miltons Text die Priorität über Ovids vorchristliche Erkenntnis gibt (Metalepsis). Aber, so Catherine Belsey mit Recht, »all of it can be read, sometimes in spite of itself.« In der Konsequenz einer solchen analytischen Lektüre Miltons liegt die conver- sation of justice zwischen den Geschlechtern, gerechte Gegenseitigkeit, die Milton in den ›divorce tracts‹ als Grundlage aufgeklärter Verständigungs-Verhältnisse ein- klagt. Sie rekuperiert ein paradiesisches Moment in diferenz-vergessenen Zeiten, so wie Ovids Metamorphosen für Milton die Unerlöstheit solcher Zeiten in dieser Welt lesbar gehalten hatten. Ovid ist der Vorläufer, dem Milton über die Zeitenwende ant- wortet; sein ›master trope‹ der Metalepsis ist das Echo des Echos, das in den Meta- morphosen Ovids Narcissus vergeblich vernimmt und nicht zu verstehen mag. Der Schatten Ovids ist umbra und fgura Miltons, beides aber nur die optische Metapher dieses akustischen Echos, dessen Nachhall Ovids wichtigster Schüler im 19. Jahr- hundert, Baudelaire, in durchaus Miltonischer Manier im Namen desselben Ovide anruf, »Oh vide«, die Leere im »eau vide«, im leeren Spiegel des Wassers, auf dessen Oberfäche Klopstock den Eistanz plante.

Nachbemerkung: Der vorstehende Text ist der für ein deutsches Publikum erläu- terte Entwurf meiner New Yorker Milton-Vorlesung der neunziger Jahre (siehe als Einleitung die Bildlegende oben). Der Stil des mündlichen Vortrags ist weitgehend beibehalten, ergänzt um Hinweise zu Stand und Geschichte der Forschung, die im Laufe des Semesters zu entfalten waren. Die komparatistische Bedeutung Miltons ist mit einer zusätzlichen Metalepsis verbunden: der Verkehrung der Rezeptions- perspektive vom Land der größten Milton-Nähe, Amerika, auf ein Land der größten Milton-Ferne, Deutschland, und beider auseinander drifende Vorstellungen von Kanon und Funktion der alt-europäischen Literatur. »Te Birth-mark« nennt Susan Howe, gelehrte Dichterin der neunziger Jahre des New Historicism, den Punkt, an dem »[b]ehind Milton’s beautiful words borrowed from other traditions [...] a rage« lauert, aus dem sich der revolutionäre »American dream« herleitet: »a sudden leap into another situation.«32

32 Susan Howe, Te Birth-mark unsettling the wilderness in American literary history (Middle- town CT: Wesleyan University Press 1993), 177. FEST/SCHRIFT 163

FEST/SCHRIFT Festschreibung unbeschreiblicher Feste – Klopstocks Ode von der Fahrt auf der Zürchersee 1750

Dem Andenken Richard Alewyns

Statt Motto: In den Glassärgen unserer Museen zerfällt die Seide, erblindet das Gold, die die Men- schen des Barock für ein paar Stunden ihrer Notdurft enthoben und Göttern gleich ge- macht haben. Unsere Bibliotheken und Kupferstichkabinette bewahren kostbare Wer- ke, die sich in allerhöchstem Auftrag bemühen, jede einzelne der flüchtigen Phasen und Figuren höfischer Feste in Beschreibung und Abbildung festzuhalten. Die Verfasser ver- hehlen nicht, wie vergebens ihre Mühe ist. Weder das starre Bild noch das blinde Wort sind vermögend, den Zauber zu vermitteln, den eine Nacht gebar und verschlang.1

I Sprichwort

Wenig Erschöpfenderes läßt sich fnden zum Tema ›Fest‹ als die Maxime, man müsse sie feiern, wie sie fallen. Alle weiteren Spekulationen, vor deren Ausdehnung die Verfasser des »Protreptikos« dieser Tagung zu Recht warnen, lassen sich aus diesem Satz weniger ableiten als aus der Sache, zu der zu kommen oder nicht zu kommen er lakonisch aufordert. Redensarten und Sprichwörter, so lesen wir bei Hans Lipps, »passen zu Gelegenheiten, wie sie typisch sind für das Leben, das sich darin ausbreitet«.2 Sie tun es freilich in eigentümlicher Zurückhaltung: »Es ist eine kurzgehaltene Vernunf, was darin zu Wort kommt«, bemerkt Lipps; fatalerweise werde »eine Einsicht nur vorgespiegelt«. Dies nun nicht aus redensartlicher Dumm- heit oder sprichwörtlich böser Absicht, sondern aus einer insgeheimen Notwendig- keit heraus, »sich über besseres Wissen hinwegzusetzen, Ängstlichkeit steht da- hinter«. Lipps spricht nachgerade von »verstellter Angst (...), die als verstellt auch verbaut ist«. Seine Analyse zeigt in der Sprachgebärde der Sprichwörter eine rätsel- hafe Kongenialität zum Feiern von Festen als einer Art der Gelegenheit, auf die sie sich eigenartig vernünfig, nach der Logik ihres Anlasses, beziehen. Es scheint, als handle es sich bei Festen um letzte Manifestationen eines älteren Lebens, das in Sprichwörtern, gewitzt in anderen Erfahrungen, auf seine Weise umgeht mit dem »besseren Wissen«, das es davon hat. Andre Jolles hat von vergleichbar »einfachen Formen« gehandelt, »jenen Formen, die weder von der Stilistik, noch von der Rhetorik, noch von der Poetik, ja viel- leicht nicht einmal von der ›Schrif‹ erfaßt werden«.3 Das indiziert eine historische

1 Richard Alewyn, Das große Welttheater Alewyn (Hamburg: Rowohlt 1959), 10; Seitennach- weise im Text. 2 Hans Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik (Frankfurt a. M.: Klostermann 1938, 31968), 136 f. (§ 24 »Sprichwörter«). 3 Andre Jolles, Einfache Formen (Tübingen: Niemeyer 1930, 41968), 10. 164 Klopstock mit Milton

Diferenz, als deren Kriterium Jolles nicht von ungefähr ›Schrif‹ nennt. In solchen vorliterarischen Formen sei die Sprache, »sozusagen ohne Zutun eines Dichters«, in die Lebensverhältnisse unmittelbar eingelassen. Auch was in Sprichwörtern und Redensarten »handgreifich« würde, wäre unvermittelt durch ›Schrif‹ und ihre sti- listischen, rhetorischen, poetischen Formationen. Für den Fall des Feierns von Fes- ten aber hielte derartiges Reden »die Habitualität einer Einstellung« fest, wie Lipps sagt, in der naturwüchsiges Eingelassensein in alltägliche Lebenszusammenhänge das Hervorgehobensein des Feierns in ein sprichwörtliches Zwielicht setzt. Dies Zwielicht erstreckt sich auf hermeneutische Verallgemeinerungen wie die Gadamers, der das Fest zum Paradigma einer ursprünglichen Erfahrung dessen er- klärt, was die »Zeitlichkeit des Ästhetischen« sei. Dabei geht es ofenbar darum, das »Spiel als Leitfaden der ontologischen Explikation des Kunstwerks«, wie dieses Kapitel von Wahrheit und Methode überschrieben ist, von den Spuren jener »Sub- jektivierung der Ästhetik« zu reinigen, die seit der Auflärung (und insbesondere durch Kant) ästhetische Erfahrung in Gegensatz zur kultischen Erfahrung gesetzt hatte.4 Mindestens in diesem einen, freilich entscheidenden Punkt, der ›Zeitlich- keit‹, felen beide Erfahrungen in eins, wäre die eine die andere zu anderen, unhei- ligen Bedingungen, in »dürfiger Zeit«.5 Der Punkt ist entscheidend, weil er Kunst zum Zeugen eines emphatischen Begrifs von Erfahrung macht, für den kultische Erfahrung das (prä-)historische Vorbild sein soll – ein unlesbares Vorbild indessen, das erst vom modernen ästhetischen Nachbild her projektiv zu erhellen ist. In solcher Rückwendung hatte selbst Benjamin dem Zug der Zeit nicht wider- standen und die »Tage des Eingedenkens«, die er mit Proust als »wenige seltene Tage sich aufun« sieht in Baudelaires Gedichten, zurückverwiesen in jene kultische Sphäre »mit ihrem Zeremonial, ihren Festen«, wo »im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion« hätten treten können.6 Allerdings ist bei Benjamin das Interesse am Nachbild der Traditi- on bestimmend, der heuristische Charakter des kultischen Vorbilds unverkennbar. Es geht ihm um »Data des Eingedenkens«, die, wie er klar macht, »keine histori- schen, sondern Data der Vorgeschichte« sind: »Was die festlichen Tage groß und bedeutsam macht, ist die Begegnung mit einem früheren Leben.« Wichtig hier wie dort die ›Konjunktion‹ von individueller und kollektiver Eschatologie, die ›Teilha- be‹ an kollektiver Erfahrung. Entscheidend jedoch bei Benjamin, was bei Gadamer unter dem Stichwort von der »Rehabilitierung der Allegorie« nur andeutungsweise anklingt, die allegorische Bedeutung, ja typologische Funktion des Fests für die der Kunst unterstellte Zeitlichkeit dessen, was an Erfahrung in sie eingeht. Ohne Gadamers und Benjamins Interesse am Fest aufeinander abbilden zu wol- len (nichts läge mir ferner), läßt sich doch soviel beiden ablesen, daß hier wie dort Feste den Moment festhalten, der in ›Schrif‹ aufritt als das, was vor ›Schrif‹ war

4 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (Tübingen: Mohr Siebeck 1960, 21965), 117 f. 5 Siehe Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürfiger Zeit (Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1960, 31965). Vgl. Walter Schulz, Metaphysik des Schwebens (Pfullingen: Neske 1985), 270. 6 Walter Benjamin, »Über einige Motive bei Baudelaire« (1936), Gesammelte Schrifen I (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 611, 637. FEST/SCHRIFT 165 und in ›Schrif‹ darzustellen ist. Arnold Gehlen hat dies Moment der Darstellung, das im Ritus primär (in vivo), in der Kunst aber sekundär (in materia) aufrete, als entscheidend für die anthropologische Kategorie der ›Hintergrundserfüllung‹ gesehen, das Festschreiben in ›Schrif‹ als verdoppelte Stabilität des in Festen auf Dauer Inszenierten.7 Die wechselseitige Erhellung von Urmensch und Spätkultur ist keine hermeneutische über die Abgründe der Jahrtausende hinweg, sondern eine kategoriale, materiale. ›Schrif‹ ist dafür die ebenso kategoriale wie materiale Metapher. Die methodische Crux der Rekonstruktion dessen, was in vivo zu unter- stellen ist, beschränkt sich auf das, was in materia vorzufnden ist: auf die ›Schrif‹ im Fest, nicht ein Fest vor jeder Festschreibung. Als Hintergrundserfüllung hält die Festgeschriebenheit der Feste das Feiern selbst für unbeschreiblich, die ihm ein- geschriebene ›Schrif‹ für unlesbar. Man kann sie nichts als feiern, wie sie fallen. Lipps’ Sprachanalyse läßt eine Diferenz hervortreten, an deren Verwischung den hermeneutischen Postulaten Gadamers gelegen ist. Das Fest, Gadamers Kronzeuge eines emphatischen Begrifs von Erfahrung, taugt nach Lipps eher zum Kronzeugen nicht gegen diese Erfahrung, aber gegen die hermeneutische Zugänglichkeit, und das heißt gegen die exemplarische Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Erfahrung. Was diese Erfahrung als ursprüngliche paradigmatisch macht für die Erfahrung der Kunst, wäre die Diferenz, in der jene dieser eingeschrieben ist und als ›Schrif‹ in unüberbrückbarer Diferenz zu sich selbst in dieser aufräte. Die in Sprichwörtern verstellte Angst, die Lipps diagnostiziert, mag auf mangelhafe Hintergrundserfül- lung zurückgehen, die ursprünglich riskanter sein konnte, als eine spätere Kultur nachvollziehen mochte. Was den Fall des Feierns von Festen angeht, sieht man das daran, daß mit dem Fallen der Feste ihr Gelingen nicht mitgegeben ist. Daher der lakonische Ton der Redensart, die im Hinweis auf die bloße Absehbarkeit der Feste die Unabsehbarkeit des Feierns verbirgt, die Angst womöglich vor dem Verstrickt- sein in einen Ablauf, demgegenüber Gelingen wie Mißlingen unzureichende Sub- jektivität ins Spiel bringen. Handeln Riten ursprünglich von der Diferenz von Kultur und Natur, die in ›Dar- stellung‹ auf Dauer gestellt ist, so wird in Festen dieselbe Diferenz ›aufgehoben‹ in einer anderen, dieser fremden Erfahrung. Zu diesem Aufgehobensein gehört ihre materiale Inszenierbarkeit, wo sie ursprünglich leibhafig gelebt worden sei. Wie im Ritus Darstellung in Hintergrundserfüllung aufging, so geht seither das Fest im Zitat solcher hintergrundserfüllenden Darstellungen auf. Seit dem Herbst des Mittelalters sind die weltlichen Feste mit der Inszenierung dieser älteren Diferenz beschäfigt. Der Liturgie abgeschauter Stil schrieb in weltlichen Kontrafakturen fort, was an rituellen Formeln in der Kirche selbst längst in repräsentativen Leerlauf übergegangen war. »Das Hofest wollte aber weit mehr«, schreibt Johan Huizinga: »Es wollte den Traum des heroischen Lebens bis ins Letzte darstellen«.8 Es blieb freilich nach Huizinga beim besseren Wollen, und seine Darstellung bleibt ganz in der Widersprüchlichkeit befangen, die dies Wollen mit seinen unzureichenden Mitteln beweist. Gleichwohl ist das, was bei Huizinga so wenig Verständnis und so

7 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur (Frankfurt/Bonn: Athenäum 1956, 21964), 55 (§ 13 »Darstellung«). 8 Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters (Stuttgart: Kröner 1919, 31961), 369 f. 166 Klopstock mit Milton viel Neugierde hervorruf, entscheidend für das Feiern von Festen, die nicht im Ritus mehr ihr geheimes Zentrum haben und doch von ihm zehren. Benjamins Begrif der Allegorie faßt den Mangel in Termini einer rhetorischen Überlieferung, die von den neuen Anforderungen an Stil (eigenen Stil, den Huizinga vermißt) in neue Be- gründungszusammenhänge gebracht wurden. So scheint die historische Pointe der Fest-Tematik im Umschlag einer repräsen- tativen Rhetorik, der Feste zur Machtdemonstration und Herrschafslegitimation dienen, in eine Rhetorik der Authentizität zu liegen, der das Feiern von Festen zu einem ausgezeichneten Modus von Erfahrung wird. Von dieser neuen Rhetorik des Fests rührt noch die Fest-Faszination der Teorien her, deren Fragmente ich hier – nicht ohne Unterstreichung des ihnen gemeinsamen geistesgeschichtlichen Nen- ners – zu einem Mosaik zusammenfüge. Noch der Strukturwandel der Öfentlichkeit, den Jürgen Habermas im beständigen Blick auf diese Konstellation verfaßt hat, kann sich dieser Faszination nicht entziehen und bleibt ihr in der Darstellung verpfichtet, einschließlich der Enttäuschung, die der Rückfall in repräsentativen Leerlauf für jede Idee eines »besseren Lebens« bedeuten muß.9 Daß hier eine neue Rhetorik die alte zu durchkreuzen bemüht ist, liegt auf der Hand. Für jede Rhetorik der Auflärung muß die barocke der Feste dunkel bleiben. Das Skandalon des Barock, die Faszination seiner Feste wie die Vordergründig- keit seiner Gesten, zieht Richard Alewyns glänzende Darstellung in ein prägnantes Bild zusammen (»Statt Motto«). Was darin erstmals wieder erkannt und verstanden wurde, ist die Gebärde der Vergeblichkeit, die in der Unmöglichkeit des Festhaltens den »Zauber« authentifziert, den zu vermitteln ihr anders untersagt ist. In der ge- treuen Nachzeichnung dieser Intention verhehlt der Verfasser nicht sein Interesse, die nicht mehr verstandene Geste seinerseits zu authentifzieren oder, genauerhin, am Scheitern sie als authentische zu beweisen. Denn dies Scheitern, den Zauber »zu vermitteln«, beweist im nachhinein, was von vorneherein nicht sicher ist beim Feiern von Festen: ihr Gelingen, das im Mißlingen der Beschreibung erst die Probe aufs Exempel erfährt. Im Gelingen, dies Mißlingen zu erkennen als das, was es ist, erstattet der Historiker der Geschichte eine Pointe zurück, die ihr entfallen war. Alewyn selbst ist sich durchaus im Unklaren, wieweit er der eigenen Faszina- tion folgen soll; je eindringlicher er den illusionären Charakter der Veranstaltung ›Fest‹ beschreibt, desto weniger verschlägt es, den Anteil an Selbsttäuschung der beteiligten Gewährsleute zu qualifzieren – wie es denn Sache jeder Rhetorik der Eigentlichkeit ist, sich mit der eigenen Geste zu identifzieren. So wird es nun Sache einer neuen Rhetorik, sich nicht nur in Festen in Szene zu setzen, sondern in der Selbstinszenierung zu authentifzieren. Jacob Burckhardt hat das im weiteren Kon- text seiner Cultur der Renaissance vorgezeichnet gesehen, sofern damals die »Ent- wicklung des Individuums« für das Fest bestimmend geworden sei: »der Sinn des entwickelten Individuums für Darstellung des Individuellen, d. h. die Fähigkeit, eine vollständige Maske zu erfnden, zu tragen und zu agiren«.10 Die Selbstdarstellung

9 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öfentlichkeit (Neuwied/Berlin: Luchterhand 1962 21965), 20. 10 Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien (1860), ed. Ludwig Geiger (Leipzig: Seemann 81901), II: 125 f. FEST/SCHRIFT 167 des Individuums, seine Fähigkeit zur Rollenfexibilität, das soll die neueste Quint- essenz der weltlichen Feste geworden sein. Anstelle einer alten, durch die Götter und ihre Riten begründeten Kollektivität wäre Individualität zu dem geworden, was Clemens Lugowski höchst pointiert das ›mythische Analogon‹ getauf hat.11 Die Efzienz dieses Ausdrucks bewährt sich auch an Burckhardts Darstellung. Denn der mythologische Horizont der Bezüge, in denen sich der ›moderne Ruhm‹ entfaltet, scheint nun für das Individuum zu leisten, was vordem den Göttern galt, und zwar bei analoger Funktion für eine neue Konstruktion gesellschaflicher Wirklichkeit. Burckhardts Beschreibung geht allerdings weiter, als es der Gemeinplatz von der gemeinschafsbildenden Funktion des Mythos tut. Die »Maske«, von der er spricht, ist nämlich noch nicht die der neuen Persönlichkeit, sondern die der alten Personifkation. Natürlich hält er sowenig davon wie sein Nachfahre Huizinga und ist an aufgeklärtem Witz kaum zu übertrefen, wenn er etwa die Festumzüge der Zeit in den Satz zusammenfaßt, »des mythologischen und allegorischen Herum- kutschirens« sei schier »kein Ende«. Daß man »sich bald bei jeder Feierlichkeit ans Fahren« gewöhnte, ist die eine, die Form der Öfentlichkeit prägende Sache; daß es sich um Personifkationen handelte, die da in Masken herumfahren, der poetische Kern dieser allegorischen Wendung nach außen, die in den Gewändern des Mythos das Individuum vollführt. Eigenartigerweise fndet man über diese poetische Form der Allegorie, die der neuen Persönlichkeit vorausgeht, die Personifkation, wenig mehr als das Unverständnis der Sekundärliteratur. Der Unbeschreiblichkeit der Fes- te kontrastiert ein Überdruß, die Abwehr ihrer Masken, das platteste Mißverständnis ihrer Personifkationen. Nichts könnte charakteristischer sein für die eingetretene Auflärung als die namenlose Faszination für vergangene Feste, deren leere Masken man desillusioniert zur Hand nimmt. Ich folge der Inszenierung Alewyns und ende den Umzug der Teoretiker des Fests, den ich nach ihren terminologischen Em- blemen durchgegangen bin, mit dem Ende des Fests im Rokoko, das am Rande der Auflärung stattfndet:

Ein letztes Mal stellt der bacchantische Zug sich her. Je weiter die Stunde vorrückt, desto heißer und hastiger wirbelt der Reigen, desto greller flackern die Lichter, desto lauter lärmen die Gäste, als lauerte im Dunkel schon die eisige Hand des Todes. Aber wenn im strahlendsten Fest jäh die Türen auffliegen, ist es nur der Bürger, der hereintritt und die Fackel löscht, weil vor den Fenstern ein fahler Morgen erwacht ist. (15)

II Personifikation

Der Bürger, der im Morgenlicht der Auflärung die Fackeln feudaler Feste löscht, wird andere Feste feiern. Klopstocks Ode von der Fahrt auf der Zürchersee hat ein solches Fest zum Gegenstand. Sie bezeugt, wenn man ihrer Rezeption in der For- schung trauen kann, nichts weniger als die Geburt des Erlebnisses aus der Stimmung des Fests. Denn das Erlebnis im emphatischen Sinne ist es, was man im Fest erwartet,

11 Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman (Berlin: Junker und Dünnhaupt 1932), 8 f. 168 Klopstock mit Milton bevor es – als individuelles – Feste vollends überfüssig macht. Die Bedeutung des 30. Juli 1750 jedenfalls liegt darin, daß er das Erlebnis der Freundschaf zum Inhalt eines Festes hatte. Dies Fest, wie es von Anfang an hieß, fand in freier Natur statt, und an- stelle mythologischer Masken traten Zürcher Bürger als sie selbst auf. Der Dichter war nicht der Inszenator des Fests, aber sein leibhafiger Anlaß. Zu feiern gab es sein Erscheinen vor den durch sein Dichten verbundenen Freunden. Die Ode, die diesem Ereignis galt, vertiefe in den Briefen, denen sie beilag, die Erinnerung der Freunde. Gemeinsame Erinnerung, die Gegenstand nachträglicher brieficher Ver- ständigung war, hätte »in der Ode nur gehobenen Ausdruck gefunden«, befand Fritz Brüggemann.12 Als Beweis kann er den Brief eines Teilnehmers der denkwürdigen Bootspartie zitieren, die ausführliche Schilderung, die Johann Kaspar Hirzel seinem Freund, dem Dichter Ewald von Kleist gegeben hat. Zusammen mit einem Brief Klopstocks gibt sie die Quelle ab für eine ganze Reihe prominenter Darstellungen. Unmittelbar nach dem denkwürdigen Ereignis verfaßt, verblüf Hirzels Brief durch den Aufschluß, den er zu geben vermag: durch eine Ähnlichkeit mit Klop- stocks Gedicht, für die man, wenn nicht seine Kenntnis, so doch die gemeinsame Entstehung annehmen möchte:

Unser neun Freunde entschlossen uns (beginnt Hirzel ohne Umschweife), Klopstock durch eine Lustschiffahrt die Schönheiten der Gegenden am Zürchersee und zugleich die Schönheit unsrer Mädchen kennen zu lehren. Jeder von uns verband sich, ein Mädchen auszusuchen, welches freundschaftlicher Empfindungen fähig wäre und die Schönheiten der Natur und des Geistes fühlte. Wir waren in der Auswahl glücklich. Die meisten hatten den Frühling mit Ihnen gefühlt (Kleists Frühling); einige kannten den Wert unsers teuersten Klopstock schon aus seinem göttlichen Gedichte (dem Messias). Die süße Harmonie achtzehn edler Seelen machte diesen Tag zu einem der glücklichs- ten unsers Lebens und wert, Ihnen beschrieben zu werden. Aber ehe ich die Geschichte dieses seligen Tages anfange, lassen Sie mich Ihnen von einer Anhöhe die Gegend zei- gen, wie wir auf unsrer Schiffahrt näher besehen sollten ...13

Wie im Gedicht ist zuerst von den »Schönheiten der Gegenden« die Rede, mit denen »zugleich die Schönheit unsrer Mädchen« zu erleben war: »ein froh Gesicht« (in der Ode) hieß auf dieser Fahrt »freundschaflicher Empfndungen fähig« (laut Brief); »noch einmal denken« (im Gedicht) war »die Schönheiten der Natur und des Geistes fühlen« (laut Brief); »fühlen« schließlich (in beiden) ein im refexiven Verhältnis von ›Denken‹ und ›Empfnden‹ entstehendes Spiegeln: die im frohen Gesicht der beigebrachten Weiblichkeit gespiegelte Natur bildete den Rahmen der enthusiastisch erlebten Freundschaf, die Klopstock besingt. Hier wie im folgenden durchgängig liefert Hirzel die Beschreibung eines Sachverhalts, die sich zu Klopstocks Ode wie

12 Fritz Brüggemann, Einleitung, Der Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren. Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Reihe Auflärung, 7 (Leipzig: Reclam 1935), 10 (als Datum dort fälschlich der 10. Juli). 13 Johann Kaspar Hirzel, »Brief über das Jugendfest auf dem Züricher See« (Zürich, 4. August 1750), Der Anbruch der Gefühlskultur, 134, 138; weitere Seitennachweise im Text (Erläute- rungen in Klammern von mir). FEST/SCHRIFT 169 die Intention zur Erfüllung verhält. In der Tat gibt sein Brief die Intention der Teil- nehmer wieder, wie sie in der Einladung ausgesprochen war, die Hirzels Freund Hartmann Rahn verfaßt und verschickt hatte.14 Hirzel fährt seinen Brief mit einem eigenen Gedicht fort, das er zur Einladung gedacht und mit einer ausführlichen Beschreibung der zu erwartenden Schönheiten der Gegend ausgestattet hatte; es ar- tikuliert vorab, was im frohen Gesicht der Teilnehmer seine gespiegelte Steigerung erfahren soll. Im Unterschied zur eigenen ›Schilderung‹ des Ereignisses, der Cha- rakteristik seiner Teilnehmer wie der Beschreibung der Gegend, heißt es von Klop- stock, er »rühmte die Schönheiten unsrer Gegenden und – oh, könnte ich Ihnen mein Kleist, diese Aussicht zeigen!« bricht Hirzel selbst an der geeigneten Stelle in einen jener Ausrufe aus, deren Ich-Du-Intention den Gang der Ode markiert. Er tut es indessen nicht des ›Rühmens‹ willen, sondern um eine Beschreibung des Erlebten an den Freund einzuschieben, nämlich:

vor uns die Wasserfläche (fährt er nach seinem Ausruf fort) mit dem Wechsel ihrer Far- ben und Schattierungen, dann die fruchtbaren Hügel, hinter denen des Albis schwarzer Rücken hervorragt, und das mit Dörfern und zerstreuten Häusern reich besetzte Ufer! – Doch schien unser Dichter weniger davon gerührt als von der Mannigfaltigkeit der menschlichen Charaktere, die sein Scharfblick auszuspähen vorfand. Da lernte ich ein- sehen, warum Klopstock die meisten Gleichnisse in seinem göttlichen Gedichte aus der Geisterwelt hernimmt. Nie sah ich jemand die Menschen aufmerksamer betrachten; er ging von einem zum andern, mehr die Mienen zu beobachten, als sich zu unterreden ...

Je eindrücklicher man die Schilderung dieses Briefs fndet, desto weiter wird man von dem Eindruck abrücken, es werde hier nur das beschrieben, was in der Ode »gehobenen Ausdruck« gefunden hätte. Nur in einem entgegengesetzten Sinne zur Intention derer, die ihn so äußern, wäre dieser Satz zu vertreten: man muß, mit anderen Worten, die Beschreibung Hirzels als literarische Gegendarstellung eigenen Gewichts lesen, die in bewußter Bezugnahme auf literarische Vorbilder sich abhebt von der odischen Intention des Rühmens. Keine gemeinsame Referenz auf die er- lebte Wirklichkeit also, sondern Konkurrenz literarischer Intentionen. Allerdings kommt der Eindruck nicht von ungefähr, der den Brief als willkommenen Kommen- tar zur Ode aufaßt, als authentische Beschreibung der Szene, auf die sie zu beziehen sei. Der Intention der Beschreibung von Landschaf – seit dem 18. Jahrhundert das Paradigma von Deskription schlechthin – läßt sich leichter folgen als der Intention des Rühmens, die sich der Landschaf als Vehikel eines Tenors bedient, der ohne sie nicht referentialisierbar wäre. Wer folglich den Brief als Kommentar zum Gedicht liest, folgt der Geste des Briefschreibers, der sich auf das Vehikel beschränkt. (So auch die spätere Verkürzung des Titels von der Fahrt, die das Fest war, auf das Lokal, in dem es stattfand: Der Zürcher See.) Das entspricht einer generellen hermeneutischen Tendenz, die Jonathan Culler pointiert kritisiert hat, der Neigung, die performative Seite von Lyrik ins Deskriptive

14 Hartmann Rahn, Zürich 27. (?) Juli 1750, F. G. Klopstock, Briefe I, ed. Horst Gronemeyer (Berlin/New York: De Gruyter 1979), 127–128 (Nr. 76), 378–380 (Anm.). Dort auch die im folgenden zitierten Briefe Klopstocks im Umkreis des Ereignisses. 170 Klopstock mit Milton zurückzunehmen und die Anrede der Ode, die als Gattungsmerkmal unbestritten ist, als rhetorisch intensivierten Modus von Beschreibung zu erklären.15 Diese Er- klärung, durch die sich auch Ausdrücke wie der vom »gehobenen Ausdruck« er- klären, bewiese ein womöglich unvermeidliches Unverständnis, ohne wenigstens dieses zu erklären. Hirzels eigener, unterstreichender Ausruf, »oh könnte ich Ihnen diese Aussicht zeigen«, ist ein gutes Beispiel: diese Aussicht ist nicht zu »zeigen« in der Beschreibung. Im Gegenteil setzt die Beschreibung voraus, daß der angeredete Kleist die Aussicht nicht hat, damit er sie umso besser lese. Als Indikatoren des in- vestierten Pathos wären Anreden deskriptiv umzuschreiben auf den beschriebenen Gegenstand: »Mutter Natur« etwa auf die heimatliche Landschaf (Hirzels Stolz), »Göttin Freude« auf die gehobene Stimmung (Klopstocks Gelehrsamkeit), usw. So- mit verlöre Klopstocks Gedicht durch Hirzels Brief, was seine Kommentatoren von ihm erhofen. Deskriptive Nähe rückte das in unendliche Ferne, was das Gedicht in seiner performativen Geste darzustellen versuchte: das Fest, das die Fahrt auf der Zürcher See war. Es erläge sozusagen einem performativen Selbstmißverständnis seiner Möglichkeiten. Nun hat Alewyn mit guten Gründen den Zusammenhang von briefichem und odischem Du hervorgehoben, aus dem heraus der performative Charakter von Klop- stocks Lyrik sich erkläre.16 Man könnte mithin (was Alewyn fern lag) im lyrischen Ich und odischen Du die Diskursinstanzen refektiert sehen, an denen Benveniste zufolge Subjektivität als sprachliche Rolle und Intersubjektivität als grammatisches Muster hängen.17 Tatsächlich liegen ältere Versuche, an die Alewyn anknüpf, etwa: »die Gestalt der Klopstockschen Ode bis in die Einzelheiten ihrer sprachlich for- malen Eigenart« aus der »neuen Erlebnisform der Freundschaf« abzuleiten, ganz auf dieser Linie.18 Das ›Sprachspiel‹ der Briefe indessen, in das sie eingelassen sind, kann nur als grammatische Substruktur gelten, aus der sich rhetorisch ihre Poetik löst. Insofern bezeichnet die im Sprachspiel der Briefe grammatisch begründete Sub- jektivität und Intersubjektivität das ›individuelle Allgemeine‹, das Burckhardt im Maskenspiel weltlicher Feste ausgebildet sieht. Durch das Spiel mit der persona übt sich die Persönlichkeit. Indem Klopstocks Oden diese Soziabilität refektieren, gehen sie jedoch nicht auf im Efekt, den ›Tematisierung‹ für den ›refexiven Mechanis- mus‹ der Briefe im Prozeß der Modernisierung hat.19 (Auf diesen Gemeinplatz der

15 Jonathan Culler, »Apostrophe« (1977), Te Pursuit of Signs (Ithaca NY: Cornell University Press 1981), 135–154. Vgl. schon die ähnlich gelagerte Replik von Friedrich Beissner, Der Zürchersee. Ein Vortrag (Münster/Köln: Aschendorf 1952), 18 f. auf Emil Staigers Kunst der Interpretation, »Zu Klopstocks Ode Der Zürchersee«, zuerst in der Heidegger-Fest- schrif Martin Heideggers Einguß auf die Wissenschafen (Bern: Francke 1949), 145–164: 157 f. 16 Richard Alewyn, »Klopstocks Leser«, Festschrif für Rainer Gruenter (Heidelberg: Winter 1978), 100–121: 115. 17 Emil Benveniste, »La nature des pronoms« (1956) und »De la subjectivité dans le langage« (1958), Problèmes de linguistique générale I–II (Paris: Minuit 1966), I: 252 f. 18 Ernst Kaußmann, Der Stil der Oden Klopstocks (Diss. Leipzig 1931), 8 f.; sowie Wolfgang Rasch, Freundschafskult und Freundschafsdichtung im deutschen Schriftum des 18. Jahr- hunderts (Halle: Niemeyer 1936), 242. 19 Anselm Haverkamp, »Illusion und Empathie«, Erzählforschung (DFG-Symposien IV), ed. Eberhard Lämmert (Stuttgart: Metzler 1983), 243–268: 251 f., 254 f. FEST/SCHRIFT 171

Modernisierungstheorien komme ich im einzelnen zurück.) Das gilt doppelt für den Fall des Fests, dessen Diferenz an der perfomativen Struktur der Ode vom Zürcher See abzulesen ist. Anders als in anderen Oden Klopstocks, in denen briefiche Anrede und odische Apostrophe aufeinander abgebildet sind (An Fanny; An Meta; An Herrn Ebert; An Herrn Gleim; oder – in der Widmungsode zum Zürchersee – An Bodmer), handelt es sich bei den in dieser Ode Adressierten samt und sonders um Personifkationen. Das fällt doppelt auf, als die sonst mit Anreden bedachten Freunde auch in diesem Gedicht namentlich vorkommen. Personifkationen sind in der Klopstockforschung nicht beliebt, fallen sie doch unter die »allegorischen Reste«, an denen ältere Autoren barocke Züge erkennen wollten. Nicht ganz zu Unrecht, wie der Fall der Zürcher »Lustschifahrt« erhellt. Immerhin wurde auch bei diesem Fest gefahren, freilich in einem ganz unallegorischen Schif. Kein allegorischer Umzug fand statt, sondern das Publikum selbst ging auf Fahrt und schaute im Fahren auf die festlich ausgebreitete Natur. Nicht ohne Stationen zu machen, die Hirzel in seiner Beschreibung des »se- ligen Tages« beziehungsreich zu schildern weiß. Damit ist ein Rahmen gegeben, in dem Personifkationen die letzten fguralen Bestandteile sind. Allerdings scheinen sie nicht von »allegorischer Entseelung« im Sinne Benjamins zu zeugen.20 Es scheint im Gegenteil alles auf beseelende Vergeistigung zu deuten, wie sie Schiller mit scharfem Blick diagnostiziert hat: »Seine Sphäre«, so schreibt er über Klopstock, »ist immer das Ideenreich, und ins Unendliche weiß er alles, was er bearbeitet, hinüberzuführen«. Es fragt sich freilich, wie hier die Ideen von Natur, Freude, Liebe und Tugend ins Unendliche weisen können. Denn sowenig sie in der rhetorischen Intensivierung endlicher Stimmungsträger aufgehen, so sehr verkörpern sie doch als Personifkationen das Ideenreich, in das sie hinüberführen sollen, im Hier-und-Jetzt des Fests. So kehrt sich mindestens an dieser Stelle um, was Schiller im nächsten Satz befndet, nämlich »er ziehe allem, was er behandelt, den Körper aus, um es zu Geist zu machen, so wie andere Dichter alles geistige mit einem Körper bekleiden«.21 Damit war zweifellos und in erster Linie die alte, allegorische Personifkation gemeint, die im buchstäblichsten Sinne im Festzug verkörperte, was an Geist der Seele entbehrte (Benjamin ist hier nicht widerlegt). Nächst »Mutter Natur« ist die »Göttin Freude«, in deren Gefolge Klopstock den »fröhlichen Lenz«, die »Liebe« und »die fromme Tugend, dich auch« (also in iro- nischer Einschränkung), sieht, die exemplarische Personifkation, nach dem antiken Muster des Hesiod gebaut. Vor Hagedorn hat man sie, die sich nach Hagedorn, von Uz bis Schiller in die vordersten Ränge der Menschlichkeits-Allegorien vorgear- beitet hatte, nicht nachweisen können.22 In seiner Ode An die Freude, in der sie in anderer Verwandtschaf, als »muntre Schwester süßer Liebe« fguriert, personifziert

20 Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels« (1928), Gesammelte Schrifen I (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 362 f. 21 Friedrich Schiller, »Über naive und sentimentalische Dichtung« (1795/96), Schillers Werke 20–21 (Nationalausgabe), ed. Liselotte Blumenthal und Benno von Wiese (Weimar: Böhlau 1962–63), 457. 22 Franz Schultz, »Die Göttin Freude«, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifs (1926), 3–38: 5 f. 172 Klopstock mit Milton die neue Göttin den Enthusiasmus Shafesburys, den Hagedorn aus England mit- brachte und Klopstock dem »Lenz« als »seiner Begeisterung Hauch« zuschreibt. In Klopstocks Ode endet Hagedorn die Klimax der gemeinsamen Lektüren Haller, Kleist, Gleim. Der Enthusiasmus, den Hagedorn in der Göttin Freude auf seinen en- thusiastischen Nenner bringt, fungiert als Bindemittel, das die Freunde in die Stim- mung freudiger Kommunikativität bringt. Passenderweise hat Shafesbury selbst in Brieform darüber gehandelt in einem Letter Concerning Enthusiasm, der gleich mit der beiläufgen Ankündigung seines Inhalts als einer »sort of idle thoughts, such as pretend only to amusements«, derartige moderne Prätentionen mit dem alten »Air of Enthusiasm« in Vergleich setzt, das den Brauch des Musenanrufs auszeichne.23 Die Horaz’sche Maxime, die auch Klopstock gerne gebraucht, »to be able to move others, we must frst be moved our-selves, or at least seem to be so«, versagt vor den antiken Göttern, denn deren Anruf lasse sich von Modernen nicht einmal mehr plausibel prätendieren; der antike Dichter »might with probability feign an Extasy, tho he really felt none: and supposing it to have been mere Afectation, it wou’d look however like something natural, and cou’d not fail of pleasing«. »Mutter Natur«, »fröhlicher Lenz« und »Göttin Freude« repräsentieren diesen verlorenen Zusammenhang der Natürlichkeit, den Klopstock nach Hagedorn wie- derherzustellen sucht und zum Gegenstand der Anrede an der Stelle der alten Götter macht. Nach Hagedorn heißt hier, »wie Hagedorn« singend und empfndend die Stimmung begeisterter Freundschaf zur Muse zu erheben und anstelle der alten Muse sie als deren moderne ›Metapher‹ zu prätendieren. Klopstock zitiert diese Fik- tion, die mit dem Namen Hagedorns verknüpf ist; indem er sie nur zitiert, refek- tiert er in der grammatischen Instanz der Anrede den metaphorischen Prozeß der Umbesetzung, in dem die neuen Musen als heuristische Fiktionen die alten Musen und Götter ablösen. »Dazu genügt(e) es nicht«, wie Luhmann ausführt, »die Prä- missen der Erlebnisverarbeitung als Begrife oder Ideen zu thematisieren und zu katagorisieren«. Vielmehr: »Auf sich selbst richtet sich das Erleben nur, wenn es seine Prämissen in ihrer Funktion als Struktur des Prozesses erlebt, wenn es also miterlebt, wie und wozu sie dienen«.24 Damit sind wir beim Funktionieren der Per- sonifkationen auf dem Zürcher See. Luhmanns Nachsatz »wenn es also miterlebt« impliziert, im »also« seiner natür- lichen Emphase kaum gemildert, das Fest als mythisches Analogon. Wie die Kon- dition des »wenn« zu denken ist, scheint »also« klar. Als Postulat ist sie das auch. Es bleibt aber die ofene Unterstellung zu klären, wie Struktur im Funktionieren mit- zuerleben ist. Denn das war der Gemeinplatz funktionalistischer Mythenforschung seit Malinowski, daß Struktur Erleben »entlaste«, wie Gehlen später generalisierte, und dies Funktionieren im Mythos erzählbar wird.25 Die Tematisierung der tra-

23 Antony Ashley Cooper, Tird Earl of Shafesbury, »A Letter Concerning Enthusiasm« (1707), Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1711, 1714, 1723), Standard Edi- tion der Sämmtlichen Werke I,4 (Stuttgart: Frommann-Holzbog 1981), 310. 24 Niklas Luhmann, »Selbst-Tematisierung des Gesellschafssystems« (1973), Soziologische Auflärung II (Opladen: Westdeutscher Verlag 1975), 75. 25 Rainer Warning, Funktion und Struktur: Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels (München: Fink 1974), 21 f. FEST/SCHRIFT 173 genden Begrife und Ideen genügt hier ofenbar nicht. Personifkationen sind aus demselben Grund als leere Abstraktionen verschrien. Was darin abstrakt benannt und erst in der mythischen Erzählung mit Funktion gefüllt werden kann, ist im Fest, das sich dieser Allegorien in actu versichert, zu erleben: mit zu erleben, genau- er; denn das ist die Unterstellung, daß im Erleben moderner, selbst-thematisierter Gesellschafen nicht mehr unmittelbar zu erleben, sondern allenfalls mitzuerleben ist, was im Mythos (immerhin) miterzählt war, das Funktionieren der Struktur. Das Fest als modernes, schließe ich tentativ, wäre darin ein Analogon von mythischer Qualität, daß es, was dort zu erleben war, nurmehr mitzuerleben erlaubte: nurmehr, weil an die Stelle des Erlebens, das barocke Feste in zunehmender Hektik noch ein- zufangen versuchten, die refexive Form des Miterlebens getreten war. Doch damit greife ich vor. Der Vorgrif verdankt sich nicht bloß Klopstocks Ode, der soweit kaum Gerech- tigkeit widerfahren ist, sondern dem Earl of Shafesbury, dessen Bewußtsein vom Phänomen der Personifkation, wie das des englischen 18. Jahrhunderts überhaupt, kaum übertrofen worden ist.26 Über Personifkation, so muß man zugeben, fnden sich in neueren Zeiten, ungeachtet des Bemühens von Benjamin um die Zeichen- schrif der ›Vergängnis‹, nichts als Denunziationen ihres abgeschmackten Cha- rakters. Diese späten Vorurteile, Abwehrgesten einer aufgeklärteren Epoche, sind bekannt; sie fußten indes schon im Geist der Schulrhetorik, für die Personifkatio- nen übertriebene Mittel bzw. die überzogene Anwendung dessen waren, was sie prosopopeia nannte: eine allenfalls poetisch zu rechtfertigende Verlebendigungs- strategie. Als allegorisch waren Personifkationen aufzufassen, weil sie Metaphern der »Versinnlichung« und, wie Lausberg sagt, der »lebendigen Vereindringlichung« zur totalen fctio personae fortführen.27 Die grammatisch avancierteste Defnition dieses Sachverhalts stammt von Morton Bloomfeld: »Personifcation allegory com- bines the nonmetaphoric subject with metaphoric predicate and yokes together the concrete and the metaphoric in the presentation of generality«.28 Sie trif sich mit Hegels Verdikt, nach dem die personifzierende Allegorie »die Abstraktion einer all- gemeinen Vorstellung (bleibt), welche nur die leere Form der Subjektivität erhält und gleichsam nur ein grammatisches Subjekt zu nennen ist«.29 Wie zuvor Benve- niste, so läßt sich nun genauerhin Hegel zitieren für die Tematisierungsleistung, die Klopstocks Ode, wie für die odische Apostrophe, so für die allegorische Per- sonifkation vollbringt. Was in ihr personifziert ist, wäre die Diskursinstanz der odi- schen Anrede selbst, die in den apostrophierten Personifkationen ihre Allegorien hätte. Mit dieser Selbstrefexivität könnte man sich zufrieden geben, wäre es mit der Selbstfeier des poetischen Vehikels wirklich getan. Daß es das nicht ist, legt das Fest nah, dessen Feier in solcher Selbstfeier vor vollendete Tatsachen gestellt wäre.

26 Earl R. Wasserman, »Te Inherent Values of 18th Century Personifcation«, Publications of the Modern Language Association 65 (1950), 435–463. 27 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik I–II (München: Hueber 1960), I: 287, 411 f. (§§ 559c und 826–29). 28 Morton W. Bloomfeld, »A Grammatical Approach to Personifcation Allegory (1963), Essays and Explorations (Cambridge MA: Harvard University Press 1970), 256. 29 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, ed. Friedrich Bassenge I–II (Berlin: Aufau 1955, 21968), I: 386 f. 174 Klopstock mit Milton

Was die rhetorische Analyse, bestärkt von Linguistik und Universalpragmatik, unterschlägt, ist die in der Leerform der Diskursinstanzen aufgerufene Performanz, die wiederzubeleben Shafesbury zur modernen Illusion erklärt hat. Entsprechend handelte es sich bei der Subsumption der sogenannten Personifkation unter die Prosopopoiia um eine späte Maßnahme aufgeklärter Rhetorik, mit einem mythi- schen Phänomen zurecht zu kommen. Allein Karl Reinhardt hat diesen Unterschied erkannt, der sich dann nach Reinhardt bei Paul de Man bearbeitet fndet.30 Beide folgen Anregungen, die sie Nietzsches Geburt der Tragödie und »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« verdanken.31 Reinhardt spricht von der Per- sonifkation als der »Erfndung einer Zeit, die den Zusammenhang mit Sinn und Ursprung dessen, was es zu erklären galt, verloren hatte«; einer terminologischen Bereinigung, die durch die humanistische Übersetzung von prosopopeia mit ›Per- sonifkation‹ besiegelt wurde. Folgt man Reinhardts durchgehender Einsicht, daß die Personifkation »im eigentlichen Sinne nicht am Anfang, sondern am Ende« stehe (22), wird die allegorische Personifkation der Rhetorikbücher zu einem Unding »im eigentlichen Sinne«. Der angemessene terminus technicus dafür ist aber die Kata- chrese oder ›tote Metapher‹, abusio der Mittel der Prosopopoiia in diesem Fall. Die Personifkation, die besser ›Deifkation‹ geheißen hätte, impliziert den Verlust der Götter, die sie darstellen soll: »Man sah in den Göttern des Teaters statt der Götter nur noch deren Masken, prosopa, ›Personen‹« (9). Wenn diese Konsequenz, die ich Reinhardt mit Blick auf de Man entnehme, richtig ist, daß nämlich die Personifkation sich zur Prosopopoiia verhält wie die Katachrese zur Metapher, so erhellt sich daraus nicht nur das neuere Vorurteil ge- gen Personifkationen als leere Abstraktionen, sondern es stellt sich als spezifsch romantisches heraus.32 Denn das ist der Kern dessen, was de Man als Te Rhetoric of Romanticism beschreibt, daß Lyrik, als »the instance of represented voice«, die rhetorische prosopopeia verkörpert, indem sie sie, »in the etymology of the trope’s name, prosopon poiein, to confer a mask or a face (prosopon)«, literaliter mani- festiert.33 Was indessen den ›Anthropomorphismus‹, zu dem die romantische Pro- sopopoiia tendiert, von der Personifkation unterscheidet, ist der gegenteilige Efekt: »the illusionary resuscitation of the natural breath of language, frozen into stone by the semantic power of the trope« (247). In Termini der metapherntheoretischen Analogie dieses Sachverhalts handelt es sich bei der Prosopopoiia des romantischen Gedichts um die illusorische Wiederbelebung einer Metapher, bei der Personifkati- on aber um das Gegenteil, die ofenkundig tote Metapher.

30 Karl Reinhardt, »Personifkation und Allegorie« (1939), Vermächtnis der Antike (Göttin- gen: Vandenhoeck und Ruprecht 1960, 21966), 8. 31 Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979), 115 f. (Kapitel »Rhetoric of Tropes«). 32 Cynthia Chase, »Giving a Face to a Name: De Man’s Figures«, Decomposing Figures: Rhe- torical Readings in the Romantic Tradition (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1986), 88 f. 33 Paul de Man, insbesondere in den beiden späten Aufsätzen »Anthropomorphism and Trope in the Lyric« und »Autobiography as De-Facement« (1979), Te Rhetoric of Romanticism, New York NY: Columbia University Press 1984), 261 und 76. FEST/SCHRIFT 175

Allerdings ist die Wiederbelebung illusorisch, wie die Ausdehnung der Proso- popoiia auf die Toten, die Verleihung von Sprache an Tote zeigt. Die fktive Un- terstellung einer Stimme impliziert angesichts des Todes eine doppelte Ironie: in der fctio personae rhetorische illusio, in der Refexion der poetischen Mittel aber die Unzulänglichkeit aller Rhetorik. Die poetische Apostrophe bleibt eine rheto- rische Geste ohne Antwort. In der Unzulänglichkeit dieser Geste erstreckt sich die metapherntheoretische Analogie von Katachrese und Personifkation auch auf die Prosopopoiia, verbindet beide, Personifkation und Prosopopoiia, jene Melancholie, von der Shafesbury spricht: »Tere is a melancholy which accompanies all enthu- siasm«. Die performative Intention der Apostrophe, die sich in der Melancholie vor dieselben vollendeten Tatsachen gestellt sieht, folgt in beiden Fällen gleichwohl einer unterschiedlichen ›Rhetorik of Temporality‹: in der Personifkation einer allegorisch vollendeten, zitierbaren Intention, in der Prosopopoiia einer ironisch unvollendeten, unendlich aufgeschobenen Intention.34 Klopstocks erste Strophe ist in dieser Hinsicht an Prägnanz nicht zu übertrefen. Die Apostrophe fungiert hier als ›marker‹ eines Zitats, einer Inszenierung genauer, die im konventionellen Gewand der Ode als Personifkation aufruf, was als Person nicht aufritt.35 Es ist die Personifkation einer immer schon toten Metapher, um deren Wiederbelebung es der Anrede nicht gehen kann. Culler hat Recht, wenn er insistiert, »in defning this ultimate Tou as the true auditor the critic reduces the strangeness of apostrophe« (140); denn »Mutter Natur« ist hier nicht gemeint als sie selbst. Ihre Anrede inszeniert in der fremden Rede alter Riten, was sich diesen nicht mehr verdankt, sondern der Begeisterung des Fests. Im Gegenteil ist das allegorische Substrat dieser Personifkation, ihrer »Erfndung Pracht«, als »Gedanke« ihrer »Schöpfung« (theologisch gewagt zwischen genetivus subjectivus und objectivus oszillierend) abhängig von der Begeisterung (»Freude«), die »noch einmal denkt«, was in der Personifkation von alters gedacht war. Zu voller Größe indessen kommt dieser Gedanke im »frohen Gesicht«, das – ganz es selbst – dieser Schöpfung nicht mehr aufgesetzt zu werden braucht, da diese in ihm noch einmal gedacht erscheint. Der Akzent muß auf »erscheint« liegen, denn ›Denken‹ ist hier nicht nur Metapher für ›Empfnden‹, sondern für das Erscheinen dieser Empfn- dung, so wie die Personifkation natürlicher Mächte Metapher für die Erscheinung großer Gedanken gewesen sein soll. Das Gesicht aber, in dem diese Metaphorik kulminiert, ist nun der wahre Schauplatz dieser Erscheinung: kein apotropäisches Feiern, dem die Maske notwendig ›mimetisches‹ Mittel gegenüber einer feind- lichen Natur war, sondern überlegenes Fest, das die alte Maske mitführt als Zitat

34 Vgl. meine Skizze »Allegorie, Ironie und Wiederholung«, Poetik und Hermeneutik IX (1981), 561–565: 562 f., die de Mans »Rhetoric of Temporality« (1969) weiterschreibt (jetzt im Anhang von Blindness and Insight, Minneapolis MN 21981). 35 Michael Rifaterre, in dem Paul de Man gewidmeten Artikel »Prosopopeia«, Yale French Studies 69 (1985), 107–123: 111, wo de Mans Rezension »Hypogram and Inscription« (1981), Te Resistance to Teory (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1986), 45 f. beantwortet wird. Siehe dazu Jonathan Culler, »Changes in the Study of the Lyric«, , ed. C. Hosek und Patricia Parker (Ithaca NY: Cornell University Press 1985), 38–54: 50 f. 176 Klopstock mit Milton des Gedankens, an dem sich die Schönheit einer freundlichen Natur in wirklichen Gesichtern steigern läßt.36 Klopstocks Ode produziert, so könnte man sagen, nur »ein sekundäres Mytholo- gem«, wie Walter Killy betont, »ein modernes, nur scheinbar mit dem archaischen verwandt«; und es trif deshalb für Klopstocks Beiziehung von Personifkationen zu, daß sie »eine Weise poetischen Verstehens, nicht die Erfahrung unmittelbar ver- gegenwärtigt«.37 Aber diese Vergegenwärtigung ist von Melancholie überschattet, der Melancholie nicht so sehr »that understanding is an illusion«, wie Cynthia Chase richtigstellt, sondern »the predicament inherent in the fact that understanding takes place fguratively« (89). Also nicht die vordergründige Einsicht, die man der De- konstruktion gern unterstellt, »if face is given by an act of language (prosopopoeia) it is ›only‹ a fgure« (85), sondern die »logische Verlegenheit«, von der Blumenbergs Metaphorologie spricht, »the logical difculty inherent in the deictic or demons- trative function of language« ist gemeint.38 Die Figur der Personifkation läßt sich für die Evidenz des Fests nur zitieren, als Zitat im Gedicht auch auf Dauer stellen; was darin vergegenwärtigt ist allerdings, ist eine vergangene Weise der Vergegen- wärtigung anstelle dessen, was unmittelbar nicht mehr zu vergegenwärtigen war. Die Melancholie Shafesburys, die Klopstocks »Göttin Freude« als Hagedorn-Zitat fortschreibt, läßt sich an Radikalität nicht der Trauer Hölderlins an die Seite stellen, die schließlich Mnemosyne selbst, die Mutter der Musen und Personifkation vor allen Personifkationen beim Wort nimmt und als totgeweihte besingt. Dem ging im Gedicht Andenken die Frage voraus »Wo aber sind die Freunde?« Die unbeantworte- te Frage nach den verlorenen »Gefährten« Bellarmins (im Hyperion) überlagert die »Feiertage« am fremden Ort (»Die braunen Frauen daselbst« im selben Gedicht).39 Die Fahrt auf dem Zürcher See vereinte anwesende Freunde und schloß abwe- sende ein. Die hypothetische Anrede der Abwesenden ist dem einenden »wir« der ehedem Anwesenden in der erinnernden Perspektive des Gedichts leicht verträg- lich zu machen. In der Tat endet Klopstocks Ode mit einem »frommen Wunsch«, dessen allegorische Frömmigkeit allerdings nichts als unfromme Melancholie zum Inhalt hat. Denn die Anrufung der abwesenden Freunde, »Möchtet ihr auch hier sein, die ihr mich ferne liebt«, liegt in der abgeschlossenen Vergangenheit und grenzt

36 Vgl. – in Relation zu Gehlens Urmensch und Spätkultur – Teodor W. Adornos Ästhetische Teorie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, 21972), s. v. »Mimesis« und »Rationalität«. 37 Walter Killy, Elemente der Lyrik (München: Beck 1972), 102 (Kapitel »Allegorie sowie Per- sonifkation«). 38 Paul de Man, »Sign and Symbol in Hegel’s Aesthetics«, Critical Inquiry 8 (1982), 761–775: 768 (Chase, »Giving a Face to a Name«, 89). Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Meta- phorologie (Bonn: Bouvier 1960), Einleitung. 39 Die exemplarische Rolle Hölderlins habe ich am Beispiel der Mnemosyne beim vorherge- henden Kolloquium der Poetik und Hermeneutik XIII (1988) behandelt: »Kryptische Sub- jektivität: Archäologie des Lyrisch-Individuellen«; die rhetorische Seite ausführlich in der Paul de Man gewidmeten Fassung diskutiert: »Error in Mourning: A Crux in Hölderlin«, Yale French Studies 69 (1985), 238–253, beides jetzt Kapitel in Laub voll Trauer: Hölderlins späte Allegorie (München: Fink 1991). Für den Gesichtspunkt der im Fest überwundenen Trauer sind Freuds Ausführungen in Totem und Tabu wegweisend (1912), Freud-Studien- ausgabe IX (Frankfurt a. M.: Fischer 1974), 425, wo die »Einsicht in das Wesen des Festes (...) ohne jede Mühe« sich einstellt. FEST/SCHRIFT 177 in der rhetorischen Geste des Ausrufs an eine rhetorische Frage, die Unerfüllbarkeit bedeutet. Der Wunsch nach ewiger Anwesenheit

O! so wollten wir hier Hütten der Freundschaft bau’n! Ewig wohnten wir hier, ewig! ist Irrealis: »wir nennten dann/ Jenen Schattenwald, Tempe ...« Der Text läßt es auf den neutestamentlichen Kontext nicht ankommen, sondern begnügt sich mit der Erinnerung diesseitiger und jenseitiger Lustorte, die den Zürcher See in irrealer Ver- klärung zeigt. Kommentatoren wie Heinrich Düntzer, dessen durchgehende »Er- läuterungen« unter der Überschrif »Der Zürchersee« eine Collage auf der Grund- lage von Hirzels und Klopstocks Briefen herstellen, müssen in ihrem Interesse am wirklich Geschehenen diesen Zug des Gedichts abwehren. Das geschieht vorzüglich im Bewußtsein besseren Wissens, das ein Mißverständnis aufdeckt; indem es dies abwehrt, aber doch unterstreicht: »Der fromme Wunsch«, so befndet Düntzer, sei »ganz eigentlich zu verstehn, nicht als vergeblich zu fassen« (seine Hervorhebun- gen).40 Der Wunsch, diesen Wunsch gegen die oblique Intention des Gedichts zu fassen, läuf auch der Intention der Briefe zuwider, Hirzels wie Klopstocks, die nach den in ihnen enthaltenen Detailinformationen zerlegt werden. Das Interesse daran, wie es gewesen war auf dem Zürcher See, sucht eine Distanz zu überwinden, die Klopstock selbst, aber auch Hirzel zeigt. Hirzels Brief, der an der Distanz des Dichters keinen Zweifel läßt, nicht ohne die eigene zu beweisen und den in ungerührter Menschenbeobachtung vertiefen Klopstock seinerseits als Beobachteten zu zeigen, setzt Ironie gegen die ofenbare Melancholie des Gedichts.41 Die Distanz der Beschreibung ist in einem Distanz ge- genüber dem Gedichteten: selbstironisch, wo er der geselligen Veranstaltung nicht mehr folgen kann, ironisch gegenüber dem Enthusiasmus der Freunde und Klop- stocks ambivalentem Verhalten. Beim Spaziergang auf der Au kann Hirzel nicht mit- halten: »die brennende Sonnenhitze gab mir ein Gefühl höheren Alters; ich suchte meinen R(ahn), dem Klopstock sein Mädchen genommen hatte. Der half mir den Alten machen ...« (143). Man sieht die Grenzen bürgerlichen Feierns. Doch die sind Hirzels Probleme und seinesgleichen, nicht die des Dichters, der daraus allenfalls das Vergnügen des enfant terrible zieht. Etwa: Nachdem er unter Obstbäumen Stel- len aus dem Messias zum Besten gegeben, insbesondere die Liebesgeschichte von Lazarus und Cidli gelesen hat, ist man einigermaßen verunsichert ob der ofenbaren Zweideutigkeiten des »göttlichen Gedichtes«:

Man wagte nicht, über jene himmlische Liebe zu sprechen, bis einer von der Gesellschaft das Stillschweigen mit der gelehrten Anmerkung unterbrach, nirgends hätte er noch die platonische Liebe so prächtig geschildert gesehen. Klopstock, der die wahre Liebe,

40 Heinrich Düntzer, Klopstocks Oden (Erläuterungen zu den deutschen Klassikern, 5. Abt.), 6 Hefe (Wenigen-Jena: Hochhausen 1860–61), Hef 2: 4–15 (Nr. 17): 14 f. 41 Vgl. zum ›Beobachterparadox‹ à la Labov die Stellensammlung bei Burckhardt Garbe, »Klopstocks vorschläge zur rechtschreibereform«, Text und Kritik, Sonderhef Friedrich Gottlieb Klopstock (München: Edition Text+Kritik 1981), 45–58: 48. 178 Klopstock mit Milton

die Tochter der Natur, allzugut kennt, verwarf diesen Beifall und versicherte, daß er hier ganz eigentlich die zärtlichste Liebe im Auge gehabt habe, die ungleich höher wäre als die platonische Freundschaft; Lazarus liebte seine Cidli ganz und gar. – Wir stimmten ihm aus vollem Herzen bei, und Plato war nicht unser Mann (140).

