Stiftung Preußische Schlösser und Gärten -Brandenburg. Jahrbuch Bd. 1 1995/1996

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Den Bauten der industriellen Revolution, die in der Regierungszeit Frie- drich Wilhelms IV. errichtet worden sind, eines Königs, den bereits die Mitwelt und vor allem die Nachwelt als Romantiker auf dem Thron charakterisiert hat, und dies sowohl im affirmativen als auch im pejorativen Sinne des Wortes, ist von der Kunstgeschichte ein weit- aus geringeres Interesse entgegen gebracht worden als den Bauten, die im persönlichen Auf- trag des Königs und des Adels entstanden.1 Doch muß man sich klar machen, daß in sei- ner knapp zwanzigjährigen Regierungszeit Preußen zum führenden Industriestaat auf dem europäischen Kontinent avancierte, ein Aufstieg, der vor allem dem Eisenbahnbau verdankt werden muß, dem Eisenbahnbau, der, wie Wolfgang Klee 1982 darlegte, dazu führte, daß die Königlich Preußische Eisenbahnverwaltung, als sie 1920 aufgelöst wurde, der größte Eisenbahn- und Verkehrsbetrieb der Welt war.2 Jedoch muß einschränkend zum Titel mei- nes Beitrages gesagt werden, daß nicht dem persönlichen Regiment des Königs, nicht allein der preußischen Regierung, sondern – im Gegenteil – der oppositionellen Bourgeoisie, zu der vor allem die Vertreter der rheinischen Großindustrie gehörten, der Eisenbahnbau ver- dankt werden muß. In diesem Zusammenhang sei an den berühmten Ausspruch des rhei- nischen Industriellen Friedrich Harkort erinnert, daß die Lokomotive der Leichenwagen des Absolutismus sei, einen Ausspruch, der in dem bekannten kleinen Gemälde Alfred Rethels (Abb. 1), um 1834 entstanden, seine treffende Verbildlichung erfahren hat.3 Dargestellt ist die mittelalterliche Burg in Wetter an der Ruhr, die sich in eine Gußstahlfabrik verwandelt hat und weiter verwandelt. Wie auf der einen Seite die Fabrik wächst, in dem Maße ver- schwinden auf der anderen Seite die mittelalterlichen Mauern der Burg. Daß es gerade die oppositionelle Bourgeoisie war, die den Eisenbahnbau in Preußen for- cierte, zeigt eindringlich die Tatsache, daß Friedrich Wilhelm IV. nach den Märzereignis- sen von 1848 die Männer zu Ministern berief, die vorher seinen tiefen Abscheu erregt hat- ten, nämlich die rheinischen Liberalen. Mit ihrem Wortführer David Hansemann wurde im Sommer 1848 eine Regierung gebildet, das sogenannte Ministerium der Tat, deren wich- tigste Maßnahme die Forcierung des Baues der Ostbahn war, einer der wenigen Staats- 168 Hans-Joachim Kunst

