Plenarprotokoll 15/111

Deutscher

Stenografischer Bericht

111. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Inhalt:

Nachruf auf den Abgeordneten Matthias Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und Weisheit ...... 10019 A der Fraktion der FDP: Neue Chancen für den Mittelstand – Rahmenbedingungen Begrüßung der neuen Abgeordneten Elvira verbessern statt Förderdschungel aus- Drobinski-Weiß ...... 10019 B weiten Wahl der Abgeordneten Rita Streb-Hesse als – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit stellvertretendes Mitglied der Parlamentari- Homburger, , Rainer schen Versammlung des Europarates . . . . . 10019 C Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Fraktion der FDP: Statistiken reduzie- neten Hans-Peter Kemper, Wilhelm ren – Unternehmen entlasten – Büro- Schmidt (Salzgitter) und kratie abbauen (Wiesloch) ...... 10019 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Homburger, Joachim Günther (Plauen), nung ...... 10019 . . . . . D,. 10128 C Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Modellregionen Absetzung der Tagesordnungspunkte 13 und für Deregulierung und Bürokratieab- 15 ...... 10021 B bau Absetzung des Tagesordnungspunktes 26 a . . 10072 A (Drucksachen 15/351, 15/349, 15/357, 15/752, 15/1134, 15/3221) ...... 10021 C Klaus Brandner (SPD) ...... 10021 D Tagesordnungspunkt 4: Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) ...... 10024 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär BMWA 10026 D schusses für Wirtschaft und Arbeit (CDU/CSU) ...... 10028 D – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär BMWA 10029 A und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Offensive für den Mittelstand Rainer Brüderle (FDP) ...... 10029 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD) ...... 10030 D Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 10032 D Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Grundsätzliche Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 10034 C Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 10035 C statt neue Sonderregeln – Mittelstand umfassend stärken Birgit Homburger (FDP) ...... 10037 A Christian Lange (Backnang) (SPD) ...... 10038 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. , (CDU/CSU) ...... 10039 B II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 10041 A (FDP) ...... 10051 A Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD) ...... 10042 A Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10053 D Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 10043 C Georg Milbradt, Ministerpräsident (Sachsen) 10056 A

Tagesordnungspunkt 5: (SPD) ...... 10059 C a) Antrag der Abgeordneten , Cornelia Pieper (FDP) ...... 10060 C (Zingst), , wei- (BÜNDNIS 90/ terer Abgeordneter und der Fraktion der DIE GRÜNEN) ...... 10062 A CDU/CSU: Ostdeutschland eine Zu- kunft geben Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU) ...... 10063 C (Drucksache 15/3047) ...... 10045 C Siegfried Scheffler (SPD) ...... 10064 C b) Zweite und dritte Beratung des vom Bun- Arnold Vaatz (CDU/CSU) ...... 10066 B desrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundesna- Siegfried Scheffler (SPD) ...... 10066 C turschutzgesetzes Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU) ...... 10066 D (Drucksachen 15/776, 15/2956) ...... 10045 C Harald Wolf, Senator (Berlin) ...... in Verbindung mit 10068 C (SPD) ...... 10070 B

Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Fraktionen der SPD und des Tagesordnungspunkt 26: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nachhal- b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- tiges Wachstum in Ostdeutschland sichern brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur (Drucksache 15/3201) ...... 10045 D Änderung des Sozialgerichtsgesetzes in Verbindung mit (Drucksache 15/2722) ...... 10072 B c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Fünf- Zusatztagesordnungspunkt 4: ten Gesetzes zur Änderung des Futter- Antrag der Abgeordneten Joachim Günther mittelgesetzes (Plauen), Eberhard Otto (Godern), (Drucksache 15/3170) ...... 10072 B Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeord- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- neter und der Fraktion der FDP: Ostdeutsch- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- land als Speerspitze des Wandels – Leitli- zes zu dem Abkommen vom 14. Mai nien eines Gesamtkonzepts für die neuen 2003 zwischen der Bundesrepublik Länder Deutschland und der Republik Polen (Drucksache 15/3202) ...... 10045 D zur Vermeidung der Doppelbesteue- in Verbindung mit rung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 15/3171) ...... 10072 B Zusatztagesordnungspunkt 5: e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Antrag der Abgeordneten rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), zes zu dem Abkommen vom 8. Juli 2003 Eberhard Otto (Godern), weiterer Abgeordne- zwischen der Regierung der Bundesre- ter und der Fraktion der FDP: Keine Kürzun- publik Deutschland und der mazedoni- gen bei den Verkehrsprojekten in Ost- schen Regierung über soziale Sicherheit deutschland (Drucksache 15/3172) ...... 10072 C (Drucksache 15/3203) ...... 10046 A f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Arnold Vaatz (CDU/CSU) ...... 10046 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Übereinkommen vom Stephan Hilsberg (SPD) ...... 10047 C 14. Oktober 2003 über die Beteiligung Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister der Tschechischen Republik, der Repu- BMVBW...... 10048 D blik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik (CDU/CSU) ...... 10050 C Litauen, der Republik Ungarn, der Re- Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister publik Malta, der Republik Polen, der BMVBW...... 10050 D Republik Slowenien und der Slowaki- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 III

schen Republik am Europäischen Wirt- Arbeitsmarkt (SGB II) auf den 1. Ja- schaftsraum nuar 2006 (Drucksache 15/3173) ...... 10072 C (Drucksache 15/3105) ...... 10073 C g) Erste Beratung des von der Bundesregie- g) Unterrichtung durch die Bundesregierung: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Selbstverpflichtungserklärung der zes zu dem Fakultativprotokoll vom Deutschen Post AG zur Erbringung be- 25. Mai 2000 zum Übereinkommen stimmter Postdienstleistungen über die Rechte des Kindes betreffend (Drucksache 15/3186) ...... 10073 C die Beteiligung von Kindern an bewaff- neten Konflikten (Drucksache 15/3176) ...... 10072 C Tagesordnungspunkt 27: a) Zweite und dritte Beratung des von der Zusatztagesordnungspunkt 6: Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Rechtsfragen hinsichtlich der Rechts- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur stellung von Angehörigen der Bundes- Änderung der Bundesnotarordnung wehr bei Kooperationen zwischen der (Drucksache 15/3147) ...... 10072 D Bundeswehr und Wirtschaftsunterneh- men sowie zur Änderung besoldungs- b) Erste Beratung des von der Bundesregie- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksachen 15/2944, 15/3124) ...... 10073 C zes zu dem Abkommen vom 7. April 2003 zwischen der Regierung der Bun- b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung desrepublik Deutschland und der Re- des von der Bundesregierung eingebrach- gierung der Tunesischen Republik über ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem die Zusammenarbeit bei der Bekämp- Übereinkommen vom 9. September 2002 fung von Straftaten von erheblicher Be- über die Vorrechte und Immunitäten deutung des Internationalen Strafgerichtshofs (Drucksache 15/3177) ...... 10072 D (Drucksachen 15/2723, 15/3217) ...... 10074 A c) Erste Beratung des von den Fraktionen der c) Zweite und dritte Beratung des von der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Bundesregierung eingebrachten Entwurfs GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines eines Gesetzes zu dem Protokoll vom Gesetzes zur Förderung von Wagniska- 16. Mai 2003 zum Internationalen pital Übereinkommen von 1992 über die Er- (Drucksache 15/3189) ...... 10073 A richtung eines Internationalen Fonds d) Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, zur Entschädigung für Ölverschmut- Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer zungsschäden Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ (Drucksachen 15/2947, 15/3215) ...... 10074 A CSU: Den Tourismus stärken – Chan- d) Zweite und dritte Beratung des von der cen der EU-Erweiterung nutzen Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (Drucksache 15/3192) ...... 10073 A eines Gesetzes zur Änderung von Vor- e) Antrag der Abgeordneten Gabriele schriften über die Entschädigung für Lösekrug-Möller, Annette Faße, Ölverschmutzungsschäden durch See- Brunhilde Irber, weiterer Abgeordneter schiffe und der Fraktion der SPD sowie der Abge- (Drucksachen 15/2949, 15/3220) ...... 10074 C ordneten Undine Kurth (Quedlinburg), e) Beschlussempfehlung und Bericht des Franziska Eichstädt-Bohlig, Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und (Köln), weiterer Abgeordneter und der Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Bundesregierung: Verordnung zur Ände- GRÜNEN: Internationale Richtlinien rung der Versatzverordnung und zur für biologische Vielfalt und Tourismus- Zweiten Änderung der Deponieverord- entwicklung zügig umsetzen nung (Drucksache 15/3219) ...... 10073 A (Drucksachen 15/2814, 15/2886 Nr. 1, f) Antrag der Abgeordneten , 15/3141) ...... 10074 D Rainer Brüderle, (Münster), f) – l) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Verschiebung des Zeitpunktes Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- für das In-Kraft-Treten des Vierten Ge- schusses: Sammelübersichten 117, 118, setzes für moderne Dienstleistungen am 119, 120, 121, 122 und 123 zu Petitionen IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(Drucksachen 15/3089, 15/3090, 15/3091, Zusatztagesordnungspunkt 9: 15/3092, 15/3093, 15/3094, 15/3095) . . . . 10075 A Antrag der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck, Christian Schmidt (Fürth), weiterer Abgeordneter und Zusatztagesordnungspunkt 7: der Fraktion der CDU/CSU: Der Kosovo- politik eine Perspektive geben Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ (Drucksache 15/3188) ...... 10076 B CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Den Rechtsweg in der Regu- Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 10076 B lierung des Telekommunikationsmarktes Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) . . . . . 10078 A ändern (Drucksache 15/3218) ...... 10075 C Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 10079 C Jürgen Koppelin (FDP) ...... 10079 D Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 10081 C Tagesordnungspunkt 6: (SPD) ...... 10082 C a) Beschlussempfehlung und Bericht des Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag (CDU/CSU) ...... 10083 D der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Interna- Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 10085 A tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg zur Gewährleistung eines sicheren (CDU/CSU) ...... 10085 B Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der (fraktionslos) ...... 10085 B Friedensregelung für das Kosovo auf Siegfried Helias (CDU/CSU) ...... 10086 A der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrats der Vereinten Namentliche Abstimmung ...... 10087 A Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens Ergebnis ...... 10090 A zwischen der Internationalen Sicher- heitspräsenz (KFOR) und den Regie- rungen der Bundesrepublik Jugosla- Tagesordnungspunkt 7: wien und der Republik Serbien vom Antrag der Abgeordneten Dietrich 9. Juni 1999 Austermann, , Steffen (Drucksachen 15/3175, 15/3235, 15/3236) 10075 D Kampeter, weiterer Abgeordneter und der b) Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Fraktion der CDU/CSU: Umkehr in der Stinner, Dr. , Daniel Bahr Finanz- und Haushaltspolitik – Haushalts- (Münster), weiterer Abgeordneter und der sicherungsgesetz und Nachtragshaushalt Fraktion der FDP: Status des Kosovo als jetzt (Drucksache 15/3096) ...... 10087 B EU-Treuhandgebiet (Drucksache 15/2860) ...... 10076 A in Verbindung mit in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Zusatztagesordnungspunkt 8: Jürgen Koppelin, , weiterer Abge- Antrag der Abgeordneten , Gert ordneter und der Fraktion der FDP: Nach- Weisskirchen (Wiesloch), , tragshaushalt und Haushaltssicherungsge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der setz zur Korrektur der Bundesfinanzen notwendig SPD sowie der Abgeordneten Winfried (Drucksache 15/3216) ...... 10087 C Nachtwei, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- (CDU/CSU) ...... 10087 D tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: , Bundesminister BMF ...... 10093 A Fortsetzung und Anpassung der Arbeit der Internationalen Sicherheitspräsenz im Otto Fricke (FDP) ...... 10096 C Kosovo Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/3204) ...... 10076 A DIE GRÜNEN) ...... 10097 D in Verbindung mit (CDU/CSU) ...... 10099 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 V

Jörg Tauss (SPD) ...... 10100 D Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 10121 B Elke Ferner (SPD) ...... 10101 B Jella Teuchner (SPD) ...... 10122 C Otto Fricke (FDP) ...... 10101 D (CDU/CSU) ...... 10123 D Steffen Kampeter (CDU/CSU) ...... 10102 C , Parl. Staatssekretär BMVEL ...... 10125 A

Tagesordnungspunkt 8: Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU) ...... 10125 B a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. (CDU/CSU) ...... 10126 C zes zur Neuordnung des Gentechnik- rechts (Drucksache 15/3088) ...... 10103 C Tagesordnungspunkt 10: b) Beschlussempfehlung und Bericht des a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit nährung und Landwirtschaft zu dem An- trag der Fraktionen der SPD und des – zu dem Antrag der Abgeordneten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wahl- Erich G. Fritz, Karl-Josef Laumann, freiheit für die Landwirte durch Rein- Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter heit des Saatgutes sicherstellen und der Fraktion der CDU/CSU: Für (Drucksachen 15/2972, 15/3209) ...... 10103 C ein höheres Liberalisierungsniveau beim Welthandel mit Dienstleistun- Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . . 10103 D gen – GATS-Verhandlungen zügig (CDU/CSU) ...... 10104 D voranbringen Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . 10104 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Dirk (CDU/CSU) ...... 10106 B Niebel, weiterer Abgeordneter und der René Röspel (SPD) ...... 10108 B Fraktion der FDP: Internationale Rechtssicherheit und transparente Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 10110 A Regeln für den Dienstleistungshan- Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 10111 C del – GATS-Verhandlungen voran- bringen Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 10113 A (Drucksachen 15/1008, 15/1010, 15/3101) . . 10128 B Helmut Heiderich (CDU/CSU) ...... 10113 D Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit DIE GRÜNEN) ...... 10114 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Erich G. Fritz, Dagmar Wöhrl, Karl- Tagesordnungspunkt 9: Josef Laumann, weiterer Abgeordneter a) Zweite und dritte Beratung des von den und der Fraktion der CDU/CSU: Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- Doha-Verhandlungen nach dem SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Scheitern von Cancun konstruktiv Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- und zügig voranbringen derung des Betriebsprämiendurchfüh- – zu dem Antrag der Abgeordneten rungsgesetzes Gudrun Kopp, Markus Löning, Rainer (Drucksachen 15/3046, 15/3223) ...... 10116 C Brüderle, weiterer Abgeordneter und b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: der Fraktion der FDP: Doha-Runde Ernährungs- und agrarpolitischer Be- bis 2005 zum Erfolg führen – Mehr richt 2004 der Bundesregierung Entwicklung, Armutsbekämpfung (Drucksache 15/2457) ...... 10116 D und Wohlstand durch Freihandel Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 10117 A (Drucksachen 15/1567, 15/1931, 15/3222) . . 10128 B Albert Deß (CDU/CSU) ...... 10118 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Peter H. Carstensen (Nordstrand) Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An- (CDU/CSU) ...... 10118 D trag der Abgeordneten , Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ , Günter Nooke, weiterer DIE GRÜNEN) ...... 10120 B Abgeordneter und der Fraktion der VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

CDU/CSU: Qualitätssicherung im Bil- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Kinder dungswesen und kulturelle Vielfalt bei und Jugendliche wirksam vor sexueller GATS-Verhandlungen garantieren Gewalt und Ausbeutung schützen (Drucksachen 15/1095, 15/1844) ...... 10128 C (Drucksache 15/3211) ...... 10146 A Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 10128 D Renate Gradistanac (SPD) ...... 10146 B Gudrun Kopp (FDP) ...... 10129 D Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 10148 A Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/ Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 10149 C DIE GRÜNEN) ...... 10130 C Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 10150 A Marion Seib (CDU/CSU) ...... 10131 D Klaus Haupt (FDP) ...... 10151 B (CDU/CSU) ...... 10151 D Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 16: , Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abge- Antrag der Abgeordneten Ursula Lietz, Anita ordneter und der Fraktion der FDP: Passagier- Schäfer (Saalstadt), Christa Reichard (Dres- datensammlungen und Datenschutzrechte – den), weiterer Abgeordneter und der Fraktion EU-Abkommen mit den Vereinigten Staa- der CDU/CSU: Frauen und Familien in der ten von Amerika Bundeswehr stärken und fördern (Drucksachen 15/2761, 15/3120) ...... 10133 A (Drucksache 15/3049) ...... 10153 A Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär Ursula Lietz (CDU/CSU) ...... 10153 B BMI ...... 10133 B Petra Heß (SPD) ...... 10155 A (CDU/CSU) ...... 10134 B Ina Lenke (FDP) ...... 10157 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10136 C Tagesordnungspunkt 19: Petra Pau (fraktionslos) ...... 10137 B a) Antrag der Abgeordneten Karin Frank Hofmann (Volkach) (SPD) ...... 10138 A Kortmann, , Ernst Burgbacher (FDP) ...... 10138 B (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- neten Thilo Hoppe, Hans-Christian Tagesordnungspunkt 12: Ströbele, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Erste Beratung des von der Bundesregierung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Un- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur terstützung der neuen Regierung Boli- Verbesserung des Anlegerschutzes (Anleger- viens bei der demokratischen Stabilisie- schutzverbesserungsgesetz – AnSVG) rung des Landes (Drucksache 15/3174) ...... 10139 C (Drucksache 15/2975) ...... 10159 A (SPD) ...... 10139 D b) Antrag der Abgeordneten Peter Weiß Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) ...... 10140 D (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. , weiterer Abgeordneter Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/ und der Fraktion der CDU/CSU: Chance DIE GRÜNEN) ...... 10142 A zum demokratischen Neubeginn in Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 10143 A Haiti unterstützen (Drucksache 15/2746) ...... 10159 A Simone Violka (SPD) ...... 10144 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des (CDU/CSU) ...... 10145 A Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Peter Weiß (Em- Tagesordnungspunkt 17: mendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf Antrag der Abgeordneten Renate Gradistanac, Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und Sabine Bätzing, , weiterer Abgeord- der Fraktion der CDU/CSU: Nach der neter und der Fraktion der SPD sowie der Neuwahl in Argentinien: Entwicklungs- Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard zusammenarbeit mit Argentinien und Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), weite- Uruguay zielgerichtet fortführen rer Abgeordneter und der Fraktion des (Drucksachen 15/1015, 15/2706) ...... 10159 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 VII

Tagesordnungspunkt 14: Anlage 1 a) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10175 A Bosbach, (Reckling- hausen), Günter Nooke, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Anlage 2 Das gemeinsame historische Erbe für Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten die Zukunft bewahren (Augsburg), Marianne Tritz, (Drucksache 15/2819) ...... 10159 C (Berlin), Fritz Kuhn, b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Irmingard Schewe-Gerigk, Silke Stokar von Bericht der Bundesregierung über die Neuforn, Ulrike Höfken, Maßnahmen zur Förderung der Kul- (Bremen), Undine Kurth (Quedlinburg), Josef turarbeit gemäß § 96 Bundesvertriebe- Philip Winkler, Petra Selg, Christine Scheel, nengesetz in den Jahren 2001 und 2002 Jutta Dümpe-Krüger, Albert Schmidt (Ingol- (Drucksache 15/2967) ...... 10159 D stadt), , Cornelia Behm, Franziska Eichstädt-Bohlig, Thilo Hoppe, Erwin Marschewski (Recklinghausen) , Ekin Deligöz, Dr. Ludger (CDU/CSU) ...... 10159 D Volmer, , Grietje Bettin, Christa Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . . 10161 C Nickels, , Dr. Thea Dückert, Hubert Ulrich, , Anna Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 10162 D Lührmann, Hans-Christian Ströbele, Peter Hettlich und Markus Kurth (alle BÜNDNIS 90/ Gisela Hilbrecht (SPD) ...... 10163 D DIE GRÜNEN) sowie Rüdiger Veit, René Matthias Sehling (CDU/CSU) ...... 10165 A Röspel, Uta Zapf, Hans Büttner (Ingolstadt), Karin Kortmann, Dr. Cornelie Sonntag- Wolgast, Christoph Strässer und Eckhardt Tagesordnungspunkt 18: Barthel (Berlin) (alle SPD) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Fortsetzung Antrag der Abgeordneten Julia Klöckner, der deutschen Beteiligung an der Internati- Peter H. Carstensen (Nordstrand), Albert Deß, onalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Gewährleistung eines sicheren Umfeldes CDU/CSU: Dreizehntes Gesetz zur Ände- für die Flüchtlingsrückkehr und zur mili- rung des Arzneimittelgesetzes für Tierärzte tärischen Absicherung der Friedensrege- und Landwirte praxisgerecht und verbrau- lung für das Kosovo auf der Grundlage der cherfreundlich gestalten Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates (Drucksache 15/3112) ...... 10165 D der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 10166 A und des Militärisch-Technischen Abkom- mens zwischen der Internationalen Sicher- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 10168 C heitspräsenz (KFOR) und den Regierun- gen der Bundesrepublik Jugoslawien und Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 10169 C der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 (Ta- Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 10170 D gesordnungspunkt 6 a) ...... 10175 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10172 A Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Tagesordnungspunkt 20: Jürgen Koppelin (FDP) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Fortsetzung der Antrag der Abgeordneten Lothar Mark, Ute deutschen Beteiligung an der Internationa- Kumpf, Dr. , weiterer Abge- len Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Ge- ordneter und der Fraktion der SPD sowie der währleistung eines sicheren Umfeldes für Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian die Flüchtlingsrückkehr und zur militäri- Ströbele, Dr. Ludger Volmer, weiterer Abge- schen Absicherung der Friedensregelung ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- für das Kosovo auf der Grundlage der Re- SES 90/DIE GRÜNEN: Intensivierung der solution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Beziehungen zwischen der Europäischen Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und Union, Lateinamerika und der Karibik des Militärisch-Technischen Abkommens (Drucksache 15/3205) ...... 10173 D zwischen der Internationalen Sicherheits- präsenz (KFOR) und den Regierungen der Nächste Sitzung ...... 10174 B Bundesrepublik Jugoslawien und der Re- publik Serbien vom 9. Juni 1999 (Tagesord- Berichtigung ...... 10174 A nungspunkt 6 a) ...... 10175 D VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Anlage 4 – Chancen zum demokratischen Neubeginn in Haiti unterstützen Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Anträge: – Nach der Neuwahl in Argentinien: Ent- wicklungszusammenarbeit mit Argenti- – Für ein höheres Liberalisierungsniveau nien und Uruguay zielgerichtet fortführen beim Welthandel mit Dienstleistungen – GATS-Verhandlungen zügig voranbringen (Tagesordnungspunkt 19 a bis c) – Internationale Rechtssicherheit und trans- Karin Kortmann (SPD) ...... 10179 D parente Regeln für den Dienstleistungs- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 10180 D handel – GATS-Verhandlungen voranbrin- gen Harald Leibrecht (FDP) ...... 10182 B – Doha-Verhandlungen nach dem Scheitern Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 10182 D von Cancun konstruktiv und zügig voran- bringen Anlage 7 – Doha-Runde bis 2005 zum Erfolg führen – Mehr Entwicklung, Armutsbekämpfung Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: und Wohlstand durch Freihandel – des Antrages: Das gemeinsame historische – Qualitätssicherung im Bildungswesen und Erbe für die Zukunft bewahren kulturelle Vielfalt bei GATS-Verhandlun- – der Unterrichtung: Bericht der Bundesre- gen garantieren gierung über die Maßnahmen zur Förde- (Tagesordnungspunkt 10 a bis c) rung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundes- vertriebenengesetz in den Jahren 2001 und Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD) ...... 10176 C 2002 (Tagesordnungspunkt 14) Anlage 5 Dr. (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des DIE GRÜNEN)...... 10183 C Antrags: Frauen und Familien in der Bundes- wehr stärken und fördern (Tagesordnungs- punkt 16) Anlage 8 Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) ...... 10178 D des Antrags: Intensivierung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union, Latein- amerika und der Karibik (Tagesordnungs- Anlage 6 punkt 20) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Lothar Mark (SPD) ...... 10184 B der Anträge: (CDU/CSU) ...... 10186 C – Unterstützung der neuen Regierung Boli- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 10187 C viens bei der demokratischen Stabilisie- rung des Landes Dr. Claudia Winterstein (FDP) ...... 10189 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10019

(A) (C) Redetext

111. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Beginn: 9.30 Uhr

Präsident : gliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich be- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die grüße die neue Kollegin sehr herzlich. Sitzung ist eröffnet. (Beifall) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sich zu Die Fraktion der SPD teilt mit, dass die Kollegin erheben. Erika Lotz als stellvertretendes Mitglied aus der Parla- mentarischen Versammlung des Europarates ausschei- (Die Anwesenden erheben sich) det. Nachfolgerin soll die Kollegin Rita Streb-Hesse werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Am 17. Mai ist unser Kollege Matthias Weisheit ge- Widerspruch. Dann ist die Kollegin Rita Streb-Hesse als storben. Er wollte gerade eine Dienstreise antreten, als stellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Ver- ein Herzanfall ihn aus unserer Mitte riss. sammlung des Europarates gewählt. (B) Matthias Weisheit wurde am 18. Dezember 1945 in Sodann möchte ich noch drei Kollegen nachträglich (D) Leipzig geboren. In Ravensburg machte er das Abitur zum 60. Geburtstag gratulieren. Es sind dies die Kolle- und in Weingarten absolvierte er sein Studium an der Pä- gen Hans-Peter Kemper, Wilhelm Schmidt und Gert dagogischen Hochschule. Auch nach dem Studium blieb Weisskirchen. Im Namen des Hauses spreche ich die er dem Bodenseeraum und seinen Menschen verbunden. besten Glückwünsche aus. 20 Jahre arbeitete er hier als Realschullehrer an ver- (Beifall) schiedenen Schulen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Nicht allein durch die verschiedenen Funktionen, die Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge- er in der Sozialdemokratischen Partei auf örtlicher und führten Punkte zu erweitern: regionaler Ebene und als Mitglied der Sozialistischen 1 Vereinbarte Debatte zur humanitären und menschenrecht- Bodensee-Internationale innehatte, sondern ebenso in lichen Situation und internationalen Verantwortung im westlichen Sudan (siehe 110. Sitzung) seiner Tätigkeit in zahlreichen Vereinen haben viele 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, Menschen Matthias Weisheit als einen außerordentlich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Im West- kontaktfreudigen, aufgeschlossenen Menschen kennen sudan (Darfur) eine humanitäre Katastrophe verhindern und schätzen gelernt. – Drucksache 15/3197 – (siehe 110. Sitzung) Auch sein Auftreten und Wirken im Ausschuss für 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, wo er BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nachhaltiges Wachstum seine Fraktion als Obmann vertrat, war gekennzeichnet in Ostdeutschland sichern von seiner Tatkraft und seiner offenen, direkten Art, auf – Drucksache 15/3201 – Menschen zuzugehen und Probleme ohne Umschweife Überweisungsvorschlag: anzusprechen. Selbst Schicksalsschläge wie der Tod sei- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) nes Sohnes im Jahr 1999 haben ihn nicht mutlos werden Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit lassen. Seiner Frau und seiner Tochter sprechen wir unser Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und tief empfundenes Beileid aus. Wir werden ihm ein ehren- Landwirtschaft des Andenken bewahren. – Ich danke Ihnen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Nachfolgerin für Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus den verstorbenen Kollegen Weisheit hat die Abgeord- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nete Elvira Drobinski-Weiß am 18. Mai 2004 die Mit- Haushaltsausschuss 10020 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele (C) (Plauen), Eberhard Otto (Godern), Dr. Karlheinz Guttmacher, Lösekrug-Möller, Annette Faße, Brunhilde Irber, weiterer weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- Ostdeutschland als Speerspitze des Wandels – Leitlinien ordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Franziska eines Gesamtkonzepts für die neuen Länder Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeord- – Drucksache 15/3202 – neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Internationale Richtlinien für biologische Viel- Überweisungsvorschlag: falt und Tourismusentwicklung zügig umsetzen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Finanzausschuss – Drucksache 15/3219 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Technikfolgenabschätzung Reaktorsicherheit (f) Haushaltsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich Entwicklung (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Eberhard Otto (Go- Ausschuss für Tourismus dern), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Keine Kürzungen bei den Verkehrsprojekten in Ost- Rainer Brüderle, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abge- deutschland ordneter und der Fraktion der FDP: Verschiebung des – Drucksache 15/3203 – Zeitpunktes für das In-Kraft-Treten des Vierten Ge- setzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt Überweisungsvorschlag: (SGB II) auf den 1. Januar 2006 Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Haushaltsausschuss – Drucksache 15/3105 – 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Überweisungsvorschlag: (Ergänzung zu TOP 26) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ent- Rechtsausschuss wurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Bundes- Finanzausschuss notarordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 15/3147 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Rechtsausschuss Technikfolgenabschätzung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- Haushaltsausschuss ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: 7. April 2003 zwischen der Regierung der Bundes- Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen Post AG republik Deutschland und der Regierung der Tunesi- zur Erbringung bestimmter Postdienstleistungen schen Republik über die Zusammenarbeit bei der Be- (B) kämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung – Drucksache 15/3186 – (D) – Drucksache 15/3177 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Innenausschuss (f) Landwirtschaft Rechtsausschuss 7 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des (Ergänzung zu TOP 27) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Förderung von Wagniskapi- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, tal des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Den Rechtsweg in der Regulierung des Telekommunikations- – Drucksache 15/3189 – marktes ändern Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/3218 – Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Rainer Arnold, weiterer Abgeord- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Klimke, neter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter Winfried Nachtwei, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck (Köln), und der Fraktion der CDU/CSU: Den Tourismus stär- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- ken – Chancen der EU-Erweiterung nutzen SES 90/DIE GRÜNEN: Fortsetzung und Anpassung der – Drucksache 15/3192 – Arbeit der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/3204 – Ausschuss für Tourismus (f) 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Auswärtiger Ausschuss Dr. Christian Ruck, Christian Schmidt (Fürth), weiterer Abge- Innenausschuss ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Der Kosovopolitik Rechtsausschuss eine Perspektive geben Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/3188 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Jürgen Koppelin, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Fraktion der FDP: Nachtragshaushalt und Haushaltssiche- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und rungsgesetz zur Korrektur der Bundesfinanzen notwendig Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 15/3216 – Technikfolgenabschätzung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Haushaltsausschuss (f) Union Auswärtiger Ausschuss Haushaltsausschuss Innenausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10021

Präsident Wolfgang Thierse (A) Sportausschuss den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- (C) Finanzausschuss schlossen. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (9. Ausschuss) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Ausschuss für Bildung, Forschung und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Offensive für den Mittelstand Entwicklung Ausschuss für Tourismus – zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar Ausschuss für Kultur und Medien Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Dr. Werner Hoyer, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der FDP: Für einen Helsinki-Prozess für den Nahen und Mittleren Osten Grundsätzliche Kehrtwende in der Wirt- – Drucksache 15/3207 – schaftspolitik statt neue Sonderregeln – Mittelstand umfassend stärken Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer 12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Europäische Verfas- Kopp, weiterer Abgeordneter und der Frak- sung beschließen – der erweiterten Union ein solides Fun- tion der FDP dament für die Zukunft geben – Drucksache 15/3208 – Neue Chancen für den Mittelstand – Rah- 13 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des menbedingungen verbessern statt Förder- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine qualitätsorien- dschungel ausweiten tierte und an den regionalen Bedürfnissen ausgerichtete Ausschreibungspraxis von arbeitsmarktpolitischen Maß- – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit nahmen Homburger, Rainer Funke, Rainer Brüderle, – Drucksache 15/3213 – weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (B) Überweisungsvorschlag: FDP (D) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Finanzausschuss Statistiken reduzieren – Unternehmen ent- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend lasten – Bürokratie abbauen Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Technikfolgenabschätzung Homburger, Joachim Günther (Plauen), Haushaltsausschuss Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Fraktion der FDP Rainer Funke, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Jugendstrafvollzug verfassungsfest Modellregionen für Deregulierung und Bü- gestalten rokratieabbau – Drucksache 15/2192 – – Drucksachen 15/351, 15/349, 15/357, 15/752, Überweisungsvorschlag: 15/1134, 15/3221 – Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Berichterstattung: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Abgeordneter Christian Lange (Backnang) Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für erforderlich, abgewichen werden. die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Ferner sollen die Debattenpunkte nach Tagesord- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. nungspunkt 12 wie folgt aufgerufen werden: Tagesord- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem nungspunkt 17 – Kinder- und Jugendschutz –, Tagesord- Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion. nungspunkt 16 – Frauen und Familien in der Bundeswehr –, Tagesordnungspunkt 19 – Südamerika- politik –, Tagesordnungspunkt 14 – Historisches Erbe –, Klaus Brandner (SPD): Tagesordnungspunkt 18 – Tierarzneimittel – und dann Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- Tagesordnungspunkt 20 – Beziehungen der Europäi- nen und Kollegen! Noch zu keiner Zeit sind so viele den schen Union zu Lateinamerika und der Karibik. Außer- Mittelstand strukturell unterstützende Reformen in so dem sollen der Tagesordnungspunkt 13 – Hochwasser- kurzer Zeit ergriffen, schutz – und der Tagesordnungspunkt 15 (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) – Flächendeckende Postdienstleistungen – abgesetzt werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstan- auf den Weg gebracht und umgesetzt worden 10022 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Klaus Brandner (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nichts vormachen: Wenn Sie weiterhin wichtige Reform- (C) DIE GRÜNEN) schritte behindern, wird es dem Mittelstand auch in der Zukunft nicht besser gehen können. wie zu Beginn der 15. Legislaturperiode. (Beifall bei der SPD) ( [CDU/CSU]: Da muss er selber lachen! – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Ich will auf ein anderes Thema hinweisen: Die deut- Welche?) sche Bankenlandschaft zum Beispiel befindet sich in ei- nem Prozess der Reorganisation. Die großen Privat- – Ihre Freude zeigt, dass Sie vielleicht ein eher schlech- banken ziehen sich aus dem Finanzierungsgeschäft mit tes Gewissen haben, dem Mittelstand zurück. Sparkassen und Genossen- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ein Mittel- schaftsbanken, die traditionellen Kreditgeber der kleinen standsvernichtungsprogramm!) und mittleren Unternehmen, befinden sich selbst in einer schwierigen Konsolidierungsphase. Wir haben auf diese wenn Sie den Reformstau im Mittelstand beklagen. Sie Situation im Bankensektor reagiert. Nur, eines ist klar: werden am Ende erleben, welch positive Bilanz wir vor- Der Staat kann diese teilweise tief greifenden Umstruk- zulegen haben. turierungsprozesse in unserer Wirtschaft, in unserem Bankensektor nicht vollständig kompensieren. Wir lassen uns bei unserer Arbeit von den Zielen und Grundsätzen, die der Bundeskanzler in seiner Regie- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Er verur- rungserklärung am 14. März des vergangenen Jahres an- sacht sie!) lässlich der Erläuterungen zur Agenda 2010 formuliert Er kann ihre negativen Auswirkungen auf Investoren al- hat, leiten. Es geht dabei nicht um ein Konjunktur- und lein nicht auffangen, Herr Schauerte. Auch hier gilt: Der Beschäftigungsprogramm, das uns nur kurzfristig Er- Staat kann nicht alles richten; er soll und darf es auch leichterung schaffen würde, es geht bei der Agenda 2010 nicht. Das ist vornehmlich eine unternehmerische Auf- um weit reichende Strukturreformen, die Deutschland gabe, hier ist die schöpferische Kraft des Unternehmers bis zum Ende des Jahrzehnts wieder an die Spitze bei und der Unternehmerin gefragt. Hier vonseiten der Poli- Wohlstand und Arbeit bringen werden. tik falsche Erwartungen zu wecken, wie Sie es teilweise Ich gebe zu: Zurzeit wirken diese Reformen noch tun, ist fahrlässig und unverantwortlich. nicht so, wie sie wirken werden, wenn sich die konjunk- (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Wir warten darauf, turelle Lage verbessert hat. Mit der Agenda 2010 verfü- dass Sie sagen, was Sie gemacht haben!) gen wir aber über ein klares, stimmiges Konzept, bei dem der Stärkung und der Förderung des wirtschaftli- Es ist schon merkwürdig, meine Damen und Herren: (B) chen Mittelstands eine ganz besondere Rolle zukommt. Häufig sind diejenigen, die lautstark übermäßigen (D) Staatseinfluss bedauern, nach immer weniger Staat, im- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Realitätsver- mer stärkerer Deregulierung und Entbürokratisierung ru- weigerung!) fen, diejenigen, die als Erste staatliche Hilfen und staatli- Wenn ich mir dagegen die Anträge der Oppositions- che Regulierung fordern, wenn sie ihre eigenen parteien ansehe, kann ich ein vergleichbares Konzept Interessen gefährdet sehen. nicht entdecken. Hier wird vielen vieles versprochen; Meine Damen und Herren von der Union und von der meist ist es ein Sammelsurium von Ankündigungen, die FDP, da klaffen Anspruch und Wirklichkeit häufig mei- dann bei der konkreten Entscheidung – zum Beispiel im lenweit auseinander. Ich kann Sie nur auffordern, in die- Vermittlungsausschuss – keine Beachtung mehr finden. sem Zusammenhang mehr Redlichkeit zu zeigen, als Sie in der Vergangenheit an den Tag gelegt haben. Meine Damen und Herren, kleine und mittlere Unter- nehmen haben es in unserem Lande zurzeit schwer, teil- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weise sehr schwer. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das kann Ich wiederhole meine Eingangsfeststellung: Zu keiner man wohl sagen!) Zeit wurden so viele Reformen für den Mittelstand auf den Weg gebracht wie in dieser Legislaturperiode. Drei Jahre Stagnation haben tiefe Spuren hinterlassen. Doch es ist nicht nur die konjunkturelle Durststrecke, die (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Welche denn?) den Mittelstand plagt. Was haben wir versprochen? Was haben wir gehalten? (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Auch die Was bleibt noch zu tun? Dazu habe ich mir zehn Punkte Bundesregierung! – Hans Michelbach [CDU/ notiert: CSU]: Rot-Grün! – Hartmut Schauerte [CDU/ Erstens. Wir haben die Finanzierungsbedingungen für CSU]: Die Plage hat einen Namen!) die mittelständische Wirtschaft nachhaltig verbessert Der Wettbewerbsdruck auf den heimischen Märkten und werden sie weiter verbessern. Der Spitzensteuer- nimmt zu und er wird weiter zunehmen. Die Plage ist satz wurde von uns um 11 Prozentpunkte auf 42 Prozent gesenkt. Wir erinnern uns, liebe Kolleginnen und Kolle- Ihre Blockadepolitik, das müssen wir ganz deutlich se- gen insbesondere von der Union und der FDP: Damals hen, das werden die Menschen in diesem Land auch lag er bei 53 Prozent. nach wie vor feststellen. Da nutzt es auch gar nichts, dass Sie ablenken wollen. In der Tat können wir uns (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Petersberg!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10023

Klaus Brandner (A) Der Eingangssteuersatz betrug im Jahr 1998 25,9 Pro- Siebtens. Wir haben nach 50 Jahren das Handwerks- (C) zent; heute sind es 15 Prozent. Der Körperschaftsteuer- recht entrümpelt und haben dadurch mehr Chancen für satz wurde von 30 Prozent für ausgeschüttete und von die im Handwerk Beschäftigten, für Existenzgründer, für 40 Prozent für einbehaltene Gewinne einheitlich auf Gesellen und für Meister eröffnet. Wir haben das Hand- 25 Prozent gesenkt. Insgesamt werden die mittelständi- werksrecht europatauglich gemacht. schen Unternehmen ab dem 1. Januar 2005 jährlich um Achtens. Wir haben alle Förderaktivitäten des Bundes gut 17 Milliarden Euro entlastet. Das müssen Sie einmal im Kredit- und Beteiligungsbereich in der KfW-Mittel- zur Kenntnis nehmen und dürfen es nicht nur schlecht standsbank zusammengefasst. Das Förderangebot wurde machen. gebündelt und gestrafft. Gleichzeitig wurde die Förder- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten politik weiterentwickelt und neu ausgerichtet, zum Bei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) spiel mit der neuen Produktfamilie des Unternehmerka- pitals. Das ist die größte Steuerstrukturreform, die es in Deutschland je gegeben hat. Sie hilft vor allem dem von Neuntens. Wir machen ernst mit dem Bürokratieab- Personengesellschaften geprägten Mittelstand. Unser bau. Deregulierung und Vereinfachung der Verwal- Ziel ist es, die Finanzierung von Investitionen durch die tungsabläufe sind in Arbeit. Einbehaltung von Gewinnen aus steuerlicher Sicht at- Zehntens. Wir haben bei der Innovations- und Außen- traktiver zu machen. Das ist unsere Antwort auf die Fi- wirtschaftsförderung den Schwerpunkt auf die Förde- nanzierungskrise mittelständischer Unternehmen. rung kleiner und mittlerer Unternehmen gelegt. Zweitens. Wir haben mit unserer Politik der strikten Meine Damen und Herren, Johannes Rau hat in seiner Haushaltskonsolidierung für anhaltend niedrige Zinsen letzten großen Berliner Rede die Frage gestellt, ob wir und damit für günstige Finanzierungskosten der Unter- uns nicht inzwischen selber so schlecht geredet haben, nehmen gesorgt. Was hilft der mittelständischen Wirt- dass wir uns nichts mehr zutrauen. Ich zitiere den Bun- schaft mehr als niedrige Finanzierungskosten? despräsidenten wörtlich: Drittens. Nach dem dramatischen Anstieg der Lohn- Ich wüsste kein Land, in dem so viele Verantwortli- nebenkosten unter der unionsgeführten Bundesregierung che und Funktionsträger mit so großer Lust so haben wir den Einstieg in die Konsolidierung der Kran- schlecht, so negativ über das eigene Land sprechen, ken-, Pflege- und Rentenversicherung geschafft. Zu Ih- wie das bei uns in Deutschland geschieht. rer Erinnerung die Zahlen: Von 1982 bis 1998 sind die Der Bundespräsident warnt: Sozialversicherungsbeiträge von 34 Prozent um ganze 8 Prozentpunkte auf 42 Prozent gestiegen. Damit haben Das bleibt nicht ohne Folgen. (B) (D) wir Schluss gemacht. Drei Beispiele dazu aus der jüngsten Vergangenheit: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erstens. Unser Sozialsystem steht nicht vor dem Zu- DIE GRÜNEN) sammenbruch. Das zu behaupten wäre abstruser Unsinn. Trotzdem wird so getan, als wäre es so. Viele wollen das Wem nutzt die Senkung der Lohnnebenkosten mehr als dazu nutzen, das Sozialsystem völlig auf den Kopf zu den kleinen und mittleren Unternehmen? Insbesondere stellen und dem Mittelstand angeblich zu helfen. Gerade diese Unternehmen werden davon profitieren. der Mittelstand ist auf gute Sozialbeziehungen angewie- sen. Viertens. Wir haben mit den Hartz-Reformen für mehr Effizienz und mehr Mobilität auf dem Arbeits- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ markt gesorgt. Wir haben für Neueinstellungen den Kün- DIE GRÜNEN) digungsschutz gelockert. Unternehmen können jetzt schneller und leichter Arbeitskräfte rekrutieren. Zweitens. Der Aufbau Ost ist weder gescheitert noch sind die Hilfen von über 1000 Milliarden Euro sinnlos (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Das glauben Sie und wirkungslos versickert. Der Aufbau ist vielmehr ein doch selber nicht!) Ruhmesblatt der neueren deutschen Geschichte, auf das alle Deutschen stolz sein können. Fünftens. Wir haben das Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit auf den Weg ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrich bracht. Jahrzehntelang haben Sie, meine Damen und Heinrich [FDP]: Gesundbeterei!) Herren von der Opposition, bei diesem Problem wegge- Enttäuscht kann nur der sein, der auf die Lügen derjeni- schaut, was fatale Folgen für die Steuer- und Abgaben- gen hereingefallen ist, die behaupteten, die deutsche Ein- belastung in unserem Land hatte. Die Arbeitnehmerin- heit könne aus der Portokasse bezahlt werden, und die nen und Arbeitnehmer hatten das letztlich durch höhere den Menschen blühende Landschaften in nur wenigen Beiträge mit zu finanzieren. Niemand sieht sich durch Jahren versprachen. die Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft aber mehr in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet als kleine und (Beifall bei der SPD) mittlere Unternehmen. Drittens. Der Industriestandort Deutschland steht nicht vor dem Niedergang. Das Gegenteil ist richtig. Sechstens. Wir haben mit dem neuen Ladenschluss- gesetz die Chancen des Einzelhandels für mehr Umsatz (Lachen des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/ und Beschäftigung verbessert. CSU]) 10024 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Klaus Brandner (A) Wir sind im weltweiten Wettbewerb einer der aktivsten tum zu schaffen. Das sind die Tatsachen, lieber Herr (C) Standorte für Investoren. Das wissen offenbar aber nur Kollege. die ausländischen Investoren. Bei Ihnen wird das auf taube Ohren stoßen. Das ist traurig genug; denn richtig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist: Unsere Probleme sind lösbar und sie werden von die- Wenn ich mir unseren Antrag anschaue, der heute zur ser Bundesregierung zurzeit Schritt für Schritt gelöst. Debatte steht und den wir schon vor 15 Monaten einge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bracht haben, dann stelle ich fest, dass er genauso aktuell DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ wie damals vor 15 Monaten ist. CSU]: Drei Schritte zurück!) (Klaus Brandner [SPD]: Da kann man mal se- Der entscheidende Reformschritt, den wir dabei ge- hen, wie langsam Sie sind!) gangen sind, ist die Agenda 2010. Das bestätigen uns Wir brauchen eine grundsätzliche Kehrtwende. Diese alle internationalen Institutionen von Belang, seien es Kehrtwende ist unter Ihrer Regierung nicht eingetreten. der Internationale Währungsfonds, die Europäische Eines muss ich Ihnen sagen: Die Lage ist seit 2003 noch Kommission oder die OECD. Alle bestätigen, dass wir dramatischer geworden, als sie sowieso schon gewesen auf dem richtigen Weg sind. Wir brauchen mehr Zuver- ist. Hier nützen auch die medienwirksamen Worte Ihres sicht, Mut und Entschlossenheit, aber auch mehr Verant- Kanzlers nichts, der ausgeführt hat, dass die Trendwende wortung und Disziplin, um die notwendigen Reformen endlich geschafft ist. Wo ist denn die Trendwende ge- zu bewältigen. schafft? Das haben Sie mit Ihren Worten nicht ausge- Wir sind mit den Reformen noch nicht am Ende. führt. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie sind am Genauso wie wir haben auch Sie den zweiten Mittel- Ende!) standsbericht der führenden Wirtschaftsverbände zur Kenntnis genommen. Darin wurde die Entwicklung von Der mit der Agenda 2010 eingeleitete Reformprozess 1,6 Millionen Betrieben mit 12,5 Millionen Beschäftig- muss und wird weitergeführt werden. Ich würde mir für ten analysiert. Was wird dort ausgesagt? Dort steht, dass unser Land wünschen, dass diejenigen in der öffentli- das Wiederanspringen des Mittelstandes und damit der chen Debatte mehr Beachtung fänden, die sich mit rea- Binnenkonjunktur für die mittelständischen Unterneh- listischen Veränderungsvorschlägen sowie mit offener men lediglich ein Hoffnungswert bleibt. Es regiert in Dialog- und fairer Kompromissbereitschaft hervortun. diesem Land also das Prinzip Hoffnung und sonst über- Wir brauchen, wie Johannes Rau es empfiehlt, in unse- haupt nichts. rem Lande wieder eine Kultur der Zuversicht und der Er- (B) mutigung. Dazu rufe ich uns alle auf. Die Geschäftslage hat sich verschlechtert, nicht ver- (D) bessert. In dem Bericht wird auch ausgeführt, dass wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht normale zyklische Schwankungen haben, sondern DIE GRÜNEN – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: dass dies der Ausdruck massiver Strukturdefizite ist. Das ist bei dieser Regierung schwer!) Diese müssen angegangen werden. Aber mit Ihrer Poli- tik passiert gar nichts. Präsident Wolfgang Thierse: Wir sehen es doch: Nach den Zahlen, die gestern die Ich erteile Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Frak- GfK zum Konsumklima veröffentlichte, ist der Kon- tion, das Wort. sumklimaindikator auf 4,7 Prozent gesunken. Wir wis- sen von dieser lähmenden Konsumneigung. Die Men- Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): schen haben Angst und sind durch Ihre Politik Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! verunsichert. Besondere Angst haben sie – das ist inte- Lieber Kollege Brandner, wenn man Ihnen eben zuge- ressant – vor weiteren Steuererhöhungen dieser Regie- hört hat, dann bekam man wirklich das Gefühl, dass der rung, wie es in der gestrigen Veröffentlichung der GfK Realitätsverlust schon sehr weit fortgeschritten ist. deutlich wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ( [CDU/CSU]: So ist es!) Ihr Wort in Gottes Ohr, aber die Fakten schauen leider anders aus. Hören Sie doch auf die Bundesbank! Die Bundesbank schreibt in ihrem Bericht vom März, dass die Staats- Während dieser Debatte, also allein in diesen schulden ohne Reformen in den nächsten zehn Jahren 90 Minuten, werden irgendwo zwischen Flensburg und von über 60 Prozent, die wir schon jetzt haben, auf dann Passau sieben Betriebe offiziell Insolvenz anmelden; das 140 Prozent steigen werden. Sie wissen ganz genau, dass wissen Sie. Sie wissen auch, dass, während wir hier wir in einem hoch verschuldeten Staat leben. Dies ist sprechen – in diesen 90 Minuten –, 100 sozialversiche- auch Ergebnis Ihrer Politik. Inzwischen wird für Zinsen rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse wegbrechen mehr ausgegeben als für Forschung und Entwicklung. und Familien in Existenzängste geraten. In diesen ein- Das heißt, Sie finanzieren die Vergangenheit, nicht die einhalb Stunden wird es auch wieder ein paar Spitzen- Zukunft. Sie gehen hier den falschen Weg. kräfte geben, die sich überlegen, unserer Heimat den Rü- cken zu kehren, um nicht hier, sondern in unseren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nachbarländern Arbeitsplätze, Wohlstand und Wachs- neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10025

Dagmar Wöhrl (A) Der Grund dafür ist nicht, dass die Steuereinnahmen Neue Ideen werden nur dort geboren, wo Menschen zu- (C) wegbrechen. Vielmehr steigen die Steuereinnahmen. sammenkommen und Ideen kreativ vorangebracht wer- 1998 lagen die Steuereinnahmen noch bei 175 Milliar- den. Das ist im Mittelstand der Fall. den Euro. Bei uns aber lag die Investitionsquote bei (Klaus Brandner [SPD]: Es klingt nicht sehr 12,5 Prozent. Das ist für den Mittelstand wichtig. Inzwi- schen sind die Steuereinnahmen auf über 190 Milliarden glaubwürdig, Frau Wöhrl, wenn Sie Gesetzen Euro gestiegen; aber die Investitionsquote ist auf unter zustimmen und anschließend erklären, dass 10 Prozent gesunken. Das schadet dem Mittelstand. Sie das gar nicht gewollt haben! Das spricht nicht für Sie!) Schauen wir uns einmal das Jahr 2003 an, Herr Dann kam noch etwas Neues in Form einer Innovati- Brandner, das Sie gerade so hervorgehoben haben. Es ist onsoffensive, als Sie das Thema Innovation für sich ent- ein Paradebeispiel dafür, wie man Vertrauen verspielt deckt hatten. Das ist schon wieder drei Monate her. Aber und wie es aufgrund des mangelnden Vertrauens zu im- außer vollmundigen Erklärungen und Expertenrunden, mer weniger Investitionen von Unternehmen kommt. die Sie in der Presse übrigens sehr gut verkauft haben Ihre Mittelstandsoffensive haben Sie immens medien- – das muss ich neidvoll anerkennen –, kam nichts. Es wirksam angekündigt. Was ist dabei herausgekommen? fehlt eine ernsthafte Konkretisierung dieses Projekts. Ein so genannter Small Business Act. Er war nämlich sehr „small“ und leider gab es auch wenig „business“, Sie kündigen immer nur an. wie wir inzwischen festgestellt haben. (Klaus Brandner [SPD]: Es passiert auch et- (Beifall bei der CDU/CSU) was, weil wir den Menschen Mut gemacht ha- ben! Schauen Sie die Existenzgründungen an!) Es ging aber weiter. Sie sind unwahrscheinlich kreativ beim Erstellen von neuen Masterplänen und Offensiven, Sie kündigen vollmundig Programme an, die – das muss die aber wenig bringen. Sie haben dann einen Master- ich zugestehen – nicht schlecht klingen, aber inhaltlich plan Bürokratieabbau aufgelegt. Was ist dabei herausge- nichts bringen. Sie haben bis jetzt nichts realisiert und kommen? Inzwischen haben wir mehr Bürokratie als auf den Weg gebracht, was uns in diesem Bereich nach damals. Sie bringen ein Gesetz nach dem anderen auf vorne gebracht hätte. Auf das Mautdebakel den Weg, das noch mehr Bürokratie nach sich zieht. (Klaus Brandner [SPD]: Das Mautdebakel hat Wenn Sie keine bürokratischen Gesetze auf den Weg die SPD gemacht?) bringen, dann schaffen Sie neue bürokratische Behör- den, und zwar eine nach der anderen. Das ist Ihre Politik. und die dadurch ausbleibenden Verkehrsinvestitionen, wovon viele kleine und mittlere Betriebe betroffen sind, (B) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Stichwort Ge- will ich hier gar nicht näher eingehen. (D) sellschafterfremdfinanzierung!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Beweis dafür ist, dass die Unternehmen inzwi- Unser Land steht vor allem seit dem Mai dieses Jah- schen 46 Milliarden Euro für Bürokratie aufbringen müs- res vor neuen Herausforderungen. Das wissen Sie. Wie sen. Allein der Mittelstand zahlt davon 84 Prozent. Wir haben Sie uns auf diese neuen Herausforderungen vorbe- müssen uns schon fragen: Warum ist es nicht möglich, für reitet? Fakt ist, dass nicht nur die Großunternehmen Ar- jedes Gesetz und jede Rechtsverordnung, die gemacht werden, zwei abzuschaffen? Warum haben Sie dazu nicht beitsplätze verlagern, sondern inzwischen auch die klei- den Mut? Warum werden nicht von nun an nur noch be- neren und mittleren Betriebe Arbeitsplätze zukünftig in fristete Gesetze gemacht? Warum wird nicht festgelegt, den Beitrittsländern schaffen. Das geschieht nicht, weil dass die Altvorschriften in bestimmten Fristen überprüft sie vaterlandslos sind, wie einige von Ihnen behaupten. werden und die Regierung dann nachweisen muss, dass Sicher ist die Verlagerung für die Markterschließung die Vorschriften überhaupt notwendig sind? wichtig und sicher werden damit auch Arbeitsplätze bei uns gesichert. Fakt ist aber auch, dass der Grund nicht Herr Kollege Brandner, Sie haben vorhin die Hand- nur weniger Steuern und weniger Abgaben sind. Wissen werksordnung angeführt. Die Reform der Handwerks- Sie, was es dort gibt? Unternehmerische Freiheit. ordnung war als der große Wurf angedacht. Was haben (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da, wo Sie gemacht? Sie haben versucht, die Handwerksord- es um Freiheit geht, sind Sie doch dagegen!) nung zu zerschlagen und sie durch staatlich hoch sub- ventionierte Ich-AGs zu ersetzen. Das war Ihre Politik. Das ist es, was viele kleine und mittelständische Be- triebe bewegt, nicht mehr hier zu investieren, sondern in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – unseren Nachbarländern. Klaus Brandner [SPD]: Haben Sie schon ver- gessen, was wir als gemeinsames Gesetz ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) macht haben, Frau Wöhrl?) Hier müssen Sie ansetzen. Aber was machen Sie? Sie Sie wissen doch ganz genau, dass Innovation und kürzen überproportional die GA-Förderung, ausgerech- Wachstum nicht durch diese Kleinstunternehmen entste- net das Förderinstrumentarium, das kleine und mittel- hen. Diese können gerade für sich selbst sorgen. ständische Betriebe zu Investitionen anregt. Das tun Sie nur, um den Steinkohlebergbau abzusichern. Sie müssen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Machen sich einmal überlegen, ob das die richtige Mittelstands- Sie sich keinen schlanken Fuß, Frau Wöhrl!) politik ist, die Sie auf den Weg bringen. 10026 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dagmar Wöhrl (A) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Immer Wir haben Probleme mit unseren Sozial- und Regulie- (C) die alte Leier!) rungskosten, die immer höher steigen, ohne dass die Be- schäftigten mehr Geld in der Tasche haben. Wir müssen – Lieber Herr Kollege, wenn Sie keine andere Politik aus dem Teufelskreis von wachsender Arbeitslosigkeit machen, dann kann ich auch keine andere Leier spielen. und eskalierenden Sozialleistungen herauskommen. Wir Machen Sie eine andere Politik, dann werde ich hier müssen zu mehr privater Vorsorge und zu einer Entkop- auch anders reden! pelung der Sozialleistungen vom Faktor Arbeit kommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Aber es ist nicht so, dass nur wir diese Vorschläge Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie neh- machen. Ich verstehe zwar, dass Sie unsere Entschlie- men das ja alles gar nicht mehr wahr!) ßungsanträge und Gesetzentwürfe ablehnen – wir sind schließlich die Opposition –, aber warum hören Sie nicht Sie wissen genauso wie wir, dass die Eigenkapital- auf den Sachverständigenrat, auf führende Forschungs- schwäche die Achillesferse der mittelständischen Be- institute, auf nationale und internationale Wirtschaftsex- triebe ist. Hier müssen wir zu neuen Finanzierungsmög- perten und auf Ihre eigenen Beiräte? Die Gutachten, die lichkeiten und Anreizen kommen. Ihnen erklären, was Sie falsch machen, stapeln sich in- Wir brauchen auch eine große Steuerreform. Ich rede zwischen. Packen Sie es doch an! von einer großen Steuerreform. Sie können mit uns darü- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ber reden, mehr Subventionen abzubauen, als bisher ge- der FDP) plant sind. Wir sind aber nicht bereit, Subventionen ab- zubauen und mit dem eingesparten Geld Haushaltslöcher Ich möchte mit einem Zitat schließen, mit dem ich Ih- zu stopfen. Eine große Steuerreform ist richtig, damit nen vielleicht ein Leitbild für die nächsten Wochen und wir wieder konkurrenzfähig werden. Monate bieten kann, in denen Sie noch Regierungsver- antwortung tragen. Der Unternehmer und Mittelständler Unsere Nachbarländer sind wirklich wachstumshung- Hans Knürr hat einmal gesagt: rig. Sie haben Niedrigsteuersätze. Wir aber sind mit un- serer Gesamtsteuerlast an oberster Spitze in Europa. Belässt man dem Mittelstand die notwendigen MITTEL, hat er ohne staatliche Hilfe einen un- (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das ist glaublich festen STAND. falsch! 21,6 Prozent!) Denken Sie daran, wenn Sie über die nächste Steuerer- Was haben Sie dem entgegenzusetzen? Ausbildungs- höhung nachdenken! platzabgabe – toll. Im Bundesrat wird über Pläne zur Vielen Dank. (B) Erhöhung der Erbschaftsteuer gesprochen, anstatt dass (D) Sie unseren Vorschlag aufgreifen. Stunden Sie die Erb- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schaftsteuer, wenn ein Betrieb von einem Nachfolger neten der FDP) übernommen wird! Erlassen Sie ihm die Erbschaftsteuer nach zehn Jahren! Dann hat er ganz bestimmt mehr für Präsident Wolfgang Thierse: die Volkswirtschaft getan, als wenn er unter Ihrer Regie- Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär rung Erbschaftsteuer zahlt. Rezzo Schlauch das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Wir haben viele Baustellen. Das ist gar keine Thema. minister für Wirtschaft und Arbeit: Die gab es auch zu unserer Zeit. Die Probleme müssen Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- aber angegangen werden. Wir können uns nicht zurück- ren Kollegen! Liebe Frau Kollegin Wöhrl, Sie haben da- lehnen. Wenn Sie sehen, dass sich bei einer der wichtigs- von gesprochen, dass es viele Baustellen gibt. Darauf ten Baustellen bei Ihnen überhaupt nichts tut und auch kann ich nur eines erwidern: Wir arbeiten an diesen Bau- nicht zu erwarten ist, dass sich in den nächsten zwei Jah- stellen, während Sie sie blockieren. ren nichts tut, nämlich auf dem Arbeitsmarkt, der bei uns wirklich in Beton gegossen ist, dann erkennen Sie die (Lachen bei der CDU/CSU) traurigen Perspektiven, die wir haben. Wir müssen die Ein aktuelles Beispiel einer solchen Baustelle, die Sie betrieblichen Bündnisse für Arbeit angehen. Das World aus ideologischer Borniertheit blockiert haben, Frau Economic Forum kam in einer Studie über 102 Länder Kollegin Wöhrl, ist das Zuwanderungsgesetz, zu dem Ergebnis, dass außer Venezuela wir das restrik- tivste Kündigungsschutzgesetz haben. Das müssen Sie (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sich einmal vorstellen. SES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: So Wenn Sie dann die neuesten Umfragen hören, wonach ein Quatsch!) zwei Drittel der Unternehmen sich wegen unseres Kün- um das wir uns seit zwei Jahren bemühen und das jetzt digungsschutzes gegen neue Jobs entscheiden, dann Gott sei Dank durch die Bemühungen des Bundeskanz- muss man doch das Thema angehen. Wenn Sie weiterhin lers erfolgreich zum Abschluss gebracht werden kann. hören, dass 70 Prozent bereit sind, bei einer Lockerung des Kündigungsschutzes zusätzliche Arbeitsplätze zu Damit nicht genug: Nicht nur das Zuwanderungsge- schaffen, dann muss man das Thema erst recht angehen. setz, sondern beispielsweise auch die sozialen Siche- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10027

Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauch (A) rungssysteme sind Baustellen, die mit dem Satz „Die Verfügung. Bis März dieses Jahres sind bereits (C) Rente ist sicher“ 16 Jahre lang geschlossen blieben. Wir 2,4 Milliarden Euro abgerufen worden. hingegen sind – das war schwierig genug – in vielen Wir haben speziell für den Mittelstand mit dem so ge- Einzelschritten eine Reform der sozialen Sicherungssys- nannten Mezzanine-Kapital ein Finanzierungsinstrument teme angegangen. geschaffen, das dazu geeignet ist, die Eigenkapital- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ schwäche der Unternehmen – die im Übrigen nicht vom DIE GRÜNEN) Himmel gefallen ist, Frau Kollegin Wöhrl, sondern auf- grund unserer Steuerregelungen eine jahrzehntelange Präsident Wolfgang Thierse: Geschichte hat; Sie wissen, worin sie begründet liegt Herr Kollege Schlauch, gestatten Sie eine Zwischen- – zu mildern. Wir haben außerdem – Bayern ist bei die- frage des Kollegen Michelbach? sem Pilotfonds mit dabei – die Eigenkapitalfrage über die KfW wieder aufgegriffen. Wir haben in diesem Be- reich also in massiver Weise Initiativen unternommen, Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär beim Bundes- um die Finanzierungsschwäche der Unternehmen durch minister für Wirtschaft und Arbeit: die Banken einigermaßen auszugleichen. Dass das nicht Nein danke, jetzt nicht. Ich habe gerade erst angefan- eins zu eins möglich ist, ist klar. gen. Frau Kollegin Wöhrl, zu einer weiteren von Ihnen an- Eine weitere Baustelle, auf die Sie nicht eingegangen gesprochenen Baustelle: Zur Sicherung der Unterneh- sind, ist das Thema Steuern. Sie haben über Jahre hin- mensliquidität gehört ebenfalls, dass wir das Thema weg das Steuerniveau auf einem unerträglich hohen Zahlungsmoral nochmals angehen. Der kürzlich vorge- Niveau gehalten. Wir haben es zwar mit Mühen, aber er- legte Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe folgreich gesenkt, und zwar so, dass die Senkung des „Verbesserung der Zahlungsmoral“ enthält aus unserer Steuerniveaus zielgenau den mittelständischen Betrieben Sicht eine Reihe guter Vorschläge, die nicht nur zu tech- zugute kommt. nischen, sondern auch zu inhaltlichen Verbesserungen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ der derzeitigen Rechtslage für Handwerker und Unter- DIE GRÜNEN und der SPD) nehmer führen dürften. Insofern bleibt mir nur festzustellen: Natürlich ist (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Ein totaler nichts so gut, als dass es nicht noch besser werden kann. Flop!) Aber wir müssen uns mit der Bilanz unserer Mittelstands- Auch beim Abbau der den Mittelstand besonders be- politik nicht hinter Ihnen verstecken. lastenden Bürokratie bzw. Überbürokratie – dieser Punkt (B) (D) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist ja wird von Ihrer Seite und vonseiten der Wirtschaftsver- Kabarett!) bände immer wieder angeführt – gibt es entscheidende Fortschritte. Bürokratieabbau betrifft – das wissen Sie genauso gut wie wir – alle staatlichen Ebenen, von der Präsident Wolfgang Thierse: EU bis zu den Kommunen. Frau Kollegin, bei diesem Kollege Schlauch, gestatten Sie jetzt eine Zwischen- Thema haben wir aber die Erfahrung mit Ihnen von der frage des Kollegen Michelbach? Opposition sowie mit den Wirtschaftsverbänden ge- macht, dass gerade diejenigen, die am lautesten nach Bü- Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär beim Bundes- rokratieabbau rufen, genau dann lieber beim Alten blei- minister für Wirtschaft und Arbeit: ben wollen, wenn es um die Wahrung eigener Nein danke, ich habe schon abgelehnt. Besitzstände geht. Ich möchte auf zwei Gesichtspunkte näher eingehen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Herr Kollege Brandner hat schon ein Thema angespro- DIE GRÜNEN und der SPD) chen, auf das Sie nicht eingegangen sind und das derzeit mit Sicherheit eines der schwierigsten Probleme des In der von Ihnen angesprochenen Diskussion über die Mittelstands ist, nämlich die Finanzierung des Mittel- Handwerksreform haben Sie regelrecht ideologische stands durch die Kreditwirtschaft. Wir haben – auch Grabenkämpfe geführt, um zu verhindern, dass zehn Ge- das ist bei Ihnen übrigens unterblieben – frühzeitig Maß- werke von einer Anlage in die andere überführt werden. nahmen ergriffen, um die Bereitschaft der Kreditwirt- Allen, die damals den Untergang des Handwerks pro- schaft so zu steigern, dass der Mittelstand weiterhin zum phezeiten, kann ich nur sagen: Er ist nicht eingetreten. Kerngeschäftsfeld gehört und auch tatsächlich so behan- Im Gegenteil: Diese Reform hat sich sehr positiv ausge- delt wird. wirkt. In den ersten drei Monaten dieses Jahres gab es bei fast allen Handwerkskammern einen regelrechten (Widerspruch bei der CDU/CSU) Gründungsboom, und zwar vor allem bei den zulas- sungsfreien Handwerken. Im Bereich vieler Handwerks- Mit der Fusion der beiden staatseigenen Förderban- kammern kam es im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ken zur KfW-Mittelstandsbank haben wir eine entschei- bei den zulassungsfreien Handwerken zu einer Verfünf- dende Weichenstellung vorgenommen. Die Bilanzen und fachung der Zahl der Eintragungen. Zahlen machen deutlich, wie erfolgreich der von uns be- schrittene Weg ist. Im Jahr 2004 stellt die KfW insge- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! samt über 5 Milliarden Euro für Mittelstandskredite zur Hört!) 10028 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauch (A) Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie während der All dies ginge noch viel schneller, und zwar zum (C) damaligen Debatte Ihre Energie darauf verwandt haben, Wohle des Mittelstands, wenn Sie Ihre unsägliche Blo- im klassischen Sinne strukturkonservativ zu agieren und ckadepolitik in Sachen Zusammenführung von Arbeits- althergebrachte Strukturen zu verteidigen. Sie haben ver- losenhilfe und Sozialhilfe im Bundesrat endlich aufgä- sucht, den Wettbewerb einzuschränken. ben. Alle in diesem Haus sind dafür, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengeführt wer- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Kohle!) den. Statt über organisatorische Fragen zu diskutieren, Ich kann dazu nur sagen: Mit unserer Handwerksreform sollte man substanzielle Verbesserungen für den Mittel- haben wir mehr Wettbewerb ermöglicht und haben für stand in den Vordergrund rücken. Belebung in diesem Bereich gesorgt, während Sie, wie Frau Kollegin Wöhrl, Sie haben ein düsteres Bild ge- gesagt, auf althergebrachte Weise den Status quo vertei- zeichnet. Es war wie immer schwarz in schwarz. Das ist digt haben. Ihre Farbe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. [CDU/CSU]: Aufgebläh- und bei der SPD – [CDU/ ter Knallkopf!) CSU]: Steinkohle!) Ich kann Ihnen nur sagen – das wissen Sie; schließlich Das, was wir hier gemacht haben, war echter Bürokratie- ist das ein konservativer Ausspruch –: Wirtschaftspolitik abbau von unten, der außer Entschlusskraft und Mut ist zur Hälfte gute Psychologie. In dieser Beziehung sind nichts gekostet hat. Beides haben wir gehabt. Sie keine gute Wirtschaftspolitikerin, weil Sie mit „schwarz in schwarz“ nicht weiterkommen. Ein weiteres Beispiel für das Motto „Bürokratieabbau ja, aber bitte nur bei den anderen“ ist die Reform des Ich will Ihnen an diesem Punkt auch entgegenhalten: Vergaberechts. Hier wird ein Wust an umfänglichen Nach der Frühjahrsmittelstandsumfrage der DZ Bank und unverständlichen Regelungen von Ihrer Seite sowie – immerhin eine objektive Institution – erwarten 44 Pro- – das verwundert mich besonders – vor allen Dingen zent der mittelständischen Unternehmen in den kom- vonseiten der Wirtschaft und insbesondere der Wirt- menden Monaten bessere Geschäfte. Dies ist nach Anga- schaftsverbände plötzlich als Bollwerk gegen Korrup- ben der Bank der zweithöchste Wert seit fast zehn tion hochstilisiert. Ein einfaches, transparentes Vergabe- Jahren. Das klingt etwas anders als das von Ihnen darge- recht, wie wir es auf den Weg bringen wollen, wird stellte Horrorszenario. Wir werden daran arbeiten, dass abgelehnt, und zwar deshalb, weil man um den Verlust sich die Lage weiterhin verbessert. des Einflusses durch die so genannten Verdingungsaus- Danke schön. (B) schüsse fürchtet, in denen bislang die Vertreter von Ver- (D) bänden und Behörden gemeinsam die Ausschreibungsre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geln erarbeitet haben. Auch dies ist ein Beispiel dafür, DIE GRÜNEN) dass diejenigen, die täglich den Schlachtruf der Deregu- lierung, der Liberalisierung, der Entbürokratisierung auf Präsident Wolfgang Thierse: den Lippen führen, plötzlich zu heftigen Verteidigern Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem des Status quo werden, wenn es konkret wird. Kollegen Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. Wir setzen den Bürokratieabbau fort, beispielsweise durch die Reform der Arbeitsstättenverordnung und da- Hans Michelbach (CDU/CSU): durch, dass wir den Arbeitsschutz bei den Berufsgenos- Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Staatssekretär senschaften bündeln. Das bestehende System mit Schlauch, Sie haben mir keine Gelegenheit gegeben, 80 Unfallversicherungsträgern in 16 Bundesländern eine Frage zu stellen. Deshalb möchte ich mit dieser führt nämlich dazu, dass die Betriebe häufig doppelt Kurzintervention Ihre Behauptung klar zurückweisen, überwacht werden. Durch die von uns vorgeschlagene dass wir an verschiedenen Punkten blockiert haben. Als Zusammenführung des staatlichen und des berufsgenos- Sie von Blockaden gesprochen haben, müssen Sie wohl senschaftlichen Vollzugs im Arbeitsschutz wollen wir zunächst an sich selbst gedacht haben. Sie verwechseln diese Tätigkeiten bündeln und die Unternehmen so von hier etwas. Die CDU/CSU hat gestern im Finanzaus- unnötigem Verwaltungsaufwand entlasten. schuss den Antrag gestellt, die für den Mittelstand äußerst schwierige Neuregelung der Gesellschafter- Frau Kollegin Wöhrl, der große Wurf ist immer sehr fremdfinanzierung über § 8 a Körperschaftsteuerge- schnell dargelegt. Ich erinnere Sie an den großen Wurf setz wieder zu ändern. Es ist natürlich ein Mittelstands- Ihres Kollegen Merz, den er mit einem radikalen Gestus vernichtungsprogramm, wenn die Zinsen für eine präsentiert hat – Stichwort „Steuerreform auf einem Finanzierung im Mittelstand auch noch voll versteuert Bierdeckel“ – und mit dem er in Ihren eigenen Reihen werden müssen. Sie haben die Veränderung verweigert, kläglich gescheitert ist. Es ist mehr Mühe und Arbeit obwohl Sie wissen, dass das letztlich wirklich ein Mittel- notwendig, um die Situation des Mittelstands zu verbes- standsvernichtungsprogramm ist. sern. Da muss man auch in die Details gehen. An die Lö- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sung dieser Probleme sind wir mit der Agenda 2010 und mit den von mir angesprochenen Maßnahmen zum Bü- Es muss noch einmal deutlich darauf hingewiesen rokratieabbau und zur Förderung des Mittelstands heran- werden, dass wir von der CDU/CSU gerade einen An- gegangen. trag für ein Sofortprogramm in der Steuerpolitik in den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10029

Hans Michelbach (A) Deutschen Bundestag eingebracht haben und Sie sich Präsident Wolfgang Thierse: (C) auch diesem Antrag verweigert haben. Er hätte gerade Ich erteile Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion, für den Mittelstand ein deutliches Signal in Richtung das Wort. Entlastung, mehr Freiraum für Investitionen und vor al- lem Vereinfachung gesetzt. (Ludwig Stiegler [SPD]: Am 30. Mai ist Welt- untergang! – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Herr Staatssekretär, nehmen Sie einfach zur Kenntnis, [SPD]: Nein, schon vorher! – Wilhelm dass Sie mit Ihrem Vorwurf nichts anderes tun, als Ne- Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kassandra!) belkerzen zu werfen. Sie haben dem Mittelstand damit nicht gedient. Der Mittelstand braucht eine klare Mittel- Rainer Brüderle (FDP): standspolitik und keine Nebelkerzen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Danke schön. Schlauch, Sie haben so viele Dankesschreiben von Mit- telständlern für die außerordentlich erfolgreiche grün- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – rote Politik erwähnt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Volker Kauder [CDU/CSU]: Vor allem kein die einmal vorlegen würden. Ich gebe Ihnen gern Kopien rot-grünes Gefasel!) der Schreiben mit massiven Beschwerden über Ihre Poli- tik, die bei uns eingehen. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kollege Schlauch, Sie haben die Möglichkeit zur Ant- der CDU/CSU – Hartmut Schauerte [CDU/ wort. CSU]: Das ist ein LKW voll!) Kollegen Brandner, der uns nach seinem Beitrag ver- Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär beim Bundes- lassen hat, hätte ich gern noch etwas zu seiner Rede ge- minister für Wirtschaft und Arbeit: sagt – man verfolgt ja die Beiträge der anderen bei der Herr Kollege Michelbach, ich möchte kurz auf den Debatte –, nämlich dass mir seine Selbstbeweihräuche- § 8 a Körperschaftsteuergesetz eingehen. Vielleicht ist es rung wie der folgende Fall vorkommt: Einem Bauern Ihnen entgangen, aber Tatsache ist: Für die unbefriedi- wird ein Schwein vom Hof geholt und geschlachtet. An- gende Fassung des § 8 a Körperschaftsteuergesetz sind schließend bekommt er drei Koteletts zurück und soll alle in diesem Hause, einschließlich Ihrer Fraktion, ver- sich dafür auch noch bedanken. antwortlich; (Beifall bei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und warum Sie waren auch schon witziger!) (B) ändern Sie ihn dann nicht?) (D) – Herr Stiegler, Sie werden im „Spiegel“ gerade mit den denn dieser § 8 a ist vor Weihnachten im Vermittlungs- Worten zitiert, dass Sie Herrn Clement an die Wand klat- ausschuss ausführlich beraten und in der jetzt gültigen schen wollten. Das ist sehr witzig. Ich finde es sehr ori- Fassung beschlossen worden. ginell, wie Sie miteinander umgehen. Das ist hochinte- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dann ändern ressant. Sie ihn doch jetzt!) Wir diskutieren heute über einen Antrag von Grün- Rot vom 28. Januar 2003 mit der tollen Überschrift „Of- Sie haben daran das gleiche Urheberrecht wie allen an- fensive für den Mittelstand“. Mit welchem Nachdruck deren auch. Sie das betreiben, sieht man daran, dass wir ihn heute, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist im Mai 2004, abschließend beraten. Das hat eine einfa- das!) che Ursache: Wir stehen vor der Europawahl. Da kom- men die üblichen Lippenbekenntnisse von Grün-Rot Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben uns bemüht und zum Mittelstand, um vor der Wahl einen guten Eindruck wir bemühen uns, die negativen Auswirkungen des § 8 a zu machen. Die Realität sieht anders aus. durch einen so genannten Anwendungserlass in Bezug auf die Bürgschaftsfälle abzumildern und das für den Die Zahl der Firmenpleiten hat 2003 einen neuen Mittelstand positiver zu gestalten. Das haben wir getan. Nachkriegsrekord erreicht. Die Arbeitslosigkeit war Für weitere Korrekturen sehen wir derzeit keinen Be- nach alter Zählung – Sie haben das ja etwas umge- darf. Wir werden es aber natürlich noch einmal prüfen. schminkt – im April so hoch wie noch nie. Die Erwerbs- tätigkeit nimmt weiter ab. Die Binnenkonjunktur lahmt Den Eindruck zu erwecken, als ob Sie mit diesem trotz guter Exportlage. Der Mittelstand ist eben in der § 8 a nichts zu tun haben, das ist nun wirklich nicht legi- Region verwurzelt. Er kann nicht nach Südportugal oder tim. Da haben wir alle ein Problem geschaffen. China auslagern und die Aufträge dort erfüllen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dann ändern Ein zentraler Punkt, den Sie – Herr Schlauch, das hat Sie ihn doch!) auch Ihre Rede gezeigt – einfach nicht verstehen, ist, Wir haben die Situation des Mittelstandes verbessert und dass Mittelstandspolitik nur funktionieren kann, wenn werden sie auch weiterhin verbessern. die Regierung in ihrem politischen Handeln Berechen- barkeit, Vertrauen, Klarheit vermittelt. Der Mittelstand (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will keine Subventionen, er will eine faire Chance ha- und bei der SPD) ben. Wenn Sie ständig alles neu regeln, hier und da ein 10030 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Rainer Brüderle (A) Progrämmchen auflegen, die Telekom aber das sie regu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) lierende Gesetz beinahe selber schreiben lassen, Eon und der CDU/CSU) Ruhrgas einen Marktanteil von 85 Prozent zugestehen, die Kohlesubventionen fortsetzen, aber kein Geld für Herr Clement wurde vom Superminister – ich zitiere Bildung ausgeben, dann schaffen Sie kein Umfeld, in noch einmal den „Spiegel“ – zum Störenfried degradiert. dem Mittelständler erfolgreich arbeiten können. Einmal will er den Sparerfreibetrag streichen, dann soll die Ostförderung zusammengestrichen werden, dann soll (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das Straßennetz privatisiert werden. Gerade durch solche der CDU/CSU) Vorschläge wird nicht die notwendige Klarheit geschaf- fen. Mittelstand ist kein Betriebsgrößenbegriff, sondern eine Geisteshaltung. Das ist Ihnen natürlich fremd. Es Der Posten des Mittelstandsbeauftragten, der eigent- handelt sich um Menschen, die mit einer anderen Ein- lich genau für diese Menschengruppe und ihre Geistes- stellung als Funktionäre, die kein unmittelbares Risiko haltung kämpfen müsste, ist heute zu einer Versorgungs- tragen, an die Sache herangehen, die in der Regel mit ih- stelle für abgehalfterte grüne Politiker geworden. rem Vermögen bzw. ihrem Eigentum für ihre Entschei- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist dungen haften. Mittelständler haben eine spezielle Ein- unanständig! Das ist diskriminierend! Das ist stellung; gerade diese brauchen wir. Sie können doch kein Stil!) manchmal nachts nicht schlafen, weil sie sich überlegen, ob sie zu bestimmten Konditionen noch den Auftrag Das ist nicht der richtige Weg. So kann man dem Mittel- hereinnehmen können und wie sie einen Weg finden, um stand keine Möglichkeiten aufzeigen, um aus der Krise ihrer Belegschaft Arbeit zu geben. Bei ihnen arbeiten herauszukommen. Familienmitglieder mit. Eine 35-Stunden-Woche ist für sie eine Witznummer. Nach drei Tagen haben sie diese Diese Aufzählung ließe sich ja fortsetzen: In einer Arbeitszeit erreicht. Bürgerversicherung sollen alle gleichgeschaltet werden. Hier bringen Sie eine DDR light ins System. Man könnte (Dr. [FDP]: Sehr richtig!) noch Ihren Zickzackkurs beim Ladenschluss und vieles andere hinzufügen. Mit all dem tragen Sie dazu bei, dass Diese Menschen verunsichern Sie permanent. Sie der Mittelstand keine faire Chance hat, sich positiv zu werden von Ihnen schlecht behandelt. entwickeln. Die Bedingungen stimmen nicht. Selbst (Ludwig Stiegler [SPD]: Von Ihnen!) diese schlechten Bedingungen sind nicht berechenbar. Aber Wirtschaften beruht auf Kalkulation. Am Schluss Sie werden nach wie vor auch steuerlich schlechter be- müssen Sie rechnen: Zwei und zwei sind vier. Wer nicht (B) handelt. Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie rechnen kann, kann auch nicht steuern. (D) doch Ihren Parteigenossen Professor Dr. Wiegard, den Vorsitzenden des Sachverständigenrates. Der rechnet Ih- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich weiß nicht, nen vor, dass die Konditionen für Mittelständler immer ob die das verstehen!) noch nicht mit denen der übrigen Wirtschaft vergleich- Die Eigenkapitalausstattung des Mittelstandes ist bar sind. – zum Teil historisch bedingt, zum Teil bedingt durch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten unser Steuersystem – katastrophal schlecht. Der Deut- der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Er sche Sparkassen- und Giroverband hat vor kurzem eine hat das Gegenteil gesagt!) Untersuchung vorgelegt, in der er 50 000 mittelständi- sche Betriebe erfasst hat. Von diesen hatte die Hälfte Und kommen Sie mir doch nicht mit der Steuerquote. kein Eigenkapital – mit anderen Worten: Die sind schon Wenn viele mittelständische Betriebe nichts verdienen fertig, wissen es aber nur nicht – und im Schnitt hatten und deshalb keine Steuern zahlen können, dann kann die Betriebe bis 100 Beschäftigte eine Eigenkapitalquote Steuerquote nicht hoch sein. Ich treffe doch volkswirt- von 6 Prozent. In angelsächsischen Ländern liegt sie schaftliche Entscheidungen nicht nach Steuerquoten, zwischen 35 und 45 Prozent. Das ist eine strategische sondern nach Steuersätzen. Schwäche unseres Mittelstandes. Eine entsprechende Sensibilität für Rahmenbedingungen, die es dem Mittel- Sie übersehen völlig, dass wir nach der EU-Osterwei- stand ermöglichen, sich einzubringen, fehlt Ihnen leider terung plötzlich mit Ländern in unmittelbarem Wettbe- völlig. werb stehen, die eine Flat Tax haben, bei der nur ein Mi- nimum steuerfrei gestellt ist, die maximalen Steuersätze (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aber bei unter 20 Prozent liegen. Es wird für manche Un- der CDU/CSU) ternehmen bald völlig egal sein, ob ihr Firmensitz in Riga, in Köln, in Ljubljana oder in Hamburg ist. Der Un- Präsident Wolfgang Thierse: terschied ist nur, dass sie bei uns 50 Prozent oder mehr Ich erteile das Wort Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk, Steuern zahlen, während sie dort weniger als 20 Prozent SPD-Fraktion. bezahlen. Wie Sie dies durchhalten wollen, ist mir schleierhaft. Das wird zu weiterer Abwanderung von Kapital und inzwischen auch von Arbeitskräften führen, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): weil die Leute merken, dass woanders mehr übrig bleibt Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Opposition und dort auch bessere Umfeldbedingungen herrschen. in der vergangenen Dreiviertelstunde hier geboten hat, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10031

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (A) war billige Polemik, widersprüchlich und zum Teil aus- Wir sollten uns stattdessen über Probleme unterhal- (C) gesprochen heuchlerisch. ten, wie zum Beispiel über die Strukturkrise des deut- schen Bankensystems, die noch lange nicht durchgestan- (Beifall bei der SPD) den ist und die schwerwiegende Auswirkungen auf die Dass Sie zuerst der Handwerksordnung zustimmen und Finanzierung des deutschen Mittelstands hat, und da- sie dann hier angreifen und beklagen, finde ich außeror- rüber, was man konkret machen kann, um die Probleme dentlich schäbig. zu lösen. Dazu reicht keine – ich sage es einmal ganz offen – Maulhurerei, vielmehr müssen wir überlegen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der wie wir den Betrieben konkret helfen können. Darüber Abg. Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]) sollten wir sprechen. – Entschuldigen Sie bitte, reden wir hier über die verab- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schiedete Handwerksordnung oder über frühere Vor- Entscheidend ist, welche Probleme mittelständische schläge? Sie können sich doch nicht erst hier einbringen Unternehmen, insbesondere kleine, heute haben – das und mit uns gemeinsam um Änderungen ringen und können wir alle, quer durch dieses Haus, an Beispielen dann genau diese hier angreifen. aus unseren Wahlkreisen belegen –, wenn es darum geht, Ähnlich ist es mit der EU-Osterweiterung. Wir alle in die notwendigen Finanzierungsmittel für Investitionen diesem Hause haben sie gemeinsam beschlossen, Sie ha- und den laufenden Geschäftsbetrieb zu beschaffen, von ben sie in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft als der Finanzierung von Forschung und Entwicklung ganz wichtig, besonders mit Blick auf die Exporte, gepriesen, zu schweigen. Darin liegt einer der Gründe, warum sich weil diese Erweiterung neue Chancen biete, aber hier der exportorientierte Aufschwung im Moment zwar in nennen Sie die Konditionen, die Sie vorher alle kannten, den Bilanzen der Großbetriebe niederschlägt, aber noch schlecht für den deutschen Mittelstand. So können wir immer nicht bei den kleinen und mittleren Betrieben: doch nicht miteinander umgehen! Dort funktioniert die Finanzierung der Investitionen nicht. (Beifall bei der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Doppelzunge! – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) Sie haben gar nicht zugehört!) Jeder von uns kann aus seiner eigenen Erfahrung be- stätigen, was die Umfrage der Kreditanstalt für Wieder- Ein weiterer Punkt ist die Steuerreform; auch hier aufbau aus diesem Frühjahr dokumentiert hat: Für sprechen Sie doppelzüngig. Zuerst schlagen Sie eine 43 Prozent der befragten Unternehmen ist die Kredit- Steuersenkung vor, Frau Kollegin Wöhrl, dann sagen aufnahme spürbar schwieriger geworden; (B) Ihre eigenen Leute, auch der Finanzminister des Landes (D) Bayern, Herr Dr. , so gehe es nicht, es (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Das ist etwas müsse auch an die Länderhaushalte gedacht werden anderes, als Ihr Kollege gerade erzählt hat!) – übrigens eine sehr vernünftige Anmerkung von ihm; in den neuen Ländern sind es sogar 47 Prozent. Bei den wir müssen den historischen Tiefstand der deutschen kleinen Unternehmen ist es fast jedes zweite, das klagt. Steuerquote bedenken und überlegen, wo und wie wir 16 Prozent der Unternehmen – wichtige Träger der Wirt- senken –, und anschließend beklagen Sie, einschließlich schaft und der Beschäftigung, gerade in den Regionen – des Kollegen Brüderle – dessen Partei in dem Land, aus haben Probleme, überhaupt noch einen Kredit zu be- dem er kommt, der Steuerreform im Bundesrat zuge- kommen. stimmt hat –, das, was in der Folge geschieht. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Sie werden von Dann macht Herr Michelbach hier eine Kurzinterven- den Banken oftmals auf das Stichwort Basel II reduziert, tion und erläutert, welch schlimme Auswirkungen § 8 a übrigens zu Unrecht. Im Gegenteil, die Bundesregierung des Körperschaftsteuergesetzes hat, und ihre Verhandlungsführer in Basel haben Ergebnisse (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Stimmt erreicht – zum Teil gegen den Rest der Welt und in einer doch!) geduldigen Überzeugungsarbeit in Europa –, die die be- sonderen Finanzierungsbedingungen des Mittelstands und muss sich von Rezzo Schlauch belehren lassen, dass angemessen und sehr viel besser berücksichtigen, als es seine Partei das im Bundesrat selber mitgetragen hat. in den ursprünglichen Plänen vorgesehen war. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt wollen (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) wir es doch ändern!) Man hat in internationalen Zeitungen wie der „Finan- Herrschaften, hinter verschlossenen Türen Ja sagen, im cial Times“ und dem „Wall Street Journal“ nachlesen Bundesrat zustimmen und dann an den Stammtischen können, dass die Welt das deutsche Wort Mittelstand und hier im Parlament anders reden, das ist einfach mittlerweile buchstabieren gelernt hat. Es ist richtig und heuchlerisch. wichtig, dass die Kapitalmärkte nicht nur zur Finanzie- rung der großen multinationalen Konzerne da sind. Die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kapitalmärkte müssen auch die Finanzierungen für die DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ kleinen Unternehmen sicherstellen. Auf diesem Gebiet CSU]: Quatsch! Wir haben gestern einen Än- hat gerade die Bundesregierung einen Durchbruch in der derungsantrag eingebracht!) internationalen Debatte erreicht. 10032 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Albrecht Griff zu bekommen. Eine ganz neue Produktfamilie, die (C) Feibel [CDU/CSU]: Haben Sie mal in der Pra- insbesondere berücksichtigt, dass deutsche Unterneh- xis erfahren, wie die aussehen?) men über geringeres Eigenkapital verfügen, soll gerade kleinen und innovativen Unternehmen helfen, sich – Ja. Reden wir einmal über die Praxis! Die heutige Situa- Nachrangkapital neben den klassischen Krediten zu be- tion hat auch mit der Struktur des deutschen Banken- schaffen, damit sie in der Startphase und anschließend in systems zu tun. der Wachstumsphase mehr Möglichkeiten haben. (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Aha!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre mir lieber Wir müssen auch darüber offen reden, dass bei einem gewesen, diesen Punkt ausführlicher darzustellen. Aber Teil der Großbanken der Mittelstand faktisch keine Kre- aufgrund Ihrer wirklich billigen Polemik, die an den dite mehr bekommt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass nützlichen Maßnahmen im Rahmen dieser Mittelstands- bei vielen dieser Großbanken das Geld knapp ist, weil offensive kein gutes Haar gelassen hat – wir sollten ver- sie es auf den internationalen Kapitalmärkten schlicht suchen, gemeinsam für den Mittelstand das Beste he- verzockt haben. Auch darüber muss man einmal offen rauszuholen –, kann ich die positiven Seiten leider nicht miteinander reden. ausgiebig darstellen. (Beifall bei der SPD – Hans Michelbach (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Weil sie nicht da [CDU/CSU]: Sie haben Eigenkapital vernich- sind, Frau Kollegin Skarpelis-Sperk! Man tet!) kann nicht über etwas reden, was nicht da ist!) 700 Milliarden US-Dollar sind allein durch die IT- Es wäre wert, diese Maßnahmen dem Mittelstand und Blase vernichtet worden. Wenn Sie einmal sorgfältig die den kleinen Unternehmen bekannter zu machen und auf Bilanzen der deutschen Großbanken durchgehen – leider die neuen Möglichkeiten hinzuweisen. Das wäre besser, sind es nicht nur die Großbanken – als alles schlechtzureden. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben das In der Tat ist Wirtschaftspolitik zur Hälfte Psycholo- Eigenkapital der Firmen vernichtet!) gie. Sie leisten nur den Beitrag, alles schwarz zu malen. und sich die Auswirkungen der Lateinamerikakrise, der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Asienkrise und der Russlandkrise anschauen, dann kom- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) men Sie zu dem Schluss, dass massive Wertberichtigun- gen notwendig waren und dass sich die Banken immer Präsident Wolfgang Thierse: noch nicht ganz von dieser Situation erholt haben. (B) Ich erteile das Wort Kollegen Hartmut Schauerte, (D) Schauen Sie sich einmal die Rates of Return und die in- CDU/CSU-Fraktion. ternationalen Ratings an! Man muss auch darüber reden, dass die öffentliche Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Förderpolitik zum Teil eingesprungen ist, aber dass sie Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- dieses Problem allein nicht lösen kann, insbesondere ren! Wir reden über den Mittelstand, von dem alle sagen, weil die Banken risikobewusster geworden sind. Man dass er die wichtigste und unverzichtbarste Institution kann dies vor dem Hintergrund ihrer Bilanzen auch ist, wenn es darum geht, vernünftiges Wirtschaften zu nachvollziehen. Sie müssen versuchen, aus dieser ermöglichen, Ertrag zu erzielen, Arbeitsplätze zu schaf- schwierigen Situation herauszukommen. Manchmal fen sowie Fortschritt und Nachhaltigkeit zu sichern. wurde das Management ausgetauscht, aber manchmal Deswegen bitte ich darum, einmal einen Moment inne- nicht. Diejenigen Banken, die das Management nicht ge- zuhalten und keine klein-kleine Betrachtung vorzuneh- wechselt haben, fordere ich an dieser Stelle auf, sich bei men. Ich gestehe Ihnen in einer Reihe von Fällen gute den großmäuligen Ratschlägen an die Adresse der Poli- Absichten und guten Willen zu. Ich stelle fest, dass wir tik etwas zu mäßigen. eine Reihe von Maßnahmen mitgetragen haben und dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sie vernünftig waren, weil sie an dem einen oder anderen Punkt eine Fehlsteuerung, eine Fehlentwicklung besei- Vor der eigenen Tür zu kehren und sich zu überlegen, tigt haben. Das ist so; darüber brauchen wir uns doch was sie im vergangenen Jahrzehnt an Milliardensummen nun wirklich nicht zu streiten. der Shareholder, aber auch, was die Potenziale der deut- schen Volkswirtschaft angeht, in den Sand gesetzt haben, Die Frage ist: Reicht das? Ist dabei genügend heraus- wäre wesentlich angemessener, als uns auf diversen Ver- gekommen? Können uns die Ergebnisse zufrieden stel- bandstagungen gute Ratschläge zu erteilen. len, die wir nach sechs Jahren Ihrer Regierungskunst und nach anderthalb Jahren Regierungskunst von Wolfgang (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Clement erkennen können, dem Superminister, der, als des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vor einem Jahr über diese Dinge diskutiert wurde, hier war, weil er zum Aufbruch blasen wollte, und der am Wir haben gemeinsam versucht – das sage ich als heutigen Tage, an dem Bilanz gezogen wird, nicht hier Vorsitzende des Unterausschusses ERP-Wirtschaftspläne ist? deutlich –, den Unternehmen wirksame Hilfen zu ge- währen und diese schwierige Situation, in der die Ban- Ich darf in aller Ernsthaftigkeit auf ein paar Fakten ken risikobewusster geworden sind, einigermaßen in den hinweisen. Unser Ziel ist ja, in Deutschland Arbeits- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10033

Hartmut Schauerte (A) plätze zu schaffen – und das mit einem effektiven, wir- gemacht haben. Aber nennen Sie mir einige wenige ver- (C) kungsvollen Mittelstand. nünftige Dinge, die Sie gemacht haben und denen wir nicht zugestimmt haben! Sie werden keine finden. Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kann Ihnen eine Maßnahme nennen, die wirklich funktio- Ein paar Zahlen: Wir haben im Vergleich zum Vorjahr niert hat: die Einführung des Minijobs mit einem Ver- 134 000 Erwerbstätige weniger. Die Zahl der sozialver- dienst von 400 Euro pro Kopf. Das ist das einzige Ele- sicherungspflichtig Beschäftigten ist im Vergleich zum ment – das haben wir in den Kompromissverhandlungen Vorjahr um 520 000 geringer. Die Zahl der offenen Stel- durchgesetzt –, das wirklich weitergeführt hat. 7,4 Millio- len ist im Vergleich zum Vorjahr um 91 000 geringer. nen neue Minijobs sind entstanden. Das Ergebnis ist also deprimierend. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Jetzt muss man überlegen, wie wir aus diesem Trend neten der FDP) herauskommen. Sie können behaupten, Sie hätten alles gemacht. Wenn man es jetzt so laufen lasse, dann werde Das ist das einzige Programm, das wirklich gelungen ist sich die Entwicklung verbessern. Sie glauben es aber und das wir durchgesetzt haben. Ich will mich damit selber nicht! Sie wissen das. nicht brüsten; aber Sie sollten unsere Kritik ernst neh- men. Wir verstehen etwas vom Mittelstand. Wir wissen, Ich will ein paar Maßnahmen ansprechen, die Sie an- was da fehlt. Wir sind da mehr zu Hause als Sie. gekündigt haben, bei denen Sie guter Hoffnung waren und die Sie beschlossen haben, und dann darauf hinwei- Für den Mittelstand ist folgende momentane Entwick- sen, wie sie gewirkt haben. Die Personal-Service-Agen- lung desaströs: Clement darf nicht mehr; Clement kann turen zum Beispiel, die vor kurzer Zeit eingerichtet wor- nicht mehr. den sind, waren der große Renner zur Bewältigung Der Bundeskanzler musste den Parteivorsitz abgeben. vieler wichtiger Probleme. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Clement ist (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Alles nur am Ende!) Schall und Rauch!) Müntefering sollte den Parteivorsitz übernehmen, um Es wurden Beschäftigungseffekte in Höhe von 500 000 Ruhe, sprich: keine weiteren Veränderungen, in den Re- Arbeitsplätzen angekündigt, davon 350 000 Volljobs per formprozess zu bringen. Das ist ein lebensgefährliches anno. Das war Ihr Hoffnungsansatz. Herausgekommen Signal; es gibt weder Hoffnung noch Perspektive für den ist in 2004 ein Beschäftigungseffekt von 7 700 Arbeits- Weg nach vorn. plätzen. (B) (Zuruf von der CDU/CSU: Wahnsinn!) Wenn Sie diesen gefährlichen, vermutlich aber richti- (D) gen Eindruck nicht durch konkretes Handeln definitiv Das Programm des Jobfloaters wurde mit großer Hoff- beseitigen, können Sie an den Einzelschräubchen dre- nung und gutem Willen beschlossen, weil es helfen hen, so viel Sie wollen, dann können Sie auch die Kre- sollte. Angekündigte Beschäftigungseffekte: 120 000 Jobs. ditprogramme bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau so Bis heute führte dieses Programm zu 11 000 Volljobs stark ausweiten, wie Sie wollen, Sie werden dennoch und 1 000 Ausbildungsplätzen. Dafür wurden aber 837 kein neues Vertrauen schaffen, sodass neue Arbeitsplätze Millionen Euro ausgegeben. in Deutschland entstehen können und nachhaltig gewirt- schaftet werden kann. (Zuruf von der CDU/CSU: Wahnsinn!) In diesem Zusammenhang wurde auf die Firmen- (Beifall bei der CDU/CSU) gründungen hingewiesen. Ich hatte bei der letzten De- Sie werden das Vertrauen nicht finden. Mittlerweile batte mit Herrn Müntefering – ich weiß nicht, ob er noch geht doch Angst im Volk um. Das Einzige, was an Ihrer hier ist – einen kleinen Disput. Er hatte von 1,6 Millio- so genannten nachhaltigen Entschuldungspolitik nach- nen Neugründungen in einem Jahr gesprochen. Ich warte haltig ist, ist die Tatsache, dass Sie die Maastricht-Krite- noch auf eine präzise Antwort von ihm. rien nachhaltig verletzen. Wir müssen doch in den Fakt ist: 1998 gab es 858 100 Firmenneugründungen nächsten fünf bis sechs Jahren bei 40 Milliarden Euro und 704 000 Firmenabmeldungen. Saldo: 154 100 Neu- Neuverschuldung mit weiteren massiven Verstößen gründungen sind übrig geblieben. In 2003 gab es rechnen. Wissen Sie, welche Ängste die Menschen ha- 761 000 Neugründungen und 656 000 Abmeldungen. ben? Wir reden diese Ängste nicht groß. Die Menschen Saldo: 105 000. Arbeitsplatzrelevante Firmenneugrün- befürchten, dass der Staatsbankrott droht, wenn wir so dungen in Deutschland sind also minimal. Das ist doch weitermachen. der Befund. (Widerspruch bei der SPD) Jetzt müssen wir überlegen: Ist alles richtig gemacht – Entschuldigen Sie, stellen Sie sich vor, die Zinsen in worden? Reicht das? – Ich sage: Nein! Sie haben durch Deutschland steigen um 1 Prozent – das ist eine ganz eine Vielzahl von Maßnahmen, durch Ankündigungen, niedrige Marge. Das ist auch höchstwahrscheinlich. durch kontroverse Diskussionen, durch Streit, durch Zeitverzögerung, durch klassische Fehler also, mindes- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ein Bei- tens so viel neue Verunsicherung bewirkt, wie Sie an der trag zur Konjunkturbelebung ist das, den Sie einen oder anderen Stelle sicherlich etwas Vernünftiges hier leisten! Unglaublich!) 10034 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Hartmut Schauerte (A) – Sie werden steigen. Sie wissen doch, was auf dem in- der Unternehmer, obwohl er den Kredit für sein Unter- (C) ternationalen Finanzmarkt los ist. Angesichts der Schul- nehmen aufgenommen hat, haftet dafür persönlich. So den, die uns jetzt belasten, müssen wir bei 1 Prozent ist die heutige Lage und wir helfen doch niemandem, Zinssteigerung in einem Jahr um die 10 bis 14 Milliar- wenn wir uns darüber streiten, wer an dem Fehler mitge- den Euro zusätzliche Staatsausgaben tätigen. An diesen wirkt hat. Es ist doch einzig und allein vernünftig zu sa- zusätzlichen Staatsausgaben werden Sie nichts ändern gen: Wir haben einen Fehler gemacht und der wird so können. schnell wie möglich korrigiert, bevor er bilanzwirksam wird. In diesem Jahr muss der Fehler korrigiert werden, Sie erlauben sich in dieser Situation den Stillstand und und zwar rückwirkend zum 1. Januar 2004. Das wäre sagen: Wir brechen die Reformen ab. Die SPD-Wähler eine konkrete Maßnahme. Sie können sich nicht mit dem sind nicht mehr bereit, weitere Reformen zu akzeptieren. Satz „Ihr habt mitgewirkt“ herausreden. Wir erkennen Die SPD-Mitglieder fürchten sie. Münteferings Aufgabe heute, dass das, was wir beschlossen haben, Gift ist; ist es, weitere Austritte zu verhindern und die SPD zu also: Weg mit dem Gift! stabilisieren. Das heißt konsequent gedacht: Nichts, was schwierig ist oder wehtut, was aber vermutlich das einzig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hilfreiche ist, wird mehr umgesetzt. In diese negative Si- tuation bringen Sie unser Land. Ich prophezeie Ihnen: Wenn das einträte, hätten wir endlich einen wirklichen Die Menschen werden Sie im Anschluss an Ihre Reden, mittelstandspolitischen Sprecher, Rezzo Schlauch. Jetzt auf welcher Veranstaltung auch immer – das ist jeden- wissen die meisten von ihm immer noch nichts. falls bei mir so –, danach fragen, wie lange Herr Clement noch im Amt bleibt. Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Schauerte, gestatten Sie eine Zwischenfrage, (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Zerbre- die Ihre Redezeit verlängert? Die Kollegin Hendricks chen Sie sich darüber nicht den Kopf!) möchte Sie etwas fragen. Sie wissen, dass die Amtsdauer endlich ist. (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Zerbre- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): chen Sie sich darüber nicht den Kopf!) Gerne. Ich danke auch für den liebevollen Hinweis, Herr Präsident. Es ist ja nicht so, dass er alles richtig gemacht hat. Wir wissen alle, dass er das in Nordrhein-Westfalen Dr. Barbara Hendricks (SPD): nicht gemacht hat und dass er es auch hier nicht macht. Herr Kollege Schauerte, sind Sie bereit, mit dem Wir hier haben ihn ja nie Superminister genannt. Er war Hause zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht nur um die (B) aber der Einzige von Ihnen, der mit einer Reihe von (D) Frage geht, ob wir das gemeinsam beschlossen haben? Maßnahmen zumindest versucht hat zu reformieren. Sie Das ist wirklich nicht der Punkt. Ich will aber den Vor- haben ihn aber nicht gelassen und das ist das Problem. wurf zurückweisen, dass es das Ergebnis einer Nacht- Wer soll denn kommen? Wen wollen Sie denn bringen? und-Nebel-Aktion gewesen sei. Es hat Arbeitsgruppen Herrn Brandner? des Finanzausschusses gegeben, an denen auch die (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Zerbre- Finanzminister der B-Seite beteiligt waren. Ich selber chen Sie sich darüber nicht den Kopf!) habe diese Arbeitsgruppe für die Regierung betreut. Er ist doch Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz in die- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die haben Sie sem Hause. Soll Herr Kollege Brandner den Kollegen mit falschen Zahlen bestückt!) Clement beerben? Ist das die Perspektive für den Mittel- Es gab einen Regierungsentwurf. Er ist gründlich und stand? sorgfältig und nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es lebe der beraten und im Verfahren auch geändert worden. DGB!) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Mit falschen Soll daraus neuer Mut für den Schritt nach vorn wach- Zahlen aus dem BMF!) sen? Es ist eine ausgesprochen unerträgliche Situation. So ist beispielsweise die Freigrenze gegenüber dem ur- Über einen Punkt haben Sie hier mehrfach diskutiert, sprünglichen Regierungsentwurf erhöht worden. auch der Kollege Michelbach hat ihn aufgegriffen. Ich (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo ist die will daher auf § 8 a Körperschaftsteuergesetz einge- Frage?) hen. Wir haben ihn zwar mitbeschlossen – Sie wissen selbst, dass in den Nacht-und-Nebel-Aktionen im Ver- Er ist dann in der geänderten Fassung von allen bewusst mittlungsausschuss sehr viel nebenher gelaufen ist –, angenommen worden. Das will ich der guten Ordnung halber noch einmal klarstellen und Sie bitten, das zur (Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin: Kenntnis zu nehmen. Das war gut vorbereitet! Mit allen Finanzmi- nistern!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Frage!) aber heute konstatieren wir, dass das ein Fehler war. Des Weiteren möchte ich Sie bitten, zur Kenntnis zu Denn ein sehr großer Teil der mittelständischen Unter- nehmen, dass der Kritikpunkt, den Sie gerade angespro- nehmen zahlt heute Steuern auf seine Zinszahlungen und chen haben – § 8 a Körperschaftsteuergesetz –, nämlich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10035

Dr. Barbara Hendricks (A) der so genannte Rückgriff bei verbürgten Krediten, be- sparen. Aber die mittelstandspolitischen Wirkungen Ih- (C) reits im Entwurf eines Anwendungsschreibens, das von rer Maßnahmen sind absolut unerträglich. Korrigieren den obersten Finanzbehörden des Bundes und der Län- Sie den Fehler! der, also einvernehmlich mit allen Ländern, erarbeitet Im Übrigen danke ich Ihnen für die Möglichkeit, das worden ist nachzutragen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es gibt keine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rechtssicherheit!)

und zurzeit den Verbänden zur Stellungnahme vorliegt, Präsident Wolfgang Thierse: schon geregelt ist. Dieser Entwurf liegt übrigens auch Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn, Bünd- den Mitgliedern des Finanzausschusses des Deutschen nis 90/Die Grünen. Bundestages vor. Er ist also auch der Unionsseite dieses Hauses bekannt oder könnte es zumindest sein. Wollen Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sich mit mir einverstanden erklären, dass Sie vor die- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sem Parlament zukünftig keine Probleme mehr anspre- Herr Brüderle, ich möchte Ihnen eine kurze Vorbemer- chen, die schon längst gelöst sind? kung widmen. In meiner Fraktion ist die Frage aufge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kommen, was eigentlich mit Ihnen los ist. Sie haben eine DIE GRÜNEN) sechsminütige Rede zum Mittelstand gehalten, aber nichts Konkretes zum Mittelstand gesagt, an das man Hartmut Schauerte (CDU/CSU): sich erinnern könnte. Frau Staatssekretärin Hendricks, Sie haben zwei Fra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen gestellt. Der Präsident hat sie zugelassen, also muss und bei der SPD) ich auch zwei beantworten. Ihre Rede gipfelte in einer unflätigen Beleidigung des (Dr. [SPD]: Sie können nicht ein- Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung und dann mal eine beantworten!) haben Sie sich wieder gesetzt. Das war wirklich unter Ih- Ihre erste Frage lautete: Sind Sie nicht mit mir der rer Form. Das hat auch nichts mit dem Pfälzer Humor zu Meinung, dass das seinerzeit im Vermittlungsausschuss- tun; denn in der Pfalz ist man nicht für Galligkeit, die Sie verfahren alles sehr sorgfältig beraten worden ist? Dass hier im Parlament verbreitet haben, sondern für etwas ausgerechnet Sie diese Frage stellen, wundert mich anderes bekannt. etwas, denn da Sie die Bundesregierung in dieser Ange- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) legenheit betreut haben, dürften Sie sich an den pein- sowie bei Abgeordneten der SPD – Walter lichen Vorfall erinnern, dass sich plötzlich herausstellte, Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Da ist man lus- dass um 1 Milliarde Euro falsch gerechnet worden ist. tig und freundlich!) (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Es wurden fal- Jetzt zur Sache. Frau Wöhrl, ich kann Ihnen nicht den sche Zahlen zugrunde gelegt! – Zuruf der Abg. Vorwurf ersparen, dass Sie die wirtschaftliche Lage aus Dr. Barbara Hendricks [SPD]) parteipolitischem Kalkül schlechtreden. Wenn wir uns Es hat allergrößte Mühe gekostet, die entsprechenden die Situation einmal nüchtern anschauen, stellen wir Korrekturen vorzunehmen. Die Verantwortung dafür lag fest: Wir kommen langsam – ich betone: langsam – aus eindeutig bei Ihnen. Es war ein sehr hektisches Verfah- einer schwierigen Wirtschaftskrise heraus. Das Wachs- ren, in dem auch Fehler passieren konnten. Daher müs- tum beträgt derzeit 1,4 Prozentpunkte und wir können sen Korrekturen ohne großes Lamento möglich sein. mehr schaffen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch Die Antwort auf Ihre zweite Frage: Natürlich kenne alles nur Schall und Rauch!) ich den Brief. Er löst aber nur einen Teil des Problems, und zwar den, der ausschließlich Bürgschaften betrifft. Sie wissen genau, dass es in Deutschland dann zu einem Sie wissen, dass die weiter gehenden Forderungen ver- Abbau der Arbeitslosigkeit kommt, wenn das Wachstum nünftig und richtig sind, nämlich den Faktor 1,5 bezogen die so genannte Beschäftigungsschwelle übersteigt, die auf das Eigenkapital deutlich zu erhöhen. Sonst ist es derzeit bei etwa 1,8 Prozentpunkten liegt. eine unzulässige Beschränkung. (Zuruf von der CDU/CSU: Wir müssen sie Dann greift ja diese Strafsteuer auf Zinsen; man zahlt senken!) also Gewinnsteuer auf Zinsen, die man zahlt; das muss Die Beschäftigungsschwelle zu senken ist das zen- man sich immer wieder klar machen. Es gibt auch noch trale Reformwerk, das wir durch die Hartz-Gesetze und weitere Punkte, die einfach nicht passen. die Agenda 2010 angepackt haben. Deswegen ist die Ich sage allerdings eindeutig: Ein Ziel haben wir ge- Blockade, die Sie jetzt bei Hartz, bei der Zusammenle- nauso im Visier wie Sie, nämlich die eleganten Manipu- gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, betreiben, lationen der großen Konzerne zu unterbinden. Diese sind so entscheidend. Offensichtlich wollen Sie gar nicht, weltweit tätig und finanzieren Investitionen mit Kredi- dass das, was auch Sie selbst seit Jahren verkündet ha- ten, die sie sich selber über irgendwelche Scheinfirmen ben – das Vorhaben, ein anderes soziales Transfersystem gegeben haben, um damit in Deutschland Steuern zu in Deutschland mit effektiv besseren Wirkungen auf den 10036 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Fritz Kuhn (A) Arbeitsmarkt zu schaffen –, jetzt endlich umgesetzt dern und Gemeinden für Bildung, Forschung und Wis- (C) wird. senschaft einzusetzen, (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ach! Um [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Haushaltslöcher zu stopfen, wollen Sie das Geld nehmen!) Wie können Sie uns denn sonst erklären, dass Herr Koch die Gemeinden zur Blockade dieses neuen Instrumentes um die strukturelle Schwäche, die hier besteht, zu über- aufruft? Ich meine: Er richtet damit großen Schaden an. winden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Doch nur, um und bei der SPD) Haushaltslöcher zu stopfen!) Wir sind also in einer Situation, in der wir – Herr Dazu hört man von Ihnen nichts Konkretes. Sie reden Schauerte, mit dem, was Sie diesbezüglich gesagt haben, nur über das Thema Kohle. Aber wenn es zum Schwur liegen Sie völlig falsch – weitere Reformen brauchen. kommen soll, gehen Sie in die Büsche und schreien laut Der Reformprozess muss weitergehen. Bisher gibt es das herum. Aber Sie nehmen die Verantwortung, die Sie auf- neue Arbeitslosengeld II und bessere Finanzierungsbe- grund Ihrer Rolle in den Ländern haben, nicht wahr. dingungen für den Mittelstand noch nicht. Es ist noch sehr viel zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Machen Sie doch mal einen Vorschlag!) Zweites Beispiel. Weil wir Grüne sehen, dass es im Verkehrsbereich, bei der Schiene und der Straße, zu we- Aber entscheidend ist Folgendes: Von Ihrer Seite die- nige Investitionen gibt, haben wir den Vorschlag ge- ses Hauses werden nur Elendsszenarien beschrieben. macht, die Entfernungspauschale zu halbieren und die Mittel, die dadurch frei werden, für Verkehrsinvestitio- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nein!) nen zu verwenden. In allen Ländern wird darüber Dies verschlechtert die Stimmung in der Bevölkerung, geklagt – übrigens geht das auch zulasten des Hand- werks –, dass zu wenig investiert wird, weil Koch und (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben keine Steinbrück nicht nur Subventionen abgebaut, sondern Lösungen!) auch bei den Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur bei den Investoren und auch bei den Konsumenten, die gekürzt haben. ihr Geld nicht ausgeben, weil sie von Ihnen ständig hö- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die Maut! (B) ren, wie elend und mies die Situation ist. Was ist damit?) (D) (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Sie müssen auch Dazu habe ich von Ihnen noch nichts Konkretes gehört. mal die richtige Analyse machen!) Sie beklagen zwar, dass nicht investiert wird. Aber Sie Deswegen sage ich Ihnen, Herr Schauerte – Sie haben ja machen die Wege, damit in Deutschland investiert wer- versucht, konkreter zu werden und nicht nur die Standort- den kann, nicht frei, sondern betreiben Blockadepolitik. arien zu singen, (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wer hat (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Die Zahlen denn die Maut kaputtgemacht?) sprechen doch für sich!) Herr Schauerte, das müssen Sie sich hier anhören; denn wie es Frau Wöhrl getan hat –: es ist wichtig, dass wir an diesen beiden Stellen mehr tun. – Herr Kauder, was haben Sie für Sorgen? Warum (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war eine machen Sie diese Bewegung? gute Rede von Frau Wöhrl!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Redezeit!) Wenn Ihnen daran liegt, dass es dem Mittelstand besser geht, dann verweigern Sie sich den Reformen nicht – Aha, die Redezeit; ich verstehe. Wenn es wehtut, führt mehr, wie Sie es gerade tun, sondern gehen Sie mit in die Herr Kauder die Redezeit desjenigen, der gerade spricht, Offensive, damit in Deutschland insgesamt mehr Refor- ins Feld. So ist es. men durchgeführt werden können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Wöhrl, ich will zwei Punkte nennen, auf die es sowie bei Abgeordneten der SPD – Walter jetzt ankommt: Erstes Beispiel. Sie reden immer über Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Das tut ihm das Thema Kohle. Das tun Sie eigentlich nur, damit Sie weh, was Sie sagen!) darüber schweigen können, dass Sie, wenn wir auch an- Damit komme ich zum Schluss meiner Rede. dere Subventionen abbauen wollen, auf der Bremse ste- hen. Das sind mittelstandsrelevante Fragen; denn für die (Beifall des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) Zukunft ist es entscheidend, welches Personal der Mit- Sie haben nichts getan, um die Blockaden, die ich ange- telstand bekommt. Ich habe von Ihnen noch keine kon- sprochen habe, zu überwinden. krete Einlassung zu dem Vorschlag von Bundeskanzler Schröder gehört, die Eigenheimpauschale zu streichen (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie sind am und die dadurch frei werdenden Mittel bei Bund, Län- Ende!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10037

