Plenarprotokoll 14/247

Deutscher

Stenographischer Bericht

247. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Inhalt:

Absetzung des Tagesordnungspunktes 2 . . . . . 24980 C SPD ...... 25006 B Gedenken für den verstorbenen ehemaligen Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU, Nächste Sitzung ...... 25007 D Dr. Berichtigung ...... 25007 D Vizepräsident Dr. h. c. ...... 24979 A

Anlage 1 Tagesordnungspunkt 1: Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 25009 A Vereinbarte Debatte: Gewalt und Gesell- schaft – Ursachen erkennen, Werte ver- mitteln, friedliches Zusammenleben Anlage 2 stärken ...... 24980 C Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur SPD ...... 24980 C Beratung: Dr. CDU/CSU ...... 24982 C – Große Anfrage: Forschungsförderung in Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE Deutschland GRÜNEN ...... 24985 B – Unterrichtung: Bericht zur technologischen Dr. FDP ...... 24987 B Leistungsfähigkeit Deutschlands 2001 und PDS ...... 24989 A Stellungnahme der Bundesregierung Dr. Edith Niehuis, Parl. Staatssekretärin – Beschlussempfehlung und Bericht: BMFSFJ ...... 24990 A – Förderung der Energiespeicherforschung Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident (Thüringen) ...... 24992 B – Gegen ein Forschungsverbot in der Gashydratforschung Dr. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 24995 C – Faktenbericht Forschung 2002 zum Dr. FDP ...... 24997 A Bundesbericht Forschung 2000 Angela Marquardt PDS ...... 24997 D – Beschlussempfehlung und Bericht: Mehr Frauen an die Spitze von Wissenschaft und SPD ...... 24999 A Forschung – durch Gender Mainstreaming Maria Eichhorn CDU/CSU ...... 25000 D Frauen in Wissenschaft und Forschung stärken Michael Müller (Düsseldorf) SPD ...... 25002 A – Beschlussempfehlung und Bericht: Res- SPD ...... 25003 B sortforschung überprüfen – Effizienz der Michael Roth (Heringen) SPD ...... 25004 D Forschung steigern II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

– Beschlussempfehlung und Bericht: Anlage 7 – Die Brennstoffzelle – Technik des Freizeitmöglichkeiten für im Ausland in Feld- 3. Jahrtausends lagern stationierte deutsche Soldaten – Technikfolgenabschätzung: hier: TA- MdlAnfr 7 Projekt „Brennstoffzellen-Technolo- Günther Friedrich Nolting FDP gie“ Antw PStSekr’in Brigitte Schulte BMVg . . . 25013 B – Antrag: Eine neue Offensive für eine mo- derne Forschungspolitik Anlage 8 – Antrag: Wissenschaft und Forschung als Änderungen bei der Gewährung von Haus- Motor der gesellschaftlichen Entwicklung und des wirtschaftlichen Aufschwungs in haltshilfe durch die gesetzliche Krankenkasse Deutschland nutzen MdlAnfr 8, 9 (246. Sitzung, Tagesordnungspunkt 27, Zu- Maria Eichhorn CDU/CSU satztagesordnungspunkt 15 und 16) ...... 25009 C Antw PStSekr’in Gudrun Schaich-Walch Jörg Tauss SPD ...... 25009 C BMG ...... 25013 D

Anlage 3 Anlage 9 Rechtsgültigkeit der polnischen Rechtsakte zu Aufnahme der Ortsumfahrung der B 179 in Kö- Enteignung und Vertreibung von Personen nigs Wusterhausen in Brandenburg sowie der deutscher Nationalität aus den damals deut- Autobahnanbindung A13/B 246 in Bestensee in schen Ostgebieten Brandenburg in den Bundesverkehrswegeplan MdlAnfr 1 MdlAnfr 10, 11 Hartmut Koschyk CDU/CSU Maritta Böttcher PDS Antw StMin Dr. Christoph Zöpel AA ...... 25011 C Antw PStSekr’in BMVBW 25013 D

Anlage 4 Anlage 10 Auswirkungen des Gesetzes zur Eindämmung Zustimmung zur Auflösung des Entwicklungs- der illegalen Betätigung im Baugewerbe, ins- ministerrates der EU; Eingliederung des BMZ besondere der so genannten Bauabzugsteuer, in das AA für mittelständische Unternehmen; geplante MdlAnfr 12, 13 Änderungen durch das BMF Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU MdlAnfr 2, 3 Antw StMin Hans Martin Bury BK ...... 25014 B Klaus Hofbauer CDU/CSU Antw PStSek’in Dr. Barbara Hendricks BMF 25012 A Anlage 11 Neukonzeption der Vertriebenenkulturarbeit Anlage 5 zwecks Übereinstimmung mit § 96 Bundesver- Fortsetzung der Milchmengengarantierege- triebenengesetz lung, Maßnahmen gegen den sinkenden Milch- MdlAnfr 14 preis Hartmut Koschyk CDU/CSU MdlAnfr 4, 5 Antw StMin Hans Martin Bury BK ...... 25014 C Dr. Gerd Müller CDU/CSU Antw PStSekr Dr. Gerald Thalheim BMVEL 25012 C Anlage 12 Anwendung des Programmpakets Public Admi- Anlage 6 nistration Software System (PASS) eines Anbie- Veränderung der Struktur von Arbeitsämtern, ters aus Nordrhein-Westfalen in Geschäftsberei- Schließung des Arbeitsamtes Coburg chen der Bundesregierung; Kostenaufwand MdlAnfr 6 MdlAnfr 15 CDU/CSU Steffen Kampeter CDU/CSU Antw PStSekr BMA ...... 25013 A Antw PStSekr Fritz Rudolf Körper BMI . . . . 25014 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 III

Anlage 13 Anlage 15 Anzahl der im Rahmen der Fußballweltmeister- Finanzierung des neuen „Mitelstandspro- schaft nach Japan und Südkorea gereisten Mitglie- gramms“ der Bundesregierung der der Bundesregierung, Mitarbeiter des Bundes und Dritte auf Einladung des Bundes, Kosten MdlAnfr 18 CDU/CSU MdlAnfr 13 Syliva Bonitz CDU/CSU Antw PStSekr Dr. Ditmar Staffelt BMWi . . . 25015 D Antw PStSekr Fritz Rudolf Körper BMI . . . . 25015 A Anlage 16 Anlage 14 Vereinbarkeit von „Markenausschreibungen“ Hinweise auf mögliche Terroranschläge in mit den rechtlichen Bestimmungen für Verga- Deutschland oder auf deutsche Staatsbürger oder Einrichtungen im Ausland; Gefahrenpo- ben; Ausschluss des Mittelstandes vom Wettbe- tenzial von Schiffscontainern werb MdlAnfr 17 MdlAnfr 19, 20 Sylvia Bonitz CDU/CSU CDU/CSU Antw PStSekr Fritz Rudolf Körper BMI . . . . 25015 C Antw PStSekr Dr. Ditmar Staffelt BMWi . . . 25016 A

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Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Beginn: 13.00 Uhr

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters:Liebe Kol- war er Vorsitzender der Unionsfraktion. Dem Deutschen leginnen! Liebe Kollegen! Der Deutsche Bundestag trau- Bundestag gehörte er insgesamt über 7 Wahlperioden an, ert um einen bedeutenden Politiker, eine große parlamen- immer direkt gewählt in seinem Wahlkreis Fulda. Dem tarische Persönlichkeit, die sich bleibende VerdiensteBundeskabinett hat er – seinem eigenen Wunsche entspre- erworben hat – um unser Land, um dieses Parlament, um chend – nicht angehört; er blieb der Vorsitzende der Mehr- unsere Demokratie. In den langen Jahren seiner politi- heitsfraktion, er blieb ausschließlich Parlamentarier. In schen Arbeit hat Dr. Alfred Dregger, ein Politiker derdiesem Amt verwirklichte sich für ihn ein anderer und viel Nachkriegs- und Aufbaugeneration, in unverwechselba- wichtigerer Traum – der Fall der Mauer, die Öffnung des rer Weise das politische und parlamentarische Leben im Brandenburger Tores, der Zusammenbruch des Kommu- freien Teil Deutschlands und dann im wiedervereinigten nismus, der Siegeszug der Freiheit, die deutsche Einheit. Deutschland mitgeprägt. Alfred Dregger war geprägt von den Erlebnissen, von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs, selbst mehrfach Alfred Dregger wurde am 10. Dezember 1920 in Müns- verwundet, mit Behinderungen und Schmerzen, die ihn (B) ter als Sohn eines Verlagsdirektors geboren. Seine Jugend immer wieder bis zu seinem Tode begleiteten. Er war ge- (D) verbrachte er auf dem mütterlichen Bauernhof bei Soest. prägt von den materiellen und moralischen Zerstörungen, 1939 machte er sein Abitur, anschließend wurde er zur die eine nationalsozialistische Diktatur angerichtet hatte. Wehrmacht eingezogen; dort verblieb er bis 1945 imEr war – als Patriot – geprägt von der Spaltung und Tei- Kriegsdienst, zuletzt als Hauptmann und Bataillonskom- lung seines Vaterlandes, die Familien auseinander riss und mandeur an der Ostfront. Sein Bruder blieb im Zweiten einen Teil der deutschen Bevölkerung in einer anderen Weltkrieg an der Ostfront vermisst. Diktatur gefangen hielt. Nach dem Kriege studierte Alfred Dregger an den Uni- Sein ganzes politisches Wirken war gerichtet auf den versitäten Marburg und Tübingen Rechts- und Staatswis- Aufbau einer gefestigten und starken, an Recht und Ge- senschaften, wirkte anschließend in der Industrie und beim setz orientierten Demokratie. Sein wichtigstes Ziel war Deutschen Städtetag. 1956 wurde er in Fulda – im Alter – dem Auftrag des Grundgesetzes entsprechend – die von 36 Jahren – jüngster Oberbürgermeister der Bundes- Wiederherstellung der Einheit Deutschlands im Rahmen republik Deutschland, als er durch eine erfolgreiche In- einer europäischen Friedens- und Freiheitsordnung, was nenstadtsanierung von sich reden machte. Die Schul-für ihn immer einschloss die Versöhnung mit unseren pol- bautätigkeit erreichte während seiner 14-jährigen Amtszeit nischen Nachbarn und die Osterweiterung der Europä- ein in vergleichbaren Städten nicht gekanntes Ausmaß. ischen Union, die er stets als ein Werk des Friedens be- Von 1965 bis 1970 war Alfred Dregger Präsident bzw. Vi- zeichnete. Ende 1989 schrieb er in einem Aufsatz: zepräsident des Deutschen Städtetages; von 1962 bis 1972 Mit den schon eingetretenen und sich anbahnenden gehörte er dem Hessischen Landtag an, von 1970 bis 1972 Entwicklungen in Europa wird das Tor geöffnet für als Fraktionsvorsitzender und Oppositionsführer. eine europäische Friedensordnung, in der alle Völker Als Landesvorsitzender der hessischen CDU konnte Europas ohne Furcht und Zwang und unter Wahrung Alfred Dregger Aufsehen erregende Wahlerfolge verbu- ihrer Eigenart friedlich in gesicherten Grenzen zu- chen – sein Traum, Ministerpräsident in Hessen zu wer- sammenleben können. den, wurde jedoch nicht erfüllt. Die aussichtsreiche Land- Und er fügte hinzu: tagswahl im September 1982 stand im Sog des Wenn 60 Millionen Deutsche bisher gute Nachbarn Regierungswechsels in Bonn. Alfred Dregger trat als hes- und gute Europäer gewesen sind, wird das bei sischer CDU-Landesvorsitzender zurück, wurde aber be- 75 Millionen Deutschen nicht anders sein. reits wenige Wochen später als Nachfolger von Bundes- kanzler zum Fraktionsvorsitzenden derDem Aufbau der neuen Länder in der Bundesrepublik CDU/CSU im Deutschen Bundestag gewählt. Bis 1991 Deutschland widmete er sein besonderes Engagement. 24980 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Vizepräsident Dr. h.c. Rudolf Seiters (A) Alfred Dregger war ein streitbarer, ein kämpferischer Der Ältestenrat hat vereinbart, die heutigeFrage- (C) Demokrat. Er bezog dezidiert Position, er bekannte in der stunde abzusetzen. Die eingereichten Fragen werden politischen Auseinandersetzung Farbe, und darum erfuhr schriftlich beantwortet.1) Sind Sie einverstanden? – Es ist er auch oftmals Widerspruch und Kritik. Aber auch diese kein Widerspruch zu hören. Dann ist es so beschlossen. manchmal scharfe Auseinandersetzung war stets geprägt von seiner Überzeugung, dass der Wähler einen Anspruch Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die FDP ihren habe auf klare Alternativen, insbesondere zwischen den Antrag auf Durchführung einer Aktuellen Stunde am beiden großen Volksparteien, und dass in den Parlamen- Donnerstag zurückgezogen hat. ten kein Platz sein dürfe für extremistische Gruppen. Hans-Jochen Vogel, der an der Marburger Universität zur Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: gleichen Zeit wie Alfred Dregger Jura studierte und der Vereinbarte Debatte ihn – wie kaum ein anderer – persönlich kannte, hat spä- Gewalt und Gesellschaft – Ursachen erkennen, ter, im Jahre 1990, über ihn geurteilt: „Er hat Freunde und Werte vermitteln, friedliches Zusammenleben Gegner – Feinde hat er nicht“. Das hing wohl auch damit stärken zusammen, dass Alfred Dregger in seinem ganzen Leben stets und immer erkennbar, zielstrebig und berechenbar Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die seine Überzeugung vertrat, dass er in Grundsatzfragen nie Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Es gibt taktisch operierte. Man konnte ihn einordnen – mit seiner keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Prinzipienfestigkeit, seiner Gradlinigkeit im Denken und Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem seiner Verlässlichkeit im politischen Handeln –: „einAbgeordneten Wolfgang Thierse. Wertkonservativer aus Überzeugung“, wie Helmut Kohl einmal sagte. Das betraf auch sein Bekenntnis zur Vater- landsliebe und zu richtig verstandenem Patriotismus, den Wolfgang Thierse (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte er nie als Gegensatz sah zu einer Politik des Friedens, der Kolleginnen und Kollegen! Über zwei Monate sind seit Verständigung, der Aussöhnung, der europäischen Eini- der Mordtat von Erfurt vergangen und noch immer sind gung. Das betraf auch seine kritische und auch in den ei- wir betroffen und entsetzt. In den Medien ist sie schon genen Reihen nicht unumstrittene Position längst zum wieder an den Rand des Vergessens gedrängt, aber Honecker-Besuch in Bonn, zur Rede des damaligen Bun- die unmittelbar Betroffenen, die Eltern und Kinder, die despräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahres- Lehrer und Bürger von Erfurt, haben das Entsetzen noch tag des Kriegsendes, seinen Protest gegen die Wehr-lange nicht bewältigt. Wir fühlen mit ihnen und denken machtsausstellung, wo er – wie eine Zeitung in diesermit ihnen nach. Woche schrieb – jenen Teil der Kriegsgeneration reprä- Was wir heute und hier tun können, ist, uns mit den (B) sentierte, der sich von Hitler missbraucht und betrogen (D) wusste. Wie differenziert er die Frage sah, wird in dem Ursachen dieser Tat zu beschäftigen und uns in allem Vorgang deutlich, an den eine andere Zeitung erinnerte: Ernst zu fragen, was Politik, was die Gesellschaft, was wir Als in der Debatte im Deutschen Bundestag ein SPD-Ab- tun können, um solche entsetzlichen, manchmal auch ver- geordneter forderte, die Ausstellung müsse zu sehen sein, zweifelten Ausbrüche von Gewalt zu verhindern. Ich klatschte Alfred Dregger – seine scharfe Kritik verlangte fürchte, wir müssen diese Diskussion in dem Bewusstsein nicht, dem mündigen Bürger den Informationszugang zu führen, dass Staat und Politik nur begrenzt auf solche verwehren. durchaus schicksalhaften Ereignisse Einfluss nehmen können, dass wir aber die Pflicht und Schuldigkeit haben, Alfred Dregger – ich sage es noch einmal – war ein dieses Wenige auch wirklich zu tun. streitbarer Demokrat, ein kämpferischer Demokrat, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er demokratische Mit- Eine funktionierende, eine im eigentlichen Sinne hu- streiter jemals persönlich diffamiert oder beleidigt hätte. mane Gesellschaft vermag den jungen, den nachwachsen- den Generationen Orientierung, Perspektive und eine Alfred Dregger starb im Alter von 81 Jahren nach einer Grundausstattung moralischer Werte zu vermitteln, die langen Krankheit. Wir trauern mit seiner Familie, seiner eine sinnvolle, sinnerfüllte Existenz und ein zivilisiertes Frau, seinen Kindern. Der Deutsche Bundestag und die Zusammenleben ermöglichen. Bei dem noch jugendlichen deutsche Öffentlichkeit werden Alfred Dregger als einen Täter von Erfurt ist das offensichtlich nicht gelungen. An- großen, aufrechten Demokraten in ehrender Erinnerung gesichts beunruhigender Gewalt in unserem Alltag ist zu behalten. befürchten, dass dies kein Einzelfall bleiben könnte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bit- Der ehemalige Verfassungsrichter Böckenförde schrieb: ten, sich zu erheben und dem Verstorbenen eine stille Mi- Der demokratische säkulare Staat, die pluralistische Gesell- nute des Gedenkens zu widmen. schaft leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaf- (Die Anwesenden erheben sich) fen können. Der Markt kann das schon gar nicht. Moralische Werte werden wahrlich nicht an der Börse gehandelt! Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Sitzung ist bis 13.30 Uhr unterbrochen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kollegin- nen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. 1) Anlagen 2 bis 14 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 24981

Wolfgang Thierse (A) Aber wenn wir die mündigen Bürgerinnen und Bürger, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) die kulturellen Kräfte und Institutionen, die Kirchen und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Religionsgemeinschaften benötigen, um soziale und mo- CDU/CSU und der PDS) ralische Grundwerte zu stiften und lebendig zu halten, Wir sind uns einig darüber, welchen Rang Kommuni- dann kann, nein, dann muss Politik mit diesen Werten kation und Massenmedien – dabei besonders das Fern- mindestens pfleglich umgehen, muss sie beglaubigen und sehen – in unserer Gesellschaft haben und dass wir sie darf sie nicht zerstören. auch und ganz wesentlich als Kulturgut mit einem Bil- Unübersehbar ist aber, dass wir es mit einem Grund- dungsauftrag verstehen. Aber wir erleben zugleich, dass widerspruch zu tun haben zwischen den Werten, zu denen sie immer stärker als Wirtschaftsgut betrachtet und immer sich auch die Mitglieder dieses Hohen Hauses immer wie- gnadenloserem Wettbewerb ausgesetzt werden. Die Fol- der überzeugt bekennen, und einer alltäglichen sozialen gen sind sichtbar: Es stimmt etwas nicht in einer Gesell- und ökonomischen Wirklichkeit, die diese Werte verleug- schaft, die Gewalt zum wichtigsten Gegenstand ihrer all- net, erstickt, zerstört. Dieses Widerspruches müssen wir abendlichen Fernseh- und Videounterhaltung macht. innewerden, wenn wir glaubhaft über Werte reden wollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich will ihn an drei Beispielen zu erläutern versuchen: DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wir sind uns einig über den fundamentalen Wert der CDU/CSU, der FDP und der PDS) Familie für Zivilität und Moralität unserer Gesellschaft, Man sage nicht, das bleibe dauerhaft ohne Wirkung. Sol- für die Erfahrung von und die Erziehung zu Solidarität, cherart Abwiegelungen sind nach Erfurt noch verantwor- Gerechtigkeitsgefühl, Toleranz, Mitmenschlichkeit, für tungsloser als zuvor. Das ist beileibe nicht der Ruf nach ebendie grundlegenden Werte, die für den Zusammenhalt der Zensur, aber der Ruf nach der moralischen Verant- unserer Gesellschaft unersetzlich sind. Wer aber Familie wortung der Produzenten und dem kulturellen Widerstand so lobt und unersetzlich findet, der kann und darf nicht zu- der Konsumenten, der Ruf, auszuschalten, die Quoten gleich einer Deregulierungseuphorie, einer Flexibilisie- einfach einmal zu verderben. rungsideologie und -praxis anhängen, die eben die Fami- lie gefährdet; denn Familie braucht Zeit und Raum für Auch die notwendige Bildungsdebatte, die wir ganz Geborgenheit, für Zuwendung, für Vertrauen. Wer also aktuell miteinander führen, weist nach meiner Wahrneh- die Familie verteidigen will, darf sie nicht total den Zwän- mung im Augenblick eine gewisse Schieflage auf: So gen des Marktes, den Bedürfnissen von Wirtschaft und richtig es ist, auch von Schülerinnen und Schülern Leis- Technologie unterwerfen; er muss notwendiger Flexibi- tung zu fordern – und das geschieht ja auch –, so wichtig lität und notwendiger Mobilität vernünftige, somit famili- ist es, vom Kindergarten bis zur Oberstufe den Bildungs- enverträgliche Grenzen setzen, also einen familien-einrichtungen den Freiraum zu schaffen, der es ermög- (B) freundlichen Rahmen verpassen. licht, die Kinder Zuwendung, Vertrauen, Respekt, Solida- (D) rität, Lob und Anerkennung erfahren zu lassen, also (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mitmenschlichkeit zu erleben. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Dr. Hermann Kues [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der PDS) Wir sind uns einig, dass der Mensch nicht reduziert werden darf auf die beiden Rollen, in denen er auf dem Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ich von mir Markt vorkommt, nämlich als Arbeitskraft und als Kon- selbst und von der Politik, von Volksvertretern insgesamt sument. Der Mensch ist mehr und anderes. Ihn auf seine erwarte und verlange, ist, dass wir bei unseren Entschei- ökonomische Leistungsfähigkeit zu reduzieren, diese als dungen den ganzen Menschen im Blick haben, mit all sei- dominanten Maßstab gesellschaftlich zu akzeptieren, ja nen individuellen Besonderheiten, Fähigkeiten und Be- zu propagieren, das ist für unsere Gesellschaft lebensge- dürfnissen, wobei ich übrigens glaube, dass Leistungen zu fährlich. Briefe von Schülerinnen und Schülern aus ganz vollbringen zu den menschlichen Bedürfnissen gehört, Deutschland zeigen, dass sie in Leistungs- und Konkur- die befriedigt werden müssen. Was ich beobachte, ist aber renzdruck und Versagensängsten Gründe für den Amok- doch ein Zuviel an politischer Unterstützung, politischer lauf von Erfurt sehen. Sie berichten davon, wie sehr sie Bejubelung so genannter Aufbrüche zu immer mehr Fle- selbst unter diesem Druck stehen; sie beobachten Ängste xibilität, Mobilität und Wettbewerb, ein fataler Hang zum, und Verhaltensstörungen bei ihren Mitschülerinnen und wie ich finde, beschränkten Fitmachen – wie der verräte- Mitschülern. Sie sprechen davon, dass Lehrer aussieben rische Ausdruck heißt – für die Arbeitswelt anstelle einer und aussortieren; das empfinden sie als Entwürdigung. Erziehung zu lernbereiten, zivilisierten, mündigen und mitleidensfähigen Menschen. Beides ist notwendig: Leis- Der leistungsstarke, der konsumreiche, der schönetungsorientierung und Werteorientierung. Mensch, das ist das Ideal des Marktes, wie es in der Wer- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE bung allgegenwärtig und allmächtig zu sein scheint. Eine GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordne- Nebenbemerkung: Dass wir alle endlich auch am Sonn- ten der CDU/CSU) tag – Stichwort: Schluss mit der Begrenzung von La- denöffnungszeiten – arbeiten sollen und konsumieren Wenn Politik, teilweise unbedacht, daran mitwirkt, eine dürfen, das predigen nicht wenige. So ginge ein weiterer Gesellschaft zu gestalten, die das Goldene Kalb des Mark- Freiraum für unser Menschsein jenseits des Marktes ver- tes, des Wettbewerbs und der allein an deren Kriterien ge- loren. messenen Leistung anbetet, statt neben notwendigem 24982 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Wolfgang Thierse (A) Markt und notwendigem Wettbewerb mit demselben Rang Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! (C) eine Kultur der Anerkennung, der Integration, der Auf- Meine Damen und Herren! In dem jetzt vorliegenden Ab- merksamkeit für den ganzen Menschen zu ermöglichen, schlussbericht haben die ermittelnden Behörden die Fak- dann verfehlt sie ihre Aufgabe, die Gesellschaft zusam- ten des Amoklaufs von Erfurt zusammengetragen. Sel- menzuhalten. Dann hilft auch kein „mitfühlender Konser- ten hat man Fakten lesen können, die so sachlich, vatismus“ mehr, um die Schattenseiten des beschleunigten nüchtern und kalt klingen und uns gerade deshalb alle so Wandels zu beherrschen, die viele als soziale Desintegra- sprachlos machen: Robert Steinhäuser, 19 Jahre alt, hat in tion, als Ausgrenzungsprozess, als individuelle und kol- 15 Minuten 16 Personen getötet, davon zwölf Lehrer, an- lektive Überforderungsangst, als Furcht vor Statusverlust schließend sich selbst, mehr als 70 Schüsse in 15 Minu- und als Orientierungslosigkeit erleben. ten. Eine Tat, die die Vorstellungskraft von uns allen wohl bei weitem übersteigt. Mitten ins Leben der Schüler des Diesen sozialen Dimensionen eines ungesteuerten Erfurter Gutenberg-Gymnasiums stürmt das Unfassbare. Wandels stehen moralische Mängel zur Seite. Wenn jeder Mitten ins Leben der Schüler, Lehrer und Eltern bricht an nur für sich selber zu sorgen hat, wie kann er dann noch einem Freitagmorgen 16fach der Tod hinein. Eine Tat, die für andere einstehen? Wie kann ich verhindern, dass Men- eine ganze Stadt, ein ganzes Bundesland, ja eine ganze schen für Eigenschaften, die nicht vom Markt und von der Nation jäh aus dem Alltag gerissen hat: Entsetzen, Er- Leistungsgesellschaft belohnt werden, gleichwohl Res- schrecken, Fassungslosigkeit. pekt erfahren? Es kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass ständige Zurücksetzung, das Ignoriert-Werden und Aber es gab auch eine andere Erfahrung: DieTrauer frühzeitige oder scheinbar unumkehrbare Ausgrenzung um die Opfer einte das Land und eint es immer noch. eine unerhörte Spannung, eine schwer beherrschbare Not Die Trauer war nicht die einzige Reaktion. So fas- verursachen, die die einen in die Depression und Selbst- sungslos wir alle vor diesem Ereignis standen, so beein- aufgabe, andere aber in die Versuchung der Gewalt druckend war die Welle der Mitmenschlichkeit, die wir führen. erleben konnten. Die Nation, so oft über nicht allzu Ent- Was ist zu tun? Die Menschen selbst – das kann ihnen scheidendes zerstritten, stand zusammen, um zu verarbei- niemand wirklich abnehmen – müssen sich ihre Frei-ten, was geschehen war. Es war bewegend, zu sehen, wie räume für Kultur, für zweckfreie Kommunikation, fürdiese Stadt im Unglück zusammengehalten hat. Das war Muße, für Zuwendung, für familiäres Beieinandersein, Zusammenleben im besten Sinne. Wir alle sind angesichts für Solidarität im Familienverband, im Freundeskreis und der Hilflosigkeit, die wir verspürten und noch verspüren, im großen gesellschaftlichen Zusammenhang erarbeiten denen zu großem Dank und Anerkennung verpflichtet, die und bewahren. Ich lasse mich hinreißen, dies mit dem geholfen und getröstet haben. amerikanischen Soziologen Robert Putnam „soziales Ka- (Beifall im ganzen Hause) (B) pital“ zu nennen, damit auch die Ökonomisierer verste- (D) hen, dass sie ohne diese Werte nicht auskommen können. Neben all den Ärzten, Lehrern, Eltern, Pastoren, Psy- Solche sozialen und moralischen Netzwerke zu fördern chologen, Nachbarn und den anderen Helfern möchte ich ist eine unserer wichtigsten Aufgaben als demokratische den Ministerpräsidenten von Thüringen, Bernhard Vogel, Politiker. besonders erwähnen. Er hat Thüringen in den schwersten Stunden seit Bestehen dieses Landes Trost, Kraft und Mut Deshalb müssen die Politik, die Parteien, die Regie- gegeben, ein Landesvater im besten Sinne des Wortes. rungen und Parlamente in diesem Fall wirklich als Ge- genmacht zur entfesselten Ökonomie Freiräume mensch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichen Beziehungsreichtums schützen und wieder neu Wir alle sind noch lange nicht damit fertig, die Folgen schaffen, sie einfordern und ermöglichen. Nur so werden des 26. April zu verarbeiten. Eines der Hauptergebnisse wir eine Kultur der Anerkennung als Bedingung für ein des Untersuchungsberichts ist: Robert Steinhäuser war menschengerechtes Leben und eben auch als Prävention ein Einzeltäter; er hatte keine Komplizen. Seine furcht- gegen Gewalt über den heute stattfindenden dramati-bare Tat war eine Einzeltat. Ich will ganz ausdrücklich un- schen Wandel hinüberretten können. Nur so werden wir terstreichen: Es war eine Einzeltat, die sich jedem ratio- die Werte, für die wir eintreten und die in Art. 1 unseres nalen Zugang entzieht. Grundgesetzes – „Die Würde des Menschen ist unantast- bar“ – geradezu genial zusammengefasst sind, politisch Bei einer solchen Tat, die jenseits unserer Vorstel- beglaubigen können. Die Nagelprobe auf Art. 1 haben lungskraft und außerhalb jedes nachvollziehbaren Den- wir als Gesellschaft aber erst bestanden, wenn wir auch kens und Handelns liegt, ist es nicht richtig,Kausal- diejenigen wahrnehmen, aufnehmen, respektieren und ketten herzuleiten. Es ist auch nicht richtig, zu fragen, schätzen, die am Markt des Geldes und der Eitelkeitwelche äußeren Ursachen das Verhalten des Täters be- scheitern. stimmt haben. Wer das Unverständliche verstehbar und das Unerklärbare erklärbar machen möchte, der muss auf- Herzlichen Dank fürs Zuhören. passen, dass er sich nicht – zumindest unterschwellig – auf (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE die Seite des Täters stellt und versucht, das Unentschuld- GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordne- bare mit irgendwelchen Umständen zu erklären. Diesen ten der CDU/CSU) Fehler werden wir nicht machen. Unser Denken und Fühlen gilt deshalb den Opfern und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat nicht dem Täter. Schulverweise gibt es öfter einmal. Aber jetzt die Abgeordnete Angela Merkel. sie machen niemanden zu einem kaltblütigen Mörder. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 24983