Abb. 1 Alfred Rethel: Burg Wetter mit der Harkortschen Fabrik,Duisburg DEMAG AG

bahnen Preußens zu dieser Zeit. Zu diesem Zwecke verpflichtete die liberale Regierung über 1000 Demokraten aus Berlin zum Bau der Bahn, eine Maßnahme, die nicht besser den revolutionären Impetus absorbieren könnte: Gegen Demokraten helfen also nicht nur Sol- daten!4 Wie bereits angedeutet, lag der Bahnbau in Preußen größtenteils in der Hand von Privatgesellschaften, von denen die Köln-Mindener – durch die Monographie von Levin Schücking auch in die Literaturgeschichte eingegangen –,5 die Rheinische Bahn mit der wichtigen Strecke Köln-Antwerpen, dem sogenannten Eisernen Rhein, die Bergisch-Mär- kische, die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn, die Berlin--Magdeburger Bahn und schließlich die Berlin-Hamburger Bahn, die spätere Paradestrecke der Deutschen Reichsbahn besonders zwischen den beiden Weltkriegen,6 die wichtigsten waren. Zwar liest man immer wieder, daß die Disposition der Kölner Rheinbrücke in der Achse des Domes und die Plazierung des Bahnhofes anstelle des Gartens des Jesuitenordens in die unmittelbare Nähe des Domes einem Wunsch des Königs folgten,7 doch ist die Ent- scheidung über den Bau des Bahnhofs und der Brücke an den jetzigen Stellen wohl durch die Kölner Stadtverordnetenversammlung mit einer Stimme Mehrheit herbeigeführt wor- Friedrich Wilhelm IV. als Auftraggeber von Bahnhöfen und Brücken 169 den. Dabei soll die rheinische Bourgeoisie das Argument gebraucht haben, der Kathedrale des Rückschritts (dem Dom) müsse die Kathedrale des Fortschritts (der Bahnhof) entge- gengestellt werden.8 Übrigens hätte sich der König, der ja auch den Wiederaufbau des tor- sohaften Domes initiierte und förderte und an einer baldigen Beilegung des schon unter seinem Vater begonnenen Kirchenstreites interessiert war, eine solche, die Kirche brüskie- rende Disposition nicht erlauben können, zumal die Plazierung des Bahnhofes und der Brücke in die Nähe des Domes gerade in der katholischen Publizistik eine scharfe Kritik fand. So liest man im Domblatt von 1859: »Wir können noch manchen Umschwung der Ideen erleben […] und der große eiserne Käfig, der gegenwärtig unmittelbar dem Dom gegenüber zur Verbindung der beiden Ufer des schönen vaterländischen Stroms errichtet wird, muß doch manchem die Überzeugung gewähren, daß es nicht recht feststeht mit unserer gegenwärtigen Kunstbegeisterung, mir wird angst und bange, […] wenn ich das Ungeheuer betrachte, welches so verhängnisvoll dort lungert, so recht eine Signatur der Gegenwart mit ihren ordinären Ideen, der Engbrüstigkeit des materiellen Strebens«.9 Außerdem muß bedacht werden, daß beim Fahren über die Brücke nicht der König, son- dern der Lokomotivführer den Dom zuerst sieht und die Einfahrt in die Stadt keine via tri- umphalis ist.10 Heinz Schönemann hat mich darauf hingewiesen, daß der in der Kutsche fahrende König den Blick des vor ihm sitzenden Kutschers gleichsam dirigiert. Der König weiß um den Weg, so daß der Kutscher – es mag paradox klingen – dem Blick des Königs folgt. Anders gesagt: beim König liegt der Vorausblick, beim Kutscher der Nahblick. Wenn man so will, kann man von einer Unterscheidung zwischen der vita contemplativa, die beim König liegt, und der vita activa des Kutschers sprechen. Ob diese Vorstellung auf die Eisenbahnfahrt des Königs zu übertragen ist, weiß ich nicht, zumal der Weg der Eisenbahn durch die Stadt, wie erwähnt, keine via triumphalis ist, sondern wie jeder sich leicht über- zeugen kann, meist an den Hinterhöfen vorbei führt. Hinzu kommt, daß das Gitterwerk der Kölner Rheinbrücke, die im Volksmund als Mausefalle bezeichnet wurde, im Reisen- den den Eindruck erwecken mußte, als fahre er durch einen Tunnel über den Rhein auf die Stadt zu (Abb. 2a, b). Aber auch der Wiederaufbau des Domes ist eine Großtat der technischen Revolution. Wer das Glück hat, vom Dombaumeister Arnold Wolff oder Rolf Lauer in den Dachstuhl des Kölner Doms geführt zu werden, vergißt, daß er in einer mittelalterlichen Kathedrale steht, sondern er muß glauben, in eine Fabrikhalle des 19. Jahrhunderts geraten zu sein.11 Die Dombrücke, bereits 1847 geplant, aber erst zwischen 1855 und 1859 ausgeführt, und ihre älteren Schwestern, die zwischen 1851 und 1857 über die Weichsel und Nogat geschla- genen Gitterträgerbrücken, galten als Höchstleistungen des preußischen Eisenbahn- brückenbaues.12 Darüber ist aber vergessen worden, daß bereits zwischen 1843 und 1851 die längste Brücke in Preußen, ja in Deutschland, errichtet worden war, die 1590 Meter lange Eisenbahnbrücke in Wittenberge über die Elbe (Abb. 3).13 Sie liegt im Zuge einer Eisenbahnverbindung, die über Magdeburg das mitteldeutsche Industrierevier an den Ham- burger Hafen bindet, einer Verbindung, die vor allem der Initiative des Magdeburger Ober- bürgermeisters August Wilhelm Francke zu verdanken ist, der sich auch durch die Anlage 170 Hans-Joachim Kunst