»Die Melancholie wird durch die Ironie geheilt«.42 Nach dieser Formel, die für das Rückzugsgefecht der Allegorie bis hin zur romantischen Ironie gilt, wäre Hirzels Brief in der Ironie der Melancholie des Gedichts überlegen, dessen Schluß auf die- sem Umweg eine vom Autor selbst erleichterte Lesart erfährt:

Mich befiel eine Traurigkeit über das Hinschwinden dieses Tages (nimmt Hirzel einmal mehr die vordergründige Artikulation der allgemeinen Stimmung auf die eigene Kappe). Ach, rief ich, ach, daß wir so der Ewigkeit zufahren könnten! – Klopstock fand diesen Wunsch zu ausschweifend, wünschte sich für einmal nur eine Ewigkeit von vier Tagen und forderte meine Doris auf, noch einmal Hallers Doris zu singen ... (144)

Es fällt auf, daß Hirzels Ironie durch Klopstock allemal autorisiert ist, wenn nicht durch sein Verhalten motiviert wird. Die lebensweltliche Ironie, die den Autor und seine Freunde Distanz nehmen läßt zum Enthusiasmus des Fests, scheint eine nach- trägliche Reaktionsbildung, die anders als die Melancholie, auf die sie reagiert, ins Gedicht keinen Eingang gefunden hat. Dessen Ironie ist eine andere, die ihrerseits in Hirzels Brief spurlos geblieben ist. Klopstocks eigene Distanznahme am Ende des Fests, die Hirzel beifällig überliefert, zeigt bürgerliche Vernunf, die, Sphären- mischungen abhold, eine ökonomische Trennung von Alltag und Fest bevorzugt. »Man muß die Feste feiern, wie sie fallen«, hat hier eine diskursökonomische Pointe (deren historischer Ort sich im 19. Jahrhundert auch belegen läßt).43 So folgt in Hirzels Bericht auf Klopstocks ironische Distanzierung die un-ironische Rückkehr zum Fest: er (Klopstock) »forderte (Hirzels) Doris auf, noch einmal Hallers Doris zu singen; sie sang, Hallers Gedanken verloren nichts von ihrer Stärke«. Bürgerliche Ironie läßt dem Fest, was des Fests ist, und kehrt in den Alltag zurück, wenn es an der Zeit ist. Anders als der Brief, der diesen Übergang besonnen befördert, macht das Gedicht einen nicht zu überbrückenden Unterschied. Es ergänzt das Fest in der Er- innerung der Briefe, aber es teilt den Alltag nicht, aus dem heraus diese Erinnerung sich speist. Daß es nachträglich für das Fest stehen könnte, wie es gewesen ist, be- zweifeln selbst die Briefe, die es doch im Nachhinein durch das zu erklären wissen, was sie erinnern.

42 Jean Starobinski, »Ironie und Melancholie«, Der Monat 18 (1966), 22–35: 32. 43 Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten I–IV (Freiburg: Herder 1973, 21979), I: 268 (Berliner Lokalposse »Graupenmüller« von Herman Salingré 1870). Zer- würfnisse warteten, absehbar zwischen Klopstock und Bodmer, wie unter vielen ein Brief von Johann Georg Sulzer an Gleim am 25. Februar 1751 anläßlich eines Aufenthaltes in Zü- rich bei Bodmer in seiner Gerüchtefreundigkeit exemplarisch bezeugt: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims literarischem Nachlasse, ed. Wilhelm Körte (Zürich: Geßner 1804), 152 f. FEST/SCHRIFT 179

III Supplement

Die Ironie des Texts, die im Text dessen Diferenz zu dem Fest markiert, das die Fahrt auf dem Zürcher See wirklich war, ist die des Supplements, wie Derrida sagt, das »auf halbem Weg zwischen totaler Absenz und totaler Präsenz« verharrt.44 Auf halbem Weg, sofern es von außen hinzutritt zum Ereignis, es ergänzt, überfutet, um schließlich an seine Stelle zu treten: es unbeschreiblich zu machen in ›Schrif‹, die durch ihre Diferenz zum Fest das Fest zu dem macht, was es zu älteren Zeiten, festgeschrieben im Kalender, gewesen sein mag. Das Gedicht spricht dem Fest eine »Überfülle an Präsenz« zu, die zwischen dem Ereignis und seiner verblassenden Erinnerung ihren Ort hat und die keine (dialektische) Vermittlung zuläßt zwischen der Präsenz, die es behauptet, und der Absenz, die es voraussetzt.45 Das heißt: nach- träglich als Voraussetzung unterstellt: das ist die Ironie, von der ich hier handeln will, und zwar an dem Punkt, an dem Quintilian Cicero anführt; »illusionem vocant« (8.6.54) – Täuschung kommt ins Spiel, die als rhetorischer Efekt die Poetik befügelt. »Der Zweck der Darstellung ist Täuschung«, bemerkt Klopstock in seiner Grund- satzerklärung »Von der Darstellung«; genauer noch, fügt er an entsprechender Stelle der Gelehrtenrepublik ein: »Sie (die Darstellung) vergegenwärtigt, durch Hülfe der Sprache, das Abwesende in verschiedenen Graden der Täuschung«.46 Ich will die Dekonstruktion des Supplementbegrifs nicht nachzeichnen, die Derrida an Rousseau vornimmt, obwohl dazu angesichts von »Mutter Natur« aller Anlaß wäre. Die Ironie der Wendung, daß »schöner (als deren »Erfndung Pracht«) ein froh Gesicht« sei, »das (im freudigen Spiegeln der umgebenden Landschaf) den großen Gedanken (der) Schöpfung noch einmal denkt« (Zusätze von mir), habe ich bereits angedeutet: »denken« heißt hier ein Refektieren vor jedem und ohne jedes Denken; sinnliche Anschauung, die den »großen Gedanken« zum bloßen Gedanken verblassen läßt, die »Schöpfung« aber zur Schöpferin erhebt. Das Präsens, das im Imperfekt überperfekt in Erscheinung tritt, ist die Zeit des Fests, die in der Diferenz des Gedichts als »die Vorspiegelung der Sache selbst, der unmittelbaren Praesenz, der ursprünglichen Wahrnehmung« aufritt (272). Derridas Ausführungen sind me- thodisch von Interesse, weil sie, ohne ausdrücklich zu werden, das Fest als Flucht- punkt einer Erfahrung plausibel machen, die in Klopstocks Ode von der Fahrt auf der Zürchersee bestimmend wird für das, was man seither als »ästhetische Erfahrung« zu qualifzieren gewöhnt ist, in seiner Diferenzqualität zur sinnlichen Anschauung aber um das ›diferente Moment‹, die Supplementarität des Texts, zu verkennen geneigt ist. Ich unterstreiche: Nicht um die kompensatorische Qualität jedweden

44 Jaques Derrida, Grammatologie (1967), dt. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 250 f. und 272 f. (meine Modifkationen der Überset- zung); ebenso »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschafen vom Menschen« (1966), Die Schrif und die Diferenz, dt. von Rodolphe Gasché (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972), 437 f. 45 Rodolphe Gasché, Te Tain of the Mirror: Derrida and the Philosophy of Regection (Cam- bridge MA: Harvard University Press 1986), 210. 46 Nach der immer noch vorbildlichen Hanser-Ausgabe der Ausgewählten Werke von Karl August Schleiden (München: Hanser 1962), 1033 bzw. 880. Vgl. dazu das Kapitel »Dar- stellung« bei Kaußmann, Der Stil der Oden Klopstocks, 66 f. 180 Klopstock mit Milton

Textes kann es sich handeln, sondern um das strukturelle Moment des Supplements, das die Diferenz festhält. Rhetorisch besehen trägt es die Züge der Ironie. Sie setzt unmerklich ein, wo die alltägliche Distanznahme aufört; etwa wo Hirzels Doris einmal mehr Hallers Doris zu singen anhebt und sich Hallers »Stärke« erneut beweist. Davon handeln in Klop- stocks Ode zwei hefig ob ihrer Dunkelheit umstrittene Verse, die »Hallers Doris« und »Hirzels Daphne« ununterscheidbar nebeneinanderreihen: »Hallers Doris sang uns, selber des Liedes wert, Hirzels Daphne, den Kleist zärtlich, wie Gleimen liebt«. Der frühe Klopstock-Kommentator Carl Friedrich Cramer setzt umständlich ins Reine, was hier zuviel an Mystifkation ist: »Hirzels Daphne, des Liedes wert, die selber wert ist, besungen zu werden, sang Hallers Doris, sang das bekannte Lied von Haller, das Doris überschrieben ist«.47 Die kritische Ausgabe von Muncker und Pawel ging soweit, »Hallers Doris« (sic!) der Deutlichkeit halber in Anführung zu drucken.48 Das kann den Hintersinn der Klopstockschen Konstruktion nur voll- ends verderben. Was Cramer als bekannt voraussetzt, ist Muncker und Pawel zu unerheblich, ein Wort darüber zu verlieren: daß weder Hirzels Daphne noch Hal- lers Doris Daphne und Doris hießen (sondern Johanna Maria und Mariane). Beider grammatische Austauschbarkeit, die Klopstocks Konstruktion forciert, besiegelt ei- nen Akt literarischer Verkleidung, in dem Hirzels »Daphne« und Hallers »Doris« ne- beneinander aufreten: Maskerade der Metonymien von Hallers, Kleists und Gleims Liedern, die zur Feier des Tages lebendig werden. Daß für einen Tag Hirzels Doris vom Haller-Zitat zu einer »Daphne« werden konnte, ebenbürtig Hallers »Doris«, macht die Stärke der Lieder aus, deren Gesang diesen Efekt zustande bringt. Die Ironie, die dem anhafet, liegt nicht in der beschränkten Eignung, die Frau Hirzel für ihre Rolle mitbringt, sondern – ganz auf der Linie der ersten Strophe – darin, daß Hallers belebendes Lied, »das Doris überschrieben ist«, lebendig wird durch Hirzels Doris, die »Daphne« heißen wird seit diesem Fest. Diese Ironie aber ist in Bodmers Worten eine »heimliche« (mit einem Terminus, den Baumgartens Aesthetica favorisieren wird, fgura cryptica).49 Weil sie nicht ins Auge der illusionierten Leser fällt, muß Bodmer sie zur Verteidigung von Miltons Umgang mit der antiken Mythologie als »Verkleinerung« beschreiben, der die alten Götter im christlichen Zitat unterliegen. Sie besteht insbesondere in der metonymi- schen Reduktion auf die Arbitrarität historischer Verhältnisse.50 Hier äußert sie sich

47 Carl Friedrich Cramer, Klopstock. Er; und über ihn. Fünf Teile (Hamburg, Dessau, Leipzig und Altona 1780–1792), Zweiter Teil: 1748–50 (Leipzig und Altona: Kaven 1790), 409– 416 (»Der Zürchersee«). 48 Friedrich Gottlieb Klopstocks Oden. Kritische Ausgabe von Franz Muncker und Jaro Pa- wel I–II (Stuttgart: Göschen 1889), I: 83–85. Vgl. dazu inzwischen den Bericht von Roland Reuß, »Hallers Doris und Hirzels Daphne: Notizen zu Klopstocks Gedicht ›Der Zürcher- see‹«, MLN 126 (2011), 495–517. 49 Johann Jacob Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (1740), ed. Wolfgang Bender, (Stuttgart: Metzler 1966), 201. 50 Vgl. abermals die weniger vergessene als gerne unterschlagene, immer noch ungedruckte Dissertation von Ernst Kaußmann, Der Stil der Oden Klopstocks, 102 f., die auch im rhetori- schen Detail, hier dem Anteil von Synekdoche und Metonymie an der Personifkation, alle Ehre macht. FEST/SCHRIFT 181 im Vorrang des »Lokalen«, den Cramer unterstreicht, wobei ihm vor allem um die rousseausche Parallele zu tun ist (er verdeutlicht sie für dieses Gedicht an einem län- geren Zitat aus der Nouvelle Héloise). Bemerkungen wie »hier lokal schweizerisch« haben für den norddeutschen Kommentator der 80er Jahre (und insbesondere den nach Paris gezogenen Cramer) einen revolutionären Klang.51 So zieht er dem Ausruf der 15. Strophe »Ist, beim Himmel! nicht wenig!« die ursprüngliche, bis heute un- gern gedruckte und auch in der Darmstädter Ausgabe zensierte Fassung »Ist, Gold- häufer! nicht wenig!« vor, die an der Zürcher ›Goldküste‹ bis heute eine genauere Adresse als der Himmel selbst ist.52 (Diese Bezeichnung meint völlig unpoetisch nur das, was sie sagt: das Gold des an diesem Ufer ansässigen Geldadels, nicht die Spur mehr die »schimmernden« Reben am »weinvollen Ufer«, von dem Klopstocks zweite Strophe spricht.53) In der »bildenden« Überlegenheit der Kunst gegenüber bürger- licher Wirtschaflichkeit (»Liebe, dich, Fromme Tugend, dich auch«) macht sich eine Ironie Luf, die im Zürich Bodmers so schwer zu veröfentlichen war wie noch im Zürich Emil Staigers. In ihr weiß sich der moderne Poet insgeheim weniger den Alten überlegen, wie es der selbstgerechte Zürcher Kunstrichter wollte (Bodmer), als ihnen verbunden. Als heimliche Ironie entspringt das Verharren des Gedichts in der unversöhnlichen Mittellage zwischen Alltag und Fest einer durchaus unheimlichen Melancholie, die der Gegenwart der Empfndungen auch in der Vergangenheit des Gedichts nicht zu trauen vermag. Die Tendenz des Supplements, an die Stelle des Ereignisses zu treten, das es ergänzt, kommt nur scheinbar zu dem Erfolg, zu sein, was es nicht war, oder zu ersetzen, was es nicht sein konnte (kompensatorisch); das

51 Alain Ruiz, »Karl Friedrich Cramers ideologisch-politischer Werdegang«, Jahrbuch des In- stituts für deutsche Geschichte (Tel Aviv) 7 (1978), 159–214: 180 f. 52 Siehe Adolf Muschg, Literatur als Terapie? (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981), §§ 21 f. mit einem Kommentar zur Zürcher Zeitgeschichte von Fritz Zorns Mars (München: Kindler 1977). 53 Eine aufschlußreiche Quelle hat ein Nachfahre des Dr. Hirzel, Ludwig Hirzel, mitgeteilt beim Verlag S. Hirzel Leipzig, und zwar aus einer zeitgenössischen Zürcher Schrif des Jahres 1757, den Moralischen Beobachtungen und Urtheilen, die in Lessings Literaturbrie- fen als Beiträge »einer ganz munteren Gesellschaf« vorkommen, Gesammelte Werke, ed. Paul Rilla (Berlin und Weimar: Aufau 21968), IV: 125. Hirzel druckt ein satirisches Stück ab, das von dem »hirnlosen Haufen« der Klopstock-Verächter handelt, derer es in Zürich genug gab: einen Dialog zwischen rechtschafen kunstverachtendem Vater und seinem vor- witzigen Sohn, der als ein Exercitium Constructionis »Oden des K**« nach Hause bringt, namentlich die vom »Zürchersee«. Der Alltagsverstand des Vaters beweist sich prompt an »Des Ruhmes Silberton«. »Ja, ja,« betont er wiederholt, »die Taler haben einen Silber- ton«; »hätt ich der weissen Taler viel, das ist der beste Silberton«. Dem Sohn ist mehr am Feiertag gelegen (»Werktagsrok« und »Sonntagskleid«); er hält sich an die Meinung seines Präzeptors, wonach der Anreiz der Stelle im »Ton einer silbernen Posaune« liege. Es ist zweifellos von der bereits bereinigten Fassung des ersten Zürcher Drucks von 1750 die Rede, in welcher der zugehörige Ausruf »beym Himmel!« lautet; kongenial quittiert der prosaische Vater die poetischen Belehrungen des Sohnes mit wiederholtem »Zum Henker!« Ludwig Hirzel, Wieland, Martin und Regula Künzli: Ungedruckte und wiederauf- gefundene Actenstücke (Leipzig: Hirzel 1891), 39–48, hier: 45 (den Hinweis verdanke ich Tomas Pittrof). Zehn Jahre nach dem »Zürchersee« begann Klopstock die Ode »Das neue Jahrhundert« mit den Versen »O Freiheit, Silberton dem Ohre«. Dazu Franz Schneider, Pressefreiheit und politische Öfentlichkeit (Neuwied/Berlin: Luchterhand 1966), 146 f. 182 Klopstock mit Milton

Gedicht verharrt in dieser Tendenz, deren Erfolg es sich bestenfalls erfolgreich ent- zieht. Die metonymische ›Spur‹ (ich muß es einmal mehr bei der rhetorischen Chifre des umstrittenen Terminus belassen), Spur heimlicher Ironie, durchzieht Klopstocks Ode von Anfang bis Ende. Sie markiert eine supplementäre Schwebe, die in Richtung des Fests, das vorausgegangen ist, als enthusiastischer Überschwang (Hirzels ›Rüh- men‹) zu verstehen, in Richtung des Alltags, der folgt, aber beschreibend aufzulösen ist (Hirzels ›Schildern‹). Cramers Kommentar, zumal in seinem dezidiert biographi- schen Interesse, scheint ganz auf Seiten der Hirzelschen Schilderung zu stehen. Doch täuscht dieser Eindruck einigermaßen, denn Cramer ist ganz von der Faszination des inzwischen verblaßten Enthusiasmus besessen, für dessen Wirkung er keine bessere Erklärung weiß als die freischwebende Dichterexistenz seines Helden. Er kommt in dieser Erklärung der supplementären Rolle literarischer Öfentlichkeit für die von ihm gewünschte politische Öfentlichkeit der supplementären Struktur der Gedichte Klopstocks bisweilen näher, als man denken sollte. So zieht er in der dritten Strophe die später erfolgreiche Bereinigung vor: »Sanf, der fühlenden Fanny gleich«. Denn als Fielding-Zitat alliteriert »Fanny« nicht nur, sondern reiht sie die nicht anwesende Schmidtinn, Klopstocks eigene Liebe, dem Reigen um Hallers »Doris« ein. Doch ist der Fall komplizierter als es Cramer sah oder wissen wollte; war Klopstocks frei- schwebende Rolle freier, als Cramer dachte, sein Gedicht schwebender zwischen der Fiktion des Fests und der Wirklichkeit des Lebens, als er es verstand. Denn daß »Sch==in« die Schmidtinn bedeuten könne, die als »Fanny« bei Klopstocks Ver- ehrern Berühmtheit genoß, war den Anwesenden wie Abwesenden klar. Daß diese aber gewiß nicht gemeint war, sondern die Schinzinn, die es Klopstock (und nach ihm noch anderen) besonders angetan hatte auf dem Zürcher See, wußten die Teil- nehmer des Fests, und machten sie den abwesenden Freunden gelegentlich bekannt. Hirzels Brief ist in dieser Hinsicht diskret, denn er verrät den Namen des Mädchens nicht, das Klopstock in der Mittagshitze auf der »Au« seinem Rahn »genommen hatte« (143). Es hätte aber nichts dagegen gesprochen, »Fanny« wie andernorts auch als des Dichters »geliebte Schmidtinn« mitzuführen im Gedicht. So freilich werden die Leser zu augenzwinkernden Mitwissern, wer auf dem Zürcher See die Fanny ver- treten habe. Klopstock selbst hat gleich am 1. August, am übernächsten Tag schon, dem Freunde Schmidt, Fannys Bruder, alles haarklein erzählt und in Propaganda umgesetzt für das eigene Talent, jeden Falls zum Erfolg zu kommen: »Ich muß hier noch die Anmerkung machen«, schreibt er in einer tatsächlichen Anmerkung auf den Rand des Briefes, »daß ich dem guten Kinde (dem »Mädchen in seiner sieb- zehnjährigen Unschuld«, das dem Hauptteil der Erzählung zufolge »sein schwarzes schönes Auge mit einer so sanfen und liebenswürdigen Ehrerbietung niederschlug« usw.) auch sehr viele Küsse gegeben habe ...« (Düntzer, 2. Hef, 5–6, meine Ergän- zungen). An Fanny wendet er sich erst sechs Wochen später, am 10. September, mit der Beschwerde, »Sie schreiben gar nicht an mich.« Die Leerform der »Sch==inn« markiert in zwei diakritischen Zeichen die Rolle der literarischen Fanny, die in der Realität des Fests von der Schinzinn gespielt, in der Realität des Alltags aber von der Schmidtinn eingenommen wurde. Vielmehr nicht »eingenommen« wurde; denn diese, seine Kusine Marie Sophie Schmidt, wußte sich der »erhabnen« Zumutung, die selbst Bodmer mit einem Brief, die Fer- FEST/SCHRIFT 183 tigstellung des Messias durch ihre Hartnäckigkeit nicht zu gefährden, unterstützt hatte, von vorneherein zu erwehren; sie spielte nicht mit. Das tat in anderer, gänzlich unbürgerlicher Absicht, die der Schmidtinn so fern lag, die Schinzinn, die auf dieser Fahrt ihren Bruder Johann Heinrich begleitete, zu dem wiederum Hirzel nicht das beste Verhältnis hatte. (Man mache daraus, was man will.) Worauf es ankommt im Gedicht, sind die zwischen weiblicher Endung und Anfangsbuchstaben Platz grei- fenden Striche, die weder für die eine noch für die andere Person stehen, sondern die Supplementarität der Zeichen in diesem Gedicht darstellen. Am Rande einer Strophe, gewiß, aber an entscheidender Stelle, handelt es sich doch um niemand Geringeres als die Geliebte des Dichters, deren Aufritt aus Anlaß dieses Fests fest- gehalten wird in zwei identischen Zeichen (diesseits zweier gänzlich verschiedener Frauenspersonen). 184 Klopstock mit Milton

Milton’s Counterplot Lycidas: Dekonstruktion und Trauerarbeit 1637

Eberhard Lämmert zum 65. Geburtstag

John Miltons Lycidas, 193 Verse lang und 350 Jahre alt, wurde – wenn auch nicht unangefochten in seiner langen Geschichte – spätestens in diesem Jahrhundert zum berühmtesten englischen Gedicht. Wie jeder weiß, der auf eine englische Schule gegangen ist, wurde es aus Anlaß des frühen Todes eines ehemaligen Kommilito- nen, eines gewissen Edward King, für ein dem Verstorbenen gewidmetes »memorial volume« geschrieben, Justa Edovardo King Naufrago, im englischen Teil Obsequies to the memorie of Mr. Edward King, Anno Dom. 1638.1 Lycidas ist das letzte und längste Stück der Sammlung, gezeichnet J. M., eines insgesamt nicht unüblichen Unternehmens an einem Ort wie Cambridge, bemerkenswert höchstens wegen dieses ungewöhnlichen Beitrags. In der Karriere Miltons bildet er den krönenden Schlußteil des Jugendwerks, den Ertrag langjähriger, zurückgezogener Studien, be- vor der 29jährige Autor auf eine lange Reise geht und erst Jahrzehnte später nach wechselhafer politischer Betätigung zur Dichtkunst zurückkehrt, mit dem Alters- werk Paradise Lost, zuerst erschienen 1667. In der Ausgabe der Poems of Mr. John Milton von 1645 hält der Autor am Anlaß des Gedichts in einer »Headnote« fest: »In this Monody the Author bewails a learned Friend, unfortunately drown’d in his Passage from Chester on the Irish Seas, 1637. And by occasion foretells the ruine of our corrupted Clergy then in their height.« Wie man leicht sieht, ist an Edward King, dessen Name nicht mehr fällt, weniger gelegen als am Fall seines Todes, wie denn Milton verstärkt Gelegenheit nimmt, eine inzwischen gewachsene politische Nebenabsicht zu unterstreichen. Weniger von King, so die überwiegende Meinung der Forschung, als von Milton selbst handle Lycidas. Der Schifruch des »gelehrten Freundes« war nicht die erste Todesnachricht für ihn in diesem Jahr. Die Pest näherte sich, von London kommend, bis auf wenige Meilen dem Landsitz des Vaters, auf den er sich seit drei Jahren zum Abschluß eines einsamen Mammutunternehmens, der Aufarbeitung der gesamten Tradition (grie- chisch, lateinisch, italienisch), zurückgezogen hatte. Miltons Mutter Sara starb in diesem Frühjahr, und wenig später starb der große Ben Jonson, bevor im Herbst die Nachricht von Kings Tod eintraf, begleitet von der Auforderung, zu seinem Geden- ken beizutragen.2 »Novemb: 1637« lautet die erste, gerne übersehene, später ge- strichene Überschrif des Manuskripts, in der sich – vor dem kunstvollen Titel, dem bukolischen Lycidas – das bedrohliche Andrängen der Außenwelt in der Kargheit

1 Zitiert nach der umfassenden Ausgabe von C. A. Patrides, Milton’s Lycidas: Te Tradition and the Poem (Columbia MI: University of Missouri Press, rev.ed. 1983). Beizuziehen ist die ältere, im dokumentarischen Teil ausführlichere Ausgabe von Scott Elledge, Milton’s Lycidas, (New York NY: Harper & Row 1966). Ebenso A Variorum Commentary on the Poems of John Milton I–VI (New York NY: Columbia University Press): II, 2 »Te Minor English Poems,« ed. Douglas Bush und A. S. P. Woodhouse (1972), 544–734. Im Folgenden abgekürzt zitiert. 2 William Riley Parker, Milton: A Biography I–II (Oxford: Clarendon Press 1962), I: 149 f. Milton’s Counterplot 185 des Datums, der Zeitstelle, niederschlägt. King oder nicht King, gelehrter Freund oder beneideter Rivale, Ambivalenz der Gefühlsregungen oder Insistenz der Ver- luste, das sind die Randfragen, die vom Datum des Gedichts in seine bukolische Ausführung hineinreichen, ohne sie notwendig zu bestimmen. Anders als die erdrückende Mehrheit der »funeral elegies«, die dieses Jahrhundert überschwemmen, ist Miltons Wahl der pastoralen Spielart, altmodisch und über- holt, wie sie schon den Zeitgenossen erscheinen mußte, nicht mehr so ohne weiteres mit den zeitüblichen Formen der kollektiven Trauerbewältigung übereinzubringen. Deren ungeniert entlastende Tendenz belegt ein »merry elegist«: »What bulky Heaps of doleful Rhymes I see!/ Sure all the world runs mad with elegy«;3 während kein geringerer als der alte Ben Jonson den orthodoxen Grund solcher Entlastung von allfälliger Trauerarbeit in die Form eines gehässigen Epigramms gefaßt hatte: »He that feares death, or mourns it, in the just,/ Shewes of the resurrection little trust.«4 Was sich in der Trivialelegie der Zeit mithin fndet, ist eine paradoxe Verdrängung von Trauer in Texten der Trauer, deren primäres Ziel, Trost, zur wohlfeilen Mode verkommen ist. So verläuf die aporetische Situation der Gattung Elegie: zwischen billigem Trost auf der einen und der untröstlichen Trauer auf der anderen Seite. Auf die Zumutung dieser Crux, wie sie ihm Kings Freunde vorschlugen, reagiert Miltons Lycidas mit weitreichenden poetischen Innovationen, die nicht nur der betrofenen Gattung der Trauer gelten, sondern auf absehbare Zeit Trauerarbeit zum poetischen Prinzip machen. Milton, so der Grundriß meiner Hypothese, wie er sich in Harold Blooms Revision des Romantikbegrifs vorgegeben fndet – eines Begrifs von Romantik als Ursprungs der literarischen Moderne – Milton zeigt vor Anfang der Romantik, führt am Be- ginn der Moderne vor, was Freud nach Ende der Romantik für die Kulturarbeit der Moderne diagnostiziert und auf den Begrif bringt. Die von André Jolles unter einem mittelalterlichen Terminus der Kontemplation beschriebene »Geistesbeschäfigung« oder occupatio, deren epochalen Umschlag Benjamin in der barocken »Vertiefung« der Trauer auf den von Freud in bewußter historischer Anknüpfung verworfenen Begrif der Melancholie zurückgebracht hat, diese »Geistesbeschäfigung«, die Freud zufolge »Trauerarbeit« sein muß: in Trauer begrifene Arbeit, nicht in Melancholie gefangenes Verweilen, fndet seit Milton in Literatur statt. Nicht, wohlgemerkt, daß es sie nicht vorher schon – und auch literarisch – gegeben hätte; aber in der von Freud begrifenen, begrifich unterschiedenen Form und Bedingtheit wird sie im Barock erst (erstmals seit der Antike wieder) dringlich. Burtons Anatomy of Me- lancholy (1. Auf. 1621) hat vom Anteil der Trauer an Melancholie noch keinen Be- grif; Lockes Essay Concerning Human Understanding (4. Auf. 1701) diagnostiziert in der Melancholie bereits, Freuds Urteil vorwegnehmend, eine falsche Assoziation von Ideen. Zwischen beiden, Burton und Locke, wird das noch kaum begrifene Problem virulent in der literarischen Praxis; mit Miltons Lycidas wird Trauerarbeit, wie sie weder Burton kannte, noch Locke verstand, zum maßgeblichen, poetisch

3 Nach John W. Draper, Te Funeral Elegy and the Rise of English Romanticism (New York NY: New York University Press 1921, 1927), Preface, vii. 4 Nach G. W. Pigman, Grief and English Renaissance Elegy (Cambridge UK: Cambridge Uni- versity Press 1985), 1. Für Lycidas siehe Kap. 7. 186 Klopstock mit Milton refektierten Formprinzip, das in der aufommenden romantischen Lektüre Miltons seine Wirkung tat. Darauf will ich hier nicht mehr zu sprechen kommen. Wie alle generellen Vorgaben ist auch diese zu vorläufg, um haltbar zu sein; sie ist als heuris- tischer Rahmen zu verstehen ohne selbständigen Wert.

I Dekonstruktion

Miltons bedeutende Rolle in der barocken Vorgeschichte der Moderne hat in der Geschichte der neueren Literaturwissenschaf weitgehend konvergierende Beschrei- bungen gefunden, die in M. H. Abrams Kanonisierung des Lycidas als eines Organon der Kritik und in Harold Blooms Kanonisierung Miltons zum Erzvater der Moderne ihre Höhepunkte haben.5 An hunderten Seiten von Sekundärliteratur, deren Masse mit dem New Criticism einsetzt, läßt sich nicht nur das Rezeptionsschicksal des Ly- cidas und seines Autors verfolgen, sondern Wissenschafsgeschichte. Kaum ein Text ist vergleichbar mit der Bedeutung, die Lycidas und Paradise Lost für die Teorie- entwicklung des New Criticism und seine Nachfahren bis hin zur poststrukturalen Kritik gehabt haben, selbst »beyond formalism«. So, Beyond Formalism, der epoche- machende Titel eines Buchs von Geofrey Hartman, aus dessen Kontext ich den zen- tralen Begrif des ›counterplot‹ entwende, der aus der Milton-Faszination der New Critics herüberreicht in die dekonstruktive Problematik »afer the new criticism«. Jenseits des Formalismus hatte Lycidas schon den älteren New Criticism, William Empson, John Crowe Ransom und Cleanth Brooks geführt, die von Anfang an die Grenzbegrife formaler Beschreibung, die »ambiguities,« »paradoxes« und »ironies« höher schätzten als die pure, schlicht verstandene Übertragungslogik der Metapher. Das nie völlig zur Ruhe gekommene Unbehagen an der Ausführung des Gedichts, das dauerhaf von Samuel Johnson formuliert worden war, es handle sich bei Lycidas um ein formal ebenso unvollkommenes wie inhaltlich verfehltes Werk, das seinem Gegenstand, der Trauer, in jeder Hinsicht unangemessen sei, wird von Ransom, dem konsequentesten Teoretiker unter den New Critics, in einem denkwürdigen Auf- satz positiv gewendet und als erstes Anzeichen einer Modernität verstanden, von der Dr. Johnson keine Ahnung hatte. Unter dem ebenfalls epochemachenden Titel »A Poem Nearly Anonymous« setzt Ransom wie folgt, ohne Erwähnung des Lycidas und Miltons, mit dem blanken Datum ein: »It (the poem nearly anonymous) was published in 1638, in the darkness preceding our incomparable modernity«.6 Die Ironie ist entschieden und prinzipiell, denn Ransom erweist die aufgeklärte Kritik aus der Feder des Dr. Johnson als blind gegenüber ihrem vormodernen Gegenstand, Lycidas. Was von der Höhe des in dieser Moderne Erreichten – vom 18. Jahrhundert Johnsons bis zum 20. Ransoms – in Miltons Gedicht vermißt werde: emotionale

5 M. H. Abrams, »Five Types of Lycidas« (1957), Milton’s Lycidas, ed. Patrides, 216–238, samt »Postscript« (1983), 341–345. Harold Bloom, Te Anxiety of Inguence (New York NY: Ox- ford University Press 1973), 9 f. über Freud und Lycidas; A Map of Misreading (New York NY: Oxford University Press 1975), 148 f. über Lycidas und Wordsworth. 6 John Crowe Ransom, »A Poem Nearly Anonymous« (1933), Milton’s Lycidas, ed.Patrides, 68–83: 68; zuvor in Ransom’s Te World’s Body (New York NY: Scribner 1938). Milton’s Counterplot 187

Eingänglichkeit des Metrums und der Bilder, Authentizität des Ausdrucks, benenne verfehlte spätere Erwartungen und verkenne eigentliche Stärken: eine intendierte Rauheit, sorgfältig kalkulierte Formlosigkeit, kunstvolle Impertinenz im poetischen Material – Merkmale einer Tradition, die Milton in Moderne avant la lettre ver- wandelt hatte. Ransom, selbst nicht der unbedeutendste Dichter seiner Generation, sieht sich – wie vor ihm Eliot – an den Quellen einer poetischen Moderne, die im unpoetischen Fortschritt derselben Moderne verschüttet wurden.7 Lycidas, so die speziellere Crux der Forschung, die Generationen von Philologen beschäfigt hat, ist eine »pastorale Elegie«, ohne es im üblichen Sinne zu sein. Sie weist zahllose Unregelmäßigkeiten auf, ohne deshalb völlig unvereinbar mit der Tradition zu sein; sie rekonstruiert die Gattung in allen Ungereimtheiten der Tra- dition, ohne auf Aufebung der Widersprüche aus zu sein. Lycidas zeigt im Fazit einer langen Reihe von Untersuchungen den Zustand einer Ruine, deren Anblick der Dekomposition das Ergebnis kunstvoller Konstruktion ist. »Yet once more,« der Ein- gang des Gedichts, nennt »einmal mehr«, nun noch ein (letztes) Mal die mythischen Requisiten, das antikisierende Gewand; aber er tut es im wiederholten Wortlaut des wiederholenden »once more« einer ganz anderen, konkurrierenden Tradition, des apokalyptischen »Yet once more« vom Ende des Hebräerbriefs (im Wortlaut der King James Bible): »Yet once more I shake not the earth only, but also heaven. And this word, Yet once more, signifeth the removing of those things that are shaken ...« (Ad Hebr. 12.27). Erschüttert erscheint also von Beginn des Gedichts an die erneut aufgerufene Tradition wie auch der erneute Anruf selbst, »shattered leaves« von der Anrede weg (Vers 5), unter apokalyptischen Vorzeichen vorzeitig zerstörte Blätter bukolischer Herkunf.8 Es handelt sich um die Milton eigentümliche, schon im Ansatz des Lycidas unver- kennbare, für Paradise Lost bis in den Titel charakteristische Gegenüberstellung von verlorener Antike und gewonnenem Christentum. Nichts weniger als das verlorene Paradies selbst erhält in den Bildern der antiken Bukolik den Nachglanz seines Ver- lusts, seine versteckte Abbildung, die Johann Jacob Bodmer in seiner »Vertheidigung des Gedichts Joh. Miltons« mit der »heimlichen Ironie« entschuldigt hat, die dieser Form der Darstellung innewohne.9 Entschiedener und einer anderen Orthodoxie gegenüber hat in diesem Jahrhundert William Empson dieselbe Eigenschaf unter seine Versions of Pastoral aufgenommen und auf den Begrif des »double plot« ge- bracht.10 Die eingebaute, kaum merkliche ironische Implikation solcher »double plots« zeugt von einer tiefgehenden Gegenläufgkeit, die Geofrey Hartman in der Anlage von Paradise Lost als »counterplots« identifziert hat: Deren »hidden

7 T. S. Eliot, »Milton II« (1947), Selected Prose of T. S. Eliot, ed. Frank Kermode (London: Faber and Faber 1975), 265 f. ausgehend von Dr. Johnson. Eliot argumentiert in diesem Essay durchgehend rezeptionsgeschichtlich. 8 Balachandra Rajan, »Lycidas: Te Shattering of the Leaves« (1967), Milton’s Lycidas, ed. Patrides, 267–280; auch in Rajan’s Te Lofy Rhyme: A Study of Milton’s Major Poetry (Coral Gables FL: University of Miami Press 1970), Kap. 4. 9 Johann Jacob Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und des- sen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen (1740), ed., Wolfgang Bender (Stuttgart: Metzler 1966), 213. 10 William Empson, Some Versions of Pastoral (London: Chatto and Windus 1935), Kap. 2 u. 5. 188 Klopstock mit Milton presence,« so Hartmans Bestimmung, die er an derselben Stelle exemplifziert wie Bodmer, »is responsible for the contrapunctal efects of the inserted fable«11 – der antiken Fabel, die in den Fortgang des heilsgeschichtlichen Geschehens eingelassen ist als gegenläufges Moment und den heimlichen Kontrapunkt darstellt, auf dem die Komposition des Ganzen beruht (allen orthodoxen Einreden zum Trotz). In Lycidas, wie das einleitende »Yet once more« ankündigt, handelt es sich um dieselbe Doppelung des plots, wenn auch in umgekehrter Gewichtung; was in Pa- radise Lost zum literarischen counterplot wird, steht hier, unter apokalyptischen Vorzeichen, als plot zur Debatte. Die erste Strophe (Vers 1–14), nach ungereimter Anfangszeile der Sonettform angenähert, führt mit Lorbeer, Myrte und Efeu, all- fällig variierten evergreens in der Nachfolge Petrarcas, in die Kulissen der Tradition, in künstliche Widersprüchlichkeit gebrachte und in ihr benannte Versatzstücke, die am Ende auf einen beharrlich wiederholten Reim gebracht sind: »some melodious tear« (Vers 14). Damit ist die vom Autor gewählte Bezeichnung »Monody« ironisch kommentiert, ironisch nicht zuletzt wegen der untergründigen, metonymischen As- soziation mit der auf dem salzigen Meer treibenden Bahre, die nach dieser »Träne« verlangt: »He must not fote (...)/Without the meed of some melodious tear« (Vers 12–15). Das »must« allerdings ist die traurige Konsequenz einer größeren Ironie, die das ganze Gedicht, wie Cleanth Brooks über-ironisch bemerkt hat, um Salzwasser gehen läßt.12 Sie dringt in dem Satz an die Oberfäche »he knew/ Himself to sing«; aber – »dead ere his prime« – ist er auf einen anderen angewiesen, der indessen nicht seinem, sondern dem eigenen Ruhm nachgeht: »Who would not sing for Lycidas?« (Vers 10) ist die rhetorische Frage, deren Zweischneidigkeit die Gewaltsamkeit des vorangegangenen Einsatzes beantwortet. Widerwillig, »with forc’d fngers rude« müht sich der Dichter, wird er bemüht zur Unzeit für den vor der Zeit Gestorbenen, wirkt er »gezwungen« im Doppel- sinn des Wortes. Die Unfähigkeit zur Synthese der Motive, die hier gezwungener- maßen an ihrer eigenen Allegorie sich abmüht, liegt auf der Hand: denn außer dem Unwillen dieses Dichters, seiner vorgeschobenen Ungeduld im Umgang mit den klassischen Zitaten, die er aus dem Zusammenhang gerissen in eine Collage bringt, ist hier nichts zuwege gebracht. Die älteren Kommentatoren haben sich über dieses »nichts« lange genug aufgeregt. Die Unfähigkeit zur Trauer, die Dr. Johnson Milton vorwirf, mißbraucht die Geste der konventionellen Bescheidenheit; sie projiziert den eigenen Unwillen in die Widerständigkeit des Materials, schützt allegorische Umstände vor. »Te complaint is all the more bitter«, schreibt Stanley Fish, »because it takes the form of an apology. ›I am sorry to do this to you‹, the speaker says to the apostrophized berries, but what he is really sorry about is something that has been done to him«; »What he can do, and very efectively«, folgert Stanley Fish auf Ransoms Spuren, »is to (...) dissociate himself from the (poetic) failures he continues

11 Geofrey H. Hartman, »Milton’s Counterplot« (1958), Beyond Formalism (New Haven CT: Yale University Press 1970), 114. 12 Cleanth Brooks, John Edward Hardy, »Essays in Analysis: Lycidas« (1951), Milton’s Lycidas, ed. Patrides, 140–156: 143. Milton’s Counterplot 189 to expose.«13 Die Selbstentlastung des Autors, dessen Finger zu zwingen vorgeben, was sich nicht erzwingen läßt, ist indessen ein vordergründiges Gefecht. Zwischen den Zeilen, in seinem Lärmschatten, steht die peinliche Bilanz, die Bilanz der be- scheidenen Kunst des zu Betrauernden. Denn weshalb wäre es verfrüht, für Edward King, von dem nichts als einige schwache Versübungen übriggeblieben sind, von Lorbeer, Myrte, Efeu (allen dreien zugleich) zu reden; warum die volle Blätterpracht gefährden, wäre es nicht aus eigenem Ehrgeiz, der aus der Verlegenheit erwachsen ist, an der Stelle des Toten zu dichten, was dieser nicht zu dichten vermochte. Gewiß geht dieser Dichter, Milton, ganz gemäß der Gattung dem eigenen Ruhme nach, zu dem er sich in falscher Bescheidenheit, die nichts von ironischer Selbstüberschät- zung mehr trennt, einen gleichermaßen geeigneten Sänger wünscht (Vers 19–22). »Wer sänge nicht für Lycidas?« So kein geringerer als Vergil selbst zu Beginn der 10. Ekloge: neget quis carmina Gallo? Wer folgte nicht Vergil in solchem Falle – von Edward King zu schweigen. Wieweit Milton im folgenden Vergil nachgeht und allem, was sich vor ihm und nach ihm zitieren (Spenser, Sannazaro), in immer neuen Anläufen jeder Strophe vorstellen und verwerfen läßt, ist ein eigenes Kapitel der europäischen Bukolik wert.14 Fish hat die Strategie dieser vergeblichen Anläufe mit trügerischen Finten auf die Formel einer »Ironie der Überlegenheit« gebracht, die Miltons Master Mind, Stein des Anstoßes aller Kritik, entsprechen soll. Diese Ironie, wie jede, »weiß mehr«: und was sie mehr weiß, ist das falsche Bewußtsein der narzißtisch-melancholischen Disposition des elegischen Dichters, den sie aufreten läßt, der falschen Trauer über- drüssig. Genauer freilich, so wäre in einer ausführlicheren Analyse zu zeigen, ent- zieht Milton, in dieser Hinsicht ein treuer Sohn der Renaissance eher denn der Vater der Romantik, der antiken Gattung die Interpretamente der christlichen Interpreta- tion, bringt er Vergil, den Musterfall der interpretatio christiana, zurück auf Teokrit (Verse 50–56), etabliert er in Lycidas die antiken Muster als die counterplots, die das Verlorene Paradies zurückbringen in die Reichweite der Dichter: nämlich keinen Ausblick ins Jenseits öfnen, sondern den Tod schon im Diesseits Arkadiens – wie den Sündenfall im Paradies – lokalisieren. Poussins »Et in Arcadia Ego« ist ungefähr gleichzeitig mit Lycidas zu datieren (der 1637 den Übergang von Poussins älterer, dramatischer Bild-Konzeption von 1630 zur schließlich beruhigten, abgeklärten Version desselben Temas von 1636 zu erhellen geeignet ist). Auch dieses Tema hat Dr. Johnson nicht verstanden – wie Sir Jehoshua Reynolds berichtet und Panof- sky zitiert.15 Lycidas verbindet mit dem »Et in Arcadia Ego«, wie Rosemond Tuve

13 Stanley Fish, »Lycidas: A Poem Finally Anonymous«, Glyph 8 (1981), 1–18: 3, 7; als Schlußstück auch in Milton’s Lycidas, ed. Patrides, 322, 327. 14 Siehe J. Martin Evans, Te Road to Horton: Looking Backwards in Lycidas. English Literary Studies 28 (1983), Kap. 4 zum Verhältnis Teokrit/Vergil. 15 Erwin Panofsky, »Et in Arcadia Ego: Poussin and Elegiac Tradition« (1936), Meaning in the Visual Arts (London: Penguin 1955/1970), 340. Vgl. zum weiteren Rezeptionsschicksal dieses Motivs »funeraler Sentimentalität« das Referat von Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform: Zur Ikonographie der Wahlverwandtschafen (Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1986), 108–122. 190 Klopstock mit Milton prägnant festgehalten hat: »that deathless poetry is not deathless; that nothing is.«16 Im Fall der Trauer aber heißt das, sich der erpreßten Versöhnung falschen Trostes zu entledigen und der wohlfeilen Kompensationen, die sie dem Dichter bietet. Das schönste Beispiel solchen Schadloshaltens, das ich kenne, stammt aus den Monats- schrifen des 18. Jahrhunderts und bringt auf einen handlichen Zweizeiler, was schon in Lycidas difamiert ist: »Te Fame my Muse would give do thou bestow«, wird der Tote auf seinem Grabstein elegisch beschieden; »And o’er thy Marble, let my Laurels grow«: Dein Tod ist mein Prätext, Dein Grabstein die Unterlage meines Ruhms.17 Der Ausweis der Überlegenheit, den die New Critics seit Ransom und bis hin zu nach-strukturalistisch rafnierteren Kritikern vom Schlage Fishs Milton auszustel- len bereit sind, ist aber nicht alles, was Milton nach dem Verdikt Johnsons zurück- zuerstatten ist. Die überlegene Inszenierung des bukolischen Sängers stellt sich am Ende des Lycidas nicht als bloße persona des Autors heraus, sondern als Inszenierung der Gattung, ein Konstrukt, auf das Milton den Blick frei gibt. Dies nicht in dem trivialen Sinne, in dem jeder Text an seinem Ende von seinem Verfasser zwangs- läufg verlassen, notwendig freigegeben wird, Schauplatz der Lektüre. In Lycidas, der die Bruchstellen der Konstruktion und ihre Klammern, nicht aber die Illusion ihres zwanglosen Zusammenhalts vor Augen führt, geschieht diese Freigabe des Schau- platzes der Schrif im Text. Mit der letzten Strophe rückt der gesamte vorstehende Text in die Distanz inszenierter Rede, wird er in abrupter Distanznahme zum auf- geführten Geschehen als kunstvolle Fiktion eines unbedarfen, kunstlosen Hirten vorgestellt: »Tus sang the uncouth Swain« (Vers 186); er wird in dieser Exponie- rung aber auch hinterrücks wieder der Gattung eingegliedert, deren Begrenzungen er unausgesetzt unterlaufen hatte.18 Die nachträgliche Rahmung bestätigt – mehr als bloße Konsistenz des Konstruierten es könnte – die Konstruktion des Gerahmten, verstärkt freilich in einem die Barriere, die den Betrachter hindert, selbst ins Bild einzudringen, die Bühne zu betreten (sich zu »identifzieren« – was Dr. Johnsons fortgeschrittenes, »modernes« Verständnis überstieg). Der konventionelle, nachvoll- ziehbare plot wird zum potentiellen counterplot – nicht zum super-plot: nicht zur Manifestation eines Master Mind, der alles besser weiß, sondern zur De-konstrukti- on. Wessen? Des Textes im Modus seiner Darstellung, würde ich vorsichtig und vor- läufg antworten: der Anwendung der Gattung unter Sprengung ihrer Grenzen bei nachträglicher Historisierung der Anwendung unter Zurücknahme in die gespreng- ten Grenzen. Eine komplizierte Doppelbewegung fndet statt, von Aktualisierung und Historisierung: Aktualisierung in Rücksicht auf Historisierung; Festschreibung des historisch gewordenen, nun aber vergangenen Redeaktes, Bilanzierung des Ver- lustes als eines sehr bestimmten, literarisch Gewordenen und jetzt Vergangenen. Auch das indessen ist nicht alles, sondern nur das Fazit der von der ersten Strophe an überblickbaren Konzeption, die nun von der letzten her rückblickend ins Auge zu

16 Rosemond Tuve, Images and Temes in Five Poems by Milton (Cambridge MA: Harvard University Press 1957), 73 f., wo sich die allegorische Struktur des Textes in dieser Hinsicht ausführlich diskutiert fndet. 17 Nach Draper, Funeral Elegy, 302 (meine Hervorhebung). 18 Vgl. Tomas G. Rosenmeyer, Te Green Cabinet: Teocritus and the European Pastoral Lyric (London: Bloomsbury 1969), 117 speziell am Beispiel Lycidas. Milton’s Counterplot 191 fassen ist. In diesem Rückblick wird die Analogie des in Lycidas latenten Modells der Dekonstruktion zu Freuds Konzept der Trauerarbeit manifest. Was sich aus Miltons Problematisierung der elegischen Gattung – der Zumutung »unmöglicher Trauer«, wie Derrida gesagt hat – an Struktur ergibt im Text, an zerbrochener Allegorie, trägt die Schrifzüge dessen, was Freud Trauerarbeit nennt und in der Unterscheidung zur alten Melancholie eher postuliert als beschreibt: die Bewältigung eines Verlustes, Verlusts durch den Tod, der im Moment des Verlusts das Verlorene vollends zu dem macht, was es im Leben hätte sein können – nein sein sollen, aber nicht hatte sein können; dessen übermächtiges Nachbild in allen nachträglich zu einer trügerischen Aktualität erwachenden Ambivalenzen durchzuarbeiten ist, bis es verblaßt ist und als Bild nachträglich hergestellter Vergangenheit dem Vergessen überlassen werden kann.