Fritz Kuhn (A) Wenn Sie ehrliche Mittelstandspolitik machen würden, Das steht in einer Studie, die der Wirtschaftsminister in (C) Herr Kauder, dann müssten Sie Ihre Bremsblockade auf- Auftrag gegeben hat; vielleicht unterhalten Sie sich ein- geben und zusammen mit der Regierung die notwendi- mal mit Herrn Clement. gen Reformen anpacken. Die Chance dazu haben Sie. Es sind im Zusammenhang mit Bürokratie fünf zen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trale Bereiche zu nennen: Steuern und Abgaben, Sozial- sowie bei Abgeordneten der SPD) versicherungsrecht, Arbeitsrecht, Statistiken und Um- weltschutz. Herr Schlauch, Sie haben hier alle möglichen Vorschläge vorgetragen. Aber es bleibt wie- Präsident Wolfgang Thierse: der einmal dabei, dass es nur Vorschläge waren. Wir als Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger, FDP-Frak- FDP-Bundestagsfraktion haben für jeden einzelnen Fall, tion, das Wort. den Sie angesprochen haben, einen Antrag vorgelegt. Je- den einzelnen Antrag, jeden Gesetzentwurf haben Sie Birgit Homburger (FDP): abgelehnt. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der FDP) Herr Kollege Kuhn, ich will mit Ihnen anfangen. Nach- Deswegen ist das, was Sie machen, Bürokratieabbau- dem Sie hier Konkretes eingefordert haben, haben Sie Rhetorik, Herr Schlauch, und nicht Bürokratieabbau. selber nicht viel Konkretes gesagt. Wenn Sie nur halb so gut handeln würden, wie der Kollege Brüderle heute hier (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten geredet hat, dann ginge es diesem Land entschieden bes- der CDU/CSU) ser. Kommen wir zum Thema Modellregionen. Herr (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Clement hat direkt nach dem Regierungsantritt – Okto- der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] ber 2002 – angekündigt: zunächst Bürokratieabbau. [SPD]: Alles Luftblasen und Beleidigungen!) Dann hat er gemerkt, dass er bei Ihnen damit nicht durchkommt, und gesagt: Richten wir Modellregionen Ein ganz wichtiger Aspekt beim Thema Mittelstand ein. – Innerhalb kürzester Zeit haben sich 38 Regionen ist das Thema Bürokratie. Das wird immer wichtiger, gefunden, die Initiativen ausgearbeitet und sich als Mo- immer deutlicher zeigt sich das. Es gibt eine Untersu- dellregionen beworben haben. Was haben Sie daraus ge- chung des Instituts für Mittelstandsforschung. Wir wis- macht? – Drei Testregionen eingesetzt! Die haben zwi- sen, dass die bürokratischen Belastungen für die Wirt- schenzeitlich tausend Vorschläge geliefert. Aus diesen schaft in diesem Lande pro Jahr 46 Milliarden Euro tausend Vorschlägen haben Sie 29 ausgewählt und eine betragen. Diese Belastungen sind insbesondere in den neue Initiative der Bundesregierung angekündigt. Meine (B) letzten fünf Jahren erheblich gestiegen, Herr Schlauch, sehr verehrten Damen und Herren von Rot-Grün, wenn (D) und Sie wissen das. Sie haben vorher in der Antwort auf Sie in diesem Tempo mit dem Thema Bürokratieabbau den Kollegen Michelbach gesagt: Wir haben uns bemüht weitermachen und wir bemühen uns. Herr Kollege Schlauch, Sie wis- (Ludwig Stiegler [SPD]: Von Redundanz ha- sen, was das heißt, wenn es in einem Zeugnis steht: Es ben Sie noch nichts gehört!) heißt, Sie haben sich bemüht, es aber nicht erreicht. und in diesem Tempo damit weitermachen, Vorschläge (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aus der Wirtschaft aufzugreifen, dann haben Sie am Ende dieser Legislaturperiode mit dem Bürokratieabbau Dieses Zeugnis, dass Sie sich selber ausstellen, ist für noch nicht einmal angefangen. eine Regierung zu wenig und für unser Land katastro- phal. Deshalb müssen wir uns einmal anschauen, was (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 46 Milliarden Euro bedeuten. Sie bedeuten, dass ein Ar- Wir haben auch zum Thema Statistik einen Antrag beitsplatz in einem Großbetrieb mit über 500 Mitarbei- vorgelegt. 350 Bundesstatistiken werden jährlich er- tern jährlich mit circa 350 Euro Kosten belastet ist, ein stellt; dafür werden 500 Millionen Euro aufgewendet. Arbeitsplatz bei einem kleinen Unternehmen mit unter Der Bundesrechnungshof hat das Statistische Bundesamt 10 Mitarbeitern allerdings jährlich sogar mit circa mehrfach wegen Verschwendung gerügt. Dabei sind die 4 300 Euro – nur aufgrund des Aufwands für Bürokratie! Kosten, die sich dadurch ergeben, dass die Unternehmen Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Auf- die Daten zuliefern müssen, noch nicht aufgeführt. Das wand für Bürokratie ist unnötig und dreht den Mittel- muss abgestellt werden. Dafür haben wir einen Antrag ständlern in diesem Land die Luft ab. vorgelegt und dem können Sie heute zustimmen. (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Nein! (Beifall bei der FDP – Walter Hoffmann Auf keinen Fall! Um Gottes willen! Bloß [Darmstadt] [SPD]: Das glauben Sie doch nicht!) wohl selber nicht! – Wilhelm Schmidt [Salz- gitter] [SPD]: Was sind denn das für abstruse Deswegen kann ich nur sagen: Lassen Sie den voll- Zahlen? Das sind doch keine seriösen Zahlen!) mundigen Ankündigungen zum Bürokratieabbau endlich Taten folgen. Wenn Sie selbst nichts zuwege bringen, – Das ist seriös, vom Institut für Mittelstandsforschung. stimmen Sie den Anträgen der FDP-Fraktion zu! Heute haben Sie die Chance dazu. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, eben! Genau! Das ist auch nicht seriös!) Vielen Dank. 10038 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Birgit Homburger (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Mir stellt sich an dieser Stelle nun die Frage, welche (C) der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Um Alternative Sie uns eigentlich anbieten. Wo in Ihren An- Himmels willen!) trägen, die wir heute beraten, spiegeln sich Ihre Sprüche zu mehr Wettbewerb und mehr Freiheit, Frau Wöhrl, Präsident Wolfgang Thierse: eigentlich wider? Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPD- (Veronika Bellmann [CDU/CSU]: 25 Vor- Fraktion. schläge!) Ein gutes Beispiel hierzu haben Sie selbst genannt. Bei Christian Lange (Backnang) (SPD): der Überarbeitung der Handwerksordnung haben Sie Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- versucht, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wir ren! Wir befinden uns in der Bundesrepublik Deutsch- hätten uns hier noch mehr Freiheiten gewünscht – das land gegenwärtig in einer schwierigen wirtschaftlichen gestehe ich zu –, haben aber einen Kompromiss gefun- Lage. Das ist ohne Zweifel wahr. Fest steht aber auch: den, der, wie ich finde, sehr gut ist. Wir können in die- Die Beiträge, die wir heute vonseiten der Opposition sem Bereich einen Gründungsboom feststellen. Wir un- gehört haben, werden nicht dazu beitragen, diese terstützen so das unternehmerische Denken. Das ist alles schwierige wirtschaftliche Lage zu verbessern. Das positiv. Deswegen können Sie hier doch sagen, dass es muss hier einmal deutlich gesagt werden. richtig war, dass wir das gemeinsam gemacht haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Bürgerinnen und Bürger draußen im Lande erwar- Ich muss mich schon sehr wundern, dass Sie offenbar ten, dass wir etwas gemeinsam auf den Weg bekommen. noch nicht einmal das Frühjahrsgutachten zur Kenntnis Seien wir stolz darauf, dass uns das gemeinsam gelun- genommen haben: Das Wachstum in Deutschland belief gen ist! sich im ersten Quartal 2004 im Vergleich zum Vorjahres- zeitraum auf 1,5 Prozent und lag damit glatt höher als Ein weiteres Beispiel, das einen kleineren Bereich be- das der Eurozone, das nur 1,3 Prozent betrug. Ich erin- trifft. Wir haben erreicht, dass Existenzgründer von Bei- nere mich noch, wie Sie in Ihren Beiträgen den Vorwurf tragszahlungen an die Industrie- und Handelskammern inszeniert haben, wir seien Letzter in Europa. Diese Zei- bzw. an die Handwerkskammern befreit sind, wenn ihr ten sind vorbei. Das Wachstum reicht zwar noch nicht Gewerbeertrag nicht höher ist als 25 000 Euro im Jahr. aus – das stimmt –, aber es geht aufwärts. Ich bitte Sie, Das ist ein kleiner, aber wichtiger Beitrag für die Men- zumindest diese Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, schen, die versuchen, unternehmerisches Denken in die (B) wenn Sie schon nicht an die Prognosen glauben. Praxis umzusetzen. (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ein weiteres solches Beispiel. Die Eintragung in das Handelsregister muss beschleunigt werden. Fast 70 Pro- Auch Bundesbankpräsident Axel Weber sieht die zent aller Handelsregistereintragungen in Deutschland deutsche Wirtschaft auf dem Weg der Erholung. Er dauern länger als zwei Monate. Damit liegen wir deut- schätzt das Wachstum mit 1,7 Prozent ein und ist damit lich über dem europäischen Benchmark von einem Mo- sogar noch optimistischer als die Bundesregierung und nat. Den Gerichten soll deshalb gesetzlich vorgeschrie- als wir. Das freut uns natürlich. Seine Einschätzung ver- ben werden, den Antragsteller innerhalb eines Monats in dient hier zumindest Erwähnung. einer das Verfahren fördernden Weise zu bescheiden. Damit wollen wir klar machen, dass wir dafür sorgen Es gibt weitere gute Konjunkturnachrichten. Die Be- wollen, dass die Menschen schneller an den Markt gehen fragung von Creditreform zur Mittelstandskonjunktur können. Dieser Weg ist doch richtig. Sagen Sie deshalb, hat ganz deutlich gezeigt, dass der Anteil der mittelstän- dass auch Sie das wollen und dass Sie mit uns diesen dischen Unternehmen mit sehr guter bzw. guter Auf- Weg gehen wollen. trags- und Geschäftslage im Vergleich zum Vorjahr um 11,4 Prozentpunkte auf 29,4 Prozent angewachsen ist. Schauen Sie sich heute im „Handelsblatt“ den Moni- Ein solches Ergebnis bedeutet nicht, dass es keine tor zum Thema Ausbildung an. Dort steht die klare Aus- Schwierigkeiten gibt, aber es zeigt, dass es einen Auf- sage, dass wir auch denjenigen einen Weg ebnen müs- wärtstrend gibt. Es gebietet die Seriosität, dies hier zu er- sen, die nicht so gut qualifiziert sind. Was haben wir wähnen. gemacht? Schauen Sie sich das einmal an: Bereits seit dem 24. September 2003 gibt es eine Modernisierung (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) hin zu Berufen mit zweijähriger Ausbildungsdauer, wie Ähnliche Entwicklungen sieht auch das Statistische beim Verkäufer, Handelsfachpacker, Maschinenführer oder Fahrradmonteur. Wir müssen mehr machen – darin Bundesamt bei der Binnenkonjunktur, Herr Kollege stimme ich Ihnen zu –, aber dass wir diesen Weg gegan- Schauerte. Das Statistische Bundesamt meldet für das gen sind und dass es bereits Gesetz geworden ist, müs- erste Quartal 2004 eine Erhöhung der Zahl der Er- sen Sie doch anerkennen. Sprechen Sie das doch einmal werbstätigen im Dienstleistungsbereich, insbesondere aus und erkennen Sie an, dass nicht alles schwarz in in den Bereichen Handel, Gastgewerbe und Verkehr. Im schwarz erscheint, sondern dass es in Deutschland voran Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der hier Beschäftigten geht. Das ist Teil der Wahrheit. um 134 000 Personen gestiegen. Auch hier können Sie einen entsprechenden Aufwärtstrend feststellen. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10039

Christian Lange (Backnang) (A) Nun zu Ihnen, Herr Brüderle, und Ihren steuerpoliti- der Zahl. Uns vorzuwerfen, dass wir Ihnen hier nichts (C) schen Äußerungen. Das, was Sie vorgetragen haben Konstruktives vorschlagen, ist wohl gründlich daneben- – das steht auch in Ihren Anträgen –, dass die Personen- gegriffen. gesellschaften gegenüber den Kapitalgesellschaften be- nachteiligt wären, ist ein alter Hut. Ich will es noch ein- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das glau- mal sagen, auch wenn es mich die letzten Minuten ben nicht einmal Ihre eigenen Leute!) meiner Redezeit kostet: Man darf nicht auf den immer Der KfW-Mittelstandsmonitor 2004 sagt aus: Die wieder bemühten Vergleich hereinfallen, Kapitalgesell- Schwäche des Mittelstandes hält das vierte Jahr in Folge schaften zahlen nur 25 Prozent Körperschaftsteuer, Per- an. Lediglich 12 Prozent der Mittelständler sind in der sonengesellschaften dagegen 45 Prozent Einkommen- Lage, zusätzliches Personal einzustellen. Damit befindet steuer. Dieser Vergleich stimmt nicht. sich die Mittelstandskonjunktur im Schlepptau der Ge- Warum stimmt er nicht? Erstens. Kapitalgesellschaf- samtwirtschaft mit entsprechender Wirkung auf Be- ten müssen zusätzlich Gewerbesteuer bezahlen, was im schäftigungsimpulse und Investitionen. Durchschnitt mit knapp 14 Prozent zu Buche schlägt. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Also liegt die steuerliche Gesamtbelastung bei rund 39 Prozent, etwa beim Handwerksmeister. Die können Es stellen sich die Fragen: Ist der Mittelstand in der die Gewerbesteuer bei der Einkommensteuerschuld pau- Krise? Ist die Gesamtwirtschaft in der Krise? Ist die schal verrechnen. Weltwirtschaft in der Krise? – Nein, die Politik dieser Bundesregierung und die Staatsfinanzen sind in der Zweitens. Die Körperschaftsteuer von 25 Prozent Krise. wird vom ersten bis zum letzten Euro des Gewinns erho- ben, während die Einkommensteuer progressiv ausge- (Beifall bei der CDU/CSU) staltet ist. Bei der Personengesellschaft sind nur die Ge- sellschafter steuerpflichtig, aber nicht die Gesellschaft Ihre Laborversuche sind kläglich gescheitert und die po- selbst. Das bedeutet, dass den Personenunternehmern litischen Rahmenbedingungen für den Mittelstand sind wie jedem anderen Privaten auch der Grundfreibetrag katastrophal. und andere Freibeträge, etwa wenn er Kinder hat, zuste- Ich will die Steuer- und Abgabenpolitik näher be- hen. leuchten und dabei insbesondere die Ausbildungsplatz- Drittens. Was ist schließlich das Ergebnis dessen? Um abgabe hervorheben. Statt die Berufsbildung durch eine im Jahr 2005 eine den Körperschaften, also den Aktien- Verkürzung der Ausbildungsdauer, durch eine modulare gesellschaften, entsprechende durchschnittliche Gesamt- Ausbildung, die an den Bedürfnissen der Wirtschaft (B) belastung von rund 39 Prozent zu erreichen, muss ein le- orientiert ist, und durch die Schaffung neuer Ausbil- (D) diger Handwerksmeister rund 130 000 Euro versteuern. dungsberufe zu modernisieren, schaffen Sie ein Bürokra- Bei einem verheirateten Handwerksmeister sind es rund tiemonster sondergleichen: 1 000 Arbeitsplätze ohne 245 000 Euro. Dass dies nur 5 Prozent der Personenge- Wertschöpfung, die die Steuerzahler und damit die sellschaften in Deutschland sind, haben wir zu beklagen. Staatsquote noch mehr belasten, als das ohnehin schon Dass das Steuerrecht diese benachteiligt, stimmt aber der Fall ist. einfach nicht. Behaupten Sie es hier also nicht. Finden Das Gleiche gilt bei Hartz IV. Ja, wir sind dafür, die Sie den Weg zurück zur Wahrheit und damit zur Klarheit Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzuführen. und damit zum Wirtschaftswachstum in Deutschland! Dazu fordere ich Sie auf. (Jörg Tauss [SPD]: Ah, ja!) Herzlichen Dank. Wichtig ist aber die Umsetzung. Sie ist wie bei allen an- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten deren Ihrer Gesetze schlampig. Die Bundesagentur für des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Arbeit verdient ihren Namen fast nicht mehr. Auch dort sind 40 000 neue Arbeitsplätze nötig, aber auch dort ent- steht keine Wertschöpfung. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort der Kollegin Veronika Bellmann, (Beifall bei der CDU/CSU) CDU/CSU-Fraktion. Über allem schwebt das Haushaltsdebakel ohneglei- chen, zu dem das Maut-Desaster mit Milliardenlöchern Veronika Bellmann (CDU/CSU): noch hinzukommt, was nicht ohne Wirkung auf die Mit- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- telstandspolitik bleibt. ren! Herr Staatssekretär, ich weiß nicht, auf welcher Rhetorikschule Sie reden gelernt haben. Meine Groß- (Jörg Tauss [SPD]: Werden Sie mal konkret, mutter hätte bei dem lauten Redeschwall, den Sie von Frau Bellmann!) sich gegeben haben, gesagt: Wer schreit, hat Unrecht. – Herr Tauss, es ist schön, dass Sie meinen Namen mitt- (Beifall bei der CDU/CSU) lerweile kennen, aber Sie können mit Ihren unqualifi- zierten Zwischenrufen ruhig einmal aufhören. Herr Lange, ich will Ihnen gerne sagen, wo unsere Vorschläge für die Mittelstandspolitik stehen. Sie stehen (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: in unserem vorliegenden Antrag. Es sind genau 25 an Werden Sie mal konkret!) 10040 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Veronika Bellmann (A) Maut-Desaster, Haushaltslöcher, Haushaltsdebakel – Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre Selbster- (C) von all dem ist bei der Gemeinschaftsaufgabe der För- kenntnis ist schon bemerkenswert!) derung der regionalen Wirtschaftsstruktur nicht die Rede. Das Koch/Steinbrück-Konzept muss jetzt von Kürzun- gen im Verkehrsetat bis hin zu den Kürzungen der Ver- Ich will nun einmal näher auf die Gemeinschaftsauf- pflichtungsermächtigung bei der GA für alles herhalten. gabe eingehen. Die Gemeinschaftsaufgabe ist das erfolg- Verstecken Sie sich mit Ihren schönen Reden nicht hinter reichste Instrument der Wirtschaftsförderung, mit relativ den Wachstumsprognosen und Ihrer chaotischen Haus- geringen Mitnahmeeffekten und hohen Arbeitsmarktef- haltspolitik, verstecken Sie sich nicht hinter einer mode- fekten. 60 Prozent der GA-Summe werden an kleine und raten Subventionskürzung, die moderate Konsolidie- mittelständische Unternehmen mit 250 und weniger Ar- rungsbemühungen nachweist! Die Länder tragen diese beitnehmern ausgezahlt. Eine Kürzung dort wäre des- Subventionskürzungen aus dem Koch/Steinbrück-Papier halb auch eine Beschneidung der Handlungsmöglichkei- nicht umsonst mit; sie stellen vielmehr auch in der Phase ten der Mittelständler. eines Abbaus Planungssicherheit und Verlässlichkeit dar. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Die Kürzungen nach Die Kürzung der GA-Mittel ist ein gesamtdeutsches Koch/Steinbrück reichen von 4 bis 12 Prozent; im Unter- Spiel mit dem Feuer, da die GA kein rein ostdeutsches schied dazu hat das BMWA vorgeschlagen, zwischen Förderinstrument ist, sondern ein Bundesprogramm, das 35 und 65 Prozent zu kürzen. In 2005 kommen nach jeder bedürftigen Region zugute kommen soll. Koch/Steinbrück 96 Prozent oder 201,06 Millionen Euro zur Auszahlung, nach BMWA 35 Prozent oder 73,5 Mil- Mit den Kürzungen der GA-Mittel schädigen Sie al- lionen Euro. Die Differenz beträgt somit 128,1 Millio- lerdings besonders den Aufbau Ost. Er wird an der wirk- nen Euro; das ist mehr, als die GA West ausmacht. samsten Stelle ausgebremst. Dazu gibt es parteiübergrei- fend Kritik. Ministerpräsident Platzeck, SPD, erklärt: (Jörg Tauss [SPD]: Muss man mal nachrech- Eine tragende Säule des Aufbau Ost ist gefährdet. – nen!) Bundesminister Stolpe sagt: Kürzen ist Unsinn. – MdB Das ist einfache Prozentrechnung. Ich bin gespannt, Schneider, SPD, warnt: Aufbau Ost wird sturmreif ge- wie die Anfragen, die diesbezüglich im Ausschuss für schossen. – MdB Hettlich, Grüne, sagt: Das ist Zündeln Wirtschaft und Arbeit gestellt werden, beantwortet wer- am Solidarpakt, eine Taktik der Nadelstiche gegen die den. Ich hoffe, dass bis zur Kabinettsentscheidung am Ostförderung. Er ruft Herrn Clement dazu auf, als Bun- 23. Juni die verworrenen Kürzungsvorschläge des desminister für das ganze Land verantwortlich zu sein BMWA noch einmal geradegerückt werden. Es ist schon und nicht nur für sein Heimatland Nordrhein-Westfalen. (B) schlimm genug, dass die Verlässlichkeit der Politik wei- (D) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Da hat er ge- ter Schaden genommen hat. Ich hoffe auch, dass Sie nug Schaden angerichtet!) nach dem Grundsatz handeln: An der Investi- tionsförderung zu sparen ist wirtschaftlich unsinnig, da Der Verdacht, dass ein Vermeiden der Subventions- dadurch die Sozialabgaben langfristig steigen. kürzungen bei der Steinkohle zulasten des Ostens geht, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Steinkohleförde- Wenn wir wissen, dass die Großindustrie durchaus rung wird bis 2012 verlängert. Die Steinkohleförderung mobil, der Mittelstand aber im wahrsten Sinne des Wor- wird von Kürzungen nach dem Koch/Steinbrück-Kon- tes bodenständig ist, dann müssen wir Investitionen auch zept, die auf 708 Millionen Euro festgelegt waren, aus- beim Mittelstand entsprechend honorieren: genommen. Die Steinkohleförderung sinkt langsamer als (Beifall bei der CDU/CSU) ursprünglich geplant, auch wenn sie verzögert ausge- zahlt wird. Das bedeutet für die Kohle ein Plus von durch eine Flexibilisierung von Arbeitsmarkt und So- 630 Millionen Euro und entspricht genau der Summe, zialpolitik, durch einen erleichterten Zutritt von Gering- die bei den Verpflichtungsermächtigungen für die GA qualifizierten zum Arbeitsmarkt und durch weitere Steu- eingespart werden soll. CDU-Haushälter Dietrich erreformen. Austermann kritisiert deshalb zu Recht, dass der größte Fehler der Regierung darin besteht, die Vergangenheit Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zulasten zukunftsgewandter Wirtschaftsförderung zu Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit! fördern. (Beifall bei der CDU/CSU) Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss. – Notwendig ist eine klare In der Öffentlichkeit aber werden diese Kürzungen Situationsanalyse, und zwar offen und ehrlich, nicht nicht mit dem Haushaltsdebakel, mit den Milliardenver- blauäugig und bewusst geschönt, wie es die Bundesre- lusten aus dem Mautdesaster oder mit Wahlgeschenken gierung oder Herr Brandner vorhin vorgetragen haben. begründet, sondern mit dem Koch/Steinbrück-Konzept. Sie handeln nach dem Motto: Wenn ich die Augen nur Meine sehr verehren Damen und Herren, eine Lüge wird lange genug geschlossen halte, dann wird mein Traum nicht wahrer, wenn man sie ständig wiederholt. schon irgendwann Wirklichkeit werden. – Das kann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nicht zutreffen. Wir brauchen eine Situationsanalyse, Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das eine Zielbestimmung und eine Wegbeschreibung. Wir ist wahr! Da haben Sie Recht! – Wilhelm brauchen wie im Auto ein Navigationssystem. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10041

Veronika Bellmann (A) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir sind gen auf die Bilanzsumme, 66 Prozent; sie lag damit fast (C) auch ohne Navigationssystem zurechtgekom- doppelt so hoch wie bei westdeutschen Unternehmen. men!) Wer in Anbetracht solcher Zahlen Vorschläge wie Herr Clement macht, der hat die ostdeutschen Länder augen- Wenn Analyse, Zielbestimmung und Wegbeschreibung scheinlich abgeschrieben. Das gehört angeprangert und vorliegen, dann heißt es auch hier: Die Route wird be- darf nicht hingenommen werden. rechnet. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er ist gerade in Ostdeutschland unterwegs – nur da- Vielen Dank. mit Sie es wissen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Unterwegs sein alleine reicht nicht. Wer solche Vor- neten der FDP) schläge macht, Herr Kollege Schmidt, reist nur, um Trostpflaster aufzukleben. Herr Clement hat mit diesem Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Vorschlag einen Schaden angerichtet, der kaum wieder Das Wort hat nun die Kollegin Gesine Lötzsch. gutzumachen und auch mit einem Trostpflasterbesuch (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Liebling nicht zu korrigieren ist. des Mittelstands!) Wir, die PDS, schlagen zur Stärkung des Mittelstan- des unter anderem vor: erstens ein Infrastrukturpro- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): gramm der Bundesregierung, das vor allem die Infra- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- struktur von Städten und Gemeinden stärkt und kleinen ehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Abgeordnete und mittelständischen Unternehmen Aufträge gibt, zwei- der PDS. tens einen neuen Finanzierungsschlüssel für die Ge- meinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsstruktur, der Die aktuelle Steuerschätzung ist ein Offenbarungseid den Länderanteil von 50 Prozent auf 25 Prozent senkt. In für Herrn Eichel und seine völlig verfehlte Finanzpolitik. meiner Heimatstadt Berlin ist es zum Beispiel schon gar Doch es ist keine Kehrtwende der Bundesregierung zu nicht mehr möglich, alle vom Bund zugestandenen Mit- einer vernünftigen, die Konjunktur belebenden Finanz- tel der Gemeinschaftsaufgabe abzurufen, da das Land politik zu erkennen. Die Versuche des Kanzlers und sei- aufgrund seiner Haushaltsnotlage die Kofinanzierung nes Außenministers, die Finanzpolitik zu ändern und die nicht mehr bereitstellen kann. Konjunktur anzukurbeln, sind offenbar gescheitert. Die Leidtragenden der bedingungslosen Fortsetzung dieser Ich darf aber auch auf positive Erfahrungen zum Bei- spiel der rot-roten Landesregierung in Schwerin mit ei- (B) konjunkturfeindlichen Politik sind unter anderem die (D) kleinen und mittelständischen Unternehmen in unserem nem Arbeitsmarkt- und Strukturentwicklungsprogramm Land. verweisen. Dieses Programm ist nämlich so angelegt, dass die Regionen selbst über die Fördermittelzuweisung (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) entscheiden und dass sie dafür eigene Budgets haben. Herr Clement folgt willig dem Sparkurs des Finanzmi- Ich glaube, das ist der richtige Weg. Ein anderes gutes nisters und hat als Wirtschaftsminister mit seinem Vor- rot-rotes Instrument sind Initiativfonds für finanzschwa- schlag, die öffentlichen Investitionen für den Osten zu che Kommunen, die mit den Mitteln aus diesen Fonds kürzen, mindestens – ganz freundlich ausgedrückt – ein Voraussetzungen für die Ansiedlung von Unternehmen Selbsttor geschossen. Gerade die kleinen und mittelstän- schaffen können. Ich bin mir sicher, dass es noch weitere dischen Unternehmen sind auf öffentliche Fördermittel gute Ideen gibt, die von der Bundesregierung einfach nur dringend angewiesen. aufgegriffen, analysiert und umgesetzt werden müssen. Sie wissen – viele wissen es augenscheinlich auch Ich möchte noch auf einige Punkte der heutigen De- nicht –, gerade im Osten sind in Anbetracht der gerin- batte eingehen. Frau Kollegin Wöhrl hat zu Beginn der gen Liquidität die Unternehmen ohne Fördermittel häu- Debatte völlig richtig gesagt fig vom Aus bedroht. Wer die GA-Mittel für den Osten (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Was?) so dramatisch kürzen will, wie Herr Clement das in die öffentliche Diskussion gebracht hat, der legt die Axt an – bekommen Sie keinen Schreck, ich zitiere Sie nur –, die Wurzel des Aufbaus Ost. Herr Clement ist zwar nicht man solle den Faktor Arbeit von den Sozialabgaben ab- hier, aber trotzdem sollte man ihm ins Stammbuch koppeln. Sie wissen, dass wir von der PDS schon seit schreiben, dass er nicht mehr Ministerpräsident von Nord- langem den Vorschlag unterbreitet haben, eine Wert- rhein-Westfalen und auch nicht der Kohlebeauftragte der schöpfungsabgabe einzuführen. Wenn wir Frau Kolle- Bundesregierung ist, sondern Verantwortung für ganz gin Wöhrl an unserer Seite wissen, dann sind wir da- Deutschland trägt – und dazu gehört immer noch der Os- rüber nicht enttäuscht, sondern freuen uns darüber. ten. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Da haben Sie et- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) was falsch verstanden!) Der so genannte Aufholprozess Ost ist seit Mitte der Der Kollege Rezzo Schlauch hat die falsche Behaup- 90er-Jahre ins Stocken geraten. Der Abstand zwischen tung aufgestellt, dass alle in diesem Haus für die Zusam- Ost und West ist wieder größer geworden. 1997 betrug menlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sind. zum Beispiel die durchschnittliche Kreditquote, bezo- Ich darf für uns klarstellen, dass die Zusammenlegung 10042 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dr. Gesine Lötzsch (A) von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ab dem 1. Januar Zu den bürokratischen Belastungen und Regulie- (C) 2005 bedeuten wird, dass die Menschen im Osten von rungen ist schon vieles gesagt worden. Ich möchte dazu nur noch 331 Euro leben müssen und die Menschen im noch einige Anmerkungen machen. Wie wir alle wissen, Westen, die davon betroffen sind, von 345 Euro. Ich darf bestehen die Belastungen für die KMUs nicht nur im klarstellen, dass ein derartiges Verfahren niemals die Zu- Steuer- und Abgabenbereich, sondern auch in der Büro- stimmung der PDS finden wird. Wir als PDS-Abgeord- kratie. Das hat die Kollegin Homburger von der FDP in nete gehören diesem Hause bekanntlich an. den Mittelpunkt ihrer Ausführungen gestellt. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Wenn wir die Lage der kleinen und mittleren Betriebe verbessern wollen, dann müssen wir zunächst einmal Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die feststellen, wodurch diese Lage gekennzeichnet ist. Zum besten Ideen nichts bringen, wenn die Bundesregierung Mittelstand gehören der Friseur, der Dachdecker, der nicht bereit ist, ihre Finanzpolitik zu ändern. Herr Eichel Existenzgründer im IT-Bereich, der Autozulieferer mit drosselt mit seiner Finanzpolitik die Konjunktur und fast 500 Beschäftigten – auch er wird statistisch noch Herr Clement zwingt mit seinen Investitionskürzungs- dem Mittelstand zugerechnet –, der Metzger, der Ma- vorschlägen den Mittelstand weiter in die Knie. Insofern schinenbauer, der Partyservicebetrieb und viele andere. kann man nicht von einer „Offensive für den Mittel- In den jeweiligen Branchen und Sektoren gibt es unter- stand“ sprechen; der Antrag von SPD und Grünen gau- schiedliche Regelungen und Belastungen. Insofern ist es kelt dies leider nur vor. schwierig, zu verallgemeinern. Vielen Dank. Ich denke, es hilft uns auch nicht weiter – das ist schon mehrfach festgestellt worden –, den Sachverhalt (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) immer wieder polemisch und schwarzmalerisch darzu- stellen. Mir ist zum Beispiel völlig schleierhaft, warum Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: die Kollegen von der FDP in ihrem Antrag eine großflä- Ich erteile dem Kollegen Walter Hoffmann, SPD- chige Abschaffung statistischer Erhebungen fordern, ob- Fraktion, das Wort. wohl wir wissen, dass wir zumindest auf einen Teil der Erhebungen dringend angewiesen sind und wir mit dem Versuch, sie abzuschaffen, auf den härtesten Widerstand Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): stoßen würden, und zwar auch seitens der Politik. Denn Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wir brauchen eine vernünftige Datenerfassung, um die Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt, entsprechende Gesetzgebung auf den Weg zu bringen. glaube ich, in diesem Hause einen breiten Konsens in Ich will damit sagen, dass der Teufel im wahrsten Sinne (B) (D) der Einschätzung der Situation des Mittelstands bzw. der des Wortes im Detail steckt. kleinen und mittleren Betriebe in unserem Lande. Alle haben betont, wie wichtig der Mittelstand ist, und die Wir haben gehandelt – das ist nach unserer Auffas- Standorttreue besonders hervorgehoben. Ein Teil der sung auch unstrittig –; wir haben Maßnahmen entwickelt Redner hat auch die beschäftigungspolitische Bedeutung und sind jetzt dabei, diese konkret umzusetzen. Wir ha- des Mittelstands angesprochen. Es sind beeindruckende ben schnell und unbürokratisch das Projekt „Innova- Fakten, dass der Mittelstand 70 Prozent der Arbeitneh- tionsregionen“ geplant und umgesetzt – und zwar inner- mer und 83 Prozent der Auszubildenden beschäftigt. Er halb eines Jahres, Frau Homburger! ist, wie es so schön heißt, das zentrale Standbein für die Wir haben mithilfe der Innovationsregionen eine Zukunft im erweiterten Europa und in einer globalisier- Fülle von Vorschlägen erarbeitet und diese vor wenigen ten Welt. Tagen noch einmal in einem Kabinettsbeschluss zusam- mengefasst, der jetzt zur Umsetzung kommt. Er enthält Da das so ist, tun wir gut daran, alles daranzusetzen, 29 Vorschläge unter aktiver Beteiligung der Betroffenen. die Situation der kleinen und mittleren Betriebe zu ver- Das ist ein Prozess, der nicht von oben nach unten bessern. Darum streiten wir heute. Wir wollen, dass durchgesetzt, sondern mit den beteiligten Organisationen Menschen gerade in den kleinen und mittleren Betrieben und den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern erarbeitet Beschäftigung und Ausbildung finden, dass sich die wird. Zu den Vorschlägen gehören unter anderem die finanzielle Lage dieser Betriebe verbessert und wieder Verschlankung des Vergaberechts, die Modernisierung Erträge eingefahren werden. der Arbeitsstättenverordnung, die Reduzierung des Ver- Herr Schauerte, man kann darüber streiten, ob die bis- waltungsaufwands im Arbeitsschutzbereich, elektroni- her erzielten Ergebnisse ausreichend sind. sche Verfahren bei Steuererklärungen und einfache Mel- deverfahren in der Sozialversicherung. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ich meine, nicht!) In extrem kurzer Zeit haben wir eine Fülle von Vor- schlägen mit den Beteiligten entwickelt und auf den ge- – Sie meinen, dass dies nicht der Fall ist. Wir haben dazu setzgeberischen Weg gebracht. Jetzt befinden wir uns in naturgemäß eine etwas differenziertere und positivere der Umsetzungsphase. Herr Schauerte, Sie brauchen Einstellung. Aber ich denke, es ist unstrittig, dass wir in keine Angst vor Ruhe und Stillstand in diesem Land zu den vergangenen Monaten und Jahren eine Fülle von haben. Wir werden den bisherigen Prozess fortsetzen. Maßnahmen ergriffen haben, um die Lage der mittleren Ich denke, der Problemdruck ist in der Tat so hoch, dass und kleinen Betriebe zu verbessern. wir uns Stillstand und Ruhe im wahrsten Sinne des Wor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10043

Walter Hoffmann (Darmstadt) (A) tes überhaupt nicht erlauben können. Machen Sie sich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) keine Sorgen! Wir werden in unserem bewährten Stil des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) weiter handwerklich solide und qualitativ hochwertige Arbeit leisten. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der DIE GRÜNEN) Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion. Wir werden also weiter Vorschläge sammeln und Maß- nahmen umsetzen. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass Sie uns in Ihrem Antrag für die „Schönredner“ ist ein Begriff, der im Süden der Repu- Modellregionen – schön, dass das auch einmal ge- blik stark verbreitet ist. Dieser Begriff trifft heute auf schieht – ausdrücklich loben. Jetzt können Sie uns auf Sie, Herr Schlauch, voll und ganz zu. Wenn ich das, was der Bundesratsebene weiterhelfen; denn ein Großteil Herr Kuhn ausgeführt hat, richtig verstanden habe, dann dessen, was wir vorgeschlagen haben, ist zustimmungs- hat er zwar viel geredet, aber zum Mittelstand überhaupt pflichtig. Nehmen Sie entsprechend Einfluss auf die nichts gesagt. Bundesländer, in denen Sie etwas zu sagen haben! Ich möchte noch darauf hinweisen, dass ich in der Tat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Stil der Diskussion über die Mittelstandspolitik so- Das Schlimme ist: Sie reden schön, Sie reden sich selbst wie über Entbürokratisierung und Deregulierung zum etwas ein und Sie glauben das auch noch, was Sie sich Teil für kontraproduktiv halte. Es hilft uns nicht weiter, einreden. die Situation ständig schwarzmalerisch darzustellen. Ich möchte damit die Probleme der kleinen und mittleren (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Betriebe nicht klein reden; darum geht es mir überhaupt der FDP) nicht. Wenn wir aber Dynamik erzeugen und Menschen In welcher Welt leben Sie denn? motivieren wollen, Unternehmen zu gründen, Arbeits- plätze zu schaffen und Ausbildungsplätze zur Verfügung Die Lage des Mittelstandes war noch nie so katastro- zu stellen, dann schaffen wir das nicht mit Schwarzmale- phal wie zurzeit. Allein in den letzten zwei Jahren gab es rei und depressiven Zustandsbeschreibungen. 80 000 Insolvenzen. Jeden Tag kommen weitere 100 Das Institut für Mittelstandsforschung hat im letzten hinzu. Herr Hoffmann, das sind dreimal so viele Kon- Jahr – meine Kollegin von der FDP hat das vorhin ange- kurse wie vor zehn Jahren und fünfmal so viele wie vor (B) sprochen – eine breit angelegte Untersuchung über die 25 Jahren. (D) Belastung des Mittelstandes sowie über Deregulierung (Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Regulierung angestellt. Diese hat eine Fülle, wie ich NEN: Weil das Konkursrecht geändert worden finde, sehr nachdenkenswerter Ergebnisse gezeitigt. Ein ist!) Ergebnis ist, dass die subjektiv empfundene Bürokratie- belastung der Unternehmen größer ist als die tatsächlich Die Unternehmen laufen in Scharen davon. Jeden Tag nachgewiesene. Ich wiederhole: Die subjektiv empfun- verlieren wir über 1 000 Arbeitsplätze an das Ausland. dene Bürokratiebelastung der Unternehmen ist größer In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf Folgen- als die tatsächlich nachgewiesene! Ich bitte, einmal da- des hinweisen: Die – staatlich großzügig subventionier- rüber nachzudenken, wie das zustande kommen kann ten – Ich-AGs graben den Steuern und Abgaben zahlen- und wo die konkreten Ursachen dafür liegen. Wenn man den Meisterbetrieben zu guter Letzt das Wasser ab. Die das tut, kommt man sehr schnell zu dem Schluss, dass Bundesagentur für Arbeit muss in diesem Fall fast das an einer schwarzmalerischen Stimmungsmache liegt, 1 Milliarde Euro zur Verfügung stellen. Meine Damen die sich auf viele Mittelständler in diesem Land in der und Herren von Rot-Grün, Sie setzen mit dieser verfehl- Tat demotivierend auswirkt. ten Politik weitere Zehntausende von Arbeits- und Aus- bildungsplätzen aufs Spiel. Deshalb fordere ich: Schaf- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: fen Sie die Ich-AGs sofort wieder ab. Eine solche Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit! Regelung gibt es in der ganzen EU kein zweites Mal. Dänemark und Schweden haben das einmal ausprobiert. Auch sie haben Schiffbruch erlitten. Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): Das sollten Sie bei der Formulierung Ihrer Anträge (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- berücksichtigen. neten der FDP) Deswegen appelliere ich an Sie noch einmal: Drama- Seit Rot-Grün bei uns regiert, sind wir, Deutschland, tisieren Sie die Lage nicht, sondern arbeiten Sie stattdes- nicht mehr die Lokomotive des europäischen Wirt- sen an der konkreten Umsetzung unserer Vorschläge schaftszuges, sondern wir sitzen im Bremserhäuschen mit! Ein konkreter Vorschlag ist: Lassen Sie uns keine und werden zur Last für die wirtschaftliche Entwick- überflüssigen Anträge mehr einbringen! Das wäre ein lung Europas. großer Beitrag zum Abbau von Bürokratie. (Ludwig Stiegler [SPD]: Alte Reden werden Vielen Dank. jetzt wieder aufgewärmt!) 10044 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Ernst Hinsken (A) Herr Kollege Stiegler, nur noch Griechenland, Portugal (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C) und Spanien liegen hinter uns. Alle anderen sind vor uns. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsinn! Fakt ist: In Deutschland sind – das kann nicht oft genug Völliger Unsinn! Mit solchen Reden kommen gesagt werden – die Nettolöhne einfach zu niedrig und wir auch nicht weiter! – Ludwig Stiegler die Bruttoarbeitseinkommen zu hoch. [SPD]: Sie sind ein Schwarzseher!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ende 2003 befürchteten über zwei Drittel aller Fir- neten der FDP) men mit weniger als 50 Beschäftigten und mehr als die Hälfte der Unternehmen mit über 50 Mitarbeitern für Wir sind zu teuer, wir sind zu bürokratisch und wir sind 2004 noch schlechtere Finanzbedingungen. Frau Kolle- zu wenig innovativ. gin Wöhrl, Sie haben vorhin darauf zu Recht verwiesen; (Cornelia Pieper [FDP]: So ist es!) aber hier wird es nicht verstanden. Die Ursachen liegen auf der Hand: Sie haben den (Ludwig Stiegler [SPD]: Hier werden Pro- Mittelstand vernachlässigt; Sie haben ihm unverkraft- gramme gemacht, um dem abzuhelfen!) bare Fesseln angelegt. Seit 1998 haben Sie einen Die Botschaft ist noch nicht ganz angekommen. Knüppel nach dem anderen aus dem Sack geholt. Ich rufe hier ins Gedächtnis: Lohnfortzahlungsgesetz ge- Das Wichtigste ist, dass wir den Mittelstand wieder kippt, 630-DM-Regelung abgeschafft, Kündigungs- stärken. Das ist das A und O. Durch die Stärkung des schutzschwelle angehoben und das Betriebsverfassungs- Mittelstandes werden Wachstum und Beschäftigung ge- gesetz auf Mittel- und Kleinbetriebe ausgeweitet. Zum fördert. Vor allen Dingen deshalb müssen vernünftige Beispiel kamen zu den Kosten von 6 Milliarden Euro Rahmenbedingungen geschaffen werden. Für einen Auf- noch 1,2 Milliarden Euro hinzu. Das ist ein Beschäfti- schwung in Deutschland brauchen wir einen Befreiungs- gungsprogramm für den DGB, aber nicht für die Bürger schlag – ich möchte dazu sechs kurze Punkte vor- unseres Landes. tragen –: erstens einen Steuerabbauplan für die nächsten fünf Jahre, zweitens echte Reformen zur Senkung der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lohnzusatzkosten, drittens weniger Bürokratie, viertens neten der FDP) eine Offensive für Investitionen, Innovationen und Exis- tenzgründungen, fünftens eine Flexibilisierung des Ar- Genauso wurde ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit beitsmarktes, sechstens längere Arbeitszeiten bei glei- umgesetzt. Ergebnis: minus 250 000 Arbeitsplätze. Die chem Lohn. Bürokratie wurde ausgeweitet. Die Steuern wurden er- höht. Ich erinnere nur an die Einführung der Ökosteuer. Mittelstand und Existenzgründer gehören wieder ins (B) Den Investitionshaushalt haben Sie gekürzt. Herr Minis- Zentrum der Wirtschaftspolitik. Dahin werden wir sie (D) ter Stolpe, Sie sind dabei der Leidtragende – ich fühle auch rücken, weil Sie das versäumt haben. mit Ihnen –, weil Sie kein Geld mehr haben, um die Bau- wirtschaft anzukurbeln. Jetzt kommen Sie von Rot-Grün (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- noch mit der Ausbildungsplatzabgabe und anderem. neten der FDP) Wir brauchen mehr Freiraum für Selbstständigkeit. Seit Sie wundern sich, dass bei uns in der Bundesrepublik drei Jahren werden in Deutschland immer weniger Un- Deutschland nichts mehr läuft. Katzenjammer ist an der ternehmen gegründet. Herr Lange, was Sie gesagt haben, Tagesordnung. Aber das kommt ja nicht von ungefähr. stimmt gar nicht. Wir haben auch beim Handwerk ein Es ist alles hausgemacht, wie meine Vorrednerinnen ganz großes Minus zu verzeichnen, nämlich den Verlust Frau Bellmann und Frau Wöhrl bereits gesagt haben. von über 100 000 Arbeitsplätzen allein in diesem Jahr. Dem Macher Schröder unterläuft viel Murks. Er lässt (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Fragen den Mittelstand im Regen stehen. Uns muss quer durch Sie nach beim Statistischen Bundesamt! Lies das ganze Parlament besonders berühren, dass der Mit- nach! Nicht immer die alten Reden wiederho- telstand von der Substanz lebt. Die Ertragslage hat sich len!) drastisch verschlechtert. Es muss doch alarmieren, dass 35 Prozent der kleinen Unternehmen mit einem Umsatz Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen: unter 250 000 Euro überhaupt keinen Gewinn mehr ma- Der Selbstständigenanteil liegt bei uns in der Bundesre- chen und dass nur ein Drittel der größeren Unternehmen publik Deutschland leider nur noch bei 10 Prozent. In mit einem Umsatz zwischen 5 Millionen Euro und der EU liegt er noch bei 16 Prozent. Dieser Trend zu 50 Millionen Euro einen Gewinn erzielen. einem immer geringeren Anteil muss endlich umgekehrt werden. Die Eigenkapitaldecke wird immer dünner. Sie be- trägt im Schnitt höchstens 6 Prozent der Bilanzsumme. Mittelständler gehen, auch was Arbeitszeit anbelangt, Mehr als ein Drittel der Betriebe weist in der Bilanz kein mit gutem Beispiel voran. Eigenkapital mehr aus. Bei kleineren Betrieben mit (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das kann einem Umsatz bis 500 000 Euro sind es sogar mehr als man wohl sagen!) die Hälfte. Dennoch sagen Sie: Mit dem Mittelstand geht es aufwärts; es ist alles in Butter; wir werden die Pro- Die Jahresarbeitszeit ist bei ihnen um etwa 50 Prozent bleme meistern. Nein, Sie haben dem Mittelstand das höher als bei vielen ihrer Mitarbeiter. Sie packen an, so- Leben schwer gemacht, Sie haben ihn vernichtet. dass es wieder aufwärts geht. Wir alle sind aufgefordert, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10045

Ernst Hinsken (A) dem Mittelstand endlich die Chance zu geben, sich wie- 5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Arnold (C) der so zu entfalten, wie er es verdient. Wenn er auf Sie Vaatz, Werner Kuhn (Zingst), Ulrich Adam, wei- von Rot-Grün setzt, ist er verlassen. Wir werden dafür terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ sorgen, dass es wieder vernünftige Rahmenbedingungen CSU für den Mittelstand gibt und es wieder aufwärts geht, wie Ostdeutschland eine Zukunft geben Kollege Schauerte das vorhin gesagt hat. – Drucksache 15/3047 – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Rechtsausschuss [SPD]: Nur Polemik!) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Tourismus Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf der Drucksache 15/3221. Der Ausschuss empfiehlt b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die An- eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur nahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/351 mit – Drucksache 15/776 – dem Titel „Offensive für den Mittelstand“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- (Erste Beratung 56. Sitzung) gen? – Wer möchte sich der Stimme enthalten? – Die Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Beschlussempfehlung ist angenommen. ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- heit (15. Ausschuss) lehnung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion auf Druck- – Drucksache 15/2956 – sache 15/349 mit dem Titel „Grundsätzliche Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik statt neue Sonderregeln – Mit- Berichterstattung: telstand umfassend stärken“. Wer stimmt für diese Be- Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Wer möchte sich Cajus Julius Caesar (B) der Stimme enthalten? – Auch diese Beschlussempfeh- Undine Kurth (Quedlinburg) (D) lung ist mehrheitlich angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sache 15/357 mit dem Titel „Neue Chancen für den Mit- telstand – Rahmenbedingungen verbessern statt Förder- Nachhaltiges Wachstum in Ostdeutschland si- dschungel ausweiten“. Wer stimmt für diese chern Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer – Drucksache 15/3201 – enthält sich? – Mit Mehrheit ist die Empfehlung ange- Überweisungsvorschlag: nommen. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Finanzausschuss Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksa- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und che 15/752 mit dem Titel „Statistiken reduzieren – Un- Landwirtschaft ternehmen entlasten – Bürokratie abbauen“. Wer stimmt Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- Technikfolgenabschätzung gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Mit gleicher Ausschuss für Tourismus Mehrheit ist auch diese Beschlussempfehlung angenom- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union men. Haushaltsausschuss Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Wirtschaft ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim und Arbeit unter Buchstabe e seiner Beschlussempfeh- Günther (Plauen), Eberhard Otto (Godern), lung auf Drucksache 15/3221 die Ablehnung des An- Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter trags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1134 mit und der Fraktion der FDP dem Titel „Modellregionen für Deregulierung und Büro- Ostdeutschland als Speerspitze des Wandels – kratieabbau“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Leitlinien eines Gesamtkonzepts für die neuen lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Länder Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehr- heit des Hauses angenommen. – Drucksache 15/3202 – Überweisungsvorschlag: Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und b so- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) wie die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf: Finanzausschuss 10046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Tatsache, dass der polnische Präsident Kwasniewski (C) Ausschuss für Bildung, Forschung und gestern, nachdem er zunächst auf Polnisch darauf hinge- Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss wiesen hatte, wie sich die Lage in Polen entwickele und dass man 6 Prozent Wachstum habe, sich zum Herrn ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Bundeskanzler umdrehte und ihm, damit er das auch Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), mitbekomme, mit polnischem Einschlag auf Deutsch Eberhard Otto (Godern), weiterer Abgeordneter sagte: „6 Prozent, Gerhard!“, stellt natürlich eine Abwat- und der Fraktion der FDP schung der Politik der Bundesregierung dar. Keine Kürzungen bei den Verkehrsprojekten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rainer in Ostdeutschland Fornahl [SPD]: Das ist ja lächerlich!) – Drucksache 15/3203 – Das zeigt insbesondere, dass Ostdeutschland mittler- Überweisungsvorschlag: weile in seiner Entwicklung gegenüber den östlichen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Nachbarstaaten zurückgefallen ist. Das ist ein ganz be- Haushaltsausschuss sonders deprimierender Zustand, weil wir eben, wie ge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sagt, in den ersten Jahren eine ganz andere Geschwin- diese Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. – digkeit vorgelegt hatten. Ich höre und sehe keinen Widerspruch dazu. Dann ist Was ist festzustellen? Es gibt eine ganze Reihe von das so beschlossen. strukturellen Nachteilen in der Infrastruktur. Wir kön- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem nen nicht hinnehmen, dass diese Nachteile nicht unver- Kollegen Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion das züglich aufgearbeitet werden. Wir können nicht hinneh- Wort. men, dass sie sich verfestigen und ein dauerhaftes Hindernis im Konvergenzprozess bilden. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir stellen fest, dass die Wirtschaftskraft in Ost- deutschland seit längerer Zeit auf einem Niveau von Arnold Vaatz (CDU/CSU): zwei Dritteln der des Westens verharrt. Das ist viel zu Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wenig für den Aufwuchs von Unternehmenskapital, das Herren! In den letzten Wochen entstand in Deutschland ist zu wenig, um Kaufkraft selbst zu erzeugen, das ist zu eine Debatte über den Aufbau Ost. So pauschalierend wenig, um eine Konsolidierung der öffentlichen Finan- und abwertend man teilweise diese Debatte geführt hat zen zu ermöglichen. Es sind zu wenig Arbeitsplätze ent- und so verfehlt meines Erachtens auch die übereilte standen und die Anzahl der insolvenzgefährdeten Be- (B) Schlussfolgerung ist, dass der Aufbau Ost gescheitert triebe nimmt leider zu. Der Herr Bundeskanzler wollte (D) sei, sich einmal am Abbau der Arbeitslosigkeit in Ost- (Beifall des Abg. Siegfried Scheffler [SPD]) deutschland messen lassen. Wir müssen heute leider feststellen, dass ein Abbau von Arbeitsmöglichkeiten in so bleibt aber doch festzuhalten, dass es zwar manchmal Ostdeutschland eingetreten ist: Nicht die Arbeitslosig- übertrieben war, wie man die Debatte geführt hat, es keit ist verringert worden, sondern die Arbeitsplatz- aber nötig war, dass sie geführt wurde. dichte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP und des Abg. Siegfried Scheffler [SPD]) Das belastet nicht nur die Sozialsysteme und die Sozial- kassen, es belastet vor allen Dingen die betroffenen Natürlich ist der Aufbau Ost nicht gescheitert. Wir Menschen, die entweder abwandern oder resignieren. Es dürften uns aber alle darin einig sein, dass er in enormen darf nicht sein, dass die Politik den Menschen in Ost- Schwierigkeiten steckt. Wir können nicht hinnehmen, deutschland solche Botschaften vermittelt. dass die Stagnation in Ostdeutschland, die bereits etwa sieben Jahre anhält, noch weitere sieben Jahre zu ertra- Die Unternehmenslandschaft in Ostdeutschland gen ist. Wir müssen hier umsteuern. Wir brauchen neue wächst insgesamt zu langsam. Sie ist noch immer klein- Perspektiven für Ostdeutschland. Es müssen Identifika- teilig. Von einem wirklich starken Mittelstand, wie er tionsmöglichkeiten mit Zielen geschaffen werden, die das Kennzeichen der wachstumsstarken westdeutschen tatsächlich attraktiv und auch realisierbar sind. Im Au- Länder ist, können wir in Ostdeutschland bislang nur genblick können wir bei der Regierung herzlich wenig träumen. Die regionalen Wachstumszentren, über die wir froh sind, verdanken wir in erster Linie der erfolgreichen diesbezügliche Ansätze erkennen. Ansiedlungspolitik der Länder. Wir verdanken das aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch beihilferechtlichen Sonderregelungen und besonde- ren Finanzierungsinstrumenten, zum Beispiel den EU- Meine Damen und Herren, wir sind uns natürlich da- Strukturmitteln und den GA-Mitteln. Deshalb ist es rüber im Klaren, dass es immer Unterschiede zwischen umso unverständlicher, dass uns diese Finanzierungs- den Regionen in Deutschland geben wird, dass sich die instrumente, wenn es nach der Regierung geht, künftig Leistungsfähigkeit und die Entwicklungsgeschwindig- nach und nach aus der Hand geschlagen werden sollen. keit unterscheiden werden. Wir können aber nicht damit Das werden wir nicht zulassen. einverstanden sein, dass in letzter Zeit keine Konvergenz mehr, sondern eine Divergenz zu verzeichnen ist. Die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10047

Arnold Vaatz (A) Meine Damen und Herren, die entscheidende Frage Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) ist für uns: Wie kommen wir zu wettbewerbsfähigen Herr Kollege Vaatz, der Kollege Hilsberg würde Ih- Arbeitsplätzen? Da haben bis jetzt alle Rezepte dieser nen gerne eine Zwischenfrage stellen. Bundesregierung völlig versagt. Arnold Vaatz (CDU/CSU): (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch die der vorhergehenden!) Ja, bitte.

– Auch die CDU/CSU-FDP-geführte Bundesregierung Stephan Hilsberg (SPD): hat in diesem Bereich keine Lösung zustande gebracht; Sehr geehrter Herr Kollege Vaatz, sind Sie bereit, zur das ist leider wahr. – Aber weil das so ist, verlangen wir Kenntnis zu nehmen, dass im gesamten Bereich des Na- von Ihnen jetzt: Schluss mit dem Aussitzen, Schluss mit tionalen Allokationsplanes die Early-Action-Bemühun- der Illusion, man könne das Arbeitsvolumen durch Um- gen für den ostdeutschen Stromkonzern Vattenfall zu verteilung von Arbeit erhöhen, Schluss mit der Arroganz 100 Prozent umgesetzt wurden? gegenüber all jenen, die sich, wie zum Beispiel Klaus von Dohnanyi, Gedanken machen, wie man die Situation (Ludwig Stiegler [SPD]: Er ist nicht auf dem wenden kann, Schluss mit der Arroganz, ein „Weiter so“ neusten Stand!) zu wollen, wie es der heute vorliegende Koalitionsantrag beschreibt! Wir wollen ein Umsteuern, wie es zum Bei- Arnold Vaatz (CDU/CSU): spiel Klaus von Dohnanyi und Georg Milbradt detailge- Nein, sie sind nicht zu 100 Prozent umgesetzt wor- nau vorgeschlagen haben. den, sondern, soviel ich weiß – – (Cornelia Pieper [FDP]: Und die Landesregie- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung von Sachsen-Anhalt!) DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Ihr Wissen ist wirklich begrenzt! – Ludwig Wir wollen wenigstens eine offene Diskussion darüber. Stiegler [SPD]: Sie wissen nicht genug!) Wir wollen nicht, dass eine Diskussion durch Besuche Ich habe gestern gehört, dass das gerade nicht so ist. des Bundeskanzlers in Schwerin mit der Bemerkung, es sei ja alles in Butter, sofort unterbrochen und abgewürgt (Lachen bei der SPD – Zuruf von der SPD: wird; denn so verfestigt sich die Stagnation. Peinlich! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Höret die Signale! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wer hat das denn gesagt, Herr Vaatz?) (B) neten der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Sie (D) sind die personifizierte Stagnation!) Aber umso besser. Wenn das so ist, werden wir sehen. Ich bin gerne bereit, mit den Kollegen noch einmal zu Es ist bedauerlich, dass Sie bis jetzt keine konzeptio- reden; vielleicht sind sie ja zufrieden. Bis jetzt haben sie nellen Vorstellungen haben, obwohl Sie aus Ihren eige- mir das nicht signalisiert. nen Reihen deutlich kritisiert werden: von Herrn Hacker, Kommen wir zum Thema Verkehrswegeplanungs- Herrn Schneider, Herrn Hilsberg; auch Herr Hettlich hat beschleunigungsgesetz. Die Lücken in der Verkehrswe- sich dazu geäußert. Aber offenbar ist Ihnen über das geinfrastruktur in Ostdeutschland hätten wir mit Pla- Kurshalten hinaus noch nichts eingefallen. nungsverfahren, die etwa zehn bis 25 Jahre dauern, schließen müssen, wenn wir nicht die Möglichkeit ge- Wenn Sie aber Kurs halten wollen, dann müssen Sie habt hätten, das Verkehrswegeplanungsbeschleuni- den Menschen auch erklären, was Kurshalten heißt. gungsgesetz anzuwenden. Dieses Gesetz hat die Pla- Beim Emissionshandel zum Beispiel bedeutet es, dass nungszeiträume in Ostdeutschland erheblich verkürzt. auch die neueren Festlegungen dazu führen werden, dass Es hat uns dadurch viel Zeit und viel Geld gespart. die modernisierte Stromwirtschaft in Ostdeutschland die noch vorzunehmende Modernisierung in Westdeutsch- Aber jetzt hören wir, dass die Verlängerung der Gel- land finanzieren wird. In Ostdeutschland stehen die mo- tungsdauer dieses Gesetzes keineswegs gesichert ist. dernsten Kraftwerke, die es heute gibt, mit einem bereits Oder bestreiten Sie auch das etwa? Vielleicht haben Sie entsprechend niedrigen Emissionsvolumen. Deshalb ist ebenfalls gestern Nacht den Beschluss gefasst, die Gel- es technisch überhaupt nicht möglich, die Emissionen im tungsdauer dieses Gesetz zu verlängern. gesetzlich vorgeschriebenen Maße weiter zu reduzieren. (Franz Müntefering [SPD]: Was wissen Sie Die Stromwirtschaft Ost muss daher von den alten Kraft- denn da, Herr Vaatz?) werken West Zertifikate kaufen. Mit dem Verkauf dieser Zertifikate können die Kraftwerke in Westdeutschland Die Verlängerung der Geltungsdauer dieses Gesetzes ist ihre eigene Modernisierung bezahlen. Das bedeutet, die also, wie gesagt, noch nicht beschlossen. Kraftwerke in Ostdeutschland bezahlen zuerst ihre ei- (Ludwig Stiegler [SPD]: Es gilt aber noch!) gene Modernisierung und dann auch noch die Moderni- sierung in Westdeutschland. So sieht der Aufbau Ost in Das bedeutet, dass wir früher oder später in das alte bun- Sachen Emissionshandel aus! desrepublikanische Planungsrecht zurückfallen werden. Das wiederum bedeutet, dass wir viel Geld in die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) waltungsarbeit und in Gerichtsprozesse stecken müssen. 10048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Arnold Vaatz (A) Die Konsequenz ist, dass der Aufholprozess im Bereich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) des Verkehrswegebaus weiter stagnieren wird. Herr Kollege, es hilft alles nichts: Ihre Redezeit ist abgelaufen. Zum Thema Strukturpolitik kündigt die Bundes- regierung an, dass sie sich bei der EU für das Fort- gelten der Strukturförderung der neuen Bundesländer als Arnold Vaatz (CDU/CSU): Ziel-1-Gebiete weiter einsetzen will und dass auch die Angesichts der heutigen Situation müssen wir be- beihilferechtlichen Spielräume bis 2013 erhalten bleiben fürchten, dass das Streichkonzert hinsichtlich der GA- sollen. Was passiert aber nun? Trotz zehn neuer Mit- Mittel den Solidarpakt allmählich aushöhlen wird gliedstaaten streitet die Bundesregierung vehement für (Franz Müntefering [SPD]: Was wollen Sie eine Deckelung des EU-Haushalts bei 1 Prozent des uns da unterstellen?) Bruttosozialprodukts. Die weitere Strukturförderung der Ziel-1-Gebiete wird nicht mehr möglich sein, wenn Sie und uns die Planungsgrundlage für die Zukunft entzogen bei dieser Haltung bleiben. wird. Genau das wollen wir vermeiden. Wenn Sie sich unserer Position anschließen würden, wäre das genau die All das scheint nicht richtig zusammenzupassen. Des- richtige Botschaft für Ostdeutschland. halb appellieren wir an Sie, Ihre bisherige Position zum Aufbau Ost zu ändern. Die CDU/CSU-Fraktion hat ei- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. nen Antrag mit dem Titel „Ostdeutschland eine Zukunft geben“ vorgelegt. Das ist der Gegenentwurf zu Ihrem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kurshalten. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Ludwig Stiegler [SPD]: Vergangenheit ist Ich weise noch einmal darauf hin, dass die Redezeit das! – Franz Müntefering [SPD]: „Gegenent- vom Präsidium nicht festgelegt, sondern nur verwaltet wurf zum Kurshalten“? Was ist das denn?) wird. Wenn die tatsächliche Redezeit im Verhältnis zu „Ostdeutschland eine Zukunft geben“ beinhaltet eine der angemeldeten Redezeit deutlich überschritten wird, lange Liste von konkreten Maßnahmen. Wir denken, trifft dies die nachfolgenden Redner der jeweiligen Frak- dass wir wesentlich mehr Anstrengungen unternehmen tion. müssen, um die Herstellung von innovativen und markt- Nun erteile ich dem Bundesminister Manfred Stolpe fähigen Produkten sowie den Ausbau der Dienstleistun- das Wort. gen in Ostdeutschland zu fördern. Nur auf diese Weise können neue Arbeitsplätze geschaffen werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) Wir erwarten von Ihnen, dass Sie mit den verkruste- (D) ten Arbeitsmarktstrukturen aufräumen und dass Sie über Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- die Neuregelung des Kündigungsschutzes dazu beitra- kehr, Bau- und Wohnungswesen: gen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Vaatz, in einem Punkt stimme ich mit Ih- (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie wollen es ohne nen völlig überein: Die österliche Medienflaute wurde Kündigungsschutz! Seien Sie doch ehrlich!) durch Berichte über den Aufbau Ost beendet. Ich be- dass Arbeitskräfte leichter eingestellt werden können trachte es nicht als einen Schaden, dass dieses Thema und dass das Missverhältnis zwischen hohen Überstun- wieder ernsthaft diskutiert worden ist. denvolumen und hohen Arbeitslosenzahlen nach und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nach beseitigt wird. Allerdings haben wir dabei auch sehr viel Unsinn hören Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: müssen. Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. (Cornelia Pieper [FDP]: Das kann (Ludwig Stiegler [SPD]: Ihre Zeit ist man wohl sagen!) abgelaufen!) Was mich am meisten verbittert hat, ist die ständige Wie- derholung der Aussage, dass seit 1990 über 1 Billion Arnold Vaatz (CDU/CSU): Euro in den Osten geflossen sind, ohne dabei zu berück- Herr Präsident, noch eine Schlussbemerkung. sichtigen, dass die reine Zuweisung von Mitteln in den Osten über diese 15 Jahre gerade einmal circa 150 Mil- Wir erwarten von Ihnen, dass es eine geeignete Lohn- liarden Euro umfasst. Alles Übrige, all das, was darüber findung gibt, damit der Niedriglohnsektor erschlossen hinausgeht, betrifft Leistungen und Rechtsverpflichtun- werden kann. Wir erwarten von Ihnen insgesamt mehr gen, die in ganz Deutschland gelten und auch an anderen Freiheit, was die Gestaltungsmöglichkeiten der ostdeut- Stellen bezahlt worden sind. schen Landesregierungen angeht. Wir erwarten insbe- sondere, dass es bei Ihrer Zusage bleibt, die Solidarpakt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mittel in Höhe von 156 Milliarden Euro unangetastet zu DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lassen. CDU/CSU) (Franz Müntefering [SPD]: Was soll das denn Das Schlimme an solchen Aussagen ist ja, dass dies jetzt? Das hat keiner in Zweifel gezogen!) Stimmungsmache ist und es spaltet. Das verunsichert Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10049

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) und entmutigt die Menschen in Ostdeutschland. Aber damit kein weiterer Schaden entsteht. Deshalb begrüße (C) Mut und Selbstbewusstsein sind neben der verlässlichen ich den Antrag der Koalitionsfraktionen, die das klar for- Solidarität aus ganz Deutschland das Wichtigste, was die dern. Unsere Zukunft dürfen wir nicht durch Einsparun- Menschen im Osten brauchen. Ein ganz wichtiger Fak- gen an der falschen Stelle gefährden. Die eingeplanten tor, der oft unterschätzt wird und nicht übersehen werden Mittel müssen vollständig freigegeben werden. darf, ist die psychologische Komponente. Entmutigen, Meine Damen und Herren, natürlich geht es dem verunsichern ist das Schlimmste, was wir machen kön- Wirtschaftsminister nicht besser als dem Verkehrsminis- nen, um den Aufbau Ost zu verhindern. ter. Der Haushalt 2005 ist noch nicht beschlossen. Die (Beifall bei der SPD) nötigen Mittel sind noch nicht freigegeben. Wir können noch nicht ausgeben, was wir noch nicht haben. Ich gehe Leipzig kam mit seiner Olympiabewerbung leider jedoch davon aus, dass mit der Aufstellung des Haushal- nicht in die nächste Runde. Aber der Löwenmut im Rah- tes für 2005 die Handlungsfähigkeit im Hinblick auf die men dieser Bewerbung und die breite Unterstützung die- GA wiederhergestellt werden kann. Das ist unverzicht- ses Projektes quer durch ganz Deutschland haben ge- bar. Das ist auch eine Bitte an alle, die hier mitdenken zeigt, dass man gemeinsam etwas bewegen kann, einen und mithelfen. Aufbruch erreichen kann. Ich glaube, das ist eine Hal- tung, die wir für den Aufbau Ost insgesamt brauchen. (Beifall bei der SPD – [CDU/ Dieser kann uns dann gelingen, wenn man sich so unter- CSU]: Nur das Prinzip Hoffnung! – Weiterer hakt, wie es bei diesem Projekt gemacht worden ist. Zuruf von der CDU/CSU: Ihr Wort in Gottes Ohr!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es bleibt dabei: Der Solidarpakt II gilt. Niemand stellt ihn infrage. Bis Ende 2019 stehen für den Aufbau Leider kommen auch immer wieder falsche Signale. Ost weitere 156 Milliarden Euro bereit. Darüber hinaus Dies gilt zum Beispiel für die Sorge, ob der Aufbau Ost haben wir die europäische Strukturhilfe zur Verfügung. den Sparzwängen zum Opfer fällt. Alle wissen um die Länder und Bund sollten sich aber bald darauf verständi- Notwendigkeit der Konsolidierung. Die Vorschläge des gen, wie den auf europäischer Ebene drohenden Ausfäl- Vermittlungsausschusses zum Subventionsabbau wurden len begegnet werden kann. von allen getragen. Nun erleben wir eine Debatte, in der ein Widerspruch zwischen Subventionsabbau und dem (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Aufbau Ost im Hinblick auf eventuelle Kürzungen im Wir werden vonseiten der Regierung alles versuchen, Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe auftaucht. Die GA um eine moderate Umstellung der europäischen Struk- „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – das (B) turhilfe zu erreichen. Zumindest muss aber ein nationa- (D) muss hier in aller Klarheit gesagt werden – ist eines der ler Ausgleich vorgesehen werden, und zwar gesichert erfolgreichsten Förderinstrumente. durch europäisches Beihilferecht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die GA mobilisiert ganz gezielt wettbewerbsfähige In- Auf keinen Fall aber darf durch die Osterweiterung vestitionen. Sie schafft Arbeitsplätze. Sie erhält Arbeits- der Europäischen Union ein folgenschwerer Rückschlag plätze. Sie entwickelt wirtschaftliche Stärken. Sie hilft für den Aufbau Ost entstehen. Ähnliches gilt übrigens Ostdeutschland und damit ganz Deutschland. Sie ist als auch für andere benachteiligte Regionen in Deutschland, ein Förderinstrument unverzichtbar. die ebenfalls auf Strukturhilfen aus Brüssel angewiesen Deshalb ist es richtig, dass alle Ministerpräsidenten sind. der ostdeutschen Länder die Fortsetzung der GA for- Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, zusammen mit dern. den Ländern den wirksamsten Einsatz der zur Verfügung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stehenden Mittel zu vereinbaren. Jetzt, zur Halbzeit des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aufbaus Ost, wenige Monate vor dem In-Kraft-Treten des Solidarpaktes II, ist der richtige Zeitpunkt, die künf- Fortsetzen heißt, nicht scheibchenweise in die Bedeu- tigen Schwerpunkte zu bestimmen. Bundesminister tungslosigkeit kürzen, sondern sichern und verstetigen, Clement und ich haben Praktiker der Wirtschaft und wis- solange ein dringender Bedarf besteht. Ich unterstütze senschaftliche Analytiker eingeladen, um ihre Vorstel- diese Forderung ausdrücklich. Alle Menschen in Ost- lungen zum Aufbau Ost zu hören. Ergebnisse sind zum deutschland erwarten dies. Die GA muss als wesentli- Sommer zu erwarten. ches Element der Investitionsförderung in Ostdeutsch- land erhalten bleiben. Dieses Signal brauchen wir jetzt. Dazu ist mit der heutigen Beschlussfassung eine Chance Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gegeben. Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Kretschmer? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- Die Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern kehr, Bau- und Wohnungswesen: darf nicht stillstehen. Wir brauchen Planungssicherheit, Lieber erst hinterher, da die Uhr weiterrennt. 10050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Mit Verlaub: Der Aufbau Ost ist mehr als eine Olym- (C) Die Uhr rennt natürlich nur dann weiter, wenn wir sie piabewerbung. Je schneller und überzeugender der Auf- nicht stoppen, was wir bei Zwischenfragen aber immer bau Ost jedoch kommt, umso eher kann Deutschland tun. seine volle Kraft entfalten. Alle gemeinsam können es schaffen: Bund, Länder, Kommunen, Wirtschaft, Wis- Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- senschaft und vor allem die Menschen in Deutschland, kehr, Bau- und Wohnungswesen: im Osten mit ihrem Mut und im Westen mit ihrer Solida- Noch wird heftig gestritten, aber Schwerpunkte zeich- rität. Dann wird es gelingen und das muss nicht erst zum nen sich schon ab. Die Beschleunigung der Reindustria- Silvesterabend 2019 sein. lisierung ist zwingend. Finanzierungswege für die Neu- Ich danke Ihnen. gründung und Bestandssicherung mittelständischer Unternehmen müssen schneller gegangen werden kön- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen. Die deutliche Verstärkung von Wissenschaft und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Forschung als Wirkungskräfte der Wirtschaft ist ein ent- scheidender Hebel für den Aufbau Ost. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege (Beifall bei der SPD) Kretschmer das Wort. Schnelle Deregulierungen müssen als wirksame Erleich- terungen für wirtschaftliches Wachstum geschaffen wer- Michael Kretschmer (CDU/CSU): den. Ich hoffe auf überzeugende Ergebnisse. Herr Bundesminister, verzeihen Sie mir, dass ich Sie beim Vorlesen Ihres Manuskripts gestört habe. Meine Damen und Herren, wir müssen aber nicht ab- warten, bis die Stellungnahmen vorliegen. Wir haben ( [SPD]: Das machen wir nächs- eine ganze Reihe von Instrumenten, von denen ich nur tes Mal bei Ihnen auch!) zwei nennen möchte. So können zum Beispiel struktur- schwache Regionen bei der Entfaltung ihrer spezifi- Natürlich können wir auch am Ende fragen. schen Potenziale gezielt unterstützt werden. In sechs Es geht ganz konkret um die europäische Struktur- ostdeutschen und zwölf westdeutschen Regionen läuft politik. Wir haben in diesem Plenum bisher nicht gehört, das Projekt „Regionen aktiv“. Konzepte zur Entwick- dass die Bundesregierung, die SPD und die Grünen lung eines Gesamtraums werden durch EU-, Bundes- bereit wären, das Geld, das bisher in die neuen Bundes- und Länderförderung gestärkt. länder und die strukturschwachen Regionen fließt, zu er- setzen. Deswegen frage ich Sie: War das Ihre Privatmei- (B) Es gibt nach meiner Überzeugung in Deutschland (D) nung, die Sie uns hier vorgetragen haben, oder wann hat keine verlorene Region. Gemeinsam mit den Akteuren das Bundeskabinett darüber diskutiert, dass es auf jeden vor Ort müssen wir die jeweiligen Stärken stärken. Stär- Fall dazu kommen muss, dass die neuen Bundesländer, ken zu stärken – darum geht es auch bei dem zweiten wenn der Aufbau Ost nicht scheitern bzw. abrupt abge- Beispiel, das ich Ihnen nennen möchte, dem Angebot der brochen werden soll, dieses Geld bekommen? Bundesministerien für Wirtschaft, Wissenschaft, Land- wirtschaft, Verkehr und Bau an die Länder. Wachstums- Herr Bundesminister, wir fragen uns bei Ihren An- kerne könnten durch den gebündelten Einsatz von För- kündigungen immer wieder, ob man sich darauf verlas- dermitteln schneller vorangebracht werden. Wir haben sen kann. Ich möchte als ein Beispiel, weil es in Ihrem die Verhandlungen mit den Ländern darüber aufgenom- Haus ressortiert, das Osteuropazentrum für Wirtschaft men, wie einzelne Förderprogramme auf der Basis der und Kultur nennen, wo wir, die Union, Ihnen die Hand zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel effizienter der gereicht und gesagt haben: Wenn das Konzept stimmt, strategischen Entwicklung von Wachstumskernen und machen wir mit. Seit über einem Jahr warten die Länder Wachstumsbranchen dienen können. Hier kann die und diejenigen, die die Konzepte geschrieben haben, auf Bundesförderung am effektivsten helfen, aber der Bund eine Antwort, auf eine Entscheidung. Sie kommen nicht – das soll hier ausdrücklich betont sein – wird keine ein- voran. Deswegen stelle ich die für die Strukturpolitik seitigen Festlegungen treffen. Die Entscheidungen lie- wichtige Frage: Wie verlässlich war Ihre Aussage hier gen bei den Ländern. und heute? Es sind die gemeinsam erarbeiteten Konzepte, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ostdeutschland voranbringen können: gründlich ge- prüfte Konzepte, langfristig angelegte Konzepte mit dem Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ziel, Arbeit zu schaffen, Mut zu machen und Menschen Zur Beantwortung, Herr Minister. eine Perspektive zu geben. Die Leute schauen auf uns, auch heute. Kommen nur Zank, Streit oder gar Injurien Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- zur Sprache oder – das wird von uns erwartet – wird ein kehr, Bau- und Wohnungswesen: gesamtgesellschaftlicher Konsens deutlich, dem Osten auf die eigenen Beine zu helfen? Letzteres ist erforder- Herr Kretschmer, Sie wissen ganz genau, dass wir uns lich und wird erwartet. diesbezüglich noch in einem Klärungsprozess befinden. Nicht umsonst haben sich die Ministerpräsidenten mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herrn Monti getroffen und die Frage diskutiert. Dieser des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Prozess wird vermutlich noch ein paar Monate dauern. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10051

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) Ich habe meine Position hier klar geäußert. Ich bin bau-Ost-Minister selbst nicht viel zutrauen. Im April (C) mir sicher, dass die Bundesregierung sie deckt. Vorsorg- dieses Jahres habe ich von Herrn Stephan Hilsberg in lich biete ich Ihnen an, das im Protokoll nachzulesen. der „Financial Times Deutschland“ gelesen: Stolpes Leistungsbilanz als Ministerpräsident lässt nicht erken- Ich bitte Sie aber auch, zur Kenntnis zu nehmen, dass nen, dass er die Kompetenz für den Aufbau Ost hat. wir mit Zittau Wort gehalten haben. Hier können Sie Klaus von Dohnanyi wirft Herrn Stolpe fehlende Kon- sich eigentlich nicht beklagen. Wir machen auch bezüg- zeption und Durchsetzungsfähigkeit vor. Das stärkt doch lich Leipzig weiter und werden alle angekündigten Maß- bezüglich des Aufbaus Ost nicht das Vertrauen der Men- nahmen durchziehen. Das können Sie jederzeit nachprü- schen im Osten Deutschlands in diese Bundesregierung. fen. Das verunsichert die Menschen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sie, Herr Stolpe, machen den Menschen auch keinen Ich erteile das Wort der Kollegin Cornelia Pieper, Mut, wenn ich lese, dass Sie erklären, FDP-Fraktion. (Christoph Matschie [SPD]: Dann machen Sie (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Arbeit kommt, uns mal Mut, Frau Pieper!) die Pieper geht!) der Traum von einer schnellen Angleichung von Ost und Cornelia Pieper (FDP): West müsse beerdigt werden. Dazu kann ich nur sagen: So ist es: Die Arbeit kommt, wenn Sie nicht mehr re- Die Menschen wissen, dass die Gleichwertigkeit der gieren, Herr Küster. Lebensverhältnisse in Deutschland nicht von heute auf morgen hergestellt werden kann. Sie verlangen aber von (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ihnen als Bundesregierung, dass Sie handeln und endlich der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie auch die Vorschläge, die im Übrigen aus den neuen Bun- haben doch den Spruch geprägt: Die Arbeit desländern gekommen sind, umsetzen. kommt! Und Sie sind gegangen!) (Beifall bei der FDP) Herr Präsident! Wir haben die Rede von Bundesmi- nister Stolpe hier vernommen. Herr Bundesminister, ich Wissen Sie, was ich Ihnen noch mehr vorwerfe? Ich kann nur sagen: meine den Umstand, dass im Chor der Ahnungslosen auch noch die Stimmen von SPD-Ministerpräsidenten, (B) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Immer wenn es (D) von Herrn Steinbrück aus Nordrhein-Westfalen und von schwer wird, gehen Sie weg!) Frau Simonis, zu vernehmen sind. Ich kann zwar nicht Man kann die Ankündigungspolitik der Bundesregie- unbedingt sagen, dass sie zu den kompetentesten Vertre- rung einfach nicht mehr ertragen. Mit moralischen Ap- tern in Sachen Wirtschaftsaufschwung Ost gehören, pellen und Psychologie sind die Menschen in Ost- deutschland zu Recht nicht mehr zufrieden zu stellen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie als Außenste- hende sollten nicht über Kompetenz reden! – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Siegfried Scheffler [SPD]: Mehr als niveaulos! der CDU/CSU) Fangen Sie bei sich selber an!) Es war der Bundeskanzler selbst, der mit Regierungs- aber beide forderten – vielleicht darf ich Ihnen das mit antritt 1998 den Ostdeutschen versprochen hat, der Auf- einer ihrer Aussagen untersetzen –, die Messlatte für die bau Ost werde bei ihm Chefsache. Verteilung der Mittel solle künftig nicht die Himmels- (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben blühende richtung, sondern die Bedürftigkeit sein. Sie wissen Landschaften versprochen!) überhaupt nicht, was los ist und wie die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern ist. Seit 1998 hat Sie haben sich 2002 über das Hochwasser gerettet, aber die Gründungsintensität dramatisch abgenommen. Die die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Firmenpleiten in Insolvenzquote ist mit 20,5 Prozent doppelt so hoch wie Ostdeutschland sind gestiegen. Das ist die Wahrheit. Sie in den alten Bundesländern. Die Arbeitslosenquote hat haben die Menschen in den neuen Ländern verunsichert. seit der deutschen Einheit ihren Höchststand erreicht und Sie haben nicht Zuversicht vermittelt und auch keine beträgt fast 20 Prozent, in einigen Regionen sogar neuen Chancen aufgezeigt. Bis heute, Herr Bundesmi- 30 Prozent. Das ist eine dramatische Situation. Ich kann nister Stolpe, fehlt ein Gesamtkonzept für eine wirt- es einfach nicht mehr ertragen, dass SPD-Ministerpräsi- schaftliche Strategie in den neuen Bundesländern. Die denten auf dem Rücken der Ostdeutschen schon jetzt ih- ist nicht erkennbar. Deswegen meinen wir: Handeln Sie ren Wahlkampf für die Landtagswahlen im nächsten Jahr endlich! führen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – der CDU/CSU) Dr. Uwe Küster [SPD]: Deswegen sind Sie Noch schlimmer, meine Damen und Herren von der weggerannt? Statt zu arbeiten sind Sie wegge- Regierungskoalition, ist, dass Sie Ihrem eigenen Auf- rannt!) 10052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Cornelia Pieper (A) Neuerdings bekommen sie auch tatkräftige Wahlkampf- sie Modellregionen für die neuen Länder fordern. Das (C) unterstützung von Ihrem sonst so mutigen Bundeswirt- tun sie zu Recht; denn sie wollen die Aussetzung von schaftsminister Clement. Bundesrecht. Herr Stolpe, ich habe Ihre Ausführungen mit großem (Ludwig Stiegler [SPD]: Sagen Sie deutlich: Interesse verfolgt, was ich im Übrigen immer tue. Aber Sie wollen keinen Kündigungsschutz!) am 15. Mai dieses Jahres durften wir im „Tagesspiegel“ Wir sind gemeinsam mit den Ostdeutschen der Auf- lesen – hier bitte ich auch um eine Klarstellung des Bun- fassung: Dadurch, dass die Bürokratie und die Verwal- deswirtschaftsministeriums –, dass sich die neuen Bun- tungsstrukturen 1990 eins zu eins auf die neuen Länder desländer in den kommenden drei Jahren auf drastische übertragen worden sind, wurden Investitionen und damit Kürzungen der Fördergelder für Investitionen einstellen auch Arbeitsplätze verhindert. Deswegen wollen wir müssen. Allein für das Jahr 2005 will das Ministerium neue Wege gehen. Wir wollen zum Beispiel eine Locke- vorläufig nur 35 Prozent der GA-Mittel freigeben. Das rung des Kündigungsschutzrechtes und flexiblere Aus- bedeutet, dass es wirklich zu einem Abbruch Ost kommt, bildungsvergütungen, weil kommunale Straßenprojekte und private Investitio- nen nicht verwirklicht werden können und dadurch die (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie wollen geringere Arbeitslosigkeit steigen wird. Hierzu verlange ich eine Ausbildungsvergütungen!) Klarstellung. Ich bzw. die FDP will wissen: In welchem Umfang werden Sie bei der GA kürzen? Oder werden damit die jungen Menschen nicht abwandern müssen, Sie zuverlässig sein und die Mittel für die Gemein- sondern in ihrer Heimat einen Arbeits- oder Ausbil- schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt- dungsplatz finden. schaftsstruktur“ auch weiterhin nicht kürzen? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Klaus von Dohnanyi fordert mit seiner Kommission Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- – Sie selbst haben ihn beauftragt –, dass im Osten ein tion, die Fehlleistungen der Bundesregierung, die stei- pragmatisch angepasster Flächentarifvertrag mit breiten gende Verschuldung und die fehlenden Reformen, sind Öffnungsklauseln zugelassen werden soll. Recht hat er! erkennbar und gehen auch zulasten der neuen Bundes- Handeln Sie endlich, machen Sie es doch! länder. Eine Steuerreform, die mittelstandsfeindlich ist, (Christoph Matschie [SPD]: Machen wir doch eine Gesundheitsreform, die die Lohnzusatzkosten in die schon lange, Frau Pieper!) Höhe treibt, eine Erhöhung der Mineral- und Ökosteuer, (B) die die Benzinpreise in Rekordhöhe treibt, die Erbschaft- Wir Liberale wollen, dass der Osten zum Reformmo- (D) steuer, die Vermögensteuer und die Ausbildungsplatz- tor in Deutschland wird. Die Ostdeutschen zeichnen sich steuer, durch die immer mehr Unternehmen in die Pleite durch eine hohe Bereitschaft aus, neue Wege auszupro- getrieben werden, das alles ist keine Politik, die den bieren und Leistungseinschnitte hinzunehmen, wenn da- neuen Bundesländern hilft. Ich kann Sie nur zu einer durch der Arbeitsplatz erhalten bleibt. Sozial ist, was Ar- Kehrtwende auffordern. beit schafft; das ist für die Menschen dort wichtig und für uns auch. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dennoch gibt es aus den neuen Bundesländern wirk- Ludwig Stiegler [SPD]: Jetzt machen Sie lich ermutigende Signale. Dort sind Wachstumskerne schon die Stoiber-Sprüche!) bzw. Leuchttürme entstanden, die sich sehen lassen kön- nen und die auf die Initiative der Bundesländer selbst Wir brauchen einen differenzierten Blick auf die Re- und der Menschen vor Ort zurückgeführt werden kön- gionen in Ostdeutschland: nicht die Gießkanne, sondern nen. den Trichter für Förderprogramme. (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist ja so ein (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie brauchen den Quatsch!) Nürnberger Trichter!) Die Zeit ist überfällig für ein Gesamtkonzept und ich er- So wurden in den ostdeutschen Ländern ermutigende mahne die Bundesregierung noch einmal, eine solche Zeichen gesetzt: zum Beispiel durch die Halbleitertech- wirtschaftspolitische Strategie vorzulegen. nik in Dresden, durch die Polymer-Chemie im Dreieck Bitterfeld-Halle-Leuna und durch den Biotechnologie- Wir schlagen vor: Erstens. Wir brauchen die Konzen- standort in Mitteldeutschland, der in ganz Deutschland tration der Förderung auf gewerbliche Investitionen, Spitze ist. insbesondere aber auf die wirtschaftsnahe Forschung und Entwicklung. (Ludwig Stiegler [SPD]: Wer hat denn das be- zahlt? – Über die Ausnutzung von Bundespro- (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist aber neu!) grammen, Frau Pieper! Ein bisschen Bescheid wissen sollten Sie!) Der Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung liegt im Osten bei 16 Prozent, im Westen bei rund 23 Prozent. – Herr Stiegler, Sachsen-Anhalt und Sachsen haben im Der Anteil wertschöpfungsstarker Betriebe ist einfach zu letzten Jahr Bundesratsinitiativen eingebracht, in denen gering. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10053

Cornelia Pieper (A) Der Anteil Ostdeutschlands an den gesamtdeutschen hilft nicht, hören Sie mir lieber zu – vielleicht lernen Sie (C) Aufwendungen für Forschung und Entwicklung beträgt dadurch ja. lediglich 6 Prozent. Deswegen brauchen wir – zweitens – Mein Kollege aus Sachsen erzählt mir von Demons- die Konzentration auf Forschungsförderung. Wir trationen, Streiks an der Grenze zu Osteuropa, Staus. schlagen vor, Leistungen für Forschung und Entwick- Das Verkehrsaufkommen ist gewaltig gewachsen. Wir lung im Rahmen der Investitionsförderung stärker zu be- wollen, dass die Bundesregierung im Rahmen der EU- rücksichtigen und sich auf Wachstumskerne zu konzen- Osterweiterung dafür sorgt, dass die Fördermittel aus trieren. dem Strukturfonds vordringlich zum Ausbau der grenz- (Beifall bei der FDP) überschreitenden Verkehrsnetze im Osten Deutschlands eingesetzt werden. Wir wollen die Vernetzung von Wissenschaft, von Hoch- schulen und außeruniversitären Forschungseinrichtun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen, und Unternehmen, damit durch innovative Techno- der CDU/CSU – Siegfried Scheffler [SPD]: logien vermehrt neue Produkte auf den Markt kommen Fragen Sie in Sachsen-Anhalt nach, wo die und ostdeutsche Unternehmen exportfähig werden. Regionalisierungsmittel geblieben sind!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Das haben Sie aus Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dem Fortschrittsbericht der Bundesregierung abgeschrieben!) Frau Kollegin, falls das nicht Ihr Schlusssatz gewesen sein sollte – wofür er sich vorzüglich geeignet hätte –, Die Exportquote liegt im Osten bei 25 Prozent, im Wes- muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Re- ten dagegen bei 38 Prozent. Da muss ein Aufholprozess dezeit bereits zu Ende ist. in Gang kommen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Drittens. Wir brauchen Risikokapital aus einem re- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) volvierenden Fonds für mittelständische Unternehmen, ähnlich dem ERP-Programm, dem Marshall-Plan. Wir Cornelia Pieper (FDP): wollen eine bessere Liquidität mittelständischer Unter- Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich finde es bedauer- nehmen. Deswegen haben wir vorgeschlagen, bis zu ei- lich, dass hier im Hohen Hause, im Deutschen Bundes- nem Umsatz von 2,5 Millionen Euro die Umsatzbesteue- tag, so wenig Gelegenheit besteht, über die Probleme der rung von der Soll- auf die Ist-Besteuerung umzustellen. Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer zu (Beifall bei der FDP) sprechen. (B) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das können Sie jeden (D) Das würde dazu beitragen, dass die Liquidität von Un- Tag bestimmen!) ternehmen gestärkt wird und Arbeitsplätze gesichert werden. Machen Sie die neuen Länder doch endlich zur Speer- spitze des Wandels, lassen Sie die Menschen unter Be- Wir wollen – viertens – eine Regelung für die grenz- weis stellen, was sie auf dem Kasten haben; dann wür- nahen Regionen in Ostdeutschland ähnlich dem bis den wir alle gewinnen. 1994 in Kraft gewesenen Zonenrandförderungsgesetz. Vielen Dank. Wir wollen – fünftens – eine Prioritätensetzung bei der Infrastruktur. Herr Minister Stolpe, das ist Ihr Ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) antwortungsbereich. Es ist doch einfach nicht mehr hin- nehmbar, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Zuruf von der FDP: Das ist doch das Problem: Das Wort erhält nun der Kollege Peter Hettlich, dass es einfach nicht mehr hinnehmbar ist!) Bündnis 90/Die Grünen.

dass wir nach 14 Jahren noch immer nur Brücken und Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Tunnel in der Landschaft stehen sehen, wo der ICE von Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Nürnberg über Erfurt, Leipzig/Halle nach Berlin fahren nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir soll. Diese Strecke muss endlich ausgebaut werden. haben im Oktober letzten Jahres in diesem Hause über (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – den Stand der deutschen Einheit debattiert. Damals habe Ludwig Stiegler [SPD]: Mit den Steuerge- ich gesagt – dazu stehe ich auch heute noch –, dass die schenken, die die FDP fordert!) Einheit in den Köpfen weit gediehen ist, sehr viel weiter, als es mancher Schwarzmaler noch immer beschwört. Das ist nur ein konkretes Beispiel. Aber ohne eine Angleichung der wirtschaftlichen (Christoph Matschie [SPD]: Da sind die Bau- Verhältnisse wird unsere Einheit nur unvollständig blei- arbeiter am Werk! Sie müssen hinfahren und ben. Die Lösung dieser Aufgabe ist von großer Bedeu- sich das angucken! Sie müssen die Wirklich- tung für ganz Deutschland, denn nur durch eine sich keit zur Kenntnis nehmen!) selbst tragende nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland können wir Spielräume für weitere – Herr Matschie, machen Sie konkrete Vorschläge; Sie dringend notwendige Investitionen in die Zukunft unse- haben hier im Bundestag die Möglichkeit dazu. Schreien res Landes schaffen. 10054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Peter Hettlich (A) Wir haben in den letzten Wochen eine zum Teil unse- len Zukunftstechnologien besonders in den Regionen (C) lige öffentliche Debatte über Transferleistungen fördern, in denen bereits Kerne neuer Industrien vor- zwischen West und Ost führen müssen. Ausgehend handen sind. So schaffen wir am ehesten die Vorausset- von einem Artikel mit der reißerischen Überschrift zungen, dass einzelne Regionen langfristig unabhängig „1 250 Milliarden Euro – Wofür?“ entstand eine Diskus- von Transfers werden und eigenständige Entwicklungs- sion darüber, ob Ostdeutschland ein Fass ohne Boden sei wege verfolgen. und ob es sich überhaupt lohne, weiterhin in die neuen In den Kommunen, Landkreisen und Ländern muss Bundesländer zu investieren. Trauriger Höhepunkt war sich die Einsicht durchsetzen, dass eine erfolgreiche Ent- aus meiner Sicht die Behauptung, der Aufbau Ost sei ur- wicklung nur gemeinsam und nicht gegeneinander er- sächlich für den Absturz West. Umso bedenklicher war reicht werden kann. Dies bedeutet den Abschied von der sie, da sie von Klaus von Dohnanyi stammte, der mit sei- Kirchturmpolitik der vergangenen Jahre, die zum Teil zu nem Praktikerkreis Vorschläge für die weitere Entwick- erheblichen Fehlallokationen zum Beispiel bei der Er- lung in den neuen Bundesländern machen sollte. schließung und der Vorhaltung von Gewerbe- und Indus- Diese Aussage war und ist so falsch wie töricht. Herr triegebieten, aber auch in der Wirtschaftsförderung ge- Dohnanyi hätte als ehemaliger Hamburger Bürgermeis- führt hat. Daher muss sich die Vergabe von Fördermitteln ter wissen müssen, dass die Probleme des Westens ihren auch künftig an überregionalen und länderübergreifenden Ursprung in der Zeit lange vor der Wiedervereinigung Wirtschaftsstrukturen orientieren. haben und durch die Euphorie der frühen 90er-Jahre le- Das zentrale Instrument der Wirtschaftsförderung so- diglich übertüncht wurden. wie der Förderung der wirtschaftsnahen Infrastruktur in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den neuen Ländern ist die Gemeinschaftsaufgabe „Ver- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die GA. CDU/CSU) Ihr Schwerpunkt liegt auf der Förderung überregionaler Wirtschaftskreisläufe. Die GA ist ein effizientes, arbeits- Heute müssen wir für die Folgen einstehen. Dies aber platzerhaltendes und arbeitsplatzschaffendes Mittel mit einer Ostdeutschland bzw. den Ostdeutschen vorzuwerfen ist sehr hohen Zielgenauigkeit. Wir wollen, dass GA-Mittel sachlich falsch und moralisch nicht zu rechtfertigen. stärker in Zukunftsbranchen sowie in Dienstleistungsberei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, che fließen. bei der SPD und der CDU/CSU) Die von Wirtschaftsminister Clement angestoßene Eine hervorragende und ernst zu nehmende Analyse Debatte über die Kürzung der GA-Mittel war in diesem der Situation stellen dagegen der erste und zweite Fort- Zusammenhang nicht hilfreich. Aus diesem Grunde (B) schrittsbericht wirtschaftswissenschaftlicher Institute habe ich mich in der Öffentlichkeit ungewöhnlich scharf (D) über die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland zu diesem Thema geäußert. Ich mache auch an dieser dar. Letztmalig im November 2003 haben die beteiligten Stelle deutlich: Mit uns wird eine weitere Kürzung nicht Institute eine nüchterne und kritische Bestandsaufnahme zu machen sein. der vergangenen Jahre vorgenommen. Die Analysen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lösungsansätze sind dergestalt, wie ich sie mir für und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der meine tägliche Arbeit als Politiker wünsche, und ich CDU/CSU und der FDP) kann sie auch ernst nehmen. Im Zuge der Föderalismusdebatte wird die GA aber Die Arbeitsgruppe Ost der Bundestagsfraktion Bünd- von Teilen der Kommissionsmitglieder infrage gestellt, nis 90/Die Grünen hat sich in einen intensiven Dialog übrigens auch von Ministerpräsident Stoiber. Dem wol- mit den Autoren begeben. In einem Positionspapier un- len wir entgegenwirken, auch im Hinblick auf die Verän- serer Fraktion hat sie bereits am 30. März Vorschläge derungen in der EU-Strukturpolitik, die aus der EU-Er- vorgelegt, wie wir die künftige wirtschaftliche Entwick- weiterung resultieren. lung Ostdeutschlands gestalten wollen: Wir wollen die Finanzausstattung der GA in den Förderungen nach dem Gießkannenprinzip sind weder neuen Ländern im Rahmen der Vorgaben aus dem Soli- sinnvoll noch vor dem Hintergrund der Haushaltspro- darpakt II verstärken. Statt die bis 2006 befristete Inves- bleme von Bund, Ländern und Kommunen dauerhaft titionszulage zu verlängern, schlagen wir vor, die GA zu leistbar. Um den unterschiedlichen Entwicklungsbedin- stärken, da wir sie für die bessere Maßnahme halten. Die gungen der Regionen Rechnung zu tragen, sehen wir da- Investitionszulage in ihrer jetzigen Form bewirkt zu her zwei Hauptaufgaben: einerseits die Stärkung der vor- hohe Mitnahmeeffekte bei den Unternehmen und ist un- handenen Wachstumsregionen und andererseits die serer Meinung nach nicht zielgenau. Stabilisierung der anhaltend wirtschaftsschwachen Städte und ländlichen Regionen. Neue und sichere Arbeitsplätze entstehen vor allem in zukunftsträchtigen Wirtschafts- und Dienstleistungs- Bündnis 90/Die Grünen plädierten bereits in der letz- branchen. Die Hochschulen in den neuen Ländern müs- ten Legislaturperiode für eine effizientere Förderung, die sen noch stärker als bisher auf die Zusammenarbeit mit an den Stärken und Perspektiven der einzelnen Regionen der regionalen Wirtschaft setzen. Sie können zum ansetzt. Von wirtschaftlich erstarkenden Regionen strah- Schließen der Unternehmenslücke im Osten beitragen, len Effekte auf angrenzende strukturschwache Gebiete indem sich wirtschafts- und ingenieurwissenschaftliche aus, die dort Entwicklungspotenziale stärken. Wir wol- Studiengänge noch konsequenter an der Praxis orientie- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10055

Peter Hettlich (A) ren und indem sie junge Menschen gezielt auf ein selbst- Eine gute verkehrliche Anbindung von Regionen ist eine (C) ständiges Unternehmertum vorbereiten. Voraussetzung für die Ansiedlung von Unternehmen, sie ist aber nur ein Standortfaktor unter vielen. Ich möchte an dieser Stelle die deutschen Banken aus- drücklich an ihre Mitverantwortung erinnern und darauf So genannte weiche Standortfaktoren sind mit dafür hinweisen, dass ihre restriktive Kreditvergabe vielen Un- ausschlaggebend, ob investiert wird. Sie werden gerade ternehmensgründern den Start unnötig schwer bzw. un- für die Unternehmen immer bedeutender, die hoch quali- möglich macht. fizierte und motivierte Mitarbeiter benötigen. Investitio- nen in die soziale Infrastruktur, in Bildung und Wissen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schaft, in Kinderbetreuung und Schulen, in Sport- und Jugendeinrichtungen, in kulturelle Angebote und in die Damit werden die positiven Entwicklungen, die wir innerstädtische Lebensqualität sind mit entscheidend für durch die Gründung der Mittelstandsbank im letzten die Ansiedlung neuer Betriebe. Jahr angestoßen haben, konterkariert. Auch die Fragen der Besicherung und der nach Auskunft Betroffener viel Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch ein zu langen Bearbeitungsfristen müssen beantwortet wer- Thema streifen, das in letzter Zeit ebenfalls das öffentli- den. Ich bin der Meinung: Wenn sich hier nicht bald eine che Interesse erregt hat, nämlich die Fehlverwendung Entwicklung zum Besseren zeigt, dann müssen wir auf der Solidarpaktmittel. Mir ist zwar bewusst, dass sich politischer Ebene entsprechend handeln. die Länder in einer schwierigen Situation befinden, die sie zum Teil – ich denke zum Beispiel an die Leistungen Die regionale Vernetzung von Forschung, Hochschu- nach den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen der len und Wirtschaft muss weiter vorangetrieben werden. ehemaligen DDR – nicht zu verantworten haben. Den- Die wettbewerbliche Vergabe von Forschungsmitteln an noch macht es keinen Sinn, einfach die Vorgaben zu Regionen, in denen Wissenschaft und Wirtschaft im ignorieren und diese Mittel wie in Berlin zu 0 Prozent Rahmen innovativer Netzwerke kooperieren, hat sich als oder in Sachsen-Anhalt zu nur 1 Prozent zweckgerichtet ein sehr wirksames Instrument erwiesen. So entwickeln zu verwenden. Es würde dadurch zu einer gesamtdeut- sich Kerne, die eine regionale Dynamik entfalten und in schen Diskussion kommen, die die Solidarität der alten denen zusätzliche Arbeitsplätze im Industrie- und Bundesländer erheblich strapazieren könnte. Dienstleistungsbereich entstehen. Der 1999 initiierte Inno-Regio-Wettbewerb ist eine der wichtigsten Maß- Ich habe es schon bei vielen Gelegenheiten gesagt: nahmen zur Innovationsförderung in den neuen Ländern Bündnis 90/Die Grünen stehen zum Solidarpakt II und und muss daher erhalten, wenn nicht sogar gestärkt wer- auch zur Höhe der vereinbarten Solidarpaktmittel. Wir (B) den. erwarten aber, dass die ostdeutschen Länder und ihre (D) Ministerpräsidenten ihre Hausaufgaben machen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN energische Maßnahmen ergreifen, um künftige Fehlver- und bei der SPD) wendungen zu minimieren oder besser ganz zu vermei- Die Förderung der technologischen Leistungsfähigkeit den. ostdeutscher Unternehmen hat sich in den vergangenen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahren zu einem Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik ent- und bei der SPD) wickelt. Mit diesen Anreizen ist es gelungen, den Größen- nachteil ostdeutscher Unternehmen auszugleichen. In der Aus meiner Sicht und auch aus der Sicht der Praxis Forschungsintensität stehen ostdeutsche Firmen den west- wäre eigentlich Folgendes notwendig: Wir müssen die deutschen Unternehmen kaum nach. Allerdings mangelt Verwendung der Solidarpaktmittel längerfristig planen, es an der Umsetzung der Forschungsergebnisse in markt- das Parlament muss wirksame Kontrollmechanismen er- fähige Produkte. Auch hier möchte ich noch einmal auf halten und wir müssen uns auch darüber unterhalten, ob die zu lösenden Probleme in der Finanzierung derartiger Sanktionen notwendig sind. Hier stehen wir zwar vor Investitionen verweisen. verfassungsrechtlichen Problemen, aber wir sollten das diskutieren; denn es besteht dringender Handlungsbe- In den vergangenen Jahren ist viel Geld in den Aus- darf. bau der technischen Infrastruktur Ostdeutschlands ge- flossen. Der Anschlussgrad für die Abwasserentsorgung In den vergangenen 14 Jahren ist in Ostdeutschland hat das Niveau der alten Bundesländer erreicht und die viel Positives geschaffen worden, sowohl durch den Telekommunikationsstruktur ist auf dem modernsten Fleiß und die Kreativität der Ostdeutschen als auch Stand der Technik. Auch zukünftig wird der Aus- und durch die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger aus Neubau von Verkehrswegen in den neuen Bundeslän- den alten Bundesländern. Diese Solidarität ist für uns dern überproportional finanziert. Studien belegen aller- aber auch die Verpflichtung, Rechenschaft über unser dings auch, dass der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Tun abzulegen und uns auch künftig einem kritischen allein nicht zu dem erhofften Entstehen neuer Arbeits- Dialog zu stellen. plätze führt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Renate Blank [CDU/CSU]: Schon allein der Bau von Verkehrswegen schafft Arbeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN plätze!) und bei der SPD) 10056 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – Was heißt denn hier: Stimmt nicht? Uns ist untersagt (C) Das Wort hat nun der Ministerpräsident des Freistaa- worden, weitere Zusagen zu machen. tes Sachsen, Professor Milbradt. ( [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU) Unverantwortlich!) Wir haben das entsprechende Schreiben vom Bundes- Dr. Georg Milbradt, Ministerpräsident (Sachsen): wirtschaftsminister im Haus. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Die GA-Förderung ist bisher eindeutig das erfolg- Herren! Viel Gutes ist gesagt worden. Wenn all das um- reichste Instrument beim Wiederaufbau. Auch in dem gesetzt würde, wäre ein Teil meiner heutigen Interven- von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Fort- tion schon erledigt. schrittsbericht wird eine Fortführung der GA-Förderung auf hohem Niveau gefordert. In Sachsen wurden da- (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, wenn!) durch seit 1990 über 18 000 Investitionen von Unterneh- Aber die bisherige Erfahrung ist, dass zwischen Reden men gefördert. Das heißt, seit 1990 wurden allein in und Handeln ein großer Unterschied besteht. Sachsen mit einem GA-Volumen von 7,7 Milliarden Euro Investitionen von über 40 Milliarden Euro angesto- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ßen. Dadurch wurden 224 000 neue Arbeitsplätze ge- der FDP) schaffen und noch einmal so viele gesichert. Herr Kollege Stolpe, ich hoffe nur, dass das, was Sie ge- Statt auf diesen Erfolgen weiter aufzubauen, statt die- sagt haben, mit den Herren Clement und Eichel abge- ses Pflänzchen zu pflegen, riskiert die Bundesregierung, stimmt ist; denn sie haben etwas anderes verkündet. dass die Entwicklung abbricht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP) Herr Kollege Stolpe, es kann doch nicht im Interesse der Bundesregierung sein, dass dies eintritt. Auch Sie wollen Am Montag vergangener Woche war der Bundes- wie wir alle, dass der Aufbau der Wirtschaft in Ost- kanzler zum Richtfest der neuen Chipfabrik von AMD in deutschland weitergeht. Dresden. Mit einer Investitionssumme von 2,4 Milliar- den Euro errichtet das amerikanische Unternehmen in Natürlich – jetzt komme ich zu den öffentlichen Äu- Dresden bereits sein zweites Halbleiterwerk. Insgesamt ßerungen – ist die Auszahlung der Barmittel in diesem arbeiten in der Region Dresden 11 000 Menschen in der und im nächsten Jahr gesichert. Das hat uns der Bundes- Mikroelektronikindustrie. Damit ist Dresden innerhalb kanzler in Dresden bei AMD erklärt. Dazu sind Sie aber (B) (D) weniger Jahre zu den Top Fünf der internationalen Mi- auch verpflichtet, Herr Müntefering. krochipindustrie aufgestiegen, (Franz Müntefering [SPD]: Was?) (Zuruf von der SPD: Mit viel Bundesgeld!) Denn dabei geht es nur um die Abfinanzierung für die in der Vergangenheit eingegangenen Verpflichtungen. Es Nummer eins in Europa. Das ist ein Beispiel, wie man gibt schon seit Jahren keine freien Barmittel mehr. beim Aufbau Ost Erfolge erzielen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (Ludwig Stiegler [SPD]: Mit der ruf von der CDU/CSU: So ist es! – Das hat er Bundesregierung!) nicht mitgekriegt!) – Vorsichtig! Ich bin für die Unterstützung der Bundes- Diese Mittel, Herr Müntefering, um beim Thema zu blei- regierung in diesen und vielen anderen Fällen ausdrück- ben, sind bereits gebunden. Für Unternehmen, die heute lich dankbar. neu investieren, stehen diese Barmittel gar nicht mehr zur Verfügung. Zwischen uns, die wir die Haushaltsthe- (Beifall bei Abgeordneten der matik kennen, ist das sicher nicht strittig. Oder muss die CDU/CSU und der SPD) Einhaltung von Recht und Gesetz schon als besondere Es gibt auch viele andere Erfolgsgeschichten beim Leistung der Bundesregierung angesehen werden? Aufbau Ost, zum Beispiel die Autoindustrie mit VW, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und BMW und Porsche in Sachsen, die optische Industrie in der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: So was von Jena, die chemische Industrie in Sachsen-Anhalt und nassforsch!) Brandenburg oder auch die Entwicklung des Tourismus in vielen Regionen in Mecklenburg-Vorpommern. All Um den Investoren für zukünftige Ansiedlungen – da- rüber reden wir – Fördermittel zusagen zu können, brau- diese Erfolge wären ohne ein wichtiges Instrument der chen wir Verpflichtungsermächtigungen, und zwar die Wirtschaftsförderung nicht möglich gewesen, die so ge- Verpflichtungsermächtigungen, die dieser Bundestag in nannte Gemeinschaftsaufgabe. den Bundeshaushalt 2004 geschrieben hat. (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Ausgerechnet hier will der Bundeswirtschaftsminister Genau diese sperren Sie. den Rotstift ansetzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zuruf von der SPD: Stimmt nicht!) neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10057

Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt (Sachsen) (A) Es geht nicht um den Bundeshaushalt des Jahres 2005. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) Es ist eine andere Diskussion, welche Verpflichtungser- mächtigungen dort hineinkommen. Es geht um die Ver- Dann kann es weitergehen. Ich kann doch nicht sagen: pflichtungsermächtigung dieses Jahres für die Jahre Der Bund zahlt im Augenblick nur ein Drittel. Der Bund 2005, 2006 und 2007. Darüber reden wir. Diese Mittel weiß nicht, was er will. Da müssen wir noch einen Mo- sind zumindest bis zur Stunde im Schnitt zu 45 Prozent nat warten, bis vielleicht wieder eine Haushaltsklausur gesperrt worden. Damit nehmen Sie uns den entschei- stattgefunden hat. – Das ist Gift für die Investoren. Diese denden Handlungsspielraum, und das zu einem Zeit- Diskussion sollte man erst gar nicht anfangen. punkt, in dem Investitionen in Sachsen und, wie ich ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mute, auch in anderen Ländern vor der Tür stehen, wir Ludwig Stiegler [SPD]: Warum führen Sie sie aber auf der anderen Seite in neue Konkurrenz zu Ost- dann?) europa treten. Sachsen – das will ich deutlich sagen – ist bereit, alle (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) zur Verfügung stehenden GA-Mittel zu finanzieren. Wir haben Investoren und wir wollen sie nicht nach Ost- Sie setzen für Investoren das völlig falsche Signal. europa ziehen lassen. Sollte das eine oder andere Bun- Als der Bundeskanzler in Dresden war, hat mich der desland im Osten keine Investoren haben oder nicht in Vorstandsvorsitzende von AMD gefragt: Wird denn auch der Lage sein, die GA-Mittel abzunehmen, so bin ich be- unsere Investition gefördert? Bekommen wir noch unser reit, diese abzunehmen. Geld? – Das sind doch die Fragen, die an uns gerichtet werden. Für mich stellt sich die Frage: Wollen Sie, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weitere Investitionen und Arbeitsplätze kommen, oder neten der FDP) wollen Sie das nicht? Nun zu den Koch/Steinbrück-Vorschlägen, die von (Christoph Matschie [SPD]: Was haben Sie der Bundesregierung als Begründung für eine eventuelle denn geantwortet?) Streichung herangezogen werden. Das ist Unsinn. Rich- tig ist, dass sich die ostdeutschen Länder der gesamt- – Ich habe gesagt: Ja, deutschen Solidarität nicht verschlossen haben und be- (Christoph Matschie [SPD]: Dann ist es doch reit waren, auch in ihrem Bereich Kürzungen von gut!) 4 Prozent pro Jahr zu akzeptieren. Aber 4 Prozent sind nicht 45 Prozent. aber diese Mittel sind bisher vom Bund nicht freigege- ben worden. Ich habe das auf meine eigene Kappe ge- (Zuruf von der SPD: Eben!) (B) nommen, Herr Matschie, Der Bundesfinanzminister hat dem Bundeswirtschafts- (D) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!) minister eine Kürzungssumme aufgegeben, die auch die Steinkohle umfasst. Weil er da nicht kürzen kann, kürzt weil ich mich bei einem solchen internationalen Publi- er im einzigen flexiblen Bereich und das ist die GA-För- kum nicht für die Bundesregierung schämen wollte. derung. Das ist doch die Wahrheit. (Beifall bei der CDU/CSU) (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist nicht die Wahrheit!) Das ist die Situation. – Natürlich! Sie können im Bereich der Steinkohle im (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben Vertrauen Augenblick die Subventionen gar nicht kürzen, Sie kön- in die Bundesregierung!) nen sie nur verschieben, weil die Rechtsbindung bis weit – Nein, ich habe zunächst einmal Vertrauen in die eigene in das nächste Jahrzehnt reicht. Kraft. ( [SPD]: Weil die Situa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tion der Menschen da genauso schlimm ist! – Ludwig Stiegler [SPD]: Eigene Kraft durch Widerspruch bei der CDU/CSU) das Geld des Bundes!) – Herr Benneter, ich will nicht die Mittel der Ruhrkohle- Das Hauptproblem in Ostdeutschland ist der Mangel förderung, aber es wäre sicherlich im Sinne des Ruhrge- an industriellen Arbeitsplätzen. Deshalb ist mir die bietes besser, diese Gelder würden für die Ansiedlung Entscheidung vollkommen unverständlich. Sie wider- zukunftsgerichteter Industrie verwendet statt für die Ab- spricht allem, was bisher über die Parteigrenzen hinweg wicklung der Vergangenheit. für den Aufbau Ost galt. Deswegen noch einmal: Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) brauchen von Ihnen, Herr Stolpe, und von der restlichen Bundesregierung das Signal, dass alle Verpflichtungser- Ich mache mir Sorgen um Ostdeutschland. Ich mache mächtigungen ab sofort freigegeben werden mir auch Sorgen um ganz Deutschland, denn ich weiß, wenn der Osten nicht vorankommt, dann leidet ganz (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) Deutschland. Ich kann – das will ich deutlich sagen – bei der Bundesregierung und bei dem, was hier gesagt und dass Sie auch im Bundeshaushalt des Jahres 2005 wurde, keine Strategie für den Aufbau Ost erkennen, ähnliche Verpflichtungsermächtigungen für die Jahre 2006 bis 2008 ausbringen. (Cornelia Pieper [FDP]: Seit sechs Jahren!) 10058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt (Sachsen) (A) allenfalls das alte Lied: Fahren nach Sicht. Es geht nach wicklung im privaten Sektor kommen wir seit 1997 nicht (C) dem Motto: Kommt Zeit, kommt Rat. mehr voran. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Dr. Uwe Küster [SPD]: Seit 1996!) Christoph Matschie [SPD]: Das ist immer Wir haben erst 60 Prozent der Wirtschaftskraft des noch besser als Blindflug!) Westens erreicht und sind seit Beginn der rot-grünen – Lassen Sie mich ausreden, Herr Matschie; Sie kom- Bundesregierung auf diesem Stand stehengeblieben. men doch auch gleich zu Wort – Der für die Bundesre- Darüber haben wir zu diskutieren. gierung wenig erfreuliche Bericht zum Stand des Auf- Unser gemeinsames gesamtdeutsches Ziel muss doch baus Ost vom vergangenen Herbst – er wurde schon sein, die hohen Transferzahlungen von West nach Ost zitiert – wurde von der Bundesregierung nur mit einem zu reduzieren. Wir sind bereit, die Förderpraxis der ver- Achselzucken zur Kenntnis genommen. Herr Kollege gangenen Jahre kritisch zu überprüfen. Wir müssen eine Stolpe, wo bleibt die politische Antwort auf die nieder- Umsteuerung bei der Förderung vornehmen, damit schmetternde Analyse der Institute, dass im Zweifel nur starke industrielle Kerne und nachhaltig sichere Arbeits- eine passive Sanierung übrig bleibt? Wissen Sie, was plätze entstehen. Ich bin auch bereit, mich einer Diskus- eine passive Sanierung ist? Sie können eine Region da- sion über die Frage der Fehlverwendung von Mitteln zu durch sanieren, dass Sie den Zähler vergrößern und dass stellen. Aber Sie wissen aus den Berichten der Bundes- dadurch das Pro-Kopf-Einkommen steigt. Sie können regierung, dass zumindest dem Freistaat Sachsen in die- dies aber auch dadurch erreichen, dass der Nenner sinkt. ser Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden kann. Das nennt sich passive Sanierung oder schlicht Abwan- derung. Ich freue mich, dass Bundesminister Stolpe mittler- weile auf unser sächsisches Modell der Förderung Ist das die Antwort der Bundesregierung hinsichtlich industrieller Wachstumspole – die so genannten Clus- des Aufbaus Ost? Das kann doch nicht richtig sein. ter – eingeschwenkt ist. Ich wiederhole: Es geht mir Klaus von Dohnanyi, ich selbst und andere haben kon- nicht um mehr Geld; wir möchten vielmehr das vorhan- krete Vorschläge vorgelegt, die alle ein und dieselbe For- dene Geld effektiver einsetzen. Angesicht sinkender derung in unterschiedlichen Nuancen umfassen: So wie Mittel brauchen wir eine abgestimmte industriepoliti- bisher kann man nicht weiter vorgehen. sche Förderstrategie. (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) Die Unternehmen, die den Kern der Wachstumspole Wir brauchen für den zweiten Teil des Aufbaus Ost ei- bilden, funktionieren als starke Lokomotiven. Diese Lo- nen neuen Anlauf und neue Regeln, aber nicht mehr komotiven ziehen eine Vielzahl von kleinen und mittel- (B) Geld. ständischen Waggons nach sich, und zwar nicht nur im (D) unmittelbaren räumlichen Umfeld, sondern weit in das (Cornelia Pieper [FDP]: Weniger Regeln! – Land ausgreifend, wie man es in Sachsen insbesondere Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE bei der Automobilzulieferindustrie sieht. Deshalb brau- GRÜNEN]: Die ganze Zeit haben Sie über chen wir auch ein leistungsfähiges Verkehrsnetz in den Geld gesprochen!) schwachen Regionen, um diese an die starken Regionen – Ich habe über das Geld geredet, das uns zugesagt wor- anzubinden. den ist. Eines werden Sie nicht hinbekommen, Herr Kol- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!) lege, nämlich dass Sie bezogen auf den Aufbau Ost mit weniger Geld, das für Investitionen zur Verfügung ge- Mit dem Aufbau ist es wie bei einem Rennwagen. Sie stellt wird, eine größere Wirkung erzielen können. können einen Rennwagen doch nicht dadurch schneller machen, dass Sie die Motorleistung drosseln. Natürlich (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE muss der Spritverbrauch sinken, aber darunter darf die GRÜNEN]: Was ist das für eine Investitions- Motorleistung nicht leiden. Gefragt sind vielmehr Fein- politik, die nur Fördermittel braucht, Herr Mi- tuning, eine bessere und genauere Einspritzung, eine nisterpräsident?) bessere Dynamik und möglicherweise auch ein besserer Fahrer. Ich werde zu einigen Punkten noch etwas ausführen. Auch die ostdeutschen Länder haben ihren Beitrag zur (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der Kürzung von Subventionen in einem anderen Bereich FDP – Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/ geleistet. Die Investitionszulagen sind durch Beschluss- DIE GRÜNEN]: Gilt das für Sachsen?) fassung des Bundestags im Frühjahr um drei Viertel ge- Wichtig ist, dass der Bund endlich den Korb 2 des kürzt worden. Ich halte das für vertretbar. Auch das ist Solidarpakts II gesetzlich fixiert; denn die GA-Mittel ein Beitrag zur inneren Solidarität. sind Teil des Solidarpakts. Der Aufbau Ost ist überall dort gelungen, wo der (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: So ist es!) Staat direkt einwirken konnte und wo die ostdeutschen Länder und Kommunen wie auch der Bund selbst Ver- Hätten wir diese gesetzlich fixiert, wäre die von Herrn antwortung getragen haben. Das gilt zum Beispiel für Clement angestoßene Diskussion über die Kürzung der das Gesundheitswesen, die Altenpflege, Schulen, Um- GA-Mittel erst gar nicht möglich gewesen. Deswegen welt und Altlasten. Aber bei der zentralen Aufgabe der fordere ich Sie alle auf, möglichst schnell Klarheit beim Entwicklung einer sich selbst tragenden Wirtschaftsent- Korb 2 des Solidarpaktes II bis 2019 zu schaffen. Dann Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10059

Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt (Sachsen) (A) können wir uns solche Diskussionen wie die heutige er- (Beifall bei der CDU/CSU – Franz (C) sparen. Müntefering [SPD]: Sie kneifen doch! An bei- den Stellen wollen Sie Recht haben! Aber Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) müssen sich einmal entscheiden, was Sie wol- Ein Punkt ist mir noch besonders wichtig. Wir könn- len!) ten beim Aufbau Ost viel mehr erreichen, wenn wir Geben Sie uns die Freiheit, die Wachstumsregionen in mehr Freiheiten hätten. 1990 haben wir in Ostdeutsch- anderen EU-Ländern haben, mit denen wir konkurrieren. land ein System übernommen, durch das im Westen Jahr Wir brauchen in Deutschland mehr Mut, mehr Kreativi- für Jahr viele Tausende industrielle Arbeitsplätze ver- tät und eine größere Bereitschaft zum Experimentieren. schwinden. Mit diesem System West können Sie doch Die Menschen in Ostdeutschland haben in den vergange- die fehlenden Arbeitsplätze im Osten nicht schaffen. Mit nen Jahren Großartiges geleistet. „Weiter so wie bisher“, dem Inhalt des vorliegenden Koali- tionsantrages, werden wir weiter wie bisher hinterher- (Franz Müntefering [SPD]: Im Bundesrat kneifen hinken. Meine Damen und Herren Abgeordneten der und hier die Backen dick aufblasen!) Koalitionsfraktionen aus dem Osten, wollen Sie das? Ist das der Auftrag Ihrer Wähler? Wie wollen Sie denn die Sie haben bewiesen, dass sie Mut, Kreativität und Be- extrem hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland be- reitschaft zum Wandel haben. Jetzt kommt es darauf an, kämpfen? Was sagen Sie denjenigen, die abwandern dass der Staat ihnen die Türen öffnet und nicht ständig wollen? Sicherlich nicht das, was in Ihrem Antrag steht, Steine in den Weg legt. den Sie heute beschließen. Sie wissen doch ganz genau, (Zuruf von der SPD: Im Bundesrat!) dass dieser Antrag weiße Salbe ist und dass sich mit ihm die Kernprobleme des Ostens nicht lösen lassen. Danke sehr. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- fall bei der FDP) Deswegen appelliere ich an Sie: Diskutieren Sie doch mit uns, den Ländern, und meinetwegen auch mit den Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Oppositionsfraktionen darüber, wie wir mehr Freiheit Ich erteile das Wort dem Kollegen Christoph geben können und wie wir aus den Mitteln mehr machen Matschie, SPD-Fraktion. können. Schauen wir doch einmal über den Tellerrand unserer Nation hinaus und sehen uns an, welche anderen (Beifall bei der SPD) europäischen Länder Erfolge erzielt haben. Irland zum (B) Beispiel hat sich in 30 Jahren durch eine gezielte Wirt- Christoph Matschie (SPD): (D) schaftspolitik, durch Zukunftsinvestitionen in Bildung Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich und Unternehmen sowie durch flexible Strukturen von möchte auf die Katastrophenstimmung, die Sie, Frau einem der ärmsten zu einem der reicheren Länder der Pieper und Herr Milbradt, hier verbreitet haben, EU entwickelt. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP (Franz Müntefering [SPD]: Jetzt lenken Sie doch – Zuruf von der CDU/CSU: Wo sind Sie denn nicht ab! Darum geht es doch gar nicht!) gewesen?) – Doch, Herr Müntefering, genau darum geht es. Wir mit Sätzen antworten, die der Vorstandsvorsitzende der sollten uns an denjenigen Ländern in Europa orientieren, Jenoptik AG dem „Stern“ gesagt hat: die Wachstum geschaffen haben, Ostdeutschland ist besser als sein Ruf. Ich glaube, (Franz Müntefering [SPD]: Ja, ja, ist ja gut!) wir Deutsche neigen dazu, den Standort schlecht zu und nicht an denjenigen Ländern, die seit Jahren so gut reden. Statt schnelle Urteile über den Aufbau Ost wie kein Wachstum mehr auf die Beine gebracht haben. abzugeben, rate ich, abzuwarten, bis sich die gute Infrastruktur voll auswirkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Franz Müntefering [SPD]: Aber im Bundesrat Recht hat der Mann! Das sage ich Ihnen, Frau Pieper. kneifen Sie!) (Beifall bei der SPD) Geben Sie uns, den neuen Bundesländern, doch mehr Herr Milbradt, Sie haben hier über die Gemein- Freiheit! Was würden Sie denn verlieren? – Gar nichts! schaftsaufgabe gesprochen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zuruf von der CDU/CSU: Zutreffend!) neten der FDP – Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Frei- Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass dies unser wich- heit, Herr Milbradt?) tigstes Wirtschaftsförderinstrument ist. Das hat auch Herr Stolpe hier deutlich gemacht. Ich bin dezidiert der Es gibt doch nur zwei Möglichkeiten, wenn Sie uns Auffassung: Wir brauchen dieses Instrument auch in den mehr Freiheit geben: Wir haben entweder Erfolg oder nächsten Jahren beim Aufbau Ost, und zwar in dem bis- Misserfolg. Im ersten Fall werden uns andere nacheifern her zugesagten Umfang. und im letzten Fall werden wir die politischen Folgen selbst zu tragen haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 10060 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Christoph Matschie (A) Aber die von Ihnen hier verbreitete Katastrophenstim- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) mung verschreckt Investoren und trägt nicht zum Auf- Zu einer Zwischenfrage bekommt die Kollegin Pieper bau Ost bei, Herr Ministerpräsident. das Wort. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ Cornelia Pieper (FDP): CSU und der FDP – Zurufe von der CDU/ Herr Kollege Matschie, Sie haben der Opposition vor- CSU: So ein Quatsch! – Unglaublich!) geworfen, den Standort neue Bundesländer schlechtzure- den, obwohl wir hier ganz konkrete Vorschläge gemacht Herr Milbradt, zum Mut, Forderungen zu stellen, ge- haben, wie wir den Aufbau Ost mit einer Gesamtstrate- hört der Mut, über die Finanzierung der Umsetzung die- gie – Modellregionen etc. – voranbringen können. Wie ser Forderung zu reden. Auch darüber müssen wir hier würden Sie die Äußerungen Ihrer Ministerpräsidenten diskutieren, Herr Milbradt. Steinbrück, Simonis usw. bezeichnen, die den Aufbau Ost ständig schlechtreden und permanent fordern, die (Beifall bei der SPD) Förderprogramme zu kürzen und aufzuhören, die För- dermittel nach Himmelsrichtungen zu verteilen – was Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: noch nie stattgefunden hat? Herr Kollege Matschie, darf Ihnen die Kollegin (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Pieper eine Zwischenfrage stellen? der CDU/CSU)

Christoph Matschie (SPD): Christoph Matschie (SPD): Einen kleinen Moment. Ich bin mit Herrn Milbradt Sehr geehrte Frau Kollegin, ich will hier noch einmal gleich fertig. Dann kommt Frau Pieper dran. in aller Klarheit deutlich machen: Meine Position ist, dass diese Fördermöglichkeiten nicht beschnitten wer- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der den dürfen. SPD – Zuruf von der SPD: Weitermachen!) (Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) Herr Milbradt, jeder in diesem Haus und auch bei Ih- nen weiß: Die Lage der öffentlichen Kassen ist äußerst Diese Position habe ich auch gegenüber SPD-Minister- angespannt. Das gilt für den Bund, für die Länder und präsidenten deutlich gemacht. Sie wissen so gut wie ich, für die Gemeinden. dass es in den Bundesländern unterschiedliche Interes- sen gibt. Die damit verbundenen Konflikte werden aus- (B) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Auch in Sach- getragen. Meine Position ist hier deutlich geworden. (D) sen!) (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, Ihre eigene!) Wenn man an einer bestimmten Stelle „Hier darf nicht Zu dieser Position stehe ich auch. gekürzt werden“ sagt – diese Forderung unterstütze ich; bei Bildung und Forschung darf ebenfalls nicht gekürzt Im Übrigen, Frau Pieper, sollten wir wirklich wahr- werden –, nehmen, dass der Aufbau in Ostdeutschland zwei Ge- sichter hat. Man muss sie beide sehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Da wird doch ge- kürzt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) dann muss man sagen, woher das Geld genommen wer- den soll. Wir haben Vorschläge zum Subventionsabbau Man muss auf der einen Seite wahrnehmen: Es gibt gemacht. heute in Ostdeutschland die modernsten Fabriken und die neuesten Forschungslabore. Es gibt Städte, die wie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der zum Leben erwacht sind. Wir haben beispielsweise vorgeschlagen, die Eigen- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das haben wir ge- heimzulage abzuschaffen und das eingesparte Geld an sagt! Das sind unsere Worte!) anderen Stellen sinnvoller zu investieren. Das ist eine Aufbauleistung von Millionen Menschen in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ostdeutschland, die so gewaltig ist, dass man davor DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Da wirklich Respekt haben muss. haben sie Parteipolitik gemacht! – Franz (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Müntefering [SPD]: Da haben sie gekniffen!) DIE GRÜNEN – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Als wir das taten, da saßen Sie auf der Bank der Blockie- Das sind unsere Worte gewesen!) rer. Sie haben zu diesem Subventionsabbau Nein gesagt. Man darf nicht immer nur schwarz malen, wie Sie, Herr Angesichts dessen sollten Sie sich nicht hierhin stellen, Vaatz, es hier gemacht haben. Forderungen erheben und ungedeckte Schecks ausstel- len. Auch das gehört zur Wahrheit, Herr Milbradt. Natürlich gibt es auch eine andere Seite. Wer auf- merksam durch Ostdeutschland fährt, der sieht diese an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dere Seite. Neben dem gelungenen Aufbau gibt es die DIE GRÜNEN) bedrückende, hohe Arbeitslosigkeit. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10061

Christoph Matschie (A) (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt fangen Sie Ich bin Manfred Stolpe für seine Initiative dankbar, (C) nicht mit dem Schwarzmalen an!) der das Gespräch mit den Bundesländern aufgenommen hat, um zu klären, wie man die Möglichkeiten, die Bund In manchen Regionen liegt sie bei über 20 Prozent. und Länder haben, besser miteinander koordiniert, wie (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das sind unsere man Kräfte bündelt und auf solche Erfolg versprechen- Worte, Herr Matschie!) den Entwicklungen konzentriert. In diesen Regionen herrscht Angst, weil die jungen Natürlich kommt es vor allem darauf an, Innovati- Menschen weggehen und weil die Alten allein zurück- onskraft zu stärken. Das Bundesministerium für Bil- bleiben. Natürlich gibt es das alles. Es gibt Regionen, in dung und Forschung hat in den letzten Jahren die Mittel denen die Hoffnung langsam stirbt. für die Innovationsförderung in den neuen Bundeslän- dern quasi verdoppelt – daran hat ei- (Zuruf von der CDU/CSU: Was sagen Sie de- nen ganz großen Anteil –; hier ist eine gigantische Leis- nen, Herr Matschie?) tung vollbracht worden. Aber, Herr Kollege Vaatz, wir müssen doch die Frage (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stellen: Wie kommen wir an dieser Stelle weiter? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja, natürlich!) Jeder, der durchs Land fährt, erkennt: Das Geld ist gut angelegt. Das kann man überall sehen. Vor wenigen Ta- Wir dürfen nicht nur das Problem beschreiben. Deshalb gen haben wir in Ilmenau ein neues Fraunhofer-Institut haben wir auch heute konkrete Vorschläge dazu auf den auf den Weg gebracht. Ich bin gestern in Hermsdorf ge- Tisch gelegt. wesen und habe mir angeschaut, welche Früchte die Wachstumskerneförderung dort getragen hat. Man kann ( [CDU/CSU]: Welche denn?) das mit Händen greifen. Es wirkt. Das ist auch die Ostdeutschland war und ist auf Unterstützung ange- Stärke, die wir in den nächsten Jahren gewinnen müssen. wiesen. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Wir müssen Innovations- und Wachstumskräfte stärken. Meine Erfahrung in den letzten Jahren war – ich teile sie Was sich in Ihrem Antrag wiederfindet – Löhne wei- mit vielen Kolleginnen und Kollegen, auch aus den alten ter runter, Niedriglohnsektor ausweiten –, das ist nicht Bundesländern –, dass eine großartige solidarische Leis- der Weg in Ostdeutschland. tung vollbracht worden ist, und zwar von den Ostdeut- schen, die den Mut gehabt haben, anzupacken, und von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Westdeutschen, die mitgeholfen haben, dass diese DIE GRÜNEN) (B) (D) Solidarität finanziert werden kann. Schauen Sie sich doch mal um! Schon heute gibt es in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vielen Bereichen in Ostdeutschland Löhne, von denen DIE GRÜNEN – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: ich sage, dass sie unterhalb der Schamgrenze sind. In Er- Die durch Taschenspielertricks der Regierung furt beispielsweise gehen Menschen mit einem Brutto- jetzt entwertet wird! Das ist die Realität!) stundenlohn von 3,30 Euro nach Hause. Von diesem Lohn kann man nicht leben; man muss zusätzliche staat- Natürlich ist auch klar: Die Ungeduld wächst. Sie liche Hilfe beantragen. wächst im Osten, weil es nicht schnell genug vorangeht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie wächst auch im Westen, weil da gefragt wird: Was ist in den letzten Jahren passiert? Warum ist es nicht so Deshalb sage ich Ihnen als Abgeordneter aus Ost- schnell vorangegangen, wie wir alle uns das erhofft ha- deutschland: Wir brauchen nicht über Niedriglöhne und ben? Deshalb müssen wir heute auch darüber diskutie- die Ausweitung des Niedriglohnsektors zu reden. Wir ren: Wie setzen wir die Mittel, die wir zur Verfügung ha- brauchen eine Debatte über einen gesetzlichen Mindest- ben, möglichst effizient ein? Was machen wir aus den lohn. Wir brauchen Mindeststandards in Ostdeutsch- Möglichkeiten, die wir hier haben? land, damit Menschen mit ihrer eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen können. Die Debatte Natürlich gehört dazu, auch den Mut zu haben, zu sa- über Mindestlöhne ist die Debatte, die wir heute führen gen: Wir müssen Mittel stärker auf Wachstumskerne müssen. und auf möglichst Erfolg versprechende Entwicklungen konzentrieren. Sie haben einige davon beschrieben, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des übrigens in erheblichem Umfang mit Bundesgeld geför- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Cornelia dert worden sind. Diese Entwicklung soll auch weiterge- Pieper [FDP]: So ein Quatsch!) hen. Wenn junge Leute mobil sind – sie sind es nun ein- mal –, suchen sie ihre besten Chancen. Wir aber wollen – Nein, das ist kein Quatsch, Frau Pieper. doch, dass sie nicht aus Ostdeutschland nach München, (Cornelia Pieper [FDP]: Doch!) nach Stuttgart oder nach Düsseldorf gehen, sondern dass sie in Dresden, in Leipzig oder in Jena bleiben, weil sie Neun Länder in der Europäischen Union haben solche dort die besten Möglichkeiten für sich sehen. Also müs- Mindestlohnregelungen eingeführt, weil sie erkannt ha- sen wir Wachstumskerne fördern. ben: Wir brauchen eine untere Grenze für die Lohnent- wicklung, damit Menschen am Ende auch von ihrer (Beifall bei der SPD) Hände Arbeit leben können und nicht auf zusätzliche 10062 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Christoph Matschie (A) staatliche Hilfe angewiesen sind. Für mich ist es auch der, dass die CDU/CSU das in ihrem Antrag unerwähnt (C) eine Frage der Würde des Menschen, lässt; denn wenn sie es erwähnen würde, müsste sie auch ihre Verantwortung für gewaltige Fehlsteuerungen und (Zuruf von der SPD: Richtig!) Fehlinvestitionen in den 90er-Jahren eingestehen. ob man einen angemessenen Lohn für seiner Hände Ar- Die CDU/CSU fordert, fruchtlosen Debatten über Son- beit bekommt. derwirtschaftszonen entgegenzutreten. Dem kann ich nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zustimmen. Allerdings frage ich mich, wo die Konsequenz des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bleibt. Wann hören Sie endlich auf, Sonderregelungen für den Osten zu fordern, zum Beispiel im Planungs- und Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Die Genehmigungsrecht? Warum unterliegen Sie noch im- Entwicklung in Ostdeutschland ist trotz aller Probleme – das mer dem Irrglauben, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist meine feste Überzeugung – eine Erfolgsgeschichte, dass durch die Ausschaltung von Bürgerbeteiligung und an der Millionen von Menschen mitgeschrieben haben. Verbandsklagerechten Projekte schneller realisiert wer- Lassen Sie uns deshalb im Deutschen Bundestag ge- den können? meinsam dafür sorgen, dass diese Erfolgsgeschichte in den nächsten Jahren fortgeschrieben werden kann und (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Weil wir es dass wir auf diesem Weg möglichst alle mitnehmen. tagtäglich erleben!) (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem Hier soll Demokratieabbau als Entbürokratisierung ver- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kauft werden. Jawohl, so sehe ich das. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Cornelia Behm, Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf der CDU/CSU- Bündnis 90/Die Grünen. geführten Bundesländer zur Streichung des Verbandskla- gerechtes für Naturschutzverbände ab. Aus denselben Gründen wird es mit uns auch keine Verlängerung der Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleuni- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und gungsgesetzes geben. Kollegen! Dass wir zum Thema „Zukunft Ostdeutsch- lands“ eine Kernzeitdebatte am Donnerstagvormittag Meine Damen und Herren, die CDU/CSU fordert, den führen, erfüllt mich durchaus mit Befriedigung, Kündigungsschutz in Ostdeutschland auszusetzen. Ich sehe nicht, dass es Ostdeutschland gut bekommen (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Das haben würde, wenn beim Arbeitsrecht niedrigere Standards als (B) Sie den Oppositionsparteien zu verdanken!) (D) in Westdeutschland eingeführt würden. Ob die daraus zeigt es doch, dass dieses Thema wichtig ist. Ostdeutsch- abgeleiteten vagen Arbeitsplatzerwartungen Realität land hat noch immer in besonderer Weise an den Folgen werden, ist doch sehr zweifelhaft. Welche Zugewinne an der jüngsten Geschichte zu tragen. Es ist gut, dass das Arbeitsplätzen sind uns nicht schon von den Wirtschafts- Parlament das ganz ernst nimmt. forschungsinstituten durch Sozialabbau und Deregulie- rung des Arbeitsrechtes prognostiziert worden! Von die- Die CDU/CSU bildet in ihrem Antrag „Ostdeutsch- sen Arbeitsplätzen haben wir bisher kaum welche land eine Zukunft geben“ ein weich gezeichnetes Bild gesehen. Real aber ist die Gefahr, dass mit zunehmen- der bisherigen Erfolge des Aufbaus Ost ab. dem Sozialabbau die Motivation und damit die Produkti- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: vität und Qualität der Arbeit sinken. Das wäre kein An- Weich gezeichnet?) reiz, in den Standort Ost zu investieren. – Ja. – Ich bin weit davon entfernt, das Erreichte kleinzu- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) reden und dem Klischee des ewig unzufriedenen Ostlers Liebe Kolleginnen und Kollegen, die ostdeutsche zu entsprechen, doch die Bilanz, die dieser Antrag zieht, Wirtschaft stärken heißt die regionale Wirtschaft stär- ist geschönt: kein Wort über die Deindustrialisierung, die ken. Ostdeutschland ist keineswegs ein homogenes Ge- wir im Osten erlebt haben, kein Wort über den Woh- bilde, sondern weist eine Vielfalt von Regionen mit je- nungsleerstand und den Verfall von Städten aufgrund weils typischer Ausprägung aus. Das Typische liegt drastisch sinkender Bevölkerungszahl, kein Wort über nicht nur in der Wirtschaft, Infrastruktur, Kultur und Na- vor sich hin rottende Industrie- und Gewerbebrachen tur begründet, sondern auch in der Geschichte und Men- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das stand in talität der Bevölkerung. Daran müssen sich regionale unserem letzten Papier!) Entwicklungskonzepte orientieren, die die jeweiligen Wirtschaftspotenziale erschließen sollen. und über fehlgeplante überdimensionierte Infrastruktur, kein Wort über gigantische Fehlinvestitionen von För- Auch die Lage an der Grenze zu den neu zur EU bei- dermitteln getretenen Ländern Polen und Tschechien ist ein Kapi- tal, mit dem ostdeutsche Regionen wuchern können. Ein (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Schwarzmalerei!) tschechischer Kollege verglich unlängst die Euroregio- und darüber, dass man vor 1990 Arbeitslosigkeit nur nen mit Ökosystemen: je größer die Artenvielfalt, desto vom Erzählen kannte. Neben den vielen Erfolgen gehört stabiler das System. In den Euroregionen hat die Zukunft auch das zur Realität Ostdeutschlands. Es ist kein Wun- am 1. Mai dieses Jahres begonnen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10063

Cornelia Behm (A) Angesichts der Debatte über Wachstumskerne ist es Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): (C) mir besonders wichtig, dass der ländliche Raum nicht Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und abgehängt wird. Auch hier können Wachstumskerne Herren! Herr Matschie, Sie haben Ihren Vortrag vorhin identifiziert werden; denn ländlicher Raum ist mehr als in einer sehr aufgeregten – mir von Ihnen unbekann- nur Landwirtschaft. Im ländlichen Raum Industrien auf- ten –, gekünstelten Art dargeboten und gefragt, wie wir zubauen, für die es dort weder die Rohstoffbasis noch in den neuen Bundesländern weiterkommen können. Die die Zulieferer noch die Absatzmärkte gibt, ist allerdings Antwort ist leicht zu finden: Sie können sie in unserem wenig erfolgversprechend. Industrie und Gewerbe müs- Antrag oder in den Protokollen der heutigen Debatte le- sen vor allem an das anknüpfen, was dort an Rohstoffen, sen. Wenn Sie aus diesen nicht nur Worte oder Passagen, Arbeitskräftepotenzial und Traditionen vorhanden ist. die in Ihre Vorstellungswelt passen, herausnehmen, son- Wir setzen deshalb zum Beispiel auf den Anbau und dern einmal das Ganze lesen – was ich hoffe –, werden die Verarbeitung von nachwachsenden Rohstoffen. Sie in dem, was heute von der Unionsfraktion und der Das hat einen dreifachen Effekt: Nachwachsende Roh- Opposition in diesem Hause insgesamt gesagt worden stoffe können fossile Rohstoffe ersetzen – damit werden ist, richtige Antworten finden, die Sie, wenn Sie sie auch Ressourcen geschont –, sie haben in der Regel eine bes- nur zum Teil beherzigen, einen großen Schritt nach vorn sere Ökobilanz und sie schaffen zusätzliche Arbeit in bringen werden. Deutschland. Durch den Aufbau von Verarbeitungskapa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. zitäten entstehen noch zusätzliche Arbeitsplätze, zum Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]) Beispiel im Anlagenbau. Sie sprechen immer davon, wir würden die Situation Ein weiteres Potenzial des ländlichen Raums stellt der in den neuen Bundesländern schlechtreden. wachsende Markt für Erholungsleistungen dar. In der Debatte um die wirtschaftliche Entwicklung im Osten (Zuruf von der SPD: Das machen Sie ja auch!) gerät die Bedeutung kultureller Angebote und Einrich- – Das ist nicht wahr. – Wer die Situation in den neuen tungen, von Kulturdenkmälern, sozialer Infrastruktur und Naturschätzen leicht aus dem Blickfeld. Bundesländern kennt, der muss erkennen, dass die Kon- zepte, die Sie in den letzten Jahren vorgeschlagen haben (Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie bitte und die das Land voranbringen sollten, eben nicht grei- mal zum Thema!) fen. Das betrifft nicht nur die Lage in den neuen Bundes- ländern, sondern die gesamte politische Situation. Was Sie aber sind ein Kapital Ostdeutschlands, das es für die Sie als Lösungen anbieten, sind keine Lösungen. Es ver- Entwicklung des Landes zu nutzen gilt. Auf der Basis unsichert die Menschen und es macht Ihr politisches der Kulturdenkmäler und der Naturschätze gilt es den Handeln unglaubwürdig. Damit muss endlich Schluss (B) Tourismus zu entwickeln. Sie sind aber auch Vorausset- (D) zung dafür, dass die Menschen gerne hier leben bzw. sein. hierher ziehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Im Osten Deutschlands liegen ohne Zweifel die meis- ten strukturschwachen Regionen. Der Auftrag des Kollege Hettlich hat vorhin die unsägliche Debatte Grundgesetzes ist eindeutig: Es fordert, gleichwertige der letzten Wochen bewertet. Ich schließe mich dieser Lebensbedingungen zu schaffen. Um diese in Ost und Bewertung an. Es ist äußerst wichtig, immer zu wieder- West zu erreichen, bedarf es noch auf längere Sicht er- holen: In den neuen Bundesländern hat es kurzzeitig ei- heblicher Anstrengungen. hat blühende nen Aufschwung gegeben. Der Beginn war gut, aber die Landschaften versprochen; wir erinnern uns. Aber er hat Fortsetzung – das ist das Entscheidende – hätte besser an den wirklichen Bedürfnissen dieser Landschaften sein müssen. vorbei regiert. Rot-Grün hat 1998 mit den Versprechun- gen für den Osten aufgehört. Aber Rot-Grün hat gehan- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. delt. Neben den Gemeinschaftsaufgaben wurden zahlrei- Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]) che innovations- und wirtschaftsfördernde Programme Ministerpräsident Milbradt hat ausgeführt, dass dort, insbesondere für Ostdeutschland entwickelt. Auf diesem wo der Staat eingegriffen und Regie geführt hat, vieles Weg werden wir weitergehen. Mit den Gesetzen zur Mo- gelungen ist. Die weichen Standortfaktoren sind vor- dulation, zur Agrarreform und zum EEG sowie mit der handen und wirken. Aber mich besorgt, dass es außer- Mittelstandsoffensive geben wir nicht nur allen struktur- halb dieser so genannten Wirtschaftszentren noch zu schwachen Regionen eine Entwicklungsperspektive, sondern – um im Bild zu bleiben – Ostdeutschland eine viele ungenutzte Flächen in den Gewerbegebieten auf Zukunft. dem flachen Land gibt. Es muss etwas getan werden, da- mit sich auch dort eine positive Entwicklung einstellt. Ich danke Ihnen. Wir wollen doch, dass die Menschen in den neuen Bun- desländern bleiben, dass beispielsweise Thüringer in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thüringen bleiben. Wir wollen, dass unsere Kinder in sowie bei Abgeordneten der SPD) unseren Ländern eine gute Ausbildung genießen können, ihre Zukunft gestalten können und eine Perspektive ha- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ben. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernward Müller. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (Beifall bei der CDU/CSU) Abgeordneten der FDP) 10064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Bernward Müller (Gera) (A) Fast jeder Redner hat hier betont, die Menschen hät- Es ist eine Katastrophe, wie Sie dieses Projekt voran- (C) ten sich engagiert. Das ist so. Die Herausforderungen bringen. Es herrscht Stillstand. Aber Stillstand ist Rück- waren riesig; viele haben sich diesen Herausforderungen schritt. Auch wenn sich drei Bagger bewegen, so muss gestellt und haben Mut bewiesen, indem sie den Weg man doch sagen: Es geht nichts voran, sondern es von einer staatlichen Wirtschaft zum Unternehmertum herrscht Stillstand. Herr Matschie, ich sehe nicht, dass gegangen sind. Nun liegt es an uns, diesen Mut zu hono- diese Strecke unter Ihrer Verantwortung jemals fertig ge- rieren und diese Menschen zu unterstützen. Man sollte baut wird. die Mittelständler nicht knebeln und ihnen Fesseln anle- Ich gebe Ihnen folgende Empfehlung: Stellen Sie die gen, sondern man sollte ihnen Chancen eröffnen. Denje- Weichen neu oder machen Sie Platz für eine neue Poli- nigen, die selbstständig werden wollen, sollte man eine tik! Perspektive eröffnen, damit sie Ideen aufgreifen und sich als Unternehmer betätigen können; denn nur Unter- (Beifall bei der CDU/CSU – Manfred Grund nehmer können Arbeitsplätze schaffen. [CDU/CSU]: Stellen Sie die Weichen! Oder besser: Weichen Sie!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Manfred Grund [CDU/CSU]: Sehr gut!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Man muss wirklich feststellen, dass die Zeit wie im Scheffler. Fluge vergeht. Den Aufbau Ost zur Chefsache zu ma- chen war eine Drohung für die Menschen in den neuen Siegfried Scheffler (SPD): Bundesländern. In der Zukunft wäre es besser, wenn die verantwortlichen Minister der Bundesregierung nicht in Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! diese Region fahren und nicht versuchen, dort die Ent- Meine Damen und Herren! Wenn man hier teilweise die wicklung voranzubringen. Nur dann kann es weiterge- Reden hört, insbesondere die von Frau Pieper – Herr hen. Vaatz hat sich in seinen Eingangsbemerkungen ein biss- chen an die Realität herangepirscht –, Die Bundesregierung ist ihrer Aufgabe, für die neuen (Cornelia Pieper [FDP]: Sie nehmen die Reali- Bundesländer Entscheidendes voranzubringen, so wie es tät nicht zur Kenntnis!) 1998 angekündigt wurde, in keiner Weise gerecht geworden. Ich will als Beispiel die ICE-Trasse Erfurt–Nürnberg muss man denken, dass Sie ein bisschen blind durch die nennen, die heute schon erwähnt wurde. Dieses Projekt ist Lande stolzieren. für Thüringen – aber eben nicht nur für Thüringen – be- (B) sonders wichtig. Das sind doch die Zeichen, die gesetzt Frau Pieper, gerade Ihr Ministerpräsident (D) werden müssen, damit Investoren ins Land kommen. Was (Cornelia Pieper [FDP]: Herr Böhmer!) hat es für einen Schlingerkurs gegeben, als Sie die Ver- antwortung für dieses Projekt übernommen haben! teilt ja immer wieder in Presse, Funk und Fernsehen, aber auch dann, wenn er hier im Bundestag ist, mit, wie (Zuruf von der SPD) erfolgreich seine Politik ist. Dies ist sie insbesondere dann, wenn Bundesmittel ausgegeben werden. Die – Natürlich war das ein Schlingerkurs. Leuchttürme, die Sie in Sachsen-Anhalt geschaffen ha- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Erst auf dem ben, beruhen auf Bundesmitteln. Prüfstand!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erst musste alles geprüft werden. Dann haben die Grü- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – nen gesagt, das sei nicht wirtschaftlich. Die SPD wie- Cornelia Pieper [FDP]: Hat schon die CDU/ derum hat gesagt, die Strecke werde doch gebaut, aber CSU-FDP-Regierung auf den Weg gebracht!) sie werde halt nicht so schnell gebaut. Das war bis 1998 nicht so. Vielmehr sind gerade die Ak- (Renate Blank [CDU/CSU]: Es wird über- zente, die zum Beispiel Bundesministerin Edelgard haupt nicht mehr gebaut! – Zuruf von der Bulmahn gesetzt hat, erfolgreich und auch in Sachsen SPD) und Thüringen hochwirksam. – Für Sie mag das so sein. Aber für uns ist es ganz wich- Es gibt ja ein gewisses Maß an Übereinstimmung, tig. zum einen was die positiven Dinge, zum anderen aber auch was die wirtschaftlichen Strukturdaten betrifft. Da- bei geht es um die Sicht auf den Arbeitsmarkt, aber auch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: um die Einschätzung und die Wahrnehmung in der Be- Herr Kollege, achten Sie auf Ihre Redezeit. Sie müs- völkerung, dass der Weg der letzten Jahre durchaus er- sen jetzt schnell zum Schluss kommen. folgreich war. Das können wir doch gar nicht abstreiten. Wir sagen in unserem Antrag doch ganz deutlich: Ein Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): Weiter-so wird es nicht geben. Aber das Bild eines gene- Ich komme ganz schnell zum Schluss. rellen Stillstandes der ostdeutschen Wirtschaft ist schlichtweg falsch; Kollege Vaatz, darin stimme ich aus- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Schneller, als drücklich mit Ihnen überein. Der Aufholprozess setzt die Strecke gebaut wird!) sich natürlich bei einem zu geringen Wachstum insbe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10065

Siegfried Scheffler (A) sondere im industriellen Bereich fort. Der Strukturwan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) del ist in allen neuen Ländern, von Rostock oder Rügen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bis hinunter nach Zittau, sehr sichtbar. Ministerpräsident Die Europäische Union bestätigt der Bundesregierung Milbradt, aber insbesondere unser Kollege Matschie aus und dem Deutschen Bundestag nach wie vor, dass min- Thüringen haben dies eindrucksvoll vorgetragen. destens zwei Drittel der finanziellen Engpässe auf die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deindustrialisierung und die Fehler in der Zeit kurz nach DIE GRÜNEN) der Wendezeit, zum Beispiel auf den überhitzten Bau- boom, zurückzuführen sind. Darunter haben wir noch Gleichwohl vollzieht sich keine selbst tragende Ent- heute zu leiden. Das blenden Sie vollkommen aus. wicklung. Wir stimmen mit Ihnen auch darin überein, Das blendet auch Ministerpräsident Milbradt aus. dass die finanzielle Abhängigkeit von Transfers aus Westdeutschland und die Abwanderung aus den neuen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ländern nicht gut sind. Damit werden wir uns als ost- DIE GRÜNEN) deutsche Landesgruppe in der SPD nicht zufrieden ge- Er blendet ebenfalls vollständig aus, dass er 2003, als ben. Hier geht es aber nicht nur um regionale Sorgen. über das Steuervergünstigungsabbaugesetz verhandelt Herr Matschie hat es teilweise schon angesprochen: Die wurde, auf der anderen Seite des Tisches saß und die Entwicklung in den neuen Ländern ist vielmehr in die unionsregierten Länder vollkommene Blockadepolitik Entwicklung in ganz Deutschland eingebettet. Mit Angst betrieben. Wäre dem nicht so gewesen, hätten die Haus- und Hysterie, wie das in der Presse geschieht oder auch hälter des Deutschen Bundestages und die Bundesregie- von Ihnen immer wieder versucht wird – Frau Pieper, rung viel mehr Spielräume Sie haben das eindrucksvoll bestätigt –, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Cornelia Pieper [FDP]: Ich mache mir große BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sorgen!) in der Frage der Bildungs-, Forschungs- und Verkehrs- können wir nichts erreichen. Wir können doch nicht den politik gehabt. Dann wäre es möglich gewesen, wesent- ungelegten Eiern im Hinblick auf die Haushaltsberatun- lich mehr für die Schiene, für die Straße und für die Was- gen 2005 vorgreifen. Wir können uns hier zwar die serstraßen zu erreichen. Köpfe über GA- und Infrastrukturmaßnahmen heiß re- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des den. Entscheidend ist letztendlich, was der Deutsche BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundestag, wir als Parlamentarier mit unseren Haushäl- tern, im Hinblick auf den Haushalt 2005 oder jetzt die Diese Tatsachen dürfen Sie nicht ausblenden; darum (B) GA 2004 entscheidet. Insofern sind für mich viele Dinge bitte ich Sie wirklich. (D) – auch Ihre Pressemitteilung gestern aus Weimar – unge- Frau Pieper und Herr Milbradt haben die Aspekte der legte Eier, die nur dazu dienen, diesen Standort schlecht Arbeitsmarktpolitik in den Vordergrund gestellt. Sie zu machen. müssen dann aber auch den Arbeitnehmerinnen und Ar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beitnehmern sagen, dass Sie nicht nur den Niedriglohn- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sektor, sondern sogar schon die Schwellenlöhne von Ru- mänien, Bulgarien oder anderen Staaten durchsetzen Ich sage Ihnen, dass eine differenzierte Stärken- wollen. und Schwächenanalyse, wie es Kollege Matschie hier (Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]: Das stimmt vorgetragen hat, mit guten Vor-Ort-Kenntnissen – denn nicht!) ich und andere sind sehr viel im Lande unterwegs – eine Grundlage für neue Ansätze der Förderung schaffen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wol- kann. Deshalb beinhaltet unser Antrag nicht einfach ein len hinsichtlich des Kündigungsschutzes Änderungen Weiter-so, sondern eine Neujustierung, wie das Minister vornehmen. Stolpe nicht erst in der heutigen Debatte, sondern schon (Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]: Das sind in der Vergangenheit dargestellt hat. Diese Neujustie- Unterstellungen!) rung ist sichtbar. – Das sind keine Unterstellungen. Ich habe das aus Ihren Vorhin wurde die Verdoppelung der industrienahen Anträgen herausgelesen. – Diese Forderungen müssen Forschung angesprochen. Diese ist in der Region Ber- wir von der SPD mit Nachdruck zurückweisen. lin-Brandenburg und auch in Mecklenburg-Vorpommern sichtbar, aber natürlich nicht in allen Regionen. Wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des stimmen mit Ihnen darin überein, dass wir nach wie vor BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine bessere Infrastruktur und industrienahe Forschung Wir können uns durchaus über Lohnergänzungsleis- brauchen. Das können wir aber unter den gegenwärtigen tungen unterhalten. Ihre Ausführungen zum Arbeits- Bedingungen der Globalisierung nicht sofort erreichen. markt aber – ich sage das ganz deutlich – sind ein Skan- dal. Sie wollen – auch das unterstelle ich Ihnen – über Noch ein Punkt: Angesichts der Bedingungen kurz den Umweg einer anderen Strukturpolitik in Ostdeutsch- nach der Wende, in der Zeit, in der Sie – das wollen Sie land die Arbeitnehmerrechte praktisch in ganz Deutsch- heute nicht mehr wissen – eine Deindustrialisierung land aushebeln. Dabei machen wir nicht mit. bewirkt haben, können wir doch nicht so tun, als ob gar nichts zustande gekommen ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 10066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Siegfried Scheffler (A) Deutschland, insbesondere Ostdeutschland, braucht „Realität“ nehmen Sie sicher auf die Zwischenfrage Ih- (C) konkurrenzfähige Arbeitsplätze – teilweise gibt es sie res Kollegen Hilsberg Bezug. Dazu möchte ich Folgen- schon –, um international konkurrenzfähig zu sein. Von des sagen: Die Aussage des Herrn Kollegen Hilsberg, dieser internationalen Konkurrenzfähigkeit hat Mi- dass man sich mit einer Firma geeinigt habe, ist richtig. nisterpräsident Milbradt gesprochen. Der Solidarpakt II Es geht aber nicht um die Einigung einer Regierung mit reicht bis 2019 und wir als Landesgruppe Ost haben von einer Firma. Vielmehr hat die Regierung gleiches Recht der Regierung GA-Mittel eingefordert. Unser Zeithori- für alle zu schaffen. zont reicht also bis 2019 und wir dürfen ihn durch Schlechtreden nicht verkürzen und so tun, als sei er be- In der augenblicklichen Situation werden die mittel- reits 2009 oder 2010 zu Ende. Meines Erachtens sind deutsche Braunkohle und die mittelständischen Unter- Ihre Vorschläge teilweise nicht nur arbeitsmarktpoli- nehmen, die in Ostdeutschland unmittelbar nach der tisch, sondern auch wirtschaftspolitisch unsinnig. Ihre Wende ihre Anlagen ertüchtigt haben und Emissionen Wirkung ist teilweise verheerend. abgeben, nach wie vor benachteiligt; Sie können dort, wo die Bundesmittel greifen und (Zuruf von der SPD: Falsch!) durch Bundesmittel finanzierte Programme aufgelegt denn noch ist das Referenzjahr bei der Bemessung für werden – vorhin wurde das schon genannt –, eine ver- die Early Actions das Jahr 1994 und nicht, wie wir for- nünftige Landespolitik machen. Dazu müssen Sie die dern, das Jahr 1991. Im Benchmarking wird der techni- Kabinette, an denen Unions- oder FDP-Politiker betei- sche Wirkungsgrad der Braunkohle gegenüber dem tech- ligt sind, auffordern, die ihnen zur Verfügung gestellten nischen Wirkungsgrad der Steinkohle nach wie vor Mittel sinnvoll einzusetzen. benachteiligt. Es ist nach wie vor richtig, was ich an- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Zum Beispiel in fangs gesagt habe, dass nämlich die in Ostdeutschland Berlin! Das ist unglaublich!) neu gegründeten Betriebe hinsichtlich ihrer Finanzie- rung eine Doppelfunktion ausüben: Einerseits finanzie- Nehmen wir zum Beispiel die Verwendung der Regiona- ren sie sich selbst, andererseits finanzieren sie die Erneu- lisierungsmittel in Sachsen-Anhalt. Sie können vor Ort erung im Westen. Daran hat sich nichts geändert. sehen, wo die Mittel für den Ausbau der Verkehrsinfra- struktur angekommen sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich bitte darum, hier Ross und Reiter zu nennen. Wir Siegfried Scheffler (SPD): müssen klar sagen, wo die Ursachen liegen, und dürfen Herr Kollege Vaatz, Ihre Kurzintervention bezog sich (B) nicht immer nur auf den Bund schauen. Die Verantwor- nicht auf meine Rede, sondern auf den Beitrag des Kol- (D) tung der Länder muss hier ganz deutlich angesprochen legen Hilsberg. Ich kann die Aussage des Kollegen werden. Hilsberg aber bestätigen; denn in dieser Woche haben wir uns nach der entscheidenden Nachtsitzung, in der es (Cornelia Pieper [FDP]: Wo ist Ihr Konzept?) um die Ausgestaltung des Entwurfs ging, mit den Ver- – Frau Pieper, wir können uns gern über Fragen der Bil- antwortlichen von Vattenfall unterhalten. Ich kann nur dungs-, Forschungs-, Verkehrs- und Arbeitsmarktpolitik bestätigen, dass zukünftig sowohl die Investitionen als unterhalten. Wir beschreiten gerade in der Arbeitsmarkt- auch die Senkung der Emissionen Beachtung finden. In- politik einen anderen Weg als Sie. Wir stellen unsere sofern muss ich das, was Sie hier vorgetragen haben, zu- Hartz-Gesetze Ihren Forderungen nach Lohnersatzleis- rückweisen; es entspricht nicht den Tatsachen. tungen entgegen. Ich denke, damit gehen wir den we- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sentlich besseren Weg. (Beifall bei der SPD – Cornelia Pieper [FDP]: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Arbeitslosen werden immer mehr!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Kuhn. Sie können unserem Antrag mit ruhigem Gewissen (Beifall bei der CDU/CSU) zustimmen. Ihre Anträge müssen wir natürlich zurück- weisen. Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): Vielen herzlichen Dank. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ „Ostdeutschland eine Zukunft geben“ – das ist die Über- DIE GRÜNEN) schrift unseres Antrags. Das ist auch mit einer Vision verbunden. Diese Debatte heute wäre nicht zustande ge- kommen, wenn nicht die Oppositionsfraktionen signali- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: siert hätten, dass wir über Ostdeutschland reden müssen. Zu einer Kurzintervention, weil er persönlich ange- sprochen wurde, der Kollege Vaatz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Menschen in der ehemaligen DDR haben mit der Arnold Vaatz (CDU/CSU): friedlichen Revolution selbst das Tor für eine freiheitli- Herr Kollege Scheffler, nach Ihrer Auffassung habe che Demokratie und ihre Zukunft aufgestoßen. Wir hat- ich mich allmählich an die Realität herangepirscht. Mit ten viele Wegbegleiter und Wegbereiter. Mit Helmut Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10067

Werner Kuhn (Zingst) (A) Kohl hatten wir einen Bundeskanzler, der diese histori- Ich sage: Diese Bundesregierung ist nicht geeignet, (C) sche Aufgabe der Wiedervereinigung unseres Vaterlan- ihnen dieses Signal zu geben. Da ich Herrn Matschies des ganz oben auf seiner Agenda stehen hatte. Problembeschreibung und die vielen Fragen, die er ge- stellt hat, gehört habe und beobachtet habe, wie er dann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mit Herrn Minister Stolpe in einen Dialog getreten ist, Ludwig Stiegler [SPD]: Er hat blühende Land- sage ich Ihnen: Sie verhalten sich nicht wie Koalitions- schaften versprochen!) fraktionen, die eine Regierung tragen, bzw. wie ein Mi- Das steht im Gegensatz zu der Agenda 2010 des jetzigen nister für den Aufbau Ost. Das hat sich vielmehr ange- Bundeskanzlers, für den der Osten nur noch eine Margi- hört wie eine Selbsthilfegruppe, die einfach nur einmal nalie ist. Man würde am liebsten gar nicht mehr darüber über dieses Thema reden will, die aber gar keine eigenen reden, wie die Entwicklung dort unter Rot-Grün letzt- Konzepte hat. endlich in die Grütt gefahren worden ist. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: So was der FDP – Uta Zapf [SPD]: Das ist Quatsch!) Aufgeblasenes! – Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja Bei 5 Millionen Arbeitslosen und einer flächende- mehr kühn als Kuhn!) ckenden Unterbeschäftigung von 20 Prozent in Ost- deutschland ist es zwingend notwendig, dass wir diese Meine sehr verehrten Damen und Herren, es handelt Debatte führen. Wenn der Osten nicht wieder auf die sich um Verträge, die in Zukunft in keiner Weise geän- Beine kommt, wird die Wirtschaft in Deutschland der dert werden können. Bis 2012 sind wir in den Lasten der Entwicklung in Europa im wahrsten Sinne des Wortes Steinkohleproduktion im Ruhrgebiet fest verwurzelt. weiter hinterherhinken. Wir brauchen uns nicht darüber Aber dort finden Wahlen statt. zu ereifern, wer denn nun die Konzepte für die gerings- (Cornelia Pieper [FDP]: Oh ja!) ten Steuersätze oder wer die besten Konzepte für die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Ost- In NRW wird es dann heißen, dass man diese Situation deutschland hat. Die Fakten zeigen es eindeutig: Die Ge- leider nicht ändern könne; aber dann werden bis zum meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Jahre 2012 Förderungen in Milliardenhöhe zugesagt. Wirtschaftsstruktur“ ist eine zentrale Aufgabe. Minis- terpräsident Milbradt hat ganz klare Worte dazu gefun- (Cornelia Pieper [FDP]: 16 Milliarden!) den. Im Osten arbeiten wir mit dem European Recovery Genau das stand letztendlich auch auf der Agenda: Tau- Program, weil wir 40 Jahre benachteiligt worden sind. (B) sche Westkohle gegen Osthilfe. Dem wird unsere Frak- (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tion in dieser Form aber nicht zustimmen. Das können wir Ihnen versichern. Jetzt werden wir durch diese Bundesregierung benach- teiligt. Von ursprünglich 750 Millionen Euro sind die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Ausgaben für diese Aufgabe auf knapp 200 Millionen Euro Stiegler [SPD]: Das ist ja unglaublich!) gesenkt worden. Das können wir uns einfach nicht bie- ten lassen. Wie sollen wir denn unseren Investitions- Insoweit ist die Sache in Ordnung. standort fit machen? Wir brauchen die GA und die In- Mit der Strategie, die wir heute vorgelegt haben, ge- vestitionsförderung. Dafür brauchen wir auch ben wir Ihnen einen Fingerzeig, wie Sie in Zukunft ar- Landesmittel. Wir müssen Einnahmen realisieren, um beiten sollen. Ich nenne nur die Stichworte Clusterbil- diese Situation in den Griff bekommen zu können. dung und universitäre Forschung. Allerdings müssen wir (Ludwig Stiegler [SPD]: Dann müsst ihr end- auch die Kosten betrachten, die dadurch auf die Länder lich die Steuergesetze mit beschließen!) zukommen. Sie finanzieren Universitäten und betreiben Produktentwicklung und Produktionseinführung auf ei- – Ja, Herr Stiegler, Sie sind natürlich ein ausgemachter nem möglichst hohen Niveau, damit dort auch gut aus- Experte, der die Ostförderung in- und auswendig kennt. gebildete Arbeitskräfte wieder eine Zukunft haben. (Dr. [SPD]: Er ist Wenn Sie es ernst meinen würden, Herr Scheffler, häufiger da als Sie!) dann müssten Sie sagen: Jawohl, wir wollen den Brain- drain gemeinsam verhindern, damit der Zustand, dass Sie werden ja zu diesem Tagesordnungspunkt später die gut ausgebildeten Leute vom Osten in den Westen noch als Wunderwaffe Ihrer Partei eingesetzt. gehen, weil sie nur dort eine Zukunft haben, endlich ge- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU stoppt wird. Aber Sie führen eine Ausbildungsplatzab- und der FDP) gabe ein, die dazu führt, dass die Unternehmen Leute ausbilden müssen, obwohl überhaupt keine mehr da Aber Sie müssen sich einmal anschauen, wie die Men- sind. So können wir Deutschland nicht fit für die Zu- schen in den neuen Bundesländern auf ein Hoffnungssi- kunft machen. gnal warten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (Ludwig Stiegler [SPD]: Man merkt, dass Sie ruf von der SPD: Wer hat denn die Gelder von Angst getrieben sind!) streichen lassen?) 10068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Werner Kuhn (Zingst) (A) Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, wenn ge- denn, man verhandelt taktisch so gut und so richtig, wie (C) sagt wird – das wurde vom Kollegen Hettlich auf sehr Ministerpräsident Milbradt das gemacht hat. interessante Weise dargestellt –, dass wir natürlich (Beifall bei der CDU/CSU) universitäre Forschung, Clusterbildung und Produkt- entwicklung brauchen, dass wir aber gerade auch für die Die erste Aufgabe eines jeden Politikers – danach kön- neuen Bundesländer ein System von Instituten und außer- nen Sie die Uhr stellen – ist Wirtschaftsförderung. Wenn universitärer Forschung ins Leben gerufen haben, zum ich meine Basis nicht in Ordnung kriege und meinen Beispiel die Leibniz-Institute. Leuten keine Zukunft geben kann, habe ich letztendlich überhaupt keine Chance, Wirtschaftsentwicklung und (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) Aufschwung in den neuen Bundesländern zu bekom- Dann wird gesagt: Jetzt führen wir eine Entflech- men. tungsdebatte. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Re- (Siegfried Scheffler [SPD]: Reden Sie doch gierungskoalition, durch Ihre ganzen Regelwerke werde mal über unseren Antrag!) ich immer wieder an alte Zeiten erinnert: immer mehr Durchführungsbestimmungen, immer mehr Gesetzes- Man denkt: Donnerwetter, jetzt wird endlich Bürokratie werke, immer mehr Initiativen zur Regulierung. Wir abgebaut; jetzt werden wir zum Zuge kommen. Aber sind 1989 auf die Straße gegangen und haben gesagt: nein, Herr Kollege Scheffler, diese Entflechtungsdebatte Freiheit statt Sozialismus. Und wir lassen uns von Ihnen bedeutet nur, dass sich der Bund aus der Finanzierung den Sozialismus nicht durch die Hintertür wieder einfüh- der außeruniversitären Forschung zurückzieht ren. (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist doch Herzlichen Dank. Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – und sie den Ländern, die ohnehin kein Geld haben, auf Lachen bei der SPD) die Augen drückt. Dadurch wird sich die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zusätzlich verschlechtern. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf Das Wort hat jetzt der Berliner Senator für Wirtschaft, von der CDU/CSU: Genau! Das geht nicht!) Arbeit und Frauen, Harald Wolf.

Ich kann nur sagen: Herr Stolpe, wir brauchen eine kom- Harald Wolf, Senator (Berlin): petente Administration. Das wissen wir auch aus unse- (B) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr (D) ren Regierungserfahrungen bis 1998. Es ist notwendig, Kuhn, ich finde es schon erstaunlich, mit welcher Verve dass es eine Stabsstelle, einen Staatssekretär und einen Sie und Ihre Fraktion in der Lage sind, über den Aufbau Minister gibt, der für den Aufbau Ost zuständig ist, da- Ost zu reden und sich über die Bundesregierung zu em- mit nicht jeder vom Thema Eigenheimzulage bis zur pören, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass ein Verwendung der GA-Mittel kreuz und quer quatschen Großteil, eine Vielzahl der Probleme in Ostdeutschland, kann. Eine halbe Abteilung in Herrn Stolpes Bundesmi- über die wir heute diskutieren, mit Fehlentscheidungen nisterium, eine halbe in Herrn Clements Ministerium zusammenhängen, die unter der Bundesregierung Kohl und eine halbe Stelle im Kanzleramt – das kann es nicht getroffen worden sind, gewesen sein. Wir müssen den Aufbau Ost wirklich pro- fessionell angehen. Dass dies nicht geschieht, kritisiere (Zuruf von der CDU/CSU: Was für ein ich in dieser Debatte; denn der eine weiß nicht, was der Quatsch ist das!) andere tut. mit einer verfehlten Politik, die geglaubt hat, der Aufbau (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ost lasse sich aus der Portokasse finanzieren, mit einer Förderung über Abschreibungen, die ganz wesentlich Diese rot-grüne Bundesregierung – das muss ich hin- dazu beigetragen hat, dass Fehlinvestitionen in Beton sichtlich des Aufbaus Ost sagen – ist eine Regierung der stattgefunden haben und eben nicht in die Wachstums- vertanen Chancen. Das stellt man fest, wenn man die Chan- kerne, cen beim Thema Hochtechnologie im Verkehrsbereich, insbesondere bezüglich der Magnetschwebebahn, Revue (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wie sähe denn passieren lässt oder wenn man den Flugzeugbaustandort Berlin aus, Herr Senator?) Deutschland respektive neue Bundesländer unter die über die wir heute diskutieren. Lupe nimmt. Unser Herz tränt, wenn wir sehen, dass der A3XX und der A380 jetzt in Toulouse gebaut werden. (Beifall bei der SPD) Hier bestand die Möglichkeit, politisch Einfluss zu neh- Wenn wir heute über den Aufbau Ost diskutieren und men, damit wir in den neuen Bundesländern einen zu- über die Realität in Ostdeutschland, dann ist es in der Tat sätzlichen Leuchtturm schaffen. so, Herr Matschie, dass es zwei Gesichter gibt: einerseits (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) die Erfolge bei der Modernisierung und beim Aufbau der Infrastruktur, die Erfolge auch bei der Herausbildung in- Ich kann kein privates Automobilunternehmen zwingen, ternational konkurrenzfähiger Wachstumskerne und in- dahin zu kommen und dort ein Werk zu errichten, es sei ternational konkurrenzfähiger Regionen. Aber es gehört Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10069

Senator Harald Wolf (Berlin) (A) andererseits genauso zur Wahrheit und zur Realität, dass Heute besteht zwischen allen Fraktionen und allen (C) wir nach wie vor eine gravierende Strukturschwäche Parteien Übereinstimmung darüber, die Vergabe von haben – eine Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent – und Fördermitteln auf die Wachstumskerne zu konzentrie- dass wir eine anhaltend hohe Abwanderung vor allen ren. Meiner Meinung nach kann das aber nur ein Teil der Dingen von jungen, gut ausgebildeten Menschen aus Antwort sein. Wenn man sich von einer flächendecken- Ostdeutschland haben. Wenn diese Entwicklung nicht den Förderpolitik zurückzieht, die alle Regionen gleich- gestoppt wird, wenn dieser Trend nicht aufgehalten mäßig bedenkt, muss eine Perspektive für die Regionen wird, wird er die positive Entwicklung überlagern und in Ostdeutschland formuliert werden, die nicht zu den dann wird das Gefälle zwischen Ost und West wieder Wachstumsregionen gehören. Wir müssen deutlich ma- vertieft werden. Das ist das, worüber ich mir Sorgen ma- chen, dass es sich nicht um einen ungeregelten Anpas- che, worüber wir reden müssen und wogegen wir Strate- sungsprozess handelt, sondern dass es gleichzeitig eine gien entwickeln müssen. Ich glaube, es kann nicht in un- Regionalplanung und -förderung geben wird, durch die serem Interesse sein, eine Entwicklung zu haben, bei der der Schrumpfungsprozess sozialverträglich gestaltet der Osten vom Westen weiter abgekoppelt wird. Ich wird, und dass diesem gegebenenfalls sogar positive glaube, es ist im Interesse der gesamten Republik und Elemente abgewonnen werden können. Das muss die an- nicht nur im Interesse des Ostens, dass in Ostdeutsch- dere Seite der Medaille sein, wenn wir die Investitions- land eine selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung förderung richtigerweise auf die Wachstumskerne kon- eingeleitet wird, durch die Ostdeutschland nicht auf zentrieren wollen. Transfers und Subventionen in dem Maße, wie es zurzeit der Fall ist, angewiesen ist. Deshalb, glaube ich, ist es (Manfred Grund [CDU/CSU]: Auf Berlin!) auch im Interesse des Westens und der westdeutschen Meine Damen und Herren, wir brauchen für Ost- Bundesländer, sich intensiv mit den Fragen des Aufbaus deutschland auch weiterhin Sonderregelungen, zum Bei- und der wirtschaftlichen Entwicklung im Osten ausei- spiel im Steuerrecht. Wir könnten zum Beispiel der noto- nander zu setzen. Eine positive Entwicklung im Osten ist rischen Eigenkapitalschwäche von kleinen und eine Grundvoraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit mittleren Unternehmen in Ostdeutschland begegnen, in- und Konkurrenzfähigkeit des Standortes Deutschland dem wir die Verbreiterung der Eigenkapitalbasis durch insgesamt. Nichtentnahme von Gewinnen steuerlich begünstigen. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- Das wäre, wie ich glaube, ein wichtiger Schritt zur Stär- los] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) kung der Basis von kleinen und mittelständischen Unter- nehmen in Ostdeutschland und damit von Ostdeutsch- Deshalb, glaube ich, brauchen wir in der Tat einen land insgesamt. neuen Entwicklungsschub in Ostdeutschland, brauchen (B) (D) wir eine Neubestimmung der Politik in und für Ost- Wir müssen auch über regional begrenzte Sonderre- deutschland. Das heißt auch, dass wir für Ostdeutschland gelungen in den Grenzgebieten zu den neuen Beitritts- weiterhin Sonderregelungen brauchen – wir haben ja ländern der Europäischen Union nachdenken. Diese schon jetzt Sonderregelungen – und dass wir weiterhin müssten sowohl Regelungen zur Freizügigkeit als auch einen Standortvorteil für Ostdeutschland brauchen, weil steuerliche Vergünstigungen enthalten, damit die regio- Ostdeutschland nur so entsprechend aufholen kann. nalen Kooperationsmöglichkeiten besser genutzt wer- den. Was wir allerdings nicht gebrauchen können, sind Diskussionen, wie sie in den letzten Wochen geführt Die Forderung nach einer Förderung von Wachstums- wurden, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Zusagen kernen basiert auf der Erkenntnis, dass Ostdeutschlands über Förderungen wie zum Beispiel der GA-Mittel ha- Zukunft von der Entwicklung der modernen hoch pro- ben aufkommen lassen. Ich bin sehr froh darüber, dass duktiven Sektoren in diesen Regionen abhängt. Dabei Minister Stolpe heute von dieser Stelle aus eine Klarstel- geht es um Innovation und nicht um Niedriglohn. Sie, lung hierzu getroffen hat und dass die Koalitionsfraktio- meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wissen nen in ihrem Antrag eine klare Position beziehen. Ich doch, dass die Realität in den ostdeutschen Ländern hoffe, dass auch das Bundeskabinett in seiner Sitzung heute bereits so aussieht, dass in einer Vielzahl von Be- am 23. Juni endgültig eine klare Stellung beziehen wird. trieben Billiglöhne gezahlt werden und dass es, wenn die Denn wir brauchen Planungssicherheit und Verlässlich- Unternehmen es wollen, häufig möglich ist, Arbeits- keit. Das sind die Grundvoraussetzungen, wenn wir über kräfte für unter 5 Euro pro Stunde zu beschäftigen und eine Neuausrichtung und eine Kurskorrektur beim Auf- sie schnell zu feuern. Leider sind die Kräfte des Marktes bau Ost diskutieren. oft stärker als Flächentarifverträge und leider oft auch stärker als die Gesetze. Trotz dieser Realität mit einem Die Antwort auf die Forderung, wir müssten von der bestehenden Niedriglohnsektor – ich finde, sie ist bekla- so genannten Gießkannenpolitik abkommen – das war in genswert – ist der Aufbau Ost nicht weiter vorangekom- Ostdeutschland in den letzten Jahren schon immer mehr men. der Fall –, kann nicht sein, dass wir auf das Wasser ver- zichten. Vielmehr muss der Fördermittelstrom gezielter (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Arbeitslosigkeit eingesetzt werden. Darüber müssen wir eine Diskussion ist Ihnen lieber!) führen. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- Sie wollen die schwierige Lage in Ostdeutschland dazu los] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) nutzen, um Dumping, Niedriglöhne und Sozialabbau in 10070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Senator Harald Wolf (Berlin) (A) der gesamten Republik durchzusetzen. Dagegen muss (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das machen wir (C) man sich wehren. Das nutzt nämlich auch dem Osten nicht!) nichts. Denn je niedrigere Einkommen in den Wachs- tumssektoren gezahlt werden, desto schwächer fällt die Geholfen ist damit aber niemandem. Lasst uns zusam- Nachfrage nach einfacher Arbeit aus und umso geringer men unser gesamtdeutsches Problem lösen. sind die Aussichten, Arbeitsplätze für gering Qualifi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zierte zu schaffen. DIE GRÜNEN) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wer hat denn Ich bin als Wessi für den Aufbau Ost zuständig und die Tarifleistungen in Berlin gekürzt? War das betone für die SPD-Fraktion: Wir halten mit den Kolle- die CDU?) ginnen und Kollegen der Landesgruppe Ost zusam- men, aber auch mit denen, die im Ruhrgebiet oder an- Ein Ausbau des Billiglohnbereichs nützt dem Osten derswo Probleme haben. Es versucht hier niemand, sich nichts, sondern schadet ihm. Niedrige Löhne im Osten auf Kosten des anderen zu profilieren, weil wir nur ge- verleiten die Menschen geradezu, in die Wachstumsre- meinsam Erfolg haben werden. gionen nach Westdeutschland zu gehen. Sie leiten damit einen Teufelskreis ein. Das ist das Gegenteil von dem, (Beifall bei der SPD – Arnold Vaatz [CDU/ was Ostdeutschland braucht. CSU]: Sehr richtig!) Meine Damen und Herren, es muss in Ostdeutschland – Ja, das ist sehr richtig. Dann müssen Sie aber andere einen Neuanfang geben. Angesichts der Schwierigkeiten Reden halten. des Strukturwandels brauchen wir dazu Realismus und vor allen Dingen einen langen Atem. Ich glaube, es wäre (Zuruf von der CDU/CSU: Die Taten sind ent- ein großer Erfolg, wenn es uns gelingen würde, die wirt- scheidend, nicht die Reden!) schaftliche und soziale Lage in den nächsten zwei bis Herr Professor Milbradt, Ihre Rede hätte mich fröhli- drei Jahren zu stabilisieren und den Abwanderungspro- cher gestimmt, zess aus Ostdeutschland zu stoppen. Das wäre das Signal dafür, dass die Menschen in Ostdeutschland wieder Ver- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Stiegler und trauen in ihre Zukunft, in ihr Land und in ihre Region fröhlich!) gefasst haben. wenn Sie deutlich gemacht hätten, dass vieles, was Sie Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. zu Hause – in Dresden, Leipzig und sonst wo – feiern, zur Hälfte und mehr vom Bund finanziert wird. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- (B) tionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos] (Beifall bei der SPD – Georg Milbradt, Minis- (D) sowie bei der SPD) terpräsident [Sachsen]: Das habe ich doch ge- sagt!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – Ja, Sie haben sich aber wie ein Kind bedankt, das die Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludwig Stiegler. Zähne zusammenbeißt, wenn es Danke sagen oder sich entschuldigen muss. So sieht die Begeisterung hier aus. (Cornelia Pieper [FDP]: Oh, ist die Zeit noch nicht vorbei? Ich denke, wir reden über den (Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ Aufbau Ost! – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Er CSU) verzichtet!) Man muss einmal vergleichen, wie die Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten ihre Aufbauleistungen in den Ludwig Stiegler (SPD): jeweiligen Ländern in den Wahlkämpfen zu Hause prei- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am sen und rühmen und wie sie nur noch Not und Elend se- Ende dieser Debatte möchte ich für die SPD-Bundes- hen, kaum dass sie die heimatlichen Gefilde verlassen tagsfraktion festhalten, dass wir, Ost und West, zusam- haben und in Berlin angekommen sind. Das grenzt an mengehören. Wir feiern die Einheit und stehen auch im Bewusstseinsspaltung. Hüten Sie sich! Alltag dazu. Wir verwahren uns dagegen, dass Sie Ost (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gegen West und umgekehrt aufhetzen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD – Cornelia Pieper [FDP]: Herr Milbradt, Sie sollten sich bei Herrn Stolpe für Ihre Ministerpräsidenten Herr Steinbrück und die Verkehrsinfrastruktur und bei Edelgard Bulmahn für Frau Simonis!) die Forschung und Entwicklung bedanken. Gerade Ihre Ich bin Manfred Stolpe dankbar, dass er immer wie- Hightechindustrie wäre ohne das wirklich engagierte der betont: Problemregionen gibt es in ganz Deutsch- Eintreten von Edelgard Bulmahn gar nicht denkbar ge- land. Wir lösen die Probleme in ganz Deutschland und wesen. jagen die Menschen nicht gegeneinander. – Mit Ihren Ei- (Lachen bei der CDU/CSU) fersüchteleien können Sie in den Wahlkreisen Punkte machen. Die CSU in Bayern kann gegen den Osten – Da könnt ihr ruhig lachen, ihr habt ihnen nichts gege- schimpfen und Sie können in den Wahlkreisen auf den ben. Ihr habt Steuervergünstigungen für Grundstücks- Westen schimpfen. spekulanten und Abschreibungskünstler finanziert und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10071

Ludwig Stiegler (A) uns Schulden hinterlassen. Das war euer Aufbauwerk in zu leugnen. Ich sage Ihnen aber zu: Dieser Antrag be- (C) den acht Jahren. deutet auch, dass wir uns bemühen, diese Probleme zu lösen. Wir wollen nicht, dass Investitionen aufgrund die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ser Situation scheitern oder behindert werden. Dabei DIE GRÜNEN – Cornelia Pieper [FDP]: Die können Sie sich auf unsere Unterstützung verlassen. größten Schulden seit der Existenz der Bun- desrepublik machen Sie!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, wenn wir das zusammen Helfen Sie uns mit Ihren Haushältern und in Ihren Län- machen, dann sollen wir auch gemeinsam zu den Erfol- dern! Helfen Sie uns auch dabei, ungerechtfertigte Sub- gen stehen. Ich halte für die SPD-Bundestagsfraktion am ventionen abzubauen! Dann brauchen wir nicht so sehr Ende fest: Wir, meine Fraktion und auch die Koalition, im Haushalt herumzukratzen. stehen zum Solidarpakt. Wer hier daran zweifelt, der re- det wider besseres Wissen und verunsichert die Men- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen unnötig. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Cornelia Pieper [FDP]: Die SPD-Ministerprä- Wir werden Manfred Stolpe und auch unsere Kolle- sidenten sagen das? Herr Steinbrück auch?) ginnen und Kollegen dabei unterstützen. Herr Professor Wir stehen zu diesem Solidarpakt. Milbradt, ich hoffe, dass wir alsbald die notwendige Klarheit schaffen. Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht. (Beifall bei der SPD) Diese Weisheit haben wir aber nicht erst von Ihnen ver- nommen, sondern von unserem Kollegen Siegfried Diese Koalition steht auch zur Gemeinschaftsauf- Scheffler und auch von anderen Kollegen schon vor Wo- gabe. chen gehört. Auch Manfred Stolpe hat es allen, die es (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Oh, das ist was hören wollten, und auch denen, die es nicht hören woll- ganz Neues! – Cornelia Pieper [FDP]: Mit- ten, gesagt. schreiben!) Wir haben aber auch unsere praktischen Aufgaben er- – Seien Sie vorsichtig! – Es waren die Herren Minister- ledigt. Für die Probleme der vielen kleinen und mittleren präsidenten, die sie vor Jahren einmal abschaffen woll- Unternehmen, die – aus welchen Gründen auch immer – ten. Es waren diese Koalition und diese Bundestagsfrak- mit ihrer Eigenkapitaldecke am Ende sind, hat diese tion, die die Beschlüsse gefasst haben, dass die GA Koalition seit dem 1. März mit dem Programm Unter- erhalten bleibt. So sieht die Situation aus. Das ist die nehmerkapital der KfW eine Antwort gefunden. Ich (B) Wahrheit. war erst gestern mit Dr. Danckert bei Hunderten von (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mittelständlern in Brandenburg und mit Uwe Küster in DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/ Magdeburg, wo wir die Programme vorgestellt haben. CSU]: Die GA wollte niemand abschaffen! Damit wird diesen Unternehmen geholfen. Lassen Sie Bleiben Sie bei der Wahrheit! – Cornelia uns zusammen mit den Banken und der KfW dafür sor- Pieper [FDP]: Sie lügen, ohne rot zu werden!) gen, dass die Unternehmen wachsen können. Das leisten wir. Das ist mindestens genauso wirksam wie die GA. Ich unterstütze Manfred Stolpe bei seinen Bemühun- gen zur Lösung der gegenwärtigen Probleme. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Man wird doch noch bei der Wahrheit bleiben dürfen, auch Ich bedanke mich bei Manfred Stolpe für seinen Ein- wenn es Stiegler ist!) satz, der weiß Gott nicht immer leicht ist. Das können auch Sie einmal anerkennen. Viele von Ihnen profitieren Sie sind weiß Gott seltsame Leute: Im Bundesrat verwei- davon, dass er Ihnen hilft. Aber Sie sind ein undankbares gern Sie sich Maßnahmen für Steuermehreinnahmen, Volk; das muss man einmal sehen. aber fordern pausenlos Mehrausgaben und dazu einen Sparhaushalt. Das ist die Kubatur des Zirkels, die Sie (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei hier veranstalten. Wer daran glaubt, der gehört in die Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Psychiatrie, aber nicht hierher. GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Wenn man laufend in die Hand, die einem Futter gibt, Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE pickt, dann bekommt man irgendwann nichts mehr. Das GRÜNEN) sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Nun hat aber Professor Milbradt in einem Punkt Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen durchaus Recht: Wir haben derzeit bei der Abwicklung unserer Fraktion, dass wir die Einheit auch in der Koali- der GA Probleme. Da kneift es und daran müssen wir ar- tion leben und zusammenhalten. Mit Mut und Zuver- beiten. Es ist das System der GA, dass die Mittel für die sicht, nicht mit Ihren Jeremiaden, werden wir es schaf- Zukunft gebunden werden und die Barmittel in jedem fen. Jahr ausgezahlt werden. Im Zuge des Koch/Steinbrück- Konzepts und auch anderer Dinge gibt es aber im Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hältnis zu den Barmitteln Probleme. Es wäre falsch, das DIE GRÜNEN) 10072 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) Jetzt müssen nur noch alle wissen, was eine Jeremiade gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- ist. – Damit sind wir am Ende der Rednerliste. kommen vom 8. Juli 2003 zwischen der Regie- rung der Bundesrepublik Deutschland und Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der mazedonischen Regierung über soziale Drucksache 15/3047 an die in der Tagesordnung aufge- Sicherheit führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung – Drucksache 15/3172 – so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurf des Bundesrates zur Änderung des Bundesnatur- schutzgesetzes auf Drucksache 15/776. Der Ausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit emp- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem fiehlt auf Drucksache 15/2956, den Gesetzentwurf abzu- Übereinkommen vom 14. Oktober 2003 über lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- die Beteiligung der Tschechischen Republik, stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt der Republik Estland, der Republik Zypern, dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in der Republik Lettland, der Republik Litauen, zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/ der Republik Ungarn, der Republik Malta, Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU der Republik Polen, der Republik Slowenien abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Ge- und der Slowakischen Republik am Europäi- schäftsordnung die weitere Beratung. schen Wirtschaftsraum Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen – Drucksache 15/3173 – auf den Drucksachen 15/3201, 15/3202 und 15/3203 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Finanzausschuss Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Wir kommen zu den Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell ist vereinbart, g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- den Tagesordnungspunkt 26 a von der Tagesordnung ab- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem zusetzen. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Fakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 zum (B) Dann ist so beschlossen. Übereinkommen über die Rechte des Kindes (D) betreffend die Beteiligung von Kindern an be- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 26 b bis 26 g waffneten Konflikten sowie die Zusatzpunkte 6 a bis 6 g auf: – Drucksache 15/3176 – 26 b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Sozialgerichtsgesetzes Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss – Drucksache 15/2722 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Rechtsausschuss ZP 6a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Bundesnotarordnung Änderung des Futtermittelgesetzes – Drucksache 15/3147 – – Drucksache 15/3170 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 7. April 2003 zwischen der Re- kommen vom 14. Mai 2003 zwischen der Bun- gierung der Bundesrepublik Deutschland und desrepublik Deutschland und der Republik der Regierung der Tunesischen Republik über Polen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen Straftaten von erheblicher Bedeutung und vom Vermögen – Drucksache 15/3177 – – Drucksache 15/3171 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Finanzausschuss Rechtsausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10073

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Technikfolgenabschätzung (C) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Haushaltsausschuss brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde- g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- rung von Wagniskapital gierung – Drucksache 15/3189 – Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen Überweisungsvorschlag: Post AG zur Erbringung bestimmter Post- Finanzausschuss (f) dienstleistungen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/3186 – d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Überweisungsvorschlag: Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Den Tourismus stärken – Chancen der EU-Er- Landwirtschaft weiterung nutzen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse – Drucksache 15/3192 – zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/3176 Überweisungsvorschlag: – Tagesordnungspunkt 26 g – soll zusätzlich an den Aus- Ausschuss für Tourismus (f) schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie Auswärtiger Ausschuss Innenausschus an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Rechtsausschuss Hilfe überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan- Finanzausschuss den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit beschlossen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 27 a Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bis 27 l sowie Zusatzpunkt 7. Es handelt sich um die Be- Ausschuss für Bildung, Forschung und schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- Technikfolgenabschätzung che vorgesehen ist. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Tagesordnungspunkt 27 a: e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Lösekrug-Möller, Annette Faße, Brunhilde Irber, gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (B) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zur Regelung von Rechtsfragen hinsichtlich (D) sowie der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlin- der Rechtsstellung von Angehörigen der Bun- burg), Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck deswehr bei Kooperationen zwischen der Bun- (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion deswehr und Wirtschaftsunternehmen sowie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrecht- licher Vorschriften Internationale Richtlinien für biologische Viel- falt und Tourismusentwicklung zügig umset- – Drucksache 15/2944 – zen (Erste Beratung 105. Sitzung) – Drucksache 15/3219 – Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi- Überweisungsvorschlag: gungsausschusses (11. Ausschuss) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und – Drucksache 15/3124 – Entwicklung Ausschuss für Tourismus Berichterstattung: f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Abgeordnete Rolf Kramer Niebel, Rainer Brüderle, Daniel Bahr (Münster), Thomas Kossendey weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungs- Verschiebung des Zeitpunktes für das In- ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Kraft-Treten des Vierten Gesetzes für mo- Drucksache 15/3124, den Gesetzentwurf in der Aus- derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die (SGB II) auf den 1. Januar 2006 dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen – Drucksache 15/3105 – wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Überweisungsvorschlag: Beratung einstimmig angenommen worden. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss Dritte Beratung Rechtsausschuss Finanzausschuss und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wenn Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Sie zustimmen wollen. – Stimmt jemand dagegen? – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Ausschuss für Bildung, Forschung und Lesung einstimmig angenommen worden. 10074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Tagesordnungspunkt 27 b: Tagesordnungspunkt 27 d: (C) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom zur Änderung von Vorschriften über die Ent- 9. September 2002 über die Vorrechte und Im- schädigung für Ölverschmutzungsschäden munitäten des Internationalen Strafgerichts- durch Seeschiffe hofs – Drucksache 15/2949 – – Drucksache 15/2723 – (Erste Beratung 108. Sitzung) (Erste Beratung 105. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- gen Ausschusses (3. Ausschuss) schusses (6. Ausschuss) – Drucksache 15/3217 – – Drucksache 15/3220 – Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Christoph Zöpel Abgeordnete Dirk Manzewski Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Günter Krings Dr. Ludger Volmer Jerzy Montag Harald Leibrecht Rainer Funke Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus- Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss schuss empfiehlt auf Drucksache 15/3217, den Gesetz- empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- entwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- che 15/3220, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer sung anzunehmen. Ich bitte Sie um das Handzeichen, stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Auch dieser wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Gibt Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden. es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Tagesordnungspunkt 27 c: wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom- men worden. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Dritte Beratung zu dem Protokoll vom 16. Mai 2003 zum Inter- (B) und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn (D) nationalen Übereinkommen von 1992 über die Sie zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Gibt Errichtung eines Internationalen Fonds zur es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Le- Entschädigung für Ölverschmutzungsschäden sung einstimmig angenommen worden. – Drucksache 15/2947 – Tagesordnungspunkt 27 e: (Erste Beratung 108. Sitzung) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz schusses (6. Ausschuss) und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der – Drucksache 15/3215 – Verordnung der Bundesregierung Berichterstattung: Verordnung zur Änderung der Versatzverord- Abgeordnete Dirk Manzewski nung und zur Zweiten Änderung der Deponie- Dr. Günter Krings verordnung Jerzy Montag – Drucksachen 15/2814, 15/2886 Nr. 1, 15/3141 – Rainer Funke Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss Berichterstattung: empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Abgeordnete sache 15/3215, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich Tanja Gönner bitte Sie um das Handzeichen, wenn Sie dem Gesetzent- Dr. Antje Vogel-Sperl wurf zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Birgit Homburger Enthaltungen? – Auch dieser Gesetzentwurf ist damit in Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck- zweiter Beratung angenommen. sache 15/2814 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be- Dritte Beratung schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei wenn Sie bei Ihrem eben geäußerten Abstimmungsver- Enthaltung der FDP angenommen. halten bleiben wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit Wir kommen nun zu den diversen Beschlussempfeh- den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. lungen des Petitionsausschusses. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10075

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Tagesordnungspunkt 27 f: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- (C) tungen? – Sammelübersicht 122 ist mit den Stimmen der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stim- ausschusses (2. Ausschuss) men der CDU/CSU und der FDP angenommen. Sammelübersicht 117 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 27 l: – Drucksache 15/3089 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ausschusses (2. Ausschuss) tungen? – Sammelübersicht 117 ist einstimmig ange- Sammelübersicht 123 zu Petitionen nommen worden. – Drucksache 15/3095 – Tagesordnungspunkt 27 g: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- tungen? – Sammelübersicht 123 ist angenommen worden, ausschusses (2. Ausschuss) diesmal mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/ Sammelübersicht 118 zu Petitionen Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/ CSU. – Drucksache 15/3090 – Wir kommen zu Zusatzpunkt 7: Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Auch Sammelübersicht 118 ist einstimmig ange- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, nommen worden. der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Tagesordnungspunkt 27 h: Den Rechtsweg in der Regulierung des Tele- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- kommunikationsmarktes ändern ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 15/3218 – Sammelübersicht 119 zu Petitionen Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – – Drucksache 15/3091 – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig angenom- men worden. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Sammelübersicht 119 ist mit den Stimmen der Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und b sowie Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- Zusatzpunkte 8 und 9 auf: (B) tionsfraktionen angenommen worden. (D) 6. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 27 i: richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheitspräsenz im Ko- Sammelübersicht 120 zu Petitionen sovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfel- – Drucksache 15/3092 – des für die Flüchtlingsrückkehr und zur mili- tärischen Absicherung der Friedensregelung Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- für das Kosovo auf der Grundlage der Resolu- tungen? – Sammelübersicht 120 ist mit den Stimmen der tion 1244 (1999) des Sicherheitsrats der Ver- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU einten Nationen vom 10. Juni 1999 und des und FDP angenommen worden. Militärisch-Technischen Abkommens zwi- Tagesordnungspunkt 27 j: schen der Internationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesre- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- publik Jugoslawien und der Republik Serbien ausschusses (2. Ausschuss) vom 9. Juni 1999 Sammelübersicht 121 zu Petitionen – Drucksachen 15/3175, 15/3235 – – Drucksache 15/3093 – Berichterstattung: Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen oder Ent- Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch) haltungen? – Sammelübersicht 121 ist mit den Stimmen Dr. Friedbert Pflüger des ganzen Hauses angenommen worden. Dr. Ludger Volmer Dr. Werner Hoyer Tagesordnungspunkt 27 k: Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- gemäß § 96 der Geschäftsordnung ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 15/3236 – Sammelübersicht 122 zu Petitionen Berichterstattung: – Drucksache 15/3094 – Abgeordnete Lothar Mark 10076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Es ist unfair gegenüber unseren Soldaten, die im (C) Dietrich Austermann Kosovo weiß Gott einen schweren Dienst leisten. Ich Antje Hermenau danke ausdrücklich allen Medien, die sich an dieser Jürgen Koppelin Kampagne nicht beteiligt oder sie richtig gestellt haben. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Daniel Bahr GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Allerdings kann ich mir eine Bemerkung gegenüber der FDP einer Kollegin aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Status des Kosovo als EU-Treuhandgebiet nicht ersparen. Ich meine die Kollegin Oßwald, die mir persönlich nicht bekannt ist und die offenbar auch nichts – Drucksache 15/2860 – mit Verteidigungspolitik zu tun hat. In der heutigen Aus- Überweisungsvorschlag: gabe der „FAZ“ heißt es dazu: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Ohne nähere Angaben zu dem Fall machen zu kön- Verteidigungsausschuss nen, äußerte sich die Bundestagsabgeordnete Oßwald Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (CSU) „zutiefst entsetzt und schockiert über das un- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung menschliche Verhalten deutscher Soldaten“. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss (Zurufe von der SPD: Unglaublich!) ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Die Folterbilder – die ihr nach Angaben ihres Büros Erler, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Rainer aber nicht vorlagen – seien eine „Kriegserklärung Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion an die Grundwerte der Demokratie“. der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Das ist eine Unverschämtheit. Sie sollte sich bei den Sol- Nachtwei, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck datinnen und Soldaten entschuldigen. (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie des Abg. Ernst- Fortsetzung und Anpassung der Arbeit der In- Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU]) ternationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo Ich möchte noch etwas zur Sache sagen. Es hat am – Drucksache 15/3204 – Dienstag einen Anruf im Ministerium gegeben, in dem (B) ZP 9Beratung des Antrags der Abgeordneten der Anrufer behauptete, er habe Bilder, die folternde (D) Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck, deutsche Soldaten zeigten. Die zweite Version war, er Christian Schmidt (Fürth), weiterer Abgeordneter kenne jemanden, der solche Bilder habe. Die dritte Ver- und der Fraktion der CDU/CSU sion war, ihm seien Bilder per E-Mails zugegangen, die er aber für eine Fälschung halte. Aufgefordert, Der Kosovopolitik eine Perspektive geben diese E-Mails dem Führungsstab des Heeres zur Verfü- gung zu stellen, hat er sich nun eingelassen, er habe – Drucksache 15/3188 – diese E-Mails gelöscht. Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- (Zuruf von der SPD: Unverschämt!) schusses werden wir später namentlich abstimmen. Das ist die Basis, auf der diese ungeheuerlichen Vor- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die würfe erhoben werden. Dennoch habe ich nach dem ers- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich ten Anruf angeordnet, dass noch einmal alle Vorgesetz- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ten der betreffenden Zeit befragt werden. Diese Prüfung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst hat bis zur Stunde nichts dergleichen ergeben und ich bin der Herr Bundesminister der Verteidigung, Peter Struck. sicher, dass sie auch nichts ergeben wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Herr Kollege Schmidt, ich brauche auch nicht Ihre möchte zunächst zu einem aktuellen Vorgang im Zu- Belehrung, wie ich zu verfahren habe, zumal dann nicht, sammenhang mit der Berichterstattung in der heutigen wenn ich Ihnen gestern in der Obleuterunde über diesen Ausgabe einer großen Boulevardzeitung Stellung neh- Vorfall berichtet habe und Ihnen gesagt habe, was ich men. Wenn eine große Boulevardzeitung über Bilder veranlasst habe. folternder deutscher Soldaten berichtet, die sie nicht kennt, die ihr nicht vorliegen und die es nach allem, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ was unsere Überprüfungen bis zur Stunde ergeben ha- DIE GRÜNEN – Christian Schmidt [Fürth] ben, nicht gibt, dann entlarvt das diesen angeblichen [CDU/CSU]: Ich habe Sie nicht belehrt! Mäßi- Enthüllungsjournalismus. gen Sie sich!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE So viel zu einer Berichterstattung über nicht vorhan- GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) dene Bilder. Im Interesse unserer deutschen Soldatinnen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10077

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) und Soldaten sage ich: Sie haben es nicht verdient, in auch zwingend notwendig, die richtigen Schlussfolge- (C) dieser Weise diskreditiert zu werden. rungen für die Bundeswehr zu ziehen. Wir sind mit rund 3 900 Soldatinnen und Soldaten der größte Truppenstel- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ler im Kosovo und wir haben dementsprechend eine be- GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- sondere Verantwortung. ten der CDU/CSU) Zunächst möchte ich feststellen: Durch die rasche Nun zum Thema Kosovo und zur Fortsetzung des Truppenverstärkung im März mit über 2 000 Soldaten Mandates. Das Kosovo ist, wie wir alle Mitte März die- aufseiten von KFOR, darunter 600 Soldaten der Bundes- ses Jahres sehen konnten, noch sehr weit von einer sich wehr aus Hagenow, ist es gelungen, die Situation zu be- selbst tragenden Stabilität entfernt. Eine weitere militäri- ruhigen. Auch im Hinblick auf Presseveröffentlichungen sche Unterstützung der politischen Bemühungen um will ich hier noch einmal ausdrücklich sagen: Vorwürfe, Frieden und gesellschaftliche Normalisierung ist unver- die Bundeswehr habe die internationale Polizei im Stich zichtbar. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass gelassen, sind nachweislich falsch und eine Herabset- das Kosovo ein failed state und damit zum Ausgangs- zung der Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten. punkt organisierter Kriminalität und regionaler Destabi- lisierung wird. Es gibt zur konsequenten Unterstützung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Kosovo sowie des gesamten Balkans auf dem Weg DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zurück nach Europa keine Alternative. Es bleibt – in an- CDU/CSU und der FDP) deren Worten – eine politische Gestaltungsaufgabe von Unsere Soldatinnen und Soldaten haben Menschenle- historischer Dimension, der sich die internationale Ge- ben gerettet in der Stadt Prizren, und zwar in der Kirche meinschaft und gerade wir Europäer uns weiterhin stel- und im Kloster. Es ist uns nicht gelungen, das Verbren- len müssen. nen der kirchlichen Gebäude zu verhindern. Aber es war Die Gesamtbilanz der vergangenen fünf Jahre im Ko- wichtig, dass wir Menschenleben gerettet haben. sovo ist allerdings überwiegend positiv. Das dürfen wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des trotz der Ereignisse im März dieses Jahres nicht verges- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ sen. Der größte Teil der Flüchtlinge ist zurückgekehrt. CSU und der FDP) Verwaltungsstrukturen wurden aufgebaut und Wahlen werden durchgeführt. Allerdings ist das Risiko einer Es- Die meisten Soldaten leisten einen hervorragenden kalation im Kosovo nach wie vor gegeben. Dadurch Dienst. Es ist ihrer Professionalität und Besonnenheit zu bleibt die weitere gesellschaftliche und politische Ent- verdanken, dass die fragile Stabilität dort überhaupt Be- wicklung massiv gefährdet. Nährboden für Gewalt sind stand hat. Ich bin stolz auf das, was die Soldaten im (B) die nach wie vor unbefriedigenden wirtschaftlichen Be- Dienst für den Frieden im Kosovo tun. Auch der Deut- (D) dingungen, hohe Arbeitslosigkeit sowie insbesondere sche Bundestag kann das sein. die fortbestehenden interethnischen Spannungen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Unruhen im März haben teilweise Zweifel ge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der weckt, ob der aktuell verfolgte politische Ansatz, wie er CDU/CSU und der FDP) in der VN-Sicherheitsresolution 1244 festgeschrieben Wir müssen trotzdem prüfen, was militärisch erfor- ist, weiterhin richtig ist. Er lässt den künftigen Status des derlich ist. Klar ist, dass die Aufklärung durch Nachrich- Kosovo unter Betonung der territorialen Integrität Jugos- tendienste nicht funktioniert hat. Alle wurden durch den lawiens bewusst offen, definiert aber die inhaltlichen Vo- Umfang der ausgebrochenen Gewalttaten überrascht, raussetzungen und Standards für eine mögliche spätere nicht nur die deutschen Soldaten, sondern auch die Part- Entscheidung über den endgültigen Status. Ich möchte nernationen bei KFOR. Dieser Mangel muss behoben betonen: Die Erfüllung gewisser demokratischer und werden. rechtsstaatlicher Standards muss Voraussetzung für die Eröffnung der für das Jahr 2005 vorgesehenen Statusver- Klar ist auch, dass unseren Soldaten Eskalationsein- handlungen bleiben. Darin sind sich die Vereinten Natio- dämmungsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle des nen, die NATO und die Europäische Union einig. Schusswaffengebrauchs fehlen. Es ist für die Soldaten ein nicht hinnehmbarer Umstand, dass die einzige Mög- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lichkeit, bei einer Unruhe tätig zu werden, die Abgabe DIE GRÜNEN) von Warnschüssen in die Luft ist, worauf die Demon- KFOR, die Kosovo-Forces, sind integraler Teil eines stranten mit Beifall reagieren. Damit sind die Möglich- langfristig angelegten Konsolidierungskurses für das keiten der Bundeswehr erschöpft. Das heißt, die Ein- Kosovo unter Führung der Vereinten Nationen. Die dämmung ziviler Unruhen bleibt natürlich vordringlich KFOR-Kräfte sind unverzichtbar zur Gewährleistung eine Polizeiaufgabe; aber KFOR kann subsidiär gefor- eines sicheren Umfeldes und zur Unterstützung der im dert sein, um Demonstranten auf Distanz zu halten und Kosovo tätigen internationalen Organisationen. Das gilt Unruhen zu kontrollieren. auch im Hinblick auf die im Oktober geplanten Wahlen. Ich bin der Meinung – das will ich ausdrücklich beto- Aus den Unruhen im März müssen aber Konsequen- nen –, dass der Einsatz von nicht letalen Wirkmitteln in zen gezogen werden, national und international. Die Zu- manchen Situationen unerlässlich erscheint, um massive sammenarbeit zwischen den zivil Handelnden und den zivile Unruhen kontrollieren zu können, ohne den militärisch Handelnden muss verbessert werden. Es ist Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verletzen. Ich bin 10078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) deshalb bestrebt, in Abstimmung mit den anderen Res- wenn er sie denn hat, sofort an seine Vorgesetzten zu (C) sorts – die Federführung liegt beim Auswärtigen Amt – melden. Er wird keine gehabt haben und daran wird es die rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz von sol- scheitern. chen Mitteln, also von Reizgasen, durch die Bundeswehr So wie ich das sehe, ist das ganze Haus insofern einig. zu schaffen. Wenn nun jemand einer falschen Information oder einer (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des falschen Interpretation aufsitzt, dann sollten wir das BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des nicht weiter vertiefen. Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP]) (Widerspruch bei der SPD) Ich habe darüber hinaus angeordnet, die Anzahl der – Meine Kolleginnen und Kollegen, Sie alle sind lange Ausstattungssätze für riot control – Unruhekontrolle –, genug in diesem Hause, um zu wissen, wie jemand, der also Schild, Stock, Helm, Körperschutzausstattung, im Umgang mit Medien vielleicht noch nicht die ganz Flammen hemmender Schutzanzug, zu erhöhen, sodass große Erfahrung hat – – dann alle operativen Einsatzkräfte der Bundeswehr im Kosovo damit ausgestattet sind. (Ute Kumpf [SPD]: Das kann man lernen!) Abschließend möchte ich betonen: Die Präsenz von – Ja. Also: Ende! KFOR ist unabdingbar. Ich bedanke mich bei den Frak- tionen des Deutschen Bundestages, dass sie offenbar Um eines möchte ich Sie doch bitten, nämlich dass einen fraktionsübergreifenden Beschluss fassen. Darauf Sie von Ihrem Versuch ablassen, einen parteipolitischen haben die Soldatinnen und Soldaten einen Anspruch. Streit in diese Frage hineinzubringen, obwohl Sie doch daran arbeiten sollten, dass das gesamte deutsche Parla- Ich danke Ihnen. ment hinter den Soldaten steht, die im Kosovo einen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schweren Dienst leisten. Sie sollten Ihre Taktik ändern. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Was Sie hier versuchen, ist unwürdig. CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: In einem hat der Bundesminister natürlich – ich sage: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian natürlich – Recht. Es gibt keine Hasen auf dem Amsel- Schmidt. feld, die Bundeswehruniform tragen. Es gibt Soldaten, die auf dem Amselfeld und im Kosovo ihren Dienst tun Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): (B) und die sich nach fünf Jahren da und dort fragen: Wie (D) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und geht es voran? Was passiert jetzt eigentlich? Was ist un- Herren! Herr Bundesminister, die Opposition erteilt Ih- ser Dienst? nen keine Belehrungen – ab und zu ist es vielleicht not- Dass die schrecklichen Ereignisse vom 17./18. März wendig, dass die Opposition der Regierung Belehrungen auch dazu führen müssen, den Kosovo in den Mittel- erteilt –; allerdings bitte ich Sie darum, das umgekehrt punkt der außenpolitischen und unserer parlamentari- auch nicht zu tun, vor allem bei einem so wichtigen schen Befassung zu stellen, ist wohl wahr. Es ist ein brü- Thema. chiger Friede zwischen den Ethnien. Es ist eigentlich nur Bei diesen Nachrichten, die ich für falsch halte, für ein oberflächlicher Friede. Mehr wird KFOR auch nicht die es meines Erachtens keinen Grund gibt und die wohl, leisten können. Man wird fragen müssen, ob die Ausstat- aus welchen interessierten Kreisen auch immer, zu einer tung in Ordnung war, ob die Ausrichtung in Ordnung Verleumdung der Bundeswehr beitragen sollen, muss war und ob die Ausbildung ausreichend war. Der Bun- man eines schon erwarten, nämlich Aufklärung. Eigent- desminister hat einiges dazu gesagt. Wir nehmen gern lich wollte ich Ihnen dafür danken, dass Sie damit be- zur Kenntnis, dass das Ausführungsgesetz zum Chemie- gonnen haben, die Dinge wirklich aufzuklären. Das ist waffenübereinkommen nicht die Notwendigkeit betrifft, wichtig, gerade für die Bundeswehr. An der Bundeswehr Tränengas einzusetzen, um Abstand zu halten. darf kein Makel bleiben. Es wird kein Makel an ihr blei- Die Frage, die uns alle bewegt, ist: Wie kann es sein, ben. Die Fürsorgepflicht von uns allen und von Ihnen, dass es in einem so gut überwachten und so stark mit Herr Bundesminister der Verteidigung, muss dazu füh- NATO-Soldaten besetzten Landstrich gelingt – offen- ren – das muss ebenso klar sein –, dass diejenigen, die sichtlich über Handys, über die sehr viele in der männli- solche Dinge bewusst in die Welt setzen, zur Rechen- chen Bevölkerung dort unten verfügen – einen im An- schaft gezogen werden. satz offensichtlich genau vorbereiteten Plan zu (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- entwickeln, ohne dass dieser aufgedeckt wird? NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Soldaten können – so sagt das der ehemalige Verteidi- Ich frage mich schon, wie das sein kann. Man be- gungsminister Volker Rühe immer – für die Politik Zeit kommt Informationen, nach denen es sich bei diesem kaufen; sie können nicht das Problem lösen. Je länger Anrufer um einen ehemaligen Bundeswehrsoldaten han- die Zeit ist, die die Politik braucht, um ein Problem zu deln soll, der fünf Jahre lang irgendwelche Bilder ir- lösen oder zumindest zu mildern, umso schwieriger wird gendwo gespeichert hat. Wenn ich mich recht entsinne, die Rolle der Soldaten. An diesem Punkt stehen wir seit ist ein Soldat dazu verpflichtet, solche Informationen, längerem. Soldaten haben einen Anspruch darauf, zu er- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10079

Christian Schmidt (Fürth) (A) fahren, was ihr Auftrag ist und dass ihr Auftrag sinnvoll werden sowie rechtliche Handhaben zu erhalten, mit de- (C) ist. Da ist die Politik gefragt, nicht das Militär. Ich will nen sie ihrem Auftrag nachkommen kann. das ganz ausdrücklich sagen. Hier liegt doch offensicht- Sie hat aber auch einen Anspruch darauf, dass wir lich das Problem im Zusammenhang mit dem Kosovo- nicht im Geiste auf das zehnjährige Jubiläum der Prä- Einsatz. Wir müssen verhindern, dass die Politik hier in senz der Bundeswehr im Kosovo hinarbeiten. Vielmehr eine Sackgasse hineinfährt. müssen wir und die Bundesregierung alles tun, damit die Standards vor Status – dieses Prinzip, das UNMIK, militärische Präsenz baldmöglichst beendet werden kann die zivile Administration der Vereinten Nationen, entwi- und es zu einer Konstituierung von Zivilstaatlichkeit – in ckelt und zum Teil umgesetzt hat, führt leider dazu, dass welchem Rahmen auch immer – von Wirtschafts- und zum Beispiel die Privatisierung von Staatsbetrieben, die Sozialstrukturen kommt, die zukunftsträchtig sind. Hier für die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landstrichs liegt das eigentliche Problem. wichtig ist, so lange nicht stattfinden kann, wie die völ- Ich bedanke mich. kerrechtliche Statusfrage nicht geklärt ist. Sind diese Ge- biete Teil Serbien-Montenegros, sind sie autonom oder (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind sie unabhängig? Ich weiß sehr wohl, dass es neten der FDP) schwierig ist, die Resolution 1244 weiterzuentwickeln. Dazu braucht man sehr viele Mitstreiter, auch solche, die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: in Moskau und in Belgrad sitzen. Ich weiß auch, dass Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Joschka sich die serbische Haltung nicht gerade günstig entwi- Fischer. ckelt. Ich kann nur hoffen, dass die Wahlen in Belgrad nicht dazu führen, dass noch extremere nationalistische Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Positionen im Präsidentenamt Fuß fassen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich bei allen Fraktionen bedanken, die dem Trotzdem sind wir an einem Scheideweg angelangt Antrag der Bundesregierung zustimmen werden. Bei den und müssen von der Politik verlangen – das heißt von zuständigen Ausschüssen möchte ich mich für die faire der internationalen Ebene, aber auch von Ihnen, Herr und intensive Erörterung bedanken, die wir im Zusam- Bundesaußenminister, und von der Bundesregierung –, menhang mit den Anträgen hatten. dass sie das bestehende Konzept fortentwickelt. Über wirtschaftliche, soziale und, wenn Sie so wollen, militä- Ich kann nur nochmals unterstreichen, dass die Präsenz rische Entwicklung muss dazu beigetragen werden, dass von KFOR und damit auch der deutschen Soldaten vor dieser Landstrich, der mit hehren Zielen und großem Ort unverzichtbar ist. Ich warne aber aus Ehrlichkeits- (B) Aufwand befriedet werden sollte, auch wirklich befrie- gründen davor, Kollege Schmidt, hier mit Zeithorizonten (D) det wird. Dazu ist natürlich die Beteiligung der Betroffe- zu spielen – sosehr ich das verstehe –, deren Einforde- nen selbst notwendig. rung angesichts der Komplexität der Problematik, auch und gerade im Kosovo politisch belastbare, sich selbst Ich möchte bei der Gelegenheit bei allem Respekt vor tragende Lösungen zu erreichen, schlicht und einfach den wunderbaren Leistungen, die Bundeswehrsoldaten nicht seriös ist. Das wissen Sie auch. Ich finde es über- dort beispielsweise bei CIMIC, der zivil-militärischen haupt nicht kritisierenswert, dass wir alles tun, um die Zusammenarbeit, erbringen, schon fragen, ob es der Dauer der Präsenz unserer Soldaten im Kosovo mög- Sinn des Bundeswehreinsatzes sein kann, Infrastruktur lichst kurz zu halten; aber angesichts der Problematik, und Gebäude, die von anderen zerstört oder niederge- die ich Ihnen gleich erläutern werde, sind kurze Fristen brannt wurden, wieder aufzubauen. Wir müssen uns fra- meines Erachtens irreal. Sollten sie sich dennoch als real gen, wie wir es schaffen können, dass sich die Bevölke- erweisen, wäre die Bundesregierung sehr froh; denn das rung vor Ort selbst verantwortlich fühlt, statt die würde bedeuten, dass in dieser Region sehr schnell eine Ersatzhandlungen durch KFOR- bzw. NATO-Truppen sich selbst tragende, politisch stabile Situation entstünde, ebenso zu beklatschen wie das Abgeben von Warnschüs- was wir uns alle wünschen würden. sen. Sie haben ja Ihren Eindruck beschrieben. So steht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch beim Straßenbau der Pioniere der eine oder andere und bei der SPD) am Rande und klatscht Beifall. Es muss ihm gesagt wer- den: Du selbst bist für dein Land verantwortlich. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nachdem das multiethnische Konzept ein Stück weit Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des gescheitert ist, müssen wir uns fragen, ob hier nicht ein Kollegen Koppelin? anderer Ansatz nötig ist als der jetzige, der schon schwer genug umzusetzen ist. Ist es also notwendig, serbische Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Enklaven im kosovarischen Gebiet zu sichern und nach Na gut. und nach auf eine Zusammenlegung dieser zu drängen? Solche Fragen kann die Bundeswehr nicht beantworten. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Bundeswehr hat einen Anspruch darauf, dass ihre NEN und bei der SPD) Tätigkeit, die sie dort schon seit fünf Jahren ausübt, ge- würdigt wird. Das tun wir. Sie hat auch einen Anspruch Jürgen Koppelin (FDP): darauf, entsprechend ausgerüstet und ausgestattet zu Vielen Dank, Herr Minister, für Ihre Großzügigkeit. 10080 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Jürgen Koppelin (A) Darf ich Sie fragen, ob Sie nicht bei Ihrer Rede 1999 Balkans Teil des europäischen Integrationsprozesses (C) selber mit solchen Zeitfenstern gespielt haben? Wenn wird; denn ansonsten wird wieder versucht werden, die Sie die Rede nachlesen würden, würden Sie genau das Grenzen entlang von Nationalismus und territorialen finden, was Sie jetzt bei anderen kritisieren. Ansprüchen durch furchtbare Gewalttaten mit der Waffe zu ziehen. Das halte ich im 21. Jahrhundert für inakzep- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: tabel. Na gut, ich werde sie nachlesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und bei der SPD) Unsere Soldaten leisten in dieser Region zusammen mit anderen meines Erachtens eine unverzichtbare Ar- – Was soll ich dazu jetzt sagen? Ich werde sie nachlesen; beit. Herr Kollege Schmidt, Sie haben völlig Recht: Die das verspreche ich Ihnen. Soldaten haben einen Anspruch auf eine politische Per- Aber da Sie 1999 ansprechen, Kollege Koppelin: Ich spektive. Die Ehrlichkeit gebietet aber zu sagen, dass es habe, ehrlich gesagt, die Frage nicht verstanden; in dieser Region eine langfristige Perspektive ist. Ich füge hinzu: leider. Denn um einen Konsens herzustellen, (Lachen bei der CDU/CSU) brauchen wir – ich verstehe die Forderung, aber es nützt das muss ich ganz ehrlich bekennen. Das kommt ja vor. nichts, über diese Tatsache hinwegzugehen – die interna- Ich verstehe sie nicht, weil zwischen uns über das, was tionalen und die regionalen Partner. Deswegen führt im ich gerade gesagt habe, überhaupt kein Dissens besteht, Prozess der Standardimplementierung – ob man für Un- zumindest im Auswärtigen Ausschuss nicht. abhängigkeit, Europäisierung oder welchen Status auch immer ist – kein Weg daran vorbei, dass die Bedingun- (Jürgen Koppelin [FDP]: Ich meine Ihre Rede gen im Land dafür geschaffen werden müssen. Ohne die zum Kosovo, die Sie 1999 gehalten haben!) gesellschaftlichen und demokratischen Bedingungen, – Ich glaube, ich habe 1999 nicht nur eine Rede zum Ko- die Achtung der Minderheiten und eine ökonomische sovo gehalten. Entwicklung wird meines Erachtens eine Statusentschei- dung, egal wie sie ausfallen wird, immer auf Sand oder, Mir geht es um etwas anderes, Herr Kollege Koppelin. noch schlimmer, auf Illusionen gebaut sein. Ich bin wirklich bemüht – missverstehen Sie das nicht –, zu verstehen, worauf Sie in diesem Punkt hinauswollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben es doch heute noch immer mit den Auswir- und bei der SPD) kungen des Auseinanderbrechens Jugoslawiens 1991 Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung – das (B) (D) und gewisser politischer Entscheidungen damals zu tun. ist die erste Antwort –, dass wir mit diesem Prozess Gott sei Dank waren wir mit einer Intervention, mit ei- vorankommen. Wir müssen die Verwirklichung der nem militärischen Eingreifen erfolgreich, wobei ich mir Standards auf jeden Fall verbessern. Die Ereignisse vom nicht sicher bin, ob die FDP dem wirklich immer zuge- 17./18. März sind ein schwerer Rückschlag. Man stimmt hat. Zum Beispiel in Mazedonien haben wir über braucht gar nicht darum herumzureden. die militärische und polizeiliche Stabilisierung heute in der Tat – hoffentlich bleibt das so – eine sich selbst tra- Der UN-Sondergesandte Harri Holkeri ist vor weni- gende, stabile Situation erreicht. gen Tagen aus gesundheitlichen Gründen zurückgetre- ten. Wir schulden ihm für seine Arbeit und seinen uner- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müdlichen Einsatz in schwierigen Zeiten großen Dank. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Da gibt es einen engen Zusammenhang mit dem Ko- und bei der SPD) sovo. Die Problematik im Kosovo besteht doch auch in ei- Jetzt muss über seine Nachfolge entschieden werden. ner gewissen Verknotungssituation. Durch das Auseinan- Diese Entscheidung, die vor uns liegt, muss meines Er- derbrechen Jugoslawiens sind eine ganze Fülle von achtens unter dem Gesichtspunkt einer möglichst effek- Stabilisierungsaufgaben entstanden. Es gibt nur eine ein- tiven Verwirklichung der Standards getroffen werden. zige strategische Lösung, die weder zu einem dauerhaften Einfrieren der Konflikte – was meines Erachtens immer Die zweite Antwort. Das Jahr 2004 ist fast zur Hälfte noch die zweitschlimmste Lösung wäre – noch zu einem vorbei. Die Debatten über die Statusfrage haben in den Übereinander-Herfallen – das wäre die schlimmste Lö- internationalen Gremien begonnen. In dieser Frage brau- sung – führt. Die Situation in dieser Region ist auch da- chen wir einen Konsens. Der Dialog zwischen Pristina durch bedingt, dass etwa die Balkankriege von 1912/13 und Belgrad muss Teil der Verwirklichung der Standards durch die großen europäischen Katastrophen eingefroren sein; denn jede Statusfrage bedingt letztendlich die Ein- wurden, auch durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs beziehung der Konfliktparteien am Boden. Das heißt, und die Regierung unter Tito in Jugoslawien. ohne die Mehrheit im Kosovo, also ohne die Kosovaren, wird es nicht gehen. Pristina und auf der anderen Seite Jetzt – man könnte fast sagen, nach einer 80-jährigen Belgrad werden hier von entscheidender Bedeutung Phase des Einfrierens – sind dieselben Konflikte wieder sein. aufgebrochen. Deswegen muss man bei der politischen Lösung die nötige Geduld aufbringen. Das kann nur be- Es wird aber auch darum gehen, einen Konsens im Si- deuten, dass auch die gesamte Region des westlichen cherheitsrat zu erreichen. Das wird nicht auf Zuruf des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10081

Bundesminister Joseph Fischer (A) Deutschen Bundestages geschehen. Es ist kein Geheim- im Kosovo gefunden wird – das bedeutet die Einbezie- (C) nis – auch darauf sollte man einmal hinweisen –, dass hung Serbiens; denn daran lehnt sich die serbische Min- Russland die Entwicklung unter dem Gesichtspunkten derheit im Wesentlichen an –, so lange wird eine starke sieht, welche Konsequenzen sich für die Unruhezonen Sicherheitspräsenz unverzichtbar für eine politische Lö- im Kaukasus ergeben. Dort ist die Situation aufgrund sung sein. Deswegen möchte ich mich im Namen der des Eskalationspotenzials noch dramatischer. Die Status- Bundesregierung nochmals bei allen, die unserem An- frage ist also extrem schwierig zu beantworten. Ich trag zustimmen werden, bedanken. stimme Ihnen aber zu, dass sie beantwortet werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss. Die Antwort wird meines Erachtens aber nur per- und bei der SPD) spektivisch sein. Es wird nicht so sein, dass morgen die Unabhängigkeit ausgerufen wird oder dass das Kosovo unter serbische Kontrolle gerät. Ich glaube, beides wird Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nicht passieren. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Stinner. Wir müssen und werden auf verschiedenen Ebenen Dr. Rainer Stinner (FDP): politisch agieren. Die Bundesregierung hat im Rahmen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und der Kontaktgruppe, der Europäischen Union, der NATO Herren! Auch wir, die FDP-Fraktion, werden heute der und des Sicherheitsrates alles getan und wird weiterhin Verlängerung des KFOR-Mandates zustimmen. Auch alles tun, um diese Perspektive voranzubringen. aus unserer Sicht ist gegenwärtig eine weitere militäri- Ich wiederhole: Die Entwicklung hängt auch von der sche Präsenz im Kosovo unabdingbar. Deshalb stimmen Perspektive der Nachbarstaaten ab. Die Forderung nach wir heute mit dem gesamten übrigen Hause zu. Unabhängigkeit für das Kosovo ist kurzschlüssig. Es (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der stellt sich die Frage, ob diese Unabhängigkeit eine stabi- SPD) lisierende oder eher eine destabilisierende Perspektive für die Region bedeutet. Solange nicht zweifelsfrei aus- Das, was am 17. März dieses Jahres im Kosovo pas- geschlossen werden kann, dass daraus etwa eine Desta- siert ist, bedauern wir sehr stark. Wir bedauern insbeson- bilisierung Mazedoniens hervorgeht, halte ich Überle- dere, dass es deutschen Soldaten nicht gelungen ist, die gungen in dieser Richtung nicht nur für nicht geeignet, Ausschreitungen dort zu verhindern. Wir haben ja insge- sondern sogar auch für gefährlich. Ich bitte alle, die sol- samt vier Regelwerke, die die Arbeit der Soldaten dort che Überlegungen anstellen, sich dieser Konsequenzen bestimmen. Wir haben das UN-Mandat, die Befassung bewusst zu sein. im Bundestag von 1999, die Rules of Engagement der NATO und deutsche Ausführungsbestimmungen, ge- (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nannt: Taschenkarte. Speziell nach den Ereignissen vom und bei der SPD) März dieses Jahres zeigt sich aus unserer Sicht sehr deut- Wir werden meines Erachtens an der qualitativen Sta- lich, dass offensichtlich nur zwischen den ersten drei Re- tusverbesserung nicht vorbeikommen. Die notwendige gelwerken eine Kongruenz besteht. Einschränkungen für Personalentscheidung ist jetzt zu treffen. Wir werden deutsche Soldaten bestehen insofern, als sie teilweise ge- dann zusammen mit den Konfliktparteien am Boden hindert werden, Dinge zu tun, die eigentlich im Rahmen unter Einbeziehung der Interessen von Mazedonien, ihres Auftrages notwendig wären. Bulgarien, Rumänien, Serbien und Albanien einen ent- Ich bitte die Bundesregierung ganz herzlich, im Inte- sprechenden Statusansatz entwickeln müssen. Dies muss resse des Auftrages, aber auch unserer Soldaten für zu- im Rahmen der Kontaktgruppe unter Berücksichtigung sätzliche Klarheit zu sorgen. Es darf nicht passieren, der Frage geschehen, ob auf der Grundlage der UN- dass unsere Soldaten am Pranger stehen, weil eventuell Resolution 1244 ein neuer Konsens erarbeitet werden Ausführungsbestimmungen unterschiedlich interpretiert kann. Ich füge hinzu, dass es sich dabei nicht um eine werden und entsprechende Anregungen nicht gegeben kurzfristige Perspektive handelt. werden können. Deshalb muss hier mehr Klarheit ge- Herr Schmidt, ich versichere Ihnen: Wir wären heil- schaffen werden. froh – das sollte nicht Gegenstand einer parteipolitischen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kontroverse sein –, wenn wir auf einem Weg wie in Ma- der CDU/CSU) zedonien wären. Dort können wir überwiegend zu einer Polizeimission übergehen. Aber ich glaube, das wird im Besonders deutlich wird hier und heute: Das Kosovo Kosovo wesentlich zu früh sein. Ich wäre froh, wenn wir braucht nicht nur eine militärische Präsenz. Das Kosovo wie in Mazedonien sagen könnten: Das Assoziationsab- braucht vor allen Dingen eine politische Perspektive. kommen, das der Stabilisierung dient, ist unter Dach und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Fach; der Weg nach Europa und in die euro-transatlanti- der CDU/CSU) schen Strukturen wird energisch beschritten. Ich muss leider hinzufügen, dass wir noch nicht ganz so weit sind. Uns allen ist klar: Die drei allgemein diskutierten Optio- nen, unmittelbare Unabhängigkeit, Rückkehr zu Serbien Auch wenn es schmerzhaft sein mag: Bis zu einer Än- oder aber Kantonalisierung, was Desintegration bedeu- derung des Bewusstseins und bis – da spielt Belgrad eine tet, sind in Wahrheit keine wirklichen Optionen für entscheidende Rolle – eine neue Form von konstruktiven dieses Land. Die unausgesprochene Option Nummer Beziehungen zwischen der Mehrheit und der Minderheit vier, nämlich „Weiter so wie bisher“, ist nach unserem 10082 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dr. Rainer Stinner (A) Dafürhalten auch keine Option, die dieses Land weiter- wendig und wichtig. Das zweite Signal muss eine (C) bringt und verdient. politische Botschaft sein. Wir müssen deutlich machen, dass Europa treuhänderisch für diese Region tätig wird Deshalb sagen wir: Wir brauchen eine politische Per- und wir dort eine Europäisierung wollen. spektive. Wir brauchen sie jetzt, in diesen Monaten, um klar zu machen, wohin der Weg führen soll. Wir alle wissen, dass militärische Mittel langfristig (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Politik nicht ersetzen können, sie können sie nur ergän- der CDU/CSU) zen. Deshalb bitte ich Sie: Lassen Sie von diesem Tag eine starke Botschaft für das Kosovo und die gesamte Wir als FDP haben diesbezüglich einen eigenständigen Region ausgehen. Antrag mit einer klaren politischen Aussage, mit einer politischen Vision gestellt, nämlich mit einer EU-Treu- Ich danke Ihnen. handschaft für das Kosovo. Das ist ein eindeutiges poli- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tisches und europäisches Signal für diese Region. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Es ist natürlich unbestritten: Standards müssen erweitert Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: und verbessert werden; das ist keine Frage. Unbestritten Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf. ist ebenfalls: Wir müssen mit allen zur Verfügung ste- henden zivilgesellschaftlichen Methoden dafür sorgen, Uta Zapf (SPD): dass im Kosovo ein Zusammenleben zwischen Serben Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! und Kosovaren albanischer Nationalität möglich ist. Wir sind uns in zwei Dingen einig: Erstens, die interna- Aber wir brauchen eine politische Perspektive und die tionalen Sicherheitspräsenzen im Kosovo sind dringend lautet: Europa. erforderlich und, zweitens, die Lage im Kosovo ist nicht Unser Vorschlag hat eine ganze Reihe von konkreten so, wie wir sie uns wünschen. Die Situation ist nicht ru- Vorteilen: hig und stabil, sondern äußerst brüchig; wir sind weit von dem Ziel selbsttragender demokratischer Strukturen Erstens. Wir beweisen damit, dass wir unsere Sonn- und der Gewährleistung eines friedlichen Umfeldes für tagsreden, die sich damit befassen, wie wichtig diese Re- die Menschen entfernt. gion für uns strategisch ist, ernst nehmen. Zweitens. Wir nehmen unsere eigene, selbst gesetzte Wir sind uns darüber hinaus einig, dass die Status- europäische Sicherheitsstrategie ernst, die auch dazu frage gelöst werden muss. Dafür haben wir allerdings (B) (D) Aussagen trifft. keine Lösung anzubieten, die dem dringenden Hand- lungsbedarf entspricht. Deshalb werden wir uns darüber Drittens. Wir zeigen der Welt, dass wir als Europäer noch ein wenig länger unterhalten müssen. Ich denke, Verantwortung für diese europäische Region überneh- das ist wichtig. men. Dieser Vorschlag, Herr Bundesaußenminister Fischer, ist eine komplementäre Strategie zu dem Thes- Vorhin wurde gesagt, dass alle von den Ereignissen saloniki-Programm. Er ergänzt das Thessaloniki-Pro- des 17. und 18. März überrascht waren. Ich wundere gramm für den westlichen Balkan und ist deshalb wich- mich über diese Überraschung. Selbst eine Organisation tig. wie die International Crisis Group hat kurz nach dem 18. März gesagt: Wir waren überrascht. Einen Monat Wir sind der Meinung, dass durch ein gleichmäßiges später hat sie jedoch einen Bericht vorgelegt, der lauter Heranführen der gesamten Region an Europa die noch Indizien für Anspannungen und wachsende Konflikte bestehenden ethnischen, nationalen und religiösen Kon- enthalten hat. flikte zunehmend weniger bedeutsam werden. Das ist unsere Hoffnung. Dass es möglich ist, haben wir übri- Eine Gruppe, die sich Urgent Anthropology nennt gens in Westeuropa gezeigt, das müssen wir auch in – warum sie sich so nennt, weiß ich nicht –, hat vor den Südosteuropa durchsetzen. Unruhen in den schwierigen Gebieten des Kosovo eine Umfrage durchgeführt. Als Ergebnis der Umfrage wurde (Beifall bei der FDP) ein tiefer Hass in der Bevölkerung konstatiert. Wir müs- Nur durch die klare politische Perspektive können In- sen daraus eine Lehre ziehen: Wir müssen ein Frühwarn- vestoren, die bitter nötig sind, gewonnen werden. Last, system aufbauen. Ein solches gibt es zum Beispiel in but not least: Diese Perspektive ist aus unserer Sicht Mazedonien. Das ist eine zivile Ebene, auf der die NGOs auch für Serbien der heute einzig gangbare Weg nach auf der Grundlage ihrer Kontakte versuchen, bestimmte vorn. Entwicklungen sehr schnell zu erkennen. Wir müssen aber natürlich auch entsprechend politisch handeln. Wir wissen, es gibt Widerstände. Bei jeder Neuerung gibt es Widerstände, das ist völlig klar. Aber wir brau- Minister Struck hat gesagt, dass von der militärischen chen hier und heute ein politisches Signal. Setzen wir Seite reagiert wird. Das ist gut, das unterstützen wir. gemeinsam ein zweifaches Signal. Machen wir erstens Bezüglich des Mandats müssen noch einmal die Rules of deutlich, dass der Deutsche Bundestag bereit ist, weiter- Engagement geprüft werden. Wir brauchen darüber hi- hin für militärische Präsenz zu sorgen, indem er Solda- naus natürlich – jetzt bin ich wieder bei den Informatio- ten schickt und finanzielle Mittel einsetzt. Das ist not- nen – eine wesentlich bessere Verknüpfung all derer, die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10083

Uta Zapf (A) Informationen liefern können, um das Frühwarnsystem Probleme schneller zu bewältigen, als die hier gezogene (C) auch nach allen Seiten absichern zu können. Linie das erwarten lässt. Das genügt aber noch nicht, es kann nicht genügen. Herr Stinner, was Sie über das „Nach Europa holen“ Der Grundsatz „Lessons learnt“ besagt mehr. sagen, klingt gut. Es ist schon auf die „Standards before status“-Proble- (Beifall bei der FDP) matik hingewiesen worden. Diese Problematik ist einer Ich klatsche noch nicht, denn der Teufel steckt, wie im- der Gründe dafür, warum es dort zu keiner Konfliktlö- mer, im Detail. Nicht nur zu dem, was Herr Außenminis- sung kommt. ter Fischer in Bezug auf Russland und die Schwierigkei- Das hängt aber auch noch mit anderen Dingen wie ten bei der Veränderung der Sicherheitsratsresolution zum Beispiel der verheerenden wirtschaftlichen Situa- 1244 angedeutet hat, sondern auch zu vielen anderen tion zusammen. Die wirtschaftliche Situation ist in der Fragen müssen an dieser Stelle noch einmal Überlegun- Tat desolat. Innerhalb des Kosovo erfolgt eine Abwan- gen angestellt werden. Der politische Prozess steht in der derung in die Städte. Dort gibt es keine wirtschaftliche Tat auf dem Prüfstand. Wir müssen aber auch ein biss- Entwicklung, sondern eher einen Rückschritt. Aus der chen schneller machen, weil der Balkan brennt. ungelösten Statusfrage folgt zum Beispiel die Unmög- Ich teile im Übrigen nicht ganz die Ansicht von Au- lichkeit, Privatisierungen durchzuführen. Die Privatisie- ßenminister Fischer hinsichtlich der Auswirkungen der rung ist gescheitert. Weil die Statusfrage nicht gelöst ist Unabhängigkeit auf Mazedonien. Ich glaube eher, dass und keine Privatisierung stattfinden kann, gibt es keine Mazedonien sich insbesondere nach den Präsident- Investoren. Das wiederum führt zum Rückgang der schaftswahlen und nachdem sich erwiesen hat, welche Wirtschaft. politische Position die Ahmeti-Partei einnimmt, in ei- nem sehr guten, rationalen Stabilisierungsprozess befin- Das Bruttosozialprodukt im Kosovo besteht zu det. Die Umsetzung der Ohrid-Modelle wird sehr ernst 50 Prozent aus internationaler Hilfe. 30 Prozent werden genommen. Deshalb glaube ich nicht, dass man sich von Auslandsalbanern erwirtschaftet, die wir im Übrigen gern ein Problemkind einhandeln würde oder dass die al- immer wieder abschieben und in ihre Heimat zurück- banischen Gebiete zu Mazedonien streben würden. Al- schicken, obwohl sie zur wirtschaftlichen Stabilisierung lerdings müssen wir natürlich alle Möglichkeiten im des Kosovo beitragen. Auch darüber müssen wir viel- Auge behalten, wo neue Konflikte entstehen könnten. leicht einmal nachdenken. Nur 20 Prozent des Bruttoso- Ich kann hierfür keine Lösung anbieten, glaube aber, zialprodukts werden im Land erwirtschaftet und nur dass auch Ihre Lösung nicht perfekt ist. 4 Prozent der Importe können von der eigenen Wirt- (B) schaft finanziert werden. Das ist eine desolate Situation. Ich finde, wir alle sollten uns in sehr naher Zukunft (D) gemeinsam und ernsthaft mit der Frage beschäftigen, Die Bevölkerung dort ist jung. Die Arbeitslosenquote welche Initiativen von uns bzw. der Bundesrepublik liegt bei 50 Prozent und jedes Jahr drängen 20 000 bis Deutschland ausgehen müssen und können; denn auch 40 000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Das wir könnten den Sicherheitsrat auf die Notwendigkeit Ganze ist also ein Pulverfass, sodass dort hinsichtlich hinweisen, die Resolution 1244 zu verändern. Das heißt, der sozialen und der wirtschaftlichen Entwicklung dass wir die europäische Perspektive nicht aus den Au- schnell etwas geschehen muss. gen lassen, dass wir vielmehr, was die Beteiligung ande- Es gibt einen Verfall bei Bildung und Ausbildung bis rer an diesem Prozess betrifft, die europäische Realität hin zum wachsenden Analphabetentum. Die Internatio- einbeziehen. Europa allein wird ihn wahrscheinlich nicht nal Crisis Group hat in ihrem Bericht geschrieben: Wir schultern können. müssen aufpassen, dass das nicht die Westbank Europas Danke. wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred CDU/CSU) Grund [CDU/CSU]) Wir müssen das ernst nehmen und dürfen die Lösung der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Statusfrage, mit der sich ja alle schon beschäftigt haben, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr zu nicht wieder beiseite schieben. Herr Außenminister, ich Guttenberg. weiß, dass es nicht einfach ist, aber wir müssen diese Statusfrage so schnell wie möglich lösen. Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU): Dazu einige Zitate von Politikern aus Serbien: In dem Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Satz von Herrn Draskovic „Kosovo ist unser Jerusalem“ Herren! Herr Bundesminister Struck, seit eben liegt mir ist eine nationale Verhärtung zu spüren, die einen politi- die Pressemitteilung der Kollegin Oßwald vor, aus der schen Ansatz nur sehr schwer möglich macht. Herr ich Ihnen vorlese: Zivkovic hat vor einigen Monaten vermutet, dass junge Serben bereit seien, für das Kosovo zur Waffe zu grei- Ich bin zutiefst entsetzt und schockiert über die an- fen. Das ist auch ein alarmierendes Signal. Ich würde geblichen Bilder von Folterungen seitens deutscher versuchen, ein solches Signal ernst zu nehmen und die Soldaten im Kosovo. 10084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg (A) Nun lese ich Ihnen das entsprechende Zitat aus der ten Zusammenarbeit aller beteiligten Kräfte. Das haben (C) „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor; denn dort heißt Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, angespro- es, dass sich die Bundestagsabgeordnete Oßwald chen. Sie haben aber nicht gesagt, wie das geschehen soll. Selbstverständlich brauchen wir in Absprache mit zutiefst entsetzt und schockiert über das unmensch- unseren Partnern auch eine Reform und Stärkung des eu- liche Verhalten deutscher Soldaten ropäischen Pfeilers der UNMIK, der bisher nicht der geäußert habe. stärkste war, und eine Beschleunigung der Entschei- dungsprozesse im Kosovo. Herr Bundesminister, das wurde von der „FAZ“ schlechterdings falsch zitiert. Auch ist dem von Christian Schwarz-Schilling entwi- ckelten Ansatz einer integrativen Streitbeilegung in Süd- (Joseph Fischer, Bundesminister: Aha!) osteuropa, der auf lokaler, das heißt gemeindlicher Die Kollegin Oßwald spricht sich schockiert über die an- Ebene ansetzt, durchaus Beachtung zu schenken. geblichen Bilder und nicht über das unmenschliche Ver- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE halten deutscher Soldaten aus. Das ist ein falsches Zitat. GRÜNEN]: Ein sehr guter Ansatz!) Daher darf ich Sie, Herr Bundesminister, bitten, Ihre Äu- ßerungen zurückzunehmen. Herr Bundesaußenminister, machen Sie Ihren Ein- fluss geltend, um der Kontaktgruppe, die Sie benannt ha- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei ben, den Weg zu bereiten. Einer Kontaktgruppe, die über der SPD) den eigentlichen Kontakt hinaus auch konsens- und ko- Der Vollständigkeit halber und um wieder etwas Ruhe ordinierungsfähig ist. Einer Kontaktgruppe, die eben in die Debatte zu bringen, sage ich für die CDU/CSU- auch Russland mit ins Boot nimmt. Sie haben die ent- Bundestagsfraktion, dass auch wir die Verlängerung der sprechenden Anbindungen gelobt, von daher müssen wir Präsenz unserer deutschen Soldaten im Kosovo für un- Russland auch lösungsorientiert beteiligen. verzichtbar halten, allerdings ebenso die jährliche (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h.c. Susanne Überprüfung dieses Mandates, auch um Tendenzen Kastner) entgegenzuwirken, dass wir uns – wie es aus berufenem Munde hieß – möglicherweise erneut fünf Jahre lang im Stichwort: Europäisierung. Natürlich mag es hilfreich Kosovo einlullen lassen. Genau deswegen halten wir sein, sich der Europäisierung anzunehmen. Aber mit der diese Überprüfung für notwendig. Begrifflichkeit allein ist es eben nicht getan. Wir dürfen über die reine Europäisierung hinaus nicht vergessen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass wir im Kosovo auch noch auf andere Partner ange- (B) Wir müssen dem Eindruck entgegenwirken, mit Wor- wiesen sein werden. So schön und gut Europäisierung ist (D) ten wie „Hoffnung“ und anderen Ausdrücken, die hof- – ich glaube, wir können dankbar sein, dass wir weiter- fentlich keine Phrasen sind, die offensichtlichen Dilem- hin Partner auch außerhalb der europäischen Grenzen mata im Kosovo lediglich zu kaschieren. Damit geben haben wie die Vereinigten Staaten, die uns dort unter die wir unseren Soldaten noch keine Perspektive. Herr Bun- Arme greifen und uns bei unserem europäischen Pro- desaußenminister, es ist richtig, dass es wahrscheinlich blem helfen. nicht gelingen wird, kurze Zeiträume anzusetzen. Trotz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dem müssen wir unseren Soldaten eine Perspektive bie- der FDP) ten, damit sie im Kosovo vertrauensvoll arbeiten kön- nen. Wir haben im Vorfeld der Ausschreitungen im März ein eklatantes Versagen der Aufklärung zu beklagen. (Beifall bei der CDU/CSU) Sorgen Sie vonseiten der Bundesregierung mit Ihren Ferner ist es richtig, dass unsere Soldaten dorthin ge- Partnern bitte dafür, dass die Aufklärungskomponente schickt werden, damit es zu einer politischen Lösung hinreichend vernetzt, effizient und letztlich auch entspre- kommt. Aber sie selbst sind nicht die politische Lösung. chend verstärkt wird, An einer solchen politischen Lösung – Kollege Stinner (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hat das angesprochen – müssen wir und muss insbeson- dere die Bundesregierung arbeiten. Das erfordert ein damit solche Dinge nicht mehr vorkommen können. substanzielles Konzept. Das, was wir heute in dieser Herr Bundesaußenminister, setzen Sie Ihr politisches Hinsicht gehört haben, war allerdings reichlich dünn. Gewicht ein, damit wir zu einer gezielten Zusammenar- beit unter Zugrundelegung erfüllbarer Standards kom- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und men und uns letztlich – so wie Sie es richtig geschildert der FDP) haben – der Statusfrage annähern. Wir brauchen ein schlüssiges Konzept, das den gesamten Balkan umfasst. Hier fordere ich die Bundesregierung Herzlichen Dank. auf, sich stärker als bisher für die Entwicklung eines sol- (Beifall bei der CDU/CSU) chen Ansatzes einzusetzen, damit auch hier der Gefahr der Einlullung begegnet werden kann. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Im Hinblick auf die Erfüllung der teilweise bereits ge- Der Herr Verteidigungsminister hat sich zu einer nannten Standards bedarf es einer gezielteren, kohären- Kurzintervention gemeldet. Bitte schön, Herr Minister. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10085

(A) Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: Das 20. Jahrhundert hinterlässt uns als Erbschaft (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich nehme Bezug auf vor allem eine Mahnung: Kriege sind häufig Ursa- den Beitrag des Kollegen Guttenberg. Ich habe aus der chen weiterer Kriege, weil sie tiefe Hassgefühle „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitiert. Das Zitat lau- nähren, Unrechtssituationen schaffen sowie die tete: Sie – Kollegin Oßwald – sei zutiefst entsetzt und Würde und Rechte der Menschen mit Füßen treten. schockiert „über das unmenschliche Verhalten deutscher Sie lösen im Allgemeinen die Probleme nicht, um Soldaten“. Sie haben gerade erklärt, sie habe in ihrer deretwillen sie geführt werden. Daher stellen sie Presseerklärung gesagt, sie sei entsetzt über die angebli- sich, außer dass sie schreckliche Schäden anrichten, chen Folterbilder. auch noch als nutzlos heraus. Zunächst einmal hätte ich erwartet, dass die Kollegin, So weit der Papst. die ja irgendwo hier im Hause sein muss, hierher kommt und selbst klarstellt, dass sie über Bilder redet, die es (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- überhaupt nicht gibt. tionslos]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die PDS im Bundestag findet: Wo der Papst Recht DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Und hat, da hat er Recht. dass sie sich entschuldigt!) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Das Zweite: Ich kann ja verstehen, dass man als junge tionslos]) Abgeordnete solche Fehler mal macht. Aber es geht hier Das trifft auch mit Blick auf den Kosovokrieg zu. Wir darum, klarzustellen, dass man nicht anfangen kann, waren dagegen und wir bleiben dagegen. über angebliche Bilder, die man selbst nicht gesehen hat, herumzuräsonieren und deutsche Soldaten anzugreifen. Ich möchte Sie daran erinnern: Der im Frühjahr 1999 begonnene Krieg der NATO war ein Angriffskrieg. Er (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wurde unter Bruch des Völkerrechts geführt. Er hat des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dazu beigetragen, dass sich in der Alltagssprache das Darum geht es hier. Sie soll sich entschuldigen; dann ist schlimme Wort vom Kollateralschaden etabliert hat. Pro- die Sache erledigt. bleme gelöst hat dieser Krieg aber nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Für die Bundesrepublik stellte das Kosovomandat DIE GRÜNEN) eine tief greifende Zäsur dar. Erstmals nach 1945 wur- den deutsche Soldaten in einen Krieg geschickt, durch (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Rot-Grün und als Vorboten einer Strategie, die auf welt- (D) weite militärische Einsätze zielt. Das werden wir heute Herr Kollege Guttenberg, bitte. auch im Nachhinein nicht legitimieren.

Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- (CDU/CSU): tionslos]) Herr Bundesminister, ich darf Sie schon bitten, zur Übrigens: Wir werden auch die windigen Wendungen Kenntnis zu nehmen, dass die „Frankfurter Allgemeine nicht vergessen, mit denen der damalige Verteidigungs- Zeitung“ die Kollegin Oßwald falsch zitiert hat. minister Scharping versuchte, den Krieg zu begründen. (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Wer dagegen war, wurde von Bundeskanzler Schröder NIS 90/DIE GRÜNEN – Gert Weisskirchen ganz schnell als „fünfte Kolonne Moskaus“ diffamiert. [Wiesloch] [SPD]: Si tacuisses!) Scharping stolperte derweil, die Probleme auf dem Bal- kan sind allerdings geblieben. Hier handelt es sich um ein falsches Zitat. Die Frau Kol- legin Oßwald hat es – laut ihrem Zitat – konkret offen (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE gelassen. Ich bleibe dabei: So wie Sie es gebracht haben, GRÜNEN]: Auf die Sie offenbar keine Ant- haben auch Sie selbst die Frau Kollegin Oßwald falsch wort haben!) zitiert. Es gibt Parallelen bei den Auslandseinsätzen der (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das Bundeswehr. Auf diese Parallelen möchte ich hinweisen: macht alles nur peinlicher!) Erstens. Der Marschbefehl war sehr schnell erteilt. Meist wird er ebenso flink erweitert und verlängert. Was Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fehlt, ist ein glaubwürdiges Ausstiegsszenario. Ich ver- Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. mute inzwischen, dass es keines gibt. Jedenfalls ist mir keines bekannt. Petra Pau (fraktionslos): (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tionslos]) Zuweilen sind alle Augen auf den Papst gerichtet. Aber die wenigsten Botschaften des Papstes finden Gehör, Die Bundesregierung hat auch heute in dieser Debatte selbst die richtigen nicht. Deshalb möchte ich heute in nicht den Versuch unternommen, ein solches vorzulegen, dieser Debatte Papst Johannes Paul II. zitieren. Er sagte: weder für den Balkan noch für Afghanistan. 10086 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Petra Pau (A) (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Zapf bereits angesprochen – ist ein dramatischer Beweis (C) GRÜNEN]: Erst Stabilisierung, dann Aus- für die Erfolglosigkeit aller bisherigen Bemühungen. stieg!) Meine Damen und Herren, die unklaren politischen Zweitens. Die nutzlosen und, wie der Papst meint, Vorgaben behindern die Verbesserung der ökonomi- schädlichen Kriege verschlingen horrende Summen. Al- schen Situation in mehrfacher Hinsicht. Wie der Kol- lein der NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien verschlang lege Christian Schmidt sagt – Kollege Stinner und Uta 15 Milliarden Euro. Er richtete Schäden von etwa Zapf haben sich dem angeschlossen –, ist es nicht nur 50 Milliarden Euro an. Die Stationierung der Truppen im eine Frage des allgemeinen Status. Hinzu kommt, dass Kosovo hat bislang 30 bis 35 Milliarden Euro gekostet. sich ausländische Investoren rar machen, solange sie ein Das macht zusammen insgesamt 100 Milliarden Euro. staatliches Provisorium vor Augen haben. Sagen Sie mir, wann und wo auf dem Balkan 100 Milliarden Euro in zivile und humanitäre Projekte Die Privatisierung der so genannten volkseigenen Be- investiert wurden! triebe kann nicht anlaufen, solange eine gesetzliche Re- gelung der Ersatzansprüche von Alteigentümern aus- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- steht. Erschwerend kommt noch hinzu, dass sich die tionslos]) UNMIK hat einfallen lassen, dass potenzielle Investoren Sie werden es nicht können, weil das Pendel der aktuel- bei der Übernahme von Unternehmen für die Altschul- len Politik immer mehr zugunsten des Militärs aus- den haften müssen. Wer will bei diesem Zustand über- schlägt. haupt noch investieren? Ohne Eigenstaatlichkeit kann das Kosovo außerdem keine Kredite aufnehmen, um In- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- frastrukturen aufzubauen. tionslos]) Aufgrund dessen hat sich im Kosovo eine allenfalls Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: labile Dienstleistungsgesellschaft entwickelt, die ohne Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege die hohe internationale Personalpräsenz nicht lebensfä- Siegfried Helias, CDU/CSU-Fraktion. hig wäre. Produzierendes Gewerbe gibt es aufgrund der beschriebenen Lage so gut wie gar nicht. Ein Blick auf die Ein- und Ausfuhrzahlen führt zu einer weiteren Er- Siegfried Helias (CDU/CSU): nüchterung. So exportierte das Kosovo im Jahre 2002 Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Waren im Wert von 27 Millionen Euro und importierte Herren! Es geht im Kosovo nicht nur um Standards und im selben Zeitraum Güter im Wert von fast (B) Status, es geht vor allem um die Menschen. 1 Milliarde Euro. (D)

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr Die UNMIK ist bei wichtigen Reformen kaum vo- gut!) rangekommen. Steuerrecht, Handelsrecht sowie das Vorrangig geht es um die Menschen, die in diesem Ge- Vollstreckungs- und Prozessrecht – alles Meilensteine biet leben und die eine Existenzgrundlage und eine Le- für eine wirtschaftliche Entwicklung – hinken dem west- bensperspektive so bitter benötigen. Insofern kann ich europäischen Standard immer noch hinterher. Hier muss den Ausführungen des Kollegen Rainer Stinner voll- meiner Auffassung nach ein Umdenken beginnen. Wir kommen zustimmen. müssen die Ursachen der wirtschaftlichen Misere und nicht die Symptome bekämpfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Konkret: Zum einen müssen endlich Anreize geschaf- Es geht aber auch darum, den Menschen, die von der fen werden, um die Arbeit der kosovarischen Selbstver- internationalen Gemeinschaft in das Kosovo entsandt waltung zu dynamisieren und die Arbeit der internationa- wurden, um beim Wiederaufbau zu helfen, das Gefühl len Organisationen zu professionalisieren. Geberländer, zu geben, dass ihre Arbeit erfolgreich ist. Dazu gehört wie etwa Deutschland, können ihre weitere Unterstüt- allerdings ein schlüssiges politisches Konzept. Ein sol- zung auf das so genannte State Building fokussieren – ches ist weit und breit nicht zu sehen. eine unabdingbare Voraussetzung für ausländische Di- rektinvestitionen im Kosovo. Wir müssen gegenwärtig nicht nur einen Stillstand in der Entwicklung feststellen; Die Menschen im Kosovo Zum anderen darf sich die Neuausrichtung der Ent- befinden sich in einer unheilvollen Abwärtsspirale. wicklungszusammenarbeit nicht auf das Kosovo be- Denn auch fünf Jahre nach dem Krieg ist die Lage völlig schränken, sondern muss auch an die Adresse Serbiens desolat: humanitär, wirtschaftlich und politisch. Das gerichtet werden. Denkbar wäre beispielsweise die Ein- führt zu einem beständigen Prestigeverlust der interna- richtung eines Ausgleichsfonds, mit dessen Hilfe man tionalen Gemeinschaft, die mit ihren Konzepten für das Serben entschädigt, die ihr Eigentum in mehrheitlich al- Kosovo schlichtweg versagt hat. Allein im Rahmen des banisch bewohnten Gebieten zurücklassen mussten. Stabilitätspaktes für Südosteuropa wurden rund 2 Mil- liarden Euro in den Wiederaufbau investiert oder – bes- Zur Stabilisierung der Region benötigen wir klare ser gesagt – verpulvert. Die Arbeitslosigkeit in Höhe von politische Vorgaben und Konzepte. Dies ist in erster Li- weit über 50 Prozent – das wurde von der Kollegin Uta nie eine Aufgabe der Bundesregierung. Die CDU/CSU Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10087

Siegfried Helias (A) wird sie bei diesen Anstrengungen unterstützen, damit weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (C) die Menschen im Kosovo eine klare Perspektive haben. CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Umkehr in der Finanz- und Haushaltspolitik – Haushaltssicherungsgesetz und Nachtrags- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: haushalt jetzt Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 15/3096 – Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- Überweisungsvorschlag: gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung Haushaltsausschuss (f) zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Inter- Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit nationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo, Drucksache Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 15/3235. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3175 anzunehmen. Es ist namentliche ZP 10Beratung des Antrags der Abgeordneten Abstimmung verlangt. Zu dieser Abstimmung liegen mir Dr. Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin, Otto 39 persönliche Erklärungen nach § 31 unserer Ge- Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion schäftsordnung – von Kolleginnen und Kollegen der der FDP SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie vom Kol- legen Jürgen Koppelin – vor.1) Ich bitte die Schriftführe- Nachtragshaushalt und Haushaltssicherungs- rinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu- gesetz zur Korrektur der Bundesfinanzen not- nehmen. – Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das wendig ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. – Drucksache 15/3216 – Ich habe gerade gehört, dass an der Urne, die sich Überweisungsvorschlag: oben rechts bei der Tür „Enthaltung“ befindet, eine Haushaltsausschuss (f) Schriftführerin der SPD fehlt. Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Sportausschuss Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Finanzausschuss Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu Landwirtschaft beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen Verteidigungsausschuss später bekannt gegeben.2) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte die Kol- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (B) leginnen und Kollegen, ihre Plätze einzunehmen, damit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (D) wir mit den Abstimmungen fortfahren können. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Tagesordnungspunkt 6 b: Interfraktionell wird Über- Technikfolgenabschätzung weisung der Vorlage auf Drucksache 15/2860 an die in Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Entwicklung gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Ausschuss für Tourismus Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ausschuss für Kultur und Medien Zusatzpunkt 8: Abstimmung über den Antrag der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich auf Drucksache 15/3204 mit dem Titel „Fortsetzung und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Anpassung der Arbeit der Internationalen Sicherheits- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege präsenz im Kosovo“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der (Beifall bei der CDU/CSU) CDU/CSU und der FDP angenommen. Zusatzpunkt 9: Abstimmung über den Antrag der Dietrich Austermann (CDU/CSU): Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3188 mit Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- dem Titel „Der Kosovopolitik eine Perspektive geben“. schäftigen uns heute mit einem Antrag der Union, der Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – ein totales Umsteuern in der Finanz- und Haushaltspoli- Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der tik fordert. Wenn man sich die Lage im Land ansieht, Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthal- dann stellt man fest, dass dies auch nötig ist. Das Land tung der FDP abgelehnt. befindet sich in der schwierigsten Finanz-, Haushalts- Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 10 und Arbeitsmarktkrise seit 1949. Die Verantwortung da- auf: für trägt die rot-grüne Bundesregierung. 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Austermann, Friedrich Merz, Steffen Kampeter, Jürgen Koppelin [FDP]) Das ist eindeutig zu belegen. Die Daten des Jahres 1) Anlagen 2 und 3 1998 wiesen alle in eine positive Richtung – was dazu 2) Ergebnis Seite 10090 führte, dass der damalige Kanzlerkandidat der SPD 10088 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dietrich Austermann (A) davon sprach, dies sei sein Aufschwung –, während gegenüberstellen. Im Vergleich mit den vorangegange- (C) heute alle signifikanten Daten in die falsche Richtung nen Steuerschätzungen ist erkennbar, dass die aktuelle zeigen. Wir haben seit drei Jahren eine Stagnation und Steuerschätzung gegenüber den Erwartungen um in diesem Jahr ein Kümmerwachstum. Wenn man sich 60 Milliarden Euro zurückgeblieben ist. Davon entfällt die Situation in den Ländern ansieht, die uns umgeben, ein Minus von 40 Milliarden Euro auf den Bund, ein dann stellt man fest, dass dort die Wirtschaft brummt. Minus von 20 Milliarden Euro auf die Länder und Ge- Nur die deutsche Regierung hat Watte in den Ohren. meinden. Das heißt, zwei Drittel der Einbußen sind beim Bund zu verzeichnen. Das Problem liegt darin, dass seit Jahren eine Ver- trauen zerstörende Politik gemacht wird, Wenn ich allerdings davon ausgehe, dass der Finanz- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) minister mit dem Haushalt für dieses Jahr eine mittelfris- tige Planung bis zum Jahr 2008 vorgelegt hat, dann muss jeden Tag eine wesentliche Fehlentscheidung, ich heute feststellen, dass er eine Lücke in der Größen- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Mindestens ordnung von 67 Milliarden Euro in den nächsten Jahren eine!) hat, die bis heute nicht ausgeglichen ist. was dazu führt, dass Investoren und Konsumenten nicht (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört! – mehr wissen, wohin die Entwicklung geht. Das spiegelt Jürgen Koppelin [FDP]: Er ist die Lücke!) sich auch in den Steuereinnahmen wider. Es ist aber Das Loch ist damit fast doppelt so groß wie die Abwei- nicht so – wie man denken könnte –, dass die Steuerein- chungen, die gegenüber den bisherigen Steuerschätzun- nahmen sinken; tatsächlich verharren sie auf einem um gen zu verzeichnen waren. Das hat natürlich dramatische 15 Milliarden Euro höheren Niveau als 1998. Sie steigen Konsequenzen. lediglich nicht in dem Maße an, wie es der Finanzminis- ter in seiner euphorischen Schätzung unterstellt hat. Im Jahr 2004 fehlen im Haushalt 15 Milliarden Euro. Offensichtlich liegt es also nicht an den Einnahmen, son- Die Kollegin Scheel von den Grünen spricht von dern an den Ausgaben, wenn die Regierung die Pro- 18 Milliarden Euro, der Finanzminister von 10 Milliar- bleme nicht in den Griff bekommt. den Euro und ist wieder dabei, den Haushalt zu schönen. (Beifall bei der CDU/CSU) Nun wird man sicherlich sagen, es müsse verstärkt Infolge der falschen Erwartungen haben die Daten gespart werden werden, aber die Opposition werde das schon bei der Aufstellung des Haushalts für dieses Jahr möglicherweise nicht mittragen. Ich will Ihnen dabei ein im Sommer 2003 nicht gestimmt. Es wurden eindeutig bisschen auf die Sprünge helfen und konkrete Zahlen (B) Schätzungen unterstellt, die mit der Realität nichts zu nennen. Dieser Bundesfinanzminister ist als „eiserner (D) tun haben. Hans“ angetreten – wir haben aber gleich festgestellt, dass die Rüstung schon am ersten Tag zu rosten begon- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Täuschung nen hat –; dann wurde er durch die UMTS-Milliarden, würde ich eher sagen!) für die er auch nichts konnte, zum Hans im Glück. Heute Bei den Ausgaben gab es zu pessimistische und bei den ist er ein Hans Guckindieluft; er lässt die Dinge laufen. Einnahmen zu optimistische Erwartungen. Das ganze Dieser Finanzminister sagt immer wieder „Wenn nur die Zahlengerüst, das spätestens zu Beginn dieses Jahres zu- böse Opposition sparen würde!“ und betont, eigentlich sammengebrochen ist, hätte dazu führen müssen, dass habe er ja gespart. man eine Remedur macht und gleichzeitig dafür sorgt, Ich darf die Zahlen, die der Kollege Koppelin genannt dass man den Haushalt der Situation anpasst, in der wir hat, noch einmal aufgreifen. In der Zeit von 1998 bis uns tatsächlich befinden. Nichts von dem hat der Herr zum Ende dieses Jahres wird Finanzminister Eichel neue Bundesfinanzminister getan, obwohl im Vermittlungs- Schulden in Höhe von 190 Milliarden Euro aufgenom- ausschuss, Herr Eichel, ganz andere Daten gesetzt wor- men haben. den sind. Da ist beispielsweise das Thema Hartz IV auf frühestens den 1. Januar 2005 verschoben worden. (Jürgen Koppelin [FDP]: Traurig, traurig! – Elke Ferner [SPD]: Wie viel habt ihr denn ge- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da schum- macht?) meln die doch wieder!) Man hätte den Haushalt anpassen müssen. Noch viele Das bedeutet in den Folgejahren eine zusätzliche Zinsbe- andere Entwicklungen, die im Februar 2004 erkennbar lastung in Höhe von 9,5 Milliarden Euro. Das entspricht waren, als hier in dritter Lesung entschieden wurde, sind dem Gegenwert aller Infrastrukturprojekte, die im Bun- von Ihnen bei der Haushaltsaufstellung nicht berücksich- deshaushalt vorgesehen sind. Diese Summe wird für tigt worden. Das hat mit Haushaltswahrheit, Haushalts- Zinsen verschleudert, weil eine hemmungslose Schul- klarheit und Haushaltsvollständigkeit nichts zu tun. denpolitik betrieben worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jürgen Koppelin [FDP]) Manch einer kann sich noch erinnern, dass der Bun- Lassen Sie mich demonstrieren, in welcher Situation desfinanzminister vor der Wahl 2002 davon sprach, die wir uns tatsächlich befinden, und die Situation vor der Opposition genieße gerne das süße Gift der Verschul- Steuerschätzung der Situation nach der Steuerschätzung dung. Angesichts seiner eigenen Politik müsste er Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10089

Dietrich Austermann (A) eigentlich von dem süßen Gift der Schulden völlig be- (Elke Ferner [SPD]: Haben Sie schon mal was (C) trunken sein. von Lieferverträgen gehört?) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist er! Er Ich frage mich vor allen Dingen, ob es in dieser Lage leidet an Realitätsverlust!) dazu kommen muss, dass die Kohleförderung sogar an- gehoben wird, sodass es statt der bisherigen degressiven Er verstößt dieses Jahr zum dritten Mal und im nächsten Linie auf einmal zu einer Stabilisierung auf hohem Jahr zum vierten Mal gegen die Maastricht-Kriterien. Niveau kommt. Die Stabilitätskriterien werden nicht einzuhalten sein; die Maastricht-relevanten Defizite sind offenkundig. Da- Sie schlagen an anderer Stelle Einsparungen vor und ran hat der Bund – das habe ich anhand der Zahlen deut- kündigen an, dass etwas für die Forschung und andere lich gemacht – den wesentlichen Anteil. Bereiche getan werden muss. Ich wiederhole: Im Haus- haltsausschuss sollten heute zusätzliche Kohlesubventio- Es wird immer wieder auf den nationalen Stabili- nen in Höhe von 17 Milliarden Euro in den Jahren 2006 tätspakt verwiesen. Dieser Stabilitätspakt macht Vorga- bis 2013 beschlossen werden. Wir haben das Gott sei ben hinsichtlich der Schuldenaufnahme von Bund, Län- Dank vertagt. Ich hoffe, dass die rot-grüne Koalition in dern und Gemeinden. Der Bund wollte sich auf diesem Fall noch zur Einsicht kommt. 45 Prozent der Schulden der drei Ebenen beschränken; inzwischen trägt er zwei Drittel davon. Insofern ist allein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Bund für den Verstoß gegen den nationalen Stabili- neten der FDP) tätspakt verantwortlich. Sie haben noch weitere Vorschläge vorgebracht, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vom Schnittblumenprivileg über die Baumschulen bis zum Katzenfutter reichten. Das waren alles Peanuts im Ich möchte noch darauf eingehen, dass mein Nach- Vergleich zu dem, was für die Kohle herausgeschmissen redner, Herr Eichel, uns wahrscheinlich vorhalten wird, wird. wir hätten ihn am Sparen gehindert. Sie haben weitere Maßnahmen getroffen, deren Dra- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) matik heute noch nicht zu erkennen ist. Wir sollen mit Ihnen gemeinsam eine Änderung hinsichtlich der Ge- In diesem Zusammenhang kommt – wie das Ungeheuer meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen von Loch Ness – immer wieder das Thema Eigenheim- Wirtschaftsstruktur“ beschließen, die der Bundeswirt- zulage zur Sprache. Herr Eichel, sind Sie bereit, den schaftsminister anstrebt, und zwar deshalb, weil er bei Anwesenden heute mitzuteilen, dass wir im Vermitt- der Kohle aus dem Vollen schöpft. Das Ergebnis ist, dass lungsausschuss gemeinsam beschlossen haben, die (B) in diesem Jahr auf Verpflichtungsermächtigungen in der (D) Eigenheimzulage um 30 Prozent zu reduzieren, nunmehr Größenordnung von 264 Millionen Euro nicht zurückge- aber die von Ihnen genannten Beträge – der eine nennt griffen werden kann. Das hat zur Folge, dass die neuen 10 Milliarden; der Bundeskanzler nennt 8,5 Milliarden und die alten Bundesländer Mittel für die Wirtschaftsför- und auch Sie nennen nicht die tatsächliche Zahl – nicht derung in gleicher Höhe nicht zur Verfügung stellen. Al- verfügbar sind? Es ist nicht mehr Geld verfügbar als der les zusammen macht das etwa 50 Prozent der Mittel für Betrag, der durch die Reduktion zusammenkommt; es die regionale Wirtschaftsförderung aus. Das bedeutet, sei denn, man greift in die Verträge mit den Häuslebau- dass Investitionen in Höhe von 2,6 Milliarden Euro vor ern ein. Dies aber wollen wir nicht. allen Dingen in den neuen Bundesländern, aber auch in Ähnlich verhält es sich bei der Entfernungspauschale. strukturschwachen Gebieten in den alten Bundesländern, Sie musste erhöht werden, weil Sie die Ökosteuer erho- zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, nicht getätigt wer- ben haben und die Pendler nicht über Gebühr benachtei- den können, weil Sie die Mittel für die regionale Wirt- ligt werden sollten. Jetzt wollen Sie ihnen einen Teil der schaftsförderung zugunsten anderer Projekte dramatisch Entfernungspauschale wieder wegnehmen, sodass es zusammenstreichen. Dass wir dies nicht mitmachen, ist doch zu der Belastung der Pendler durch die Ökosteuer ziemlich klar. kommt. Ist das gerecht? Dass wir zögern, einem solchen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vorhaben zuzustimmen, kann uns, glaube ich, niemand vorwerfen. So können wir jeden Punkt genau begründen, an dem wir gesagt haben: So nicht und vor allen Dingen nicht Wir haben die Koch/Steinbrück-Vorschläge gemein- mit uns! sam beschlossen. Was aber haben Sie gemacht? Nach- dem der Beschluss gemeinsam gefasst wurde, haben Sie Sie haben des Weiteren die schlechte wirtschaftliche dem Haushaltsausschuss eine Regelung vorgelegt, in der Lage mit dem Zusammenbruch des Konsums begründet. die Kohle ausgespart wurde. Sie haben Ihre Hand dazu Aber wer macht denn den Konsum? Es ist doch unbe- gereicht, dass dem Bergbau in den Jahren 2006 bis 2013 streitbar, dass wesentliche Teile der wirtschaftlichen zusätzliche 17 Milliarden Euro zufließen. Wir sind da- Entwicklung unseres Landes von den politischen Rah- für, die Kohlereviere dem Strukturwandel anzupassen menbedingungen abhängen; das ist doch eindeutig. Ob und dem Bergbau dabei zu helfen. Angesichts der Ent- man einen Zickzackkurs fährt – Agenda Zickzack – oder wicklung des Weltmarktpreises frage ich mich aber, ob ob man klare Bedingungen schafft, damit Investoren in- Zahlungen in diesem Umfang tatsächlich notwendig vestieren und Konsumenten konsumieren, das ist die sind. Frage, ob man Vertrauen in die künftige Entwicklung 10090 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dietrich Austermann (A) schafft. Insofern beeinflusst das, was die Regierung haften Situation kommen wir nur dann heraus, wenn wir (C) falsch macht – sie zerstört Vertrauen und bewegt sich tatsächlich umsteuern. Wir müssen einen ehrlichen Kas- wie ein Trampel im Konsumgarten –, wesentlich das sensturz machen, einen Nachtragshaushalt und ein Haus- Handeln der Menschen in Deutschland. haltsbegleitgesetz verabschieden sowie endlich mit dem Sparen beginnen, zum Beispiel bei den Beraterverträgen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Verfügungsmitteln und der Öffentlichkeitsarbeit. Sie beschließen belastende Gesetze, belasten den Ka- Wir müssen übrigens auch bei den Kohlesubventionen pitalmarkt und diskutieren über Steuererhöhungen. Frau sofort umsteuern. Aber mit dieser rot-grünen Bundesre- Simonis hat angesichts der Aussicht, die kommende gierung und insbesondere mit diesem Bundesfinanzmi- Landtagswahl in Schleswig-Holstein zu verlieren – ich nister ist das leider nicht zu machen. freue mich schon jetzt darauf, im März nächsten Jahres Vielen Dank. dem neuen Ministerpräsidenten Carstensen die Hand zu schütteln –, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: eine Panikattacke nach der anderen und macht deshalb Bevor ich dem Bundesfinanzminister das Wort gebe, jeden Tag einen neuen Vorschlag. So soll unter anderem komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 6 a und die Mehrwertsteuer erhöht werden, um den Eingangs- gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern und Spitzensteuersatz zum 1. Januar 2005 zu senken. Je- ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung den Tag gab es bis jetzt eine neue Irritation, die dazu bei- über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- trägt, dass die Menschen gar nicht mehr wissen, wo es schusses zu dem Antrag der Bundesregierung auf Fort- tatsächlich langgeht. setzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo bekannt. Abgegebene Ich habe meine Rede mit der Feststellung begonnen, Stimmen 582. Mit Ja haben gestimmt 574, mit Nein ha- dass wir uns in der schlimmsten Finanz-, Haushalts- und ben gestimmt 7, Enthaltungen 1. Der Antrag ist damit Arbeitsmarktkrise seit 1949 befinden. Aus dieser krisen- angenommen.

Endgültiges Ergebnis Angelika Graf (Rosenheim) Klaus-Werner Jonas (B) Abgegebene Stimmen: 582; (Hildesheim) Dieter Grasedieck Johannes Kahrs (D) davon Hans-Günter Bruckmann Ulrich Kasparick Edelgard Bulmahn Gabriele Groneberg Dr. h.c. Susanne Kastner ja: 574 Marco Bülow Achim Großmann nein: 7 Wolfgang Grotthaus Hans-Peter Kemper enthalten: 1 Dr. Michael Bürsch Karl-Hermann Haack Klaus Kirschner Hans Martin Bury (Extertal) Hans-Ulrich Klose Ja Hans Büttner (Ingolstadt) Hans-Joachim Hacker Astrid Klug Marion Caspers-Merk Dr. Heinz Köhler (Coburg) SPD Dr. Peter Danckert Alfred Hartenbach Dr. Herta Däubler-Gmelin Michael Hartmann Fritz Rudolf Körper Dr. Lale Akgün (Wackernheim) Karin Kortmann Martin Dörmann Nina Hauer Rolf Kramer Ingrid Arndt-Brauer Peter Dreßen Rainer Arnold Elvira Drobinski-Weiß Reinhold Hemker Ernst Kranz Hermann Bachmaier Detlef Dzembritzki Rolf Hempelmann Nicolette Kressl (Neuruppin) Volker Kröning Doris Barnett Siegmund Ehrmann Petra Heß Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Peter Bartels Hans Eichel Monika Heubaum Dr. Hans-Ulrich Krüger Eckhardt Barthel (Berlin) Marga Elser Gisela Hilbrecht Horst Kubatschka (Starnberg) Gernot Erler Gabriele Hiller-Ohm Ernst Küchler Sören Bartol Petra Ernstberger Stephan Hilsberg Helga Kühn-Mengel Sabine Bätzing Karin Evers-Meyer Gerd Höfer Ute Kumpf Annette Faße Walter Hoffmann Dr. Uwe Küster Klaus Uwe Benneter Elke Ferner (Darmstadt) Dr. (Wismar) Christian Lange (Backnang) Ute Berg Rainer Fornahl Frank Hofmann (Volkach) Christine Lehder Hans-Werner Bertl Gabriele Frechen Eike Hovermann Waltraud Lehn Petra Bierwirth Klaas Hübner Dr. Elke Leonhard Lothar Binding (Heidelberg) Lilo Friedrich (Mettmann) Christel Humme Eckhart Lewering Iris Gleicke Lothar Ibrügger Götz-Peter Lohmann Gerd Friedrich Bollmann Günter Gloser Brunhilde Irber Gabriele Lösekrug-Möller Klaus Brandner Uwe Göllner Renate Jäger Erika Lotz Renate Gradistanac Jann-Peter Janssen Dr. Christine Lucyga Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10091

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Dirk Manzewski (Spandau) Dr. Manfred Grund (C) Tobias Marhold Dr. Angelica Schwall-Düren Karl-Theodor Freiherr von Lothar Mark Dr. Martin Schwanholz Dr. und zu Guttenberg Christoph Matschie Erika Simm Renate Blank Holger-Heinrich Haibach Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Gerda Hasselfeldt Dr. Cornelie Sonntag- Klaus-Jürgen Hedrich Ulrike Mehl Wolgast Dr. Maria Böhmer Helmut Heiderich Petra-Evelyne Merkel Wolfgang Spanier Ursula Heinen Ulrike Merten Dr. Margrit Spielmann Dr. Wolfgang Bötsch Siegfried Helias Jörg-Otto Spiller Klaus Brähmig Uda Carmen Freia Heller Ursula Mogg Dr. Ditmar Staffelt Dr. Ralf Brauksiepe Michael Müller (Düsseldorf) Ludwig Stiegler Jürgen Herrmann Christian Müller (Zittau) Rolf Stöckel Monika Brüning Gesine Multhaupt Christoph Strässer Ernst Hinsken Dr. Rolf Mützenich Rita Streb-Hesse Verena Butalikakis Volker Neumann (Bramsche) Dr. Peter Struck Hartmut Büttner Robert Hochbaum Joachim Stünker (Schönebeck) Klaus Hofbauer Dr. Erika Ober Jörg Tauss Cajus Julius Caesar Joachim Hörster Holger Ortel Jella Teuchner Peter H. Carstensen Hubert Hüppe Heinz Paula Dr. Gerald Thalheim (Nordstrand) Dr. Peter Jahr Johannes Pflug Wolfgang Thierse Gitta Connemann Dr. Egon Jüttner Joachim Poß Franz Thönnes Leo Dautzenberg Bartholomäus Kalb Dr. Wilhelm Priesmeier Hans-Jürgen Uhl Steffen Kampeter Florian Pronold Rüdiger Veit Albert Deß Irmgard Karwatzki Dr. Simone Violka Bernhard Kaster Karin Rehbock-Zureich Jörg Vogelsänger Vera Dominke Siegfried Kauder (Bad Gerold Reichenbach (Pforzheim) Thomas Dörflinger Dürrheim) Dr. Carola Reimann Dr. Marlies Volkmer Marie-Luise Dött Volker Kauder Christel Riemann- Hans Georg Wagner Maria Eichhorn Gerlinde Kaupa Hanewinckel Hedi Wegener Eckart von Klaeden Andreas Weigel (Lübeck) Jürgen Klimke Reinhold Robbe Reinhard Weis (Stendal) Julia Klöckner René Röspel Petra Weis Kristina Köhler (Wiesbaden) Gunter Weißgerber (B) Dr. Dr. Hans Georg Faust Manfred Kolbe (D) Karin Roth (Esslingen) Gert Weisskirchen Albrecht Feibel Hartmut Koschyk Michael Roth (Heringen) (Wiesloch) Thomas Kossendey Gerhard Rübenkönig Dr. Ernst Ulrich von Ingrid Fischbach Michael Kretschmer Weizsäcker Hartwig Fischer (Göttingen) Günther Krichbaum Marlene Rupprecht Jochen Welt Dirk Fischer (Hamburg) Günter Krings (Tuchenbach) Dr. Rainer Wend Axel E. Fischer (Karlsruhe- Dr. Martina Krogmann Thomas Sauer Lydia Westrich Land) Dr. Hermann Kues Anton Schaaf Inge Wettig-Danielmeier Dr. Werner Kuhn (Zingst) Axel Schäfer (Bochum) Dr. Klaus-Peter Flosbach Dr. Karl A. Lamers Gudrun Schaich-Walch Andrea Wicklein Dr. Hans-Peter Friedrich (Heidelberg) Jürgen Wieczorek (Böhlen) (Hof) Dr. Norbert Lammert Bernd Scheelen Heidemarie Wieczorek-Zeul Erich G. Fritz Dr. Dr. Dieter Wiefelspütz Jochen-Konrad Fromme Barbara Lanzinger Siegfried Scheffler Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Dr. Michael Fuchs Karl-Josef Laumann Horst Schild Engelbert Wistuba Hans-Joachim Fuchtel Barbara Wittig Dr. Jürgen Gehb Werner Lensing Horst Schmidbauer Dr. Peter Letzgus (Nürnberg) Verena Wohlleben Ursula Lietz (Aachen) Waltraud Wolff Walter Link (Diepholz) Silvia Schmidt (Eisleben) (Wolmirstedt) Georg Girisch Eduard Lintner (Meschede) Heidi Wright Dr. Klaus W. Lippold Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Uta Zapf Ralf Göbel (Offenbach) Heinz Schmitt (Landau) Manfred Helmut Zöllmer Dr. Reinhard Göhner Tanja Gönner Dr. Michael Luther CDU/CSU Walter Schöler Josef Göppel Dorothee Mantel Ulrich Adam Peter Götz (Altötting) Karsten Schönfeld Ilse Aigner Dr. Wolfgang Götzer Dr. Conny Mayer Fritz Schösser (Baiersbronn) Wilfried Schreck Dietrich Austermann Kurt-Dieter Grill Dr. Martin Mayer Günter Baumann (Siegertsbrunn) Brigitte Schulte (Hameln) Ernst-Reinhard Beck Hermann Gröhe Wolfgang Meckelburg Reinhard Schultz (Reutlingen) Michael Grosse-Brömer Dr. (Everswinkel) Veronika Bellmann Markus Grübel Dr. 10092 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Friedrich Merz Bernhard Schulte-Drüggelte Joseph Fischer (Frankfurt) Klaus Haupt (C) (Hamm) Katrin Göring-Eckardt Ulrich Heinrich Doris Meyer (Tapfheim) Wilhelm Josef Sebastian Birgit Homburger Maria Michalk Winfried Hermann Dr. Werner Hoyer Hans Michelbach Kurt Segner Antje Hermenau Klaus Minkel Matthias Sehling Peter Hettlich Dr. Heinrich L. Kolb Marion Seib Ulrike Höfken Gudrun Kopp Stefan Müller (Erlangen) Heinz Seiffert Thilo Hoppe Jürgen Koppelin Bernward Müller (Gera) Bernd Siebert Michaele Hustedt Sibylle Laurischk Dr. Gerd Müller Fritz Kuhn Harald Leibrecht Hildegard Müller Johannes Singhammer Renate Künast Ina Lenke (Bremen) Undine Kurth (Quedlinburg) Markus Löning Henry Nitzsche Markus Kurth Dirk Niebel Michaela Noll Dr. Reinhard Loske Günther Friedrich Nolting Claudia Nolte Anna Lührmann Hans-Joachim Otto Günter Nooke Andreas Storm Jerzy Montag (Frankfurt) Dr. Georg Nüßlein Kerstin Müller (Köln) Eberhard Otto (Godern) Franz Obermeier Matthäus Strebl Winfried Nachtwei Detlef Parr (Heilbronn) Christa Nickels Cornelia Pieper Melanie Oßwald Lena Strothmann Friedrich Ostendorff Gisela Piltz Rita Pawelski Michael Stübgen Simone Probst Dr. Dr. Peter Paziorek Claudia Roth (Augsburg) Dr. Hermann Otto Solms Ulrich Petzold Edeltraut Töpfer Dr. Dr. Dr. Hans-Peter Uhl Christine Scheel Dr. Rainer Stinner Sibylle Pfeiffer Arnold Vaatz Irmingard Schewe-Gerigk Carl-Ludwig Thiele Dr. Friedbert Pflüger Volkmar Uwe Vogel Rezzo Schlauch Dr. Dieter Thomae Beatrix Philipp Andrea Astrid Voßhoff Albert Schmidt (Ingolstadt) Jürgen Türk Gerhard Wächter Werner Schulz (Leipzig) Dr. Marko Wanderwitz Petra Selg Dr. Claudia Winterstein Daniela Raab Peter Weiß (Emmendingen) Ursula Sowa Dr. Volker Wissing Thomas Rachel Gerald Weiß (Groß-Gerau) Rainder Steenblock Hans Raidel Silke Stokar von Neuforn Fraktionslose Abgeordnete Dr. Peter Ramsauer Annette Widmann-Mauz Jürgen Trittin Helmut Rauber Klaus-Peter Willsch Marianne Tritz Peter Rauen (B) Hubert Ulrich (D) Christa Reichard (Dresden) Werner Wittlich Dr. Antje Vogel-Sperl Nein Katherina Reiche Dagmar Wöhrl Dr. Antje Vollmer Klaus Riegert Elke Wülfing Dr. Ludger Volmer CDU/CSU Dr. Wolfgang Zeitlmann Josef Philip Winkler Wolfgang Zöller Margareta Wolf (Frankfurt) Dr. Franz-Xaver Romer Willi Zylajew Wolfgang Börnsen Heinrich-Wilhelm Ronsöhr FDP (Bönstrup) Dr. Klaus Rose BÜNDNIS 90/DIE Herbert Frankenhauser Daniel Bahr (Münster) Kurt J. Rossmanith GRÜNEN Willy Wimmer (Neuss) Dr. Norbert Röttgen Rainer Brüderle Dr. Christian Ruck Kerstin Andreae Ernst Burgbacher BÜNDNIS 90/DIE Vo l ke r R ü he Marieluise Beck (Bremen) Helga Daub GRÜNEN (Weiden) Volker Beck (Köln) Jörg van Essen Hans-Christian Ströbele Peter Rzepka Cornelia Behm Ulrike Flach Anita Schäfer (Saalstadt) Otto Fricke Fraktionslose Abgeordnete Dr. Wolfgang Schäuble Matthias Berninger Horst Friedrich (Bayreuth) Hartmut Schauerte Grietje Bettin Rainer Funke Dr. Gesine Lötzsch Norbert Schindler Alexander Bonde Dr. Wolfgang Gerhardt Petra Pau Georg Schirmbeck Ekin Deligöz Hans-Michael Goldmann Dr. Thea Dückert Joachim Günther (Plauen) Christian Schmidt (Fürth) Jutta Dümpe-Krüger Dr. Karlheinz Guttmacher Enthalten Andreas Schmidt (Mülheim) Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Christel Happach-Kasan CDU/CSU Dr. Dr. Uschi Eid Dr. Ole Schröder Hans-Josef Fell (Homburg) (Emstek) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10093

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Nun hat das Wort der Bundesminister der Finanzen, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben aus (C) Hans Eichel. dem Stabilitätspakt eine Schuldengemeinschaft gemacht, Herr Eichel!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jürgen Koppelin [FDP]: Da klatschen nur noch drei! – Auch das ist keine erfreuliche Entwicklung. Es zeigt Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es bleibt ei- aber, dass Sie keine Berechtigung haben, unsere Pro- nem nichts erspart!) bleme – bei allen Schwierigkeiten, die wir haben – als binnengemacht darzustellen, wie Sie es immer wieder Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: versuchen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Herren! In der Tat bleibt Ihnen – das werden Sie gleich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) noch merken – nichts erspart. Richtig ist, dass wir in ei- ner ausgesprochen schwierigen Finanz- und Haushalts- Wir sind – das war das Ziel unserer Arbeit; es ist si- lage sind, gar keine Frage. cherlich nicht allein durch unsere Arbeit, aber auch nicht ohne sie geschehen – aus der Stagnation heraus. Wir ha- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Von Ihnen ben ein Wirtschaftswachstum. Es ist höher als gedacht. verschuldet!) Aber man muss ebenso klar sagen: Die 0,4 Prozent im Aber, Herr Austermann, es bleibt dabei: Die höchste ersten Quartal im Vergleich mit dem Vorquartal oder die Zahl an Arbeitslosen nach der Wiedervereinigung, 1,5 Prozent im Vergleich mit dem Vorjahresquartal sind knapp unter 5 Millionen, gab es in Ihrer Regierungszeit. fragil; denn sie sind – ich wiederhole – ausschließlich exportgetragen. (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was hilft Ihnen das heute! Das (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Also haben entschuldigt nichts!) wir ein binnenwirtschaftliches Problem!) – Das hören Sie nicht gerne. – Die höchste Nettoneuver- Die Entwicklung in der Binnennachfrage ist nach wie schuldung, rund 40 Milliarden Euro, gab es ebenfalls in vor nicht erfreulich. Der klassische Weg „erst Export, dann Ihrer Regierungszeit, und das bei einem niedrigeren Investitionen, dann Binnennachfrage“ hat bisher nicht Bruttoinlandsprodukt als heute. Das wollen wir wenigs- funktioniert. Davon wird auch die Finanz- und Haushalts- tens festhalten. politik, die ich zu machen habe, bestimmt. Das heißt, wir werden alles unterlassen müssen – das gilt unverändert –, (Beifall bei der SPD) was den Aufschwung beeinträchtigen könnte. Ich denke, dass Christian Schütte in seinem gestrigen Kommentar (B) Das erleichtert natürlich nicht die Lösung der Probleme, in der „Financial Times Deutschland“ dazu genau das (D) die wir zweifelsfrei vor uns haben. Richtige gesagt hat: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Die deutsche Finanzpolitik ist gut beraten, im Mo- Eine Umkehr in der Finanz- und Haushaltspolitik ment ähnlich vorsichtig zu agieren, statt gleich die macht – nichts anderes bedeutet das, was Sie uns vor- ersten Zeichen des Aufschwungs für ein Austeri- exerziert haben – in der Tat keinen Sinn; denn das hieße, tätsprogramm zu nutzen. so viele Schulden zu machen wie nie zuvor. Wir wollen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass der An- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stieg der gesamtstaatlichen Verschuldung von 40 auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts das Ergebnis Ihrer Wir haben noch nicht den Punkt eines konjunkturel- Politik war. Keine Umkehr heißt dann auch, dass es len Aufschwungs erreicht – ich sage das mit aller Klar- keine Rückkehr zu den Schattenhaushalten gibt. Damit heit; viele vertreten mit Recht diese Auffassung –, von haben wir mit dem Haushalt 1999 Schluss gemacht. dem an man härter konsolidieren muss, wenn man im Abschwung Defizite hat hinnehmen müssen. Ich wieder- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hole: Diesen Punkt haben wir noch nicht erreicht. Dafür DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ ist der Aufschwung in der Tat zu fragil. CSU]: Schluss machen, das wäre richtig!) Der Vollzug des Bundeshaushalts 2004 wird im We- Es ist unbestritten: Die Lage ist nicht einfach. Das be- sentlichen durch die konjunkturelle Entwicklung geprägt, trifft aber nicht nur uns, sondern auch viele andere. Ihre die langsam an Fahrt gewinnt. Die Mai-Steuerschätzung Beschreibung lautete: Rundherum brummt die Wirt- zeigt – Sie haben es erwähnt – eine Mindereinnahme von schaft, nur in Deutschland nicht. In Deutschland hat es 8,3 Milliarden Euro. Aufgrund des im Vermittlungsver- eine erfreuliche Aufwärtskorrektur gegeben. Aber wahr fahren vereinbarten nicht vollständigen Vorziehens der ist: Sie ist nur exportgetragen. Wahr ist auch, dass die Steuerreform haben wir auf der einen Seite zwar mehr Niederlande, unser Nachbar, eine viel schwierigere Wirt- Geld zur Verfügung; auf der anderen Seite haben wir für schaftslage haben. Wahr ist außerdem, dass die Wirt- alle Folgejahre wegen des nicht beherzten Abbaus von schaftslage in Italien eher schwieriger als bei uns ist. Steuersubventionen Geld verloren. Dafür sind Sie ver- Also ist auch diese Beschreibung verkehrt. Wahr ist antwortlich. auch, dass das Haushaltsdefizit der Hälfte aller Staaten der Eurozone in laufender Rechnung oberhalb von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 3 Prozent liegt. DIE GRÜNEN) 10094 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Bundesminister Hans Eichel (A) Auch auf der Ausgabenseite hinterlässt die nach wie Der Haushalt 1998 – wir haben das hier oft diskutiert; (C) vor nicht starke Konjunktur ihre Spuren. Das heißt, wir Sie wissen es – respektive der von Ihnen vorgelegte Ent- werden bei der Arbeitslosenhilfe zusätzlich Geld drauf- wurf 1999 enthielt doch gar nicht die ganze Wahrheit. legen müssen, während der Zuschuss für die Bundes- Die Postunterstützungskassen waren nicht darin enthal- agentur für Arbeit nach allem, was wir erkennen können, ten. Die Hilfen für die Not leidenden Länder Saarland aufrechterhalten werden kann; sie wird keinen höheren oder Bremen waren nicht darin enthalten. Es war über- Zuschuss benötigen. haupt kein vollständiger Haushalt. Das können Sie nicht mit einem Haushalt vergleichen, der alles ausweist, was (Jürgen Koppelin [FDP]: Das war schon so oft an staatlichen Leistungen erbracht werden muss, wie das zu hören und das hat nie gestimmt!) unser Haushalt tut. Der Bundesbankgewinn ist weitaus niedriger ausge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fallen als von der Bundesbank selbst erwartet und von des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) uns entsprechend veranschlagt. Heute gibt es keine Möglichkeit, die Nettokreditaufnahme zuverlässig zu Wir werden hart zu tun haben. Es wird alles geleistet prognostizieren. Wie ich deutlich gemacht habe, schätze werden, und zwar in Solidarität aller Kabinettskollegen. ich das Risiko gegenwärtig auf 10 bis 11 Milliarden Euro. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das hört man allerorten! – Steffen Kampeter [CDU/ Ich will bei dieser Gelegenheit aber auch darauf hinwei- CSU]: Die wollen nicht mal mehr sprechen!) sen – das gehört zu den Aspekten, die ich jetzt nicht weiter bewerten will –, dass wir, was die Steuereinnahmen be- Wir werden sowohl die 2 Milliarden Euro, um die ich trifft, per 30. April bisher nicht die prognostizierten Min- den Rentenzuschuss gern gesenkt hätte, im Haushalt er- dereinnahmen haben; vielmehr befinden wir uns sehr ge- wirtschaften als auch die Beschlüsse, die zu Koch/ nau im Plan der Novembersteuerschätzung, allerdings Steinbrück gefasst worden sind, umsetzen, was nicht mit erheblichen Schwankungen über die Monate, was ei- heißen muss, dass das genau an den vorgesehenen Stel- nen natürlich außerordentlich vorsichtig machen muss. len geschieht. Ich muss jetzt nicht über den Subventions- Deswegen bleibe ich vorsichtshalber bei dem, was die begriff streiten. Wichtig ist der finanzielle Ertrag der Steuerschätzer gesagt haben. Maßnahmen. Das wird sicherlich genau so kommen wie geplant. Ich weise aber darauf hin, dass es nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss sein muss. Ich erinnere an das Ende (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dann ist es des vergangenen Jahres. Herr Austermann, sechs Wochen eine globale Minderausgabe und hat nichts mit Subventionsabbau zu tun! – Jürgen Koppelin (B) vor Toresschluss haben Sie sich negativ um 12 Milliarden (D) Euro verschätzt. Ich selbst habe mich sechs Wochen vor [FDP]: Seine letzte Rede im Bundestag!) Toresschluss ebenfalls negativ verschätzt, und zwar um Deswegen wird es kein Haushaltssicherungsgesetz 5 Milliarden Euro. Es macht im Moment also wenig geben. Herr Austermann, Sie fordern ein solches Gesetz. Sinn, über einen Nachtragshaushalt zu reden. Vernünfti- Es wäre schön, wenn Sie auch einmal sagen würden, was ger ist es, wie im vergangenen Jahr die Entwicklung ge- Sie damit meinen, damit die Menschen im Lande auch nau zu beobachten und eine Entscheidung nach der Som- präzise wissen, was das heißt. merpause zu treffen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich weiß – Sie wissen es auch –, wie viel Geld wir Angesichts der konjunkturellen Situation, in der wir den Menschen im Zuge der Gesundheitsreform inzwi- uns befinden, bin ich strikt gegen eine hektische Ver- schen weggenommen haben. Ich weiß – Sie wissen es schärfung der Sparmaßnahmen, was eine zusätzliche auch –, welche Einschränkungen wir im Zuge der Ren- haushaltswirtschaftliche Sperre oder ein Haushaltssiche- tenreform – wenn ich mich recht erinnere, haben Sie das rungsgesetz bedeuten würde. alles abgelehnt – kurz-, mittel- und langfristig vorge- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: nommen haben. Ich weiß, dass wir jetzt an einem Punkt Wir haben es ja!) sind, an dem wir nicht immer nur auf die Kleinen schla- gen dürfen. – Wir haben es nicht. Sie müssen genau darauf schauen, Herr Kampeter, was wir seit 1999 – auf die Zahlen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des komme ich gleich noch zurück – mit der Konsolidierung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dietrich geleistet haben. Die Wahrheit ist, dass wir in den letzten Austermann [CDU/CSU]: Warum tun Sie es zehn Jahren den Anteil des Haushalts am Bruttoinlands- dann?) produkt von 13,5 Prozent auf 12,1 Prozent zurückgefah- Stellen Sie sich nicht immer vor Ihre Klientel, sondern ren haben. Das heißt, die Konsolidierung hat auf der sorgen Sie dafür, dass sie richtig dabei ist! Ich erinnere Ausgabenseite stattgefunden. an das Thema „Gesundheitsreform und Anbieterseite“; Sie vollführen mit Ihren Zahlen Taschenspielertricks, da gibt es in Ihren Reihen ganz ähnliche Vorbehalte. Herr Austermann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10095

Bundesminister Hans Eichel (A) Der Kurs, den wir in 1999 eingeleitet haben, hat dazu (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das interes- (C) geführt – – siert den Bürger nur am Rande!) (Jürgen Koppelin [FDP]: Dass wir mehr Aus- Deswegen kommen Sie mit Ihrer Argumentation ganz gaben haben!) gewiss nicht durch. – Herr Koppelin, es ist doch ganz einfach zu beschrei- Die Bundesregierung wird ihren finanz- und wirt- ben: Wenn wir den Kurs nicht eingeleitet hätten, hätten schaftspolitischen Kurs durchhalten. wir jetzt jedes Jahr mindestens 20 Milliarden Euro mehr (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine Dro- Schulden. hung! – Jürgen Koppelin [FDP]: Eine Dro- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt hung!) doch nicht!) Die eingeleiteten Reformmaßnahmen brauchen natür- Was ist nicht passiert? Was ist nicht eingetreten? lich Zeit, um Wirkung zu entfalten. Die langfristig ange- legte Konsolidierungspolitik wird dazu beitragen. (Jürgen Koppelin [FDP]: Zusätzlich zu Ihren übrigen Schulden!) Eines ist klar: Wachstum und Konsolidierung gehören untrennbar zusammen. Es ist richtig: Es gibt kein nach- Die niedrigste Verschuldung fiel in meine Amtszeit, haltiges Wachstum ohne solide Staatsfinanzen. nämlich 1,2 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2000, 24 Milliarden Euro. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Handeln Sie danach!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Dank UMTS! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber Aber ebenso richtig ist: Es gibt keine Konsolidierung der nur mit dem Sondereinfluss UMTS!) Staatsfinanzen ohne wirtschaftliches Wachstum. Eine niedrige Verschuldung des Bundeshaushalts gab es (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: auch noch in 2001. Im vergangenen Jahr waren wir bei Das ist alles richtig!) 3,9 Prozent und 82 Milliarden Euro. Deswegen haben wir all die Maßnahmen eingeleitet, die (Jürgen Koppelin [FDP]: Und bei mit der Agenda 2010 verbunden sind. Mal haben Sie ?) mitgemacht; mal – das ist das Traurige bei dieser Veran- staltung – haben Sie auch wieder nur torpediert. Warum? Die Antwort ist einfach: Es hat leider – das ist traurig – drei Jahre lang Stagnation gegeben, nicht nur (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) bei uns, Nun, meine Damen und Herren, eine letzte Bemer- (D) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und Sie sind kung zum Vertrag von Maastricht: Selbstverständlich unschuldig!) werden wir alles daransetzen, die Maastricht-Kriterien im Jahre 2005 wieder einzuhalten. Ich habe gesagt: Ich aber eben auch bei uns, mit der Folge, dass die Steuer- kann angesichts der Steuerschätzung nicht garantieren, einnahmen nicht in der erwarteten Höhe geflossen sind, dass wir das bei der Haushaltsaufstellung schon leisten mit der Folge, dass wir für den Arbeitsmarkt mehr haben können. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass wir, ausgeben müssen. wenn Sie Ihrer Verantwortung im Bundesrat nur annä- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wem gehört hernd nachgekommen wären, über diese Frage gar nicht denn dieser Abschwung?) zu reden brauchten. Noch einmal: 20 Milliarden Euro mehr Schulden wä- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren es ohne den Konsolidierungskurs, den wir 1999 ein- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu- geleitet haben. rufe von der CDU/CSU) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So kann man Meine Vorschläge, wie man die Staatshaushalte in Ord- doch seriös nicht rechnen!) nung bringen kann, lehnen Sie ja regelmäßig gegen die Interessen der Kommunen und der Länder ab. Schauen Sie sich die Entwicklung der Zahlen an; da- rin liegt die Heuchelei, die Sie betreiben. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das sind doch alles Steuererhöhungen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Das ist eine spannende Frage. Fragen Sie einmal Herrn Sie sagen, die Einnahmen flössen doch; wir hätten gegen- Koch, ob er den Abbau von Steuersubventionen für über 1999 15 Milliarden Euro Steuereinnahmen mehr. eine Steuererhöhung hält. Bei den Koch/Steinbrück-Vor- Das ist exakt die Ökosteuer. Anderenfalls hätten wir um schlägen war genau das Gegenteil der Fall. zwei Prozentpunkte höhere Rentenversicherungsbei- träge. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kampeter [CDU/CSU]: Wie war es denn mit der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kohle? Da geht es um Subventionen!) Ansonsten sind die Ausgaben im Bundeshaushalt gefal- Fragen Sie einmal den Sachverständigenrat, ob er den len. Das ist der Konsolidierungskurs. Abbau von Steuersubventionen für Steuererhöhungen 10096 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Bundesminister Hans Eichel (A) hält. Fragen Sie einmal die Bundesbank, ob sie den Ab- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das sehen wir (C) bau von Steuersubventionen für Steuererhöhungen hält. ja gerade bei Hartz IV!) Mir hat Professor Wiegard gerade noch einmal aus- drücklich erklärt: Es gibt ökonomisch keinen Unter- Aber erst blockieren, anschließend die Folgen beweinen schied zwischen der Kürzung von Finanzhilfen und dem und dabei uns die Schuld zuschieben ist der Heuchelei Abbau von Steuervergünstigungen. zu viel. Das müssen wir uns nicht gefallen lassen. Das lassen wir uns auch nicht gefallen, meine Damen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herren. DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Was sagt er denn ansonsten zu Ihrer Poli- DIE GRÜNEN) tik?)

Meine Damen und Herren, da fängt es dann ja auf bei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den Seiten an. Was Sie tun, Herr Austermann, ist nun Das Wort hat der Kollege Otto Fricke, FDP-Fraktion. wirklich der Gipfel der Heuchelei. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: der CDU/CSU) Nun einmal vorsichtig!) – Nein, das sage ich so. – Man kann über Ihren Vor- Otto Fricke (FDP): schlag, die Kohlesubventionen noch weiter zu kürzen, Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- reden. Das würde ich vorher aber gerne einmal schwarz legen! Ich habe das Gefühl, ich bin hier im falschen auf weiß sehen. Film. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: (Jörg Tauss [SPD]: Sie sind im falschen Film!) Sie sollen sie nicht erhöhen!) „Same procedure as every year“: Hans Eichel in der Wir fahren übrigens die Förderung von 28 auf 16 Millio- Rolle des James, der deutsche Wähler in der Rolle von nen Tonnen im Jahre 2012 herunter, und zwar ohne dass Miss Sophie und ein Tigerkopf im Sinne einer 3-Pro- betriebsbedingte Kündigungen notwendig werden. Aber zent-Hürde mit einem stolpernden Finanzminister. was geschah im letzten Dezember im Vermittlungsver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der fahren? Herr Stoiber ließ verlauten: Wenn auch nur ein CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Filmriss!) einziger Cent bei den Subventionen für die Landwirt- schaft weggenommen wird – also ein Bereich, der gar Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien wir doch ein- (B) (D) nicht zustimmungspflichtig ist –, ist das ganze Vermitt- mal ehrlich: Was hier passiert, ist ritualisiert. Es ist bis lungsverfahren von vornherein als gescheitert anzuse- ins Detail und bis hin zu den ewigen Zwischenrufen ritu- hen. Das war Ihre Vorgehensweise. Sie sollten also ein- alisiert. Zum Thema Sparen: Sparen Sie sich doch, Herr mal über Ihre eigene politische Glaubwürdigkeit in Tauss, einmal Ihre ewigen Zwischenrufe. Das wäre auch diesem Punkt nachdenken. für uns ein großer Beitrag. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg DIE GRÜNEN) Tauss [SPD]: Sie dienen der Wahrheitsfin- dung!) Nehmen wir jetzt einmal das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen. Ich habe, wie es die Mehrheit Ich will gerne zugestehen, Herr Eichel, dass Sie ver- des Bundestages dann beschlossen hat, einen nachhalti- suchen, in eine Richtung zu gehen, die dem Haushalt gen Abbau von Steuersubventionen in Höhe von 15,6 hilft. Aber Sie setzen sich doch gar nicht mehr durch. Sie Milliarden Euro vorgeschlagen. Nachdem dieses Gesetz haben um sich herum Ihre Freunde versammelt – manch- durch den Bundesrat gegangen war, sind gerade einmal mal redet man von Parteifreunden; das ist noch viel 2,4 Milliarden Euro übrig geblieben. Mit anderen Wor- schlimmer –, die Ihnen regelmäßig die Beine weghauen. ten: Es geht im Zusammenhang mit Ihrer Blockade des Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen im (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Bundesrat um 13 Milliarden Euro, die dem Staatshaus- Das können Sie anhand des Rentenzuschusses in Höhe halt nicht zur Verfügung stehen. von 2 Milliarden Euro – Sie haben dieses Thema ja an- gesprochen – ganz deutlich sehen. Sie sind weg. Da stellt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich die Frage, wie wir das vor dem Hintergrund der DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ Neuverschuldung bewerten sollen und ob die 2 Milliar- CSU]: Was war mit anderen Vergünstigungen?) den Euro nicht eher in einen Nachtragshaushalt gehören, Es darf nicht mehr so weitergehen, dass wir Vorschläge auch wenn Sie behaupten, Sie könnten sie durch allge- machen, die auch zur Sanierung der Länder- und Kom- meine Einsparungen irgendwie wieder hereinholen. munalhaushalte beitragen, und Sie sie blockieren. Es Das beste Beispiel hat ja der Hilfsökonom Joschka sind nämlich keine Lösungen für die Probleme in diesem Fischer abgegeben. föderalen Staat mehr möglich, wenn nicht alle ihrer Ver- antwortung nachkommen, und zwar im Bundestag und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten im Bundesrat. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10097

Otto Fricke (A) Was sich mit seinem Spruch, mit der tung; Sie sind diejenigen, die deutlich zeigen müssen, (C) Askese sei es jetzt genug, nicht nur in Bezug auf seine wohin der Weg geht. Person, sondern auch in Bezug auf den Haushalt erlaubt hat, Jetzt zur Frage eines Nachtragshaushalts. Herr Eichel, Sie haben gesagt, wir wüssten es schließlich (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr schön!) noch nicht so genau. erzeugt bei den Bürgern einen bestimmten Reflex; und (Jürgen Koppelin [FDP]: Das sagt er seit fünf genau der ist das Problem. Der Bürger meint nämlich, Jahren!) wir müssten gar nicht sparen; denn manchmal kann er Ich gebe Ihnen Recht: Wir wissen es noch nicht genau. die Zusammenhänge der Milliarden von Schulden, die Das ist übrigens auch der Grund, warum die FDP ihren wir uns hier regelmäßig an die Köpfe werfen, nicht mehr Antrag erst nach der Steuerschätzung eingebracht hat. erkennen. Sobald ein Politiker – gerade der Vizekanz- Wir wissen es nur ungefähr. Wir wissen, dass es um ler – sagt, wir müssten nicht mehr so sehr sparen, sagt mehrere Milliarden geht, die uns zusätzlich fehlen wer- der Bürger: Siehst du, das habe ich doch gewusst! Es ist den. Wir kennen die Problematik von Hartz IV, die Pro- gar nicht nötig, und wenn doch, muss es ja nicht mich blematik bei der Kindererziehung der unter Dreijährigen kleinen Mann treffen. und die Rentenproblematik, die Problematik im Zusam- Herr Minister, Sie haben die Niederlande als Beispiel menhang mit der Schwankungsreserve usw. Wäre es angeführt. Es stimmt: Nachdem Herr Zalm Sie heftigst deshalb nicht ehrlicher, jetzt einen Nachtragshaushalt kritisiert hat, hat er selber einmal die 3-Prozent-Hürde aufzustellen, in dem dargestellt wird, dass es nicht so gerissen. Aber hier kommt jetzt der große Unterschied: läuft, wie Sie es sich vorgestellt haben? Wenn sich dann Die Niederländer versuchen die drei wesentlichen Pro- letztendlich zeigt, Herr Eichel, dass es besser gelaufen bleme – Sozialausgaben, Zinsen, Arbeitslosigkeit – in ist als erwartet, dann brauchten Sie sich am Ende dieses den Griff zu bekommen; die Arbeitslosigkeit haben sie Jahres nicht mit dem Nachtragshaushalt hinter dem ei- bereits in den Griff bekommen. Die Lösung ist nicht eine gentlichen Haushalt zu verstecken, sondern könnten an- Agenda 2010, sondern es sind harte Einschnitte. hand dieses Nachtragshaushalts zeigen, dass es aufwärts geht. (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Von solchen harten Einschnitten ist von der Regierungs- Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU]) seite nichts mehr zu hören, auch nicht vonseiten der da- zugehörigen Fraktionen. Was Sie jetzt machen, wird am Ende zu Folgendem führen: Sie werden – jetzt kehre ich zu dem Bild des Hier liegt der wesentliche Unterschied zu einer voraus- (B) „Dinner for One“ zurück – nicht mit Miss Sophie die (D) schauenden Finanzpolitik. Sie selber haben gesagt: Die Treppe hinaufgehen, sondern Sie werden vom Wähler an Schulden von heute sind die Steuern von morgen. – Das der untersten Stufe stehen gelassen werden. bedeutet doch, dass wir im Moment dabei sind, jedes Jahr Steuererhöhungen für unsere Kinder zu beschlie- Herzlichen Dank. ßen. Das kann man einfach nicht verantworten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Was kann man dagegen machen? Wir könnten einmal Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mit dem Fahrrad – früher sind Sie ja noch gerne Fahrrad gefahren – in die Niederlande fahren, mit Herrn Zalm re- Das Wort hat die Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/ den und uns die Situation dort anschauen. Ich sehe hier Die Grünen. neben der Regierung auch die Gewerkschaftsvertreter. (Jürgen Koppelin [FDP]: Der Fricke hat doch Ich sage ganz bewusst, dass ich es für richtig halte, dass alles gesagt! – Ulrich Heinrich [FDP]: In kür- es Abgeordnete gibt, die Mitglied in einer Gewerkschaft zester Zeit!) sind. Aber wichtig wäre, einmal mit den Gewerkschaften zu reden und das zu erreichen, was in anderen Ländern erreicht wird, nämlich dass man beschließt, dass es keine Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): weiteren Lohnerhöhungen gibt. Wir werden in diesem Herr Kollege Fricke, Sie sind, wenn ich richtig infor- Jahr wieder erleben, dass Lohnerhöhungen von 3 oder miert bin, erst seit zwei Jahren im Bundestag. Deswegen 4 Prozent beschlossen werden, immer mit der Begrün- ist Ihnen in den letzten zehn Jahren so manche Plänkelei dung, dass die jeweiligen Unternehmen doch so gut ver- im Haushaltsausschuss entgangen. Aber wenn Sie das dienen. Das kann nicht der Sinn des Ganzen sein. Beispiel der Niederlande bemühen, möchte ich deutlich sagen: Die Niederlande haben in den 90er-Jahren ange- (Beifall bei der FDP) fangen, ihr Strukturproblem Arbeitsmarkt zu lösen. Da hat hier noch Herr Kohl regiert, unterstützt von Herrn Ich habe manchmal das Gefühl, wir machen jetzt den- Gerhardt, und da ist nichts passiert – um das einmal auf selben Fehler, den wir bei der Rente und im Zusammen- den Punkt zu bringen. hang mit dem Demographiewandel gemacht haben: Wir alle wissen, was am Ende rechnerisch herauskommt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber alle tun so, als könnte man durch das Verstellen ei- und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ nes kleinen Schräubchens um größere Veränderungen CSU]: So simpel ist das Leben nicht, Frau herumkommen. Sie haben im Moment die Verantwor- Kollegin!) 10098 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Antje Hermenau (A) Herr Austermann, wir sitzen uns im Ausschuss jetzt Nachdem in dieser Debatte deutlich geworden ist, (C) schon seit zehn Jahren gegenüber. Ich könnte eigentlich dass die Verhältnisse, wie sie jetzt sind, nicht zukunfts- erwarten, dass wir mit der Situation etwas aufrichtiger tauglich sind, kann man keine finanzpolitischen Vor- umgehen, als Sie es hier getan haben. schläge machen, die diese falschen Verhältnisse zemen- tieren. Das ist verkehrt. Deswegen kommt eine 5-pro- (Widerspruch bei der CDU/CSU) zentige Haushaltssperre jetzt nicht mehr infrage. Den Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie andeuten, dass Zeitpunkt dafür haben Sie verpasst. Im letzten Jahr hätte aufgrund der durch die Wahl des Herrn Köhler seit es die Möglichkeit gegeben, dass Bundestag und Bun- Sonntag veränderten Situation und damit eines in gewis- desrat gemeinsam eine finanzpolitische Vollbremsung ser Weise veränderten politischen Vorgehens der Union hingelegt hätten – dann hätten solche Vorschläge viel- jetzt die ersten Angebote bezüglich einer vernünftigen leicht etwas gebracht –, wenn im Paket mitbeschlossen und notwendigen Zusammenarbeit im Bereich der Fi- worden wäre, welche Strukturreformen Bund und Län- nanzpolitik in der Bundesrepublik Deutschland kom- der, Unionsfraktion und Koalitionsfraktionen gemein- men. Stattdessen haben Sie hier ein buchhalterisches sam anpacken. Klein-Klein bemüht in der Hoffnung, dass das als Fi- Aber das ist nicht passiert. Stattdessen haben Sie es nanzdebatte durchgeht. vorgezogen, auf eine Palme hochzuklettern und jeden ein- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das war eine zelnen Vorschlag zum Abbau von Steuersubventionen wirtschaftspolitische Rede! Das haben Sie nur als Steuererhöhung zu diffamieren. nicht verstanden!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir haben so- Die wirklich dramatischen Zahlen haben Sie ausgespart. gar die Zuwanderung gemeinsam machen kön- Seit 10 Jahren streiten wir darüber. In dieser Zeit haben nen!) wir drei Finanzminister und zwei Regierungen erlebt. Sie streben doch immer die Regierungsübernahme an. Herr Austermann, Sie wissen so gut wie ich: Seit Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie in einigen Jahren 30 Jahren sind die Strukturprobleme in Deutschland an- dann vielleicht von der Palme wieder herunterklettern gehäuft worden. Das haben alle Parteien gemacht; wir müssen? Es würde für Sie sehr unbequem. Wenn Sie haben das schon ausdiskutiert. Allein die Ausgaben für nämlich später versuchen müssten, den Abbau von Steu- Zinsen und Alterssicherung machen 140 Milliarden Euro ersubventionen durchzusetzen, dann müssten Sie der Be- im Jahr aus. Das sind mehr als 60 Prozent des Bundes- völkerung erklären, dass es sich dabei nicht um eine haushalts. Steuererhöhung handelt. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das sieht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) Ihr Kollege Albert Schmidt nicht so!) und bei der SPD) (D) Wenn Sie noch die Ausgaben für Investitionen und Ver- Es langweilt so ungemein, teidigung hinzunehmen, dann haben Sie in etwa das, was aus Steuereinnahmen finanziert werden kann. Ich wie- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das stimmt! – derhole: Ausgaben für Zinsen, Rentenzuschuss, Investi- Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist eine gute tionen und Ausgaben für Verteidigung können wir uns Beschreibung Ihrer Rede!) aus den Steuereinnahmen leisten. Was wir uns nicht leis- immer wieder dasselbe von Ihnen zu hören, obwohl Sie ten können, sind Ausgaben für Bildung, Arbeitsmarktpo- doch genau wissen, wie schwierig die Lage inzwischen litik, Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Außenpolitik, ist. Sie finden eigentlich eine günstige Situation vor, die für Bau und teilweise Verkehr. es in Deutschland noch nicht gegeben hat. Es gibt ein öf- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Zahlen fentliches Problembewusstsein. Die Umfragen zeigen, stimmen doch nicht!) dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass wir sparen müssen und dass es ganz offen- Das heißt für mich, dass diese Republik schon sehr lange sichtlich ist, dass es nicht mehr so weitergeht. Die Be- über ihre Verhältnisse lebt, und zwar in allen Bereichen. völkerung stellt generell die Struktur der Bundesrepublik Nun hat Ihr Kollege Stoiber – er steht der Unionsfrak- Deutschland infrage. Das kann man aus den Umfragen tion politisch sehr nahe – deutlich gemacht, er wäre damit erkennen. zufrieden, wenn alle Haushalte in der Bundesrepublik Anstatt die Gelegenheit zu nutzen und eine entspre- Deutschland um 5 Prozent gekürzt würden. Wir hatten chende Diskussion öffentlich zu führen, kommt Ihnen schon im letzten Jahr die so genannte Rasenmäherdiskus- nichts anderes in den Sinn, als jede einzelne Maßnahme sion. Erste Erfahrungen mit dem Koch/Steinbrück- in der Hoffnung zu diffamieren, mithilfe einer Art Papier – dieses Papier bedeutet eine Art Rasenmäher Sonthofen-Strategie die Regierung an die Wand fahren über alle Subventionen – haben gezeigt: Wenn man eine zu lassen. Sie haben aber nicht bedacht – so kommt es 5-prozentige Kürzung aller Ausgaben durchführt, dann mir jedenfalls vor –, was Sie, die Sie vor Kraft kaum verhindert man, dass in der Politik Entscheidungen ge- noch laufen können, in zwei Jahren übernehmen würden. troffen werden. Man zementiert die bestehenden Verhält- nisse. Das kann nicht gut sein. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie gehen schon einmal davon aus!) (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Sagen Sie einmal etwas zu Ihrem Anteil Ein zerstörtes Land? Was haben Sie sich dabei gedacht? an dem ganzen Laden!) Wie wollen Sie von dieser Blockadepolitik, die fast Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10099

Antje Hermenau (A) schon verfassungswidrig ist, wieder wegkommen? Diese (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Fragen haben Sie sich offensichtlich nicht gestellt. NEN]: Ja, weil es so ist!) Sie hätten noch jetzt eine Chance gehabt, Vorschläge Ich bin mir ziemlich sicher, dass es selten eine so kon- zu machen. struktive Opposition gegeben hat. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das Opfer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hat Schuld und nicht der Täter!) neten der FDP – Lachen bei der SPD) Es gab für ein paar Tage die Möglichkeit, über mehrere Was wir alles in der letzten Zeit mitgetragen haben! Ich Strukturreformen zu diskutieren und zu entscheiden. vergleiche das einmal mit 1996 – zu dieser Zeit war ich Am Beispiel Niederlande – Herr Fricke hat es erwähnt – zwar noch nicht im Bundestag, aber immerhin schon im wird deutlich, wie viele Jahre es dauert, bis Strukturre- Landtag –, mit den Petersberger Beschlüssen. Da haben formen greifen. Dass die Ergebnisse der Agenda 2010 in Ministerpräsident Schröder, Ministerpräsident Eichel und diesem Jahr noch nicht zu pflücken sind, ist jedem klar, noch ein paar bekannte Persönlichkeiten – Lafontaine der ein bisschen von der Sache versteht. Das heißt, es war, glaube ich, auch dabei – muss jetzt entschieden werden, was in den nächsten Jah- ren passieren soll. Da verweigern Sie sich wahrschein- (Jürgen Koppelin [FDP]: Stimmt! Die übli- lich noch die nächsten zwei Jahre. chen Verdächtigen!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Platte ist alles blockiert. Von Ihnen lasse ich mir nichts vorwerfen. langsam abgenutzt!) Wir sind sehr konstruktiv. Wir werden uns noch mehrere solcher Debatten anhören (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) müssen, Herr Fricke. Es wird sich wohl nichts ändern. Aber nun zum Tagesordnungspunkt. Sie haben bei der Schade! Steuerschätzung wieder ein Debakel erlebt. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer re- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wohl wahr! giert eigentlich? Das ist nicht zu fassen!) Eine Katastrophe!) Aus Machtinstinkt spielen Sie mit der Zukunft der Sie hatten, was allein den Bundeshaushalt anbetrifft, einen Menschen. Sie sitzen in der Machtfalle. Sie haben im Einbruch von über 8 Milliarden Euro zu verzeichnen. Bundesrat eine Nebenregierung gebildet, weil Sie gerne Dies ist eine enorme Größenordnung. Nebenbei bemerkt: ein bisschen Macht haben wollen. Jetzt sitzen Sie in der Das ist der komplette Haushalt des Forschungs- und Bil- (B) Falle. Auf der einen Seite fordern Sie ein Haushaltssi- dungshaushaltes. Dieser Haushalt umfasst 8,3 Milliarden (D) cherungsgesetz, Euro; nur um Ihnen einmal aufzuzeigen, was Ihnen (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Aha!) durch die Lappen gegangen ist. auf der anderen Seite blockieren Sie jeden einzelnen Man muss sich fragen, warum das so ist. Sie geben Schritt im Bundesrat. Im Haushaltsbegleitgesetz 2004 den Steuerschätzern Vorgaben, wie hoch das Wachstum sind viele zustimmungspflichtige Einzelheiten enthalten. voraussichtlich wird. Das ist die Grundlage der Berech- Sie hätten die Möglichkeit gehabt zuzustimmen. Wahr- nung. Seit mindestens drei Jahren prognostizieren Sie je- scheinlich wird man ein Haushaltsbegleitgesetz 2005 des Jahr ein wesentlich höheres Wachstum, als es dann machen müssen. Sie wissen, wie ich darüber denke. Das tatsächlich ist. Entscheidende an dieser Sache ist: Sie werden wieder (Walter Schöler [SPD]: Wer ist „Sie“? Sie, die blockieren; es wird wieder keinen Schritt vorangehen. Sachverständigen?) Deswegen kann ich Ihren Antrag einfach nicht ernst neh- men. Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel aus dem Jahr 2002. In der Steuerschätzung von Mai 2002 haben Sie für das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahr 2003 ein Wachstum von nominal 3,9 Prozent pro- und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ gnostiziert. Wir hatten letztes Jahr ein Minuswachstum CSU]: Wenn es gut ist, dann machen wir mit!) von 0,1 Prozent; nur um einmal die Größenordnungen aufzuzeigen. Dass das zu keiner vernünftigen Haushalts- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: politik führen kann, ist offensichtlich. Das Wort hat die Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSU- Es ist zu fragen, warum wir jetzt und nicht erst im No- Fraktion. vember, also fünf bis sechs Wochen vor Ende des Haus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haltsjahres, so wie es letztes Jahr geschehen ist, einen neten der FDP) Nachtragshaushalt fordern. Sehr geehrter Herr Minis- ter Eichel, Sie haben gesagt, Sie hätten sich im letzten Jahr um 5 Milliarden Euro verschätzt. Sechs Wochen vor Ilse Aigner (CDU/CSU): dem Jahresende ist es ziemlich einfach, sich lediglich Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- um diese Summe zu verschätzen. Aber zu Beginn des nen und Kollegen! Wir haben uns mehrfach anhören Jahres hatten Sie sich um 20 Milliarden Euro verrechnet. müssen, dass wir im Bundesrat oder wo auch immer die großen Blockierer seien. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 10100 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Ilse Aigner (A) Das ist eine ganz andere Größenordnung. Sie brauchen (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) dem Kollegen Austermann nicht zu sagen, er habe sich Von welcher traurigen Zahl mussten wir da um 12 Milliarden Euro verrechnet – abgesehen davon, starten?) dass das nicht stimmt. Eine Verdoppelung ergäbe nach meiner Rechnung im- Zu der Frage, warum wir jetzt einen Nachtragshaus- mer noch eine Zahl über 5 Milliarden. Selbst wenn ich halt fordern. Ich nenne ein weiteres Beispiel, weil es für die Suppenküchen – oder wie Sie das Ganztagsschulpro- einen normalen Menschen schwer ist, zu begreifen, was gramm sonst auch immer bezeichnen möchten – ein solcher Haushalt im Einzelnen bedeutet. Man stelle (Jörg Tauss [SPD]: Eine Unverschämtheit!) sich einmal einen Menschen mit einem Jahreseinkom- men von ungefähr 22 000 Euro vor. Dummerweise sind hinzurechne, sind wir noch immer weit von einer Ver- seine 22 000 Euro schon komplett durch Zinsen, Miete, doppelung der Investitionen entfernt. Versicherungen, Benzin und was sonst noch im täglichen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Leben benötigt wird, verplant. Er hat damit gerechnet, zukünftige Ausgaben über eine Lohnsteigerung mitzufi- Im selben Zeitraum haben Sie die Fördermittel für nanzieren. Sie ist leider nicht eingetreten; im Mai des Hochschulbaumaßnahmen – im Rahmen der Gemein- Jahres weiß er das. Dann hat er eine Erbschaft in be- schaftsaufgabe ist das Ihre Aufgabe – um 135 Millionen trächtlicher Größenordnung eingeplant. Das sind Ihre Euro gekürzt. Stattdessen investieren Sie Geld in Pro- Risiken, die Sie im Haushalt stehen haben. Diese Erb- gramme, die Sie überhaupt nichts angehen, die allein die schaft ist dummerweise auch nicht ausgezahlt worden. Länder etwas angehen. Das halte ich für prinzipiell Das alles weiß er im Mai. Stellen Sie sich vor, dieser falsch. Mensch sagt dann: Jetzt mache ich noch keine Neuauf- lage meiner Planung; das mache ich erst im November. (Beifall des Abg. Steffen Kampeter [CDU/ Dann ist es zwar schon zu spät; aber das ist ja egal. Ich CSU]) mache einfach die Augen zu und riskiere es. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des neten der FDP) Kollegen Tauss? Dass jemand in einem normalen Privathaushalt so vor- geht, ist überhaupt nicht vorstellbar. Ilse Aigner (CDU/CSU): Vom Herrn Tauss doch immer. Herr Kollege Tauss, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Blamiert wä- (B) bitte. (D) ren wir alle da!) Ich möchte ein paar Dinge Revue passieren lassen; Jörg Tauss (SPD): denn Sie sagen ja, vor 1998 sei alles ganz fürchterlich Liebe Frau Kollegin Aigner, würden Sie konstatieren, und schlimm gewesen. Ich nenne Ihnen einmal den Fi- dass sich der Haushalt des Bundesministeriums für Bil- nanzierungssaldo von 1998, der meiner Meinung nach dung und Forschung seit 1998 um 30 Prozent erhöht hat, schon damals zu hoch war: Er betrug 1998 dass der Ansatz für die Hochschulbauförderung erheb- 28,9 Milliarden Euro. In Ihrem Bericht steht für das Jahr lich über dem von Ihnen verantworteten Ansatz von 2003 ein Finanzierungssaldo von 44 Milliarden Euro. 1998 liegt und dass die Kürzungen des Freistaates Bay- Ich kann nur zitieren, was in Ihrem Bericht stand. Die ern im Bereich Bildung und Forschung dem Ausmaß an Defizitquote nach den Maastricht-Kriterien betrug 1998 Kürzungen entsprechen, die Sie während Ihrer Regie- 1,7 Prozent und liegt jetzt bei 3,9 Prozent. Was noch viel rungszeit im Bundeshaushalt vorgenommen haben, aber schlimmer ist: Die Investitionsquote lag 1998 bei nicht in Korrespondenz mit dem stehen, was wir in den 12,5 Prozent. Sie liegt jetzt bei unter 10 Prozent, näm- vergangenen Jahren in diesem Bereich geleistet haben? lich bei 9,6 Prozent. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sehr geehrter Herr Eichel, da wir schon bei den DIE GRÜNEN – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ Investitionen sind: Ich kann mich noch gut daran erin- DIE GRÜNEN: Das war ein Trauerspiel!) nern, dass Kanzler Schröder gesagt hat, er wolle die In- vestitionen in Bildung und Forschung verdoppeln. Ilse Aigner (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Tauss, die Istausgaben für Hoch- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja!) schulbaumaßnahmen betrugen 1998 920 Millionen Euro. Heute betragen sie 925 Millionen. Das ist eine we- Hier die nackten Zahlen aus dem Haushalt sentliche Steigerung um 5 Millionen. Sie können das im (Ute Kumpf [SPD]: Gibt es auch angezogene Haushalt nachlesen, ich kann es Ihnen aber auch zeigen. Zahlen?) (Jörg Tauss [SPD]: Sie müssen das dazwischen sehen!) – wir können ja einmal schauen –: 1998 wurden im Einzelplan 30 Investitionen in Höhe von 2,65 Milliarden – Sie haben mich gefragt, wie es ausschaut. So ist es. Ich Euro ausgewiesen. Im Jahr 2004 sind im Einzelplan 30 habe von den investiven Maßnahmen gesprochen. Es 2,18 Milliarden Euro ausgewiesen. gibt einen Unterschied – das sollten Sie sich einmal Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10101

Ilse Aigner (A) anschauen – zwischen investiven und konsumtiven Maß- Kindergeld erhöhen usw. Ihr stellvertretender Fraktions- (C) nahmen. vorsitzender Horst Seehofer addiert die Belastung bei Umsetzung dieser Vorschläge auf eine Summe von (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das weiß 102 Milliarden Euro. Wie passt das denn zusammen? er nicht! – Jürgen Koppelin [FDP]: Als Ge- Erst planen Sie 102 Milliarden Euro zusätzliche Belas- werkschaftssekretär weiß er das doch gar tungen für den Bundeshaushalt und jetzt verlangen Sie nicht!) ein Haushaltssicherungsgesetz. Was Sie hier treiben, ist Herr Tauss, ich muss Sie leider darüber aufklären. Sie einfach nicht mehr wahr. wollten – das haben Sie schriftlich festgehalten – die Fördermittel für investive Maßnahmen verdoppeln. Es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist ein Unterschied, ob ich die Mittel von 2,65 Milliarden DIE GRÜNEN) Euro auf 5,3 Milliarden Euro erhöhe oder auf Der Bayerische Ministerpräsident will eine Global- 2,18 Milliarden Euro – so ist es ausgewiesen – kürze. kürzung von 5 Prozent auf alles. Ich will an ein paar (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beispielen deutlich machen, was das heißt. Jetzt komme ich zu meiner Rede zurück. (Otto Fricke [FDP]: 5 Prozent weniger Diäten hieße das auch!) (Jörg Tauss [SPD]: Das ist keine Antwort! – Gegenruf des Abg. Dietrich Austermann – 5 Prozent weniger Diäten wäre weniger schlimm, lie- [CDU/CSU]: Sechs! Setzen!) ber Kollege Fricke, als 5 Prozent weniger im Haushalt für Gesundheit und Soziale Sicherung. Dort müssten – Ich habe leider nicht genügend Zeit, um alles zu sagen, nämlich 4 Milliarden Euro eingespart werden, was eine was mir auf dem Herzen liegt. Interessant ist für mich Erhöhung um 0,4 Beitragspunkte oder Rentenkürzungen nach wie vor, dass alle anderen EU-Länder an uns vor- bedeuten würde. Das wäre nämlich das Ergebnis einer beiziehen. Dafür sind angeblich die makroökonomi- solchen Operation. Wenn Sie das möchten, können Sie schen Bedingungen veranwortlich: 9. November, Welt- das gerne der staunenden Bevölkerung sagen. Wir möch- wirtschaft, Globalisierung, Fixschuld und was weiß ich ten das auf alle Fälle nicht. sonst noch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Früher sagte der damalige Ministerpräsident des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schröder, er müsse Bundeskanzler werden, um die ma- kroökonomischen Bedingungen auf Bundesebene än- dern zu können. Jetzt sind die makroökonomischen Be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) dingungen irgendwo anders schuld. Ich glaube, es liegt Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (D) an der Person, die hier regiert. Das einzig Richtige wäre, Fricke? aufzuhören zu regieren, damit das Land wieder vorwärts kommt. Elke Ferner (SPD): Danke schön. Ja. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Otto Fricke (FDP): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Ferner, wollen Sie mit Ihrer Äußerung sagen, dass überall gespart werden muss, nur nicht bei Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin den Rentnern? Elke Ferner, SPD-Fraktion.