Abb. 2a Köln, Dombrücke um 1860, Lithographie nach einer Zeichnung von Otto Hoppe

Abb. 2b Köln, Dombrücke, Brückenportal auf der Deutzer Seite, um 1900 Friedrich Wilhelm IV. als Auftraggeber von Bahnhöfen und Brücken 171

Abb. 3 Wittenberge, Eisenbahnbrücke über die Elbe, Stahlstich um 1855

Abb. 4 Wittenberge, Eisenbahnbrücke über die Elbe: Längsschnitt

des ersten von Peter Joseph Lenné konzipierten Volksparks in der Geschichte der Garten- kunst einen Namen gemacht hat.14 Die ersten Arbeiten zum Bau dieser Eisenbahnlinie und der Brücke über die Elbe bei Wittenberge begannen im August 1843. Aber erst drei Jahre später, 1846, gelang es, für den Bau dieser Bahnlinie und vor allem der Brücke ein Aktienkapital in Höhe von 4.5 00 000 Talern aufzubringen, wobei allein ein Drittel der Summe für den Bau der Wit- tenberger Elbbrücke veranschlagt wurde. Denn es waren nicht nur der Elbstrom und das weite Überschwemmungsgebiet, sondern auch die Mündungsarme der Stepenitz und Kart- hane, der wichtigsten Flüsse der Prignitz, zu überbrücken. Nach verschiedenen Plänen 172 Hans-Joachim Kunst wurde unter der Leitung des Regierungs- und Baurates Hans Victor von Unruh 1847 ein Entwurf vorgestellt, der im wesentlichen auch zur Ausführung kam. Hans Victor von Unruh, Sohn eines preußischen Generals, hatte bereits seine Sporen im Eisenbahnbau in Schlesien und Ostpreußen verdient, bevor er die Leitung des Baus dieser Eisenbahnstrecke übernahm. Als Präsident der preußischen Nationalversammlung galt er als die Personifika- tion des allmählich Zusammenwachsens von Adel und Besitzbürgertum und ist unter dem Spitznamen »Der kleine Metternich der Bourgeoisie« in die Geschichte eingegangen.15 Für die Wittenberger Strom- und Flutbrücke waren zunächst gußeiserne Überbauten vorgesehen, doch das Revolutionsjahr 1848, das unvorhergesehene Geldschwierigkeiten heraufbeschwor, verlangte nach einem billigen Material, weshalb anstelle gußeiserner höl- zerne Überbauten traten. Der fertiggestellte Brückenbau setzte sich aus folgenden Teilen zusammen: 1. Die Brücke über die Stepenitz aus 5 Steingewölben von je 18,90 m. 2. Ein Damm von ca. 345 m Länge. 3. Die Drehbrücke mit zwei Öffnungen von 12,60 m lichter Weite auf einem massiven 8,80 m starken Drehpfeiler in der Mitte. 4. Die Strombrücke mit 14 Öffnungen, die durch hölzerne Howe-Träger überbrückt wurden und von denen drei je 40 m und elf je 54 m Stützweite aufwiesen. Schließ- lich 5. die Flutbrücke aus 12 Steingewölben von je 18,90 Weite.