Dr. Angela Merkel (A) Robert Steinhäusers Mitgliedschaft in einem Schützen- muss umgekehrt werden; denn die Seelen unserer Kinder(C) verein ändert nichts an der Beurteilung des Charakters sind millionenmal wichtiger als Einschaltquoten. dieser Vereine. Sie sind ein fester Bestandteil von lokaler (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Tradition, von Ehrenamt und Bürgergesellschaft. Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verbote, Alterskennzeichnungen und besserer Ju- Wir wollen auf diese Tradition nicht verzichten. gendschutz, das sind drei Beispiele für konkrete Schritte, die wir tun können. Wir bieten hier unsere Zusammenar- Dennoch erinnert die Tat an die besondereVerant- beit an und werden dies auch weiter tun. Vor allen Dingen wortung, die uns allen und auch solchen Vereinen für ihre dürfen wir nicht nur nach aktuellen Ereignissen handeln. jungen Mitglieder zukommt. Es ist auch keine Frage, dass wir aufgefordert sind, zu handeln. Wir müssen nichtDie Arbeit auf diesem Gebiet muss vielmehr kontinuier- verstehen und nachvollziehen, warum ein 19-Jähriger licher Bestandteil unserer politischen Arbeit werden. 16 Menschen und anschließend sich selbst erschossen hat. Dass wir gemeinsam handeln können – und dies Aber wir müssen Konsequenzen ziehen, um ein weiteres schnell –, das ist durch die Änderung des Waffengeset- Erfurt wenn nicht unmöglich, so doch weniger wahr-zes bewiesen worden. Vier Jahre haben wir darüber dis- scheinlich zu machen. kutiert; zwei Monate nach der Tat von Erfurt ist eine Es kann keinen Zweifel geben: Gewalt, egal welcher schärfere Fassung mit einem höheren Mindestalter, einem Art und egal wie motiviert, darf nicht geduldet und nicht Verbot von Pumpguns und einer Verschärfung der Melde- verharmlost werden. pflichten verabschiedet worden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Die schnelle Einigung beim Waffengesetz ist ein Er- bei Abgeordneten der SPD) folg, aber in gewisser Weise auch eine Mahnung an die Politik, eine Mahnung, Mitte und Maß zu halten, wenn Man braucht auch keine Kausalketten, um zu erkennen: sich die Politik mit Interessengruppen auseinander setzt. Es ist Zeit, gegen Gewalt und insbesondere gegenDar- Viele Lobby- und Interessengruppen versuchen, in ihrem stellung von Gewalt in den Medienkonsequenter vor- Sinne Einfluss auszuüben. Das gehört zu den demokrati- zugehen. In diesem Punkt können wir alle immer noch schen Spielregeln und das wird auch immer so bleiben. mehr tun. Aber wir in der Politik haben trotz aller Interessengrup- Wir können erstens schwer jugendgefährdendes Mate- pen die Aufgabe, die Interessen der schweigenden Mehr- rial schlicht und ergreifend verbieten. Nur so können wir heit in unserer Bevölkerung zu vertreten. Auch diese Auf- verhindern, dass brutalste Videos und Computerspiele von gabe dürfen wir nicht vergessen. (B) älteren Freunden gekauft oder ausgeliehen und dann an die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (D) Jüngeren weitergegeben werden. Es ist richtig, den Zu- Abgeordneten der FDP) gang zu gewaltverherrlichenden Videos und Computer- spielen zu erschweren; denn Killerspiele sind keine Spiele. Deshalb ist es unsere Pflicht, Schutzwälle zu errichten, wenn es darum geht, Gewalttaten zu verhindern. Wir kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nen gewiss sein: Damit handeln wir im Sinne der schwei- des Abg. [SPD]) genden Mehrheit. Die Einigung beim Waffengesetz hat Wir können etwas tun, indem wir zweitens im Rahmen gezeigt: Die Politik ist handlungsfähig, wenn sie sich vor der freiwilligen Selbstkontrolle die Alterskennzeichnung Augen hält, was wirklich wichtig ist. auf alle Medien ausdehnen. Bei Filmen ist sie gang und Es ist richtig, dass wir in diesen Tagen und Wochen gäbe. Warum also nicht auch bei Videospielen? Dasausführlich über Schule und Bildungdiskutieren. Die würde es den Eltern leichter machen, zu kontrollieren, PISA-Studie und die Tat in Erfurt, das sind zwei ganz un- womit sich ihre Kinder beschäftigen. terschiedliche, aber doch sehr klare Signale an uns alle: Wir können mehr tun, indem wir drittens im Fernsehen Die Schule sollte wieder die Priorität erhalten, die ihr im den Trend zu immer mehr Gewalt – und dies zu immer Leben eines jeden Menschen zukommt. Wenn jemand, früheren Uhrzeiten – dadurch stoppen, dass wir den Ju- der von der Schule verwiesen worden ist, zum Amokläu- gendschutzbeauftragten in den Medien mehr Kompeten- fer wird, dann liegen schnelle Rückschlüsse nahe. Wer zen geben, die Zuständigkeiten bündeln und die recht- sich die langen Artikel, die über die Persönlichkeit und die lichen Grundlagen vereinheitlichen. Maria Böhmer aus Lebensumstände von Robert Steinhäuser erschienen sind, unserer Fraktion hat bereits über Jahre hinweg Hundert- durchgelesen hat, der weiß: Diese Tat mit irgendwelchen tausende von roten Karten verteilt, um Eltern zu ermu- Umständen, beispielsweise mit einem übermäßigen Leis- tigen, ihrer Sorge um die Gewalt in den Medien Ausdruck tungsdruck in Schule oder Elternhaus, erklären zu wollen, zu verleihen. Ich finde, wir könnten mehr von diesem En- führt in die Irre. Das gilt erst recht für jene, die versucht gagement gebrauchen. haben, die ganze Gesellschaft wegen einer angeblich überzogenen Leistungsorientierung in Sippenhaft zu neh- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei men. Ich glaube, Erfurt hat gezeigt: Mit Klischees kom- Abgeordneten der FDP) men wir nicht weiter. Dass im Namen der Quote auf Qualität verzichtet wird, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) daran haben wir uns leider schon gewöhnt. Aber dass im Na- men der Quote auf Humanität verzichtet wird, daran dürfen Deshalb war es zweifellos richtig, darüber nachzu- und werden wir uns nicht gewöhnen. Diese Entwicklung denken, ob junge Menschen, die das Abitur nicht geschafft 24984 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Dr. Angela Merkel (A) haben, trotzdem einen Schulabschluss bekommen. Ebenso der größten Probleme, dass wir von überall beschallt wer- (C) richtig ist es, eine Diskussion darüber zu führen, wie wir den, aber zwischen vielen Menschen Sprachlosigkeit die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler in herrscht. Deshalb heißt die Aufgabe, Sprachlosigkeit zu Deutschland verbessern können. Mit dem Begriff „Leis- überwinden, und zwar an allen Stellen unseres Lebens, tung“ meine ich die Entdeckung und die Entfaltung der ei- aber insbesondere, wenn wir mit Kindern und Jugend- genen Persönlichkeit und Potenziale. Das ist etwaslichen sprechen. Großartiges. Ein positives Verständnis von Leistung stärkt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei das Selbstwertgefühl junger Menschen. An einem positi- Abgeordneten der FDP) ven Selbstwertgefühl mangelt es an vielen Stellen. Einer- seits müssen wir unseren Kindern und Jugendlichen ein Keine Bildung ohne Erziehung – das gilt für das El- Selbstwertgefühl vermitteln, das ihnen ihre Stärken be- ternhaus, aber ebenso für die Schule. Eltern und Lehrer wusst macht, und diese Stärken müssen wir auch an-müssen Hand in Hand wirken, damit unsere Kinder und erkennen. Andererseits wird niemand von Anfang an mit Jugendlichen keine Analphabeten sind, weder beim Lesen allen Anforderungen fertig. Auch Misserfolge und Fehl- noch beim Schreiben, aber auch nicht, wenn es um die schläge gehören zum menschlichen Dasein. Auch daszentralen Werte unseres Zusammenlebens geht. müssen Kinder lernen. Das können sie nicht, wenn man Darum ist es meines Erachtens ganz wichtig, dass der- versucht, sie vor den Anforderungen des Lebens, auch den jenige, der nach Wertevermittlung ruft, die Rolle des Re- Anforderungen an die eigene Leistung zu beschützen.ligionsunterrichts in unseren Schulen anerkennt.Reli- Worauf es ankommt, ist, Kindern und Jugendlichen Fähig- gionsunterricht hat den Anspruch, die Werte unseres keiten und Wege zu vermitteln, auch mit Misserfolgenchristlich-abendländisch geprägten Zusammenlebens zu umgehen zu können, und ihnen von Anfang an und nach- vermitteln, und nicht nur, über sie zu reden. Deshalb muss drücklich klar zu machen, dass Gewalt kein Mittel zurder Religionsunterricht seinen festen Platz im Fächer- Konfliktbewältigung ist. kanon behalten oder dort, wo er ihn nicht hat, bekommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wer Werte in der Gesellschaft verankert sehen möchte, der darf nicht gerade die Autoritäten an den Rand drängen, Um diese elementaren Werte und Orientierungen zu die für die Vermittlung von Werten stehen, zum Beispiel vermitteln, brauchen wir starke Eltern und starke Lehrer: die Kirchen. Eltern und Lehrer, die sich nicht scheuen, Autorität aus- zuüben und nachzufragen, wenn etwas nicht in Ordnung (Beifall bei der CDU/CSU) zu sein scheint, Eltern und Lehrer, die Auseinanderset- Die Schulen in freier und insbesondere die Schulen in zungen nicht scheuen, sondern da sind, um zuzuhören, um kirchlicher Trägerschaft haben den Anspruch, nicht nur Rat und Rückhalt zu geben. Rat und Rückhalt geben, (B) Wissen, sondern auch Werte zu vermitteln. Ihnen muss(D) Leistungen anerkennen und Grenzen aufzeigen – das kön- Unterstützung zukommen. Es ist daher ein schlechtes nen glaubwürdig nur Menschen, die als Autoritäten aner- Zeichen, wenn bei Schulen in freier Trägerschaft Kür- kannt werden. Das wissen wir alle aus unserer eigenen Ju- zungen vorgenommen werden, gend und unserer eigenen Erfahrung. Wir sind deshalb als Erwachsene und vor allem als Eltern heute gut beraten, (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE die Autoritäten unserer Kinder und Jugendlichen nicht zu GRÜNEN]: Baden-Württemberg!) zerstören. wenn es um finanzielle Fragen geht, wie wir es gerade in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Berlin erlebt haben. Wer Lehrer pauschal beschimpft, wer Eltern in eine be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stimmte Ecke stellt, wer Menschen verächtlich macht, ob Erfurt war ein erschütterndes, ein furchtbares, ein ein- privat oder in der Öffentlichkeit, der trägt zur Erosion von schneidendes Ereignis. All die schrecklichen Szenen ha- Autorität bei und schmälert die Chancen für das, was wir ben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Doch in den Ta- doch alle wollen: dass es Pädagogen gibt, die in dergen, Wochen und Monaten danach wurde unser Blick Schule nicht nur Wissen, sondern auch Werte vermitteln, geschärft, und zwar für das, was wirklich wichtig ist, aber und das jeden Tag und unter schwierigen Bedingungen. auch für das, was unsere Gesellschaft zusammenhält. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wie schon die deutsche Einheit oder das Hochwasser PISA lenkt unseren Blick darauf, wie wichtig es ist, als an der Oder, so hat auch der Schock von Erfurt einen Mo- Lehrer Vermittler von Wissen zu sein. Erfurt lenkt unse- ment in unserer Geschichte bewegt, der uns wieder ein- ren Blick darauf, wie wichtig es ist, dass Lehrer auch Ver- mal vor Augen geführt hat: Bei allen divergierenden mittler von Werten und Fähigkeiten sind, mit denen man Interessen, die sonst unseren Alltag beherrschen, gibt es im Leben bestehen kann. In unserer schnelllebigen und doch Maßstäbe und Werte, die uns in diesem Lande ei- komplexen Zeit gilt mehr denn je: Es gibt keine Bildung nen. Wenn es darauf ankommt, bricht die Anonymität un- serer Gesellschaft auf. Wenn es darauf ankommt, wird ohne Erziehung und es gibt keine Erziehung ohne Werte. aus der Gesellschaft eine Gemeinschaft von Mitmen- Wichtig ist – das ist in unserer schnelllebigen Zeit si- schen. Erfurt hat gezeigt, dass wir Deutschen zusam- cherlich ein Problem –, dass Kindern zu Hause das vor- menstehen, wenn es darauf ankommt. Das ist ein eini- gelebt wird, worum es uns geht. Dafür wird Zeit benötigt. gendes Band, das uns zusammenhält, eine Erfahrung, die Zeit ist durch nichts ersetzbar; auch darauf muss unsere uns auch stolz macht auf unser Land und auf die Men- Gesellschaft Rücksicht nehmen. Vielleicht ist aber eines schen, die hier leben. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 24985

Dr. Angela Merkel (A) Erfurt hat gezeigt: Politik kann handeln, wenn es sein der sie sind, nicht dazu, sie in irgendeine Richtung zu zie- (C) muss. Politik kann schnell handeln, wenn es sein muss. hen. Wir können zusammenstehen und gemeinsam schwierige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aufgaben lösen und schwierige Situationen meistern. Ich sowie bei Abgeordneten der SPD) wünsche mir, dass von diesem Fundus anGemeinsam- keit viel übrig bleibt für das normale Leben im Alltag; Starke Kinder müssen wissen, dass sie geliebte Kinder denn schwierige Aufgaben haben wir ja zuhauf vor uns. sind. Starke Kinder müssenVertrauen haben können, Ich wünsche uns, dass wir dabei jeden einzelnen Jugend- Vertrauen in sich selbst, Vertrauen zu anderen, und sie lichen ernst nehmen. brauchen Menschen, die ihnen Vertrauen entgegenbrin- gen. Natürlich braucht das alles Regeln, vor allem solche, Oft gibt es das Missverständnis, dass Jungsein ange- die vorgelebt werden, und es braucht Regeln, die einge- sichts materiellen Wohlstands heute einfacher ist, als es halten werden, auch wenn es einmal schwierig wird, Re- das früher war. Ich glaube, das stimmt nicht. Aber diegeln, auf die man sich verlassen kann. junge Generation in unserem Lande hat ein Anrecht da- rauf, dass wir über sie nicht nur im Zusammenhang mit Natürlich sind die Werte, über die wir reden, heute viel- Schreckenstaten sprechen. Die junge Generation hat ein fältiger, als sie es je in unserer Gesellschaft waren. Aber Anrecht darauf, dass auch von der Fröhlichkeit, von der auch hier kommt es darauf an, dass sie gelten, und zwar Lebendigkeit, von dem Optimismus, der ihr Leben prägt, auch dann, wenn es schwierig wird. von dem Engagement, von dem vielen, was sie tut, öfter Die Begegnungen zwischen Kindern und Jugendli- gesprochen wird. chen auf der einen Seite und Erwachsenen auf der ande- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren Seite müssen auf Augenhöhe stattfinden. Eltern sind heute nicht mehr diejenigen, die alles wissen und auf jede Deshalb wünsche ich mir, dass dieses Parlament auch ein Frage eine Antwort geben können. Kinder stellen ihren guter Botschafter für die Jugend unseres Landes ist. Eltern auch längst nicht mehr jede Frage, weil sie sie von Herzlichen Dank. der Nachbarin, dem Patenonkel, dem Lehrer, der Freun- din der Familie oder im Internet kompetenter beantwor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tet vermuten. Trotzdem wollen und brauchen Kinder Per- sonen, an deren Art zu leben, Antworten auf Fragen zu Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat finden und mit Problemen umzugehen sie sich orientie- jetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt. ren können. Wie leben wir denn in der Familie zusammen? Sitzen (B) Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir im Kreis der Familie oder im Halbkreis vor dem Fern- (D) NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebeseher? Wie können wir uns aufeinander verlassen? Gelten Kollegen! Wenn ich an meine eigene Kindheit denke, sind Versprechen etwas? Gelten die Versprechen von Eltern mir zwei Dinge in Erinnerung, die mit Gewalt zu tun ha- und die von Kindern? Was ist, wenn jemand etwas ange- ben. Das eine war eine Ohrfeige meiner Mutter – die ein- stellt hat, Regeln verletzt hat? Kann er dann trotzdem in zige, die sie mir je gab, die ihr wohl mehr wehgetan hat diese Familie kommen und ist aufgehoben? Hat er oder als mir, eine Ohrfeige, die mich lehrte, wie schlimm es ist, sie die Sicherheit, dass er oder sie geborgen sein wird? Gewalt zuzufügen. Starke Kinder brauchen starke Eltern, die sich ihrer Die andere Erinnerung – ich war wohl sieben oder acht Verantwortung bewusst sind, Sicherheit geben können Jahre alt – ist die an ein altes Gemälde, darauf ein Mann, blu- und Vertrauen ausstrahlen. Ich weiß, das sagt sich gerade tende Wundmale, blutüberströmtes Gesicht von einer Dor- in Zeiten, in denen sicher Geglaubtes fraglich wird, leicht. nenkrone, Verletzungen in der Seite, das Antlitz schmerz- In Ostdeutschland haben es die Menschen schon einmal verzerrt – und eine Menge, die zusieht. Keiner greift ein. erlebt, dass plötzlich fast alles infrage gestellt wurde, und Meine Frage, warum denn niemand etwas tut, blieb unbe- wir wissen gut, was das gerade für die Kinder bedeutete. antwortet. Das war kein Fernsehen, das war kein Gewalt- Heute muss man sagen: Kaum einmal reichte die Ver- video, das war nicht der Kampf der Gladiatoren, das war unsicherung so sehr in die vermeintlich gut situierten Mit- einfach unser christliches Symbol: Leiden, Gewalt – und telschichten der Gesellschaft hinein, egal ob es Journalis- alle sehen zu. ten oder Bauarbeiter, Lehrer oder Verkäufer sind. Hier ist es in der Tat eine Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, Wir brauchen starke Kinder, wir brauchen starke Ju- dass aus Unsicherheit nicht Existenzbedrohung wird. gendliche und dafür brauchen wir Eltern, die das wollen, Eltern, die das auch können. Bei allen Versuchen, Ursa- Dazu gehört, den Wert des Menschen in der Gesell- chen für Versagen, Aggression und Gewalt in den Schu- schaft nicht an der Stufe auf der Karriereleiter oder der ge- len, bei den Medien, in der Gesellschaft ganz allgemein rade hier wieder viel gerühmten Leistungen zu bemessen. zu suchen, wird die Verantwortung der Eltern bleiben, Dazu gehört zugleich, dass Kinder nicht zum Armuts- die Verantwortung dafür, dass Kinder behütet aufwach- risiko werden. Die dramatischste Ungerechtigkeit besteht sen, ohne Angst, dass sie genügend und Gesundes zudoch darin, dass immer noch 1 Million Kinder in Deutsch- essen bekommen, dass ihnen Zeit und Aufmerksamkeit land in Armut leben und sie zugleich die schlechteren gewidmet wird und dass sie wissen, sie sind wer, so wie Chancen in der Schule haben. Deshalb brauchen wir sie sind. Erziehung soll dazu dienen, Kinder und Jugend- starke Kinder, die Chancen unabhängig von ihrer Her- liche dabei zu unterstützen, zu dem Menschen zu werden, kunft und vom Geldbeutel ihrer Eltern haben. 24986 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Katrin Göring-Eckardt (A) Nach dem 26. April wurde auch viel über dieMedien Aber die entscheidende Frage wird doch sein, ob wir ih- (C) gesprochen und gerichtet, mitunter zu Recht. Aber macht es nen Zeit, Ausstattung und Gelegenheit geben, das zu tun, wirklich Sinn, auf Fernsehen und Gewalt in Videospielen was nötig ist und was sie auch tun wollen: Lehrer oder zu starren und darin die wesentliche Ursache zu suchen? Lehrerin, Ansprechpartner, Vertraute zu sein. Das ist weit Natürlich gehört alles, was Gewalt verherrlicht, verboten, mehr als die von PISA abgefragten Wissensbausteine. egal in welchem Medium oder welchem Zusammenhang. Ich möchte, dass unsere Schulen zu eigenständigen Natürlich gibt es Computerspiele, die alles andere als Unternehmungen werden, in denen Lehrerinnen und Leh- für Kinder geeignet sind, wenn man denn tatsächlichrer wirklich zur Höchstform auflaufen können, in denen meint, es gebe überhaupt welche, die gut sind. Es geht hier Eltern Verantwortung übernehmen und sich einmischen, jedoch nicht allein um Gewalt; es geht darum, dass Bild- in denen Schülerinnen und Schüler Phantasie entfalten, schirmwelt und Wirklichkeit miteinander verwechseltDemokratie ausprobieren, Lernen lernen und Lust auf werden, so zum Beispiel bei dem Computerspiel „Die Leistung haben. Es wird darauf ankommen, dass wir dafür Sims“, bei dem man Gott spielt und Menschen mit Ei- sorgen, dass Lehrer und Sozialarbeiter in den Schulen feste genschaften kreiert, ihnen andere Menschen zur SeiteAnsprechpartner sind. Vor allem in denGrundschulen stellt, ein Haus baut und einrichtet und zu guter Letzt – al- muss wieder Zeit sein, auch spielerisch zu lernen, am les am Bildschirm – auch noch dafür sorgt, dass die Men- Nachmittag zu lesen oder im Schulgarten zu pflanzen. schen glücklich sind. All das gibt es. Wir werden manches Schule muss etwas mit dem wirklichen Leben zu tun ha- verbieten können, aber niemals alles. ben: mit den Jahreszeiten und den Festen, mit dem Stadt- So wie ich lernen musste, das Bild des Gekreuzigten zu teil und den Unternehmen in der Umgebung, mit Men- verstehen, zu begreifen, worum es dabei geht, brauchen schen, die Interessantes zu berichten wissen. Umfassendes wir starke Kinder und starke Jugendliche, die mit dem Wissen und Begreifen hat viel mit Greifen, mit Anfassen umgehen können, womit sie konfrontiert werden. Wirund mit Erleben zu tun. brauchen Kinder und Jugendliche, die wissen, wo der Kinder müssen schon im Kindergarten die Chance ha- Knopf zum Ausstellen ist, die Grenzen aufgezeigt be- kommen und lernen, sich selbst Grenzen zu setzen. ben, Gemeinschaft zu erfahren. Mit dem Ende der Großfamilie und angesichts der vielen Einkindfamilien ist Klar ist auch, dass man Kinder abends nicht fernsehen es wichtiger denn je, Zusammenleben und Teilen zu ler- lassen muss. Kinder vor dem Fernseher sind oft eines: ein- nen und zu erfahren, dass der andere anders ist. sam. 10 000 Anrufe bekommt der Kinderkanal in jedem Monat von Kindern, die einfach einmal Kontakt aufneh- In jedem Fall gilt: Kinder und Jugendliche fühlen sich men wollen. Den Jugendlichen geht es nicht besser. nur dann aufgehoben, wenn sie auch ernst genommen werden, wenn sie über das, was geschieht, mit entschei- (B) Auch dafür sind die Ganztagsschulen da und wichtig: den können. Nur dann, wenn sie das in der Familie und in (D) nicht, weil sie Eltern ersetzen können, sondern weil sie al- der Schule ausprobiert haben und wenn sie dabei Erfolg lemal besser sind als der Babysitter Fernseher. Auch dafür und Spaß hatten, wird es gelingen, sie auch dafür zu be- sind die Jugendzentren und Jugendhäuser da, die einen geistern, sich in die Gesellschaft einzumischen. Nur dann, geschützten Raum darstellen, einen Ort, an dem man sich wenn sie auch Lust bekommen, selbst Verantwortung zu ausprobieren kann und an dem man Gemeinschaft erfährt. übernehmen, werden sie erfahren, dass sie gebraucht wer- Über die Quantität von Betreuungsangeboten ist viel den und die Gesellschaft sie haben will – jeden Einzelnen, debattiert worden. Es wurde sogar unterstellt, dass es da- so verschieden und so viel oder wenig leistungsfähig er rum gehe, Kinder von ihren Eltern fernzuhalten. Nein, oder sie auch ist. gute Kinderbetreuung und Schule schaffen den Eltern erst Wir brauchen starke Kinder, die um ihre Stärken wis- die Freiräume, die sie heute in der Mühle der Alltagsor- ganisation verbringen, die sie aber gerne hätten, um wirk- sen, aber an ihren Schwächen nicht schwach werden. Er- lich Zeit für ihre Kinder zu haben. ziehung bedeutet in erster Linie, zu lehren, mit Freiheit umzugehen: mit der Freiheit, sich entscheiden zu können Aber es liegt mir daran, hier auch etwas über die In- oder zu müssen. Diejenigen, die erziehen, haben die halte unserer Kindertagesstätten und Schulen zu sagen. schwere Aufgabe, die getroffenen Entscheidungen zu ak- Nach der schrecklichen Tat von Erfurt haben alle den Leis- zeptieren, auch wenn sie manchmal nicht nach ihren tungsdruck beklagt, dem Kinder und Jugendliche heute Wünschen sind. Nicht die Einschränkung von Freiheit ausgesetzt sind. Nur wenige Wochen später – auch gerade wird uns langfristig helfen, sondern nur der Umgang mit eben hier – hieß es wieder, es komme vor allem auf Leis- der Freiheit. tung an. Haben wir wirklich nichts gelernt? Vielleicht wird ja von der Politik erwartet, dass sie im- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- mer schnelle Antworten gibt. Unsere Antworten waren in wie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Hermann diesem April danach: Es ging um Verbote, um Einschrän- Kues [CDU/CSU]: Wer hat das denn gesagt? – kungen und um Schranken. Schon leiser wurde im Nach- Gegenruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ satz von Angeboten und Unterstützung geredet. DIE GRÜNEN]: Wir haben genau zugehört!) Auf der einen Seite sind das neue Waffenrecht und der Wir brauchen starke Kinder. Wir sollten Lehrern nicht Jugendschutz gewiss wichtig; aber das Bejubeln vonsei- alles aufladen, was woanders nicht funktioniert. ten der Schützenvereine auf der anderen Seite macht mir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deshalb Sorge, weil das, was geschah, nicht ernst genug und bei der SPD) genommen wird; vielmehr sind die von der rechten Seite Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 24987