II Trauerarbeit

Worauf der Blick fällt in der Inszenierung Miltons, die so sorgfältig die bukolische Szene im Gewand des »uncouth Swain« nachstellt, ist die Bühne selbst, der Katafalk des Lycidas, »the Laureat Herse«: ein langer, verwirrender Blumenkatalog wird auf- geführt, um den Schauplatz herzurichten, »to strew the Laureat Herse where Lycid lies« (Vers 151). »Te Herse,« um es genau zu sagen, war ein erhöhter Aufau zur Ausstellung der Leiche, die der Bestattung vorausging: »a platform, decorated with black hangings and containing an efgy of the deceased. Laudatory verses were atta- ched to it with pins, wax, or paste«, fnden wir diesen Platz beschrieben in Stanleys Memorials.19 Es handelt sich also um eine bukolische Ausschmückung zeitgenös- sischer Bestattungsriten, die Milton vornimmt, nur um ihr in der nächsten Zeile schon die Glaubwürdigkeit wieder zu entziehen. In abruptem Wechsel des Tons, einer Parekbasis reinsten Wassers, schaltet er vom Ernst der Trauerveranstaltung, der sich zwanzig Zeilen Blumenpracht nur schwer fügen wollten (die Inkohärenzen des Katalogs sind zahlreich und beliebtberüchtigte cruxes der Interpreten), in den mock-ironischen Tonfall eines Conferenciers: »For so to interpose a little ease,/ Let our frail thoughts dally with false surmise« (Verse 152 f.). Falsche, nicht zu sagen: verlogene Spekulation (»false speculation« bei Keats), bloße Fiktion werde hier auf- geführt zu Unterhaltungszwecken; und dies leichtfüßige, aber schwerwiegende Ur- teil des »false surmise« macht den Reim auf die voranstehende Bahre »where Lycid lies.« Der Lächerlichkeit nahe rückt die hochtrabende, latinisierende Qualifkation der »Laureat Herse,« der Lobes-Bahre. Die Implikation des Reims aber ist der pun der darauf ausgestellten Lügen, »lies« – bekannter Shakespeare spielt mit. In dessen Sonett 138 reimt sich auf dasselbe doppelte »liegen/lügen« die Erklärung von »false subtilties«: »I do believe her, though I know she lies,/ Unlearned in the world’s false subtilties« (1. Quartett).20

19 Tomas Stanley, Historical Memorials of Westminster Abbey (London: Murray 1868), 341. 20 Shakespeare’s Sonnets, ed. Stephen Booth (New Haven CT: Yale University Press 1977), Kommentar 477. 192 Klopstock mit Milton

Die Strategie solch ironischer Parekbasen – das hat Friedrich Schlegels Gebrauch dieses Terminus im Sinne – liegt in ihrer fortgesetzten, wuchernden Anwendung.21 Nicht allein diese rhetorische Einlage ist davon betrofen, in ihr kommt angesichts der aufgebauten Bahre auf den Begrif, was an der Widerständigkeit des beanspruch- ten Mediums schon zum Ausdruck kam. Ofenbar handelt es sich bei diesem, für die romantische Milton-Lektüre, Wordsworth wie Keats, entscheidenden »false surmise« um keine ungefähre Selbstrefexion des literarischen Genres, der pasto- ralen Elegie, sondern um eine eigentümlich bestimmte Negation, Durchstreichung ihres Musters.22 Angefangen von der Widerspenstigkeit des Florilegiums im kleinen, »tropischen« Detail, fndet sich in dieser Szene, ihrer Inszenierung, das gesamte Un- ternehmen des Gedichts wie auch der ganzen Sammlung, zu der es beiträgt, in ein Emblem, ein allegorisches Sinnbild gebracht: »False surmise« ist die bukolische Auf- bereitung der Szene nicht nur, weil Edward King kein Hirte war, sondern doppelt, weil seine Leiche verschollen, seine Knochen über die gesamte Irische See verteilt sind (Verse 154 f.); die Gedichte zu seinem Gedächtnis und Lob mithin an keine Bahre gehefet, genagelt oder geklebt werden können, sondern allenfalls metapho- risch, als Blätter eines Buches zusammenzubinden und auszustellen sind. Das Grab bleibt leer, die Leiche verschollen; kein Held, der erwacht und wie der Heiland erstanden, zum Erstehen zu bringen wäre.23 Während der Tote selbst jen- seits jeden Anrufs in den Tiefen des Meeres treibt, springt das Lied um und wi- derruf: »For Lycidas is dead« (Vers 8) wird »For Lycidas your sorrow is not dead« (Vers 166). Die Auforderung zur poetischen »Träne« wird zur Auforderung, das Weinen nun einzustellen: »Weep no more, woful Shepherds weep no more« (Vers 165). Die liturgische Reminiszenz des aufgebahrten Toten indiziert das im Beerdi- gungsritus mitgegebene Muster der Tröstung, consolatio, die Trauer nur vorläufg zulässig macht. Es ist nicht schwer, in der prompten Verkündigung »For Lycidas your sorrow is not dead« den Engel am leeren Grab zu erkennen, dessen Botschaf von der Auferstehung Teil dieses Ritus ist (Vers 166). »Look homeward angel now« bringt den Sprecher in die angemessene Position zur heimischen Trauergemeinde. Der Trost indessen, der da von der Höhe des Meeres herab, unter Berufung »of him that walk’d the waves« kommt (Vers 173), ist längst geläutert von den Spuren des toten Edward King. »Now Lycidas,« so die letzte Anrede, hat das individuelle Schick- sal seine kollektive Aufebung gefunden in einer Schutzgottheit der Seefahrenden, »genius of the shore« (Vers 183). Dem Motto des Unternehmens Justa Edovardo King Naufrago, »ubique naufragium est«, ist Genüge getan; das stoische Motiv des Lukrez, dem Schifruch aus sicherer Distanz vom Land aus zuzuschauen, »e terra magnum alterius spectare laborem«, der pastoralen Präferenz fürs Landleben zur Hilfe gekommen.24 Der Sänger kann von der Bahre abtreten, er hat das Seine getan.

21 Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979), 300 f. (Schluß). 22 Siehe Geofrey H. Hartman, Wordsworth’s Poetry 1787–1814 (New Haven CT: Yale Univer- sity Press 1964), 10 f. (Anm. 17, 347). 23 Vgl. Jean Michel Labadie, »Le tombeau vide«, Nouvelle Revue de Psychanalyse 11 »Figures du vide« (1975), 223–232, 226. 24 Vgl. Hans Blumenberg, Schifruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979), 28. Milton’s Counterplot 193

Nicht so Milton, dessen antikes Zitat an dieser entscheidenden Stelle der christlichen Inanspruchnahme der Gattung vom abgetanen plot zum ausgewachsenen counter- plot wird. Die Überführung ins kollektive Interesse der Überlebenden, die Aufgabe des oh- nehin Toten, dessen uneinholbaren Verlust die Schifruchszene ausmalt, bedient sich einer kontrafaktischen Konstruktion, des »false surmise« der von Vergil in der 5. Ekloge statuierten Apotheose des toten Hirten Daphnis. Nach alter Inter- pretation steht Daphnis für Caesar, ist Caesars Apotheose schattenhafe Ankün- digung, umbra, der Auferstehung. In welcher Tradition Milton seinen counterplot ausarbeitet, welcher Variante der interpretatio christiana er hier ein Licht aufsetzt, lasse ich dahingestellt. Interessant ist allein die verborgene Insistenz des double plot. Denn wie Caesars Name unausgesprochen die Geltung des herrschenden Inter- pretationsmusters der bukolischen Apotheose garantiert, so bildet Edward Kings Name (»King«) den ebenso unausgesprochenen Bezugspunkt der wiederholten An- wendung desselben Musters (Caesar – King): fernes Echo nur, denn es ist nur der Name King, der nachhallt, nicht der Ruhm des Mannes Edward King. Die Ironie solcher Anklänge ist das durchgängige Markenzeichen Miltons; Harold Bloom hat es mit einem zentralen Terminus der zeitgenössischen Poetik (Puttenham’s Arte of English Poesie von 1589), Metalepsis oder transumptio belegt.25 Das akustische Echo stellt das metaphorologische Modell dar für diesen Typ der Anspielung, eines fernen Anklangs – »farfetched«, wie Puttenham sagt – der Zeichen aneinander unter iro- nischer Ausgrenzung des Bezeichneten, eines Nachhalls im Schema auf Kosten der in ihm überlieferten Substanz. Ich erspare Ihnen und mir die Masse der kriminalistischen Beweislast; philo- logisch ist man mit strukturellen Implikaturen immer in einer schwierigen Lage. Immerhin hat Milton einen Ausdruck dafür zur Hand, »crypsis of method« nach Ramus, eine Verbergungsstrategie des »concealment«, die die gewöhnliche Ord- nung der Dinge, die rhetorische Aufeilung der Gemeinplätze, auf den Kopf stellt: »And especially«, schreibt er in seiner Art of Logic, »the order of things will be inver- ted«.26 Die Verkehrung der Prioritäten (dessen, was zuerst war), Bloom zufolge die weitreichendste »ratio« des Miltonschen Stils, einer »revisionary ratio«, die ihn als Revisionär vom Schlage Freuds ausweist, bedeutet im Fall der Trauer, deren Arbeit Lycidas gewidmet ist, die Ersetzung des Trosts durch die Ironie des Überlebenden: eine »heimliche Ironie«, wie Bodmer dieselbe fgura cryptica verdeutscht hat; eine durchaus unheimliche Ironie indessen auch, deren Realitätsprinzip noch in Freuds Unterscheidung von Trauer und Melancholie nicht frei von narzißtischen Präroga- tiven, einem gewissen Zynismus sein wird.

25 Harold Bloom, A Map of Misreading, Kap. 7. Vgl. John Hollander, Te Figure of Echo: A Mode of Allusion in Milton and Afer (Berkeley CA: University of California Press 1981), Kap. 5 »Echo Metaleptic«. 26 John Milton, Artis Logicae Plenior Institutio, Ad Petri Rami Methodum concinnata (1672), ed. Walter J. Ong, Te Complete Prose Works of John Milton VIII (New Haven CT: Yale Uni- versity Press 1982), 395. Vgl. Walter J. Ong, S. J. »Logic & the Epic Muse: Refections on Noetic Structures in Milton’s Milieu«, Achievements of the Lef Hand: Essays on the Prose of John Milton, ed. Michael Lieb und John T. Shawcross (Amherst MA: University of Massa- chusetts Press 1974), 239–268: 247. 194 Klopstock mit Milton

Was den armen King angeht, dem Milton nicht wohl wollte, zieht diese Ironie, die metaleptische Verkehrung der bukolischen Verhältnisse, die den Fall Lycidas zu höheren Zwecken, aber auf Kosten des Betrofenen löst, eine weitere, ungewollte Ironie nach sich – eine »historische Ironie«, deren Meister Milton nicht war, der aber sein eigenes Handeln in der politischen Konsequenz des Arguments erlag, die er später, 1645, mit dem Gedicht verbunden sehen wollte: »And by occasion« so der zitierte Nachsatz zur »Headnote« des Lycidas (1645), »foretells the ruine of our corrupted Clergy then (1637) in their height.« Man muß sich vor Augen halten, daß der Freund, dessen akademisches Gedenken die Beiträger einschließlich Mil- tons zusammenbringt (»a learned friend«), Anwärter auf eine bedeutende Karriere in derselben »Clergy« war, dessen Weg über einschlägige Beziehungen in Christ’s College, Cambridge, schon zu einem bedeutenden königlichen Stipendium geführt hatte, einem fellowship mit rhetorisch-poetischen Ansprüchen, denen Milton selbst ungleich näher kam als der mit Vorschußlorbeeren bedachte King, der mit seinem plötzlichen Tod ein unbeschriebenes Blatt, Autor weniger und überdies schlechter lateinischer Verse blieb. Der König aber, der dem armen King vorzeitig und mit schlechten Gründen seine Gunst lieh, war derselbe Charles I., mit dem es 1645 be- reits hefig bergab ging, dessen schließliche Hinrichtung im Jahr 49 von Milton be- grüßt und ofziell gerechtfertigt wurde. Königsmord, bemerkt er schon früher bei der Arbeit an seiner History of Britain, sei »the only efectual cure of ambition that I have read.« – Bleibt anzumerken nur, daß der arme König schon gut zehn Jahre später als »Charles the Martyr« apotheosenhaf wiederkehrte, und wir nur der Milde seines Sohnes Charles II. Paradise Lost verdanken. Milton der Dichter wurde ver- schont.27 Als Milton seinen Lycidas zuerst mit dem Datum »Novemb: 1637« überschrieb, hat er nicht bloß die Abfassung des Gedichts datiert; er hat es mit diesem Datum im Kalender markiert, und diese Markierung ist wichtiger als der Schreibakt, der sich zu dieser Zeit tatsächlich zutrug, aber auch wichtiger als das tatsächliche Todes- datum, der 10. August. In Spensers Shepherds Calendar, dem direkten literarischen Vorgänger des Lycidas, ist der November der Monat der pastoralen Elegie; im Book of Common Prayer (Ausgabe von 1635), der liturgischen Vorgabe, die Milton im Kontext der Obsequien Edward Kings unterlegt, führt der Monat November als be- deutendsten Eintrag nach dem Fest Allerheiligen das Fest »Edmund King« (»King Edward the Martyr«).28 Deutlicher als in dieser Entgegensetzung von literarischem und liturgischem »plot« läßt sich die Rede vom »double plot« wohl nicht exem- plifzieren. Es handelt sich freilich – »crypsis of method« – nicht um die Steigerung des einen im anderen, sondern umgekehrt – »inverted order of things« – um die kontrapunktische Anlage des counterplot. Über dem liturgischen Kontrapunkt des Gedichts, der unter den eschatologischen Vorzeichen des »Yet once more« die Obse- quien Edward Kings in den Ritus King Edwards einträgt, erhebt sich die pastorale Konstruktion der Elegie, in der die Apotheose des Königs Edward nach dem typolo-

27 Siehe die Darstellung der Ereignisse in Parkers Milton-Biographie, I: 341. 28 Nach Joseph A. Wittreich, Visionary Poetics: Milton’s Tradition and His Legacy (San Marino CA: Huntington Library 1979), 98 f. Milton’s Counterplot 195 gischen Vorbild Caesars übertragen wird – travestierte translatio imperii – auf einen anderen Hirten, der einen anderen King meint. Die Radikalität des counterplots, so könnte man sagen, liegt in einer Literalisie- rung, in der die fortgesetzte Metaphorik buchstäblich wird, diese Buchstäblichkeit aber die typologische Konstruktion als bloßes Konstrukt, die bukolische Stafage als verlogenes Spiel, das Echo der Symbole als akustische Täuschung vorführt. Vorführt, denn die Bühne mit der Bahre steht noch, von der der Sänger im Hirten-Aufzug ab- tritt und zu neuen Weiden aufricht.29 Für Milton trägt diese Wendung zum tätigen Leben, die das Ende von Paradise Lost vorwegnimmt, wo sich Adam und Eva bei den Händen fassen und beherzte Schritte in die vor ihnen ausgebreitete Welt tun, politi- sche Züge; sie ist nicht mit der Lebensphilosophie eines Valéry zu verwechseln, der seinen Cimetière marin verläßt mit der Auforderung »zu leben zu versuchen.« Kein »Il faut tenter de vivre!« (letzte Zeile Valérys), wiewohl Miltons anschließende italie- nische Reise, die Flucht aus dem Vaterhaus nach dem Tod seiner Mutter, den Biogra- phen des Dichters diese Konsequenz der letzten ottava rima Strophe nahegelegt hat. Schon die letzten acht Zeilen der 10. Ekloge Vergils hatten auf eine Distanzierung gedrungen, mit der sich der Autor am Abend vom bukolischen Schauplatz zurück- zog, um nicht der Melancholie der Schatten, umbrae, zu verfallen: Melancholie- Prophylaxe, in der Milton Vergil folgt; in der Keats, dessen Ode on Melancholy von hier ihren Ausgang nimmt, Milton nicht mehr zu folgen vermag.30 Für Milton bleibt die Bildungsreise ein Intermezzo, das abzubrechen er sich ein politisches Gewissen machte. Was immer diese Gründe gewesen sein mögen: daß es eine Welt solcher Gründe gab, der er – »lef-handed« wie er sagte – den größten Teil seines Schreibens widmete, macht das quasi puritanische Leistungs-Ethos Miltons aus. Die gnadenlose Destruktion der ideologischen Schemata, das Ad-absurdum- Führen ihrer literarischen Muster, endet nicht in der barocken Melancholie des Benjaminschen Allegorikers, »auf Gnade und Ungnade ihm ausgeliefert«.31 Freud spricht von der narzißtischen Regression des Melancholikers, in der »die narzißti- sche Identifzierung mit dem (verlorenen) Objekt (...) zum Ersatz der Liebesbeset- zung« geworden ist.32 Sie wird von Milton als zwangsläufge, strukturell gegebene, melancholische Disposition der bukolischen Gattung der Trauer, der pastoralen Ele- gie, diagnostiziert und verworfen: de-komponiert in einem sehr modernen Sinne, den die New Critics, allen voran Ransom, zu schätzen gewußt haben. Milton ergeht sich nicht in falscher Trauer, zu der er, der Einfühlung seiner Biographen zufolge, allen Anlaß gehabt hätte; er führt sie als »false surmise« seinen Lesern vor, nicht ohne sich die insgeheime Genugtuung zu leisten, den ungeliebten Konkurrenten

29 Vgl. Klaus Hofmann, »Das Evangelium der Idylle: Miltons Lycidas,« Anglia 88 (1970), 461– 487: 477, 486. 30 Vf. »Mourning Becomes Melancholia: A Muse Deconstructed – Keats’s Ode on Melan- choly« New Literary History 21 (1989), 693–706; dann in Leaves of Mourning: Hölderlin’s Late Work. With an Essay on Keats and Melancholia, tr. Vernon Chadwick (Albany NY: SUNY Press 1995). 31 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), Gesammelte Schrifen I (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 359. 32 Sigmund Freud, »Trauer und Melancholie« (1917), Freud-Studienausgabe III (Frankfurt a. M.: Fischer 1975), 203. 196 Klopstock mit Milton namenlos in die Sterne zu versetzen, ihn mit der Gattung ein weiteres Mal Schif- bruch erleiden zu lassen: der – einigermaßen infam – an seiner fama vollstreckt, was eine unglücklich gesonnene fortuna zu früh vollendet hatte. Entsprechend besteht die Pointe des pastoralen counterplot der Apotheose, die rhetorische Finte des »false surmise,« nicht in der »überspannten Transzendenz«, die nach Benjamin für das deutsche Trauerspiel prägend war und es als Gattung exemplarisch scheitern läßt. Ein vergleichender Exkurs, in den ich hier nicht eintreten kann, über – etwa – das »Letzte Ehren-Gedächtnis«, das 1660 der 15jährigen Mariane von Popschitz ausgerichtet hat: das monatelange Festhalten an der Leiche des Mädchens, die buchstäbliche Verwandlung ihres Körpers in heilsverheißende Schrif, könnte bis ins Detail jeder Verrichtung zeigen, in welcher Überspannung der Anstrengungen Transzendenz zu erzwingen, das falsche Spiel des »false surmise« abzuwehren, der Verdacht der »leeren Spekulation« zu zerstreuen war: ein großer Aufwand, bei dem der Toten selbst das letzte Wort, ein Verbot weiterer Trauer an die allein zurückblei- bende Mutter blieb.33 Nichts Vergleichbares bei Milton, keine kunstvoll aufgebaute Leiche, keine Stimme aus dem Jenseits, kein »redender Totenkopf«, der das Emblem überspannter Transzendenz ist. Statt dessen ein an die Küste verbannter guter Geist, kaum ein Leuchtfeuer, das von dem unter die Sterne versetzten Daphnis geblieben wäre. Kein Trost, aber abgründige Ironie, metaleptische Zersetzung, puns. Gryphius restituiert in einer letzten Anstrengung, die alle Zeichen der Über-Anstrengung trägt, eine Institution der Trauerbewältigung, die Milton fern lag (abgesehen davon, daß ihre Praxis in England andere Verfallserscheinungen zeitigte). William Empson hat auf den pun »mourning«/»morning« aufmerksam gemacht (die »morning rose« in Keats’ Ode on Melancholy), der die Trauer und den nach durchwachter Todesnacht hereinbrechenden Morgen zusammenschließt.34 »While the still morn went out with sandals gray« (Vers 186) zeichnet nicht nur ein viel bewundertes Naturbild, sondern im grauen Heraufommen des neuen Tages eine still und auf Dauer gestellte Trauer. Sie ist in der Apotheose des Lycidas aufgehoben in distanzierter, mythischer Re-inszenierung des in jedem Untergang der Sonne prä- fgurierten Neuaufgangs, gipfelnd im Shakespeareschen Bild vom »forehead of the morning sky« (Vers 171), wo die anthropomorphe Trauer auf dem Antlitz der Natur im triumphalen Aufgang des neuen Morgens aufgehoben ist. Bei Gryphius dagegen trägt dasselbe bewährte Bild der Auferstehung, der anbrechende Morgen, die un- auslöschlichen Züge der durchlittenen Nacht, der Schrecken des hereinbrechenden Todes.35 Was immer die Ambivalenzen waren, die Milton Grund hatte in Lycidas durchzu- spielen und die fehlende Trauer um den ehemaligen Kommilitonen in Trauerarbeit

33 Letztes Ehren-Gedächtnis/ Der ... / Jungf. Marianen/von Popschitz/ ... aufgesetzet von/ AN- DREA GRYPHIO (1660), Trauerreden des Barock, ed. Maria Fürstenwald (1973), Nr. 11, 131–202: 202 »Abschids-Worte /.../ An Ihre Höchstbetrübte Fraw Mutter«. 34 William Empson, Seven Types of Ambiguity (London: Chatto and Windus 1930, 1947, 1953), 216 (über puns siehe Kap. 3). Vgl. hier die Übersicht von Jonathan Culler, »Te Call of the Phoneme: Introduction«, On Puns: Te Foundation of Letters (London: Blackwell 1988), 5, 7, 9 mit der einschlägigen Ablehnung dieses Mittels durch Dr. Johnson. 35 »Letztes Ehren-Gedächtnis«, 158 »Das Letzte Licht der Nacht«: Nr. VII. der »Sinnenbilder so auf dem Leichen-Tuch zu schauen gewesen«. Milton’s Counterplot 197 an der Tradition zu verschieben, diese Verschiebung selbst läßt neben dem Anlaß zu diesem Gedicht eine andere Veranlassung zur Trauer ahnen, deren Energien indirekt in den Text eingegangen, in ihm aufgehoben wären. Man hat deshalb viel vom Tod der Mutter geschrieben, die Milton in Lycidas eigentlich, unter dem allegorischen Vorwand der ihm abverlangten Pfichtübung mit-betrauere. Nach unserer Lektüre kann das so nicht richtig sein; aber es ist wohl richtig, daß Milton, nach der festen Verankerung des christlichen Kontrapunkts seines Gedichts zu schließen, fest auf dem Boden der Realität blieb und das eine nicht mit dem anderen verwechselte. Er mag indessen eine Spur seiner wirklichen Trauer, ohne die eine derartig großan- gelegte Abweisung falscher Trauer und – ex negativo – eine derartig tiefe Einsicht in die Natur der Trauerarbeit nicht denkbar wäre, ins Ende des Gedichts eingeschrie- ben haben: in jenen viel gefeierten Abschied von der englischen Landschaf, den er in Erwartung der italienischen im perfekten Maß der ottava rima abfaßte. In der sich glättenden Oberfäche des Gedichts sinkt die Sonne ein weiteres Mal: »the sun«/»the son,« ein pun, wie der Milton-Leser weiß, der im wichtigsten Gedicht Miltons vor Lycidas, der Nativity Ode, vorbereitet ist: der im Englischen sinnfälligen phonetischen Übereinstimmung des sol invictus mit dem Menschensohn, dessen Geburt zu Weihnachten, »Nativity«, zu feiern ist. Hier, in den letzten Versen des Lycidas sinkt die Sonne und endet den bukolischen Tag; und in irritierender, aber grammatisch zwingender Anknüpfung an »the Sun« – »strech’d out ... And now was dropt« – fährt Milton fort: »At last he rose«: »he,« »the Sun,« der als Sohn, »the Son,« sich nun, in Erwartung des neuen Sonnenaufgangs, erhebt und seinen blauen Mantel – wie die Sonne den ihres blauen Morgens – um sich zieht, fröstelnd.36 Die Trauer des Sohns hat in diesem Text keinen Platz, aber der trauernde Sohn hat an seinem Ende eine Spur, in der ihm eigenen Metalepse des kollektiven Heilssym- bols der Sonne seine ihm eigene Spur, eingetragen. Das ist noch nicht die Krypta, die Hölderlin in die allegorische Ruine der Mnemosyne einschreiben wird, auch nicht der Grabstein, vor dessen Schrif Gray und Haller enden, gewiß nicht die Melan- cholie, gegen die sich Keats zur Wehr setzt und aufgibt. Aber eine Marke, markierte Referenz, ohne welche die Trauer über Melancholie nicht hinauskäme. Wie sehr Milton auf den Efekt einer solchen kontrapunktisch eingebauten Referenz baut, wie notwendig Trauer an solcher Referenz festhält, mag eine letzte Zeile Miltons, die letzte Zeile des letzten Sonetts des 50jährigen blinden Milton, erhellen. Im Traum erscheint ihm, greifar nahe, seine verstorbene Frau – »Methought I saw my late espoused Saint« – doch als sie am Ende ihn zu umarmen ansetzt und er der Ver- suchung des Traums nachgibt, erwacht er: »I waked, she fed, and day brought back my night.«37 Auch die Konstruktion dieses Bildes, der dem Trauernden als Nacht aufgehende neue Tag, ist bezeichnet von derselben, nun umgekehrten Referenz; denn er ist ja tatsächlich blind und sein Tag buchstäbliche Nacht, seine Trauer wort- wörtlich sein Überleben.

36 Worterläuterungen bei C. S. Jerram (ed.), Te ›Lycidas‹ and ›Epitaphium Damonis‹ (1874, 1881), Milton’s Lycidas, ed. Elledge, 315. 37 Milton’s Sonnets, ed. E. A. J. Honigmann (London: Macmillan 1966), Sonnet XXIII, Kom- mentar 47 und 190–194. 198 Klopstock mit Milton

All Passion Spent — The End Samson Agonistes oder: Das Ende der Gerechtigkeit

Then, for the Last Word. Certainly ordinary language has no claim to be the last word, if there is such a thing.1

The Argument

Die Moderne macht sich keinen Begrif vom Ende, sie macht sich mit der Zukunf zu schafen. Die Utopie der neuen Anfänge überspielt das Ende des Alten und ver- gißt das alte Ende. Es hält sich in der verkappten lexikalischen Solidarität, in der jedes Ende, das tatsächlich eines ist, der Tod jedes Einzelnen, ein »tragisches Ende« heißt.2 Das sogenannte happy end ist dagegen nur der Anfang eines neuen Lebens, mit dessen Aussicht wir am Ende des Films ins weitergehende eigene entlassen werden. Daß es verpönt ist, fällt der Kunst als Problem zu. Schon die christliche Philosophie war mit dem Ende der Zeit in die Verlegenheit geraten, den zu erwar- tenden katastrophischen Charakter des innergeschichtlichen Endes mit der außer- geschichtlichen Erwartung in Einklang zu bringen.3 Indessen: »Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.«4 Benjamin hatte diese Einsicht am 17. Jahrhundert gewonnen, das nach antiken Maßen einen Begrif vom Ende zurückzugewinnen schien. Milton, dessen Epos vom Paradise Lost (und das hieß implizit auch schon Paradise Regained) die Vorlage für eine christliche Metamorphose in puritanisches Leistungsethos abge- geben hatte, schließt sein Werk mit einer eigenwilligen, obskuren Aneignung von tragischem Pathos. Samson Agonistes schlägt ein Ende an, wie es allenfalls im antiken Gewand denkbar war und geblieben ist. Er nennt es eine Tragödie und läßt dem Ka- tharsis-Zitat auf der ersten Seite den Vollzug in der letzten Zeile folgen: »all passion spent.« Unvermerkt ist der Chor am Ende seines letzten Aufritts in ein Reimsche- ma verfallen, dessen nachklingende Qualität der Endung das stärkste Gewicht gibt, das Sonett (»Klinggedicht« in den zeitgenössischen deutschen Poetiken). Der letzte Reim kommt nicht unvorbereitet, er klingt nach (auf »intent«, auf »event«) und zieht

1 J. L. Austin, »A Plea for Excuses« (1956), Philosophical Papers (Oxford: Clarendon Press 1961), 133. 2 Eugenio Coseriu, »Lexikalische Solidaritäten«, Poetica 1 (1967), 293–303. Nur Hunde bel- len buchstäblich, was nicht heißt, daß sie immer bellen oder nichts anderes tun, aber man erkennt sie daran. Nur Enden sind buchstäblich tragisch und man erkennt sie daran. 3 Beispielsweise Joseph Pieper, Über das Ende der Zeit: Eine geschichtsphilosophische Betrach- tung (München: Kösel 1950, 1980), 81. 4 Walter Benjamin, »Zentralpark« § 35, Gesammelte Schrifen I (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 683. All Passion Spent — The End 199 prompt nach sich: »THE END«.5 Das Ende vom Lied (Parzival), der Anfang vom Ende (Ein Sommernachtstraum)?

I Ende gut, alles gut

So versöhnt die Komödie mit der tragischen Einsicht, daß alles Ende – als Ende betrachtet – gut ist. Es war die Erfndung ›individueller Eschatologie‹, der man diese Versöhnung zu verdanken hatte.6 Zwar konnte sie nicht unbedrängt bleiben von Katastrophen, deren letzte, im »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, Adorno zu den Anstrengungen seiner Negativitätsästhetik brachte.7 Das Pathos des Tragischen – so schien es in Adornos oder Szondis oder auch de Mans Variante – war unfähig, das nötige Maß an Trauer noch zu erbringen. Unmöglich war dieses Maß geworden nicht wegen des Ausmaßes der Verluste.8 Unfähig war sie geworden, seit sie umge- bucht worden war auf die Konten sogenannter bürgerlicher Helden. Die Tendenz des bürgerlichen Trauerspiels, den Mechanismus griechischer Tragödien für die guten Zwecke der Emanzipation umzufunktionieren, läßt den Endspielen Becketts nichts als eben die Negativität der Refexion.9 Das Tragische selbst war längst in die prekä- re Enge des privaten happy end übergewechselt und machte Sinn auf der anderen Seite solcher Verhältnisse, in der Heteronomie des Ästhetischen durch politische Fremdbestimmung.10

5 John Milton, Complete Poems and Major Prose, ed. Merrit Y. Hughes (New York: Macmillan 1957), 531–593. Einleitung und Kommentar dieser Ausgabe sind nach wie vor unüber- trofen. 6 Als ›Epochenschwelle‹ auf den Begrif gebracht in Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966), 33; Neubearbeitung Säkularisierung und Selbst- behauptung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 56; illustriert von Umberto Eco, Der Name der Rose (München: Hanser 1982). Die Erfndung des Kriminalromans aus dem Geist in- dividueller Eschatologie, die Eco als Vorspiel zu dem späteren »puritan pleasure« dieser Gattung fngiert, entzündet sich prompt am Verlust des zweiten, der Komödie gewidmeten Teils der aristotelischen Poetik. 7 Teodor W. Adorno, »Versuch, das Endspiel zu verstehen« (1961), Noten zur Literatur II (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1961), 229, 232; jetzt Gesammelte Schrifen XI (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974). Dann Peter Szondi, Versuch über das Tragische (Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1961); jetzt Schrifen I (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978); sowie Die Teorie des bür- gerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973), Studienausgabe der Vorlesungen I. 8 Zum Begrif der ›unmöglichen Trauer‹ – im Unterschied etwa zu der Unfähigkeit der Deutschen zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich (Frankfurt a. M.: Fischer 1962) – siehe Jacques Derrida, Mémoires for Paul de Man (New York: Columbia University Press 1985, 1989), 6, 21, 32. 9 Gabriele Schwab, Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität: Entwurf einer Psychoästhe- tik des modernen Teaters (Stuttgart: Metzler 1981), 40 f. gegen Adornos Konsequenz der Zurücknahme der kommunikativen Funktion. 10 Diesen Zusammenhang hat Heinz-Dieter Weber deutlich gemacht und der Negativitäts- ästhetik als Aporie vorgehalten, »Stella oder die Negativität des Happy End«, Rezeptions- geschichte oder Wirkungsästhetik, ed. Heinz-Dieter Weber (Stuttgart: Klett-Cotta 1978), 142–167; sowie »Die Wiederkehr des Tragischen in der Literatur der DDR«, Der Deutsch- unterricht 29 (1977), 79–99. 200 Klopstock mit Milton

Vor Adorno hatte Benjamins Untersuchung des deutschen Trauerspiels die ge- schichtsphilosophische Diferenz zur Tragödie in den Blick genommen und dabei das Terrain neu vermessen, auf dem das tragische Ende dem Ansturm der indivi- duellen Eschatologie erlegen war. Das Scheitern seines barocken Gegenstandes im Angesicht der modernen Herausforderung hat Benjamin an umliegenden Orientie- rungsmarken, an Shakespeare und Hölderlin, auch an Calderón ermessen. Milton, den Dichter von Paradise Lost, dem Verdikt der deutschen Romantik verfallen, aber auch Hobbes, den Philosophen des Leviathan und Anreger Carl Schmitts, hat Benja- min nicht in Erwägung gezogen und von Burtons melancholischer Umwertung des älteren Kanons der Trauer keine Notiz genommen. Diese blinde Stelle, sieht man von Hobbes ab, ist kaum aufällig; sie entspricht der nachwirkenden Präferenz der Romantiker für Shakespeare.11 Was immer die Kontingenzen von Miltons Rezep- tionsschicksal in Deutschland an romantischer Verleugnung des 17. Jahrhunderts befördert haben mögen, die erratischen Abmessungen des Benjaminschen Unter- nehmens Ursprung des deutschen Trauerspiels zeugen von ihnen auf eine mehr als zufällige Weise. Unter dem Titel einer »Kritik der Gewalt« hat Benjamin die Sig- natur des Zeitalters des Barock in ihrer Ambivalenz für das 20. Jahrhundert auf einen Nenner gebracht, der die andere Seite darstellt zu der von Schmitt gleichzeitig propagierten, auf dasselbe 17. Jahrhundert datierten Politischen Teologie.12 Miltons Gott, wie ihn schonungslos William Empson vorgestellt hat, ist der Garant solcher Teologie wie auch die Quelle solcher Gewalt.13 Als Propagandist eines neuen po-

11 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fand die Bodmersche Übersetzung des Epischen Ge- dichts von dem verlohrnen Paradiese von 1732 weites Interesse; bis zum Ende des 19. Jahr- hunderts fnden sich Miltons Poetische Werke in Reclams Universalbibliothek, Leipzig 1868. Den Samson Agonistes gab es in einer Prosa-Übersetzung schon 1752; er ist zuletzt in der Übersetzung von H. Ulrich unter dem Titel Simson der Kämpfer und mit einer Ein- führung von Reinhold Schneider (Freiburg: Herder 1947) erschienen. Die Einführung be- ginnt (S. 1): »Vielleicht ist uns Miltons Gedicht darum so nah, weil es eine einzige Klage ist.« Und sie endet (S. 3): »In diesem großen Leiden stellt sich die Ordnung wieder her: in der Geduld des Leidens gewinnt der Mensch seine Krone zurück, und Trost und Frieden gehen aus von den Spuren derer, die ihre Schuld in ihrer ganzen Schwere ergrifen und ge- sühnt haben, eingedenk der Gnade, die auch die Schuld überwindet.« Man sieht, was 1947 dem Katastrophen-Stück abgewonnen werden sollte – nicht ganz von ungefähr, wie das Nachkriegs-Stichwort bezeugt, das für Samson Agonistes auf »regeneration« lautete. Zum Einsatz Miltons im Zweiten Weltkrieg ist Stanley Fishs Rezeptionsanalyse aufschlußreich, »Transmuting the Lump: Paradise Lost 1942–1972« (1986), Doing What Comes Naturally (Durham NC: Duke University Press 1990), 247–293. 12 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), Gesammelte Schrifen I: 245, zitiert und widerspricht im Absatz »Teorie der Souveränität« vor allem Carl Schmitt, Po- litische Teologie: Vier Kapitel von der Lehre zur Souveränität (Berlin: Dunker und Hum- blot 1922), 11. Dessen programmatischer Anfangssatz, »Souverän ist, wer den Ausnahme- zustand bestimmt«, wird von Benjamin wie folgt pariert und umbesetzt: »Der Souverän repräsentiert die Geschichte.« Die beste Engführung des Verhältnisses von Benjamin und Schmitt im Kontext der Zeit ist Norbert Bolz’ Artikel »Charisma und Souveränität«, Der Fürst dieser Welt: Carl Schmitt und die Folgen, ed. Jacob Taubes (Paderborn: Schöningh 1983), 249–262, mit dessen Schluß ich allerdings nicht übereinstimme, und das hängt an meiner Lektüre Miltons. 13 William Empson, Milton’s God (London: Chatto and Windus 1961, rev.ed. 1965), Antago- nist von C. S. Lewis, A Preface to Paradise Lost (Oxford: Oxford University Press 1942), und All Passion Spent — The End 201 litischen Anfangs, der mit nichts weniger als einem Königsmord belastet war, kehrt Milton am Ende zurück zu dem Ende, das dieser Anfang hinter sich wähnte. Das ist der Punkt, an dem er mit dem in allen Punkten konträren Hobbes am Ende über- einkommt – ein Tema, das bei allem Umfang der ›Milton industry‹ bisher keins geworden ist und es auch hier leider nur nebenbei werden kann.14 Es ist die Les- barkeit eines Endes, das der Anfang nicht allein fordert, sondern vor dem er – als Anfang – versagt hat. Was als Ende letzten Endes gut scheint, machte den neuen Anfang von Anfang an vergeblich: »calm of mind, all passion spent«, lautet der letzte Vers zur Gänze, den Miltons Drama sich darauf macht. Der Ursprung dieses Trauer- spiels – »göttliche Gewalt« bei Benjamin – widerruf sich selbst, einschließlich des Gottes – Empsons Gottes – dessen Macht er beweist. Widerrufener Ursprung, das ist nicht nichts, das bliebe; es ist die Bedingung einer Lesbarkeit, die mit Carl Schmitts Faible für römisch-katholische Sichtbarkeit nichts zu tun hat. Sie beläuf sich etwa auf das, was Benjamin am Ende seiner »Kritik der Gewalt« als die »Entscheidung« ankündigt, »wann reine Gewalt in einem bestimmten Fall wirklich war.«15 Den ge- schichtlichen Ablauf als Trauerspiel vorzuführen, das ist nach Benjamin die Idee

der dort auf den entwafnenden Nenner gebrachten Aufassung, 126: »Many of those who say they dislike Milton’s God only mean that they dislike God.« Empsons Konkurrent J. B. Broadbent, Some Graver Subject: An Essay on Paradise Lost (London: Chatto and Windus 1960, 1967), 3, 292, bringt die seither im Raume stehende Frage auf die Formel von der »conscious critique of the theology it postulates« und postuliert seinerseits zu ihrer Beant- wortung »a special reading«. 14 In John Aubreys Brief Lives, chiegey of Contemporaries, ed. A. Clark (Oxford: Clarendon Press 1898), II: 72, fndet sich am Ende von Miltons Leben der folgende Eintrag, der um so bedeutender ist, als Aubrey für Hobbes eine der wichtigsten Quellen ist: »His widowe assures me that Mr. T. Hobbes was not one of his acquaitance, that her husband did not like him at all, but he would acknowledge him to be a man of great parts, and a learned man. Teir interests and tenets did run counter to each other; vide in Hobbes’ Behemoth.« Behemoth, Hobbes’ Behandlung der Jahre 1640–60, erschien posthum, nach Hobbes, aber auch nach Miltons Tod 1682. Auf den Zusammenhang Hobbes, Aubrey, Milton macht, wenn auch verdeckt, Richard Peters aufmerksam, Hobbes (Harmondsworth: Penguin 1956, 1967), 40. Bis auf Samson Agonistes wäre man deshalb geneigt, David Quint zuzustimmen, der in »David’s census: Milton’s politics and Paradise Regained«, Remembering Milton, ed. Mary Nyquist und Margaret Ferguson (New York: Methuen 1987), 128–147: 144, die herr- schende Meinung bekräfigt: »›Hobbes‹ could be the name for that which all the various political strategies of Paradise Regained converge to resist.« Auf Paradise Regained aber – das macht alle Datierungsfraglichkeiten sekundär – läßt Milton als letztes seiner Werke Samson Agonistes folgen, eine Geste, die in zahlreichen Gesamtdarstellungen seines Werks charakteristischerweise dadurch abgeschwächt wird, daß man in der Abfolge der Werke Samson als eine Fermate vor den Schlußakkord des Paradise Regained stellt. 15 Walter Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt« (1921), Gesammelte Schrifen II (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977), 203. ›Wirklich‹ war sie nach Milton in Samsons Fall und der Autor Milton sorgt für ihre Lesbarkeit, die Benjamin zufolge alles ist, was man erreichen kann. An Benjamins Text knüpf Jacques Derrida an im zweiten Teil seiner programmatischen New Yorker Rede »Te Force of Law«, Gesetzeskraf: Der ›mystische Grund der Autorität‹ (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991). Siehe meinen Kommentar zur Stelle und zu Derridas Kommentar, »Ein unabwerfarer Schatten: Gewalt und Trauer in Benjamins Kritik der Ge- walt«, Gewalt und Gerechtigkeit: Benjamin – Derrida, ed. Anselm Haverkamp (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993); engl. »How to Take it (and Do the Right Ting)«, Cardozo Law Review 13 (1991), 1159–1171: 1165–66. 202 Klopstock mit Milton barocker Repräsentation. Sie ist barock, sofern sie als Hohlform ausstellt, »false surmise« in einer berühmten Wendung aus Miltons Lycidas, was in actu sehr massiv wirksam ist. Das ist die Szene. Enter Samson.

II Die Wiederkehr des gleichen Endes

Das politische Potential der Epoche, wie es in Benjamins Begrifen faßbar ist, fndet kaum eine bessere Bestätigung als die Aktualität Miltons. Was diesen seit dem Ur- teil Schellings oder auch dem von Marx zu einem überholten, weil religiös lang- weiligen Autor gestempelt hat, hält ihn frisch in der Neuen Welt. Von John Rawls’ Teory of Justice bis zu Stanley Cavells Postulat der »conversation of justice« fndet man Recht und Gewalt in Miltons Termini verhandelt – sei es beeindruckt vom Agon eines allgegenwärtigen ›precursor‹, der Milton für Harold Bloom zum Vor- läufer romantischer Selbstbehauptung bestimmt hat, sei es geprägt von der neuen rhetoric von force und law, die ihn zum Modellfall aufgeklärter Politik nach dem Geschmack Stanley Fishs macht.16 Für Fish liegt Miltons poetische Leistung in eben dieser erneuten Aktualität. Nirgendwo ist sie umstrittener als am Ende von Miltons Karriere, als der blinde, von der Vergeltung seines Anteils am Königsmord verschon- te Dichter mit Samson Agonistes als der einzigen Tragödie seines Lebens alle re- generativen Erwartungen, die Paradise Regained noch zu bestätigen in der Lage war, widerlegte. Am Ende eines Werks, das über den Verlust des Paradieses mit hiesiger Arbeit hinwegzukommen empfahl, steht unabweisbar das Ende einer Tragödie und das Ende als Tragödie. Die zunehmende Aktualität Samsons im letzten Jahrzehnt bedeutet eine Ver- lagerung der anhaltenden Milton-Konjunktur. Wie in ähnlichen Großunternehmen dieser Art (der Dante-, Shakespeare-, Baudelaire-, Kafa-Forschung) hat das auch interne Gründe, hier etwa solche der Gattung. Umso gravierender die Wahl der anderen Gattung, an der von Anfang an technische Mängel bemerkt, und für die autobiographische Gründe herbeigerufen wurden. An beidem ist etwas dran, aber

16 Mit Harold Bloom, dessen Neueinschätzung Miltons den Grundriß von Blooms Map of Misreading (New York NY: Oxford University Press 1975) bestimmt, hat Stanley Cavell die Komplikationen aufgewiesen, die Rawls’ Teory of Justice (Cambridge MA: Harvard Uni- versity Press 1971), riskiert, und sie unter einem Stichwort aus Miltons »Divorce Tracts« behandelt, »Te Conversation of Justice«, Conditions Handsome and Unhandsome (Chi- cago IL: Chicago University Press 1990), 101–126. Auf der selben Maxime beruht auch Cavells Behandlung des happy end in Te Pursuits of Happiness; Te Hollywood Comedy of Remarriage (Cambridge MA: Harvard University Press 1981). Die Ableitung des Prinzips Doing What Comes Naturally in Stanley Fishs Titel hat im Kapitel »Force« denn auch ihre schwächste Stelle. Fish’s erstes Milton-Buch hatte unter dem Titel Surprised by Sin (Berke- ley CA: University of California Press 1967), die Macht der satanischen Rhetorik Miltons beschrieben, die Blooms Romantik revolutionär und aufrührerisch macht, gleichzeitig aber den ›impliziten Leser‹ als einen puritanisch gefallenen, ›impliziten Sünder‹ entlarvt. Die Naturwüchsigkeit der politischen Entwicklung kann den die Milton industry befügelnden Hofnungen hier wie dort, im England der Restauration wie im Amerika der achtziger Jahre, so leicht nicht mehr aufelfen. All Passion Spent — The End 203 erst in dem Moment, in dem die Orthodoxie des Autors von Paradise Lost an In- teresse verlor, trat die Dimension des Paradigmawechsels Miltons schärfer hervor und mit dem Wechsel des Paradigmas das darin ins Auge gefaßte Ende. Daß es das Ende seiner Werke sei, kommt durch das ungleiche Tandem dieses letzten Bandes deutlich heraus. Kein Wunder auch, daß die Brücke vom Epos der Anfänge, das Paradise Lost ist, zur Tragödie des Endes, die Samson Agonistes dagegen hält, über die ›regeneration‹ lief, die den agonisierenden Helden schlagartig in einen trium- phierenden verwandelt.17 Die Logik des Umschlags schien sich schon aus der uner- müdlichen Milton-Kritik des Dr. Johnson zu ergeben, der Samson Agonistes dadurch erledigt sah, daß ihm trotz der ausführlichen Einleitung »Of that sort of dramatic poem which is called tragedy« die aristotelische Dreiteilung von Anfang, Mitte und Ende entgangen sei: »Tis is undoubtedly a just and regular catastrophe«, räumt Johnson für den Schluß ein, »and the poem, therefore has a beginning and an end, which Aristotle himself could not have disapproved; but it must be allowed to want a middle, since nothing passes between the frst act and the last, that either hastens or delays the death of Samson.«18 Die christliche Kompromißbildung, die Miltons interessierte, sei es christliche, sei es auch modernistische Verteidiger entwickelt haben, liegt in der sei es nun psycho- logischen oder spirituellen Interpretation dessen, was Johnson als Mitte vermißt und verlangt, in der Verkennung also des Umschlagmoments. Was C. S. Lewis, beim Wort genommen von Fish, im Ende von Paradise Lost als »untransmuted lump of futurity« ansah und als einen solchen Brocken der Rezeptionsgeschichte neu ans Herz legte, stellt sich in Samsons Geschichte als eine Sisyphosarbeit der ältesten Sor- te heraus, bei der von Zukunf im Sinne von Fortschritt keine Rede sein kann. Aber auch der apokalyptische Anschein trügt, wie die stoische Tendenz des letzten Verses beweist. Man wird sich also mit Miltons Aufassung der Katharsis noch genauer auseinandersetzen müssen und mit dem Begrif des Endes, den er aus der Aneig- nung des antiken Topos gewann – man würde sagen zurückgewann, handelte es sich

17 Exemplarisch in der jüngeren Literatur Anthony Low, Te Blaze of Noon: A Reading of Samson Agonistes (New York NY: Columbia University Press 1974); exemplarisch in der umgekehrten Richtung Joseph Wittreich, Interpreting Samson Agonistes (Princeton NJ: Princeton University Press 1986). Den in den Kommentaren maßgeblichen Ton hatte Una Ellis-Fermor angegeben, unter dem derzeit aktuellen Titel Te Frontiers of Drama (London: Methuen 1946), 32, mit dem apotheotischen Schluß einer »fnal assumption into beatitude« (beifällig zitiert in Hughes’ Kommentar, 546). Die Problematisierung, die damit nicht be- antwortet ist, steht schon bei Don A. Cameron, Te Harmonious Vision: Studies in Milton’s Poetry (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1954, 1970), 83: »Samson centers on the regeneration of a desperate man and includes in its circular scope all of the theological dicta on the genesis and cure of despair.« Siehe auch den rückblickenden Kom- mentar von Anthony Low, Annotated Bibliography of Samson Agonistes (New York NY: New York University Press 1993). 18 Samuel Johnson, Rambler 139 (16 July 1751), hier nach Milton: Te Critical Heritage, ed. John Shawcross (London: Rouledge Kegan Paul 1970–76), I: 219–20. Von diesem Urteil geht die gesamte Forschung aus. Siehe zuletzt die Minimalversion, wieder von Stanley Fish, »Spectacle and Evidence in Samson Agonistes«, Critical Inquiry 15 (1989), 556–586: 557: »Tere must be something – shall we call it a middle? – to occupy (and thereby obliterate or cover up) the space between what was and what is now« (»what was and what is now« ist implizites Zitat des Eingangsmonologs von Samson Agonistes, I.22). 204 Klopstock mit Milton nicht bei der Figur dieses Endes um eine postchristliche, die die vorangegangene christliche Anknüpfung relativiert, distanziert. Dagegen spricht nicht, daß Miltons Einleitung zu Samson Agonistes die Anknüpfung als immer schon latent gegebene herunterspielt und Euripides als selbst von Paulus akzeptierte Größe zitiert. Sam- sons prototypische, alttestamentarische Rolle, auf die der an Augustins De agone Christiano anspielende Titel hinweist, gehört zu den im Text vorausgesetzten, aber pointiert gelöschten Momenten; Christus kommt in ihm dezidiert nicht vor, wie im folgenden auszuführen ist. Um die Umbesetzung der Figuren der Anknüpfung in Figuren der Distanz ist es also zu tun, wobei das relativierende Moment des »retroping« das problematische Moment ist; es geht um den Endhorizont solcher rhetorischer Bewegung, um die Einsicht in ihre endgültige Begrenzung statt ihrer fortlaufenden Entgrenzung. Bloom hatte die Hauptfgur Miltons als Metalepsis, oder transumption, diagnostiziert und als eine Form der Entautomatisierung der überlieferten, typologischen Schemata verstanden, was konsequent zum romantischen Genie führt.19 Diese großzügige, auf echohafe Freisetzung zielende Aufassung fand in Dr. Johnsons »Life of Milton« ihre aufgeklärteste, vom Ballast dogmatischer Auseinandersetzungen entschärfeste Dar- stellung: »He saw Nature as Dryden expresses it, through the spectacles of books; and on most occasions calls learning to his assistance. Te garden of Eden brings to his mind the vale of Enna, where Proserpine was gathering fowers (...)«.20 Genauer als diese allgemeinste Weise intertextueller ›Aufebung‹, die über Dryden und das Re- zeptionsschicksal Miltons in der Restauration an Klassizität gewann, noch erkennen ließ, ging Empsons Lektüre daran, den grundlegenden double plot aufzudecken, der dem vermeintlich dekorativen Nebeneinander unterliegt. Daß der heidnische Unter- grund bei Milton poetisch das Übergewicht habe, war der Trost Empsons, nicht die hinterrücks vollzogene, romantische Substantialisierung, die Fletcher an Milton für

19 Bloom, A Map of Misreading, Kap. 7, fortgeführt in Te Breaking of the Vessels (New York NY: Columbia University Press 1982), Kap. 3: »Transumption: Towards a Diachronic Rhe- toric (Blanks, Leaves, Cries)«. Siehe danach auch John Hollander, Te Figure of Echo: A Mode of Allusion in Milton and Afer (Berkeley CA: University of California Press 1981), der das ältere Werk von Angus Fletcher ergänzt, Allegory: Teory of a Symbolic Mode (Ithaca NY: Cornell University Press 1964), 328 über »Puttenham: the Elizabethan subversive.« Über diesen locus classicus, Puttenham bei Fletcher, geht die gesamte Diskussion zurück auf eine Umbesetzung des älteren Paradigmas der von und gegen T. S. Eliot kreierten ›Me- taphysicals‹. Die subversive, (modernistische) Intention steht noch im Titel »Te Breaking of Form«, Blooms Beitrag zu Deconstruction and Criticism (New York NY: Seabury Press 1979), 1–37, 34, wo allerdings auch, 30–31, Benjamin ins Spiel kommt als »foreshadowing the deconstruction of Derrida and even more of de Man«. Mit dem Gewährsmann Flet- chers, Empson, ist dieser Kreis zu schließen. 20 Samuel Johnson, »Life of Milton«, Prefaces, Biographical and Critical to the Works of the English Poets (1779), hier nach Milton: Te Critical Heritage I: 303 (seine Hervorhebung). Siehe zur Stelle William Empson, Some Versions of Pastoral (London: Chatto and Windus 1935/Harmondsworth: Penguin 1966), wo in Kap. 2 der Begrif des »double plot« ein- geführt wird und Kap. 5, 141–42, Empson in einer symptomatologischen Lektüre Bentleys (nicht Johnsons) zum Schluß kommt: »A man who had given his life to the classics might easily have suspected it; it is to Milton that the pagan beauty of these gardens has appealed more richly than the perfection of the garden of God.« Von hierher kommt Fletcher, Alle- gory 182–84, bei dem »magical interaction« als poetisches Substrat herauskommt. All Passion Spent — The End 205 wertvoll hält. Wie immer man es mit den counterplots halten mag, die Milton als kontrapunktische Efekte seinem Epos eingebaut hat, ihre »heimliche Ironie«, die ein Bodmer schon erkannt hatte, bleibt eine labile.21 Hat man aber den fruchtlosen Streit, wieweit Milton antike Muster erfolgreich christianisiert habe, dahingehend verschoben, wieweit er sein Christentum poetisiert und in diesem Prozeß einer antikischen Metamorphose unterzogen hätte, ist das tragische Ende nicht mehr weit. »All is best«, der nach dem Stand der Dinge ungeheuerliche Eingangsvers der Schlußstrophe, zieht ein Fazit, das dem Chor, der es ausspricht, auf doppelte Weise ansteht: es entlarvt die orthodoxe Hypokrisie der Überlebenden über die Jahrhun- derte (wer immer sich zugehörig fühlen mag) und trägt als versteckte Wahrheit das fürchterliche Geheimnis dieses Überlebens.