Die Brücke, die zunächst nur eingleisig ausgeführt wurde, deren Pfeiler bereits auf zwei Gleise dimensioniert wurden, ist 1851 dem Verkehr übergeben worden. Sie war nach der Bauweise des amerikanischen Brückenbauers und Konstrukteurs William Howe konstru- iert worden.16 Sein in der Geschichte des Brückenbaues berühmt gewordener Howe-Trä- ger war eine Holzkonstruktion, die sich besonders beim Brückenbau in den USA bewährt hatte. Er wurde die Grundlage für Brücken aus eisernen Gitterträgern, so etwa für die Köl- ner Dombrücke und die erste Weichselbrücke in Dirschau im Zuge der Berlin mit Ost- preußen verbindenden Ostbahn unter der Leitung des Architekten Karl Lentze aus Soest in Westfalen, deren Bau 1851 begonnen wurde.17 Wie beim Brückenbau üblich, wurden zuerst die Pfeiler, die man – wie bereits gesagt – schon für ein zweites Gleis dimensionierte, hoch geführt und die Gewölbe der Stepenitz- brücke errichtet. Danach konstruierte man die Drehbrücke. Eine Anzahl von Pfeilern mußte auf Pfahlrosten gegründet werden, wozu allein 2000 Pfähle benötigt wurden. Im Anschluß daran wurde auf dem Bauhof des Ratszimmermeisters Friedrich Barth nur ein Brückenfeld konstruiert, um die Tragfähigkeit zu prüfen. Die Tragwände waren etwa sechs Meter hoch und bestanden aus je drei nebeneinander liegenden oberen und unteren Streckbäumen, zwischen denen man in der üblichen Weise hölzerne Kreuzstreben und schmiedeeiserne Hängestangen anbrachte. Die unten liegende Fahrbahn wurde von 32,5 cm hohen und 25 cm breiten Querbalken getragen, die auf den unteren Streckbäumen ruhten. Auf dem Quer- balken lagen die Langschwellen mit den Schienen, ein doppelter Bodenbelag dazwischen Friedrich Wilhelm IV. als Auftraggeber von Bahnhöfen und Brücken 173

Abb. 5 Wittenberge, Stellwerk an der Bahnstraße

gestattete die Benutzung der Brücke auch durch Straßenfuhrwerke. Die beiden Tragwän- de waren oben durch doppelte Kreuzstreben und waagerechte Querbolzen miteinander verbunden. Die Erfindung William Howes bestand darin, daß er bereits ein von seinem Landsmann Colonel Stephan Long erfundenes frame work – zu deutsch Fachwerk – ver- bessert und vor allem vereinfacht hatte, indem er die hölzernen Pfosten durch eiserne Hän- gestangen ersetzte. Dadurch konnten die einzelnen Streben derart unter Spannung gesetzt werden, daß in ihnen auch durch die Verkehrsbelastung keine Zugspannungen entstanden. Die verhältnismäßig einfache und vor allem übersichtliche Konstruktion der Howe-Träger bot die Möglichkeit, trotz kurzer und nicht sehr starker Hölzer dennoch große Spannwei- ten zu überbrücken.18 Das Howesche System, das wohl in der Wittenberger Brücke seine klarste Form erhal- ten hat, bestand darin, trotz geringen Materialaufwandes ein Höchstmaß an statischer Sicherheit zu gewinnen. Somit gehörte die Wittenberger Brücke zu den beachtlichsten Leistungen im Brückenbau ihrer Zeit. Dennoch wird die Wittenberger Elbbrücke nicht allein von einem technischen Know- how bestimmt, vielmehr gaben ihr die Brückenköpfe, die die Militärbehörde Preußens den Brückenbauern zur Auflage machte, einen festungsartigen Charakter, wobei auch archi- tektonische Meisterleistungen vollbracht wurden (Abb. 4). So wurde die polygonale Stirn- seite des ersten Strompfeilers von einer Balustrade abgeschlossen, die als Geländer des der Brücke beigeordneten Fußgängersteiges diente. Die darüber aufragende Flankenseite des Brückentores nahm die Form des Strompfeilers auf, und um dessen flaches zeltförmiges Dach legte man eine durch Blendarkaden gegliederte Balustrade. Der Pfeiler selber erschi- en wie ein Relikt oder – genauer gesagt – wie ein Zitat einer Steinbogenbrücke.19 Dieses aus gelben Fabrikziegeln errichtete Brückentor, das wie ein mittelalterliches Stadttor aussah, ist übrigens Vorbild für viele Stellwerkbauten geworden. Leider sind diese Stellwerke fast völlig verschwunden und durch moderne Bauten ersetzt worden. Doch hat 174 Hans-Joachim Kunst