Katrin Göring-Eckardt (A) des Hauses geforderten Änderungen des Waffenrechts es eine Medienlandschaft, die neben dem Wettbewerbsge- (C) Ausdruck reiner Klientelpolitik. schäft ausdrücklich im Sinn hätte, erzieherisch zu wirken, noch kann die Politik in allen Bereichen alles regeln, damit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir von solchen Ereignissen verschont bleiben. sowie bei Abgeordneten der SPD) Deshalb kann unsere Gesellschaft der Frage nicht aus- Wichtiger als dies ist bestimmt, dass das Gutenberg- weichen, die lautet: Wie sieht denn die eigene Problemlö- Gymnasium wieder zu einem guten und schönen Ort wird. sungskapazität der deutschen Gesellschaft ohne Verweis Ich bin froh, dass die Bundesregierung hier ganz unkom- auf Medien, ohne Verweis auf Schule, ohne Verweis auf pliziert hilft. Diejenigen, die das Gutenberg-„G“ in ein andere, ohne Verweis auf Politik, nur mit dem Finger auf paar Jahren so wie ich heute am Revers tragen werden, sich selbst gerichtet aus? Damit – der Bundestagspräsi- sollen von einer wirklich guten Schule sprechen, in der sie dent hat dies vorhin ausgedrückt – kommen wir zur Kern- lehren oder lernen, in die ihre Kinder gehen. Aber dies al- frage, die wir bedauerlicherweise in vielen Systemen un- lein genügt nicht. Besser wäre es, dieses „G“ stünde für seres öffentlichen Lebens ausgeblendet haben, nämlich viele Schulen in diesem Land, die das Prädikat „gut“ für der nach der eigenen Verantwortung. Die Richtungshin- „gute Schule für Kinder“ erhielten, oder es stünde für an- weise auf nahezu allen gesellschaftlichen Feldern in der dere Dinge, die gut für Kinder sind. Bundesrepublik Deutschland deuten meistens weg von Nie werden wir die Opfer von Erfurt und diejenigen, der eigenen, persönlichen Verantwortung und hin zur Auf- die zurückgeblieben sind, vergessen, auch nicht die Fa- gabenlösung durch Dritte. Wenn wir diese – quer durch milie von Robert Steinhäuser. Vielleicht ist die Erinne- die Gesellschaft – nicht umstellen, werden wir keinen rung an den Amoklauf eines Tages von der Erinnerung an Beitrag leisten können. Vermeiden können wir solch den Zusammenhalt einer Stadt überlagert, von der Erin- grausame Vorgänge nicht. Wir können keine Garantie ge- nerung an Solidarität, an Miteinander, an Aufeinander- ben. hören, Gespräche, Helfen, wo es geht, Zeit haben, Da- Ich beginne bei einem der Kernpunkte, denMedien. sein, Berührungen und Berührtsein. Ich jedenfalls werde Herr Kollege Thierse, natürlich können wir darüber spre- das nie vergessen. chen – man muss sich in einer solchen Debatte auch ein Stück positiv aufeinander einlassen –, dass in dieser Wett- Ich vergesse auch nicht die Sehnsucht nach Normalität bewerbslandschaft, wie in anderen Bereichen auch, nicht und Fröhlichkeit in dieser Stadt. Wenn wir starke Kinder ausschließlich so wertvolle Kulturgüter produziert wer- wollen, könnte es helfen, wenn wir die Gelassenheit und den, wie wir beide sie gerne hätten. Die Diskussion über Fröhlichkeit von Menschen ausstrahlen, die gerne leben, Medien reicht mir aber, solange der Kernpunkt der eige- ihre Arbeit mögen, ihrer Nationalmannschaft zujubeln nen Verantwortung nicht eingeführt wird, nicht aus. Die- und Vertrauen haben, von Menschen, die mit Herz und (B) ser heißt: Man kann auch abschalten. Die Verbraucher-(D) Verstand, mit den Händen und dem Kopf, mit Selbstbe- seite muss also zum Ausgangspunkt der Debatte gemacht wusstsein etwas bewegen wollen, so wie wir es von unse- werden. ren Kindern und Jugendlichen erhoffen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU) und bei der SPD) Sie muss ihre eigene Fähigkeit entwickeln, mit dem An- gebot umzugehen und eventuell auch auf eines zu ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat zichten. Deshalb genügt eine reine Debatte über Medien jetzt der Fraktionsvorsitzende der FDP, Wolfgangnicht, wenn sie im Kern nicht das Ziel hat, Menschen in Gerhardt. die Lage zu versetzen, auf bestimmte Angebote zu ver- zichten und damit in einer freiheitlichen Ordnung deutlich zu signalisieren, dass ihre eigene Wertentscheidung an- (FDP): Frau Präsidentin! Dr. Wolfgang Gerhardt ders ausfällt als die Wertentscheidung der Angebotsseite. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn Das klingt jetzt etwas technisch; es ist aber überhaupt man Dingen auf den Grund gehen möchte, braucht man nicht technisch gemeint. für eine Debatte darüber eine solch ruhige Atmosphäre, wie wir sie heute haben. Damit komme ich auf einen weiteren Kernpunkt: Eine Schuldebatte ist zulässig; man darf in dieser aber nicht Eine der Kernfragen, die wir uns stellen, ist, wie in ei- stecken bleiben. Es geht um die Fähigkeit der Familien nem solchen Land, von dem wir alle, gleich welcher poli- – diesen Ort beschreiben wir als ein Stück Heimat –, die tischen Grundrichtung wir angehören, überzeugt sind, Kinder qualitativ gut zu erziehen. Herr Kollege Thierse, dass es für die Menschen viele Chancen bereitstellt, wenn Sie haben das Thema angesprochen. Diese erzieherische sie sie nur ergreifen, ein Lebensentwurf, nämlich der des Qualität entscheidet in einem Lebenslauf, lange bevor ein Täters, auf eine solch grausame Art misslingen kann. Kind die Schule betritt, darüber, ob die Fähigkeiten, die Seit diese grausame Tat in Erfurt passiert ist, ist der Ein- das Kind zur Verarbeitung von Lebenssachverhalten und fluss von Medien, Schulen und Politik öffentlich breit dis- für den Umgang mit Veränderungen braucht, vorhanden kutiert worden. Natürlich gibt es viele öffentliche Miter- sind, um nicht das Gefühl zu haben, es sei nur auf der Ver- zieher im Leben eines Menschen. Dies ist in einerliererseite. Die Grundlage wird also viel früher gelegt. freiheitlichen Ordnung immer so. Es gibt aber weder in der Deshalb ist dieses Stück Verantwortung in der Familie Schule eine Allmachtspädagogik, die einen Lebensentwurf ganz entscheidend für Wertentscheidungen und für die mit Garantie zu einem guten Ende führen könnte, noch gibt Fähigkeit zum friedlichen Zusammenleben. 24988 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Das bringt mich zu der positiven Bemerkung: Ich Ich schildere das deshalb, weil wir in Deutschland ei- (C) glaube, dass man, wenn man die Familie so betont, Ganz- gentlich voraussetzen, dass wir durch erzieherische Maß- tagsschulen anbieten sollte; aber wenn die Familien sel- nahmen, Bildung und Ausbildung Kinder in den Stand ber an der Erziehung ihrer Kinder am Nachmittag einen versetzen, Bescheidenheit zu zeigen, einen fairen Um- größeren Anteil haben wollen, muss man auch Entschei- gang miteinander zu pflegen, aber auch Selbstvertrauen dungen von Familien zugunsten anderer Schulformen zu- zu haben. Das wird ihnen jedoch bei ihrer Erziehung nicht lassen. Das habe ich neulich schon einmal bemerkt. ausreichend mitgegeben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube auch nicht, dass wir weiterkommen, wenn wir vor dem Hintergrund des Marktes und der Werte dis- Wenn wir über Themen wie Medienlandschaft, Schule, kutieren. Ich kenne auf dieser Welt viele Gesellschaften, Familie, Öffentlichkeit und Arbeitswelt nur segmentiert die Marktkräfte ausschalten und die größten Menschen- diskutieren, dann ist davon kein Gesamtkonzept zu erwar- rechtsverletzer sind. Diese scheren sich nicht um Werte. ten. Auch andere Generationen hatten sich mit Schwierig- (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Richtig!) keiten in der Arbeitswelt auseinander zu setzen. Es hat große Brüche in der Geschichte der – in dem OECD-Be- Ich glaube, dass Wettbewerb Eigenschaften hervor- richt werden sie so genannt – großen Industrienationen ge- bringen muss und kann, die in die Wertekategorien ge- geben. Keine Generation stand vor einfachen Fragen. In hören, die wir alle schätzen. Man kann im Wettbewerb der Nachbetrachtung eines Ereignisses darf es nicht dazu nämlich nicht erfolgreich sein, wenn sich zum Beispiel kommen, dass wir die Marktgesellschaft insgesamt kriti- die Führung eines Unternehmens nicht an Fairness, so- sieren und gegen sie Widerstandskräfte moralischer Art zialer Kompetenz und Werten, an Bildung und Leistung mobilisieren. Ich bin dafür, dass wir Erziehung und Bil- orientiert. Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, es dung so annehmen, wie der Wandel der Arbeitswelt er- gäbe eine politische Grundauffassung, die den Leistungs- fordert. Wir müssen uns darauf einlassen, weil wir es nicht begriff überbetonen und damit Kindern zu viel abverlan- anders schaffen. gen würde, sodass sie in Lebenssituationen gebracht wür- den, die ihnen Schwierigkeiten bereiteten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube, dass das, was wir als Zivilisiertheit unter- einander diskutieren, dieses Mindestmaß an Fähigkeit, in Ich bin nicht der Auffassung, dass durch Flexibilität demokratischen Gesellschaften zivilisiert miteinanderoder das, was man damit verbindet, eine Familie benach- umzugehen, nicht aus einem luftleeren Raum, indem man teiligt wird. Ich glaube an die Chancen und nicht an die nur einen Wertekanon lernt, entsteht. Ich glaube, dass die Risiken einer Veränderung der Arbeitswelt. Durch diese (B) Fähigkeit, mit anderen umzugehen und andere Persön- Veränderungen können Familien, wenn sie es wollen,(D) lichkeiten mit all ihren Eigentümlichkeiten und Eigenhei- eher begünstigt als benachteiligt werden. Dies kann nur ten wahrzunehmen, dadurch entsteht, dass man zulässt, geschehen, wenn wir uns auf Familien einlassen und ihre dass sich die junge Generation – das ist unverzichtbar – an Lebensentwürfe akzeptieren. bestimmten Gegenständen prüft und sich – wiederholt, Niemand von uns wird in den nächsten Monaten auf mit enormen Anstrengungen und manchmal auch verbun- seine persönliche Art die Ursachenforschung darüber ab- den mit schulischen Problemen und Rückschlägen – ab- schließen, wie so schreckliche Ereignisse passieren konn- arbeitet. ten. Es wird lange Zeit brauchen, bis wir diese Ereignisse Persönlichkeitsbildung – über diesen Begriff diskutie- verarbeitet haben. ren wir miteinander – ist nur erreichbar, wenn Bildung und Vielleicht kommen wir doch zu dem Punkt, der mir Erziehung kombiniert werden. Bildung, die ohne Leistung sehr wichtig erscheint und bei allen Vorrednern anklang: nicht zu erzielen ist, aber auch erzieherische Komponen- Wenn etwas im Bereich der Bildung grundlegend und un- ten müssen zusammenkommen. Wichtig ist zudem eine verzichtbar ist, was in der öffentlichen Diskussion von al- großartige Lehrerpersönlichkeit, an der sich Kinder ori- len politischen Grundrichtungen genannt werden sollte, entieren, wie das jeder aus seinem eigenen Leben weiß. dann ist das Erziehung. Wenn es dabei – das ist natürlich – Man muss millimeterweise lernen, große Aufgaben abzu- zu Konflikten und zu Reibungen mit der jeweils nachfol- arbeiten. genden Generation kommt, dann dürfen wir gegenüber Lassen Sie mich das an einem Beispiel, das für uns unseren Kindern nicht zu repressiven Maßnahmen grei- Deutsche besonders wichtig ist, erläutern. Nach meiner fen, sondern dann müssen wir ihnen klar machen, dass Er- Überzeugung hat der Geschichtsunterricht an unseren ziehung die Aufgabe hat, ihnen beim Erwachsenwerden Schulen nicht die Dimension, die ich mir vorstelle. Herr zu helfen. Schwanitz beschreibt das in seinem Buch sehr schön: In (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den deutschen Schulen wird nicht deutlich, dass die Ge- schichte eine große Erzählung ist. In diesem Zusammen- Das bedeutet eine sehr persönliche Anstrengung des Ein- hang ist auch zu vermitteln, wie in Europa durch all das, zelnen, bei der es nicht damit getan ist, Elternversamm- was wir kulturell und geschichtlich erlebt haben, Diktatu- lungen zu besuchen. Vielmehr muss man bei den eigenen ren und Tyrannei am Ende überwunden wurden. Dadurch Kindern erzieherische Aufgaben, die durchaus mit Rei- kann den Kindern ein Stück ihrer eigenen Identität ver- bungen verbunden sein können, wahrnehmen. Dies muss mittelt werden. Sie müssen lernen, Bescheidenheit mit in der gesamten Gesellschaft geschehen; diese Notwen- Selbstvertrauen zu verbinden. digkeit muss von der Gesellschaft erkannt werden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 24989

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. zu tun. Ich kenne Arbeitslose, studierte und hoch intelli- (C) gente, sich mühende und auch heftig suchende – und den- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) noch Erfolglose. Meinen Sie wirklich, dass Sie deren Würde entsprechen, wenn das unsägliche Problem der Ar- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat beitslosigkeit als individuelles Versagen bei ihnen abgela- jetzt die Abgeordnete Petra Pau. den wird? Meinen Sie wirklich, dass Sie deren Würde ent- sprechen, wenn Sie die Betroffenen in niedrig bezahlte Petra Pau (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- Jobs und in ferne Gefilde zwingen wollen? Und glauben nen und Kollegen! Ich möchte eine Episode voranstellen. Sie, es sei gewaltlos, wenn Sie mit der Streichung von Ar- Sie liegt schon eine Weile zurück, aber sie hat mich sehr beitslosengeld oder Sozialhilfe drohen, wenn die Betrof- nachdenklich und auch reicher gemacht. Der Kollegefenen keine scheinselbstständige Ich-AG gründen? Barthel von der SPD-Fraktion und ich waren von einer Vor allem aber entlassen Sie mit diesem Unsinn zu- Kirchengemeinde aus Berlin-Zehlendorf, genauer gesagt: gleich jene aus der Verantwortung, für die Art. 14 Abs. 2 von den jungen Gemeindemitgliedern und ihren Freun- des Grundgesetzes geschrieben wurde: dinnen und Freunden, eingeladen. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Rund 60 junge Leute wollten mit uns, den Politikern, dem Wohle der Allgemeinheit dienen. über Gewalt, deren Ursachen und Folgen diskutieren. An- lass dazu gab es genug. Gerade erst hatten rechtsextremis- Wir alle wissen, dass längst die einfachen Bürgerinnen tische Anschläge für menschliches Leid und für Schlag- und Bürger ihren einen Sozialstaat tragen, während sich zeilen gesorgt. Die Jugendlichen nahmen uns zwar ernst, die wirklich Vermögenden der sozialen Verantwortung aber nicht besonders wichtig. Sie sprachen vor allem mit entziehen – formal zu Recht, auf gesetzlicher Grundlage. sich, und zwar über Erfahrungen von Klassenfahrten, auf Moralisch und sozial bleibt es aber Unrecht, denn es denen sie angepöbelt wurden, über ausländische Freunde, schafft Unwürde. die bei ihnen zu Gast waren, aber im Lande ausgegrenzt wurden, über Erwachsene, denen sie sich anvertrauen (Beifall bei der PDS) oder die sie fürchten, über Erfolge in der Schule und über Eines, Herr Innenminister, will ich Ihnen heute hier Versagensängste. nicht durchgehen lassen, wenn wir über Gewalt und ge- Sie erzählten drei Stunden lang über ihr Leben und sie sellschaftliche Ursachen reden. Wer vonausländischen sprachen miteinander. Ihr Thema war nichtGewalt als Mitbürgerinnen und Mitbürgern erwartet, dass Sie sich Totschlag, als Exzess, als Massenmord; sie redeten über ins National-Deutsche assimilieren, der entwürdigt kultu- alltägliche Wunden und Schmerzen. Das war wohltuend relle Identitäten. (B) authentisch und ohne jede Rechthaberei. (Beifall bei der PDS) (D) Ich habe mich an diesen Abend erinnert, als ich jüngst Die viel gepriesene Toleranz entpuppt sich so als Anpas- ein weiteres Erlebnis hatte. Der Verkäufer einer Obdach- sungsgehorsam. Gehorsam und Anpassung haben aber losenzeitung wurde des Platzes verwiesen. Der Verkauf nichts mit Würde, Kultur und auch Selbstbestimmung zu solcher Zeitungen ist nicht nur ein klitzekleiner Geld- tun. erwerb, sondern er gibt den Obdachlosen auch immer ein Stück Selbstwertgefühl und menschliche Würde zurück. Über die Frage von Krieg und Frieden will ich heute Der Wachmann, der ihn des einst öffentlichen und inzwi- hier gar nicht reden, auch wenn Bundesaußenminister schen privatisierten Stadtraumes verwies, hatte zwar for- Fischer dieser Tage meinte, die PDS ob ihrer Kriegsab- mal Hausrecht, doch tat er in den Augen des Verstoßenen lehnung beschimpfen zu müssen. Das buche ich unter Unrecht. Deshalb meine ich, dass ein ehrlicher Diskurs schlechtem Gewissen und Wahlkampf ab. Aber genau da- über Werte, Solidarität, Würde, Gerechtigkeit, Toleranz rum sollte es heute in dieser Debatte nicht gehen. und Friedensliebe überfällig ist, allemal in einer Gesell- schaft, in der ein kräftiger Ellenbogen manchmal mehr ( [CDU/CSU]: Warum gilt als ein gutes Herz. sagen Sie es denn dann? – Zuruf von der SPD: Reden Sie einmal zum Thema!) (Beifall bei der PDS) – Ich rede die ganze Zeit zum Thema Gewalt, darüber, wo Allerdings meine ich, dass sich ein solcher Diskurs nicht sie beginnt und welche schlimmen Auswirkungen sie ha- auf die Jugend reduzieren darf. Hier geht es um eine Ge- ben kann. sellschaftsfrage. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS sowie des Abgeordneten Dieter Dzewas [SPD]) Ich sprach eingangs von einem Diskussionsabend mit Jugendlichen einer Berliner Kirchengemeinde. Diese Bevor ich noch einmal konkret werde, möchte ich un- Stimmung hat sich bei mir bis heute sehr tief eingegraben. sere Debatte in das Grundgesetz betten. „Die Würde des Ich habe die Stimmung erlebt, als auf dem Erfurter Dom- Menschen ist unantastbar“, heißt es nicht ohne Grund in platz der Opfer des Massakers gedacht wurde, fragend Art. 1, wohlgemerkt „des Menschen“ und nicht „des nach dem Warum und trauernd. Ich fühle das noch immer. Deutschen“. Ich bin weder Soziologin noch Psychologin und bitte die zuhörenden Fachleute um Nachsicht, wenn Deshalb wünsche ich mir, dass wir es nicht bei dieser ich eine einfache These wage: Immer, wenn dieWürde vom Fernsehen übertragenen Stunde im Bundestag belas- des Menschen angetastet wird, hat das etwas mit Gewalt sen. Gewalt, Gesellschaft, Toleranz, Frieden, Werte – das 24990 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Petra Pau (A) alles sind viel zu wichtige Themen, um sie parteipolitisch Deshalb ist es ein großer Fortschritt, dass es in dieser Le- (C) zu missbrauchen. Wir jedenfalls wollen dies nicht. gislaturperiode gelungen ist, den wichtigen Leitsatz „Kin- der haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ gesetzlich Danke schön. zu verankern. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat PDS) jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Edith Niehuis. Noch besser wäre es gewesen, wenn wir diesen Satz in das Grundgesetz hineingeschrieben hätten. Dr. Edith Niehuis, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der gen! Anlass für die Debatte heute ist das schreckliche Er- PDS) eignis in Erfurt, das uns daran erinnert hat, dass es immer Dann hätten wir ein sichtbares Fundament unserer zivili- noch Gewalt und brutale Gewalt in der Gesellschaft gibt. sierten Gesellschaft gehabt. Aber dafür braucht man eine Im Moment des Geschehens neigen dann viele dazu, ein- Zweidrittelmehrheit. Ein Satz in einem Gesetz bewirkt fache Rezepte zur Hand zu nehmen. Doch einfache Re- natürlich noch keine Umorientierung hin zur gewaltfreien zepte gegen Gewalt gibt es nicht. Insofern ist es gut, dass Erziehung auf breiter Basis. Dazu bedarf es einer breit an- wir erst etwas später, nämlich heute, nicht nur über dieses gelegten Kommunikation in der Gesellschaft. Dieses Ziel eine Beispiel der Gewalt reden, sondern über Gewalt und muss nicht nur akzeptiert, sondern auch in aktives Ver- deren Ursachen schlechthin. halten umgesetzt werden. Wir vom Familienministerium (Beifall bei der SPD) haben deshalb die angesprochene Gesetzesänderung mit vielen Vorortaktionen im Rahmen der Kampagne „Mehr Wenn die Gewalt erst einmal ausgebrochen ist, ist es Respekt vor Kindern“ begleitet. Diese Kampagne ist er- oft zu spät, an den hohen Wert friedlicher Konfliktlösun- folgreich gewesen. Mittlerweile halten 85 Prozent der El- gen in unserer Gesellschaft zu erinnern. Darum sind wir tern eine gewaltfreie Erziehung für ein wichtiges Ziel. Mir gefordert, auch dann, wenn kein Gewalttäter die Schlag- scheint das ein zukunftsweisendes Beispiel zu sein. zeilen unserer Medien beherrscht, über Gewalt zu reden. Wir sind gefordert, schon die kleinsten Anzeichen von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gewalt zu bekämpfen; denn auch hier würde Schweigen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der bedeuten, dass wir Gewalt akzeptieren. PDS) (B) Darum ist es gut, dass wir in dieser Legislaturperiode Es reicht eben nicht aus, nur Forderungen an die Fami- (D) einige Programme auf den Weg gebracht haben, die ein lien heranzutragen. Familien brauchen auch Hilfsangebote. einziges Ziel haben: die Zivilcourage von Menschen zu Das Kinder- und Jugendhilfegesetz wurde dementspre- stärken, insbesondere auch gegen rechte Gewalt, und den chend geändert, damit sich verstetigt, dass die Familien, Opfern zu helfen. Denn es kommt mir zu wenig zur Spra- die ihre Konflikte gewaltfrei lösen wollen, auch flankie- che, dass Gewalt nicht nur einen Täter, sondern dass Ge- rende Unterstützung bekommen. Denn Kinder wachsen walt immer auch viele Opfer hat. heute anders auf. Bei der Vermittlung von Werten müssen (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Ab- Familien heute mehr denn je mit den Medien, mit den geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Gleichaltrigengruppen, mit neuen Informations- und Kom- NEN) munikationstechniken, über lange Zeit mit Kindergarten und Schule sowie mit der Arbeitswelt der Eltern teilen. Gewaltbereitschaft, Gewaltakzeptanz, Gewalthandeln Kinder wachsen also öffentlicher auf, was Eltern überfor- sind komplexe Phänomene. Sie haben ganz unterschiedliche dern und auch hilflos machen kann. Deshalb gibt es neben Erscheinungsformen, vielfältige Rahmenbedingungen, viel- der privaten Verantwortung der Familie immer auch eine fältige Ursachen auf gesellschaftlicher und individuelleröffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kin- Ebene. Deshalb wird es wohl nie gelingen, Gewalt als eine dern, wie jüngst im Elften Kinder- und Jugendbericht Form der Konfliktlösung aus unserer Gesellschaft ganz zu noch einmal betont wurde. eliminieren. Aber jeder Schritt zur Senkung der Gewaltbe- reitschaft ist wichtig. Vieles hat mit Erziehung zu tun, einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erziehung zur friedlichen Konfliktlösung. Gefordert ist da- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der bei – darauf wurde heute schon oft hingewiesen – zumeist PDS) der Ort der primären Sozialisation, nämlich dieFamilie. Wer dies negiert und ausschließlich auf das private Recht, Sie gibt emotionalen Rückhalt und vermittelt Werte, wobei die private Verantwortung der Familien verweist, lässt El- nicht nur Worte, sondern auch Vorbilder zählen. tern alleine und bleibt Eltern und Kindern, insbesondere Wenn der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden den Familien in prekären sozioökonomischen Lebensla- soll, dann muss in der Familie mit der Aufklärung darüber gen, etwas schuldig. begonnen werden, dass vermeintlich Stärkere kein Recht Die Fragen nach der privaten Qualität der Familie haben, vermeintlich Schwächeren gewalttätig zu begegnen. und danach, ob wir in der Politik die Augen vor dem In- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nenleben der Familie verschließen dürfen oder nicht, ha- PDS) ben uns in den Diskussionen, die wir in diesem Parlament Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 24991