III Ein Ende, das keinen Anfang erzwingt

Was wäre ein Ende, das keinen neuen Anfang brächte, das nicht die Figur eines Neuen wäre, ein ›defnitives‹ (nicht ›fguratives‹)? Samson Agonistes führt ein solches Ende vor und auf, und noch die Unterstellung, daß es sich wiederholte, wäre zuviel – darin irren die, die in diesem Stück das Scheitern der puritanischen Revolution mehr als nachklingen hören. Darin unterscheidet sich Samson Agonistes auch von der Schwäche des zeitgenössischen deutschen Trauerspiels, die Benjamin gleichzeitig als das Scheitern einer Stärke beschrieben und auf den Nenner von der »Überspannung der Transzendenz« gebracht hat: »wie die Intention zuletzt im Anblick der Gebeine nicht treu verharrt, sondern zur Auferstehung treulos überspringt.«22 Milton ver- harrt im Anblick der Gebeine, darunter Samsons, während der Chor treulos zur Tagesordnung übergeht und der Zuschauer in Erschöpfung, »all passion spent«, zurückbleibt. Kein Gedanke daran, wie Adam und Eva am Ende von Paradise Lost ihr Schicksal in die Hand nahmen, »Some natural tears they dropt, but wip’d them soon/ Te world was all before them, where to choose (...)« (XII, 645–46). Auch Milton überspannt, aber statt prompt überzuspringen und Transzendenz zu erzwin- gen, bleibt es bei der Katastrophe, die Simonides, in der Überlieferung Ciceros und Quintilians, zur Erfndung der Gedächtniskunst gebracht und diese zum Geheimnis der Dichtkunst gemacht hatte. Doch ich greife vor.

21 Siehe Geofrey Hartmann, »Milton’s Counterplot« (1958), Beyond Formalism (New Haven CT: Yale University Press 1970), 114, der diesen Begrif am selben Beispiel erläutert wie Bodmers Critische Abhandlung von 1740. Vgl. Vf. »Miltons Counterplot. Dekonstruktion und Trauerarbeit 1637: Lycidas«, Deutsche Vierteljahrsschrif 63 (1989), 608–627: 613. Als ›counterplot‹ betrachtet ist Lycidas der einzige Vorgänger, man könnte sagen, das Vorbild, auf das Milton mit Samson Agonistes zurückkommt (so auch Empson, Milton’s God, 228). Ernest Gilman, Iconoclasm and Poetry in the English Reformation: Down went Dagon (Chi- cago IL: Chicago University Press 1986), Kap. 6, unterstreicht mit dem ikonoklastischen Charakter der englischen Reformation die Zerstörung der idolatrischen Philister und be- gründet daraus die ikonoklastische Intention der Literatur, der freilich wie Samson auch Milton in seiner politischen Absicht mit erlegen ist. 22 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 406; zu Gryphius im Vergleich mit dem jungen Milton, Vf. »Miltons Counterplot«, 621–22. 206 Klopstock mit Milton

Die Geschichte Samsons ist bekannt, wie der Mythos zu jeder Tragödie es nur sein kann; Milton kann sich auf einen sehr ausdiferenzierten Erwartungshorizont der Zeitgenossen beziehen, eine Kurrenz des Temas, die in Rembrandts Darstellung der Blendung und in Vondels Drama seine bekanntesten Exemplare hat. Weiber- list und heilige Rache sind die leicht durchschaubaren Motive der Epoche. Miltons Tendenz, »key Miltonic strategy«, wie Fish jüngst wieder gezeigt hat, ist die kon- sequente Durchkreuzung der im Raume stehenden Möglichkeiten: »everything that serves in the sources and analogues to produce interpretive certainty is also to be found in Samson Agonistes, but it is found in the wrong place, that is, in a place where it multiplies rather than reduces interpretive crisis«.23 Milton schürt eine Kri- se, an deren Grund die alttestamentarische Katastrophe Samsons tragische Gestalt annimmt. Der antikische counterplot gewinnt die Oberhand, die Empson in Miltons »dedication to the classics« immer schon erfolgreich gesehen hat.24 Nicht nur folgt der erste Aufritt Samsons dem des Ödipus of Kolonos bis ins umstrittene Detail, also dem Drama des Sophokles, dem sich der blinde Milton besonders nahe fühlte; man hat im letzten Aufritt des Chors Zitate von nicht weniger als fünf Euripides- Tragödien gefunden, des Dramatikers also, den Milton am höchsten schätzte. Die unausgesetzte, das ganze Stück durchziehende Verfechtung des biblischen Stofes mit tragischen Pointen, die an sich in der kontrapunktischen Belebung von Paradise Lost nicht wesentlich zu unterscheiden brauchte, ist verstärkt bis an den Rand des sprachlich Erträglichen durch eine musikalische Struktur, die Samson Agonistes an italienische Muster bindet und mit der Entwicklung des italienischen Musiktheaters vergleichbar macht. Der Efekt ist unerhört und überschreitet, so genau er beschreibbar ist, die Chan- cen üblicher Auführbarkeit. Unübertrofen die Analyse von F. T. Prince, für den der lebenslange italienische Einfuß, dem Milton in seiner Verssprache gefolgt ist, im Samson Agonistes wie folgt gipfelt:

One might say, then, that the secret of the music of this verse is that it is rhymed verse which does not rhyme, or un-rhymed verse which seems to do so: whichever description we prefer, the intermittent occurence of full rhyme is essential to the total effect. (...) This discovery that a line-ending can be obtrusive either by the absence or the presence of rhyme corresponds to Milton’s earlier discovery, first applied in the sonnets (...), that

23 Fish, »Spectacle and Evidence«, 570. Die einschlägigen zeitgenössischen Stücke sind ge- sammelt unter dem Titel Tat Invincible Samson: Te Teme of Samson Agonistes in World Literature with Translations of the Major Analogues, ed. Watson Kirkconnell (Toronto: Uni- versity of Toronto Press 1964). Wie Lows Annotated Bibliography, 189, mit Recht geltend macht, ist es mit dem Aufweis des gezielt fehlenden »middle« nicht getan: »With Samson safely dead, Manoa and the Chorus reinterpret his body, stuf and mount him at the center of a Samson theme park« (Fish-Paraphrase) – es dient der verzögerten Anagnorisis in der Lektüre; ich komme darauf. 24 Das Material für Samson Agonistes ist zuerst von dem späteren Milton-Biographen William Riley Parker aufgearbeitet worden und war prompt leichter mit dem jüngeren als dem al- ten Milton in Verbindung zu bringen, Milton’s Debt to Greek Tragedy in Samson Agonistes (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1937); die beigebrachte Evidenz bleibt hauptsächlich biographischer Natur Milton: A Biography (Oxford: Clarendon Press 1968), I: 313–324, II: 906–917. All Passion Spent — The End 207

a line-ending can be emphatic both when the sentence ends with it and when it does not.25

Das Damoklesschwert des Reim-Endes, das über dem impliziten Hörer hängt, kann jederzeit fallen. Es bewirkt und bedeutet ein extremes Gegenteil zu dem, was John Freccero in der fundamentalen Anlage der terza rima in Dantes Commedia aufweist, dem verschwiegenen precursor Miltons. Deren Trend einer schier unendlichen epi- schen Entwicklung »refects«, wie Freccero zeigt, »some transcendent pattern«, dessen Überschüssigkeit in Kreisformen statt Enden zum Schluß kommt.26 Die kontrapunktische Anlage der Zitate und ihre zusätzliche Skandierung, so kann man vorläufg zusammenfassen, schürt die Samson-Krise; beide haben Anteil an einem ›Umschlagen‹, aber keinem ›Überspringen‹, wie Benjamin es im barocken Trauer- spiel sah, und nicht in die Erlösung, die Samson ankündigt, sondern in das tragische Gelingen des Heilsplans, das er evident und unabweisbar macht. Ist die Radikalität dieses Umschlags, der das Überspannen der überspannten Transzendenz zum Kol- laps zwingt und an den Rand der Erschöpfung bringt, tragisch zu nennen? Miltons Motto aus dem sechsten Kapitel der Poetik des Aristoteles übersetzt den fraglichen Begrif der Katharsis mit dem lateinischen lustratio und folgt darin Hein- sius. Die medizinische Metaphorik ist durchgängig und weist in ihrer Abhängig- keit wieder nach Italien. Miltons Einleitung hat vor allem – neben der Beruhigung orthodoxer Rezensenten – diesen einen Zweck, seinen Anschluß an die Italiener zu dokumentieren.27 Es ist hier nicht der Platz, Miltons möglichen Ort in der Aristoteles-Rezeption neu durchzudiskutieren, zumal es sich zunächst nur um den

25 F. T. Prince, Te Italian Element in Milton’s Verse (Oxford: Clarendon Press 1953), 167. Siehe zuvor vor allem Gretchen Finney, »Chorus in Samson Agonistes«, Publications of the Modern Language Association 58 (1943), 649–64, die allerdings eine schnelle Zuordnung zu italienischen Vorbildern (der Dichter F. T. Prince neigt zu Aminta und Pastor Fido) ver- bietet. Das Verhältnis von Milton und Monteverdi steht auf einem ähnlichen Blatt; siehe John Arthos, Milton and the Italian Cities (New York NY: Columbia University Press 1968), 190, Anm. 11. 26 John Freccero, »Te Signifcance of Terza Rima« (1983), Dante: Te Poetics of Conversion (Cambridge MA: Harvard University Press 1986), 264. Vgl. dagegen Harold Blooms Zu- rückweisung der »poetics of conversion« schon für Dante und zwar auf dem Boden von Miltons Augustinus, Ruin the Sacred Truth (Cambridge MA: Harvard University Press 1989), 44, 107, was auf Coleridge, »Donne, Dante, and Milton« (1818) zurückgeht. 27 Für Samson Agonistes ist die in der Menge der Forschungen leider wenig erfolgreiche Arbeit von M. Mueller lesenswert, »Pathos and Katharsis in Samson Agonistes«, English Literary History 31 (1964), 156–174; hier nach Critical Essays on Milton from ELH (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1969), 234–252, sowie im einzelnen auch »Sixteenth- Century Italian Criticism and Milton’s Teory of Catharsis«, Studies in English Literature 6 (1966), 139–150. Siehe D. W. Lucas, im Kommentar seiner Ausgabe von Aristotle, Poetics (Oxford: Clarendon Press 1968), 278 über Samson Agonistes als charakteristisches Exem- plar der Rezeption. Hier wäre allerdings zu erinnern gewesen, daß bereits Jacob Bernays in seiner epochemachenden Abhandlung über die Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie (Breslau: Trewendt 1857), ed. Karlfried Gründer (Hildesheim: Olms 1970), in einem Exkurs 192 f./repr. 60 f. Milton genauer behandelt und den Hinweis auf Heinsius’ lustratio einem Redaktor ohne viel Durchblick zugeschrieben hat. 208 Klopstock mit Milton

Gemeinplatz der ›Zäsur‹ handelt, wie ihn Max Kommerell (nach Hölderlin) hervor- hebt als »einschneidende Wendung des Geschehens«. Sie ist die Minimalbedingung für die »Klasse der einfachen Mythen«, für die, da sie die »besonders wirkungs- vollen Anstalten zur Katharsis vermissen lassen«, nur ein unglücklicher Ausgang in Frage kommt: »Sie hat ihn nötig.«28 Man könnte sich also vorerst damit helfen, daß Milton im Umschlag seines counterplot die Samson-Geschichte in den Zustand eines einfachen Mythos versetzt und dabei die heilsgeschichtliche Entfaltung der ›Mitte‹, wie sie die Zeitgenossen Ziegler und Vondel ausgebaut hatten, getilgt hätte – nicht ohne Mühe, wie die von Fish analysierte Durchkreuzungsarbeit beweist. In ihr, dieser Löschung der christlichen Besetzung, die sehr bewußt auch die Konfikte der rabbinischen Lektüren berücksichtigte, läge ein Moment moderner, verschobener Anagnorisis, teleskopisch erfaßt und verschoben durch die Hand des antikischen Autors.29 Die Teleskopie aber ist das Instrument der Metalepsis, von dem schon die Rede war; kein anderer als der besagte Dr. Johnson hat es in Miltons Hand iden- tifziert – nicht ohne seinerseits zu verkürzen. Er schreibt im zitierten »Life« Miltons: »He expands the adventitious image beyond the dimensions which the occasion required. Tus, comparing the shield of Satan to the orb of the moon he crowds the imagination with the discovery of the telescope (...)« – einer teleskopischen Ver- größerung, um deren paradigmatischen Efekts willen die Metalepsis bei Puttenham »the farfetcher« heißt.30 Sie hat hier nicht den von Johnson, Fletcher und Bloom gefeierten Efekt eines »crowding of the imagination«, sondern dessen Gegenteil, den der Löschung, der Tilgung hergebrachter Täuschung. Deren Doppelsinn ist der ironischer illusio, wie die problematische Übersetzung der Ironie bei Cicero unter- streicht. Die Ironie liegt hier in der metaleptisch verkehrten Verkleinerung. Und die Peripetie des Samson, so der böse, minimale Scherz, wäre nichts als dies: Samsons Übergang zu den Philistern, der schlagartige, nahezu stumme Umschwung, der

28 Max Kommerell, Lessing und Aristoteles: Untersuchungen über die Teorie der Tragödie (Frankfurt a. M.: Klostermann 1940, 1960), 182. Leider folgt Kommerell in seiner peni- blen Aufarbeitung 262 f. Bernays nicht bis in die historische gravierende Milton-Heinsius Diferenz (Milton erwähnt er nur am Rande). Vgl. stattdessen Andre Jolles, Einfache For- men (Halle: Niemeyer 1930), über die ›einfache Form‹ der Mythe. Ferner D. W. Lucas im Kommentar seiner Ausgabe der Poetics, 292 f. über die Relativität der einfachen Form der Tragödie, und Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie (Darmstadt: Wissenschafliche Buchgesellschaf 1973), 29 über den Vorrang des Umschlagens und die dadurch bewirkte tiefere Zweigliedrigkeit in der aristotelischen Aufassung der Tragödie im Unterschied zu der von Milton nach Castelvetro zitierten, aber wohlweislich unausgeführt gelassenen fünf Akte. 29 Das bedeutet nicht, daß man den von Milton in Anschlag gebrachten rabbinischen Dissent als tragische Ambiguität der Samson-Geschichte selbst umlegen könnte auf die tragische Konzeption des Dramas wie jüngst bei H. McDonald, »A Long Days Dying: Tragic Ambi- guity in Samson Agonistes«, Milton Studies 27 (1992), 263–283, oder auch J. Rosenblatt, »Milton’s Chief Rabbi«, Milton Studies 24 (1989), 46–57. 30 Johnson hier nach Fletcher, Allegory, 241. Siehe Hollander, Te Figure of Echo, zu Putten- ham, während Fletcher selbst Miltons Gebrauch der Figur als bloß ›allusiv‹ unterschätzt. Eine an Puttenhams Termini orientierte Analyse der Figuren im Samson Agonistes von J. B. Broadbent, »Milton’s Rhetoric«, Modern Philology 56 (1959), 224–42: 225–28, bestätigt dagegen die Anlage auf Widersprüche und Kontraste. All Passion Spent — The End 209 zugemuteten Einladung in den fremden Tempel – gegen das jüdische Gesetz – zu folgen und umstandslos die Katastrophe herbeizuführen. Spätestens hier wird man sich dringend einen Überblick über Miltons plot wün- schen, der trotz Miltons eigener Übersicht, des üblichen kurzgefaßten »Argument«, das dem Stück voransteht, nicht leicht ist. Denn dies Stück wird lesbar erst nachträg- lich, vom erneuten Eintreten des bekannten Endes her. Wie uns Milton sarkastisch gewarnt hat, ist eine Einteilung nach Akten und Szenen unterblieben und unterstellt nur, daß das Stück nicht etwa über den fünfen Akt hinausgehe. Ein Lesedrama also, vergleichbar dem ›secondary epic‹, das C. S. Lewis in Paradise Lost gesehen hat, aber eines, dessen völlig irreguläre Strophen und Versmaße musikalisch gehört zu werden verdienen, so wie in ihnen auch das Echo der alten Tragödie mitgehört werden muß. Samson betritt die Bühne, blind geführt wie Ödipus auf Kolonos, und räsonniert am Feiertag des Feindes, der ihn so gefangen hält, über die Diskrepanz, die zwi- schen dem liegt »what once I was, and what am now« (l.22). Die Feier des fremden Gottes konfrontiert ihn, in der Pause seiner Fron, mit der Fron dieser Abwägung, mit »restless thoughts, that (...) present/ Times past, what once I was, and what am now« (ll.19–22). In dieser Präsenz wird nun inszeniert, was keine »regeneration« des alten Helden und Haudegens (man denke an die mit dem Kinnbacken eines Esels erschlagenen Philister) sein wird, sondern »generation« seines Endes in dem mehrfachen Sinne des prophezeiten Ziels einer bisher trotz aller Krafanstrengungen nicht erfüllten Mission und der nun herbeigeführten, beispiellosen Katastrophe. Der Chor, wie auch der Chor der Kritiker, bleibt auf dem falschen Fuß zurück, in hilf- losen interpretativen Gebärden, die sich immer neu erledigt sehen und als eine Art hermeneutischer Falle die ›Milton industry‹ in Gang halten. »Tey are puzzled at frst that nothing happens and then that everything happens at once«, hat Mueller die Technik der fehlenden ›Mitte‹ trefend beschrieben.31 Der blinde Samson ver- körpert die Blindheit der fehlgehenden Motive in genau dem Maße, in dem es nötig ist, den Umschwung hinter dem Rücken des Chors und doch auf ofener Szene statt- fnden zu lassen. Und es hängt ab von der Einsicht in diese Blindheit, inwieweit wir Samson eine Einsicht in diese seine eigene Blindheit zugestehen können.32 Mit dem Chor, zu seines und des Publikums Anregung und Abarbeitung der zurückzulassenden Interpretamente, dreht sich ein Karussel von subplots, in denen Manoa als Vater des Helden, Dalila als seine Frau und ein gigantischer Gegenspieler

31 Mueller, »Pathos and Katharsis«, 239, der 248, Anm. 5, auch den minimalen Charakter der Peripetie als »a rather grim literary joke« erkannt und mit dem Modus der Inszenierung Samsons als »actor« in Verbindung gebracht hat. Fish, »Spectacle and Evidence«, korri- giert die bei Mueller noch stark regenerativen Motive. Irene Samuel, »Samson Agonistes as Tragedy«, Calm of Mind: Tercentenary Essays on Paradise Regained and Samson Agonistes in Honnor of John S. Dieckhof, ed. Joseph Wittreich (Cleveland OH: Case Reserve Univer- sity Press 1971), 235–57, hat zuerst Samsons (scheinbaren) Entschluß als (letzten Endes irrelevantes) Mißverständnis des davon unabhängigen Willen Gottes gelesen. 32 Siehe Cythia Chase, Decomposing Figures: Rhetorical Readings in the Romantic Tradition (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1986), 49, 61. Entsprechend hat Jacques Derrida im Kommentar zu seiner Ausstellung im Louvre, Mémoires d’aveugle: L’ autoportrait et autres ruines (Paris 1990–91), 111, das »calcul aveugle et providentiel à la fois« als »logique du supplément sacrifciel« in dem ›Autoportrait‹ erwogen, das Samson Agonistes auf diese Weise für Milton geworden sei. 210 Klopstock mit Milton mit dem sprechenden Namen Harapha aufreten und die Krise schüren. Die Dalila- Geschichte ist die bekannteste und für den Umschlag wichtigste. Miltons zusätzliche Erfndung ist die, daß sie Samsons Frau gewesen sei, was zunächst den Efekt ihrer noch größeren Treulosigkeit hat und eine ganze Sparte der Milton-Forschung be- schäfigt. Der Punkt ist aber nicht die notorische Misogynie des Autors, die ganz nach dem Vorbild des Euripides gedacht wird, sondern die Lösung der technisch entscheidenden Voraussetzung, unter der Samson sich der Vorsehung beugt, unter sie gebeugt wird.33 Die Erfüllung der Vorsehung setzt auch und gerade den Bruch jener »conversation of justice« voraus, die die Ehe nach Milton darstellt, und so, wie nach Cavell die Wiederherstellung des Kontrakts in der »comedy of remarriage« eine gesellschafliche Utopie beweist, die einmal Miltons Anteil war, so liefert dessen Bruch den umgekehrten Beweis der injustice, die als Teil des göttlichen Plans auf- tritt. Daß es Samsons Einsicht in den Plan nicht bedarf, ja daß er ihm latent – und die Frage ist nun wie – widerspricht, liegt auf der Hand und darf doch aller Orthodoxie zufolge nicht wahr sein. Sie ist aus dem Schweigen, das dem Stück eingeschrieben ist, seiner schweigenden Peripetie herauszulesen. Mit Recht unterstreicht Fishs Titel in dem Spektakel, das dieser Samson vorführt als Agonistes, die Evidenz, die er produ- ziert. Indem er die Bühne samt allen tragenden Teilen abräumt, schaf er eine tabula rasa, auf der er jenseits der Wiederauführung dieser alten Geschichte eine andere Moral zu lesen und zu denken gibt als es die mit Gottes Hilfe siegreich gebliebene Vorgeschichte der christlichen Weltordnung ist.

IV Das Ende der Gerechtigkeit

Was bleibt von der individuellen Eschatologie, nachdem die kollektive über sie hin- weggegangen ist? Darin scheint, platt gesagt, das eigentümlich tragische Pathos zu liegen, das Milton Samson zuschreibt, daß er in eben der Totalität, in der er den Heilsplan bestätigt, dem unheilvollen Triebschicksal erliegt, durch das hindurch dieser wirksam ist. Mehr als eine wortlose, unbeschriebene und unbeschreibbare Unterwerfung unter den höheren Zweck bleibt ihm nicht – so wenig wie die verbale Gestik des Chors mehr als ein Echo der zitierten, über Jahrhunderte mißdeuteten Tragik vermittelt. Im teleskopischen Kurzschluß wird der typologische Schluß, der Samson den Jesus in Gethsemane vorweg verkörpern läßt, gelöscht und die Radika-

33 Vgl. Geofrey Hill, Milton and the English Revolution (New York NY: Columbia Univer- sity Press 1977), 433, der fragt, »how certain« man sein könne »that the destruction of the Philistines at the end of the play was really inspired by God?« Ich übergehe die Menge der Literatur und verweise nur auf die Übersicht von Joseph Wittreich, Feminist Milton (Ithaca NY: Cornell University Press 1987), 131 zum »Test Case« Samson Agonistes, denn nicht nur impliziere Miltons Darstellung deutlich eine Kritik des Dargestellten (und ins- besondere eine fortwährende Blamage des Chors und des sich in ihm wiedererkennenden Publikums), sondern auch eine systematische Reduktion des Helden im Verlauf der von ihm selbst fortwährend provozierten Kette von Betrug und Gewalt. Catherine Belsey, John Milton: Language, Gender, Power (Oxford: Blackwell 1988), 95, vermutet zurecht ein Auto- ritätsproblem, weil in der Tat von einer »closed afrmation of Christian Providence« nicht mehr die Rede sein kann. All Passion Spent — The End 211 lität des göttlichen Eingrifs unabweisbar. Die bei Vondel thematische heilige Rache, die Samson in Verfolgung des eigenen Triebschicksals vergönnt gewesen wäre zur höheren Ehre seines Volkes, ist eine Sache der schlechten Phantasie des Chors, der nach vollbrachter Tat jubelt »O dearly bought revenge, yet glorious!« (l. 1660). Der Bote, der als Augenzeuge die Nachricht überbringt, weiß auch nur Samsons Ent- schluß aus der Ferne zu deuten. Als dieser sich in einer Pause des Geschehens zu den Pfeilern führen läßt, die er einreißen wird, steht er für einen Moment wie in Gebet vertief: »as one who pray’d« (l. 1637). Welcher Eingebung er folgt, was den Umschwung seiner desperaten Stimmung in die Vorwärtsverteidigung der Selbst- vernichtung bewirkt, ist schlechterdings nicht zu sehen. Der lauthals angekündigte »strike« – »As with amaze shall strike all who behold« (l. 1645) – trif die Philister im Innern des Tempels wie die Zeugen außerhalb. Es bleibt in der Geschichte Sam- sons, die eine der Zerstückelung ist, nichts »to remember« und der ›konfuse‹ Be- richt des Boten (Miltons eigene Ankündigung) ist in nichts klar als der Katastrophe selbst; »wherewith the Tragedy ends« (Ende der Einleitung). Kaum gelingt es dem Chor, wenigstens die skandalöse Unterstellung des Selbstmords abzuwehren, die in der zeitgenössischen Interpretation der Samson-Geschichte eine große Rolle spielt. Nicht, daß man es mit Sicherheit sagen könnte; aber es spielt keine Rolle mehr für Miltons Ausgang.34 »Just are the ways of God, and justifable to men« mag sich und uns der Chor trösten; die Rechtfertigung Samsons, die Geschichte seiner Motive und Heldentaten ist gänzlich davon abzulösen. Des »Father’s house« wird sich damit schmücken und ein Monument errichten »with shade/ Of Laurel ever green (...) With all his Trophies hung (...)« (ll. 1733–36). Aber diese nachträgliche Geschichte, »In copious Legend, or sweet Lyric Song« (l. 1137), wird das Ende Samsons überschreiben und der Nach- welt kommensurabel machen. Was für den kurzen Moment des Milton’schen Ge- dichts lesbar wird, ist die andere Seite davon, die inkommensurabel bleibt und aus dieser Unlesbarkeit ihr tragisches Pathos bezieht. Wie schon in Miltons Lycidas, wo es das durchgängige Tema ist, wird dies der Trost des Dichters sein, sein letzter Lorbeer, der nicht der Samsons ist. Was dagegen Manoa, der Vater Samsons, diesem an Gedenken verspricht, »Te Virgins also shall on feastful days/ Visit his tomb with fowers, only bewailing/ His lot unfortunate in nuptial choice, from whence captivity and loss of eyes« (ll. 1741–45), wird gewiß nicht eintreten. Sein guter Wille bekräf-

34 Siehe Herbert Grierson, Milton und Wordworth: Poets and Prophets. A Study of their Re- actions to Political Events (Cambridge: Cambridge University Press 1937), 137–39, wo der Einfuß Augustins auf die umliegende Diskussion erläutert ist und Donnes Abweisung Augustins in Biathanatos III.5.4. Wie die anderen positiven Zuschreibungen, so ist auch die negative des Selbstmordes bei Milton abgearbeitet, neutralisiert. Deshalb ist es auch nichts mit der quasi ›poetischen Gerechtigkeit‹, die Samson (oder, ebenso unsinnig, Hamlet) ver- körpern soll, etwa bei Frederick Bowers, »Samson Agonistes: Justice and Reconciliation«, Te Dress of Words: Essays on Restoration and 18th Century Literature in Honor of Richmond P. B ond , ed. R. White (Lawrence KS: Kansas University Press 1978), 1–23. Samsons Tod ist kein vergebener Selbstmord, sondern als ein solcher irrelevant gegenüber der einzig investierten, physischen Gewalt. Kenneth Burke, A Rhetoric of Motives (New York NY 1950, Berkeley CA 1969), Kap. 1, legt zurecht Wert auf den quasi ›refexiven‹ Charakter des Mo- tivs im überwältigenden Kontext der gewalttätigen Tötungen. 212 Klopstock mit Milton tigt nur, daß dieses Drama an ihm spurlos vorbeigegangen ist, denn an des Sohnes »nuptial choices«, die er zu beklagen liebte, lag es nicht. Es ist hier, wie im Lycidas, nicht so, daß Milton kein Kapital zu schlagen wüßte aus dem tragischen Sujet für sein eigenes Ende. Indessen könnte er sagen, er hielte sich für seinen Teil, den des Dichters, nur schadlos für das Scheitern, das er als Politiker erlitten hatte und gewiß im übergeordneten Rahmen einer höheren Bestimmung aufgehoben wußte. Ein schwacher, menschlicher Trost?35 Miltons Samson trägt im Namen Agonistes den sprachlosen Agon, den – gegen Nietzsche und mit Rosenzweig – Benjamin als das verfehlte Moment im Ursprung des deutschen Trauerspiels erkannt hat. Miltons Samson scheint radikaler noch. »Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen«, zitiert Benjamin Franz Rosenzweigs Apotheose des tragischen ›Selbst‹ und ebenso Georg Lukacs’ »reines Erlebnis der Selbstheit.«36 Das wäre Miltons ei- gene Erfahrung, die ihn als Modernen überleben läßt. Des Samson ›Selbst‹ gehört zu den – seinerzeit nicht aktuellen – Verlusten, die Milton uns zu bedenken gibt. »Nur seiner Physis, nicht der Sprache dankt« (wie Benjamin klar genug sieht) der tragische Held, »wenn er zu seiner Sache halten kann, und daher muß er es im Tode tun«. Dafür ist Samson Miltons unübertreficher Held, an dem das Auseinander- fallen von physischer Bestimmung und geistiger Verlorenheit nicht krasser werden konnte.37 »Je weiter das tragische Wort hinter der Situation zurückbleibt – die tra- gisch nicht mehr heißen darf, wo sie es erreicht«, so wieder Benjamin, desto leerer triumphiert »Miltons Gott«, wie Empson ihn gezeichnet hat. Denn unter seiner Vor- sehung kann nicht damit gerechnet werden, wie Benjamin für die antike Tragödie fortfährt, daß »der Held den alten Satzungen entronnen«, »die Seele ins Wort einer fernen Gemeinschaf hinübergerettet« sei. Mitnichten ist Samson entronnen, er liegt in dem von seinem Vater fromm für ihn bereiteten Grab und ist für den Rest der Zeit der anekdotische Anlaß einer hypokriten Gemeinschaf, deren fernere Dimensionen der Chor ahnen läßt. Sein Name überlebt und sein Unglück mit den Frauen, denen derselbe Chor den göttlich erforderten Bruch der ehelichen »conversation of justice«

35 Daß »Erlösung allein die Gewalt der Zerstörung« bringen könnte, wie Bolz, »Charisma und Souveränität«, 262, Benjamin aktualisieren wollte, kommt Miltons Stimmung näher als Benjamin, aus dem sich die »kathartische Destruktion« nicht so einfach ableiten läßt, wie Bolz meint – es wäre angesichts des »mythisch in Gewaltsverhältnissen befangenen Weltalters« wie das Ausschütten des Kindes mit dem Bade. Miltons Katharsis besteht da- gegen, anders als die Melancholie, deren Prophylaxe sie betreibt, in nichts als dem Entzug der Besetzung und ist folglich ebensowenig aktualisierbar wie Benjamins Messias; es ist die Aufgabe des Messias (in der von Kafa inspirierten Doppelbedeutung des Wortes Aufgabe, auf die Paul de Man besonderen Wert gelegt hat). 36 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 286–88. Zitate aus Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921), die schon in Benjamins »Schicksal und Charakter« (1921) zitiert wa- ren; Georg Lukács, Die Seele und die Formen (Berlin 1911, Neuwied 1965), 336. 37 Ich verzichte hier auf die – insbesondere Lacanesken – Aspekte, die sich, nach dem ver- einzelten Vorstoß der Studie von Kenneth Burke, aus dem Verhältnis von sprachlicher Gestik und gewaltsamer Körperlichkeit des Helden Samson ergeben. Jane Malmo hat dies ausgearbeitet in ihrem Papier »Milton’s Ruins: Divine Violence and Bearing Witness in Samson Agonistes« zu meinem Seminar »Milton’s God: Political Teology between Milton and Hobbes« (New York University, Fall 1991). All Passion Spent — The End 213 anlastet, bis auf den heutigen Tag. Jan Assmann hat kürzlich den Verlust der von ihm »konnektiv« genannten, altägyptischen Gerechtigkeit erahnbar gemacht, der sich hinter der auf Simonides zu datierenden Gedächtnis-Katastrophe verbergen mag.38 Miltons Samson erweist sich als Teil dieser Katastrophe. Wie Simonides zeichnet der Dichter Milton für den Verlust, für die Verlorenen; radikaler als Richardson, der von ihm gelernt hat, exponiert Milton am Ende den für ihn zeitlebens maßgeblichen, politischen Ehrgeiz der schreibenden Profession und sieht seine Vergeblichkeit ein. Richardson wird ihn mit unvermindertem Erfolg weitertreiben – To be contin- ued –.39

Beispielsweise: Chris Burden, der einen Namen wie kein zweiter für diesen Zweck trägt, zeigte 1989 in Los Angeles eine Installation, die im Beiblatt wie folgt beschrie- ben ist: »Two mighty arms of rough timber extend from one wall to another with large steal plates resting fat against the wall. Te two beams connect midway in their expanse to a hydraulic gear system which is itself connected to a turnstile at the gal- lery door. Each time a visitor enters the turnstile jacks up the pressure on the walls. Cracks form, the walls groan.« Der Titel des Werks ist: »Samson.« Ein Schild an der Eingangtür warnte: »If you really like this show, our building will collapse.« (Ich ver- danke den Hinweis Jane Malmo.)

Postscriptum 2018: Ich verzichte im Wiederabdruck auf die Abbildung; die Instal- lation hat sich, wie absehbar, erledigt, sie ist zum Stillstand gebracht und abgebaut.

38 Jan Assmann, Ma’at: Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten (München: Beck 1990). Den Fortschritt, den der skeptisch gewordene Milton ins Alte Testament zurück- projiziert, hat Mueller, »Pathos and Katharsis«, 239, auf die Formel von einer Ersetzung der aristotelischen Kausalität durch Teleologie gebracht. Hans Kelsen, Kausalität und Vergel- tung (1942), hatte in seiner Kritik des Naturrechts dieselbe Kausalität als (rationalisierende) Nachfolgeformation der Vergeltung gesehen. Vgl. Vf. »Die Gerechtigkeit der Texte«, Poetik und Hermeneutik XV (1992), 17–27; Figura cryptica (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002), Kap. 8. 39 Ist es der Rede wert, daß Alfred Hitchcock es ablehnte, das konventionelle »Te End« ans Ende seines Films Psycho zu setzen und sich nur mit Mühe gegen die von Universal Pictures verlangte »closing gesture« behauptete? Ich verdanke den Hinweis Amy Ziering-Kofman, Genesis and Genealogy: Te Rhetoric of Conception (Ph. D. Dissertation Yale University 1995). 214 Klopstock mit Milton

Heteronomie: Mickels Klopstock Milton, Klopstock, Dante, Brecht und die epische Tradi- tion

Postscriptum 1990: Nach dem Fall der Berliner Mauer ist der Druck des Jahrbuchs zur Literatur der DDR, in dem dieser Vortrag vom Dezember 1987 erschienen wäre, obsolet geworden. War auf der Tagung selbst der Vorwurf überwiegend, über einen DDR-Autor könne nicht zu Bedingungen westlicher Theorien gehandelt werden, so ist mit dem Ein- tritt neuer Verhältnisse der Vorbehalt nicht entfallen, sondern verschärft worden. Was sich als ärgerliche Nicht-Anerkennung bestimmter Rahmenbedingungen zu erkennen gab und allerdings die Nicht-Anerkennung einer sehr bestimmten Interpretation sol- cher Rahmenbedingungen war, ist inzwischen deutlicher geworden, und was als nicht hinreichend DDR-spezifisch galt, erscheint nun als zu DDR-spezifisch. Die Pointe des Titels der Heteronomie richtete sich – und tut es noch immer – gegen eine ästhetische Rückzugsposition, wie sie Anfang der siebziger Jahre Rüdiger Bubner gegen die aus- laufende Realismusdebatte bezog, um ihr desto sicherer aufzusitzen. Ich meine die nun leicht gemachte und deshalb gerne beibehaltene Unterschätzung aller hergebrachten älteren Ästhetiken als (nur) heteronom. Das »nur« rettet Mickel, so wie es Dantes, Mil- tons, Klopstocks Widerstandsfähigkeit ausgemacht hat; es entlarvt andererseits eine Ideologieanfälligkeit, die sich der Anfälligkeit solcher Verhältnisse verdankt, in denen man Widerstand nicht mehr braucht, weil man sie nicht mehr hat.

I Gelehrtenrepublik

Klopstocks Wirkung in der Lyrik der DDR ist bekannt und viel besprochen wor- den.1 Ich habe zu diesem Tema, fürchte ich, nicht viel beizutragen. Wie mein Titel ankündigt, beschränke ich mich auf einen einzigen Autor, dessen Bedeutung für die Klopstockforschung ich für außerordentlich, aber unerkannt halte. Wie sie mit dem Rezeptionsschicksal Klopstocks in der DDR zusammenhängt, ist eine andere Frage, die im Kopf zu behalten ist, deren Beantwortung aber vorab nicht irritieren soll. Indem ich mich mit diesem einen Autor, Karl Mickel, beschäfige und seinem durch Klopstock bestimmten Verhältnis zur literarischen Tradition, liegt mir weni- ger an exemplarischen Zügen, die dieses sein Verhältnis zu Klopstock tragen mag, als an der sehr spezifschen theoretischen Pointe, die sein Bezug auf Klopstock lite- raturwissenschaflich hat. Daß es sich zunächst um eine spezifsch wissenschafliche Pointe handelt, kann man Mickels Schrifen über Klopstock klar entnehmen. Daß diese Pointe rezeptionsrelevant oder typisch sei, steht auf einem anderen Blatt. Ich halte mich also an die theoretische Seite, die es – wie mir scheint – mit Mickel und an Mickel noch zu entdecken gibt.

1 Siehe Heinz Czechowski, »Über Klopstocks Modernität«, Friedrich Gottlieb Klopstock: Werk und Wirkung (Wissenschafliche Konferenz der Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg, Juli 1974), ed. Hans-Georg Werner (Berlin: Akademie Verlag 1978), 87–95: 89 zu Mickel. Heteronomie: Mickels Klopstock 215

Mickels Behandlung von Klopstock ist so entschieden neu, daß die Reihe der Bobrowski und Arendt, in die man ihn gestellt hat, weniger erhellend als irreführend wirkt.2 Sie liegt durchaus nicht auf der sogenannten (durch Brecht so genannten) »pontifkalen« Linie, die von Klopstock zu Hölderlin gedacht wird, sondern auf einer anderen, die Brecht selbst zu Dante führte. ›Heteronomie‹ ist das Stichwort, das ich zu ihrer Charakteristik weniger zu defnieren, als am Beispiel zu erläutern versuche.3 Was Klopstock und Dante verbindet, den Messias mit der Göttlichen Komödie, und Mickels Lektüre beider intrigiert, ist die religiöse, dogmatisch-theo- logische Fremdbestimmung des ›großen Gegenstandes‹, die weniger die ästhetische Autonomie behindert, als die poetische Konzeption befügelt; die Dezentriertheit einer ästhetischen Erfahrung, der das Defzit an poetischer Autonomie nicht als Verlust an Erfahrung zu Buche schlägt.4 Nicht die Erhebung des Dichters in quasi- prophetischen Rang und die Aufwertung seiner Leistung auf quasi-theologischem Niveau (beides eminent ideologische Operationen) bilden den entscheidenden Ge- sichtpunkt, sondern die intrinsische Abhängigkeit der poetischen Praxis von vor-ge- schriebenen Bezugsrahmen, deren ideologische Qualifkation nicht schlichtweg zu subtrahieren ist. Ich sage »vor-geschrieben«, weil es die Festgeschriebenheit einer Tradition in Texten ist, die hier die hermeneutischen Anfangsbedingungen fest- legt, keine mythische Unverbindlichkeit, sondern dogmatische Fixierung, die ihren Rückhalt freilich nicht aus dem sprachlichen Material nimmt, sondern aus seiner rigiden rhetorischen Disziplinierung.5 Doch damit habe ich – versuchsweise – vor- gegrifen; Mickels Analyse des Messias vorgegrifen, auf die als nächstes zu kommen ist. Zuvor eine Übersicht, welche die im Untertitel notdürfig angekündigte Reihe der Autoren, über die ich unter dem Titel »Mickels Klopstock« handeln will, erläutert: nämlich Klopstock und Mickel nicht nur, sondern auch, neben Milton, Dante und Brecht. Ich lese Mickels Klopstock-Analysen, die er an den Anfang seiner literarhis- torischen Aufsätze gestellt hat, als historische Skizzen zu einer Poetik, die die His- torizität ihres Gegenstandes mitrefektiert; für die deshalb Klopstock das Paradigma, aber nicht der einzige exemplarische Gegenstand ist; die sich deshalb nicht im Bezug auf Klopstock erschöpf, für die aber der Name Klopstocks so etwas wie ein Em- blem ist, dessen rätselhafes Inneres, als implizite Poetik, noch der Deutung bedarf. In meinem Titel fungiert der Name Klopstock als dieses Emblem, und wenn der Name Mickel im selben Titel als die übliche Metonymie aufgefaßt wird, in der wir

2 Etwa Alfred Molzan, »Der große Gegenstand: Klopstocktradition in der sozialistischen Lyrik der DDR«, Neue Deutsche Literatur 22, Hef 11 (1974), 113–130: 120, dort auch das folgende Brecht-Zitat. 3 Vgl. Rüdiger Bubner, »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik« (1973), Ästheti- sche Erfahrung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989), 31. Siehe auch Christoph Menke-Eggers, Die Souveränität der Kunst: Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida (Frankfurt a. M.: Athenäum 1988), 192. 4 Vgl. Heinz-Dieter Weber, »Die Wiederkehr des Tragischen in der Literatur der DDR«, Der Deutschunterricht 29 (1977), 79–99: 82. 5 Siehe Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979), 240. Vgl. Harold Bloom, A Map of Misreading (New York NY: Oxford University Press 1975), 125 zu Milton. 216 Klopstock mit Milton vom Werk eines Autors der Kürze halber unter seinem Namen reden, so bezeichnet beides zusammen die inscriptio, das Motto also, unter dem hier Mickels poetische Praxis zum Gegenstand eines Kommentars werden soll. Es ist nicht unwichtig, daß der quasi als pictura zu betrachtende Text Mickels selbst keinen Text von Klopstock zum Vorwurf (oder ›Pretext‹) nimmt, sondern Dantes Inferno XXXIV. Dessen Name, Dante, leitet am Ende dieses Gedichts von Mickel das ein, was man – um im Bild der Emblematik zu bleiben – des Autors eigene subscriptio nennen könnte. Beide, das Motto Klopstock und die Applikation Inferno, an die ich – subskribierend – meinen Kommentar anschließe, sind eingeführte, in diesen Funktionen bewährte Größen, verbürgt durch Goethe einerseits und Brecht andererseits. Ich lasse Goethe beiseite, in dessen Werther bekanntlich die ›Losung‹, wie es dort heißt, überliefert ist, die der Ausruf »Klopstock!« in Lottes Munde war. Anzumerken ist allenfalls, daß diese Losung nach Goethe bei Peter Rühmkorf zur Signatur eines neuen Interesses am lyrischen Subjekt wurde, dessen Wiederaufnahme Mickel in der DDR – nicht unwidersprochen – widersprach.6 Was Brecht angeht, kennt man seinen »Besuch bei den verbannten Dichtern«, in deren Kreis der Neuankömmling besuchsweise den entscheidenden Part Dante in den Mund legt. Die lyrische Selbst- fktion Brechts, dem im Jenseits Dante als der Führer dient, der für Dante Vergil war, thematisiert den Umfang der historischen Großformation, an deren Rand sitzend Mickel Klopstock liest, Dante und Brecht. Daß das lyrische Subjekt (als grammati- sche Instanz des in Text repräsentierten Ichs) zu Zeiten der Rhetorik authentischer Selbstbestimmung erlag; sich ästhetisch-autonom in seiner selbst, also nach seinem Bilde geschafenen Sprache zu fngieren unternahm und im Moment der Selbst-Fik- tion Autonomie füchtig zu begründen verstand, ist der Hintergrund der Auskunf, die Dante Brecht – der nicht danach gefragt hatte – erteilt. Die Historizität dieser Fiktion, aber auch die in ihr abgeschlifene Resistenz gegen das, wogegen sie ent- standen ist, gegen die im historischen Prozeß aufgehobene Arbeit des Signifkanten, ist der Gegenstand meines Vortrags, vor allem aber das Interesse Karl Mickels. Zu- nächst also zu Mickels Klopstock selbst: seiner Lektüre des Messias insbesondere und dem Einfuß Miltons, Klopstocks unmittelbarem epischem Vorgänger; dann zu Mickels Dante: seinem Zitat von Inferno XXXIV speziell; schließlich zu Mickels Brecht-Verhältnis, was beider Dante-Lektüre angeht. Ich fange mit der entscheidenden Stelle an, die in dem Klopstock zitierenden Titelessay der Sammlung Gelehrtenrepublik steht.7 »Es ist unsinnig«, erledigt Mi- ckel ganze Bände untauglicher Annäherungen an seinen Autor Klopstock, »das Mes- sias-Epos aus dem Kontext zu lösen und als, leider Hauptwerk gewordene, Schrulle zu belächeln, oder lediglich direkt polemische Passagen (: das Gericht über die bösen Könige) notfalls gelten zu lassen.« (19) Was den Messias unverzichtbar mache, zur Voraussetzung, aus der seine Lyrik erst erklärbar werde, ist die Erfahrung, die Klop- stock in der selbstaufgezwungenen Aufgabe machte, eine Erfahrung, die sich nur im Scheitern des zur Aufgabe erhobenen Unternehmens machen ließ: »indem Klop-

6 Peter Rühmkorf, Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich (Reinbek: Rowohlt 1975). 7 Karl Mickel, Gelehrtenrepublik: Aufsätze und Studien (Halle: Mitteldeutscher Verlag 1976); Seitennachweise nach dieser Ausgabe im Text. In der Ausgabe von Mickels Schrifen I–VII (Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1990), V. Heteronomie: Mickels Klopstock 217 stock die Messiade erzwang, befestigte er sich gewaltsam die Einheit der Welt, die er zerrissen sah«, deren Zerrissenheit er aber nach Mickel in der Gewaltsamkeit der Durchführung mit darstellte, in der Harmonisierung symptomatisch machte. Mickel liest Klopstock genau – zum ersten Mal seit Lessing, könnte man sagen; was er aber liest, ist noch bei weitem weniger interessant als die Methode, die er dabei entwickelt. »Der Riß, der durch die Welt geht, geht durch Klopstock«: dieser Satz Mickels hält sich noch – aushilfsweise – an die Sphäre plausibel nachvollziehbarer Erfahrungen. Aber dann folgen Sätze wie dieser: »Das kolossale metaphorische System zielt auf die Erlösung aus extrem geschärfen und verfestigten Widersprüchen.« Klopstocks Denkweise reproduziert, gerade im Messias-Epos (in den Oden hat Mickel das ebenso zu zeigen versucht), »die mörderische Schizophrenie, welche er wieder und wieder unterdrückt. –« (19/20). Ich nehme die Parenthese, unter der Mickel an dieser Stelle unterbricht und nach »kunstverständigen Philosophen, Historikern, Teologen und Psychologen« ruf, zum Anlaß, ihm zu folgen. Seine Andeutung läßt sich reformulieren, bestätigen, präzisieren. Als das »kolossale metaphorische System«, das Mickel erkennt, ist der Messias eine – frei nach Vico – »univoke Allegorie«, ein mythen-ähnliches Kon- strukt, dessen narrative Entwicklung einer Konsistenzbildung vom Typus Allegorie folgt, ohne daß – sowenig wie im Mythos, folgt man Vico – die Ebene der buchstäb- lichen Fiktion durchbrochen würde und die dargestellte Wirklichkeit innerhalb des Textes zu bezweifeln wäre.8 Gleichwohl handelt es sich um eine fgurale Konstruk- tion, ein »metaphorisches System«, wie Mickel sagt, dessen Metaphorizität einem konsequenten Skopus folgt, wie er im Fall der überlieferten Allegorie die Erlösung darstellt: »Erlösung aus extrem geschärfen und verfestigten Widersprüchen«. Die »Schizophrenie«, verdeutlicht Mickel, ist eine der »Denkweise«, eines metaphori- schen Denkens, wie mit Vico fortzufahren wäre. Die hier gefaßten Widersprüche sind die der symbolisch-verfaßten Ordnung der Dinge, deren allegorisch-narrative Entwicklung eine Rekonstruktion des gegebenen metaphorischen Systems erfordert. Der Metaphernbegrif ist längst (und war es längst) zu unklar, um die von Mickel begrifene Problematik mehr als nur benennen zu können. Er impliziert in seiner totalitären Fassung als Haupttropus, unter den sich alle anderen Tropen fügen, und nach dem sich alle Figuren richten, das problemlose Funktionieren dessen, was Mi- ckel bezweifelt und den Messias scheitern läßt. Es käme also darauf an zu zeigen, wie die in sich widersprüchliche Metaphorizität, die Mickel behauptet, unter dem Systemzwang, dem Klopstock sie aussetzt, sich selbst zerstört in der extremen Ver- schärfung und Verfestigung der ihr inhärenten Widersprüche. Die inhärente Wider- sprüchlichkeit des metaphorischen Systems resultiert in der Entfaltung der erzählten Geschichte zu dem, was Mickel im folgenden als »merkwürdige Beobachtungen mit(zu)teilen« versucht: »Sadomasochistische Züge mit überwiegendem Masochis- mus. Einfühlend beschreibt der aufrechte Antifeudale, wie der Sohn vor dem Vater sich auf dem Bauch windet und, in früher Fassung, winselt; lange vor Erschafung der Welt genießt Gottsohn die Vorlust der Kreuzigung.« (20)

8 Nach Ferdinand Fellmann, Das Vico-Axiom (Freiburg: Alber 1976), 39. 218 Klopstock mit Milton

Was Mickel wahrnimmt in einer genauen Lektüre, wie sie vor ihm lange keiner unternommen hat, und was vor ihm lange keiner hat wahrhaben wollen, sind die ›counter plots‹, Radikalisierungen der ›double plots‹, die William Empson zuerst in Miltons Paradise Lost ausgemacht hat, dem Epos, auf das der Messias reagiert.9 Diese Art von plots sind wie Sprengsätze, die der dogmatischen Kontrolle des übergeord- neten Heilsgeschehens eingebaut sind. Der univoken Kohärenz der metaphorischen Struktur von Miltons Text sitzen sie hybride auf.10 Sie bringen jenes »Widersinnigs- te«, das Schellings Philosophie der Kunst bemerkt hat, zum Ausdruck, daß nämlich der »Schluß Gottes – »von Ewigkeit genommen« – kein epischer Stof sey«.11 Die Erzählbarkeit des epischen Mythos widerspricht strukturell der Festgeschriebenheit der biblischen Wahrheit, so daß Milton sich auf deren Vor-Vorgeschichte beschränk- te und im Einbau mythischer plots epische Efekte einbaute, deren widersprüchliche Kontroversstellung zur biblischen Überlieferung die zeitgenössische Orthodoxie, mit der Klopstock es zu tun hatte, böser traf, als heute nachvollziehbar ist. So der Milton, den Klopstock seinerseits zu übertrefen trachtete; er trat in direkte Konkurrenz zu seiner Vorlage und schrieb episch um, was biblisch belegt war.12 Das ist, theoretisch gesehen, der Riß, der durch Klopstock selbst ging; dessen sadomasochistische Ver- mittlung Mickel in Klopstock entdeckt. Der Sadomasochismus wäre also strukturell bedingt im metaphorischen System, das Überwiegen des Masochismus das Über- wiegen der epischen Verlaufslogik, der die biblische Geschichte unterworfen ist, als einer ästhetischen »Vorlust« von Erlösung. Was Mickel liest in Klopstock, ist die kultische Heteronomie des Ästhetischen als eine Emanzipationsform; was er ent- deckt, sind die counter plots der Heilsgeschichte, in denen sie sich widersprüchlich abspielt. »Der Methode«, schreibt Mickel in der Vorbemerkung, liege »die Überzeugung zugrunde, daß die Dichter vergangener Perioden Augen im Kopf gehabt haben«; und er zitiert Marx, Goethe zitierend: »Sollte diese Qual uns quälen/ Da sie unsre Lust vermehrt« (5). Was Mickels und unsere Lust vermehrt, ist der Vorlust abge- schaut, die Klopstock unter den Augen Mickels seinem Erlöser in die Wiege legt. Sie beruht auf dem, was seit Augustinus aus der Wahrnehmung der Ofenbarung streng ausgeschlossen und unter die Todsünden verbannt war, curiositas. Neugierig liest Mickel seine Vorlage, die in ihrer dogmatischen Lesart Neugierde erübrigt, sie als

9 William Empson, zuerst Some Versions of Pastoral (London: Chatto and Windus 1935), Kap. II; radikaler Milton’s God (London: Chatto and Windus 1961). Vgl. Geofrey H. Hart- man, »Milton’s Counterplot« (1958), Beyond Formalism (New Haven: Yale University Press 1970), 113–123. 10 Vgl. die klassische Synthese von. Jackson I. Cope, Te Metaphoric Structure of Paradise Lost (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1962), 4; sowie die neuere Problema- tisierung von Herman Rapaport, Milton and the Postmodern (Lincoln NA: University of Nebraska Press 1983), 16. 11 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst von 1802/03 (Darmstadt: Wis- senschafliche Buchgesellschaf 1959), 301. 12 Siehe den Begrif des ›secondary epic‹ bei Empsons Gegenspieler C. S. Lewis, A Preface to Paradise Lost (Oxford: University Press 1942). Vgl. die Rezeptionsanalyse bei Stanley Fish, Surprised by Sin (Berkeley CA: University of California Press 1971), und vor allem »Transmuting the Lump: Paradise Lost, 1942–1979« (1986), Doing What Comes Naturally (Durham NC: Duke University Press 1989), 277 f., 285. Heteronomie: Mickels Klopstock 219 feischliche Verirrung am geistigen Buchstaben der Schrif verbietet.13 Die Hetero- nomie seiner Kunst nutzt Klopstock wie vor ihm Milton zur Anstifung zu einer ihrerseits heteronomen Lektüre, in der die List der Vernunf der Neugierde frommer Leser eingeschrieben ist. Daß die Antriebe dieses veritablen Erkenntnisinteresses in der Neugierde verborgen, hinter dem Rücken der ihr nachgebenden Leser bleiben, um ästhetisch efektiv zu werden, können wir uns seit Freud wohl denken.14 Daß sie nicht zu lernen sind, sondern ihnen nachzugeben ist, weiß Mickel genau, und er weiß es aus der Rezeptionsgeschichte Klopstocks, die eben damit – bis in die DDR hinein – ihre Schwierigkeiten hatte. In ihr, der Klopstock-Rezeption, verweist er, listig wie er ist, auf die Assoziation »Klopstock = Rohrstock = Schulmeister«, die diese Schwierigkeit illustriert, unter der »der Dichter (unversehens) vom Marmorso- ckel hinübergerückt« sei »auf den Holzsockel« (7). Mickels »Klopstock« ist nicht das hölzerne Zuchtinstrument der Indoktrination, als das er zum obsoleten Schul- autor geworden war oder – noch in der Redeweise Bobrowskis von seinem »Zucht- meister« Klopstock – formale Strenge signalisierte.15 Mickels Klopstock gehört zu einer anderen Gattung, der der speculative instruments und einer Lust am Text, die – erhobenen Zeigefngern abhold – nichts aus der Geschichte zu lernen weiß, als was sie in ihr zu lesen versteht.