Abb. 6 Wittenberge, Bahnhofsempfangsgebäude, Westseite das Stellwerk am Bahnübergang der Bahnstraße in Wittenberge viele Formen mit dem Brückentor gemeinsam (Abb. 5).20 Schließlich gehörte zur ersten Wittenberger Eisen- bahnbrücke die Drehbrücke an der Wittenberger Seite, um den damals auf der Elbe ver- kehrenden Segelschiffen mit ihren hohen Masten eine sichere und ungehinderte Durchfahrt zu gewähren. Sie ruht auf einem starken Strompfeiler und erinnert in ihrer balkenähnli- chen Form an eine mittelalterliche Zugbrücke. Diese Eisenbahnbrücke bestand bis zum Jahre 1883, als die hölzernen Howe-Träger durch eiserne Schwedlerträger ersetzt wurden.21 Somit war die Wittenberger Eisenbahnbrücke über die Elbe das erste Großbauwerk in Deutschland, das ein solches in den USA zum Vorbild hatte. Die Stadt Wittenberge, die sich zu einem der bedeutendsten Eisenbahnknotenpunkte in der Mark Brandenburg entwickelte – es stießen hier die Berlin-Hamburger mit der Mag- deburg-Hamburger Bahn zusammen –,22 besaß ein der formal aufwendigsten Bahnhofs- empfangsgebäude aus der Frühzeit des Bahnhofbaues.23 Es ist zwischen 1845 und 1850 in einem Keilbahnhof errichtet worden, so daß beide Längsfronten auf die Gleise ausgerich- tet sind und die südliche, der Stadt zugewandte Schmalseite die Eingangsfront bildet (Abb. 6). Dieses bereits von Manfred Berger vorgestellte Gebäude geht wie der teilweise heute noch erhaltene Hamburger Bahnhof in Berlin auf einen Entwurf des Baudirektors der Berlin-Hamburger Bahngesellschaft, Friedrich Neuhaus, zurück. Das dreigeschossige Gebäude erhebt sich über einem H-förmigen Grundriß, wobei die langen Seitenflügel von konsolengetragenen Dreiecksgiebeln bekrönt werden. Das Gebäude hat aber nicht wie bei einem Schloß oder einer Villa das erste Geschoß, sondern das Erdgeschoß zum piano nobi- le erhoben, indem es dieses durch einen attikaartigen Gesimsstreifen von den übrigen Friedrich Wilhelm IV. als Auftraggeber von Bahnhöfen und Brücken 175

Abb. 7 , Kollegiengebäude

Geschossen absetzt. Auffallend ist das Fehlen eines Mittelrisalites, so daß hier deutlich die Andersartigkeit gegenüber einem Schloß oder Regierungsgebäude hervorgehoben wird. Man vergleiche nur die Längsfront des Empfangsgebäudes mit dem bereits früher zwischen 1824 und 1834 errichteten Kollegiengebäude in Schwerin, dem Frühwerk des Schweriner Hofarchitekten Georg Adolph Demmler.24 Dieses Gebäude, das dem Wittenberger verblüf- fend ähnlich ist, unterscheidet sich von ihm vor allem durch die Tempelfront des Mittelri- salites (Abb. 7). Aber auch der Unterschied zum Ausgangsbahnhof dieser Eisenbahnlinie, dem bereits erwähnten Hamburger Bahnhof in Berlin, tritt deutlich hervor, indem in des- sen Front, die der des Wittenberger Empfangsgebäudes fast gleich ist, eine von zwei Tür- men flankierte Torarchitektur integriert ist und sie somit der klassischen Bahnhofsikono- graphie folgt (Abb. 8).25 Diese Türme mit ihren galerieartigen Abschlüssen – sie erinnern an die Türme der etwas späteren Orangerie Friedrich Wilhelms IV. im Park von Sanssouci in Potsdam26 – verdeutlichen, daß das Empfangsgebäude nicht nur als Tor Abfahrts- und Ankunftsort der Bahnreisenden verbildlicht, sondern auch eine Belvederefunktion aufweist, die Willkommen und Abschied, Nähe und Ferne versinnbildlicht.27 So steht die Fassade des 176 Hans-Joachim Kunst

Abb. 8 Berlin, Hamburger Bahnhof, Haupteingangsfront nach einem Stich von 1856

Hamburger Bahnhofs in Berlin für Fahren (die beiden Toröffnungen waren für die Aus- fahrten und Einfahrten der Züge bestimmt) und Sehen, wobei zu bedenken ist, daß das Bel- vederezitat gerade die neue Qualität der Eisenbahn exakt veranschaulicht, eine Qualität, wie sie Goethe in seinem Gedicht: »Glückliche Fahrt« vorweggenommen hat: Geschwinde, geschwinde, […] es naht sich die Ferne, schon seh ich das Land.

