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Stefan Reinecke Politikwechsel nicht in Sicht: Das Versagen der Linkspartei

„Mein Ziel ist eine Bundesregierung Diese Strategie bescherte der Partei ohne CDU – am liebsten eine grün- 2009 fast 12 Prozent. Allerdings wirk- rot-rote“, erklärte die neue Chefin der ten die Attacken auf die SPD, die nun Linkspartei, Susanne Hennig-Well- geschrumpft in der Opposition war, sow, kurz nach ihrer Wahl. Ihre Vor- nicht mehr wie kraftvolle Anklagen, gängerin argumentierte sondern wie Rechthaberei. bei ihrer Abschiedsrede ebenso, dass Die Spaltung blieb 2012 aus. Sie wä- die Zeit mehr brauche, als „an der Sei- re ein Akt der Selbstzerstörung und das tenlinie das Spiel zu kritisieren“. Und Ende der Linkspartei als bundesweiter sieht die Linkspartei „be- Akteur gewesen. Der Blick in den Ab- reit, in diese Verantwortung zu gehen“. grund in Göttingen hatte einen zwie- Es gibt allerdings auch viele skeptische spältigen Effekt. Er verstärkte die Ten- Einwürfe, etwa von der zweiten Partei- denz, Widersprüche lieber zu verde- chefin, Janine Wissler, die Regieren cken, als sie offensiv auszutragen. Denn zwar nicht generell ausschließt, aber dann droht womöglich das politische stark die roten Haltelinien betont. Ende. Diese zur Mentalität geronnene Manchmal ist es daher nützlich, zu- Neigung trägt bis heute dazu bei, dass rückzublenden, um von den dortigen die Linkspartei unfähig ist, eine poli- Erwartungen und Befürchtungen die tische Schlüsselfrage zu beantworten: Entstehung des Jetzt schärfer zu sehen. Will sie im Bund tatsächlich regieren? 2012, als Kipping und Kluge Köpfe wie Michael Brie ha- in Göttingen zu Parteivorsitzenden ge- ben schon vor 20 Jahren versucht, das wählt wurden, stand die Linkspartei tönern Schlichte der Frage – Regieren vor der Spaltung in Ostrealos und West- ja oder nein – komplexer zu bearbei- linke. Das politische Selbstverständnis ten. Die Formel lautete „radikale Re- passte einfach nicht zusammen. formpolitik“. Um die Ost-West-Spal- Im Osten regierten die Genoss*innen tung zu überwinden, plädierte man brav an der Seite der SPD. Die histori- für einen doppelten Schritt. Im Wes- sche Rolle der PDS war die Integration ten sollte die Partei langsam von unten der abgewickelten DDR-Eliten und der aus den Städten und Kommunen wach- Wendeverlierer in die Bundesrepublik sen. Wenn die Genoss*innen sich dort gewesen – die Regierungsbeteiligung in Gemeinderäten um Kitas und Feu- verkörperte diesen Erfolg. Im Westen erwehr kümmern, so die Hoffnung der war die sinnstiftende Erzählung gegen- Ostreformer, würde der abstrakte Ra- sätzlicher Art. Die Ex-SPD-Genoss*in- dikalismus langsam verdampfen. Im nen um , die sich er- Osten galt es dagegen die Aufgabe zu staunlich reibungslos mit den bunten lösen, nicht weiter als farbloser Mehr- Resten des bundesdeutschen Linkssek- heitsbeschaffer für die Sozialdemokra- tierertums verbunden hatten, wollten tie Dienst zu tun. die SPD als Agenda-Partei demaskie- Neun Jahre nach Göttingen zeigt ren und mit linkspopulistischer Funda- sich ein gemischtes Bild. Manches ist mentalopposition vor sich hertreiben. eisern gleich geblieben, anderes ent-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2021 10 Kommentare dramatisiert, vieles verdrängt worden. rer überschaubaren Wählerschaft und Und einiges ist einfach anders gekom- landete bei 3,8 Prozent. Die Antikapi- men. Die lähmende Spaltung in Ost talistische Linke (AKL) forderte da- und West hat für die Bundespartei an raufhin die „zügige Vergesellschaf- Bedeutung verloren. Sie hat, wie vor tung und Verstaatlichung von Erzie- neun Jahren, rund 60 000 Mitglieder. hung und