II Inferno

Damit bin ich bei Mickels Praxis, und der Sprung zu Dantes Inferno mag weniger überraschen, entsinnt man sich doch gerne der letzten Verse dieses Gedichts, der bekanntesten und unfehlbar zitierten: »Noch im Arsch des Teufels/ Will Dante, was er wahrnimmt, wissen.« Das sei typisch Mickel, erfahren wir, ebenso derb wie ge- lehrt und in der Ausführung kalkuliert: »Will Dante, was er wahrnimmt, wissen.« Wichtig, wahrhafig, ist die Neugierde, die Dante zeigt, und die Mickel exemplarisch macht. Indessen ist man beiden, Dante und Mickel, hier nie gefolgt. Im Gegenteil war man von der Zitierbarkeit des Satzes so hingerissen, von seiner Pointiertheit so eingenommen, daß man eben dies, was er sagt, für die Moral hielt, die er nicht hat, weil man das, was er sagt, schon zu wissen glaubte, und was man liest, nicht mehr wahrnehmen wollte. Die Lektion aber, die Mickel erteilt, ist eine Lektüre (lec- tio), Lektüre Dantes über den gesamten Mittelteil des Gedichts, gerahmt in zwei sparsamen Zeilen am Anfang und anderthalb Zeilen am Ende, zehneinhalb Zeilen Dante-Zitat aus Inferno XXXIV.

13 Siehe Barbara Vinken, Unentrinnbare Neugierde. Die Weltverfallenheit des Romans: Ri- chardsons Clarissa und Laclos’ Liaisons dangereuses (Freiburg: Rombach 1991), Einleitung über Dante, Augustinus, Freud, 9–38. 14 Vgl. Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973), 271; Teil III der Neuausgabe der Legitimität der Neuzeit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966). 15 Johannes Bobrowski, »Mein Tema«, Johannes Bobrowski: Selbstzeugnisse und Beiträge über sein Werk (Berlin: Union 1967), 23. 220 Klopstock mit Milton

Inferno XXXIV. Für Kirsten Gips-Smog in Weimar, Kirsten melancholisch: Denn er obliegt dort deutscher Zeichengebung. Und als die Wandrer zu der Stelle kamen Die Dante nennt: der Hüfte größte Wölbung Kletterten sie, an Haare wie Gestrüpp Sich klammernd, unter Keuchen aus dem Felsloch: Aber Dante (ja, ich hatte Angst Wer mich tadelt, denke, wo ich steckte!) Eh er heraus war, setzte sich in eine Schrunde und fragte: Wo ist das Eisfeld? Warum hält Der den Kopf nach unten? und Wie ging die Sonne so schnell von dem Abend Zum Morgen über? – Noch im Arsch des Teufels Will Dante, was er wahrnimmt, wissen.16

Wie Klopstock in der Heteronomie seines Gedichts von der Heteronomie eines Vorgängergedichts gezehrt hatte und dabei zu dem gekommen war, was Mickel an ihm bewundert als »Kaltsinn« und »Selbstbehauptung« (7), so lernt Mickel aus der Lektüre der Tradition; aber nicht aus Tematik und Motiven, sondern aus der De- struktion dessen, was er als metaphorisches System lesen gelernt hat. In der fguralen Konstruktion, an die er sich hält, kommt es aufs Detail an; denn der Teufel sitzt im Detail und allein vom Detail der intertextuellen Bezüge her läßt sich der dogmati- sche Zusammenhang der Tropen, der typologische Nexus des Systems aufrechen. Das Detail aber, das das Ganze seiner »Widersinnigkeit« zu überführen erlaubt, ist das Gegenteil der rhetorisch pars pro toto gesetzten Synekdoche, die den Teil statt für das Ganze gegen das Ganze sprechen läßt; metaleptische Umkehrung.17 Der subversive Charakter dieser Figur wird in der Milton-Forschung allerdings gerne bagatellisiert zu dem allgemeineren Zug eines über partielle Anspielungen erzielten Efekts der Steigerung, der Milton zum Prototyp romantischer Ironie macht.18 Die Umkehrung besteht, kurz gesagt, darin, daß sie die »heimliche Ironie«, die schon Bodmer bei Milton wahrnahm, aus der heimlichen Gegenläufgkeit gegen den über- geordneten dogmatischen Zusammenhang herauspräpariert und vollends gegen das wendet, dem sie widersprach. Sie kann verschieden gehandhabt werden, beispiels- weise so, daß man die Metonymie, die der Name Klopstock für die Leser seiner Werke ist, zum Symptom dafür erklärt, weshalb sie ihn, Klopstock, nicht lesen, also zur sprechenden Bezeichnung für eine verfehlte Rezeption; was man sodann als Fingerzeig nehmen kann, wie man’s nicht machen soll, und zum Anlaß, es anders

16 Karl Mickel, Eisenzeit. Gedichte (Halle: Mitteldeutscher Verlag 1975), Nr. 18; jetzt Schrif- ten I: 122. Vgl. den zehn Jahre älteren, an Dante anknüpfenden Titel Vita nova mea. Ge- dichte (Berlin: Aufau Verlag 1966). 17 Siehe Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979), 129 f. über die Gegenläufgkeit von Metalepsis und Synekdoche. 18 Siehe Harold Bloom, nach A Map of Misreading (New York NY: Oxford University Press 1975), Te Breaking of the Vessels (New York NY: Columbia University Press 1982). 74. Heteronomie: Mickels Klopstock 221 zu versuchen. Entscheidend ist für diese Operation des ›re-troping‹ der fguralen Umbesetzung, daß man, was umzubesetzen ist, in seiner Umbesetzbarkeit erkennt. Umbesetzbar sind Texte, das macht ihren Textcharakter aus. Zitate sind deshalb die sorgfältig zu präparierenden Stellen, an denen die Operation vorgenommen wird. Kann man diese Stellen nicht identifzieren, dann weiß man nicht, welche Operation gelungen ist (oder mißlungen). Sie zu isolieren, kann indessen nur von momentaner Evidenz sein, das Gelingen vom Mißlingen nur um den Preis partieller Blindheit geschieden werden. Der Rahmen des Gedichts Inferno XXXIV, dessen pictura als Textzitat auf seine Umbesetzungspointe hin zu untersuchen ist, hat einen Anlaß zum Aufänger: »Für Kirsten« steht noch im Titel und in der zugehörigen Anmerkung »Kirsten: Wulf K. in Weimar«.19 Den Anlaß für eigene Zwecke kommentierend, hat Rainer Kirsch unter dem Titel »Wulf Kirsten und die schönen Dorfnamen« das Gedicht zu einem Stück Melancholie-Prophylaxe erklärt, dessen kategorische Konsequenz am Ende hieße: »Erkenne (und beschreibe dichtend) auch Gips-Smog atmend oder sonstwie im Arsch des Teufels, wie dieser funktioniert.«20 Das ist witzig gesagt und mag dem Landschafsdichter Kirsten bei seiner Verlagstätigkeit im klassischen Weimar auf den Leib geschrieben sein. Was Dantes Inferno damit zu tun hat, steht im »sonstwie« der Assoziation von Gips-Smog und Teufelsarsch dahin. Tatsächlich aber ist Mickel bemüht, den Aufänger des Gedichts am Aufgehängten festzumachen; handelt, mit anderen Worten, schon der Rahmen des Zitats nicht nur vom Anlaß des Zitierten. Smogartiger Nebel herrscht nämlich schon in der vierten Zeile von Inferno XXXIV, nachdem die ersten Zeilen eines der eindrucksvollsten Beispiele dantesker »Zei- chen« gesetzt hatten.21 Philologische Kleinarbeit würde bestätigen, daß der Nebel, der sich dem Wanderer und seinem Begleiter am Beginn von Inferno XXXIV ent- gegenwälzt, mit veritablem Gips zu tun hat, während es im Weimarer Kontext nichts weniger als die Büsten der Klassiker assoziiert, eine infernalische Einfärbung des klassischen Horizonts, dessen Pfege sich Wulf Kirsten melancholisch widmen soll. Wie immer es um dessen eigene »Daseinsbewältigung« stehen mag (so Kirschs bes- seres Wissen), im Gedicht ist es die nachgerade klassische Sorge um Texte und ihre kritische Einrichtung, »Zeichengebung«, deren notorisch professionelle Deformati- on in höllische Beleuchtung gerät. Dies nicht zuletzt deshalb, und darauf mag Kirsch hinaus wollen, weil Melancholie nur die andere Seite der verdammten curiositas ist, die Stillstellung der neugierigen Lektüre in Textkritik.

19 Siehe das Nachwort von Eberhard Haufe zu Wulf Kirsten, Die Erde in Meissen. Gedichte (Leipzig: Reclam 1986); erweiterte Ausgabe unter demselben Titel (Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1987). In der Version der Schrifen I: 122, erscheint die Widmung direkt als »Für Wulf Kirsten.« 20 Rainer Kirsch, Amt des Dichters: Aufsätze, Rezensionen, Notizen 1964–1978 (Rostock: Hin- storf 1979), 165. Ich danke Christa und Gerhard Wolf eine Menge Aufärung in den ver- borgenen Falten dieser Angelegenheit. 21 Siehe hier und im folgenden John Freccero, »Te Sign of Satan« (1965), Dante: Te Poe- tics of Conversion (Cambridge MA: Harvard University Press 1986), 167–179; sowie im folgenden auch »Satan’s Fall and the Quaestio de aqua et terra«, Italica 38 (1961), 99–115. Danach die Darstellung von Jefrey B. Russell, Lucifer: Te Devil in the Middle Ages (Ithaca NY: Cornell University Press 1984), 219 f. 222 Klopstock mit Milton

Dagegen setzt Mickel erneute Lektüre, und zwar an dem Ort, wo es ernst wird mit der dichterischen Neugierde. Statt satzähnlicher Landschafen, über die Kirsten melancholisch werden könnte (und es ja tatsächlich wurde), ein epischer Drachen, dem die Gestalt der Erde, wie Dante im Inferno XXXIV ausführt, sich angepaßt hat, als dieser, Lucifer, vom Himmel herabstürzte. Mickel bringt ihn in »teleskopischer Vergrößerung«, wie Samuel Johnson im 18. Jahrhundert die von Milton praktizierte Metalepsis als Instrument dichterischer Neugierde charakterisiert hat.22 Das Stück mittelalterlichen Volkswissens, das Dante in der Beschreibung des gigantischen Riesenuntiers ausführt, steht in der Göttlichen Komödie an exponierter Stelle.23 Es bildet einen buchstäblich grotesken Überschuß des zahlensymbolischen Systems der Komödie, wobei Dante in vergleichbarer Vergrößerung den Efekt überdimensio- naler Verzerrung erzielt. Um bei dreimal dreiunddreißig Gesängen auf die runde Summe von hundert zu kommen, erhält nicht etwa das Paradies (am Ende) den Zuschlag, sondern die Hölle, zu der Dante eine artistische Zugabe gibt, ein Meis- terwerk teufelsgerechter Ironie. (Damit widerspreche ich nicht der ofensichtlichen Prologfunktion des ersten Gesangs, glaube aber, daß dem dort inszenierten Vorspiel am Ende des Inferno ein Nachspiel die Waage hält – worauf eigens einzugehen wäre.) Das Zeichen Satans, das im schmierigen Dunst die Konturen einer Kriegsmaschi- ne zu erkennen gibt, wird von Dantes Vergil mit einem literarischen Hymnus be- grüßt, dessen Text er unfromm travestiert; statt vom Nahen der königlichen Banner des Herrn spricht er im selben Latein von dem des Herrschers der Unterwelt: Vexilla regis prodeunt inferni, wobei der blasphemische Zusatz inferni auch den Text des Inferno mit-meint als die monströse, volkstümliche Pointe der Komödie.2424 Mickel kann das Un- und Übermaß der Zuspitzung nicht entgangen sein. Sein Zitat folgt dieser Intention in einer zusätzlichen Überspitzung, deren metaleptischer Charak- ter darin gipfelt, daß schwerlich zu entscheiden ist, ob die Verkehrung ein Efekt Mickels oder schon Dantes ist. Da gelangt also Dante der Wanderer wortwörtlich kletternd und an Vergil sich klammernd über den struppigen Rücken des teufischen Untiers, und als die beiden bei dieser Tour über den sagenhafen Mittelpunkt der

22 Vgl. Angus Fletcher, Allegory: Te Teory of a Symbolic Mode (Ithaca NY: Cornell Univer- sity Press 1964), 241. 23 Vgl. Wolfgang Kayser, Das Groteske in Malerei und Dichtung (Hamburg: Rowohlt 1960), 17. 24 Vexilla regis prodeunt zitierte und ergänzte Dante den Eingang einer ehrwürdigen Hymne des Venantius Fortunatus, des ersten bedeutenden Umsetzers antiker in mittelalterliche Motive, wie F. J. E. Raby, A History of Christian-Latin Poetry (Oxford: Clarendon Press 1927, 21953), 89, zurecht sagt. Im Inferno Dantes werden die zitierten vexilla regis als Drachenfah- nen erkennbar, ja entlarvt: prodeunt inferni, und Carl Schmitt hat sie prompt als Standarten der civitas terrena erkannt (aber er zitiert Augustinus mit Fleiß hier nicht), in die »Kaiser Konstantin der Große statt des Drachen das Monogramm Christi hatte setzen lassen«; sie gehören in die Genealogie des Leviathan in der Staatslehre des Tomas Hobbes (Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1938), ed. Günter Maschke (Köln: Hohenheim 1982), 20. Die germanische wie auch die römische Genealogie der »Zeichengebung«, die Mickel dem Kollegen in Weimar ins Stammbuch schreibt, schreibt sich über Dante und Brecht ein in eine satanische Staatsallegorie, deren sichtbarster Vertreter zu Mickels Zeiten Carl Schmitt ist. Charles Singleton hat die tiefere trinitäts-theologische Pointe der Stelle aufgeklärt, die Schmitts politischer Teologie entgangen ist, die ihn aber dringend interessieren mußte, Commedia: Elements of Structure (Cambridge MA: Harvard University Press 1957), 37–42. Heteronomie: Mickels Klopstock 223

Erde hinaus geraten, steht momentan alles auf dem Kopf – auch »Der«, der Teufels- drachen selbst. Die Komik ist bei Dante so umwerfend wie bei Mickel. Die Klammer, die Dantes des Wanderers eigene Gedanken im entscheidenden Moment des Ent- kommens einfießen läßt, steht bei Dante dem Dichter weiter vorn; die Verlegung dieser an den Leser aus der Hölle heraus, von der Bühne der Commedia herunter gerichteten Bemerkung ist unverzichtbar, denn sie verdeutlicht für Mickel den rhe- torischen Charakter der Operation. Aber Mickel radikalisiert; er wüßte nicht, wo er steckte in diesem Moment, der Wanderer mit seinem Begleiter? Indes verliert die Frage just in diesem Augenblick ihren rein rhetorischen Charakter, und wer zu wissen meinte, in der Hölle, ist sich nicht klar darüber, wovon da die Rede ist in der Hölle. Der Text gibt sich so unsicher wie die nächtliche Beleuchtung, in der er sich abspielt. Der Ort, wo er »steckte«, »Eh er heraus war« in der nächsten Zeile, die »Schrunde«, in die er sich zu setzen die Zeit nimmt, um einen Vergil auszufragen, der’s eilig hat, ist genau lokalisiert: »der Hüfe größte Wölbung/ Kletterten sie«; das ist die genaue Stelle, »Die Dante nennt«. Dantes Übersetzer haben mit der Stelle einige Schwierigkeiten, sie anders als einen »schlecht beleuchteten Platz« zu nennen, eine »natürliche Höhlung mit schlechtem Boden«, nicht eben, wie Dante ironisch dazusetzt, der »Kaminsaal eines Palasts«. Man kann sich schlecht denken, was und wo das sei; selbst der beste der modernen Kommentatoren, Charles Singleton, der in Sätzen wie »All continues to be dark and mysterious. We are never told« und in Verwahrungen wie »all is strictly within the literal dimension of the narrative« ein nüchterner Beobachter zu bleiben versucht, versteigt sich schließlich ratlos wie folgt: »Tis is simply the way which they found, and which they took.«25 Die totale Leerstelle im »kolossalen metaphorischen System« der Komödie ist eine wahrhafe Allegorie – tota allegoria – der Metalepsis Quintilians. Und sie wird beglaubigt von dem Spezialisten für allegorische Kohärenz: »No allegory or symbolism seems to be implied in this.« Was Singleton ex negativo anheimstellt – sie hätten eben keinen anderen Ausweg gefunden; da mußten sie halt diesen nehmen – positiviert Mickel mit entwafnender Deutlichkeit: »im Arsch des Teufels«. Das ist keine plebejische Metapher auf Seiten Mickels, sondern – in metaleptischer Umkehrung der Synekdoche, die er bei Dante erkennt (der Arsch für den ganzen Teufel) ein durch und durch literales Lokal, von dem dem Wanderer Dante nichts schwant und über das der befragte Führer Vergil nichts sagen will; die Pointe des Dichters Dante am Nullpunkt seiner Konstruktion. Was der Wanderer wahrnimmt, will er, bekommt er aber nicht zu wissen. Indem Vergil, in der Eile des Herauskommens, ihm den kosmologischen Mummenschanz erläutert, die volkstümliche Seite der symbolischen Ordnung der Dinge, die das Konstrukt der Komödie als Göttliche in dieser Travestie vorführt, überspringt er – in der von Freud analysierten Manier – die Quellen der Neugierde, der die dichterische Wahrnehmung (Mickels wie Dantes) sich verdankt. Indem Mickel liest und zitiert, was Dante dem Wanderer Dante wahrzunehmen, aber nicht zu wissen gibt, läßt er uns wissen, was wir wahrnehmen bei Dante. Da Wahrnehmen in diesem Text – wie allen – Lesen heißt, heißt Wissenlassen zu lesen geben. Mickel läßt uns Dante lesen,

25 Charles S. Singleton (Ed.) Te Divine Comedy I–III (Princeton NJ: Princeton University Press 1970), II.2 Inferno, Kommentarband, 644. 224 Klopstock mit Milton wie er uns Klopstock zu lesen gibt; wie er Dante liest, Klopstock liest, Blake liest und Brecht. Noch bei Dante und Klopstock, aber auch bei Blake und anderen, historisch vergangenen, heteronom dezentrierten, ästhetisch fremd-bestimmten Texten will Mickel, was er lesend wahrnimmt, lesend wissen lassen. So weit, so gut. Das ist die kognitive Pointe von Mickels »Klopstock«: die Lesbarkeit der Tradition gegen deren Fremdbestimmungen listig wiederzugewinnen, deren abtötender Efekt für die Me- lancholie der Klassikerverwaltung allenfalls Verlebendigungsarbeit durch diakriti- sche Zeichengebung verrichten läßt. So oder ähnlich – lassen wir Wulf Kirsten selbst aus dem Spiel – könnte man schließen, da will ich mich nicht festlegen. »Das was da (in Mickels Eisenzeit) an Weltbezug und Literaturbezug in das Ge- dicht gebracht wird«, war in der Leipziger Lyrikdiskussion von 1976 zu hören, sei »mit dem Begrif Rezeptions- und Traditionsaufnahme möglicherweise schon gar nicht mehr zu fassen.«26 Da fragt sich dann, mit anderen Worten, was für einen Begrif von Rezeption und Tradition man hat. Was Mickel angeht, habe ich zu zeigen versucht, daß seiner so neu ist, wie er alt ist: unerhört neu, was den intertextuellen Anspruch seiner Gedichte betrif, die in ihrer Intertextualität aufgehobene und aus- gestellte Lektüre anderer Texte; ziemlich alt, was die Historizität seiner Vorbilder angeht, den historisch erforschten und durchquerten Raum, den diese Gedichte er- schließen; den sie erschließen, indem sie sich in ihm niederlassen; dessen Topo- graphie sie ofenlegen; dessen Inneres sie »umstülpen«, wie Mickel, befragt über Auflärung, erläutert hat.27 Kein aus der Geschichte lernen, sondern Geschichte lernen zu dem Efekt, den Gegenwart ausmacht; nämlich, so sagt er im selben Inter- view in puncto Gegenwart, »die ganze Geschichte ist anwesend«. Das ist sie in seinen Gedichten, die darin »gegenwärtig« sind, geistesgegenwärtig. Anwesend ist in ihnen Geschichte im Aggregat-Zustand der Texte, im Augenmerk der Lektüre. Der Aggregatzustand von Geschichte hat die Form des Zitats, der ofenen oder verdeckten Anspielung, der Paraphrase oder Übersetzung. Das in der Tradition Mil- tons und Klopstocks begründete Moment der metaleptischen Umkehrung besteht bei Mickel in der Zuspitzung synekdochischer Details als diagnostisch verwendbarer Symptome; im logischen Ausspielen vordergründiger Totalisierungen; im Heraus- präparieren erkenntniskritischer Pointen. Indem er insbesondere deren Attraktion zur Attraktion der eigenen Gedichte macht, überleben nicht nur diese, sondern in ihnen andere, die er vor dem Vergessen bewahrt. Was er damit vor dem Vergessen bewahrt und neu aneignet, sind Einsichten nicht so sehr als Techniken einer hetero- nomen Kunst, die aus der Dezentriertheit ihres Schreibens die Klarheit kritischen, diakritischen Lesens und das Vergnügen unverhohlener Neugierde zu ziehen und zu befördern weiß. Das wäre etwas, aber ist nicht alles. Denn nicht bloß schrieb Mickel Dante, sondern dieser ihn. Brecht, als er sich im Kreis der »verbannten Dichter« träumt und am Ende erblas- sen fühlt, reagiert auf einen Ruf »aus der dunkelsten Ecke« der Hütte: »Du, wissen

26 Klaus Schuhmann, in »Zeitgenossenschaf und lyrische Subjektivität« (Lyrikdiskussion in Leipzig am 17. November 1976), Weimarer Beiträge 23, Hef 10 (1977), 81–104: 91. Vgl. Peter Gosse, »Notizen zum Erbe: Karl Mickel«, Sinn und Form 32, Hef 2 (1980), 199–233. 27 »Auflären heißt umstülpen«, Karl Mickel im Gespräch (mit Rudolf Heukenkamp), Neue Deutsche Literatur 28, Hef 1 (1980), 52–58: 55/54. Heteronomie: Mickels Klopstock 225 sie auch/ Deine Verse auswendig?«28 Dante, den er sich als Führer durch dieses Purgatorio träumt, hatte ihn zuvor beiseite genommen und an die Fehler seiner Dichtungen erinnert, die sich jetzt als ein mnemotechnisches Defzit herausstellen. Am Rande zum Inferno der Vergessenen ist es Dante, der diese Reise zum zweiten Mal macht, aus der Erinnerung des ersten Mals die Bedeutung des Rufs übersetzen und den Rufer als Vergessenen identifzieren kann. Denn es ist sein Inferno, das im Vergessensein besteht, demgegenüber das Schicksal der Verbannung ebenso lächer- lich wie eitel ist. Auch Brecht bringt in dieses Gedicht, in pointierter Umschreibung Dantes, eine Pointe zurück, die mit dem »kolossalen metaphorischen System« der Göttlichen Komödie untergegangen war; eine Pointe allerdings und immerhin, in der Brecht »den Dante« zu übertrefen geneigt ist, um ihm hinter dem eigenen Rü- cken allenfalls gewachsen zu bleiben. Noch dieses Manöver verdankt er Dante, der es seinem »Vater Vergil« gegenüber immerhin auch versucht hatte. Ich erinnere an die Szene in Purgatorio XXX, in der Dante Vergil für Beatrice aufgibt, das antike Mißverständnis des Todes zugunsten der christlichen Auferstehung.29 Wie dieser Widerruf, Palinodie, nachklingt in der Auskunf, die Brecht seinem Dante zuschiebt, wäre der eigenen Überlegung wert: »Das/ Sind die Vergessenen, sagte der Dante leise/ Ihnen wurden nicht nur die Körper, auch die Werke vernichtet./ Das Gelächter brach ab.« Zitierbarkeit ist die eine Tugend, die man an Mickel immer wieder rühmen hört.30 Auswendigkeit der Verse ist es, um die Brecht Angst und bange wird. Nur um den Preis der Selbsttäuschung wäre sie automatische Mitgif autonomer Kunst. Mickel sieht, was auch Brechts Praxis im Umgang mit Dante weiß, daß die Auswendigkeit der Texte immer neu zu erarbeiten ist durch »Umstülpen« ihrer inwendigen Struk- tur. Mit Inwendigkeit meine ich nicht soviel wie innere Struktur oder innere Form, sondern die notwendig inwendig verlaufende, der Auswendigkeit sich entziehende Bewegung, den Sog der »kolossalen metaphorischen Systeme«, den Zugzwang jeder fguralen Konstruktion. Im Weiterschreiben der Tradition schreibt sich dieser Zug- zwang fort, erzwingt er momentane Resistenz – wie bei Dante so bei Klopstock und auch Mickel.

Die Aufgabe des Lesers, der Mickel ist, lautete: nicht aufzugeben. Neugierde, als Wis- senstrieb blindes momentum des schieren Funktionierens, sperrt sich in der Aufgabe des Lesens dessen Zugzwang. In insgeheimer Dezentriertheit will sie wissen, was sie nicht wissen soll, zerrt sie die Leere, unter deren Androhung noch der Ankömmling Brecht erblaßt, ins Zwielicht aller Autorität. Die Eitelkeit aller Autorschaf, die Brecht bewegt, so wie sie seinen Dante zum Sprechen bewegt hat und dessen Vergil, ver- blaßt im Mißerfolg der behaupteten Selbstbehauptung, in der Lektüre der Aufgabe.

28 Bertolt Brecht, »Besuch bei den verbannten Dichtern«, Gedichte 1–10 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1960–76), 4: 55–56. 29 Siehe zur Stelle Freccero, Dante: Te Poetics of Conversion, 207; sowie Giuseppe Mazotta, Dante: Poet of the Desert (Princeton NJ: University Press 1979), 185 f. 30 Rainer Kirsch, »Über Karl Mickel«, Akzente 23 (1976), 508–11: 510 zum besagten Satz; Amt des Dichters, 159.

Résumé Milton und Klopstock 229

Milton und Klopstock

Miltons Einfuß auf Klopstock liegt auf der Hand und ist doch fast unerforscht. Allerdings ist Einfuß eine denkbar ungenaue Metapher für das Folgeverhältnis, in dem das Projekt des Messias, das die längste Zeit seines Erfolgs unvollendet blieb, sich auf Paradise Lost bezog und in dessen Wirkung, deren zeitgenössischen Höhe- punkt Bodmers Milton-Übersetzung bildete (2. Auf. 1742), hineinragt. Dreierlei ist zu unterscheiden: Klopstocks Beeindruckung von Milton als dichterischem Modell (1), Klopstocks Bezüge auf Milton im Vergleich beider Epen (2), und Klopstocks unbeschriebene Rolle in der von Milton markierten übernationalen Hinsicht einer poetischen Logik (3). Anders als Milton, dessen Epos epochale Bedeutung gewann, ist Klopstock nicht wegen seines epischen Werks, sondern wegen seiner Gedichte, und mit diesen kaum mehr als für eine Generation prägend geblieben (Haverkamp 1982 und 1994; Kohl 2000, 6); die avantgardistischen Aspekte seiner Lyrik sind da- gegen noch kaum erkannt (Menninghaus 1989; Berndt 2014).

(1) In der frühen Ode »Der Du mir gleich bist [...]« (1747) faßt er die Szene des gegenseitigen Interesses der Freunde (in diesem Fall des angeredeten »Schmied«) in die Parallele »Bald mich [...] bald Miltons Schatten« (HKA I.1, 3). Umbra und fgura sind Abschattungen der Vorläuferschaf, deren Verwendung das ambitionierte Erfüllungsverhältnis trif, in welchem Miltons im Alten Testament Verlornes Pa- radies das von diesem konsequent ausgeblendete Projekt Klopstocks, das Erlösungs- geschehen des Messias im Neuen Testament, episch prä-fguriert. Interessanterwei- ser parallelisiert Klopstock Milton nach dem Muster der Querelle mit Homer (und nicht mit Vergil), so in den beiden Fassungen des poetischen Manifests »Auf meine Freunde« (1747)/»Wingolf« (1798): »Bald Miltons, bald Homerus Priester« (HKA I.1, 18/9). Die Überbietung Miltons, gerne auch als Wettkampf der nationalen Mu- sen stilisiert, ist Teil einer Umbesetzung der poetologischen Genealogie, in welcher die Sacra Poesis die antike Mustergattung des Epos auf neue Füße zu setzen sucht (Wehrli 1969). Klopstock beansprucht mit dem Messias nichts weniger als den durch das Neue Testament besetzten, von Milton in den ersten Zeilen vorgezeichneten, dem neuen Epos äquivalenten Platz (Paradise Lost 1.4–5). Milton hatte mit der Neu- begründung eines Epos, das die Divina Commedia vor sich wußte, wie Dante Vergil als Maßstab genommen, und sich damit begnügt; C. S. Lewis hat die von Vergil be- gründete Form, der sich Milton anschloß, als ›secondary epic‹ charakterisiert (1942, 40–51) und in dieser Neuaufnahme der klassischen imitatio Vergils eine wahre Re- naissance, ein neues »saving the appearences« nach antiken Maßen (Paradise Lost 8.82), gesehen (1964, 14). Klopstock dagegen wollte höher hinaus: reformatorisch, entlang den Intuitionen des Zürchers Bodmer, der, Hegels ›List der Vernunf‹ erahnend, das ›Wunderbare‹ in Miltons Gedicht »eine heimliche Ironie« nannte (1742, 213). Bodmer erkannte den von Milton in der ›crypsis of method‹ der ramistischen Rhetorik antizipierten ›ricorso‹ Vicos, der geeignet war, Miltons überwältigenden Einfuß zu beschreiben und darüber hinaus, von Harold Bloom im Grundriß nachgezeichnet, eine geeignete Vorgabe moderner Poetiken abgab (1975, 125–143). Das rhetorische Raster, das von Miltons Ramus-Rezeption bis hin zu Joyces Finnegans Wake reicht – Vergil, Milton, 230 Résumé

Joyce – und dieses als Epos quasi ›dritter Ordnung‹ ausweist, scheint an Klopstock, entgegen der Einschätzung Bodmers, spurlos vorbeigegangen zu sein. Das führt auf das schon von den Zeitgenossen nur ungenügend erfaßte Verhältnis, in dem der Messias, was Programm und endliche Durchführung angeht (beides nicht dassel- be), zu Paradise Lost steht. Verkomplizierend für die Einschätzung dieser Frage ist die Tatsache, daß Milton für die weitere literarische Geschichte ein entscheidender Autor blieb, während Klopstock in den Literaturstreiten seiner Zeit verschwand und mit ihnen historisch wurde.

(2) Aus Bodmers vermittelnder Initiative, die Miltons Leistung zu verdeutlichen, damit aber auch zu relativieren unternahm, ist ein blinder Fleck geworden, der Klop- stocks Anteil mit verdeckt. Was bei Bodmer anklingt an späterer Milton-Einschät- zung – in den Worten einer theoretisch avancierten Analyse: »Poesie der Vergeblich- keit, Epos der Revision, Ästhetik der Irritation, Sprache der Nicht-Identität« (Lobsien 1995, 110) – ist für Klopstock kaum erst angedacht (Haverkamp 1994, 644) und erst im Blick auf eine andere unterschätzte Größe der Zeit, den Begründer der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgarten ausgeführt worden (Berndt 2014). Der Unterschied zu Milton, der nach Klopstocks eigenen Intentionen zu machen war, könnte größer nicht sein; er betrif eine deutsche Pointe, unter der die in der epischen Materie gefundenen Streitpunkte nur unbefriedigend zur Geltung kamen. Diametral ent- gegen der deutschen (dann allgemein-germanistischen) Obsession mit einer neuen (als ›ästhetisch‹ qualifzierten und fälschlich Baumgarten zugeschriebenen) ›Un- mittelbarkeit‹ als der herausragenden Errungenschaf von Klopstocks Dichtung (Schleiden 1954; Schneider 1960), besteht Miltons Kunst in einer abgrundtiefen Ra- fnesse der historischen Vermitteltheit, die einzig in und als Dichtung faßbar ist und nach Baumgarten in dieser Kapazität ›Ästhetik‹ als eine neue Wissenschaf erfordert (Campe/Haverkamp/Menke 2014). Die Frage ist, wie Klopstock gegenüber Milton – mit Bodmer, aber tendenziell gegen die eigene Emphase – zu lesen sei; Lessings viel zitierte Meinung, daß dies nicht eines jeden Sache sein könne, ist erwiesenermaßen nicht falsch. Indessen sah auch Milton seine Mission anders, als seine Texte nachvollziehbar machten. Die Dif- ferenz beider – die Begründung im eigenen Erleben (Klopstock) und die Gründung dieses Erlebens im Fluß der literarischen Tradition solchen Erlebens (Milton), das vielleicht ein Hölderlin rückwirkend in Klopstocks Texten hätte entzifern können – blieb unüberbrückbar. Tatsächlich machten beide, der junge Milton des »Lycidas« (1639) und der Klopstock der »Zürcher See« (1749), diesen Unterschied selbst nicht; erst die Rezeption brachte ihn als Quintessenz dessen hervor, was im Messias das seit Vergil zur Sekundarität verdammte epische Moment zurück zu der Originalität Homers bringen sollte: die sublime Natur des im Epos als einzigartig mit zu voll- ziehenden Heilsgeschehens. Hatte Milton bei aller Ausrichtung auf die versprochene Erlösung (erste Zeilen) die erkenntnispragmatische Grenze des epischen Projekts – Raphaels Vermittlungsproblem, »Sad task and hard« (5.564) – als unerlöste Vor- gegebenheit mit allen Konsequenzen anerkannt (Lobsien 1995, 114) und die beiden Protagonisten tapfer ins irdische Leben entlassen (12.645–649), nimmt sich Klop- stock dessen weitere Erlösbarkeit vor und meditiert von den frühesten Anfängen an das im irdischen Lebensweg des Messias – seiner nachgerade masochistischen Milton und Klopstock 231

Hingabe (Mickel 1976, 23) – angebahnte Weltgericht (Höpker-Herberg 1991, 44). Das Epos Homers, das sich von Vergil bis Milton seiner antiken Grenzen erfreute, sollte bei Klopstock zu einer Unmittelbarkeit des Erlösungsgeschehens zurückfn- den, die allein Homers Eröfnung des Epischen entsprechen konnte. Gibt man den ersten Gesängen des Messias den Vorrang, so haben sie diesen im Vorgrif auf ein Ende, das durch die um ein Vierteljahrhundert verzögerte Fertigstellung des Werks (1749–73) als Konzeption fast unkenntlich geworden war und von der Kritik wie von der Forschung kaum mehr gewürdigt wurde; Mickels kühner Rückblick ist eine Ausnahme, Blumenbergs Matthäuspassion die tiefsinnige späte Bestätigung (1988, 249 f.). Arbeitete Milton einer Erlösung vor, deren paradiesische Wiedergewinnung (Paradise Regained) in den sekundären Mustern einer klassischen Intertextualität artikuliert war, dabei aber den babylonischen Zustand irdischer Wahrnehmungs- bedingtheiten mit ofenbarte, so faßte Klopstock eine Erlösung von der heidnischen Begrenzung des Epischen, und zwar latent schon in dessen homerischer Urszene ins Auge und arbeitete sich von dem Resultat des zu erwartenden letzten Bezugspunkts, des Weltgerichts der letzten Gesänge, zum epischen Ausgangspunkt in den ersten Gesängen vor. Die Gestalt des am Ende in glorioser Geste begnadigten Teufels Ab- badonna, die im Messias früh aufaucht (II, 627–830) und auf Anhieb eine Sensation war, ist nur der bekannteste Beleg. Die skandalös eingeleitete Pointe, mit der Klop- stock auf Milton antwortet, ja ihn in gewisser Weise vollendet (so Bodmers Ein- druck), ist kaum zu überschätzen. Das hat Gerhard Kaiser wohl gesehen und doch die poetologische Pointe für die Konstitution des Epischen völlig unterschätzt (1963, 63): die Apokatastasis im »letzten Gericht des Versöhners« (Messias XVI, 697). Denn Versöhnung, nicht Urteil heißt die Pointe der Erlösung in der letzten Instanz des Weltgerichts, in der die volks-etymologische Suggestion des Sohns, der die ›Sühne‹ leistet (ein Milton würdiger ›pun‹), triumphiert. Darin ist der sinnliche Mit-Vollzug der Lektüre, die bei Milton – »surprised by sin« (Fish 1967) – in der Anerkenntnis der irdischen Bedingtheiten bestand und doch einer unerlösten Zukunf lebensfroh ins Auge sehen sollte (berühmte letzte Zeilen), endgültig überboten. Der religiöse Skandal, den Klopstock geschickt mit dem Namen des apokalyp- tischen ›Engels des Abgrunds‹ Abbadona schmückt (Johannes, Of. 9.11) und den auch Milton kennt, markiert den poetischen Triumph, in dem das christliche Epos sich dem tragischen Schicksal der antiken Mythen, deren Nachbild Milton als das des Paradieses nutzt (Empson 1935, 154), entzieht und, wie Klopstock Bodmer erklärt, analog zu Homer, Milton vollendend, »eine christliche Mythologie« etablieren soll (Höpker-Herberg 1991, 50). Den Leibhafigen in seiner Leiblichkeit und ob seiner Leiblichkeit zu erlösen, das war Milton nicht eingefallen. Eine so eindrucksvolle Pro- vokation Miltons Satan blieb, die man als eine mehr oder minder ›wahr-scheinliche‹ Fiktion entschärfen oder als ›poetische‹ Ambition romantisch verherrlichen mochte, einen so ausgeprägten Zug der Auflärung traf der Messias mit der die Erlösung erst vollends vollendenden Apokatastasis der Versöhnung (Kittsteiner 1995, 134).

(3) Was bei Klopstock wie eine schief gegangene Planungsschwäche erschien, aber doch der poetischen Logik des Projekts durchaus entsprach, prägt das ›tertiary epic‹ Finnegans Wake vom programmatisch im letzten Satz einsetzenden Anfang an; 232 Résumé

Becketts Namenfolge Dante, Bruno, Vico, Joyce (1929) nennt Vico als das entschei- dende Scharnier. Klopstock partizipiert über Bodmer an einem Strang der Milton- Rezeption, in dem er nicht als der unglückliche Vorläufer Goethes und Hölderlins, sondern als Teil einer ramistischen, in Deutschland mit Baumgarten verkannten und unterschätzten Entwicklung lesbar wird. Was bei Milton, den Beckett in seiner Ge- nealogie zugunsten Dantes ausklammert, nur mittelbar dem Zweck der poetischen Selbstthematisierung gewidmet schien und eher, heteronom, dem theologischen Zweck untergeordnet und zur exemplarischen Provokation eines tätigen Lebens gedacht war, verläßt bei Klopstock unerkannt den theologischen Bezirk und betritt den einer dezidiert poetologischen Politik (Haverkamp 1982). Die ›konfessionelle Perspektive‹ ist vorgetäuscht (Senkel 2008), wenngleich das dem Unternehmen nicht gerade gut getan und seine Rezeption verzerrt oder völlig in die Irre geführt hat (Kaiser 1963). Hier bot Bodmers Annäherung an Vicos italienisches Teorie-Milieu einer Rhe- torik, die nicht wie die Gottschedsche auf Indoktrination beschränkt war, die bessere Lösung, der sich Klopstock nicht verschloß, die in den von Gottsched beherrschten ›Diskursen‹ der Zeit aber unverstanden blieb (Bender 1967). Baumgarten ist der kongenial verkannte Fall, der den von Bodmer repräsentierten (und auch bei ihm verkannten) Stand der poetologischen Tradition ausformuliert. Die von Bodmer be- nutzten technischen Termini, die bei Baumgarten wie bei Vico in unterschiedlichen Versionen ausgeprägt wurden, knüpfen an die Rhetorik des Gerhard Vossius an, der die von Ramus inaugurierte Ausdiferenzierung der vier Haupttropen für die literarische Kritik maßgeblich vorformuliert hatte (1606, 1620, 1630, 1643). Die »heimliche Ironie«, die Bodmer Milton abgewinnt und von Baumgarten zur fgura cryptica generalisiert wurde (Aesthetica, § 784), beruht in der Vertheidigung Miltons, dem Paradieses-Verlust entsprechend und von Vicos Kulturtheorie auf Bodmer ab- färbend, auf der metonymischen Reduktion der Metapher (Bodmer 1740, 215). Der in Vicos Tropenfolge von der Metapher über Metonymie und Synekdoche auf die Ironie führende, in ihr heimlich beschlossene Nexus des ›re-troping‹ Blooms – Mil- tons ramistische ›crypsis of method‹ – ist die methodische Vorgabe, an die Klopstock anknüpf in der Bodmer mitgeteilten Absicht, »eine christliche Mythologie« zu be- gründen, die er indessen, im selben Zug schon, signifkant überschreitet. Klopstocks Epos – das ist eine geradezu defnitorische Konsequenz – fügt sich keinem ricorso; insofern schert er aus, und zwar entschieden, aus Becketts Genea- logie. Er nutzt die metonymische Reduktion des Mythos in Paradise Lost zu einer unerhörten transhistorischen Übersteigerung der epischen Form, welche die histori- sche Teleologie, die bei Vico wie bei Milton und in dessen Tradition aus der meta- phorischen Übersteigung der Mythen in die Immanenz der Tropen zurückgebracht ist, endgültig verläßt in ein sublimes, paradoxerweise absehbar Unabsehbares:

Tausend Gedanken erflog mein Geist nicht. Zu Tausenden fehlt mir Stimm’ und Gesang, sie mit Namen zu nennen. Und Tausendmal Tausend Sind dem Seraph auf Tabor von dem, der seyn wird, verborgen. (Messias XVIII, 32–34) Milton und Klopstock 233

Der verborgene Nexus ist absolut; er spiegelt, refektiert, unerreichbar selbst für die seraphische Vermittlung, die bei Milton noch problemlos funktioniert (Höpker- Herberg 1991, 49), die prinzipielle, seit den Anfängen beschlossene Verschlossenheit des Ofenbarten, der ›Sisyphusarbeit‹ des nur als ein solches episch Referierbaren (Berndt 2014, 243). Dabei ist die Unähnlichkeit von Geisterwelt und Menschenwelt bemerkenswert, welche alle einfachen Übergänge durchkreuzt (Haverkamp 1982, 77 f.; Kohl 2000, 76 f.). Tatsächlich ist die ganze ostentative Unübersichtlichkeit der Referenzen prinzipieller Natur, kein Versagen des Autors, sondern ein (sei es sogar selbst-)ironisches Mimikry an die Unendlichkeit einer mimetisch ausgefuchsten, metrisch begleiteten Schöpfung (Weimar 1969). Die Figur, welche die Selbstüberschreitung verkörpert im Epos, ist die Synekdoche der Episoden; ihr Meister ist, wenn einer, Klopstock. Es sind die im unübersehbaren Netz der Verweise herauskristallisierten Episoden, in deren überschüssiger Exempla- rität das in der Welt des Epos Unabsehbare aufscheint; darüber machte der referierte Mythos bei Milton sich Illusionen, denen Klopstock abschwört. William Empson, der widerspenstigste unter den Milton-Lesern, fand das illusionäre Moment schon bei Milton selbst ad absurdum geführt zugunsten der »schrecklichen« Einsicht in die ofenkundige Nicht-Erlösung durch diesen Gott (1961, 207). Das führte Milton nicht wie Vico zur Wiederkehr eines immer Gleichen, in deren verzweifelter Figur Nietz- sche den Figurenzirkel seiner illusionären Tendenz beraubt sah. Und sie verläuf sich nicht in der Metonymie, in deren epischer Breite Baumgartens aesthetica gefangen sind, um schlimmstenfalls in schlechter rhetorischer Unendlichkeit – das wäre ihre Unwahrheit, nähme man Hegel beim Wort – zu bleiben. Verglichen mit Milton, seiner weltzugewandten, bildhafen Energie (rhetorischer enargeia), ist Klopstocks Messias von einer schwer zu vermittelnden meta-theologischen, nachgerade mes- sianistischen Ausweglosigkeit. Der Messias, dessen Wiederkunf von Milton aus dem epischen Lauf der Dinge wie weggeräumt erschien, winkt bei Klopstock am Horizont dieser Welt als kantisch-transzendentales, kategorisches Postulat. Als ein politisches Postulat durchaus – denn darin vollendet Klopstock Milton – und als ein derzeit hochproblematisches Regulativ (Kittsteiner 1993, 74 f. und 1995, 142 f.), dessen juridische Aktualität ungebrochen ist bis auf den heutigen Tag.

Abgekürzt zitierte Literatur Dem Duktus des Handbuch-Artikels entsprechend sind die Verweise im Fließtext angebracht, was eine eigene Liste des Zitierten nötig macht (in der hier durchgängig benutzten Zitierweise). Der Bezugstext des Handbuchs, die Historisch-kritische Hamburger Klopstock-Ausgabe trägt die Sigle HKA.

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Teleskopage Ein knebbes Ding in einem Wort 237

Ein knebbes Ding in einem Wort Ungedachte Natur in postlapsaren Welten und Zeiten

»Had we but World enough, and Time ...«1

Die Metapher der Welt als Teater zählt, so scheint es, zu den aller ofensicht- lichsten, und weil wir uns am Ofensichtlichen freuen, erfreut sie sich einer endlo- sen Beliebtheit. Wer vom Welttheater spricht, spricht von Ofensichtlichem, be- fragt, genauer gesagt, ein sich als ofensichtlich gebendes Ofensichtliches. So wirkt das Welttheater wie ein Vorläufer dessen, was Edmund Husserl, die Ofensichtlich- keit der gegebenen Welt umstandslos voraussetzend, die ›Lebenswelt‹ nannte.2 Be- vor das ofensichtlich Gegebene zur ›evidenten‹ Welt wurde, war das ›Ofensicht- liche‹ nicht fragwürdig oder ›obtus‹, wie Roland Barthes den relevanten Gegensatz bestimmte, als er anhand des neueren Welttheaters in Filmstills von Eisenstein darüber nachdachte, was eine Revolution der ofensichtlichen Welt heißen könnte.3 Was das Welttheater angeht, hatte sich die Revolution lange zuvor ereignet, aber eher an einem Mangel obtuser Momente als an einem Mangel an Evidenz gelitten. Das stumpf Obtuse, könnte man sagen, war noch nicht an die Oberfäche mini- maler Lesbarkeit gedrungen, obwohl, wie William Empson vorführte, das neue Weltbild von einer tiefen Ambivalenz gezeichnet war und dies mit zur Auführung brachte.4 Es lag in Shakespeares dramatischem Talent, das Ofensichtliche zu meiden und seine notorischen Anspielungen auf der Bühne verdeckt anzubringen. Empson hat diesen ganz un-ofensichtlichen Typ der Anspielung, der sich im untergründigen Ge- brauch des Bildfelds der ›stage‹ äußert, als kompliziertesten Typ seiner Structures of Complex Words verhandelt, Typ IV. In einer äußerst gedrängten Randbemerkung, die er an Kenneth Burkes Überlegungen zur Synekdoche anschließt, bringt er den Sach-

Dt. Fassung des Schlußbeitrags zu einem von Andreas Höfele und Björn Quiring im No- vember 2010 veranstalteten Münchner Kolloquium, das der Metapher des Welttheaters als der vielleicht zutrefendsten Neubeschreibung der von Shakespeare bis Beckett reichenden, mit Miltons Shakespeare-Rezeption zur modernen Blüte kommenden literarischen Epo- che: Teatrum mundi: Die Metapher des Welttheaters von Shakespeare bis Beckett, ed. Björn Quiring (Berlin: August Verlag 2012), 167–189; engl. Original »A Narrow Ting Within One Word: Te Foreclosure of Nature in Post-Shakespearean Worlds and Times«. If Ten the World a Teatre Present: Revisions of the Teatrum Mundi Metaphor in Early Modern England, ed. Björn Quiring (Berlin: De Gruyter 2014), 133–151. 1 Andrew Marvell, »To his Coy Mistress«, Te Poems and Letters of Andrew Marvell, ed. H. M. Margoliouth (Oxford: Clarendon Press 1927, 21972), I: 26. 2 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986), 9 f. zum Welt-Compositum der ›Lebens-Welt‹; sowie 22 f. zu dem darin überbrückten, latenten ›Lebensweltmißverständnis‹. 3 Roland Barthes, »Le troisième sens« (1970), L’ obvie et l’obtus, ed. Francois Wahl (Paris: Seuil 1982), 43–58: 46. Vf. »Die vergessene Pointe: Roland Barthes’ Poetik des Obtusen« (2015), Marginales zur Metapher: Poetik nach Aristoteles (Berlin: Kadmos 2013), 68–85. 4 William Empson, Seven Types of Ambiguity (London: Chatto & Windus 1930, 31953), 194 f. und 243 f. 238 Teleskopage verhalt auf die knappe Formel »a narrow thing within one word«.5 Das war, könnte man in Anlehnung an Barthes sagen, selbst eine obtuse Geste eher denn eine ausdef- nierte Bedeutung, die Empsons Typ IV faßt. In der avanciertesten Ausprägung des sprachlichen Sachverhalts, den Empson bei Shakespeares Zeitgenossen, dem extra­ vagenten Teoretiker George Puttenham fand, ist Metalepsis die einschlägige Figur im rhetorischen Repertoire, eine dubiose Figur, die Puttenham trefend »weit her- geholt« nennt und auf diese Weise auf den Horizont neuer Welten beziehbar macht.6 Die Weltenmetapher des Teaters wächst sich, Empson zufolge, in Typ IV zu keiner Synekdoche, sondern zu einer ans Obtuse grenzenden Metalepsis aus, die daran scheitert, zu bleiben, was sie ansatzweise als Anschein erweckt – Allegorie. Sie sprengt die alte Allegorie der bekannten Welt, und in der Tat hat die Metaphorologie, die Hans Blumenberg vorschwebte, die Metalepsis bei Nikolaus von Cues als ›Sprengmetapho- rik‹ gefunden.7 Die Weltmetapher von Shakespeares Teater sprengt den gegebenen Weltkreis, indem sie (ich greife vor) anachron auf andere Welten und Zeiten ausgreif; dieses Ausgreifen nimmt Züge an, deren durchkreuzte metaphorologische Perspek- tive – denn eine solche ist es bei Puttenham und Empson – erst ­nachzuvollziehen ist.