Elke Ferner (SPD): Elke Ferner (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Ich weiß nicht, in welcher Welt Sie im letzten halben Kolleginnen! Sie haben uns, wie üblich, einen Schau- Jahr gelebt haben, Herr Kollege Fricke, aber wir haben fensterantrag vorgelegt. Wir erleben das in jeder Haus- den Rentnern und Rentnerinnen in dieser Republik – das haltsausschusssitzung. ist immerhin die Generation, die unserer Generation eine deutlich bessere Ausbildung ermöglicht hat, als unsere (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie kommen Eltern sie genießen konnten, die dieses Land aufgebaut aus dem Lafontaine-Lager! Jetzt sind wir ge- haben – eine ganze Menge zugemutet, damit wir für de- spannt!) ren Enkelkinder und Töchter das finanzieren können, – Lieber Kollege Kampeter, Sie müssen sich schon ein- was die Frau Kollegin Aigner vorhin als „Suppenkü- mal die Wahrheit anhören. Sie haben im Bundesrat alles chen“ diskreditiert hat, nämlich Ganztagsschulen flä- Mögliche blockiert: Steuervergünstigungsabbaugesetz, chendeckend einzurichten. Haushaltsbegleitgesetz; Sie haben es geschafft, die Ge- Ich bin der Auffassung, meindefinanzreform zulasten der Kommunen zu verwäs- sern. (Otto Fricke [FDP]: Keine Streichung mehr?) Auf der anderen Seite gibt es aus Ihren Reihen di- dass zum jetzigen Zeitpunkt eine zusätzliche Belastung verse Vorschläge: von Herrn Merz dieses komische Bier- der Rentner und Rentnerinnen nicht möglich ist. Das deckelkonzept; die Kopfprämien; andere wollen das halte ich nicht für akzeptabel. Insbesondere unter den 10102 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Elke Ferner (A) älteren Frauen gibt es viele, die nur über eine sehr kleine die nicht mit einer Steinzeittechnologie, sondern mit (C) Rente verfügen einer hoch modernen Technologie leben wollen? Die CDU in Nordrhein-Westfalen will ja nicht wirklich einen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die klassi- Totalabbau der Steinkohlesubventionen. sche parlamentarische Linke!) (Otto Fricke [FDP]: Raketen sind auch Hochtech- und Mühe haben, bis zum Monatsende mit ihrem Geld nologie! Aber wollen wir Raketen bauen?) über die Runden zu kommen. – Mit Steinkohle kann man aber niemanden totschießen, Die CDU/CSU hat nicht nur in der Rentenpolitik, lieber Herr Kollege Fricke. sondern beispielsweise auch bei der Gesundheitsreform ihre Klientel geschont, aber auf der anderen Seite eine Praxisgebühr eingeführt, wie wir sie nicht wollten. Diese Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ist ein Ding der Union. Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen- frage: des Kollegen Kampeter? (Otto Fricke [FDP]: Wir reden von pauschal 5 Prozent!) Elke Ferner (SPD): Die Union hat ebenso die Privatisierung des Zahnersat- Sehr gerne. zes und höhere Zuzahlungen zu verantworten. Das trifft wiederum insbesondere ältere Menschen, die öfter zum Steffen Kampeter (CDU/CSU): Arzt müssen, vielleicht auch dauerhaft Medikamente Frau Kollegin Ferner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen müssen, härter als unsereins. nehmen, dass in der gestrigen Beratung des Landtages (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Ist Nordrhein-Westfalen die CDU-Landtagsfraktion vorge- alles von Ihnen beschlossen worden! – Steffen schlagen hat, die Kohlesubventionen zugunsten von Zu- Kampeter [CDU/CSU]: Alles mit Ihrer kunftsinvestitionen in Bildung und Forschung im Ver- Stimme beschlossen worden!) gleich zum Regierungsentwurf zu halbieren? Sind Sie bereit, diesem Vorschlag der CDU-Landtagsfraktion auf Deshalb glaube ich, dass eine zusätzliche Belastung der Bundesebene zu folgen? Rentner und Rentnerinnen derzeit nicht möglich ist. (Otto Fricke [FDP]: Da freuen sich die Rent- Elke Ferner (SPD): ner!) Nein, ich bin nicht dazu bereit, Herr Kollege – Das freut mich. Ich danke Ihnen auch, dass Sie mir die Kampeter. (B) (D) Gelegenheit gegeben haben, diese Ausführungen zu ma- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe chen. von der CDU/CSU: Aha!) Ich könnte noch das Beispiel Wirtschaftshaushalt an- Vorhin ist die Entwicklung der Kohlepreise auf den führen. Hier müssten Einschneidungen bei Arbeitsbe- Weltmärkten angesprochen worden. Ich glaube, es war schaffungsmaßnahmen und der aktiven Arbeitsmarktpo- Herr Austermann. Ich habe beispielsweise von dem Um- litik erfolgen. Das wird Ihre Kolleginnen und Kollegen weltminister des Landes Niedersachsen – FDP – gele- im Osten des Landes mit Sicherheit sehr freuen. sen, der sogar vorgeschlagen hat, alle bestehenden Ze- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die freuen chen offen zu halten und keine einzige mehr zu sich schon genug über die Gemeinschaftsauf- schließen. gabe!) Ich glaube nicht, dass nur Ausgaben in Bildung und Sie ziehen immer gleich die Steinkohlehilfe zu Rate. Forschung Zukunftsinvestitionen sind. In Nordrhein- Westfalen gibt es beispielsweise noch einige Zulieferbe- (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Zu Recht!) triebe. Sie werden in Nordrhein-Westfalen wahrschein- – Dazu muss ich Ihnen eines sagen, liebe Frau Kollegin lich auch einige Kraftwerksbauer haben. Aigner. Es waren Ihr Kanzler Kohl, Ihr Minister Waigel (Otto Fricke [FDP]: Die brauchen aber keine und Ihr Wirtschaftsminister Rexrodt, die 1997 die Höhe deutsche Steinkohle!) der Kohlebeihilfen bis einschließlich 2005 festgelegt ha- ben. Das waren nicht wir, das waren Sie. All das hängt damit zusammen. Zu Ihrem Zwischenruf, Herr Fricke, dazu brauche man keine deutsche Stein- (Beifall bei der SPD – Dietrich Austermann kohle, kann ich nur sagen: Die deutsche Stahlindustrie [CDU/CSU]: Degression!) wäre im Moment heilfroh, wenn sie deutsche Kokskohle – Degressiv, natürlich. Bei der Degression wird es auch zu vernünftigen Preisen beziehen könnte bleiben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nein!) Otto Fricke [FDP]: Und das wäre die deut- sche?) Was aber bedeutet das für die Menschen vor Ort – ich komme aus einer Bergbauregion –, und sie nicht zu Preisen, die deutlich über den deutschen Förderkosten liegen, auf den Spotmärkten einkaufen (Otto Fricke [FDP]: Nicht nur Sie!) müsste. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10103

Elke Ferner (A) Ich möchte noch ein Beispiel für Ihre Unseriosität an- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (C) führen. Sie haben in Ihrem Antrag die Einnahmen und Drucksachen 15/3096 und 15/3216 an die in der Tages- Ausgaben der Jahre 1998 und 2003 gegenübergestellt. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Da vergleichen Sie aber wirklich Äpfel mit Birnen; denn Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind Sie haben sich nicht die bereinigten Ausgaben angese- die Überweisungen so beschlossen. hen. Allein die Rentenversicherungszuschüsse sind um Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: fast 29 Milliarden Euro höher als im Jahr 1998. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja, rich- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu- tig!) ordnung des Gentechnikrechts – Ja, und während Ihrer Regierungszeit sind sie von den – Drucksache 15/3088 – Versicherten über Beiträge gezahlt worden. Wenn man Überweisungsvorschlag: diese Summe auf die Beiträge umlegt, entspricht dies Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und einer Beitragserhöhung von knapp 3 Prozentpunkten. Das Landwirtschaft (f) bedeutet also Rentenversicherungsbeiträge von knapp Rechtsausschuss 22,5 Prozent statt 19,5 Prozent bzw. – andersherum aus- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung gedrückt – eine zusätzliche Belastung für Unternehmen Ausschuss für. Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und und Versicherte in Höhe von je 14,5 Milliarden Euro. Technikfolgenabschätzung Wenn das Ihre Politik ist, kann ich nur sagen: Prost Mahlzeit! b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie haben Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) die Rentenreform gekippt!) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Ich möchte Ihnen noch einen letzten Beweis für die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN „Seriosität“ der CDU-Finanzpolitik geben. Wahlfreiheit für die Landwirte durch Reinheit (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dafür reicht des Saatgutes sicherstellen Ihre Redezeit nicht!) – Drucksachen 15/2972, 15/3209 – Man muss sich nur einmal ansehen, was die „grandiose“ Berichterstattung: Landesregierung des Saarlandes geschafft hat. Abgordnete Gabriele Hiller-Ohm Helmut Heiderich (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: 54 Prozent in Ulrike Höfken (B) den Umfragen!) (D) Dr. Christel Happach-Kasan In den Jahren 2000 bis 2004 hat der Bund dem Saarland Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die eine Teilentschuldung von knapp 2 Milliarden Euro zu- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich kommen lassen. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Und wie Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- war das in Bremen?) ministerin Renate Künast. Aber der Schuldenstand des Landes, werter Herr Kampeter, wird Ende dieses Jahres über 1,1 Milliarden Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- Euro höher sein als im Jahr 1999. Das ist CDU-Finanz- schutz, Ernährung und Landwirtschaft: politik. Sie unterscheiden sich leider in keiner Hinsicht Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge- von Ihren Kollegen im Saarland. ordnete! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was Daher muss ich sagen: Ihre Anträge sind Showan- wir brauchen, ist Sicherheit – Sicherheit für unsere Bäu- träge, wie Sie sie immer schon eingebracht haben. Wir erinnen und Bauern; denn sie müssen wissen, was auf ih- werden sie ablehnen. Natürlich werden wir sie noch im ren Feldern los ist, und sie müssen entscheiden können, Ausschuss beraten, aber sie helfen diesem Land über- welche Chancen sie nutzen wollen und welche nicht. haupt nicht weiter. Sie sollten sich lieber mit konstrukti- Das ist meines Erachtens keine ideologische Frage, son- ven Vorschlägen beteiligen, dern schlicht und einfach eine Frage der wirtschaftlichen Existenz. Genau deshalb bringen wir den Entwurf eines (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir stellen Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts ein. einen Antrag!) Hierbei geht es nicht nur darum, EU-Recht in materielles Recht umzusetzen, sondern es geht auch um den Schutz anstatt alles nur mies zu machen. von gentechnikfreiem Anbau. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sowie bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN) An dieser Stelle will ich nicht verhehlen, dass es An- lass gibt, die Europäische Kommission zu kritisieren, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: weil sie aufgrund des Drucks, der auf sie ausgeübt wurde, Ich schließe die Aussprache. in Bereichen, die dringend geregelt gehören, einige 10104 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Bundesministerin Renate Künast (A) Fragen offen gelassen hat. Wir sehen – auch das gehört Zum Zweiten: Bei den Haftungsfragen ist für mich (C) zum Thema Sicherheit für die Landwirtschaft –, dass es ganz klar: Wer Schäden verursacht, wer wesentliche Be- derzeit wohl 33 gentechnikfreie Regionen und Land- einträchtigungen beim Gewerbe, beim Unternehmen ei- kreise in Deutschland gibt und weitere in Gründung sind. nes anderen verursacht, muss dafür zahlen. Deshalb ist Was beweist das? Das beweist, dass sich die Landwirte auch klar: Wer sich für die Agrogentechnik entscheidet, sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigen und dass es muss dafür sorgen, dass Nachbarn keinen Schaden ha- Bäuerinnen und Bauern gibt, für die in der gentechnik- ben. Ich sage auch für die weitere Diskussion in den freien Landwirtschaft große Einkommensvorteile lie- nächsten Tagen und Wochen: Ich denke gar nicht daran, gen. die Folgekosten auf den Rücken der Steuerzahler abzu- wälzen. (Ulrich Heinrich [FDP]: Das ist doch nur Show! Das gibt es doch gar nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) – In Sachen Show kennt sich Ihr Guido ja aus. Gucken wir uns einmal Sachsen-Anhalt an: Dort hat die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Landesregierung mit viel Pomp einen 300-Hektar-An- sowie bei Abgeordneten der SPD – Ulrich bauversuch gestartet, mit 240 000 Euro Steuergeldern Heinrich [FDP]: Na, na!) für einen Haftungsfonds. Ich dachte immer, die Länder Wahrscheinlich sind seine Schuhe mit der aufgeklebten haben zu wenig Geld. Wo haben sie es denn plötzlich Zahl 18 – er träumt heute noch davon, dieses Ziel eines her? Der Haftungsfonds wird am Ende nur denjenigen Tages zu erreichen; aber es wird wohl nicht gelingen – in nützen, die die Gentechnik verwenden. Tatsächlich soll einem Heimatmuseum in einer gentechnikfreien Zone der Fonds dazu dienen, Landwirte „einzukaufen“, die untergebracht. Da stehen sie auch gut. diese Agrogentechnik aussäen sollen. Wenn man diesen Haftungsfonds von Sachsen-Anhalt übrigens auf die (Ulrich Heinrich [FDP]: Das war aber schlecht bundesweite Mais-Anbaufläche umrechnet, wäre das gekontert!) eine Haftungssumme von 1,3 Milliarden Euro; das kann man sich in diesen Tagen auf der Zunge zergehen lassen. Es ist doch klar, dass die Landwirte die gentechnik- Da muss ich einmal all die, die im Bundesrat die Mei- freie Landwirtschaft wollen. Denn sie sehen darin Ein- nung unterstützen, wir bräuchten einen solchen Fonds, kommensvorteile und Standortvorteile, übrigens auch im fragen: Wo bleiben eigentlich Ihre Forderungen nach Hinblick auf den internationalen Markt. Vergessen Sie Subventionsabbau? Gerade eben haben wir hier doch nicht: Gerade in den USA haben die Landwirte so viel eloquente Forderungen zum Subventionsabbau gehört. Druck gemacht, dass das Thema Weizen erst einmal fal- Dann kann man einen solchen Haftungsfonds allerdings len gelassen wurde. (B) nicht unterstützen. (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf sowie bei Abgeordneten der SPD) von der CDU/CSU: Gut!) Meine Damen und Herren, was wir wollen, ist Trans- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: parenz und Planungssicherheit, deshalb das Gentechnik- Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des gesetz, das man angesichts der Auseinandersetzung Kollegen Heiderich? quasi als „das Gesetz, das Frieden auf den Feldern schafft“ bezeichnen kann. Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- (Zuruf von der CDU/CSU: Fuchs gegen schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Hase!) Ja. Ich möchte auf vier Punkte eingehen: die Abstandsre- Helmut Heiderich (CDU/CSU): geln – die im Sinne einer Vorsorgepflicht zur guten fach- Frau Ministerin, da Sie eben die Vorschläge des Bun- lichen Praxis gehören –, die Haftungsfragen, ein für alle desrates angesprochen haben, darf ich Sie fragen: Ist Ih- zugängliches Standortregister und eine unabhängige Be- nen bekannt, dass dieser Vorschlag eines Haftungsfonds gleitforschung. meines Wissens von den SPD-geführten Bundesländern Bei dem Ersten ist doch eines klar: Wir brauchen Re- Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Rheinland-Pfalz und geln für die Vorsorge, detaillierte Regeln für eine gute Bremen unterstützt worden ist, dass das keinesfalls ein fachliche Praxis. Ich halte es für einen normalen Ansatz, Vorschlag aus unserer Richtung ist, wie Sie öfter öffent- zu sagen, dass, wer anbaut, sich auch Gedanken machen lich betonen? muss, wie er Auswirkungen auf die Felder, auf das Ei- gentum, auf die Ernte seiner bäuerlichen Nachbarn ver- Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- hindern kann. schutz, Ernährung und Landwirtschaft: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Heiderich, Ihre Formulierung war für mein juris- und bei der SPD) tisches Herz schon hinreichend präzise: Sie haben „un- terstützt“ gesagt. Trotzdem kommt der Vorschlag aus Ih- Für mich ist klar: Wir können und wollen Verunreini- rer Richtung. Er wird von Sachsen-Anhalt verfolgt, die gungen nicht dulden. uns zeigen wollen, wie es an der Stelle geht. Wo Sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10105

Bundesministerin Renate Künast (A) mich aber gerade auf den Haftungsfonds ansprechen, Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- (C) muss ich sagen: Ich sehe natürlich auch mit einiger Ver- schutz, Ernährung und Landwirtschaft: wunderung, dass hier ein Fonds vorgeschlagen wird, Frau Kollegin, zu Ihrer Frage, wie die Felder ge- nicht mit einer gesetzlichen Regelung, sondern mit einer schützt werden. Auch die FDP achtet in den Sitzungen Entschließung, in der es heißt: Die Hersteller sollen ei- der Föderalismuskommission sehr darauf, wer welche nen angemessenen Beitrag leisten. Welchen, war man Aufgaben hat. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass das wohl zu feige zu sagen. Den Rest soll der Bund zahlen. Polizeirecht Länderaufgabe ist. Die Bundesregierung hat Ich diskutiere gerne mit Ihnen über einen Haftungs- nicht vor, das an sich zu ziehen. fonds, wenn die Länder ihn selber zahlen. Aber ich gebe (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ dafür kein Geld aus. Vielleicht tun es die reichen Länder. DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zu Ihrer Frage, inwieweit ich mich distanziere. Ich und bei der SPD) bin lange Zeit im politischen Geschäft. Schon zu Beginn Ich habe zwei Punkte angesprochen. Der dritte ist das der 80er-Jahre habe ich gelernt, dass ich mich nicht von Standortregister. Ein öffentlich zugängliches Standort- anderen distanziere, ich distanziere mich höchstens von register ist unabdingbar; das sagt auch das europäische meinen eigenen Äußerungen. Dazu habe ich in diesem Recht. Ich habe an dieser Stelle kein Verständnis für den Fall aber keinen Anlass. FDP-Antrag, in dem es heißt: „Einsicht nur bei konkret Sie haben mich nicht gefragt, ob ich mich von dem begründeten Vorhaben“. Nach dem europäischen Recht fehlgeschlagenen Anbauversuch insgesamt distanziere. brauchen wir ein Standortregister schon deshalb, um die Wie hätte ich auf eine solche Frage antworten sollen? Begleitforschung überhaupt zu ermöglichen: Man kann Die eine Seite wollte alles geheim halten. Die Nachbarn gemeinhin nur forschen, wenn man weiß, was wo ist und haben sich auf das Grundgesetz und auf ihr Recht auf Ei- von wo wohin fliegt. Das Standortregister soll für die gentum, ihren eingerichteten Betrieb, berufen und woll- Bauern ein Anknüpfungspunkt für eine Auskunft sein, ten eine Vereinbarung treffen, die die Bauern außen vor um auf dieser Basis zum Beispiel Schadensersatz gel- lässt. Ich distanziere mich von keiner der beiden Seiten. tend zu machen. Zu Ihrer Frage, wie man die Forschung sicherstellt: Ich verstehe nicht, warum Sie Einsicht nur bei kon- Auch Forschung kann nicht unter der Käseglocke statt- kret begründeten Vorhaben gewähren wollen. Nach mei- finden. Derjenige, der im Forschungsbereich tätig ist, nem Verständnis haben Menschen ein Recht auf Infor- muss mit den Regeln leben, die es in einem demokrati- mation. Ich dachte bisher immer, dass das die schen Land gibt, und ist gut beraten, den öffentlichen Bürgerrechtspartei FDP auch so sieht und sich dafür ein- Diskurs zu diesem Thema offen und ehrlich zu führen. (B) setzt. (D) Vielleicht wäre man gut beraten gewesen, wenn man (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit einem solchen Großanbauversuch nicht ohne Wis- NEN]: Das ist lange vorbei!) sen der Nachbarbauern begonnen hätte, wie es aus ideo- Ich möchte keine Politik des Misstrauens. Genau diese logischen Gründen der Fall gewesen ist. So etwas führt wird gefördert, allen voran durch einen FDP-Landesmi- so weit, dass noch nicht einmal der bayerische Minister nister aus Sachsen-Anhalt. sagen kann, wo solche Versuche in Bayern stattfinden. Auch Minister Sklenar aus Thüringen weiß nicht mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Der Wei- zenversuch ist kein Großversuch! Das ist Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: falsch, was Sie sagen!) Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischen- Man sollte sich, wenn man in diesem Bereich forscht, in- frage: der Kollegin Happach-Kasan? telligenter anstellen, vor allem da man weiß, dass dieser Bereich in der Gesellschaft umstritten ist. Es wissen alle, Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- welche Auswirkungen das hat. Diese Aufgabe kann ich schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herrn Katzek nicht auch noch abnehmen. Gerne. Zum vierten für mich wichtigen Punkt, der Begleit- forschung. Begleitforschung, die diesen Namen auch Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): verdient, heißt für mich, dass man nicht nur diejenigen Frau Ministerin, teilen Sie die Einschätzung, dass versammelt, die sowieso dafür sind, sondern dass man denjenigen, die Begleitforschung durchführen wollen, alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt, die Sicherheit gegeben werden muss, dass die Versuche auch unabhängige, dass man alle Fragen von der mögli- nicht zerstört werden? In welcher Weise wollen Sie das chen gesundheitlichen Folge für Mensch und Tier bis hin sicherstellen? zu Auswirkungen auf Biodiversität seriös erforscht und dass man die Diskussion – das kennen wir aus anderen Frau Ministerin, inwieweit haben Sie sich von den Zusammenhängen – nicht zu eng führt. Wir bauen ein Zerstörungen bei Freisetzungsversuchen in Sachsen-An- entsprechendes Programm auf. halt distanziert, bei denen Weizenpflanzen herausgeris- sen und Felder zertrampelt wurden? Was haben Sie dafür (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN getan, dass so etwas in Zukunft nicht mehr geschieht? und bei der SPD) 10106 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Bundesministerin Renate Künast (A) Zu der von den CDU/CSU- und FDP-regierten Län- einandersetzung mit dem Thema Grüne Gentechnik ha- (C) dern begonnenen Blockade im Bundesrat liest man in ei- ben. Ich bin leider wieder enttäuscht worden. nigen Zeitungen Berichte über all die Auswirkungen und findet Formulierungen wie „Krieg auf den Dörfern“ oder Wenn Sie sich die Verlautbarungen der verschiedenen „Bauernkriege“. Das sind nur einige Überschriften. Ich Regierungsmitglieder in den letzten Wochen und Mona- sage Ihnen klar: Was wir brauchen, ist das Gegenteil, ten zum Thema Grüne Gentechnik vor Augen halten und nämlich Planungssicherheit. Das ist noch milde ausge- wenn Sie die Ankündigungen und die tatsächlichen Ge- drückt. Das, was hier unter Federführung von Sachsen- setzestexte gegenüberstellen, dann wird deutlich: Die Anhalt angezettelt wurde, ist Chaos. Diskussionsgrundlage zur Grünen Gentechnik, die von- seiten der Regierung geboten wird, ist an Widersprüch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lichkeit und vor allem an Scheinheiligkeit nicht mehr zu und bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/ überbieten. CSU]: Das ist unglaublich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Sehen Sie sich doch einmal die Diskussionen in Ihren Ich will Ihnen das auch begründen: Es ist von den Er- Wahlkreisen an. Der Bauernverband, der das ursprüng- probungsanbauten in einigen Ländern – übrigens nicht lich mitmachen wollte, fordert jetzt selber, dass die Bau- nur unionsregierte, sondern auch SPD-regierte Länder – ern endlich Auskunft bekommen. Daran sehen Sie, was gesprochen worden. Sie werden von der Ministerin in Sie verursacht haben. Ich weiß nicht, wo Sie stehen. übelster Weise kritisiert und an den Pranger gestellt. Aber ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass Ihre Inte- ressen mit den Interessen des Bauernverbandes und da- Tatsache ist erstens, dass der Bundeskanzler höchst- mit möglicherweise den Interessen der Bauern relativ persönlich im Jahre 2000 bei der EXPO groß angelegte wenig zu tun haben. bundesweite Erprobungsanbauten angekündigt hat. Tat- sache ist auch, dass wir bis heute auf die Umsetzung die- Wir stehen auf alle Fälle eindeutig dafür, dass es Haf- ser Ankündigung warten. tungsregeln statt einer ungerechten Kostenverteilung gibt. Wir brauchen Abstandsregeln statt misstrauisches Zweitens. Tatsache ist, dass die Regierungen der Mit- Beäugen an den Grundstücksgrenzen. Wir brauchen gliedstaaten in den EU-Koexistenzleitlinien aufgefor- Standortregister statt Geheimniskrämerei und wir wollen dert werden, derartige Erprobungsanbauten durchzufüh- eine umfangreiche Begleitforschung, statt die Ergebnisse ren. Die Bundesrepublik Deutschland hat dies bisher der Wissenschaft dem Zufall zu überlassen. nicht getan, obwohl völlig unumstritten ist, dass derar- tige Erprobungsanbauten notwendig und sinnvoll sind, (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜND- um Erfahrungen im Miteinander und Nebeneinander un- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Helmut Heiderich (B) terschiedlicher Anbauformen, in der so genannten Ko- (D) [CDU/CSU]: Unglaublich!) existenz, zu sammeln. Das alles dient am Ende der Sicherheit der Bäuerinnen Drittens ist Tatsache – auch dies wird von der Regie- und Bauern und dem Schutz der Gesundheit der Men- rung verschwiegen –, dass das Bundessortenamt, eine schen und der Umwelt. dem Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernäh- Wir brauchen eine zügige Umsetzung dieses Geset- rung und Landwirtschaft unterstehende Bundesbehörde, zes. Deshalb erwarte ich von der Opposition – das sage die entsprechende Maissorte unabhängig davon zum An- ich ganz klar –, dass Sie Ihre doppelzüngige Politik in bau genehmigt hat, wann, von wem und wo sie angebaut diesem Bereich aufgeben. Einmal tun Sie so, als schütz- wird. ten Sie die Bauern, dann reiten Sie wieder mit eifrigem Viertens ist Tatsache, dass vom Robert-Koch-Insti- Galopp durch die Säle. Versuchen Sie nicht, an dieser tut – einem Institut, das dem Bundesgesundheitsministe- Stelle zu blockieren. Ich sage Ihnen voraus: Gelingen rium untersteht – die Genehmigung zur Inverkehrbrin- wird es Ihnen sowieso nicht. gung erteilt wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, wenn Sie sich all das an- und bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/ schauen, dann erkennen Sie, dass hier nichts anderes ge- CSU]: Wenn hier einer blockiert, dann ist das tan wird, als auf einer völlig sauberen rechtlichen Basis Frau Künast!) das zu vollziehen, was möglich und notwendig ist, um die Erfahrungen dafür zu sammeln, mit der Grünen Gen- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: technik wirklich verantwortungsvoll umzugehen, und Das Wort hat die Kollegin Gerda Hasselfeldt, CDU/ um eine richtige und fundierte rechtliche Grundlage zu CSU-Fraktion. schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage: Wenn dies endlich so getan wird – die Bun- Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): desregierung hatte sich bislang verweigert –, dann sollte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- man das nicht kritisieren. Man sollte die Leute, die die legen! Ich habe aufmerksam zugehört und hatte die Er- Verantwortung dafür haben, nicht an den Pranger stellen, wartung, dass wir endlich einmal die Chance für eine der sondern man sollte sie unterstützen. Man sollte dankbar schwierigen Angelegenheit angemessene sachliche Aus- dafür sein, dass dies in die Hand genommen wird. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10107

Gerda Hasselfeldt (A) Nun zu den Fragen der Geheimhaltung. Frau Minis- die Grundlage für Forschung und Entwicklung im eige- (C) terin, ein Stück weit tragen Sie selber die Verantwortung nen Land nicht verbessert, sondern verschlechtert. dafür – und zwar ganz gewaltig –, dass Sie die Beschädi- Ich wünsche mir sehr, dass wir diese Diskussion mit gungen an den Feldern toleriert, sich nicht davon distan- Sachargumenten und mit wissenschaftlichen Erkenntnis- ziert und sie nicht kritisiert haben. sen, die uns allen vorliegen, führen. Ich wünsche mir, (Renate Künast, Bundesministerin: Jetzt pas- dass das Ganze ohne ideologische Verblendung stattfin- sen Sie aber auf, was Sie sagen!) det. Sagen Sie bitte: Warum haben Sie eigentlich so lange ge- (Lachen bei den Abgeordneten der SPD – Ulrike braucht, um die EU-Freisetzungsrichtlinie umzuset- Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reine zen? Die Freisetzungsrichtlinie, die mit diesem Gesetz Konzerninteressen!) umgesetzt wird und in der das Standortregister und die Ich wünsche mir auch, dass der Beitrag der Grünen Meldepflicht verankert sind, weil sie EU-rechtlich vor- Gentechnik für Gesundheit, Ernährung, Landwirtschaft geschrieben sind, ist im Frühjahr 2001 verabschiedet und Umwelt, der unumstritten ist, nicht nur bei uns, son- worden. Heute sind wir im Frühjahr 2004, Frau Minister. dern auch in der Dritten Welt einbezogen wird. Es Drei Jahre haben Sie nichts gemacht, und jetzt beklagen kommt nicht von ungefähr, dass die FAO, die UN-Orga- Sie sich, dass die rechtlichen Grundlagen dafür fehlen. nisation für Landwirtschaft und Ernährung, erst in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – letzten Wochen in ihrem Bericht deutlich machte, wel- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Na, na, chen positiven Beitrag die Grüne Gentechnik gerade das stimmt doch nicht!) auch für die Landwirtschaft in der Dritten Welt leisten kann und leisten wird. Die Frist für die Umsetzung – das wäre Oktober 2002 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gewesen – ist sogar schon abgelaufen. Natürlich will ich, dass auch die kritischen Bemer- (Zuruf von der CDU/CSU: Schon lange!) kungen in diese Diskussion einfließen. Aber sie müssen Wenn Sie die Richtlinie rechtzeitig umgesetzt hätten, alle einfließen und abgewogen werden. Uns geht es nicht hätten wir heute eine Meldepflicht, die Standortregister, darum, dass die Grüne Gentechnik die ökologische und Transparenz und keine Geheimhaltung, die Sie immer die konventionelle Landwirtschaft oder die klassische beklagen. Pflanzenzüchtung ersetzt, sondern wir wollen eine sinn- volle Ergänzung der bisherigen Anbauformen erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (D) [SPD]: Sie hätten doch die Initiative ergreifen NEN]: Ach ne! Das ist doch völlig unglaub- können! – Gegenruf des Abg. Helmut Heiderich würdig!) [CDU/CSU]: Wir haben sie mehrfach Daraus resultieren die Anforderungen an dieses Ge- ergriffen! – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE setz, erstens Koexistenz aller Anbauformen, zweitens GRÜNEN]: So ein Quatsch! Die Rückverfolg- echte Wahlfreiheit für die Verbraucher und die Land- barkeit war doch gar nicht da!) wirte, drittens keine überflüssige Bürokratie und viertens wirkliche Rechtssicherheit. Nun will ich zu den Widersprüchen im Gesetzentwurf selber ein paar Sätze sagen. In Ihrem eigenen Gesetzent- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wurf schreiben Sie in § 1, dass der Zweck dieses Gesetz NEN]: Dann müssen Sie das Gesetz unterstüt- unter anderem die Förderung der Grünen Gentechnik zen!) ist. Rechtssicherheit und Planungssicherheit, Frau Minis- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ter, taugen nicht nur als Überschrift, sondern sie müssen NEN]: Ach!) tatsächlich für die Verbraucher, die Landwirte, die Pro- duzenten, die Wissenschaftler und für alle gelten, die auf Die einzelnen Vorschriften gestalten Sie jedoch mit einer diesem Feld arbeiten. Sie alle brauchen dringend Pla- überbordenden Bürokratie und mit Haftungsregeln aus, nungs- und Rechtssicherheit. die dazu führen, dass das Ganze behindert, wenn nicht sogar verhindert wird. Das heißt, Sie machen das pure Dem wird der Gesetzentwurf, mit Verlaub, nicht ge- Gegenteil von dem, was Sie in § 1 erklären. recht. Mit diesem Gesetzentwurf ist ein Aufblähen der Bürokratie verbunden. Es wird zu mehr Verunsicherung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und damit zu keiner Rechtssicherheit kommen. Die Haf- der FDP – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE tungsregelungen sind willkürlich. GRÜNEN]: Sie wollen das Chaos!) (Widerspruch bei den Abgeordneten der SPD) Das ist natürlich ganz praktisch, weil Sie dann gegen- Es wird nicht gefördert, sondern behindert und verhin- über Wissenschaftlern und in Sonntagsreden den § 1 zi- dert. Deshalb muss der Gesetzentwurf zwingend nachge- tieren können. Auch können Sie den Bundeskanzler zi- bessert werden, tieren, der das Jahr 2004 zum Jahr der Innovation ausge- rufen hat. In diesem Jahr der Innovation aber werden der (Beifall der Abg. Dr. Christel Forschungsetat gekürzt und durch ein Gesetz wie dieses Happach-Kasan [FDP]) 10108 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Gerda Hasselfeldt (A) insbesondere in den Fragen der Bürokratie und der Haf- Das ist kein Schreiben von einer ökoradikalen Splitter- (C) tung sowie bei der Möglichkeit, den Probeanbau nicht gruppe, sondern dieses Schreiben haben die westfäli- nur zuzulassen, sondern auch wissenschaftlich zu beglei- schen Bundestagsabgeordneten vom Präses der Evange- ten. lischen Kirche von Westfalen, Alfred Buß, erhalten. (Zuruf von der SPD: Stellen Sie (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Änderungsanträge!) Er hat den Beschluss der Landessynode aus dem letzten Es ist schon interessant: Als der Gesetzentwurf vor ei- Jahr beigefügt, der seinen Gipfel darin findet, auf dem nigen Monaten im Kabinett eingebracht und öffentlich Ackerland der Kirche keinen Anbau gentechnisch verän- diskutiert wurde, las man in der Zeitung „Die Zeit“ in ei- derter Pflanzen zuzulassen. nem Artikel über diesen Gesetzentwurf – ich zitiere –: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ … mit bürokratischen Bremsmanövern allein lässt DIE GRÜNEN – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ sich die Zukunft nicht gewinnen. DIE GRÜNEN]: Was interessiert die CDU Ich glaube, treffender kann man dieses Gesetz nicht cha- schon die Kirche?) rakterisieren. Ich halte diesen Beschluss für richtig, denn auch Lassen Sie uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass meine Skepsis bleibt. Die gentechnische Veränderung wir die Bürokratie in diesem Gesetz und die Brems- von Pflanzen ist ein Eingriff in die Evolution, dessen klötze beseitigen und die Grundlage dafür schaffen, an- Auswirkungen wir nur sehr schwer beurteilen können, hand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wir ha- vor allem, wenn wir zum Beispiel ein Gen aus einem ben, unter Berücksichtigung aller Argumente dafür und Bodenbakterium ausbauen und in eine höhere Pflanze dagegen eine sinnvolle Regelung zu finden, auf deren übertragen. Das ist ein Prozess, der in der Natur wahr- Grundlage wir die Chancen, die die Grüne Gentechnik scheinlich nie vorkommen wird. Wenn er vorgekommen für die Gesundheit und die Ernährung der Menschen, für ist oder vorkommt, dann ist das unproblematisch, weil es die Landwirte, für die wirtschaftliche Entwicklung und sich um einen Einzelfall handelt. Wenn aber Myriaden für die Innovation in unserem Land bietet, wirklich sinn- von gezielt veränderten Pflanzen auf einem Feld stehen, voll nutzen können. dann hat das eine vollkommen andere Qualität. Wir wis- sen letztlich nicht, was über die Jahre betrachtet an Pro- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- blemen entstehen kann. NEN]: Alles Schmu!) Es gibt eine ganze Reihe von Argumenten der Befür- Herzlichen Dank. worter der Grünen Gentechnik. Die tauschen wir regel- (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mäßig aus: Hilfe bei der Bekämpfung des Welthungers, Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Diese Rede hat höhere Ernteerträge, weniger Chemieeinsatz und Schäd- sich wohltuend von dem abgehoben, was uns lingsbefall usw. die Frau Künast zu sagen wusste! – Zustim- mung bei der CDU/CSU) (Ulrich Heinrich [FDP]: Ist das nichts?) All diese Argumente sind weder endgültig belegt noch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: endgültig widerlegt. Das Wort hat der Kollege René Röspel, SPD-Frak- Ähnlich ist es mit den Argumenten der Gegner oder tion. Skeptiker: größere Abhängigkeit von Konzernen, Schaf- fung von Resistenzen bei Schädlingen, Schädigung von René Röspel (SPD): Nützlingen, Auskreuzungen in die Umwelt, reduzierte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Ernteerträge usw. Auch diese Argumente sind weder Herren! Wir beobachten in Fragen der Gentechnologie endgültig belegt noch widerlegt. Das heißt, es findet das eine große Verunsicherung. Zum einen lehnen viele übliche Spiel statt, dass Sie mir Ihre Gutachten oder wis- Menschen gentechnisch veränderte Lebensmittel ab und senschaftlichen Arbeiten vorlegen, die ich auseinander fragen daher, warum die unerwünschten gentechnisch nehme, und umgekehrt. veränderten Pflanzen in den Anbau kommen sollen; zum anderen sind aber auch die Bäuerinnen und Bauern ver- In allen Fällen gibt es mehr oder weniger gute Hin- unsichert, da sie, selbst wenn sie selber nicht auf die weise, die ich einfach zur Kenntnis nehme. Aber was ist neuartigen Saatgutangebote zugehen wollen, durch Pol- eigentlich schlimmer? Wenn die Befürworter in einigen lenflug, Aussamung und Vermischung bei Ernte und Jahren mehr Recht bekommen oder wenn die Gegner Transport davon betroffen sein könnten. Recht behalten? Was ist denn, wenn die Skeptiker in zehn oder 20 Jahren Recht bekommen, Das ist ein Zitat aus einem der vielen Schreiben, die wir dieser Tage bekommen. Ich wollte heute nicht über (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ideologie sprechen. Das ist Aufgabe der CDU/CSU und Damit ist es zu spät!) der FDP. es aber dann schon zu spät ist, weil sich freigesetzte (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Pflanzen nicht mehr zurückholen lassen, weil bäuerliche Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, so ist Strukturen zusammengebrochen sind oder weil altherge- es!) brachtes Saatgut verloren gegangen ist? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10109

René Röspel (A) Vor diesem Hintergrund sehe ich übrigens auch den gerechter wäre es nämlich, das Kind auf seiner zerrisse- (C) Erprobungsanbau von gentechnisch verändertem nen Hose sitzen zu lassen und den Schaden nicht zu er- Mais auf 300 Hektar in 30 Betrieben in Sachsen-Anhalt, setzen. Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thü- ringen, Sachsen und Baden-Württemberg als sehr kri- (Zuruf von der SPD: Das will die Opposition!) tisch an. Ich halte es für falsch und unklug, dass die Das deutsche Recht entscheidet sich für den Schutz Standorte nicht mindestens für Landwirte transparent ge- des Opfers und die Hilfe für den Geschädigten. macht werden. Frau Künast hat das angedeutet. In eini- gen der genannten Länder gibt es nämlich Regionen, ins- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesamt 33, in denen die Bauern ausdrücklich DIE GRÜNEN) gentechnikfrei produzieren wollen. Ich hoffe, dass kein Freisetzungsversuch in deren Nähe stattfindet, weil sie Wir wollen dieses Prinzip auch auf die Gentechnik auf dann nämlich in Schwierigkeiten kommen. dem Acker übertragen. Ein Landwirt wird sich frei ent- scheiden können, ob er gentechnisch veränderte Pflan- Ich halte es geradezu für fatal, wenn die CDU/CSU in zen anbaut oder auf Gentechnik verzichtet. Wenn aber ihrem Antrag auf Drucksache 15/2822 fordert, umge- ein Landwirt, der gentechnikfrei anbauen will, auf seiner hend einen großflächigen Erprobungsanbau in Deutsch- Ernte sitzen bleibt, weil vom Gentechnikbauern nebenan land zu starten. Sie sind offenbar nicht in der Lage, zu die Gentechnikpflanzen in einem Maße „herüberge- erkennen, dass wir nicht über die notwendigen Kapazitä- weht“ sind, dass er seine Ernte nicht mehr als gentech- ten für eine vernünftige Begleitforschung zu einem groß- nikfrei verkaufen kann, dann muss dieser Bauer seinen flächigen Anbau verfügen. Sie wollen gleich mit der Tür Schaden ersetzt bekommen. ins Haus fallen und Fakten schaffen. Wenn dies nicht zu- trifft, dann müssten Sie das in Ihrem Antrag besser er- In dieser Frage besteht ein wesentlicher Unterschied klären. zwischen Regierung und Opposition. Die FDP fordert in ihrem Antrag auf Drucksache 15/2979: „Es haften nur Insofern ist es richtig und verantwortungsvoll, mit der die Landwirte, die die Koexistenzregeln nicht konse- Gentechnologie vorsichtig voranzugehen. Genau diesen quent einhalten.“ Dieser Vorschlag bedeutet: Wenn der Weg verfolgen wir mit dem Gesetzentwurf der rot-grü- Gentechnikbauer alle Regeln befolgt, dann bleibt der nen Bundesregierung. Wir haben darauf zu reagieren, gentechnikfreie Bauer auf seiner verunreinigten Ernte dass die EU-Kommission die Freisetzung gentechnisch sitzen. Bezogen auf mein Beispiel aus dem alltäglichen veränderter Pflanzen neuerdings genehmigt, und wir Leben bedeutet das: Wenn der Hundehalter alle Regeln müssen europäisches Recht in deutsches Recht umset- befolgt, dann bleibt das Kind auf der zerrissenen Hose (B) zen. Unser Ziel ist es, den Verbrauchern echte Wahlfrei- sitzen. (D) heit zu ermöglichen, und wir wollen eine Koexistenz zwischen den verschiedenen Anbauformen schaffen. (Zuruf von der CDU/CSU: So ein Blödsinn!) (Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff Wir wollen das nicht. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch nicht!) Eine zentrale Rolle spielt sicherlich die Haftungsfrage. Rot-Grün will, dass es dabei bleibt, dass der Hundehalter Wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen, dass wir dem Kind eine neue Hose kauft. Wir wollen auch, dass in diesem Punkt keine absolute Gerechtigkeit herstellen der Schaden des Bauern, der gentechnikfrei produzieren können. Entweder schützt man die Landwirte, die Gen- will, ersetzt wird. technik nutzen wollen – das ist offenbar die Intention der Opposition –, oder man legt den Schwerpunkt auf den (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie Schutz derjenigen, die auf Gentechnik verzichten wol- beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) len. Am Anfang meiner Rede zitierte ich den Brief des (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, der die Unsicherheit auch der Landwirte schilderte. Wir wollen Eine solche Entscheidungslage ist aber im täglichen mit unserem Gesetzentwurf die Wahlfreiheit der Ver- Leben nicht unüblich. braucher stärken und auch die geschilderte Unsicherheit Lassen Sie mich das an einem simplen Beispiel aus der Landwirte abbauen. Der Anbau gentechnisch verän- dem berühmten täglichen Leben verdeutlichen. Ein Hun- derter Pflanzen darf nicht zum Nachteil derer geschehen, dehalter geht mit seinem Hund spazieren. Der Hund ist die darauf verzichten wollen. Ich bin überzeugt, dass die gut ausgebildet und hat einen friedlichen Charakter. Er Landwirte und die Verbraucher merken werden, wer wirklich an ihrer Seite steht. hat noch nie Probleme gemacht und er ist angeleint. Trotzdem springt er ein Kind an und zerreißt dessen Den FDP-Abgeordneten wünsche ich, dass sie keinen Hose. Nach deutschem Recht muss der Hundehalter die Hunden begegnen, die ihre Hosen zerbeißen. Hose ersetzen, obwohl ihn eigentlich keine Schuld trifft. Er hat sich nämlich an alle Regeln gehalten, die ihm auf- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem erlegt sind. Eigentlich ist das ungerecht. Es hat aber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der nichts mit willkürlicher Rechtsprechung zu tun; viel un- CDU/CSU: Mein Gott, was für ein Blödsinn!) 10110 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gesetzt haben, und Menschen in den ländlichen Räumen, (C) Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel Happach- die neue Einkommensalternativen brauchen, und dies al- Kasan, FDP-Fraktion. les, damit die grüne Illusion vom Museumsbauernhof er- halten bleibt. Das will die FDP verhindern. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (Beifall bei der FDP – Ulrike Höfken [BÜND- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Museum war Zu Ihrer Beruhigung, Herr Röspel: Mein Hund beißt doch schon die FDP!) nicht. Insofern besteht keine Gefahr. Die Ministerin – wir alle haben es gehört – wäscht (René Röspel [SPD]: Sie haften trotzdem!) ihre Hände in Unschuld, wenn es um die Zerstörung von Zu Ihren Ausführungen will ich eines anmerken: Ihr Freisetzungsversuchen geht, obwohl gerade ihre Politik Begriff von Natur schließt menschliche Kreativität aus. und ihre Äußerungen der Nährboden sind, der die Zer- störung von Freisetzungsversuchen tatsächlich möglich (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) gemacht hat. Ihrem Begriff von Natur zufolge befänden wir uns noch (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist immer in der Steinzeit. wirklich unerträglich!) (Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salz- – Frau Ausschussvorsitzende, informieren Sie sich ein- gitter] [SPD]: Hat bisher alles durch geneti- mal über agrarische Tatbestände! Dann können Sie bei sche Veränderungen stattgefunden oder was?) solchen Fragen besser mitreden. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Erdbeeren, die Sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – morgen oder übermorgen essen werden, aus Unterarten Dr. Hertha Däubler-Gmelin [SPD]: Unglaub- gezüchtet sind, die aus Südamerika und aus Europa lich!) stammen! Sie sind völlig unnatürlich und hätten ohne den Menschen nie eine Chance gehabt, zusammenzu- Der Vorfall in Sachsen-Anhalt steht für die Zerrissen- kommen. heit in Deutschland, wenn es um die Bewertung der Pro- dukte der Grünen Gentechnik geht. (René Röspel [SPD]: Das ist traditionelle Zucht!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Der Hund beißt nicht, aber die Halterin! – Heiter- Ich möchte nun zu meiner eigentlichen Rede kom- keit bei der SPD) men. Im Kampf gegen Hunger und Unterernährung (B) (D) setzt die FAO auf den Einsatz der Grünen Gentechnik. Ministerin Bulmahn, SPD, begrüßt das Anbauprogramm Generaldirektor Jacques Diouf fordert eine Genfor- der Bundesländer für Bt-Mais, Ministerin Künast lehnt schung, die sich an den Bedürfnissen der Kleinbauern in es ab. Asien und Afrika ausrichtet. Die Züchtung des Goldenen Reises ist ein Beispiel dafür, dass dies gelingen kann. Es ist gute Tradition, dass wir im Deutschen Bundes- tag nicht entscheiden, was die Verbraucherinnen und (Beifall bei der FDP) Verbraucher morgens zum Frühstück essen. Die Bundesregierung bremst dagegen die Grüne Gen- (Beifall bei der FDP – Hans-Michael technik aus. Goldmann [FDP]: Gott sei Dank!) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie haben Wahlfreiheit. NEN]: Die ist nicht grün!) (Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bei Deutschland wird damit seiner globalen Aufgabe nicht Ihnen bald nicht mehr!) gerecht. Der Deutsche Bundestag entscheidet ausschließlich, (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: So welchen Kriterien neue Produkte genügen müssen. ein Quatsch!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Jawohl!) Im Glaubenskampf um die Grüne Gentechnik sind die Gefechtsfelder abgesteckt und die Fronten verhärtet. Die Daher ist es völlig unerheblich, welche Umfragewerte Vernunft ist auf der Strecke geblieben. Produkte der Grünen Gentechnik erzielen. Ulrich Bahnsen titelte in der „Zeit“: „Greenpeace weiß, was (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Kunden wünschen müssen“. Ich füge hinzu: nicht, was Verantwortlich dafür sind die grünen Minister, insbeson- sie wünschen. Nicht Wahlfreiheit ist somit das Ziel Ihrer dere Frau Künast, und ein Bundeskanzler, der sie gewäh- Politik und von Greenpeace, sondern Bevormundung. ren lässt. Das spiegelt sich im Entwurf eines Gesetzes (Zuruf von der CDU/CSU: Unmündigkeit!) der Bundesregierung zur Novellierung des Gentechnik- gesetzes wider. Die Grüne Gentechnik soll verhindert Die eine Voraussetzung für Wahlfreiheit ist die Kenn- werden. Die Leidtragenden dieser Politik sind junge zeichnung. Sie ist geregelt. Die andere Voraussetzung Menschen, die abwandern werden, Menschen in den ist das Angebot von Produkten aus gentechnisch verän- neuen Bundesländern, die auf diese Zukunftstechnologie derten und anderen Pflanzen. Das wird kommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10111

Dr. Christel Happach-Kasan (A) Entgegen den Sprüchen von Ministerin Künast sind Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): (C) gentechnisch veränderte Pflanzen sicherer als andere; Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! denn sie sind mehr geprüft. Ich finde es gut, dass wir nun auch anlässlich der Bera- tung dieses Gesetzentwurfs – er ist schon seit Anfang (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- des Jahres in der Welt – über die einzelnen Probleme im NEN]: Mein Gott!) Zusammenhang mit der Gentechnik reden. Wir tun das ja schon länger. Die Diskussionen in der Öffentlichkeit Auch die viel zitierte britische Studie Farm Scale Evalua- werden von diesem Thema beherrscht. Jetzt treten wir in tion hat kein wirklich neues Ergebnis erbracht. Das Un- das Gesetzgebungsverfahren ein. Ich wünsche mir, dass krautmanagement entscheidet über die Biodiversität auf dieses Verfahren kurz und knapp ist und, wenn es mög- dem Acker; das wissen Landwirte seit Jahrzehnten. Ohne lich ist, liebe Frau Hasselfeldt und sehr geehrte Frau Wildkräuter gibt es auch keine Insekten. Das ist Mittelstu- Happach-Kasan, ohne diese ständigen Ausfälle, die doch fenbiologie. Es gibt keine besondere Gefährdung der Bio- niemanden weiterbringen, diversität durch Pflanzen, die mit einer bestimmten Me- thode gezüchtet wurden. Das ist im Übrigen ein Ergebnis (Zuruf von der CDU/CSU: Wer fängt der Studie zur Technikfolgenabschätzung aus dem Jahre denn damit an?) 1993. abläuft, damit die Grundsätze der Europäischen Union, Vor diesem Hintergrund ist die durch EU-Vorgaben nämlich Koexistenz und Wahlfreiheit, tatsächlich einge- notwendige Novellierung des Gentechnikgesetzes eine halten werden. lösbare Aufgabe. Die Regierung ist daran gescheitert, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weil sie den grünen Ministern Künast und Trittin das DIE GRÜNEN) Feld überlassen hat. Es ist ein Verhinderungsgesetz herausgekommen. Kanzler Schröder hat klein beigege- Ich habe bei Ihnen manchmal das Gefühl, dass Sie ben. Seine Innovationsinitiative ist reif für die Tonne. sich eigentlich mehr als die Sprecherinnen von Großun- ternehmen – noch nicht einmal von mittelständischen Die Haftungsregelung geht am Kern jeder gerechten Unternehmen hier bei uns – verstehen, die mit aller Haftung vorbei. Wir müssen den schützen, der sich kor- Gewalt irgendwelche genveränderten Pflanzen in den rekt verhält, und zwar unabhängig davon, was er anbaut, Markt drücken wollen. ob es sich nun um gentechnisch veränderte Pflanzen handelt oder nicht. Die im Gesetz vorgesehene gesamt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schuldnerische Haftung leistet dies nicht, weil sie auch DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: So dem die Haftung für Schäden aufbürdet, der sie nicht weit die Sachlichkeit!) (B) (D) verursacht hat. Das ist ungerecht. Mit Bürokratie – Kol- Frau Happach-Kasan, wir sollten über diese Phase jetzt legin Hasselfeldt hat das schon gesagt – lässt sich Zu- endlich einmal hinwegkommen und uns die Frage stellen: kunft nicht gewinnen. Was ist eigentlich der Grund für die heutige Unsicherheit im Zusammenhang mit der Gentechnik? Ich hätte mich Der Jahresbericht der FAO hat deutlich gemacht, dass wirklich gefreut, wenn dazu ein bisschen mehr gesagt die Grüne Gentechnik den Entwicklungsländern Chan- worden wäre, auch von Ihnen; schließlich mahne ich das cen bietet. 4 Millionen Kleinbauern pflanzen in China nicht zum ersten Mal an. Die Antwort kann doch nur erfolgreich Bt-Baumwolle an, so Professor Saedler, Di- lauten: Genveränderte Nahrungsmittel müssten für den rektor am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung. Menschen mehr oder Besseres bringen. Nur das wäre 2 Cent kostet die Produktion eines Antigens in der trans- eine Rechtfertigung, sonst gar nichts. genen Banane, 100 Euro mit herkömmlichen Methoden. Das wollen Sie verhindern? Diese Chancen wollen Sie Diese Nachweise gibt es aber nicht. Vielmehr haben den Entwicklungsländern wirklich verwehren? wir noch immer ein, wie wir Juristen es nennen, „non li- quet“. Es ist also nicht klar, ob diese Nahrungsmittel (René Röspel [SPD]: Das sollen die doch schaden und Gefährdungen verursachen oder nicht. selbst entscheiden!) Diese Unsicherheit wird natürlich auch dadurch genährt, dass Gutachten wie das im Zusammenhang mit der Zu- Ich fordere Sie auf, sich im Interesse der Menschen, lassung des Bt-Mais darauf hinweisen, dass es in be- die nicht so reich sind wie wir, die in Gesellschaften le- stimmten Bereichen gerade für Tiere sehr wohl Pro- ben, denen es nicht so gut geht, mehr für eine solche bleme und Gefährdungen geben könnte. Diese Wissenschaftstechnologie einzusetzen und Entwicklun- Gutachten werden von Ihnen entweder geleugnet oder gen möglich zu machen, die wir gerade bei uns in heruntergespielt. So kommen wir nicht weiter. Deutschland brauchen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich danke für die Aufmerksamkeit. DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Sie spielen es doch hoch!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie haben vorhin schon einmal von Produkten und Produkthaftung geredet. Würde man dem folgen, was Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie in Bezug auf genveränderte Pflanzen oder genverän- Das Wort hat die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin, dertes Saatgut sagen, dann würde heute – das müssten SPD-Fraktion. wir vielleicht auch einmal sehen – nicht eine weniger 10112 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) oder nur gleichermaßen begutachtete Komponente eines gerlich, dass Sie immer dann, wenn es darum geht, die (C) Fahrzeugs auf den Markt gebracht. Auf diesem Gebiet Koexistenz rechtlich abzusichern – es bleibt gar nichts werden viel mehr Gutachten und sehr viel mehr Haftung anderes übrig, als dies nationalstaatlich zu tun –, vorausgesetzt. Das ist eines der Probleme, die wir in der Anhörung natürlich nochmals prüfen werden. Auf die (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ möchte ich Sie hier jetzt ein weiteres Mal ganz offiziell DIE GRÜNEN]) aufmerksam machen. von Bürokratie, von was weiß ich, von anderen üblen Wir alle wissen: Die Verbraucher haben Bedenken Dingen reden. Man kann Koexistenz nicht anders als und sie wollen keine genveränderten Nahrungsmittel. durch klare Haftungsregelungen und durch Verantwort- Das EU-Recht besagt – es ist verbindlich –: Es besteht lichkeiten absichern. kein Zwang; es soll Wahlfreiheit geben. Auch deswe- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das machen gen haben wir uns mit großem Nachdruck für klare wir doch!) Kennzeichnungsregelungen nicht nur bei Lebensmit- teln – da gibt es sie seit dem 19. April –, sondern auch Sie haben völlig Recht: Wir alle wollen, dass Land- bei Saatgut eingesetzt. wirte zwar für die gute fachliche Praxis haften, dass aber Was entdecke ich da bei Ihnen und bei den Kollegin- die Erzeuger für den Rest haften. Deswegen sind wir der nen und Kollegen der CDU/CSU? Frau Hasselfeldt hat Meinung, dass sich jeder Landwirt, der genveränderte zuvor von „Scheinheiligkeit und Heuchelei“ gesprochen. Pflanzen anbauen will, vorher – das Gesetz lässt das auch zu – vom Erzeuger haftungsrechtlich freistellen las- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: sen soll. Ich werde in allen Diskussionen mit Landwirten Da hat sie Recht!) über solche Dinge darauf hinweisen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn auch Sie das täten. Frau Hasselfeldt, ich fände es eigentlich sehr gut, wenn Sie diese Begriffe einmal auf diejenigen anwendeten, Noch einmal zum Kapitel „Heuchelei und Scheinhei- auf die sie zutreffen, nämlich auf sich selber, ligkeit“: Gott sei Dank können bei uns alle über das In- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr ternet den Bericht der FAO lesen, liebe Frau Happach- richtig! – Widerspruch bei der CDU/CSU und Kasan, auf den Sie sich berufen haben. Darin steht nicht, der FDP) dass das, was bei uns in den Industrieländern passiert, von der FAO gewünscht wird. Bei uns geht es um Soja. und wenn Sie sagten: Wir sind der Meinung, dass die Bei uns geht es um Mais. Bei uns geht es also um Vieh- technische Nachweisgrenze beim Saatgut erreicht wer- futter. Das bringt Geld. Dieses Verfahren nützt den Men- den soll. – Wir werden nachher sehr genau aufpassen, schen in den Least Developed Countries aber überhaupt (B) wie Sie sich bei der Abstimmung über den heute berate- nichts. (D) nen Antrag verhalten werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Sie werden BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sich wundern, was das für Konsequenzen bringt!) Denen würde es etwas nützen, wenn zum Beispiel gen- veränderte Pflanzen entwickelt würden, die salzresistent Wir haben ihn auch eingebracht, um endlich einmal in sind, die Wasserarmut verkraften können, also für Dürre- der Öffentlichkeit klarzustellen, wer hier von Scheinhei- gebiete geeignet wären. ligkeit und von Heuchelei redet und wer sie praktiziert. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrich Heinrich [FDP]: Sie DIE GRÜNEN) verhindern doch alles!) Sie wissen nämlich ganz genau, dass auch Bauern, die auf Sie zählen, heute von Ihnen erwarten, dass Klarheit Darum geht es aber überhaupt nicht. Auf diese Potenzia- und Wahrheit durchgesetzt werden. Wahlfreiheit fängt lität verweist die FAO. bei der Kennzeichnung an. Jetzt höre ich gerade, das würde jemand verhindern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sie haben BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von doch unseren Antrag abgelehnt!) der CDU/CSU: Völlig unangemessen!) Seien Sie doch so freundlich und informieren Sie sich Das geht übrigens bei der Frage der Koexistenz wei- vor solchen Zwischenrufen erst einmal über den Sach- ter. Koexistenz – ein Landwirt kann genverändert und verhalt! Das verhindert überhaupt niemand! ein anderer kann konventionell oder biologisch an- bauen – ist ebenfalls ein Rechtsbegriff der Europäischen (Zuruf von der SPD: So ist das!) Union. Deswegen hätten wir es übrigens sehr gern gese- hen, Frau Ministerin, wenn die Koexistenz und die Haf- Das bringt aber kein Geld. Deswegen setzen gerade Sie tungsregelungen europarechtlich verankert worden wä- von der FDP sich nicht dafür ein. – Das ist der Ärger. ren. Auch das Europäische Parlament hat das gefordert. Das ist einer der Punkte, die uns das Leben hier so Das haben wir nun nicht. schwer machen. Um jetzt noch einmal zu dem Kapitel „Heuchelei und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Scheinheiligkeit“ zurückzukommen: Es ist mehr als är- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10113

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – ich bin sehr gespannt, ob ich von Herrn Heiderich et- (C) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? – was anderes höre –, dann wenden Sie auch hier die Stra- Bitte. tegie an, die Sie in letzter Zeit sehr häufig benutzen, das heißt: Sie setzen voll auf Blockade. Ich kann Ihnen nur sagen, das ist kein guter Weg. Blockieren wird nicht ho- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): noriert. Frau Däubler-Gmelin, Sie erinnern sich vielleicht da- ran, dass wir schon einmal über das Thema „Goldener (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Reis“ diskutiert haben. Wir haben dabei gemeinsam fest- Zuruf von der CDU/CSU: Die Wähler sehen gestellt, dass die Forscher Potrykus und Beyer es immer- es anders!) hin erreicht haben, dass 70 Lizenzen aufgegeben worden sind, dass diese Sorte an das Reisforschungsinstitut Es steht außer Frage, dass wir haftungsrechtliche Rege- übergeben worden ist, sodass daraus Sorten entwickelt lungen für die Gentechnik im Sinne der Verbraucher und werden können, die für die verschiedenen Standorte ge- der Landwirte finden müssen. Das sind wir ihnen schul- eignet sind. Stimmen Sie mir darin zu, dass dies ein Weg dig und das verlangen auch die europäischen Richtli- ist, auf dem wir den Entwicklungsländern helfen kön- nien. Wenn Sie aber glauben, hier durch Blockieren ir- nen, ihre Ernährungslage zu verbessern, und somit gendetwas verhindern zu können, dann sage ich Ihnen auch den Menschen dort helfen können? schon jetzt, dass wir das nicht zulassen werden. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) NEN]: Zwangsmedikation!) Ich werbe deshalb um Ihre konstruktive Mitarbeit, aber sage Ihnen zugleich sehr deutlich, dass wir nicht bereit Ernährung ist doch die Voraussetzung dafür, dass Men- sind, uns an irgendeiner Blockadestrategie zu beteiligen. schen Bildung erreichen und bessere Zukunftschancen gewinnen können. Danke schön. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): DIE GRÜNEN) Was Bildung und Verteilungsgerechtigkeit angeht, ja. Ich würde niemandem – auch Ihnen nicht, Frau Happach-Kasan – den Willen absprechen, zu erreichen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass die Menschen in den Least Developed Countries Letzter Redner ist der Kollege Helmut Heiderich, bessere Chancen haben. Das geht aber nur durch Markt- CDU/CSU-Fraktion. (B) öffnung. Das geht durch Wissenstransfer. Das geht nicht (Beifall bei der CDU/CSU) (D) dadurch, dass bei uns Soja und vor allem Mais genverän- dert als Viehfutter auf den Markt gedrückt werden. Sie wissen ganz genau, dass der Vitamin-A-Reis nicht bes- Helmut Heiderich (CDU/CSU): ser ist – er ist vielleicht anders, aber nicht besser – als Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! sehr viele Standortpflanzen, die es in der Natur heute Lassen Sie mich zunächst einmal feststellen, dass die schon gibt. Ich will die Diskussion über diesen Punkt mit Frist für die Umsetzung der europäischen Vorschriften Ihnen gern fortsetzen. Ich hätte Sie aber auch gern an der zur Nutzung der Gentechnik in der Landwirtschaft be- Seite, wenn wir den Landwirten sagen: Das ist etwas, bei reits im Herbst 2002 abgelaufen ist. Lassen Sie mich dem ihr sehr sorgfältig aufpassen müsst, damit ihr haf- auch feststellen, dass es gerade die internen Streitereien tungsrechtlich nicht in die Falle von bestimmten Erzeu- zwischen den Ministern im Bundeskabinett waren, die gern geht. dafür gesorgt haben, dass das Gesetz nicht rechtzeitig dem Bundestag zugeleitet wurde. Aufgrund dieser Ver- Wenn Sie sich nachher dazu durchringen würden zögerungen geraten Sie nun unter den Druck von Brüssel – das ist meine letzte Bitte, gerade an die FDP-Fraktion –, und wir in die Gefahr, von Brüsseler Entscheidungen wenigstens bei der Frage der Kennzeichnung des Saat- überrollt zu werden. Deshalb wäre es richtig, dass wir guts zu sagen: „Jawohl, wir wollen die Wahlfreiheit uns zusammenzutun, um die Dinge in der Sache gemein- durch eine offene und ehrliche Kennzeichnung unterstüt- sam zügig voranzubringen. Ich wundere mich dann aber zen“, dann fände ich das großartig. Ich fürchte, Sie wer- schon über die Tiraden, die ich von der Frau Ministerin den das nicht tun. Das finde ich bedauerlich. vorhin an dieser Stelle gehört habe. Sie haben offensicht- lich überhaupt nicht die Absicht, in irgendeiner Weise Lassen Sie mich noch einen letzten Satz anfügen: Die politisch hier im Plenum zu kooperieren. Sie wollen heutige Diskussion ist noch in einem anderen Sinn hoch- spalten sowie die Öffentlichkeit verunsichern und in die interessant; wir führen sie ja zum vierten oder fünften Irre leiten. Male in der einen oder anderen Weise. Sie zeigt nämlich, dass Sie gar nicht die Absicht hatten, in irgendeiner (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Weise konstruktiv dazu beizutragen, CSU]: Blockadehaltung! – Zurufe von der SPD) (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Unglaub- lich!) Sie wollen damit im Endeffekt nicht, dass wir zu Ent- scheidungen kommen, die der Sicherheit dienen. dass vernünftige Haftungsregelungen für die Gentechnik durchgesetzt werden. Falls das wirklich so sein sollte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 10114 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Helmut Heiderich (A) Ich komme nachher, Frau Däubler-Gmelin, auch noch Das war Ihr Bundeskanzler, Ihre Regierung, die das (C) einmal auf die Frage der Blockade zurück. schon im Jahre 2000 so vorgelegt haben. Heute sind Sie um Längen hinter den damaligen Stand und die damals (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) erreichten Positionen zurückgefallen. Sie blockieren die Zunächst möchte ich aber herausstellen, dass Sie weitere Entwicklung in Deutschland, nicht die Opposi- selbst, Frau Ministerin, und alle, die an Ihrer Seite agie- tion. ren, sich ein ums andere Mal in Widersprüche verstri- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) cken. In Brüssel haben Sie im Zusammenhang mit der Erteilung der Importgenehmigung für amerikanischen Ständig bringen Sie hier Argumente, die weitere Ver- Bt-11-Mais nicht mehr als ein unentschlossenes „Ich unsicherung, aber keinen Schritt nach vorn bedeuten. weiß nicht“ herausgebracht. Kaum waren Sie zu Hause, Auf der einen Seite erklären Sie, die Gentechnologie haben Sie lautstark von einer Fehlentscheidung und dem müsse noch weiter erforscht werden. Auch Frau damit verbundenen Risiko gesprochen. Da ist es doch Däubler-Gmelin hat das eben wieder vorgetragen. Die kein Wunder, Frau Ministerin, dass Ihnen Kommissar Zulassungsverfahren seien nicht ausreichend, obwohl Byrne vor wenigen Tagen in einem Interview im Berli- Sie auf diesem Gebiet nun wirklich so umfassend wis- ner „Tagesspiegel“ ins Stammbuch geschrieben hat, dass senschaftlich prüfen wie an keiner anderen Stelle des er Ihre Kritik nicht verstehe. Ich zitiere einmal wörtlich, Lebensmittelrechtes sonst. Auf der anderen Seite unter- was da steht: bindet Frau Ministerin höchstpersönlich ein Forschungs- projekt nach dem anderen, ganz gleich, ob Spitzenfor- Die Ministerin war selbst Mitglied des Agrarminis- schung oder Begleitforschung. Wie passt das terrats, der im vergangenen Herbst für die neue Ge- zusammen? setzgebung gestimmt hat. Sie hat diese Regelung gewollt, nun sollte sie sich auch daran halten. (Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- Verehrte Frau Künast, es wäre hilfreich, wenn Sie sich frage) hierzu einmal in Ihren Reden äußern würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ebenso hat es die Bundesregierung trotz der langen Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage zulas- Anlaufzeit nicht geschafft, dafür zu sorgen, dass im eige- sen? nen Land die notwendigen praktischen Erfahrungen für die Detailregelungen dieses Gesetzes gesammelt wur- Helmut Heiderich (CDU/CSU): (B) den. Ich will es noch einmal sagen: Es war der Bundes- Lassen Sie mich den Gedanken noch zu Ende brin- (D) kanzler selbst, der bereits im Sommer 2000 einen groß- gen. Ich komme gleich auf die Zwischenfrage zurück. flächigen Erprobungsanbau zugesagt und die notwendigen Regularien mit den Beteiligten unter- Auf der einen Seite reden Sie immer davon, man schriftsreif ausgehandelt hat. Jetzt frage ich mich, wa- wolle Monopole internationaler Konzerne verhindern, rum die entsprechende Begleitforschung damals möglich auf der anderen Seite blockieren Sie gerade für unsere war, heute aber nicht möglich sein soll. Pflanzenzüchter und für unsere Forscher jeden Fort- schritt und nehmen ihnen damit die Chance, gegenüber Ich zitiere einmal, meine verehrten Kolleginnen und anderen wettbewerbsfähig zu werden. Kollegen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ziel des Forschungsprogramms ist, zusätzliche Erkenntnisse über die Umweltauswirkungen des Jetzt kann die Zwischenfrage gestellt werden. großflächigen Anbaus gentechnisch veränderter landwirtschaftlicher Nutzpflanzen unter Praxisbe- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dingungen zu gewinnen. Daher sollte der Anbau Frau Kollegin Höfken, wenn Sie mögen, dürfen Sie schwerpunktmäßig in landwirtschaftlichen Betrie- jetzt. ben durchgeführt werden. Dann geht es weiter: Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesregierung Sehr geehrter Kollege Heiderich, ich finde, Sie reden um den heißen Brei herum. Wir möchten doch von Ihnen – jetzt ist sie verschwunden – eine Antwort auf die Frage haben, wie Sie den Schutz des Eigentums bei nicht Gentechnikpflanzen anbauen- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Bauern gewährleisten möchten und welche Art NEN – Zuruf von der CDU/CSU: Frau Künast Schutz des Eigentums dieser Betriebe Sie konkret ergrei- ist bei ihrer Fraktion!) fen wollen. Wir gehen doch beide davon aus, dass na- – ich bitte zuzuhören! – hezu 100 Prozent der deutschen Betriebe keine gentech- nisch veränderten Pflanzen anbauen wollen. trägt die Kosten für das Forschungsprogramm. Die Unternehmen der Grünen Gentechnik stellen die er- Die zweite Frage ist, wie Sie die Wahlfreiheit der forderlichen Anbauflächen sowie das Saatgut zur Verbraucher im Hinblick auf gentechnikfreie Produkte Verfügung. langfristig und sicher gewährleisten wollen und welche Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10115

Ulrike Höfken (A) konkreten Maßnahmen Sie in diesem Zusammenhang Helmut Heiderich (CDU/CSU): (C) für notwendig halten. Frau Kollegin, was die Wahlfreiheit für die Land- wirte angeht, so will ich sagen: Wir werden dezidierte Helmut Heiderich (CDU/CSU): Stellungnahmen zu diesem Gesetz einbringen. Über den Liebe Frau Kollegin, wenn Sie mir ausreichend Zeit Bundesrat ist schon ein ganzes Paket von Stellungnah- gewähren, um auf Ihre umfassende Frage umfassend zu men abgegeben worden. Es ist unser Ziel – ich werde antworten, will ich das gerne tun. das gleich noch einmal betonen –, dass wir den Landwir- ten Wahlfreiheit für ihre Entscheidung gewähren. Jeder Was die Frage der Kennzeichnung angeht, sind Sie Landwirt soll heute und morgen frei entscheiden kön- heute hier an der falschen Stelle. Über die Frage der nen, ob er aus betriebswirtschaftlichen Gründen die Kennzeichnung haben wir vor Wochen in diesem Hause Möglichkeiten der Biotechnologie nutzen will oder entschieden und die entsprechenden gesetzlichen Vor- nicht. Das ist unsere Position. schriften geschaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich wehre mich daher gegen jegliche Diffamierung, die NEN) an dieser Stelle gegen uns gerichtet wird. Diese Kennzeichnungsvorschriften haben wir damals Ich möchte gern noch ein paar Punkte zum Thema Er- sehr konstruktiv umgesetzt. Sie haben uns öffentlich probungsanbau ansprechen, über den vorhin diskutiert Blockade vorgeworfen; daran war kein Wort wahr. wurde. Frau Künast, Sie selbst haben sieben gentech- nisch veränderte Bt-Mais-Sorten per Vorabgenehmigung (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- im Februar und März dieses Jahres zugelassen. Damit NEN) haben Sie den Erprobungsanbau überhaupt erst möglich – Wenn Sie mich ausreden lassen würden. – Wir haben gemacht. Trotzdem kommt von Ihrer Seite eine Tirade bereits im Jahre 2001 in diesem Hause einen Antrag ein- gegen die Bundesländer, die die von Ihnen zur Verfü- gebracht, in dem wir die Kennzeichnung gefordert ha- gung gestellten Sorten nutzen. ben, um Wahlfreiheit für den Verbraucher zu schaffen. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da waren Sie von solchen Gedanken noch meilenweit Das ist kein Recht auf Missbrauch!) entfernt. Das ist schlicht und einfach scheinheilig und falsch. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie waren dagegen! – Gegenruf des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) Abg. Peter H. Carstensen [Nordstrand) [CDU/ Ich will noch einen zweiten Punkt ansprechen. Wie (D) CSU]: Ihr wollt doch etwas ganz anderes! der Deutsche Bauernverband in den letzten Tagen mitge- Dann sagt das doch! – Ulrike Höfken [BÜND- teilt hat, ist Ihr Ministerium gebeten worden, dass Ihre NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir warten auf die Bundeseinrichtungen die Begleitforschung an diesen Antwort!) 29 Standorten übernehmen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: NEN]: Stimmt nicht!) Die Möglichkeit der Zwischenfrage soll die Chance eröffnen, dem Redner über die Gedanken, die er vorbe- Wenn Sie das in die Wege geleitet hätten, dann hätten reitet hat und vorträgt, hinaus Fragen zu stellen, die vom Sie nicht nur von Anfang an sämtliche 29 Standorte ge- Redner beantwortet werden können. Wenn dies aller- kannt. Sie hätten sogar jeden Tag das weitere Verfahren dings zu polyphonen Stellungnahmen aus der Fraktion verfolgen können. Dass Sie diese Bitte abgelehnt haben, des Fragestellers und aus der Fraktion des Redners führt, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist der Zweck dieses Instruments ziemlich eindrucksvoll NEN]: Ich bin nicht gefragt worden!) ad absurdum geführt. zeigt wiederum, dass Sie an dem Fortschritt, den Herr (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause – Schröder schon im Jahr 2000 haben wollte, nicht interes- Horst Kubatschka [SPD]: Das ist das lebhafte siert sind. Sie wollen spalten und verunsichern. Parlament!) (Widerspruch des Abg. Peter Dreßen [SPD]) Helmut Heiderich (CDU/CSU): Sie wollen – jetzt benutze ich Ihren Ausdruck von vor- Darf ich noch die zweite Hälfte der Frage beantwor- hin – Chaos in der öffentlichen Diskussion. ten? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen, um den Sie sich vorhin herumgemogelt haben. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ja. (René Röspel [SPD]: Was?) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir alle sollten einmal gemeinsam öffentlich feststellen, NEN]: Er hat noch nicht einmal die erste dass die Zerstörung von rechtmäßig ausgewiesenen Hälfte beantwortet!) Versuchs- und Erprobungsfeldern keine heroische Tat 10116 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Helmut Heiderich (A) unerschrockener Kämpfer ist, sondern schlicht und ein- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu (C) fach eine kriminelle Handlung. Das ist die Wahrheit. Das anderweitige Vorschläge? – Das ist offenkundig nicht sollten wir einmal öffentlich feststellen. der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- René Röspel [SPD]: Jedes Mal die gleiche schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Leier!) wirtschaft auf Drucksache 15/3209 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Für uns sind die Ziele dieses Gesetzes klar. Ich habe mit dem Titel „Wahlfreiheit für die Landwirte durch eben schon gesagt, dass wir die Wahlfreiheit für die Reinheit des Saatgutes sicherstellen“. Landwirte wollen. Wir wollen außerdem die Stärkung der Forschung, und zwar nicht nur hinter verschlossenen (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Jetzt schauen Labortüren, sondern auch bei der Anwendung und Pro- wir mal, wie die CDU/CSU stimmt!) duktorientierung. Damit bekommen unsere Pflanzen- schützer die Chance – ich habe es vorhin schon einmal – Ich stelle ja fest, wie abgestimmt wird. – Der Aus- gesagt –, den weltweiten Akteuren Paroli bieten zu kön- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2972 nen. anzunehmen. Jetzt wird es spannend: Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wir wollen außerdem, Frau Dr. Däubler-Gmelin, die Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung bisherige gute wissenschaftliche Position unserer Uni- mit der Mehrheit des Hauses angenommen. versitäten, unserer Institute und unserer Forschungsein- richtungen auf dem Gebiet der Gentechnik vor allem für Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: die Zukunftschancen der Dritten Welt nutzen. a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE NEN]: Ach du meine Güte! Das wird ja immer GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten schlimmer! Es ist ja nicht zum Aushalten!) Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämien- durchführungsgesetzes Der FAO-Bericht hat nahezu wörtlich das wiederholt, was wir vor einem halben Jahr in dem Antrag „Ver- – Drucksache 15/3046 – antwortung für die Sicherung der Welternährung über- (Erste Beratung 109. Sitzung) nehmen – Chancen der Grünen Gentechnik nutzen“ ge- fordert haben. Wir haben damals genau das Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (B) vorgetragen, was Sie, Frau Dr. Däubler-Gmelin, eben ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- (D) zitiert haben. wirtschaft (10. Ausschuss) (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie wissen – Drucksache 15/3223 – doch, dass es nicht stimmt, Herr Heiderich!) Berichterstattung: Es geht nicht um Forschung für die Cash Crops, sondern Abgeordnete Waltraud Wolff (Wolmirstedt) um Forschung für die Produkte, die der Dritten Welt nut- Peter Bleser zen. Das können wir mit unseren Instituten leisten. Friedrich Ostendorff (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hans-Michael Goldmann neten der FDP – Dr. Herta Däubler-Gmelin b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- [SPD]: Lesen Sie das bitte einmal nach!) gierung Wir wollen Deutschland als Innovationsstandort. Wir Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht wollen ihn deshalb mit den Regeln, die dieses Gesetz 2004 der Bundesregierung enthält, nicht blockieren. Wir wollen vielmehr Innova- tion möglich machen. – Drucksache 15/2457 – Schönen Dank. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Landwirtschaft (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Herr Kollege Herzog, ich bitte um Nachsicht. Da der Ausschuss für Tourismus Redner das Rednerpult erst nach Überschreiten der ange- Haushaltsausschuss meldeten Redezeit verlassen hat, sah ich keine Möglich- keit mehr, durch das Zulassen einer Zwischenfrage die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Redezeit zu verlängern. Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Ich schließe die Aussprache. sen. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der fes auf Drucksache 15/3088 an die in der Tagesordnung Kollegin Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10117

(A) Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Aufschub insbesondere wachstumsfähige Betriebe eher (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und behindert als unterstützt. Kollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Rede einige Worte zum Gedenken an unseren so plötzlich und uner- Sachsen-Anhalt kritisiert weiter, dass der Bundesrat wartet verstorbenen Kollegen Matthias Weisheit aus- die Milchprämie nicht sukzessive auf die Fläche umle- sprechen. Ich bin der Auffassung: Über die Fraktions- gen will. Auch wir Bundespolitiker wollen die Milchprä- grenzen hinweg wurde Matthias Weisheit wegen seiner mie eigentlich in den so genannten Gleitflug einbezie- offenen und ehrlichen Art und seines ausgleichenden hen. Wünschenswert wäre, dass nicht nur Sachsen- Charakters geschätzt. Seine Fachkompetenz und sein un- Anhalt, sondern auch andere Bundesländer die Gefahren ermüdlicher Einsatz waren unter anderem Gründe dafür, sehen, die eine Verzögerung für entwicklungsfähige dass ihm die SPD-Bundestagsfraktion das Vertrauen für Milchviehbetriebe mit sich bringt. Ich möchte die Da- die verantwortungsvolle Position des agrar- und verbrau- men und Herren des Bundesrates von hier aus auffor- cherpolitischen Sprechers entgegengebracht hat. Durch dern, Vernunft walten zu lassen und die GAP-Reform sein großes fachliches Engagement hat Matthias nicht zu blockieren. Weisheit sehr viel Anerkennung bei Politikern, in den Wir diskutieren heute nicht nur über die Reform der Berufsverbänden und auch bei den Praktikern erworben. gemeinsamen Agrarpolitik, sondern auch über den Wir verabschieden heute das Betriebsprämiendurch- Agrarbericht 2004. Wenn ich mir die Ergebnisse des führungsgesetz und bringen damit die EU-Agrarreform diesjährigen Agrarberichts ansehe, wird eines ganz klar: einen ganz entscheidenden Schritt nach vorn. Ich weiß Die Agrarreform ist mehr als notwendig. Es ist sogar ganz sicher, dass Matthias Weisheit diese zukunftsorien- dringend erforderlich, dass landwirtschaftliche Produk- tierte Reform als das zentrale Thema dieser Legislatur- tion endlich unternehmerischer Freiheit unterliegt. periode betrachtet hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall im ganzen Hause) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb wünsche ich mir, dass wir, die Abgeordneten al- Nur ein Unternehmer, der sich den tatsächlichen Markt- ler Parteien, eine gute Regelung erzielen, auf die auch gegebenheiten anpassen kann, hat reale Chancen. Nun Matthias stolz sein würde. wird es möglich sein, Prämiengelder in neue Betriebs- zweige zu investieren. In Zukunft ist also verstärkt un- (Beifall im ganzen Hause) ternehmerisches Kalkül gefragt. Meine Damen und Herren, diese Woche wird der Ver- Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf das mittlungsausschuss tagen und die Reform der gemein- Erneuerbare-Energien-Gesetz verweisen, das wir am (B) samen Agrarpolitik behandeln. Wir stehen an einem his- 2. April dieses Jahres hier verabschiedet haben. Auch (D) torischen Punkt. Uns muss heute bewusst sein, dass mit diesbezüglich richtet sich mein Appell ganz entschieden diesen Reformpaketen die größte Veränderung in der an die Länder: Man muss mit der Blockadepolitik aufhö- Agrarpolitik der Nachkriegszeit beschlossen wird. Im ren! Natürlich können Sie das Gesetz im Bundesrat ver- Wesentlichen wird der Übergang der produktionsbezo- zögern. Aber warum? Welchen Sinn hat Ihr Handeln an genen Prämien hin zu einer einheitlichen Flächenprämie dieser Stelle? Blockieren um der Blockade willen, ob- geregelt. Außerdem wird die Produktion stärker an um- wohl Sie wissen, dass – kurioserweise – auch Ihre Kolle- welt- und tierschutzrechtliche Standards gekoppelt. Dies ginnen und Kollegen in den Länderparlamenten bei- ist natürlich auch im Sinne aller Verbraucherinnen und spielsweise auf eine gute Regelung bezüglich der Verbraucher. Biomasseverwertung warten? Ich hoffe zutiefst, dass sich der Bundesrat und die (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Eine gute Bundesregierung auf einen gangbaren Weg einigen. Die Frage!) Zeichen stehen eigentlich nicht schlecht. In der Vergan- genheit konnte durch die konstruktive Zusammenarbeit Dennoch hat die CDU/CSU-dominierte Mehrheit im des Sonderausschusses Landwirtschaft beim Bundesrat Bundesrat das Gesetz zurückgewiesen. Verhindern kön- bereits eine weit reichende Lösung gefunden werden. nen Sie es allerdings nicht. Was passiert aber? Welche Das erarbeitete Kombinationsmodell steht bei der Konsequenz müssen wir ziehen? Die Landwirte müssen Mehrheit der Bundesländer nicht infrage. Ich setze da- länger auf den Bau ihrer Biogasanlagen warten. Die In- rauf, dass sich Bund und Länder bezüglich eines zeitli- vestitionen, die wir so dringend benötigen, verzögern Sie chen Übergangs zu einer einheitlichen Flächenprämie ei- auf sinnlose Weise. nigen können. Noch einmal zurück zur GAP-Reform. Wichtig ist, An dieser Stelle will ich ganz deutlich sagen, dass dass wir ab 2005 eine selbstbestimmte landwirtschaftli- nicht alle unionsregierten Bundesländer den Vorschlag che Produktion ermöglichen. Die Betriebe müssen im des Bundesrates, die Umlegung der Prämie vom Betrieb Rahmen der Agrarreform die Möglichkeit haben, sich auf die Fläche nach hinten zu verschieben, begrüßen. neue, sinnvolle Einkommensquellen zu sichern. Der Die Agrarministerin meines Bundeslandes Sachsen- Übergangsprozess der Prämiengestaltung wird natür- Anhalt, Frau Wernicke, hat geradezu davor gewarnt, an- lich für niemanden – das wissen wir alle hier im Hause – gesichts knapper werdender EU-Mittel im Agrarhaushalt ein Zuckerschlecken. Deshalb ist es unsere erste und die Verschiebung des so genannten Gleitfluges vorzu- wichtigste Pflicht und Schuldigkeit, alle, aber auch nehmen. Ich teile ihre Auffassung. Ich meine, dass der wirklich alle Chancen zu eröffnen, die unseren Bauern 10118 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) auch in Zukunft ein einträgliches Wirtschaften ermögli- (Beifall bei der CDU/CSU) (C) chen. Beim Hopfen ist zwar erreicht worden, dass die Erzeu- Deshalb möchte ich Sie von der Opposition ganz ein- gergemeinschaften weiterhin gewisse Prämienanteile er- dringlich bitten: Geben Sie sich einen Ruck und lassen halten, aber die bayerischen Hopfenanbauer werden Sie uns dieses Gesetz heute gemeinsam verabschieden! trotzdem pro Hektar 60 Euro verlieren. Bei den Tabak- anbauern wird es zu einer Existenzgefährdung vieler Be- Danke schön. triebe kommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir reden heute auch über den Agrarbericht der Bun- DIE GRÜNEN) desregierung. Es ist schon bezeichnend, dass die Ein- kommen der deutschen Bauern um 20 Prozent rück- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: läufig sind und auch im laufenden Wirtschaftsjahr mit Das Wort hat nun der Kollege Albert Deß, CDU/ weiteren dramatischen Einkommenseinbrüchen gerech- CSU-Fraktion. net werden muss. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- SPD: Die letzte Rede?) neten der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Albert Deß (CDU/CSU): Ich hätte beinahe gesagt: Nun meldet sich der Kollege Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Carstensen zu der vereinbarten Zwischenfrage. Herren! Wir debattieren heute über einen Gesetzentwurf, der ein weiteres Beispiel für die plan- und ziellose Arbeit (Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der dieser rot-grünen Bundesregierung – besser gesagt: SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Nachbesserungsregierung – ist. Sinnvoller wäre es ge- NEN) wesen, die EU-Agrarreformbeschlüsse vom Juni 2003 und April 2004 in einem Gesetzgebungsgang umzuset- Beabsichtigen Sie, eine solche Zwischenfrage zuzu- zen. Wir diskutieren heute also über die Änderung eines lassen, Herr Kollege Deß? Gesetzes, das noch gar nicht in Kraft ist. Albert Deß (CDU/CSU): Sinnvoll wäre es natürlich auch, in den Änderungsge- Herr Präsident, es wäre eine Unterstellung gewesen, setzentwurf die vom Bundesrat geforderten Verbesserun- wenn Sie das gesagt hätten. (B) gen aufzunehmen, die jetzt Gegenstand des Vermitt- (D) lungsverfahrens sind. Die Bundesregierung weist auf (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Er war ein- den von der EU vorgegebenen Umsetzungstermin deutig überrascht!) – 1. August 2004 – hin. Den Zeitdruck hätte sie vermei- Darum war es gut, dass Sie es nicht getan haben. den können, wenn sie die Änderungswünsche des Bun- desrates im vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt hätte, nämlich die lineare Kürzung der Prämien beim Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Aufbau der nationalen Reserve für Härtefälle und Neu- Dann ist es gut, dass ich es nicht gesagt habe. einsteiger um nur 1 Prozent statt 1,5 Prozent, die be- Offenkundig wünscht der Redner, diese Zwischen- triebsindividuelle Gewährung der Milchprämie bis 2013 frage zuzulassen. Bitte schön, Herr Kollege. statt 2007,

(Beifall bei der CDU/CSU) Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): den Beginn der Abschmelzung der Direktzahlungen in Herr Präsident, ich lasse normalerweise mit mir nichts eine einheitliche regionale Flächenprämie erst ab 2010 vereinbaren. statt ab 2007, (Heiterkeit) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bin im Moment etwas unsicher: Darf ich die Frage stellen, die ich gerne stellen möchte, Herr Präsident? die Streichung der Einvernehmensregelung zugunsten des Bundesumweltministeriums und Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU) Ja gerne, zumal sonst der Eindruck entstehen könnte, keine nationale Verschärfung von Bewirtschaftungsstan- wir hätten auch den Inhalt der Frage miteinander verein- dards im Rahmen von Cross Compliance. Wenn sie auf bart. diese Vorschläge eingegangen wäre, könnten wir dem (Heiterkeit) Gesetz zustimmen. Ich bin auch der Meinung, dass beim vorliegenden Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Änderungsgesetzentwurf zu Hopfen und Tabak die In- Das würde ich gern einmal mit Ihnen machen. Es teressen der Hopfen- und Tabakanbauer nicht entspre- dient uns allen, wenn jemand etwas von Landwirtschaft chend berücksichtigt worden sind. versteht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10119

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (A) Herr Kollege Deß, können Sie sagen, ob das der sei- Ich möchte mich recht herzlich bei dir bedanken, dass du (C) nerzeit von der Frau Künast erwartete Künast-Effekt dich als stellvertretende Fraktionsvorsitzende massiv für ist? die Anliegen der bäuerlichen Landwirtschaft einsetzt. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist ja wie bei ei- Albert Deß (CDU/CSU): ner Ordensverleihung!) Ich habe bereits kurz nach Beginn der Regierungszeit Ich möchte mich auch bei allen Mitgliedern des Aus- von Frau Künast als Bundeslandwirtschaftsministerin in schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- einer Rede angedeutet, dass die Agrarpolitik, die sie wirtschaft bedanken, die ich in den letzten 14 Jahren er- konzipiert und in ersten Überlegungen dargestellt hat, leben durfte. Zwei von ihnen möchte ich namentlich dazu führt, dass in den nächsten Jahren mit massivsten nennen, und zwar und Peter Einkommensverlusten in der deutschen Landwirtschaft Bleser, die seit 1990 ununterbrochen dabei sind, Peter zu rechnen ist. Ich habe damals auch ein internes Papier Harry Carstensen sogar schon etwas länger. der Arbeitsgruppe Landwirtschaft der SPD zitiert, in dem berechnet worden ist, dass die Auswirkungen dieser (Beifall bei der CDU/CSU) Agrarpolitik im Jahre 2003 zu Einkommensverlusten in der deutschen Landwirtschaft von circa 3 Milliarden DM Ich möchte mich aber auch bei der Gegenseite bedan- führen. Genau das ist eingetroffen. Ich kann Ihre Frage ken. Wenn Matthias Weisheit heute hier wäre, hätte ich also mit Ja beantworten. mich bei ihm auf das Herzlichste bedankt. Ich habe mit ihm über zehn Jahre lang hervorragend zusammenarbei- (Beifall bei der CDU/CSU und der ten dürfen. Welche Wertschätzung er bei uns erfahren FDP – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Un- hat, sieht man auch daran, dass viele Mitglieder der glaublich! Das ist ja nicht zu fassen!) CDU/CSU-Fraktion bei seiner Trauerfeier anwesend waren. Ich möchte den Rest meiner Redezeit nutzen, ein paar persönliche Worte zu sagen. Wenn am 13. Juni ein ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie sprechendes Wahlergebnis zustande kommt, ist dies bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE meine letzte Rede hier im Deutschen Bundestag. GRÜNEN und der FDP) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich möchte mich bei Gerald Thalheim bedanken, mit Das war auch beim letzten Mal so!) dem ich auch seit 1990 sehr gut zusammenarbeite. Zwi- schen uns ist hoher gegenseitiger Respekt vorhanden. Ich darf seit fast 14 Jahren Mitglied dieses Hohen Bedanken möchte ich mich auch bei der FDP. Ich nenne Hauses sein und möchte einige Worte des Dankes aus- Ulrich Heinrich deswegen stellvertretend, weil auch er (B) sprechen. Als Erstes möchte ich mich bei den bayeri- ab 1990 dabei war und mit uns zusammen gearbeitet hat. (D) schen Wählerinnen und Wählern bedanken, die immer wieder mit großer Mehrheit CSU gewählt haben, Ich wünsche mir, dass die Interessen der bäuerlichen Landwirtschaft in Deutschland in diesem Hause vertreten (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- werden und dass wir uns für die bäuerlichen Familien ein- wie bei Abgeordneten der FDP) setzen. Denn ich bin der Meinung, dass die bäuerlichen Familien Leistungsträger in unserer Gesellschaft sind. und bei den Delegierten der CSU, die mich viermal mit Sie sind nicht, wie es manchmal dargestellt wird, eine großer Mehrheit auf die Liste gesetzt haben. Bürde, sondern Leistungsträger. (Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel Ich möchte mir abschließend noch wünschen, dass [SPD]: Namen!) man damit aufhört, unsere Bauern von früh bis abends durch staatliche Reglementierungen zu bevormunden. – Es kommen alle dran. Sie haben ihren Beruf erlernt und wissen, wie man das (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Land bewirtschaftet. Ich behaupte, dass wir in Deutsch- land eine der in Mitteleuropa und weltweit nachhaltigs- Ich möchte mich auch bei der CSU-Landesgruppe be- ten Landwirtschaften haben. Manchmal kommt es mir danken, lieber Peter Ramsauer, in der ich in diesen aber so vor, als behandelte man die Landwirte so wie ei- 14 Jahren gut aufgehoben war und in der die Agrarpoli- nen Autofahrer, auf dessen Beifahrersitz ein Polizist un- tik, die wir uns vorgestellt haben, immer Unterstützung unterbrochen darauf achtet, ob er die Verkehrsregeln ein- gefunden hat. Ich möchte mich auch bei der CDU/CSU- hält. Fraktion bedanken. Die stellvertretende Vorsitzende, Geben Sie unserer Landwirtschaft und unseren Bau- Frau Hasselmann, ist ja hier. ern die Luft zum Atmen. Unsere Bauern werden auch in (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Peter Zukunft wertvolle Nahrungsmittel für unsere Verbrau- Ramsauer [CDU/CSU]: Hasselfeldt! – Gerda cherinnen und Verbraucher produzieren. Im Interesse Hasselfeldt [CDU/CSU]: Das wird teuer!) unserer Verbraucherinnen und Verbraucher wünsche ich mir, dass wir nicht in eine Situation geraten, in der wir – Frau Hasselfeldt, Entschuldigung. Dieser Fehler ist un- vom Ausland so abhängig werden, wie wir es zurzeit verzeihlich. Frau Hasselfeldt, liebe Gerda, ich weiß ge- beim Stahl sind, und höchste Preise zahlen müssen. nau, wie du heißt. Das war ein Versprecher. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) NEN]: Und die Energie?) 10120 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Albert Deß (A) Denn die Verbraucher müssten eine hohe Zeche zahlen, Der Tabak ist im Übrigen ein gutes Beispiel für die (C) wenn wir in Zukunft keine heimische Landwirtschaft Notwendigkeit der Reformen. Die Tabakmarktordnung mehr hätten. umfasst immerhin 1 Milliarde Euro. Deutschland zahlt 250 Millionen Euro in diese Marktordnung ein; davon Ich wünsche Ihnen allen alles Gute und hoffe, dass fließt ein Bruchteil, nämlich 20 Millionen Euro, zurück. ich, wenn ich gewählt werde, die einen oder anderen von Ihnen auch einmal in Brüssel oder Straßburg begrüßen Nun sagen gerade wir Grüne: Wir müssen in Europa kann. solidarisch sein; das ist nun einmal die tragende Säule Europas. Aber diese Zahlungen sind nahezu kontrapro- Danke schön. duktiv – das gilt für viele Elemente der bisherigen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Agrarpolitik –: Gerade beim Tabak kann es schon aus des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/ gesundheitspolitischen Erwägungen nicht sein, dass ei- DIE GRÜNEN]) nerseits durch Rauchen verursachte Krankheitskosten zu tragen und im Jahr mehr als 110 000 Tote durch Rauchen zu beklagen sind, gleichzeitig der Tabakanbau aber ge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: fördert wird. Herr Kollege Deß, da wir den viel beschworenen Wählerwillen bekanntlich leider erst dann ganz genau (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) kennen, wenn die Stimmen am jeweiligen Wahlabend Mit den Übergangsphasen bis 2009 – wir werden da- ausgezählt sind, wissen wir alle nicht genau, ob dies tat- rüber diskutieren – verbleibt den Landwirten genügend sächlich Ihre letzte Rede im Deutschen Bundestag war. Zeit für die Umstellung, auch in den Tabakregionen. Wir Falls dies so gewesen sein sollte, möchte ich Ihnen auch wissen natürlich – das müssen sich alle immer wieder im Namen des Präsidiums herzlich für Ihre langjährige gegenwärtig machen –, dass das bisherige Fördersystem Arbeit im Deutschen Bundestag danken, verbunden mit schlichtweg politisch gewollt war. Wir haben das zwar dem Hinweis, dass Sie sich in einem anderen Parlament immer kritisiert, aber man muss auch sehen: Für die Än- vermutlich noch sehnsüchtig an die Großzügigkeit die- derung der Politik brauchen wir die Unterstützung der ses Präsidiums bei der Bemessung der Redezeiten zu- Landwirtschaft und die Unterstützung der entsprechenden rückerinnern werden. Regionen, damit sie diesen gravierenden Systemwechsel (Heiterkeit und Beifall) schaffen können. Noch einmal bezogen auf das Beispiel Tabak: Allein in Rheinland-Pfalz bauen rund Nun erteile ich der Kollegin Ulrike Höfken für 250 Bauern auf 2 040 Hektar Tabak an. Nun muss klar Bündnis 90/Die Grünen das Wort, die ohne die Aussicht sein: Ab 2010 ist die Konkurrenzfähigkeit auf dem Welt- (B) auf Wechsel in ein anderes Parlament mit vier Minuten markt nicht mehr gegeben. Aber – auch das ist beispiel- (D) Redezeit auskommen muss. haft gemeint – mit den Umstrukturierungsmitteln sind die Möglichkeiten der Entwicklung für die ländlichen Regio- nen gegeben und damit auch die Möglichkeit der Anpas- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sung im Bereich der Arbeitsplätze. Ich möchte mich zunächst einmal den Worten meiner Kollegin Waltraud Wolff über Matthias Weisheit an- Um noch einmal auf den Hopfen zu kommen: Minis- schließen. Wir werden ihn auf jeden Fall in Erinnerung ter Miller hat ja gerade diesen Entscheid gelobt; auch ich behalten und oft, gerade in solchen Situationen wie sehe, dass das eine gute Entscheidung ist. Wir haben aus heute, an ihn denken. Bayern ein positives Signal erfahren; darum ist es umso merkwürdiger, dass Sie, meine Damen und Herren von Lieber Albert Deß, du hast dich zwar nicht von uns der Opposition, beim Hopfen Hü! sagen und bei der Um- verabschiedet, wir werden uns aber von dir verabschie- setzung der GAP-II-Beschlüsse schon wieder Hott! Ihr den; so nachtragend sind wir nicht: Wir hoffen, dass du Blockade- und Oppositionsfanatismus gefährdet die not- in Brüssel keinen weiteren Unsinn machst. wendigen Reformen, genauso wie Rauchen die Gesund- heit gefährdet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD) Sehr verehrte Damen und Herren, jetzt zum eigentli- chen Thema, der Agrarreform. Mit dem zweiten Paket Gerade der Agrarbericht macht im Übrigen deutlich, ist nun ein weiterer Meilenstein gesetzt worden. Die Re- dass die bisherige EU-Agrarpolitik weder den Betrieben formen bei Tabak, Hopfen, Oliven und Baumwolle füh- noch den Landwirten noch den ländlichen Räumen Per- ren die Agrarreform weiter, die die unsinnige Förderung spektiven für die Zukunft bietet. von Produktionsmengen beendet und Agrarmittel im Sinne der Marktwirtschaft, der Unterstützung gesell- Albert Deß, auch wenn das deine letzte Rede hier schaftlicher Leistungen der Landwirtschaft und der För- war: Das, was du da gesagt hast, war Blödsinn; derung ländlicher Räume gerechter und besser einsetzt. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Der Beschluss ist ein konsequenter Schritt im Rahmen der Vorbereitung der nächsten WTO-Runde und ein denn die Berechnungen, die du aufgestellt hast, gründen wichtiges Signal, um die Glaubwürdigkeit der EU ge- sich auf irgendeine Haushaltsfiktion, die niemals Reali- genüber den Entwicklungsländern zu stärken. tät geworden ist. Man muss diese Aussage von Albert Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10121

Ulrike Höfken (A) Deß also als Unterstützung dafür ansehen, dass wir mit Wir werden heute Abend noch über das Tierarznei- (C) den Reformen zurande kommen müssen. mittelgesetz reden. Auch dabei möchte ich betonen, dass wir größten Wert darauf legen, ein Gesetz auf den Meine Schlussbemerkung: Ich hoffe, dass wir morgen Weg zu bringen, das der Fachlichkeit in diesem Bereich in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses eine Rechnung trägt. Tierärzte wissen, was sie zu tun haben; Einigung finden werden hinsichtlich der Lösungen der Bauern wissen, was sie zu tun haben. Dafür braucht es Probleme, die wir bei der Umsetzung der Systeme im nicht den Gesetzgeber, der bis ins kleinste Detail hinein Bereich Milch, im Bereich der Schaf- und Ziegenhal- die Dinge regelt und einen bürokratischen Moloch auf- tung, im Bereich der Mutterkuhhaltung und bei der Aus- baut. Das kann nicht die Lösung sein. Wir haben schon gestaltung der Cross-Compliance-Lösungen natürlich jetzt viel zu viel Bürokratie in diesem Bereich. haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Lassen Sie mich auch noch etwas zum Bereich EU- Frau Kollegin! Agrarreform sagen. Frau Wolff, ich finde es wohltuend, wie Sie hier Ihre Ausführungen vorgetragen haben. Sie wissen, dass wir in dieser Hinsicht viel Konsens mit- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einander haben. Es kann aber nicht angehen, dass vorher Ich will aber auch ganz klar sagen: Um nach vorne zu die Ausschussvorsitzende Roth in ihrer Rede – anschei- kommen, brauchen wir jetzt eine Rahmengesetzgebung nend mit Ihrer Unterstützung, Frau Wolff – den Opposi- und klare Beschlüsse für die Zukunft, damit sich die tionsfraktionen Scheinheiligkeit und Heuchelei vorhält. Wirtschaft darauf einstellen kann. Alles andere wäre Die Ausführungen von Frau Minister Künast haben mich Chaos. gerade im Hinblick auf die morgige Arbeitsnotwendig- Danke schön. keit – wir müssen die EU-Agrarreform gemeinsam auf den Weg bringen – sehr enttäuscht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP) und bei der SPD) Wir sind bereit, in vielfältiger Form Perspektiven in Zu- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sammenarbeit zu entwickeln. Wir nehmen aber nicht hin, dass man uns hier Scheinheiligkeit und Heuchelei Das Wort hat nun der Kollege Hans-Michael vorhält und damit im Grunde genommen die Möglich- Goldmann, FDP-Fraktion. keit der Zusammenarbeit zerstört. Das wollen wir nicht. (B) (D) Hans-Michael Goldmann (FDP): Lassen Sie mich, weil es hier angesprochen worden ist, sehr konkret sagen, wie wir das Thema EU-Agrarre- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und form angehen wollen. Wir sind stolz darauf, dass Ulrich Kollegen! Auch die Gedanken der FDP-Fraktion und der Heinrich, der aus der Kulturlandschaft Baden-Württem- Kollegen, die hier sind, sind bei Matthias Weisheit. Wir bergs kommt, die Kulturlandschaftsprämie erfunden haben vorgestern an der Trauerfeier teilnehmen können. hat. Als ich vorgestern zur Trauerfeier nach Friedrichs- Ich will sehr ausdrücklich betonen, dass wir in der Ar- hafen flog, habe ich diese Kulturlandschaft aus der Höhe beitsphase, die jetzt vor uns liegt, Matthias Weisheit si- betrachtet. Ich habe dabei wieder das tiefe Empfinden cherlich intensiv vermissen werden. Wir werden uns da- gehabt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, wenn wir rum bemühen, in Verantwortung und in Sachlichkeit den die Landwirte in der Kulturlandschaft Deutschlands er- Geist, den er in seiner Arbeit immer zum Ausdruck ge- halten und stützen. Deswegen sind wir für die Flächen- bracht hat, nämlich den Geist der Zusammenarbeit, zu prämie. realisieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute stehen drei der CDU/CSU) agrarpolitische Themen auf der Tagesordnung. Das macht deutlich, welche besondere Bedeutung der Agrar- Wir sind für die Flächenprämie, weil sie dazu beiträgt, bereich und der ländliche Raum insgesamt in der politi- dass der Landwirt unternehmerische Möglichkeiten an schen Arbeit hat. Die Grüne Gentechnik, über die wir den Standorten entwickelt, an denen es in Deutschland schon vorhin gesprochen haben, sehen wir Liberale als notwendig ist. eine zusätzliche Chance, um zum Beispiel den negativen Wir sind auch dafür, dass flexible Regelungen zum Tendenzen, die im Agrarbericht deutlich werden, entge- Grünlanderhaltungsgebot auf den Weg gebracht wer- genzutreten. Ich glaube, dass sich mit der Grünen Gen- den. Es gibt überhaupt keine Frage: Cross Compliance technik Chancen ergeben, die wir nutzen können, damit kann nur eins zu eins umgesetzt werden und keinen Deut der Agrarbericht für unsere unternehmerischen Land- darüber hinausgehen. Wir dürfen keine zusätzlichen na- wirte nicht so negativ ausfällt, wie er ausgefallen ist, und tionalen Belastungen für unsere landwirtschaftlichen Be- damit die Situation für die landwirtschaftlichen Betriebe triebe und unsere Bauern auf den Weg bringen. und für die Ernährungswirtschaft insgesamt ein Stück gestärkt werden kann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Eine Studie des Ifo-Instituts hat ganz besonders deut- der CDU/CSU) lich gemacht, dass wir gerade beim Agrardiesel und 10122 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Hans-Michael Goldmann (A) aufgrund der Ökosteuer Wettbewerbsverzerrungen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) zum Nachteil der deutschen Landwirte im internationa- der CDU/CSU – Gitta Connemann [CDU/ len Wettbewerb haben. Genau das wollen wir nicht. CSU]: Was ist morgen um 9 Uhr?) (Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Jella Teuchner, SPD- Wir wollen, dass unsere tüchtigen Landwirte ihre Fähig- Fraktion. keiten entwickeln und voranbringen können. Ich sage klipp und klar: Eine einvernehmliche Regelung mit Herrn Trittin ist auf dem jetzigen Stand nicht mit uns zu Jella Teuchner (SPD): machen – Ende der Durchsage. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Auch ich darf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mich zunächst bei Albert Deß dafür bedanken, dass wir Ich kann für mich erklären: Ich werde mich keinen Deut trotz unterschiedlicher Auffassung in der Sache immer bewegen. offen, fair und ehrlich im Ausschuss miteinander ge- kämpft haben und gut miteinander ausgekommen sind. Wir könnten uns vorstellen, im Bereich der Milch Lieber Albert, von daher wünsche ich dir für die Zukunft Nachbesserungen zu erreichen. Ich sage allerdings auch: alles Gute. Wir kommen ja beide aus Ostbayern: Ich bin Ich könnte mir eine Linie der Vernunft, der Mitte, die gespannt, wie du versuchen wirst, die Brüsseler Be- sich möglicherweise zwischen 2007 und 2013 einpendelt schlüsse oder Richtlinien in der Öffentlichkeit darzustel- – man könnte die beiden Zahlen auch zusammenzählen len, und welche Diskussion wir dann führen werden, und durch zwei teilen –, als eine gute Lösung vorstellen. wenn wir uns zukünftig irgendwo in Ostbayern treffen Es macht keinen Sinn, der Holzhammermethode von werden. Auf diese Diskussionen freue ich mich schon. Rot-Grün zu folgen. Es macht aus meiner Sicht aber auch keinen Sinn, der Linie zu folgen, die die CDU/CSU (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Er gibt halb- in besonderer Weise vorträgt, nämlich erst 2013 den jährliche Berichte im Ausschuss ab!) Gleitflug einzuleiten. Wir halten das nicht für vernünf- tig, um die deutsche Landwirtschaft im internationalen Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist ganz klar, Wettbewerb zu stärken. dass die Landwirte in Deutschland gute Lebensmittel produzieren. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Das gilt nur für die Milch!) (Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ (B) CSU]) (D) – Kollege Carstensen, mir sind die besonderen Probleme der Milchwirtschaft bestens bekannt. Wie Sie wissen, Das 2003 veröffentlichte Ergebnis des Lebensmittelmo- komme ich aus einer Region, in der es relativ viele nitorings für das Jahr 2001 hat gezeigt, dass der weit Milchbauern gibt. Ich war gestern bei einem landwirt- überwiegende Teil der Lebensmittel keine oder nur sehr schaftlichen Betrieb in der Nähe von Bautzen, dessen geringe Spuren von unerwünschten Stoffen enthält. landwirtschaftliche Fläche nebenbei bemerkt 8 400 Hek- Überschreitungen der Höchstwerte wurden lediglich in tar groß ist. Dieser wird durch die auf verschiedenen 2,2 Prozent der Proben gefunden. Dieses Ergebnis Ebenen auf den Weg gebrachte Milchregelung ganz ein- spricht für die Qualität der Lebensmittel, die unsere deutig leiden; das ist überhaupt keine Frage. Landwirte produzieren. Ich denke aber auch: Wenn wir das Jahr 2010 im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auge behalten und dafür sorgen, möglichst schnell zu ei- DIE GRÜNEN) ner gut ausgestatteten Grünlandprämie zu kommen, dann werden wir diese Probleme auffangen können. Dieses Ergebnis spricht aber auch dafür, dass wir mit unserer Politik für sichere Lebensmittel auf dem richti- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ gen Weg sind und auf diesem richtigen Weg fortfahren CSU]: Woher soll denn das Geld genommen müssen. Die Landwirte produzieren nicht nur gute Le- werden?) bensmittel, sie erbringen auch wichtige Leistungen für die Allgemeinheit. Gleichzeitig stellen die Verbrauche- – Lieber Kollege Carstensen, ich orientiere mich im Hin- rinnen und Verbraucher hohe Erwartungen sowohl an die terkopf manchmal durchaus auch an den Beschlüssen Produktqualität als auch an den Herstellungsprozess. der CDU/CSU und erinnere nur an Husum. In diesem Diese Leistungen werden am Markt jedoch leider nicht Sinne wünsche ich uns eine Lösung der Probleme, die honoriert. Im Gegenteil: Der Agrarbericht zeigt deutlich, für die Landwirtschaft anstehen. dass es neben der Witterung gerade die schwachen Ich bin sehr entschieden der Auffassung: Wenn wir Märkte waren, die den Landwirten die Bilanz verhagelt zusammenarbeiten, werden wir für den ländlichen Raum haben.Wir aber wollen, dass die Landwirte den Anforde- und für die Landwirtschaft viel erhalten können. In die- rungen auch in Zukunft gerecht werden können. Das sem Sinne sehen wir uns morgen früh um 9 Uhr wieder, heißt, wir müssen die Agrarförderung fortsetzen und auf um dann diese Arbeit anzugehen. eine zukunftsfähige Basis stellen. Mit der EU-Agrar- reform und der nationalen Umsetzung erreichen wir dies Herzlichen Dank. bestimmt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10123

Jella Teuchner (A) In der letzten Woche haben viele Landwirte gegen die sis verlässlicher Informationen die Qualität honorieren. (C) niedrigen Milchpreise protestiert. Die Schuldigen waren Beides ist meiner Meinung nach möglich. Es bedarf ei- schnell ausgemacht: Der Lebensmittelhandel, insbeson- ner Agrarpolitik, die die Qualität stärkt und das Ver- dere die Discounter, verschleudern die Milch als Lock- trauen in die Landwirtschaft sicherstellt. Die EU-Agrar- vogelangebot. Es ist richtig: Unter Einstandspreis dürfen reform hat die richtigen Weichen gestellt. Es liegt also Lebensmittel nicht verkauft werden. Das Problem ist an uns, die darin liegenden Chancen zu nutzen. aber, dass wir zu viel Milch haben. Erst ein Überangebot an Milch schafft die Voraussetzungen für diesen Preis- Gerade die Union hat schon bei der Agenda 2000 den wettbewerb auf dem Rücken der Bauern. Hier müssen Untergang der deutschen Landwirtschaft heraufbe- wir ansetzen und den Bauern die Möglichkeit geben, auf schworen. Leider machen Sie dies jetzt wieder. Ihre Vor- Marktentwicklungen zu reagieren. schläge sind leider inhaltlich nicht so ausgestaltet, dass sie verwertet werden können. Sie versuchen lediglich, zu Wir brauchen eine Agrarpolitik, die nicht mehr die blockieren und nach Möglichkeit wenig zu ändern, ob- Produktion von Überschüssen fördert; denn eine solche wohl Sie wissen, dass die derzeitige Agrarpolitik vom Agrarförderung wird nicht mehr akzeptiert. Darüber hi- Steuerzahler infrage gestellt wird und in der WTO nicht naus sollen sich die Landwirte am Markt und nicht an mehr lange durchsetzbar bleibt. der Förderung ausrichten. Förderung gibt es dafür, dass die Landwirte Leistungen erbringen, die uns allen wich- Helfen Sie mit, die Chancen der Agrarreform zu nut- tig sind, die aber am Markt nicht honoriert werden. Des- zen! Hören Sie auf, weiterhin zu blockieren! Viele Land- wegen ist es richtig, die Prämien von der Produktion zu wirte haben schon erkannt, dass eine Fortsetzung der entkoppeln. Es ist auch richtig, sie an die Einhaltung der bisherigen Agrarpolitik nicht funktionieren kann. Ich Vorschriften zur Lebensmittelsicherheit und zum Tier- hoffe, Sie zeigen sich hier einmal etwas lernfähiger. und Umweltschutz zu binden. Vielen Dank. Auf fast 30 Prozent der landwirtschaftlich genutzten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fläche wurden 2001 Agrarumweltmaßnahmen geför- DIE GRÜNEN) dert. Die Tendenz ist steigend. Der Flächenanteil des ökologischen Landbaus ist im Jahre 2002 auf 4,1 Prozent angestiegen. Dies zeigt, dass der Einsatz für Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: eine besonders umweltfreundliche Landbewirtschaftung Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun die Kollegin auch bei den Landwirten eine hohe Akzeptanz genießt. Gitta Connemann das Wort. Wir wollen aber auch hier noch besser werden. Wir set- zen das Bundesprogramm „Ökologischer Landbau“ fort, (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (D) weil die Ökobetriebe die Betriebe sind, die im Wirtschaftsjahr 2002 und 2003 am besten abgeschnitten Gitta Connemann (CDU/CSU): haben. Der ökologische Landbau kann für noch mehr Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1996 gab Landwirte auch eine ökonomische Chance sein. Diese es in meinem Heimatkreis noch annähernd 2 700 land- werden wir ihnen geben. wirtschaftliche Betriebe. Inzwischen hat davon mehr als (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ein Drittel aufgegeben. Wir liegen damit im traurigen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Trend des Betriebssterbens. Davon sind Bauernfami- lien, Arbeitnehmer, Dörfer und Kulturlandschaften be- Die Lebensmittel aus dem ökologischen Landbau troffen. Höfe verfallen, Flächen liegen brach und die sind seit der Einführung des Biosiegels aus keinem Su- Talfahrt geht weiter. In den kommenden Jahren werden permarkt mehr wegzudenken. Es war also richtig, ein ge- etwa weitere 40 Prozent der noch verbliebenen Betriebe meinsames Siegel einzuführen, das auch vom Einzelhan- aufgeben. Jede Betriebsaufgabe ist ein Schicksalsschlag; del akzeptiert wird. Es zeigt sich, dass sich über denn Bauer und Landwirt zu sein ist nicht Beruf, son- besondere Qualität – auch über die Prozessqualität – am dern Berufung. Aber vielen bleibt nur dieser Ausweg; Markt durchaus höhere Preise durchsetzen lassen. Es ist denn sie stehen bereits jetzt mit dem Rücken zur Wand. allerdings wichtig, dass die Verbraucherinnen und Ver- braucher die Qualität der Produkte nachvollziehen kön- (Beifall bei der CDU/CSU) nen. Dazu gehört eine verständliche und verlässliche Die deutschen Bauernfamilien haben damit gelebt, Kennzeichnung. Dazu gehört aber auch eine Ernäh- ideologisch geächtet zu werden, aber sie können nicht rungsberatung, die verloren gegangenes Wissen um Er- mehr mit einem Einkommen leben, das sich seit Jahren nährung und Lebensmittel wieder aufbaut. Dazu gehört im freien Fall befindet, und zwar ohne Aussicht auf Bes- außerdem eine offene Kommunikation zwischen Her- serung, ganz im Gegenteil – so der Agrarbericht der stellern und Kunden. Wir wollen deshalb weiterhin ein Bundesregierung. Verbraucherinformationsgesetz, weil nur Vertrauen in die Qualität höhere Preise ermöglichen kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) Die Landwirte sollen ihre Produktion am Markt aus- richten; das ist heute schon mehrfach angesprochen wor- Bei der Vorlage dieses Berichts hat die Ministerin von den. Dazu bedarf es zum einen einer Agrarpolitik, die dramatischen Zahlen gesprochen, eine aus meiner Sicht nicht die möglichst hohe Produktion von bestimmten noch geschönte Bezeichnung für den erneuten Einbruch. Produkten fördert, zum anderen Verbraucher, die auf Ba- Frau Kollegin Teuchner, wir reden die Landwirtschaft 10124 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Gitta Connemann (A) nicht kaputt, es geht ihr einfach hundsmiserabel (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist eine Verhöh- (C) schlecht. nung der Bauern!) (Jella Teuchner [SPD]: Doch, Sie reden sie Wie denn, bitte schön? Leider droht aber nach dem auch kaputt!) Agrarbericht noch mehr Gängelung seitens der Bundes- regierung. Da erscheinen die Pläne zur Verbesserung der Ein Landwirt erzielt zurzeit für seine Arbeitskraft Haltung von Mastkaninchen noch harmlos. Anders ist durchschnittlich nur noch 1 540 Euro brutto, 1 540 Euro dies schon bei dem geplanten Ackerbauverbot in Über- für Lebensunterhalt, soziale Sicherung, für Verzinsung schwemmungsgebieten. Auf einen Streich würden circa des Eigenkapitals und notwendige Zukunftsinvestitio- 900 000 Hektar kalt enteignet. nen. Damit verdient er als Betriebsinhaber ein Drittel weniger als jeder gewerbliche Arbeiter, und das mit wei- Der nun vorliegende Entwurf zur Novelle der Dünge- ter sinkender Tendenz. Ich bin mir sicher, dass eine sol- verordnung ist an Regelungsdichte kaum zu überbieten. che Einkommensentwicklung in allen anderen Wirt- Auf den Landwirt kommt damit ein noch nie gewesenes schaftsbereichen zu einem Massenaufschrei in dieser Maß an Aufzeichnungspflichten zu. Verstöße gegen Republik geführt hätte. diese Pflichten lösen nicht nur die Sanktionen nach der (Beifall bei der CDU/CSU – Peter H. Düngeverordnungen aus, im Rahmen der nationalen Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Da Umsetzung von Cross Compliance würde dies auch zu wollte ich Gewerkschafterin Teuchner sehen!) einer Kürzung der Prämie führen. Im Rahmen der natio- nalen Umsetzung von Cross Compliance würde dies Und hier? Ein großes Schweigen. Dabei muss gerade die auch zu einer Kürzung der Prämien führen. Eine solche Bundesregierung handeln, wenn schon nicht aus Verant- Mehrfachbestrafung ist in allen anderen Bereichen un- wortung für die deutsche Landwirtschaft, dann aber bitte denkbar, aber in der Landwirtschaft ist sie wie immer schön infolge eines gesetzlichen Auftrages. möglich. Nach § 1 Landwirtschaftsgesetz ist die Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. rung nämlich verpflichtet, durch politische Maßnahmen Hans-Michael Goldmann [FDP]) eine Teilnahme der Landwirtschaft an der allgemeinen Einkommensentwicklung sicherzustellen. Die Liste der Grausamkeiten ließe sich fortsetzen. Meine Damen und Herren von der Koalition, es ist mir (Jella Teuchner [SPD]: Schauen Sie mal, was unbegreiflich, warum Sie immer weiter draufsatteln in den Landesverfassungen steht!) müssen und damit unseren Betrieben schaden. Ändern Sie Ihre Politik und machen Sie damit die deutsche (B) Dieses Ziel ist bei mehr als 80 Prozent der Betriebe ver- (D) fehlt, und zwar deutlich. Damit ist die Bundesregierung Landwirtschaft wettbewerbsfähig! Dann kann sie auch verpflichtet, politisch zu helfen, und sie könnte einiges in Konkurrenz zu unseren neuen Nachbarn treten. Denn tun. von dieser Seite wird der Wettbewerb deutlich zuneh- men. Unsere Agrarexporte in die neuen Beitrittsländer (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sinken, während die Importe aus diesen Ländern in 2003 NEN]: Dafür brauchen wir die Reform!) um 15 Prozent gestiegen sind. Sicher trägt sie keine Verantwortung für Ernteausfälle, In dem härter werdenden Wettbewerb sind den Bei- aber ihre Politik hat zu einem Anstieg der Produktions- trittsländern zahlreiche Ausnahmeregelungen einge- kosten geführt, der in Europa einmalig ist, Frau Kollegin räumt worden. Das ist bedenklich. Jedes fünfte Ei, das Höfken. Dies zeigt sich schon am Beispiel Agrardiesel. zurzeit in Tschechien produziert wird, stammt aus Be- Die Steuerbelastung deutscher Landwirte ist um ein trieben, die den EU-Standards im Tierschutz nicht genü- Vielfaches höher als die ihrer europäischen Nachbarn, in gen. der Spitze 25-mal so hoch. Nationale Alleingänge wie zum Beispiel im Bereich von Immissionsschutz und (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Umweltverträglichkeitsprüfung führen zu weiteren CSU]: Richtig!) Wettbewerbsnachteilen. So gelten kleinste Betriebe in Deutschland als Betriebe im Sinne des Bundes-Immis- Dem hat die Ministerin zugestimmt. Voraussetzung für sions-Schutzgesetzes. Ein Landwirt, der seinen Betrieb einen fairen Wettbewerb sind aber gleiche Standards für erweitern will, hat sich damit Anforderungen zu stellen, Hygiene, Umwelt und Tierschutz. Es gibt also viel zu als plane er den Bau eines Chemiewerks. tun. Ohne entsprechende Maßnahmen sind unsere Bau- ern hilflos. (Jella Teuchner [SPD]: Quatsch!) Die Ministerin hat vor kurzem gesagt, dass sie unsere Diese Liste ließe sich fortführen. Ich nenne hier nur bäuerlichen Betriebe wieder in die Mitte der Gesell- praxisfremde Regelungen wie die Bestandsbuchverord- schaft holen will. Dies wollen und können unsere Be- nung oder die Viehverkehrsverordnung. Dies alles kostet triebe selbst schaffen. Aber dann geben Sie ihnen bitte nicht nur Zeit und Nerven, sondern auch Geld, das den auch die Chance dazu. Das setzt eine Änderung Ihrer Po- Bauern fehlt, was sie im europäischen Wettbewerb zu- litik voraus. Es geht nicht darum, zu verordnen, sondern rückwirft. Vor diesem Hintergrund ist es ein Schlag ins zu gestalten, und zwar gemeinsam. Gesicht, wenn die Ministerin erklärt, dass sich die deut- schen Bauern mehr am Markt orientieren müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10125

Gitta Connemann (A) Lassen Sie uns doch einen Agrarvertrag mit und zu- Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der (C) gunsten der Landwirtschaft und damit auch zugunsten Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und unseres Landes abschließen! Denn die Landwirtschaft Landwirtschaft: betrifft in existenzieller Weise die langfristige Lebens- Wir kennen Peter Harry Carstensen. Weil er angegrif- qualität aller Bürgerinnen und Bürger. Lassen Sie uns fen wurde, versucht er jetzt, unter die Gürtellinie zu zie- unseren Bauern wieder eine Perspektive geben! Wir von len. Lenken wir aber nicht von dem entscheidenden der CDU/CSU sind dazu bereit. Punkt ab, lieber Herr Kollege, dass Sie eine wesentliche neue Einkommensquelle für die Landwirte in Deutsch- Vielen Dank. land blockieren. Der Kollege Deß muss sich künftig (Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Wolff nicht mehr auf seine Hände setzen; denn er trägt – das [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist doch schon wie- wissen wir aus privaten Gesprächen – eine solche Re- der so eine Heuchelei! – Jella Teuchner [SPD]: form durchaus mit. Völlig perspektivlos!) (Albert Deß [CDU/CSU]: Bei Biomasse ja! Aber nicht bei Wind und Sonne!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Lassen Sie mich eines festhalten: Frau Bundesminis- Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentari- terin Künast wird in der nächsten Sitzungswoche eine sche Staatssekretär Matthias Berninger das Wort. Regierungserklärung zum Thema Kinder und Ernährung abgeben. Es handelt sich dabei um ein ernst zu nehmen- Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der des Problem. Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Peter H. Carstensen [Nord- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als un- strand] [CDU/CSU]: Das ist richtig!) längst der chinesische Ministerpräsident Deutschland besuchte, reiste er zunächst nach Bayern. Im Bild war Wenn immer mehr 11-jährige, 12-jährige oder 13-jährige ein stolz wie ein Honigkuchenpferd grinsender bayeri- Kinder an Altersdiabetes erkranken, dann ist es dieses scher Ministerpräsident zu sehen, Thema wert, dass sich die Bundesregierung damit be- schäftigt. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ der mit dem chinesischen Besucher einen Bauernhof be- CSU]: Und in Amerika?) sucht und dort eine Biogasanlage des Herrn Pellmeyer (B) besichtigt hat. Diese Biogasanlage ist vorbildlich und Wenn der gute Herr Kollege Carstensen meint, er müsse (D) Herr Pellmeyer ist uns allen als einer der Vorkämpfer für sich in dieser, wie ich finde, unflätigen Weise über ent- das Erneuerbare-Energien-Gesetz gut bekannt. sprechende Berichte aufregen, dann soll er das machen. Aber ein solcher Stil lässt uns sicherlich nicht zu Freun- Ich weiß auch, warum Sie sich so aufregen. Dieses den werden. Gesetz, das vielen Landwirten in Deutschland ein zu- sätzliches Einkommen bringen und dafür sorgen soll, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass mit dem entsprechenden Know-how der Landwirt- und bei der SPD) schaft die neuen Energieträger CO2-neutral mobilisiert Zurück zum Agrarbericht. Im vergangenen Jahr werden, wird von der Union im Bundesrat in schamloser machte sich ein weiterer Vorbote der Klimaveränderung Weise blockiert. bemerkbar. Es war ein Jahr absoluter Trockenheit. Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rade die Landwirtschaft ist von den Witterungsbedin- sowie bei Abgeordneten der SPD) gungen abhängig. Die extreme Trockenheit hat die Ernte in vielen Regionen verdorren lassen und zu erheblichen Einnahmeausfällen geführt. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Staatssekretär, darf Ihnen der Kollege Frau Connemann hat angegeben, dass die Einkommen Carstensen eine Zwischenfrage stellen? der Landwirte kontinuierlich gesunken seien. Sie wis- sen es besser, werte Kollegin. 2001/2002 sind die Ein- kommen der Landwirte erheblich gewachsen. Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Auf niedrigs- Landwirtschaft: tem Niveau) Selbstverständlich. – Stimmt, auf niedrigstem Niveau. Allerdings waren Sie da noch an der Regierung. Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): (Gitta Connemann [CDU/CSU]: 2001?) Herr Staatssekretär, habe ich damals in dem „Spie- gel“-Bericht richtig gelesen, dass es auch in Amerika Deshalb sollten Sie lieber ganz still sein. Leute gab, die wie Honigkuchenpferde grinsten, als Sie dort die dicken Kinder besichtigt haben? Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Folgendes hinweisen: Wenn wir über Durchschnittszahlen reden, (Zurufe von der SPD: Was?) dann müssen wir auch bedenken, dass die Einkommen in 10126 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Parl. Staatssekretär Matthias Berninger (A) der Landwirtschaft höchst ungleich verteilt sind. Einigen dass wir künftig auf sozialverträgliche Art und Weise die (C) landwirtschaftlichen Betrieben geht es noch schlechter, ländlichen Räume unterstützen, statt den Anbau von Ta- als es die Durchschnittszahlen zum Ausdruck bringen, bak zu fördern, dessen Konsum zu erheblichen Gesund- während andere Betriebe relativ gut dastehen. Hier geht heitsgefährdungen führt. es darum, mit der Reform der Agrarpolitik allen Land- wirten eine Chance zu geben und Ungerechtigkeiten bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Verteilung von Agrarsubventionen zu nivellieren. Die Güte unserer Agrarpolitik wird nicht durch die Aber auch diese Reform blockieren Sie im Bundesrat. Miesmacherei der CDU/CSU beeinträchtigt, sondern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durch die gemeinsam von Bundestag und Bundesrat ge- und bei der SPD – Peter H. Carstensen [Nord- tragenen Beschlüsse und die Mehrheitsbeschlüsse, die strand] [CDU/CSU]: Weit von der Wirklich- wir auf europäischer Ebene durchsetzen, unter Beweis keit entfernt!) gestellt. Auch der Deutsche Bauernverband gibt gegen- über den Landesbauernverbänden immer mehr zu, dass Wir werden der Landwirtschaft künftig Bedingungen die Reform kommen wird. Die einzigen ewig gestrigen schaffen, die sie marktnäher produzieren lässt. Es wird Blockierer sitzen hier und werden demnächst teilweise keine Silomaisprämien mehr geben, die dazu führen, auch im Europaparlament vertreten sein. dass die Bauern in bestimmten Regionen Mais anbauen, obwohl der Boden den Anbau von anderen Pflanzen bes- Ich danke Ihnen herzlich. ser zuließe. Wir werden die Landwirte von vielen Bevor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mundungen im Zusammenhang mit der Subventionie- und bei der SPD) rung erlösen und ihnen mehr Freiheit geben. Das unterstützt die FDP ebenso wie die Regierungsfraktio- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nen. Das wird übrigens auch – das ist spannend – von Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der einer Mehrheit der Länder mitgetragen. Kollege Dr. Peter Jahr für die CDU/CSU-Fraktion. Auffällig ist: Während hier ein Zerrbild der Landwirt- (Beifall bei der CDU/CSU) schaft gezeichnet wird – man behauptet, dass alles den Bach hinuntergehe –, trägt die Mehrheit der Länder im Bundesrat regelmäßig die Beschlüsse des Deutschen Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Bundestages mit. Ich erinnere nur daran, dass wir uns im Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Dezember letzten Jahres auf eine Stärkung der ländli- Herren! Herr Staatssekretär Berninger, Ihr Vorwurf, die chen Räume verständigen und neue Fördergrundsätze CDU/CSU und die Liberalen blockierten die gemein- (B) bei der Gemeinschaftsaufgabe verabschieden konnten. same Reform der Agrarpolitik, geht völlig am Thema (D) Besonders leise sind Sie, wenn die unionsgeführten Bun- vorbei. desländer die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgabe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- zes“ fordern. Wenn diese abgeschafft wird, dann wird Sie haben einen engen Zeitplan vorgegeben. Wir und die gerade das Einkommen der Kleinbauern ganz massiv Bundesländer sind bereit, die Verhandlungen im Ver- den Bach hinuntergehen. Auch hier wünsche ich mir von mittlungsausschuss unter Einhaltung dieses Zeitplans Ihnen mehr Mut. zum Erfolg zu führen und eine gemeinsame Agrarreform zu beschließen und durchzusetzen. Natürlich machen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN solche Äußerungen wie diejenigen, die Sie eben ge- und bei der SPD – Gitta Connemann [CDU/ macht haben, die Sache nicht leichter. Aber wir stehen CSU]: Aber Sie haben mehrfach gekürzt!) natürlich dazu, dass man eine Reform, die man begon- Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. In nen hat, auch zu Ende bringen muss. Bitte werfen Sie der ersten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur uns nicht vor, dass wir nicht bereit sind, Verantwortung Reform der Marktordnung in den Bereichen Hopfen, für die deutsche Landwirtschaft zu übernehmen. Wir tun Tabak und Oliven hat Herr Weisheit zum letzten Mal das, auch wenn es uns bei Ihren Vorgaben manchmal hier geredet. Wir haben auf dem Weg zu seiner Beerdi- schwer fällt. gung mitbekommen, dass Matthias Weisheit in einer Bei vielen Gesetzen von Rot-Grün haben wir immer Hopfenregion lebt. Alle haben gesagt, dass er jemand wieder das Problem, dass nur die Überschrift gut ist, gewesen ist, der sich intensiv mit den Landwirten aus- aber nicht der Inhalt. Ich mag den Agrarbericht, denn er einander gesetzt hat und dem die Familienbetriebe be- enthält Zahlen und an denen kann man sich nicht so ein- sonders am Herzen gelegen haben. Darin sind wir uns fach vorbeimogeln. Wenn der Haushalt die in Zahlen ge- alle sicherlich einig. In seiner letzten Rede, die er in die- gossene Politik einer Regierung darstellt, dann ist der sem Hause gehalten hat, hat er gesagt, dass unsere Re- Agrarbericht der Bundesregierung eine Art Zwischen- form von den Bauern in seiner Region mitgetragen prüfung. Wenn man den vorliegenden Bericht von seinen werde und dass sie ihnen eine Perspektive gebe. Die Re- lyrischen Elementen befreit, dann stellt man fest, dass form ist also gar nicht so schlecht, wie hier immer getan der Inhalt wenig schmeichelhaft ist. Das Positive steht wird. Im Gegenteil: Sie gibt den Bauern eine langfristige nur im Text und lässt sich zahlenmäßig nicht nachwei- Perspektive. Ich bin stolz darauf, dass die Bundesrepu- sen. blik Deutschland eine Mehrheit in Europa für die Ab- schaffung der Tabaksubventionen gewinnen konnte und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10127