Parl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis (A) über Gewalt geführt haben, immer begleitet. Viele wich- wenn sie sich der Konkurrenzgesellschaft hilflos ausge- (C) tige Entscheidungen wurden genau aus diesem Grund zu setzt sehen, wenn es ihnen an Schlüsselqualifikationen lange hinausgezögert, vielleicht auch weil die vermeint- mangelt, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Das lich Stärkeren zumindest im Privaten ihre Position wah- alles sind Rahmenbedingungen, die zum Nährboden für ren wollten, ohne zu sehen, dass sie damit auch den Nähr- Gewalt werden können, wenn es an Förder- und Unter- boden für Gewalt pflegten. Es hat über 20 Jahre gedauert, stützungsmöglichkeiten mangelt. Den Jugendlichen, Frau bis endlich in den 70er-Jahren die einer Demokratie un- Merkel, fehlt dann genau das positive Selbstwertgefühl, würdige Vorherrschaft des Mannes über die Frau in der das sie doch so dringend brauchen. Ehe aus dem Gesetz gestrichen wurde. Über 40 Jahre, da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von 20 Jahre aktive Debatte im Parlament, hat es gedau- DIE GRÜNEN) ert, bis endlich auch die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde. Mit den Programmen „Entwicklung und Chancen“ und „Freiwilliges Soziales Trainingsjahr“ haben wir in den Erst in diesem Jahr ist das neue Gewaltschutzgesetz in letzten Jahren gute Integrationsergebnisse erreicht, sodass Kraft getreten, das dafür sorgt, dass bei Gewalt in der Fa- wir diese Programme auch ausweiten möchten. milie der Täter und nicht das Opfer die Ehewohnung zu verlassen hat. Erst vor ein paar Jahren ist es gelungen, bei Es hat mich ein wenig erschreckt, dass Herr Merz als sexuellem Missbrauch in der Kindheit die Verjährungs- Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion vor ein paar Tagen frist auszusetzen, damit die Opfer gerade auch Täter aus ganz undifferenziert sagte, es gebe eine Sozialindustrie, ihrem sozialen Nahbereich später noch erfolgreich ankla- die davon lebe, das Problem nicht zu lösen. gen können. Weil die Mehrheit im Parlament zu lange ge- (Walter Hirche [FDP]: Das stimmt leider! – neigt war, diese Gewalt in der Familie stillschweigend zu Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Zitat bös- akzeptieren, haben wir wertvolle Jahre verloren, das Uns- artig verdrehen, um es dann zu widerlegen! – rige zur Senkung der Gewaltbereitschaft in der Gesell- Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das hat er so schaft zu tun. nicht gesagt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Im „Handelsblatt“ vom 28. Juni können Sie es nach- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lesen. PDS) (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie verdre- Man darf nicht vergessen, dass die Familie die Keim- hen das Zitat, um es dann zu widerlegen! Das ist zelle der Gesellschaft ist. Darum ist es gut, dass gerade in kein seriöses Vorgehen!) dieser Legislaturperiode mehrere Gesetze und beglei- (B) tende Maßnahmen gegen Gewalt, auch gegen Gewalt in – Ich hätte es gern mit ihm diskutiert. Es hat mich, wie ge- (D) der Familie, auf den Weg gebracht wurden. Dazu gehört sagt, erschreckt. der Aktionsplan zur Bekämpfung vonGewalt gegen (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie stellen Frauen. es in den falschen Zusammenhang!) Wenn wir es mit einer effektiven Gewaltprävention in – Dann sagen Sie doch, dass Sie ganz anderer Meinung der Gesellschaft ernst meinen, dann brauchen wir eine kon- sind! sequent geschlechtsspezifische Sichtweise; denn männ- liche Jugendliche wenden häufiger und brutaler Gewalt Viele Jugendliche brauchen die „Sozialindustrie“, an als weibliche. Unter den rechtsextremen Gewalttätern brauchen die Netzwerke von Jugendhilfe, Schule und Be- sind weitaus mehr männliche als weibliche Täter. Weibli- schäftigung, weil sie sonst keine Chance haben, ihr Pro- che Jugendliche hingegen neigen dazu, sich bei scheinbar blem zu lösen. Wenn wir auf die Programme, die Jugend- nicht zu lösenden Konflikten zurückzuziehen oder Gewalt lichen helfen, verzichten, dann sparen wir vielleicht an gegen sich selbst auszuüben. Wer hat nicht von Mager- dieser Stelle, aber – das ist das Problem – wir werden für sucht gehört? Diese Tatsachen fordern eine konsequent ge- die innere Sicherheit sehr viel mehr Geld ausgeben müs- schlechtsspezifische Ursachenanalyse und ebenso ge-sen. schlechtsspezifische präventive Strategien. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Zum Abschluss möchte ich noch auf eine Form von Ich bedauere es sehr, dass es bis heute nicht gelungen Gewalt hinweisen, die in unserer Debatte zu wenig Auf- ist, in der Jugendhilfe auch genügend Angebote einermerksamkeit findet, nämlich die Gewalt gegen Ältere. emanzipatorischen Jungenarbeit und einer emanzipato- (Walter Hirche [FDP]: Sehr wahr!) rischen Mädchenarbeit zu unterbreiten. Hierbei geht es oft um verborgene Gewalt in der Familie (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜND- und vielleicht auch in öffentlichen Einrichtungen. In ei- NISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) nem dreijährigen Modellversuch haben wir versucht zu Gerade die Jugendhilfe kann viel tun – das zeigen viele sensibilisieren und haben auch Hilfsangebote evaluiert. Beispiele –, um Gewalttendenzen vorbeugend entgegen- Das reicht jedoch nicht. Die demographische Entwick- zuwirken, die etwa dann entstehen, wenn junge Menschen lung zeigt: Der Druck und mit ihm auch die Überforde- in sozialen Brennpunkten für sich keine Zukunft sehen, rung vieler Einzelner werden stärker. Darum wird sich der 24992 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Parl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis (A) nächste Bundestag verstärkt den Folgen der demographi- selbstverständlich auch für die Mitglieder des Bundes-(C) schen Entwicklung widmen müssen. Wenn es eine New rates. Economy gibt, dann liegt sie weniger in neuen Sende- Eine Schülersprecherin des Gutenberg-Gymnasiums masten und Satelliten, sondern sie liegt im Bereich der Al- hat unmittelbar nach der schrecklichen Tat gesagt: tenbetreuung, was aus ökonomischer, arbeitsmarktpoli- tischer und sozialpolitischer Sicht, aber auch im Sinne der Die Ereignisse dürfen nicht zu Aktionismus führen, Gewaltprävention notwendig ist. sie dürfen aber auch keine Lähmung verursachen. Nachdem ich die Bundestagsdebatten nun 16 JahreNatürlich muss alles Menschenmögliche getan werden, verfolgen konnte und immer wieder sehen durfte, was in um für die Zukunft eine ähnliche Tat auszuschließen, auch der Kernzeit diskutiert wird und was nicht in der Kernzeit wenn wir wissen, dass uns dabei Grenzen gesetzt sind. debattiert wird, bitte ich all diejenigen, die demnächst im Das heißt: Wir müssen einerseits Gesetze überprüfen; Ältestenrat die Tagesordnungen des Deutschen Bundes- aber wir müssen nach meiner Überzeugung andererseits tags aufstellen: Denken Sie doch auch einmal an die The- mehr als das tun. men, die so viele Menschen direkt angehen, zum Beispiel Wie aus den bisher gehaltenen Reden hervorgegangen Altenbetreuung, zum Beispiel Gewalt gegen Ältere!ist, geht es um grundsätzliche Fragen, die nicht allein die Diese Themen sollten auch einmal in der Zeit von 9 Uhr Politik, sondern die ganze Gesellschaft beantworten muss: bis 12 Uhr debattiert werden Wie kommt es in Deutschland zu wachsender Ge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE waltbereitschaft? Wie kann Gewalt geächtet werden? GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Warum schwindet der Respekt vor der Würde des mensch- neten der CDU/CSU und der FDP) lichen Lebens? Wie kann die Achtung vor dem Leben Mord und Selbstmord verhindern? Wie wehren wir uns und nicht immer erst um 23 Uhr, wenn Reden oft zu Pro- gegen Vereinsamung und Entwurzelung? Was sind die tokoll gegeben werden und eh schon alle im Bett sind. Wir Rechte und was sind die Pflichten der Eltern und der Fa- überschätzen uns, wenn wir meinen, dass die theoreti- milien? Was ist die Aufgabe der Schule? Welche Stellung schen Debatten über Wirtschaftspolitik das seien, was die haben die Lehrer in unserer Gesellschaft? Welche Werte Herzen der Menschen wirklich erreiche. Das tun andere werden von uns allen anerkannt? Themen. In einem sind wir uns ganz offensichtlich alle einig: Da ich demnächst – ganz freiwillig – aufhöre, wünsche Wir verachten Gewalt und Terror. Gewalt will den Willen ich Ihnen alles Gute für die nächste Zeit. 16 Jahre Parla- eines anderen Menschen gewaltsam brechen. Wir aber mentarier sein zu dürfen hat mir unwahrscheinlich viel wollen nicht, dass Gewalt und Terror erfolgreich sind, Spaß gemacht. Es hat mir Spaß gemacht, mit meiner Frak- (B) auch nicht im Spiel und auch nicht in virtuellen Schein- (D) tion, aber auch mit der CDU/CSU und den anderen Op- welten. positionsparteien zusammenzuarbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des (Zuruf von der FDP: Mit den Niedersachsen!) Abg. Dieter Dzewas [SPD]) – Insbesondere hat es mir natürlich Spaß gemacht, mit den Wenn wir über die Ursachen von Hass, Gewalt und Niedersachsen zusammenzuarbeiten. – Alles Gute für die Terror sprechen, dann müssen wir darüber reden – dazu ist Zukunft! schon einiges gesagt worden –, welches Bild vom Men- (Beifall im ganzen Hause – Eckart von Klaeden schen wir haben, wie wir unsere Werte definieren. Wir er- warten von den Lehrerinnen und Lehrern ganz selbstver- [CDU/CSU]: Das ist der Niedersachsen-Ap- ständlich – das sagen wir häufig auch –, dass sie unsere plaus!) Kinder erziehen und ihnen ein Welt- und Wertebild ver- mitteln, während wir uns selbst im Unklaren darüber sind, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Frau Kollegin was für ein Weltbild das eigentlich sein soll. Niehuis, ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Hauses (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) für den guten parlamentarischen Rat, erfahrungsgesättigt aus 16 Jahren guter parlamentarischer Tätigkeit, danken. Entscheidend bleibt, dass für uns die Unverwechsel- barkeit und die Einzigartigkeit des Menschen und seine (Beifall) persönliche Würde im Mittelpunkt stehen. Der Mensch Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Landes ist im Mittelpunkt aller politischen, wirtschaftlichen und Thüringen, Bernhard Vogel. wissenschaftlichen Entscheidungen und allen gesell- schaftlichen Handelns zu sehen. Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident(Thüringen): In unserem Grundgesetz sind die Folgerungen, die vor Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da- über 50 Jahren aus der Entpersonalisierung des Men- men und Herren Abgeordnete! Ich bin im Namen derschen, aus seiner Unterdrückung, Entrechtlichung und Stadt Erfurt und des Landes Thüringen sehr dankbarUnterordnung unter eine menschenfeindliche Ideologie dafür, dass diese Debatte, um die ich die Fraktionsvorsit- durch den nationalsozialistischen Unrechtsstaat gezogen zenden unmittelbar nach der Tat gebeten habe, heute statt- wurden, manifest. Mit der Verpflichtung des Staates, die findet. Jeder wird verstehen, dass ich mich in dieser De- Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu achten und batte zu Wort melde. Dadurch wird gleichzeitig deutlich: zu schützen, und mit der Aufnahme von Grundrechten Das ist nicht nur ein Thema für den Bundestag, sondern – im Gegensatz zur Weimarer Verfassung – hat das Deutscher Bundestag – 14. 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Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen) (A) Grundgesetz eindeutig Stellung bezogen gegen Beliebig- beginnt, müssen wir über die Rechte und Pflichten spre- (C) keit, gegen Wertneutralität, gegen einen totalitären Kol- chen, die den Eltern bei der Vermittlung von Grundwer- lektivismus und gegen die Abwertung des Menschen zu ten zukommen. Im Elternhaus wird der Grundstein für die einem Objekt des Staates. Bildung jeder Persönlichkeit gelegt. Deswegen müssen es Kinder spüren, wenn sie als lästig empfunden werden. Nach unserem Grundgesetz steht der Mensch – und Wer ungestörten Fernsehkonsum mehr schätzt als die Be- nicht der Staat – an erster Stelle. Das schafft die Vorausset- schäftigung mit seinen Kindern, darf sich später nicht zungen dafür, dass sich unter dem Dach des Grundgesetzes über Lieblosigkeit, Gewaltbereitschaft und extremes verschiedene Meinungen, Haltungen und Weltanschauun- Denken wundern. gen entfalten können. Das Grundgesetz setzt den Rahmen, der ausgefüllt werden muss; es ermöglicht Toleranz, weil es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Freiheit des Einzelnen dort eine Grenze setzt, wo Kinder können nur Orientierung finden, wenn sich ihre Würde und Freiheit des Nächsten beginnen. Eltern zu ihnen bekennen, wenn sie sich ihnen widmen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wenn sie ihnen Aufmerksamkeit schenken, wenn sie sich Zeit für sie nehmen. Es ist heutzutage erfreulicherweise Es verlangt Verantwortung von jedem Einzelnen für den populär, sich zu einer Politik zu bekennen, die die Fami- anderen, für das Gemeinwesen, für Demokratie; denn lien unterstützt und ihnen eine stabile materielle Grund- Freiheit ohne Verantwortung führt in die Unfreiheit. lage schafft. Das ist gut so. Aber das ist nur die eine Seite. Wir müssen Übereinstimmung darüber erzielen, was Es kommt mindestens ebenso darauf an, dass sich Eltern sich aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde er- ihrer Verantwortung für die Erziehung der Kinder bewusst gibt: Verachtung und Verhinderung von Gewalt gegen an- sind. dere, insbesondere Andersdenkende, mitmenschliche So- Natürlich dürfen wir Eltern dabei nicht allein lassen. lidarität, soziale Gerechtigkeit und ein fairer Ausgleich Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Eltern müs- von Interessen. Helmut Schmidt hat es einmal klar ausge- sen auch hier Hilfe erfahren. Wir müssen zum Beispiel Fa- drückt – ich darf ihn zitieren –: milienberatungs- und Betreuungseinrichtungen stärken Wenn die Übereinstimmung in elementaren Grund- und ihr Angebot bekannter machen. Aber Kindergärten, werten und Grundauffassungen fehlt, dann sind Frei- Kinderhorte, Schulen und außerschulische Betreuung heit und Würde des Menschen gefährdet. Eine Ge- müssen die Erziehung in der Familie altersgemäß ergän- sellschaft, in welcher der Konsens über elementare zen und unterstützen; ersetzen können weder der Lehrer Grundwerte verloren gegangen ist, treibt auf Anar- noch die Kindergärtnerin die Familie. chie zu. (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D) Helmut Schmidt hat Recht. Werden Menschenrechte nur Weil, wie ich glaube, Bildung ohne Erziehung ebenso unter Zwang anerkannt, werden Werte nicht vorgelebt, wenig möglich ist wie Erziehung ohne Bildung, greifen dann ist Toleranz nicht mehr als eine desinteressierte Dul- die Erziehungsaufträge von Eltern und Schulen eng in- dung von Andersdenkenden und Anderslebenden, eine einander. Die Schule muss mehr sein als eine Anstalt zur Duldung, die schnell in Verächtlichmachen, in Spott, in Stoffvermittlung. Schulen sind auch dazu da, Werte zu Hass und schließlich in Gewalt umschlägt. vermitteln. Das durfte man vor 15, 20 Jahren nicht laut sa- Meine Damen und Herren, in Deutschland sprechen gen. Darum freue ich mich, dass man heute sogar Beifall wir gerne von einer Kultur der Bildung und von einerbekommt, wenn man sagt, Schulen sind auch dazu da, neuen Kultur der Werte. Meine Überzeugung ist: Zu-Werte zu vermitteln. nächst müssen wir vor allem von einer neuen Kultur des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zuhörens sprechen, Wichtig ist Mut zur Erziehung. Erziehung gedeiht mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zuwendung, aber auch mit Regeln und Grenzen, mit neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Liebe, aber nicht Beliebigkeit. Erziehung lebt vom Vor- GRÜNEN und des Abg. Michael Müller bild. Das gilt sowohl für Eltern wie für Lehrer. [Düsseldorf] [SPD]) Wir haben es doch in Erfurt erlebt, wie sehr sich Leh- von einer Kultur des Sich-gegenseitig-Kennenlernens und rerinnen und Lehrer dieser Vorbildfunktion bewusst ge- einer Kultur des Aufeinanderachtens. Wir müssen Sprach- wesen sind. Das Wohl und die Unversehrtheit ihrer losigkeit überwinden und die drohende Kluft zwischen Schüler haben Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums so den Generationen überbrücken. Wir brauchen eine Kultur wichtig genommen, dass sie dafür ihr eigenes Leben ein- des Miteinandersprechens, die Verständnis und Respekt gesetzt haben. Eine Lehrerin ist dreimal in die Schule schafft und die Gefahr eines Zusammenpralls vermindert. zurückgekehrt, um Kinder aus der Schule zu retten, und Dass Ältere vielfach nicht wissen, was junge Men-beim dritten Mal erschossen worden. schen bewegt, dass viele von uns nicht wissen, womit Bessere Vorbilder für Mitmenschlichkeit kann es nicht junge Menschen ihre Freizeit verbringen, dass sie sich geben. Deswegen muss die Lehre aus Erfurt auch sein, hinter verschlossenen Türen mit Gewalt verherrlichenden dass dem Beruf des Lehrersin der Öffentlichkeit mehr Computerspielen beschäftigen, muss uns beunruhigen Hochachtung entgegengebracht wird. und fordert Eltern, Familien, Lehrer, Erzieher, Mitschüler und uns Politiker heraus. Weil Erziehung in der Familie (Beifall im ganzen Hause) 24994 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen) (A) Wir wissen doch, dass Lehrer nicht selten vor der schier sein. Darüber hinaus sind konkrete Änderungen von Ge- (C) unlösbaren Aufgabe stehen, Sozialarbeiter, Erzieher, Bil- setzen und Verordnungen des Bundes und der Länder dungsvermittler, Autoritäts- und Vertrauensperson in ei- erforderlich. Natürlich muss das Leben nach der Bluttat nem sein zu müssen. Es ist eine gute Entscheidung, Leh- weitergehen. Aber wir dürfen nicht den Eindruck er- rer werden zu wollen, und es ist ein wichtiger Dienst für wecken, als ob wir nach dem Geschehen unverändert in unsere ganze Gesellschaft, wenn einer ein guter Lehrer den Alltag zurückkehrten. oder eine eine gute Lehrerin ist. Ich bin sehr dankbar, dass es Bundestag und Bundesrat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie in großer Einmütigkeit gelungen ist, das Waffenrecht noch bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNIS- vor der Sommerpause zu novellieren. Es war doch selbst- SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) verständlich, dass wir uns nach der Bluttat von Erfurt die- ses Gesetz noch einmal sehr genau angesehen haben. Das Bei der Diskussion über die Zukunft unserer Schulen, Ergebnis ist: Ein 19-Jähriger kann jetzt nicht mehr einen die ja in vollem Gange ist, sollten wir uns deshalb nicht Revolver oder gar eine Pumpgun legal erwerben. von pädagogischen Mythen beeinflussen lassen. Das Bild eines angeblich begeistert selbst lernenden Schülers, dem Ich bin dankbar, dass unter dem Eindruck der Tat von nur ein Lernmoderator zur Seite gestellt werden müsse, Erfurt eine Novellierung des Jugendschutzgesetzes sehr entspricht vielleicht den Vorstellungen einer Spaßgesell- zügig vorgenommen worden ist. Wir haben im Bundesrat schaft, aber nicht den Realitäten. Der Lehrer bleibt die – wie Sie im Bundestag – zugestimmt, auch wenn wir entscheidende Person im Unterricht. Nachbesserungen für notwendig halten. Dazu gehört bei- spielsweise das Verbot so genannter Killerspiele. Der ( V o r s i t z : Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Herr Bundeskanzler hat zugesagt, sich für ein Verbot die- Seiters) ser Spiele, bei denen Tötungshandlungen simuliert wer- Der Unterricht, der gelenkte Erwerb von Wissen, Können den, einzusetzen. Er muss seine Zusage einlösen. Es ist für und Urteilsfähigkeit, ist zentrale Aufgabe der Schule und mich nicht nachvollziehbar, dass die Schutzbestimmun- nicht lästige Unterbrechung des Kindseins. gen bei Spielautomaten im Jugendschutzgesetz nicht ver- schärft, sondern gelockert worden sind. Aufgabe von Erziehung und Schule ist es, auf das Le- ben als Erwachsener vorzubereiten. Wer Erzieher sein (Jörg Tauss [SPD]: Mit Ihrem Schulgesetz!) will, muss Vorbild sein und junge Menschen zum Leben Wir brauchen ein Verleihverbot schwer jugendgefähr- ermutigen. Nach der Veröffentlichung der PISA-Studie dender Videofilme und Computerspiele, unabhängig vom hieß es, die Schule müsse leistungsorientierter werden, Alter. Dafür müssen die entsprechenden Bestimmungen und nach dem Geschehen von Erfurt warnten manche, im Jugendschutzgesetz geändert werden. Daneben müs- (B) man dürfe nicht länger vonWettbewerb und Leistung sen wir Änderungen des Strafgesetzbuches vornehmen. (D) sprechen. Der Herr Bundespräsident hat die richtige Ant- Wir müssen zum Beispiel ein Verbot der Darstellung von wort gefunden, wenn er sagt: Ohne Leistung, ohne Leis- Gewalttätigkeiten an menschenähnlichen Wesen in allen tungsbereitschaft wäre jede Schule wirklichkeitsfremd. – Medien und ein Verbot der Darstellung der Tötung von Ich füge hinzu: Vor Wettbewerb und Konkurrenz dürfen Menschen in Computerspielen erreichen. wir unsere Kinder nicht schützen. Wir müssen sie lehren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und sie müssen lernen, damit umzugehen. Darum geht es. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist bisher noch nicht geschehen und wird in dieser Le- Es gilt, zu fördern und zu fordern, aber nicht zu über- gislaturperiode leider nicht mehr verwirklicht werden. fordern. Es wird auch in Zukunft so sein, dass es Begabte Aber es bleibt selbstverständlich auf der Tagesordnung. und weniger Begabte gibt. Aber das ist nicht entschei- Ich begrüße es, dass unter dem Eindruck des Gesche- dend. Entscheidend ist, dass es unterschiedlich veranlagte hens von Erfurt die Regierungschefs der Länder und der Menschen gibt. Jeder muss seine Chance bekommen. Je- Bundeskanzler die Einrichtung eines runden Tisches ge- dem nur ein und dieselbe Chance zu geben wäre unge- gen Gewalt in den Medien vereinbart haben. An diesem recht. Gerecht ist es, jedem seine Chance zu geben. runden Tisch werden neben dem Bundeskanzler und den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz und der Rund- funkkommission die Vertreter der Medien selbst Platz Das heißt, Eltern müssen bereit sein, ihr Kind dienehmen. Wir wollen die Kontrollmechanismen gegen die Schule besuchen zu lassen, die den Fähigkeiten dieses Darstellung extremer Gewalt im Rundfunk, auf Videos Kindes gerecht wird – und nicht den Wunschvorstellun- und im Internet verbessern. Diesem Ziel dient auch der in gen der Eltern. Die Eltern brauchen für das Treffen der Vorbereitung befindliche Jugendmedienschutz-Staatsver- richtigen Entscheidung den Rat und die Hilfe des Lehrers. trag, den wir hoffentlich in Bälde unterzeichnen können. Sie tun Kindern nichts Gutes, wenn sie sie auf eine Schule Wir Ministerpräsidenten haben darüber hinaus be- schicken, in der sie permanent überfordert werden. Sie tun schlossen, die Arbeitsgruppe „Gewaltprävention“ einzu- ihnen aber auch dann nichts Gutes, wenn sie sie jahrelan- richten, die den Auftrag hat, ein abgestimmtes Hand- ger Unterforderung aussetzen. lungsprogramm zu entwickeln, das die Erziehungskraft Nach dem Geschehen am Gutenberg-Gymnasium ist von Schule und Familie stärken und die Wertorientierung eine grundsätzliche Debatte notwendig, so wie wir sie von Kindern und Jugendlichen fördern soll. Natürlich heute hier führen. Sie wird auch in Zukunft notwendig müssen auch die Sicherheitsstandards an den Schulen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 24995

Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen) (A) überprüft werden. Aber 40 000 Schulen in Deutschland Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) kann man nicht zu Festungen ausbauen. Selbst wenn man Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist es könnte – wir wollen das nicht. gut für dieses Parlament – das ist auch eines seiner Qua- litätsmerkmale –, dass wir uns dieser Debatte stellen zu ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nem Zeitpunkt, da wir noch einen Berg von Gesetzen vor Schulen müssen offene Orte der Begegnung bleiben. Eine uns haben. Ich finde es auch gut, dass heute, wo man eingemauerte Gesellschaft wollen wir nicht. schon überall in der Argumentation den hitzigen Wahl- kampf verspürt, solche Töne im Wesentlichen außen vor Die Bluttat von Erfurt, der Mord an 16 Menschen, hat bleiben. in Deutschland, in Europa und weltweit tiefe Betroffen- heit ausgelöst. Sie hat aber auch – einige Redner haben Woher kommt Gewalt in die Gesellschaft? Dies scheint das bereits aufgegriffen – in einem ungewöhnlichen Aus- eine philosophische, existenzielle Frage zu sein. Aber ei- maß Hilfsbereitschaft, Zusammengehörigkeit, Solidarität gentlich ist diese Frage falsch. Die Gewalt ist in der Ge- und Mitmenschlichkeit deutlich werden lassen. Von der sellschaft, nicht als Manifestation eines abstrakten Bösen einen auf die andere Stunde wurde sichtbar, dass es in un- – worüber immer wieder geredet wird –, sondern wegen serem Volk viel mehr Gemeinsamkeit und Gemeinsinn der Schwäche der Gesellschaften, stabile, dauerhafte Re- gibt, als wir das zuvor für möglich gehalten haben. Heute geln zu finden, die die Gewalt einzudämmen in der Lage wissen wir: Erfurt ist nicht zu einem Synonym für eine sind. Diese Regeln interessieren mich, über sie möchte ich schreckliche Bluttat geworden. Von dieser Stadt geht viel- ein bisschen nachdenken. mehr auch Hoffnung aus. Die Botschaft heißt – ich Wenn man nicht fragen kann, woher Gewalt in die Ge- wiederhole, was ich auf der Trauerfeier gesagt habe –: sellschaft kommt, weil sie vorhanden ist, so kann man Mitmenschlichkeit ist in Deutschland keine verloren ge- doch nach den Zeiten fragen, in denen Gewaltbereit- gangene Tugend. schaft, Gewaltaktionen und Gewaltphantasien zunehmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es wird deutlich, dass dies insbesondere dann passiert, wenn sich Gesellschaften in extremem Stress befinden, Nur, diese Botschaft muss weiter wirken. Es muss gelin- unter extremem Veränderungsdruck. Das betrifft unsere gen, was Johannes Rau auf dem Domplatz in Erfurt gesagt Gesellschaft nicht nur im Innern, sondern auch im Äuße- hat: Wir müssen einander achten; wir müssen aber auch ren, also auch die Weltgesellschaft. Ich glaube, dass alle aufeinander achten. – Das muss auch dann gelten, wenn Globalisierungsgesellschaften einen enormen Druck zu wir uns im Wahlkampf befinden, unterschiedliche An- verarbeiten haben; sie sind enormer Verunsicherung und sichten und Absichten vertreten und wir heftig und lei- enormen Existenzängsten ausgesetzt und damit all dem, denschaftlich streiten. Ich frage mich, ob das nicht mit et- was damit zu tun hat, also auch enormen Gewalt- und (B) was mehr Respekt und Hochachtung voreinander geht Kränkungsphantasien. (D) und ob das nicht in einem etwas anderen Geist und in ei- In der Regel haben die Gesellschaften ihre Gesetze im nem etwas anderen Ton möglich ist. Umgang mit der Gewalt nicht vorausschauend, also auf (Jörg Tauss [SPD]: Siehe Ausländergesetz!) kommende Gewalt hin, geschaffen, sondern aufgrund der Summe der erlebten Erfahrungen mit Gewalt. Es ist der Geht das nicht mit besseren Argumenten und wenigererfahrene Absturz in die Gewalt, der die Gesellschaften Tricks und weniger Raffinesse? dazu gebracht hat, entsprechende Gesetze zu schreiben Die heutige Debatte kann zum Beweis dafür werden, und sie in der Gesellschaft zu verankern. dass wir aus dem Verbrechen von Erfurt tatsächlich Kon- Ein herausragendes Beispiel ist unser Grundgesetz. sequenzen ziehen. Zur Stärkung einer demokratischen Die Begründung für dieses Gesetz war gerade, Gewalt ab- und offenen Gesellschaft gehört es, bei allen notwendigen zuwenden, und zwar vor dem Hintergrund der Erfahrung politischen Auseinandersetzungen Einigkeit über dieder totalitären Gewalt, vom Staat organisiert. Deshalb hat Grundsätze unseres Zusammenlebens herrschen zu las- man als Basis aller Gesetze die Sicherung der Freiheit des sen. Wir treten Gewalt und Intoleranz sowie jeder Relati- Einzelnen gegen die totalitäre Staatsgewalt formuliert. – vierung von Hass entschieden entgegen. Die Opfer von Übrigens sind auch die Regeln aller großen Religionen Erfurt hätten es nicht nur verdient, dass wir um sie trau- Antworten auf die Erfahrungen, welche Unfrieden, Gewalt- ern und ihren Angehörigen diese Trauer mitteilen, son- bereitschaft, Aggression und hitzige Leidenschaften in der dern auch, dass wir das im Alltag nicht vergessen und uns Gesellschaft hervorrufen, sei es nun das Verbot des Steh- dem, was geschehen ist, im Hinblick auf die Art undlens, des Lügens oder des Ehebrechens. Sie hatten immer Weise, wie wir miteinander umgehen, verpflichtet fühlen. zum Ziel, die Gesellschaften im Inneren stabil zu halten. Danke. Heute befinden wir uns ebenfalls in einer Verände- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie rungsphase. Allerdings geht nun nicht mehr die Hauptge- bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- walt vom Staate aus, sondern von der verunsicherten Ge- SES 90/DIE GRÜNEN) sellschaft, aus ihrem Inneren: aus den Verteilungskämpfen, aus den Kränkungen und aus der Unsicherheit, nicht zu wissen, was sein wird, wenn sich alle Veränderungen voll- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters:Ich erteile zogen haben. Dies war insbesondere in den neuen Län- das Wort der Kollegin Dr. Antje Vollmer. Sie spricht für dern sehr intensiv. Die Menschen dort wussten nicht, was die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. danach von ihren alten Lebensgewohnheiten noch Geltung 24996 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Dr. Antje Vollmer (A) hat, was von ihrem Gelernten noch wichtig ist, welchen Botschaften Gesellschaften ihren jungen Leuten zukom- (C) Status sie haben werden, welche Konkurrenten ihnen ge- men lassen, welche Heldenbilder sie ihnen – meistens genüberstehen werden, ob sie überhaupt noch Existenz- nicht öffentlich besprochen – vorgaukeln, welche Sün- möglichkeiten haben. denböcke sie ihnen als die eigentlich zu Bestrafenden vor- spiegeln. Darum muss es in der Debatte in unserer Ge- Deswegen ist die entscheidende Frage: Hat die Gesell- sellschaft gehen. Wir müssen fragen: Wie verständigen schaft noch die Kraft, sich unter diesem enormen Verän- wir uns untereinander noch einmal neu über die Regeln derungsdruck Regeln eines neuen Zusammenlebens zu unserer Gemeinschaft? geben? Das genau ist die Frage nach der Zivilisation. Im Kern geht es nicht um die Fähigkeit der Politik, Gebote Dazu sage ich, wie viele meiner Vorredner: Erfurt war wehrhaft durchzusetzen, sondern um die Substanz unse- in diesem Sinne ein ganz wunderbares Beispiel. Jeder hat rer Gesellschaft, die aus eigener Erkenntnis, aus eigenem unterschiedliche Erinnerungen im Kopf, ich zum Beispiel Willen und aus eigener Überzeugung Regeln einhält und diesen wirklich wütenden Ton der Schülerin, die einem sich selbst so stabil macht. Über diese Regeln möchte ich Journalisten gesagt hat: „Hört doch endlich auf, uns hier jetzt sprechen. abzubilden!“, weil sie die Kamera direkt vor ihrem Ge- sicht nicht mehr ertragen konnte, weil sie Zeit brauchte für Es wurde insbesondere über die Frage der Medien ge- Ruhe und Trauer. Ich habe auch gesehen, dass in dieser sprochen. Es wird versucht, Konsequenzen für den Be- Stadt Erfurt gerade wegen der erfahrenen Gewalt so etwas reich der Medien und der elektronischen Welten zu zie- wie eine neue Zivilisation des Miteinanders und der Ver- hen. Ich finde, das ist ein sehr schwieriges Unterfangen. ständigung darüber, dass man Gewalt nicht mehr zulassen Ist Gewalt in Bild und Wort die vorherrschende Sprache wird, entstanden ist. Das war sehr erstaunlich. Besonders der Medien bei uns? Dürfen und sollen sie Gewaltszenen erstaunlich war, dass in dieser Atmosphäre einer neuen Ver- zeigen? Ist es ein magischer Prozess, dass die Gewalt auf ständigung die Eltern von Robert Steinhäuser diesen tief- diese Weise leichter aus dem Bild in die Wirklichkeittraurigen Brief geschrieben haben – und zwar an ihre Um- springt, also aus der Sphäre der Medien ins reale Leben? gebung, nicht an irgendeine anonyme Sündeninstanz –, in Ich glaube, dass die entscheidende Gefahr tatsächlichdem es hieß, sie hätten noch nicht einmal Zeit gehabt, um nicht hier liegt. Kein Journalist der Welt wird auf Dauer, ihren Sohn zu trauern. Ich glaube aber, dass die Stadt Erfurt und sei es auch aus rein pädagogischer Absicht, darauf auch diesen Eltern die Gelegenheit gegeben hat, um ihren verzichten, die Gewalt abzubilden und zu beschreiben, Sohn zu trauern; denn gelungene Gewaltprävention heißt, die er erlebt und die er erfährt. dass man Solidarität erfährt für das Misslingende und dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN man immer wieder die Chance zu Neuanfängen und Neu- sowie bei Abgeordneten der SPD und der eingliederungen hat. (B) PDS) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D) Von daher stimmt der alte Satz, dass der „Spiegel“ der SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Spiegel ist. Die Menschen sind neugierig und sie wollen PDS) die Wahrheit wissen. Deswegen werden sie immer so Ich habe nicht mehr die Zeit, um über Bildung und Bil- dicht herangehen, wie es nur geht. dungsinhalte zu sprechen, deshalb nur noch ein letztes Die wirkliche Gefahr der Medien liegt in ihrer Mög- Wort: Es ist außerordentlich wichtig, dass wir nicht nur die lichkeit, Kampagnen und Jagden zu inszenieren und die- Form, die Methode und die Modernisierung der Bildung sen Kampagnen und Jagden ein Ziel vorzugeben. Medien besprechen, sondern dass wir auch die Ergebnisse einer können – das ist eine neue Qualität, weil wir es zum ers- Untersuchung über jugendliche Gewalttäter berücksichti- ten Mal mit weltweiten Medien zu tun haben – eine Arena gen, die festgestellt hat: Ihnen allen war gemein, dass sie bilden, manchmal weltweit, in der sie die Sündenböcke keinen intensiven Kontakt zu musischer Bildung hatten. benennen, die für ein falsches Gemeinschaftsgefühl ge- (Beifall bei der SPD und der PDS) opfert werden sollen. Bei solchen Jagden erleben Gewalt sowohl diejenigen, die im Zentrum dieser Arena sind, als Ich halte den Satz von , dass die Schließung auch jene, die zuschauen und die einbezogen werden: als einer Musikschule ein Angriff auf die öffentliche Sicher- Mittäter, als Mitläufer, als Voyeure. heit ist, für eine kluge und bedenkenswerte Aussage. Das Problem in Bezug auf Medien ist also nicht, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, diese abbilden und zeigen, sondern ist jene unsichtbare bei der SPD und der PDS) Gewaltbereitschaft, die sie wachrufen, die allerdingsDas gilt auch, Herr Ministerpräsident – Sie sind als großer schon vorher da war und die genau auch der Stoff derLandesvater gerühmt worden –, für die Schließung oder großen Populisten ist: dieses Ausmachen von Sünden- die Fusion von Theatern, beispielsweise in Weimar, und böcken, dieses Erzeugen von Jagdbereitschaft, ohne dass für die Schließung von Bibliotheken. Dieser Satz spricht Verantwortung und Schuld individuell abgewogen und gegen die Streichung aller Einrichtungen, in denen sich Unschuld geprüft worden wäre. Ich glaube, dass Robert Jugendliche treffen und sich ohne den Druck einer nur Steinhäuser in dem Sinne ein Sündenbockjäger war, weil leistungs- und stressorientierten Gesellschaft beschäfti- er dem Wahn erlegen ist, die Lehrer als vermeintlichegen können. Gruppe der Sündenböcke ausgemacht zu haben. Dieses Vielen Dank. Gefühl der Einsamkeit desjenigen, der einen unausge- sprochenen Auftrag ausführt, ist sehr bedrohlich. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, müssen darüber nachdenken, welche nicht verbalisierten bei der SPD und der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 24997