Anmerkungen

1 Die bisher wichtigste Arbeit zur Architektur, die in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. entstanden ist, ist die von Eva Börsch-Supan: Berliner Baukunst nach Schinkel 1840–1870, Mün- chen 1977. Jedoch sind von ihr die Bauten der industriellen Revolution mehr oder weniger in den Hintergrund gerückt. Eine gewichtige Arbeit zu diesem Thema ist das kürzlich in der Reihe »Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin« erschienene Buch von Werner Lorenz zu nen- nen: Konstruktion als Kunstwerk. Bauen mit Eisen in Berlin und Potsdam 1797–1850, Berlin 1995. Über den Brückenbau informieren die Bücher von Heinz Pottgießer: Eisenbahnbrücken aus zwei Jahrhunderten, Basel, Boston, Stuttgart 1985, und Martin Trautz: Eiserne Brücken im 19. Jahrhundert in Deutschland, Düsseldorf 1991. Der Bahnhofsbau des 19. Jahrhunderts wird in dem dreibändigen Werk von Manfred Berger: Historische Bahnhofsbauten. Stadtbahnhöfe des Historismus, München 1985, vorgestellt. Friedrich Wilhelm IV. als Auftraggeber von Bahnhöfen und Brücken 177

2 Wolfgang Klee: Preußische Eisenbahngeschichte, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1982, S. 7. 3 Horst Mönnich: Aufbruch ins Revier – Aufbruch nach Europa – Hoesch 1871 –1971, München 1971, S. 51 ff. Danach wird der berühmte Ausspruch Harkorts Schwiegersohn Louis Berger, Mit- glied der Fortschrittspartei, zugeschrieben. – Zum Bild s. Deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts, Ausstellung, Kunsthalle Köln, 1971, S. 48. 4 Wolfgang Klee (Anm. 2), S. 114 ff. Dort heißt es u. a. »Hansemann ließ u. a. den Bau der Ostbahn zwischen Dirschau und Schneidemühl wieder aufnehmen. Allein aus Berlin wurden über 1000 Demokraten für diesen Zweck Richtung Osten verbracht. Von ihnen hatte man in Berlin fortan nichts mehr zu befürchten, weder Revolution noch Kravalle. Vom Goldschmied über den Buchhändler bis zum Literaten waren die unterschiedlichsten Berufe vertreten. Um Unruhen vorzubeugen, war das Militär an den Baustellen gut repräsentiert, da konnte in der Provinz weiterhin ruhig etwas Revolution gespielt werden.« 5 Levin Schücking: Eine Eisenbahnfahrt von Minden nach Köln, 1856, wieder aufgelegt Minden 1987. 6 Manfred Berger (Anm. 1), S. 137 ff., s. auch Wolfganf Klee (Anm. 2), S. 17 ff. Die erste preußi- sche Bahn war die Berlin-Potsdamer Eisenbahn, deren Linie am 29. 10. 1838 eröffnet wurde. Diese wurde bis 1848 nach Magdeburg verlängert. 7 Ulrich Krings: Der Kölner Hauptbahnhof, Arbeitsheft 22 des Landeskonservators Rheinland, 1977, S. 11 ff. Dort heißt es: »Die Konzession zum Brückenbau erhielt die ›Köln-Mindener‹ als Bauherrin am 21. 5. 1854, wobei sich die Staatsregierung sowohl die Ernennung des technischen Bauleiters als auch die Bauaufsicht vorbehalten hatte. Die Kosten sollten zwischen den beiden Bahngesellschaften [Rheinische und Köln-Mindener] und der Stadt Köln aufgeteilt werden, wobei die Bauherrin den größten Anteil zu tragen hatte. Der Baubeginn war der 6. 6. 1855, die Grund- steinlegung durch Friedrich Wilhelm IV. am 3. 10. 1855, die Einweihung im Beisein des Prinzre- genten Wilhelm in Vertretung des bereits schwer erkrankten Königs am 3. 10. 1859.« Ulrich Krings führt die heutige Standortwahl auf einen Wunsch des Königs zurück. Auch bei Judith Breuer: Die erste Kölner Eisenbahnbrücke. Ein Beitrag zur Geschichte des Brückenbaus im 19. Jahrhundert, in: Rheinische Denkmalpflege, 1987, S. 179 liest man: »Um die Standortfrage zu klären, fand Anfang 1849 in Köln eine Zusammenkunft staatlicher und städtischer Vertreter unter Vorsitz des Regierungspräsidenten Eduard von Möller statt. Zur Beratung lag das vom Köl- ner Hafenkommissar Jakob Rennen erstellte Gutachten über die Strombettverhältnisse an den verschiedenen zur Diskussion stehenden Brückenstandorten vor. Dieses Gutachten wies den domnahen Standort als den für die Brückengründung geeignetsten aus. Die städtischen Vertreter waren jedoch von ihren Bedenken nicht abzubringen. Daraufhin beauftragte der Stadtrat seiner- seits einen britischen Ingenieur mit einem neuen Gutachten. Dieser kam in seinem Bericht vom 26. August 1849 zu demselben Ergebnis wie der Hafenkommissar Rennen und Schwedler. Auch damit waren die Vorbehalte nicht beseitigt. So brachte der Kölner Dombaumeister Ernst Friedrich Zwirner (1802–1861) vor, daß bei einem feindlichen Bombardement vorrangig die Brückenköpfe und damit der Dom bedroht wären. Die Kontroverse wurde schließlich obrigkeitlich entschieden. Als das Ministerium am 30. 3. 1850 einen internationalen Wettbewerb ausschrieb, legte es in den Bedingungen die Lage der Brücke fest auf die ›Richtung der Längsaxe des Cölner Domes‹. Dafür sprach sich dann am 29. April des- selben Jahres auch König Friedrich Wilhelm IV. aus.« Siehe auch Hans Welters, Helmut Lobeck: Kleine Geschichte der Stadt Köln, Köln o. J. (um 1960), S. 141 ff.: »Die Lage der Eisenbahnbrücke und des Bahnhofs hatte weitreichende Folgen. 178 Hans-Joachim Kunst