Dr. Peter Jahr (A) Die Kollegin Connemann hat schon darauf hingewie- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (C) sen, dass der Gewinn pro Arbeitskraft in den letzten Jah- CSU]: Das ist der Künast-Effekt! – Dr. Uwe ren immer weiter gesunken ist. Das durchschnittliche Küster [SPD]: Was ist denn das für ein milita- Einkommen der Betriebe beträgt zurzeit ungefähr ristischer Ausdruck? Wir sind hier nicht im 20 000 Euro im Jahr. Das entspricht 1 667 Euro im Mo- Krieg! Sprache verrät!) nat. Diese Rechnung kann man natürlich fortführen: – Angesichts des Kampfes gegen die Bürokratie, gegen Zieht man diesem Bruttowert noch die Sozialkosten ab, die Verwaltungsvorschriften und gegen andere rot-grüne dann kommt man auf einen Nettowert von circa Segnungen, den unsere Landwirte täglich bestehen müs- 1 200 Euro im Monat. Irgendwann landen wir bei einem sen, kommt es manchmal zu kriegsähnlichen Erschei- Nettolohn von 5 Euro pro Stunde. nungen. Diese Zahl sagt manchen nicht viel. Allerdings fragen (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Man muss die mich viele Landwirte: Braucht man bei solch einem Ein- Wahrheit auch einmal ertragen können!) kommensniveau überhaupt noch einen Minister? 5 Euro pro Stunde: Sieht so eine erfolgreiche Agrarwende aus? Ich wiederhole: Gesetzeslyrik kann schön sein; aber die Zahlen sprechen halt eine andere Sprache. Das nächste Beispiel ist die so genannte Vergleichs- rechnung im Agrarbericht. Ich finde in jedem Agrarbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) richt den Abschnitt „Vergleichsrechnung nach § 4 Land- Diese Zahlen habe ich mir nicht ausgedacht, sondern sie wirtschaftsgesetz“ ziemlich interessant. Manche mögen stehen in Ihrem Agrarbericht. Fakt ist: Seit 1995 hat sich schon vergessen haben: Nach § 4 des Landwirtschaftsge- für die deutschen Landwirte nichts bewegt. setzes ist ein Vergleich der Einkommenssituation mit an- deren Wirtschaftszweigen vorzunehmen. Die Ergebnisse (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nächstes Mal kommt sind zahlenmäßig so vernichtend, dass die Bundesregie- der mit einem Gewehr hier rein!) rung einfach feststellt – ich zitiere aus Seite 33 dieses Was ist zu tun? Erstens. Frau Ministerin, Herr Staats- Berichts –: sekretär, nehmen Sie sich eine kurze Auszeit und lesen Die Vergleichsrechnung nach dem LwG ist heute Sie sich nochmals Ihren eigenen Ernährungs- und Agrar- kaum noch aussagefähig. Gewerbliche Arbeitneh- bericht durch! mer- und Tarifgruppen, die mit landwirtschaftlichen (Beifall bei der CDU/CSU) Unternehmen uneingeschränkt vergleichbar sind, gibt es nicht. Zweitens. Fühlen Sie sich, zumal im Teilbereich Land- wirtschaft, endlich als Wirtschaftsministerium, das in ei- (B) (Zuruf von der CDU/CSU: Schamlos!) ner gemeinsamen europäischen Agrarpolitik agiert! (D) Das ist also eine Problemlösung à la Rot-Grün: Wenn (Beifall bei der CDU/CSU) das Ergebnis zahlenmäßig nicht stimmt, dann wird es Drittens. Beseitigen Sie jegliche Wettbewerbsverzerrun- einfach wegredigiert. gen innerhalb der Europäischen Union! (Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, in der Tat arbeiten viele Landwirte de facto unter Mindestlohn. Denn Wettbewerbsverzerrungen bringen den Landwirten Nur noch 17 Prozent der Betriebe erreichen eine den direkte Einkommenseinbußen. Vergleichsansätzen entsprechende Faktorenentlohnung. Noch einfacher: Setzen Sie alle EU-Richtlinien eins Noch ein drittes Beispiel. Abstand verhilft manchmal zu eins um zu neuem Weitblick. Auf Seite 41 dieses Berichts steht – (Albert Deß [CDU/CSU]: Das wäre genau das das erscheint mir sehr hilfreich –: Richtige!) Als makroökonomischer Indikator für die Einkom- und verzichten Sie auf das deutsche Sahnehäubchen! mensentwicklung in der Landwirtschaft der EU- Mitgliedstaaten wird u. a. die Nettowertschöpfung (Beifall bei der CDU/CSU) je Arbeitskraft verwendet. Schaffen Sie endlich Wettbewerbsgleichheit und lassen Sie die Landwirte endlich etwas unternehmen: frei, aner- Aus diesem Zahlenmaterial gehen zwei interessante Tat- kannt, ohne Wettbewerbsverzerrungen! Wenn es um die sachen hervor. Erstens. Deutschland nimmt Platz neun in deutsche Landwirtschaft und wenn es um die deutschen der Europäischen Union der 15 ein, das heißt, wie mittler- Bäuerinnen und Bauern geht, werden wir Sie, wenn es weile überall, hinteres Mittelfeld. Man könnte bezogen sein muss, unterstützen. auf Ihre Agrarpolitik auch sagen: Die Drei ist die Eins des kleinen Mannes. Zweitens. Deutschland ist im Jahr 2003 Schlussbemerkung: Wenn der agrarpolitische Bericht in der Landwirtschaft bei der Nettowertschöpfung von eine politische Zwischenprüfung darstellt, dann sind Sie, 1995 angelangt. Meine Damen und Herren von Rot- meine Damen und Herren von Rot-Grün, glatt durchge- Grün, das heißt doch schlicht und ergreifend: Ihre Agrar- fallen. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie auch das politik, Ihre „berühmte“ Agrarwende, hat die deutsche Examen vermasseln. Der Termin der Abschlussprüfung Landwirtschaft in das Jahr 1995 zurückgebombt. steht übrigens schon fest: die Bundestagswahl 2006. 10128 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dr. Peter Jahr (A) Ich danke Ihnen. Laumann, weiterer Abgeordneter und der Frak- (C) tion der CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Doha-Verhandlungen nach dem Scheitern von Cancun konstruktiv und zügig voranbringen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – Drucksachen 15/1567, 15/3222 – Ich schließe die Aussprache. Berichterstattung: Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- Abgeordneter Erich G. Fritz tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen einge- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Betriebsprämi- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung endurchführungsgesetzes auf Drucksache 15/3046. Der und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/3223, den Ge- Reiche, Thomas Rachel, Günter Nooke, weiterer setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Qualitätssicherung im Bildungswesen und kul- Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Mehr- turelle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen ga- heit angenommen. rantieren Dritte Beratung – Drucksachen 15/1095, 15/1844 – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Berichterstattung: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu er- Abgeordnete Ulrike Flach heben. – Wer stimmt gegen den Gesetzentwurf? – Wer Ulla Burchardt möchte sich der Stimme enthalten? – Damit ist der Ge- Thomas Rachel setzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Ursula Sowa Stimmen der Opposition angenommen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit hat in seine Tagesordnungspunkt 9 b: Interfraktionell wird Über- Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3222 den An- weisung der Vorlage auf Drucksache 15/2457 an die in trag der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/1931 mit dem der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Titel „Doha-Runde bis 2005 zum Erfolg führen – Mehr gen. – Darüber besteht offensichtlich Einvernehmen. Entwicklung, Armutsbekämpfung und Wohlstand durch (B) Dann ist die Überweisung so beschlossen. Freihandel“ einbezogen. Über diesen Antrag soll jetzt (D) ebenfalls abschließend beraten werden. – Ich sehe, dass Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis c auf: Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre (9. Ausschuss) ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so verein- bart. – zu dem Antrag der Abgeordneten Erich G. Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Ich eröffne die Aussprache. Die Kollegin Skarpelis- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Sperk, die diese Debattenrunde für die SPD-Fraktion be- CDU/CSU ginnen sollte, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. Für ein höheres Liberalisierungsniveau Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Erich Fritz für beim Welthandel mit Dienstleistungen – die CDU/CSU-Fraktion. GATS-Verhandlungen zügig voranbringen Erich G. Fritz (CDU/CSU): – zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte Kopp, Rainer Brüderle, Dirk Niebel, weiterer heute gern auf Frau Skarpelis-Sperk geantwortet. Abgeordneter und der Fraktion der FDP Cancun, die WTO-Ministerkonferenz, deren Schei- Internationale Rechtssicherheit und trans- tern allseits beklagt worden ist, liegt etwa ein halbes Jahr parente Regeln für den Dienstleistungshan- zurück. Mittlerweile hat man den Eindruck: Es war viel- del – GATS-Verhandlungen voranbringen leicht doch nicht nur ein Scheitern; es haben sich einige neue Entwicklungen ergeben. Die Entwicklungsländer – Drucksachen 15/1008, 15/1010, 15/3101 – sind organisationsfähig und artikulationsfähig geworden. Berichterstattung: Der Zeitablauf hat dazu geführt, dass an vielen Stellen Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk ein Nachdenken über die Frage eingesetzt hat, ob man die Tagesordnung in der Weise überfrachtet halten muss, b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wie das der Fall war, ob es Dinge gibt, auf die man sich richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit konzentrieren kann, und ob man in den Bereichen, die (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten das Scheitern vor allem verursacht haben, zum Beispiel Erich G. Fritz, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef im Agrarbereich, weiterkommen kann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10129

Erich G. Fritz (A) Jetzt stellen wir fest: Es kommt Bewegung in die Länder, sich in den anderen in Doha vereinbarten Berei- (C) WTO-Verhandlungen. Nach der Enttäuschung sind jetzt chen zu bewegen, ausschließlich davon abhängt, ob sich wieder ein Stück Aufbruch und der Wille, gemeinsam bei den entscheidenden Fragen wie Agrarsubventionen weiterzukommen, zu spüren. Wirklich substanzielle und Marktzugang vorher etwas tut. Da bestehen gute Fortschritte gibt es natürlich noch nicht, aber die Genfer Chancen. Immerhin hat Herr Zoellick angekündigt, dass Verhandlungen haben gezeigt, dass an vielen Stellen auch die Vereinigten Staaten über die Frage der Subven- Beiträge geliefert werden. Die Europäer haben sich in tionen, der Lebensmittelhilfe und der damit verbundenen vielen Punkten bewegt und die USA haben deutlich si- Stützung der eigenen Märkte sprechen werden. gnalisiert, dass sie zumindest an einer Fortsetzung der Ob sich in den USA im Wahljahr etwas bewegen multilateralen Verhandlungen interessiert sind und da- lässt, werden wir sehen. ran, dass man in Doha zum Erfolg kommt. Das war ja nicht immer klar, gab es doch nach den Verhandlungen (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das glauben in Cancun deutliche Anzeichen dafür, dass man den Weg Sie alleine!) über bilaterale Verhandlungen einschlägt, weil dieser at- traktiver zu sein schien. Tatsächlich gibt es Bemühungen Es gibt immerhin Signale, dass es so viel Entgegenkom- um weitere bilaterale Abkommen, nicht nur vonseiten men gibt, dass im Juli in Genf der Prozess weitergeht der USA mit südamerikanischen Staaten, sondern zum und im nächsten Jahr, wenn die Kommission neu bestellt Beispiel auch vonseiten Australiens mit südostasiati- ist und die USA gewählt haben, die Verhandlungen er- schen Staaten. folgreich vorangebracht werden können und auf einer der nächsten Ministerkonferenzen ein, wenn auch abge- Zum aktuellen Optimismus hat insbesondere die EU- specktes, Ergebnis vorliegen wird. Durch weiteren Ab- Initiative vom 9. Mai beigetragen. Sie beinhaltet ein bau von Zöllen und weitere Liberalisierung rücken dann deutliches Signal für den Abbau von Agrarexportsub- die Wohlfahrtsgewinne, die wir uns alle aus diesen Ver- ventionen. handlungen erhoffen, in greifbare Nähe. (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat NEN]: Da hätte die Vorrednerin jetzt einmal in letzter Zeit den Abgeordneten regelmäßige Berichte bei der Debatte sein sollen!) über den Stand der Verhandlungen zukommen lassen. Dafür bedanken wir uns ausdrücklich. Wir sind aller- – Ja, aber die hätte das auch akzeptiert. Ich denke an eine dings der Meinung, dass das das Mindeste ist, was sie sehr interessante Anhörung, Frau Kollegin, die heute tun kann. Wir würden uns darüber freuen, wenn die frü- Morgen von der CDU/CSU-Fraktion zu dieser Frage her geübte Praxis regelmäßiger Konsultationen der Re- durchgeführt wurde. Hier beschäftigte man sich auch mit gierung mit den Parlamentsberichterstattern wieder auf- (B) (D) der fehlenden Kohärenz zwischen Entwicklungs- und genommen würde. Eines ist ganz klar: Es ist unsere Agrarpolitik. Aufgabe, über die bestehenden Netzwerke dazu beizu- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr gut!) tragen, dass ein positives Klima für die weiteren Gesprä- che entsteht. Das können Sie nicht alleine. Deshalb tun Es wurde ganz klar, dass diese ein Haupthindernis für Sie bitte diesen Schritt, auch wenn er ein wenig Arbeit Fortschritte ist. Zugleich darf man nicht übersehen, dass bereitet. bei einem allgemeinen Abbau von Subventionen nicht nur bei uns, sondern auch in manchen Entwicklungslän- Es gibt also keinen Grund zum Pessimismus. Viel- dern neue Verwerfungen entstehen. Deshalb muss man mehr gibt es Ansatzpunkte für einen neuen Optimismus. natürlich sehr sorgfältig mit solchen Forderungen umge- Wir hoffen auch im Sinne der Entwicklung unserer Wirt- hen. schaft, dass die nächsten Verhandlungen erfolgreich sein werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vielen Dank. Die Singapur-Themen haben sich als ein Hindernis für Fortschritte herausgestellt. Mittlerweile sind die Eu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ropäer zu der Überzeugung gekommen, dass man die Das Präsidium bedankt sich für die punktgenaue Ein- Singapur-Themen auf Handelserleichterungen und Re- haltung der Redezeit. form der Zollverfahren reduzieren kann. Das ist gut so, denn die Hoffnung der Europäer, man könne sich für (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das war beab- Kompromisse bei den ursprünglichen Themen ein sub- sichtigt, Herr Präsident!) stanzielles Entgegenkommen anderer Staaten einhan- Ich erteile das Wort nun der Kollegin Gudrun Kopp für deln, hat sich als Illusion erwiesen. In Wirklichkeit geht die FDP-Fraktion. es also in den übrig gebliebenen Punkten nicht mehr um Kompensationsgeschäfte, sondern darum, welche Vorbe- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dingungen für eine sich organisierende Dritte Welt, die NEN]: Das ist falsch!) man wahrnehmen und ernst nehmen muss, erfüllt wer- den können. Hier müssen Lösungen gefunden werden. Gudrun Kopp (FDP): Das kann gar nicht falsch sein. Bei den GATS-Verhandlungen in Genf hat sich in der Zwischenzeit nichts bewegt. Das ist auch nicht verwun- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind schon richtig, derlich, denn alle wissen, dass die Bereitschaft vieler aber die Reihenfolge ist falsch!) 10130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Gudrun Kopp (A) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Da- geht, und zwar unter Wahrung der hoheitlichen Kompe- (C) men! Es ist auch in diesem Haus noch notwendig, darauf tenzen, und nicht darum, – hinzuweisen, dass Marktöffnung und Liberalisierung des Welthandels zu mehr Wohlstand, mehr Bildung, mehr Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Gesundheitsvorsorge und insgesamt besseren Lebens- Frau Kollegin! verhältnissen weltweit führen. (Beifall des Abg. Hans-Michael Gudrun Kopp (FDP): Goldmann [FDP]) – Dienstleistungsbereiche quasi einem ungehinderten Austausch zu öffnen. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Globalisierung birgt, bei aller Skepsis und bei allen negativen Seiten, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) aus Sicht der Liberalen eindeutig mehr Chancen als Risi- Ich wünsche mir, dass die Anträge der FDP-Bundes- ken. Wir sollten diese Chancen unbedingt nutzen. tagsfraktion von diesem Haus positiv beschieden werden Der Kollege Fritz sprach eben davon, dass wir seit der und dass die Doha-Runde recht bald erfolgreich abge- Doha-Konferenz im vergangenen September in Cancun schlossen werden kann. nicht sehr viel weitergekommen seien. Trotzdem be- Vielen Dank. zeichnen Sie die Entwicklung als positiv. Ich denke, dass im Augenblick auf allen zu beratenden Themenfeldern (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die Politik der kleinen Schritte angesagt ist. Das ist auch gut so. Wir kommen voran, wenn auch nicht mit der gro- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ßen Agenda, die wir uns vorgenommen haben. Sei’s Das Wort erhält nun die Kollegin Michaele Hustedt drum, es wird vorangehen. Ich glaube allerdings nicht, für Bündnis 90/Die Grünen, die ich um Nachsicht dafür dass es vor den Wahlen in den USA zu irgendwelchen bitte, dass sie nicht schon vorher das Wort bekommen Ergebnissen kommen wird; so lange werden wir leider hat. Das kann hoffentlich durch einen leichten Zuschlag abwarten müssen. bei der Redezeit kompensiert werden. Wir haben auf der Tagesordnung unter anderem den Welthandel mit Dienstleistungen, die so genannten Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): GATS-Verhandlungen. Wenn man sich einmal anschaut, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle um welche Daten und Fakten es dabei geht, kann man sind besorgt über das Scheitern von Cancun und wün- erkennen, wie wichtig der gesamte Bereich ist. Gemäß schen uns natürlich einen Neuanfang für die Welthan- (B) der Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen Bank standen delskonferenz. Es gibt aus meiner Sicht keine Alterna- (D) im Jahr 2002 den Erlösen aus dem Dienstleistungsexport in tive für ein multilaterales System. Wir als Exportnation Höhe von 110 Milliarden Euro Ausgaben für Dienstleis- Nummer eins haben ein Interesse daran, nicht nur bilate- tungsimporte in Höhe von 140 Milliarden Euro gegenüber. rale und regional gültige Verträge abzuschließen, die Zwei Drittel der deutschen Direktinvestitionsbestände im dazu führen würden, dass unsere Handelsbeziehungen, Ausland entfallen auf die Dienstleistungsbereiche. 1,6 Mil- wie man so schön sagt, einem Teller Spaghetti gleichen. lionen Mitarbeiter erwirtschaften in 21 000 Dienstleistungs- Aber auch die Entwicklungsländer haben in einem mul- niederlassungen deutscher Unternehmen einen Umsatz von tilateralen System bessere Chancen, ihre Interessen 640 Milliarden Euro im Jahr. Es geht also um eine riesen- durchzusetzen, als im Falle von bilateralen Verträgen. große Branche, die es zu liberalisieren gilt. Nicht zuletzt gilt: Multilaterale Verhandlungen sind Nun geht es uns Liberalen – ich glaube, da sind wir transparenter und damit demokratischer als bilaterale uns in diesem Haus auch einig – darum, dass für mehr Verträge. Deswegen wünschen auch wir, dass der Faden internationale Rechtssicherheit, Transparenz und fairere von Cancun wieder aufgenommen wird und dass es eine Chancen für die Entwicklungsländer gesorgt wird. Dabei Fortsetzung der Welthandelskonferenz gibt. ist es absolut notwendig, die Parlamente enger einzubin- Man muss fragen: Woran ist Cancun gescheitert? Was den. war das Problem? Meine Einschätzung ist – da gehe ich (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Sehr gut!) mit Ihnen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, einiger- maßen konform –, dass die Entwicklungsländer nicht Dies ist unabdingbar. Aber ich weiß auch, dass gerade mehr die armen Länder sind, die nur „Bitte, bitte“ sagen. beim Thema Dienstleistungen in diesem Haus, insbeson- Das Kräfteverhältnis hat sich ein Stück verschoben. Die dere bei Rot-Grün, Vorbehalte und Ängste bestehen und Entwicklungsländer besitzen einen Anteil am Welthan- die Tendenz, bestimmte Bereiche immer weiter abzu- del von 30 Prozent. Deswegen wollen sie mitreden und schotten. Deswegen verweise ich noch einmal darauf, durchsetzen, dass diese Runde, wie versprochen, zu ei- dass die Verpflichtungen in den GATS-Abkommen nur nem echten Benefit für sie wird. auf bereits privatisierte, unstreitige Dienstleistungen zie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len. Darüber ist zu verhandeln. Es geht nicht darum, in und bei der SPD) hoheitliche Aufgaben einzugreifen, und auch nicht um Eingriffe ins Einreise- oder Arbeitsgenehmigungsrecht Mit Blick auf die vorliegenden Anträge muss ich auf oder gar ins Tarifrecht. Ich betone ausdrücklich, dass es drei Fehler aufmerksam machen, die gemacht wurden. um eine notwendige Öffnung in bestimmten Bereichen Die FDP spricht in ihrem Antrag davon, dass auch nach Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10131

Michaele Hustedt (A) dem Scheitern von Cancun die Singapur-Themen ganz ckelten Industrienationen auf WTO-Ebene bei den (C) oben stehen sollen und dass eine Diskussion darüber mit Agrarverhandlungen echte Angebote gibt. Vehemenz eingefordert werden soll. Diese Haltung wird Ich möchte für uns Grüne sehr deutlich machen, dass aber von mehr als 100 Staaten nicht akzeptiert, was eine die Liberalisierung von Dienstleistungen für uns als der Ursachen für das Scheitern von Cancun war. Dass Exportnation natürlich ein wichtiger Schritt ist, wir uns man auf der einen Seite sagt, man wünsche sich, dass die davon Chancen versprechen und wir deswegen diese WTO-Verhandlungen wieder in Gang kommen, und auf Verhandlungen unterstützen. Es gibt allerdings ein paar der anderen Seite davon spricht, die Singapur-Themen Ausnahmen, über die wir im Bundestag schon mehrmals dürften nicht aufgegeben werden, ist nach meiner An- diskutiert haben. Dazu gehören die Themen Wasser, Bil- sicht ein Fehler. dung, Gesundheit und Kultur. Hierzu haben wir im Bun- Hinzu kommt, dass die FDP in ihrem Antrag wieder destag schon einige Anträge verabschiedet. einmal viel zu schematisch argumentiert – das gilt auch Abschließend exemplarisch zum Thema Kultur, weil für Ihre Rede, Frau Kopp –, dass eine Öffnung der das in einigen vorliegenden Anträgen eine Rolle spielt. Märkte immer positiv ist. Inzwischen sind wir in der Die CDU/CSU hat einen Antrag zur Qualitätssicherung weltweiten Debatte viel weiter. Selbst die Weltbank und im Bildungswesen und zu kultureller Vielfalt gestellt. Im der IWF räumen ein, dass es die asiatischen Tigerstaaten Grunde haben Sie unseren Antrag fast wortwörtlich ab- richtig gemacht haben. Teilweise haben sie ihre Märkte geschrieben. Damals haben Sie unseren Antrag abge- geöffnet und teilweise haben sie sie unter Beachtung ih- lehnt. Sie haben gesagt, dass das eine Überschätzung des rer eigenen wirtschaftlichen Interessen geschützt. Der Themas in der Öffentlichkeit bedeute. richtige Weg ist die schrittweise Öffnung zum Weltmarkt (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das waren und nicht der Weg, den Sie vorschlagen und der früher Falschmeldungen der Grünen!) Argentinien aufgedrängt wurde. Für Argentinien führte dieser Weg ins Verderben. Wir freuen uns, dass Sie sich inzwischen ein Stück weit bewegt haben. Noch eine Bemerkung zum Antrag der CDU/CSU. Herr Fritz, ich freue mich, dass Sie Gespräche mit Ihren Kultur ist ein Lebenselixier unserer Gesellschaft. Die Kollegen aus dem Agrarausschuss führen. Das ist alle- Erfolge des deutschen Films zeigen, dass es wichtig ist, mal nötig. Im Ausschuss haben Ihre Kollegen den Vor- die eigene Geschichte zu erzählen. Sie zeigen auch, dass schlag der EU eindeutig abgelehnt. Die Agrarlobby hat die Vielfalt in der Europäischen Union erhalten bleiben nicht eingesehen – damit bin ich bei einem weiteren Feh- und man nicht riskieren sollte, dass alles plattgemacht ler, einem Fehler, den Europa auf der WTO-Konferenz wird und es auch in Europa zu einer „Hollywoodisie- (B) gemacht hat –, dass wir tatsächlich bereit sein müssen, rung“ kommt. Deswegen ist die Förderung, die Finanzie- (D) den Entwicklungsländern Zugeständnisse zu machen. rung von Kultur durch uns kein Subventionstatbestand. Ich weiß, Sie sehen das anders. Dem entgegne ich: Die Wir möchten, dass das auch so bleibt. Wir wissen, die Kollegen, die vor mir gesprochen haben, hätten bei den EU hat hierzu keine Angebote gemacht. Ich möchte ganz Gesprächen dabei sein müssen, um sich dementspre- klar sagen: Diese und andere Bereiche sind für uns im chend äußern zu können. Rahmen von GATS nicht verhandelbar. Danke schön. Die EU hat jetzt ein gutes Angebot gemacht. Sie hat sehr deutlich gesagt, dass sie das Auslaufen aller Agrar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN subventionen akzeptiert, dass im Rahmen der Singapur- und bei der SPD) Themen nur noch Verhandlungen über Handelserleichte- rungen aufzunehmen sind und dass den bedürftigen Ent- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wicklungsländern zugestanden wird, dass sie im Rah- Frau Kollegin Hustedt, ich hoffe, wir beide sind jetzt men dieser Runde keinerlei Zollsenkungen vornehmen quitt müssen. Das ist ein sehr guter Vorschlag. Dass Frank- reich so heftig dagegen protestiert, bestätigt mich in mei- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ner Auffassung, dass es ein ambitionierter Vorschlag ist. NEN]: Wir sind quitt!) Es ist ein echtes Angebot – das haben wir Grünen schon und Sie bitten mich nicht bei jeder weiteren Debatte, vor Cancun gefordert –, mit dem die EU auf dem richti- später aufgerufen zu werden, um auf diese Weise die Re- gen Weg ist. Die Bundesregierung hat sehr eindeutig die- dezeit verlängert zu bekommen. sen Schritt der EU-Kommission gefordert und unter- stützt ihn. Ich hoffe, dass diese Chance genutzt wird. Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die Kollegin Marion Seib das Wort für die CDU/CSU-Frak- Unter dem Scheitern von Cancun – das ist das eigent- tion. liche Thema unserer heutigen Debatte – haben die GATS-Verhandlungen gelitten, die im März zwar wieder Marion Seib (CDU/CSU): aufgenommen wurden, die aber noch keine große Dyna- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- mik entfaltet haben, weil alles von materiellen Verhand- ren! Gestern haben die verehrten Kollegen von Rot-Grün lungsfortschritten auf dem Agrarsektor abhängig ge- im Ausschuss für Bildung und Forschung mit Begeiste- macht wird. Bei den GATS-Verhandlungen wird es keine rung über die UN-Weltdekade „Bildung für nachhaltige Fortschritte geben, wenn es nicht vonseiten der entwi- Entwicklung“ diskutiert. Dabei geht es um eine 10132 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Marion Seib (A) möglichst weltumspannende Einbringung von politisch Hinter GATS verbergen sich für die Bildungseinrich- (C) korrekten Zielen wie dem Nachhaltigkeitsprinzip in alle tungen nicht nur Risiken, sondern auch erhebliche Ebenen der Bildung. Chancen im In- und Ausland. Beispielsweise gibt es über 16 000 Kooperationsvereinbarungen zwischen Die Frage sei erlaubt: Würden Sie private Bildungs- deutschen Hochschulen und ausländischen Einrichtun- programme aus Nicht-EU-Ländern, die dieses Ziel be- gen. Ich bin zuversichtlich, dass diese Entwicklung an- fördern, in Deutschland zulassen oder ablehnen? Oder: halten und sich intensivieren wird. Würden Sie deutsche Bildungsprogramme, die dieses Ziel verfolgen, am Export hindern? Bildungsdienstleis- Durch den Bologna-Prozess entsteht ein europäischer tungen sind in das GATS-Abkommen als einer von Hochschulraum, der sich vor der Konkurrenz aus den zwölf Dienstleistungssektoren einbezogen worden. Öf- Vereinigten Staaten, Australien oder anderen Ländern fentliche Bildungsdienstleistungen sind aber von den nicht zu verstecken braucht. Der Bologna-Prozess hat im EU-Forderungen nicht erfasst. Hochschulbereich eine gewaltige Dynamik entwickelt. Die Chancen, die sich durch ihn ergeben, gilt es auch in Das hat endlich auch die SPD verstanden. Deshalb den GATS-Verhandlungen umzusetzen und durch neue begrüßen Sie in Ihrem zweiten Antrag, dass die Europäi- Regelungen zu nutzen. Wir müssen dafür sorgen, dass sche Union in ihrer Verhandlungsposition die Bereiche die Liberalisierungsverhandlungen so transparent wie Bildung, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen von möglich gestaltet werden. Dazu gehört, dem Deutschen den Liberalisierungsverhandlungen ausgenommen hat. Bundestag mit seinen Fachausschüssen und den Bundes- Dies ist dem ersten Antrag Ihrer Fraktion noch nicht zu ländern im Vorfeld der weiteren Verhandlungsstufen im entnehmen. Bildung und der Handel mit Bildung sind, Rahmen des GATS Planungsstand, Veränderungen und wie sich am Beispiel der USA zeigt, ein bedeutsamer weitere Liberalisierungsangebote umfassend und recht- volkswirtschaftlicher Faktor. zeitig zur Beratung vorzulegen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Allein die Vereinigten Staaten erwirtschaften jährlich Ich appelliere an Sie, keine Ängste zu schüren. Wozu rund 10 Milliarden Dollar in diesem Bereich. das führt, haben wir bereits in Cancun erlebt. Wir kön- Wichtig ist, dass bewährte Strukturen der öffentlichen nen uns der Globalisierung unserer Welt nicht entziehen. Bildungs- und Kulturförderung in Deutschland durch Der einmal begonnene Weg ist nicht mehr umkehrbar. GATS nicht infrage gestellt werden. Unsere Aufgabe ist es, unsere kulturellen und bildungs- politischen Besonderheiten in diese Entwicklung einzu- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!) bringen und abzusichern. Lassen Sie uns diesen Weg ge- (B) Im Bildungsbereich ist die Verantwortung des Staates meinsam gehen. (D) besonders groß. Bildung gehört zu den Kernaufgaben ei- Besten Dank. ner demokratischen Gemeinschaft und darf nicht aus- schließlich kommerziellen Gesichtspunkten untergeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) net werden. Die Struktur des öffentlich finanzierten Bildungssystems in Deutschland darf deshalb nicht ge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nerell zur Disposition gestellt werden, auch nicht durch Ich schließe die Aussprache. eine Subventionsabbaudiskussion. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Das kann aber nicht bedeuten, dass wir ausländische schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/ Bildungsanbieter subventionieren. Die Regeln zur Inlän- 3101. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner derbehandlung gemäß Art. XII des GATS-Vertrages dür- Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der fen deshalb nicht so ausgelegt werden, dass eine gene- Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1008 mit relle Verpflichtung zur staatlichen Subventionierung dem Titel „Für ein höheres Liberalisierungsniveau beim auch privater Anbieter entsteht. Die staatliche Finanzie- Welthandel mit Dienstleistungen – GATS-Verhandlun- rung von Bildungs- und Kultureinrichtungen in Deutsch- gen zügig voranbringen“. Wer stimmt für diese Be- land darf keine Subventionsansprüche ausländischer An- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- bieter erzwingen. hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Ausländische Bildungsanbieter sind uns aber sehr willkommen. Sie tragen zu mehr Wettbewerb zwischen Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die den Bildungsanbietern und damit zu mehr Leistungsori- Ablehnung des Antrages der Fraktion der FDP auf entierung und zur Qualitätssteigerung bei. Das Gleiche Drucksache 15/1010 mit dem Titel „Internationale muss auch für die Kultur gelten. Die von den Bundeslän- Rechtssicherheit und transparente Regeln für den dern wahrgenommene Kulturhoheit darf durch das Dienstleistungshandel – GATS-Verhandlungen voran- GATS-Abkommen nicht beeinträchtigt werden. bringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch diese Be- Da ich gerade über die Länder spreche: Ich vermisse schlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses an- auch in Ihrem neuen Antrag eine Aussage zur Rolle der genommen. Länder. Diese hätten etwas mehr Aufmerksamkeit von Ihnen verdient. Bildung ist und bleibt überwiegend Auf- Tagesordnungspunkt 10 b: Beschlussempfehlung des gabe der Länder. Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10133

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) 15/3222. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a feld ist dabei unsere stärkste Waffe. Ein entscheidender (C) seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antra- Aspekt der vorbeugenden Terrorismusbekämpfung ist ges der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1567 eben der Austausch von Daten, um möglichen Attentä- mit dem Titel „Doha-Verhandlungen nach dem Scheitern tern von vornherein auf die Spur zu kommen und sie da- von Cancun konstruktiv und zügig voranbringen“. Wer ran zu hindern, terroristische Anschläge zu begehen. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Vor diesem Hintergrund ist auch das Verlangen der US- lung ist angenommen. Behörden zu sehen, bereits vor dem Start eines Passagier- flugzeuges in Richtung der Vereinigten Staaten von Ame- Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- rika Zugriff auf Buchungsdaten der Passagiere zu erhal- lehnung des Antrages der FDP-Fraktion auf Drucksache ten. Auch auf EU-Ebene sind unter dem Aspekt der 15/1931 mit dem Titel „Doha-Runde bis 2005 zum Er- Grenzkontrolle mit der Einigung des Rates auf eine folg führen – Mehr Entwicklung, Armutsbekämpfung Richtlinie zur Verpflichtung von Fluggesellschaften, be- und Wohlstand durch Freihandel“. Wer stimmt für diese stimmte Passagierdaten vorab zu übermitteln, bereits Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer erste Schritte getan worden. Dabei dürfen selbstver- enthält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit ständlich Datenschutz und Bürgerrechte nicht außer den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Acht bleiben. Opposition angenommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 10 c: Beschlussempfehlung des DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Werner Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Hoyer [FDP]) abschätzung auf Drucksache 15/1844 zum Antrag der – Hören Sie doch einmal zu! – Das Lösungspaket der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 15/1095 mit dem Kommission – davon bin auch ich überzeugt – berück- Titel „Qualitätssicherung im Bildungswesen und kultu- sichtigt ebendiese von mir erwähnten Rechte. Frau relle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen garantieren“. Stokar, ich möchte auch sagen: Es ist ausgewogen. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Die Bundesregierung hat deshalb im Außenminister- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Mit gleicher rat am 17. Mai dieses Jahres wie alle anderen EU-Mit- Mehrheit ist diese Beschlussempfehlung angenommen. gliedstaaten dem von der Europäischen Kommission ausgehandelten Abkommen zugestimmt. Ebenso hat die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Kommission zwischenzeitlich ihren Beschluss zur An- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gemessenheitsfeststellung in Bezug auf die Verarbeitung (B) richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu der so genannten PNR-Daten durch die US-Zoll- und (D) dem Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Grenzkontrollbehörden gefasst. Gisela Piltz, Sabine Leutheusser- Meine Bewertung entspricht der aus unserer Debatte Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der vom 1. April dieses Jahres: Der gefundene Kompromiss Fraktion der FDP ist eindeutig dem Status quo vorzuziehen. Passagierdatensammlungen und Datenschutz- (Beifall bei der SPD) rechte – EU-Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika Er entspricht in vielen Punkten dem Anliegen des Antra- ges, das die Bundesregierung durchaus teilt, oder kommt – Drucksachen 15/2761, 15/3120 – diesem, Herr Burgbacher, zumindest sehr nah. Entschei- Berichterstattung: dend ist, dass die Bürgerrechte mit Abschluss des Passa- Abgeordnete Frank Hofmann (Volkach) gierdatenabkommens deutlich besser geschützt werden, Beatrix Philipp als dies für USA-Reisende bisher der Fall war. Silke Stokar von Neuforn (Beifall bei der SPD) Ernst Burgbacher Der rechtliche Ausgangspunkt ist klar: Das Bundes- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für datenschutzgesetz verlangt für Datenübermittlungen in diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei das nicht europäische Ausland ein angemessenes Daten- die FDP fünf Minuten erhalten soll. Ich höre keinen Wi- schutzniveau; es verlangt keine Gleichwertigkeit. Die derspruch. Dann ist das so vereinbart. Kommission hat in ihren Verhandlungen mit den USA Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- hinsichtlich der Behandlung dieser Daten Zusagen erhal- nächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Rudolf ten, die unter Berücksichtigung des transatlantischen In- Körper. teresses an einem verbesserten Informationsaustausch ein angemessenes Datenschutzniveau gewährleisten. Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- Wenn teilweise der Eindruck erweckt wird, die Kom- desminister des Innern: mission habe einseitig den Wünschen der USA nachge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von einem geben, ist dies schlichtweg unzutreffend. Auch die USA bin ich überzeugt: Der internationale Terrorismus kann haben im Laufe der Verhandlungen Zugeständnisse ge- nur gemeinsam von der internationalen Staatengemein- macht. Hierbei sind zu nennen: die enge Beschränkung schaft erfolgreich bekämpft werden. Aufklärung im Vor- des Verwendungszwecks – Herr Burgbacher, auch das ist 10134 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) von Ihnen eingefordert worden – auf die Bekämpfung Es mutet schon ein wenig seltsam an, dass wir hier (C) des Terrorismus und insbesondere der internationalen or- darüber streiten, ob Fluggesellschaften, die Amerika an- ganisierten Kriminalität, die erhebliche Verkürzung der fliegen, Daten, die jeder Fluggast seit jeher angegeben Speicherungsdauer – auch das ist auf dem Verhandlungs- hat, an die amerikanischen Zoll- und Grenzschutzbehör- wege erzielt worden –, der Verzicht auf bestimmte sen- den weitergeben dürfen, wenn zeitgleich, also in diesen sible Daten sowie – auch das darf nicht vergessen wer- Stunden, in den USA nach sieben al-Qaida-Mitgliedern den – die Einrichtung eines förmlichen Beschwerdever- gesucht wird und der Justizminister Ashcroft gestern vor fahrens. Positiv zu bewerten ist auch, dass die Vereinig- klaren und aktuellen Gefahren für Großereignisse in die- ten Staaten von Amerika einer fortlaufenden jährlichen sem Sommer gewarnt hat. Evaluierung unter Beteiligung von EU-Datenschutzbe- Auch der bayerische Innenminister – Herr Burgbacher, auftragten zugestimmt haben. das haben auch Sie sicherlich zur Kenntnis genommen – Wer für die Ablehnung des erreichten Ergebnisses hat diese Warnungen nicht nur sehr ernst genommen, eintritt, muss realistische Alternativen benennen. Genau sondern auch von Warnungen an die deutsche Adresse das – das muss ich doch noch einmal sagen, Herr gesprochen. Das heißt, dass wir uns in einem nicht Burgbacher – leistet der von Ihnen eingebrachte Antrag neuen, aber doch sehr ernsten Abwägungsprozess befin- aber nicht. Die Passagiere mit Reiseziel USA erwarten den: zwischen dem, was an Prävention in Bezug auf die jedoch nicht nur eine Problembeschreibung, sondern Terrorismusbekämpfung zu leisten ist, und dem Daten- auch eine tatsächliche Verbesserung der bisherigen, un- schutz und den Bürgerrechten, die, wie Sie eben richti- befriedigenden Situation. gerweise gesagt haben, zweifellos nicht außen vor blei- ben dürfen. Sie sehen es nicht als Überraschung an, dass ich aus der Sicht der Bundesregierung die Empfehlung abgebe, Herr Staatssekretär Körper hat eben schon darauf hin- diesen Antrag abzulehnen. gewiesen, dass der jetzt gefundene Kompromiss eine deutliche Verbesserung ist, weil die Vereinigten Staaten (Ernst Burgbacher [FDP]: Ich habe für die Erteilung der Landeerlaubnis seit März letzten damit gerechnet!) Jahres den unmittelbaren Zugriff auf die Buchungssys- Ich biete jedoch weiterhin ausdrücklich den konstrukti- teme der betroffenen Fluggesellschaft verlangt haben. Er ven Dialog über das an, was inhaltlich vereinbart worden ist ihnen – das wissen Sie alle –, ohne dass es eine ist, und über die Befürchtungen, die Ihrerseits hier und Rechtsgrundlage oder konkrete Absprachen gegeben da artikuliert worden sind, die sich in der Praxis jedoch hat, gewährt worden. nicht so darstellen. Wäre das Abkommen, wie von der FDP beantragt, ge- (B) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. stoppt worden, wäre dieser regelungslose Zustand – das (D) finde ich jedenfalls sehr logisch – erhalten geblieben. Ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sage noch einmal, weil ja fürchterliche Szenarien be- DIE GRÜNEN) schrieben wurden: Es handelt sich um völlig normale und übliche Angaben, die für die Buchung eines Flug- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tickets auch von Ihnen, Herr Burgbacher, von mir und al- Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp für len anderen erforderlich sind und die jeder Reisende die CDU/CSU-Fraktion. ganz selbstverständlich angibt. Dazu gehören zum Bei- spiel: Name, Adresse, Abflugdaten und Rechnungsan- Beatrix Philipp (CDU/CSU): schrift. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sel- (Ernst Burgbacher [FDP]: Für ten genug der Fall – das habe ich schon einmal gesagt –, die Fluggesellschaft!) dass Herr Körper bzw. die Bundesregierung und wir uns so einig sind. Aber in diesem Fall ist das so, weil es ver- Hinzu kommen Daten, die die Fluggesellschaft braucht, nünftig ist. Deswegen haben wir auch gar keine Schwie- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE rigkeiten, das zum Ausdruck zu bringen. GRÜNEN]: Hautfarbe?) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: wie – das würde ich mir zum Beispiel wünschen – die Das genügt schon!) Sitzplatznummer. Wenn, wie unlängst in Düsseldorf, Wir sind uns darin einig – ich denke, das trifft auch für Seuchengefahren bestehen, wäre es sehr interessant zu die FDP zu –, dass nur eine gemeinsame Bekämpfung wissen, wer wo gesessen hat bzw. wer neben demjeni- des Terrorismus sinnvoll ist. Auch müsste es die Mei- gen, der infektiös angekommen ist, gesessen hat. nung der FDP sein – das denke jedenfalls ich –, dass (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE dazu Aufklärung im Vorfeld nötig ist. GRÜNEN]: Die sollen zu Hause bleiben, (Ernst Burgbacher [FDP]: Auch richtig!) wenn sie Angst haben!) Herr Burgbacher, zu dieser Aufklärung im Vorfeld gehört, Das können wir im Moment nicht nachvollziehen. Viel- dass Daten ausgetauscht werden, zumal es sich – darauf leicht wäre es ja eine Anregung, dies demnächst zu re- komme ich gleich noch im Einzelnen zu sprechen – um geln. Zu diesen Daten gehören auch die Nummer des solche Daten handelt, die jeder auch bisher schon immer Flugscheins und so spektakuläre Angaben wie die Num- und ganz selbstverständlich abgegeben hat. mern der Gepäckanhänger. Wie gesagt, jeder kann sich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10135

Beatrix Philipp (A) die 34 Daten, die gar nicht insgesamt erhoben werden, Nun stellt sich wirklich ernsthaft die Frage, welches (C) anschauen. Dann wird er die Aufregung, die hier zum konkrete Ziel diejenigen verfolgen, die auch diesem Teil erzeugt wird, überhaupt nicht verstehen. Kompromiss nicht zustimmen können; das ist mir nicht erkennbar. Die Übermittlungsmethode hat sich schließ- Nun geht es noch um so genannte sensible Daten, die lich geändert: weg von Pull, hin zu Push. Ich bin opti- sofort gelöscht werden sollen. Das sind Daten, die gar mistisch, dass die Fluggesellschaften das sehr schnell nicht erhoben werden, sondern die der Fluggast von sich umsetzen werden, da die Verbesserung des Übermitt- aus gerne kundtut, weil es vielleicht während des Fluges lungsverfahrens auch in ihrem eigenen Interesse liegt. wichtig werden kann: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine sehr geehrten Damen und Herren, in einem zweiten Schritt strebt die EU-Kommission die Daten- wenn er behindert ist, wenn er besonderes Essen bevor- übertragung durch eine zentrale Einrichtung der EU an. zugt. Wer keine E-Mail-Adresse hat, braucht keine anzu- Auch diesen Schritt halte ich für richtig, weil er die geben; wer bar bezahlt hat, gibt keine Bankverbindung Datenübermittlung in einen hoheitlichen Zusammen- an usw. Ich will das nicht weiter vertiefen. hang stellt, bei dem sich die Partner auf Augenhöhe, wie das heute so schön heißt, begegnen werden. Weiterhin Wie gesagt: Es ist ein Kompromiss. Sieben Punkte – wir haben das gestern in einem anderen Zusammen- scheinen mir besonders wichtig, weil sie eine deutliche hang, im Rahmen einer Anhörung, besprochen – wird es Verbesserung sind: Ich nenne erstens: eine ausdrückliche einen weltweiten Standard für die Fluggastdatenüber- Zweckbindung an die Bekämpfung des Terrorismus und mittlung geben; die Initiative der ICAO, die auf einheit- von damit im Zusammenhang stehenden Straftaten so- liche Datenschutzstandards abzielt, stellt auch im Inte- wie an die Bekämpfung schwerer, länderübergreifender resse unserer Luftverkehrswirtschaft einen Schritt zu Straftaten. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, weil Sie mehr Sicherheit in der Zukunft dar. mich das letzte Mal gefragt haben, habe ich natürlich aufmerksam gelesen, wie Sie sich geäußert haben. Ge- Auch das finde ich richtig: Wir haben zur Kenntnis genüber der „Tagesschau“ haben Sie erklärt: genommen, dass es sich bei diesem Kompromiss um Abermillionen Daten landen künftig in amerikani- eine zunächst auf dreieinhalb Jahre befristete Zwischen- schen Behörden, wo wir überhaupt nicht wissen, lösung handelt. was damit gemacht wird. Schließlich noch etwas ganz Praktisches: Diejenigen, Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie die Verpflichtungs- die glauben, dass sie mit einer Nichtanerkennung dieses erklärung, von der wir eben gesprochen haben, über- Kompromisses die deutschen Fluggäste schützen, erwei- haupt lesen konnten. sen ihnen in Wahrheit einen Bärendienst. Denn die Da- (B) ten werden sie angeben müssen: Wenn sie das nicht hier (D) Zweitens. Die Speicherfristen wurden auf drei Jahre tun – bei der Buchung ihres Fluges, im Reisebüro oder und sechs Monate verkürzt. Wenn wir von Prävention im wo auch immer –, dann werden sie sich an einer langen Bereich von Terrorismus reden, müssen wir zugestehen, Schlange bei der Einreise anstellen und dort ihre Daten dass das eine absolut akzeptable Zeit ist. abgeben müssen. Dass ihnen Letzteres angenehmer ist, Drittens. Für Fälle des Datenmissbrauchs durch Mit- kann ich mir nicht vorstellen. arbeiter der zuständigen US-Behörden sind in der Ver- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE pflichtung strenge Sanktionen – von Entlassung bis hin GRÜNEN]: Vorher müssen sie die Schuhe zu Freiheitsstrafen – vorgesehen; auch das ist ein Ver- ausziehen!) handlungsergebnis. Ferner gibt es, wie Sie wissen, eine privilegierte Behand- Viertens. Bis zur Einführung des Filter-und-Push- lung von EU-Bürgern, trotz der heftigen Bemühungen Systems ist die sofortige Löschung der sensiblen Daten von Rot-Grün, Frau Stokar, Sand ins Getriebe zu zugesagt; darauf habe ich eben schon hingewiesen. streuen. Fünftens. Die Beschwerdemöglichkeit der Passagiere Ich kann nur wiederholen, was ich bei der letzten De- durch ihren nationalen Datenschützer oder direkt bei der batte bereits ausgeführt habe: Wir haben den Daten- US-Zoll- und Grenzschutzbehörde ist ein weiteres Ver- schutz der USA überhaupt nicht zu bewerten. Es war handlungsergebnis. schon immer so, dass die Besucher eines Landes sich Sechstens. Die jährliche gemeinsame Überprüfung den Gesetzen des Gastlandes unterzuordnen hatten. der Umsetzung der Verpflichtung in den USA durch ein Deswegen haben sie die entsprechenden Einreisebestim- EU-Team ist vereinbart. mungen zu akzeptieren. Siebtens. Die Festschreibung des Grundsatzes der Ge- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE genseitigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil der Verein- GRÜNEN]: Die müssen auch angemessen barung. Da zeigt sich deutlich, dass es den Amerikanern sein! Die Angemessenheit, darum geht es!) um ernsthafte und gemeinsame Terrorismusbekämpfung – Sehr richtig, Herr Winkler, und diese Angemessenheit geht, so wie der Herr Staatssekretär das eingangs er- ist zweifellos gegeben. Ich weiß nicht, ob es Ihnen mög- wähnt hat. lich war, einmal genau zu schauen, wie dieser Kompro- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE miss hinsichtlich der 34 Daten, auf die wir uns beziehen, GRÜNEN]: So viel Lob!) aussieht. 10136 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Beatrix Philipp (A) Unsere heutige Debatte kann sich also nur auf die auf Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) europäischer Seite rechtmäßig zu erhebenden und zu Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, übermittelnden Daten beziehen. Bündnis 90/Die Grünen. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner) Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin Datenschutz kein Selbstzweck ist, sondern es, wie Herr nach wie vor der FDP durchaus dankbar, dass sie diesen Winkler eben richtigerweise gesagt hat, um eine Verhält- Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Ich nismäßigkeitsabwägung geht. Diese hat hier stattgefun- möchte das auch begründen. Das, was ich besonders kri- den. tisiere, ist das Verfahren. Ohne den Antrag der FDP hät- Selbst der Bundesbeauftragte für den Datenschutz ten wir nicht die geringste Chance gehabt, über dieses sagt, dass wir hier in Deutschland im Augenblick eine Thema, das von großem öffentlichen Interesse in den derartige Normenvielfalt, ein solches Durcheinander im Medien gewesen ist, hier im Deutschen Bundestag oder Bereich des Datenschutzes haben, dass er die Zahl der im Innenausschuss überhaupt zu diskutieren. Höchstens Regelungen deutlich reduzieren möchte – eine Hausauf- die ganz fleißigen Abgeordneten, gabe für die nächsten Jahre, denke ich einmal – und eine (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Wir Reform für dringend notwendig hält. Ich denke also, sind alle fleißig!) dass auch im Bereich des Datenschutzes weniger oft mehr wäre. die die Berichte der EU-Kommission von vorne bis hin- ten durchlesen – ich weiß, dass das niemand schaffen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE kann –, hätten irgendwann im Nachhinein bemerkt, dass GRÜNEN]: Das ist jetzt aber ein schlechtes es dieses Abkommen gegeben hat. Ende!) An Frau Philipp gerichtet möchte ich sagen: Ihre Meine Damen und Herren, es bleibt Ihr Problem, wie Hoffnung, dass es hier in irgendeiner Weise zu unter- Sie die unterschiedlichen Abstimmungen im Europäi- schiedlichem Abstimmungsverhalten bei Rot-Grün schen Parlament und hier im Deutschen Bundestag unter kommt, ist völlig unbegründet. Wir haben Unterschiede eine Mütze bekommen. in der inhaltlichen Bewertung dieses Abkommens – das (Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist wohl wahr! ist in den Redebeiträgen hier und auch in der Diskussion Da sind wir uns ja einmal einig!) im Innenausschuss deutlich geworden –, aber auch die (B) FDP wird mittlerweile festgestellt haben, dass es heute (D) Jedenfalls werden Sie sich damit in nächster Zeit sicher- eigentlich gar nicht mehr um die Frage geht, ob wir ih- lich ausführlich auseinander setzen müssen. rem Antrag zustimmen oder nicht. Der Antrag hat sich erledigt, weil man gehandelt hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte in meiner Kritik hier noch etwas zu dem Zum Abschluss möchte ich mich gerne noch an Herrn Verfahrensverlauf sagen. Am 17. Mai hat der Rat der Burgbacher wenden – vielleicht kann er gleich in seiner Außenminister den Vertragstext angenommen. Ich per- Rede darauf eingehen –: Ich habe natürlich auch auf der sönlich kann noch nicht einmal eine Kritik an unserem Homepage der FDP nachgeschaut. Dort heißt es: Bundesinnenminister anbringen; denn wie gesagt waren Die EU-Kommission und die EU-Außenminister es die Außenminister, die dem Vertragstext zugestimmt haben den Ausverkauf der Bürgerrechte in Europa haben. Im Zuge dieses Verfahrens hat das Europäische eingeläutet. Parlament mit einem Mehrheitsbeschluss die Kritik an diesem Verfahren noch einmal inhaltlich begründet und Herr Burgbacher, es ist mir völlig schleierhaft, wie Sie sehr kluge Änderungsanträge gemacht. In diesen Ände- diese Aussage vor dem Hintergrund des eben hier er- rungsanträgen hat es noch einmal deutlich gemacht, dass wähnten Kompromisses aufrechterhalten können. Ich es zwischen dem berechtigten Sicherheitsinteresse der meine, dass der Wert der Europäischen Gemeinschaft USA und dem Datenschutz einen besseren Kompromiss – nach dem Prinzip „Gemeinsam sind wir stark!“ – hätte geben können. durch die Verhandlungsleistung der EU-Kommission eindrucksvoll bewiesen wurde. Dies war eine Mehrheitsentscheidung des Europäi- schen Parlaments, das ein Gutachtenverfahren ange- Ich möchte mich im Namen der CDU/CSU-Fraktion strengt hat, um die Frage zu stellen, ob das Abkommen ausdrücklich dafür bedanken, dass es zu diesem Kom- mit EG-Recht, also mit dem europäischen Datenschutz- promiss gekommen ist. Ich wünsche mir, dass es weitere recht, vereinbar ist. Ich meine, es wäre im Sinne einer gemeinsam erzielte Ergebnisse bei solchen internationa- bürgerfreundlichen Politik gewesen, wenn die Außen- len Verhandlungen gibt, und bedauere natürlich aus- und die Innenminister einfach abgewartet, den Mehr- drücklich, dass wir aus sachlichen Gründen dem Antrag heitsbeschluss des Europäischen Parlaments respektiert der FDP nicht zustimmen können. und dieses Gutachtenverfahren zugelassen hätten. Dann Vielen Dank. müssten wir uns hier und heute nicht über die Angemes- senheit und Rechtmäßigkeit dieses Abkommens unter- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) halten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10137

Silke Stokar von Neuforn (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehrheit beschlossen, vor dem Europäischen Gerichts- (C) und bei der FDP) hof dagegen zu klagen. Wir sind jetzt in der Situation, dass das Europäische Umso unglaublicher – wenn es denn stimmt – finde Parlament regelrecht ausgebootet ist. Das Europäische ich das, was im „Spiegel“ steht, nämlich dass Bundesin- Parlament müsste nämlich innerhalb von zwei Monaten nenminister Schily schon vorab, auch vor den Kompro- nach dem Beschluss des Rates eine Überprüfung vor missverhandlungen, ebendiesem Datendeal zugestimmt dem Europäischen Gerichtshof beantragen. Dies ginge hat und dass der Bundesaußenminister, wie von meiner nur noch mit einer Sondersitzung, weil das Europäische Vorrednerin beschrieben, hier Tatsachen geschaffen hat. Parlament erst am 19. Juli 2004, dann also in neuer Zu- Deshalb finde ich auch: Das Problem ist eine echte Chef- sammensetzung, wieder zusammentritt. Ich möchte hier sache. Entweder haben die beiden Minister eigenmächtig auch sagen, dass ich die Position der Grünen im Europäi- gehandelt – dann ist es höchste Zeit für ein Kanzlerwort – schen Parlament, die sich im Moment für die Einberu- oder aber sie haben in Absprache agiert; dann steht die fung einer außerordentlichen Sitzung des Rechtsaus- gesamte rot-grüne Regierung am Pranger. Liebe Kolle- schusses einsetzen, ausdrücklich unterstütze. gin Stokar von Neuforn, dann hilft auch das „einerseits“ oder „andererseits“ nichts, weil die Tatsachen auch (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr gut!) durch Regierungsmitglieder der Bundesrepublik ge- Ich weiß, dass auch Europaabgeordnete der Liberalen schaffen wurden. an unserer Seite sind. (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Es gibt in diesem europäischen Verfahren ein ganz Ja, auch durch Fischer!) klares Demokratiedefizit. Ich denke, es würde ein gutes Nun komme ich zu den Versuchen, den Datenschutz- Bild abgeben, wenn die Regierungskommission – sie bruch zu verharmlosen. Die USA hätten sich verpflich- kann das entscheiden, weil es noch keine europäische tet, heißt es, die Daten nur drei Jahre zu speichern und Verfassung gibt – bereit wäre, eine solche Überprüfung dann zu löschen. Ich finde, wer im Internetzeitalter und zuzulassen. Ich kritisiere, dass der Vertragstext im Wis- angesichts anhaltender Wortbrüche an solche Verspre- sen um die Auseinandersetzungen im Europäischen Par- chen glaubt, der glaubt wirklich an den Weihnachts- lament in dieser Eile unterzeichnet worden ist mann. Außerdem hätten sich die USA verpflichtet, die (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler EU zu informieren, falls sie gesammelte Daten an Dritte [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) weitergeben. Das ist aber nichts anderes als ein Freibrief zum internationalen und geschäftstüchtigen Handel mit und wir als Parlamentarier dadurch handlungsunfähig persönlichen Daten von Bürgerinnen und Bürgern. Man (D) (B) geworden sind. Ich denke, dass wir alle ein Interesse da- muss dieses Geschäft lediglich anzeigen – als ginge es ran haben sollten, die europäische Innen- und Rechtspo- um die Eröffnung einer neuen Imbissbude. Wir reden litik wieder stärker an nationale Parlamente und an das hier aber nicht über Würstchen oder Döner, sondern es Europäische Parlament zu koppeln. Dann müssten wir geht um ein verbrieftes Grundrecht, das der informatio- hier auch nicht solche Auseinandersetzungen über Ver- nellen Selbstbestimmung. Deshalb hat die FDP-Fraktion fahren führen. Recht, wenn sie hier im Bundestag mit ihrem Antrag die Danke schön. gelbe Karte gezeigt hat. Ich gebe für die PDS noch die rote Karte dazu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dass die Opposition zur Rechten mit Ausnahme der FDP mit all dem kein Problem hat, wird niemanden ver- wundern. Ginge es nach Ihnen, dann gäbe es keinen Da- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tenschutz mehr, das Demonstrationsrecht wäre längst Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. kastriert und wir bekämen einen Überwachungsstaat neuer Prägung. Wenn es dafür eines Beleges bedurft Petra Pau (fraktionslos): hätte, so wurde er im Zuge der Einwanderungsdebatte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! geliefert. CDU und CSU haben aus einer Zuwande- Vor wenigen Wochen hat die EU-Kommission einen rungs- und Asyldebatte inzwischen eine Polizei- und Ge- Vertrag mit den USA vereinbart. Demnach werden von heimdienstdebatte gemacht. Passagieren, die die Vereinigten Staaten an- oder über- (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Du lieber Gott!) fliegen, 30 und mehr persönliche Daten übermittelt. Das hat meines Erachtens weder etwas mit Bürgerrechten Das hilft der Bundesrepublik nicht und das vergiftet das noch mit Datenschutz zu tun. gesellschaftliche Klima. Das hat auch nichts mit einer modern verfassten Europäischen Union zu tun. Ich sage Die USA wollen den gläsernen Bürger oder Reisen- Ihnen: Das hilft Ihnen auch nicht im notwendigen den und die EU-Kommission ist ihnen dabei zu Diens- Kampf gegen den Terror. ten. Es geht um den größten Datendeal der Neuzeit. Die PDS lehnt dies ab. Die Verhandlungen zwischen der EU- Kommission und den USA liefen schon länger und sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: waren von Anfang an umstritten. Das EU-Parlament hat Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann, SPD-Frak- vor den Folgen eines solchen Vertrages gewarnt und mit tion. 10138 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Frank Hofmann (Volkach) (SPD): sich um einen Abwägungsprozess. Es ist wirklich ein (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Abwägungsprozess. Wir alle haben das Interesse, Terro- Kolleginnen und Kollegen! Man könnte nach der letzten rismus zu bekämpfen. Darin sind wir uns alle in diesem Rede sprachlos sein, aber ich bin es nicht geworden. Ich Hause einig. Aber wir von der FDP wehren uns dagegen, möchte mich auch nicht mehr auf das beziehen, was wir dass unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung im Ausschuss und in der ersten Lesung besprochen ha- Datenschutz und Persönlichkeitsrechte geschleift wer- ben. Mir geht es um einen anderen Punkt, nämlich um den. Das werden wir nicht mitmachen. den Hintergrund. (Beifall bei der FDP) Die Auseinandersetzung, die wir führen, ist eigentlich Liebe Kollegin Philipp, Sie haben sich stets darauf eine Auseinandersetzung um unterschiedliche Philoso- bezogen, was für die Zukunft geplant ist. Wir halten uns phien im Bereich der Sicherheit und des Datenschutzes. an das, was im Augenblick vereinbart ist. Mit dieser Lö- Als wir im Dezember des letzten Jahres gelesen haben, sung können wir nicht leben, um das klar zu sagen, so- was mit den Daten passieren soll, da ging es mir wie vie- wohl aus inhaltlichen als auch formalen Gründen. len anderen so, dass wir wenig Verständnis dafür hatten. Die Frage war: Warum sollen meine Daten an die USA Die EU-Kommission hat gegen den Widerstand des weitergegeben werden? Das ist aber nur unsere Sicht- Europäischen Parlaments diese Angemessenheitsent- weise. scheidung in Verbindung mit dem „light agreement“ ge- troffen. Wir wollen den Abschluss eines internationa- Herr Burgbacher, versetzen Sie sich einmal in die len Übereinkommens mit klar festgelegten Lage der US-Amerikaner und beziehen Sie deren kultu- Grundsätzen, das auf Gegenseitigkeit beruht. Was in die rellen Hintergrund und deren Befürchtungen ein: Sie eine Richtung gilt, muss in die andere Richtung genauso werden feststellen, dass das Verhandlungsergebnis – auch gelten. wenn es nicht mein und sicherlich auch nicht Ihr Wunsch- ergebnis ist – der Kompromiss von autarken Staaten und (Beifall bei der FDP) Staatengemeinschaften ist. Inhaltlich finden sich darin unsere Grundzüge von Sicherheitsphilosophie und Da- Sie wissen doch ganz genau, dass es Vorbehalte von tenschutzrecht wieder. Es ist nicht mein Wunschergeb- allen Seiten gab. Die EU-Kommission selbst hat im Juni nis, aber es ist ein realistisches Ergebnis, das aus meiner 2002 Vorbehalte geäußert. Auf eine Kleine Anfrage mei- Sicht den Datenschutz angemessen einbezieht. ner Fraktion hat die Bundesregierung im Januar geant- wortet – ich zitiere –: Ich wünsche und hoffe, dass sich in Zukunft die EU und das Heimatschutzministerium der USA in Konflikt- Im Hinblick auf den Datenschutz schließt sich die Bundesregierung der Bewertung durch die Europäi- (B) fällen zusammensetzen, so wie es vorgesehen ist, um im (D) beiderseitigen Einverständnis zu besseren Lösungen zu sche Kommission an. Die Europäische Kommis- kommen. Der Weg dafür ist vorgezeichnet. Es wird ein sion hat im Juni 2002 zum Online-Zugriff auf PNR- internationales Abkommen geben. Wir müssen darauf Daten festgestellt, dass die entsprechende Ver- hinarbeiten, dass wir mit diesem internationalen Abkom- pflichtung der Fluggesellschaften mit den infolge men weiterkommen, und dabei unsere Interessen und der EG-Datenschutzrichtlinie 96/46/EG erlassenen unsere Datenschutz- und Sicherheitsphilosophie vertre- Datenschutzgesetzen der EU-Mitgliedstaaten in ten. Widerspruch stehen kann. Ihr Antrag hat bei uns durchaus zu mehr Sensibilität (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das war doch geführt, aber wir können mit dem Ergebnis der EU- vorher!) Kommission durchaus gut leben – genauso wie die Flug- Das war ein Stand, den wir nachvollziehen können. gesellschaften und die Passagiere damit leben können –, Dann ging alles ganz schnell. Der deutsche Innenminis- weil es Rechtssicherheit gibt. Was die internationalen ter hatte nichts anderes zu tun, als ohne Befragung des Standards betrifft, werden wir in Zukunft mitarbeiten Parlaments und gegen den Widerstand der eigenen Koa- und aufpassen, dass sich unsere Sicherheitsphilosophien lition nach Brüssel zu gehen und zu sagen: Wir tragen al- darin wiederfinden. les mit. – Das kann nicht unsere Politik sein. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP – Beatrix Philipp [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Wir haben jetzt 2004!) DIE GRÜNEN) Sie wissen, dass das Europäische Parlament den Ge- richtshof angerufen hat und diese Entscheidung auch be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: stätigt wurde. Meine Damen und Herren von den Grü- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ernst nen, der Tiefpunkt des Ganzen war aber, dass dann der Burgbacher, FDP-Fraktion. grüne Außenminister am 17. Mai den Beschluss der EU- Außenminister mitgetragen und damit Tatsachen ge- schaffen hat. Damit müssen Sie sich schon auseinander Ernst Burgbacher (FDP): setzen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gen! Lieber Kollege Hofmann, ich möchte mich bei Ih- (Beifall bei der FDP – Silke Stokar von nen ausdrücklich für die nachdenklichen Worte bedan- Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ken. Frau Kollegin Philipp hat vorhin gesagt, es handele Habe ich ja gemacht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10139

Ernst Burgbacher (A) Selbstverständlich unterstützen wir, dass Daten abge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) glichen werden. Wir fordern aber, dass der Grundsatz Ich schließe die Aussprache. der Zweckbindung und der Grundsatz der Verhältnis- mäßigkeit beachtet werden. Deshalb, Frau Kollegin Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- Philipp, bringen wir unsere eigenen Ansprüche ein. Ich schusses auf Drucksache 15/3120 zu dem Antrag der war in den USA. Wir haben eine Woche lang Gespräche FDP mit dem Titel „Passagierdatensammlungen und mit Vertretern der Homeland Security geführt. Dort Datenschutzrechte – EU-Abkommen mit den Vereinig- kannte gar niemand die Datenschutzbeauftragten, die es ten Staaten von Amerika“. Der Ausschuss empfiehlt, den offensichtlich gibt. Wir müssen uns doch mit den Reali- Antrag auf Drucksache 15/2761 abzulehnen. Wer stimmt täten vertraut machen und nicht immer sagen: Vielleicht für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent- so, vielleicht anders. haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der (Beifall bei der FDP) CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP und der Abge- ordneten der PDS angenommen. Wir sind zu jedem konstruktiven Dialog bereit, aber wir werden immer darauf achten, dass auch bei der Ter- Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: rorismusbekämpfung Persönlichkeitsrechte und Daten- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- schutz gewahrt werden. Das entspricht übrigens der gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- Meinung des neu gewählten Datenschutzbeauftragten, serung des Anlegerschutzes (Anlegerschutzver- Herrn Schaar, der genau dies im Innenausschuss geäu- besserungsgesetz – AnSVG) ßert hat. – Drucksache 15/3174 – Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt anspre- Überweisungsvorschlag: chen. Frau Stokar hat schon in der Beratung im Aus- Finanzausschuss (f) schuss zum Ausdruck gebracht, dass ihre Fraktion die Rechtsausschuss Position der FDP unterstützt. Aber nachher werden Sie Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und gegen unseren Antrag stimmen. Eine solche Politik kann Landwirtschaft man nicht mittragen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall bei der FDP) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Sie lehnen unseren Antrag ab, Ihr Spitzenkandidat Cohn-Bendit stimmt im Europäischen Parlament wieder Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (B) anders. Das ist Schizophrenie! Ich hoffe nur, dass der Florian Pronold, SPD-Fraktion. (D) Wähler erkennt, dass eine solche Partei schlichtweg nicht wählbar ist, und dem am 13. Juni Rechnung trägt. Florian Pronold (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas Kollegen! Ich begrüße den von der Bundesregierung er- Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]) arbeiteten Gesetzentwurf zur Verbesserung des Anleger- Die Wähler haben nichts davon, dass Ankündigungen schutzes. gemacht werden. Sie haben nur dann etwas davon, wenn (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Ha- diese auch umgesetzt werden. ben Sie ihn auch gelesen?) Beim Zuwanderungsgesetz machen Sie derzeit exakt Wir schaffen es damit, das Vertrauen in die Märkte wie- dasselbe. der zu stärken und den Missbrauch zu bekämpfen. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg Ganz schlimm! Sonst machen sie ja nichts [CDU/CSU]: Ich dachte, Sie würden ihn unter- mehr!) stützen!) Die nächste Kostprobe werden wir morgen früh in die- – Ja, wir unterstützen ihn, keine Sorge. Ich nehme an, sem Hohen Hause erleben: Wir haben einen Gesetzent- Sie tun das auch. wurf eingebracht, mit dem wir einen Volksentscheid zur (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) europäischen Verfassung – eine Forderung, die die Grü- nen immer wieder erhoben haben – anmahnen. Das bera- – Das ist schön. ten wir morgen erneut und Sie werden den Gesetzent- Ich möchte insbesondere darauf hinweisen, dass wir wurf wieder ablehnen. mit dem Gesetzentwurf eine Prospektpflicht für den so genannten grauen Kapitalmarkt einführen, der in der Die Materie ist aber viel zu ernst, um ein Spiel damit Vergangenheit dadurch aufgefallen ist, dass es einen er- zu treiben, wie es die Grünen tun. Ich bin sicher, Sie heblichen Missbrauch gegeben hat, dass sehr hohe Scha- werden von den Wählern dafür die Quittung bekommen. densummen entstanden sind und dass viele Anleger To- Herzlichen Dank. talverluste erlitten haben. Schätzungen zufolge sind in den vergangenen Jahren zwischen 1 Milliarde und (Beifall bei der FDP) 30 Milliarden Euro vernichtet worden. 10140 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Florian Pronold (A) Der graue Markt ist bisher nicht reguliert worden. Mit Mit unserem Gesetzentwurf setzen wir die EU-Markt- (C) der Prospektpflicht, die mit dem Gesetzentwurf einge- missbrauchsrichtlinie, die der Bekämpfung von Insi- führt wird, werden dem Anleger mehr Informationen zur derhandel und Marktmissbrauch dient, in nationales Verfügung gestellt. Dadurch können bessere Anlageent- Recht um. Hervorzuheben ist, dass Personen, die beruf- scheidungen getroffen werden. Insgesamt wird die Be- lich für Dritte Finanzanalysen erstellen, zukünftig Inte- weislage für den Anleger im Falle von Schadenersatz- ressenkonflikte offen legen müssen. Der Gesetzentwurf prozessen verbessert. Neu ist auch die Erfassung von lässt im Falle von Journalisten, die im Bereich des Treuhandvermögen und Unternehmensbeteiligungen Finanzmarktes tätig sind, Spielraum für eine entspre- – einschließlich Immobilienfonds – durch die Prospekt- chende Selbstregulierung. Wir wissen anhand von vielen pflicht. Beispielen aus der Vergangenheit, dass gerade Journalis- tinnen und Journalisten durch Marktmanipulationen Die Anlageformen auf dem grauen Kapitalmarkt sind Schindluder getrieben haben, mit entsprechenden Emp- nicht per se illegal. Es werden viele sinnvolle Vorhaben fehlungen Geschäfte gemacht und Gewinne selbst einge- finanziert, zum Beispiel in den Bereichen Umweltschutz sackt haben. Bisher war in Europa nur der Insiderhandel und Windkraft, und auch für die Kapitalbeschaffung verboten. Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie, die kleinerer und mittlerer Unternehmen spielt dieser Markt auch Kursmanipulationen sanktioniert, wird eine ein- eine Rolle. heitliche, europaweite Regelung geschaffen. Die Bun- Aber leider gibt es auch viele unseriöse Anbieter. desregierung hat hier durch das Vierte Finanzmarktför- Deshalb hoffe ich – auch aus eigener Erfahrung mit der derungsgesetz bereits wertvolle Vorarbeiten geleistet. CSU – auf die Zustimmung der CSU zu dem Gesetzent- Die Marktmissbrauchsrichtlinie ist bis zum 12. Oktober wurf. Denn wie wir kürzlich den Medien entnommen ha- 2004 in nationales Recht umzusetzen. Das werden wir ben, hat die bayerische Kultusministerin Monika auch machen. Damit werden wir gleichzeitig drei wei- Hohlmeier im Zusammenhang mit der WABAG-Affäre tere Richtlinien und eine Verordnung umsetzen. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ können es doch nicht lassen!) DIE GRÜNEN) auf dem grauen Kapitalmarkt selber einen Schaden in Unser Gesetzentwurf ist gut und findet breite Zustim- Höhe von 27 000 Euro erlitten. Dieser Verlust ist ihr sin- mung bei vielen Verbänden. Deswegen appelliere ich an nigerweise unter Beihilfe ihres Bruders, Max Strauß, Sie: Tun Sie mit uns gemeinsam etwas dafür, um die entstanden. schwarzen Schafe zu bekämpfen, die grauen Märkte tro- ckenzulegen und die weißen Westen zu stärken. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist wie bei der (B) SPD in Bayern! Schwund ist immer!) Vielen Dank. (D) Es ist wichtig, solche Formen von Anlagebetrug an die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ser Stelle gemeinsam zu bekämpfen. Ich muss allerdings DIE GRÜNEN) einräumen, dass selbst unser Gesetz nicht vollständig vor solchen Formen des Anlagebetrugs schützen kann, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: durch den Tausende von Anlegern um rund Das Wort hat der Kollege Stefan Müller, CDU/CSU- 150 Millionen Euro geprellt worden sind. Fraktion. Gleichwohl stellt unser Gesetzentwurf einen gerech- ten Interessenausgleich zwischen den Anlegern und den Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Anbietern von Produkten auf dem grauen Markt dar. Die Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! geplante Genehmigungsfrist von 20 Tagen, die für An- Da nur noch eine sehr überschaubare Anzahl von Kolle- bieter gilt, bevor sie ihren Prospekt auf den Markt brin- ginnen und Kollegen anwesend ist, kann man ruhig auch gen können, ist angemessen, weil es sich im Regelfall einmal über schwarze Schafe philosophieren, wenn- um langfristige Anlageentscheidungen handelt. Die im gleich ich unterstelle, dass das Gesetz nicht speziell für Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen stellen auch einzelne Personen aus dem Freistaat Bayern gemacht keine Belastung für diejenigen Anbieter dar, die keine worden ist. schwarzen Schafe sind. Damit mich die Frau Präsidentin nicht rügt, füge ich hinzu, dass ich mit schwarzen Scha- In der Tat – hierin bin ich mit dem Kollegen Pronold fen natürlich nicht den ehemaligen CSU-Ortsvorsitzen- ausnahmsweise einig – gibt es noch immer Anlagebetrü- den Max Strauß gemeint habe. ger, die jedes Jahr einen enormen wirtschaftlichen Scha- den anrichten. Wenn man sich anschaut, welchen Scha- Zudem sind bestimmte Anlageformen, für die bereits den so genannte schwarze Schafe oder windige ein hinreichender Schutz besteht, generell von der Pros- Geschäftemacher in den letzten Jahren angerichtet ha- pektpflicht ausgenommen. Dazu gehören Versicherungs- ben, dann stellt man fest, dass wir Handlungsbedarf ha- und Genossenschaftsprodukte sowie Produkte von Kre- ben. Insofern begrüßen wir grundsätzlich jeden Ansatz, ditinstituten, die der Aufsicht nach dem Kreditwesenge- der dazu dient, den Anlegerschutz weiter zu verbessern. setz unterliegen. Des Weiteren sind alle Produkte, die Auch meiner Fraktion ist es ein wesentliches Anliegen, unter eine Bagatellgrenze fallen, und Angebote ausge- hier tätig zu werden. Wir unterstützen jede Maßnahme, nommen, die nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt die geeignet ist, windigen Geschäftemachern das Hand- sind. werk zu legen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10141

Stefan Müller (Erlangen) (A) Aber natürlich ist es unsere Aufgabe, klare und ver- gute und attraktive Anlagemöglichkeiten überhaupt an- (C) lässliche Rahmenbedingungen zu setzen. Das gilt so- geboten werden können. wohl für den Anleger- und Verbraucherschutz als auch für die berechtigten Anliegen der Finanzwirtschaft. Un- Mit dem nunmehr vorliegenden Gesetzentwurf wird ser gemeinsames Ziel muss es doch sein – wir haben im unter anderem die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie vergangenen Jahr das eine oder andere hier vorange- umgesetzt. Ich möchte im Zusammenhang mit der Um- bracht –, die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes im setzung dieser EU-Richtlinie eines deutlich festhalten: Allgemeinen und die Wettbewerbsfähigkeit der Finanz- Ich halte es schon für wichtig, dass es bei der Umsetzung dienstleister im Besonderen zu stärken. von Rechtsetzungsakten der EU nicht zu strengeren Re- geln als in den anderen europäischen Ländern kommt, Gut gemeinter Anlegerschutz darf in der letzten weil Regeln, die im Inland schärfer als im europäischen Konsequenz aber nicht dazu führen, dass sinnvolle Kapi- Ausland sind, der Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplat- talmarktgeschäfte verhindert werden. Ich meine damit zes Deutschland selbstverständlich Schaden zufügen. insbesondere Kapitalmarktgeschäfte, die im europäi- schen Ausland völlig selbstverständlich getätigt werden Schaut man sich diesen Gesetzentwurf an, hat man können, bei uns aber nicht möglich sind. den Eindruck, dass das Prinzip, dass in Deutschland keine schärferen Regeln gelten sollen und dass die natio- (Beifall der Abg. Elke Wülfing [CDU/CSU]) nale Umsetzung von EU-Richtlinien nicht mit zusätzli- Andernfalls werden deutsche Kapitalanleger gezwun- chen Regelungen befrachtet werden soll, an der einen gen, ihr Geld legal ins Ausland zu transferieren und dort oder anderen Stelle nicht eingehalten worden ist. Als anzulegen, und Finanzdienstleistungsunternehmen aus Beispiel möchte ich die weit reichenden Kompetenz- Deutschland werden gezwungen, im Ausland entspre- erweiterungen der Bundesanstalt für Finanzdienstleis- chende Produkte aufzulegen. Das kann nicht im Sinne tungsaufsicht nennen. Die Eingriffs- und Auskunftsbe- deutscher Finanzmarktpolitik sein. fugnisse der BaFin werden insgesamt deutlich erweitert, ohne dass das in der EU-Marktmissbrauchsrichtlinie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ausdrücklich so gefordert worden wäre. Das gilt insbe- neten der FDP) sondere für den neuen § 4 des Wertpapierhandelsgeset- Wir müssen also bei jeder Reform des Anlegerschut- zes. In der Begründung des Gesetzentwurfs ist von einer zes noch stärker als bisher mit Augenmaß vorgehen. Wir Generalbefugnisnorm die Rede. Man könnte bei genaue- müssen vor allem das Leitbild des mündigen Anlegers rem Hinsehen auch den Eindruck gewinnen, dass es sich walten lassen, der durchaus imstande ist, selbst zu ent- dabei um eine Art „Die-BaFin-darf-alles-Vorschrift“ scheiden, was für ihn gut und richtig ist. handelt. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die Oberpoli- zei!) Insofern ist natürlich zu berücksichtigen, welcher Nut- zen einerseits und welche Kosten andererseits durch Ähnliches gilt im Übrigen im Hinblick auf die Viel- neue gesetzliche Regelungen entstehen. zahl von Ermächtigungsgrundlagen für Rechtsverord- Übermäßige administrative Auflagen müssen insge- nungen. Auch da wird die Möglichkeit, Rechtsverord- samt vermieden werden und jede neue Regelung muss nungen umzusetzen, vom Bundesfinanzministerium auf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüft werden. Wir müs- direkt an die BaFin delegiert. Das erscheint vor dem sen dabei schon berücksichtigen, dass es gerade die Hintergrund europäischer Vorgaben vielleicht dann sinn- Finanzdienstleistungsbranche in Deutschland ist, die wie voll, wenn eine zeitnahe Umsetzung erfolgen muss. Was keine andere Branche reglementiert und reguliert wird. aber nicht passieren darf, ist, dass die BaFin über die Allein die deutsche Kreditwirtschaft muss jedes Jahr nur Umsetzung von EU-Richtlinien hinaus die Möglichkeit für die Erfüllung von Kontroll- und Meldevorschriften bekommt, diese Rechtsverordnungen einseitig auf den 1 Milliarde Euro ausgeben. Diese Zahl haben wir schon Weg zu bringen. des Öfteren gehört, auch im vergangenen Jahr, als wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) über die Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland gesprochen haben. Über diese Themen müssen wir im weiteren gesetz- Wir dürfen bei alledem nicht vergessen, dass es letzt- geberischen Verfahren reden. Insgesamt darf sich die lich die Verbraucher und die Anleger sind, die diese BaFin eben nicht nur als Regulierer und als Aufseher Kosten tragen müssen; insofern haben wir durchaus un- verstehen; vielmehr muss sie sich auch als Partner der ser Augenmerk darauf zu richten. Finanzdienstleister verstehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion – das möchte ich der FDP) noch einmal betonen – setzt sich auch weiterhin für eine Verbesserung des Anlegerschutzes und eine Fortent- Übermäßige Haftungsregeln schaden der Wettbe- wicklung des Finanzplatzes ein. In diesem Sinne, Herr werbs- und Leistungsfähigkeit des Finanzplatzes ge- Kollege Pronold, werden wir uns an der Beratung dieses nauso wie ein zu oberflächliches Haftungsregime. Das Gesetzentwurfs selbstverständlich konstruktiv beteili- gilt selbstverständlich sowohl für die Wirtschaft als auch gen. für die Anleger. Das heißt, wir brauchen einen leistungs- fähigen Finanzplatz, damit Anlegern und Verbrauchern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 10142 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: funktionierenden Finanzplatz gehört natürlich ein gutes (C) Das Wort hat der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/ Instrumentarium zu dessen Kontrolle. Die Grünen. Was hier zur Debatte steht, ist im Wesentlichen eine Umsetzung der eben bereits erwähnten Marktmiss- Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): brauchsrichtlinie der Europäischen Union. Ein wichtiger Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Punkt ist der Insiderhandel. Man muss sich klar ma- Herren! Wie eben bereits gesagt wurde, reden wir heute chen: Die Insiderhandelstraftatbestände werden in Zu- über das Anlegerschutzverbesserungsgesetz. Dieses Ge- kunft so verschärft, dass bereits der Versuch des Insider- setz dient der sinnvollen Weiterentwicklung der Funktio- handels strafbar ist. Vor allem nimmt der Gesetzgeber nalität des Finanzplatzes Deutschland. An dieser Stelle das Umfeld eines Unternehmens ebenfalls mit in den will ich die Gelegenheit ergreifen, noch einmal auf die Blick, um auch dort die Dinge ans Tageslicht zu bringen. Bedeutung des Finanzplatzes Deutschland hinzuwei- Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Marktmanipula- sen, weil das in diesen Zusammenhängen immer ein tion. Bisher muss den entsprechenden Leuten der Ver- bisschen aus dem Blickwinkel gerät. such der Marktmanipulation nachgewiesen werden. In Dabei muss man sich zwei wesentliche Eckwerte vor Zukunft soll bereits die reine Tatsache genügen, dass der Augen führen. Man muss sich klar machen, dass die Fi- Markt manipuliert war, um strafrechtliche Ermittlungen nanzbranche in Deutschland rund 1,5 Millionen Arbeits- gegen den entsprechenden Personenkreis einleiten zu plätze zur Verfügung stellt – im Vergleich beispielsweise können. zu 1 Million Arbeitsplätzen in der auch sehr wichtigen Die Offenlegungspflichten werden auf alle die Per- Automobilindustrie. Die Wertschöpfung der Finanz- sonenkreise ausgeweitet, die beruflich Finanzanalysen branche, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, beträgt erstellen oder weitergeben; hiervon sind auch Journalis- rund 4,6 Prozent – im Vergleich zu 3 Prozent in der Au- ten betroffen. tomobilindustrie. Das macht deutlich: Die positive Ent- wicklung des Finanzplatzes Deutschland ist ein bedeu- Die Prospektpflicht wird auf die Produkte des so tender Baustein zur Stärkung der bundesdeutschen genannten grauen Kapitalmarktes erweitert. Diese Wirtschaft. Prospekte werden – das ist auch eine Neuerung – von der BaFin geprüft. Natürlich bedeutet ein gesunder Finanzplatz Deutsch- land – darüber muss man reden – auch eine gute Kapi- In Zukunft wird die BaFin auch die Prospekte des all- talausstattung unserer Unternehmen. Die Diskussion gemeinen Kapitalmarktes prüfen. Hierfür sind die Jahre über die zu geringe Eigenkapitalausstattung insbeson- 2008 bis 2013 ins Auge gefasst. (B) (D) dere unserer bundesdeutschen kleinen und mittleren Un- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Was ternehmen ist bekannt. Gerade vor dem Hintergrund der sollen die denn sonst noch machen?) Zurückhaltung der deutschen Banken bei der Vergabe von Krediten an diese Unternehmen, und zwar eher der Heute kontrolliert hier noch die Deutsche Börse. Wichtig Privatbanken als der Sparkassen und Genossenschafts- für diese Prüfungen – das wurde eben bereits angespro- banken, gewinnt der freie Kapitalmarkt in Deutschland chen – ist die Prüfdauer. Im Gesetzentwurf steht zurzeit, immer größere Bedeutung. Ein gut funktionierender dass der BaFin ein konkreter Prüfungszeitraum von un- Kapitalmarkt bedeutet ein Mehr an Wirtschaftskraft, ein gefähr 20 Tagen vorgegeben werden soll; diese Frist ist Mehr an Arbeitsplätzen, automatisch dann auch ein aber fließend. Das bedeutet allerdings für die Emittenten Mehr an Wohlstand. keine Rechtssicherheit. Bei anderen Wertpapieren liegt heute die Genehmigungsfiktion bei zehn Tagen. Geneh- Das Anlegerschutzverbesserungsgesetz ist praktisch migungsfiktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine Weiterentwicklung des von der rot-grünen Bundes- das Produkt, wenn nach zehn Tagen keine Ablehnung er- regierung auf den Weg gebrachten Vierten Finanzmarkt- folgt ist, als genehmigt gilt. Über die Aufnahme einer förderungsgesetzes. Dieses Vierte Finanzmarktförde- solchen Zehntagefrist in den Gesetzentwurf für Pros- rungsgesetz – das sollte die Opposition einmal zur pekte des grauen Kapitalmarkts sollte man meiner Mei- Kenntnis nehmen; auch das wird von Ihnen immer gern nung nach nachdenken. beiseite gewischt – war einer der wirklich großen Er- folge der rot-grünen Bundesregierung, was von allen (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Seiten, insbesondere auch von der Fachwelt, anerkannt Alle diese Dinge – diesen Punkt möchte ich abschlie- wurde. ßend noch einmal ansprechen – brauchen natürlich auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Kontrolle durch die entsprechenden Staatsanwalt- und bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/ schaften. CSU]: Da haben wir mitgemacht! – Wir haben (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wie immer!) sogar noch Verbesserungen erreicht!) Es ist ein großes Defizit, dass es immer noch nicht ge- Das heute zur Debatte stehende Anlegerschutzverbes- lungen ist, eine zentrale Schwerpunktstaatsanwalt- serungsgesetz ist auch ein bedeutender Teil des im schaft in der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen. Februar 2003 vorgestellten Zehnpunkteprogramms der Hier sind insbesondere die unionsgeführten Länder in Bundesregierung zur Verbesserung der Unternehmensin- der Pflicht, weil sie bis heute verhindert haben, dass eine tegrität und zur Stärkung des Anlegerschutzes. Zu einem solche zentrale Schwerpunktstaatsanwaltschaft geschaf- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10143

Hubert Ulrich (A) fen wird. Ich appelliere noch einmal an Sie, darüber Er sieht eine flächendeckende Sanktionierung des uner- (C) ernsthaft nachzudenken. Die Skandale der Vergangen- laubten Umgangs mit Insiderinformationen vor, obwohl heit auch in Deutschland – ich erinnere an Flow-Tex, dieses von der Richtlinie nicht gefordert wird. So soll es Comroad und EM-TV – geben genug Anlass, über eine zum Beispiel in Zukunft auf die Eignung der Informa- solche Institution nachzudenken. tion zu erheblicher Kursbeeinflussung überhaupt nicht mehr ankommen, sondern es soll genügen, dass ein ver- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ständiger Anleger die Information bei seiner Anlageent- SES 90/DIE GRÜNEN) scheidung berücksichtigen würde.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Auch bei der Überwachung und Verfolgung von Verstößen geht der Gesetzentwurf deutlich über die Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen. Vorgaben hinaus. So sollen Wertpapierdienstleistungs- unternehmen und Kreditinstitute zur Anzeige von Ver- Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dachtsfällen an die BaFin verpflichtet werden. Die Ba- Mein Schlusssatz: Der Gesetzentwurf stellt insgesamt Fin wiederum soll zur Strafanzeige bei der einen gelungenen Kompromiss zwischen den Forderun- Staatsanwaltschaft verpflichtet werden. So entwickelt gen nach Freiheit des Marktes und dem dringend gebote- sich die BaFin aber zu einer Art Strafverfolgungsbe- nen Schutz der Anleger vor Marktmissbrauch dar. hörde. Da sie aber schon jetzt überlastet ist, ist zu be- fürchten, dass damit zusätzliche Probleme entstehen und Vielen Dank. auch das Vertrauen der beaufsichtigten Institute in den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umgang mit ihr nicht unbedingt gestärkt wird. und bei der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ne- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ben einer Verschärfung des Insiderrechtes ist im Gesetz- Das Wort hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP- entwurf die Einführung einer Prospektpflicht für nicht Fraktion. in Wertpapieren verbriefte Unternehmensbeteiligungen vorgesehen. Das ist ein Schwerpunkt des so genannten Carl-Ludwig Thiele (FDP): grauen Kapitalmarktes, der damit schärfer reguliert wer- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten den soll. Nach der Statistik des Finanzministeriums hat Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf des Anle- es am grauen Kapitalmarkt allein im Jahr 2002 über 15 000 Betrugsfälle gegeben. Laut Kriminalstatistik sol- (B) gerschutzverbesserungsgesetzes versucht die Bundesre- (D) gierung einen Spagat zwischen Anlegerschutz und Über- len allein durch Anlagebetrug Schäden in Höhe von über regulierung. Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfes liegt 220 Millionen Euro entstanden sein; die Dunkelziffer in der Umsetzung der europäischen Marktmissbrauchs- dürfte höher liegen. richtlinie, die bis Oktober umgesetzt werden muss. Bei Aber gerade Kleinanleger sind die Dummen. Ihr Ver- der Umsetzung zeigt sich jedoch wieder der Hang von trauen muss wieder gewonnen werden. Die Schritte, die Rot-Grün, die deutschen Bürger zu bevormunden, denn dazu unternommen werden, begrüßen wir. der Gesetzentwurf geht deutlich über die Vorgaben der Marktmissbrauchsrichtlinie hinaus. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) Deshalb begrüßen wir auch die Prospektpflicht für nicht in Wertpapieren verbriefte Unternehmensbeteiligungen. Das Gesetz enthält im Grundsatz gute Ideen. Der Ver- such, das gebeutelte Anlegervertrauen zu stärken, ist Herr Ulrich, Sie haben es angesprochen: In der Ver- richtig. Die Anleger haben den Kurssturz an den Aktien- gangenheit haben wir gerade im Bereich des Finanz- märkten nach dem Platzen der New-Economy-Blase im- marktes Wert darauf gelegt, möglichst übereinstimmend, mer noch nicht verdaut. Außerdem haben Bilanzmanipu- sachgerecht und ohne Parteipolitik zu Ergebnissen zu lationen von Unternehmen wie Enron, Worldcom in den kommen. USA, aber auch Unternehmen des Neuen Marktes wie (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Er hat das Ge- Comroad und Flow-Tex Spuren im Vertrauen der Anle- genteil gesagt!) ger hinterlassen. Die FDP begrüßt und unterstützt alle Versuche, dieses verloren gegangene Vertrauen wieder Wir setzen uns bei den Beratungen weiter dafür ein; zu stärken. denn es ist gut, dass ein so wichtiger Bereich nicht in das parteipolitische Gezänk gerät, sondern so sachlich be- Ein besseres Insiderrecht ist notwendig, um Insider- handelt wird, dass am Ende ein Kompromiss stehen geschäfte an den Kapitalmärkten einzudämmen und so kann, der von allen getragen wird und durch den Pro- die Anleger zu schützen. Es kann nicht sein, dass sich bleme ausgeräumt werden können. Wir werden uns bei Unternehmensführer auf Kosten von Kleinanlegern die den Beratungen des Gesetzes in dieser Form verhalten Taschen füllen. Allerdings schießt der Gesetzentwurf der und freuen uns auf eine Zusammenarbeit. Bundesregierung hier über das Ziel der Marktmiss- brauchsrichtlinie hinaus. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 10144 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nen. Es ist im Interesse der Anlegerinnen und Anleger, (C) Das Wort hat die Kollegin Simone Violka, SPD-Frak- aber auch aller ehrlichen Anbieter im Markt, dass der tion. Marktzugang für schwarze Schafe wesentlich verschärft und damit wesentlich schwerer wird. Simone Violka (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DIE GRÜNEN) Sehr geehrte Damen und Herren! Unser europäisches Haus nimmt immer mehr Gestalt an. Das zeigt nicht nur Das erhöht auch die Funktionsfähigkeit des Kapital- die erfolgte Aufnahme von zehn neuen Ländern in un- marktes. Denn der so genannte graue Markt beinhaltet sere Gemeinschaft, sondern auch die Gesetzesharmoni- Teile des Kapitalmarktes, die nicht unter den Wertpa- sierung auf vielen Gebieten. pierbegriff fallen. Das sind zum Beispiel Unternehmer- beteiligungen, die nicht börsennotiert sind. Bisher gab es Heute beschäftigen wir uns mit einem Gesetzentwurf, in diesem Bereich nur unzureichende verbindliche Rege- der unter anderem die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie lungen und kaum Produkttransparenz. Daher war hier auch in Deutschland umsetzt. die Gefahr finanzieller Schäden bis hin zum Totalverlust besonders hoch. Herr Thiele und Herr Pronold haben be- (Beifall der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD]) reits ausführlich auf Fallzahlen und die Höhe der Ver- Damit wird der Finanzplatz Deutschland weiter ge- luste hingewiesen. stärkt, was sich neben einem erhöhten Anlegerschutz Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist diese auch auf Wachstum und Beschäftigung auswirkt. Denn Form der Kapitalbeschaffung besonders interessant. wenn Anlegerinnen und Anleger sich sicher fühlen, dann Daher ist es in beidseitigem Interesse, wenn hier Verbes- sind sie vermehrt bereit, ihr Kapital wieder verstärkt in serungen geschaffen werden können. Ich bin mir sicher, unsere Wirtschaft zu investieren. Leider werden sie auch dass eine wesentliche Verbesserung des Anlegerschutzes hier bei uns durch internationale, aber ebenso durch nati- in diesem Bereich solide Unternehmen für Investoren onale Missbrauchsvorfälle verunsichert. Daher ist es noch attraktiver macht. Ich bin mir deshalb so sicher, notwendig, die Transparenz im Kapitalmarkt weiter zu weil ich selbst aus einem Unternehmen stamme, in dem erhöhen. Damit kann der Schutz vor unzulässigen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Investoren Marktpraktiken weiter verbessert werden. Das hat natür- und damit als Mitgesellschafter erfolgreich betätigen. lich auch positive Auswirkungen auf unsere Marktinte- Hätten wir 1996 hinsichtlich der Finanzierung nicht grität und Markteffizienz. diese Entscheidung getroffen, würde es die Union Werk- Mit dem Anlegerschutzverbesserungsgesetz leisten zeugmaschinen GmbH heute nicht mehr geben. (B) (D) wir unseren Beitrag zu einem europaweiten Standard zur (Beifall bei der SPD – Stefan Müller [Erlan- Bekämpfung von Insiderhandel und Marktmissbrauch. gen] [CDU/CSU]: Das hat mit dem grauen Ka- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ihr pitalmarkt nichts zu tun!) geht darüber hinaus!) Natürlich war diese Entscheidung nicht ohne Risiko. – Ich habe kein Problem, darüber hinauszugehen, wenn Aber wenn man den nötigen Einblick in ein Unterneh- unsere Anlegerinnen und Anleger dadurch besser ge- men hat und sicher sein kann, dass alle Zahlen in korrek- schützt werden. ter Weise vorliegen, kann man sein persönliches Risiko besser einschätzen und eine fundierte Entscheidung tref- (Beifall bei der SPD) fen. Ich denke, dass eine solche Kapitalbeschaffung In einem enger zusammenrückenden Europa ist das durchaus akzeptabel und unterstützenswert ist und dass ein unerlässlicher Faktor einer umfassenden Miss- solide Unternehmen nicht durch Betrüger in ein schlech- brauchsbekämpfung und des Schutzes der Anlegerinnen tes Licht gerückt werden dürfen. und Anleger. (Beifall bei der SPD) Unerlässlich ist in diesem Zusammenhang die auch im Das gelingt aber nur durch einen umfassenden Gesetzentwurf aufgeführte Prospektpflicht für Produkte Schutz, unter anderem durch eine Prospektpflicht, und im so genannten grauen Kapitalmarkt in Verbindung mit eine wesentliche Verbesserung der rechtlichen Aufsicht. einer entsprechenden Haftung. Viele Anlegerinnen und Ich kann nicht ganz nachvollziehen – dieser Punkt ist Anleger fühlen sich aufgrund der Entwicklung am Kapi- schon angesprochen worden –, dass bemängelt wird, die talmarkt in den letzten Jahren tief verunsichert. Aufsicht sei zu intensiv; denn jeder Unternehmer in die- sem Land, der korrekt handelt, hat keine intensive Unter- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nicht nur am suchung zu befürchten. Kapitalmarkt, sondern auch in der Wirtschafts- politik!) (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist der unterschiedliche An- Es ist selbstverständlich, dass Bürgerinnen und Bürger, satz! Vertrauen oder Misstrauen!) die ihr Geld am Kapitalmarkt einsetzen, auch dem Ri- siko von negativen Kursentwicklungen ausgesetzt sind. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir EU- Das ist den meisten auch durchaus bewusst. Aber natür- Vorgaben um. Wir reagieren aber auch in geeigneter lich muss sich jeder, der sein Geld in diesen Kreislauf Weise auf eine lange Reihe von Unternehmensskandalen einbringt, der Seriosität des Produktes sicher sein kön- im In- und Ausland. Wir müssen die Krise an den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10145

Simone Violka (A) Finanzmärkten überwinden und die Rahmenbedingun- päischen Marktmissbrauchsrichtlinie um. Zudem schafft (C) gen des Finanzplatzes Deutschland weiter verbessern. die Einbeziehung des so genannten grauen Kapitalmark- Davon profitieren alle Seiten. tes in die Regelungen des Verkaufsprospektgesetzes si- cherlich ein höheres Maß an Transparenz und damit mehr Ich freue mich, wenn auch vonseiten der Opposition Anlegerschutz und Markteffizienz. gesagt wird, dass wir gemeinsam dieses Ziel erreichen können. Dass das möglich ist, haben wir in der letzten Beim Einbezug des grauen Kapitalmarktes in das Finanzausschusssitzung gemerkt, als aus einem Ent- Verkaufsprospektgesetz fällt vor allem die Regelung in schließungsantrag von Rot-Grün plötzlich ein von allen § 8 i Abs. 2 auf. Dieser räumt der Bundesanstalt für Fi- Fraktionen getragener Antrag zum Thema Girokonto nanzdienstleistungsaufsicht, der BaFin, 20 Tage zur Prü- wurde. fung von Prospekten ein, die sich auf öffentlich angebo- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Nach- tene, nicht in Wertpapieren verbriefte Anteile beziehen. dem er von uns verbessert worden ist!) Nach Ablauf von 20 Tagen gilt keine Genehmigungsfik- tion. Für Verkaufsprospekte, die sich auf Wertpapiere Ich wünsche mir hier das gleiche Ergebnis wie bei die- beziehen, gilt hingegen nach maximal zehn Tagen der sem Antrag. Prospekt als genehmigt, wenn sich die BaFin bis dahin nicht gegenteilig geäußert hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die in der Gesetzesbegründung gegebene Erklärung, dass Produkte des grauen Kapitalmarktes komplexer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: seien als andere, kann mit Blick auf die Vielzahl indivi- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Leo dueller Wertpapiere nicht überzeugen. Wir sollten In- Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion. vestmentformen jenseits der Wertpapiere nicht stigmati- sieren. Ein funktionsfähiger grauer Kapitalmarkt stellt (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Die Krö- heutzutage trotz der vielleicht etwas unglücklichen Be- nung der Debatte!) zeichnung einen wichtigen Bestandteil eines guten Fi- nanzplatzes dar. Wir sollten hier seriöse Anbieter nicht Leo Dautzenberg (CDU/CSU): schlechter behandeln als solche in anderen Finanzmarkt- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe segmenten. Kolleginnen und Kollegen! Im Deutschen Bundestag herrscht in zwei Punkten weitgehende Einigkeit. Zum ei- (Beifall bei der CDU/CSU) nen stimmen wir darin überein, dass der Finanzplatz Weiterhin sollte ein Bestandsschutz respektive eine (B) Deutschland gute und flexible Rahmenbedingungen be- Übergangsfrist für Angebote gefunden werden, deren (D) nötigt, um seine volkswirtschaftlich wichtige Rolle erfül- Platzierung bereits läuft. Anderenfalls könnten Unter- len zu können. Zum anderen sind wir uns alle bewusst, brechungen im Vertrieb unnötigerweise ganze Fonds- dass die Integration der europäischen Finanzmärkte konzepte gefährden. weiter voranschreiten muss, wenn wir die potenziellen Vorteile der Wirtschafts- und Währungsunion voll nutzen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wollen. Im Bereich des Wertpapierhandelsgesetzes sind vor (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) allem folgende Kritikpunkte zu nennen – auf einige wurde schon hingewiesen –: Dies betrifft die Befugnisse Vor diesem Hintergrund hat die CDU/CSU-Fraktion der BaFin im geplanten § 4 Abs. 2 – Einschränkung von im Deutschen Bundestag von Anfang an die jüngsten Handelsaktivitäten im Einzelfall – und Abs. 3 des Wert- Initiativen der Europäischen Kommission – Stichwort ist papierhandelsgesetzes, wonach vorgesehen ist, dass im hier der Aktionsplan Finanzdienstleistungen, abgekürzt Grunde genommen jedermann mitwirken soll, wenn die FSAP – unterstützt. Auch das Zehnpunkteprogramm der BaFin etwas untersucht. Das müsste darauf beschränkt Bundesregierung wurde und wird kritisch, aber sehr werden, dass nur dann eine Mitwirkung vorgesehen konstruktiv von uns begleitet. Es ist damit vor allem der wird, wenn es der Funktionsfähigkeit des Marktes dient. Union zu verdanken, dass sich Deutschland zu einem at- Verordnungsermächtigungen der BaFin und des BMF traktiven Finanzplatz entwickelt hat und noch weiter ent- sind auf Fälle einzugrenzen, die den fachlichen Level II wickeln wird. beinhalten und nicht darüber hinausgehen, also auf Fälle, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für die die Fachleute der Ministerialbürokratie der ein- zelnen europäischen Länder Normen entwickelt haben. Damit diese Entwicklung anhält, müssen wir auch Diese müssen so umgesetzt werden, dass sie den Vorga- weiterhin genau die Details der von uns angestrebten ge- ben der EU entsprechen und nicht darüber hinausgehen. setzlichen Regelungen prüfen. Dies gilt auch dann, wenn ein Gesetzentwurf im Großen und Ganzen in die richtige (Beifall bei der CDU/CSU) Richtung geht, wie dies beim Anlegerschutzverbesse- Sonst werden nämlich europäische Harmonisierungsbe- rungsgesetz ohne Zweifel der Fall ist. strebungen durch die nationale Gesetzgebung und Nor- Zunächst zur Gesamtbetrachtung. Die Flexibilisierung mensetzung wiederum konterkariert. Das gilt auch für der Zusammensetzung des Börsenrates ist uneinge- einzelne Punkte des so genannten Insiderhandels, für In- schränkt zu begrüßen. Die Änderungen im Wertpapier- siderinformationen. Dort gibt es schon bisher einen gro- handelsgesetz setzen weitgehend die Vorgaben der euro- ßen Chinese Wall zwischen dem Investmentbanking und 10146 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Leo Dautzenberg (A) den Anlagestrategen. Diese Bereiche sind ja schon ge- denstadt waren davon 28 Kinder betroffen. Die Aufklä- (C) trennt. Wir sollten diese Situation nicht durch zusätzli- rungsquote der Polizei liegt in beiden Landkreisen bei 80 che Normen so erschweren, dass internationale Normen bzw. 90 Prozent. Allein in meiner ländlichen Region im des europäischen Marktes konterkariert werden. Schwarzwald sind im vergangenen Jahr 96 Kinder Opfer sexueller Gewalt geworden. Bundesweit – das ist immer (Beifall bei der CDU/CSU) wieder einmal thematisiert worden – sind circa Weitere Einzelpunkte sollten noch geschliffen wer- 20 000 Kinder davon betroffen. Wir wissen aber, dass den, insbesondere wenn es um die Definition von die Dunkelziffer ungleich höher ist. „Marktpraxis“ geht. Da muss die BaFin die Definitionen übernehmen, die sich auf dem Markt bewährt haben. Wenn ich auf die letzten zehn Jahre zurückblicke, fällt mir auf, dass nur ganz selten sensibel mit diesem Thema Ich bin zuversichtlich, dass wir uns hinsichtlich der umgegangen wurde. Entweder versucht man, es zu ver- genannten Punkte weitgehend einigen werden. Die Rah- harmlosen, oder es wird unangemessen und reißerisch menbedingungen am Finanzplatz Deutschland würden darüber berichtet. Nicht selten ist die Berichterstattung so weiter verbessert. Die CDU/CSU-Fraktion wird auch nicht auf der Höhe der aktuellen Gesetzeslage. hierzu ihren Beitrag leisten. Der Aktionsplan der Bundesregierung zum Schutz Vielen Dank. von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ausbeutung ist beispielhaft, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: DIE GRÜNEN) Ich schließe die Aussprache. weil er ressortübergreifend ist und ein nachhaltiges Ge- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- samtkonzept verfolgt. Er hat vier zentrale Ziele: den fes auf Drucksache 15/3174 an die in der Tagesordnung strafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu weiterzuentwickeln, den Opferschutz und die Prävention anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann zu stärken, die internationale Strafverfolgung und die ist die Überweisung so beschlossen. Zusammenarbeit sicherzustellen sowie die Vernetzung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: der Hilfs- und Beratungsangebote zu fördern. Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Durch den Aktionsplan, der erst am 29. Januar 2003 Gradistanac, Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer verabschiedet wurde, wurde bis heute viel auf den Weg gebracht: (B) Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie (D) der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), weiterer DIE GRÜNEN) Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN Das Sexualstrafrecht wurde verschärft, Lücken wurden geschlossen, vor allem, wenn es um die Bekämpfung se- Kinder und Jugendliche wirksam vor sexuel- xueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sowie ge- ler Gewalt und Ausbeutung schützen gen Menschen mit Behinderungen geht. In diesem Zu- – Drucksache 15/3211 – sammenhang ist es mir besonders wichtig, daran zu Überweisungsvorschlag: erinnern, dass ein neuer Straftatbestand für Kinder- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) pornographie geschaffen wurde, durch den insbeson- Innenausschuss dere geschlossene Tätergruppen im Bereich des Internets Rechtsausschuss verfolgt werden können. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und DIE GRÜNEN) Entwicklung Ausschuss für Tourismus Außerdem gilt – das ist leider nicht überall bekannt –: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wer sich kinderpornographische Schriften beschafft oder Haushaltsausschuss sie besitzt, wird bestraft, und zwar stärker als in der Ver- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gangenheit. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Bei der jüngst verabschiedeten Opferrechtsreform keinen Widerspruch. – Dann ist das so beschlossen. wurden die Rechte der Opfer in wesentlichen Punkten Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- gestärkt. Das Ziel, Mehrfachvernehmungen zu vermei- gin Renate Gradistanac, SPD-Fraktion. den, ist weitgehend erreicht worden. Die Opfer werden stärker am Verfahren beteiligt. Renate Gradistanac (SPD): Für mich als Politikerin ist es wichtig und selbstver- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! ständlich, dass die Täter angemessen bestraft werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Jahr 2003 Mein und unser aller politisches Ziel ist es – dafür arbei- stellte die Kriminalpolizei im Kreis Calw 68 Fälle sexu- ten wir –, dass in Zukunft weniger Kinder Opfer sexuel- eller Ausbeutung von Kindern fest. Im Landkreis Freu- ler Gewalt werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10147

Renate Gradistanac (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Anonym, vertraulich und kostenlos können Kinder (C) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und Jugendliche in Not bei bundesweit 95 Kinder- und CDU/CSU und der FDP) Jugendtelefonen anrufen. Diese werden und wurden auch unglaublich oft genutzt: Mit 7 Millionen Anrufen Das Kindeswohl hat dabei für mich und für uns alle im Jahr 2003 ist das Kinder- und Jugendtelefon zu einer oberste Priorität. Es bedarf noch enormer Anstrengun- der meistgenutzten Anlaufstellen junger Menschen ge- gen im Bereich der Prävention. „Hinsehen. Handeln. worden. Deshalb müssen diese Telefone – das ist eine Helfen!“ – mit diesem einprägsamen Motto hat das Bun- Forderung aus unserem Antrag – weiter ausgebaut und desfamilienministerium am 20. April dieses Jahres eine gefördert werden. Präventionskampagne gestartet. Ein Kampagnenbus ver- anstaltet 18 Aktionstage vor Ort. Bürgerinnen und Bür- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ger können sich informieren. Die Beratungseinrichtun- DIE GRÜNEN) gen haben die Möglichkeit, ihre Arbeit umfassend Wichtig ist uns in diesem Zusammenhang, dass die darzustellen. Eingerichtet wurden außerdem eine Inter- Bundesregierung bei den Ländern dafür eintritt, zusätzli- netseite und ein Servicetelefon; eine Broschüre mit dem chen Fortbildungsbedarf bei der Polizei, aber auch ins- Titel „Mutig fragen – besonnen handeln“ wurde aufge- besondere im Bereich der Justiz zu prüfen. Gerade diese legt. Bitte wird immer wieder an uns Abgeordnete herange- tragen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Außerdem müssen auch die 14- bis 18-Jährigen vor pornographischen Abbildungen strafrechtlich geschützt Zum Handeln und zur Zivilcourage fordert auch die werden. Das heißt, das Schutzalter muss heraufgesetzt Informationskampagne gegen die sexuelle Ausbeutung werden. Ein solcher strafrechtlicher Schutz wird durch von Kindern im Tourismus von Terre des Hommes auf, die Ratifizierung des Fakultativprotokolls zu dem Über- die ebenfalls vom Bundesministerium unterstützt wird. einkommen über die Rechte des Kindes betreffend den An dieser Stelle gratuliere ich ausdrücklich und ganz Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die herzlich dem Kinderhilfswerk zu einer hohen Auszeich- Kinderpornographie erreicht. Die Bundesregierung be- nung für die beste „langfristige PR-Strategie“, die unter reitet diese derzeit vor. anderem den Inflightspot „Toys“, die Internetplattform „www.child-hood.com“ und den Spot „Words“ umfasst. Ganz besonderer Sorgfalt bedarf die Arbeit für die se- Die Internetplattform wurde bisher von Menschen aus xuell ausgebeuteten Kinder im Grenzbereich von 82 Ländern genutzt. Das ist doch ein schöner Erfolg. Deutschland, Tschechien und Polen. Es geht hierbei um ein grenzübergreifendes Problem, das nur in Zusam- (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ menarbeit zwischen den Ländern gelöst werden kann. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Hierfür wurde eine trilaterale Arbeitsgruppe eingerich- CDU/CSU und der FDP) tet. Die zusätzliche Aufnahme Österreichs halten wir für sinnvoll und prüfenswert. Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir die SPD- geführte Bundesregierung bei der Umsetzung des Außerdem sehe ich – sehen wir – Aus- und Fortbil- Aktionsplans unterstützen. Es gilt, diesen im Zusam- dungsbedarf beim Auswärtigen Amt. Das Thema „sexu- menhang mit allen Beteiligten stetig weiterzuentwi- elle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen“ muss ckeln. Meine Vorstellung, unsere Vorstellung – ich hier ein dauerhafter Bestandteil des Programms werden. glaube, in diesem Hause sind wir uns diesbezüglich ei- Zusätzlich ist eine Handreichung für den Einsatz bei den nig – von einer kindgerechten Welt und von einer kin- deutschen Auslandsvertretungen notwendig. Die The- derfreundlichen Gesellschaft beinhaltet, dass sich Kin- matik der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Ju- der und Jugendliche auf Erwachsene verlassen können gendlichen muss in die Lageberichte der Länder dauer- müssen. Sie sind darauf angewiesen, ihnen zu vertrauen. haft integriert werden. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Zwei Drittel der sexuellen Gewalthandlungen gegen GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) Kinder werden im familiären Umfeld begangen. Ein nicht unbeachtlicher Teil der Taten wird auch im Rah- – Danke für den Applaus. – Davon versprechen wir uns men medizinisch-therapeutischer Abhängigkeitsver- eine größere Sensibilität für die Kinder in Not. hältnisse verübt oder durch Personen, die Kinder und In den Schattenberichten von ECPAT und Terre des Jugendliche haupt- oder ehrenamtlich betreuen. Von po- Femmes zum CEDAW-Bericht der Bundesregierung tenziellen Sexualstraftätern ist bekannt, dass sie sich wird kritisiert, dass es sich bei der sexuellen Ausbeutung ganz bewusst auch Arbeit in solchen Feldern suchen, die von Kindern durch Deutsche im Ausland bisher nicht um ihnen den Zugang zu Kindern und Jugendlichen ermög- ein Delikt aus dem Katalog der organisierten Krimi- lichen. Hier sind insbesondere alle Organisationen und nalität handelt. Somit stehen den Ermittlern keine Institutionen gefordert, die für das Wohl der Kinder Ver- erweiterten Ermittlungsbefugnisse, Sonderzuständigkei- antwortung tragen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ten und Zeuginnenschutzprogramme zur Verfügung. Wir brauchen dringend Handlungsanleitungen und intensive fordern die Bundesregierung auf, eine Aufnahme in den Schulungen, um sexuelle Ausbeutung überhaupt erken- Katalog der organisierten Kriminalität zu prüfen. nen zu können und um geeignete Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen zu sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 10148 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Renate Gradistanac (A) Um die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Touris- Antrag zum jetzigen Zeitpunkt auf dem Tisch zu haben, (C) mus effektiver bekämpfen zu können – das passt dazu; weil ich auch persönlich betroffen bin. Denn Sie erin- deshalb füge ich es hinzu –, ist der Einsatz von weiteren nern sich vielleicht, werte Frau Kollegin, dass ich bereits Verbindungsbeamten in den Herkunftsländern zu prüfen. im Jahre 2001 einen Antrag zu genau diesem Thema ein- Auch hier geht die Bitte an die Bundesregierung, diesen gereicht habe. Die Forderungen, die Sie heute stellen, Prüfauftrag zu unterstützen. waren in diesem Antrag in ähnlicher Weise formuliert. Wenn ich mich recht erinnere – ich habe noch einmal ins (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Protokoll gesehen –, haben Sie ihn seinerzeit abgelehnt, GRÜNEN und der FDP) weil der Antrag in vielen Punkten überholt gewesen sei, Wir – ich spreche hier auch als SPD-Tourismuspoliti- (Ute Kumpf [SPD]: Stimmt!) kerin – erwarten, dass sich die deutsche Tourismusbran- che an ihren Verhaltenskodex erinnert und ihn endlich da Sie schon viel aufgearbeitet hätten, Schritt für Schritt erkennbar umsetzt. (Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt alles!) So kann auch diese Branche ihrer Verantwortung ge- und da die Regierungskoalition durch Ihre Anträge recht werden und dabei helfen, Kinder und Jugendliche schon in viel größerem Umfang tätig geworden sei. vor sexueller Ausbeutung zu schützen. „Gemeinsam ak- tiv für eine gewaltfreie Zukunft der Kinder“, so steht es (Ute Kumpf [SPD]: Das ist alles korrekt!) im Flyer „Kleine Seelen, große Gefahr...“. Wir hätten uns gewünscht, dass ihn viel mehr Menschen kennen ler- Heute stehen – ich könnte es Ihnen an einigen Punk- nen. Ich meine – damit schließe ich –: Angesichts der ten aufzeigen – fast genau dieselben Forderungen wieder zunehmenden Unverfrorenheit der Täter setze ich – da- auf dem Papier. Man könnte fast meinen, wir hätten drei für bitte ich um Unterstützung – auch auf praktizierte Zi- wichtige Jahre zum Schutze unserer Kinder verpasst. Es vilcourage. wäre mir wichtig gewesen, wenn wir diese drei Jahre schon an der einen oder anderen Stelle genutzt hätten, (Beifall im ganzen Hause) um unsere Kinder zu schützen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/ Auf einige Punkte Ihres Antrags möchte ich mich CSU-Fraktion. kurz beziehen. Sie sagen, dass der Nationale Aktions- plan weiterentwickelt werden muss. Das haben wir be- reits 2001 gefordert. Ingrid Fischbach (CDU/CSU): (B) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- (Renate Gradistanac [SPD]: Da gab es ihn (D) legen! Ich glaube, in der Zielsetzung des Antrags, der doch noch gar nicht!) uns heute vorliegt, sind wir uns alle einig. Welches – Lassen Sie mich doch ausreden. – Wir wollten ein ver- Thema kann für uns wichtiger sein als der Schutz unse- nünftiges Konzept, um ihn umzusetzen. Wir haben ge- rer Kinder? Wer, wenn nicht wir, sollte sich für die Kin- sagt, dass wir dieses Thema angehen müssen. Nun sind der einsetzen, um dafür zu sorgen, dass ihr Schutz ver- drei Jahre vergangen, in denen es gute, aber nicht ausrei- bessert wird und sie wirklich geschützt werden? chende Entwicklungen gab. Das geben Sie ja selbst zu. Ich persönlich – ich glaube, alle anderen auch – emp- Insofern müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass wir finde es als unerträglich, dass heute noch – die Kollegin an diesem Punkt weiterarbeiten. hat es gerade gesagt – fast 16 000 Kinder Opfer sexuel- Sie erwähnen in Ihrem Antrag den Wunsch nach ei- len Missbrauchs werden. Die Dunkelziffer – auch darin nem Ausbau der Kinder- und Jugendtelefone. Das ist sind wir uns einig – ist sehr viel höher. Das kann nicht vollkommen richtig. Sie schreiben, dass es derzeit sein und darf auch nicht sein, schon gar nicht, wenn wir 95 dieser Telefone gibt und dass es viel mehr werden sehen, dass die Fälle von schwerem sexuellen Miss- müssen. Auch an dieser Stelle möchte ich nur daran erin- brauch sogar um fast 5 Prozent zugenommen haben. Das nern, dass es 1998 bereits 80 solcher Telefone gab. Von macht deutlich, dass das, was bisher getan wurde, nicht 1998 bis jetzt sind also lediglich 15 Telefone hinzuge- ausreicht und wir eine ganze Menge mehr tun müssen. kommen. Das ist zu wenig. Wir müssen gemeinsam da- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für sorgen, dass es mehr werden. Das kann nicht sein. neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE Sie loben und begrüßen, dass die Bundesregierung GRÜNEN und der FDP) das Informationszentrum zu Kindesmissbrauch und Deshalb sage ich ganz deutlich: In der Zielsetzung Kindesvernachlässigung fördert und es an das Deut- sind wir uns einig. Auch wir wollen den strafrechtlichen sche Jugendinstitut angegliedert hat. Das finde ich toll. Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessern und Sie loben dafür die Bundesregierung. Aber auch diese weiterentwickeln, Prävention und Opferschutz stärken, Leistung wurde bereits im Januar 1998 erbracht. Inso- die Hilfs- und Beratungsangebote vernetzen und – was fern freuen wir uns, dass Sie auch die Leistung der alten auch Sie als vierten Aspekt genannt haben – die interna- Bundesregierung in Ihrem neuen Antrag lobend erwäh- tionale Zusammenarbeit in diesem Bereich fördern. nen. Aber in der Vorgehensweise sind wir unterschiedli- (Zuruf von der CDU/CSU: Nur ein bisschen cher Meinung. Ich bin schon darüber erstaunt, diesen spät!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10149