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters:Für die der FDP vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Äch- (C) FDP-Fraktion spricht der Kollege Dr. Karlheinztung von Gewalt in der Erziehung macht unmissverständ- Guttmacher. lich klar, dass Gewalt in der Erziehung nichts, aber auch gar nichts zu suchen hat. Dr. Karlheinz Guttmacher (FDP): Herr Präsident! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ereignisse der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- am Gutenberg-Gymnasium dürfen nicht zu Aktionismus NEN) führen, sie dürfen aber auch keine Lähmung verursachen. Meine Damen und Herren, eine bedeutende Rolle Ja, Herr Ministerpräsident Vogel, auch mich haben die kommt den Schulen zu. Kinder müssen nicht nur Fakten- von Ihnen zitierten Worte der Schülerin des Gutenberg- wissen vermittelt bekommen, sondern auch im Hinblick Gymnasiums tief beeindruckt. Diese Worte fordern uns auf ihren Charakter und auf Selbstvertrauen gebildet wer- heute regelrecht zu unserer Diskussion heraus, um über den. Sie müssen früh lernen, Verantwortung zu überneh- die Art zu befinden, in der wir miteinander umgehen und men. Dazu gehört auch, die Grenzen der eigenen Freiheit miteinander leben. Wir müssen uns fragen, welche Werte zu erkennen. Freiheit und Verantwortung müssen beim unsere Gesellschaft tragen und welche Bedeutung Fami- Schüler ein sich ergänzendes Wertepaar sein. Die Aufgabe lie, Erziehung und Bildung haben. Darüber ist die Dis- der Schule ist es, die Schüler dabei zu unterstützen, mo- kussion in den Familien, in den Schulen, in den Vereinen ralische Urteilsfähigkeit zu gewinnen, Werte aufzubauen und Verbänden, in den Kommunen und Landtagen, im und sie zur Orientierungsgrundlage für den eigenen Le- Bundesrat, aber auch hier im Deutschen Bundestag zu bensentwurf zu machen. führen. Schüler müssen besonders in den unteren Klassen- Die Ursachen der Gewalt sind vielfältig und komplex. stufen individueller, differenzierter und nachhaltiger aus- Deshalb muss die Bekämpfung der Gewalt auch entspre- gebildet werden. chend umfassend sein. Zu den wichtigsten Ursachen der Gewalt gehören auch und in besonderem Maße in den (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten neuen Bundesländern Arbeitslosigkeit und damit vorhan- der CDU/CSU) dene Perspektivlosigkeit der Jugend, Gewalt in den Me- Dazu ist es dringend notwendig, darüber nachzudenken, dien sowie Gewalt und Lieblosigkeit in der Erziehung. wie die Schülerzahlen gerade in den Klassenstufen 1 bis 4 Der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit wird nur er- reduziert werden können. reicht werden können, wenn die Rahmenbedingungen am (Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [FDP]) Standort Deutschland wieder stimmen. Dies kann nur Bei der gegenwärtigen demographischen Entwicklung (B) durch einen konsequenten Bürokratieabbau, eine umfas- (D) wäre dies ohne den in vielen Ländern geplanten Lehrer- sende Arbeitsmarktreform, ein vereinfachtes Steuersys- abbau durchaus umzusetzen. tem, aber im Besonderen durch eine mutige Bildungs- reform erfolgen. Meine Damen und Herren, zum Schluss sage ich ein Wort zu Prüfungen und Abschlüssen: Die FDP fordert, (Beifall bei der FDP) dass dem Schüler nach Abschluss eines Bildungsweges Mittelständische Unternehmen müssen besonders in auch bei erfolgloser Abschlussprüfung ein Zertifikat über den jungen Bundesländern wieder stärker unserer jungen den Besuch von Klassenstufen und den dabei erzielten Er- Generation eine berufliche Erstausbildung ermöglichen folg ausgestellt wird. Mit diesem Leistungsnachweis kann und ihnen nach der Ausbildung ein Beschäftigungsver- er seine Ausbildung an jeder weiterbildenden Lehranstalt hältnis anbieten. fortführen. Eine Bildungsreform in diesem Sinne ist auch zum Abbau von Aggressivität dringend notwendig. Ma- Meine Damen und Herren, die zentrale Bedeutung, die chen wir es! der Familie bei der Bekämpfung der Jugendgewalt zu- kommt, ist unbestritten. Die schwere Aufgabe der Erzie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hung muss endlich mehr Anerkennung in der Gesellschaft der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. finden und sich in den von den Medien vermittelten Leit- [PDS]) bildern widerspiegeln. Wenn Eltern ihren Kindern Ver- ständnis und Zuneigung entgegenbringen, ihnen Gebor- Für die genheit und Selbstvertrauen, aber auch die notwendigen Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: PDS-Fraktion spricht die Kollegin Angela Marquardt. Grenzen vermitteln, dann bestehen gute Chancen, dass diese Jugendlichen so viel Charakter entwickeln, dass sie auch Frustrationen gewachsen sind, ohne Gewalt als Aus- Angela Marquardt (PDS): Herr Präsident! Liebe Kol- weg zu sehen. leginnen und Kollegen! Wohl wahr, es ist Nachdenken an- gesagt. Daher möchte ich noch einmal den Sommer 2000 (Beifall bei der FDP) reflektieren, als die Bundesregierung, Parteien, Kirchen Wir sollten nicht von Jugendgewalt sprechen, ohne und Medien anfingen, endlich gegen Neonazi-Aufmärsche auch den Aspekt der Gewalt gegen Kinder und Jugendli- zu mobilisieren, Geld für Antifa-Initiativen zur Verfügung che zu betrachten. Die Statistik zeigt deutlich, dass Kin- zu stellen und den Neonazis den Kampf anzusagen. Dies der, die Gewalt in der Familie erleben, später häufig selbst geschah zur Freude auch jener jungen Menschen, die sich Täter werden. Das im Sommer 2000 mit Unterstützung bereits seit vielen Jahren gegen Neonazis engagierten und 24998 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Angela Marquardt (A) sich gegen den alltäglichen Naziterror auf der Straße weh- Erfurt thematisiere. Ich thematisiere dies erstens, weil(C) ren mussten. Inzwischen spricht man aber in manchen an- man nicht über Gewalt reden kann, ohne rassistische Ge- tifaschistischen Kreisen vom „kurzen Sommer der Staats- walt zu erwähnen, und zweitens, weil über Jugendgewalt Antifa“. Es ist von diesem Engagement, vom Aufstand der immer sehr verkürzt geredet wird. Man verschärft das Anständigen, nicht viel übrig geblieben. Waffenrecht, will Gewaltfilme und auch Computerspiele verbieten. Dazu sage ich Ihnen: Das wird nicht ausrei- Was nutzen Bekenntnisse gegen rechte Gewalt, wenn beispielsweise vor ein paar Wochen in Zittau der Stadtrat chen. Ich glaube sogar, dass es an vielen Stellen nicht nut- beschlossen hat, einer militanten Neonazi-Gruppe einzen wird. Haus zur Verfügung zu stellen, von dem aus sie weiter ihre Wer meint, ein Motiv für Gewalt zu haben, der braucht gewalttätigen Übergriffe planen kann? keine Schusswaffe. Er kann sich ein Küchenmesser suchen (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS]) oder aus Flaschen Molotowcocktails bauen und wir kön- nen weder das Küchenmesser noch die Flaschen verbieten. Nach wie vor dominieren Neonazis ganze Ortschaften in Ostdeutschland und verhindern, dass Ausländer und Lin- Gewaltdarstellungen gibt es nicht nur im Kino oder in ke sich frei bewegen können; nach wie vor gibt es dort Videofilmen, sondern natürlich auch in jeder Nachrich- auch viele Straftaten. tensendung. Damit Sie nicht gleich bei mir wieder so auf- jaulen, verweise ich auf die Bundesschülerinnenvertre- Die Initiativen konnten meines Erachtens nicht wirken, tung, die dies bei der Anhörung zum Jugendschutz mit weil die Analyse der Ursache von Gewalt verkehrt war. thematisiert hat. Dort wurde gesagt, dass Krieg und Ge- (Beifall bei der PDS) walt auch in Deutschland wieder zu Mitteln der Konflikt- lösung geworden sind. Natürlich wird auch durch Krieg Das Problem des Rechtsextremismus wurde eindimensio- Gewalt salonfähig gemacht. nal auf Gewalt reduziert. Ich möchte das Gewaltproblem nicht klein reden, zumal ich selbst einige Erfahrungen mit (Beifall bei der PDS) Neonazis machen musste. In dieser Gesellschaft gibt es aber auch andere und un- (Lachen bei der CDU/CSU) terschiedlichste Formen legitimierter Gewalt. Man kann nicht grundsätzlich und schon gar nicht moralisch gegen Aber die Grundlage dieser Gewalt sind rechtes Gedan- Gewalt argumentieren, wenn man sie an anderer Stelle kengut und Werte wie Intoleranz, Nationalismus, Milita- selber fordert oder toleriert. rismus und Rassismus. Aus solchen Werten entstehen ge- walttätige Einstellungen. Ich nehme für mich in Anspruch, einen anderen Ansatz zu haben. Natürlich lehne ich das Steinewerfen ab. Ich ( [CDU/CSU]: Wo ist denn lehne auch Gewaltfilme und den Waffenverkauf an Ju- (B) die linke Gewalt? Sie sind doch auf einem Auge (D) gendliche ab. Ich lehne aber auch den Waffenverkauf an blind!) Erwachsene ab. – Ich will Ihnen mal was sagen: Wenn Sie durch eine Ort- schaft gehen und so wie ich von einem Neonazi zusam- (Beifall bei der PDS) mengeschlagen werden, dann reden Sie über Gewalt und Ich lehne es auch ab, dass Erwachsene Jugendlichen, die die damit zusammenhängenden Probleme ganz anders. jünger sind als der Mörder von Erfurt, im Rahmen des Mi- Diese Intoleranz und diese Gewalt müssen hier themati- litärdienstes das Schießen und Töten mit der Waffe bei- siert werden. Sind Sie schon einmal durch Deutschland bringen. gegangen und niedergeschlagen worden? Sind Sie schon einmal Zug gefahren und mussten aus dem Zug ausstei- Liebe Kolleginnen und Kollegen – die Kollegin Vollmer gen, weil Sie so aussehen, wie Sie aussehen, und nichts hat es hier schon angesprochen –, es geht auch um die anderes als einfach Ihr Aussehen das Problem war? Bilder, die vermittelt werden. Ich möchte hier einmal über diese Bilder sprechen: Ich erinnere mich an ein Foto, auf (Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Ich bin sogar dem Otto Schily mit erhobenem Schlagstock in die Ka- dazwischengegangen!) mera lächelte. Ich erinnere mich an das Bild, auf dem Herr Denken Sie einmal darüber nach! Merz in Mazedonien fröhlich aus einem Panzer winkt. Ich erinnere mich an Herrn Möllemann, der Verständnis für (Beifall bei der PDS, der SPD und dem Selbstmordattentäter äußerte. Ich denke an einen Außen- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) minister, der sagte, er sei kein Pazifist. Deswegen muss in der Öffentlichkeit über Rassismus Ich will damit sagen, dass das Problem Gewalt natür- geredet werden. Man muss auch darüber reden, dass Sie lich nicht nur Jugendliche betrifft, auch wenn Filme si- Unterschriftensammlungen gegen Ausländer durchge- cherlich dazu geeignet sein können, dass das Verhältnis zu führt haben. Auch dies ist Grundlage für rassistische Ge- Gewalt negativ beeinflusst wird. Dennoch glaube ich, walt. Da kann man lange darüber reden, dass man gegen dass jeder Politiker und jede Politikerin genau aufgrund Gewalt ist. Dies ist wenig glaubwürdig, wenn man selber der von mir genannten Beispiele einmal darüber nach- die Grundlage dafür legt. denken sollte, welche Bilder wir selber erzeugen, welche (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Bilder dahinter stecken, wenn man sich beispielsweise der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU) mit einem Schlagstock öffentlich präsentiert. Nun fragen Sie sich vielleicht, weshalb ich dies noch Der beste Schutz vor Jugendgewalt ist, so denke ich, einmal im Zusammenhang mit dem 19-jährigen Täter aus Jugendliche nicht zu entmündigen, sondern ihr Verant- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 24999

Angela Marquardt (A) wortungsbewusstsein und ihre Selbstständigkeit zu stär- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) ken. Ich glaube, dass Verbote, Repressionen und Ein- DIE GRÜNEN) schränkungen nicht der richtige Weg sind. Das Vorleben Im Geflecht der Ursachen und Erklärungen sind klare An- – das ist bereits angesprochen worden – ist wichtig. Des- satzpunkte für ein politisches Handeln zu erkennen. Keiner wegen will ich Ihnen ein wenig schmunzelnd etwas von dieser einzelnen Ansätze kann das Problem von Gewalt in Mark Twain mit auf den Weg geben: der Gesellschaft für sich genommen lösen. Gemeinsam Erziehung ist organisierte Verteidigung der Erwach- können sie aber zur Eindämmung von Gewalt beitragen. senen gegen die Jugend. Deshalb wäre es falsch, hier einzelne Instrumente gegen- einander auszuspielen. (Beifall bei der PDS) Als Reaktion auf die Gräueltat in Erfurt war es richtig, das Waffengesetz unmittelbar zu verschärfen. Es war gut Ich erteile Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: so. dem Kollegen Christoph Matschie für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Christoph Matschie (SPD): Herr Präsident! Verehrte Zur Aufrichtigkeit gehört aber auch, in diesem Hause Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum Anlass unse- noch einmal daran zu erinnern, dass dieser Verschärfung rer Debatte, zu der grausamen Gewalttat eines Schülers des Waffenrechts ein jahrelanger Streit vorausgegangen am 26. April dieses Jahres inErfurt, zurückkommen. ist und dass die Union eine solche Verschärfung vorher Dies war eine Tat, die wir nicht wirklich erklären können. verhindert hatte. Es gibt keine klar zugrunde liegende Kette von Ursachen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Wirkungen. Deshalb gibt es – das muss man einge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der stehen – auch keine Sicherheit, so etwas in Zukunft ver- PDS) hindern zu können. Der Besitz einer Waffe darf kein Kinderspiel sein. Ich kann Dennoch – dies möchte ich besonders an Frau Merkel es nicht nachvollziehen, dass einzelne Schützen und Waf- gerichtet sagen – erwächst gerade aus dieser Tat in Erfurt fenfreunde gegen die Verschärfung des Waffenrechts heute eine doppelte Verpflichtung für all diejenigen, die poli- mobilmachen. Die Sicherheit der Gemeinschaft muss Vor- tische Verantwortung tragen, nämlich die Verpflichtung, rang vor jedem Interesse eines Waffenbesitzers haben. die Frage nach den Ursachen von Gewalt immer wieder neu zu stellen, und die Verpflichtung, zu fragen, was po- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (B) litisches Handeln zur Eindämmung von Gewalt in unserer GRÜNEN und der PDS) (D) Gesellschaft beitragen kann. Es war richtig, auf die Einschränkung von Gewalt in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Medien zu drängen. Auch die Schule selbst muss aber des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) noch einmal stärker in unser Blickfeld rücken. Es ist schon gesagt worden, dass dabei die Konsequenzen aus Ich will mich heute dabei besonders auf die Schule der PISA-Studie und aus Erfurt miteinander verbunden konzentrieren. Eine Nachricht hat mich in diesem Zu- werden müssen. Das ist keine einfache Aufgabe; ihre Be- sammenhang schockiert: Allein in Thüringen sind mitt- wältigung wird Zeit brauchen. Klar ist aber schon jetzt: lerweile mehr als 80 Drohungen so genannter Trittbrett- Die Bewältigung dieser Aufgabe wird nur gelingen, wenn fahrer aktenkundig. Jugendliche drohen ihren Lehrern mit wir das Hühnerhofdenken in der Bildungspolitik über- Erfurter Verhältnissen, sie prahlen vor ihren Mitschülern winden und zu einer gemeinsamen nationalen Anstren- mit dem Besitz von Waffen. gung für eine bessere Bildung in Deutschland kommen. Mit dem Thema Gewalt an Schulen müssen wir uns (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE aber nicht erst seit dem Amoklauf in Erfurt auseinander GRÜNEN und der PDS) setzen. Auch in Thüringen ist die Reihe alarmierender Ge- waltausbrüche lang. Vorgestern sind in Sondershausen Neben dieser großen gemeinsamen Herausforderung, zwei Schüler verurteilt worden, die im Januar eine Lehre- für die wir uns die nötige Zeit nehmen sollten, gibt es rin vor der Klasse mit dem Messer bedroht hatten, weil sie manche Bereiche in der Schulpolitik, die unmittelbar ent- wegen Störung des Unterrichts aus dem Schulgebäude schieden werden können. Ich sage das hier mit aller Deut- verwiesen worden waren. Im Mai wurde eine Schülerin lichkeit: Der Amoklauf von Erfurt hat uns noch einmal aus Weimar verurteilt, weil sie nach einem Schulverweis mit aller Brutalität auf das Problem fehlenderSchulab- an vier Stellen einer voll besetzten Schule Feuer gelegt schlüsse in Thüringen gestoßen, hatte. Nur glückliche Umstände und ein beherztes Ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ greifen von Schülern verhinderten, dass jemand zu Scha- DIE GRÜNEN) den kam. das offenbar ein Hintergrund für den Amoklauf und auch Die Ursachen für solche Gewalt liegen in den seltens- für den Brandanschlag auf die Schule in Weimar gewesen ten Fällen klar und eindeutig auf der Hand. Häufig sind ist. dabei viele sich wechselseitig verstärkende Faktoren im Spiel. Trotzdem dürfen wir uns hinter dieser Komplexität (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Richtig! – nicht verstecken. [SPD]: Sehr richtig!) 25000 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Christoph Matschie (A) Ich sage das hier ganz klar: Ich bedauere es außerordent- wendigen Voraussetzungen schaffen. Ich denke, die zu- (C) lich, dass dazu noch keine Entscheidung im Thüringer sätzlichen Mittel des Bundes helfen bei der Bewältigung Landtag gefallen ist. dieser Aufgabe. Ich kann es nicht verstehen, dass die erste Reaktion auf das Angebot des Bundes, mehr für Ganz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tagsbetreuung zu tun, Störfeuer aus einzelnen Ländern DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und der Hinweis waren, das liege nicht in der Kompetenz PDS – Jörg Tauss [SPD]: Kein Wort!) des Bundes. So dürfen wir mit Bildungspolitik und Schule Wenn so offenkundig notwendige und breit getragene nicht umgehen. Änderungen nicht zeitnah entschieden werden, führt das (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE bei den Betroffenen nur zu einem weiteren Verlust des GRÜNEN und der PDS) Vertrauens in die Handlungsfähigkeit der Politik. Lassen Sie mich zum Schluss noch eines zu bedenken (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geben. Am 11. Mai wurde der Amokschütze von Erfurt an des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) einem unbekannten Ort beigesetzt. Nichts soll an ihn er- innern: kein Grabstein, kein Kreuz. Sein Name wird mit Gerade vor dem Hintergrund unserer heutigen Debatte der Zeit wahrscheinlich in Vergessenheit geraten. Die ent- müssen wir als politische Verantwortungsträger dafürsetzliche Tat dürfen wir aber nicht vergessen. Wir haben Sorge tragen, dass das Vertrauen in die Problemlösungs- die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Tat nicht kompetenz der Demokratie gestärkt wird. Wir müssen in Vergessenheit gerät und dass die Mahnung, die von Er- dazu beitragen, dass Frustration, Ohnmachtsgefühle und furt ausgeht, nicht im Nirgendwo der politischen Debatte Ausgrenzungen nicht verstärkt, sondern abgebaut wer- untergeht, sondern dass diese Mahnung in Konsequenzen den. Das ist unsere politische Aufgabe. und politischen Entscheidungen endet. Das sind wir den (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Opfern schuldig. GRÜNEN und der PDS) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich komme noch einmal auf die Schule zurück. Es war (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE hier viel von Vermittlung von Werten die Rede. Ich finde GRÜNEN und der PDS) es richtig, dass wir darüber diskutieren. Ich gehöre aller- dings nicht zu denen, die der Überzeugung sind, dass in unserer Gesellschaft Mitmenschlichkeit und Wertorien- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters:Für die tierung den Bach hinuntergehen. Wer die gemeinsame CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Maria Eichhorn. Trauer um die Opfer in Erfurt erlebt hat, konnte spüren, (B) dass Mitmenschlichkeit, Wärme und Solidarität in dieser Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine (D) Gesellschaft herrschen. Als Thüringer Abgeordneter bin Damen und Herren! Aggressive und gewalttätige Jugend- ich für diese Erfahrung dankbar. liche werden nicht als solche geboren. Aufgerüttelt durch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die schrecklichen Ereignisse am Gutenberg-Gymnasium DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der in Erfurt rückt die Frage nach den Gründen vonGewalt PDS) wieder verstärkt ins Blickfeld. In Politik und Gesellschaft wird über Ursachen und Bekämpfungsmöglichkeiten dis- Wer Werte vermitteln, wer erziehen will, braucht Au- kutiert. Wieso ist ein wachsender Anteil von Jugendlichen torität; das ist eine einfache Weisheit. Es ist sicher richtig: bereit, sich durch Gewalt vermeintliche Anerkennung zu Lehrer haben nur so viel Autorität, wie wir ihnen als Ge- verschaffen? sellschaft geben. Wenn die Gesellschaft Lehrer als Fuß- abtreter der Nation behandelt, dann werden auch Schüler Gewalt kommt nicht von ungefähr und entsteht nicht Lehrer immer wieder so behandeln. im luftleeren Raum. Es gibt zum Beispiel diefamiliäre Situation. Familiärer Stress, der aus Arbeitslosigkeit ent- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist steht, schürt Konflikte. Auch Spannungen, die durch eine nicht d i e Gesellschaft!) zerbrochene Ehe oder Partnerschaft entstehen, werden auf Aber zu dem Schritt, Lehrern einen höheren Wert in der dem Rücken der Kinder ausgetragen. Kinder brauchen Gesellschaft einzuräumen und ihre Erziehungskompetenz Grenzen. Daher ist es wichtig, dass Eltern Nein sagen zu stärken, gehört auch, darüber nachzudenken, wie das können. In vielen Familien herrscht Sprachlosigkeit. Statt Miteinander von Schülern, Eltern und Lehrern in deretwas miteinander zu unternehmen oder miteinander zu Schule besser organisiert werden kann, wie demokrati- sprechen, werden die Kinder vor dem Fernseher abge- sche Prozesse an der Schule gestärkt werden können, wie stellt. Aber Erziehung setzt Beziehung voraus. Problemlösungskompetenz an unseren Schulen eingeübt (Beifall bei der CDU/CSU) werden kann. Im Zusammenhang mit Erfurt wird viel überSchule (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesprochen. Unter- oder Überforderung der Schüler, Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sagensängste oder ein schlechtes Schulklima sind ein Schule ist Bildungsstätte und Ort sozialer Erfahrung Saatboden für Gewalt. Viele Kinder und Jugendliche ha- und Prägung. Beides muss im Blick bleiben, wenn wir ben nicht gelernt, mit Konflikten umzugehen. Sprachlo- über die Konsequenzen aus der PISA-Studie beraten. Für sigkeit im Elternhaus, Anonymität der Schule oder des beides muss Raum sein. Für beides müssen wir die not- Wohnumfeldes machen sie anscheinend hilflos. Sie flüch- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 25001