I Lebenswelt und ungedachte Natur

Ein Efekt des Ofensichtlichen war, daß die Welt zu einem der häufgsten Composita avancierte. Husserls ›Lebens-Welt‹ machte ex negativo manifest (oder symptoma- tisch), was ein paar Jahre vor ihm Alfred North Whitehead in seiner Konversion von der Mathematik zu einer neuen metaphysischen Kosmologie als »Spaltung der Natur« – »bifurcation of nature« – diagnostoziert hatte.8 Mit einer bemerkenswerten Verzögerung, was das Fortschreiten der Moderne anging, sind sich Phänomenolo- gie und Epistemologie einiger grundlegender Voraussetzungen von ›Welt‹ bewußt geworden, die Husserl und Whitehead zufolge über einige Jahrhunderte unbeachtet geblieben waren, und in deren lange andauernder Entwicklung die Wissenschafen, heißt es bis heute, eine neue und richtigere Naturaufassung erlangt hätten. Darin läge die gemeinsame Entdeckung, die Husserl und Whitehead (beide nicht ohne Bezug auf William James) machten: totale »closure of nature« als Kehrseite einer ebenso totalen Evidenz der Lebenswelt.9 Ohne sich dieser Sachlage ganz klar zu sein,

5 William Empson, Te Structure of Complex Words (1951), ed. Jonathan Culler (Cambridge MA: Harvard University Press 1989), 66, zum Befund der »reiterative imagery«. Vgl. Ken- neth Burkes Skizze zur Synekdoche in »Four Master Tropes« (1941), A Grammar of Motives (Berkeley CA: University of California Press 1969), 503–517. 6 George Puttenham, Te Arte of English Poesie (London: Richard Field 1589), 193: »the far- fetcher« überspannt Quintilians Defnition der transumptio ex alio tropo in alium velut viam praestat (Institutio oratoria 8.6.39). 7 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), ed. Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013), Kommentar 460 f. zu 179.4. 8 A. N. Whitehead, Concept of Nature (Cambridge: Cambridge University Press 1920), ein- führende Zitate 4 f. 9 Melanie Sehgal, Eine situierte Metaphysik: Empirismus und Spekulation bei William James und Alfred North Whitehead (Konstanz: Konstanz University Press 2016), hier Kap. 3, von deren Ausführungen ich dankbar zehre. Ein knebbes Ding in einem Wort 239 führte Basil Willey in seinen Hintergrundstudien zum 17. bis 19. Jahrhundert White- head ein einziges Mal an in der Frage der »confdence in the stability and ­regularity of the universal frame of Nature.«10 Willey tat dies in Anspielung auf Whiteheads Presidential Address vor der Aristotelian Society 1922, doch tat er es in völliger Ver- kennung von Whiteheads pointiertem Rekurs auf Hume an dieser Stelle. Die Kon- troverse wäre hier nicht von Belang, stünde nicht die Tese von der »bifurcation of nature« im Raum, die Whiteheads Concept of Nature eben publiziert hatte und mit Hume ins Benehmen zu setzen suchte.11 Sie entlarvte eine unüberbrückbare, in ihrer Abgründigkeit nicht wahrgenommene Kluf zwischen »thought about nature« und »sense-perception of nature«, worunter Whitehead eine Wahrnehmung versteht, die der Natur insofern inne wohnt, als »the fact of sense-perception has an ingredient or factor which is not thought« (Concept of Nature 4). Whitehead legt allen Nach- druck auf das, was hier nicht der Fall ist, »by saying that nature is closed to the mind« (meine Ergänzungen und Hervorhebungen). Die radikale Verschlossenheit der Natur vor dem Denken – der Natur als eines von nun an als prinzipiell un-gedacht zu Denkenden – führt einen neuen Typ von Historizität ein in die Wissenschafsgeschichte, die eine ›Historische Epistemologie‹ im strengen Sinne erst zu postulieren erlaubt und der bisherigen ›Ideengeschichte‹ völlig entgangen ist. Die Frage, womit Whiteheads »closure of nature« ebenso ent- schieden wie unerwartet konfrontiert, hat darin ihre besondere Konsequenz, daß sie zu präzisieren verlangt, worum es sich überhaupt noch handeln kann bei »[what] is known to us as the direct deliverance of sense-awareness« (Concept of Nature 5). Whitehead geht es an dieser Stelle nicht um Ästhetik; aber er unterstellt eine ver- mittelnde Rolle von »sense-perception«, die auf der blinden Kehrseite der schieren Faktizität eine Latenz versteckt, deren Efekt so problematisch wie »incommuni- cable« bleiben muss (Concept of Nature 13). Es hat den Anschein, als läge in der empirischen Natur der Wissenschafen eine Ironie, die ein spezifsch ästhetisches Missverständnis impliziert (ästhetisch im Sinne von Paul de Mans ›ästhetischer Ideologie‹). Noch die ›Dialektik der Auflärung‹ (de Mans Paradefall) nimmt sich als Nebenefekt des tiefsitzenden Wahns aus, den das wissenschafliche Zeitalter an- gesichts der Verschlossenenheit der Natur ausbilden mußte.12 Whiteheads Tese von der »bifurcation of nature« bietet die erste epistemologisch nüchterne, mathe- matisch unterrichtete und in diesem neuen Sinne metaphysische Widerlegung der – mit Bacons frühzeitiger Intuition von Ideologiekritik zu sprechen – idola fori eines von Selbsttäuschung gezeichneten grandiosen Selbstwertgefühls der neuen Wissenschafen, das viele, zuviele Spuren hinterlassen hat an der Oberfäche der literarischen Öfentlichkeit. Stattdessen führt Whitehead seine Meta-Physik zurück auf eine kosmologische Kor-relation der Natur: auf der einen Seite »as a complex of related entities«, und als

10 Basil Willey, Te Eighteenth Century Background: Studies in the Idea of Nature in the Tought of the Period (Harmondsworth: Penguin 1940, 1962), 124. 11 A. N. Withehead, »Uniformity and Contingency,« Presidential Address, Proceedings of the Aristotelian Society (6. Nov. 1922). 12 Paul de Man, Te Resistance to Teory (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1986), 7 f. 240 Teleskopage

»thought« auf der anderen, verblendeten Seite (Concept of Nature 8). Darin liegt eine wesentliche Modifkation des Verhältnisses von Kosmos und Logos, wie es Blumen- bergs Rekonstruktion des metaphorologischen Unter-Grundes der Metaphysik von Aristoteles bis Nietzsche und Heidegger vorsieht, also kurz des ›Logozentrismus‹ von Derridas De-Konstruktion.13 Auch das wäre nicht weiter relevant, unterzöge Whitehead den epochalen Paradigmenwechsel nicht einem Perspektivwechsel: Der Wandel, der zu begreifen war, gilt bis heute als Wechsel From the Closed World to the Infnite Universe, wie der Titel des 1950 erschienenen Buches von Tomas Kuhns Lehrer Alexandre Koyré sagt.14 Was von Koyrés Design übrig bleibt, kann man Blumenbergs Metaphorologie beiziehen, war eine epochale Präferenz für eine ›mechanische‹ statt der ›organischen‹ Welterklärung: man gab einem Weltbegrif den Vorzug, der die in der Entwicklung stehenden Technologien mit refektierte. Heideggers Zeit-Diagnose von 1939, die zuerst 1951 in den Holzwegen erschien, hatte das auf ein weiteres Bindestrich-Compositum gebracht: »Die Zeit des Welt-­ Bildes« (was den Titel der Holzwege als Zeugen von Whiteheads Concept of Nature bestätigt).15 Die Konzeption des Wandels in dem älteren setting, etwa des Elizabethan World Picture von Tillyard 1943, erscheint in einem neuen – aber können wir das noch sagen? – ›Licht‹. Denn das Licht hat sich in ein fest verschlossenes Paläonym verwandelt; es ist zur leeren Schale einer überholten, irreführenden, nicht länger erhellenden Metapher geworden. Die vollendete Blindheit, die den transparenten Konditionen der Lebenswelt unter-liegt, refektiert in seltsamer Supplementarität die totale Schließung der Natur als Teil einer Welt, die ihrer ofenbaren Erscheinungen zum Trotz nicht länger dieselbe ist. Die Umwidmung der Metaphorik des Welttheaters ist in dem komplizierten Kom- plex fragwürdiger Sichtbarkeiten von einem eigentümlichen historischen Quellen- wert. Nach dem Verständnis des kohärenten, durch ein Schöpferwort garantierten Welt-Bildes, war die Metapher des theatrum mundi bereits so erschöpf, daß sie an- wendbar geworden war auf schlichtweg alles, was lebensweltlich ofensichtlich und also in Reichweite der Bühne war. Als Rückkehr einer längst un-toten Metapher – als zitathafe Re-Präsentation dessen, was der Kult der Kirche zur Auführung gebracht hatte und der Spuk des alten Hamlet in unfrommem Zitat zur Auführung bringen wollte – hatte die Maschinerie der Bühne etwas Neues zu bieten: Die Show eines Bilder-Apparates, in dem alle evidenten Begrife, die mit ihm verbunden waren – wie Bild, Szene oder enargeia – zu revidieren standen.16 Veritas, für den späten Shakespeare von Te Winter’s Tale noch flia temporis, hatte sich zurückgezogen. Time hingegen, die in Shakespeares Stück noch eigenständig zu Wort kommt, ist in Heideggers­ Titel nicht mehr länger die wohl bekannte, gegebene Zeit, sondern

13 Jacques Derrida, »La mythologie blanche« (1971), Marges—de la philosophie (Paris: Minuit 1972), 247–324: 261 f. 14 Überblicksweise Hans-Jörg Rheinbergers Einführung Historische Epistemologie (Hamburg: Junius 2007), 80 f. 15 Martin Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes« (1938), Holzwege (Frankfurt a. M.: Kloster- mann 1950, 31957), 69–104: 84 f. 16 Das ist nicht Gegenstand, aber Material von Rosemond Tuve, Elizabethan and Metaphysical Imagery (Chicago IL: University of Chicago Press 1947), wo sich die Quellen meisterhaf resumiert fnden. Ein knebbes Ding in einem Wort 241 das Produkt eines neuen, technologisch-bedingten Bildes namens ›Weltbild‹, das der Lebenswelt eben so äußerlich wie gegensätzlich ist.17 Whiteheads Frage war, »[how] in the course of the analysis space and time should appear« – »how« und »appear« sind zu unterstreichen. »Namely, the immediate fact for awareness is the whole occurrence of nature. It is nature as an event present for sense-awareness, and essentially passing« (Concept of Nature 13–14). Es gibt nichts, was diese Ereignishafigkeit der Natur ›vermitteln‹ könnte; die ein- zige Art, ihrer gewahr zu werden und mit Sinnen zu Rande zu kommen, scheint »our bodily life« (Concept of Nature 15), das »uns« in Schwindel erregender Ge- schwindigkeit zu Artauds berüchtigter ›Grausamkeit‹ katapultiert. Was auch immer dereinst die Rolle des nötigen Latenzmanagements übernommen haben mag (die Tragödie am Anfang der Orestie, die zu Hamlet’s Anfang aufgerufen wird), es wird in der Ereignis-Natur, die Whiteheads »closure of nature« inne wohnt, absorbiert. Die Konzeption im Concept of Nature besteht darin, Wort für Wort ex negativo zu bestimmen, was in der Natur un-gedacht ist, also seinem eigenen Wesen nach nicht gedacht werden kann. So ähnelt sie nur noch entfernt einem mythischen Analogon, für das die moderne Welt keine Kompensation kennt und zu leisten nicht mehr imstande sein kann: eine von Grund auf neue Meta-Physik der Natur. Whiteheads Metaphysik zielt auf ein philosophisches Bewußtsein von Natur unter Vermeidung der mythischen Reste, seien es auch die der derzeit kurrenten mythen-kritischen Ansätze (so sensibel er für derartige Unternehmen auch blieb). Wie sehr Whiteheads Initiative noch von Romantik beeindruckt ist, braucht hier nicht zu interessieren.18 Das literarische Cambridge ist nicht zu übersehen: von Gilbert Murray bis I. A. Richards, den jungen Empson und seine Gedichte nicht zu vergessen, die in Konkurrenz mit dem amerikanischen Modeprodukt der Zeit, Eliots Te Waste Land, entstanden. Isabelle Stengers empfehlt, Whiteheads Neigung zum Mythischen als das zu nehmen, was sie in erster Linie ist: ein neuer Produktivitäts- schauplatz. Vielleicht »waren wir nie modern«, gibt Stengers Freund Bruno Latour zu Bedenken.19 Die »actual occasions« von Whiteheads Ereignisdefnition, die das Ereignisausmaß historisch bestimmen, sind für Stengers minimal, »temporally ato- mic.«20 Das Merkmal dessen, was »essentially« nur ein »passing« sein kann, schreibt sich ein in eine Zeit, lokalisiert Zeit, die latent im Herzen des Ereignisses schlägt: Zeit als eine Latenz, die sich erst nachträglich als »awareness« manifestiert im Modus einer Zeit, in dem Werden genauerhin ein »becoming aware« an der Zeit ist. Wichtig ist anzumerken, daß dabei keine implizite Idee von einem Schöpfer im Spiel ist, kein

17 Zur allegorischen Klimax des Topos der veritas filia temporis in der Interpretation Francis Bacons siehe Pierre Hadot, Le voile d’Isis: Essai sur l’histoire de l’idée de Nature (Paris: Gal- limard 2004), 187. 18 Aufschlußreich Whiteheads Vorlesungszyklus Symbolism: Ist Meaning and Efect von 1927 (New York: Fordham University Press 1985), 47 f. Zur selben Zeit spricht I. A. Richards von der »Neutralisation of Nature« in Science and Poetry (New York: Norton 1926), 57 f. wo auch die Anklänge an Whitehead deutlich werden. 19 Bruno Latour, Nous n’avons jamais été modernes (Paris: La Découverte 1991). 20 Isabelle Stengers, »A constructivist reading of [Whitehead’s] Process and Reality« (MS), 20; dt. Spekulativer Konstruktivismus, mit Vorwort von Bruno Latour (Berlin: Merve 2009), 115–152: 140. 242 Teleskopage

Ursprungsmythos wie der Big Bang, der prominenteste unter den heutigen idola fori. Im Gegenteil, »there is nothing which foats into the world from nowhere«, neutralisiert Whitehead die gott-empfndliche Stelle; die »closure of nature« ist to- tal.21 In Stengers’ resolutem Schluss: »No reason as a matter of knowledge may ever parade as the reason for the existence of anything.«22 Darin lag und liegt (sei am Rande erwähnt) die nun erst a-theistische Provokation des neuen Teatrum Mundi, eine Herausforderung, die von den weltlichen Autoritäten, die das größte Interesse an einer theologischen Herleitung ihrer Autorität haben, wahrgenommen wurde; der Schließung der Natur eher als einer gänzlich gott-konformen Unendlichkeit des Raumes musste seither ihre Sorge gelten. An dieser Stelle interessiert der Bruch, der dem metaphorischen Modell ­Teatrum Mundi widerfahren ist und in der Schließung der Natur die Allegorie, der es sich evidentermaßen verdankt, sprengt. Die Frage, die sich für die literarische Sphäre stellt und en detail zu entwickeln ist, lautet: Wie kommt es zu (wie funktioniert und tritt auf) Erfahrung und Erkenntnis von Natur als ein »event present for sense-awa- reness, and essentially passing« (Concept of Nature 14). Kommt sie vor (tritt sie auf) anders denn als Kehrseite des notorisch verblendeten wissenschaflichen Weltbildes? Und weiterhin: Wie adaptiert und re-organisiert Literatur (ästhetische Erfahrung, literarische Kommunikation) die Bühnenmetapher in dem Teater des techno- logischen Fortschritts einer neuen Welt? Wie mein Titel andeutet, ist womöglich doch mehr als ein Wechsel in der Metapher und mehr als ein metaphorologischer Paradigmenwechsel ins Auge zu fassen: eine Modifkation des metaphorischen Le- xikons, die in der literarischen Sphäre seit langem – seit Galileo nach Miltons Vor- schlag, der ihn gerne in Bellosguardo besucht hätte – latent am Werk ist und sich an dem Größenwahn des neuen Fortschritts mißt. Whiteheads Version der ›Dialektik der Auflärung‹ fällt um einiges härter aus, als sich selbst Adornos Negative Dialektik eingestehen mochte und im Gegenzug zu Hegel eingestehen wollte. Undialektischer Ungedachtheit, undialektischer Blindheit ist bei und nach Whitehead zu begegnen. Ein Funken Hofnung, der Ansatz einer Hypothese könnte darin liegen, daß Lite- ratur trotz der allfälligen kommunikativen Anpassung an das neue Weltbild dieses nicht nur repräsentieren und im Modus der Selbstverkennung verdoppeln konn- te, sondern die verkannte Abspaltung der Natur zu registrieren begann samt dem Nebenefekt der Verblendung. Wie dem Mathematiker Pascal war dem Platoniker Whitehead die Welt unlesbar geworden. Was ein Welttheater für Whitehead oder Pascal leisten konnte, scheint nicht viel mehr als eine Pantomime der Blindheit. Wir sind zurück in der Höhle Platos, haben sie nie verlassen, ist Blumenbergs Befund der Höhlenausgänge, der Whiteheads »Fußnoten zu Platon« auf den Punkt bringt.23

21 Alfred North Whitehead, Process and Reality: An Essay in Cosmology (1929), revidierte Ausgabe von David Ray Grifn, Donald W. Sherburne (New York NY: Free Press 1978), 244, woran die ungeklärten neuen kosmo-theologischen Folgerungen aus Whiteheads Prozeßbegrif zu diskutieren bleiben. 22 Isabelle Stengers, »Whitehead’s Account of the Sixth Day«, Confgurations 13 (2005), 33– 55: 47. 23 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989), 433, anläßlich der notorischen Whitehead »footnotes to Plato« (Process and Reality, 39). Ein knebbes Ding in einem Wort 243

II Fluchtpunkt: Welt und Zeit

»Had we but World enough, and Time« ist eine der bekanntesten Zeilen des Jahrhun- derts. Sie handelt von der Rolle, die Zeit bei der Konzeption von Welt spielt – Raum wie Zeit sind in Marvells Text groß geschrieben, aber es ist nicht mehr Shakespeares Allegorie ›Time‹ des Wintermärchens. Es ist die Zeit der Welt und in der Welt – Weltzeit und Lebenszeit – auf die es in Marvells Gedicht ankommt und die es über- ein zu bringen sucht. In einer ersten, seither sprichwörtlich gewordenen Zeile hat dieses Gedicht die Zeitimplikation des Ortes benannt, der sich als Grab des Dichters und seiner Geliebten entpuppt und eine Defnition der genauen Zeit-Raum-Einheit bietet, in der Welt- und Lebenszeit zusammenfallen – das Gegenteil hochgemuter Hofnungen auf eine Ewigkeit jenseits der Zeiten. Auch die anspruchsvolle Bühnen- Anordnung des wissenschaflichen Fortschritts ging in die andere Richtung, hinauf in den Himmel statt hinab ins Grab: ein unendliches Universum ist ihr ofensicht- liches Ziel, nicht die Schließung des Grabes. Die radikale Neuanlage der Gemein- plätze vom säkularisierten Weltbild in Whiteheads Concept of Nature exponiert und vernichtet in ein und derselben Figur die Täuschung der Bild-Struktur, die auch Heidegger diskreditiert: der Welt als Bild. Nach ihrer Abspaltung ist Natur nicht länger abbildbar, selbst wenn sich auf der Außenseite ihrer Schließung eine Szene, eine pittoreske Kulisse abzeichnet. Sie bezeugt im Schatten des Sublimen das Auf- kommen des Pittoresken.24 Milton identifziert in Paradise Lost das Instrument, mit dem die neue, pittoreske Welt zum ersten Mal in emblematischer Manier wahrnehmbar wird, als einen neuen Allegorie- oder Symboltyp, durch den die überholte Metapher des Welttheaters tech- nisch ergänzt, wenn nicht gar überholt wird, ja in dem sie glänzend und restlos aufgehoben erscheint: das Teleskop des »Tuscan artist« Galileo (Paradise Lost I. 288). ›Telescopage‹ heißt die Leistung, die dieses buchstäblich spekulative Instru- ment der neuen Welt vollbringt, und die dem Benjamin des barocken Trauerspiels wie dem Lacan der Borromäischen Knoten gleicherweise zupaß kam.25 Der Punkt, den Benjamins und Lacans Verwendung der Metapher erhellt, die teleskopische Fakultät des Teleskops, entwickelt das O. E. D. wie folgt: »to force or drive one into another (or into something else)«, im übertragenen Sinne: »to combine, compress, or condense [a number of things] into a more compact or concise form«, woraus schließlich folgt: »to combine or confate«, nämlich (für Benjamins Geschichtsbild ganz entscheidend) to »[fore-]shorten by compression«.26 Das Teleskop verkörpert die analytische Radikalisierung der deskriptiven Mittel, für die Whitehead nicht lange vor Benjamin und Lacan in der Tese von der Abspaltung der Natur einen neuen, metaphysischen Horizont der ungedachten Natur entwarf: eine geschickte Kombination aus Raum und Zeit, in den Raum ein-gefaltete Zeit, In-plikation von Zeit im Raum. Gilles Deleuze hat diesen Entwurf in Le pli um eine von Leibnitz

24 Vgl. Eckhard Lobsien, Landschaf in Texten (Stuttgart: Metzler 1981), 52 f. zur Karriere des Pittoresken als Merkmal einer neuen »Immanenz der ästhetischen Erfahrung«. 25 Walter Benjamin, Das Passagenwerk, ed. Rolf Tiedemann (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982), I: 588; Jacques Lacan, Encore. Le Séminaire XX (Paris: Seuil 1975), 37. 26 Te Oxford English Dictionary (Oxford: Clarenden Press 21989), XVII: 731. 244 Teleskopage auf Whitehead als den »chef d’école« (wenn auch »d’une école un peu secrète«) führende Genealogie bereichert.27 Was das Teleskop des »Tuscan artist« entdeckte, ist in den Raum gefaltete Zeit. Die Perspektive der Beobachtung unterliegt nicht län- ger einer allegorischen Vereinbarung von fgura und implementum, sie unternimmt die ›Anatomie‹ der eingefalteten Zeit. Ein neues Lexikon von Begrifen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, betritt die Szene des Teatrum mundi, darunter als ein Vorläufer von ›structure‹ die führende Analyse-Metapher der Zeit, ›anatomy‹, notorisch seit Burtons Anatomy of Melancholy (1621), die dann Northrop Fryes Anatomy of Criticism (1955) ins Positive zu wenden wußte. Ihre Bedeutung für die Teater-Metaphorik ist allerdings begrenzt und muß vollends in die Irre führen, sobald es um Probleme der erfahrungswissenschaflichen Induktion geht.28 Aber sie bezeugt deutlich und benennt buchstäblich die Abspaltung, ja vollendet sie allego- risch zu einem letzten Emblem. Das Teleskop tritt an die von ihr bezeichnete Stelle. Von einer kohärenten Allegorie göttlichen Handelns hat sich das Teatrum mundi in eine gemischte Metapher der Beobachtung verwandelt, ein Laboratorium episte- mologischer Belange. Miltons Galileo-Zitat und Whiteheads Raum-Zeit-Einfaltung ergänzen einander, aber wir brauchen Whitehead, um Miltons Punkt zur metapho- rologischen Entfaltung zu bringen, wobei die Verzögerung – ›de-lay‹ ist ein Pun von Miltons Gnaden – einer eigenen Entfaltung bedarf. Nicht länger der allegorische Schauplatz von Geschichte, ist die Bühne zur Schwelle geworden, auf der ein lang- wieriger Erkenntnisprozess auf Entscheidung drängt, thematisch wird: ein theatraler Moment, Nicht-Zeit auf der Kippe. Das war schon der Fall in Shakespeares Tragical Histories, vermutlich schon in der griechischen Tragödie, folgt man der Diagnose des Aristoteles.29 Shakespeares Mittel waren Anachronie und Anamorphose, sein Gegenstand die Geschichte, nicht die Natur als abgespaltete Kehrseite empirischer Forschungen. Selbst Whiteheads brillanter Entwurf zeigt noch die Spuren der ro- mantischen Ahnung von einer ins Literarische abgedrängten Naturerfahrung, des zunehmenden Naturentzugs, den zu kompensieren die Naturwissenschafen nicht gut geeignet sein konnten. Für diesen Stand der Dinge bot Stanley Fishs Milton-Analyse Surprised by Sin (1967), ein charakteristisches Dokument. ›Surprise‹ ist der theatralische Grundtrieb, auf dem das neue Teatrum mundi beruht, und Miltons ›sekundäre Epik‹ ist eine se- kundäre nicht allein auf Grund ihrer Verspätung auf Virgil und Homer, wie C. S. Le- wis nahelegte, sie ist sekundär als eine auf Nachträglichkeit angewiesene theoretische Einstellung, in der legitime Wissenschaf über die Neugierde zurückgebunden bleibt an den Sündenfall primordialer Hybris im Umgang mit dieser Welt.30 Nach Fishs Einsicht brachte Milton seine Leser gezielt »to the realization that his inability to

27 Gilles Deleuze, Le pli: Leibniz et le baroque (Paris: Minuit 1988), 103 f. – ein Milton würdi- ges Setting, mitsamt dem Versuch einer satanischen Epistemologie. 28 Ian Hacking, Te Emergence of Probability: A Philosophical Study of Early Ideas about Pro- bability, Induction and Statistical Inference (Cambridge: Cambridge University Press 1975), Kap. 4. 29 Vf. Marginales zur Metapher: Poetik nach Aristoteles (Berlin: Kadmos 2015), Kap. 1 und 4. 30 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1965), Teil III. Kritisch fortgeführt bei Barbara Vinken, Unentrinnbare Neugier: Die Weltverfallenheit des Romans (Freiburg: Rombach 1991), Teil I. Ein knebbes Ding in einem Wort 245 read the poem [of Paradise Lost] with any confdence in his own [the reader’s] per- ception is its [the poem’s] focus.«31 Der »defect« im Leser, der auf den Sündenfall zurückgeht, muß ausgeglichen werden, und das technische Mittel der anagnorisis, das die Urszene der Erkenntnis zurückbringt und als neuen Allegorietyp der wieder- erlangten Fähigkeit zu lesen installiert, ist das Teleskop. Die ehedem falsche, fatale Neugier, die dem Fall vorausging, wandelt sich in ein Mittel der Erlösung, das eine neue Szene des Wiedererkennens bewirkt, felix culpa.32 Die felix culpa der Neugier ist der Einsatz für Fishs Empathie als Errungenschaf des Lesers in der durch Milton eingeläuteten Moderne. Das Teleskop des »Tuscan artist« Galileo leistet deshalb mehr, als nur den Verlust eines Mythos aufzuwiegen: Es ist ein Emblem – buchstäbliches Symbolon, wenn wir Goethes Begrif versuchsweise beiziehen – für das, was es technisch hervorruf, produziert und garantiert in der Simultaneität des frisch erzeugten Ur-Augenblicks: des Sündenfalls, der im Moment der aktuellen Lektüre, den Akt des Lesens als Akt ausmacht. Das Teleskop macht den Sünden-Fall zu einem ›event‹ in Whiteheads starkem Sinne des Wortes. Um diesen Efekt zu erzielen, der auf den Namen ›sur- prise‹ hört – Überraschung ist der ereignisschwangere Name des Wieder-Erkennens der anagnorisis – bleibt Milton nicht bei der Rhetorik, mit deren Entdeckung Fish sich begnügt. In Miltons Inanspruchnahme der Rhetorik liegt ein poetischer Über- schuß, durch den man – der Leser im Akt des Lesens – zum Zeugen einer epistemo- logischen Erkenntnis wird. Die wahre Entdeckung in der Simultaneität gilt nämlich der komplexen Heils-Qualität des Sündenfalls als eines andauernden, erneuerbaren kognitiven Potentials für die Zeit danach, nach dem Fall. Es ist diese Leistung, die im Gebrauch des Teleskops ihrer vollen Bedeutung entgegenstrebt. Als ›spekulativem Instrument‹ (I. A. Richards’ romantischer Vorzugsmetapher für den New Criticism), das der entzogenen Natur innezuwerden vermag, hafet dem Teleskop ein dubioser Verblendungsrest an, einer Verblendung, von der sich die romantische Philologie befreit wähnt (Whitehead verwischt diese Spur nicht). Im Jahr 1667, in Miltons Welt und Zeit, war »the Galilean astronomy [...] already out of date« und »Satan’s glory« wohl gleichfalls »derivative.«33 Für Milton bedeutete der Wechsel zwischen den Zweigen der Naturphilosophie und die Vereinigung von biblischer Darstellung und der neuen empirischen Wissenschaf Galileos weniger ein Problem als die zunehmende Frustration eines unerwarteten mise-en-abîme. Blumenberg hat gezeigt, wie die Frustration bereits in Galileos eigenem Werk, den späten Discorsi Gestalt annahm; ähnlich bei Milton (der stolz darauf war, Galileo in Florenz besucht zu haben). Die Frustration rührte vom Rückzug der Wahrheit in ein Universum, das durchs Teleskop zugänglich zu werden versprach, sich dann

31 Stanley E. Fish, Surprised by Sin: Te Reader in Paradise Lost (Berkeley CA: University of California Press 1967), 4 (meine Ergänzungen). C. S. Lewis, A Preface to Paradise Lost (Ox- ford University Press 1942), Kap. VI–VII zur Erfndung des »secondary epic«. 32 Vgl. Odo Marquard, »Felix culpa? Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Ge- nesis 3«, Poetik und Hermeneutik IX (1981), 53–71. 33 J. B. Broadbent, Some Graver Subject: An Essay on Paradise Lost (London: Chatto and Win- dus 1960), 56, 72. 246 Teleskopage aber hinter ihm, ja in ihm entzog.34 Liest man Paradise Lost im Licht dieser Frus- tration, kommt mit dem allegorischen Hintergrund die epoche-bildende Schwelle zum Vorschein, die hinter die ideologische Kulisse einer rückschrittlichen Re-Alle- gorisierung führt, hin zu der (in diesem Fall epochentypischen) epistemologischen Neu-Beschreibung.35 Die Schwelle bleibt in der für die Renaissance als ›Wieder- geburt‹ charakteristischen, mimetischen Ambivalenz zwischen Wiederholung und Überwindung des Sündenfalls stehen. Die neo-platonische Maxime »To save appea- rances« zitierend, bestätigt Miltons Erzengel Raphael schon Adams Angst wie auch die Miltons selbst, der zu dem Zweck diese berühmteste aller Fußnoten zu Platon bemüht hat (VIII.82).36 Die technische Innovation von Paradise Lost liege im »spatial imagining«, hat lange Zeit die Milton-Forschung versichert; denn dies erlaube ihm, »the eternal moment into the poem’s mythical structure« einzubauen, präzisierte Fish und grif dabei Empsons ingeniöse Intuition vom »planting« der Metapher auf (Surprised by Sin 28). Freilich kann es dabei nicht länger um den Leser gehen, der in die Lage ver- setzt wird, zu sehen, was einst kein Geringerer als Satan selbst nicht zu sehen bekam: »Trough his glaz’d optic Tube yet never saw« (III.590). Das Nadelöhr, durch das die Erlösung eintreten und die Wiedergeburt empfangen werden soll – das Tele- skop – wirkt insofern wie ein veritables Symbol Goethes (oder Roman Jakobsons), als es die in der Tat höchst fabelhafe Aufgabe erfüllt – in diesem Punkt stimmen Benjamin und Lacan überein – die Geschichte in der Natur aufzuzeigen (das ist: ihr Eingeschlossensein in ›Natur‹): »Te passage of nature leaves nothing between the past and the future«, erläutert Whitehead und führt diesen Gedanken weiter: »What we perceive as present is the vivid fringe of memory tinged with anticipation. Tis vividness lights up (sic!) the discriminated feld within a duration« (Concept of Natu- re 72–3). In Milton eröfnet das Teleskop ein Whitehead’sches »discriminated feld«: ein Teatrum mundi, auf das Epik folgt (das erst macht ihr ›sekundäres‹ Merkmal aus, das Hegels Phänomenologie auf den Kopf stellen wird) und in ihr ein neues Be- schreibungsregime der ›re-discription‹. Merritt Hughes bringt als Illustration seiner Milton-Ausgabe ein Schema aus Peter Apians notorischer Kosmographie von 1524, in der die Erde durch das Teleskop ins Zentrum des alten Weltbildes projeziert ist.37 Die eindrucksvollste illustratio dieser teleskopischen Weltsicht ist aber zweifellos Giovanni di Paolos Schöpfung und Vertreibung aus dem Paradies von 1445 im New Yorker Metropolitan Museum (s. die Abbildung zu Beginn des Kapitels »Bildlegen- de«); sie zeigt an Miltons Sujet die Inauguration des neuen Teatrum mundi. Schöpfung und Sündenfall erscheinen komprimiert in teleskopischer Verkür- zung: Von seinen mythischen Wolken herab befehlt der Schöpfergott die Vertrei-

34 Hans Blumenberg, »Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit«, Einführung zu Ga- lileo Galilei, Sidereus Nuncius: Nachricht von neuen Sternen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1965, 1980), 7–65: 48. 35 Quentin Skinner, Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes (Cambridge: Cambridge University Press 1996), Kap. 4 zu den Renaissance »techniques of redescription«. 36 Barbara Kiefer Lewalski, Paradise Lost and the Rhetoric of Literary Forms (Princeton NJ: Princeton University Press 1985), 48. 37 John Milton, Complete Poems and Major Prose, ed. Merritt Y. Hughes (New York NY: Macmillan 1957), 188. Ein knebbes Ding in einem Wort 247 bung Adams und Evas, zeigt aber mit dem selben Finger schon das Datum von Mariä Empfängnis als Erlösungsdatum im Kalender der Weltheilsgeschichte an. Indessen bleibt die Szene ganz dem paradiesischen Ursprungszustand der Versuchung ver- hafet – die goldenen Äpfel winken auf ewig von ihren Bäumen. Giovanni di Paolo schlägt eine teleskopische Schneise durch die Zeiten und errichtet in ihr eine erste kartographisch korrekte Perspektive auf die Weltkugel, die anachronistisch ein- gehüllt bleibt von der alten Ordnung der himmlischen Sphären. Implizit verrät die über-zeitliche Perspektive einen neuen Historismus, der leicht zu übersehen ist. Der mythische Bodensatz der in die Perspektive gezwungenen Zeiten sorgt nämlich zu- gleich dafür, daß der Perspektive ihr Ort zugeteilt und verankert wird im Plan der Erlösung vor allen Zeiten. Er läuf zu auf den 25. März, das Fest der Verkündigung. Die liturgische Rücksicht auf Darstellbarkeit zeitigt ein transzendentales Teater der Äonen, auf dem die Perspektive die Verkündigung als eine Re-naissance ins Leben ruf.38 Die Diferenz der Zeiten-Räume ist in die Einfältigkeit der Telescopage so ein- gefaltet, daß der Moment des Wiedererkennens, den Giovanni und Milton in Szene setzen, zu der Voraussetzung des Erlösungsgeschehens wird. Es geht deshalb nicht um die Erfndung der ›kosmischen Perspektive‹ allein, die Miltons episches Ver- fahren bestimmt hätte.39 Vielmehr geht es, als der Raum in den fachen Nicht-Raum des Bildes ein-gefaltet wird, um die Aufebung des weltlichen Raums in Zeitenlauf. Die obtuse Stumpfeit der entdeckten ›ikonischen Diferenz‹ des Bildes – des auf der fachen Leinwand erschafenen Raumes – wird ofensichtlich, wenn man sie in der Perspektive des Teaters augen-scheinlich macht. Die Frage ist dann nicht (mehr), wie satanisch die neue Ansicht der Dinge ist, sondern wie die verteufelte perspekti- vische Verkürzung verschleiert, worum es in der Teaterzeit – zu den einzigartigen Bedingungen der Zeit auf dem Teater – geht.40 Damit sind wir zurück bei Empsons viertem Typ der Komplexion, der meta- leptischen Metaphorik und Hamlets verdoppeltem Boden, einer Figur, die Empson als exemplarisch in Finnegans Wake fndet, wenn auch in gescheiterter und – das ist entscheidender – zwangsläufg ruinöser Form. Empson nennt Joyces Wake »a gigantic corpse« (Structure of Complex Words 66), was der technischen façon des ›corpsing‹ entspricht, das bei Beckett eine gründlich daneben gegangene ›perfor- mance‹ benennt. Die neue Epik von Milton bis Joyce ist wie die neue Gemäldekunst ein Teater der ikonischen Diferenz, die auf der Bühne verschleiert aufritt und prompt ›corpses‹, wenn sie die Wahrheit ihrer Darbietung für Realpräsenz ausgibt, also die ihr unterlegten Wörter für bare Münze nehmen läßt im Gegensatz zu sol- chen, die auf der Bühne ausgesprochen und ausagiert werden. Das Welttheater, von dem Empson handelt, ist in seinem Wesen ein Teater von Complex Words.

38 Daniel Arasse, L’ Annonciation italienne (Paris: Hazan 1999), wo die Erfndung der Per- spektive als das neue Medium des Genres der Verkündigung gezeigt wird. 39 Einen Überblick über die relevanten Passagen bei Milton und seine Bekanntschaf mit Galileo bietet Marjorie Nicholson, »Milton and the Telescope« (1935), Critical Essays on Milton from ELH (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1969), 5–45: hier 24 f. und 28 f. 40 Vgl. Martin Harries, Forgetting Lot’s Wife: On Destructive Spectatorship (New York NY: Fordham University Press 2007), dem ich für seine Kommentare danke. 248 Teleskopage

III Teleskopie im einen Wort

»A narrow thing within one word,« räsonnierte Empson, als er die Komplexität von Typ IV hin und her drehte, und fndet sie jedenfalls komplexer als die Synekdoche: »[a] third meaning of the word« sei involviert »which may be only vaguely concei- ved« – was einer Notlösung gleich kommt (Structure of Complex Words 52). An- ders als die Synekdoche war es die Metalepsis, die in der Sprache der Rhetorik eine Zwei-Ebenen-Trope darstellte, wobei sich die meto-nymische erste Ebene auf der zweiten Ebene verdoppelte und in ein mise en abîme entglitt.41 Die Gefahr ließ sich gelegentlich, von Fall zu Fall, entschärfen, indem man sie auf eine bloße Synekdo- che umdefnierte, wie das Erasmus’ autoritative Abhandlung De copia, Kapitel XXI, empfahl. Puttenhams Arte of English Poesie nahm die Sache grundsätzlicher und nutzte das Teleskop als die in technischer Hinsicht entscheidende neue Metapher für das radikalisierte performative Moment, das er in der Metalepsis erkannte. Er nahm das Instrument zum Anlaß eines metaphorologischen Wechsels in der Mo- dellierung und nannte die Metalepsis nach dem Teleskop »the farfet« – teleskopisch »farfetching« statt »translating« oder, im älteren Lexikon, »transuming«.42 Empson tut deshalb gut daran, Typ IV nur »like a metaphor« zu verstehen (seine Hervor- hebung): als daneben gegangene Metapher, ein ›corpsing‹ in der (Performanz der) Übertragung. Kurz, das Teleskop ist ein para-metaphorisches Mittel, denn die ihm unter-stellte transumptio der Figur, welche die Metalepsis ist, funktioniert nur wie die Übersetzung in der Metapher; sie erfüllt diese Aufgabe nicht, sondern kollabiert in der Ausführung. Das Teleskop ist also genauerhin ein nach-metaphorisches In- strument, sofern der von Empson erwogene Typ IV nicht länger metaphorisch ope- riert, und zwar weil – den weiterführenden Schritt anzudeuten, den Hilary Putnams Pragmatismus als hypothetisch andeutet – »the hypothetical situation is just too far- fetched«, um derart in den hergebrachten [Aristotelian] »dispositions« [like those »subverted« in Puttenham’s Art of English Poesie] noch aufgehen zu können.43 Nehmen wir nur das bekannteste der neueren Teleskope, das in Becketts Endgame zur Auführung kommt: »What all is?«, fragt Clov. »In a word? [...]« (Regieanwei- sung: »He turns the telescope on the without, looks,« &c.) »Corpsed,« vollendet er (Pause). »Well? Content?«44 Ich will nicht behaupten, daß Becketts Teater die Metapher vom Teatrum mundi dekonstruiert; wichtiger wäre zu sehn, wie er die

41 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik (München: Huber 1960), I: 295 (§ 571); 295; II: 747 f. (Eintrag metalepsis I). 42 George Puttenham, Te Art of English Poesie, 193 f. (wie oben zitiert). Puttenham gilt auf Grund solcher schleichender Umwidmungen als »the Elizabethan subversive« par excel- lence, wie Angus Fletcher bemerkt hat, Allegory: Teory of a Symbolic Mode (Ithaca NY: Cornell University Press 1958), 328 f. Fletcher wandte sich zuvor gegen Burke’s Version von »metonymy and syekdoche« als »teleologically controlled tropes« (Allegory 85). 43 Hilary Putnam, Pragmatism: An Open Question (Oxford: Blackwell 1992), 19. Die Hypo- these fguriert bei Putnam (Puttenhams Nachfahren) als eine metaphorologische Rahmen- fgur, wie sie es schon bei Aristoteles und Descartes in Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie war, 14.15 (Kommentar 262 f.). 44 Samuel Beckett, Endgame (London: Faber & Faber 1958), 25. Vgl. Christopher Ricks, Be- ckett’s Dying Words (Oxford: Oxford University Press 1993), unter »corpse, to.« Ein knebbes Ding in einem Wort 249 ungedachte Natur einbezieht, welche die Welt umsäumt, sie in Szenen teilt und im »narrow word« wie einer obtusen Geste ofen legt. Die ofenbarende Qualität des Latenten nimmt bei Beckett den Platz ein, den auf der Barockbühne Benjamins die »Überspannung der Transzendenz« inne hatte – im Vergleich zu Hamlet, das sah Benjamin wie Empson, bedeutet das eine Niederlage, weshalb Empson Finnegans Wake als gescheitert ansah, »equally a blind alley« für Milton wie für Joyce in der abschließenden, repräsentativen Einschätzung T. S. Eliots.45 Das Teleskop, einst das technisch aktuellste Emblem der neuzeitlichen Erwartun- gen, beweist sein nutzloses Versagen in Endgame aufgrund der Zeitfalte, deren Be- schreibung wir Whiteheads Defnition der »congruence« verdanken. »Te passage of nature leaves nothing between the past and the future« habe ich zitiert. Oder, umge- kehrt: »Te past and the future meet and mingle in the ill-defned present« (Concept of Nature 73). Die Bühne – die Welt als Teatrum mundi – muß die unbegrifiche Nicht-Defnition liefern; ihre Aufgabe ist es, das exakte linguistische Analogon zu liefern, dessen faktische Kraf ein jedes Wort in seiner Enge, auf knappstem Raume komprimiert. »Te passage of nature which is only another name for the creative force of existence [fuhr Whitehead fort] has no narrow ledge of a defnite instanta- neous present within which to operate. Its operative presence which is urging nature forward must be sought for throughout the whole, in the remotest past as well in the narrowest breadth of any present duration.« Empsons Wort, so knapp es ist, ist ein Teleskop des Typs IV, das – Whitehead zu- folge nicht unähnlich der platonischen Mimesis – die Welt wie ein Teater auf der Bühne nachstellt; dazu hätte Joyces Wake die Dekoration liefern sollen (sei es auch, da könnte Empson recht haben, für ein bloßes, etwas abgestandenes Philologen- Teater). Man tut gut daran, sich auf die Raum-Zeit-Einheit oder (metaphorisch gesprochen) das Raum-Zeit-Bild zu konzentrieren, das in diesem Teatrum mundi in Szene gesetzt ist. Nicht wegen der dubiosen Bild-Qualität, sondern wegen der obtusen, sur-realen, allenfalls schemenhafen »cogredience«; Whitehead spricht von »unbroken quality of standpoint« oder »continuance of station within the whole of nature, which is the terminus of sense-awareness« (Concept of Nature 110). Der Schluß – »In other words perception is always here« – ist die Defnition des Teaters als Welt und zugleich das Merkmal der Bühne im Hier und Jetzt. Auf dieser Bühne ereignet sich Natur als der Stillstand, durch den Benjamin die ›dialektische‹ Bild- qualität der Bühne defniert sah, die den literarischem Text im Ganzen bestimmt. Es hat dann aber doch noch bis zum zweiten Teil von Deleuzes Cinema gedauert, daß sich das ›Zeitkristall‹ des neuen, fortgeschrittenen Teatrum mundi, »die strikte Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit der Vergangenheit« herauskristallisiert hat.46 Kino 2, das nicht mehr das der verflmten point of view Romane ist, brachte in ein neues Format, was das alte Teater zwar immer (auch schon) mit aufgeführt hatte,

45 T. S. Eliot, »Milton« I (1936), Selected Prose of T. S. Eliot, ed. Frank Kermode (London: Faber & Faber 1975), 258–264: 263. Die Einschätzungen variieren hinsichtlich der Reich- weite, doch widmen sich alle dem, was Eliot »the future development of the language« (des Englischen) nannte. 46 Gilles Deleuze, Cinema 2: L’ image-temps (Paris: Minuit 1985); dt. von Klaus Englert, Das Zeit Bild: Kino 2 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997), 346 f., Zitat 350. 250 Teleskopage aber der Irreführung einer schlecht beratenen Moderne abtrotzen mußte, die sich als Kritik in der Sache vertat – wenn es sich am Ende auch nicht viel mehr täuschte als es ihr natur-wissenschafliches, natur-beherrschendes Gegenüber tat, mit dem sie weitgehend, wohl oder übel, in der Verzerrung konkurrierte und es bis auf weiteres immer noch muss. Beauty is Truth 251

Beauty is Truth Keats’s Ekstase des Ästhetischen: Ode on a Grecian Urn

Wordsworth and Shelley both theorize, Keats has no theory [...] yet in the sense appropriate to the poet, [...] he had a ›philosophic‹ mind.1

Ein glücklicher Zufall hat den Schluss der Aesthetica Baumgartens aus der Ver- schattung des Ästhetischen herausgeführt: Foucaults Wiederentdeckung der Parr- hesie, die ihrerseits am Ende eines Oeuvres steht, das für die mit Ästhetik befaßten Disziplinen – ohne es zu beabsichtigen – von einer fast skandalösen Bedeutung geworden ist. War die Parrhesie am Ende der Aesthetica wie ein rätselhafer Trug- schluß aufgetreten, im letzten Paragraphen eines unvollendeten, auf diesen über- schüssigen Nenner gebrachten Werkes, so trat mit Foucaults Wiedererweckung der Parrhesie ein in der französischen Tradition keineswegs wie in der deutschen ver- blaßter Rahmen in den Vordergrund, der Baumgarten schlagartig in eine Genea- logie versetzt, in der er in der deutschen Philosophie nach Kant verkannt blieb.2 Es ist die der Renaissance, die in Deutschland mit der Ästhetik – ihrer Verkennung im Werk Baumgartens – auf einen Abweg geriet, aller ästhetischen Sonderleistungen seit Goethe, Hölderlin, Kleist und der Romantik unbeschadet. Das war kein Zufall, lag in der Natur der ästhetischen Objekte, wird aber von der französischen und eng- lischen Literatur seit Milton her erst deutlich, an der die Entwicklung der neueren Literaturwissenschaf im New Criticism orientiert ist. Der Dichter John Keats, der im Kontext der englischen Romantik einen Sonderfall darstellt wie Hölderlin in der deutschen, revidierte Milton und seine kanonbildende Anknüpfung an Shakespeare; dergleichen vermochte Hölderlin mit Klopstock nicht, sondern faßte erst Walter Benjamin ins Auge. Keats endete in der Extase seines kurzen, vor der Vollendung abgebrochenen Lebenswerks mit einer Geste der Parrhesie, die Baumgarten nahe- kommt. Keats konnte ihn höchstens in Splittern seines Einfusses kennen, aber er stand in der Tradition, auf die Baumgartens Ästhetik eine Antwort gab. Man fndet deshalb bei Keats nicht viel mehr als ein verhaltenes Echo, doch was soll man er- warten von einer Teorie des Ästhetischen als ein Echo? Es liegt in der Natur der Sache, daß die Wirkung der Literatur auf der dunklen Latenz eines Verborgenen aufruht, dessen modifzierende Reaktionen sie bezeugt. Von dieser Art Zeugnis handelt, dieses Bezeugen ist die Parrhesie Baumgartens; im Akt des Bekennens wird ihr Zeugnis zum Skandalon der Ästhetik. Keats’s Ode on a Grecian Urn liefert in der Geschichte der neuern Literaturkritik, die der New Criticism sein will, die evidence – Beweis und Anschauung – in Gestalt des Ästhe- tischen. Bereits der Titel – Ode on, nicht Ode to – ist signifkant, denn er rückt trotz

1 T. S. Eliot, Te Use of Poetry and the Use of Criticism (London: Faber and Faber 1933, 21964), 102. 2 Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik (Aesthetica I–II, 1750–58), übersetzt von Dagmar Mirbach (Hamburg: Meiner Verlag 2007), Bd. II: 928, letzter Paragraph, letztes Wort. 252 Teleskopage durchgängiger odischer Anrede – »Tou still unravish’d bride of quietness« setzt sie ein – den Gegenstand der Anrede in eine unüberbrückbare Distanz, aus der heraus es die besungene Urne als Sylvan historian zu einem ihr eigenen Sprechen bringt, einem Sprechen, das am Ende des Gedichts dem fernen Leser bekennt, ihn wissen läßt, ihm die Ahnung vermittelt: »Beauty is truth, truth beauty«.3 Der kritische Skan- dal ist profund, aber um Ausreden nicht verlegen. T. S. Eliot hat die Verlegenheit schlagend, prominent, ins Bewußtsein gehoben, aber das Unbehagen ist allgemein. Miriam Allotts Kommentar resumiert die Bandbreite der Vorbehalte gegen Keats’ Schlußzeile »Beauty is truth, truth beauty« in trefsicherer Zuspitzung (538):

(1) philosophically defensible but of doubtful relevance (J. M. Murry); (2) a ›pseudo- statement‹, but emotionally relevant (I. A. Richards); expressing the ›paradoxes‹ in the poem and therefore dramatically appropriate (C. Brooks); (4) meaningless and therefore to blemish (T. S. Eliot); (5) an oversimplification but attempting a positive synthesis of the oppositions expressed in the poem (F. W. Bateson); (6) emotionally and intellec- tually relevant when properly understood, but »the effort to see the thing as Keats did is too great to be undertaken with pleasure« (W. Empson).

In der aufsteigenden Linie zunehmender Komplexion bildet Eliot die radikale Zäsur; er fndet »Beauty is truth, truth beauty« aufgesetzt, also schlicht schlecht. Tatsächlich läßt sich der Bruch des romantischen Registers, der in der letzten Strophe stattfn- det, nur in bemühten zusätzlichen Refexionen aus dem Weg räumen; der Aufwand bleibe letzten Endes zu groß, bestätigt Empson in Richards Nachfolge das Ungenü- gen Eliots.4 Bemühte Relevanz, so der Tenor der Kritik, zerstöre die ästhetische Qualität, die in Keats’s »fner tone« zur größtmöglichen lyrisch-musischen Reinheit gediehen war. Indessen, der Bruch, der im Einsatz der letzten Strophe manifest wird, ist kalkuliert und mit Fleiß angelegt.5 Wenn man ihn für fatal hält wie Eliot, zer- bricht am Ende nur, was sich in den Strophen zuvor ankündigte und im Stilbruch des peinlichen statement nicht mehr zu verleugnen ist. Vom Ende her gelesen ist die Gefährdung der romantischen Tonalität das Tema des ganzen Gedichts und nicht gut ein zweites Mal zu überlesen. Es empfehlt sich deshalb, der zu Bruch ge- gangenen, nur mit Mühe zu kittenden ersten Lektüre eine zweite Lektüre vom Ende her folgen zu lassen, die der Latenz des Bruchs nachgeht. In der umstrittenen letzten Strophe wird er in einem akustischen lapsus, einem verunglückten pun, traut man Empsons Ohren, eingeleitet: »O Attic shape! Fair atti[c]tude...«:

O Attic shape! Fair attitude! with brede Of marble men and maidens overwrought, With forest branches and the trodden weed;

3 Ich zitiere nach der umfassend kommentierten Ausgabe Te Complete Poems of John Keats, ed. Miriam Allott (London: Longman/New York: Norton 1970, 31975), 532–538. 4 William Empson, Te Structure of Complex Words (1951), ed. Jonathan Culler (Cambridge MA: Harvard University Press 1989), 368 f. 5 Man folge nur dem Verlauf der Analyse von Earl R. Wasserman, Te Finer Tone: Keats’s Major Poems (Baltimore MD: Te Johns Hopkins Press 1967), Kap. I. Beauty is Truth 253

Thou, silent form, dost tease us out of thought As doth eternity: Cold Pastoral! When old age shall this generation waste, Thou shalt remain, in midst of other woe Than ours, a friend to man, to whom thou say’st, »Beauty is truth, truth beauty«—that is all Ye know on earth, and all ye need to know.

Die Resonanz attischer Formgebung in der ästhetischen Einstellung – im Übergang von einem griechischen ins lateinische Colorit weniger peinlich, als Empson meint – mag dahin stehen. Die rahmende Anrede der Urne kehrt mit diesem Miß-Anklang zu ihrem Ausgangspunkt – »Tou still unravished bride« – zurück und bringt das vollendete Design der Urne vor Augen, »well wrought« wie sie ist in Brooks’ Ana- lyse, zu der Kenneth Burke das Fazit beigetragen hat: »Te Urn contains the scene out of which it arose.«6 Nun fehlt Burke, mit dem Brooks einig ist, im Chor der von Allott zusammengestellten Meinungen, als bestätige er nur die dramatistische Recht- fertigung der Schlußstrophe. Das ist indessen nicht alles; erst auf Burkes Spuren läßt sich, ohne dabei die Ambivalenzen der Reaktionsbildung zu verwischen, dem Chor der Neuen Kritik die ästhetische Pointe im engeren Sinne Baumgartens einzeichnen, die Keats mit dem Chiasmus von beauty und truth illustriert und auf die Spitze treibt, auf die Baumgartens Aesthetica an ihrem Ende zulaufen: ad bellam evidentiae parrhesian (§ 904), die Parrhesie schöner Evidenz, deren Begrif dem Begreifen des Schönen entspringt (II: 928). Baumgarten verweist zurück auf seine genauere Einführung des Begrifs anhand einer Stelle Vergils (§§ 349–350) und deutet den meta-fguralen Charakter der Par­ rhesie an: an fgura dicatur [...] mihi perinde est (I: 326). Er schließt sich dabei Vossius’ erweiterter Aufassung der Denkfguren an, fguras omnes sententiae (§ 347), was des- halb für die Parrhesie mit zu berücksichtigen ist (I: 324). Als Denkfgur schwankt die Parrhesie – implicite vel explicite osten[dens] (§ 349) – auf der Grenze zur fgura cryptica (§ 784), erscheint sie in aestheticis als Supplement in augmentibus (§ 349). Explicite ostendens stellt Keats’ Urne aus, was in ihr implicite, im Erkalten des Pastoral, spruchreif geworden ist. Als verdeckte Denkfgur, fgura cryptica, würde die Urne mit der Parrhesie ihres Schlußspruchs zu einer restaurativen Allegorie des Ästhetischen. Das Kippmoment läge in der von Eliot refektierten, aber abgewehrten Zäsur, und Keats ist sich wie Baumgarten unschlüssig: nicht in der Parrhesie, aber in der fgu- ralen Tragweite der in sich widersinnigen Ostentation des Abbruchs der Brücken. War Brooks’ Würdigung in diesem Punkt noch defensiv, so wendete sich das Blatt bei Burke. In der seit Richards üblichen Sprachregelung erregte Keats’ Urne die Ge- müter »by culminating in a statement – a statement even of some sententiousness in which the urn itself is made to say that beauty is truth.«7 Ein statement kann nicht

6 Kenneth Burke, »Symbolic Action in a Poem by Keats« (1943), A Grammar of Motives (Ber- keley CA: University of California Press 1969), 447–463: 458. 7 Cleanth Brooks, »Keats’s Sylvan Historian: History without Footnotes« (1942), Te Well Wrought Urn: Studies in the Structure of Poetry (New York NY: Harcourt, Brace and World 1947), 151–166: 151. 254 Teleskopage anders als die performance stören; der dramatische Charakter des Aufritts ändert daran wenig, obwohl der Charakter der Sentenz in eine andere Richtung weist, auf die griechische Gattung der Gnome, wie sie Hölderlin benutzt – »Was bleibet aber, stifen die Dichter« (Andenken); »Dem gleich fehlet die Trauer« (Mnemosyne).8 Burke spricht von einem ›Orakel‹, dessen gnomische Züge in den Kontext verweisen, aus dem die Urne nicht nur stammt, sondern aus dem heraus sie spricht. In dieser sorg- fältig aufgebauten Rahmung spielt sich ab, was in kein statement paßt, sondern, in einem Oxymoron von Dialektik suspendiert, in der Luf hängen bleibt. Soweit sind sich Brooks und Burke einig, das ist der dramatistische Rahmen, der das Urteil des statement als Gnome rechtfertigt, die vorgeführte romantische illusio dagegen unaus- weichlich der Zerstörung überantwortet: eine gedoppelte, romantische Ironie, deren Wahrheit in der vollbrachten Zerstörungsarbeit liegt, die im Bekenntnis des state- ment über beauty als truth nur auf Kosten des Gedichts selbst zu stornieren ist. Die Urne ist die unberührte Urkunde, bloßer Rückstand der Allegorie, welche – »unra- vish’d bride« – im griechischen Nachbild übrig geblieben ist eher denn überlebt hätte. Burkes Beitrag zu dem, was in der in Keats’ Gedicht aufgezeichneten de-kon- struktiven Bewegung (die Burke ›dialektisch‹ nennt) passiert und die distanzierte Zeit, die im Schweigen der Form festgehalten ist (»silent«, »still unravish’d«), ge- frieren läßt – »cold pastoral« – ist die »pre-ecstasy«, die den gelungenen, gefeierten ›kleinen Tod‹ der Petrarkisten als eine schlechte Illusion aufgibt und das im vor- schnellen Erguß bewiesene Unvermögen der Lyrik als ein das Leben uneinholbar überschießendes Vermögen erkennt.9 »I refer not simply to translation into terms of erotic«, stellt Burke das seit den bösen Verrissen durch Byron und Wordsworth im Raume hängende Unbehagen klar, »but rather [I refer] to a quality of suspension in the erotic imagery, defning an eternal prolongation of the state just prior to fulfll- ment – not exactly arrested ecstasy, but rather an arrested pre-ecstasy« (449/50). Sie ist auf prägnante Weise in der 2. Strophe vorgeführt: im Anruf des in der illusio von Empathie ergrifenen Dichters, dessen trauernder Betrachtung der Urne der Leser nicht anders als folgen kann. Dem auf ihr kunstvoll fest gehaltenen, in der Kälte des Gefäßes erstarrten Liebenden, ruf er zu:

Bold Lover, never, never canst thou kiss, Though winning near the goal yet, do not grieve; She cannot fade, though thou hast not thy bliss, For ever wilt thou love, and she be fair!