Ingrid Fischbach (A) Wir nehmen es zur Kenntnis und ich denke, das ist auch Ingrid Fischbach (CDU/CSU): (C) der richtige Weg: dass wir gemeinsam nach vorn gehen, – um die Überwachung der Telekommunikation oder und wenn gute Dinge geleistet worden sind, darf man sie die DNA-Analyse. Das ist der letzte Punkt: Ich wünschte auch beim Namen nennen. mir eine konsequentere Anwendungsweise. Sie haben uns an Ihrer Seite, aber bitte nicht nur weich formulie- (Beifall bei der CDU/CSU) ren, sondern auch Tacheles reden; dann sind wir dabei. Gut finde ich – das ist neu in Ihrem Antrag –, dass Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auf die berufsethischen Standards hinweisen und auch hier einen Verhaltenskodex fordern; das ist neu und das ist richtig. Denn wir wissen, dass Menschen, die Kinder Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: missbrauchen, sich gerade im Familienumfeld aufhalten Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz, oder in Bereichen, wo sie Kontakt mit jungen Menschen Bündnis 90/Die Grünen. haben, ein entsprechendes Arbeitsfeld suchen. Hier auf einen Verhaltenskodex hinzuwirken, berufsethische Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Standards zu benennen finde ich sehr gut. Das ist begrü- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ßenswert, das kann man nur unterstützen. An dieser Die Bekämpfung von sexueller Gewalt und Ausbeutung Stelle kann man auch sagen, dass das, was die deutsche ist eine Aufgabe, der wir uns kontinuierlich und mit gro- Tourismusbranche mit ihrem Verhaltenskodex auf den ßem Engagement stellen müssen und auch stellen. Sexu- Weg gebracht hat, begrüßenswert und unterstützenswert elle Gewalt und Ausbeutung von Kindern und Jugendli- ist. Es ist wichtig, deutlich zu machen, was da eigentlich chen sind brutal, sie sind monströs, nicht nur schlimm, passiert, und zu sensibilisieren; dahin müssen wir kom- sondern ein Verbrechen. Aber – genau das ist die He- men: dass es in die Köpfe geht. Wir unterstützen dieses rausforderung für uns Politiker – wir müssen es einfach Anliegen auf jeden Fall. schaffen, an dieses Thema nicht nur emotional heranzu- Internationale Zusammenarbeit kann nur gestärkt gehen, sondern vor allem rational und differenziert, um werden; es ist nicht ein deutsches Problem. Wir müssen unsere Ziele überhaupt effektiv erreichen zu können. Es natürlich mit den Nachbarstaaten in Europa und weltweit gibt kein einfaches Patentrezept zum Schutz der Kinder dieses Thema angehen; insofern begrüßen wir auch, dass und es gibt auch keine einfachen Lösungen zur Bekämp- Deutschland im Juli den Vorsitz der Ostseeratskoopera- fung solcher Gewalt gegen Kinder. Auch die Antworten, tion übernimmt. Wir werden in den Beratungen – wir die wir darauf geben können, sind komplex; sie sind befinden uns ja jetzt in der ersten Lesung – natürlich nicht einfach: Es gibt ein ganzes Sammelsurium von wissen wollen: Welche Visionen haben Sie dafür, welche Handlungsansätzen und Instrumenten, die wir anwenden (B) Konzepte verfolgen Sie, welche Strategien will Deutsch- müssen und die wir vor allem aufeinander abgestimmt (D) land unter seinem Vorsitz umsetzen und wo sollen wir zum Einsatz bringen müssen. hin? Genau an diesem Punkt nimmt die rot-grüne Koali- Was ich allerdings in Ihrem Antrag ein wenig ver- tion auch mit diesem Antrag heute diese Aufgabe wahr. misse, ist eine stärkere Begleitung der Opfer, das heißt Unsere Kernbotschaft ist: Wir haben eine ganze Menge der Kinder, die Opfer geworden sind. Ich glaube nicht, dazu gemacht, wir sind gerade dabei, möglichst niedrig- dass es ausreicht, auf die Bundesländer einzuwirken, schwellig eine ganze Reihe von Maßnahmen in Gang zu dass sie entsprechende Mittel zur Verfügung stellen, um bringen, und werden es auch in Zukunft energisch ange- die Beratungsstellen aufrechtzuerhalten – im Sinne von hen. Konnexität müsste es eigentlich so sein, dass der Bund Mittel zur Verfügung stellt, um diese Projekte wirklich Frau Fischbach, jetzt würde ich gerne zu Ihnen etwas vor Ort weiterführen zu können, um den Opfern Hilfe zu sagen. Was haben Sie in den drei Jahren gemacht? Wir geben. haben das Strafrecht verschärft. Wir haben es sehr hart verschärft. Meine Kollegin Gradistanac ist schon darauf Ganz zum Schluss ein Satz – darauf geht meine Kolle- eingegangen. Wir haben eine ganz deutliche Verschär- gin Noll gleich noch ein –: Sie haben deutlich gemacht, fung, nur leider ohne Ihre Stimme. Wir haben zum Bei- Kollegin Gradistanac, wie sich der Täterkreis zuneh- spiel auch noch im Jahre 2000 zum ersten Mal ein Ge- mend verändert. Wir kommen nicht umhin, konsequenter setz in den Deutschen Bundestag eingebracht, das die strafrechtliche Schritte einzuleiten und zu gehen. Rechte der Kinder als subjektive Rechte im Grundge- setz verankert und in dem wir das Recht auf gewaltfreie (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erziehung eingeführt haben, Wir haben das Strafrecht verschärft!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was Sie machen, reicht nicht aus. Ich wünschte mir und bei der SPD) schon an der einen oder anderen Stelle eine konsequen- tere, präzisere Vorgehensweise, etwa wenn es um die nur leider ohne Ihre Zustimmung. Dennoch möchte ich nachträgliche Sicherungsverwahrung geht, – jetzt genau auf dieses Beispiel eingehen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern? Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sie wollten zum Schluss kommen. Fischbach? 10150 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): besteht, wenn Kinder bei einem Elternteil leben und der (C) Nur zu. andere Elternteil keinen oder zu wenig Unterhalt zahlt. Wenn keine Unterhaltszahlungen erfolgen, soll das Kin- (Ute Kumpf [SPD]: Aber bitte nicht die alte Frage, dergeld dorthin, wo die Kinder leben. Frau Fischbach! Keine Wiederholung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ingrid Fischbach (CDU/CSU): und bei der SPD) Liebe Kollegin Deligöz, ich weiß nicht, zum wie viel- Wenn Sie dagegen sind, dann erklären Sie das einmal ten Male ich das jetzt wiederhole, den Müttern, die alleine ihre Kinder erziehen. Genau da- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) gegen haben Sie gestimmt, gegen nichts anderes. weil Sie immer eine verkürzte Sichtweise der Abstim- (Ina Lenke [FDP]: Das stimmt überhaupt mung wiedergeben. Ich frage Sie: Ist es Ihnen noch in nicht!) Erinnerung, dass Sie damals die Abstimmung zur ge- Jetzt bin ich am Ende meiner Antwort. waltfreien Erziehung verbunden haben mit Änderungen im Unterhaltsrecht und dass wir hier im Bundestag nicht Wir haben dieses Recht im Jahr 2000 vereinbart. Ich über die einzelnen Punkte abstimmen konnten, sondern möchte Ihnen sagen, warum es wichtig war, nicht nur nur über das Gesamtpaket? Wir haben also gar nicht im das Gesetz zu verändern, sondern auch eine Kampagne Einzelnen über die gewaltfreie Erziehung abgestimmt, dazu durchzuführen. Unsere Kampagne hat dazu ge- sondern haben darüber in Kombination mit Unterhalts- führt, dass ein Paradigmenwechsel in diesem Land ein- rechtsänderungen, bei denen wir erhebliche Bedenken geleitet wurde. 80 Prozent der Eltern in diesem Land be- hatten, abgestimmt. Ist Ihnen das noch bekannt? scheinigen, dass sie darüber erfahren haben, und erklären, dass sie in Zukunft von alleine darauf verzich- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten wollen, Gewalt in der Erziehung anzuwenden. Noch Frau Fischbach, ich freue mich richtig, dass Sie mir eine Zahl: Noch im Jahre 1992 war eine Ohrfeige völlig diese Frage stellen. Ich war damals dabei und war eine legitim, völlig normal. Heute sagen die meisten Eltern, der Hauptverhandlerinnen. Von daher kenne ich die Rei- nämlich 86 Prozent: Nein, darauf will ich verzichten. henfolge der Ereignisse ganz genau. Ich bin damals für Lediglich 14 Prozent können das noch vertreten. Im meine Fraktion durch alle Fraktionen gegangen, weil ich Jahre 1992 meinten 41 Prozent der Eltern, ein Kind mit die Meinung vertreten habe, dass es wichtig wäre, dass dem Stock zu schlagen sei doch kein großes Problem, wir hier im Bundestag eine einstimmige Meinung zu die- das sei ein Teil der Erziehung. Heute sind es nur noch (B) sem Thema haben, weil es eine sehr hohe symbolische 5 Prozent. Das ist das Ergebnis unserer Kampagne, die (D) Bedeutung hat und weil das ein Signal nach außen gewe- ich als wirklich erfolgreich bezeichne. sen wäre, das ich für sehr wichtig gehalten habe. An Ih- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren Rechtspolitikern – ich gebe zu, nicht an Ihnen per- und bei der FDP) sönlich – bin ich gescheitert: Sie wollten kein subjektives Recht, sie wollten es nicht in diesem Para- Nichts anderes zählt; denn eines wissen wir: Gewalt graphen, sondern im allgemeinen Teil, möglichst unbe- erzeugt Gewalt. Dagegen müssen wir uns auflehnen. Wir stimmt und ohne Rechtskonsequenzen. müssen diesen Teufelskreis durchbrechen. Es geht um den Schutz unserer Kinder; es geht um unsere Kinder (Zurufe von der SPD: Aha!) und um nichts anderes. Deshalb gibt es auch heute wie- Das war der Punkt, an dem wir gesagt haben: Schnitt! der nicht nur eine Gesetzesänderung – diese haben wir Wir nehmen das, was wir machen, ernst – wenn wir es hinter uns gebracht –, sondern auch einen Aktionsplan, nicht ernst nehmen, dann machen wir es erst gar nicht. eine Kampagne, um die Eltern, um die Kinder, um die Deshalb ist dieses Gesetz dort, wo es jetzt steht, und es Menschen, um unsere Gesellschaft zu erreichen. Es geht ist sehr wirksam. Dazu komme ich noch. dabei um Prävention, um Intervention und natürlich auch um Aufklärung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Noch ein Punkt: die Verschärfung des Strafrechts. Ja, die Verschärfung ist an diesem Punkt berechtigt. Nur, Zweitens – ich bin noch nicht fertig – zum Hucke- mit Strafrecht alleine schrecken Sie keinen Täter ab; packgesetz: Ja, es war noch eine Unterhaltsrechtsklausel denn die Täter wissen alle schon, dass es verboten ist, dabei. Diese Klausel ist zu einem Zeitpunkt in das Ge- und tun es trotzdem. setz gekommen, zu dem wir bereits wussten, dass ein- deutig von Ihrer Fraktion beschieden worden ist, dass Eine große Dunkelziffer der Täter kommt aus dem Sie sowieso nicht mitmachen. Nahbereich des Kindes. Es sind die Familienmitglieder (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das stimmt – Tanten und Onkel – und die Nachbarn. Sie wissen, doch gar nicht! – Silke Stokar von Neuforn dass das verboten ist, es schreckt sie aber nicht ab. Ge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, das rade deshalb ist es wichtig, möglichst niedrigschwellig stimmt!) Angebote zu machen, die Eltern zu ermutigen und die Offenheit zu wecken, zu diesem Telefon zu greifen. Es Diese Klausel zum Unterhaltsrecht besagte nichts ande- reicht nicht aus, dass diese Telefone existieren. Es muss res, als dass ein Anspruch auf das gesamte Kindergeld auch die Aufmunterung geben, sie zu benutzen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10151

Ekin Deligöz (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darf kein Tabuthema sein. Es muss immer wieder in das (C) und bei der SPD sowie des Abg. Klaus Haupt öffentliche Bewusstsein gerufen werden. [FDP]) (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ Es geht darum, national und international zu handeln CSU) und nicht nur darüber zu reden. Dazu dient auch die heutige Debatte. Sie ist ein gemein- Es geht um eine gesellschaftliche Sensibilität. Wir sames Anliegen aller Fraktionen des Deutschen Bundes- wissen, dass die Dunkelziffer hoch ist. Deshalb fordern tages und wir sollten auch über einen gemeinsamen An- wir vonseiten der Grünen gerade an der deutsch-tsche- trag nachdenken, um die Bedeutung des Anliegens zu chischen Grenze, aber nicht nur dort, auch eine For- unterstreichen. schung in diesem Bereich, um genau das zu durchbre- (Beifall bei der FDP und der SPD sowie des chen. Wir wollen eine Forschung, die uns gesicherte Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]) Erkenntnisse zur Argumentation und zum Handeln gibt. Wir wollen mit diesen Erkenntnissen weg von der reinen Die stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit ist Skandalisierung und Emotionalisierung hin zu Wegen, ein wichtiger Aspekt. Viele Missbrauchsfälle könnten durch die wir unsere Kinder schützen. verhindert werden, wenn sexuelle Übergriffe nicht über- sehen und bagatellisiert, sondern wahrgenommen und Eines möchte ich noch einmal betonen: Die Zukunft angezeigt würden. Das Problem ist nie weit weg, es ist unserer Kinder ist die Zukunft unserer Gesellschaft. überall. Meist stammen die Täter aus der Familie oder (Zuruf von der FDP: Richtig!) dem engeren Bekanntenkreis. Hier ist jeder Einzelne ge- fragt. Die Gesellschaft darf nicht wegsehen, wenn es um Wenn wir es nicht schaffen, die Gewalt zu durchbrechen, sexuelle Gewalt gegen Kinder geht. dann wird das auf unsere Gesellschaft zurückschlagen. Nationales Handeln allein ist nicht ausreichend. In- Danke schön. nerhalb der Europäischen Union und auch weltweit muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Zusammenarbeit zur Bekämpfung der sexuellen bei der SPD und der FDP) Ausbeutung von Kindern intensiviert werden. Besonders im Bereich der Kinderpornographie ist es notwendig, zu einem die Landesgrenzen überschreitenden, wirksamen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: europaweiten Rechtsstandard zu kommen. Das Wort hat der Kollege Klaus Haupt, FDP-Frak- tion. In diesem Zusammenhang hat sich das Internet nicht (B) nur als Segen, sondern eben auch als Fluch erwiesen: Per (D) Mausklick sind hunderttausend einschlägige Adressen Klaus Haupt (FDP): und Hunderte von Webseiten täglich abrufbar – und das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! im Schutze der Anonymität, die solche Perversionen be- Sexuelle Ausbeutung und Gewalt gegen Kinder gehört günstigt. Deshalb muss das Problem auf allen Ebenen zu den abscheulichsten Verbrechen auf dieser Welt. Kin- energisch angegangen und müssen wirksame Strategien derprostitution, Kinderhandel und Kinderpornographie international angelegt werden; denn das schmutzige Ge- sind ein gigantisches verbrecherisches Geschäft gewor- schäft mit Kindersex ist grenzüberschreitend. Der Miss- den. UNICEF schätzt den Umsatz weltweit auf 6 Mil- brauch der Schwächsten der Gesellschaft, der Kinder, ist liarden Euro jährlich. 2 Millionen Kinder weltweit sind ein Verbrechen an der Zukunft unserer Gesellschaft und von Kinderprostitution betroffen. Das heißt, 3 000 Kin- an der Menschheit. der werden täglich neue Opfer sexueller Gewalt. Danke. Als damaliger Vorsitzender der Kinderkommission habe ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen an der (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Konferenz in Yokahama teilgenommen. Dort wurde ei- Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- nes sehr deutlich: Das Problem der sexuellen Ausbeu- NISSES 90/DIE GRÜNEN) tung ist sowohl in den armen als auch in den reichen Ländern ein zunehmendes Übel. Man schätzt, dass sich Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: jährlich 10 000 Deutsche an Kindern im Ausland sexuell Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin vergehen. In Deutschland kommen jährlich etwa Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion. 20 000 Fälle vor Gericht, bei denen Kinder Opfer sexu- eller Gewalt sind. Die Dunkelziffer liegt nach Schätzun- Michaela Noll (CDU/CSU): gen sechsmal so hoch. Sexuelle Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch fügen Kindern schwersten Schaden an Leib Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und und Seele zu. Die seelischen und womöglich auch kör- Kollegen! Alle meine Vorredner hatten das Glück, schon perlichen Narben bleiben lebenslang bestehen. Das vorher Mitglieder des Bundestages zu sein. Was will ich Grundvertrauen der betroffenen Kinder in andere Men- damit sagen? Sie haben bereits von meiner Kollegin schen wird zerstört. Ingrid Fischbach gehört – ich glaube, sie hat es wirklich dezidiert dargelegt –, dass wir das, was Sie jetzt hier for- Deshalb begrüßt die FDP-Fraktion den vorliegenden dern, bereits vor Jahren gefordert haben und Sie unsere Antrag grundsätzlich. Sexuelle Gewalt gegen Kinder Anträge immer abgelehnt haben. Die 16 000 Fälle von 10152 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Michaela Noll (A) Kindesmissbrauch jährlich, die die Kollegin Fischbach In Ihrem Antrag steht, massiv traumatisierte Kinder (C) erwähnt hat, zwingen uns, weiter zu handeln. sollen dabei unterstützt werden, eigene Interessen wahr- zunehmen, damit sie Subjekte des Geschehens werden. Tatsache ist, dass immer mehr Pädophile gezielt Chat- Liebe Kollegin Deligöz, als ich das in dem Antrag gele- rooms nutzen, um minderjährige Opfer anzusprechen. sen habe, war ich – gelinde gesagt – sehr enttäuscht und Mein Kollege Klaus Haupt hat auch schon von den Kin- betroffen. Für diejenigen, die es noch nicht wissen: Ich derpornos gesprochen. Diese dürfen nicht verharmlost habe für das Mainzer Modell im Strafverfahren ge- werden. kämpft. Opferschutz heißt für die CDU/CSU-Fraktion, sich am Wohl des Kindes zu orientieren. Für alle die, die Ich komme gerade aus einem Gespräch mit Strafvoll- nicht wissen, was das Mainzer Modell beinhaltet, sage zugsbediensteten. Wenn man mit ihnen gesprochen hat, ich: Es geht darum, dass kindliche Opfer im Strafverfah- dann weiß man, was draußen los ist. Sie haben mir klipp ren sich in einem gesonderten Raum mit dem Vorsitzen- und klar gesagt: Die Zahl der gefährlichen, gewaltberei- den befinden und eben nicht nur in eine Kamera spre- ten und behandlungsresistenten Strafgefangenen steigt chen müssen. Das hat etwas mit Kindeswohl zu tun. jährlich. Das geht zulasten der Kinder. Die Opfer leiden unter schwerwiegenden Folgen für Seele und Körper. (Beifall bei der CDU/CSU) Kollege Haupt hat auch richtig dargestellt – ich Ich habe es noch einmal erklärt, weil dieses Mal die glaube, das sehen wir alle so –, dass dies zunehmend zu Familienpolitiker hier sitzen. Mein Appell an die Fami- einem grenzüberschreitenden Problem wird; denn Kin- lienpolitiker geht dahin, hin und wieder Einfluss auf derprostitution macht an Grenzen nicht Halt. Obwohl Rechtspolitiker zu nehmen, damit diese ihr Herz und ih- der Besitz von Kinderpornographie und deren Austausch ren Verstand für die Kinder öffnen. im Internet seit dem 1. April schärfer bestraft wird, be- (Beifall bei der CDU/CSU) steht meiner Meinung nach nach wie vor die Gefahr, dass die Machenschaften der Triebtäter in der virtuellen In diesem Punkt haben Sie leider kein deutliches Signal Welt meistens ungestraft bleiben. für kindlichen Opferschutz im Strafverfahren gesetzt. Deshalb sage ich an diesem Punkt: Dieser Antrag In Bezug auf die grenzüberschreitenden Maßnahmen geht in die richtige Richtung, denn ohne eine umfas- – ich muss Sie einmal direkt ansprechen – rate ich Ihnen, sende internationale Zusammenarbeit aller Länder über die Grenze zu schauen, was Österreich gemacht werden wir nichts erreichen. Es ist auch richtig, dass sich hat. Österreich hat das Mainzer Modell bereits einge- internationale Organisationen mit dieser Problematik be- führt. Können wir uns nicht vielleicht einmal daran an- fassen; denn sexuelle Ausbeutung von Kindern findet nähern? (B) (D) eben nicht nur in Deutschland statt. Aber um das wirk- Das Gleiche betrifft die nachträgliche Sicherungs- sam zu bekämpfen, müssen alle betroffenen Länder die verwahrung. Kollege Ströbele ist leider nicht mehr hier. Strafverfolgungsmöglichkeiten verbessern. Trotzdem: Mit dem habe ich an diesem Punkt heftig gestritten. Wir Diese Forderungen sind nicht neu. Das waren unsere wollten genau das tun, was notwendig ist, nämlich die Forderungen. Bevölkerung und vor allem die Kinder vor hochgefährli- Sehr geehrte Frau Kollegin Gradistanac, ich kann Ih- chen Gewaltverbrechern schützen. Wir haben Sie an die- nen eine kritische Bemerkung zu Ihrem Antrag leider ser Stelle mehrfach zum gesetzgeberischen Handeln auf- nicht ersparen; denn das gerade in Kraft getretene Gesetz gefordert. Was haben wir dazu von den Rechtspolitikern zur angeblich umfassenden Verschärfung im Sexual- gehört? – Es sei Ländersache. Dann kam die Entschei- strafrecht ist halbherzig und unzureichend. Da ich in dung des Bundesverfassungsgerichts. Da haben Sie sich allen Debatten zur Verschärfung des Sexualstrafrechts, ein bisschen bewegt. zur Opferrechtsreform, zum Opferschutzgesetz und zur Die Anhörung dazu im Rechtsausschuss hat ergeben, nachträglichen Sicherungsverwahrung für die Schwa- dass der Regierungsentwurf viele kritische Punkte ent- chen dieser Gesellschaft gekämpft habe, glaube ich hält, die geklärt werden müssen. Was heißt das schon, dass ich dies gut beurteilen kann. wiederum? – Das heißt, dass das Zeitfenster, das das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, nämlich der In vielen Punkten haben Sie sich mit wichtigen Maß- 30. September, vielleicht nicht eingehalten werden kann. nahmen zurückgehalten. Kindesmissbrauch und vor al- Was das heißt, muss ich Ihnen, glaube ich, nicht erklä- lem sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Perso- ren. Das heißt, dass die hochgefährlichen Kinderschän- nen bleiben Vergehen und werden nicht als Verbrechen der, die jetzt einsitzen, dann rausgelassen werden. Dass geahndet. Was heißt das für einen Nichtjuristen? Der wir viel Zeit verloren haben, müssen Sie sich selber an- Versuch ist nicht strafbar. Das aber haben wir gefordert. lasten. Ich glaube, gut gemeinte Kampagnen allein nüt- Das gleiche Problem stellt sich bei der Überwachung zen nichts, wenn der Gesetzgeber selbst diese Wertung des Fernmeldeverkehrs, die für die vielen Fälle von nicht ernsthaft ausspricht. Kindesmissbrauch und der Verbreitung von Kinderpor- nographie wichtig wäre. Auch da haben Sie uns nicht zu- Fazit: Ihre gut gemeinten Forderungen in dem Antrag gestimmt, geschweige denn die Zulässigkeit der DNA- beinhalten die Ziele, Projekte und weltweite Standards Analyse unterstützt. Viele wissen aus der Presse, dass zu entwickeln, zu fördern, Maßnahmen zu prüfen, aber die DNA-Analyse wesentlich dazu beigetragen hat, dass Sie fordern nicht eine einzige konkrete gesetzliche Rege- viele Täter überführt werden konnten. lung. Dennoch: Ich mache Ihnen ein Angebot. Es ist ein Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10153

Michaela Noll (A) gutes Signal, aber damit allein ist es nicht getan. Lassen und Familien in der Bundeswehr stärken und fördern“ (C) Sie mit uns gemeinsam den guten Ansätzen Taten fol- gestellt, der im Vorfeld mit betroffenen Frauen abgespro- gen. Es liegt jetzt an Ihnen. chen worden ist und von Frauen des Bundeswehrverban- des unterstützt wird. Danke schön. Zurzeit dienen immerhin 9 800 Frauen als Soldatin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nen in der Bundeswehr. Knapp 700 sind bereits Offiziere Klaus Haupt [FDP]) und 4 900 sind Unteroffiziere. Das sind insgesamt 5 Prozent aller Zeit- und Berufssoldaten. Nach den Er- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fahrungen verbündeter Armeen wissen wir, dass damit Ich schließe die Aussprache. zu rechnen ist, dass sich der Anteil weiblicher Soldaten Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf bei circa 10 Prozent stabilisieren könnte. Wenn wir da- Drucksache 15/3211 an die in der Tagesordnung aufge- von ausgehen, dass dies so sein wird, dann müssen ei- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Abweichend von der nige Konsequenzen gezogen werden, die ich Ihnen hier Tagesordnung soll die Vorlage jedoch nicht an den Haus- gerne darstellen möchte. haltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit ein- Der Verteidigungsminister ist aufgefordert, dreiein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- halb Jahre nach Öffnung der Bundeswehr für Frauen sen. endlich ein Gesetz für deren Gleichstellung zu schaffen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula es!) Lietz, Anita Schäfer (Saalstadt), Christa Reichard Ankündigungen haben wir mittlerweile genug gehört. (Dresden), weiterer Abgeordneter und der Frak- Schwierigkeiten scheint es im Verhältnis zwischen dem tion der CDU/CSU Familienministerium und dem Verteidigungsministerium Frauen und Familien in der Bundeswehr stär- zu geben. Fakten sind bis jetzt keine geschaffen worden. ken und fördern Dass so etwas möglich und nötig ist, zeigen in vor- – Drucksache 15/3049 – bildlicher Weise andere Streitkräfte. Ich möchte hier in Überweisungsvorschlag: besonderer Weise die Niederlande erwähnen. Ein Verteidigungsausschuss (f) Gleichstellungsgesetz allein reicht jedoch nicht aus. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Folgende Punkte, die unsere besondere Aufmerksam- (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die keit brauchen, möchte ich Ihnen im Einzelnen vorstel- (D) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre len: Aufstiegsmöglichkeiten und Beförderungschancen keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. müssen für Männer und Frauen in der Bundeswehr glei- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- chermaßen vorhanden und attraktiv sein. Das hört sich gin Ursula Lietz, CDU/CSU-Fraktion. zwar banal an und sicherlich wird Ihnen jeder versi- chern, dass dies der Fall ist, aber es ist leider nicht so. (Beifall bei der CDU/CSU) Das werden Sie feststellen, wenn Sie mit Soldatinnen sprechen. Deshalb sollten in der Nachwuchsgewinnung Ursula Lietz (CDU/CSU): und in der Wehrdienstberatung verstärkt erfahrene Sol- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und datinnen eingesetzt werden. Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Teilzeitarbeit für Soldatinnen und Soldaten ist spe- 11. Januar 2000 hat der Europäische Gerichtshof in ziell während der Elternzeit oder der Pflege von Ange- seinem Grundsatzurteil die Bundesrepublik aufgefor- hörigen zu ermöglichen. Das ist möglich und wird in dert, alle Bereiche und Teilstreitkräfte der Bundeswehr anderen Ländern bereits so gehandhabt. Ich bin dem für Frauen grundsätzlich zu öffnen. Mit der Überarbei- Wehrbeauftragten, Herrn Dr. Penner, sehr dankbar dafür, tung unter anderem des Grundgesetzes haben wir in die- dass er in der Vergangenheit im Ausschuss immer wie- sem Hohen Hause die rechtlichen Grundlagen dafür ge- der bestätigt hat, dass dies möglich ist. schaffen und dem somit zugestimmt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Seitdem hat sich eine beachtliche Anzahl von jungen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Frauen für die Bundeswehr entschieden. Diese Soldatin- und der FDP und der Abg. Gisela Hilbrecht nen tun dort sehr selbstbewusst und sehr zielsicher ihren [SPD]) Dienst. Es ist eine gute Gelegenheit, ihnen an dieser Stelle dafür ganz herzlich zu danken. In Zukunft wird es eine steigende Zahl von Soldaten- ehen geben. Damit meine ich Ehen, in denen beide Ehe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie partner bei der Bundeswehr dienen. Dem ist unsererseits des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ mit einer entsprechenden Entwicklung der Bedingungen DIE GRÜNEN]) zugunsten einer familienfreundlichen Ausgestaltung des Um die Bedingungen für Frauen und Soldatenfami- Dienstes Rechnung zu tragen. Die Personalplanung der lien den neuen Gegebenheiten anzupassen, hat die Frak- Bundeswehr sollte hierbei die notwendige Flexibilität tion der CDU/CSU den Antrag mit dem Titel „Frauen zeigen. Dazu gehört selbstverständlich – es ist kaum zu 10154 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Ursula Lietz (A) glauben, aber derzeit ist das noch nicht selbstverständ- lichen – meist Soldatenfrauen – zurückgegriffen wird. (C) lich –, dass bei einer Inlandsverwendung beide Ehepart- Ich möchte in diesem Zusammenhang das wunderschöne ner möglichst am selben Standort eingesetzt werden. Projekt „Von Frau zu Frau“ in Coesfeld erwähnen, in Auch das gehört zur Familienfreundlichkeit. dem sich erfahrene Soldatenfrauen um Frauen kümmern, deren Männer zum ersten Mal im Ausland eingesetzt Wenn die Politik in allen Bereichen der Gesellschaft werden und die damit noch Probleme haben. für mehr Familienfreundlichkeit und damit für mehr Kinder plädiert, die wir uns alle für die Zukunft wün- Zur Familienfreundlichkeit gehört aber viel mehr als schen, dann muss das auch für die Bundeswehr gelten. das Angebot von Teilzeitarbeit und Kindergartenplätzen. Denn sie ist ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Wir möchten, dass sich qualifizierte junge Frauen wei- terhin für den Dienst in der Bundeswehr entscheiden. Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nehmen für uns Aufgaben wahr, die dem Frieden und der Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Freiheit der Bundesrepublik Deutschland dienen. Sie NEN]) verteidigen uns und unsere Verbündeten. Ich denke, für Dazu gehört auch, dass Eltern von Kleinkindern nicht diese Soldatenfamilien, Soldaten und Soldatinnen müs- gleichzeitig in Auslandseinsätze geschickt werden. Das sen wir unsere Hausaufgaben machen. ist derzeit nicht sicher. Dass Alleinerziehende mit klei- (Beifall bei der CDU/CSU) nen Kindern den Einsatz in anderen Ländern auf einen späteren Zeitpunkt verlegen können sollten, ist wohl Ich weiß, dass wir uns in diesem Bereich nicht in al- auch selbstverständlich. len Punkten mit anderen Nationen vergleichen können. Die USA oder andere befreundete Nationen haben wirk- Kinderbetreuung zu organisieren ist ebenfalls eine lich nachahmenswerte Modelle. Wir müssen uns dage- Aufgabe des Arbeitgebers Bundeswehr. Das muss nicht gen noch immer auf die Anforderungen weltweiter Ein- heißen, dass die Bundeswehr in jeder Kaserne eigene sätze einstellen, weil wir erst seit einigen Jahren über Kindergärten einrichtet. Aber zumindest die Koopera- entsprechende Erfahrungen verfügen. Finanzielle Inves- tion mit kommunalen Einrichtungen – deren Schließun- titionen sind auf jeden Fall notwendig. Aber sie werden gen zum Teil bereits diskutiert wird, weil es zu wenig sich in Grenzen halten und werden überschaubar sein. Kinder gibt – wie auch mit konfessionellen Einrichtun- Wer mehr Kinderfreundlichkeit in unserer Gesellschaft gen – ich bin mir sicher, dass sich die Kirchen sehr einfordert, sollte nicht nur entsprechende Sonntagsreden schnell für die Bundeswehr öffnen würden – mit einer halten, sondern auch konkret etwas dafür tun. bestimmten Anzahl von Plätzen für Bundeswehrkinder bei möglicherweise flexibleren Öffnungszeiten, die zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) verhandeln sind, ist kein unüberwindbares Problem. Lassen Sie mich noch ganz kurz ein Wort zu den Aus- (D) In dem Zusammenhang erwähne ich noch einmal die landseinsätzen und den Konsequenzen sagen, die für zügige und schon seit längerer Zeit angekündigte Ver- die Bundeswehr daraus zu ziehen sind. Die Bundeswehr kürzung der Einsatzdauer auf vier Monate. Ich wäre war früher eine reine Verteidigungsarmee. Sie alle wis- dankbar, wenn der Herr Verteidigungsminister diese An- sen, dass das nicht mehr der Fall ist. Heute ist sie zu ei- kündigung endlich in die Tat umsetzen würde. Aus ner weltweit einsatzfähigen Interventions- und Krisen- einem Papier geht hervor, dass dies im Rahmen der Ver- präventionsarmee geworden. Wir haben die weltweiten teidigungspolitischen Richtlinien vorgesehen ist. Diese Auslandseinsätze der Bundeswehr immer gemeinsam werden allerdings bis 2010 umgesetzt. So lange können beschlossen. – Herr Nachtwei, Sie schütteln den Kopf. unsere Familien nicht warten, denke ich. Auch ich wünsche mir ein Weißbuch, in dem die deut- schen Interessen im Hinblick auf Auslandseinsätze ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bisschen deutlicher formuliert sind. Das steht leider noch neten der FDP und des Abg. Winfried immer aus. Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Des Weiteren ist die Einrichtung von 31 Familienbe- GRÜNEN]: Ich bin dabei!) treuungszentren mit fünf hauptamtlichen Beschäftigten – darunter sollte immer eine Frau sein – angekündigt Nachdem wir gemeinsam beschlossen haben, unsere worden. 19 davon sind bis jetzt verwirklicht worden. Ich Soldatinnen und Soldaten in weltweite Auslandseinsätze hoffe sehr, dass mit der Reduzierung der Zahl der Solda- zu schicken, würde ich mich sehr freuen, wenn wir auch ten nicht auch die Zahl der Familienbetreuungszentren gemeinsam die Rahmenbedingungen verabschieden wür- reduziert wird. Denn deren Notwendigkeit richtet sich den. Es wäre gut, wenn wir alle hinter unseren Soldaten nach den Einsatzkonditionen im Ausland und nicht nach stehen. Damit meine ich nicht nur die bestmögliche tech- der Anzahl der Soldaten in der Bundeswehr. nische Ausrüstung, die eigentlich selbstverständlich sein sollte – hier gibt es ja gelegentlich Kritik –, sondern auch (Beifall bei der CDU/CSU) die sozialen Rahmenbedingungen. Es gibt Studien ei- Wir müssen insofern auch weiterhin darauf achten, dass nes Instituts der Bundeswehr, die klar besagen, dass es die Familienbetreuungszentren errichtet werden. entscheidenden Einfluss auf den Einsatz hat, wenn die Soldaten nicht wissen, ob ihre Familien gut versorgt sind. Ich möchte Sie alle sehr herzlich darum bitten, sich Wenn sie sorgenfrei, beruhigt und motiviert in den Ein- mit dafür einzusetzen, dass neben den hauptamtlichen satz gehen können, dann ist das für sie selber angeneh- Mitarbeitern auch auf die Erfahrung von Ehrenamt- mer und – das behaupte ich einmal – möglicherweise Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10155

Ursula Lietz (A) kostengünstiger, weil sie nicht aus der einen oder ande- wurf sich zurzeit in der Ressortabstimmung befindet, (C) ren Not heraus früher nach Hause fahren wollen und im zeigt dies eindrucksvoll. Wir werden den Gesetzentwurf Einsatz nicht falsch reagieren. – ich komme damit auf Ihre Frage zurück – noch in die- sem Jahr einbringen, damit das Gesetz 2005 in Kraft tre- Für mich ist wichtig, festzuhalten, dass Frauen in der ten kann. Bundeswehr die Chancen bekommen, die sie erwarten, und dass Soldatenfamilien genauso wie Alleinerzie- (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Noch sieben Mo- hende das Gefühl haben, dass sie uns am Herzen liegen, nate!) dass wir uns um sie kümmern. Dazu sollten wir alle be- reit sein. Dieses Ziel verfolgt der heute von der CDU/ Ihr Vorwurf, die Bundesregierung belasse es diesbezüg- CSU-Bundestagsfraktion eingebrachte Antrag. Die lich bei Ankündigungen, ist somit schlichtweg falsch. Schritte, mit denen wir dieses Ziel erreichen können, Das Soldatengleichstellungsgesetz wird unseren Sol- habe ich Ihnen aufgezeigt. Ich würde mich – ich wieder- datinnen und Soldaten einen gesetzlichen Anspruch an hole das ausdrücklich – über einen gemeinsamen Be- die Hand geben, den Angehörige im zivilen Bereich be- schluss betreffend diese Themen freuen. reits seit Jahren durch das Frauenfördergesetz und das Herzlichen Dank. Bundesgleichstellungsgesetz genießen. Die Integration von Frauen in die Bundeswehr wird somit weiter voran- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) getrieben werden. Besonders hervorheben möchte ich hierbei, dass im Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Gesetz künftig festgeschrieben sein wird, dass eine Das Wort hat die Kollegin Petra Heß, SPD-Fraktion. Unterrepräsentierung von Frauen dann vorliegt, wenn ihr Anteil in den einzelnen Streitkräften unter 15 Prozent Petra Heß (SPD): und im Sanitätsdienst unter 50 Prozent liegt. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lietz, es fehlt heute bei diesem wichtigen Thema Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: an Präsenz. Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Ina Lenke [FDP]: Ja, Minister fehlen! Nur die Staatssekretäre sind da und die reden noch Petra Heß (SPD): nicht einmal!) Nein. Sie ist aber nicht aus mangelndem Interesse, sondern (B) aufgrund der mangelnden Substanz Ihres Antrages dürf- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D) tig. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Stärkung Gut. und zur Förderung von Frauen und Familien in der Bun- deswehr entspricht im Wesentlichen den Anliegen und den Initiativen, die das Bundesministerium der Verteidi- Petra Heß (SPD): gung seit langem verfolgt und in vielen Bereichen be- Für die Praxis ist relevant, dass Bewerberinnen bei reits umgesetzt hat. Unsere Soldatinnen erfahren inner- gleicher Leistung, bei gleicher Eignung und bei gleicher halb der Bundeswehr nicht nur eine gute Aufnahme, Befähigung wie ihre männlichen Bewerber bevorzugt sondern auch eine sehr große Akzeptanz. Sie sind hoch eingestellt werden, wenn in ihrem Bereich nicht die er- qualifiziert und motiviert und zeichnen sich durch forderlichen 15 bzw. 50 Prozent erreicht werden. Engagement und Leistungsbereitschaft aus. Ich möchte Das Gleiche gilt für den beruflichen Aufstieg von in diesem Zusammenhang ein ganz praktisches Beispiel Soldatinnen und Soldaten. Ist auch hier die entspre- nennen. Die Jahrgangsbesten der Marineschule Mürwik chende Quote nicht erreicht, werden Soldatinnen gegen- waren im vorletzten und im letzten Jahr Frauen. über ihren männlichen Kameraden bei gleicher Qualifi- (Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP]) kation bevorzugt. Das Gleichstellungsgesetz schafft künftig auch die Möglichkeit zur Teilzeitbeschäftigung Wie mir in vielen Gesprächen versichert wurde, hat von Soldatinnen und Soldaten mit Familienpflichten. sich mit dem Eintritt von Frauen in die Bundeswehr ge- Damit wird ein Meilenstein für die Durchsetzung der rade die Motivation ihrer männlichen Kameraden er- Gleichstellung und die Verbesserung der Vereinbarkeit höht, die durch die sehr guten Leistungen der Soldatin- von Familie und Dienst in den Streitkräften erreicht. nen angespornt werden, es ihnen gleichzutun. Auch der bekanntermaßen manchmal etwas raue Umgangston in- (Ina Lenke [FDP]: Das wird auch Zeit!) nerhalb der Bundeswehr hat sich seit der Öffnung für Betrachtet man diese und weitere Regelungen im ge- Frauen sehr zum Positiven gewendet. Natürlich gibt es planten Gesetz, lässt sich feststellen, dass mit diesem wie im zivilen Bereich auch in der Bundeswehr noch Be- Gesetzentwurf die Gleichstellung von Frauen und Män- darf, die Integration von Frauen weiter zu verbessern. nern in der Bundeswehr konsequent vorangetrieben Daran arbeiten wir. wird. (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Wie lange noch?) Wie ernst der CDU/CSU die Forderungen in ihrem Das geplante Gesetz zur Durchsetzung der Gleich- Antrag wirklich sind, kann sie dieses Jahr unter Beweis stellung für Soldatinnen und Soldaten, dessen Ent- stellen, indem sie zusammen mit der Regierungskoalition 10156 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Petra Heß (A) das Gesetz zur Durchsetzung der Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten zuzumuten ist und wie die (C) Soldatinnen und Soldaten verabschiedet. Ausgestaltung im Einzelnen aussehen könnte. Der Be- darf wird derzeit abgefragt. Wenn ich eines nicht will (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Erstmal se- – ich glaube, das wollen auch Sie nicht –, dann das, dass hen, was drinsteht!) es zukünftig eine Kasernierung von Kindern in Bundes- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wehrstandorten gibt. hinsichtlich der Forderung in Ihrem Antrag, künftig (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Das habe ich aus- mehr Soldatinnen in den Nachwuchsgewinnungszen- tren und mehr Frauen als Wehrdienstberaterinnen ein- drücklich gesagt!) zusetzen, kann ich Ihnen sagen, dass diese Entwicklung Es wird deshalb keine Lex Bundeswehr geben. An bereits eingesetzt hat – für mich ist das ein ganz natürli- dieser Stelle ist nach wie vor eine enge Zusammenarbeit cher Prozess – und sich in Zukunft noch verstärken wird. mit den Kommunen gefordert und gefragt. Die Bundes- (Ina Lenke [FDP]: Wir merken aber bisher regierung hat ihrerseits gehandelt und ein Milliardenpro- noch nichts!) gramm für die Kommunen aufgelegt, welches eine Ganztagsbetreuung in Kindertagesstätten und Schulen – Sie müssten vielleicht einmal in die Nachwuchsgewin- künftig erleichtern und in einigen Regionen ermöglichen nungszentren oder in die Wehrdienstberatungszentren wird. gehen. Jedem Kommunalpolitiker ist klar, dass die Bereit- (Ina Lenke [FDP]: Oh, da war ich auch!) stellung von Kindertagesstättenplätzen die Attraktivität Seit nunmehr 1991 verrichten Frauen ihren Dienst in eines Bundeswehrstandortes erhöht. An dieser Stelle der Bundeswehr. Wir sind froh darüber, dass sich immer könnte man eine ganze Anzahl positiver Beispiele, ins- mehr Frauen für den Dienst in der Bundeswehr entschei- besondere aus den neuen Bundesländern, anführen. Aber den. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Anteil der auch Kooperationen an großen Bundeswehrstandorten Frauen an der Gesamtgröße der Bundeswehr zurzeit bei haben sich bewährt. gerade einmal 5 Prozent liegt. Es bleibt festzustellen: Ganztagsbetreuung, Kinderta- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Da bin gesstätten sind und bleiben Ländersache. Der Bund kann ich mal gespannt, wann Sie da auf 15 Prozent und wird die Betreuungsreform auch künftig begleiten kommen!) und unterstützen. Es ist momentan also gar nicht so leicht, eine entspre- Wie überholt der Antrag der CDU/CSU zur Stärkung chend hohe Anzahl erfahrener Soldatinnen für diese und Förderung von Frauen und Familien in der Bundes- (B) (D) Dienstposten zu finden. Aber ich bin mir sicher, dass wehr ist, zeigt sich einmal mehr an der Forderung nach sich dies in den nächsten Jahren wirklich sichtbar verän- Einrichtung von 31 Familienbetreuungszentren. Wer dern wird. sich wirklich ernsthaft mit der Materie befasst, weiß, dass es diese Familienbetreuungszentren bereits gibt, Die Bundeswehr hat im Übrigen ein ureigenes Inte- resse daran, Soldatinnen im Bereich der Nachwuchsge- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Die winnung einzusetzen, Hälfte davon!) (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Dann tun Sie etwas einige mitunter seit zwei Jahren. Einige arbeiten im Mo- dafür!) ment noch ehrenamtlich. Bis zum Jahresende sollen diese 31 Familienbetreuungszentren aber mit hauptamt- um gerade weiblichen Interessenten den Einstieg in die lichem Personal besetzt werden. Bundeswehr zu erleichtern. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Was (Ina Lenke [FDP]: Das können die doch gar sagt der Eichel dazu?) nicht, wenn die bei der Nachwuchsgewinnung die Männer vor der Nase haben!) Zurzeit wird der STAN erstellt, der dazu erforderlich ist. Ich bin mir sicher, dass wir am 31. Dezember ein sehr – Da stimme ich Ihnen zu. gutes Resümee werden ziehen können. Unser gemeinsa- Probleme gibt es, wenn Alleinerziehende mit kleinen mes Ziel sollte hierbei sein, dass in jedem der Familien- Kindern in den Einsatz sollen. Ich denke, dem kommt betreuungszentren ein Dienstposten durch eine Frau zu man mit der momentan gängigen Praxis entgegen, Al- besetzen ist. leinerziehende auf Wunsch von Auslandseinsätzen frei- Davon, welch hervorragende Arbeit in den Familien- zustellen. betreuungszentren geleistet wird, konnte ich mich bei (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Das stimmt nicht, mehreren Besuchen vor Ort – wie Sie offensichtlich Frau Heß!) auch – überzeugen. Wir hatten zum Beispiel vor einigen Monaten Angehörige von im Ausland stationierten Sol- – Das haben Nachfragen ergeben. daten und Soldatinnen als Gäste im Kanzleramt bzw. im Ihre Forderungen zu den Maßnahmen für spezielle Bundestag. Diese Angehörigen haben uns bestätigt, dass Kinderbetreuungsangebote sind meines Erachtens sehr die Familienbetreuungszentren wirklich eine ausgespro- unspezifisch. Gerade hier gibt es sehr unterschiedliche chen gute Arbeit leisten. Ich möchte die Gelegenheit Auffassungen darüber, was gut für Kinder ist, was den nutzen, mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10157

Petra Heß (A) die dort ihren Dienst tun, vor allem bei den ehrenamtli- sere jetzigen Auslandseinsätze in diesem Umfang nicht (C) chen Mitarbeiterinnen, die oftmals Soldatenfrauen sind fortgeführt werden. – Sie haben es vorhin schon erwähnt –, ganz herzlich zu (Ina Lenke [FDP]: Sie haben sich doch bis bedanken; denn sie leisten dort eine ausgezeichnete und zum Schluss dagegen gewehrt, dass Frauen in fachlich sehr qualifizierte Arbeit. die Bundeswehr gehen können!) (Beifall im ganzen Hause) Ganz abgesehen davon sind es gerade unsere Wehr- Die Forderung in Ihrem Antrag nach geeigneten Maß- pflichtigen gewesen, die bei den Hochwasserkatastro- nahmen zur Förderung der Akzeptanz von Soldatinnen phen in den letzten Jahren Großartiges geleistet haben. und Soldaten mit Kindern ist zu unspezifisch (Beifall bei der SPD) (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Besser als gar Ich bitte daher alle Kolleginnen und Kollegen in diesem keine Konzeption!) Hause, dies auch in der aktuellen Debatte über die Wehr- und wirkt ein bisschen konzeptionslos. pflicht zu bedenken. Die intensive Beschäftigung mit dem Antrag der (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Nein! – Annette CDU/CSU-Fraktion bestätigte leider den Eindruck, der Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wo denn?) sich mir schon bei der ersten Lektüre aufdrängte. Daher Die Berücksichtigung von so genannten Soldaten- lautet mein Fazit: Hier wurde ein Antrag hervorgekramt, ehen erfolgt in der Bundeswehr bereits weitestgehend. (Ina Lenke [FDP]: Ach!) Es ist gängige Praxis, dass Verheiratete ihren Dienst ge- meinsam an einem Standort leisten können bzw. eine der bereits seit Monaten, vielleicht schon seit Jahren in entsprechende Versetzung erfolgt, wenn es der Wunsch irgendeiner Schublade schlummerte; denn viele Feststel- beider ist. lungen und Forderungen sind inzwischen wirklich über- holt. (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Ende dieses Jah- res!) (Widerspruch bei der CDU/CSU) Des Weiteren ist die Forderung nach einem Bericht Dabei ist das Thema von einer enormen Bedeutung, die über den Stand der Integration der Soldatinnen in der keineswegs unterschätzt werden darf. Ich komme nicht Bundeswehr nicht mehr aktuell. Das Sozialwissenschaft- umhin, festzustellen, liche Institut der Bundeswehr – Sie wissen das – hat be- (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Dass Sie selber reits einen Auftrag vom Bundesverteidigungsministe- nichts getan haben!) (B) rium erhalten. (D) dass der Antrag der Union dieser Bedeutung nicht ge- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das recht wird. kriegen wir auch bis Dezember!) (Ina Lenke [FDP]: Nichts vorlegen, aber hier Die entsprechenden Fragebögen sind entworfen worden. kritisieren, dass die Union etwas vorlegt! Das Sie werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt versandt. ist wohl das Allerletzte!) (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Ein Auftrag an das Erlauben Sie mir am Ende eine ganz persönliche Be- Institut hilft den Frauen noch nicht!) merkung. Ich finde es insgesamt äußerst bedauerlich, dass ein so brandaktuelles Thema dermaßen altbacken Diese Befragung findet also zurzeit statt. aufgearbeitet wurde. Mit der Verkürzung der Einsatzdauer von sechs auf (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen vier Monate ist das Verteidigungsministerium den Be- denn die Rede geschrieben?) dürfnissen der Soldatinnen und Soldaten entgegenge- kommen. Eine Erörterung der im Antrag enthaltenen Vorschläge als Denkanstöße halte ich somit für nicht erforderlich. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Na endlich! Eine alte Forderung der FDP!) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD – Christian Schmidt Dementsprechend gut wird diese Änderung von der [Fürth] [CDU/CSU]: Diese Rede muss ein Truppe angenommen. Diese Änderung erfolgt noch Mann geschrieben haben!) nicht überall, denn sie wird schrittweise umgesetzt.

Die kürzeren Stehzeiten – das können Sie sicherlich Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nachvollziehen – bedeuten aber eine enorme Kraftan- Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion. strengung für die Bundeswehr. Gerade auch für unsere einheimischen Truppen, die die Einsätze vorbereiten, ist (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nun nicht wieder he- das eine enorme Kraftanstrengung. Ein großer Rückhalt rumgranteln, Frau Lenke!) sind hierbei unsere Wehrpflichtigen, die nach ihrer Ausbildung in großem Umfang für eben diese Einsatz- Ina Lenke (FDP): vorbereitung eingesetzt werden. Würde die Bundeswehr Liebe Kollegin, ich schätze Sie wirklich sehr, aber nicht über dieses große Potenzial verfügen, könnten un- bitte kritisieren Sie nicht andere Anträge, wenn Sie 10158 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Ina Lenke (A) einerseits zugestehen, dass das Thema brandaktuell ist, eigentlich sein sollten. Und siehe da: Schon steht ein (C) aber andererseits dazu noch nichts vorgelegt haben. In Gleichstellungsgesetz vor der Tür. Aus Sicht der FDP diesem Punkt möchte ich die CDU/CSU jetzt einmal in will ich Ihnen sagen: Quoten werden weder der besonde- Schutz nehmen. ren Situation der Bundeswehr noch den Interessen der Soldatinnen gerecht. Unsere Soldatinnen – auch ich habe (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – diesbezüglich persönliche Gespräche geführt – wollen Dr. Uwe Küster [SPD]: Bleiben Sie einmal nach dem Grundsatz von Eignung, Befähigung und Leis- ganz ruhig!) tung behandelt werden. Meine Damen und Herren, ich begrüße die Initiative (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU-Fraktion zur Stärkung und Förderung von Frauen und Familien in der Bundeswehr; denn der Sie wollen nicht bevorzugt werden. Sie wollen nur, dass Antrag – das wissen Sie – greift nicht nur Diagnosen aus spezielle Situationen, zum Beispiel der Fall, dass sie dem aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten auf, son- Kinder haben, berücksichtigt werden. dern vor allem auch Ergebnisse aus der Kleinen Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion zur Situation von Frauen in Die FDP – das kündige ich hier schon an – wird in ei- der Bundeswehr. nem eigenen Antrag aufzeigen, wie wir uns vorstellen, dass Soldatinnen und auch Soldaten in der Bundeswehr, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Familienarbeit übernehmen, unterstützt werden. Wir der CDU/CSU) wollen, dass die Bundeswehr für Frauen ein attraktiver Arbeitgeber wird. Das ist sie bis heute nicht. In einigen Die Antworten der Bundesregierung auf unsere An- wenigen Jahren – das wissen wir beide, Herr Nachtwei, frage zeigen, dass es die gläsernen Decken, liebe Kolle- der Sie als einziger Grüner hier sitzen – wird die Bun- ginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen, deswehr nämlich eine Berufsarmee sein, die mit Wirt- für Frauen beim beruflichen Aufstieg auch in der Bun- schaft und öffentlichem Dienst um Arbeitskräfte konkur- deswehr gibt. Erinnern Sie sich: Seit 1975 werden rieren muss. Die FDP im Deutschen Bundestag hat mit Frauen als Ärztinnen, Zahnärztinnen, Apothekerinnen als erste Partei Soldatinnen in der Truppe gefordert. und Veterinärinnen eingestellt. In der Laufbahn der Offi- ziere des Sanitätsdienstes gibt es aber, obwohl sie seit (Günther Friedrich Nolting [FDP]: 1987!) 1975 für Frauen geöffnet ist, nur fünf Soldatinnen mit der Besoldungsstufe A16 und höher, dagegen gibt es Gerade haben Sie, liebe Kollegin von der SPD, ge- 245 männliche Soldaten in den Besoldungsstufen A16 sagt, was Sie alles Tolles machen wollen. Denken Sie und höher. einmal an die früheren Diskussionen: Die SPD hat sich bis zum Schluss dagegen gewehrt, dass Frauen als Sol- (B) Derzeit sieht es nicht so aus, als würde sich dieser Zu- datinnen in der Bundeswehr zugelassen werden. Erst als (D) stand ändern: Im Bereich der Nachwuchsgewinnung und es das Urteil vom Europäischen Gerichtshof gab, haben der Ansprache junger Menschen für die Bundeswehr Sie sich bequemt, etwas zu machen. – das ist vonseiten der CDU/CSU ja auch zum Ausdruck gekommen – spielen Frauen nämlich keine Rolle. Ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fordere die Bundesregierung auf – hier sitzt ja auch der der CDU/CSU) Staatssekretär –, umgehend eine Lösung für dieses Pro- Es steht also fest: Liberale waren wieder einmal an der blem zu finden. Ich weiß, dass es lange dauert, bevor Spitze der Bewegung. man im Rahmen der Nachwuchsgewinnung vor jungen Leuten sprechen darf, aber es gibt sicherlich eine Mög- Zur Bundesregierung sage ich Folgendes: Sie muss lichkeit, Frauen schneller zu qualifizieren und sie im noch stark daran arbeiten, dass endlich etwas für Frauen Rahmen der Nachwuchsgewinnung einzusetzen. in der Bundeswehr geschieht und ihnen gemäß ihrer Eig- nung, Befähigung und Leistung Aufstiegsmöglichkeiten (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto in der Bundeswehr eröffnet werden. Liebe Kolleginnen Solms) und Kollegen von der SPD und den Grünen, tun Sie et- Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf was und warten Sie nicht auf die Bundesregierung, die gewinnen für Soldatinnen und Soldaten immer grö- sich dafür seit Monaten und Jahren Zeit lässt. ßere Bedeutung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das sage nicht ich, sondern das hat der Wehrbeauf- der CDU/CSU) tragte des Deutschen Bundestages gesagt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Rede der Kollegin Marianne Tritz vom Bündnis 90/ Er sagt weiter, die Truppe warte auf strukturelle Verbes- Die Grünen soll zu Protokoll gegeben werden.1) – Gut, serungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Lei- wir nehmen sie zu Protokoll. der muss er dazu feststellen, dass der Bundesverteidi- Ich schließe damit die Aussprache. gungsminister konkrete Konsequenzen aus den herrschenden Missständen nicht gezogen hat. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3049 an die in der Tagesordnung aufge- Meine Kolleginnen und Kollegen, selbst die Bundes- regierung hat mittlerweile bemerkt, dass die Karrierechan- cen von Frauen in der Truppe nicht so gut sind, wie sie 1) Anlage 5 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10159

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Amt, und Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion.1) Eine (C) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Aussprache findet also nicht statt. so beschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 19 a bis den Drucksachen 15/2975 und 15/2746 an die in der Ta- 19 c: gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin sind die Überweisungen so beschlossen. Kortmann, Rudolf Bindig, Lothar Binding (Hei- delberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Hans-Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), auf Drucksache 15/2706 zu dem Antrag der Fraktion der weiterer Abgeordneter und der Fraktion des CDU/CSU mit dem Titel „Nach der Neuwahl in Argenti- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nien: Entwicklungszusammenarbeit mit Argentinien und Uruguay zielgerichtet fortführen“. Der Ausschuss emp- Unterstützung der neuen Regierung Boliviens fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1015 abzulehnen. bei der demokratischen Stabilisierung des Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- Landes stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung – Drucksache 15/2975 – ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Überweisungsvorschlag: Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Innenausschuss Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski (Reck- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe linghausen), Günter Nooke, weiterer Abgeordne- Haushaltsausschuss ter und der Fraktion der CDU/CSU b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Das gemeinsame historische Erbe für die Zu- Weiß (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, kunft bewahren Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und – Drucksache 15/2819 – der Fraktion der CDU/CSU Überweisungsvorschlag: Chance zum demokratischen Neubeginn in Ausschuss für Kultur und Medien (f) Haiti unterstützen Auswärtiger Ausschuss (B) Innenausschuss (D) – Drucksache 15/2746 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Entwicklung (f) gierung Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Bericht der Bundesregierung über die Maß- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nahmen zur Förderung der Kulturarbeit ge- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- mäß § 96 Bundesvertriebenengesetz in den richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Jahren 2001 und 2002 sammenarbeit und Entwicklung (18. Ausschuss) – Drucksache 15/2967 – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß Überweisungsvorschlag: (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf Ausschuss für Kultur und Medien (f) Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Frak- Innenausschuss tion der CDU/CSU Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und Nach der Neuwahl in Argentinien: Entwick- Technikfolgenabschätzung lungszusammenarbeit mit Argentinien und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Uruguay zielgerichtet fortführen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre – Drucksachen 15/1015, 15/2706 – keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Berichterstattung: Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Abgeordnete Dr. Sascha Raabe ner dem Kollegen Erwin Marschewski von der CDU/ Peter Weiß (Emmendingen) CSU-Fraktion das Wort. Hans-Christian Ströbele Markus Löning Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re- Herren! Eine eigenartige Furcht geht offenbar bei Rot- Grün um: die Furcht vor den Landsmannschaften der den der Kolleginnen und Kollegen Karin Kortmann von der SPD-Fraktion, Peter Weiß von der CDU/CSU-Frak- tion, Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen 1) Anlage 6 10160 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) Vertriebenen und der Flüchtlinge, vor denen aus Ost- Kulturerbe im Bewusstsein gehalten haben. Das ist nicht (C) preußen, Schlesien, dem Sudetenland, Pommern oder richtig. anderswo. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Horst Kubatschka [SPD]: Das ist bloß in Ihrer Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) Fantasie!) Die Vertriebenen haben in ihrer Stuttgarter Erklärung – Die Reaktion zeigt es ja. – Was ich bei Ihnen sehe, ist auf Rache und Vergeltung verzichtet. Deswegen sage ich keine feine Dosierung. Es ist Unverständnis, zumindest Ihnen – ich muss es jetzt etwas härter ausdrücken –: Ihr Skepsis, im Ergebnis Ablehnung. so genanntes Erforschungspräsentationskonzept ist eine Demontage des Wirkens von 2 Millionen Flüchtlingen, Dabei ist doch das Recht auf die Heimat ein Men- Vertriebenen, Spätaussiedlern und deren 21 Landsmann- schenrecht. schaften innerhalb des Bundes der Vertriebenen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Horst Kubatschka [SPD]: Das findet nur in Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) Ihrer Fantasie statt!) Dabei sind und bleiben Vertreibungen großes Unrecht. – Herr Kollege, alle 21 Vertriebenenverbände – ich war Dabei ist kulturelle Besinnung, ist Austausch Verständi- in Oberschlesien und Schlesien – bestätigen mir das. Sie gungspolitik im umfassenden Sinne, weil Austausch erheben den Vorwurf, dass der Bundeskanzler, wenn er und Verständigung historische Vergewisserung verlan- nach Schlesien kommt, lieber in die Kneipe nach ne- gen und eben nicht Verdrängung, meine Damen und benan geht, anstatt mit den Menschen dort zu sprechen. Herren. Das ist das Problem. Wenn dies nun richtig ist, warum dann die Ablehnung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/ der Bundesregierung gegenüber denjenigen, die für dies CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Sie gehen alles stehen, eben die Vertriebenen, die Flüchtlinge und wohl nie in die Kneipe!) deren Verbände, die seit der Vertreibung an die jahrhun- dertealte Kultur und Geschichte erinnern, die – ich war Wir müssen uns der Menschen annehmen, wie es zum im Französischen Dom selbst dabei – Kants „Kritik der Beispiel der polnische Staatspräsident in Litauen oder reinen Vernunft“ oder „Kritik der Urteilskraft“ wieder anderswo tut. Das wäre richtig. aktuell machen oder die bei Hauptmanns „Weber“ oder Eichendorffs „Oh Täler weit, oh Höhen“ ihre Heimat (Beifall des Abg. Christian Schmidt [Fürth] Schlesien nicht vergessen? Warum diese Ablehnung, [CDU/CSU]) warum diese Negierung? Sie haben viel gekürzt im Bereich der Kulturreferen- (B) (D) (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Eine ten, im Bereich der institutionellen Förderung und im gute Frage!) Bereich der grenzüberschreitenden Arbeit, was für mich das Maß übervoll macht. Auch die Erinnerungen an Le- Nur ein Zitat aus der „Konzeption zur Erforschung bens- und Herkunftsstätten großer Deutscher aus Kunst, und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im Literatur und Wissenschaft aus den früheren ostdeut- östlichen Europa“ der Bundesregierung, die alles zum schen Regionen werden kaum noch gefördert. Neben Nachteil der Vertriebenen und Flüchtlinge verändert hat: den bereits genannten Kant und Hauptmann denke ich an In dem Bericht heißt es – hören Sie gut zu –, der Kultur- die Ostpreußen Herder, E. T. A. Hoffmann, Ernst austausch und die Aufarbeitung der Siedlungs- und Kul- Wichert, Lovis Corinth, Käthe Kollwitz, um nur ein paar turgeschichte dürfe nicht „Domäne einzelner Interessen- Künstler aus der Heimat meiner Eltern zu nennen, wo gruppen der Vertriebenenverbände sein“. Schon die doch gerade die Erinnerung, das Gedächtnis und das ak- Wortwahl stößt bei mir auf Ablehnung. tuelle Sich-Auseinander-Setzen mit diesen großen Deut- schen Bewusstsein schafft, auch Verbindung in neuer (Horst Kubatschka [SPD]: Bei Ihnen! – Peter politisch-europäischer Beziehung. Dreßen [SPD]: Was ist daran so schlimm?) So nicht, meine Damen und Herren von Rot-Grün! – Ich komme aus dem Bereich des Sports. Ich muss Sie Sie werden es nicht schaffen, die Vertriebenen und die fragen: Würden Sie einen Sportverein oder eine Sportbe- Jahrhunderte alte deutsche Kultur in Ost- und Südosteu- wegung genauso gängeln? So darf man nicht mit den ropa in die Museen zu verbannen. Vertriebenenkultur- Menschen umgehen, die in diesem Bereich jahrzehnte- arbeit bedeutet eben nicht bloße Erinnerungsarbeit. Sie lang segensreich gewirkt haben. ist vielmehr aktuelle Suche nach den Wurzeln und Kon- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tinuitäten unserer Nationalgeschichte. Darüber hinaus ist sie gesetzliche Verpflichtung. § 96 des Bundesvertriebe- Erst recht auf Ablehnung stößt die Folgerung, näm- nengesetzes besagt dies ausdrücklich. Ich hoffe, dass Sie lich der Versuch von Rot-Grün, den Einfluss der Vertrie- zumindest lesen können. benenverbände auf die bundesgeförderte Kulturarbeit weitgehend auszuschalten und somit die Autonomie zu (Dr. Uwe Küster [SPD]: Aber Herr beeinträchtigen. Meine Damen und Herren von der SPD, Marschewski!) alle Landsmannschaften, aber auch die Menschen in den – Hören Sie zu und machen Sie nicht so unqualifizierte ehemals deutschen Gebieten haben mir dies gesagt. Ich Zwischenrufe, lieber Herr Kollege. meine, was Sie machen, ist falsch; denn Sie verzichten auf den Sachverstand derer, die sehr lange das deutsche (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10161

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) Ich zitiere aus § 96: Das Wort hat die Staatsministerin Christina Weiss. (C) ... das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu kanzler: erhalten ... Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- desregierung legt den Bericht über die Maßnahmen zur (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das müssen Sie mir Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertrie- nicht erzählen!) benengesetz zu einem Zeitpunkt vor, der gerade für die – Dann müssen Sie sich danach richten und daraus die hiervon angesprochenen Menschen und Regionen von Konsequenzen ziehen. Vielleicht tun Sie es persönlich. historischer Bedeutung ist. Unsere ostmitteleuropäi- Aber die Bundesregierung tut es nicht. Sie wissen, das schen Nachbarn kehren nach Europa zurück, das sie ist hochrangiges Recht. Sie wissen, Herr Kollege – ihrem eigenen Selbstverständnis nach – nie verlassen Dr. Küster, dass es Inhalt des Einigungsvertrages ist. haben. Sie entdecken es neu und sie entdecken es für uns Deswegen entspricht es nicht dem Wesensgehalt dieser neu. Nach und nach erkennen wir wieder, was uns einst Vorschrift, die Förderung um 40 Prozent auf nur noch verbunden hat. Wenn wir uns bewusst machen und wenn 15 Millionen Euro weitgehend zusammenzustreichen, wir bereit sind, sowohl die vergessenen Schätze als auch was Sie leider tun. die verbrannten Trümmer zu heben, dann werden wir die Frage beantworten können, wo Europa aufhört, nämlich Dies wollen wir ändern. Deswegen haben wir eine dort, wo die Grenzen unserer gemeinsamen geschichtli- neue Konzeption unterbreitet. Wir wollen die Erhaltung chen Erfahrung verlaufen. und Weiterentwicklung ostdeutscher Kultur. Wir wollen die Heimatvertriebenen mit einbeziehen und wir wollen (Beifall bei der SPD) vor allem weg vom rot-grünen Zentralismus wieder hin Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag zur dezentralen Förderung. im Jahr 2000 die Konzeption zur Erforschung und Prä- (Beifall bei der CDU/CSU) sentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa zugeleitet. Damit wurde die Grundlage geschaf- Ich verspreche schon jetzt den Vertriebenen und fen, deutsche Kulturtraditionen im östlichen Europa zu Flüchtlingen, dass wir, wenn wir dann in zwei Jahren die bewahren und auch zu pflegen. Wir haben natürlich ein Regierung übernehmen, die Politik der rot-grünen Bun- großes Interesse daran, die vielfältige Kulturarbeit in desregierung umkehren und sie wieder vom Kopfe auf erster Linie zu professionalisieren und effizienter zu ge- die Füße stellen. stalten. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD) neten der FDP – Zuruf des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) Zudem soll sie nicht im Verborgenen geschehen. Sie braucht eine breite Öffentlichkeit und sie muss diese – Sie haben wirklich überhaupt keine Kenntnis; deswe- breite Öffentlichkeit erreichen. Dabei wird von einem gen, Herr Kollege Küster, mein Einwand gegen diesen aufrichtigen Geschichts- und Kulturverständnis ausge- hochqualifizierten Zuruf Ihres Kollegen. gangen, das weder die historischen Belastungen aus- (Horst Kubatschka [SPD]: Sie sind noch nicht klammert noch die unterschiedlichen nationalen und re- einmal ein Flüchtling!) gionalen Traditionen vernachlässigt. Kulturelles Schaffen und dessen Teilhabe sind zutiefst Die Neukonzeption hat im Berichtszeitraum zu er- Handeln in Freiheit, die es zu beachten gilt, was mir bei freulichen Ergebnissen geführt. Vertriebenen und Flüchtlingen besonders leicht fällt; (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ denn sie sind Brücken und Botschafter für Aussöhnung CSU]: Das sehen Sie aber allein so! Keiner der und Verständigung. Nicht zuletzt meine gerade ange- Vertriebenen sieht das so!) sprochene Reise nach Schlesien und Oberschlesien hat mir dies noch einmal in aller Breite deutlich gemacht. – Das hörte sich etwas anders an. – Zunächst einmal konnte im Berichtszeitraum das finanzielle Niveau ge- Herzlichen Dank. halten werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- diesen Zeiten. Mein Haus hat es zudem ermöglicht, dass neten der FDP – Christian Schmidt [Fürth] sich einige Einrichtungen zu wirklich renommierten wis- [CDU/CSU]: Endlich einmal eine deutliche senschaftlichen Institutionen entwickeln konnten. Sprache!) (Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich denke etwa an die früheren Kulturwerke, die nun als Institute für Kultur und Geschichte der Deutschen in Die Kollegin Antje Vollmer vom Bündnis 90/Die Nordosteuropa, in Lüneburg, und in Südosteuropa, in Grünen hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Deswegen München, als universitäre An-Institute mit einer wirk- ändere ich jetzt entsprechend die Reihenfolge. lich wichtigen Multiplikatorenfunktion wirken können. Sie folgen damit dem Vorbild des Oldenburger Bundes- 1) Anlage 7 instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im 10162 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) östlichen Europa, das in Kooperation mit der Universität Um ihre Zukunft in Vielfalt geeint zu gestalten, müs- (C) Oldenburg von Anfang an den grenzübergreifenden wis- sen sich die Völker Europas ihrer Geschichte erinnern, senschaftlichen Dialog zur Grundlage seiner Arbeit ge- der gemeinsamen und der trennenden. Deshalb bin ich macht hat. sehr froh darüber, dass die Kulturminister aus sechs Län- dern noch vor der EU-Erweiterung damit begonnen ha- Die von uns geförderten Stiftungslehrstühle für Ge- ben, ein europäisches Netzwerk für Zwangsmigration schichte an den Universitäten Stuttgart und Erfurt sowie und Vertreibung zu knüpfen. Es gibt in allen Völkern für Kunstgeschichte in Leipzig haben sich inzwischen Europas vielfältige Varianten des Leidens. Dieses Netz- etabliert. Vor zwei Jahren konnte zudem im Rahmen der werk soll die vielen Geschichtswerkstätten, Museen, Ar- internationalen Kooperation in Olmütz, in Tschechien, chive und Denkmäler in ganz Europa miteinander ver- ein Stiftungslehrstuhl für deutsch-mährische Literaturge- binden. Wir wollen auf interessengeleitete Aktionen mit schichte entstehen. Außerdem wurde in diesen Tagen ein einer aufrichtigen europäischen Initiative antworten und vergleichbares Vorhaben an der Universität Klausenburg damit verdeutlichen, dass es nicht reicht, das nationale in Rumänien aus der Taufe gehoben. Gedenken zu organisieren, sondern dass wir die europäi- Ich will nicht unerwähnt lassen, dass die Museen zu sche Forschung zu diesem Thema voranbringen müssen. den historischen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten Wir behandeln heute auch den Antrag der CDU/CSU- eine ganz hervorragende Arbeit leisten, wenn es darum Fraktion „Das gemeinsame historisches Erbe … bewah- geht, das Bewusstsein für das kulturelle Erbe wach zu ren“. Wenn Sie meine Ausführungen und den Bericht zur halten. Besonders bemerkenswert ist in dieser Hinsicht, Kenntnis nehmen, dann sehen Sie, meine Damen und dass es mit der deutschen Einheit gelungen ist, zusätzli- Herren von der CDU/CSU, dass Ihr Antrag einer kon- che Einrichtungen in den neuen Bundesländern zu eröff- struktiven Grundlage entbehrt. nen. Die Bundesregierung nimmt ihre Verpflichtungen (Beifall bei der SPD) sehr ernst. Die Kooperation mit Partnerinstitutionen in Ost- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mitteleuropa ist mittlerweile für alle Museen zur Selbst- DIE GRÜNEN) verständlichkeit geworden. Sie funktioniert sehr gut und Mit ihrer konzeptionellen Arbeit sichert sie den Erfolg ist dort anerkannt. Auch die Arbeit der Kulturreferenten für eine Modernisierung und für eine Zukunftsorientie- in den Landesmuseen hat sich bewährt. Sie gestalten Be- rung im Geist der europäischen Verständigung. Sie wird gleitprogramme zu den Aktivitäten der jeweiligen Mu- dies auch künftig tun. seen und entwickeln eigene Initiativen speziell zur kultu- (B) rellen Breitenarbeit. Zur Verbreitung von Kenntnissen Ich danke Ihnen. (D) über deutsche Kultur und Geschichte im östlichen (Beifall bei der SPD – Peter Dreßen [SPD]: Europa soll auch das Deutsche Kulturforum östliches Sehen Sie, Herr Marschewski, so kann man zu Europa mit Sitz in Potsdam beitragen, das seit 2002 in- dem Thema reden!) stitutionell vom Bund gefördert wird und sich bislang durch große Aktivitäten – Vorträge, Tagungen, Ausstel- lungen und Publikationen – hervortat. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Otto Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen wir, was von der FDP-Fraktion. für den Erhalt von Kulturdenkmälern getan wird, die von deutscher Kultur und Geschichte im östlichen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Europa zeugen. Hier zeichnet sich eine sehr gute, enge Kooperation mit den örtlichen Institutionen der Denk- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): malpflege ab, die wir finanziell unterstützen, deren Un- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist terstützung wir aber auch brauchen. doch immer wieder eine Freude, unserer Staatsministerin zuzuhören. Ich bin fest davon überzeugt, dass die neue Konzep- tion zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Geschichte im östlichen Europa einen wesentlichen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Beitrag zur Verständigung zwischen Deutschland und Sie versteht es in vorbildlicher Weise, schwierige, trau- seinen östlichen Nachbarn leistet. rige Sachverhalte mit glänzenden Worten zu ummänteln. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich möchte Ihnen ausdrücklich zubilligen, dass es schön DIE GRÜNEN) ist, Ihnen zuzuhören; mit der Wirklichkeit hat das aber leider nicht immer viel zu tun. Wir wissen alle, dass das wichtig, notwendig und funda- (Zuruf von der SPD: Vorsicht! Vorsicht!) mental ist. Das wird sich im Übrigen auch in den deutsch-polnischen Kulturbegegnungen im nächsten Ich möchte Ihnen eingangs zwei Zahlen entgegenhal- Jahr zeigen, die wir derzeit vorbereiten. Ähnliche ten. Zahlen sind etwas objektiver als schöne Beschrei- Kulturbegegnungen sind mit Ungarn, Tschechien bungen. Im Jahre 1998 hatte der Bundeshaushalt für die und den baltischen Staaten geplant, die ebenfalls gemäß Mittel im Zusammenhang mit § 96 BVFG noch umge- § 96 BVFG gefördert werden. rechnet 22 Millionen Euro im Ansatz, die auch umge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10163

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) setzt wurden. Im Jahre 2004 betragen diese Titel nur liebe Frau Dr. Weiss, ausdrücklich sagen, dass Ihre (C) noch 15,7 Millionen Euro. In einer Zeit, in der andere Worte sehr viel sensibler sind als die Ihres Vorgängers Haushaltspositionen dramatisch gestiegen sind, gibt es Naumann, der hier in einer Weise über die Vertriebenen- in diesem Bereich Kürzungen um rund 30 Prozent. kultur hergezogen ist, dass es einen schaudern konnte. Aber er war der Begründer einer Entwicklung, der Sie Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak- leider nichts entgegensetzen konnten. Die Kürzungen tion, ich verstehe, dass Sie vorhin aufgeregt den Ausfüh- schreiten fort. In diesem Bereich ist gekürzt worden wie rungen von Herrn Marschewski gefolgt sind und dies in kaum einem anderen im Haushalt des Bundes. Deswe- jetzt auch bei meiner Rede tun, aber das hat natürlich gen kann ich nur sagen, dass Ihren schönen Worten jetzt seinen Grund. Mir fällt auf, mit welcher Aggressivität wirklich Taten folgen müssen. Sie in diesen Bereich hineingehen. (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten CSU]: Sehr schlimm ist das!) der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Weil es nicht toll war, was er gesagt hat!) Das sind wir gerade in einem zusammenwachsenden Europa auch der Integrationsleistung, die die Vertriebe- – Machen Sie nur so weiter! Ich glaube, das disqualifi- nen in den letzten Jahren gezeigt haben, schuldig. ziert Sie. Wir ringen hier um Lösungen für einen wichti- gen Bereich der Kultur und Sie machen solche Äußerun- Ich möchte ausdrücklich sagen: Es hat Zeiten gege- gen. Das finde ich nicht gut. ben, in denen wir als FDP-Fraktion manche Äußerungen aus diesem Bereich mit Skepsis betrachtet haben. Frau (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, CDU/CSU) ist nicht anwesend. Ich möchte betonen: Es hat in den Die Konzeption der Bundesregierung aus dem letzten Jahren politische Veränderungen gegeben, die auf Jahre 2000 sollte eine Neuausrichtung der Kultur- Aussöhnung und Brückenbau – Herr Marschewski hat es arbeit bewirken. Es gab sicherlich gute Ansätze – das schon angesprochen – gesetzt haben. Ich meine, wir als können wir feststellen –: Straffung der institutionellen Bundestag sollten die Aussöhnungs- und Integrations- Förderung, Orientierung an einem Regionalprinzip, in- leistung der Vertriebenen honorieren. ternationale Kooperation und kulturelle Breitenarbeit. Das sind Leitlinien, die im Grunde gut klingen. Der Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: richt zeigt aber, dass es lediglich bei Ansätzen blieb. In- Herr Kollege Otto, denken Sie bitte an die Redezeit. stitutionelle Straffung und Regionalisierung haben oft zu einer Zentralisierung musealer Darstellung geführt, zahl- (B) reichen kleinen Einrichtungen wurde die Förderung ge- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): (D) strichen und Zentralmuseen wurden ausgebaut. Dem Deswegen ist mein letzter Satz ein Appell an die Kol- Grundsatz der kulturellen Breitenarbeit entspricht dies legen von der SPD und von den Grünen, dass wir uns nicht. Ich plädiere für eine intensive Zusammenarbeit aus den alten Schützengräben lösen, unsere Aufgaben zwischen allen Einrichtungen, zum Beispiel durch Wan- nach § 96 Bundesvertriebenengesetz wahrnehmen und derausstellungen. Wenn nämlich die Kulturpflege eine gemeinsam mehr als diese Geplänkel, die es hier gele- gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, sollte auch die ge- gentlich gegeben hat, erreichen. Es ist eine Aufgabe der samte Gesellschaft Zugang zur Kultur haben. Zukunft, dieses kulturelle Erbe zu pflegen. Es geht nicht nur um die betroffenen Menschen, sondern es geht auch Im Zusammenhang mit dem angesprochenen Regio- um ein kulturelles Erbe, das bewahrt werden muss. nalprinzip möchte ich das völlige Fehlen eines Museums für die russlanddeutsche Kultur ansprechen. Eine ent- In diesem Sinne möchte ich darum bitten, dass der sprechende Einrichtung würde nicht nur eine bestehende Antrag der CDU/CSU in aufgeschlossener und fairer Lücke in der derzeitigen Kulturpflege schließen, sondern Weise behandelt wird. Vielleicht kommen wir dann auf sich mit Sicherheit auch positiv auf die Integration von diesem Feld ein bisschen weiter. Spätaussiedlern auswirken. Vielen Dank. (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) CSU]: Sehr gut!) Die Kulturpflege muss in einem europäischen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kontext gesehen werden. Nur so wird es uns langfristig Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Hilbrecht von gelingen, geschichtliche Tabus und Vorurteile, die es lei- der SPD-Fraktion. der gibt, abzubauen. Jugendaustausch an der Schnitt- stelle zur auswärtigen Kulturpolitik und gemeinschaftli- Gisela Hilbrecht (SPD): che wissenschaftliche Forschung mit unseren Nachbarn Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sind daher unerlässlich und werden von den Verbänden Herr Kollege Otto, Sie wissen, dass wir im Kulturaus- befürwortet. schuss immer sehr ernsthaft und qualifiziert diskutieren. Was die Bundesregierung in ihrer Konzeption aus Ich bin der Ansicht, das werden wir sicherlich auch über dem Jahre 2000 als Neuorientierung verkauft, ist – das diesen Antrag tun. Aber lassen Sie mich eines bitte erweist sich in der Praxis leider immer deutlicher – im gleich klarstellen: Wir sind weder gegen die Pflege des Grunde eine reine Etatkürzung. Ich will an dieser Stelle, Kulturgutes der Vertriebenen noch sind wir gegen die 10164 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Gisela Hilbrecht (A) Kulturarbeit, die die Vertriebenen leisten. Auch wollen und ausführlich beraten. Damals, im Oktober 1999, fand (C) wir niemanden aus der geförderten Kulturarbeit drängen. in unserem Ausschuss eine große Anhörung statt, zu der auch die betroffenen Verbände eingeladen waren. Im Gegenteil, wir halten es für eine wichtige Auf- gabe, die kulturellen Leistungen, die in den Vertrei- Der Bericht der Bundesregierung, der heute zur Bera- bungsgebieten auch von Deutschen erbracht wurden tung vorliegt, befasst sich mit der – ich will betonen: be- – Herr Marschewski hat wichtige Namen genannt –, zu hutsamen – Umsetzung dieser Neukonzeption. Hier würdigen und sie im gemeinsamen Gedächtnis zu erhal- wurde nichts über das Knie gebrochen. Wir alle wissen: ten. Denn dieses Kulturgut ist Zeugnis eines wichtigen Auch heute ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen. Teils unserer deutschen und auch unserer europäischen Aber ich denke, dieses Ergebnis kann sich nach vier Jah- Geschichte. In diesem Punkt sind wir uns, denke ich, alle ren sehen lassen. Ganz besonders freut mich, dass ich je- einig. denfalls in meiner Region merke, dass dieses Konzept in der Zwischenzeit bei vielen Verbänden zunehmend auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Akzeptanz stößt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Joachim Otto Da passt es eigentlich gar nicht ins Bild, dass die [Frankfurt] [FDP]) CDU/CSU-Fraktion einen Antrag vorlegt, mit dem sie das Rad einfach wieder zurückdrehen will: Genau deshalb nehmen wir unseren gesetzlichen Auf- trag, der uns in § 96 des Bundesvertriebenengesetzes (Beifall bei der SPD – Erwin Marschewski aufgegeben ist, sehr ernst. Ich gehe so weit zu sagen: [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Nein, vor- Erst, seitdem wir diese Kulturförderung vor vier Jahren wärts! Immer vorwärts!) auf eine neue Grundlage gestellt haben, werden wir un- serer Verpflichtung wirklich gerecht. zurück zu der Förderpraxis, die vom Bundesrechnungs- hof kritisiert wurde. Zugleich fordert sie aber eine stär- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- kere Zukunftsorientierung. Genau das wollen wir mit Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Oh!) unserem Konzept erreichen. Ich denke, auch darüber wurde schon gesprochen. Es geht um den grenzüber- Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken wir bitte schreitenden Austausch mit unseren osteuropäischen einmal an Folgendes: Nachbarländern. Das zieht sich wie ein roter Faden (Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP] durch die geförderte Kulturarbeit und das kann man im meldet sich zu einer Zwischenfrage) Bericht der Bundesregierung anhand zahlreicher Bei- spiele nachlesen. (B) – Lassen Sie mich bitte weiterreden. – Wir mussten im (D) Wesentlichen aus zwei Gründen umsteuern – Herr Otto, Schwerpunkt ist die gemeinsame Aufarbeitung des Sie waren damals dabei; auch Sie saßen im Kulturaus- gemeinsamen kulturellen Erbes als Teil unserer europäi- schuss –: Erstens haben sich die Rahmenbedingungen schen Geschichte; das ist der wichtigste Pfeiler für eine – ich denke, das bestreitet niemand – seit Anfang der friedliche und gutnachbarliche Zukunft. Liebe Kollegin- 90er-Jahre grundlegend verändert, und zwar nicht nur nen und Kollegen, die Neukonzeption ist ein Erfolg: Die die haushaltspolitischen Bedingungen, sondern vor al- Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge lem auch die außenpolitischen. Durch letztere sind ganz hat eine neue Qualität gewonnen, die weit höheren An- neue Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Koo- sprüchen gerecht wird und – ich denke – wirklich zeitge- peration entstanden. Das wird doch niemand bestreiten. mäß ist. Das, was der Unionsantrag will, passt nicht zu- sammen: Er fordert eine auf die Zukunft gerichtete (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ja, Förderung, will aber gleichzeitig die alten, überlebten aber warum dann die Kürzungen?) Strukturen wiederherstellen; ich denke, die Zeiten sind – Hören Sie mir doch weiter zu. längst darüber hinweggegangen. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ich Zum Schluss noch: Ich kann mich eigentlich des Ein- höre zu!) drucks nicht erwehren, dass wir diesen Antrag schlicht dem Kalender zu verdanken haben: Pfingsten steht näm- Zweitens hat es im Bereich der geförderten Kulturar- lich mit seinen zahlreichen Treffen der Landsmann- beit über die Jahre hinweg Entwicklungen gegeben, die schaften vor der Tür und da scheint es angesagt zu sein, sowohl ihre Qualität als auch ihre Effizienz grundsätz- nicht das, was wir von den Landsmannschaften heute als lich infrage stellten. Ich erinnere Sie daran: 1997 – da- positive Akzeptanz unserer Kulturarbeit leisten, hervor- mals waren Herr Marschewski und ich Mitglieder des zuheben, sondern das Rad wieder ein Stück zurückzu- Innenausschusses – hat der Bundesrechnungshof Dop- drehen. pelförderungen und Mittelverschwendung beanstandet. Den Kolleginnen und Kollegen, die nicht dabei waren, Ich danke Ihnen. möchte ich das in Erinnerung rufen. Er hat die damalige (Beifall bei der SPD) Bundesregierung – zuständig war damals Innenminister Kanther – aufgefordert, eine grundlegende Umorientie- rung und Straffung dieser Förderung vorzunehmen. Auf Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: all diese Notwendigkeiten haben wir mit unserer neuen Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Sehling von Konzeption reagiert. Sie wurde gründlich vorbereitet der CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10165

(A) Matthias Sehling (CDU/CSU): menschlichung dieser Kulturarbeit geführt, zu einer ge- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegin- wollten Musealisierung. Die Tausenden, die in der nen und Kollegen! Wohl wir alle empfinden den Beitritt Breitenarbeit bis heute ehrenamtlich in privaten Heimat- unserer unmittelbaren Nachbarstaaten zur Europäischen stuben, in Heimatarchiven und kleinen Vereinsmuseen Union als Rückkehr nach Europa. Unter ihnen sind auch die Erinnerung an die alte Heimat und ihre kulturellen Länder, in denen lange Zeit Deutsche lebten, die in ihnen Eigenheiten wachhalten, leisten in Wahrheit vorbildli- über Jahrhunderte Heimatrecht erwarben, diese Länder ches bürgerschaftliches Kulturengagement. aber 1945/46 durch Flucht und Vertreibung verlassen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mussten. Fast 15 Millionen Menschen haben nach dem neten der FDP) Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren, aber sie haben wenigstens ihr geistiges Fluchtgepäck mit- Diese soziokulturelle Breitenarbeit – es ist nicht die nehmen können: ihre Kultur, ihre Eigenart, ihr hand- einzige, aber es ist auch eine – muss endlich anerkannt werkliches und technisches Können, ihr Brauchtum und und ideell, aber auch materiell gefördert werden und darf ihren Dialekt. nicht länger politisch ins Abseits gedrängt werden. Die Bundesregierung will die Kulturarbeit der Ver- (Horst Kubatschka [SPD]: Auch das stimmt!) treibungsgebiete heute ins Museum verbannen, sie bes- Sehr verehrte Damen und Herren, leisten wir doch tenfalls als Aufgabe der Heimatvertriebenen selbst ver- jetzt, da aus Altersgründen immer weniger Menschen stehen, aber bitte ja nicht ihrer Landsmannschaften oder diese praktische Kulturarbeit leisten können, eine ge- sonstigen Verbände. Ich halte das für einen Riesenfehler. meinsame Anstrengung. Die Opposition bietet Ihnen Zu- Die Kultur der Vertreibungsgebiete ist – das ist vorher zu sammenarbeit an bei einer Neukonzeption der Neukon- Recht gesagt worden – Teil der Kultur aller Deutschen zeption, bei der fachlichen Überprüfung der Wirkungen und sie ist auch Teil der Kultur aller Europäer. dieser Maßnahme aus dem Jahr 2000 und bei der Suche (Beifall bei der CDU/CSU) nach einer Neuregelung, die die jetzigen Hauptaktiven in dieser Arbeit, die Heimatvertriebenen selbst und ihre Das ist nicht nur so, weil es im Gesetz steht und im Eini- Nachkommen, wieder aktiv in diese Arbeit mit einbe- gungsvertrag ausdrücklich bestätigt wurde, das ist auch zieht. sachlich so: Hat etwa Gerhart Hauptmanns „Die Weber“, die Geschichte vom Weberaufstand von 1844 im Zeital- Danke. ter der industriellen Revolution, nicht gesamtdeutsche (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung? (Horst Kubatschka [SPD]: Auch!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) Ich schließe die Aussprache. (D) Steht sein Drama nicht auch für die Industriegeschichte ganz Europas? Hat der im böhmischen Eger geborene Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Balthasar Neumann nicht Architekturgeschichte weit auf den Drucksachen 15/2819 und 15/2967 an die in der über die Grenzen seiner engeren Heimat hinaus ge- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. schrieben? Und gehört nicht Franz Kafkas literarisches Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Erbe ebenso zur böhmischen Wirklichkeit wie zum jü- sind die Überweisungen so beschlossen. disch-deutschen Kulturerbe Prags, jener Stadt, in deren Mauern 1348 die erste deutschsprachige Universität er- Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: richtet wurde? Das kulturelle Erbe der Vertreibungsge- Beratung des Antrags der Abgeordneten Julia biete sollte deshalb heute als europäisches Kulturerbe Klöckner, Peter H. Carstensen (Nordstrand), verstanden und weiterentwickelt werden Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tion der CDU/CSU neten der FDP – Horst Kubatschka [SPD]: Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Arznei- Auch das stimmt!) mittelgesetzes für Tierärzte und Landwirte – ich freue mich, Herr Kollege Kubatschka, dass Sie mir praxisgerecht und verbraucherfreundlich ge- zustimmen; vielleicht finden wir eine Einigung –, ohne stalten dass wir Deutschen die Verantwortung für die Pflege und – Drucksache 15/3112 – Weiterentwicklung dieses Erbes von uns weisen. Zu Überweisungsvorschlag: Recht werden deshalb von den Bundesländern derzeit la- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und gerübergreifend Überlegungen angestellt, die Europäi- Landwirtschaft (f) sche Union auf ihre neue Verantwortung für die Kultur- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung pflege dieser Vertreibungsräume hinzuweisen und auch Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die finanziell in Anspruch zu nehmen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre An die Bundesregierung aber muss sich heute unser keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Appell – von CDU und CSU – richten, den eigenständi- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- gen Wert der Kulturpflege der Vertreibungsgebiete end- nerin das Wort der Kollegin Julia Klöckner von der lich anzuerkennen. Die jetzt schon mehrfach zitierte so CDU/CSU-Fraktion. genannte Neukonzeption aus dem Jahre 2000 hat unter dem Vorwand der Professionalisierung zu einer Ent- (Beifall bei der CDU/CSU) 10166 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Julia Klöckner (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der (C) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! FDP – Zurufe von der SPD) Vor dreieinhalb Monaten habe ich mich schon einmal – Wir haben einen Antrag vorgelegt, vielleicht sollten hier in diesem Plenum an Sie wegen der dringend not- Sie ihn einmal durchlesen. wendigen Novellierung des Tierarzneimittelrechtes ge- wandt. Über ein Jahr ist es mittlerweile her, dass wir im Leider warten wir seit langem vergeblich auf den Ge- Ausschuss darüber debattiert hatten. setzentwurf, der durchaus von Frau Ministerin Künast angekündigt wurde und der eigentlich kurz vor der Ver- Damals war ich sehr hoffnungsfroh; denn die Einsich- abschiedung stehen sollte. Es kommt aber nichts. ten in der Debatte waren doch sehr klug. Ich war sehr überrascht, dass wir mit den Vertretern der Grünen und (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: der SPD Einvernehmlichkeit erzielen konnten. Seiner- Guck mal da, bei der Regierungsbank!) zeit hatte gerade die CDU/CSU-Fraktion – auch auf- – Vielleicht schreiben sie gerade an dem Antrag. – Sie grund des Antrages von Bayern im Bundesrat – im Sinne müssen bedenken, es geht hier nicht um eine Spielerei. des Verbraucherschutzes und im Sinne des Tierschut- Es geht darum, dass Tiere leiden, dass Tierärzte unprak- zes die Notwendigkeit der Erarbeitung einer sachgerech- tikabel arbeiten müssen, dass Tierhalter schikaniert wer- ten und vor allen Dingen praktikablen Lösung unterstri- den und dass letztlich überhaupt keinem geholfen ist. So chen. Wir hatten angemahnt, praktikabel vorzugehen. können wir nicht miteinander umgehen. Wir erkennen Wir haben eine Zusammenarbeit ausdrücklich angebo- doch wirklich alle, dass diese Dinge so nicht praktikabel ten. Ich danke hier auch den Berichterstattern der ande- sind. Ich denke, es ist nicht lauter, das so auf die lange ren Parteien für die Bereitschaft und für die anfängliche Bank zu schieben. Initiative dazu. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ich bitte Sie daher, den Ball, den wir Ihnen jetzt zuspie- len, auch aufzunehmen Ich danke deshalb auch dem Kollegen Goldmann, dem Kollegen Priesmeier und dem Kollegen Ostendorff. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- In der Haut der letzten beiden möchte ich natürlich nicht NEN]: Da denken wir gar nicht dran!) stecken. Manchmal wünscht man sich sicherlich auch an und endlich mit vereinten Kräften an einer konstruktiven Ihrer Stelle, man würde die Regierung nicht stellen, Lösung zu arbeiten. Ganz klar feststeht: Wir halten an wenn einem untersagt wird, miteinander zu arbeiten. den vorrangigen Zielen – zum einen dem Verbraucher- schutz und zum anderem dem Tierschutz – fest und wir (B) (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Um Gottes (D) willen, Julia!) sind ihnen auch heute noch verpflichtet. Ich glaube, hier gibt es zwischen uns keinen Dissens, sondern einen – Es tut mir sehr Leid, aber das wurde eben abgelehnt; so Konsens. war es leider. Dieser verbesserte Verbraucher- und Tierschutz ist (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das Leben ist bunter, mit dem jetzigen Arzneimittelgesetz nicht zu erreichen als Sie glauben!) und nicht vereinbar. Sie erinnern sich noch an die Aussa- gen der Sachverständigen. Ich denke, Anhörungen wer- – Sie waren leider nicht dabei, Sie können das aber gerne den nicht aus Spaß durchgeführt und sind nicht dazu da, im Protokoll nachlesen. Auch wenn es schmerzhaft ist, dass sich Sachverständige auf lange Wege nach Berlin muss man das zur Kenntnis nehmen. Ich danke dennoch machen. Die Ergebnisse von Anhörungen sollte man für die anfänglichen Initiativen. ernst nehmen und in Gesetzesentwürfe und Anträge ein- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ arbeiten. Wir haben das im Gegensatz zu Ihnen getan. CSU]: Das war das schlechte Gewissen, weil Bisher liegt kein Antrag von Ihnen vor. sie so ein schlechtes Gesetz gemacht haben (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE vor zwei Jahren!) GRÜNEN]: Das wissen Sie doch überhaupt – Das ist so ein bisschen das schlechte Gewissen. nicht!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Na, na, na! Nun mal – Herr Kollege Ostendorff, ich weiß nicht, ob Sie über ganz ruhig auf den billigen Plätzen!) den Ablauf des parlamentarischen Verfahrens Bescheid wissen. Ich kann nicht in Ihre Köpfe schauen und ich kann auch nicht nachsehen, was in Ihren Schubläden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: liegt und Sie nicht rausholen. Wir würden gerne sehen, Meine Herren, seien Sie doch Kavaliere. was vorliegt.

Julia Klöckner (CDU/CSU): (Dr. Uwe Küster [SPD]: Staatsgeheimnisse! – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Weil das dann leider ins Stocken geriet und weil letzt- CSU]: Du wirst nichts finden!) lich den Tierhaltern, den Tierärzten, aber auch den Tie- ren nicht geholfen war, mussten wir dann das Heft in die – Wir werden nichts finden, das ist das Tragische. – Wir Hand nehmen. Das haben wir getan und einen entspre- haben einen Antrag vorgelegt. Erst dann, wenn etwas chenden Antrag vorgelegt. vorliegt, kann man auch darüber debattieren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10167

Julia Klöckner (A) Die Folge – – Die Abschaffung der 7-Tage-Regelung ist aber noch (C) längst nicht alles. Wenn durch das Arzneimittelgesetz (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE mehr Verbraucherschutz erbracht werden soll ohne Tier- GRÜNEN]: Den debattieren wir nicht! – quälerei – wir müssen eben Behandlungen untersagen, Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der ist her- damit ein Tierarzt und ein Tierhalter nicht das Gesetz vorragend! Das weißt du auch!) übertreten; das muss man sich einmal vorstellen – zu verursachen, dann müssen wir folgende Punkte, die auch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: in unserem Antrag stehen, beherzigen: Entschuldigung, Frau Klöckner. Meine Herren – es sind ja so wenige und Herr Ostendorff kommt nachher Erstens. Um einer etwaigen Vorratshaltung von Tier- noch zu Wort – : Halten Sie sich ein wenig zurück und arzneien in den landwirtschaftlichen Betrieben vorzu- lassen Sie Frau Klöckner ihre Rede halten. – Bitte schön. beugen und eine einfache, aber effiziente Überwachung gewährleisten zu können, brauchen wir statt der 7-Tage- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Bei mir Regelung, die sehr willkürlich ist – das sagen wir hier steht keine Redezeit!) explizit –, tierärztliche Behandlungspläne als ein ge- eignetes Instrument. Eine reine Veränderung der zeitli- Julia Klöckner (CDU/CSU): chen Anforderungen wäre nicht akzeptabel, da eine Das ist eben das schlechte Gewissen. Ich weiß, es tut starre Frist – egal, wie lang sie auch ist – der Vielfalt der weh, wenn man selbst nichts zu bieten hat und andere Tiererkrankungen und deren Verläufe nicht gerecht wer- haben etwas vorgelegt. den kann. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Er stellt nur Zweitens fordern wir: Durch eine entsprechende Er- Beleidigungen über mich ins Internet!) gänzung des bisherigen Voraussetzungskataloges für die Abgabe von Tierarzneimitteln muss der Behandlungs- Sehen Sie das doch einfach mal im Sinne derjenigen, die plan als neuer zentraler Begriff und als Bedingung für es betrifft. die Arzneimittelabgabe in den Mittelpunkt der tierärztli- Wir sagen ganz klar: Ein zentrales Problem ist der chen Betreuung treten. mangelnde Tierschutz. Ein anderes zentrales Problem (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. – das haben Sie damals auch gesagt; es steht im Hans-Michael Goldmann [FDP]) Protokoll – ist die 7-Tage-Regelung. Ich weiß nicht, welches Tier sich mit seiner Krankheit plötzlich an die Drittens. Die Menge der an den Tierhalter abzugeben- Regelung der Beamten hält und sagt: Okay, sieben Tage den Arzneimittel richtet sich zum einen nach der festge- (B) sind herum, also ist auch meine Krankheit überstanden. legten Anwendungsdauer für das zum Zeitpunkt der Un- (D) Wer das glaubt und annimmt, dass Praktiker damit um- tersuchung als behandlungswürdig eingestufte Tier und gehen können, der war noch nie im Stall und der hat sich zum anderen – das ist ganz wichtig – nach dem Stand der noch nie mit der Klientel befasst, die er hier vertreten tierärztlichen Wissenschaft. Die Tierärzte haben ihren soll. Beruf nicht in einem kurzen Abendkurs erlernt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kollege Priesmeier, ich schätze Sie und Ihr Wissen Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Der hat als Tierarzt sehr. Sie selbst wissen, dass Tierärzte auf- Mondkühe!) grund ihrer Erfahrungen nicht immer in einem Hand- buch nachschlagen müssen. Deshalb ist es sehr wichtig, Um zu verhindern, gegen das Gesetz zu verstoßen, dass hier der Stand der tierärztlichen Wissenschaft eine müsste der Tierarzt, wenn er sich daran hielte, wie es Rolle spielt. jetzt geregelt ist, jedem kranken Tier einen persönlichen Krankenbesuch abstatten und eine Diagnose mit Be- (Beifall bei der CDU/CSU) handlungsanweisung aussprechen, bevor der Tierhalter Diese Regelung führt zu einer Vermeidung der Ab- die nötige Behandlung durchführen darf. Solange leidet gabe von Arzneimitteln für noch nicht erkrankte Tiere, das Tier eben. Würde der Tierarzt dann noch vor und wie sie unter der bestehenden 7-Tage-Regelung häufig nach jedem Stallbesuch durch die Hygieneschleuse ge- praktiziert wird. Das heißt, der Behandlungsplan ist führt, geduscht und umgekleidet, um nicht mehr Krank- wichtig. Es ist klar, dass der Tierarzt nicht willkürlich heiten zu verschleppen als zu bekämpfen, dann wäre die- handeln kann. Der Tierarzt muss einen Bestand vor Au- ses Unterfangen endgültig undurchführbar. gen haben, ihn prüfen und dann sagen, wie zu behandeln Das Ergebnis – der Tierschutz steht im Grundgesetz – ist. wäre eine himmelschreiende Tierquälerei. Wir müssen Ganz entscheidend für uns ist, dass zwischen den Ge- schon versuchen, verschiedene Ziele unter einen Hut zu sellschafts- und Sporttieren sowie den Lebensmittel lie- bringen und nicht immer neu zu definieren. Einmal fernden Tieren eine Grenze gezogen wird. – wenn wir zum Beispiel über die Legehennenverord- nung und die Größe von Ställen reden – ist Ihnen der (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Das steht im Tierschutz sehr wichtig und steht ganz oben und hier Fleischhygienerecht!) spielt der Tierschutz auf einmal keine Rolle mehr. Ich bitte hier doch um Stringenz und einen roten Faden. – Das stellt hier aber ein Problem dar. Reden Sie mal mit Tierhaltern und Tierärzten. Dann werden Sie feststellen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass diese Zuordnung nicht gewährleistet ist. – Eine 10168 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Julia Klöckner (A) Begriffsbestimmung der Lebensmittel liefernden fangs war der gemeinsame Wille vorhanden, fraktions- (C) Tiere ist erforderlich, da sich in der Praxis eine Zuord- übergreifend zusammenzuarbeiten. Warum das nicht nung bestimmter Tiere und die damit verbundene Arz- mehr möglich war, möchte ich jetzt nicht erwähnen. Das neimittelabgabe als sehr schwierig erwiesen hat. Es ist ist Fakt. Diejenigen, die nicht mit dabei waren, können schon sinnvoll, bei der Behandlung von Tieren abzuwä- darüber gerne den Kopf schütteln. Aber das ist nun ein- gen, was sie an Medikamenten bekommen, wenn diese mal so. Mir tut es um die Kollegen Leid, die bereit wa- nachher verzehrt werden sollen. Das ist der Unterschied ren, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir bieten Ihnen eine zu einem Hamster, den ich nicht vorhabe zu verzehren. gute Vorlage. Erlauben Sie mir, an Ihre politische Ver- Bei uns Menschen geht es ausschließlich darum, wie wir nunft zu appellieren. Es gibt keinen Grund, diesem An- Schmerzen lindern und Krankheiten behandeln. Das ist trag nicht zuzustimmen. Über alle Punkte hatten wir für uns wichtig. Warum müssen wir Tierärzten und Tier- schon einmal Einvernehmen erzielt. Sie haben Ihr Ein- haltern unnötig Steine in den Weg legen? vernehmen leider zurückgezogen. Um eine bedarfsgerechte Abgabe von Tierarzneimit- Ich verstehe auch nicht, warum die Ministerin nicht teln zu gewährleisten, ist auch zu prüfen, ob es den Tier- da ist. ärzten künftig ermöglicht werden kann, Arzneien aus fertigen Gebinden umzufüllen, fachgerecht neu zu ver- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ packen und an den Tierhalter abzugeben. CSU]: Der Staatssekretär ist da!) (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Das steht – Wie ich sehe, ist Herr Berninger etwas verspätet hinzu- doch im Referentenentwurf!) gekommen. Ich denke, er wird den Antrag lesen und ihn weiterreichen, damit er als gute Grundlage dienen kann. – Referentenentwurf hin oder her, aber ich habe noch Stimmen Sie zu! Es gibt keinen Grund, dagegen zu sein. keine Drucksache gesehen. Auch ich könnte jetzt aus- führen, welche Papiere wir schon vorbereitet haben. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) möchten gerne etwas auf dem Tisch liegen sehen. Im Moment werden wir nur hingehalten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier von der SPD-Fraktion. Die ganze Zeit wird gesagt, dass dieser Antrag der Union zur Unzeit kommt. Wenn Dinge geregelt werden Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): müssen, dann gibt es keine Unzeit. Wir hatten schon Jahre Zeit, etwas zu machen. Wenn man sich bei der Er- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich (B) arbeitung des Referentenentwurfs nicht einig war und glaube, es nützt wenig, wenn hier Sperrfeuer geschossen (D) deshalb nichts vorliegt, dann ist das nicht unser Problem. wird. In der Diskussion über den Referentenentwurf, der Wir nehmen uns dieser Sache an. Das, was in unserem bereits seit Oktober vorliegt, Antrag steht, können Sie gerne übernehmen. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Es kann nicht sein, dass für die Behandlung eines CSU]: Ehrlich? – Julia Klöckner [CDU/CSU]: kleinen Hamsters eine große Arzneimittelpackung ab- Wo denn?) gegeben wird, die normalerweise für die Behandlung ei- ist in den letzten Monaten vieles weiterentwickelt wor- ner Kuh oder eines Schweins nötig ist. Das ist aus öko- den. nomischen und ökologischen Gründen nicht sinnvoll. Bisher ist es so, dass der Tierhalter selbst bei Kleinsttie- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Liegt er seit ren die Großpackung abnehmen muss, aber den Rest Oktober vor oder nicht?) nicht mehr verwerten darf und kann. Es gibt keinen Grund, nicht unseren Vorschlägen zuzustimmen. Es gilt, – Über die Zeitschiene kann man sich unterhalten. Die die Tierärzte aus der Grauzone herauszuführen. Es geht beteiligten Verbände haben vorgetragen, dass man sich nicht darum, irgendwelche Hygienevorschriften nicht gerne auf eine gemeinsame Position einigen wollte. Das mehr einzuhalten. Das ist nicht der Fall. Wir müssen uns erfordert naturgemäß Zeit. Die Zeit haben wir den Ver- darüber einig werden, wie das Ganze später im Geset- bänden eingeräumt. Mittlerweile liegt dort eine gemein- zestext formuliert wird. same Position vor. Im Verlauf der Arbeit an dieser Novelle habe ich mich (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ mit anderen Kollegen der Unionsfraktion wiederholt mit CSU]: 2002!) Vertretern aller beteiligten Kreise zusammengesetzt. Im Es hat erhebliche Diskussionen im Hintergrund gegeben, Verlauf der Gespräche zeigte sich schnell, dass die Inte- die noch lange nicht abgeschlossen sind. In dem Zusam- ressen der Länder, der Tierärzte und der Tierhalter si- menhang ist Ihr Antrag heute, verehrte Kolleginnen und cherlich nicht einfach unter einen Hut zu bekommen Kollegen von der CDU/CSU, weder zeitgemäß noch sind. Aber ich bin mir sicher, dass wir eine einvernehm- passend. liche Lösung vorgelegt und Ihnen einen verwertbaren Lösungsansatz an die Hand gegeben haben. In der Analyse des Problems sind wir uns im Wesent- lichen einig, auch nach der Anhörung im letzten Juni. Wir sind weiterhin daran interessiert, mit Ihnen zu- sammen an einer praktikablen Lösung zu arbeiten. An- (Ina Lenke [FDP]: Die ist schon lange her!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10169

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) Die gemeinsame Position, die hier im Verlauf der Dis- Kein Bundesland fühlt sich bemüßigt, in diesem Zusam- (C) kussionen gefunden worden ist, trägt auch noch. Wenn menhang die im Referentenentwurf unter Umständen ge- man meint, aus nahe liegenden Gründen – das mag bei währte Möglichkeit einer eigenständigen Regelung in Ihnen aus einem gewissen Populismus resultieren – jetzt dem Bereich umzusetzen. Darum drückt man sich. Aus einen Antrag stellen zu müssen, dann ist das wenig diesem Grunde ist es vernünftig, unter Umständen an zweckdienlich. dem Instrument des Behandlungsplanes weiterzuarbei- ten und dieses weiterzuentwickeln. Im Referentenent- Ich glaube, alle Beteiligten sind daran interessiert, wurf ist der Behandlungsplan als eine Möglichkeit vor- eine praxisnahe und vernünftige Regelung zu finden. gesehen, eine Ausnahme von der 7-Tage-Regelung unter (Albert Deß [CDU/CSU]: Außer Frau der Maßgabe zuzulassen, dass das für einen ganz be- Künast!) stimmten Indikationenkatalog von Erkrankungen gilt. Das sind in der Hauptsache Bestandserkrankungen. Gerade Sie, verehrte Frau Kollegin Klöckner, haben in den letzten Monaten auch in den Gesprächen mit der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Länderebene gemerkt, wo dort die Befindlichkeiten lie- gen und dass es nicht ganz so einfach ist, ein einfaches Herr Kollege Priesmeier, erlauben Sie eine Zwischen- Konzept in einem Antrag zu formulieren, das hinterher frage der Kollegin Klöckner? auch noch juristisch tragen und eine einfache Regelung enthalten soll, damit alle Beteiligten zufrieden sind. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Aber selbstverständlich. Die anfängliche Forderung, die 7-Tage-Frist ersatz- los zu streichen, findet auf der Länderebene überhaupt keinen Wiederhall. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Frau Klöckner. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Das stimmt nicht!) Julia Klöckner (CDU/CSU): Bei der Anhörung zum Referentenentwurf im BMVEL Herr Kollege Priesmeier, was mich und sicherlich wurde von zehn anwesenden Ländern, mindestens aber auch die Tierhalter und Tierärzte interessiert, ist die von acht, signalisiert, dass sie mit der Streichung mit Si- Frage, wann ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, aus dem cherheit nicht einverstanden sind. Auch das Instrumenta- hervorgeht, welche Richtung eingeschlagen werden soll. rium, das Sie auf den Tisch gelegt haben, ist ein durchaus Es reicht nicht, festzustellen, was alles nicht möglich ist. anerkennenswerter Diskussionsansatz. Das Instrument Wir müssen vielmehr wissen, welche Möglichkeiten be- (B) Behandlungsplan ist schon bei den Beratungen zur elften stehen. Dafür sind wir als Politiker schließlich an dem (D) Novelle diskutiert worden, dann aber nicht zum Tragen Verfahren beteiligt. Ich möchte konkret wissen, wann die gekommen. Betroffenen endlich aufatmen können. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Leider!) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Die Ursache für das eigentliche Problem und für den Ich gehe davon aus, dass die Beratungen in absehba- Handlungsdruck, den man vor der elften Novelle ver- rer Zeit so weit gediehen sind, spürt hat, liegt in der mangelnden Kontrolle und in den Schwächen des bisherigen Kontrollsystems. Da kann ich (Albert Deß [CDU/CSU]: Aber vor 2006!) als jemand, der davon direkt betroffen ist, zumindest im dass ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt werden Augenblick auf der Länderebene keine wesentliche Ver- kann, der auch beratungsfähig ist. besserung erkennen. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Sie wissen es Weder sind die personellen Ressourcen vorhanden, also auch nicht genau?) um eine effiziente Kontrolle zu gewährleisten, noch das dafür notwendige Instrumentarium. Auch ist die Bereit- – Zurzeit kann ich Ihnen keinen konkreten Zeitpunkt schaft dazu in vielen Bereichen nicht vorhanden. Die ge- nennen, aber ich gehe davon aus, dass im Ministerium genwärtige Situation mit all den Schwierigkeiten, die fleißig daran gearbeitet wird. Der Gesetzentwurf wird wir im Augenblick mit der Umsetzung bzw. der Rechts- eine entsprechende Qualität haben. wirklichkeit der elften Novelle haben, hält einige Bun- desländer davon ab, intensiv zu kontrollieren. In Bayern (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist aber sind vor der Landtagswahl keine Kontrollen erfolgt. eine effektive Regierungskontrolle!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehen Sie!) Das würde ich nicht in Abrede stellen. Warum wohl? Die Frage ist berechtigterweise zu stellen. In diesem Zusammenhang wird von verschiedenen Auch das von Bayern auf den Tisch gelegte Instrumenta- interessierten Seiten unter Umständen ein Popanz aufge- rium des Behandlungsplans ist wieder aus den Diskus- baut. Sie kennen vielleicht den gemeinsamen offenen sionen verschwunden. Das ist heute kein Thema mehr. Brief der vier beteiligten Verbände, den ich in dieser Si- tuation für wenig zweckdienlich halte. Damit wird eine (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt politische Linie verfolgt, die offensichtlich auf Profilie- überhaupt nicht!) rung ausgelegt und der Diskussion wenig förderlich ist. 10170 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) Ich glaube, wir sollten wieder zur Sachlichkeit zurück- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Nein, diese (C) kehren Kamellen sind ganz aktuell!) (Beifall bei der SPD) Meines Erachtens sind die in Ihrem Antrag enthaltenen Forderungen bereits in wesentlichen Teilen Bestandteil und unter dieser Maßgabe versuchen, eine Lösung zu des Referentenentwurfs. finden. Dazu sind wir auch bereit. (Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr tut doch [FDP]) nichts! Das ist doch das Problem!) Das Umverpacken wird dort einwandfrei eingeräumt. Mein Gesprächsangebot in diesem Zusammenhang Das ist auch unbestritten. gilt weiterhin. Ich habe vorhin mit Freude zur Kenntnis genommen, dass auch Ihr Angebot weiter gilt. Insofern (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Dann können sind die besten Voraussetzungen gegeben, um eine ver- Sie doch zustimmen!) nünftige Lösung zu finden, die auch auf die Befindlich- keiten der Länder abstellt. Denn was nützt uns ein Ge- – Das ist in Ordnung. Wenn Sie dem zustimmen, dann setz, das im Bundestag beschlossen wird, aber verfolgen wir wieder eine gemeinsame Linie, die sich anschließend im Bundesrat keinen Bestand hat? wahrscheinlich auch als tragfähig erweisen wird. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Mach dir Ich appelliere an Sie, wieder auf den Boden des Kon- darüber mal keine Sorgen!) senses zurückzukehren und gemeinsame Gespräche zu führen. Ich sehe in diesem Zusammenhang keine Alter- – Sie wissen genau, verehrter Kollege Goldmann, dass native, wenn wir sinnvoll gestalten wollen. Das Angebot die Einschätzung des richtigen Instrumentariums in die- der Fraktionen von SPD und – das nehme ich an – Grü- sem Zusammenhang nicht davon abhängig ist, von wel- nen, in einem konstruktiven Dialog zu einer Lösung zu chem politischen Lager die Landesregierungen derzeit kommen, gilt auf jeden Fall weiter. gestellt werden. Ein Modell, das ich auch auf der Länderebene für (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da haben kompromiss- und konsensfähig halte, könnte sich wie wir die Mehrheit!) folgt darstellen: Der Behandlungsplan wird zur Grund- Das ist eine klare Erkenntnis; das wissen Sie so gut wie lage gemacht, um Ausnahmen von der 7-Tage-Regelung ich. zuzulassen. Darüber hinaus sollte ein Expertengremium geschaffen werden, das Leitlinien zur Anwendung von (B) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Du meinst Antibiotika und Voraussetzungen für Ausnahmen von (D) NRW?) der Siebentageregelung definiert. Das soll kein statischer Prozess per Verordnung sein. Vielmehr soll dieses Gre- – Nicht nur NRW. Ich habe in den vergangenen Wochen mium, besetzt mit Fachleuten und Praktikern, ein dyna- und Monaten mit den Vertretern der Länder in der misches Instrument sein, mit dessen Hilfe man letztend- LAGV gesprochen, und zwar nicht nur aus NRW oder lich in der Lage ist, den Stand der tierärztlichen Bayern, sondern unter anderem auch aus Baden- Wissenschaft zu definieren. Ich glaube, dass diese Lö- Württemberg und meinem Heimatland Niedersachsen, sung bei allen Kolleginnen und Kollegen konsensfähig das bekanntlich von dieser Problematik in besonderer ist, sofern ich das als Tierarzt beurteilen kann. Das kön- Weise betroffen ist. Es gibt durchaus einen vernünftigen nen Sie vielleicht nicht so gut, Herr Kollege Goldmann. Ansatz, der kompromissfähig ist. Ich bin bereit, auch Ich gehe davon aus, dass Sie nicht mehr so stark im täg- weiterhin an einer konstruktiven Lösung zu arbeiten, die lichen Dialog mit den Kollegen involviert sind wie ich. auch langfristig tragbar ist und länger Bestand hat als das, was uns mit der Elften Novelle des Arzneimittelge- Ich appelliere an Sie, die gemeinsame Linie nicht auf setzes vorgelegt worden ist. Dauer zu verlassen, wie Sie das in Ihrem Antrag bereits tun. Wir sollten weiterhin versuchen, gemeinsam zu ei- Dabei nützt es nichts, sich gegenseitig die Schuld zu- ner vernünftigen Lösung zu kommen. zuweisen. Denn wie jeder weiß, ist die Elfte Novelle mit 16 : 0 im Bundesrat beschlossen worden. Der Bundesre- Ich danke Ihnen. gierung bzw. dem BMVEL die Schuld daran zuzuweisen ist weder korrekt noch fair. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Die sind auch nicht dafür zuständig!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Denn sie haben weitere wesentliche Erschwernisse, die Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann unter Umständen in die Elfte Novelle Eingang gefunden von der FDP-Fraktion. hätten, verhindert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Darum geht es doch gar nicht!) Hans-Michael Goldmann (FDP): In diesem Zusammenhang lohnt es sich nicht, alte Ka- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So mellen aufzuwärmen. ungerecht ist die Welt: Mein Vorredner hat zwölf Minu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10171