Maria Eichhorn (A) ten dann in die Gewalt. Der gesellschaftliche Druck ist dem Elternhaus und allen Einrichtungen vor Ort, die mit (C) enorm. Aber es wäre zu einfach, Gewalt nur mit Einflüs- Familien zu tun haben, können Probleme frühzeitig er- sen von außen erklären zu wollen. kannt werden. Wir müssen für die nachwachsende Generation Per- Um der Gewalt zu begegnen, ist neben der Erziehung spektiven schaffen. auch der Bildung der Kinder und Jugendlichen ein stär- keres Gewicht beizumessen. Bildung, Erziehung und (Beifall bei der CDU/CSU) Ausbildung müssen als Einheit begriffen werden. Jedes Wenn 15-, 16-Jährige oder Abiturienten nach Beendigung Element für sich ist wichtig, aber erst das Zusammenspiel der Schule auf der Straße stehen, ist das das Schlimmste, ist die angemessene Antwort auf die Gewalttendenzen, was ihnen passieren kann. Ausbildung und Arbeit geben die sich nicht erst jetzt abzeichnen. jedem Menschen, insbesondere den jungen Menschen, Unsere Bildungs- und Erziehungseinrichtungen haben einen Sinn. Sie spüren, dass sie in dieser Gesellschaft nicht nur einen Bildungs-, sondern auch einen Erzie- gebraucht werden. Deswegen ist die Bekämpfung der hungsauftrag. Das ist zugegebenermaßen in großen Klas- Jugendarbeitslosigkeit besonders wichtig. sen nicht immer einfach. Das Gleiche gilt auch für Schu- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss len, in denen ein Großteil der Schüler nicht ausreichend [SPD]: JUMP, jawohl!) Deutsch sprechen kann. Aber gerade hierbei helfen Res- pekt und Achtung Lehrern und Mitschülern gegenüber, Bildung und Erziehung heißen für uns, den jungen dem Erziehungs- und Bildungsauftrag nachzukommen. Menschen zu vermitteln, dass das Leben mehr als Kon- sum und Erfolg bietet. Ohne eine Vermittlung von Grund- Bildungs- und Erziehungsziele, die besonders zum werten, an denen sich ein Mensch bereits als Kind orien- Wertebewusstsein beitragen, müssen wir stärken. Ich tieren kann, ist es schwierig, sich in dieser fordernden meine damit nicht nur Religion, Philosophie oder ethische Welt zurechtzufinden. Was aber können wir tun? Grundfragen, sondern auch eine Neuorientierung politi- scher Bildung und Erziehung. Die nachwachsende Gene- Es gibt sicherlich verschiedene Ansatzpunkte, um der ration wird dadurch die Bereitschaft entwickeln, die Gewalt von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesell- großen gesellschaftlichen, sozialen, technologischen und schaft zu begegnen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung kulturellen Fragen anzugehen. Sie wird damit für die Ge- mit den Ursachen von Gewalt ist ohne eine Diskussion sellschaft eintreten, die von Freiheit, Demokratie, Rechts- über Wertvorstellungen nicht möglich. Eine Interven- staatlichkeit und Ächtung jeglicher Gewalt geprägt ist. tion gegen Gewalt ist vor allem dann erfolgversprechend, Bildung und Erziehung müssen im Elternhaus, in Schule wenn sie möglichst früh einsetzt. Das heißt, dass Präven- und Hochschule wieder die Bedeutung der Verantwortung tion nötig ist. Prävention bedeutet, Jugendliche gegenüber (B) für das eigene Leben, aber auch für das Leben anderer und (D) Gewalt zu stärken. Dazu gehört die Vermittlung von Wer- für die Zukunft unserer Gemeinschaft fördern. Die Erzie- ten. Diese erfolgt in erster Linie im Elternhaus. Kinder hung zu einer selbstbewussten Persönlichkeit, zum mün- machen in der Familie ihre ersten Erfahrungen, wie Men- digen Menschen kann nur gelingen, wenn Werte und Ein- schen miteinander umgehen. Dadurch werden sie auf stellungen vorgelebt werden. Das gute Beispiel der Eltern Dauer geprägt. Kinder brauchen feste innerfamiliäre Be- und aller anderen an der Erziehung Beteiligten ist durch ziehungen, die auch Belastungen standhalten. Damit er- keine noch so gute Theorie zu ersetzen. halten sie das notwendige Selbstwertgefühl und Vertrauen in die Zukunft. Eltern sollten den Kindern gegenüber Part- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ner sein, aber auch eine Autorität darstellen, die Grenzen Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]) setzt. Zum Bildungs- und Erziehungsprozess gehört auch die Die Vermittlung von Werten wie Toleranz, Aufrichtig- Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, mit ande- keit und Respekt gehört untrennbar zur Erziehung. Das ren Einstellungen und Mentalitäten. Kinder und Jugend- gilt auch für Zivilcourage, Verantwortungsbewusstsein liche müssen lernen, diese Unterschiede auszuhalten. und Verlässlichkeit. Die Achtung des anderen und die An- Dieser Bildungs- und Erziehungsauftrag muss sich selbst- erkennung der menschlichen Würde bilden nach meiner verständlich in den Lehrplänen widerspiegeln: bei den Überzeugung wichtige Grundlagen für die Zukunft einer Regelschulen und bei den Ganztagsschulen. Wenn Sie, friedvollen Gesellschaft. Die moderne Arbeitswelt mit meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, ihrem verstärkten Druck fordert auch von den Familien jedoch in Ihrem Antrag so tun, als würde der Ausbau der ihren Tribut. Die meisten Eltern wollen für ihre Kinder Ganztagsschulen allein die Möglichkeit bieten, sinnvolle nur das Beste und dennoch – oder gerade deshalb – sind pädagogische Konzepte zu entwickeln, liegen Sie falsch. sie oft verunsichert. Daher müssen wir sie unterstützen. (Jörg Tauss [SPD]: Das hat doch kein Mensch Dafür gibt es verschiedene Maßnahmen. Jungen Eltern gesagt!) oder jungen Paaren können in bereits bestehenden Ein- richtungen konkrete Tipps zur Erziehung und Hilfe ange- – Das steht in Ihrem Antrag. boten werden. Neben all dem darf man eines nicht vergessen: Kinder Von besonderer Bedeutung ist die bessere Vernetzung und Jugendliche sind tagtäglich einer Vielzahl von aller an der Erziehung der Kinder beteiligten Personen: Gewaltdarstellungen ausgesetzt. Der Jugendmedien- der Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sowie der Erzieherin- schutz wurde aufgrund der Ereignisse von Erfurt vor nen und Erzieher. Durch die Zusammenarbeit zwischen kurzem sehr schnell geändert. Doch das reicht nicht. Leider 25002 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Maria Eichhorn (A) ist die Bundesregierung unseren weitergehenden Forderun- Es geht um die Frage, welche sozialen Erfahrungen, wel- (C) gen nicht gefolgt. Es sind ja einige unserer Forderungen che sozialen Perspektiven vor allem junge Leute heute heute schon angeführt worden. haben. Das ist der Kern. Viele Studien weisen darauf hin, dass wir erleben müssen, dass vor allem bei Jugendlichen, (Jörg Tauss [SPD]: Und die Blockade von aber nicht nur bei ihnen, erstens die Desintegrationspro- Bayern?) zesse zunehmen, und zweitens, dass sich zunehmend, und Es gibt inzwischen eindeutige wissenschaftliche Hin- zwar sehr zugespitzt, die Frage nach der Identität stellt. weise, dass auch virtuelle Gewalt in erschreckender Weise Deshalb hat aus meiner Sicht Wilhelm Heitmeyer abstumpfen lässt. Als Folge davon gehen Mitgefühl und Recht, wenn er sagt, dass die eigentliche Aufgabe, die sich Mitleidensfähigkeit verloren. Das dürfen wir doch nicht an die Gesellschaft richtet, ist, wie wir eine neue Kultur einfach hinnehmen. der Anerkennung schaffen, wie wir also die Würde des (Beifall des Abg. Wolfgang Dehnel Menschen im umfassenden Sinne akzeptieren und zur [CDU/CSU]) Geltung bringen. Wir müssen Kinder und Jugendliche vor diesen Einflüs- Um es auf den Punkt zu bringen: Die Verhinderung von sen so weit als möglich schützen. Gewalt ist in erster Linie eine soziale Herausforderung. Meine Damen und Herren, der Anlass, der zu dieser (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Debatte geführt hat, ist außergewöhnlich erschreckend des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der und traurig. Trost wird es für die Hinterbliebenen der Op- PDS) fer nicht geben. Dennoch liegt in der Diskussion über Er- Eric Dunning, einer der Mitarbeiter von Norbert Elias, furt eine große Chance, damit sich ein solcher Wahnsinn hat auf einen sehr dramatischen Punkt hingewiesen. Er hat nicht wiederholt. die Entwicklung der Gewalt seit dem 12. Jahrhundert am (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Beispiel des Sports beschrieben. Er kommt zu dem Er- Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]) gebnis, dass die moderne Gesellschaft beispielsweise beim Fußballsport zwar sehr viel professioneller und in- ternationaler geworden sei, dass aber der moderne Fußball Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters:Für die auch das Phänomen des Hooliganismus, also neue Formen SPD-Fraktion spricht der Kollege Michael Müller. von Gewaltexzessen, hervorgebracht habe, die nicht ein- fach mit Erziehung, sondern in erster Linie mit tief grei- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Meine Damen fenden sozialen Veränderungen – so sieht Dunning das – (B) und Herren! Von Max Frisch stammt der Satz: zu erklären seien, die durch den Verlust an Anerkennung (D) und an persönlichen Möglichkeiten der Entfaltung sowie Sie nennen es Schicksal, um nicht zu fragen, wie es vor allem durch den Verlust vonsozialen Perspektiven dahin gekommen ist. hervorgerufen würden. Deshalb müssen wir, wenn wir über Wenn die Debatte einen Sinn haben soll, dann müssen das Thema Gewalt diskutieren, die Frage einbeziehen, was wir diesen Satz von Max Frisch ernst nehmen. Wir müs- in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird. Ralf Dah- sen fragen, wie es dahin gekommen ist, wie Gewalt ent- rendorf – das kennen Sie vielleicht – beschreibt, dass wir – steht. Wir wissen, dass die Bändigung von Gewalt die davor hat er Angst – in ein autoritäres Jahrhundert hinein- zentrale Frage jeder Zivilisation ist. Inwieweit wir fähig geraten werden, wenn es uns nicht gelingt, die sozialen sind, Gewalt zu bändigen, ist nach Norbert Elias quasi der Bindungen zu festigen, und wenn wir nicht zu einer neuen Lackmustest für den Stand einer Zivilisation. Politik der Freiheit und der Vielfalt fähig sind. Deshalb geht angesichts der Tatsache, dass uns unter den Bedin- Deshalb, meine Damen und Herren, muss man sehen, gungen der Globalisierung und Europäisierung zuneh- dass es seit einiger Zeit und nicht nur wegen Erfurt zu- mend die Frage nach der Identität unserer Gesellschaft nehmend alarmierende Tendenzen gibt: den Verlust an und des Einzelnen gestellt wird, die Suche nach den Ur- Wertbindungen, an so genannten Ligaturen, Auflösungs- sachen für das Ausbrechen von Gewalt weit über das Bil- prozesse in der Gesellschaft, die zu neuen Formen von dungssystem hinaus. Gewalt führen, wovon wir in Erfurt aus meiner Sicht nur ein besonders extremes Beispiel erlebt haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es geht also um sehr viel tiefer gehende Prozesse, wie Wilhelm Heitmeyer zu Recht sagt, um Reaktionen auf Dabei geht es auch um die Frage der Kultur und der Zivi- völlig veränderte soziale Erfahrungen. Darum geht es in lität moderner Gesellschaften. erster Linie: um völlig veränderte soziale Erfahrungen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Gewalt zum Ausbruch kommen lassen. Deshalb ist es DIE GRÜNEN) falsch, schnell einfache Erklärungen zu geben wie bei- Ich finde es richtig, dass wir über Bildung reden. Aber spielsweise den Hinweis auf Medienkonsum oder Schule es bringt beispielsweise nichts, in den Schulen nur über oder was auch immer. Das alles sind wichtige Einzelfak- Werte zu reden, wenn die Jugendlichen sie nicht auch in toren, aber sie allein erklären Gewalt noch nicht. ihrem Alltag, in der sozialen Welt, erfahren. Deshalb müs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei sen wir folgende Fragen beantworten: Wie können wir mit Abgeordneten der PDS) den großen Herausforderungen der Zukunft, also mit der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 25003

Michael Müller (Düsseldorf) (A) neuen Ungleichheit, die sich unter den Bedingungen der wo Gewalt in der Gesellschaft ist. Unsere Debatte „Ge- (C) Globalisierung zuspitzt, auf soziale Weise fertig werden? walt und Gesellschaft“ zeigt, dass Gewalt überall vor- Wie können wir beispielsweise den Verlust an Identität kommen kann, dass sie nicht auf „Gewalt von Jugendli- überwinden, der durch den Prozess der Erweiterung Eu- chen“ verkürzt werden darf, dass Gewalt in den Familien, ropas verursacht wird? Wie können wir es verhindern, in den Schulen, auf der Straße, im Beruf, in den Medien dass die Menschen in dem Prozesses von Desintegration vorkommen kann. Deshalb brauchen wir einen gesell- und Identitätsverlust ihre Heimat in ethnischen oder na- schaftlichen Konsens. Es reicht nicht, allgemein Werte zu tionalistischen Identitäten suchen, die falsch sind, weil propagieren; man muss auch sagen, um welche Werte es wir gesellschaftliche Identitäten brauchen? Diese Fragen eigentlich geht. werden künftig für die Demokratie existenziell werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn man nicht nur den Fall in Thüringen, sondern des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der auch das Ausbrechen von Gewalt in anderen Ländern ge- PDS) nauer untersucht, dann stellt man fest, dass auch das Ge- Der gesellschaftliche Konsens muss heißen: Zusammen- fühl von Unterlegenheit und Perspektivverlust zu Gewalt halt fördern und Gewalt ächten. Das sind Werte, mit de- geführt hat. Die politische Kernfrage, die wir aus den ge- nen man auch inhaltlich arbeiten kann, die man als Ziel walttätigen Vorkommnissen ableiten müssen, lautet: Wie vertreten kann. können wir die Integrationskräfte stärken, eineKultur der Anerkennung schaffen und die sozialen Identitäten Schülerinnen und Schüler haben mir nach dem Amok- bewahren? lauf von Erfurt oft gesagt, dass eine ähnliche Tat auch an ihrer Schule passieren könnte. Diese Schonungslosigkeit, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit der Schülerinnen und Schüler gesagt haben: „Das DIE GRÜNEN) könnte auch bei uns passieren“, macht deutlich, wie ernst Zusammenfassend möchte ich sagen: Ich glaube,wir das nehmen müssen und wie vielÄngste es in den Umberto Eco hat in seinem lesenswerten Essay zumSchulen gibt. Es macht auch deutlich, dass wir in unserer 11. September – ich möchte daran erinnern, dass das, was Verantwortung als Politiker nicht nur appellieren, sondern damals geschah, auch eine Form von entfesselter Gewalt auch handeln müssen. Wir müssen Impulse geben, damit war – Recht. Er hat darauf hingewiesen, dass Strukturen sich das gesellschaftliche Bewusstsein ändert. Ich will ei- geschaffen werden müssen, die den Menschen ermögli- nige der Impulse, die wir zu geben versucht haben, nen- chen zu erkennen, wohin sie gehörten, dass sie ernst ge- nen. nommen würden, und die deutlich machen, wohin die wei- Das Wichtigste ist schon genannt worden, nämlich das tere Entwicklung geht. Das sind die drei zentralen Punkte. Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung.Ich (B) Es ist keine Frage bloß der Erziehung – das geht weit da- (D) halte es für einen ganz großen Fortschritt, dass endlich rüber hinaus; wiewohl ich auch sehr dafür plädiere, dass eindeutig klargestellt ist, dass Gewalt kein geeignetes Er- die Lehrer keine modernen Akkordarbeiter werden und ziehungsmittel ist. dass sie wieder mehr Zeit finden, um in den Schulen auch soziale und persönliche Fragen zu erörtern –, sondern in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erster Linie eine Herausforderung an die Politik, unter den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der künftigen Bedingungen der globalen Welt neuesoziale PDS) und kulturelle Identitäten zu schaffen, die es den Men- Kinder, die von ihren Eltern ohne Schläge und ohne Ge- schen ermöglichen zu erkennen, wohin sie gehören. walt erzogen werden, werden besser in der Lage sein, an- Vielen Dank. deren gegenüber tolerant zu sein und Konflikte gewaltfrei zu lösen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wir sind uns sicher: Kinder und Jugendliche brauchen PDS) Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Dort, wo sie benachteiligt sind, wo sie keine Ausbildungs- und Arbeits- möglichkeiten haben, wo sie keine Perspektiven haben, Nun spricht Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: können Frustration, Aggression und Perspektivlosigkeit für die SPD-Fraktion die Kollegin Kerstin Griese. entstehen. Aus ebendieser Perspektivlosigkeit kann – muss nicht – die Flucht in gewalttätiges Verhalten resultieren. Kerstin Griese (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- Deshalb ist es uns so wichtig, den sozialen Schutz, die so- ginnen und Kollegen! Als im April 1999 im amerikani- ziale Sicherheit und die Chancen von Kindern und Ju- schen Littleton zwei Schüler ein Blutbad angerichtet ha- gendlichen zu fördern. ben, haben wir alle fassungslos nach Amerika geschaut Wir haben als Politiker die Verantwortung, günstige Be- und uns gefragt: Ist so etwas auch bei uns möglich? Lei- dingungen für das Aufwachsen von Kindern und Ju- der mussten wir diese Frage bejahen. gendlichen zu schaffen. Sie wachsen natürlich zuallererst Deshalb treibt uns die Frage um: Was sind dieUrsa- in der Verantwortung der Familie, aber eben auch – das hat chen und Hintergründe von Gewalt? Ich finde es wich- der 11. Kinder- und Jugendbericht in den Mittelpunkt ge- tig, darüber zu sprechen, und teile nicht die Einschätzung, stellt – in öffentlicher Verantwortung auf. Sozialer Schutz die hier von Frau Merkel geäußert wurde: Wer nach den und Sicherheit für Kinder und Jugendliche sind Werte, die Ursachen fragt, würde rechtfertigen. Wir müssen schauen, uns wichtig sind. Sie sind wichtig für die Zukunft unserer 25004 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Kerstin Griese (A) Gesellschaft und für ein Klima, in dem Gewalt keine Im Zusammenhang mit den schrecklichen Morden in(C) Chance hat. Erfurt ist auch über Gewalt im Internet und in Computer- spielen immer wieder – auch heute – gesprochen worden. Wenn wir dort ansetzen wollen, wo Kinder und Jugend- Es ist sicher, dass gewalthaltige Computerspiele zu einer liche benachteiligt sind, dann müssen wir beispielsweise in Desensibilisierung führen. Die Empathiefähigkeit von den sozialen Brennpunkten ansetzen. Dort fehlen Ausbil- Kindern, aber auch von Erwachsenen, die diese Compu- dungs- und Arbeitsplätze, Förder- und Unterstützungs- terspiele spielen, sinkt. Man kann erkennen, dass das An- möglichkeiten. Deshalb halte ich auch das Programm „Ent- schauen von Gewaltszenen in den Medien eine große wicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Rolle für die persönliche Konstitution und für die Ge- Brennpunkten“ – abgekürzt: E&C – für so wichtig. Es setzt fühlslage spielt: Bei den Schülern, die einen „intensiven an, um jungen Menschen aus benachteiligten Gebieten Horrorkonsum“ haben, ist eine erhöhte Aggressionsten- günstigere Bedingungen für ihre Zukunft zu schaffen. denz und – das fand ich sehr interessant – eine größere (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ängstlichkeit zu verzeichnen. Das zeigt, wie sehr Kinder DIE GRÜNEN) und Jugendliche Schutz und Sicherheit brauchen. Nur wenn es gelingt, Kindern und Jugendlichen dort ver- Meiner Ansicht nach ist das Problem, dass die meisten gleichbare Zukunftschancen wie denen in anderen Wohn- Eltern oft gar nicht wissen, was ihre Kinder am Computer vierteln zu garantieren, können Benachteiligungen aufge- spielen. Eigentlich sollten sie doch mit ihnen spielen, mit hoben werden, können Chancen eröffnet und Wegeihnen fernsehen, mit ihnen mit Internet surfen, ihnen hel- geebnet werden. Wir zeigen damit – das ist ganz wichtig –: fen, das Gesehene zu verarbeiten. Deshalb ist Medien- Wir kümmern uns um euch, um Kinder und Jugendliche. kompetenz – besser: Medienmündigkeit – so wichtig. Da setzen wir an. Die Förderung von benachteiligten Jugendlichen ist auch Ziel des Freiwilligen Sozialen Trainingsjahres. In Mit dem neuen Jugendschutzgesetz, das die Alters- diesem Trainingsjahr werden Jugendlichen soziale und kennzeichnungspflicht für Computerspiele vorsieht, ha- berufliche Schlüsselqualifikationen vermittelt. Das istben wir einen wichtigen Schritt gemacht, um Eltern, Leh- auch ein Weg zur Integration. Die Erfahrungen sind sehr rern und Erziehern die Einschätzung zu erleichtern. Ich gut. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen war danach so- bin froh, dass der Bundesrat, nachdem sich die Unions- zial besser integriert. Etwa ein Drittel hat einen Arbeits- fraktion bei der Abstimmung hier enthalten hat, diesem platz bekommen. Das hat langfristig und nachhaltig posi- Gesetz im Juni zugestimmt hat. Ich wünsche mir, dass wir tive Auswirkungen gehabt. Wegen dieser Erfolge werden noch viel stärker über Gewalt im Fernsehen diskutieren, wir die Zahl der Plätze für das Freiwillige Soziale Trai- um Wege zu finden, sie einzudämmen. ningsjahr auf 2 000 verdoppeln. (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Darstellung von Brutalität und Gewalt in allen Ein ganz wichtiger Ansatz unserer Arbeit – das Pro- denkbaren Medien darf nicht auf Kinder einwirken, als sei gramm „Gegen Gewalt und Rechtsextremismus“ war kein das eine Möglichkeit der Konfliktlösung. Gerade deshalb kurzes Strohfeuer, sondern ist langfristig angelegt – ist un- brauchen Kinder und Jugendliche in der modernen Me- ser Programm „entimon – Gemeinsam gegen Gewalt diengesellschaft feste Werte und Normen. Wir müssen das und Rechtsextremismus“. Damit werden Maßnahmen zur Bedürfnis nach Sicherheit, nach Geborgenheit, nach so- Stärkung von Demokratie und Toleranz sowie – das halte zialer Anerkennung aufgreifen. Die junge Generation er- ich für ganz wichtig – zur Prävention und Bekämpfung von wartet aber ganz besonders gute Rahmenbedingungen für Rechtsextremismus und Gewalt gefördert. Dieser Name das Aufwachsen. ist im Hinblick auf unsere Debatte ganz aussagekräftig. Unser Ziel ist es, Kinder und Jugendliche stark zu ma- „Entimon“ ist Altgriechisch und bedeutet „Würde“ und chen, damit sie selbstbewusst gegen Gewalt eintreten „Respekt“. Genau darum geht es hier, um Würde und Res- können, damit sie sich für gewaltfreie Konfliktlösungen pekt voreinander, Einfühlungsvermögen, eine Kultur des entscheiden. Das ist ein wirksamer Schutz vor Gewalt in Miteinanders und die Ablehnung von Gewalt. der Gesellschaft. Es geht um mehr Aufmerksamkeit, Ver- Dahinter verbergen sich ganz tolle Projekte, im Rah- antwortung füreinander und friedlichen Umgang mitei- men derer sich Schüler in ihren Stadtteilen engagieren, nander. Theateraufführungen und Rollenspiele anbieten, ihren Vielen Dank. Stadtteil sicher machen für Menschen anderer Hautfarbe usw. Als Beispiel nenne ich das „Kino für Toleranz“. Des- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ halb ist es mir so wichtig, in dieser Debatte deutlich zu sa- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gen, dass das Thema Gewalt nicht allein den Jugendlichen PDS) zugeschoben werden darf. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Nun spricht GRÜNEN und der PDS) für die SPD-Fraktion der Kollege Michael Roth. Die Ursachen liegen in der Mitte der Gesellschaft. Es gibt sehr viele Jugendliche, die sich gegen Gewalt engagieren. Michael Roth (Heringen) (SPD): Herr Präsident! Dafür danke ich ihnen ausdrücklich. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Asterix und Obelix, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 25005

Michael Roth (Heringen) (A) Tom und Jerry – das waren die Helden meiner Kindheit. Gesellschaft emporwachsen, ein Anlass zu großer Sorge. (C) Es waren und sind aber auch Gewalttäter. Bestimmt hat je- Die real existierende Gewalt in der Gesellschaft erzeugt der von uns in seiner Generation solche oder ähnliche Fi- Angst der Gesellschaft vor Gewalt. guren kennen und schätzen gelernt. Gewalt gehört – lei- Aber die Medien zerren Gewalt ans Licht der Öffent- der – zu unserem Leben. lichkeit. Sie geben Opfern und Tätern ein Gesicht. Das ist Gewalt ist kein Phänomen moderner Gesellschaften. durchaus verdienstvoll, weil die Gewalt, die früher hinter Gewalt hat es immer gegeben, und zwar durchweg in stär- verschlossenen Türen stattfand, durch die Medien in das kerer Form als heute. Gewalt zeigt uns immer wieder auf öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Das gilt für Kindes- neue, erschreckende Weise ihr Gesicht. Doch die Wahr- missbrauch wie Gewalt gegen die Ehefrau – ich könnte nehmung und der Umgang der Menschen, gerade junger jetzt noch viele andere schreckliche Beispiele benennen. Menschen, mit der Gewalt ist ein anderer geworden. Des- Regelmäßig erfährt man in den Medien Dinge, die bis vor halb müssen wir als politisch Verantwortliche heute an- wenigen Jahren noch ein Tabu und mit dem Mantel des dere Maßstäbe setzen.Wir müssen uns mit unserem Bild Schweigens verhüllt waren. Nichts Furchtbares scheint der Gesellschaft und mit der Bedeutung der Gewalt in der uns mehr fremd. Gesellschaft offen und kritisch auseinander setzen. Doch hat die Veröffentlichung von Gewalt durch die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Medien auch ihre Kehrseite: Gleichwohl die jährlichen DIE GRÜNEN) Zahlen gerade bei Gewalttaten im privaten Raum in den „Was ist Gewalt anderes als Vernunft, die verzwei-70er-Jahren etwa doppelt so hoch waren wie in den ver- felt?“, fragte einst Gotthold Ephraim Lessing. In letzter gangenen Jahren, vermitteln Schlagzeilen und Skandal- Konsequenz müssen wir mit der Gewalt leben lernen,nachrichten ein anderes Bild: Ständig ist von einer rapi- wird Gewalt immer Bestandteil unserer Gesellschaft sein. den Zunahme tragischer Gewalt die Rede, einzelne Fälle Deswegen dürfen wir sie aber niemals als schicksalhaft werden in reißerischer Manier der Öffentlichkeit präsen- akzeptieren, niemals als selbstverständlich oder gar nor- tiert. Damit entsteht der Wettbewerb um die mitreißends- mal ansehen. te Story oder das schockierendste Ereignis; und alle sind eingeladen mitzumachen. Ein Gewaltereignis, wie wir es in Erfurt erlebt haben, dürstet nach der Benennung von Ursachen und nach Er- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei gibt es durchaus klärungen. Dass wir heute im Bundestag über die diffe- Entwicklungen, die uns hoffen lassen dürfen. Das Gespür renzierte Bedeutung von Gewalt in unserer Gesellschaft für eine zivile, humane Gesellschaft wird beständig stärker. reden, ist sicher auch ein Eingeständnis: Wir sind biswei- Gerade junge Menschen verleihen ihrer Skepsis gegenüber len sprachlos, ja ratlos. Wir suchen nach Antworten. Wir der Konfliktlösung mittels Gewalt Ausdruck. Viele von uns (B) neigen aber auch aus gutem Grund zu Skepsis gegenüber wurden doch in den vergangenen Monaten in Gesprächen (D) vorschnellen, einfachen Antworten. Wir haben schlicht mit Schulklassen und Jugendgruppen mit der Infragestel- keine Patentrezepte. lung von militärischer Gewalt als Mittel der Politik kon- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ frontiert. Ich habe dies immer auch als Mahnung verstan- DIE GRÜNEN) den, unseren Weg unablässig kritisch zu überprüfen. Ich habe es als Bestätigung für unsere, vor allem von jungen Bei aller Notwendigkeit zur Gemeinsamkeit, die wir in Menschen getragene zivile Gesellschaft gesehen, in der den heutigen Reden betont haben, möchte ich aber auch Konflikte zunehmend eben auch zivil gelöst werden kön- darauf hinweisen, dass ich mit dem, was beispielsweise nen. Leider lassen sich solche Mut machenden Entwick- Frau Merkel aus ihrer Sicht geschildert hat, nicht über- lungen nicht so gut und quotenträchtig kommunizieren wie einstimme. Ich habe eine andere Vorstellung von gemein- eine Gewalttat, wie ein Skandal oder der peinliche Exhibi- schaftlichem und gesellschaftlichem Zusammenleben. tionismus so mancher Nachmittagstalkshow. Für mich ist das Rollback in die 50er-Jahrekein zu- kunftsweisendes Konzept. Ich kann mich auch nicht mit Ich halte es ebenso für angebracht, dass wir Politikerin- den Vorstellungen von Frau Pau identifizieren, die imnen und Politiker uns selbstkritisch fragen, wie weit wir zu Prinzip – ich überspitze das jetzt einfach einmal – deut- gehen bereit sind, um das öffentliche Interesse auf uns zu lich gemacht hat: Der böse Kapitalismus ist allein an al- lenken. Fallschirmsprünge, Containerbesuche, Hetze gegen lem schuld. Ich glaube, dass wir es uns so einfach nicht Minderheiten, der Plausch aus dem privaten Wohnzimmer machen können. verheißen zwar Schlagzeilen. Doch dürfen wir dabei nicht übersehen, dass wir mit dieser Veröffentlichung des Priva- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten dem skandalorientierten Zusammenspiel von Ex- DIE GRÜNEN) hibitionismus einerseits und Voyeurismus andererseits, den Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Schlagwortwir ja unablässig beklagen, selber Nahrung geben. taucht bei unserer mühsamen Suche immer wieder auf: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Verantwortung der Medien. Das Urteil über die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Rolle der beobachtenden, beschreibenden, ordnenden und PDS) kommentierenden Medien verharrt dabei oft im Stadium der plumpen Medienschelte. Die Position der Medien als Ich plädiere daher nicht nur an die Verantwortung der Auslöser, Transporteur, Verführer oder Aufklärer sollte Medien. Wir alle tragen Verantwortung, vor allem wir Po- ausgewogen beurteilt werden. Selbstverständlich sindlitikerinnen und Politiker. Das Kalkül auf Publizität darf schreckliche Gewalthandlungen, die in der Mitte unserer nicht zum Dammbruch jeglicher Werte führen, auch und 25006 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