Bildung, Wohnen, Kultur Das ist jedoch, angesichts der Über- und Sport“. Auf Niederlagen nicht mit alterung der Partei, durchaus ein Er- selbstkritischer Überprüfung, sondern folg. Was sie im Osten durch den Tod mit fundamentalistischer Befestigung von Mitgliedern verlor, gewann sie im von Glaubenssätzen zu reagieren, ist Westen. Die Linkspartei ist somit west- typisch für politische Sekten, die sich licher und jünger geworden. „Der An- vor allem mit den eigenen Reinheits- teil von unter 35jährigen Mitgliedern geboten befassen. Der AKL-Antrag be- stieg von 24 Prozent auf 27 Prozent der kam dennoch – oder gerade deshalb – Mitgliedschaft. Bei den Neumitglie- mehr als 40 Prozent. dern liegt der Anteil von unter 35jäh- rigen bei 63 Prozent, bei den Austritten bei 43 Prozent; damit verjüngt sich die Jünger im Westen, solider im Osten, Mitgliedschaft weiter deutlich“, so der diffuser im Bund Parteivorstand im November 2020. Die Partei ist für junge Aktivist*in- Bei Wahlen im Osten verlor die Links- nen attraktiv geworden, denen die partei in den letzten Jahren regelmä- Grünen zu bürgerlich sind. Doch die ßig mehr an die Friedhöfe als an die Hoffnung, sich im Westen als politi- AfD. Das Bild im Osten ist solide grau, scher Faktor zu etablieren, ist nur in nicht schwarz. Bodo Ramelow führt in urbanen Milieus, vor allem in Erfurt robust die Regierungsgeschäfte und , in Erfüllung gegangen. und zeigt, dass Regieren der Linkspar- Dort ist die Partei in der Lage, kon- tei elektoral nützen kann. Allerdings krete Alternativen vor Ort zu formu- ist sein politischer Stil, der mitunter lieren und jener „radikalen Reform- wie linker Cäsarismus wirkt, wohl politik“ tatsächlich nahe zu kommen. kein kopierbares Modell. In Schwe- Der Leuchtturm der Partei ist weiter- rin, Potsdam, Dresden und Magdeburg hin , wo sie mit steckt die Partei in multiplen Krisen. über einen Politiker verfügt, der bio- Mitglieder und Wähler*innen schwin- graphisch die alte PDS-Erzählung mit den, die eigene Rolle ist unscharf. Die neuem linksreformerischem Schwung Wahl am 6. Juni in Sachsen-Anhalt ist vereint. Zugleich ist der Mietendeckel für die Linkspartei daher mehr als ein das Paradebeispiel für linke Realpoli- regionales Ereignis – nämlich ein Test, tik, die per Markteingriff der Mehrheit ob der Abwärtstrend gebremst werden nutzt (auch wenn es noch das für den kann. Sommer erwartete Urteil des Bundes- Im Bund verläuft die innerparteili- verfassungsgerichts abzuwarten gilt). che Frontlinie heute nicht mehr zent- In den westlichen Flächenländern ral entlang der Frage Reformer versus mangelt es dagegen, wie die jüngsten Fundamentalopposition; die inneren Wahlen in Rheinland-Pfalz und Ba- Spaltungen sind diversifiziert. In der den-Württemberg gezeigt haben, noch Ära Kipping-Riexinger haben sich zwei immer an Verankerung. NRW ist mitt- Hufeisenformationen gebildet. Ein Teil lerweile zwar der mitgliederstärkste des alten Reformerlagers um Dietmar Landesverband der Partei – doch bei Bartsch hat ein Bündnis mit Sahra Wahlen kommt die Partei auch dort Wagenknecht geschlossen, die Kapi- nicht voran. Bei den Kommunalwah- talismuskritik mit rüden Anklagen des len 2020 verlor die Partei ein Viertel ih- linksliberalen Milieus verbindet. Dieses

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2021 Kommentare 11