Wirtschaftlicher Mittelpunkt Kölns waren bisher der Heumarkt, der Alte Markt und das Gebiet zwischen ihnen und dem Rhein. Nun aber wanderte dieser Mittelpunkt allmählich in die Gegend des Bahnhofs ab und ist dort bis heute geblieben. So entstand hier ein Sammelpunkt des Verkehrs, durch den der Dom aus seiner bisherigen Stille herausgenommen […] wurde. Schließ- lich wurden die Gebiete nördlich der Bahn, deren Schienen zunächst ohne eigenen Bahnkörper einfach über die Straßen verlegt wurden, vom wirtschaftlichen Mittelpunkt abgeschnürt.« 8 Soweit ich sehe, bedarf die Planungsgeschichte der Kölner Brücke, der Eisenbahntrasse und des Bahnhofs noch weiterer Forschungen. Wer konnte z. B. den Abriß der Häuser zur Herstellung des Bahndamms beschließen, doch nicht der König, er konnte nur genehmigen! Siehe dazu auch Hans-Joachim Kunst: Eine Bemerkung zum Katalog: Der Kölner Dom im Jahrhundert seiner Voll- endung, Köln 1980, in: Kritische Berichte 8, 1980, Heft 3, S. 61. 9 Heiko Steuer: Industrialisierung und Domvollendung, in: Der Kölner Dom im Jahrhundert seiner Vollendung, Bd. 2, Ausstellung, Köln 1980, S. 271. 10 Zum Blick aus dem Eisenbahnfenster s. Wolfgang Schievelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977, S. 54: Die Reisen- den, die im Unterschied zum Lokführer nur sehr eingeschränkte Möglichkeit haben, vorwärts zu schauen, sehen nur eine verflüchtigte Landschaft. 11 Dazu neuerdings die umfangreiche und gehaltvolle Darstellung von Thomas Schumacher: Groß- baustelle Kölner Dom. Technik des 19. Jahrhunderts bei der Vollendung einer gotischen Kathe- drale, Köln 1993. 12 Martin Trautz (Anm. 1), S. 63 ff. 13 Hans-Joachim Kunst: Moderne und konventionelle Formen in den Elbbrücken von Wittenberge und Dömitz, in: Hannoversches Wendland, 14. Jahresheft des Heimatkundlichen Arbeitskreises Lüchow-Dannenberg 1992/1993, Lüchow 1994, S. 7–22. Dort die weitere Literatur. 14 Die Bedeutung Franckes für die Entwicklung des Eisenbahnbaues s. Manfred Berger (Anm. 1), S. 145 ff. und Wolfgang Klee (Anm. 2), S. 52 ff. 15 Ernst Engelberg: Bismarck – Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985, S. 484 ff. 16 Heinz Pottgießer (Anm. 1), S. 75 ff. 17 Eva Sprecher: Betrachtungen zum Eisenbahnbau unter Friedrich Wilhelm IV., in: Friedrich Wil- helm IV. Künstler und König, Ausstellung, Potsdam, SPSG Berlin-Brandenburg, 1995, a. M. 1995, S. 175. 18 Hans Joachim Kunst (wie Anm. 13), S. 17. 19 Ebenda, S. 11. 20 Zur Geschichte des Stellwerks s. Erich Preuß: Stellwerke deutscher Eisenbahnen. Technik und Bauwerk, Stuttgart 1996. 21 Heinz Pottgießer (Anm. 1), S. 71 ff. 22 Die Stadt Wittenberge (nicht mit Wittenberg zu verwechseln) entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer bescheidenen Ackerbürgerstadt, die wie die 12 km nordöst- lich gelegene Hauptstadt der Prignitz, Perleberg, auf eine bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen- de Geschichte zurückblicken konnte, zu einer mittelgroßen Industriestadt. Die Koppelung von Hafen und Eisenbahn zog eine weitgefächerte Industrie an, der Höhepunkt dieser Entwicklung war die Entscheidung des amerikanischen Singer-Konzerns, hier 1903 eine Nähmaschinenfabrik zu etablieren. Damit setzte auch ein großzügiger Siedlungsbau ein, an dem bereits vor dem ersten Weltkrieg kein geringerer als Walter Gropius beteiligt war. Siehe Baukunst in Branden- burg, Köln 1992, S. 217 ff. Friedrich Wilhelm IV. als Auftraggeber von Bahnhöfen und Brücken 179