Michael Roth (Heringen) (A) gerade nicht in puncto Gewalt. Wir müssen Werte vorle- Der Schock hat uns alle erschüttert und gelähmt. Der (C) ben, nicht nur erklären. Jede Generation ist nur so gut wie Gedanke an diesen Tag tut es sicherlich noch heute. Die die Gesellschaft, in der sie aufwächst und ihren Platz fin- erstaunliche Erfahrung für mich war allerdings, dass det. Und so geht es nicht einzig um Verbote und Restrik- große Gefahr und Gewalt uns Menschen wieder näher tionen, sondern um die Vermittlung und Plausibilität eines zusammenrücken lassen. Es hat Zusammenhalt und So- Gegenentwurfes von Gewalt,hin zu einer Erziehung, lidarität gegeben, einen Gemeinsinn, wie ich ihn in Er- die die Fähigkeit zur kritischen Bewertung erlebter Ge- furt und auch sonst in Deutschland seit der Wendezeit walt ermöglicht. Jugendliche müssen lernen, Verantwor- nicht mehr erlebt hatte. Ich hoffe, dass über das Bild von tung zu tragen. Sie müssen differenzieren und abwägen der schrecklichen Gewalttat hinaus auch dieses Bild mei- lernen. Kinder und Jugendliche wollen nicht abgeschottet ner Heimatstadt in Erinnerung bleibt und dass die Stadt und unter Biotopschutz gestellt werden. Eine wachsende nicht stigmatisiert wird. staatliche Kontrolle bringt uns nicht viel weiter. Ich bin Ich möchte an dieser Stelle besonders denErfurter davon überzeugt: Selbstbestimmung ist lernbar und ver- Kirchen danken. Sie haben ihre Türen sehr schnell geöff- mittelbar. net und einer nahezu säkularisierten Gesellschaft einen „Die Gewalt lebt davon, dass sie von AnständigenOrt der Trauer gegeben, einen Ort, der der Gemeinschaft nicht für möglich gehalten wird.“ Das sagte Jean-Paul geholfen hat, das Entsetzen zu verarbeiten. Ich möchte Sartre. Wir brauchen daher immer wieder, nicht nur am auch allen Bürgern dieses Landes für ihre zum Ausdruck 9. November, einen Aufstand der Anständigen, tagtäglich, gebrachte Anteilnahme und die immer wieder großzügig in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz. angebotene Hilfe danken. Es war gut, zu wissen, dass wir nicht allein sind. Auch wir Politiker müssen und können Vorbild sein. Der bevorstehende Wahlkampf bietet uns allen dieEs gab aber auch Ängste und erste Reaktionen, die zu Chance, unsere Wortgewalt nicht allzu unüberlegt einzu- Überreaktionen geführt haben. Ich selbst bin Präsident setzen. Denken wir stets daran: Womöglich hört uns je- eines großen Sportvereins in Erfurt. Der Täter wie auch mand zu. sein Bruder waren dort Mitglied. Die Mitglieder seiner Handballmannschaft wurden in einer Thüringer Zeitung Vielen Dank. mit Bild veröffentlicht und danach von den Lehrern und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schülern in Sippenhaft genommen. Das hat dazu geführt, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der dass sie sehr stark verunsichert waren und Hilfe gebraucht PDS) haben. Das hat sich geklärt. Ich bin sehr froh darüber und wünschte mir, dass diese Art und Weise des miteinander Lebens weiterhin möglich ist. (B) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters:Als letzter (D) Redner in dieser Debatte hat der Kollege CarstenVerkraftet haben sie es trotzdem nicht, bis heute nicht. Schneider für die SPD-Fraktion das Wort. Ich habe in Erfurt mit vielen Menschen gesprochen. Viele haben regelrecht das Gespräch gesucht. Der Schock saß (Dr. [FDP]: Jetzt lassen bei allen tief: Das ist bis heute noch der Fall. die die ganzen Kinder reden!) Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Egal wie wir das Schul- und das Bildungssystem verändern – darüber (SPD): Das habe ich gehört! Sie Carsten Schneider wurde heute viel gesprochen –, egal wie gut wir die früh- werden trotzdem gestatten, dass ich hier rede. – Liebe Kol- kindliche Betreuung fördern: Keine staatliche Stelle kann leginnen und Kollegen! Ich bin Erfurter, vertrete diesen Erziehung, Zuwendung und Liebe des Elternhauses er- Wahlkreis hier im Bundestag, bin in dieser Stadt aufge- setzen. Im Elternhaus wird der Grundstein für die Bildung wachsen, habe dort Freunde gefunden und Verletzungen jeder Persönlichkeit gelegt. Dieser Grundstein ermöglicht erlitten. Ich habe sie noch immer geliebt und ich liebe diese es, sich über den eigenen Wert und über die Würde eines Stadt. Wer schon einmal dort war, weiß: Sie ist wunder- anderen Menschen bewusst zu werden. schön, klein und fein, die Menschen sind sehr freundlich, gastfreundlich, und es herrscht ein sehr angenehmes Ich wünsche mir, dass es gerade im Elternhaus mehr Klima. Jeder kennt jeden. Umso betroffener waren dieZeit gäbe, sich mit den Kindern auseinander zu setzen, Menschen über die Gewalttat am Gutenberg-Gymnasium den kritischen Dialog zu suchen und sich anzuschauen, und umso tiefer die Wunden, die sie hinterlassen hat. welche Computerspiele sie spielen. Kurz nach der Bluttat gab es eine sehr heftige Diskussion – sie besteht bis heute Niemand, der nicht vor Ort war, kann nachvollziehen, fort –, welche Computerspiele verboten werden müssten. was solch eine schreckliche Tat für eine Stadt wie Erfurt bedeutet. Sie hat das öffentliche Leben in der Stadt er- Ein Spiel, das immer wieder genannt wird, ist das Spiel stickt. Die Menschen haben sich über eine Woche in ihre Counterstrike. Ich weiß nicht, wie viele in diesem Ho- Privatsphäre zurückgezogen. – Auch ich habe, wie Katrin hen Hause dieses Spiel schon einmal gespielt haben und Göring-Eckardt, die Trauerfeier und das, was danach sich tatsächlich eine Meinung darüber bilden konnten. Ich war, als eine Befreiung empfunden. – Die Cafés und Knei- selbst habe es nach dem schrecklichen Geschehen aus- pen waren wie leer gefegt. Es gab eine Suche nach Halt, probiert, weil ich von vielen Jugendlichen angesprochen nach Sicherheit und auch nach dem Alltag, wie er früher wurde, die Unverständnis über die Forderung nach einem war. Man konnte in den Gesichtern der eigentlich fremden Verbot geäußert haben. Nicht jeder, der Computerspiele und doch wieder nahen Menschen auch Sorge sehen. spielt – ich selbst habe das in meiner Jugendzeit getan –, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 25007

Carsten Schneider (A) ist ein potenzieller Gewalttäter. Aus diesem Grund mahne des Thüringer Schulsystems demonstriert, was vor allen (C) ich zur Vorsicht. Ich warne vor Schnellschüssen, weil ich Dingen den Abschluss bei Abbruch des Gymnasiums be- glaube, dass vorschnelle Forderungen ins Leere laufen. trifft. Bis heute gibt es keine entsprechende Regelung. Sie würden nur zu einer größeren Sprachlosigkeit führen, anstatt bestehende Defizite zu beseitigen. (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Hört! Hört!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Ich kann die Enttäuschung von vielen Schülern an dieser Stelle verstehen. Angesichts der Tat von Erfurt wurden viele drängende Fragen gestellt; viele davon werden wir wahrscheinlich (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nie beantworten können. Wir müssen aber politische Kon- GRÜNEN und der PDS) sequenzen ziehen. Das ist zum Teil schon geschehen. Ich Ich kann Sie nur auffordern, Ihren guten und gesetzten möchte noch einige Punkte hinzufügen. Worten des heutigen Tages auch Taten folgen zu lassen; Die wichtigste Erkenntnis nach den Geschehnissen denn diese sind notwendig. und nach dem Prozeß, den viele Schüler in den Wochen Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf uns lastet viel danach durchmachen mussten, ist für mich, dassBil- Verantwortung. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen dungspolitik die höchste Priorität hat. Das sollten wir aus heute die Debatte verfolgt haben und Hoffnung daran der heutigen Debatte mitnehmen. knüpfen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diese Hoffnung nicht enttäuscht wird und dass den ange- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sprochenen Punkten auch tatsächlich Taten folgen. Die PDS) guten Vorsätze dürfen nicht im Keim erstickt werden. Da- rum bitte ich Sie. Natürlich gehört in diesen Zusammenhang die Frage nach dem Schulabschluss und den Möglichkeiten der Le- Vielen Dank. bensgestaltung. Ich selbst habe Abitur gemacht, danach (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine Banklehre. Es ist für einen Realschüler aufgrund der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ausbildungsplatzsituation fast nicht möglich, diesen Be- PDS und des Abg. Eckart von Klaeden ruf zu erlernen, obwohl der Schulabschluss ausreichen [CDU/CSU]) würde. Gerade für Realschüler ist es schwierig, attraktive Ausbildungsstellen zu bekommen. Ich kann an dieser Stelle nur an die Unternehmen appellieren, auch qualifi- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich schließe (B) zierten Haupt- und Realschülern einen Lehrvertrag und die Aussprache. (D) damit eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt zu geben. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nung. DIE GRÜNEN) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Herr Kollege Vogel, Sie haben Ihre Regierungser-tages auf morgen, Donnerstag, den 4. Juli 2002, 9 Uhr, klärung im Thüringer Landtag heute noch einmal vorge- ein. tragen. Darin mahnen Sie eine Kultur des Zuhörens an. Die Sitzung ist geschlossen. Ich halte das für absolut richtig. 4 000 Schüler haben in Erfurt vor der Staatskanzlei für eine schnelle Änderung (Schluss: 16.29 Uhr)

Berichtigung 245. Sitzung, Seite 24785 (B), Zweiter Absatz, der erste Satz ist wie folgt zu lesen: „Zur Ehrenrettung der geprüften Verwal- tungen sei allerdings gesagt: Jährlich verlassen den Hof und seine Prüfungsämter Hunderte von Prüfungsmitteilungen.“

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 25009

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten – Beschlussempfehlung und Bericht: Mehr Frauen an die Spitze von Wissenschaft und Forschung – durch Gender Mainstreaming Frauen in Wissen- entschuldigt bis schaft und Forschung stärken Abgeordnete(r) einschließlich – Beschlussempfehlung und Bericht: Ressortfor- schung überprüfen – Effizienz der Forschung stei- Bierwirth, Petra SPD 03.07.2002 gern Friedrich (Altenburg), SPD 03.07.2002 – Beschlussempfehlung und Bericht: Peter – Die Brennstoffzelle – Technik des 3. Jahrtau- Dr. Grygier, Bärbel PDS 03.07.2002 sends Hauer, Nina SPD 03.07.2002 – Technikfolgenabschätzung: hier: TA-Projekt „Brennstoffzellen-Technologie“ Hilsberg, Stephan SPD 03.07.2002 – Antrag: Eine neue Offensive für eine moderne For- Irmer, Ulrich FDP 03.07.2002 schungspolitik – Antrag: Wissenschaft und Forschung als Motor der Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 03.07.2002 gesellschaftlichen Entwicklung und des wirtschaft- Karl A. lichen Aufschwungs in Deutschland nutzen Leidinger, Robert SPD 03.07.2002 (246. Sitzung, Tagesordnungspunkt 27, Zusatztages- ordnungspunkt 15 und 16) Mante, Winfried SPD 03.07.2002

Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 03.07.2002 Jörg Tauss (SPD): Für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland und für eine exportorientierte Wirtschaft hat Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 03.07.2002 die Innovationsfähigkeit von Wissenschaft und Wirtschaft Seehofer, Horst CDU/CSU 03.07.2002 eine kaum zu überschätzende zentrale Bedeutung. Eine hohe gesellschaftliche Innovationsfähigkeit setzt aller- (B) Thiele, Carl-Ludwig FDP 03.07.2002 dings nicht nur eine hohe Qualität der Aus- und Weiter- (D) bildungseinrichtungen voraus, über die derzeit kontrovers Türk, Jürgen FDP 03.07.2002 diskutiert wird. Auch die technologische Leistungsfähig- Welt, Jochen SPD 03.07.2002 keit eines Landes und die Qualität seiner Forschung sind wichtige Elemente der notwendigen Rahmenbedingun- Dr. Westerwelle, Guido FDP 03.07.2002 gen für Innovationen und neue Arbeitsplätze, die nach- haltiges Wachstum fördern sowie den Strukturwandel be- Wieczorek (Duisburg), SPD 03.07.2002 schleunigen und zugleich bewältigbar halten. Erst eine Helmut moderne Forschungs- und Technologiepolitik stellt die Wissenschaft und die neuen Technologien in den Dienst Wiesehügel, Klaus SPD 03.07.2002 der Menschen und schafft die Grundlagen für gesell- schaftliche Entwicklung, wirtschaftliches Wachstum und kulturelle Vielfalt. Anlage 2 Diesem Ziel einer modernen Forschungs- und Techno- Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede logiepolitik, die Wissenschaft und Technik nicht als Selbstzweck versteht, sondern als Chance und Mittel für zur Beratung: eine positive gesamtgesellschaftliche Entwicklung, hat sich die rot-grüne Bundesregierung und haben sich die – Große Anfrage: Forschungsförderung in Deutsch- Koalitionsfraktionen seit 1998 verschrieben. Es verwun- land dert daher nicht, dass heute am Ende der Legislaturperi- – Unterrichtung: Bericht zur technologischen Leis- ode die Bilanz der rot-grünen Bundesregierung mehr als tungsfähigkeit Deutschlands 2001 und Stellung-beeindruckend ist: nahme der Bundesregierung Auch wenn Sie von der Opposition es nicht hören wol- – Beschlussempfehlung und Bericht: len, wiederhole ich gern, dass diese Bundesregierung den Negativtrend der schwarz-gelben Koalition umgekehrt – Förderung der Energiespeicherforschung hat. Rot-Grün hat den Haushalt für Bildung und For- – Gegen ein Forschungsverbot in der Gashydrat- schung seit 1998 um über 21 Prozent erhöht, und das trotz forschung der notwendigen und richtigen Politik einer Haushalts- konsolidierung. Zwischen 1993 und 1998 waren unter der – Faktenbericht Forschung 2002 zum Bundesbe- CDU/CSU-FDP-Koalition die Ausgaben des BMBF noch richt Forschung 2000 um circa 360 Millionen Euro abgesenkt worden. 25010 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

(A) Zudem ist diese Bundesregierung vom Gießkannen- anmeldungen der weltweit innovativste und nur folge-(C) prinzip weggegangen und hat zunehmend zielorientiert in richtig mit fast 20 Prozent auch Weltmarktführer. Hier wie zukunftsträchtige Schlüsselbereiche investiert und damit im Automobilbau zahlt sich insbesondere die intensive die zukünftige Leistungsfähigkeit Deutschlands gestärkt. partnerschaftliche Zusammenarbeit von Wissenschaft So hat das BMBF seit 1998 die Projektförderung um über und Wirtschaft aus. Der Verbundgedanke verbindet auf 43 Prozent erhöht. Diese Mittel fließen in innovative For- offenbar sehr erfolgreiche Weise innovative und techno- schungsfelder wie IT-Technologie, Biotechnologie und logische Leistungsfähigkeit mit der notwendigen Markt- Medizin sowie in die Forschung für eine umweltgerechte orientierung und zahlt sich eben auch in Markterfolg und nachhaltige Entwicklung. in hervorragenden Exportchancen aus. Gemessen am An- teil an der Wertschöpfung können wir sowohl bei den wis- Diese Bundesregierung hat die notwendigen struktu- rellen Reformen der deutschen Forschungslandschaft an- sensintensiven Dienstleistungen mit 29 Prozent, als auch gepackt, und dies sowohl institutionell – verwiesen sei auf bei den forschungsintensiven Industrien mit 13 Prozent die Fusion von Fraunhofer-Gesellschaft und GMD oder den Vergleich mit den USA bestehen. auf die Neuordnung der Helmholtz-Gemeinschaft – als Die Wirtschaft hat ihre Aufwendungen für Forschung auch instrumentell durch die Stärkung der Projektförde- und Entwicklung dem Bericht zufolge 2001 nochmals um rung gegenüber der institutionellen Förderung. Auch dies 4,5 Prozent erhöhen können. Die Innovationsaufwendun- ist kein Selbstzweck. Vielmehr bedeutet Projektförderung gen der Industrieunternehmen erreichten 2001 mit circa mehr Flexibilität, mehr Wettbewerb und mehr Qualität. 60 Milliarden Euro einen historischen Höchststand. Noch Zu den wichtigen strukturellen Reformen gehörenwichtiger ist in diesem Zusammenhang sogar, dass auch die auch die Einführung der Juniorprofessur und die Reform gesamtwirtschaftliche FuE-Intensität auf 2,5 Prozent ange- der Professorenbesoldung. Durch diese hat die Bundesre- stiegen ist. Laut Bericht sind seit 1998 die FuE-Aufwen- gierung die Voraussetzungen geschaffen, damit die deut- dungen der Unternehmen sogar um 23 Prozent gewachsen. schen Hochschulen und Forschungseinrichtungen durch Hierbei ist aber zu beachten, dass dieser Anstieg vor allem attraktive Arbeitsbedingungen sowie flexiblere und leis- auf Kapazitätsausweitungen von Großunternehmen des tungsorientierte Vergütungen die für ihre ForschungAutomobilbaus, der Elektro- und Pharmaindustrie und der benötigten Spitzenkräfte – auch aus dem Ausland oder aus Nachrichtentechnik zurückgeht und weniger auf KMUs. der Wirtschaft – gewinnen können. Dies ist auch auf den nach wie vor herrschenden Fachkräf- temangel zurückzuführen, der besonders die KMUs trifft. Diese Bundesregierung hat die wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen in den neuen Ländern mit Der Bericht belegt, dass die deutsche Wirtschaft im jährlich über 1,5 Milliarden Euro gestärkt und damitStrukturwandel zur Wissenswirtschaft zunehmend an Dy- namik gewinnt und weiter vorankommt. Fast eine halbe (B) wichtige Impulse zum Ausbau regionaler Innovationspo- (D) tenziale und zukunftsfähiger Arbeitsplätze gegeben. Million neuer und zukunftssicherer Arbeitsplätze sind ist 1997 in den forschungsintensiven Industrien oder im wis- Diese Bundesregierung hat die Frauenförderung zu ei- sensintensiven Dienstleistungsbereich entstanden. Hierzu ner vordringlichen Aufgabe gemacht, weil ein moderner haben nicht nur so genannte technologieorientierte Grün- Forschungsstandort darauf angewiesen ist, Frauen eine dungen und Verwertungsgründungen – so genannte Spin- gleichberechtigte Teilhabe an Forschung und Lehre zu er- offs – beigetragen. Über 67 000 Gründungen in for- möglichen und das gesamte wissenschaftliche Potenzial schungs- und wissensintensiven Branchen in 2000, davon der Gesellschaft zu nutzen. Der Antrag der Koalitions- allein 6 400 im Multimedia-Bereich, sprechen hier eine fraktionen „Mehr Frauen an die Spitze von Wissenschaft eindeutige Sprache, auch wenn erwartet werden muss, das und Forschung“, den wir heute mitberaten, zeigt einmal diese Dynamik sich in 2001 abgeschwächt hat. Für den mehr, dass diese Koalition es nicht bei Lippenbekenntnis- schnellen und marktorientierten Wissenstransfer von der sen belässt. Forschung in die Anwendung und die Produktion und da- Die Regierungskoalition hat von Anbeginn die zentrale mit für die Bewältigung des Strukturwandels ist diese Bedeutung einer modernen Bildungs- und Forschungspo- Gründungsdynamik und sind gerade die Spin-offs von litik für eine innovationsfähige und auch innovationsfreu- kaum zu überschätzender Bedeutung. Hier zahlt es sich dige Wissenschaft und Wirtschaft ernst genommen. So zudem aus, dass diese Bundesregierung, wie gesagt, das belegt auch der Bericht zur technologischen Leistungsfä- Gießkannenprinzip aufgegeben hat und zunehmend dem higkeit Deutschlands 2001 deutlich, dass sich auch die in- Prinzip Projektförderung in identifizierten Schlüsseltech- ternationale Wettbewerbssituation für das deutsche Inno- nologien folgt. Damit sind wir in der Lage, uns gerade in vationssystem seit 1998 deutlich verbessert hat. Zu den den Technologiebereichen von morgen und übermorgen wichtigsten Einzelergebnissen zählen meines Erachtens bereits heute eine hervorragende Ausgangslage zu er- fünf Punkte: arbeiten. Dies gilt derzeit insbesondere für den zukunfts- trächtigen Bereich der optischen Technologien, der sich Deutschland ist insbesondere im Automobilbau, im anschickt, als neue Grundlagentechnologie eine große po- Maschinenbau und bei den wissensintensiven Dienstleis- sitive wirtschaftliche Dynamik in zahlreichen Wirt- tungen international Spitzenklasse. Fast schon traditionell schaftsbranchen auszulösen. Auch hier sind wir also in ei- sind wir der Lead Market sowohl für die Auto- als auch ner hervorragenden Ausgangslage. für die Maschinenbauindustrie. Der Maschinenbau ist oh- nehin mit fast einer Million Beschäftigten und 150 Milli- Deutlich dokumentiert der Bericht ebenfalls die beson- arden Euro Umsatz eine der Kernbranchen Deutschlands. deren Probleme der ostdeutschen FuE-Landschaft. Nicht Der deutsche Maschinenbau ist gemessen, an den Patent- nur, dass noch immer lediglich 8 Prozent des FuE-Perso- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 25011

(A) nals oder auch nur 4,5 Prozent der FuE-Aufwendungen nachhaltig verbessert und strukturelle Reformen (C) im Deutschlands auf die neuen Länder entfallen, darüber hi- Hochschulbereich und in der deutschen Forschungsland- naus konnte auch die Kluft zur westlichen industriellen schaft mit Nachdruck angepackt. Sie sehen, meine sehr Forschung auch aufgrund der kleinbetrieblichen Unter- verehrten Damen und Herren von der Opposition, nehmensstruktur nicht verringert werden. Aber auch posi- während Sie bei offenen Fragen und beim unverbindli- tive Indizien sind ableitbar, etwa die Steigerungen der chen „Man könnte mal“ stehen bleiben, hat diese Koali- Auslandsumsätze forschungsintensiver Sektoren in den tion bereits Antworten gegeben und Lösungen erarbeitet. neuen Ländern um jährlich 19 Prozent seit 1993 oder auch Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen: Der die teilweise hohe und mit dem Westen vergleichbare For- vorgelegte Bericht zur technologischen Leistungsfähig- schungsintensität in einigen Branchen – wenn auch diese keit 2001 und auch der Faktenbericht Forschung be- noch ein zu geringes gesamtwirtschaftliches Gewicht ha- schreiben Stärken und erfreuliche Entwicklungen des ben. Keiner kann und niemand will bestreiten, dass es hier deutschen lnnovationssystems insgesamt. Sie belegen, noch einiges zu tun gibt. dass sich die Position Deutschlands im internationalen Schließlich belegt der Bericht auch den zunehmenden Forschungs- und Technologiewettbewerb weiter verbes- Trend der Internationalisierung von Entwicklung undsert hat. Dies trägt nicht nur zur Sicherung der wirtschaft- Forschung. Dabei gehen überproportional die anwen-lichen und wissenschaftlichen Zukunft in Deutschland dungsorientierten Entwicklungsbereiche der Unterneh- bei, sondern schafft zukunftssichere Arbeitsplätze und be- men ins Ausland, wobei die forschungsintensiven Berei- stätigt nachdrücklich die moderne Forschungs- und Tech- che mit hoher Patentintensität überwiegend weiterhin in nologiepolitik der rot-grünen Bundesregierung. Unter Deutschland bleiben. Dies belegt aber einmal mehr, dass dieser Bundesregierung haben Bildung und Forschung wir im internationalen Wettbewerb zunehmend Anstren- wieder die höchste Priorität erhalten. Bereits dies ist gungen unternehmen müssen, um ausreichend und hinrei- Grund genug, diesen erfolgreichen Weg weitere vier Jahre chend qualifizierte Fachkräfte auszubilden und um auch fortzusetzen. aufgrund des akuten Fachkräftemangels die besten Köpfe an unsere Institute und in unsere Unternehmen zu holen. Die Attraktivität des Studien- und auch Forschungsstand- Anlage 3 ortes Deutschland gilt es nachhaltig zu erhöhen und inter- national auszurichten. Antwort Noch wichtiger aber als diese aktuellen Zahlen und zu- des Staatsministers Dr. Christoph Zöpel auf die Frage des gleich noch schmerzlicher sind meines Erachtens dieAbgeordneten Hartmut Koschyk (CDU/CSU) (Druck- Empfehlungen und Maßnahmenvorschläge der sechs For- sache 14/9635, Frage 1): (B) schungsinstitute, die diesen Bericht verfasst haben: Diese (D) Hat die Bundesregierung davon Kenntnis, dass laut „Frank- Bundesregierung hat bereits mit der Umsetzung beinahe furter Allgemeine Zeitung“ vom 26. Juni 2002 die polnischen jeder Empfehlung oder jeder Forderung der Experten- Rechtsakte, welche die Enteignung und Vertreibung von Personen gruppe begonnen, auf jede Frage haben wir bereits eine deutscher Nationalität aus den damals deutschen Ostgebieten be- Antwort geben können. Wir haben Bildung und For- stimmt haben, schon im Jahr 1989 durch eine Entscheidung des polnischen Sejm aufgehoben worden sind, und wird sich die Bun- schung wieder dahingebracht, wo es hingehört, nämlich desregierung gegenüber der polnischen Regierung um Aufklärung in den Mittelpunkt einer modernen Innovationspolitik. dahingehend bemühen, welche Rechtsqualität und -gültigkeit die 1) Diese Bundesregierung hat den Haushalt für Bildung oben genannten Rechtsakte haben? und Forschung seit 1998 um 21 Prozent erhöht. Sie hat die Nach Kenntnis der Bundesregierung wurden in Polen Fördermittel für Bildung und Forschung in den neuen Län- in den vergangenen Jahrzehnten folgende, mit der Ver- dern auf 2 Milliarden Euro 2002 erhöht und für diese För- treibung von Deutschen (neben deutschen Staatsan- derprogramme wie „Inno-Regio“ und auch „NEMO“ ini- gehörigen aus den ehemaligen Ostgebieten auch Deut- tiiert. Sie hat im Technologiebereich mit dem BTU- und sche aus der ehemaligen Freien Stadt Danzig und dem Exist-Programm eine Gründungsdynamik ohne Bei- Angehörige der deutschen Minderheit in Polen) in Zu- spiel begleitet. Sie hat auch die KMUs in ihrer Förderpo- sammenhang stehende Rechtsakte aufgehoben: litik durch die Erhöhung der Forschungsförderung um 50 Prozent seit 1998 und durch spezielle Förderpro- Das Dekret vom 6. Mai 1945 über „das verlassene und gramme wie zum Beispiel „Mikrosystemtechnik 2000+“ aufgegebene Vermögen“ wurde zunächst ersetzt durch das in den Mittelpunkt gestellt. Diese Bundesregierung hat be- Dekret vom 8. März 1946 über „das verlassene und ehe- reits wie gefordert besondere Programme für die Schlüs- mals deutsche Vermögen“, das wiederum durch Art. 100 seltechnologien für die Märkte von morgen aufgelegt, wie des „Gesetzes vom 29. April 1985 über die Bodenbewirt- etwa jüngst „Optische Technologien – Made in “ schaftung“ (Polnisches Gesetzblatt Nr. 22/1985) mit Wir- mit insgesamt 280 Millionen Euro für fünf Jahre. kung für die Zukunft außer Kraft gesetzt wurde. Sie hat sich in einer breiten IT-Offensive des akuten Das Dekret vom 4. November 1944 über das Ergreifen Fachkräftemangels angenommen und mit der Greencard- von „Sicherheitsmaßnahmen im Zusammenhang mit Volks- Initiative bisher 11 500 Arbeitverhältnisse sowie mit den verrätern“ wurde ebenso wie das Gesetz vom 6. Mai 1945 neuen IT- und Medienberufen allein bis Ende 2001 über über den „Ausschluss feindlicher Elemente aus der 70 000 Ausbildungsverträge ermöglicht. Last but not least hat diese Bundesregierung mit dem Zuwanderungsgesetz die Rahmenbedingungen für ausländische Studierende 1) siehe hierzu auch Frage 14 25012 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