8 Anselm Haverkamp, Laub voll Trauer: Hölderlins späte Allegorie (München: Fink 1991), Kap. II und III. 9 Burke kommt also zu dem entgegengesetzen Schluß wie viel später Margorie Levinson, deren Version des New Historicism in Keats’s Life of Allegory (Oxford: Blackwell 1988) darin besteht, Byrons und Wordsworths Difamierung von Keats’ Lyrik als »masturbato- risch« zum medizinhistorischen Befund zu erklären. Cynthia Chase, die Levinson in ihren Reader Romanticm (London: Longman 1993) aufgenommen hat, trennt in der Einleitung wohlweislich den weiterwuchernden Efekt »that the concept of masturbation captures the essential elements of the fantasy evoked by Keats’s style« (33), von der zugespitzten ›rheto- ric of temporality‹, die der Urne als durchkreuzter Allegorie der zu Ende zitierten Tradition und ihrer ruinösen Klischees, die nicht zuletzt Ergebnis des Zitierens sind, innewohnt. Beauty is Truth 255

Parthenon-Fries, Metope Nr. 134, mögliche Anregung für Keats’ Grecian Urn, Strophe IV: »that heifer lowing at the skies«, zitiert im Museumsführer von Ian Jenkins, The Parthenon Frieze (London: British Museum Press 1994), 6: »Disturbed by events behind, [figure 133] quickens its steps and turns sharpely. A youth [135] leading a heifer also turns, while the beast itself raises its head in protest.« Photo vom Vf.

Die sich ankündigende Moderne, die Burke in Keats’ durchkreuzter Allegorie ent- deckt und in der »synekdochic relation of container and thing« auf den passenden rhetorischen Nenner gebracht sieht (454), illustriert eine Grammar of Motives, die das dramatisch-dramatistische Design – die Bühne, die kein Schauplatz mehr ist – erhellt. Der peinliche Efekt, der sich mit fortscheitender Moderne verschärf, ist so zwar in und als Rhetorik zu rationalisieren, als Ästhetik aber nicht zu retten. Schlimmstenfalls (das mutet man Keats’ tragischem Geschick nicht zu) wäre es ein Selbstmord auf ofener Bühne. Auch die allerrafnierteste Handhabung der tech- nischen Mittel rechtfertigt das Schwanken zwischen kleinbürgerlichem Sexappeal und metaphysischem Schluß-Bouquet nicht; die rhetorische Crux macht allein, für sich genommen, noch keine ästhetische Tugend. Eliot hätte recht, so unfair Byron auch war, das Schlußbekenntnis »Beauty is truth, truth beauty« wäre nichts als ge- schmacklos. Daß es das, jenseits aller Geschmacksfragen, nicht ist, lehrt die von Baumgarten aufgebotene Parrhesie als Schlußstein (und sei es nur der Trug-Schluß) der Ästhetik. Nicht die synekdochisch zum »mise en abîme« tendierende Ironie, die Vico ricorso-reif an das Ende aller Tropengeschichten stellte (und Burke aufgreif), sondern der Chiasmus ist Baumgartens master trope der Ästhetik; mit ihm knüpf er unmittelbar an an die copia, das proto-ästhetische Füllhorn der Renaissance- 256 Teleskopage

Poetik.10 Keats’ Gipfel der Urne als eines post-allegorischen Monumentes nicht der Durchkreuzung, sondern der verdeutlichenden illustratio, dokumentiert den Chiasmus von beauty und truth, der sich im vermeintlichen statement verbirgt. Denn da herrscht keine Austauschbarkeit der Terme vor, keine logisch paradoxe Operation, sondern die deutliche Behauptung der wechselseitigen Verfechtung von sinnlichem Vermögen und logischer Aussage. Baumgarten zitiert das die poetische Norm verkörpernde Monument – Exegi monumentum – des Horaz, das den Chiasmus als Inbegrif ästhetischer Fülle, der Fülle als Inbegrif der Ästhetik defniert: béata pléno/ Cópia córnu [beata copia pleno cornu] (§ 118). Poetische Fülle als Übermaß des bloßen rhetorisch-pragmatischen Wirtschafens springt in Keats’ Ode – »Of marble men and maidens over-wrought, With forest branches and the trodden weed« – ins Auge. Sie ist die Voraussetzung des in ihr waltenden Chiasmus von Sinnen und Denken, von Stimme und Schrif. Aus letzterer, der »possibility of hearing writing« in der Fülle der Töne, ist das Pendant gebaut, das Keats’ Ode to a Nightingale, Miltons »sweet bird«, der ratio der erkalteten demons- tratio im Register des cold pastoral, an die rafniertere Seite stellt.11 Die Poetik der variatio braucht Breite, copia, in der sie in Re-fgurationen im- mer neue Muster des Verschränkens entwickelt. Die proto-historische, Geschich- ten generierende Funktion der copia, die Baumgarten mit thematisiert, beruht auf der proto-syntaktischen Verschränktheit von sinnlicher Erfahrung und rationaler Verarbeitung. Deren »crypsis of method« – Miltons ramistische ratio – regiert die Grammar of Motives, in der Burke das Genie von Keats ausmacht. Es liegt im Ar- rangement von master tropes, deren spezifsch ästhetische Ausrichtung, Baumgarten ähnlich, aus dem of geschmähten, weil geliehenen »retroping« der überlieferten poetischen Figuren, also Keats’ Anspielungsreichtum besteht. Die Map of Misreading von Harold Bloom, deren master trope die transumptio ist, führt von dem über- mächtigen Milton zur Romantik, trif dort auf Keats und bringt als Schlüsselgestalt die Ode to Psyche hervor. Indessen, an Keats scheitert, impliziert Bloom ex negativo, die treibende Kraf der Anxiety of Inguence, unter der Keats nichts als die Rolle des »clearing [of] an imaginative space for himself« bleibt – unorigineller kann man eigentlich nicht sein.12 Blooms metaleptische Ironie (auf Dauer gestellte transumptio) ist die Sache der griechischen Urne nicht und nicht die der darin verstrickten, atti- scher Formgebung entsprechenden »fair attitude«. Denn der Chiasmus von beauty

10 Für die Renaissance-Vorgeschiche Baumgartens siehe Terence Cave, Te Cornucopian Text: Problems of Writing in the French Renaissance (Oxford: Clarendon Press 1979), der un- glücklicherweise Baumgarten nicht kennt. 11 Ich verweise nur auf die superbe Analyse dieser Ode von Cynthia Chase, »Viewless Wings: Keats’s Ode to a Nightingale« (1985), Decomposing Figures: Rhetorical Readings in the Romantic Tradition (Baltimore MD: Te Johns Hopkins University Press 1986), 65–81: 68, die den Zusammenhang mit Miltons Einsatz »Sweet bird« von Il Penseroso ausarbeitet. 12 Harold Bloom, A Map of Misreading (New York: Oxford University Press 1975), 152. Vgl. die erste Hälfe des Diptychons, Te Anxiety of Inguence (New York: Oxford Univer- sity Press 1973). Zuvor als Skizze »Te Ode to Psyche and Te Ode on Melancholy,« Te Visionary Company: A Reading of English Romantic Poetry (New York: Doubleday 1961), auch in Keats: A Collection of Critical Essays, ed. Walter Jackson Bate (Englewood Clifs NJ: Prentice-Hall 1964), 91–101. Beauty is Truth 257 und truth, so sehr er sich im Formbruch des statement versteckt, ist und bleibt ein Zitat, dem man sich zuwenden, das man mithören muß als Quintessenz der Par­ rhesie. Keine anxiety of infuence ist die ratio, sondern eine emulatio, die sich die Gnome am Schluß zu eigen macht, in der sie gipfelt. Burke kennt wie Brooks und Eliot den von Wilson Knight ausführlich inter- pretierten Intertext, Shakespeares Te Phoenix and Turtle, dessen Schluß in der griechischen Form eines Trenos »Beauty, truth and rarity, Grace in all simpli- city« in der selben Urne, »enclos’d« wiewohl »in cinders« liegend, versammelt.13 In Keats’ Rezeption, ahnt man, bahnt sich ein Neues an. »All our Phoenix poems,« sucht Knight seine Revue des Motivs auf den Punkt zu bringen, »are supremely conscious works, representing love fully conscious of love’s transcendental im- plications.«14 In kryptischen Refexionsfguren geistert das Vogelpaar durch Keats’ Gedicht, so daß Burke, den Kollegen Knight beiziehend, »transcendental fever« diagnostiziert (453). Doch das Fieber läßt Keats erkaltend zurück, »cold pastoral« heißt der Gattungsrückstand, der Shakespeares »mutual fame« als ein gelöschtes Feuer zitiert und in Erinnerung behält, petrakistischer Anklang mit durchkreuzter Aussicht.15

Truth may seem, but cannot be; Beauty brag, but ’tis not she; Truth and beauty buried be.

To this urn let those repair That are either true or fair: For these dead birds sigh a prayer.

Man sieht nach Keats, was »transcendental« (wie auch immer anders es gemeint sei bei Knight und Burke) heißt für Keats nicht nur, sondern auch für Baumgarten selbst: wie die in der Historisierung der Urne liegende Ästhetik als transzendentale Bedingung der Möglichkeit Erfahrung bewirkt: »For these dead birds [you may] sigh [nothing but] a prayer«. Baumgartens Parrhesie ist Behauptung des Transzendenta- len, die bei Keats ihre schönste, in der Schönheit selbstrefexive illustratio erfährt. Das ist im Nachfolgeterm der illustratio, Kants (und Klopstocks) ›Darstellung‹, eine allzu stille Voraussetzung. Die Gnome, so es denn noch eine sein kann im puren historisierenden Zitat, ist als pures statement eine Urne mit Vergangenheit, in der es

13 William Shakespeare, Te Poems, ed. F. T. Prince, Te Arden Shakespeare, 2nd Series (Lon- don: Methuen 1960), 183. Ich ziehe die ältere 2. Ausgabe der 3. Serie vor, weil Prince in Einführung und Kommentar den erstaunlichen, im Blick auf Keats ultra-modernen Ton herausarbeitet; er nennt nach Keats nicht nur Tennyson, sondern Mallarmé und Rimbaud und schließt: »Te ›pure‹ poem is born« (Introduction xlvi). 14 G. Wilson Knight, Te Mutual Flame: On Shakespeare’s Sonnets and Te Phoenix and Turtle (London: Methuen 1955), 215 (meine Hervorhebung). Der hier interessierende zweite Teil war zuerst unter dem Titel Te Starlit Dome (Oxford: Oxford University Press 1941) er- schienen. 15 Leonard Forster, Te Icy Fire: Five Studies in European Petrarchism (Cambridge: Cambridge University Press 1969). 258 Teleskopage die Immanenz der Liebe als Chifre zu betrauern gibt. So daß man vielleicht sagen kann: Die Parrhesie als Endstation der transzendentalen Erforschung von Erfahrung zeigt sich bei Keats als die Selbstbehauptung der hyperrefexiven Wahrheit, die in der schönen Form, der überdauernden Zitaten-Urne bestattet liegt. Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte 259

Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte

Baumgarten ist nicht zuletzt deshalb ein vergessener, schwer in Erinnerung zu brin- gender Autor, weil er sich der Gewaltenteilung der wie absolut herrschenden na- tionalen Formate von Literatur- und Philosophie-Geschichtsschreibung nicht fügte, die sich mit dem 19. Jahrhundert durchsetzten, im 20. Jahrhundert der Weltkriege verfestigten und seither in Pathosformeln und traumatophilen Phantasmen weiter geistern. Unter den europäischen Rahmenbedingungen, auf die eine Europa-Uni- versität aufmerksam sein muß, sind dieses Pathos und diese Phantasmen ein schwer zu bewältigendes und folglich – das macht die Gattung der grand récits so unerträg- lich – ein mit Fleiß überspieltes Ärgernis der Forschungsverwaltungen und ihrer Forschungsrhetorik. Baumgartens lateinisches Werk stammt aus einer anderen Epo- che, der Zeit der verblassenden Renaissance im Zustand ihrer kriegsgeschüttelten Zerstörung, bevor sie in dem langen 19. Jahrhundert der Jacob Burckhardt, Walter Pater und Johan Huizinga, zum Fluchtpunkt vornationaler, den nationalen Teleo- logien vorgreifenden Perspektiven wurde. Dem übermächtigen germanistischen Verlangen nach einer National-Literatur konnte der lateinische Baumgarten nicht gewachsen sein, und so ist es bezeichnend, daß er es immer noch nicht, nicht einmal zur Vollendung seines 300. Geburtstags ist. In der Heilsgeschichte des emphatisch Deutschen Idealismus als der wichtigsten Stütze der Weimarer Klassik und der ihr auf dem Fuße folgenden romantischen Kant-Krisen, war Baumgarten nichts als ein Schritt vor Kant, aber kaum je ein origineller Schritt, und in dieser begrenzten Rolle, an die man sich ob seiner Leibniz-Nähe gutwillig anzunähern angewöhnt hat, ver- harrt er bis heute. Allerdings, auch diese Annäherung – Stand der Dinge – war re- duktiv und blieb of hinter dem von Leibniz selbst Gebotenen zurück. Denn Leibniz war kenntnisreich in der mit Kant in vollendeten Diskredit gefallenen Rhetorik; an ihm kann es nicht liegen, daß ein stehender Einwand gegen Baumgartens Originali- tät sein Rückfall auf überholte rhetorische Termini ist.1 Freilich wäre das nichts als die Spitze des scholastischen Eisbergs, dessen Gipfel einmal ›Poetik‹ hieß und zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse als ›Re-

Einleitungsvortrag zu der von Andrea Allerkamp und Dagmar Mirbach unter dem Titel Schönes Denken: A. G. Baumgarten im Spannungsfeld von Ästhetik, Metaphysik und Recht an der Viadrina in Frankfurt an der Oder veranstalteten Tagung zum 300. Geburtstag Baumgartens im Juni 2013, Druckfassung der Zeitschrif für Ästhetik und Allgemeine Kunst- wissenschaf, Sonderband (Hamburg: Meiner 2015), 35–48. 1 Zuletzt Günter Figal, Erscheinungsdinge (Tübingen: Mohr Siebeck 2010), 50. Repräsentativ die Darstellung von Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts (Halle an der Saale: Niemeyer 1923), 192. Das bedeutendste Baumgar- ten-Portrait von Ernst Cassirer, Die Philosophie der Auflärung (Tübingen: Mohr Siebeck 1932), machte aus der Not eine Tugend und ignorierte das Stichwort ›Rhetorik‹ völlig. Was der zum Teil ausgepichten historischen Spezial-Forschung seither fehlt, ist der über das rhetorische Repertoire und seine Terminologie zugängliche, alles andere als pauschale und deshalb bis ins Detail mit zu diferenzierende europäische Zusammenhang der französi- schen und englischen Literatur, der gegenüber es in diesem Fall nichts beiträgt, einen deut- schen Sonderweg, auf so außerordentliche Höhen er auch geführt hätte, auszuschildern. 260 Teleskopage gelpoetik‹ verschrieen war. So weiß man zwar in Baumgartens Aesthetica die pro- grammatische Disposition des Werks nach ihren philosophischen Anknüpfungen zu deklinieren, nimmt aber, beispielsweise, schon den Schluß der »Prolegomena«, den ein Zitat aus der Poetik des Horaz bildet, als ein konventionelles Ornament ohne tragende Bedeutung, das der Rede nicht weiter wert sei. Wobei ich noch davon absehe, daß es derselbe Ort ist, aus dem Martin Opitz das Motto des Buchs von der deutschen Poeterey bezogen hatte, um sie den Standards europäischer Literatur ver- gleichbar zu machen.2 Tatsächlich liegen die Dinge andersherum und Baumgarten begründete die Ästhetik in bedachter Absetzung von der Begründung der Phi- losophie, vorzüglich von Descartes’ cogito, auf die er mit dem Titel Meditationes angespielt, und mit Descartes der methodischen Wende, die Pierre de la Ramée der Rhetorik und Descartes der Philosophie, verschrieben hatten. Kurz, die Pointe, die seit Ramus neu zu beachten war, liegt in der Poetik zutage, die sich Baumgarten in der Ästhetik vornimmt, und zwar in ihrer Urszene bei Horaz. Deshalb beendet er die »Prolegomena« der Aesthetica (§ 13) mit Horaz, den er eben erst (§ 11) als seine erste Autorität benannt hatte, und er fügt dem Horaz noch einen trefichen Merkvers an, der auf Ovid anspielt und ihn parodiert. Ich komme darauf, denn es ist dieser lateinische Hintergrund, vor dem die Aesthetica ihr theorerisches Profl gewinnen. Zunächst ist die Einteilung der beiden Teile der Aesthetica zu beachten. Die in’s Auge gefaßten (angekündigten, aber nicht ausgeführten) weiteren Teile wären kaum vom selben Gewicht; das Werk liegt mit diesen beiden Teilen so gut wie abgeschlos- sen vor. Das ist wichtig, weil nur so die dialektische Anlage deutlich wird, in der sich der zweite Teil der Aesthetica auf den ersten bezieht (ähnlich anderen dialektisch gebauten Zweiteilern der Teorie wie etwa Benjamins Trauerspielbuch). Das dia- lektische Moment liegt bei Baumgarten darin, daß der disziplinäre Gegenstand des zweiten Teils, die Rhetorik inklusive ihrer kritischen Wende seit Ramus, im ersten Teil in den Grundzügen – nach dem derzeitigen Stand der Forschung – voraus ge- setzt ist, während sodann der zweite Teil Baumgartens Revision im Lichte des ersten Teils ausarbeitet als eine Poetik, die in ihrer ästhetischen Dimension aufzuweisen und als neue Wissenschaf zu begründen ist. Baumgarten hat über diese Anlage des Unternehmens keinen Zweifel gelassen; das Grundmuster, das er variiert, war scholastisch vorgegeben und verdient wie das ganze intrikate Netz der Paragraphen eine eigene Beachtung, die ich nur am Rande aufringen kann. Auf jeden Fall ist es keine äußerliche Form, und deshalb verfehlt auch die Annahme, Baumgarten ver- harre unoriginell in rhetorischen Konventionen, den Sachverhalt in der relevanten Hinsicht der begründenden Darstellung der neuen Disziplin, die den Rahmen der gegebenen Rhetorik-Handbücher entschieden überschritt und dabei nicht mehr und nicht weniger tat, als den verwilderten, scholastisch heruntergekommenen lamen- tablen Stand der Dinge auf eine neue Grundlage zu stellen, von der man sich bis heute nicht schlüssig ist, ob und wieweit sie die kanonische Rhetorik Quintilians restituiert oder deren Revision seit Ramus und Erasmus revidiert. Die Prolegomena Baumgartens lassen in ihrer kalkulierten Pointierung an diesem Ehrgeiz keinen Zweifel. Baumgarten rekonfguriert, hat Christoph Menke unterstrichen, die »Rhe-

2 Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey (1624), ed. Richard Alewyn (Tübingen: Niemeyer 1963), 2. Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte 261 torik als ästhetische Teorie: als ein Denken nicht über, sondern aufgrund des Äs- thetischen«.3 Das ist etwas ganz anderes als die bloße Verlegenheit, über überlieferte Begrife nicht hinauszukommen.

I Horaz, Ovid

Das Zitat aus der Poetik des Horaz, ein aus dem Vers-Zusammenhang heraus- pointiertes, katapultiertes Fazit an den poetologisch versierten Leser – cui lecta po- tenter erit res – ist buchstäblich eines: Nec facundia deseret hunc, nec lucidus ordo. Hor. Ep [istula ad Pisones].4 Ein Fazit – facundia – das in der Pointierung einen so unmißverständlichen wie rafnierten Schluß zieht: demjenigen (lautet die Maxime, die Baumgarten aus Horaz beizieht), der kompetent auswählt – lecta potenter – wird die Sache – res (am betonten Versende) – so zupass kommen und liegen, daß ihm weder die Worte fehlen, noch die luzide Anlage – lucidus ordo – dieser Worte. Die Übersetzungen des Horaz wie auch Baumgartens an dieser Stelle können, scheint es, gar nicht anders, als die bei Horaz als »elegant« überspielten technischen Be- grife, die von ihm glücklich eingearbeiteten Implikationen des poetisch Relevanten zu unterschlagen. Denn das Ideal der e-legantia ist, wie die lecta, das der gelungenen Gewähltheit; es hat nichts mit ›Geschmack‹ zu tun, sondern eher mit J. L. Austins ›felicity‹ (sofern der ›glückliche‹ Ausdruck auch bei ihm eine Sache des Geschmacks ist). Die natürliche Unterschlagung des technisch Relevanten in den Übersetzungen ist an dieser Stelle fatal, weil dadurch der Ausgangspunkt der Aesthetica unkennt- lich wird, den Baumgarten in einen Merkvers für seine Zwecke gefaßt und in die Reihe einer dreifachen cura gebracht hat: Res sit prima tibi, sit lucidus ordo secunda,/ Signaque postremo tertia cura loco. Baumgarten kommentiert in dieser dreifachen cura – durch die Position am Ende hervorgehoben – die poetische Implikatur der Horaz-Verse. Deren ratio entnehmen wir dem Kommentar, mit dem Richard Heinze die Kommentartradition zu Horaz auf den Stand des 20. Jahrhunderts gebracht hat. Danach sind die res das, woran die elocutio (oder lexis) in facundia zum Tragen kommt und fruchtbar wird, so daß der ordo (oder die taxis) sich bewährt – und zwar beides mit gleichem Gewicht.5 Res heuristisch an die erste Stelle zu stellen – prima sit tibi – entspricht Quintilians Ethos der Rhetorik, wonach die elocutio in den ­mutationes der Worte dafür Sorge trägt – cura – daß den Dingen »die Worte nicht fehlen« (Institutio oratoria 8.6.1; Aesthetica § 780). Das Gleichgewicht im rhetori- schen Doppel von res und verba, das heuristisch – qua inventio – die Sachlage der res zum Ausgangspunkt machen soll, macht die Balance beider zur ästhetisch relevanten

3 Rüdiger Campe, Anselm Haverkamp, Christoph Menke, Baumgarten-Studien: Zur Genea- logie der Ästhetik (Berlin: August Verlag 2014), Vorbemerkung, 12. Auf die Kapitel dieses Buchs ist im folgenden durchgängig Bezug genommen, auf ausführlichere Verweise zum vorliegenden Anlaß aber verzichtet. 4 Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica/Ästhetik, ed. Dagmar Mirbach (Hamburg: Meiner 2007), Zitate nach §§ im Text; meine Übersetzungen oder Paraphrasen. 5 Q. Horatius Flaccus, erklärt von Adolf Kiessling, 4. Aufage bearbeitet von Richard Heinze, Dritter Teil: Briefe (Berlin: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 1915), »Ad Pisones«, 295 ad 40. 262 Teleskopage

Voraus-Setzung: lucidus ordo nennt die lumina, die rhetorischen Figuren, die dem zweiten Band der Aesthetica von 1758, der Lux Aesthetica heißt, den angemessenen Titel geben. Denn die lumina – alle ofenbare Metaphorologie des Lichts in Ehren – sind ein technischer Begrif, wenngleich nicht ohne metaphorologisch motivierte Bedeutung, nämlich die der Transparenz, die in der Folge an ästhetischer Relevanz noch gewinnt und in einer spezifsch ästhetischen Hinsicht charakteristisch wird, auf die sogleich zu kommen ist. Soweit die wesentliche Anknüpfung an Horaz, deren Entfaltung in der Folge, von der Poetik zur Ästhetik, ansteht. Wobei ich im Vorbeigehen doch kurz auf das fun- kelnde Ornament aufmerksam machen will, das im Doppel der res als die prima cura und des lucidus ordo als secunda cura auf Ovid anspielt, der neben Horaz das andere große Gestirn am Himmel der Renaissance-Poetik ist. Es hat die Metamorphose des Aktäon als poetologisches Paradigma zum Gegenstand, erhebt sie zum Emblem von Ästhetik: In ihm zeigt sich die nackte Wahrheit der Diana, die im ersten Licht des Tags als Aurora, als »Morgenröthe zwischen Nacht und Tag« (eine Lieblings- fgur der Zeit), überrascht wird und im selben Moment der Erkenntnis auch schon die Hunde-Meute der alltäglichen Namen auf den armen Aktäon als die unglück- selige Figur des Dichters losläßt (Metamorphosen 3.242–50). Sie ahnen: er hat es in sich, der letzte Renaissance-Teoretiker Baumgarten. Wenn Sie bei Ovid nachlesen, fnden Sie die ästhetische Gewißheit, deren theoretische Konturen ich im folgenden weit umständlicher unterbreite, in das schönste Bild von Auflärung, und zwar auch schon ihrer Dialektik gebracht.6

II copia, res

Angesichts der leichthändigen Unterschätzung der vermeinlich oberfächlichen ver- ba in der Rezeption der Aesthetica, insbesondere des zweiten Teils, ist der rhetorische Rahmen, wie er nach der Urszene der Poetik bei Horaz – rund hundert Jahre vor der von Quintilian rafnierten und ausbalancierten kanonischen Ordnung – Programm ist. Die nach Ciceros Begrifen von Horaz zum expliziten poetischen Programm erhobene Diferenz der res et verba war der Kern von Erasmus’ Schrif De Copia, deren genauer Titel De duplici copia verborum et rerum lautete (1512); in ihm haben die res et verba die Reihenfolge getauscht (die verba stehen nun vor den res) und werden sie noch einige Male tauschen.7 Das et ist nämlich ein verkürztes doppeltes et—et, das nach scholastischem Brauch das fexible Gleichgewicht eines »sowohl— als auch« bedeutet, hier ein gesteigertes »beides zugleich«. Spätestens seit Terence Cave die prägende Bedeutung von Erasmus’ Formel der [et] res et verba erläutert und

6 Vgl. Jürgen Paul Schwindt, Taumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunf. Vorspiel: Die Jagd des Aktaion (Heidelberg: Winter 2015), der über den dichtungstheo- retischen Umfang der Szene unterrichtet und die späte Rezeptionsstufe der Auflärungs- Allegorie der Morgenröte ins rechte (alt-)philologische Licht rückt: es war bei Ovid voller Mittag. Ich verdanke Schwindts Lektüre meines Textes mehr Auflärung in diesem Punkt, als ich hier für Baumgarten nachtragen kann. 7 Erasmus von Rotterdam, De duplici copia verborum ac rerum commentarii duo (Lyon: Sé- bastien Gryphe 1534), die maßgebliche letzte Fassung. Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte 263 für die Renaissance ausgeführt hat (in impliziter Konkurrenz zu Foucaults Les mot et les choses), kann man diesen historisch manifesten Ausgangspunkt Baumgartens schlecht übersehen. Bereits der Lieblingsparagraph der Forschung, der erste Para- graph des ersten Teils (§§ 14 f.), zeigt Baumgarten der Problemlage voll bewußt, noch bevor er zu Erasmus’ copia als dem auslösenden Moment unter dem Stichwort der Ubertas Aesthetica kommt. Dort führt er aus: Prima nempe cura [nach einer Rei- he gewichtiger cautiones der §§ 107 f.], sit in rebus cogitandis Ubertas (copia, abun- dantia, multitudo, divitiae, opes), und zwar in ästhetischer Hinsicht, sed Aesthetica als spezifsch ästhetischer Ausgangslage. Baumgarten läßt als Paradebeispiel Horazens Carmen saeculare nicht aus mit dem kunstvollen, zum Chiasmus verschlungenen Motiv der béata pléno cópia córnu, des cornucopischen Textes schlechthin (§ 118). Die Verfechtung der Worte – dafür steht emblematisch die Figur des Chiasmus – ist das ästhetische Grundmuster par excellence einer jeden poetischen Produktivität. Maurice Merleau-Ponty wird – auch er ohne an Baumgarten zu denken, aber wie nach ihm Foucault und Cave an der französischen Renaissance geschult – auf diesen Chiasmus zurückkommen und von einer »natürlichen Verfechtung« der Sprache mit dem Leben sprechen als der »leibhafen Verfechtung«, die den »geheimen Ver- kehr der Metapher« – Baumgartens fgura cryptica – beherrsche und lebensnah halte.8 Doch ich greife vor. Im § 18 der Aesthetica kommt es zu einem ebenfalls nicht gut zu übersehenen, von Baumgarten mit Bedacht gesetzten Einschub zu res et verba, in einer Stelle, die unvermerkt, wie blind, in der Literatur mitläuf. Zunächst führt § 18 die gern zitierte, aber hartnäckig falsch übersetzte Defnition des § 14 weiter und handelt von der Pulcritudo Rerum et Cogitationum (§ 18). § 14 hatte mit einem feinsinnigen Pun eingesetzt, wie er seit Quintilian zum Standard der mnemotechnischen Selbstrefexi- vität gehört: Aesthetices fnis est perfectio war der erste Satz der Aesthetica Teoretica, und auch ohne, daß ich den quintilianesken Pun fnis est per-fectio en detail aus- einander lege, ist grammatisch sonnenklar – [et] clare et distincte bei Descartes – daß es die per-fectio als solche ist – qua talis – die in puncto cognitionis sensitivae zählt (§ 14). Was im § 18 die pulcritudo [et] rerum et cogitationum angeht (auch hier ein starkes et-et), unterscheidet Baumgarten die res et cogitationes nach pulcritudo co- gnitionis auf der einen Seite und (nota bene!) objectorum et materiae auf der andern Seite einer Diferenz, die er für nötigerweise distinguenda hält, weil es unter der Bezeichnung res – ob receptum rei – of genug zu bösen Verwechslungen komme – male confunditur (§ 18). Das ist der alles andere als verborgene Punkt, an dem in der Folge – male confunditur – vieles hängt. Cave hat den entscheidenden, mit fortschreitender Moderne verkannten, in Ab- und Ver-schattungen prägenden Sachverhalt in der wünschenswerten Klarheit an Erasmus’ De copia herausgearbeitet und die Entwicklung angedeutet, in die Baum- garten eintritt: »Res do not emerge from the mind as spontaneous ›ideas‹« – das ist die moderne Verkürzung, von deren Genealogie unter anderem Foucault in Les mots et les choses gehandelt hatte – sondern: »they are already there, embedded in

8 Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, éd. Claude Lefort (Paris: Gallimard 1964), 167; dt. Das Sichtbare und das Unsichtbare (München: Fink 1986), zit. 166 f. 264 Teleskopage language, forming the materials of a writing exercise.«9 Als »in Rede stehende« Sach- Verhalte, syntaktisch präformierte Rede-Gegenstände – »embedded in language« – sind die res nicht zu verwechseln (werden es aber leicht: male confunditur) mit den Sachen selbst, die sie gerade nicht sind, deren Referenz sie aber in ihrer grammatisch verfestigten, historisch gewachsenen, deshalb komplexen Kontextur mit-führen und modifzieren. Die Emphase ist bei Baumgartens Leibniz-Nähe keine rechte Über- raschung. So erinnert Sibylle Krämer an einen von der langen Hand der Rhetorik vorbereiteten Kontext für den Umgang der verba mit den res in der Rede: den »Über- gang von einem onto-logischen zu einem operativen Symbolismus [...]: Nicht mehr verleihen die Dinge den Zeichen ihre Bedeutung, vielmehr konstituieren die Zeichen die Dinge überhaupt erst als epistemische Gegenstände.«10 Rhetorisch ist der Über- gang ins Operative vorgezeichnet, war er allerdings bei weitem nicht ausgelastet. Die ›Idee‹ der copia »is attained, when verba, coalescing into res, point towards a senten- tia«, beschreibt Cave den vorsichtigen Mittelweg. Aber auch dessen regressive Moral bestätigt nur eine gewisse »priority (if not primacy) of words [which] reveals that ›things‹ can only become apparent by virtue of language«. Indessen, kein Wunder, »Res and verba slide together to become ›word things‹« ist die Diagnose, die dann Foucault auf das verfossene Zeitalter der ›Ähnlichkeiten‹ schließen läßt, und die in der Verschränkung von res et verba zu der aufgeklärten Vorsicht eines Baumgarten ebenso paßt wie zu dem chronischen Mißverständnis, vor dem er explizit warnt.11 Sein Popularisierer Georg Friedrich Meier kam unbeeindruckt davon zum Erfolg. Darauf kann ich hier ebenso wenig eingehen wie auf William Empson, dessen Be- fund der grassierenden ›Ambiguität‹ und der unter ihrer Oberfäche enorm anwach- senden sprachlichen Komplexität einzubeziehen ist in das Hypothesen-Umfeld der ästhetik-trächtigen Symptome der Moderne. Das genealogisch bedeutende ›missing link‹ bot der vergessene rhetorische Rahmen, und die übersehene Konsequenz ist Baumgartens Rolle als des letzten Vertreters der lateinischen Renaissance-Poetik, in deren Tradition die Disziplin der Ästhetik als ein epochaler, epoche-machender Faktor neu einzuschätzen ist.

III »crypsis of method«, »master tropes«

Nichts war deshalb irreführender als der maßgebliche Ästhetik-Leitartikel von Joa- chim Ritter, in dem Baumgarten als historisch »umwälzende« Leistung bescheinigt wird, eine »nicht mehr auf Logik reduzierbare sinnliche Erkenntnis [das ist der heikle Begrif, der cognitio sensitiva übersetzen soll] in das System der Philosophie

9 Terence Cave, Te Cornucopian Text: Problems of Writing in the French Renaissance (Ox- ford: Clarendon Press 1979), 19–21. Allerdings versäumt Cave das doppelte et—et. 10 Sybille Krämer, »Kalküle als Repräsentation: Zur Genese des operativen Symbolismus in der Neuzeit«, Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur, ed. Hans-Jörg Rhein- berger, Michael Hagner und Bettina Wahrig-Schmidt (Berlin: Akademie 1997), 111–122. Vgl. zuvor ihr Buch Berechenbare Vernunf: Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert (Berlin: de Gruyter 1991), 5. 11 Michel Foucault, Les mots et les choses (Paris: Gallimard 1966), 40 f.; dt. Die Ordnung der Dinge (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972), 56 f. Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte 265 hinein [genommen]« zu haben.12 Lassen Sie mich deshalb die ästhetische Errun- genschaf wiederholen, die ich im Unterschied zu Ritters Vulgata in Baumgartens Aesthetica zur Entfaltung gebracht sehe. Die apostrophierte ›sinnliche Erkenntnis‹ wird analog zur Logik der reinen noeta deduzierbar und rhetorisch reduzierbar. Das heißt, in der Ästhetik wird die grundlegende Transparenz der rhetorischen Verfahren qua Verfahren wissenschaflich zugänglich. Wo Kant weiterhin einen transzendentalen Unterschied macht zwischen ›Anschauung‹ und ›Begrif‹, weist Baumgarten eine kontinuierliche Grund-Gegebenheit auf: die strukturbildende Grund-Gelegtheit der Sinne für die (insofern, und nur in sofern ›sinnlich‹ genann- te) Form der Erkenntnis – eine prekäre Begrifswahl, wie gesagt. Kant kommt dann frei nach Baumgarten dazu, in der Refexion auf diese Grundlage eine Erkennt- nis-Lust zu postulieren, die »bloß in der Form des Gegenstandes für die Refexion überhaupt« ihren Grund habe.13 Die Abweisung Baumgartens in der Einleitung zur »transzendentalen Ästhetik« der Kritik der reinen Vernunf hatte es konven- tionell bei der im »Sinne der Alten« klassischen Trennung der »aisthetà kai noetá« gelassen.14 Was dagegen für Baumgarten die an der sinnlichen Seite der Werke aus- gemachte Vergnügenslage vollkommen macht, ist gerade nicht die formale Voll- kommenheit des ästhetischen Gegenstandes als eines solchen allein.15 Sondern es ist die vollkommene Evidenz des sich an dem schönen Gegenstand seiner selbst (erst) inne werdenden Begreifens: einer sich selbst durchsichtig werdenden Wahr- nehmung, für die der schöne Gegenstand bei aller Appellqualität notwendig im Dunkeln bleibt.16 Aber es ist die »bloße« formale Qualität, die ihn zur vollkom- menen, ästhetischen Evidenz bringt. Kants systemische Lust an der »bloßen Form des Gegenstandes für die Refexion« weist diese Konsequenz ab; er verlängert stattdessen das logische Moment des äs- thetischen Vollzugs in die Teleologie des Gegenstands hinein, so daß die ästhetische Voll-endung – perfectio qua fnis – der zu sich kommenden Wahrnehmung sich in die Vollkommenheit des Gegenstands als eines dieser Art ästhetisch konstitutierten fortsetzt. Aesthetices fnis est per-fectio cognitionis sensitivae qua talis: Haec autem est pulcritudo, war Baumgartens Formulierung (§ 14). Diese verschwindet für den Mo- ment der ursprünglichen Erkenntnis in der voll-kommenen Wirkung, so daß die von Kant auf den Plan gerufene »Refexion überhaupt« die eigentümliche Leistung der Wirkung verlegenheitshalber verschiebt und die Vollkommenheit als die Vorgabe

12 Joachim Ritter, »Ästhetik«, Historisches Wörterbuch der Philosophie (Basel: Schwabe), I (1971): 555–580: 556/7. Vgl. zuvor Ritters Münsteraner Rektoratsrede »Landschaf: Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaf« (1962), Subjektivität (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974), 141–163, Anm. 172–190: 155 f. 13 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraf, ed. Karl Vorländer (Hamburg: Meiner, 61924), 27/28 (meine kursiven Hervorhebungen). 14 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunf, ed. Raymund Schmidt (Hamburg: Meiner 1925, 21956), 65. 15 Andrea Kern, Schöne Lust: Eine Teorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000), 84 f. 16 Christoph Menke, »Das Wirken dunkler Kraf: Baumgarten und Herder« (2008), Baumgar- ten-Studien (wie oben), 73–115. Hans Adler, Die Prägnanz des Dunklen: Gnoseologie, Äs- thetik, Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder (Hamburg: Meiner 1990), 26–48. 266 Teleskopage eines abstrakten Wohlgefallens aufassen muß.17 Auf der Rückseite der kantischen Reaktionsbildung erkennen wir die von Baumgarten in weiser Voraussicht an- gespielte Ovidsche Metamorphose des Aktäon mit ihrer emblematischen Eignung, die in der Anspielung nicht thematisch, aber grammatisch versteckt ist: in dem Syn- tagma [res sit] prima/[ordo] secunda als leitender Ordnungsfgur. Als die ausgezeich- nete fgura cryptica dieser Ordnung, so können wir sagen, verkörpert sie in einem strengen Sinne allegorisch den ästhetischen Überschuß der copia im Text als Text. Ich breche mit der bloßen Erinnerung an den folgenschweren Verkennungs- zusammenhang ab, der Baumgarten selbst nicht fremd war (und den er womöglich sogar erwartete und in Meiers Werk lakonisch ertrug), denn ich will von der ver- kannten Grundlage der Durchsichtigkeit der ästhetischen Evidenz handeln, die als Lux aesthetica im zweiten Teil der Aesthetica zum technischen Tema wird. Die Lehre vom analogon rationis, der homologen Struktur der Begründung, zeigt die logische Transparenz der noeta als funktional äquivalent zur obskuren In-transparenz der aistheta. Da diese Intransparenz aber nichts anderes ist als die Kehrseite der rheto- rischen copia und venusta plenitudo (§ 585) – die nämlich sonst, wie Ursula Franke so glänzend reformuliert hat, »ungesehen und ungehört, unerkannt bleiben würde«, weil ihre Latenz im Material »der Wörter, des Steines, der Farben oder Töne« be- schlossen liegt – kann die Vollkommenheit des Schönen nicht schon und »bloß« die formale der Erscheinung sein, der sie indessen durchaus zum Erscheinen verhilf.18 Für den voll-endeten, in der Voll-endung erst per-fekten Voll-zug wird deshalb zusätz- lich die Konstellation wichtig, ja unverzichtbar, die zu »Harmonie« von Stof, Struk- tur und Ausdruck in einer »Vielfalt von Bestandteilen« gebracht werden muß.19 Die logische Emanzipation, mithin, der Aesthetica impliziert eine krasse Umkehrung der Hierarchie, die das transzendentale Unternehmen, noch bevor es existiert, tieferlegt als Kant selbst es kritisch verantworten konnte und wollte, denn in der Umkehrung wird bei Baumgarten die sinnliche Un-durchsichtigkeit der Welt – wenn etwas ›sinn- lich‹ ist, dann diese Undurchsichtigkeit – zu dem impliziten Funktionsmodell, dem dieselbe Welt im rationalen Teil ihrer Handlungen allzu durchsichtigerweise immer schon zu genügen meint. Quintilians Tropen und Figuren, die als ornamentale Be- leuchtungen das kunstgerechte, technisch-metaphorische Licht werfen und deshalb lumina heißen, werden bei Baumgarten zu dem, was sie latent bei Quintilian schon waren: elementare Tiefenstrukturen des kryptischen Funktionierens der Sinne für jede Sinn-Gebung und Sinn-Setzung. Darin sind sie vergleichbar, ja womöglich eine Antizipation der Figur des Chiasmus, in der das Leib-Apriori Merleau-Pontys die Sinne mit der Sprache in der Sprache verfochten weiß.20

17 Vgl. etwa Paul Guyer, »Hegel on Kant’s aesthetics: necessity and contingency in beauty and art« (1989), Kant and the Experience of Freedom (Cambridge: Cambridge University Press 1993), 161–183: 169 f. 18 Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis: Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten (Wiesbaden: Steiner 1972), 107. 19 So auch, ohne Baumgarten-Bezug, Hans Lipps’ bahnbrechende vollzugsorientierte Neu- Aufnahme des Temas »Metaphern« (1934), Die Verbindlichkeit der Sprache (Frankfurt a. M.: Klostermann 1944, 21958), 66–79: 67. 20 Vgl. neben Lipps’ genialer Intuition Martin Heidegger, Kant und das Problem der Meta­ physik (1929), Gesamtausgabe Bd. 3 (Frankfurt a. M.: Klostermann, 2. Auf. 2010), 21 f. und Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte 267

Baumgartens Terminus, der freilich nicht bei Quintilian steht, ist die fgura cryp- tica, die der ramistischen Imputation der ›crypsis of method‹ bei Milton entspricht. In Bodmers Verteidigung des Verlorenen Paradieses ist sie als »heimliche Ironie« belegt und auf einen Begrif gebracht, der der Zeit nahe lag.21 In Vicos ricorso kam er zu der größtmöglichen kulturtheoretischen Plausibilität. In der romantischen Rezeption des Ironie-Begrifs fand sodann diese Version der fgura cryptica eine dominante Verbreitung, die bis in die Avantgarde der Joyce und Beckett reicht. In der strengeren Grundlegung der Aesthetica blieb sie dagegen nur eine mögliche Va- riante in dem Quartett der »master tropes«, das von Ramus bis Vossius – nur wieder die wichtigsten Bezugspersonen zu nennen – als Faustregel für die Anwendung der Figurenlehre diente.22 In den Aesthetica ist dieses Ensemble von Grundfguren – dem quintilianischen Substrat bei Ramus entsprechend – zu modi der fgura cryptica aus- diferenziert und in eine eigene Folge-Logik gebracht worden, welche – anders als bei Vico, näher an Quintilian – auf die Metonymie statt der Ironie zuläuf (§ 782). Die Tropen unterliegen bei Baumgarten wie bei Quintilian dem Oberbegrif der Allegorie als contracta und im Verbund damit dem strukturellen Äquivalent der Allegorie in dieser Funktion, der Ironie; die fgura cryptica ist beider gemeinsamer Nenner (§ 784).23 Baumgarten bestätigt und bestärkt also den ironischen Nexus, der bei Vico Anlaß und Umschlag des ricorso ist, indem er das für die Ironie kon- stitutive kryptische Moment auf die Allegorie zurückbezieht, so daß diese als eine generalisierte Ironie fungiert (§ 802), dies aber ohne den von Vico zum ricorso neu fott gemachten Hang zur virtualisierenden historischen Aufebung (in einem mehr oder minder hegelschen Sinne) tut. Statt des kulturtypologisch fruchtbaren ricorso Vicos bleibt Baumgarten ganz unspekulativ bei der minimalen, assoziativen Me- tonymie, der minimalsten unter den contracta. Auch das ist eine unausgeschöpfe, mit dem notorischen Paar von Metapher und Metonymie liegen gebliebene Kon- sequenz, die im Strukturalismus nach Roman Jakobson ein inzwischen längst ver- gessenes Strohfeuer auslöste, das die letzte vergebliche Provokation der Literatur in ihrer historischen Gestaltenfolge darstellt. Eine Struktur-Geschichte der Literatur hat sich daran bisher nicht entzünden können; Baumgarten bleibt die kryptische Provokation, die er war.

IV Ästhetik-Geschichte, Begreifensgeschichte

Ich lasse es bei der Andeutung des komplexen Zusammenspiels der Figuren-Va- riationen und Konstellationen trauriger Tropen. Denn was fehlt, ist die historische Provokation, welche die Literaturgeschichte als eine Geschichte von Ästhetik be-

66 f. wo Baumgarten auf der ersten Seite steht. Heidegger könnte die Anregung zu seiner Kant-Interpretation von Baumgarten bekommen haben. 21 Johann Jacob Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (Zürich: Orell Füssli 1740), 213. 22 Hier und im folgenden detaillierter Vf. Metapher: Die Ästhetik in der Rhetorik (München: Fink 2007), 42 f. 23 Ausführlicher Vf. Figura cryptica: Teorie der literarischen Latenz (Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 2002), 81 f. 268 Teleskopage trif. Nicht nur tut sie das, indem sie die nationale Heilsgeschichte des deutschen Idealismus durchkreuzt und den unerledigten, breiten, lateinisch unterfütterten rhetorischen Untergrund hervorkehrt. Nach Baumgarten verlangt und ermöglicht die Ästhetik eine andere als die nationalen oder sonstwie teleologisch nach-moti- vierten, medialen Fortschritts- und Auflärungsgeschichten. Sie bietet – das leistet der von Baumgarten revidierte rhetorische Rahmen – den Anhalt dazu. Diesen An- halt aus mehr als der Sache heraus plausibel zu machen und in einer größer ange- legten Erzählung auszubreiten, besteht allerdings kein Anlaß. Denn weder bietet die Forschung angesichts der gegebenen kulturellen Gebundenheiten und approbierten Erkenntnisinteressen mehr als erste füchtige Ansätze, noch ist überhaupt ausge- macht, was mit der Ersetzung von leitkulturell bewährten, politisch indessen über- lebten, nationalen oder ideologischen Narrativen durch eine Ästhetik-Geschichte sui generis zu erreichen wäre.24 Mehr als eine tentative situationsbezogene Skizze, die mehr als einer mysteriösen und, wie Herbert Read, prominenter Chronist der Avantgarde, sagte, »rather fc- titious importance« Baumgartens für die Moderne Genüge tun könnte, scheint nicht gut möglich.25 Sie scheint dafür umso nötiger, denn Ästhetik ist nach Baumgarten eine Provokation für jede Geschichte im landläufgen Verstande, insofern sie, wie die Kunst und die Literatur, die sie begleiten, die Geschichte nicht nur illustriert, sondern in einer ihr eigenen Artikulation und Refexion hervor- und zum Begreifen ihrer selbst bringt. Ästhetik refektiert, thematisiert, ja analysiert unter dem Titel der Kritik, ein von Kunst und Literatur bezeugtes Refexivwerden des Geschichte- Werdens von Geschichte. So fndet Rüdiger Campe in diesem Refexivwerden der Fi- guren bei Friedrich Schlegel eine »ganz andere Mächtigkeit« theoriefähig werden.26 Dazu gehört die mit dem Stichwort der ›Parrhesie‹ bezeichnete Pointe, die Baum- garten als ein Stück proto-politischer Selbstbehauptung der Kunst an den Schluß der Aesthetica gestellt hatte (§ 904), und die als erster Ansatz von Refektiertheit für das Zeitalter Foucaults die Quintessenz dessen benennt, was ›Geschichte‹ ästhetisch be- deuten kann an politischer Konsequenz.27 Was Ästhetik an dem selben Schluß dem ein letztes Mal aufgerufenen Quintilian verdanken mag, der dort das letzte Wort hat, steht auf einem anderen, von Ernst-Robert Curtius zwar denkwürdig begonnenen, aber des weiteren wenig beschriebenen Blatt. Baumgartens Ästhetik ist weit entfernt von dem, was man als erkenntnis-interessenloses Wohlgefallen ›ästhetisch‹ nennt und als solches nur sehr begrenzt gelten lassen will. Es ist nicht die Selbstbehauptung des endlich sinnlich seiner selbst herrlichen Subjekts, die man Baumgarten gutschreiben sollte. Es ist aber auch nicht das, was man im Gegenzug dazu an traditionaler Bindung ins Feld führt. Eine an Baumgarten geschulte Geschichte von Literatur und Kunst muss eine Begreifensgeschichte eher

24 Vgl. Vf. Marginales zur Metapher: Poetik nach Aristoteles (Berlin: Kulturverlag Kadmos 2015), Einleitung. 25 Herbert Read, Art Now: An Introduction to the Teory of Modern Painting and Sculpture (London: Faber and Faber 1933, revised edition 1948), 37. 26 Rüdiger Campe, »Das Argument der Form in Schlegels ›Gespräch über die Poesie‹: Eine Wende im Wissen der Literatur«, Merkur 68 (2014), Hef 777, 110−121: 121. 27 Vgl. Petra Gehring, »Foucault’sche Freiheitsszenen«, Parrhesia: Foucault und der Mut zur Wahrheit, ed. Petra Gehring und Andreas Gelhard (Zürich: Diaphanes 2012), 13–31. Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte 269 denn eine Motivgeschichte sein – weder eine der Emanzipation, noch der Natio- nen, noch aller möglicher anders geleiteter Erkenntnisinteressenlagen. Wolfgang Isers Konstanzer Programm-Satz »Literaturwissenschaf ist eine Wissenschaf von Texten, nicht Nationen« ist uneingelöstes Reformpostulat geblieben, dem Joachim Ritter die Baumgartensche Provenienz eingeschrieben hatte.28 Als Curtius nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenstellte, was ihm nach Quellenlage der europäischen Literatur im lateinischen Mittelalter in den Sinn kam, war Baumgarten nicht dabei. Er handelte sich bei dem, was ihm als Substrat der europäischen Kultur unter dem rhetorischen Begrif des ›Topos‹ vorschwebte, in etwa dieselbe Kritik ein, die der- einst Lessing an Baumgarten geübt hatte: »Baumgarten bekannte [bemerkte Lessing am Rande seines Laokoon], einen großen Teil der Beispiele in seiner Ästhetik Ges- ners Wörterbuch schuldig zu sein. Wenn mein Räsonnement nicht so bündig ist als das Baumgartensche, so werden doch meine Beispiele mehr nach der Quelle schme- cken.«29 Die Quelle, die Lessing dagegen setzte, war die der unmittelbaren Evidenz ästhetischer Anschauung an Stelle der rhetorischen res, die, kulturell vermittelt, wie sie waren, Curtius als topoi der über den Weltkriegen verlorenen Kultur aushelfen sollten. Als Hans Robert Jauss zwanzig Jahre später mit Iser bei der Gründung der Reform-Universität Konstanz, die nicht zuletzt die Kulturschäden des auslaufenden Jahrhunderts bewältigen sollte, die erste Konstanzer Antrittsvorlesung hielt und un- ter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaf zum Druck brachte, konnte er sich auf ein Einverständnis berufen, das dem philosophischen Mitglied des Gründungsausschusses, dem Baumgarten-Kenner Joachim Ritter zu danken war, der wußte, daß dieses Unternehmen auf den Schultern von Gründungs- professoren wie Iser, Jauss und Wolfgang Preisendanz liegen würde (kurz, der For- schungsgruppe Poetik und Hermeneutik). Ritter hatte das von Reinhart Koselleck als Gipfel der »Sattelzeit« ausgerufene Epochenjahr 1750 im Blick und Baumgartens Aesthetica als das epochale, in die Gegenwart der Hochschul-Erneuerung hinein- reichende Ereignis im Sinn, das in der ersten Reformzeit jeder Student der neuen Universität parat hatte.30 Nicht wenige darunter waren mit der Redaktion jenes His- torischen Wörterbuchs der Philosophie beschäfigt, in dem Ritters programmatischer Ästhetik-Artikel zu stehen kam; er markiert die Stelle Baumgartens in der stecken gebliebenen Universitäts-Reform, die an der wiederbelebten Viadrina Baumgartens ein Schüler Kosellecks, Heinz-Dieter Kittsteiner, beklagen sollte in der doppelten Hinsicht der historischen Funktion der Ästhetik für das Projekt ›Auflärung‹ wie auch der ofenen Unausgedachtheit der methodischen Konsequenzen.31 Jaußens Antrittsvorlesung verwandte das Wort ›Provokation‹ in dem Sinne, in dem Isers Antrittsvorlesung von der Appellstruktur der Texte nach dem amerika- nischen Modell der Rhetoric of Fiction sprach: in einem Verständnis von Rhetorik,

28 Wolfgang Iser, Konstanzer Modell der Literaturwissenschaf, Ansichten einer künfigen Germanistik, ed. Jürgen Kolbe (München: Hanser Verlag 1969), Anhang. 29 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon (1766), Gesammelte Werke, ed. Paul Rilla (Berlin: Auf- bau, 21968), V: 11/12. 30 Reinhart Koselleck u. a. (Ed.), Geschichtliche Grundbegrife (Stuttgart: Klett-Cotta), I (1979): xv. 31 Heinz-Dieter Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne: Deutschland und Europa 1618–1715 (München: Hanser 2010). 270 Teleskopage das der deutschen Philologie fremd geblieben ist. So lief Literaturgeschichte als Pro- vokation der Literaturwissenschaf im Klartext hinaus auf Rhetorik als die in der Literaturgeschichte implizite Provokation der Literaturwissenschaf.32 Die Formel von der ›Rhetorik der Geschichte‹, die von ungleich größerem Interesse sei als die geistesgeschichtlich überformte Geschichte der Rhetorik, stammte von Paul de Man, dem Sprecher der den Konstanzern derzeit eng verbundenen Yale School of Criticism, und erklärte innerhalb der Rhetorik der Geschichte die Literatur zu dem eigentlichen Organon von Geschichte.33 Darin geht es um die Freilegung von quasi- transzendentalen, textuell latenten ›Infrastrukturen‹, die nach Baumgarten im ästhe- tischen Vorfeld der manifesten Grammatik als deren analogon rationis aufzufassen sind.34 Auf die Innovation Baumgartens bezogen heißt das, daß es das Defzit an Rhetorikbegrifen war, das einer angemessenen Rezeption der Ästhetik als Organon der Literaturgeschichte zu schafen machte. Iser ließ stattdessen der rezeptionsästhe- tischen Anknüpfung an das angelsächsische Format der Rhetorik eine erste Adap- tion von J. L. Austins ›performatives‹ folgen.35 In der fächendeckend abgefachten Performanz-Konjunktur blieb Baumgarten freilich erneut auf der Strecke. Nur in einigen Konstanzer Dissertationen, angefangen mit dem Schlegel-Buch von Heinz- Dieter Weber, einem gewichtigen Zubringer für Jauß’ Teorie, kam Baumgarten zu einer weiterführenden Präsenz.36 Die Provokation Baumgartens für eine nicht-nationale Literaturwissenschaf – keine »vergleichende«, die im Modus der Querelle die nationalen, seien es mentalen oder sonstwie stereotypen Profle nur vertiefen kann, ja sie gegen den literarischen Strich verschärfen muß – blieb unausgeschöpf, obwohl sie doch wie keine andere wissenschafliche ›découverte‹ den strukturalistischen Provokationen von de Saus- sure bis Roman Jakobson und Noam Chomsky korrespondiert. Das anhaltende Ver- fachen einer von der Literatur emanzipierten – sich von ihrem Trug emanzipiert wähnenden – Sprachwissenschaf entspricht der philologischen Verfachung zu dem Schreckbild, das Iser und Jauß, Starobinski und de Man, aber auch Peter Hartmann und Wolf-Dieter Stempel, die Konstanzer Linguisten der Zeit, in ihrer Abwehr eines ›positivistischen Objektivismus‹ bereits überwunden glaubten. Weit gefehlt. Baum- garten blieb eine esoterische Implikation; die Konstanzer Reform eine Fata morgana. So muß nun Baumgartens Ästhetik weiter auf ihren Platz warten in einer hoch- schul-politischen Wüste, in der die karg geförderten Pfänzchen kaum über den Tag zu bringen sind. Das liegt nicht etwa an der fehlenden Förderung; es liegt am bla- mablen, theoriefeindlichen Desinteresse der im Alibi von Kulturwissenschafen ih-

32 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaf (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967). 33 Paul de Man, Te Resistance to Teory (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1985), 18 f. 34 Vgl. Rodolphe Gasché, Te Tain of he Mirror: Derrida and the Philosophy of Regection (Cambridge MA: Harvard University Press 1985). 35 Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte (Konstanz: Konstanzer Universitätsverlag 1971), 10 f. 36 Heinz-Dieter Weber, Friedrich Schlegels Transzendentalpoesie: Untersuchungen zum Funk- tionswandel der Literaturkritik im 18. Jahrhundert (München: Fink 1973), Kap. II (zit. bei Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, ausführlich 105–6, Anm. 38). Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte 271 rer analytischen Instrumente beraubten Disziplinen. Eine an Baumgarten geschulte Geschichte der Literatur sollte eine Begreifensgeschichte eher denn Motivgeschich- te sein, habe ich gesagt, und eine neueste Konjunktur kommt mir dabei zupaß, die unter dem Titel der ›Digital Humanities‹ daher kommt und an der Stelle der Sorgfalt des aus der Mode gekommenen, anstrengenden ›closer reading‹ (eines Komparativs, nota bene) erklärtermaßen ein ›distant reading‹ oferiert: die computergestützte Er- hebung von Daten, deren Auswertung Motive und Motivlagen von größtmöglichen Textmassen teleskopisch herausfltern soll – bei vorerst wenig refektierter, besten- falls gutwilliger Unterstellung der gängigen, leitkulturell befangenen Semantiken.37 An diesem Versprechen wäre Lessings verfehlte Baumgarten-Kritik zu messen, denn damit wüßte Baumgarten mehr anzufangen, als Lessings Quellen-Romantik erklären und die an ihr interessierten aufgeklärten Philologien sich denken können, angefan- gen bei der Metonymie an der letzten Stelle von Baumgartens contracta. Denn in der Rolle der fgurae crypticae wäre die historisch prä-fgurierte Materie der Daten nicht mehr als das bloße auto-telegene Echo eines kanonisch Bekannten vernehmbar, mit dessen Registrierung sich die digitalisierten Humanities schon glücklich schätzen. Dieses Echo wäre kein ›weißes Rauschen‹ des auf trivialste Weise Gegenwärtigen, sondern als Spurenwerk des Begreifens in und als ›Geschichte‹ re-konstruierbar: in einer Begreifensgeschichte der aistheta als analoga zu den dogmatischen Begrifs- geschichten der noeta. Das heißt gewiß nicht, daß dort die Zukunf der Kultur- und Geisteswissenschafen läge, aber, immerhin, daß Baumgartens ästhetische Teorie aus der digitalen Datenverarbeitung herausholen kann, was es an moderaten Lektü- re-Ansinnen in der Breite zu erforschen gibt. Weit entfernt davon, »a closer reading« zu erübrigen (im Gegenteil: es zu unterfüttern und weiter zu diferenzieren), kom- plettierte ein »distant reading« den Blick aus der Nähe zu einer teleskopisch vol- leren Nutzung der ›speculative instruments‹ dessen, was Baumgarten Lux aesthetica nannte und im Feld der rhetorischen Figuren vorgeprägt fand.