Hufeisen war zuerst Ausdruck macht- wird zudem mit einem für Linke typi- taktischer Befriedung und diente der schen Weltanschauungsfuror ausge- Verhinderung eines neuen Schismas tragen. Das zeigt nicht zuletzt Sahra wie in Göttingen. Doch in dem neu- Wagenknecht neues Buch „Die Selbst- en Konflikt, der mit den Schlagwor- gerechten“, eine scharfe Abrechnung ten Identitätspolitik versus Traditions- mit innerparteilichen Kritiker*innen. linker oder soziale Bewegung versus Dieser Konflikt ist beides: ein in Klassenpolitik grob skizziert ist, haben Feuilleton-Debatten zugespitzter Dis- sich Teile der Reformer auch inhaltlich kurs und ein realer Konflikt. Politi- an Wagenknecht angenähert. Paral- sche Parteien können in identitätspoli- lel dazu dockten Teile der alten Fun- tisch aufgeladenen Konflikten, wie die di-Fraktion etwa um Tobias Pflüger im Thierse-Debatte in der SPD zeigt, viel Kipping-Lager an. verlieren, aber nur wenig gewinnen. Ein neuer Spieler ist dagegen die Be- Es gilt daher zu moderieren, Personal wegungslinke, die mit Marx 21 und der für verschiedene Milieus anzubieten, Antikapitalistischen Linken, den al- die intern friedlich koexistieren. ten Truppen der Fundis, verbündet ist und radikalen Klimaschutz und iden- titätspolitische Forderungen mit An- Große strategische Versäumnisse tikapitalismus verknüpft. Diese Strö- mung ist ein echter Machtfaktor. Beim Die Linkspartei ist jedoch noch immer Parteitag im Februar setzte sie bei der weit davon entfernt, eine organisch Wahl des erweiterten Vorstands eige- verbundene Synthese auseinanderstre- nes Personal durch und bescherte dem bender Milieus zu verkörpern. Im geschrumpften Wagenknecht-Anhang Wahljahr 2021 werden nun die strategi- empfindliche Niederlagen. Wagen- schen Versäumnisse der vergangenen knecht verliert an Einfluss, auch weil Jahre sichtbar. Die Kräfte, die prakti- sie lieber Kolumnen für den „Focus“ sche Reformpolitik anstreben, finden schreibt, als sich im oder sich in verschiedenen mehr oder weni- auf Parteitagen blicken zu lassen. ger zerstrittenen Gruppen wieder. Wagenknechts Bedeutungsverlust Zwar gibt es seitens der Parteiche- sollte man aber nicht mit einem Plus an fin Susanne Hennig-Wellsow keinen Regierungsfähigkeit verwechseln. Das Mangel an Ankündigungen, eine Mit- Bild der Partei ist vielschichtig, fast ver- te-links-Regierung anzustreben. Doch wirrend. Sie befindet sich in einer para- ein steuerndes Zentrum, das die Par- dox anmutenden Lage: Obwohl sie kei- tei regierungsfähig machen könnte ne Volkspartei klassischen Typs ist, die und dafür auch den Konflikt mit sek- Arbeitslose und Gutverdiener, Bauern tiererischen Gruppen riskiert, exis- und Banker anspricht, hat sie das Prob- tiert nicht. Nun rächt sich auch, dass lem einer Volkspartei in einer individu- die Regierungswilligen jahrelang die alisierten Gesellschaft: die wachsende Außenpolitik ihren Gegner*innen Unverträglichkeit von Milieus, die sie überlassen haben. Dort prägen Sevim zu repräsentieren versucht. Dag˘ delen, Heike Hänsel und Andrej An wen wendet sie sich vor allem? Hunko das Bild. Ein affirmatives Russ- Treuherzige Beschwörungen der alten land-Bild, kanonisierte USA-Kritik als und neuen Parteispitze, man stehe für „Reich des Bösen“ und der Rückzug al- Fridays for Future, aber auch für die Ge- ler Bundeswehrsoldaten auch aus frie- werkschaften, für radikalen Antiras- denserhaltenden Einsätzen sind hier sismus, aber auch für Hartz-IV-Emp- Dogmen, an denen grün-rot-rote Ver- fänger*innen, verdecken die neuen handlungen schnell scheitern wür- Bruchlinien nur notdürftig. Der Streit den. Paul Schäfer, bis 2013 Außenpoli- um Identitäts- versus Klassenpolitik tikexperte der Linkspartei im Bundes-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2021 12 Kommentare tag, hat kürzlich in der taz angemerkt: und die Linkspartei hat die nötigen „Die Alles-oder-nichts-Debatten in Klärungsprozesse versäumt. Dass drei der Partei wirken wie Glaubenskrie- Viertel ihrer Wähler*innen eine Re- ge. Wenn es um Russland, China oder gierungsbeteiligung befürworten, wie andere autoritäre Regime geht, scheint Umfragen verlässlich zeigen, spielt in bei manchen immer noch zu gelten: den Selbstverständigungsdebatten der Der Feind meines Feindes ist mein Partei eine erstaunlich nebensächliche Freund. Zur Glaubwürdigkeit einer Rolle. linken Partei gehört, dass die univer- So haben wir es mit einem irritieren- sellen Menschenrechte Basis des Han- den Widerspruch zu tun: Ein Sieg der delns sein müssen.