(A) Gesellschaft“ durch das Dekret über die Abschaffung der Steuerabzug beim Erwerb von Bauträgern oder bei Insol- (C) Sonderstrafgerichte vom 17. Oktober 1946 (Polnisches venz des Bauunternehmens. Durch die Überarbeitung des Gesetzblatt 59/1946) aufgehoben. BMF-Schreibens wird die Praktikabilität des Steuerab- zugs insgesamt verbessert. Das Gesetz vom 28. April 1946 über die „Staatsan- gehörigkeit des polnischen Staates (sic) von Personen pol- nischer Nationalität, die in den wiedererlangten Gebieten Anlage 5 wohnhaft sind“ sowie das Dekret vom 13. September 1946 über den „Ausschluss von Personen deutscher Antwort Volkszugehörigkeit aus der Gesellschaft“ wurden aufge- hoben durch das Staatsangehörigkeitsgesetz vom 8. Mai des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerald Thalheim auf die 1951 (Polnisches Gesetzblatt 4/1951). Fragen des Abgeordneten Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) (Drucksache 14/9635, Fragen 4 und 5): Ist die Bundesregierung bereit, sich in Brüssel für eine Fort- Anlage 4 setzung der Milchmengengarantieregelung einzusetzen? Welche Maßnahmen zur Marktstabilisierung ergreift die Bun- Antwort desregierung in Brüssel, um dem sinkenden Milchpreis entgegen- der Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks auf die zuwirken? Fragen des Abgeordneten Klaus Hofbauer (CDU/CSU) (Drucksache 14/9636, Fragen 2 und 3): Zu Frage 4: Hat die durch das „Gesetz zur Eindämmung der illegalen Die Garantiemengenregelung Milch ist im Rahmen der Betätigung im Baugewerbe“ vom 30. August 2001 eingeführte Agenda 2000 bis zum 31. März 2008 verlängert worden. Regelung des Steuervorabzuges bei Bauleistungen – so genannte Die EU-Agrarminister haben sich verpflichtet, auf der Bauabzugsteuer – nach Kenntnis der Bundesregierung bei kleinen und mittelständischen Unternehmen zu Liquiditätsnachteilen und Grundlage eines Berichtes der Kommission eine Zwi- erheblich gesteigertem Verwaltungsaufwand geführt, und wie be- schenbewertung mit dem Ziel vorzunehmen, das derzei- urteilt die Bundesregierung die Auswirkungen dieser Regelung? tige Quotenregime auslaufen zu lassen. Welche Vereinfachungen für das Abzugs- und Anrechnungs- Die EU-Kommission hat angekündigt, sich im Rah- verfahren der Bauabzugsteuer beziehungsweise für die Erteilung der Freistellungsbescheinigungen wird das bereits für die erste men der anstehenden Zwischenbewertung nicht nur auf Junihälfte 2002 vorgesehene zweite BMF-Schreiben – BMF: Bun- die Prüfung eines möglichen Quotenausstieges zu be- desministerium der Finanzen – zur Bauabzugsteuer beinhalten? schränken. Vielmehr sollen darüber hinaus weitere – zu- sätzliche – Optionen für eine künftige Gestaltung der (B) Zu Frage 2: EU-Milchmarktordnung dargelegt und bewertet werden. (D) Der Bundesregierung ist nicht bekannt, dass durch den Da sowohl im Hinblick auf die zeitliche Perspektive Steuerabzug bei Bauleistungen Liquiditätsnachteile und einer künftigen Neugestaltung der EU-Milchmarkt- ein erheblich gesteigerter Verwaltungsaufwand bei kleinen ordnung wie auch im Hinblick auf die konkrete Aus- und mittelständischen Unternehmen eingetreten seien. In gestaltung einzelner Optionen und deren Auswirkungen den allermeisten Fällen kommt es gar nicht zu einem Steu- Klärungsbedarf besteht, will die Bundesregierung zu- erabzug. Die Finanzämter erteilen die Freistellungsbe-nächst den Bericht und die Erläuterungen der EU-Kom- scheinigungen kurzfristig und unbürokratisch. Es sind in- mission hierzu abwarten. Erst wenn die Einzelheiten für zwischen über 620 000 Freistellungsbescheinigungen an die Gestaltung der einzelnen Optionen bekannt sind, wird die betroffenen Unternehmer ausgegeben worden. Damit die Bundesregierung hierzu Stellung nehmen. ist eine flächendeckende Versorgung erreicht. Für die Un- ternehmer ergeben sich insoweit keine Liquiditätsnach- Zu Frage 5: teile durch den Steuerabzug und auch kein erhöhter Ver- Zur Marktstabilisierung sieht die gemeinsame Markt- waltungsaufwand. organisation für Milch und Milcherzeugnisse unter ande- Ferner wird ein wissenschaftliches Gutachten zur Eva- rem die Intervention von Butter und Magermilchpulver luierung des Gesetzes in Auftrag gegeben. Es bleibt abzu- vor. Dementsprechend wurden seit September letzten warten, ob sich hieraus Erkenntnisse für Verbesserungen Jahres 118 000 Tonnen Butter in der EU angekauft, davon ergeben. in Deutschland 13 000 Tonnen seit Absinken des Markt- preises für Butter unter 92 Prozent des Interventionsprei- Zu Frage 3: ses. Bei Magermilchpulver sind seit Eröffnung der saiso- nalen Intervention am 1. April 2002 insgesamt mehr als Zurzeit wird das BMF-Schreiben aus November 2001 109 000 Tonnen in der EU angekauft worden. zu Anwendungsfragen zum Steuerabzug in Zusammen- wirken mit den Ländern überarbeitet. Dabei werden aktu- Die Bundesregierung hat sich in Brüssel dafür einge- elle Anwendungsfragen aufgegriffen, die sich zwi-setzt, dass die EU-Kommission nicht von der damit gege- schenzeitlich aus der Praxis ergeben haben. Gegenstand benen Möglichkeit Gebrauch macht, die Intervention aus- der Erörterungen sind unter anderem die Anpassung des zusetzen, sondern diese im Ausschreibungsverfahren BMF-Schreibens an zwischenzeitliche gesetzliche Ände- fortsetzt. Ferner hat die EU-Kommission, und zwar auch rungen, die Präzisierung von Aussagen und die Stellung- auf Drängen der deutschen Delegation, mehrfach die nahme zu einzelnen Sonderfragen, wie zum Beispiel zum Exporterstattungen für Butter, Vollmilchpulver, Mager- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 25013

(A) milchpulver und Käse angehoben. Gleichwohl ist der Ex- Im Feldlager der Taskforce FOX ist qualitativ ein glei- (C) port noch nicht wesentlich gesteigert worden, da auf dem cher Standard gegeben. Im Rahmen der Operation „En- Weltmarkt derzeit eine sehr geringe Nachfrage besteht. during freedom“ kann sich das etwa 50 Soldaten starke ABC Abwehr-Kontingent auf die Betreuungs- und Ferner ist die Beihilfe für Magermilch zur Herstellung Sporteinrichtungen der im gleichen Camp stationierten von Kasein und Kaseinat zweimal angehoben worden. Der Beimischungssatz von Magermilchpulver zur Tier- amerikanischen Streitkräfte abstützen. Dieses Angebot fütterung ist mit deutscher Unterstützung wieder aufwird durch nationale Betreuungs- und Freizeitmöglich- 50 Prozent hochgesetzt worden. keiten sinnvoll ergänzt. Die Möglichkeiten der Freizeit- gestaltung beim Marinekontingent entsprechen dem ge- Diese Maßnahmen haben sich in einer leichten Verbes- wohnten Standard seegehender Einheiten. serung der Marktlage für Butter und Magermilchpulver bereits ausgewirkt. Für die im Rahmen der Operation ISAF in Afghanistan stationierten Soldaten ist beabsichtigt, gleiche, allerdings der dortigen Gefährdungslage angepasste Bedingungen Anlage 6 für die Betreuung und Freizeitgestaltung zu schaffen wie auf dem Balkan. Dieses Ziel kann in allen wesentlichen Antwort Bereichen mit Abschluss der Verlegung des zweiten Kon- tingentes zu Ende August 2002 erreicht werden. Der des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die FrageZulauf von weiterem Betreuungsgerät verbessert die Si- des Abgeordneten Hans Michelbach (CDU/CSU) tuation kontinuierlich. Nach Abschluss der noch ausste- (Drucksache 14/ 9635, Frage 6): henden Maßnahmen für die in Afghanistan stationierten Gedenkt die Bundesregierung, insbesondere vor dem Hinter- Soldaten sind damit die Freizeitmöglichkeiten in den grund des erwarteten Berichts der Hartz-Kommission, die Struk- Feldlagern insgesamt als angemessen, dabei qualitativ turierung von Arbeitsämtern zu verändern, und wie steht die Bun- hochwertig und quantitativ ausgewogen zu bewerten. Der desregierung zur Herabstufung oder gar Schließung des Arbeitsamtes Coburg? Standard der Betreuungs- und Freizeitmöglichkeiten auf dem Balkan hat ein überaus hohes Niveau erreicht. Die- Die so genannte Hartz-Kommission wird ihren Bericht ses Niveau soll auch für die Soldaten, die im Rahmen der am 16. August 2002 vorlegen. Erst danach wird die Bun- Operationen „Enduring freedom“ und ISAF eingesetzt desregierung die im Bericht enthaltenen Vorschläge be- sind, erreicht werden. Die entsprechenden Maßnahmen werten. Dies gilt auch für eventuelle Vorschläge zur Neu- sind bereits eingeleitet. strukturierung der Bundesanstalt für Arbeit. Nach dem geltenden Recht ist es allerdings nicht Sache (B) der Bundesregierung, über die Abgrenzung von Arbeits- Anlage 8 (D) amtsbezirken zu befinden. Vielmehr legt § 378 Abs. 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch fest, dass die Zustän- Antwort digkeit für die Abgrenzung der Bezirke der Arbeitsämter der Parl. Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch auf die bei dem Verwaltungsausschüssen der Landesarbeitsämter die Fragen der AbgeordnetenMaria Eichhorn (CDU/ liegt, die hierzu nur im Benehmen mit dem jeweiligen CSU) (Drucksache 14/9635, Fragen 8 und 9): obersten Landesbehörden (Landesarbeitsministerien) Entscheidungen treffen zu können. Treffen Pressemeldungen (Katholischer Deutscher Frauen- bund intern 5/02) zu, wonach die Bundesministerin für Gesund- heit, , plant, die Bereitstellung einer Haushaltshilfe aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung Anlage 7 herauszunehmen? Welche Änderungen plant die Bundesregierung konkret bei Antwort der Gewährung von Haushaltshilfe durch die gesetzlichen Kran- kenkassen? der Parl. Staatssekretärin Brigitte Schulte auf die Frage des Abgeordneten Günther Friedrich Nolting (FDP) Es ist zutreffend, dass Überlegungen angestellt wer- (Drucksache 14/9635, Frage 7): den, wie versicherungsfremde Leistungen der gesetz- Welche Freizeitmöglichkeiten stehen den im Ausland statio- lichen Krankenversicherung anders und nicht durch nierten deutschen Soldaten in den Feldlagern zur Verfügung, und Mittel der Solidargemeinschaft finanziert werden kön- wo sieht die Bundesregierung Verbesserungsmöglichkeiten hin- nen. sichtlich der freizeitlichen Infrastruktur für die Soldaten? An eine Einengung des bisherigen Umfangs dieser In den mittlerweile langjährigen Einsätzen SFOR und Leistungen ist jedoch nicht gedacht, sodass entsprechende KFOR haben die Qualität der Betreuung und die Mög- Befürchtungen gegenstandslos sind. lichkeiten zur Freizeitgestaltung in den Feldlagern auf dem Balkan ein hohes Niveau erreicht. Die Palette der Freizeitmöglichkeiten reicht dabei grundsätzlich von der Anlage 9 Einrichtung und dem Betrieb von Betreuungs- und Ge- meinschaftsräumen, über Truppenkino, Mediatheken, In- Antwort ternetarbeitsplätze, Versorgung mit regionalen bzw. überre- gionalen Zeitungen, Wochenmagazinen und Zeitschriften der Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens auf die Fra- sowie Feldzeitungen, Betrieb von Soldatensendern bis hin gen der Abgeordneten Maritta Böttcher (PDS) (Druck- zu vielfachen Spiel- und Sportmöglichkeiten. sache 14/9635, Fragen 10 und 11): 25014 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

(A) Ist die Ortsumfahrung der Bundesstraße B 179 in Königs Wus- Zu Frage 13: (C) terhausen in Brandenburg verbindlich in den Bundesverkehrswege- plan eingeordnet, und wann ist mit ihrer Realisierung zu rechnen? Nein. Ist die Autobahnanbindung A 13–B 246 in Bestensee in Bran- denburg in den Entwurf des neuen Bundesverkehrswegeplans auf- genommen worden, und wenn ja, mit welchem Realisierungszeit- Anlage 11 punkt? Antwort Zu Frage 10: des Staatsministers Hans Martin Bury auf die Frage Ja, die Ortsumgehung ist im derzeitig gültigen Be-des Abgeordneten Hartmut Koschyk (CDU/CSU) darfsplan für die Bundesfernstraßen in der (Drucksache Stufe 14/9635, Frage 14): „Vordringlicher Bedarf“ eingeordnet. Das Projekt ist Ge- Wie bewertet die Bundesregierung die Rechtsansicht, wonach genstand der laufenden Überarbeitung des Bundesver- der tatsächliche Gesetzesvollzug des § 96 Bundesvertriebenenge- kehrswegeplans, in deren Rahmen die Bundesregierung setz (BVFG) nicht seinem Wesensgehalt, auch mit Blick auf die den Ländern die vorläufigen Bewertungsergebnisse mit durch den Bundeshaushalt zur Verfügung gestellten Fördermittel, entspricht (vergleiche das mir vorliegende Rechtsgutachten von der Bitte übersandt hat, die Rohdaten auf Plausibilität und Prof. Dr. Dr. Michael Silagi, Göttingen, vom 10. Mai 2002), und Belastbarkeit zu prüfen, sowie eine Priorisierung der Pro- ist die Bundesregierung nunmehr bereit, ihre Neukonzeption der jekte aus ihrer Sicht vorzunehmen. Auf dieser Basis wer- Vertriebenenkulturarbeit aus dem Jahr 2000 (Bundestagsdrucksa- den die weiteren Abstimmungen erfolgen können, sodass che 14/4586), auch haushaltswirksam, so zu ändern, dass sie den gesetzlichen Vorgaben des § 96 BVFG entspricht?1) bis Ende 2002 der Entwurf des Bundesverkehrswege- plans erstellt werden kann, der nach Abstimmung mit den § 96 BVFG normiert eine gesetzliche Verpflichtung an Ländern und den übrigen zu Beteiligenden vom Bundes- Bund und alle 16 Bundesländer, entsprechend ihrer durch kabinett beschlossen wird. Der Teil Bundesfernstraßen ist das Grundgesetz gegebenen Zuständigkeit das Kulturgut zugleich Entwurf des künftigen Bedarfsplans, der wie- der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertrie- derum Anlage der nachfolgenden Novelle zum Fern-benen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes straßenausbaugesetz wird. und des Auslandes zu erhalten. Da das Gesetz eine dreifache Wirkung gegenüber den Zu Frage 11: Vertriebenen und Flüchtlingen, dem gesamten deutschen Nein, der Neubau einer Anschlussstelle BestenseeVolk und dem Ausland entfalten soll, ist erkennbar, dass (Bundesautobahn A 13/Bundesstraße B 246) stellt eine ein allgemeiner Gesetzesauftrag vorliegt, der sich nicht an Ausbaumaßnahme dar und hat keine Relevanz für dieeine bestimmte Gruppe richtet. (B) Bundesverkehrswegeplanung. Zudem spricht § 96 BVFG vom „Kulturgut der Ver-(D) treibungsgebiete“ und nicht von Kulturgut der Vertriebe- nen, was deutlich macht, dass sich die entsprechenden Anlage 10 Fördermaßnahmen des Bundes an einem regionalge- schichtlichen Ansatz in Wissenschaft und Präsentation zu Antwort orientieren haben. Dies lassen die Berichte der Bundes- des Staatsministers Hans Martin Bury auf die Fragen des regierung erkennen, zuletzt der Bericht des Beauftragten Abgeordneten Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und (Drucksache 14/9635, Fragen 12 und 13): der Medien (BKM) vom 16. Mai 2002 (vergleiche Bun- destagsdrucksache 14/9163). Warum hat die Bundesregierung beim EU-Gipfel am 21./ 22. Juni 2002 in Sevilla der Auflösung des Entwicklungsminister- Die Konzeption des BKM zur Erforschung und Prä- rates der EU zugestimmt? sentation deutscher Kultur und Geschichte des östlichen Beabsichtigt die Bundesregierung die von ihr mitbeschlossene Europas vom 20. September 2000 entspricht dem gesetz- Neuregelung für die EU-Ministerräte dahin gehend auf die natio- lichen Auftrag von § 96 BVFG, soweit er an den Bund ge- nale Ebene zu übertragen, dass das Bundesministerium für wirt- richtet ist. Sie stellt sicher, dass die Erforschung deutscher schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in das Auswärtige Amt eingegliedert wird? Kultur und Geschichte des östlichen Europas als gesamt- staatliche Aufgabe auf Dauer erhalten und fortgeführt Zu Frage 12: werden kann. Die im Haushalt eingestellten Mittel er- möglichen dies. Es war Ziel der Bundesregierung, den Entwicklungs- ministerrat unabhängig vom Rat für Allgemeine Angele- genheiten und Außenbeziehungen zu erhalten, weil die Anlage 12 Entwicklungszusammenarbeit für die Bundesregierung eine hohe politische Bedeutung besitzt. Mit der in Sevilla Antwort erzielten Reform des Europäischen Rates und des Rates des Parl. Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper auf die ist aus Sicht der Bundesregierung gleichwohl ein ver- Frage des Abgeordneten Steffen Kampeter (CDU/CSU) nünftiger Kompromiss erzielt worden, der die Effizienz (Drucksache 14/9635, Frage 15): und Kohärenz der Politik der Europäischen Union erhöht und der einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der politi- schen Führbarkeit der erweiterten Europäischen Union darstellt. 1) Siehe hierzu auch Frage 1 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002 25015

(A) In welchen Geschäftsbereichen der Bundesregierung wird das bereitschaft im Rahmen der veröffentlichten Richtlinien (C) Programmpaket Public Administration Software System (PASS) entstanden. eines Anbieters aus Nordrhein-Westfalen ganz oder teilweise ver- wendet, das sich unter anderem mit Lager- und Materialwirt- Die Flugkosten wären ohnehin entstanden, da das Flug- schaft, Kosten- und Leistungsrechnung sowie Haushaltsmanage- ment beschäftigt, und mit welchem Kostenaufwand wurde es zeug der Flugbereitschaft in jedem Fall nach Tokio fliegen gegebenenfalls beschafft? musste, um den Herrn Bundeskanzler dort abzuholen. Das Programmpaket Public Administration Software System (PASS) wird im Bundeskanzleramt (Beschaf-Anlage 14 fungskosten 11 600 Euro) und im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Beschaffungskosten Antwort 208 686 Euro) eingesetzt. des Parl. Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper auf die Frage der Abgeordneten Sylvia Bonitz (CDU/CSU) (Druck- Anlage 13 sache 14/9635, Frage 17): Welche Hinweise auf mögliche Terroranschläge in Deutschland Antwort oder auf deutsche Staatsbürger oder Einrichtungen im Ausland lie- gen der Bundesregierung auf der Grundlage der Erkenntnisse deut- des Parl. Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper auf die Frage scher Behörden vor, und wie bewertet die Bundesregierung in die- der Abgeordneten Sylvia Bonitz (CDU/CSU) (Druck- sem Zusammenhang ein von Schiffscontainern ausgehendes sache 14/9635, Frage 16): terroristisches Gefahrenpotenzial? Wie viele Mitglieder der Bundesregierung, Mitarbeiter der Die Bundesregierung hat immer wieder darauf hinge- Bundesregierung und Dritte auf Einladung der Bundesregierung wiesen, dass seit den Anschlägen des 11. September 2001 sind im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft nach Japan und von einer hohen Gefährdung israelischer, jüdischer, briti- Südkorea gereist, und welche Aufwendungen (inklusive gegebe- nenfalls Inanspruchnahme der Flugbereitschaft) sind hierfürscher und US-amerikanischer Einrichtungen auch in zulasten öffentlicher Kassen entstanden? Deutschland auszugehen ist. An dieser Einschätzung hat sich nichts geändert. Der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, Herr Mayer-Vorfelder, hat Herrn Bundeskanzler und Herrn Der Bundesregierung liegen jedoch hinsichtlich mögli- Bundesminister des Innern zum Besuch des WM-Final- cher Terroranschläge in Deutschland oder der Gefährdung spiels Brasilien – Deutschland nach Tokio eingeladen. deutscher Staatsangehöriger oder Interessen im Ausland Diese Einladung wurde angenommen. keine gesicherten Erkenntnisse zu konkreten Anschlags- zielen, -orten oder -zeiten vor. Dies gilt auch in Bezug auf Zur Delegation des Herrn Bundeskanzlers und desSchiffscontainer. (B) Bundesministers des Innern gehörten nicht behinderte (D) und behinderte Sportler, sozial engagierte Bürger, Abge- Berichte in den Medien der Vereinigten Staaten von ordnete des Deutschen Bundestages der CDU/CSU-Frak- Amerika von Mitte Mai diesen Jahres, wonach Mitglieder tion, SPD-Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen und derdes Netzwerkes der al-Qaida unter Zuhilfenahme von PDS-Fraktion vor allem aus dem Bereich Sportpolitik so- Schiffscontainern in die Vereinigten Staaten eingeschleust wie Parlamentarier der Länder. In Begleitung befanden worden sein könnten, können sowohl seitens der Bundes- sich außerdem Beamte des Bundeskriminalamtes undregierung als auch von US-amerikanischer Seite nicht be- Fachbeamte im notwendigen Umfang. stätigt werden. Nach Mitteilung der US-amerikanischen Sicherheitsbehörden sei diese Möglichkeit zwar im Zuge Neben den Olympischen Spielen ist die Fußballwelt- einer Schwachstellenanalyse diskutiert worden; jedoch meisterschaft das größte Sportereignis. Der Einzug der lägen keine dahingehenden Erkenntnisse vor. deutschen Mannschaft in das WM-Finale ist ein großarti- ger internationaler Erfolg, an dem die Öffentlichkeit großen Anteil nimmt. Anlage 15 Besuche des Bundeskanzlers oder von Bundesministern als Vertreter der Bundesregierung bei herausgehobenen in- Antwort ternationalen Sportereignissen, bei denen deutsche Sportle- des Parl. Staatssekretärs Dr. Ditmar Staffelt auf die Frage rinnen und Sportler für die Bundsrepublik Deutschland um des Abgeordneten Dietrich Austermann (CDU/CSU) sportliche Erfolge kämpfen, entsprechen zwischenstaatli- (Drucksache 14/9635, Frage 18): chen protokollarischen Gepflogenheiten und dienen der ge- Wie und von wem (Bund oder Wirtschaft oder Deutsche Aus- samtstaatlichen Repräsentation Deutschlands. gleichsbank) soll das neue „Mittelstandsprogramm“ der Bundes- Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Bundes- regierung finanziert werden? republik Deutschland Gastgeber der Fußballweltmeister- Die vorgestellte Mittelstandspolitik für die nächsten schaft 2006 sein wird. Der Herr Bundeskanzler und der vier Jahre enthält einen Katalog von Maßnahmen, die aus Herr Bundesminister des Innern nutzten ihre Reise nach dem Haushalt des BMWi und durch Förderkredite der Japan, um die Fußballfreunde der Welt nach Deutschland Deutschen Ausgleichsbank dargestellt werden sollen. einzuladen. Derzeit laufen die Vorbereitungen, um für Gründer und Kosten sind im üblichen Rahmen vergleichbarer Dele- kleine Unternehmen mit einem geringen Investitionsbedarf gationsreisen angefallen. Wie von Ihnen angenommen, als gezieltes Finanzierungsinstrument ein Mikrodarlehens- sind darin auch Kosten für die Inanspruchnahme der Flug- programm bis zu einer Größenordnung von 25 000 Euro so 25016 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 247. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 3. Juli 2002

(A) schnell wie möglich anbieten zu können. Die Finanzierung kennamen) nur ausnahmsweise und nur mit dem Zusatz(C) der zinsgünstigen Darlehen, die mit einer Haftungsfreistel- „oder gleichwertiger Art“ verwendet werden dürfen. Die lung versehen sind, soll von der Deutschen Ausgleichsbank Beschreibung technischer Merkmale darf nach der vorge- (DtA) über die Hausbanken angeboten werden. nannten Vorschrift nicht dazu führen, dass bestimmte Un- ternehmen oder Erzeugnise bevorzugt oder ausgeschlos- sen werden, es sei denn, eine solche Beschreibung ist Anlage 16 durch die zu vergebene Leistung gerechtfertigt.

Antwort Sollte es im Einzelfall zwingend erforderlich sein, ein bestimmtes Produkt eines bestimmten Herstellers zu be- des Parl. Staatssekretärs Dr. Ditmar Staffelt auf die Fra- schaffen (zum Beispiel Nachkäufe, die mit der vorhande- gen des Abgeordneten Max Straubinger (CDU/CSU) nen Technik kompatibel sein müssen, Markenersatzteile (Drucksache 14/9635, Fragen 19 und 20): für ein bestimmtes Produkt), so ist auch hier der Wett- Mit welcher Begründung hält die Bundesregierung „Marken- bewerb nicht nur auf Hersteller begrenzt. Es können ausschreibungen“, wie zum Beispiel von der BwFuhrparkService sich selbstverständlich auch kleine und mittelständische GmbH, Maarstraße 63, 53842 Troisdorf (aus: Bundesausschrei- Händler um diesen Auftrag bewerben. bungsblatt vom 21. Juni 2002, Nr. 070 401) durchgeführt, mit den geltenden rechtlichen Bestimmungen für Vergaben verein- Zur angemessenen Beteiligung des Mittelstandes hat bar? der Gesetzgeber im vierten Teil des Gesetzes gegen Wett- Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass bei Mar- bewerbsbeschränkungen „Vergabe öffentlicher Aufträge“ kenausschreibungen sich nur Hersteller beteiligen können und der im § 97 unter der Überschrift „Allgemeine Grundsätze“ Mittelstand vom Wettbewerb ausgeschlossen wird? verbindlich vorgegeben, dass mittelständische Interessen Als öffentlicher Auftraggeber im Sinne von § 98 Nr. 2 vornehmlich durch Teilung der Aufträge in Fach- und des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen hat die Teillose angemessen zu berücksichtigen sind. Nähere BwFuhrparkService GmbH die von ihr benötigten Waren Einzelheiten, wie dies zu erfolgen hat, sind im § 5 der Ver- und Dienstleistungen unter Beachtung des Vergaberechts dingungsordnung für Leistungen, Teil A (VOL/A) unter zu beschaffen. Nach den hierzu einschlägigen Bestim- der Überschrift „Vergabe nach Losen“ geregelt. mungen der Verdingungsordnung für Leistungen, Teil A Bitte haben Sie dafür Verständnis, dass es in der Kürze (VOL/A) ist die Leistungsbeschreibung wettbewerbs- der zur Verfügung stehenden Zeit nicht gelungen ist, den neutral zu gestalten; Markenausschreibungen sind daher Sachverhalt detailliert aufzuklären und die Gründe für grundsätzlich verboten. diese Art der Ausschreibung zu recherchieren. Sobald mir Hierzu schreibt die VOL/A im § 8 verbindlich vor, dass hierzu verbindliche Informationen vorliegen, komme ich (B) bestimmte Erzeugnisse oder Verfahren (zum Beispiel Mar- unaufgefordert auf die Angelegenheit zurück. (D)

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