37 Franco Moretti, La letteratura vista da lontano (Torino: Einaudi 2005); Distant Reading (London: Verso 2013). Dem italienischen Titel war die ästhetische Konnotation der Te- leskopie noch nicht abhanden gekommen; sie ist in der technizistischen Suggestion der deutschen und englischen Übersetzung verloren gegangen, und das erst recht in der tech- nizistischen Abreviatur der Kurven, Karten, Stammbäume: Abstrakte Modelle für die Litera- turgeschichte (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009). Die Absetzung vom älteren ›close reading‹ des New Criticism ist nicht deren Ausverkauf. – PS, der Deutlichkeit halber: ich rede nicht der auf Moretti bezogenen Kehrtwendung der Profession der Literaturwissenschafen zu Digital Humanities das Wort, im Gegenteil; in Baumgartens größerer, ästhetisch gewen- deter Revision des rhetorischen Fundus ist eine mögliche Grundlage aufzuweisen für eine sinnvolle Nutzung der digitalen Mittel, die für sich genommen unschuldig sind an ihrem ins Lächerliche gehenden Mißbrauch.

Anhang Gedichte

John Milton Lycidas (1637) 1–24, 132–193

In this Monody the Author bewails a learned Friend, unfortunatly drown’d in his Passage from Chester on the Irish Seas, 1637. And by occasion foretels the ruine of our corrupted Clergy then in their height.

Yet once more, O ye Laurels, and once more Ye Myrtles brown, with Ivy never-sear, I com to pluck your Berries harsh and crude, And with forc’d fingers rude, 5 Shatter your leaves before the mellowing year. Bitter constraint, and sad occasion dear, Compels me to disturb your season due: For Lycidas is dead, dead ere his prime Young Lycidas, and hath not left his peer: 10 Who would not sing for Lycidas? he well knew Himself to sing, and build the lofty rhyme. He must not flote upon his watry bear Unwept, and welter to the parching wind, Without the meed of som melodious tear. 15 Begin then, Sisters of the sacred well, That from beneath the seat of Jove doth spring, Begin, and somewhat loudly sweep the string. Hence with denial vain, and coy excuse, So may som gentle Muse 20 With lucky words favour my destin’d Urn, And as he passes turn, And bid fair peace be to my sable shrowd. For we were nurst upon the self-same hill, Fed the same flocky, by fountain, shade, and rill. 25 [...] 276 Anhang

131 Return Alpheus, the dread voice is past, That shrunk thy streams; Return Sicilian Muse, And call the Vales, and bid them hither cast Their Bels, and Flourets of a thousand hues. 136 Ye valleys low where the milde whispers use, Of shades and wanton winds, and gushing brooks, On whose fresh lap the swart Star sparely looks, Throw hither all your quaint enameld eyes, That on the green terf suck the honied showres, 141 And purple all the ground with vernal flowres. Bring the rathe Primrose that forsaken dies. The tufted Crow-toe, and pale Gessamine, The white Pink, and the Pansie freakt with jeat, The glowing Violet. 146 The Musk-rose, and the well attir’d Woodbine, With Cowslips wan that hang the pensive hed, And every flower that sad embroidery wears: Bid Amaranthus all his beauty shed, And Daffadillies fill their cups with tears, 151 To strew the Laureat Herse where Lycid lies. For so to interpose a little ease, Let our frail thoughts dally with false surmise. Ay me! Whilst thee the shores, and sounding Seas Wash far away, where ere thy bones are hurld, 156 Whether beyond the stormy Hebrides, Where thou perhaps under the whelming tide Visit’st the bottom of the monstrous world; Or whether thou to our moist vows deny’d, Sleep’st by the fable of Bellerus old, 161 Where the great vision of the guarded Mount Looks toward Namancos and Bayona’s hold; Look homeward Angel now, and melt with ruth, And, O ye Dolphins, waft the haples youth. Weep no more, woful Shepherds weep no more, 166 For Lycidas your sorrow is not dead, Sunk though he be beneath the watry floar, So sinks the day-star in the Ocean bed, And yet anon repairs his drooping head, And tricks his beams, and with new spangled Ore, 171 Flames in the forehead of the morning sky: So Lycidas sunk low, but mounted high, Through the dear might of him that walk’d the waves; Where other groves and other streams along, With Nectar pure his oozy Lock’s he laves, 176 And hears the unexpressive nuptiall Song, Gedichte 277

In the blest Kingdoms meek of joy and love. There entertain him all the Saints above, In solemn troops, and sweet Societies That sing, and singing in their glory move, 181 And wipe the tears for ever from his eyes. Now Lycidas the Shepherds weep no more; Henceforth thou art the Genius of the shore, In thy large recompense, and shalt be good To all that wander in that perilous flood. 186 Thus sang the uncouth Swain to th’Okes and rills, While the still morn went out with Sandals gray, He touch’d the tender stops of various Quills, With eager thought warbling his Dorick lay: And now the Sun had stretch’d out all the hills, 191 And now was dropt into the Western bay; At last he rose, and twitch’d his Mantle blew: To morrow to fresh Woods, and Pastures new.

Justa Edovardo King naufrago ab amicis moerentibus, amoris et μνείας χάριν (Cambridge 1638). Motto: »Si recte calculum ponas, ubique naufragium est« (Petronius Arbiter). Gezeichnet: J. M.

Text nach Milton’s Lycidas: Te Tradition and the Poem, ed. C. A. Patrides (Columbia MI: Uni- versity of Missouri Press 1961, rev. 1983), Zeilen 1–24, 132–193. 278 Anhang

Friedrich Gottlieb Klopstock Fahrt auf der Zürcher See (1751)

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, Auf die Fluhren zerstreut; schöner ein froh Gesichte, Das den grossen Gedanken Deiner Schöpfung noch einmal denkt. Von der schimmernden See weinvollen Ufer her, Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf, Komm’ im röthenden Strale, Auf den Flügeln der Abendluft; Komm’, und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn, Süsse Freude, wie du! gleich dem aufwallenden Vollen Jauchzen des Jünglings! Sanft, der fühlenden Sch==inn gleich. Schon lag hinter uns weit Uto, an dessen Fus Zürch in ruhigem Thal freye Bewohner nährt; Schon war manches Gebirge Voll von Reben vorbey geflohn; Izt entwölkte sich fern silberner Alpen Höh’; Und der Jünglinge Herz schlug schon empfindender; Schon verrieth’ es beredter Sich der schönen Begleiterin. Hallers Doris sang uns, selber des Liedes werth, Hirzels Daphne, den Kleist zärtlich, wie Gleimen liebt; Und wir Jünglinge sangen, Und empfanden wie Hagedorn. Izt empfing uns die Au’ in die beschattenden Kühlen Arme des Walds, welcher die Insel krönt; Da, da kamst du, o Freude! Ganz in vollem Maas über uns. Göttin Freude! du selbst! dich, dich empfanden wir! Ja, du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit, Deiner Unschuld Gespielin, Die sich über uns ganz ergoß! Süs ist, frölicher Lenz, deiner Begeisterung Hauch, Wenn die Flur dir gebiert, wenn sich dein Odem sanft In der Jünglinge Seufzer, Und ins Herze der Mädchen giest. Durch dich wird das Gefühl jauchzender, durch dich steigt Jede blühende Brust schöner und bebender, Durch dich reden die Lippen Der verstummenden Liebe laut! Gedichte 279

Lieblich winket der Wein, wenn er Empfindungen, Wenn er sanftere Lust, wenn er Gedanken winkt, Im Sokratischen Becher, Von der tauenden Ros’ umkränzt; Wenn er an das Herz dringt, und zu Entschliesungen, Die der Säufer verkennt, jeden Gedanken wekt, Wenn er lehrt verachten, Was des Weisen nicht würdig ist. Reizend klinget des Ruhms lokender Silberton In das schlagende Herz, und die Unsterblichkeit Ist ein grosser Gedanke, Ist des Schweisses der Edlen werth. Durch der Lieder Gewalt bey der Urenkelin Sohn und Tochter noch seyn; mit der Entzükung Ton, Oft beim Namen genennet, Oft gerufen vom Grabe her; Da ihr sanfteres Herz bilden, und, Liebe, dich, Fromme Tugend, dich auch giesen ins sanfte Herz, Ist, beym Himmel! nicht wenig! Ist des Schweises der Edlen werth. Aber süser ists noch, schöner, und reizender, In dem Arme des Freunds wissen, ein Freund zu seyn! So das Leben geniesen, Nicht unwürdig der Ewigkeit! Treuer Zärtlichkeit voll in den Umschattungen, In den Lüften des Walds, und mit gesenkten Blik Auf die silbernen Wellen, That mein Herz den frommen Wunsch: Möchtet ihr auch hier seyn, die ihr mich ferne liebt, In des Vaterlands Schoos einsam von mir verstreut, Die in seligen Stunden, Meine suchende Seele fand. O! so wolten wir hier Hütten der Freundschaft bau’n! Ewig wohnten wir hier, ewig! wir nennten dann Jenen Schattenwald, Tempe, Diese Thäler, Elysium.

Klopstocks Oden und Elegien (Darmstadt: Wittich’sche Hofuchdruckerei 1771), 95–98; ed. Walter Bulst (Heidelberg: Winter 1948), 72–74. In der ersten Hamburger Ausgabe unter dem Titel »Der Zürchersee«, Oden (Hamburg: Bode 1771), 116–120. Vgl. zur Textgeschichte seit dem Erstdruck (Zürich 1750) den Apparatband der Historisch-kritischen Hamburger Klop- stock-Ausgabe, Oden I, 2 (Berlin/Boston: De Gruyter 2015), 157–162. Der Textband dieser Ausgabe I, 1 (2010), 95–97, entscheidet sich an den besprochenen Stellen entgegen der hier bevorzugten Überlieferung für »der fühlenden Fanny gleich« (95.17) und »Haller Doris« in Anführung (95.26). 280 Anhang

Friedrich Gottlieb Klopstock Der Messias (1751) IV. Gesang, 735–883

Alle schwiegen, und Lazarus Schwester, die junge Maria, Neigte sich sanft an ihre geliebteste Cidli; ihr Bruder Stand bey Cidli, und sah mit schweigender Traurigkeit nieder. Diese kannte den Schmerz, der lange schon Lazarus Herz traf, Und sie blickte seitwärts ihn an, und sah die Empfindung Seiner Seelen im Auge voll Wehmut, sahe die Hoheit, Welche mit Zügen der Himmlischen schmückt die leidende Tugend. Da zerfloß ihr das Herz, und lispelte diese Gedanken: Edler Jüngling, um mich bringst du dein Leben mit Wehmut, Deine Tage mit Traurigkeit zu! Ach, war ichs auch würdig? Daß du so himmlisch mich liebst, wars deine Cidli auch würdig? Lange schon wünsch ich, die Deine zu seyn, und von dir zu lernen, Wie sie so schön ist, die selige Tugend! Dich zärtlich zu lieben, Wie zu den Zeiten der Väter die Töchter Jerusalems liebten; Wie ein jugendlich Lamm um deine Winke zu spielen; Gleich den Rosen im Thal, die der frühe Tag sich erziehet, So in deiner reinen Umarmung gebildet zu werden, Dein zu seyn, und dich ewig zu lieben! Ach, meine Mutter, Warum gebotest du doch das himmlische strenge Gebot mir? Zwar ich schweig, und gehorche der Weisheit der liebenden Mutter. Und der Stimme Gottes in ihr! Dem bin ich gewidmet! Ich bin auferstanden! Ich bin zu heilig, die Mutter Sterblicher Söhne zu werden! Nur du must deine Betrübniß, Deine zärtlichen Klagen, du edler Jüngling, auch mindern! Würde doch meinem Leben der Trost noch einmal gegeben, Daß ich in deinem Gesicht das süße Lächeln erblickte, Da du keine Thränen noch kanntest, als Thränen der Freude, Da du ein Knabe noch warst, und ich aus dem schmeichelnden Arme Deiner schönen Schwester, Maria, in deinen Arm hinflog. Also denkt sie. Er bricht ihr das Herz, sie kann sich nicht halten, Stille Thränen zu weinen. Es sah sie Lazarus weinen, Ob sie mit ihrem silbernen Schleyer ihr Antlitz gleich deckte. Lazarus geht still aus der Versammlung, und da er hinauskömmt, Sieht er mit traurigem Angesicht nieder, und denkt bey sich selber: Warum weint sie? Ich konnte sie länger weinen nicht sehen, Denn es brach mir mein Herz! Ach, theure zärtliche Thränen, Schöne Thränen, so still, so zitternd im Auge gebildet! Wäre nur eine von euch um meinentwillen geweinet; O so wollt ich noch selig mich preisen. Ich klage noch immer, Immer um sie! Mein Leben voll Quaal, mein trauriges Leben, Gedichte 281

Ist noch immer von ihr, ein einziger langer Gedanke! O du! welches in mir unsterblich ist, dieser Hütte Hohe Bewohnerinn, Seele, Hauch Gottes, Tochter des Himmels, Des Erschaffenden Bild, der nahen Ewigkeit Erbinn! Oder wie sonst dich bey deiner Geburt die Unsterblichen nannten, Red, ich frage dich, lehre du mich! Enthülle das Dunkle Meines Schicksals! Eröfne die Nacht, die über mich herhängt! Red, ich frage dich, antworte mir! Ich bin müde, zu weinen! Müd, in ewige Wehmut ergossen, mein Leben zu trauern! Müde des unaussprechlichen Kummers! Der Todesangst müde! Warum fühl ich in mir, wenn ich die Unsterbliche sehe, Oder, von ihrem himmlischen Anblick entfernet, sie denke, Warum fühl ich alsdann, im hoch aufwallenden Herzen, Neue Gedanken, von denen mir vormals keiner gedacht war? Bebende, ganz in Liebe zerfließende, große Gedanken! Jeden von ihnen mit seligem Lächeln und Hoheit bekleidet! Jeden mit Klarheit umstralt, und der Unvergänglichkeit würdig! Tausend bey tausend steigen sie auf, wie auf goldenen Stufen, Hoch gen Himmel, sich unter der Engel Gedanken zu mischen. Warum weckt von der Lippe der Cidli die silberne Stimme, Warum vom Auge der mächtige Blick, mein schlagendes Herz mir Zu Empfindungen auf, die mich allmächtig ergreifen? Die sich rund um mich her, wie in helle Versammlungen, drängen, Jede, gleich einer schönen That, edel, und rein, wie die Unschuld! Warum decket der Schmerz, mit mitternächtlichem Flügel Ewig mein Haupt; und begräbt mich hinab in die Schlummer des Todes? Ach, dann sitz ich, und weine, hin auf mein Grabmal gebeuget, Meinen Jammer. Mir horchet die schauernde Todesstille. Oft will ich dann mit gewaltigem Arm den Kummer bestreiten. Meine Seele versammelt in sich die Empfindungen alle, Die ihr, von ihrer hohen Geburt, und Unsterblichkeit zeugen. Sey, (so red ich sie an,) sey wieder dein, die du himmlisch, Die du bist unsterblich erschaffen! So red ich ihr Hoheit Und Standhaftigkeit zu. Sie aber verstummt, sich zu trösten, Schaut auf ihre Wunden herab, und weinet, und zittert. Warum bin ichs allein, der so ewig, ungeliebt, liebet? Warum erhebt sich mein Herz, auch über die edelsten Herzen, Groß und elend zu seyn? Was ist, das in mir, das noch immer, Sie beym Namen mir nennt? Will ich ihr Gedächtniß vertilgen? Welche Stimme Gottes ist das? Die mit heiligem Lispeln, Und mit Harmonien, den zärtern Seelen nur hörbar, Meinem Herzen leise gebietet, sie ewig zu lieben! Und so will ich denn ewig dich lieben! Du seyst noch so schweigend. Noch so verstummend vor mir! Ach, da ichs, Cidli, noch wagte, Zitternd zu denken, du seyst mir geschaffen; wie war ich so selig! Welchen Himmel erschuf sich mein Geist, wenn du, Cidli, mich liebtest! 282 Anhang

Welche Gefilde der Ruh um mich her! O, darf ich noch einmal, Süßer Gedanke, dich denken? Und wird dich mein Schmerz nicht entweihen? Du warst, Göttliche, mein! Durch keine kürzere Dauer, Als durch die Ewigkeit, mein! Das nannt ich, für mich geschaffen! Jeder Tugend erhabenen Wink, der mir unsichtbar sonst war, Lernt ich durch deine Liebe verstehn! Mit zitternder Sorgfalt Folgte mein Herz dem gebietenden Winke. Die Stimme der Pflichten Hört ich von fern! Ihr werdendes Lispeln, ihr Wandeln im Stillen, Ihren göttlichen Laut, wenn keiner sie hörte, vernahm ich! Und nicht umsonst! Wie ein Kind voll Unschuld, mit biegsamen Herzen. Folgt ich dem leichten Gesetz, der sanft gebietenden Simme, Daß ich deinen Besitz, die du mir theurer, als alles, Was die Schöpfung hat, warst, durch keinen Fehltritt entweihte. Gott selbst liebt ich noch mehr, weil du sein hohes Geschenk warst; Weil ich, wie auf Flügeln, von deiner Unschuld getragen, Näher dem Liebenswürdigen kam, der so schön dich gebildet, Der so fühlend mein Herz, und deins so himmlisch gemacht hat. Wie, ganz in Entzückungen aufgelöst, deine Mutter, Da du gebohren warst, über dir hieng, und wie sie sich neigte Ueber dein Antlitz mit Todesangst hin, da du ihrer Umarmung Still entschlummertest, und sie den Schall der kommenden Füße Noch nicht vernahm, noch die lockende Stimme des Helfers in Juda: So hat meine Seele sich oft mit jeder Empfindung Und mit jeder Entzückung in ihr, die sie mächtig erschüttert, Auf den großen Gedanken gerichtet: du seyst ihr geschaffen! Ausgebreitet hieng über ihn hin; die schauende Seele Sah ihn ganz, den Gedanken der Ewigkeit; sahe den Endzweck Ihres Daseyns in ihm; von einer Seligkeit trunken, Welche selten ins Herz des Menschen vom Himmel herabsteigt. Aber in Traurigkeit, welche kein Maß, kein endendes Ziel kennt, Und in Schauer der Angst ohne Namen, in Schlummer des Todes, Löste meine Seele sich auf, wenn ich jenen Gedanken, Jenen andern Gedanken der Nacht und der Einsamkeit, dachte! Ach, dann war ich von allen verlassen! Dann war ich ganz einsam! Du warst mir nicht mehr da! Ich war allein in der Schöpfung! O, bey allem, was heilig ist! Um der Tugend und Liebe, Um der Göttlichkeit willen, die deine Seele voll Unschuld Ueber den Staub der Erden erhöht: Und wenn was noch theurer, Wenn was erhabner noch ist: bey deinem Erwachen vom Tode, Und bey jeder Unsterblichkeit, die du mit Lichte bekleidet, Unter des Himmels Bewohnern wirst leben! Ach, um der Kronen, Um der Tugend Belohnungen willen, beschwör ich dich, Cidli! Sage, was denkt da dein Herz? Was fühlt es? Wie ist es ihm möglich? Dieß mein Herz, das so liebt, mein blutendes Herz zu verkennen! Um die Mitternachtzeit, bey dämmernden traurigen Lampen, in die Stille des Todes verhüllt, auf meinem Grabe, Gedichte 283

Saß ich, und forschte den bängsten Gedanken durch ihr Labyrinth nach, Und verstummte. Wie hat mich der Schmerz mit ehernen Mauren In mich hinein verschlossen; und meinen blühenden Jahren Ihre Kronen geraubt; und das Antlitz der lächelnden Freude Vor dem Verlassensten unter den Menschen auf ewig verborgen! Schau her, der du mich schufst! Ist unter den bängsten der Schmerzen Meinem Schmerz ein Schmerz zu vergleichen? Ich lag ja im Sichern, Zu den Todten hinunter begraben, im Schoße der Erde, Welche mit Mutterhänden den müden Wanderer aufnimmt, Seine Thränen, und ihn! Wie ist mein dauernder Jammer Ohne Maß! Ich verkenne die Herrlichkeit meines Lebens! Und die Stimme des Sohnes Gottes, die zu mir hinabkam In die Gräber! Vergebens vernahm ich den Fußtritt der Allmacht, Ihren donnernden Gang, daß jeder gebeinvolle Hügel Unter mir bebte, daß über mir klangen die Halleluja Derer, die niemals die Schauer der Auferstehung empfanden. Hier verstummt er, und neigte sein Haupt, und verhüllte sein Antlitz.

Der Messias, IV. Gesang, 735–883 (in Hamels Zählung 740–889), nach der Oktavausgabe 1751, ed. Eberhard Haufe (Berlin: Union 1975), 109–113. 284 Anhang

John Keats Ode on a Grecian Urn (1819)

I Thou still unravished bride of quietness, Of Thou foster-child of silence and slow time, Sylvan historian, who canst thus express A flowery tale more sweetly than our rhyme! What leaf-fringed legend haunts about thy shape Of deities or mortals, or of both, In Tempe or the dales of Arcady? What men or gods are these? What maidens loth? What mad pursuit? What struggle to escape? What pipes and timbrels? What wild ecstasy?

II Heard melodies are sweet, but those unheard Are sweeter; therefore, ye soft pipes, play on; Not to the sensual ear, but, more endeared, Pipe to the spirit ditties of no tone. Fair youth beneath the trees, thou canst not leave Thy song, nor ever can those trees be bare; Bold lover, never, never canst thou kiss, Though winning near the goal – yet do not grieve: She cannot fade, though thou hast not thy bliss, For ever wilt thou love, and she be fair!

III Ah, happy, happy boughs, that cannot shed Your leaves, nor ever bid the spring adieu; And happy melodist, unwearièd, For ever piping songs for ever new! More happy love, more happy, happy love! Forever warm and still to be enjoyed, Forever panting, and for ever young – All breathing human passion far above, That leaves a heart high-sorrowful and cloyed, A burning forehead, and a parching tongue.

IV Who are these coming to the sacrifice? To what green altar, O mysterious priest, Lead’st thou that heifer lowing at the skies, And all her silken flanks with garlands dressed? Gedichte 285

What little town by river or sea shore, Or mountain-built with peaceful citadel, Is emptied of this folk, this pious morn? And, little town, thy streets for evermore Will silent be; and not a soul to tell Why thou art desolate can e’er return.

V O Attic shape! Fair attitude! with brede Of marble men and maidens overwrought, With forest branches and the trodden weed; Thou, silent form, dost tease us out of thought As doth eternity: Cold Pastoral! When old age shall this generation waste, Thou shalt remain, in midst of other woe Than ours, a friend to man, to whom thou say’st, »Beauty is truth, truth beauty«—that is all Ye know on earth, and all ye need to know.

Te Complete Poems of John Keats, ed. Miriam Allott (London: Longman/New York: Norton 1970, 3rd ed. 1975), 532–538. 286 Anhang

Bertolt Brecht Besuch bei den verbannten Dichtern (1937)

Als er im Traum die Hütte betrat der verbannten Dichter, die neben der Hütte gelegen ist Wo die verbannten Lehrer wohnen (er hörte von dort Streit und Gelächter), kam ihm zum Eingang Ovid entgegen und sagte ihm halblaut: »Besser, du setzt dich noch nicht. Du bist noch nicht gestorben. Wer weiß da Ob du nicht doch noch zurückkehrst? Und ohne daß andres sich ändert Als du selber.« Doch, Trost in den Augen Näherte Po Chü-yi sich und sagte lächelnd: »Die Strenge Hat sich jeder verdient, der nur einmal das Unrecht benannte.« Und sein Freund Tu-fu sagte still: »Du verstehst, die Verbannung Ist nicht der Ort, wo der Hochmut verlernt wird.« Aber irdischer Stellte sich der zerlumpte Villon zu ihnen und fragte: »Wieviele Türen hat das Haus, wo du wohnst?« Und es nahm ihn der Dante bei Seite Und ihn am Ärmel fassend, murmelte er: »Deine Verse Wimmeln von Fehlern, Freund, bedenk doch Wer alles gegen dich ist!« Und Voltaire rief hinüber: »Gib auf den Sou acht, sie hungern dich aus sonst!« »Und misch Späße hinein!« schrie Heine. »Das hilft nicht« Schimpfte der Shakespeare, »als Jakob kam Durfte auch ich nicht mehr schreiben.« »Wenn’s zum Prozeß kommt Nimm einen Schurken zum Anwalt!« riet der Euripides »Denn der kennt die Löcher im Netz des Gesetzes.« Das Gelächter Dauerte noch, da, aus der dunkelsten Ecke Kam ein Ruf: »Du, wissen sie auch Deine Verse auswendig? Und die sie wissen Werden sie der Verfolgung entrinnen?« »Das Sind die Vergessenen«, sagte der Dante leise »Ihnen wurden nicht nur die Körper, auch die Werke vernichtet.« Das Gelächter brach ab. Keiner wagte hinüberzublicken. Der Ankömmling War erblaßt.

Bertolt Brecht, »Besuch bei den verbannten Dichtern«, Gedichte 1–10 (Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1960–76), 4: 55–56. Gedichte 287

Karl Mickel Inferno XXXIV. Für Kirsten (1972)

Gips-Smog in Weimar, Kirsten melancholisch: Denn er obliegt dort deutscher Zeichengebung. Und als die Wandrer zu der Stelle kamen Die Dante nennt: der Hüfte größte Wölbung Kletterten sie, an Haare wie Gestrüpp Sich klammernd, unter Keuchen aus dem Felsloch: Aber Dante (ja, ich hatte Angst Wer mich tadelt, denke, wo ich steckte!) Eh er heraus war, setzte sich in eine Schrunde und fragte: Wo ist das Eisfeld? Warum hält Der den Kopf nach unten? und Wie ging die Sonne so schnell von dem Abend Zum Morgen über? – Noch im Arsch des Teufels Will Dante, was er wahrnimmt, wissen.

Karl Mickel, Eisenzeit. Gedichte (Halle: Mitteldeutscher Verlag 1975), Nr. 18. 288 Anhang

Nina Hagen Naturträne (1978)

Offnes Fenster präsentiert Spatzenwolken himmelflattern. Wind bläst, meine Nase friert und paar Auspuffrohre knattern. Ach, da geht die Sonne unter: rot mit gold, so muß das sein. Seh ich auf die Straße runter, fällt mir mein Bekannter ein. Prompt wird mirs jetzt schwer ums heiß Herz, ich brauch nur Vögel flattern sehn und fliegt mein Blick dann himmelwärts tut auch die Seele weh, wie schön! Natur am Abend, stille Stadt verknackste Seele, Tränen rennen, das alles macht einen mächtig matt und ich tu einfach weiterflennen ... ahhh ...

(Catharina) Nina Hagen, »Naturträne«, Nina Hagen Band, CBS 83136 (1978), Plattenbeilage, Seite 3. Gedichte 289 Nachweis der Texte

Bildlegende: Giovanni di Paolo – Teleskopie der Moderne (1992); unveröfentlicht. Klopstock als Paradigma der Rezeptionsästhetik (Habilschrif 1982); unveröfentlicht. Saving the Subject: Klopstock und die Veränderung der Lyrik (Teil der Habilschrif). Poetica 14 (1982), 70–91. Illusion und Empathie: Die Struktur der teilnehmenden Lektüre in den Leiden Werthers (Teil der Habilschrif). Erzählforschung (DFG-Symposien IV), ed. Eberhard Lämmert (Stuttgart: Metzler 1982), 243–269. Milton und Klopstock. Klopstock-Handbuch: Leben-Werk-Wirkung, ed. Michael Auer, Mario Grizelj (Stuttgart: Metzler, erscheint 2019). Distant Information: Die komparatistische Bedeutung Miltons. DVjs 68 (1994), 634–649. FEST/SCHRIFT: Klopstocks Ode von der Fahrt auf der Zürcher See 1749. Poetik und Hermeneu- tik XIV (1989), 276–298. Miltons Counterplot: Lycidas – Dekonstruktion und Trauerarbeit 1637. DVjs 63 (1989), 608– 627. All Passion Spent—Te End: Samson Agonistes. Poetik und Hermeneutik XVI (1996), 267–282. Heteronomie: Mickels Klopstock – Dante, Milton, Klopstock, Brecht und die epische Tradition. Weimarer Beiträge 38 (1992), 5–18. Die Aufgabe des Lesers, ed. Ludo Verbeeck, Bart Philipp- sen (Leuven: Peeters 1992), 225–240. Ein knebbes Ding in einem Wort: Ungedachte Natur in postlapsaren Welten und Zeiten. Tea- trum mundi: Die Metapher des Welttheaters von Shakespeare bis Beckett, ed. Björn Quiring (Berlin: August Verlag 2012), 167–189. Beauty is Truth: Keats’s Ekstase des Ästhetischen: Ode on a Grecian Urn. Bella Parrhesia: Begrif und Figur der freien Rede in der Neuzeit, ed. Rüdiger Campe, Malte Wessels (Freiburg: Rom- bach 2018), 319–327. Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte. Zeitschrif für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaf, Sonderhef 15 (2015), 35–48. Personenregister

A Bernfeld, Siegfried 116 Abrams, Meyer Howard 186 Bishop, Elizabeth 7 Adorno, Teodor W. 20, 23, 29 f., 38, 41, 45, Black, Max 106 88, 91, 199 f., 242 Blake, William 156, 223 f. Alewyn, Richard 33, 37, 95, 166 f., 170 Blanckenburg, Friedrich von 134 Alighieri, Dante 150–152, 202, 207, 214–216, Bloom, Harold 3, 7, 27, 51 f., 59, 61, 67, 80, 219–225, 231 f. 152, 154–157, 185, 193, 202, 204, 207 f., Alkuin 49 229, 232, 256 Allerkamp, Andrea 259 Bloomfeld, Morton 173 Allott, Miriam 252 f. Blumenberg, Hans 24, 48 f., 52 f., 62, 66, 70, Anselm von Canterbury 52 f. 83, 89, 134, 176, 238, 240, 242, 245 Apian, Peter 246 Bobrowski, Johannes 215, 219 Arendt, Erich 215 Böckmann, Paul 70, 109 Aristoteles 50, 112, 203, 207, 240, 244, 248 Bodmer, Johann Jacob 3, 56–59, 62, 73 f., 81, Arthos, John 207 95 f., 101, 157, 178, 180, 182, 187 f., 193, Ashberry, John 7 200, 205, 229–232 Ashley-Cooper, Anthony. Earl of Shafes- Boie, Heinrich Christian 31 bury 97 f., 172–175 Boileau, Nicolas 108 Assmann, Jan 213 Bolz, Norbert 200, 212 Aubrey, John 201 Bonaparte, Napoleon 145 Auerbach, Erich 150 f., 156 Booth, Wayne C. 56 Augustinus von Hippo 7, 151 Borges, Jorge Luis 3 Austin, John Langshaw 136, 261, 270 Bower, Frederick Orpen 211 Brecht, Bertolt 30, 45, 214–216, 222, 224 f. B Breitinger, Johann Jacob 56, 62, 125 Bachtin, Michail Michalowitsch 134 Brinkmann, Rolf Dieter 45 Bacon, Francis 239 Broadbent, John B. 208 Baeumler, Alfred 259 Bronte, Anne 154 Balzac, Honoré de 134 Bronte, Branwell 154 Barthes, Roland 4, 237 f. Bronte, Charlotte 154 Bateson, Frederick Wilse 252 Bronte, Emily 154 Baudelaire, Charles 21, 28, 30, 42, 104, 162, Brooks, Cleanth 186 202 Brooks, Peter 56, 252–254, 257 Baumgarten, Alexander Gottlieb 1, 3, 4, 54, Brüggemann, Fritz 33, 89 f., 91 f., 99, 102, 59 f., 230, 232 f., 251, 253–257, 259–271 168 Beckett, Samuel 3, 199, 231 f., 237, 247 f., 267 Bruno, Giordano 232 Belsey, Catherine 161 f., 210 Bubner, Rüdiger 214 Benjamin, Walter 3, 24, 53, 87 f., 101, 104, Burckhardt, Jacob 166 f., 259 112, 155, 164, 166, 171, 173, 185, 196, 198, Burden, Chris 213 200–202, 205, 207, 212, 243, 246, 249, 251, Burke, Kenneth 60, 65 f., 156, 211 f., 237, 260 248, 253–257 Bentley, Richard 204 Burton, Robert 6, 112, 185, 200, 244 Benveniste, Emile 94–96, 115 Byron, George Gordon 254 f. Bernays, Jacob 48, 71, 207 f. Berndt, Frauke 3 292 Anhang

C Enzensberger, Hans Magnus 3, 30, Calderon de la Barca, Pedro 200 38–41 Cameron, Don A. 203 Erasmus von Rotterdam 260, 262 f. Campbell, George 153 Erikson, Erik H. 113 Campe, Rüdiger 2, 268 Caravaggio, Michelangelo da 2 F Cassirer, Ernst 259 Fellmann, Ferdinand 54 Castelvetro, Lodovico 208 Fielding, Henry 182 Catullus, Gaius Valerius 67, 69, 81 Figal, Günter 259 Cave, Terence 256, 262–264 Finney, Gretchen 207 Cavell, Stanley 149 f., 202, 210 Fish, Stanley 157, 188 f., 190, 200, 202 f., Celan, Paul 38 f. 206, 208–210, 244–246 Chase, Cynthia 176, 254, 256 Flachsland, Caroline 28 Cholevius, Carl Leo 47 Fletcher, Angus 155, 204, 208, 248 Chomsky, Noam 270 Fontanier, Pierre 59 Cicero, Marcus Tullius 112, 154, 179, 205, Foucault, Michel 251, 263 f., 268 208, 262 Franke, Ursula 266 Cohn, Dorrit 133 Freccero, John 150 f., 207 Coleridge, Samuel Taylor 16, 207 Freud, Sigmund 65, 154, 185, 191, 193, 219, Cramer, Carl Friedrich 15, 31, 33–37, 68, 90, 223 99 f., 107 f., 180 f. Friedrich, Hugo 30, 38, 41, 107 Cramer, Johann Andreas 90, 182 Froula, Christine 161 Crosman, Robert 54 Frye, Northrop 54, 56, 244 Culler, Jonathan 169, 175 Fuhrmann, Manfred 208 Curtius, Ernst-Robert 48, 153 f., 268 f. Funke, Gerhard 128 Füßli, Johann Caspar 15 D de Dondi, Giovanni 39 f. G De Jean, Joan 154 Gadamer, Hans-Georg 23, 41, 114, 164 f. de Man, Paul 4, 21, 56, 137, 151, 159 f., 174, Galilei, Galileo 242–245 199, 204, 212, 239, 270 Gehlen, Arnold 43, 111, 165, 172 Deleuze, Gilles 243, 249 Geiger, Moritz 99 Derrida, Jacques 21, 94, 101, 179, 191, 201, Gellert, Christian Fürchtegott 96, 133 204, 209, 240 Genette, Gérard 59, 134 Descartes, René 260, 263 Gilbert, Sandra 154, 161 di Paolo, Giovanni 3, 5–7, 246 f. Gilman, Ernest 205 Dilthey, Wilhelm 88 f., 91 f., 107, 114 Giseke, Nikolaus Dietrich 90 Drews, Jörg 37 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 96 f., 100, Dryden, John 204 107, 172, 180 Düntzer, Heinrich 177 Goethe, Johann Wolfgang von 3 f., 17, Dürer, Albrecht 24 28, 43 f., 58, 70, 75, 92, 107, 134–136, 137 f., 141 f., 145, 216, 218, 232, 245 f., E 251 Ebert, Johann Arnold 90 Gofman, Erving 131 Eco, Umberto 199 Gottsched, Johann Christoph 60, 232 Eich, Günter 3, 38 f., 41–44 Gray, Tomas 197 Eisenstein, Sergej 237 Gryphius, Andreas 196 Elias, Norbert 92, 112 Gubar, Susan 154, 161 Eliot, Tomas Stearns 44, 152, 154–156, 158, 187, 204, 241, 249, 252, 255 f. Ellis-Fermor, Una 203 Emerson, Ralph Waldo 157 Empson, William 61, 157, 186 f., 196, 200, 204, 206, 212, 218, 233, 237 f., 241, 246–249, 252 f. Personenregister 293

H J Habermas, Jürgen 21, 91–93, 104, 111, 116, Jakobson, Roman 58, 65, 94, 246, 267, 270 131, 149, 166 James, Henry 127, 152, 157 Hadot, Pierre 241 James, William 238 Hagedorn, Friedrich von 97, 100 f., 171 f., Jauß, Hans Robert 1, 23 f., 53, 269 f. 176 Johnson, Samuel 55, 152, 154 f., 157, 186, Hagen, Nina 3, 29, 45 188 f., 190, 203 f., 208, 222 Haller, Albrecht von 18, 97, 100, 104, 172, Jolles, Andre 163, 185, 208 178, 180, 182, 197 Jonas, Hans 152 Hamburger, Käte 94 Jonson, Ben 184 f. Hamel, Richard 27, 77 Joyce, James 152, 229–232, 247, 249, 267 Hartman, Geofrey H. 61, 150 f., 156, 186–188 K Hartmann, Peter 270 Kafa, Franz 202, 212 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 22, 38, 41, Kahn, Viktoria 161 43, 173, 229, 233, 242, 246 Kaiser, Gerhard 27, 49 f., 63 f., 68, 70–73, 92, Heidegger, Martin 41, 240, 243, 266 f. 108, 110, 231 Heineken, Carl Heinrich von 67 Kant, Immanuel 64, 73, 108, 164, 251, 257, Heinsius, Daniel 207 f. 259, 265 f. Heinze, Richard 261 Kaußmann, Ernst 92–94 Henrich, Dieter 91, 121 Keats, John 156, 191 f., 197, 251–258 Herder, Johann Gottfried 1 f., 18, 28, 83 f., Kellog, Robert 54 107–110, 114–117, 119 Kelsen, Hans 213 Herzog, Reinhart 49 f. Kestner, Johann Christian 141 Heyne, Christian Gottlob 31 f., 34–38 Kiefer-Lewalski, Barbara 161 Hipple, Walter 65 f. Kierkegaard, Søren 4, 22, 118 f. Hirsch, Eric Donald 105 Killy, Walter 176 Hirzel, Johann Kaspar 90 f., 96, 100, King, Edward 184, 189, 192–194 102–104, 117, 168–171, 177 f., 180, 182 Kirsch, Rainer 221 Hirzel, Ludwig 181–183 Kirsten, Wulf 221, 224 Hitchcock, Alfred 213 Kittsteiner, Heinz-Dieter 269 Hobbes, Tomas 200 f. Kleist, Ewald von 90, 97, 100, 168–170, 172, Höfele, Andreas 237 180, 251 Hölderlin, Friedrich 3 f., 17, 21, 28, 38, 43, Klopstock, Friedrich Gottlieb 1–4, 7, 15–21, 87 f., 151, 176, 197, 200, 208, 215, 230, 232, 24, 26–29, 31–34, 36–38, 43–51, 53, 55, 251, 254 61–75, 77, 81–85, 87–100, 102–105, Holland, Norman 27, 105 107–110, 115, 117–120, 149, 158 f., 162 f., Hollander, John 204, 208 167–173, 175–180, 182, 214–220, 223 f., Höllerer, Walter 30 229–233, 251, 257 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 117 f. Klopstock, Margareta 31–33, 77, 110, 117 Homer 6, 31, 49 f., 57, 63, 73, 153, 159, Knight, Wilson 257 229–231 Kohut, Heinz 114 Horaz 107 f., 172, 256, 260–263 Kommerell, Max 3, 87 f., 90 f., 98, 107, 208 Hoskyns, John 153 Koselleck, Reinhart 269 Howe, Susan 162 Koyré, Alexandre 240 Hughes, Merritt 246 Krämer, Sybille 264 Huizinga, Johan 165–167, 259 Krappmann, Lothar 116 Humboldt, Wilhelm von 1 Kristeva, Julia 134 Hume, David 239 Kuhn, Tomas S. 20 f., 149 f., 154, 156 f., Husserl, Edmund 95, 101, 237 f. 240

I L Iser, Wolfgang 56, 120, 122, 269 f. Lacan, Jacques 4, 65, 94, 101, 155, 212, 243, 246 Lämmert, Eberhard 134 294 Anhang

Latour, Bruno 241 Moretti, Franco 271 Lausberg, Heinrich 55, 60 Moritz, Karl Philipp 143 f. Lavater, Johann Caspar 138 Moser, Tilman 37 Leibniz, Gottfried Wilhelm 243, 259, 264 Muchow, Hans Heinrich 116 Lenz, Jakob Michael Reinhold 142 Mueller, Martin 207, 213 Lepenies, Wolf 112 f. Müller, Friedrich von 145 Lessing, Gotthold Ephraim 15–17, 73 f., 82, Muncker, Franz 27, 100, 180 85, 108, 181, 217, 230, 269 Murray, Gilbert 241 Leuchsenring, Franz Michael 136 Muschg, Adolf 4 Levetzow, Ulrike von 43 Levinson, Margorie 254 N Lewis, Clive Staples 49–51, 203, 209, 229, Nicholson, Marjorie 247 244 Nietzsche, Friedrich 174, 212, 233, 240 Lipp, Teodor 113 f. Nikolaus von Kues 238 Lipps, Hans 163–165, 266 Novalis 43, 158 Locke, John 185 Nuttall, Anthony 51 Lohmeier, Dieter 84, 108, 110 Longinus 65–67, 108 O Lorca, Frederico Garcia 30 Opitz, Martin 260 Low, Anthony 203, 206 Ovid 151, 160–162, 260–262, 266 Lubac, Henri de 24 Lucas, Donald William 207 f. P Lugowski, Clemens 50, 55, 63, 85, 87 f., Palgen, Rudolf 222 167 Panofsky, Erwin 24, 189 Luhmann, Niklas 111 f., 132, 172 Parker, William Riley 206 Lukacs, Georg 145, 212 Pascal, Blaise 242 Luther, Martin 23 Pater, Walter 259 Paul, Jean 64 M Pawel, Jaro 100, 180 Malinowski, Bronislaw 172 Peters, Richard 201 Mallarmé, Stéphane 38, 42, 152, 257 Petrarca, Francesco 28, 40 f., 89, 107, 254 Malmo, Jane 212 f. Pindar 31, 108 Marin, Louis 1 f. Platon 160, 242 Marquard, Odo 23, 26, 131 Pontalis, Jean-Bertrand 127 Marvell, Andrew 243 Popschitz, Mariane von 196 Marx, Karl 202, 218 Poussin, Nicolas 2, 189 Mazzotta, Giuseppe 150 f. Prince, Frank Templeton 206 f., 257 McDonald, Henry 208 Proust, Marcel 151 Mead, George Herbert 130 Putnam, Hilary 248 Meier, Georg Friedrich 264, 266 Puttenham, George 7, 153–156, 193, 204, Mendelssohn, Moses 18, 64 f. 208, 238, 248 Menke, Christoph 260 Pyritz, Hans 28 Menninghaus, Winfried 3, 158 f. Merck, Johann Heinrich 141 Q Merill, James 7 Quint, David 201 Merleau-Ponty, Maurice 2, 123, 263, Quintilian 59, 154, 156, 179, 205, 238, 261 f., 266 266–268 Mickel, Karl 3, 85, 214–224, 231 Quiring, Björn 237 Milton, John 2–4, 6 f., 24, 26 f., 45–64, 66 f., 73 f., 83 f., 149–162, 184–198, R 200–214, 219 f., 224, 229–233, 237, Rahn, Hartmann 169 242–247, 249, 251, 256, 267 Ramus, Petrus 60, 193, 229, 232, 260, Mirbach, Dagmar 259 267 Möller, Poul Martin 118 Ransom, John Crowe 186–188, 190, 195 Monteverdi, Claudio 207 Rasch, Wolfdietrich 92–94 Personenregister 295

Rawls, John 149, 202 Simmel, Georg 135 Read, Herbert 268 Simonides von Keos 205, 213 Reinhardt, Karl 174 Singleton, Charles S. 150, 223 Rembrandt van Rijn 206 Sokrates 149 Reynolds, Jehoshua 189 Spenser, Edmund 194 Richards, Ivor Armstrong 16 f., 19, 41, 56, Spivak, Gayatri Chakravorty 160 84, 98, 241, 245, 252 f. Staiger, Emil 181 Richardson, Jonathan 54 Stanley, Tomas 191 Richardson, Samuel 4, 31, 133, 134, 136 f., Stanzel, Franz K. 133 161, 213 Starobinski, Jean 270 Ricœur, Paul 21 Steinhausen, Georg 133 Rimbaud, Arthur 43, 257 Stempel, Wolf-Dieter 270 Ritter, Joachim 264 f., 269 Stengers, Isabelle 241 f. Robbins, Jill 150 Stevens, Wallace 7 Rohde, Erwin 87 Stierlin, Helm 43, 130 Rorty, Richard 149, 157 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 31 Rosenblatt, Jason P. 208 Sulzer, Johann Georg 178 Rosenzweig, Franz 212 Szondi, Peter 23 f., 199 Rousseau, Jean-Jacques 4, 21, 46, 134, 136 f., 151, 160, 179 T Rühmkorf, Peter 3, 37, 119, 216 Tasso, Torquato 49 Russell, Donald Andrew 65 Tenbruck, Friedrich H. 112 Rutschky, Michael 44 Tennyson, Alfred 257 Teobaldy, Jürgen 30, 45 S Tomas, Dylan 43 Sade, Donatien Alphonse Francois de 28, Tillyard, G. M. W. 240 107 Trakl, Georg 43 Samuel, Irene 209 Tuve, Rosemond 56, 189 Sannazaro, Jacopo 189 Twain, Mark 53 Sappho 65 f., 69, 76, 80, 154 Sartre, Jean-Paul 123 U Saussure, Ferdinand de 270 Uz, Johann Peter 97, 171 Saxl, Fritz 24 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 49, V 64, 157, 202 Valéry, Paul 41, 44, 101 Schiller, Friedrich 17–19, 49, 64, 87 f., 97 f., Vellutello, Alessandro 107 171 Venerabilis, Beda 59 Schlegel, Friedrich 2, 192 Vergil 6, 34, 49 f., 57, 64, 67, 189, 193, 195, Schlegel, Johann Adolf 67, 69, 88, 268, 216, 222 f., 225, 229–231, 253 270 Vico, Giambattista 54–56, 58, 60, 62, 217, Schleiermacher, Friedrich 23 f. 232 f., 255, 267 Schmid, Konrad Arnold 90 Vinogradov, Viktor 134 Schmidt, Arno 3 Volosinov, Valentin N. 115 Schmidt, Klamer Eberhard Karl 28, 107 Voltaire, Francois-Marie Arouet 57, 157 Schmidt, Maria Sophia 69, 182 Vondel, Joost van den 206, 208, 211 Schmitt, Carl 200 f., 222 Voß, Johann Heinrich 31 Schneider, Karl Ludwig 61 f. Vossius, Gerhard Johannes 56, 60, 232, 253, Schneider, Reinhold 200 267 Scholes, Robert 54 Schütz, Alfred 114 W Schwab, Gabriele 22 Warren, Austin 152 Sehgal, Melanie 238 Wasserman, Earl R. 252 Shakespeare, William 56, 152, 191, 196, 200, Watt, Ian 133 202, 237 f., 240, 243 f., 251, 257 Weber, Heinz-Dieter 270 Shelley, Mary 154, 251 Wehrli, Max 48 296 Anhang

Weimar, Klaus 68 Y Weinrich, Harald 53 Yates, Frances 153 f. Wellek, René 152 Young, Edward 47, 69 White, Hayden 60 Whitehead, Alfred North 238–241, 243–246, Z 249 Ziegler, Konrat 208 Willemer, Marianne von 43 Ziering-Kofman, Amy 213 Willey, Basil 239 Zorn, Fritz 4 Windfuhr, Manfred 61, 63 Wittgenstein, Ludwig 16 f., 93, 106, 136 Wittreich, Joseph 203, 210 Woolf, Virginia 154 Wordsworth, William 192, 251, 254