“ Doch hier kommt Union scheint unsicher; die Lage ist vo- die Linkspartei keinen Millimeter vo- latil. Die Korruptionsfälle und Merkels ran. Der linke Flügel steckt geistig in Abtritt könnten das kaum Vorstellbare einem verholzten Antiimperialismus möglich machen: eine Regierung oh- fest, der unbrauchbar ist, um die mul- ne CDU/CSU. Ein Mitte-links-Bündnis tipolare Welt des 21. Jahrhundert zu könnte auch dafür sorgen, dass besse- verstehen. Die für das Regieren offe- re Bezahlung von Pflege und Carejobs ne Fraktion hat dagegen die Außenpo- nicht nur Sonntagsreden bleiben. In- litik vernachlässigt und keine Erzäh- haltlich ist eine ökosoziale Regierung lung entworfen, die die Tradition als in Kernfragen wie Wirtschaft und Fi- Friedenspartei mit einer realistischen nanzen weit plausibler als eine Ampel, außenpolitischen Agenda verbinden in der sich in diesen Bereichen Kompro- würde. Stefan Liebich, einsamer Realo misse zwischen SPD und FDP nur als in der Außenpolitik, hat seinen Job als Verrat oder Kapitulation vorstellen las- Politiker inzwischen an den Nagel ge- sen. Auch die Renaissance des Natio- hängt. Es spricht viel dafür, dass Mat- nalstaates, der in der Krise der einzig thias Höhn, der nun energisch eine re- verlässliche Akteur ist, öffnet Möglich- alistische Außenpolitik einfordert, als keiten für eine Mitte-links-Regierung. sein Nachfolger eine ähnliche Rolle Doch ideologische Halsstarrigkeit spielen wird: verdienstvoll und vergeb- eines Teils der Linkspartei und Man- lich. Der Parteitag ließ Höhn jedenfalls gel an strategischem Weitblick der Re- als Vizechef durchfallen und wählte gierungswilligen lassen es unwahr- lieber Tobias Pflüger, der mit den im- scheinlich erscheinen, dass solche lin- mer gleichen Textbausteinen eine fun- ken Antworten tatsächlich real wer- damentaloppositionelle Trutzburg be- den. „Die Wahlen im Jahr 2021 könn- festigt. Dabei könnte die Linkspartei, ten darüber entscheiden, ob staatliche würde sie danach suchen, derzeit recht Politik ihre Gestaltungsräume gegen- viel Übereinstimmung ihrer friedens- über Marktprozessen und wirtschaftli- politischen Grundideen mit der SPD cher Macht nutzen will und in welcher finden, vor allem mit Fraktionschef Richtung dies erfolgen soll. Die politi- Rolf Mützenich. Ein Abzug der Atom- sche Grundkonstellation hat sich für waffen und eine reale, und nicht wie so linke Antworten weit geöffnet“, stellt oft nur angekündigte, Reduzierung der der scharfsinnige Horst Kahrs von der Waffenexporte könnte ein grün-rot-ro- Rosa-Luxemburg-Stiftung fest. Aber tes Konsensprojekt werden. anstatt die Chance zu nutzen, bewirbt Ernsthafte Versuche in Richtung ei- sich die Linkspartei bereits jetzt in dem ner Mitte-links-Regierung scheiterten blame game, an wem eine Mitte-links- bislang verlässlich an der SPD. 2021 Regierung scheitern musste, zielstrebig sieht die Lage anders aus. Die SPD um den ersten Platz. Und bleibt damit, scheint sich einer Mitte-links-Regie- wieder einmal, unter ihren politischen rung nicht mehr zu verschließen. Doch Möglichkeiten. Für progressive Politik die Grünen wollen lieber mit der Union – sind das keine guten Aussichten.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2021