23 Die Literatur zum Wittenberger Bahnhof ist dürftig. Leider bin ich über die Forschungslage nicht genügend unterrichtet. Siehe Manfred Berger (Anm. 1), S. 179 ff. Auf Friedrich Neuhaus hat bereits Eva Börsch-Supan (Anm. 1), S. 42, aufmerksam gemacht. Der H-förmige Typus des Wit- tenberger Bahnhofsempfangsgebäudes kehrt in abgewandelter Gestalt in zeitgenössischen Bahn- hofsbauten wieder. Aber keiner von ihnen erreicht seine Größe und Monumentalität. So der gleichzeitig entstandene Bahnhof in Hagenow-Land an der Berlin-Hamburger Bahn (Manfred Berger [Anm. 1], S. 185) – er ist im Rundbogenstil errichtet – und der Hauptbahnhof in Lüneburg an der Strecke Lehrte–Marburg. Dieser – 1847 eröffnet – ist so konzipiert, daß ein eingeschossi- ger Mitteltrakt mit sieben rundbogigen Fenstertüren von zwei Seitentrakten flankiert wird (s. Manfred Berger [Anm. 1], Bd. II, S. 41 ff.). Diesem Bahnhof ist nach 1870 der »preußische« Westbahnhof als Ausgangspunkt der Bahnlinie Lüneburg-Wittenberge als monumentaler, italieni- sierender Villenbau mit einem von einem Dreiecksgiebel bekrönten Mittelrisalit, entgegengestellt worden. 24 Margot Krempien: Der Schweriner Schloßbaumeister G. A. Demmler 1804–1886. Eine Biogra- phie, Schwerin 1991, S. 22. 25 Ulrich Krings: Bahnhofsarchitektur. Deutsche Großstadtbahnhöfe des Historismus, München 1985. 26 Götz Eckardt: Die Orangerie im Park von Potsdam, Potsdam 1981, S. 6. 27 Ob die beiden Türme des Hamburger Bahnhofs auf die der Friedrich-Werderschen Kirche bezo- gen sind, wäre zu untersuchen, zumal, wie das bekannte Panoramabild von Eduard Gärtner zeigt, das Dach dieser Kirche ein beliebter Aussichtsort der Berliner war. Ich danke diesen Hinweis Ralf Hartmann, Berlin.

Abbildungsnachweis: Abb. 1–8: Bildarchiv Foto Marburg.