Hans-Michael Goldmann (A) ten hier herumgeblubbert und nichts gesagt, während ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) leider nur drei Minuten habe. Entschuldigen Sie, aber der Redner hat das Wort. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind so bedeutend, dass eine Minute reichen würde!) Hans-Michael Goldmann (FDP): Herr Küster, wenn Sie meinen, dass Sie sich weiter Die Sache ist eigentlich ganz einfach. Wilhelm disqualifizieren müssen, dann bitte. Ich fände es aber Priesmeier, bei dir ist es immer das Gleiche: In populisti- besser, wenn wir unsere Auseinandersetzung auf privater schen Botschaften bist du allererste Sahne. Du plusterst Ebene fortsetzen würden. Dann bräuchten Sie auch nicht dich zum Tierschutzbeauftragten auf und lässt seit ge- mehr so zu schreien. raumer Zeit ein Arzneimittelgesetz gelten, von dem du als Praktiker genau weißt, dass sich jeder, der dieses Ge- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Machen wir gerne!) setz befolgt, am Tierschutz sowie an den Interessen der Wenn Sie informiert sind, dann wissen Sie, dass alle, Bauern und im Grunde genommen auch der Tierärzte vor allen Dingen Herr Kollege Priesmeier von Ihrer vergeht. Fraktion, Herr Küster, und Herr Kollege Ostendorff, in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Ausschussanhörung erklärt haben, dass dieses Ge- setz dringend verbessert werden müsse. Daraufhin haben Die Tiere sind aufgrund dieses Gesetzes – um in der Frau Klöckner und ich gemeinsam einen Brief aufgesetzt Agrarsprache zu bleiben – traurig und beschissen dran. – wir hatten den Auftrag dafür – und versucht, die Unter- Die Bauern leiden darunter. Es kostet sie eine Menge schriften von Herrn Priesmeier und Herrn Ostendorff für Geld. Aber es kommt nichts dabei herum. diesen Brief zu bekommen. Doch leider sind Herr (Dr. Uwe Küster [SPD]: Eine Sprache ist das!) Ostendorff und Herr Priesmeier vom Ministerium vorher angerufen worden, woraufhin sie nicht mehr unterschrei- – Herr Kollege, Sie haben keine Ahnung davon. Sie ha- ben durften, obwohl wir alle uns einig waren, dass es in ben wahrscheinlich noch nie bei einem Tier gestanden. dieser Frage Verbesserungsbedarf gibt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- Dr. Uwe Küster [SPD]: Ihre Rede ist von ge- chen bei der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/ ringer Qualität!) CSU]: Was für Zustände in diesem Lande!) – Im Schreien sind Sie ziemlich gut. Wahrscheinlich sit- Daraufhin sind wir einen eigenen Weg gegangen. Ge- zen Sie deshalb in der ersten Reihe. Manche sitzen dort nau so ist es, Herr Kollege. Das kann ich Ihnen auch be- wegen ihrer guten fachlichen Qualität. Aber das, was Sie legen. (B) eben von sich gegeben haben, war nur in der Lautstärke (D) überzeugend. Sie sollten einmal zuhören. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir rücken das gleich wieder hin!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Bei Ihnen nicht!) Wenn Sie nachschauen, werden Sie feststellen, dass wir Ich finde es beeindruckend, welche Rolle Sie hier spie- einen eigenen Antrag eingebracht haben. Dank der her- len. Ich bin todsicher, dass Sie kein einziges Mal in den vorragenden Arbeit von Frau Julia Klöckner hat auch die Antrag der CDU/CSU hineingeschaut haben. CDU/CSU einen eigenen Antrag eingebracht. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Er wird so sein, wie (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Genau so ist Sie sich gerade verhalten!) es! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hat bei dir abgeschrieben!) Ich kann Ihnen nur sagen: Dieser Antrag ist allererste Sahne. – Sie hat nicht bei mir abgeschrieben. Wie du genau weißt, ist meiner nämlich etwas kürzer; aber in den In- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) halten stimmen wir sehr wohl weitestgehend überein. Das weiß auch Kollege Priesmeier genau. Im Grunde genommen wisst ihr beide ganz genau, Herr Küster, Sie brauchen nicht noch die Hände an dass es, wenn ihr nur dürftet, ein Leichtes wäre, den par- den Mund zu legen, um einen Trichter zu bilden. Ich ver- lamentarischen Mut aufzubringen und zu sagen: Jawohl, stehe auch so alles bestens, was Sie sagen, oder – besser wir wissen, dass das derzeitige Arzneimittelgesetz für gesagt – es kommt akustisch einiges bei mir an. die in der Praxis Tätigen verbessert werden muss. Es wurde völlig zu Recht bemerkt, dass dieses Gesetz da- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Warum schreien mals mit den Stimmen des ganzen Hauses auf den Weg Sie so laut, Herr Goldmann?) gebracht worden ist. Heute wissen aber alle, dass bei – Frau Hiller-Ohm, ich verstehe euch nicht. Zuerst woll- dem Zustandekommen dieses Gesetzes einige wenige tet ihr doch gar nicht reden. Dann habt ihr dafür gesorgt, gravierende Fehler passiert sind. Diese Fehler könnte dass diese Debatte in die Nachtstunden verschoben wird, man mit ein bisschen gutem Willen zum Wohle der Bau- damit nicht auffällt, dass ihr im Grunde genommen seit ern, der Tierärzte und vor allen Dingen der Tiere, Herr anderthalb Jahren eurer Verpflichtung nicht nachkommt. Tierschutzbeauftragter, beseitigen – wenn man es nur wollte. Kollege Priesmeier weiß hundertprozentig, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – es dort Probleme gibt. Das sagen ihm nämlich seine Kol- Zurufe von der SPD) legen, wenn er mit ihnen spricht. 10172 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: von Arzneimitteln, vor allem von Antibiotika, an Tier- (C) Herr Kollege Goldmann, bitte. halter einfach zu streichen. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Weiterlesen! – Hans-Michael Goldmann (FDP): Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das steht Ich komme zum Schluss. auch gar nicht drin!) In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Lieber Frau Klöckner, dafür haben wir überhaupt kein Ver- Kollege Priesmeier, wenn du als praktizierender Tierarzt ständnis. Beim Umgang mit Tierarzneimitteln ist eine mit einer pharmakologischen Ausbildung, der auch Fort- verantwortungsvolle Vorgehensweise sowohl vom Tier- bildungen absolviert hat, wirklich der Meinung bist, dass arzt als auch vom Tierhalter essenziell. Für Tierärzte gilt wir eine Kommission brauchen, um hoch qualifizierten dies in besonderem Maße, da sie – als Ausnahme vom Tierärzten zu sagen, was sie mit den Bauern zu tun und Apothekenmonopol – das Dispensierrecht haben. Das zu lassen haben, dann kann ich nur sagen: Du hast dein heißt, dass Tierärzte Arzneimittel direkt abgeben dürfen. Studienziel verfehlt. Wir wollen, dass es im Ausschuss zu einer Lösung kommt. Legt in der nächsten Sitzung Am Beispiel des Schweinemastskandals 2001 – ich euren Referentenentwurf auf den Tisch! Kein Thema, erinnere an die vielen mit den Autobahntierärzten ver- wir setzen uns zusammen und innerhalb von einer bundenen Skandale – wurde uns allen doch deutlich, Stunde ist die Sache erledigt, wenn ihr nur wollt oder, dass es immer wieder Missbrauchsfälle gegeben hat. Die besser gesagt, wenn ihr dürft. darauf folgende Ländergesetzesinitiative, die in der Elf- ten AMG-Novelle mündete, führte zu einer deutlichen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Verschärfung der Vorschriften über den Verkehr mit Albert Deß [CDU/CSU]: Das waren gute drei Tierarzneimitteln. Ich denke, daran sollte sich Herr Minuten! – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Carstensen erinnern. Michael, was bin ich dir schuldig?) Die Elften AMG-Novelle wurde vom Bundesrat ein- stimmig verabschiedet. Auch die maßgeblichen Ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bände waren einverstanden. Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Friedrich Ostendorff vom (Abg. Julia Klöckner [CDU/CSU] meldet sich Bündnis 90/Die Grünen. zu einer Zwischenfrage)

Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) NEN): Herr Kollege Ostendorff – – (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mich erstaunt schon, was ich hier in Berlin Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- alles lerne: dass der Bauer Ostendorff und auch der Tier- NEN): arzt Priesmeier vom Ministerium ferngesteuert sind. Ich möchte keine Fragen zulassen. (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der steht un- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ter verdeckter Feldbeobachtung!) Keine Zwischenfragen. Gut. Ich habe heute Abend eine ganz neue Erkenntnis gewon- nen. Das hat schon einen gewissen Unterhaltungswert. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber wir wollen uns darauf gar nicht weiter einlassen; NEN): denn diesem Thema gebührt Sachlichkeit. Ich möchte gerne fertig werden. Die Behandlung von erkrankten Tieren mit Arznei- (Unruhe bei der CDU/CSU und der FDP) mitteln ist ein sensibler Bereich mit direktem Bezug zum – Ich sage Ihnen auch, warum. Dieses Thema eignet sich Tier- und Verbraucherschutz. Alle arzneimittelrechtli- chen und tiergesundheitlichen Maßnahmen in diesem meiner Meinung nach nicht für dieses Spielchen. Dazu Tätigkeitsfeld müssen also mit Blick auf Verbraucher- ist es viel zu ernst. schutz und Tierschutz abgewogen werden. (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben uns interfraktionell viele Male getroffen, Mit diesem Gesetz und insbesondere der 7-Tage-Re- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Julia gelung wurde ein Fortschritt für den Verbraucherschutz Klöckner [CDU/CSU]: Dreimal!) erreicht, da die Regelungen entscheidend zur Minimie- rung des Arzneimittelbestandes beim Tierhalter beige- um eine einvernehmliche Regelung zu erarbeiten. Frau tragen haben. Eine restriktive Anwendung von Antibio- Klöckner hat das ja gerade bestätigt. Umso mehr er- tika ist auch ein wichtiger Beitrag zur Beschränkung der staunt es uns, Frau Klöckner, dass die Opposition in ih- Ausbreitung der Antibiotikaresistenz. So wird mögli- rem Antrag zum Arzneimittelgesetz für Tierärzte und chem Missbrauch durch klare Verbotsnormen entgegen- Landwirte fordert, dass verbraucherschutzpolitische gewirkt. Nicht zuletzt ist die enge Bindung der Arnzei- Herzstück der Elften Arzneimittelgesetzesnovelle, die so mittelanwendung an die tierärztliche Untersuchung auch genannte 7-Tage-Regelung zur Befristung der Abgabe ein Beitrag zum Tierschutz. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10173

Friedrich Ostendorff (A) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ach ja?) Zu den übrigen Punkten des CDU/CSU-Antrags: Bei (C) näherem Hinsehen zeigt sich, dass es sich um Themen Dies alles will die Opposition durch die vollständige handelt, die erstens entweder bereits im Entwurf des Streichung der 7-Tage-Regelung offenkundig aufs Spiel BMVEL enthalten sind oder zweitens nur im Rahmen setzen. der EU geregelt werden können (Widerspruch bei der CDU/CSU – Hans- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Konkret bitte!) Michael Goldmann [FDP]: Völliger Blödsinn! Unverschämtheit!) oder drittens gar nichts im Arzneimittelgesetz zu suchen haben. Der im Antrag eine so wichtige Rolle spielende Die in dem Antrag genannten Voraussetzungen, die an Begriff der Behandlung ist in der Verordnung über tier- die Stelle der 7-Tage-Regelung treten sollen, sind als ärztliche Hausapotheken geregelt; berücksichtigt werden Kriterien zur Befristung der Abgabe ungeeignet. neben der Einzeltierbehandlung längst auch die Behand- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Welche denn?) lung von Tierbeständen. Was die Opposition will, würde im Ergebnis dazu füh- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was würde ren, dass für jede Krankheit Arzneimittel in unbegrenz- denn Ihre Mutter zu dem sagen, was Sie hier ter Menge abgegeben werden können, da eine Kopplung vortragen?) an bestimmte Behandlungsarten keinerlei Kontrolle er- Dies alles ist also nichts Neues. Im Übrigen waren sechs möglicht. der neun Punkte des Antrags bereits wortgleich im An- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Genau! Das trag der FDP, ist dein Niveau!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt Vermeintlich praxisgerecht zu sein, Frau Klöckner, hat nicht!) dort seine Grenzen, wo die Belange des Verbraucher- den der VEL-Ausschuss gerade abgelehnt hat. schutzes berührt sind, und das ist hier eindeutig der Fall. Das alles heißt schlussfolgernd: Dieser Antrag kann (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Völliger nur abgelehnt werden. Quatsch! – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Le- sen!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zurufe Zu dem in der Presseerklärung der CDU/CSU geäu- von der CDU/CSU: Oh!) ßerten Vorwurf, die Bundesregierung sei nicht tätig ge- worden, um bestimmten Schwierigkeiten bei der An- (B) wendung der Vorschriften der Elften AMG-Novelle Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D) abzuhelfen, ist festzustellen: Ich schließe die Aussprache. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Trifft Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf hundertprozentig zu!) Drucksache 15/3112 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Das BMVEL hat unter Wahrung der 7-Tage-Regelung verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlos- für Antibiotika – das ist die einzig richtige Deutung – sen. längst einen Entwurf zur Änderung des Arzneimittelge- setzes erarbeitet, der eine Flexibilisierung bestimmter Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Verkehrsregelungen enthält, und intensiv mit den Län- Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar dern und den Verbänden, aber auch mit den Fraktionen Mark, Ute Kumpf, Dr. Christine Lucyga, weiterer – Sie haben es selbst bestätigt – diskutiert. Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian die 7-Tage-Regelung außer Kraft gesetzt!) Ströbele, Dr. Ludger Volmer, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Dies erfolgte allerdings erst nach eingehender Prüfung DIE GRÜNEN der Frage, ob die vonseiten der Praktiker und der Bauern herangetragenen Anliegen fachlich gerechtfertigt und Intensivierung der Beziehungen zwischen der mit dem Verbraucherschutz vereinbar sind. Europäischen Union, Lateinamerika und der Karibik Ergebnis ist eine fachlich konsistente Regelung, die bei bestimmten Krankheiten, bei denen dies sinnvoll ist, – Drucksache 15/3205 – eine Ausnahme von der 7-Tage-Regelung – 31 Tage – Überweisungsvorschlag: vorsieht. Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aha! Dann Landwirtschaft habt ihr sie doch abgeschafft!) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Damit ist den Hinweisen aus der Praxis präzise Rech- Entwicklung nung getragen worden. Gleichzeitig wird gewährleistet, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union dass die zuvor skizzierten Ziele der Elften AMG- Die Reden hierzu sollen zu Protokoll genommen wer- Novelle erreicht werden. den. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Lothar 10174 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Mark, SPD, Claudia Nolte, CDU/CSU, Thilo Hoppe, einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- (C) Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Claudia Winterstein, sung so beschlossen. FDP.1) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Da eine Aussprache nicht stattgefunden hat, brauche ordnung. ich sie auch nicht zu schließen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf destages auf morgen, Freitag, den 28. Mai 2004, 9 Uhr, Drucksache 15/3205 an die in der Tagesordnung aufge- ein. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Die Sitzung ist geschlossen.

1) Anlage 8 (Schluss: 22.19 Uhr)

Berichtigung 110. Sitzung, Seite 9999 (B), erster Absatz, der erste Satz ist wie folgt zu lesen: „Nicht nur Simbabwe, son- dern auch der Sudan ist jetzt zur Nagelprobe für Afrikas Bekenntnis zur Einhaltung der Menschenrechte, zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geworden.“ Seite 10007 (B), erster Absatz, der zweite Satz ist wie folgt zu lesen: „Unsere Regierung und auch der Deutsche Bun- destag tun das seit langem, nämlich seit dem letzten Jahr, Kollege Büttner.“

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10175

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Abkommens zwischen der Internationalen Si- cherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Repu- entschuldigt bis blik Serbien vom 9. Juni 1999 (Tagesordnungs- Abgeordnete(r) einschließlich punkt 6 a) Wir erklären: Angesichts der dramatischen Entwick- Barthle, Norbert CDU/CSU 27.05.2004 lung in den vergangenen Wochen und der gezielten An- griffe gegen Minderheitenangehörige im Kosovo sind Borchert, Jochen CDU/CSU 27.05.2004 deren Leben und Grundrechte im Kosovo massiv gefähr- det. Es ist zu gezielten Übergriffen auf Rückkehrersied- Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 27.05.2004 lungen von ethnischen Minderheiten im Kosovo gekom- men. Für uns ergibt sich daraus die Konsequenz, dass Haack (Extertal), Karl SPD 27.05.2004 auf absehbare Zeit alle Rückführungsmaßnahmen unter- Hermann bleiben müssen. Wir begrüßen daher die Entscheidung von UNMIK, seit dem 17. März 2004 alle Abschiebun- Hagemann, Klaus SPD 27.05.2004 gen von ethnischen Minderheiten zu stoppen. Aus unserer Sicht kommt es bei der Frage der Rück- Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 27.05.2004 kehr von Minderheitenangehörigen ins Kosovo darauf an, ob Gefahren für Leib und Leben ausgeschlossen wer- Dr. Rexrodt, Günter FDP 27.05.2004 den können. Dies wird übereinstimmend von UNMIK, UNHCR, OSZE für die nahe Zukunft verneint. Sowohl Scheuer, Andreas CDU/CSU 27.05.2004 KFOR als auch UNMIK verweisen darauf, dass es in der angespannten Lage sicherheitspolitisch kontraproduktiv Schröder, Gerhard SPD 27.05.2004 wäre, ethnische Minderheiten in das Kosovo zurückzu- führen und damit möglicherweise die ethnischen Span- nungen zu verschärfen. Die Bundesregierung unter- nimmt größte Anstrengungen, die Lage im Kosovo zu Anlage 2 stabilisieren und dauerhaft zu verbessern. Die Absicht (B) (D) Erklärung nach § 31 GO von Landesinnenministern, aus innenpolitischen Erwä- gungen Abschiebungen in das Kosovo durchzuführen, der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), ist nicht nur menschlich, sondern auch sicherheitspoli- Marianne Tritz, Werner Schulz (Berlin), Fritz tisch fatal. Damit würde deutsche Innenpolitik außen- Kuhn, Irmingard Schewe-Gerigk, Silke Stokar politische Ziele konterkarieren. von Neuforn, Ulrike Höfken, Marieluise Beck Die Konsequenz sollte nunmehr – nach Jahren der (Bremen), Undine Kurth (Quedlinburg), Josef Duldungen für den Personenkreis der Minderheitenange- Philip Winkler, Petra Selg, Christine Scheel, hörigen aus dem Kosovo – die Gewährung eines recht- Jutta Dümpe-Krüger, Albert Schmidt (Ingol- mäßigen Aufenthaltes und damit die Ermöglichung einer stadt), Winfried Hermann, Cornelia Behm, Zukunftsperspektive sein. In diesem Sinne sollte sich der Franziska Eichstädt-Bohlig, Thilo Hoppe, Bundesinnenminister intensiv gegenüber seinen Länder- Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, Dr. Ludger kollegen und der Innenministerkonferenz einsetzen. Volmer, Jerzy Montag, Grietje Bettin, Christa Nickels, Alexander Bonde, Dr. Thea Dückert, Weiterhin fordern wir das BMI auf, gegenüber dem Hubert Ulrich, Winfried Nachtwei, Anna Bundesamt für Flüchtlinge klarzustellen, dass unverzüg- Lührmann, Hans-Christian Ströbele, Peter lich die Praxis der generellen Einleitung von Widerrufs- Hettlich und Markus Kurth (alle BÜNDNIS 90/ verfahren gegen anerkannte Flüchtlinge aus dem Kosovo DIE GRÜNEN) sowie Rüdiger Veit, René eingestellt wird. Die neuerliche Gewalteskalation im Röspel, Uta Zapf, Hans Büttner (Ingolstadt), Kosovo zeigt, dass an eine Beendigung des Flüchtlings- Karin Kortmann, Dr. Cornelie Sonntag- schutz-Status noch lange nicht zu denken ist. Ist eine Wolgast, Christoph Strässer und Eckhardt Rückkehr nicht zumutbar, dann darf der Flüchtlingssta- Barthel (Berlin) (alle SPD) zur Abstimmung tus nicht widerrufen werden. über die Beschlussempfehlung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleis- Anlage 3 tung eines sicheren Umfeldes für die Flücht- Erklärung nach § 31 GO lingsrückkehr und zur militärischen Absiche- rung der Friedensregelung für das Kosovo auf des Abgeordneten Jürgen Koppelin (FDP) zur der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom Fortsetzung der Deutschen Beteiligung an der 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo 10176 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für – Qualitätssicherung im Bildungswesen und (C) die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen kulturelle Vielfalt bei GATS-Verhandlun- Absicherung der Friedenregelung für das Ko- gen garantieren sovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- (Tagesordnungspunkt 10 a bis c) nen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch- Technischen Abkommens zwischen der Interna- Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Das Allgemeine tionalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen, Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien GATS, ist zweifelsohne eine der wichtigsten Vertrags- und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 (Ta- verhandlungen, die im letzten Jahrzehnt international ini- gesordnungspunkt 6 a) tiiert wurden. Dienstleistungen sind ein wichtiger Wirt- Ich werde der Fortsetzung der deutschen Beteiligung schaftszweig mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten im Kosovo zustimmen, auch wenn ich dazu erhebliche und stetig steigendem Anteil am Welthandel. Wie hoch Bedenken habe. der Anteil sein wird, hängt wesentlich von den Inhalten und Modalitäten der GATS-Verhandlungen ab. Seit dem Einsatz deutscher Soldaten im Kosovo hat die deutsche Außenpolitik keine nennenswerten Aktivi- Beim GATS geht es dabei nicht allein um private, täten übernommen, damit der Einsatz im Kosovo poli- wirtschaftsnahe Dienstleistungen. Es geht auch um Bil- tisch erfolgreich abgeschlossen werden kann. Dazu hätte dung, medizinische und soziale Dienstleistungen, Um- gehört, alle diplomatischen Möglichkeiten auszuschöp- weltdienste, Kultur und Sport. Nur die „in Ausübung ho- fen und alle Kräfte zu bündeln, damit eine Aussöhnung heitlicher Gewalt“ erbrachten Dienstleistungen sind stattfinden kann. ausgenommen – aber was die sind, darüber gibt es kei- nen weltweiten Konsens. Viele Zusagen, die Bundesaußenminister Fischer in seinem Wortbeitrag am 11. Juni 1999 gegenüber dem Bei den Verhandlungen geht es entscheidend darum, Deutschen Bundestag gemacht hat, sind nicht erfüllt was an Leistungen künftig öffentlich erbracht wird bzw. worden. Der Wille, diese Zusagen zu erfüllen, ist nicht erbracht werden darf und welche Kriterien außer der rei- erkennbar. Die Bundesregierung bleibt auch den deut- nen Gewinnerzielung Geltung haben sollen. Gerade in schen Soldaten im Kosovo die Antwort schuldig, wie der Daseinsvorsorge, bei den Leistungen, die in unseren lange dieser Einsatz zeitlich noch dauern soll. Städten und Gemeinden erbracht werden, sind die Fra- Bundesaußenminister Fischer hatte versprochen, dass gen existenziell, wie viel Gestaltungsspielraum die öf- der Frieden im Kosovo dann eintreten wird, wenn die in- fentliche Hand noch haben wird, wie viel Zuschüsse (B) ternationale Friedenstruppe im Kosovo steht. Seit fünf noch erlaubt sind bzw. ob jeder private Anbieter ebenso (D) Jahren ist die internationale Friedenstruppe im Kosovo Anspruch auf öffentliche Subventionen hat wie gemein- präsent und Frieden ist immer noch nicht eingekehrt. nützige Organisationen. Der vom deutschen Außenminister versprochene Frie- Beim GATS geht es mit einer internationalen Markt- densprozess für den Kosovo ist nach fünf Jahren militä- ordnung für Dienstleistungen nicht nur um eine neue rischem Einsatz immer noch weit entfernt. Ordnung des globalen Arbeitsmarktes, sondern es wird Diese negative Bilanz ist leider auch auf eine deut- eine neue globale, soziale Ordnung vorgezeichnet, die sche Außenpolitik zurückzuführen, deren Interesse für tief in die bisherigen politischen, sozialen und kulturel- das Kosovo längst nur noch auf ein Minimum be- len Wertvorstellungen und Ordnungssysteme der meis- schränkt ist. ten Nationalstaaten eingreift und die schon bisher die Handlungsspielräume für politische Gestaltung in der Vergangenheit eingeschränkt hat und zukünftig erheb- Anlage 4 lich einschränken kann. Dies ist in der nationalen und in- ternationalen Debatte immer mehr bewusst geworden. Zu Protokoll gegebene Rede Das GATS ist nur scheinbar ein exotisches Spezialthema – zur Beratung der Anträge: in Wirklichkeit geht es uns alle an. – Für ein höheres Liberalisierungsniveau Das Scheitern der WTO-Verhandlungen in Cancun beim Welthandel mit Dienstleistungen – hatte auch zu einem weit gehenden Stillstand der GATS- GATS-Verhandlungen zügig voranbringen Verhandlungen geführt. – Internationale Rechtssicherheit und trans- Auf den ersten Blick scheint der Verhandlungsprozess parente Regeln für den Dienstleistungshan- wieder da, wo er vor einem Jahr bereits stand. Allerdings del – GATS-Verhandlungen voranbringen wurden – von der Öffentlichkeit weitgehend unbe- merkt – die GATS-Verhandlungen mit einer Sondersit- – Doha-Verhandlungen nach dem Scheitern zung des WTO-Dienstleistungsrates am 2. April wieder von Cancun konstruktiv und zügig voran- aufgenommen. Damit stellt sich die Frage, ob wir, die bringen Industrieländer, die Europäische Union und die deutsche – Doha-Runde bis 2005 zum Erfolg führen – Bundesregierung aus dem Scheitern in Mexiko und der Mehr Entwicklung, Armutsbekämpfung öffentlichen Debatte in unserem Land die nötigen Leh- und Wohlstand durch Freihandel ren gezogen haben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10177

(A) Aus Sicht von uns Sozialdemokraten waren die tion für hoheitlich erbrachte Dienstleistung enthält, oder (C) Gründe für ein Scheitern lange absehbar gewesen: Die Sie haben es bewusst ignoriert. fragile Lage der Weltwirtschaft zeigt zwar milde Zei- Sie wissen doch, dass gerade bei uns viele Leistungen chen von Erholung, dies jedoch regional begrenzt. öffentlich finanziert und reguliert sind, die in anderen Ganze Kontinente wie Lateinamerika und Afrika konn- Ländern privat erbracht oder outgesourced sind: vom ten und können von den positiven Impulsen der Welt- Gefängnisbetrieb bis zum Gefangenenverhör, die bei uns konjunktur nicht profitieren, auch in Europa sind die klassisches Gewaltmonopol des Staates sind und bleiben Perspektiven eher mäßig. müssen. Dies erlaubt vielen Regierungen nicht, großzügige Wer mit soviel Dilettantismus zu Werke geht und Handelszugeständnisse im Verhandlungsprozess zu ma- gleichzeitig lauthals das konzeptionelle Ende dieser Re- chen – schon gar nicht wenn sie vor bedeutsamen Wah- gierung verkündet, hat fundamentale Probleme mit der len stehen wie zum Beispiel den Präsidentschaftswahlen Wahrnehmung von Realität. in den USA. Wo wir gerade bei Realität sind: Der FDP-Antrag Die US-Debatte macht auch deutlich, dass die Beant- geht zudem noch völlig am politischen Konsens in der wortung der Frage, was mehr Welthandel und Marktöff- EU vorbei. Dort war bisher Gott sei Dank Einigkeit da- nung wirklich für Arbeitsplätze und Wohlstand bringen, rüber, dass die wesentlichen Bereiche der Daseinsvor- unausweichlich ist und von der Politik beantwortet wer- sorge wie zum Beispiel Bildung, Gesundheit und Kultur den muss. Die optimistischen Aussagen der Opposition von der Liberalisierung ausgeklammert werden und eben entsprechen jedenfalls nicht den Tatsachen. nicht, wie von Ihnen gefordert, den Interessen einiger Dass bisher in der WTO die soziale Dimension völlig großer Dienstleistungskonzerne geopfert werden. Sie ha- und die ökologische nahezu völlig gefehlt haben, war ben mit Ihren Ansichten weder in der EU-Kommission und ist für die Handelsexperten kein Grund zur Beunru- noch im Europäischen Parlament noch in diesem Lande higung – wohl aber für Hunderte von Millionen Men- die Mehrheit. schen. Ohne die soziale Frage wird es aber keine „Glo- Viel gravierender ist jedoch die FDP- und CDU/CSU- balisierung mit menschlichem Gesicht“ geben, sondern Forderung, keine Sozialstandards im GATS, aber auch Globalisierung wird ein Prozess bleiben bzw. werden, bei der WTO zu verankern. Lassen Sie es sich gesagt der auf dem Rücken breiter Schichten zugunsten Weni- sein: Der Arbeitsmarkt ist kein Markt wie jeder andere. ger durchgesetzt wird. Und wenn Sie so tun, als sei zwischen Menschen, die ihre Arbeit verkaufen, und dem Handel mit Socken oder Wenn man sich die hier eingebrachten und zur Ab- Kartoffelchips kein Unterschied, dann zeigt das einen (B) (D) stimmung gestellten GATS-Anträge der CDU/CSU- so- Zynismus, der dem Kapitalismus vergangener Jahrhun- wie der FDP-Fraktion ansieht, ist klar zu sehen, dass sie derte entstammen könnte. eine Globalisierung auf dem Rücken der Menschen zu- gunsten weniger Reicher durchsetzen wollen. In Ihren Das Verbot von ausbeuterischer Kinderarbeit, Lohn- hier vorliegenden Anträgen tauchen erneut die gleichen sklaverei, gewaltsamer Unterdrückung der Koalitions- weltpolitisch gescheiterten, neokonservativen Forderun- freiheit und der massiven Diskriminierung von Frauen gen auf, wie sie schon vor Cancun von Ihnen zu hören und zum Beispiel Andersfarbiger soll auf dem Altar des waren. Es sind die gleichen Allgemeinplätze zu Proble- „Freihandels um jeden Preis“ geopfert werden. Selbst men, die vielfältiger sind, als Sie sie wahrzunehmen be- die großen multinationalen Konzerne – zumindest die lieben. Dass Handel die Weltprobleme löst, ist für große mit Sitz im kontinentalen Europa – sind da schon deut- Regionen der Welt eine Schimäre oder besser ein trojani- lich weiter. sches Pferd, in dessen Gefolge sich Deindustrialisierung Ihr Hinweis, Sozial- und Arbeitsstandards sollten und Sozialdumping verbreitet haben. doch bitte von der Internationalen Arbeitsorganisation Dass im Vorfeld einer neuen Liberalisierungsrunde, – der ILO – durchgesetzt werden, ist nur noch zynisch. zunächst tief greifende Reformen der WTO hin zu mehr Sie wissen doch genau, dass die ILO im Gegensatz Gleichberechtigung der verhandelnden Staaten, zu einer zur WTO über keinerlei wirksame Durchsetzungsmittel sozialen und ökologischen Dimension im Mittelpunkt verfügt. In Wirklichkeit wollen Sie nur verhindern, dass stehen müssen, diese Erkenntnis ist an Ihnen vorbeige- es weltweit durchsetzbare und einklagbare Arbeitneh- gangen. merrechte und Sozialstandards gibt, damit der Druck auf Der in dem Antrag der FDP-Fraktion eröffnete Forde- die Löhne und Arbeitsbedingungen in Deutschland an- rungskatalog lässt darüber hinaus einen geradezu leicht- hält. sinnigen Umgang mit den Interessen unseres Landes er- Sie verstehen die WTO offenbar nur als einen Club, kennen. der völlig frei von Rücksichtnahme auf die ökologische und soziale Dimension des Wirtschaftens, lediglich als Sie behaupten zum Beispiel, dass das GATS keinerlei „Sesam, öffne Dich!“ für die großen Unternehmen auf Implikationen für hoheitlich erbrachte Dienstleistungen den Weltmärkten wirken soll. habe, und versuchen damit, Bedenken bei der öffentli- chen Daseinsvorsorge wie Bildung, Gesundheit und Wir Sozialdemokraten stehen für eine weltoffene, ex- Kultur zu zerstreuen. Das heißt, sie haben entweder nicht portstarke Wirtschaft; Ihr einseitiges und verengtes Ver- verstanden, dass das GATS keine hinlängliche Defini- ständnis von Globalisierung können wir nicht akzeptieren. 10178 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Die historische Wahrheit ist im letzten Bericht der ILO- keine Entsenderichtlinie, die Mindestlöhne und Mindest- (C) Weltkommission nachzulesen; sorgfältig geprüft und standards verbindlich regelt. vorbereitet von Unternehmen, Wissenschaftlern und Po- Drittens. Wir wollen den Bereich der öffentlichen Da- litikern. seinsvorsorge im weiteren Sinne nicht in die Liberalisie- Dort wurde festgestellt, dass in der bisherigen Form, rung des Dienstleistungshandels einbeziehen. Deswe- das heißt ohne Gewährleistung von Arbeitnehmerrech- gen ist es gut, dass die Europäische Kommission in den ten, Liberalisierung und Globalisierung eben nicht zu Bereichen Bildung, audiovisuelle Dienstleistungen, Ge- mehr Wohlstand und Arbeitsplätzen geführt haben und sundheit sowie Wasser, um nur einige Bereiche zu nen- auch nicht führen werden. Vielmehr sind im Zuge dieser nen, keine Angebote gemacht hat. Dabei soll es im Laufe Art von Globalisierungsprozessen verstärkt Sozial- und des GATS-Verhandlungsprozesses auch verbindlich blei- Ökologiedumpings zu beobachten. Im Gegensatz zu Ih- ben. Wir sollten uns hier auf eine möglichst weite Defi- nen haben die rot-grünen Koalitionsfraktionen erkannt nition der Public Services und der öffentlichen Daseins- und mit ihren im Parlament verabschiedeten Anträgen vorsorge einigen, um bei Streitigkeiten im Rahmen der klargestellt, dass die GATS-Verhandlungen eine einma- WTO klarzustellen, dass diese Bereiche allein der politi- lige Gelegenheit bieten, nicht nur ökonomische Perspek- schen Entscheidung der souveränen Staaten vorbehalten tiven für Unternehmen völkerrechtlich zu öffnen, son- sind und bleiben. Das muss auch Umweltdienstleistun- dern gleichzeitig grundlegende ökologische und soziale gen und den Verkehrsbereich mit einschließen. Für die Standards in der internationalen Welthandelsordnung zu Entscheidung über Qualität und ihre Sicherung sowie die verankern. Die ILO-Arbeitsnormen bilden dafür einen Frage der Gewährung öffentlicher Subventionen muss ersten Anfang, eine von den meisten Völkern der Welt das Gleiche gelten. ratifizierte Ausgangsbasis. Wir befinden uns als Deutscher Bundestag erst am Anfang der Diskussion darüber, wie wir Globalisierung Im Gegensatz zu Ihnen haben wir bei den derzeitigen sozial, ökologisch und fair gestalten können. Die An- GATS-Verhandlungen drei Prioritäten: träge der Opposition haben dazu leider weder neue Er- Ersten. Im Gegensatz zur CDU/CSU und insbeson- kenntnisse noch Anregungen gebracht. Im Gegenteil, sie dere zur FDP sehen wir gerade jetzt – im Zuge der Ost- zeigen Wegmarkierungen in eine Richtung, die wir poli- tisch nicht gehen wollen: in eine Welt, die in Arm und erweiterung der Europäischen Union – grundsätzlich Reich gespalten ist, in der die Reichen noch reicher wer- keinen Bedarf für eine allgemeine Öffnung der Dienst- den sollen und die souveränen Nationalstaaten als leistungsmärkte, auch nicht für grenzüberschreitende, Nachtwächter und Bereitsteller von Polizisten, Armeen zeitlich befristete Dienstleistungen für Selbstständige sowie Infrastruktur gerade noch zugelassen sind – aber (B) oder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ausnah- (D) schon kaum mehr als Schiedsrichter zwischen den gro- men im Bereich von Managern, Geschäftsreisenden, ßen weltweiten Konzernen. Diese Rolle übernehmen ja Wissenschaftlern und Forschern sowie bei der Weiterbil- immer mehr die hinter verschlossenen Türen tagenden dung von Akademikern sehen wir dagegen als eher un- Schiedsgerichte der WTO. problematisch an. Was würde es auch für einen Sinn ma- chen, bis zu siebenjährige Übergangsfristen für die Ein solches Modell einer weltweiten sozialen Eiszeit völlige Freizügigkeit auf dem europäischen Arbeits- lässt uns schaudern. Wir wollen eine andere, eine so- markt aus Arbeitsmarktgründen durchzusetzen und in- ziale, ökologische und faire Welt. Dies ist dringend und ternational quasi über die Hintertür einen kaum kontrol- auch möglich – nur offensichtlich nicht mit Ihnen. Ihre lierbaren Zustrom zuzulassen, wie es die FDP fordert Anträge lehnen wir deswegen entschieden ab. und dem die CDU/CSU offensichtlich nicht wider- spricht? Anlage 5 Zweitens. Wir wollen im Rahmen von allen Handels- abkommen soziale, ökologische und Verbraucherstan- Zu Protokoll gegebene Rede dards systematisch einbezogen sehen. Und es darf auf zur Beratung des Antrags: Frauen und Fami- keinen Fall – über welches Kleingedruckte auch immer – lien in der Bundeswehr stärken und fördern ein Zwei- oder Dreiklassensystem von Beschäftigten ge- (Tagesordnungspunkt 16) ben. Das entsteht aber fast zwangsläufig, wenn nicht von Anfang an klargestellt wird, dass auf unserem Boden das Arbeitsverhältnis nach deutschem Recht geregelt ist. Wir Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die wollen keine Lohnsklaven zum Beispiel aus Entwick- Förderung von Frauen und die Verbesserung der Verein- barkeit von Beruf und Familie ist für uns ein zentrales lungsländern in der Europäischen Union und in Deutsch- Anliegen. Dieses Anliegen forcieren wir Grünen inten- land, die unter unsäglichen Arbeitsbedingungen und zu siv und seit langem in allen gesellschaftlichen Bereichen Minimallöhnen bei uns arbeiten, wie das zum Beispiel in und natürlich auch in der Bundeswehr. den Golfstaaten der Fall ist. Das, was sich heute schon in Deutschland auf vielen Baustellen abspielt, ist schlimm Die Stärkung und Förderung von Frauen und Fami- genug – eine Ausweitung darf es nicht geben. Und die lien in der Bundeswehr ist ein wichtiges Thema. Inso- Gefahr ist nicht gering. Denn in Deutschland gibt es fern kann ich die Initiative der CDU/CSU begrüßen. Al- keine verbindlichen Mindestlöhne wie in den meisten lerdings kommt Ihr Antrag leider einige Zeit zu spät. europäischen Ländern und – außer im Baubereich – Vielleicht haben Sie gedacht: Besser spät als nie. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10179

(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU; hin, wo der Schuh am meisten drückt. Aus dem Jahres- (C) ich finde es ja ganz wunderbar, dass sie sich gerade jetzt bericht des Wehrbeauftragten wurde insbesondere das dieses Themas annehmen. Wir alle wissen, dass ein ent- Problem der Länge der Auslandseinsätze deutlich. Ge- sprechender Gesetzentwurf des Verteidigungsministe- rade weil Auslandseinsätze durch das veränderte Ein- riums zur Durchsetzung der Gleichstellung von Solda- satz- und Aufgabenspektrum der Bundeswehr immer tinnen und Soldaten bereits die Endabstimmung mehr zur Normalität des Dienstes werden, wird die Ver- zwischen den beteiligten Ressorts passiert hat. In Kürze kürzung der Einsatzdauer der Auslandseinsätze von wird der abgestimmte Entwurf im Bundestag zur Bera- sechs Monate auf nunmehr vier Monate die Soldaten und tung vorliegen. Soldatinnen diesbezüglich ein großes Stück entlasten. Aber Ihr Antrag zur Stärkung und Förderung von Neben den Verbesserungen für Dienst und Familie set- Frauen und Familien in der Bundeswehr kommt auch zen wir uns aber auch ein für Gesetze und Regelungen, aus einem anderen Grund zu spät. Ihre Forderungen hät- welche die Bundeswehr speziell für Frauen attraktiver ten letztes Jahr vielleicht noch Sinn gemacht, sie sind macht. Vorbild für das Soldatinnen und Soldaten- aber heute leider absolut überholt. Die wesentlichen For- Gleichstellungsgesetz ist das Bundesgleichstellungsge- derungen der CDU/CSU haben sich längst erledigt, weil setz für den öffentlichen Dienst. Viele Regelungen zur sie heute schon Realität oder mit dem neuen Gleichstel- Gleichstellung und Förderung von Frauen können aus lungsgesetz auf dem Weg der Realisierung sind. Erstens. diesem Gesetz übernommen werden. Allerdings gibt es Es wird ein Gesetz zur Durchsetzung der Gleichstellung auch Bereiche und besondere Anforderungen an den mi- von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr geben. litärischen Dienst bei der Bundeswehr, denen besonders Zweitens. Es wird Teilzeitarbeit und Verbesserungen für Rechnung getragen werden muss, zum Beispiel keine Alleinerziehende und Soldatinnen und Soldaten mit Kin- Teilzeit bei Auslandseinsätzen und auf Schiffen. Wir dern geben. Drittens. Auch die Verkürzung der Auslands- müssen eine Brücke schlagen zwischen den besonderen einsätze ist längst beschlossen. Sie sind leider etwas spät Erfordernissen bei den Streitkräften auf der einen Seite dran. Es macht wenig Sinn, über Dinge zu sprechen, die und den Belangen von Frauen und Familien auf der an- bereits Realität sind. deren Seite. Frauen leisten erst seit dem 1. Januar 2001 freiwillig Dienst in der Bundeswehr. Seitdem stehen ih- In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen von der CDU/ nen auch dort alle Laufbahnen offen. Nur etwa CSU, scheint ein Frauenbild durch, das ich bedenklich 9 000 Soldatinnen sind bei der Bundeswehr, lediglich finde. Da zeigt sich die verengte Sichtweise. Denn Ihnen etwa die Hälfte, 43 Prozent, ist im Truppendienst. Es scheint es doch wieder nur darum zu gehen, Frauen über gibt nicht nur relativ wenige Frauen, sondern wegen der ihre Rolle als Mutter zu definieren und also auch in die- späten Öffnung auch erst wenige Jahrgänge bei den nor- (B) sem Sinne zu fördern. Bei Ihnen geht es hauptsächlich malen Verwendungen. Deshalb müssen wir auch weiter- (D) darum, dass Soldatinnen Mütter sind und wie sie Dienst hin Erfahrungen sammeln, um den speziellen Bedürfnis- und Kinder besser miteinander vereinbaren können. Die sen der Frauen tatsächlich Rechnung tragen zu können. Frage ist jedoch, ob dies derzeit wirklich das Hauptpro- Keinesfalls dürfen wir die Integration der erst wenigen blem ist oder ob wir uns nicht zuvorderst darum küm- Frauen bei der Bundeswehr durch zu viele Regelungen mern müssen, dass Frauen in alle Strukturen der Bundes- gefährden und die betroffenen Frauen überfrachten und wehr vollständig integriert werden? Die Vereinbarkeit überfordern. Wir werden dem Prozess der Integration von Beruf und Familie steht auch in dieser Frage ganz weiterhin hohe Aufmerksamkeit widmen. oben auf der Agenda. Aber gleichzeitig sollten wir auch die Förderung der gleichberechtigten Integration von Frauen in die Bundeswehr nicht aus dem Blick verlieren. Anlage 6 Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen will ein Zu Protokoll gegebene Reden modernes Gleichstellungsgesetz für die Bundeswehr. Es soll unsere beiden Hauptzielrichtungen miteinander ver- zur Beratung der Anträge: binden: erstens die Integration von Frauen in der Bun- – Unterstützung der neuen Regierung Boli- deswehr verbessern und zweitens die Vereinbarkeit von viens bei der demokratischen Stabilisierung Beruf und Familie fördern. Der zweite Punkt, die Verein- des Landes barkeit von Dienst und Familie, betrifft aber nicht nur die Mütter unter den Soldatinnen, sondern ausdrücklich – Chancen zum demokratischen Neubeginn in auch die Väter unter den Soldaten. Hierzu gehören neue Haiti unterstützen Angebote von familiengerechten Arbeitszeiten. – Nach der Neuwahl in Argentinien: Entwick- Wir wollen, dass Soldaten und Soldatinnen mit Fami- lungszusammenarbeit mit Argentinien und lienpflichten die Möglichkeit bekommen, ihren Dienst Uruguay zielgerichtet fortführen als Teilzeitbeschäftigung auszuüben. Auch Soldaten sol- len die Chance haben, sich an der Erziehung der Kinder (Tagesordnungspunkt 19 a bis c) zu beteiligen. Mit der Einrichtung der Teilzeit schaffen wir dafür die Grundlage. Wir Grünen unterstützen vor Karin Kortmann (SPD): Als wir am 15. Januar hier allem flexible Regelungen. Denn die diversen privaten im Parlament über die jüngsten Entwicklungen in Boli- und familiären Situationen der Soldaten lassen sich nicht vien debattierten, waren wir gemeinsam der Auffassung, in zwei oder drei Schubladen einsortieren. Wir hören dass der neu gewählte bolivianische Präsident Carlos 10180 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Mesa der besonderen Unterstützung der internationalen des angeklagte Offiziere freigesprochen wurden. Nach- (C) Gemeinschaft bedürfe, um das krisengeschüttelte arme dem das weitere Verfahren in die Zuständigkeit der Zi- Land regieren zu können und ihm soziale und wirtschaft- vilgerichte gelegt wurde, riefen die Generäle ihre liche Perspektiven zu geben. Soldaten Anfang Mai in die Kasernen zurück und ver- setzten die Armee in Alarmbereitschaft. In den letzten vier Monaten blieben aber die erhofften Befriedigungen der inneren Unruhen aus. Die politische Fast zu ähnlich drastischen Maßnahmen haben sich Lage hat sich weiter verschärft. Während der Karnevals- Rentner zusammengeschlossen, um ihre Rentenansprü- zeit kursierte in Bolivien gar eine Frage, die die Destabi- che durchzusetzen. Ihr Protest, mit Selbstmordattentä- lität der Regierung offenbart: Was haben Präsident Mesa tern bekräftigt, hat die Regierung gezwungen, den Ren- und der Fasching gemeinsam? Die Antwort: No se sabe, tenhöchstsatz abzusenken. Ehemalige Richter des cuando cae. Man weiß nie, auf welches bzw. an welchem Obersten Gerichtshofes sollen bis zu 3 506 Dollar mo- Datum er fällt. natlich an Rente erhalten haben – ein Betrag, der zwan- zigmal höher ist als der Mindestlohn von monatlich Der Verlust des Vertrauens in die Demokratie, die ge- 50 Dollar. Korruptionsbekämpfung und gerechte Alters- ringe Anerkennung parteipolitischer Arbeit in der Bevöl- versorgung, Einführung sozialer Sicherungssysteme sind kerung, Korruption, Klüngel und mangelnde Transpa- die zentralen Erwartungen der Bevölkerung an ihre Re- renz der Abgeordneten haben Bolivien auf dem Weg zu gierung. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schweren Schaden zugefügt. Das weiß auch Carlos Mesa, der nicht einem Die deutsche bilaterale Entwicklungszusammenar- der etablierten Parteiengeflechte entstammt und der beit hat Bolivien zu ihrem Schwerpunktland und zum Pi- weiß, wie dünn das Fundament der parlamentarischen lotland des Aktionsprogramms 2015 erklärt. Damit sind Unterstützung für seine Regierungsarbeit ist. Mehr als besondere Erwartungen und wirksame Unterstützung die Hälfte der Bevölkerung gibt in jüngsten Umfragen verbunden. Die Erlasszusagen von bilateralen und multi- die Meinung wieder, auch ohne Parlament und ohne Par- lateralen Schulden in Höhe von insgesamt 1,3 Milliarden teien zurechtzukommen. Sie erteilen einer zentralisti- US-Dollar und weiteren 347 Millionen Euro aus schen Regierungsführung, wie sie sie bis zum Amtsan- Deutschland waren ein erster wichtiger Schritt, der aber tritt von Präsident Mesa erfahren haben, eine klare mit einer klaren Konditionierung wirkungsvoller hätte Absage. Sie plädieren für regionale transparente Ent- sein können. scheidungsprozesse. Mit unserem Antrag legen wir einen umfassenden Die prekäre Haushaltslage schränkt den ohnehin ge- Katalog für die weitere Schwerpunktsetzung in der ent- ringen Gestaltungsspielraum der Regierung bedrohlich wicklungspolitischen Zusammenarbeit vor, der die mit (B) ein. Es fehlt an Geldern für die soziale Sicherung, die der bolivianischen Regierung vereinbarten Schwer- (D) Gehälter der Lehrer, die Altersversorgung der Men- punkte – Verwaltungs- und Justizreform, Unterstützung schen. Carlos Mesa hat einen defizitären Staatshaushalt der Zivilgesellschaft, Wasser- und Abwasserentsorgung übernommen, den die Vorgängerregierung durch Auf- und nachhaltige Landwirtschaft – umfasst. nahme von großen Krediten dahin geführt hat, dass Boli- viens Auslandsverschuldung heute fast wieder die Ver- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Lateiname- schuldungsrate erreicht hat wie vor dem Schuldenerlass. rika steht nicht im Mittelpunkt des Interesses einer breiten Die unkonditionierten Mittel, die beim multilateralen internationalen Öffentlichkeit. Die rot-grüne Bundesre- Schuldenerlass frei wurden, sollten in Bildung, Gesund- gierung gibt zudem zu erkennen, dass Lateinamerika heit investiert werden, also im partizipativen Prozess die nicht zu den Prioritäten ihres außen- und entwicklungs- Bevölkerung erreichen. Stattdessen warteten die Munizi- politischen Handelns gehört: Die deutsche Entwicklungs- pien, die Kommunen, vergeblich auf die zugesagten zusammenarbeit mit den Staaten Lateinamerikas ist in Haushaltsmittel. Das Geld wurde nicht investiert, son- den letzten Jahren stark zurückgefahren worden. Das ma- dern für die Deckung der Staatsschulden verbraucht. Al- nifestiert sich in gesunkenen Haushaltsmitteln. Es sind lein für das erste Quartal des Jahres 2004 fehlen bereits zahlreiche Goethe-Institute in Lateinamerika geschlossen 60 Millionen US-Dollar, um den laufenden Haushalts- worden. Das Hörfunkprogramm der Deutschen Welle für verpflichtungen, der Auszahlung von Renten und Gehäl- Lateinamerika ist – trotz bestehenden Interesses an deut- tern nachzukommen. schen Medienangeboten – eingestellt worden. Die groß angelegte Beteiligung der Zivilgesellschaft Deshalb zuallererst: Wenn wir uns heute über Latein- bei der Erstellung von Bürgerhaushalten ist damit zur amerika unterhalten und die Koalitionsfraktionen in ih- Farce geworden. Der Verlust an Glaubwürdigkeit ist so rem Antrag am Vorabend des EU-Lateinamerikagipfels schnell nicht zurückzugewinnen, aber dennoch so ent- tönend von der Intensivierung der Beziehungen mit La- scheidend für die Demokratie. teinamerika sprechen, dann zeigt dagegen ein Blick auf Das Militär tut ein Weiteres, den Ordnungsrahmen zu die Realitäten: Lateinamerika ist zum haushälterischen verlassen. Die politische Analystin Maria Teresa Zegada Steinbruch der deutschen Entwicklungszusammenarbeit warnt gar davon, dass die Haltung des Militärs die De- geworden. Der Abwärtstrend bei den sektoralen Mitteln mokratie bedrohe. Grundlage für diese Aussage ist, dass in der finanziellen und der technischen Zusammenarbeit sich die Armeeführung gegen die Entscheidung des Ver- weist jetzt schon deutlich genug darauf hin, dass Ihnen fassungsgerichts wehrt, das eine Rechtsprechung des Lateinamerika, wenn es wirklich darauf ankommt, nicht Militärgerichts aufgehoben hat, in dem vier wegen Mor- so sehr am Herzen liegt, wie Sie uns hier und heute glau- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10181

(A) ben machen wollen. Diesen Trend müssen Sie schleu- seine soziale, wirtschaftliche und politische Stabilisie- (C) nigst umkehren, denn allein Ihre schönen Worte helfen rung nicht zu vernachlässigen. Die Zusammenarbeit mit in Südamerika niemandem. Lateinamerika ist vor allem und zuerst auch im deut- schen Interesse. Tatsächlich gibt es eine Vielzahl gewichtiger Gründe, Lateinamerika und die Karibik zu einem vordringlichen Handlungsbedarf für diese Zusammenarbeit ist in Handlungsfeld der Außen-, Entwicklungs- und Sicher- vielfältiger Weise gegeben. Die Krisen und Gefährdun- heitspolitik Deutschlands zu machen. gen demokratischer Systeme in Lateinamerika gehören zu den wichtigsten Ansatzpunkten. Unzureichende Ge- Erstens. Lateinamerika ist für uns in Europa ein natür- waltenteilung, mangelnde Institutionalisierung und poli- licher Partner. Gemeinsame ideelle Wurzeln und eine tische Ineffizienz sind augenscheinliche Merkmale des eng verbundene Geschichte machen die Länder Latein- politischen Lebens. Korruption, die lückenhafte Aus- amerikas und Europas zu einer Wertegemeinschaft. Wir übung der Staatsgewalt und gewaltbereite außerparla- stehen in der Politik vor der zentralen Frage, wie wir die mentarische Gruppen schwächen die demokratischen In- Globalisierung nach diesen gemeinsamen Wertmaßstä- stitutionen ganz erheblich. ben gestalten wollen. Mit dem Blick auf diese Heraus- forderung können wir es uns nicht leisten, mit Latein- Die unklare und konzeptionslose Politik der rot-grü- amerika auf einen wichtigen Verbündeten zu verzichten nen Bundesregierung wird beispielhaft durch die heute und ihn stattdessen nur als einen armen Verwandten am zu behandelnden Anträge verdeutlicht: Katzentisch sitzen zu lassen. Erstens. Die so genannte Konzentration der deutschen Aufseiten der Europäischen Union, die in der Zusam- Entwicklungszusammenarbeit durch Rot-Grün führt menarbeit mit Lateinamerika die zentrale Rolle spielen dazu, dass eine Reihe von Staaten Lateinamerikas von muss, sind die Voraussetzungen für eine enge Zusam- deutscher Entwicklungskooperation gänzlich abge- menarbeit ausbaufähig. Allerdings ist eine umfassend schnitten werden, darunter ein so großes und bedeuten- denkende Lateinamerikapolitik so lange erschwert, wie des Land wie Argentinien. Wenn Armutsbekämpfung die Karibik nach dem AKP-Vertrag und Lateinamerika weiterhin ein zentrales Ziel deutscher Entwicklungszu- nach der ALA-Richtlinie in den Zuständigkeitsbereichen sammenarbeit ist, dann müsste man wenigstens zur von zwei unterschiedlichen Kommissaren liegen. Kenntnis nehmen, dass die Zahl der in Armut lebenden Menschen in Argentinien als Folge der Krisen der ver- Zweitens. Lateinamerika ist für uns ein wichtiger gangenen Jahre drastisch zugenommen hat. Deshalb ha- Wirtschaftspartner. Der Mercosur, der Andenpakt und ben wir beantragt, die Entwicklungszusammenarbeit mit die San-Jose-Gruppe sind neben den direkten Wirt- Argentinien und dem ebenfalls betroffenen Uruguay (B) schaftsverflechtungen deutscher Unternehmen interes- über 2004 hinaus fortzuführen. Rot-Grün lehnt dies lei- (D) sante Anknüpfungspunkte für engere Wirtschaftsbezie- der ab. hungen zwischen Europa und Lateinamerika. Im weltweiten Wettbewerb riskieren wir nicht zuletzt eigene Zweitens. Geradezu absurd gestaltet sich die rot- wirtschaftliche Nachteile, wenn wir Lateinamerika nur grüne Politik in der Karibik. Es ist bezeichnend, mit wel- der wirtschaftlichen und politischen Einflusssphäre der cher Inbrunst über Jahre hinweg Bundesministerin USA überlassen. Wieczorek-Zeul den greisen kubanischen Diktator Fidel Castro unter Missachtung der angeblich weiter geltenden Drittens. Auch in sicherheitspolitischer Hinsicht sind Kriterien deutscher Entwicklungspolitik direkte staatli- die Staaten Lateinamerikas wichtige Partner. Der Terro- che Hilfe aus Deutschland andienen wollte, bis dieser rismus ist eben nicht nur die Sache muslimischer Länder. von sich aus absagte. Gleichzeitig soll Haiti, das ärmste In Lateinamerika ist der Terrorismus tagtägliche brutale Land der Region, sogar den Status eines potenziellen Realität. Der Zufall will es, dass sich genau heute vor Kooperationslandes verlieren. Frankreich, das für Haiti 40 Jahren – am 27. Mai 1964 – die so genannten „Revo- eine besondere Verpflichtung empfindet, hat die Mit- lutionären Streitkräfte Kolumbiens“ zusammengeschlos- gliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert, die sen haben. Tausende Zivilisten sind ihrem Terror seither politische und wirtschaftliche Konsolidierung und Ent- zum Opfer gefallen. Abertausende wurden verschleppt. wicklung Haitis zu unterstützen. Ich fordere Sie auf: Die FARC-Terroristen und andere vernetzen sich immer Schließen Sie sich dem französischen Vorstoß an! Hel- mehr mit der international operierenden Drogenmafia. fen Sie Haiti aus seinem Chaos, das nicht erst durch die Unter dem Einfluss von Drogenanbau und -handel, von Überschwemmungen dieser Tage eine Katastrophe für Geldwäsche und Korruption geraten viele Staaten La- das Land und seine Menschen ist. teinamerikas zunehmend unter Druck und werden desta- bilisiert. Die unselige Allianz zwischen den kriminellen Drittens. Am 15. Januar 2004 wurde im Plenum der Guerilleros und dem großen Drogengeschäft ist auch Antrag der CDU/CSU zu Bolivien diskutiert. Die Koali- ganz unmittelbar unser – Europas – Nachteil. tion kündigte damals einen eigenen Antrag an, der jetzt vorliegt. Gemeinsam wollen wir den neuen Präsidenten Unsere Verantwortung für Lateinamerika ist beson- Carlos Mesa und seine Politik unterstützen. Aber ein ders groß – sowohl aufgrund der Erfahrungen mit der Antrag zum jetzigen Zeitpunkt hätte angesichts aktueller Zusammenarbeit in den vergangenen Jahrzehnten als Entwicklungen doch ein paar klare Worte erfordert. auch aufgrund der jüngsten zum Teil dramatischen Destabilisierungstendenzen. Für uns muss es ganz ent- Wir wollen gemeinsam, dass im angeblichen Muster- schieden darum gehen, Lateinamerika im Hinblick auf land der HIPC-Entschuldung die frei gewordenen Mittel 10182 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) ausschließlich den Armen und der Entwicklung des Lan- truppe wird unvermeidlich sein; drei Monate sind ein- (C) des zugute kommen. Der entscheidende Punkt ist, dass fach viel zu kurz. dies nicht nur für die international, sondern auch für die bilateral, zum Beispiel von Deutschland, erlassenen Im Vergleich zu Haiti ist die Entwicklung in Bolivien Schulden gelten muss. Darüber bestand in Bolivien Dis- – auch Dank internationaler Bemühungen – ein Erfolg. sens. Und deshalb sollte der Deutsche Bundestag sich Dank des Schuldenerlasses bleibt mehr Geld im eigenen klar für eine einheitliche Behandlung des Schuldenerlas- Land und trägt zum Wirtschaftswachstum bei; das Land ses und einen wirksamen Kontrollmechanismus ausspre- hat sich seitdem auch politisch stabilisiert. chen. Allerdings dürfen wir den Blick für die gesamte Re- Gas kann zu einer neuen bedeutenden Einkommens- gion nicht verlieren. Zwar ist im rot-grünen Antrag von quelle für Bolivien werden. Deshalb sollten wir zum regionalen Lösungen oder der gemeinsamen Bekämp- Gasexport Boliviens ein klares Ja sagen. Aber gleichzei- fung des Drogenanbaus die Rede. Umgesetzt werden tig ist davor zu warnen, wegen des Gasexportes einen sollen jedoch weiterhin nur Insellösungen, die oft das neuen Regionalkonflikt um die Grenzziehung zwischen Problem von einem Land in das andere verschieben. Be- Chile, Peru und Bolivien anzuzetteln. Nur um Mehrhei- kämpft ein Land den Drogenanbau effektiv, verlagert ten beim angekündigten Referendum über den Gas- sich der Anbau über die grüne Grenze ins Nachbarland. export zu erzielen, darf nicht mit dem Feuer gespielt Dies kann nicht die angestrebte Lösung sein. Ein richti- werden. ger Lösungsansatz wäre, dass die Länder dieser Region endlich im Kampf gegen die Drogen enger zusammen- Angesichts der Tatsache, dass der bolivianischen Op- arbeiten. Diese Länder müssen dann aber auch die positionsführer Evo Morales sich als Patron der Drogen- Chance bekommen, ihre Produkte auf dem Weltmarkt bauern versteht, bedarf es einer klaren Positionierung als absetzten zu können. Protektionismus hilft uns da nicht Bedingung für unsere Hilfe, dass wir auf einer eindeuti- weiter. Wir Außen- und Entwicklungspolitiker haben gen Anti-Drogen-Politik bestehen. dies längst erkannt. Lateinamerika wartet auf eindeutige Signale aus Europa. Ob Rot-Grün diese aber auszusenden gewillt ist, Politische Stabilität und wirtschaftliches Wachstum in ist mehr als fraglich. Beweisen Sie, dass es Ihnen Ernst Haiti und Lateinamerika können nur im gegenseitigen ist mit der Intensivierung der Beziehungen zu Latein- Einvernehmen gelingen. Lateinamerika wird in Zukunft amerika! Weisen Sie dieser Region in Ihrer Politik die eine wichtige Rolle im Welthandel spielen. Leisten wir Bedeutung zu, die ihr auch nach allen objektiven Ge- deshalb unseren Beitrag zur demokratischen Entwick- sichtspunkten zukommt, und überzeugen Sie uns davon, lung dort. (B) dass sogar Ihre Entwicklungspolitik mehr sein kann als (D) Schall und Rauch! Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen Amt: Morgen beginnt in Guadalajara das 3. Gipfeltreffen Harald Leibrecht (FDP): Unser neu gewählter Bun- der Staats- und Regierungschefs der EU, Lateinamerikas despräsident Horst Köhler hat vor wenigen Tagen, von und der Karibik. Bundeskanzler Schröder selbst ist zu dieser Stelle aus gesagt – ich zitiere –: Wir sollten uns diesem Treffen nach Mexiko gereist und unterstreicht bewusst werden, dass die Globalisierung den Armen die- damit die besondere Bedeutung, die die Bundesregie- ser Welt zugute kommt. „Dies wird nur gelingen, wenn rung den Beziehungen zu Lateinamerika beimisst. Schon sich die Industrieländer, also auch Deutschland, in ihrem dies ist ein klarer Beleg dafür, dass die gegenteilige Kri- Verhalten ändern und vor allem ihre Märkte für die Ent- tik der Opposition, wie sie in ihrer kleinen Anfrage zur wicklungsländer öffnen.“ Bilanz deutscher Lateinamerikapolitik zum Ausdruck kommt, unzutreffend ist. Heute Abend debattieren wir über drei Länder, die ei- nen Neuanfang machen und ihren Weg zu mehr Freiheit Im Gegenteil: Europa und die Länder Lateinamerikas und Demokratie beginnen oder weiterentwickeln. und der Karibik unterhalten ein enges Geflecht politi- Deutschland und die EU müssen ihren Beitrag zum Er- scher, wirtschaftlicher, entwicklungspolitischer und kul- folg dieser Länder beisteuern. tureller Beziehungen, einschließlich der Zusammen- arbeit zwischen den Zivilgesellschaften. Dass die Staatengemeinschaft hierbei Hilfe leisten muss, zeigt sich am Beispiel Haitis. Haiti gehört heute Die strategische Partnerschaft zwischen beiden Re- zu den ärmsten Ländern der Welt. Aus eigener Kraft gionen ist gekennzeichnet durch eine beispiellose Dichte kann es die neue Regierung nicht schaffen, das Land po- umfassender biregionaler Abkommen und Begegnun- litisch und wirtschaftlich zu stabilisieren. Die zum Teil gen, zu denen auch das Treffen in Guadalajara gehört. traumatisierten Menschen dort brauchen dringend eine Insgesamt sind dort in Mexiko 58 Staaten vertreten, also Lebensperspektive, sonst stürzt dieser Staat weiter ab fast ein Drittel aller Mitglieder der Vereinten Nationen. und es besteht die Gefahr, dass Haiti zu einem so ge- nannten failed state wird. Die Sicherheitslage in Haiti ist Die Bundesregierung sieht die fortschreitende regio- katastrophal, die Wirtschaft am Boden. Soziale Unruhen nale Integration in Lateinamerika als eine richtige Ant- und ein weit gehend rechtsfreier Raum sind die Wurzeln wort auf die Globalisierung. Sie unterstützt daher die neuer Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Eine Schaffung effektiver Regionalorganisationen, unter an- Verlängerung des Mandats der internationalen Schutz- derem durch Förderung von Regionalabkommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10183

(A) Wir, die Bundesregierung, machen uns die Aussage aufbauend tragfähige Perspektiven. Die momentane Ent- (C) einer vermeintlichen „Erschöpfung der Demokratie“ in wicklung gibt Anlass zu vorsichtigem Optimismus und Lateinamerika nicht zu Eigen. Gerade die von Ihnen an- Hoffnung auf einen echten politischen Neubeginn. geführte UNDP-Studie belegt: 43 Prozent der befragten Deutschland wird – gerneinsam mit seinen europäischen Lateinamerikaner befürworten uneingeschränkt die De- Partnern – zu diesem Aufbau Haitis mit beitragen. Die- mokratie, weitere 30,5 Prozent befürworten sie unter ser Aufbau kann aber nur gelingen, wenn die Haitianer Vorbehalt. Dies ist deutlicher Beleg für die erfolgreiche selbst ihn tragen. Überwindung der Militärdiktaturen der 80er-Jahre. Den- noch unterstützen wir auch weiterhin Maßnahmen, um den Zuspruch zur Demokratie noch zu vergrößern. Anlage 7 Konkret heißt das: Wir führen einen politischen Dia- Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: log, wir fördern Maßnahmen der Armutsbekämpfung und der Menschenrechtspolitik, wir leisten Hilfe beim – des Antrags: Das gemeinsame historische Aufbau moderner Rechtsstaatlichkeit, der Förderung der Erbe für die Zukunft bewahren Gleichstellung der Frau und dem Schutz von marginali- sierten bzw. sozial schwachen Gruppen, wir bieten poli- – der Unterrichtung: Bericht der Bundesre- tische Beratung zur Erweiterung der Partizipation von gierung über die Maßnahmen zur Förde- Zivilgesllschaft an, und wir helfen bei Reformen von rung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundes- Verwaltung und Justiz in den Zielländern. vertriebenengesetz in den Jahren 2001 und 2002 Wie und mit welchen Maßnahmen das im Einzelnen geschieht, hat die Bundesregierung gerade in ihrer Ant- (Tagesordnungspunkt 14) wort auf die Kleine Anfrage dargelegt. Lateinamerika und die Karibik sind durch eine Mi- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schung aus armen Entwicklungsländern und fortge- Zuerst möchte ich der Bundesregierung für den vorge- schrittenen Schwellenländern gekennzeichnet. Unsere legten Bericht über die Maßnahmen zur Förderung der Entwicklungspolitik, die auf Nachhaltigkeit angelegt Kulturarbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebenengeset- und an Armutsbekämpfung orientiert ist, berücksichtigt zes danken. Der Bericht zeigt, dass viele wichtige Vorha- diese unterschiedlichen Entwicklungsstadien beim Ein- ben aus der „Konzeption zur Erforschung und Präsenta- satz ihrer Instrumente. tion deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa“ umgesetzt werden konnten. Die Kulturarbeit in (B) Zum Beispiel in Argentinien und Uruguay: Seit An- Osteuropa wurde neu und besser geordnet – vor allem (D) fang 2003 erholt sich Argentiniens Wirtschaft wieder wurde die bestehende Institutionenlandschaft straffer or- spürbar; die wirtschafts- und finanzpolitischen Risiken, ganisiert, damit Dopplungen bei der Bearbeitung einzel- die von Argentinien auf die Mercosur-Staaten und das ner Themen vermieden werden. Dies war dringend übrige Lateinamerika ausgehen, haben sich verringert. notwendig. Die institutionellen Änderungen, die Einfüh- Die bilaterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit rung des Regionalprinzips und die effizientere Vertei- läuft aus, was in Argentinien übrigens erst nach 2006 lung der Gelder wirken sich positiv auf die inhaltliche zum Tragen kommt. In Zukunft sind also neben den Gestaltung der Kulturarbeit aus. Dadurch, dass die Mu- nichtstaatlichen vor allem die regionalen Förderansätze seen gestärkt und besser organisiert wurden, kann die von Bedeutung. Denn in diese sind beide Länder weiter- deutsche Kultur Osteuropas jetzt zugänglicher und öf- hin einbezogen, insbesondere im Kontext des Mercosur. fentlichkeitswirksamer präsentiert werden. Das öffentli- In Bolivien kommt es trotz seines Reichtums an Bo- che Interesse hat sich erhöht, die Zuschauerzahlen bei denschätzen immer wieder zu gewalttätig aufflammen- vielen Ausstellungen zeigen das. den sozialen Konflikten, wie zuletzt am vergangenen Auch die Umsetzungsprobleme in einzelnen Fällen Wochenende. Die Bundesregierung trägt dieser Situation ändern nichts daran, dass die Neugestaltung der Kultur- Rechnung, denn Bolivien ist Schwerpunktland unserer förderung in Osteuropa überfällig war. Deshalb kann ich Entwicklungszusammenarbeit und derzeit größter Emp- die pauschale und polemische Kritik in dem vorliegen- fänger deutscher Leistungen in Südamerika. Zusammen den CDU/CSU-Antrag überhaupt nicht verstehen. Wenn mit dem von der Weltbank eingeleiteten Konsultativpro- Sie, liebe Kollegen von der CDU/CSU, in Ihrem Antrag zess und der auf US-Initiative gegründeten „Bolivia allen Ernstes die – wenn auch vorübergehende – Rück- Support Group“, ist unsere Kooperation auf mittel- und langfristige strukturelle Reformen ausgerichtet und aus- kehr zu den alten Regelungen vor 2000 fordern, dann drücklich armutsorientiert. verkennen Sie die Situation grundlegend. Ich habe den starken Verdacht, dass dahinter eher wahltaktisches Haiti ist das ärmste Land der westlichen Halbkugel. Kalkül als ein ehrliches Interesse am Thema steckt. So Eine Wiederaufnahme unserer Entwicklungszusammen- fordern Sie zum Beispiel eine stärkere Rolle der Vertrie- arbeit ist notwendig; aber dies setzt zunächst eine wei- benenverbände. Dabei war doch die Selbstbezüglichkeit tere Stabilisierung der Sicherheitslage und dann auch ein in der Kulturarbeit der Vertriebenengruppen ein zentra- national wie international abgestimmtes Autbaukonzept les Problem, das wir bei der Neukonzeption im Jahr voraus. Zurzeit bewertet in Haiti eine Evaluierungsmis- 2000 angehen mussten. Deshalb wird nun stärker mit sion die dringendsten Bedürfnisse und erarbeitet darauf Trägern der allgemeinen Kulturarbeit kooperiert. 10184 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Selbstverständlich werden jene Vertriebenenorganisatio- zess teilnimmt, ist dies allein schon als Erfolg zu werten: (C) nen, die eine engagierte Verständigungsarbeit mit unse- Mit keiner anderen Weltregion außerhalb Europas und ren östlichen Nachbarn leisten, weiterhin großzügig ge- der Gruppe hoch entwickelter Industrieländer unterhält fördert. Aber: Viele Vertriebenengruppen wenden sich die EU einen derart umfassenden Dialog. Die Gipfeltref- immer noch nur an ihre eigene, immer kleiner werdende fen sind somit ein in dieser Art einzigartiges biregionales Klientel – anstatt sich für eine größere Öffentlichkeit zu Forum, welches den traditionell engen, auf einer Werte- öffnen. Einige der geförderten Einrichtungen mussten gemeinschaft basierenden Beziehungen zu den Ländern deshalb neu konzipiert werden, denn nur durch eine zeit- Lateinamerikas und der Karibik Ausdruck verleiht. gemäße Präsentation können auch junge Menschen für Unter den Leitthemen „Effektiver Multilateralismus“ das Thema „Deutsche Kultur in Osteuropa“ interessiert und „soziale Kohäsion“ soll die auf dem ersten Gipfel werden. Dazu trägt übrigens auch die verstärkte kultu- 1999 in Rio de Janeiro ins Leben gerufene Strategische relle Jugendarbeit bei. Die Neukonzeption der Kulturför- Partnerschaft zwischen beiden Regionen weiter ausge- derung macht das Thema auch für zukünftige Generatio- baut werden. nen attraktiv – und erfüllt damit in einem viel tieferen Sinn die CDU/CSU-Forderung nach einer „in die Zu- Lateinamerika/Karibik ist für Europa keine prioritäre kunft ausgerichteten Neuausrichtung der Kulturpflege“. Region. Der Fall des Eisernen Vorhangs und das Ende des Kalten Kriegs haben einschneidende Veränderungen Wenn die Kollegen von CDU und CSU schlichtweg mit sich gebracht, die sich natürlich auf die Außenbezie- ignorieren, dass ein anderes Selbstverständnis der Ver- hungen Deutschlands bzw. der EU ausgewirkt haben: triebenengruppen und eine andere Außendarstellung der Die Öffnung Europas nach Osten und die konsequente Vertriebenenkultur und -geschichte notwendig ist, dann Hinwendung zu den Staaten des ehemaligen Warschauer schaden sie damit genau genommen sich selbst. Die De- Paktes haben vermehrt Ressourcen gebunden. Auch die batte um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ zeigt es ja weltpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre haben deutlich: In einem gemeinsamen Europa kann man das bewirkt, dass wir verstärkt gen Osten und nicht so sehr Thema der kulturellen Erinnerung nicht durch unilate- über den Südatlantik geblickt haben. rale Kampagnen vorantreiben. Damit beschädigt man nicht zuletzt das große Interesse, das die Menschen aus Dies spiegelt sich in den Wirtschaftsbeziehungen osteuropäischen Ländern längst an deutscher Kultur ent- deutlicher wider als in anderen Bereichen: Bis 1989 gin- wickelt haben. Die kürzlich eingereichte Entschädi- gen zwei Drittel aller deutschen Direktinvestitionen au- gungsklage von Sudetendeutschen vor dem Europäi- ßerhalb der G-7-Länder nach Lateinamerika, heute sind schen Gerichtshof für Menschenrechte zeigt zudem, dass es weniger als ein Drittel. Wenngleich in Lateinamerika das legitime Eintreten für die eigene Kultur und Ge- ein gewisses Verständnis für diese Prozesse vorhanden (B) schichte immer wieder zur Tarnung zweifelhafter politi- ist, so wachsen doch die Erwartungen gerade in Anbe- (D) scher Forderungen missbraucht wird. tracht der strategischen Partnerschaft erneut. Nicht zuletzt weil er all diese Probleme nicht benennt, Mit dem vorliegenden Antrag sprechen sich die Koa- lehne ich den CDU/CSU-Antrag und die Forderung nach litionsfraktionen dafür aus, das enorme Potenzial einer einer Neukonzeption der Kulturarbeit ab und unterstütze intensivierten Zusammenarbeit mit der Region Latein- ausdrücklich die Position der Bundesregierung. Denn amerika/Karibik auszuschöpfen. Die Voraussetzungen die Kulturarbeit in Osteuropa darf nicht für durchsich- dafür sind denkbar günstig: Zu keiner anderen Weltre- tige Interessenpolitik missbraucht werden, sondern muss gion unterhält Deutschland ein derart enges und vielfälti- das kulturelle Erbe Deutschlands wahren und der Aus- ges Beziehungsgeflecht unterhalb der staatlichen Ebene, söhnung und Verständigung zwischen den Völkern die- wie zum Beispiel über die Parteien, Kirchen oder Nicht- nen. regierungsorganisationen. Auf dem letzten Gipfeltreffen in Madrid 2002 haben die Teilnehmer vereinbart, den politischen Dialog auf Anlage 8 staatlicher Ebene zu intensivieren. So sollen die europäi- Zu Protokoll gegebene Reden schen und lateinamerikanischen Positionen vor interna- tionalen Konferenzen künftig besser abgestimmt wer- zur Beratung des Antrags: Intensivierung der den. Wenn dies in den letzten zwei Jahren auch noch Beziehungen zwischen der Europäischen Union, nicht zur Zufriedenheit geschah, so sind doch Europa Lateinamerika und der Karibik (Tagesord- und Lateinamerika im Vorfeld und im Verlauf des Irak- nungspunkt 20) kriegs wieder enger zusammen gerückt. Dies gilt insbe- sondere für das „alte Europa“, das für Lateinamerika ein Lothar Mark (SPD): Morgen treffen sich in Guadala- zunehmend attraktiver Partner wird. Es steht für ein jara/Mexiko zum dritten Mal die Staats- und Regierung- Wertesystem, das sich von dem der USA unterscheidet, schefs Lateinamerikas, der Karibik und der Europäi- nämlich durch eine stärkere Akzentuierung von Dialog- schen Union. Erstmalig werden die zehn Repräsentanten förderung, ein starkes internationales Recht, Wandel der neuen Beitrittsländer der EU dabei und somit insge- durch Engagement oder friedliche Konfliktbeilegung samt 58 Staaten vertreten sein. und Krisenprävention. Wenn man sich vor Augen hält, dass damit über ein Zusammen machen die beiden Regionen einen be- Viertel der Staaten der Welt an diesem intensiven Pro- achtlichen Stimmenanteil in der Generalversammlung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10185

(A) der Vereinten Nationen aus, fast 30 Prozent. Daraus er- nach wie vor bestehenden Marktzugangsbeschränkun- (C) gibt sich ein nicht zu unterschätzendes Gestaltungspo- gen zwischen der Europäischen Union und den Ländern tenzial für eine künftige friedlichere und sozial gerech- Lateinamerikas schnellstmöglich, über die WTO-Verein- tere globale Ordnung. Lateinamerika und Europa barungen hinausgehend, abgebaut werden. müssen hier unserer Meinung nach noch aktiver als mä- ßigende und konstruktive Kräfte in Erscheinung treten. In diesem Zusammenhang möchte ich meine Hoff- Beide haben zum Beispiel die gleiche Auffassung über nung zum Ausdruck bringen, dass nun – nach acht Jah- die Notwendigkeit eines starken Multilateralismus, wie ren zäher Verhandlungen – das Assoziationsabkommen er ja deshalb auch als eines der Leitthemen für den Gip- mit dem Mercosur bis zum kommenden Oktober einen fel gewählt wurde. Wir befürworten eine internationale für alle zufrieden stellenden Abschluss findet. Dieses Rechtsordnung, die in dem Internationalen Gerichtshof Abkommen ist für beide Seiten von strategischer Bedeu- und dem Internationalen Strafgerichtshof institutionali- tung: Mercosur ist der mit Abstand wichtigste Partner siert ist. Wir haben ähnliche Vorstellungen von einer Re- der EU in Lateinamerika. Die Hälfte ihres gesamten Wa- form der Vereinten Nationen und ihrer zukünftigen renaustausches mit dieser Region wickelt die Europäi- Rolle. Unserer Auffassung nach müssen Europäer und sche Union mit den Mercosur-Mitgliedstaaten ab; dort- Lateinamerikaner dieses politische Pfund noch mehr in hin fließen zudem etwa 60 Prozent der europäischen die Waagschale werfen. Direktinvestitionen in Lateinamerika. Für Mercosur ent- fällt rund ein Viertel seines Gesamthandels auf die EU. Bei all den angeführten Argumenten lässt sich aber Noch – ist man geneigt zu sagen, wenn man sich den ra- auch nicht übersehen, dass die Erwartungen an die stra- santen Aufschwung des lateinamerikanischen Handels tegische Partnerschaft auf beiden Seiten des Atlantiks mit Fernost, insbesondere mit China, vergegenwärtigt. nicht einheitlich sind. Dies lässt sich kaum besser aufzei- Im Zeitraum 2002 bis 2003 konnte der Mercosur seine gen als anhand des zweiten gewählten Leitthemas „so- Exporte nach China beispielsweise um 96,5 Prozent stei- ziale Kohäsion“: gern. Allein Brasilien exportierte in 2003 für 4,5 Milliar- Die europäische Seite möchte diese Thematik vorwie- den US-Dollar Waren dorthin, was China zum zweit- gend vor dem Hintergrund eines biregionalen politischen wichtigsten Abnehmer werden lässt. Dialogs um „gute Regierungsführung“ und Stärkung der Ein Assoziierungsabkommen zwischen Mercosur und staatlichen Institutionen verstanden wissen. Dieser soll der EU ist also mehr als überfällig. Bisher waren die dazu beitragen, die Korruption zu bekämpfen, die latein- Verhandlungen am Interessenkonflikt im Agrarsektor amerikanischen Eliten auf das Gemeinwohl zu verpflich- gescheitert, in den circa 50 Prozent der Mercosur-Ex- ten und somit die Teilhabe breiter Bevölkerungsschich- porte fallen. Wir alle wissen um die Reformbedürftigkeit ten am Wohlstand zu gewährleisten. (B) der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik. Erste (D) Die lateinamerikanische Seite möchte diesen Begriff Schritte wurden in diesem Jahr eingeleitet. Umso weni- der „sozialen Kohäsion“ aber auch im Zusammenhang ger ist es für mich nachvollziehbar, dass ein Abkommen, mit verstärktem Handel mit und Investitionen aus Euro- welches von eminenter Wichtigkeit für die Wettbewerbs- pa ausgelegt sehen. Das damit einhergehende Wirt- fähigkeit der europäischen Wirtschaft ist, womöglich zu- schaftswachstum und die folgenden Beschäftigungsim- gunsten eines wirtschaftlich vergleichsweise unbedeu- pulse werden als eigentliche Voraussetzung für soziale tenden Sektors geopfert wird. Entwicklung und Armutsbekämpfung angesehen. In den In diesem Zusammenhang haben wir uns im Antrag vergangenen Monaten, insbesondere seit dem Scheitern auch dafür ausgesprochen, zügig Verhandlungen über der WTO-Ministerkonferenz in Cancún und der Bildung Assoziierungsabkommen mit der Andenregion und den der G 20 unter der Führung Brasiliens, ist deutlich ge- Ländern Zentralamerikas in Aussicht zu stellen. Auf worden, dass die lateinamerikanischen Partner nun be- diese Weise können die Integrationsprozesse in diesen ginnen, das einzufordern, was ihrer Ansicht nach auch Regionen beschleunigt und kann ihre Einbindung in die eine strategische Partnerschaft ausmacht: nämlich privi- Weltwirtschaft vorangetrieben werden. Gleichzeitig wird legierte Handelsbeziehungen und Marktzugänge. der deutschen und europäischen Wirtschaft ein verlässli- Beide Seiten argumentieren nachvollziehbar. Wir Eu- cher Rahmen geboten, in dem sie ermuntert wird, sich ropäer müssen uns in der Tat fragen, ob wir die diesbe- noch stärker in Lateinamerika zu engagieren. züglichen Forderungen aus Lateinamerika ernst genug Denn meiner festen Überzeugung nach ist wirtschaft- nehmen. So geben wir einerseits Anreize dazu, dass die licher Austausch die beste Hilfe zur Entwicklung und Volkswirtschaften der lateinamerikanischen und karibi- kann einen großen Anteil zur Armutsbekämpfung beitra- schen Länder sich industrialisieren. Andererseits aber gen. In den vergangenen Jahren ist die Entwicklungs- schotten wir unsere Märkte mit umso höheren Zolltari- schere in der Region weiter auseinander gegangen. Noch fen ab, je höher die Verarbeitungsstufe eines Produktes immer ist Lateinamerika die Region mit der ungerech- ist. Auf diese Weise wird Deutschland zu einem der testen Einkommensverteilung der Welt. Dies hat einer- größten Produzenten gerösteten Kaffees, ohne überhaupt seits ganz sicher mit dem Versagen der Verteilungsme- nur eine Kaffeebohne anzubauen. Die lateinamerikani- chanismen zu tun. Ansprechen möchte ich in diesem schen Länder werden aber auf die Rolle der Rohstoffpro- Zusammenhang auch eine in vielen Ländern überfällige duzenten festgelegt. Landreform. Andererseits muss man aber auch sehen, Wir haben daher in unserem Antrag die Bundesregie- dass dort, wo wenig zu verteilen ist, wenig Spielraum für rung dazu aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass die soziale Akzente bleibt. Viele Staaten der Region sitzen 10186 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) tief in der Schuldenfalle: Sie wenden teilweise bis zu digkeit seines Präsidenten Lula da Suva wird immer (C) 40 Prozent ihres Haushalts auf, um ihren Rückzahlungs- mehr zum Gravitationszentrum Lateinamerikas. Diese verpflichtungen nachzukommen. In Brasilien machten Entwicklung verdient die besondere Sympathie und Un- 2003 die Zinszahlungen allein auf Auslandsverbindlich- terstützung Europas. keiten eine Summe aus, die 60 Prozent der Exporterlöse entsprach. Die öffentliche Verschuldung gemessen am Lassen Sie mich abschließend noch ein Thema an- BIP betrug hier 58,2 Prozent. Gerade die internationalen sprechen, das im Vorfeld zum Gipfel hohe Wellen ge- Finanzinstitutionen fordern von diesen Staaten aber eine schlagen hat. Die geplante Einstellung des spanischspra- strenge Sparpolitik, sodass wenige Ressourcen für Bil- chigen TV-Programms der Deutschen Welle halte ich dung und Forschung, Sozialpolitik und Infrastruktur üb- vor dem Hintergrund der geschilderten Notwendigkeit, rig bleiben. die Beziehungen zu Lateinamerika zu intensivieren, für absolut fatal und kontraproduktiv. Es würde eine wich- Angesichts der Tatsache, dass im vergangenen Jahr tige Brücke zwischen Deutschland, Europa und über mehr als 40 Prozent der Lateinamerikaner unterhalb der 330 Millionen spanischsprachigen Lateinamerikanern Armutsgrenze lebten, also mit etwa zwei US-Dollar am abbrechen. Das Bekanntwerden der Streichpläne hat be- Tag auskommen mussten, ist es meines Erachtens haar- reits großen Schaden angerichtet. Ich hoffe sehr, dass es sträubend, dass wir zum Beispiel jedes europäische Rind der Leitung des Senders und dem Rundfunkrat gelingt, mit über zwei US-Dollar am Tag subventionieren. Diese andere Einsparpotenziale zu heben, um die Fortführung Vergleiche, von denen sich unzählige anstellen ließen, des Programms zu gewährleisten. Ich werde weiterhin machen deutlich, dass auch wir unsere Strukturreformen für den Erhalt des spanischsprachigen DW-TV-Pro- entschlossener angehen müssen. gramms kämpfen. Lassen Sie mich also nochmals auf das zweite Leit- Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus den thema „soziale Kohäsion“ zurückkommen: Wenn als Er- vorgetragenen Gründen um Zustimmung zu unserem gebnis des morgigen Gipfels die lateinamerikanischen Antrag. Staaten ihre politische Verantwortung akzeptieren und noch größere Anstrengungen als bisher zugunsten einer Lösung der sozialen Probleme und zum Erreichen von Claudia Nolte (CDU/CSU): In dem Antrag der sozialer Kohäsion unternehmen und wenn wir Europäer Koalitionsfraktionen zum 3. Gipfel von Lateinamerika, diese Anstrengungen nicht nur durch politischen Dialog, Karibik und EU steht nicht viel Falsches. Das ist schon Erfahrungsaustausch und verstärkte Entwicklungszu- einmal gut. Ich bin auch davon überzeugt, dass Sie nicht sammenarbeit, sondern darüber hinaus auch durch unse- selber glauben, in der Sache damit neue Impulse zu set- (B) ren notwendigen Beitrag zu gerechteren Handelsbezie- zen. Man könnte diesen Antrag eher als einen höflichen (D) hungen zwischen unseren beiden Regionen leisten Begleitantrag bezeichnen. wollen, dann haben wir die strategische Partnerschaft entscheidend belebt. Schon die Analyse ist in meinen Augen zu schnell nach Schema F runtergeschrieben worden. Es geht bei Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag den Beziehungen zwischen Lateinamerika und der EU daher auf, durch wirtschafts-, handels-, finanz- und ent- um eine strategische Partnerschaft. So zumindest ist es wicklungspolitische Weichenstellungen – auch innerhalb in Rio vereinbart worden. Woran kann man das denn nun der EU – viel versprechende Ansätze demokratischer erkennen? Versteht man nicht unter „Strategie“ ein lang- und sozial ausgerichteter Regierungsführung in Latein- fristig gezieltes Vorgehen, gegenseitig die jeweiligen amerika zu fördern. Sind diese erfolgreich, so wirken sie Vorzüge nutzend, um gemeinsam vereinbarte Ziele zu modellbildend für die gesamte Region. Dies scheint erreichen? Das heißt dann aber, dass man sich genau im umso nötiger, als zahlreiche Staaten derzeit eine tief Klaren darüber ist, wo die jeweiligen Vorzüge liegen, greifende Krise ihrer politischen Institutionen erleben aufwelchen Gebieten man welche Ziele vereinbart und und populistische, autoritäre Führer verstärkt Zulauf fin- in welcher Weise man miteinander vorgeht. Für den. Wie eine Studie des UN-Entwicklungsprogramms Deutschland müsste das bedeuten, dass wir unsere Akti- jüngst feststellte, würden 55 Prozent der Befragten ein vitäten daran anpassen. autoritäres Regime anstelle einer demokratisch gewähl- ten Regierung unterstützen, wenn dieses ihre wirtschaft- Ich verzichte aufgrund der Kürze der Redezeit darauf, lichen und sozialen Probleme lösen würde. zu betonen, was uns alles mit Lateinamerika verbindet. Da gibt es in diesem Hohen Hause auch keinen Dissens. Auch für Lateinamerika gilt, dass die regionale Inte- Schauen wir einfach auf einige Dinge, wie sie im Mo- gration ein Weg hin zu Frieden, politischer Stabilität, ment nun einmal sind: wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand ist. Deshalb sollte die EU die Integrationsprozesse in Lateinamerika Verstärkung der Kulturarbeit Deutschlands in Latein- nach Kräften fördern. Kein Integrationsansatz verspricht amerika – so haben Sie es sogar in Ihrem Antrag gefor- derzeit so viel Erfolg wie der Mercosur, der sich stark dert. Richtig, das könnte solch ein Gebiet der Zusam- am europäischen Vorbild orientiert. Seit den Regierungs- menarbeit sein. Die Realität ist: Die Deutsche Welle wechseln in Brasilien und Argentinien hat sich im beschließt die Einstellung ihres spanischsprachigen Pro- Mercosur eine neue Dynamik entfaltet, die auf eine Ver- gramms. Begründung: keine strategische Bedeutung. tiefung und Erweiterung der Wirtschaftsgemeinschaft Und da die Mittel knapp sind, kann darauf verzichtet abzielt. Brasilien mit der immer noch hohen Glaubwür- werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10187

(A) Im Januar hat das Ibero-Amerikanische Forschungs- kommen, wobei es sicher vor allem um die Überwin- (C) seminar der Universität Leipzig zusammen mit anderen dung der Armut gehen muss. Entscheidend ist für mich, Experten auf eine weitere alarmierende Entwicklung dass vor allem die Regierungen in den lateinamerikani- hingewiesen: Deutschland ist dabei, seine traditionsrei- schen und karibischen Ländern erkennen, dass es ihre che Lateinamerika-Kompetenz und wirtschaftlichen politische Aufgabe ist, Lösungen für die Armutsbe- Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu verspielen. kämpfung zu finden. Lateinamerikanische Lehrstühle werden an den deut- schen Unis gestrichen. Offensichtlich hat auch in der Po- Die Themen sind natürlich vor allem auf Wunsch der litik Lateinamerika keine Priorität mehr. So das Fazit der EU auf der Tagesordnung. Aber auch die lateinamerika- Professoren. nischen Länder haben Erwartungen, vor allem im Hin- blick auf Handelsliberalisierung und Subventionsabbau. Vor dem WTO-Gipfel in Cancun wurde zu Recht mit Es wird notwendig sein, auch diesen Fragen Raum zu unserem strategischen Partner im Norden Amerikas ge- geben. sprochen und eine Linie vereinbart, aber nicht mit dem Süden. Dass sich die Länder dort ausgeschlossen fühl- Der politische Dialog ist für eine strategische Partner- ten, ist nur verständlich. schaft unabdingbar. Es kann nicht ausreichen, sich nur alle Jahre zu einem Gipfel zu treffen, zumal durch die Bei wichtigen außenpolitischen Fragen wie im Vor- EU-Erweiterung der Kreis noch größer geworden ist. feld zum Irakkrieg war es nicht einmal möglich, inner- Meines Erachtens ist es unabdingbar, Formen zu entwi- halb Europas zu einer gemeinsamen Haltung zu kom- ckeln, die einen kontinuierlichen Dialog ermöglichen. men, ganz zu schweigen von Gesprächen mit den Themen für ein strategisches Zusammenarbeiten gibt es: strategischen Partnern. beispielsweise die Erarbeitung von Vorschlägen für Re- formen der multilateralen Organisationen, der Erfah- Sie schreiben in Ihrem Antrag: In der bilateralen Ent- rungsaustausch über Integrationsprozesse, Fragen zu wicklungszusammenarbeit ist Lateinamerika keine Wirtschafts- und Handelsbeziehungen bis hin zu Bil- Schwerpunktregion. Mir fällt dazu nur ein: Genau das dungsfragen und Kulturaustausch. In diesem Sinne wün- Gefühl hat man. Eben fand unter anderem die Debatte zu schen wir dem Gipfel viel Erfolg. Argentinien statt. Hat es mit unserem Verständnis von Partnerschaft zu tun, dass man anhand verengter Krite- rien Entwicklungshilfe einstellt und damit den Übergang Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Latein- über die Schwelle erschwert? Hier ist doch vielmehr eine amerika hat in den vergangenen 20 Jahren Bemerkens- angepasste Form der Zusammenarbeit für Schwellenlän- wertes geleistet. Der Subkontinent konnte sich seiner der nötig, um Fortschritte nicht zu gefährden. Diktatoren entledigen und demokratische Institutionen (B) aufbauen und festigen. Dies ist umso bewundernswerter, (D) In diesem Zusammenhang erscheinen mir Ihre Aussa- als diese großen politischen Fortschritte nicht durch gen zu Argentinien in Ihrem Antrag ein wenig zu positiv. wirtschaftliche Erfolge begleitet waren. Im Durchschnitt Mir sind jedenfalls keine nennenswerten Reformen der verdienen die Menschen in Lateinamerika heute kaum Regierung Kirchner, die die Wirtschaft oder die Sozial- mehr als im Jahr 1980, die Zahl der Armen ist auf und Steuersysteme betreffen, bekannt. Allerdings finde 227 Millionen angewachsen und die Einkommensvertei- ich es erstaunlich, wenn bis heute noch nicht eine ein- lung hat sich weiter verschlechtert. zige Kabinettsitzung stattgefunden hat. Die EU hat dagegen durch schrittweise Erweiterun- Das sind nur einige Schlaglichter zum Istzustand. Wir gen die Integration des Kontinents vorangetrieben und müssen zum einen deutlich sehen, dass Lateinamerika war damit sowohl wirtschaftlich als auch politisch er- und die Karibik keine homogene Region darstellt. Das folgreich. macht eine strategische Partnerschaft per se schon schwer. Zum anderen haben wir sehr unterschiedliche Wenn sich die EU der 25 an diesem Freitag mit den Entwicklungsgrade unserer Volkswirtschaften und somit Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas und der Ka- in Teilen auch unterschiedliche Interessen und Möglich- ribik trifft, dann sind dort Repräsentanten von 58 Staaten keiten. Deshalb gehört es zur ehrlichen Debatte, genau vertreten. Es gilt das einzulösen, was der erste EU-LA- zu analysieren, auf welchen Feldern wir wie zusammen- Gipfel in Rio 1999 versprochen hatte: eine „strategische arbeiten wollen und welchen Beitrag Deutschland leisten Partnerschaft für das 21. Jahrhundert“. kann. Der dritte Gipfel in Guadalajara muss zeigen, ob La- Ich denke, wenn wir die strategische Partnerschaft mit teinamerika für Europa heute überhaupt noch „zeitge- Leben erfüllen wollen, muss das Treffen von Guadala- mäß“ ist. Ist die EU in der Lage ihren Blick vom Osten jara konkrete Ergebnisse hervorbringen. Es ist wichtig, – Osterweiterung – und vom Nahen Osten – Terroris- dass ergebnisorientierte Gespräche geführt werden, die musbekämpfung – noch in eine andere Richtung zu wen- in konkrete Projekte zum Ausbau der Beziehungen mün- den? den. Aus meiner Sicht besteht kein Zweifel daran, dass sie Die beiden Themenschwerpunkte Multilateralismus dies tun sollte. Und es gibt eine Reihe guter Gründe für und soziale Kohäsion sind ganz sicher wichtige Themen. eine substanzielle strategische Partnerschaft mit Latein- Der Begriff „soziale Kohäsion“ ist dabei allerdings et- amerika. Auf der politischen Ebene ziehen die EU und was schwammig, weil jeder etwas anderes darunter ver- die Ländern Lateinamerikas als entschiedene Unterstüt- steht. Es muss schon noch zu einer Konkretisierung zer eines multilateralen Systems am gleichen Strang. 10188 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Dies hat sich in den vergangenen Jahren sowohl in der Zur Entschuldung: Vor wenigen Wochen hat bei einem (C) Umwelt- als auch in der Sicherheitspolitik immer wieder Studientag der Kirchen zur Finanzsituation Argentiniens gezeigt. Im Umweltbereich, beim Schutz der tropischen der Vertreter einer Interessengemeinschaft von An- Regenwälder, ist Deutschland im Rahmen des Pilotpro- leiheninhabern einen bestechenden Vorschlag gemacht. gramms der G 7 an vorderster Stelle in Brasilien aktiv. Er setzte, sich im Rahmen der Umschuldungsverhandlun- gen für die Ausgabe einer BIP-indexierten Anleihe ein, Viele Länder vor allem in Südamerika sind durch die deren Inhaber damit zu Aktionären Argentiniens werden. deutsche, italienische und polnische Migration aus dem Diese profitieren am meisten, wenn es dem Land gut geht. 19. und 20. Jahrhundert geprägt. Ganz zu schweigen von Der Vorschlag steht in klarem Kontrast zur Finanzmarkt- dem jahrhundertealten schweren Erbe der Eroberung spekulation mit staatlichen Anleihen. Anleger kaufen sie, durch die Spanier und Portugiesen. Es gibt eine kultu- weil sie im Vergleich zu US- oder europäischen Staats- relle Nähe zu Europa, die sich nicht auf die Vergangen- titeln eine um 10 bis 20 Prozent höhere Verzinsung brin- heit beschränkt. Für viele Entscheidungsträger der Me- gen. Die Länder geben die Finanztitel aus, weil ihnen das cosur-Staaten strahlt das europäische Integrationsmodell Wasser bis zum Halse steht. Nachdem die internationalen eine enorme Anziehungskraft aus. Nur, aus dieser politi- Anleger über Jahre die Sahne abgeschöpft haben, rufen schen Anziehungskraft allein lässt sich noch keine „Jahr- sie bei Zahlungsunfähigkeit nach der Hilfe des IWF. hundertpartnerschaft“ begründen. Dafür liegt die Mess- latte höher. An der EU liegt es, sich konstruktiv an der Entwick- lung von fairen und transparenten Verfahren zur Bewäl- Und diese Messlatte ist vor allem ökonomischer Art. tigung akuter Verschuldungskrisen in hoch verschulde- Der wirtschaftliche Druck, unter dem die Regierungen in ten lateinamerikanischen Ländern zu beteiligen. Es gilt Lateinamerika, vor allem in den großen Ländern Brasi- ein Konzept der Schuldentragfähigkeit zu unterstützen, lien und Argentinien, stehen, ist vergleichbar mit dem ei- das die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leis- nes Heizkessels kurz vor der Explosion. Ohne populisti- tungsfähigkeit erlaubt und die sozialen Lebensbedingun- sche Heilsversprechen sind deren Regierungsführer gen der Menschen berücksichtigt. gewählt worden, um die Region aus einer lang anhalten- Beim Handel besteht die große Herausforderung da- den wirtschaftlichen Misere herauszuführen. Brasilien rin, dass sich die EU schrittweise für wettbewerbsstarke verzeichnet seit 20 Jahre kein signifikantes Wachstum Agrarprodukte aus Lateinamerika öffnet, ohne diese Öff- mehr und Argentinien befindet sich seit der zweiten nung gleich wieder durch noch umfangreichere Zu- Hälfte der 90er-Jahre im freien Fall, der erst mit der Re- geständnisse der anderen Seite bei Investitionen, gierung Kirchner abgebremst wurde. Dienstleistungen und öffentlichem Beschaffungswesen zunichte zu machen. Nur so kann eine positive Außenbi- (B) Die katastrophale Wirtschaftsentwicklung nahm ihren (D) lanz der schwächeren Länder zu deren finanziellen Ausgang Anfang der 80er-Jahre mit der Schuldenkrise. Stabilität beitragen. Wir sollten alle Anstrengungen un- Die von den internationalen Finanzorganisationen ver- ternehmen, dass das seit 1999 verhandelte EU-Merco- ordneten Rezepte haben die Lage teilweise noch ver- sur-Assoziierungsabkommen noch in diesem Jahr er- schlimmert. Der Washington-Konsensus mit seinem „li- folgreich abgeschlossen werden kann. beralisiere umfassend, privatisiere alles und beschneide den Staatshaushalt, wo immer du kannst“ ist gescheitert. Schließlich sollte die EU neben den ökonomischen Er war speziell für das schuldengerüttelte Lateinamerika Haurausforderungen aber auch den Erwartungen gerecht erfunden worden. Für die Musterschüler hat sich die werden, die an sie als Friedensmacht gestellt werden. Wundertüte aus dem Norden als Mogelpackung heraus- Dies ist insbesondere in Hinblick auf den kolumbiani- gestellt. Die negativen Ergebnisse der Politik des schen Konflikt von großer Bedeutung. Washingtoner Konsenses haben in vielen Ländern zu po- Präsident Uribe setzt einseitig auf militärische Aktio- litischen Umbrüchen und zu Regierungswechseln ge- nen und auf Zugeständnisse an die Paramilitärs. Soll ein führt, von denen sich die Menschen eine effektive Ar- tragfähiger Frieden und keine Friedhofsruhe geschaffen mutsbekämpfung durch eine neue Wirtschaftspolitik werden, dann führt der Weg nur über Verhandlungen mit versprechen. allen Konfliktparteien. Die EU sollte sich hier aktiver In diesem Umfeld ist es von besonderer Bedeutung, einschalten, politisch und finanziell. durch die europäische Politik einen Beitrag zu Entwick- Wenn Krisenprävention und Friedensentwicklung er- lung und wirtschaftlichem Wachstum in der Region zu folgreich sein wollen, dann müssen die Gemeinden und leisten. Ziel muss es sein, die wirtschaftliche und finan- die zivilen Akteure in den Konfliktregionen in die Pla- zielle Stabilität, ein ökologisch und sozial nachhaltiges nung und Durchführung von Friedensmaßnahmen einbe- Wirtschaftsmodell und die Konsolidierung der demokra- zogen werden. Unterstützungsprogramme sollen auf zu- tischen Institutionen zu fördern. kunftsfähige und ökologisch nachhaltige Entwicklung in den Regionen zielen. Durch ein unabhängiges Monito- Der Beitrag besteht kurz zusammengefasst darin, ring gilt es Transparenz und effizienten Mitteleinsatz zu durch Erleichterungen im Schuldenmanagement und bei gewährleisten. der Entschuldung finanziellen Spielraum zu schaffen und im internationalen Handel kurzfristig Zugeständ- Als Garcia Marquez 1982 den Nobelpreis für Litera- nisse zu gewähren, die sich dann mittel- und langfristig tur erhielt, unterstrich er die Eigenverantwortung des auch für Europa bezahlt machen. Subkontinents: „Die maßlose Gewalt und der maßlose Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10189

(A) Schmerz unserer Geschichte sind das Ergebnis von jahr- ßen Teilen der Bevölkerung das Vertrauen in die demo- (C) hundertealten Ungerechtigkeiten und Bitternissen ohne kratischen Institutionen und in demokratisch gewählte Zahl und nicht eine dreitausend Meilen von unserem Politiker bereits tief erschüttert ist. Es wird eine der vor- Haus entfernt ausgeheckte Verschwörung“. dringlichen Aufgaben des kommenden Gipfels sein, den lateinamerikanischen Staaten bei der Überwindung die- Die Verantwortung Kolumbiens für eine Landreform, ser Krise der demokratischen Institutionen und Verfah- für eine Säuberung der Sicherheitsorgane, für Steuerge- ren zu helfen. rechtigkeit und den Schutz der indigenen Völker kann nicht nach außen verlagert werden. Gleiches trifft für Ich sehe uns Europäer hier in einer besonderen Ver- eine verantwortungsvolle Regierungsführung in allen antwortung. Wir haben in den 90er-Jahren die lateiname- anderen lateinamerikanischen Ländern zu. Gleichzeitig rikanischen Länder beim Aufbau der demokratischen In- bedarf es aber der internationalen Unterstützung, einer stitutionen unterstützt. Dass wir es unterlassen haben, konstruktiven Solidarität, die Spielraum für die Erledi- gleichzeitig ebenso nachdrücklich auf den Aufbau gung der eigenen Hausaufgaben lässt. Europa sollte rechtsstaatlicher Strukturen hinzuwirken und die jungen klare Zeichen dafür setzen, dass Carlos Fuentes Unrecht Demokratien auch über die ersten Schritte hinaus weiter- hat, wenn er düster befürchtet: „Niemand denkt an LA, hin zu fördern und zu unterstützen, rächt sich heute bit- niemand interessiert sich dafür. Würden wir hundert ter. Diese Erfahrung sollte uns für die Zukunft Latein- Prioritäten aufstellen, stünde LA an letzter Stelle“. amerikas und anderer Länder der Welt, wie zum Beispiel Afghanistans und des Irak, eine Lehn; sein. Dr. Claudia Winterstein, (FDP): Es ist mittlerweile Zweitens. Selbstverständlich liegt der Schlüssel zum fünf Jahre her, dass auf der Konferenz von Rio eine neue wirklichen Wandel in den Händen der lateinamerikani- „strategische Partnerschaft“ zwischen der EU einerseits schen Staaten selbst. Dennoch gibt es einiges, was die und den lateinamerikanischen Ländern und der Karibik EU tun kann. In der extremen Armut und Ungleichheit – künftig: Lateinamerika – andererseits beschlossen liegt eine oft unterschätzte politische Sprengkraft. La- worden ist. Diese sollte eine breite Grundlage für die In- teinamerika weist das größte soziale Gefälle aller Regio- tensivierung und Weiterentwicklung der beiderseitigen nen der Welt auf. Der Gipfel von Guadalajara wird sich Beziehungen schaffen. mit diesem Problem auseinander setzen, und es ist zu Die Euphorie war zunächst groß, aber die Ernüchte- hoffen, dass es diesmal nicht bei schönen Worten allein rung folgte bald. Die praktische Umsetzung gemeinsa- bleibt. Die von der Europäischen Kommission und den mer Projekte bleibt bescheiden; daran konnte auch die Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des sozialen Zusammen- Folgekonferenz 2002 in Madrid nichts ändern. Bis heute halts gesammelten Erfahrungen, ihre Arbeitsmethoden (B) existiert keine kohärente Lateinamerikastrategie der EU; und Konzepte könnten für Lateinamerika von großem (D) eine entsprechende Resolution des Europäischen Parla- Nutzen sein. Zum Austausch von Know-how und Erfah- ments aus dem Jahr 2001 ist bisher ungehört geblieben. rungen sollte insbesondere die Zusammenarbeit zwi- schen den für diese Politikbereiche zuständigen öffentli- Lateinamerika findet leider in der europäischen, aber chen Verwaltungen intensiviert werden. auch in der deutschen Politik so gut wie nicht statt. Da- bei ist die soziale und politische Stabilität in Lateiname- Die noch unzureichende regionale Integration stellt rika unabdingbar für Frieden und Sicherheit weltweit. ebenfalls eine maßgebliche Hürde für die Entwicklung Aus anderen Regionen der Welt ist uns der fatale Zusam- der Region dar. Sie erschwert nicht nur die Vertiefung menhang zwischen Drogenanbau und -handel, organi- der Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika, sierter Kriminalität bis hin zum Terrorismus und man- sondern hindert die Region auch, sich besser gegen ex- gelnder Rechtsstaatlichkeit schon bekannt. Gerade terne wirtschaftliche Schocks zu wappnen und diese bes- deshalb ist es im außenpolitischen Interesse Deutsch- ser aufzufangen. Die Vertiefung der regionalen Zusam- lands, dass die in Rio 1999 beschworene und in Madrid menarbeit wird die Region in die Lage versetzen, ihr 2002 bestätigte strategische Partnerschaft endlich Ge- wirtschaftliches Potenzial voll auszuschöpfen und die stalt annimmt und dass die Zusammenarbeit zwischen Eingliederung der einzelnen Länder in die internationa- Europa und Lateinamerika und der Karibik zu einer zen- len Märkte erleichtern. Auch in diesem Bereich sollte tralen Säule der transatlantischen Beziehungen wird. die Zusammenarbeit zwischen der EU und den bestehen- den subregionalen Initiativen – Mercosur, Andenge- Ich sehe sowohl die EU als auch die Bundesregierung meinschaft, Zentralamerika –, zum Beispiel durch tech- in der Pflicht, auf dem Gipfel von Guadalajara darauf nische Hilfe und den Aufbau von Humankapital, hinzuwirken, das bisher Versäumte endlich nachzuholen. erheblich verstärkt werden. Erstens. Der Gipfel findet zu einer Zeit statt, in der Die konkreteste Hilfe leisten die europäischen Staaten viele Staaten der Region eine schwere Krise ihrer demo- über die Entwicklungszusammenarbeit. Noch vor den kratischen Institutionen erleben. Mangelnde Gewalten- USA ist Europa der größte Geber von Entwicklungshilfe teilung, fehlende Transparenz demokratischer Prozesse, für die Region. In der Entwicklungszusammenarbeit der Korruption, Ungleichheit und Armut mit der Folge des Kommission nimmt die Region allerdings den letzten Ausschlusses breiter Bevölkerungsschichten von der Rang ein – weit hinter den AKP-Staaten. Hier sind Kor- Teilhabe am politischen und wirtschaftlichen Leben rekturen dringend erforderlich. Diese müssen einherge- schwächen die Demokratie und bedrohen Frieden und hen mit einer engeren Zusammenarbeit der EU bei den Stabilität. Eine Umfrage des UNDP belegt, dass bei gro- notwendigen Strukturreformen und einer noch stärkeren 10190 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004

(A) Koppelung der Hilfe an Good Governance, die Beach- fel von Madrid 2002. Dies lässt hoffen, dass in die wirt- (C) tung der Menschenrechte und Programme zur Armutsbe- schafts- und handelspolitische Zusammenarbeit beider kämpfung. Regionen endlich neuer Schwung kommt. Nach fast neunjährigen Verhandlungen ist es immer noch nicht ge- Drittens. Eine intensivere Zusammenarbeit ist aber lungen, ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur, auch im Sicherheitsbereich in beiderseitigem Interesse. unserem mit Abstand wichtigsten Handelspartner in La- Internationaler Terrorismus, die Verbreitung von Mas- teinamerika zu unterzeichnen. Dies liegt zum einen an senvernichtungswaffen und das Problem zerfallender der nicht hinreichenden regionalen Integration im Block Staaten sind Bedrohungen, denen sich kein Staat alleine der Mercosur-Staaten. Der freie Verkehr von Waren, stellen kann. Auf dem Gipfel in Guadalajara wird das Dienstleistungen und Kapital muss zum einen intraregio- Thema „effektiver Multilateralismus“ deshalb einer der Schwerpunkte der Beratungen sein. Die Voraussetzun- nal gewährleistet sein, bevor interregional dazu verhan- gen für eine enge biregionale Kooperation sind günstig. delt werden kann. Ein erfolgreicher Abschluss der Ver- Europa und Lateinamerika bilden eine Werte- und Inte- handlungen setzt zum anderen aber auch Zugeständnisse ressengemeinschaft, die mit einer Übereinstimmung in der EU im Agrarbereich voraus. Solche werden von den wichtigen sicherheitspolitischen Fragen einhergeht. Ein Mercosur-Staaten berechtigterweise als notwendige Ge- effektives multilaterales System, mit den Vereinten Na- genleistung für die Öffnung ihrer Industrie- und Dienst- tionen im Zentrum ist gemeinsames Ziel. Bereits in der leistungsmärkte gefordert. Wir können uns nicht welt- Abschlusserklärung des Gipfels von Madrid haben die weit für Freihandel einsetzen, den eigenen Markt aber Teilnehmer eine breite Übereinstimmung erklärt, was abschirmen. Ein Ziel des Gipfels in Guadalajara muss es die Themen Sicherheit, Abrüstung, Terrorismus, Be- deshalb sein, ein günstiges Klima für eine rasche und er- kämpfung des Drogenhandels und des organisierten Ver- folgreiche Beendigung der Doha-Runde der WTO-Ver- brechens sowie die Ächtung von Kleinwaffen angeht. Es handlungen zu schaffen. mangelt jedoch immer noch an belastbaren Strukturen, Der erfolgreiche Abschluss des Abkommens mit den die es uns ermöglichen, eine gemeinsame Antwort auf Mercosur-Staaten ist auch für die deutsche Wirtschaft diese Herausforderungen zu geben. Hier müssen auf von strategischem Interesse, da er uns langfiistig – dem Gipfel Initiativen ergriffen werden. Langfristiges ebenso wie der mittelfristig geplante Abschluss von As- Ziel muss die Schaffung einer euro-lateinamerikani- soziationsabkommen mit der Andengemeinschaft und schen Sicherheitspartnerschaft sein. Zentralamerika, den Zugang zum zukünftigen, von den Viertens. Der Gipfel von Guadalajara wird in einem USA angestrebten gesamtamerikanischen Markt, FTAA, wirtschaftlich günstigeren Klima stattfinden als der Gip- erleichtern wird. (B) (D)

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