Plenarprotokoll 15/167

Deutscher

Stenografischer Bericht

167. Sitzung

Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung ...... 15617 A rung zum Stand der deutschen Einheit 2004 (Drucksachen 15/3201, 15/3047, 15/3202, Tagesordnungspunkt 16: 15/4163, 15/3796, 15/4706) ...... 15617 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (SPD) ...... 15617 C schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungs- wesen: Dr. Georg Milbradt, Ministerpräsident (Sachsen) ...... 15620 B – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE NEN: Nachhaltiges Wachstum in Ost- GRÜNEN) ...... 15622 C deutschland sichern Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 15624 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Arnold (fraktionslos) ...... 15625 D Vaatz, (Zingst), , weiterer Abgeordneter und der Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister Fraktion der CDU/CSU: Ostdeutschland BMVBW ...... 15626 B eine Zukunft geben Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU) ...... 15628 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Eberhard Otto (Go- dern), Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Tagesordnungspunkt 17: Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ostdeutschland als Speerspitze des a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wandels – Leitlinien eines Gesamtkon- , Dr. Norbert Röttgen, zepts für die neuen Länder Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion der CDU/CSU – zu dem Entschließungsantrag der Abge- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ordneten , Werner Kuhn zur Neuregelung der DNA-Analyse zu (Zingst), Dirk Fischer (Hamburg), weite- Zwecken des Strafverfahrens rer Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksache 15/4926) ...... 15630 B CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Dr. Karlheinz b) Zweite und dritte Beratung des von den Guttmacher, Klaus Haupt, weiterer Abge- Abgeordneten Wolfgang Bosbach, ordneter und der Fraktion der FDP zu der Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk, Unterrichtung durch die Bundesregierung: weiteren Abgeordneten und der Fraktion Jahresbericht der Bundesregierung der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- zum Stand der deutschen Einheit 2004 nes Gesetzes zur Aufhebung des Rich- tervorbehalts für die DNA-Analyse – zu der Unterrichtung durch die Bundesre- anonymer Spuren gierung: Jahresbericht der Bundesregie- (Drucksachen 15/4136, 15/5130) ...... 15630 C II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 c) Beschlussempfehlung und Bericht des c) Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Rechtsausschusses zu dem Antrag der Hoyer, Jürgen Türk, Dr. Claudia Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Winterstein, weiterer Abgeordneter und Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk, der Fraktion der FDP: Zur Tagung des weiterer Abgeordneter und der Fraktion Europäischen Rates am 22./23. März der CDU/CSU: Verbrechen wirksam be- 2005 – Stabilität und Wachstum stärken kämpfen – Genetischen Fingerabdruck (Drucksache 15/5131) ...... 15644 C konsequent nutzen (SPD) ...... (Drucksachen 15/2159, 15/5130) ...... 15630 C 15644 C (CDU/CSU) ...... 15646 C in Verbindung mit Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15650 B

Zusatztagesordnungspunkt 4: Jürgen Türk (FDP) ...... 15652 B Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, Hans-Werner Bertl (SPD) ...... 15653 C Gisela Piltz, , weiterer Abgeord- Matthäus Strebl (CDU/CSU) ...... 15655 A neter und der Fraktion der FDP: DNA- Reihentests auf sichere Rechtsgrundlage Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 15656 A stellen (Drucksache 15/4695) ...... 15630 D Tagesordnungspunkt 19: Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 15631 A Antrag der Abgeordneten Maria Eichhorn, Joachim Stünker (SPD) ...... 15632 C , Willi Zylajew, weiterer Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 15633 C Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Weniger Bürokratie in Heimen Jörg van Essen (FDP) ...... 15635 D (Drucksache 15/4932) ...... 15657 D Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 15636 D Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 15657 D (BÜNDNIS 90/DIE Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 15659 C GRÜNEN) ...... 15637 A (Münster) (FDP) ...... 15661 C Petra Pau (fraktionslos) ...... 15638 B Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 15639 A DIE GRÜNEN) ...... 15662 C Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE Willi Zylajew (CDU/CSU) ...... 15663 D GRÜNEN) ...... 15639 C (SPD) ...... 15665 B Joachim Stünker (SPD) ...... 15641 C

Zusatztagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 18: a) Zweite und dritte Beratung des von den a) Antrag der Abgeordneten Dr. Angelica Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- Schwall-Düren, Günter Gloser, Kurt SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Bodewig, weiterer Abgeordneter und der Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Neuordnung des Gentechnikrechts Rainder Steenblock, Ulrike Höfken, (Drucksachen 15/4834, 15/5133) ...... 15667 B Marianne Tritz, weiterer Abgeordneter und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- b) Beschlussempfehlung und Bericht des NEN: Für eine zukunftsgerichtete Wei- Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- terführung der Lissabon-Strategie – nährung und Landwirtschaft zu dem An- Neue Impulse zur wirtschaftlichen, so- trag der Abgeordneten , zialen und ökologischen Erneuerung Peter H. Carstensen (Nordstrand), (Drucksache 15/5116) ...... 15644 A , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Gen- b) Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter technikgesetz wettbewerbsfähig vervoll- Grill, Karl-Josef Laumann, Dagmar ständigen Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der (Drucksachen 15/4828, 15/5134) ...... 15667 B Fraktion der CDU/CSU: Wachstum in Deutschland und Europa stärken – Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 15667 C Neue Strategie für Lissabon-Ziele ent- Helmut Heiderich (CDU/CSU) ...... 15668 D wickeln (Drucksache 15/5025) ...... 15644 B Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . . 15670 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 III

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 15673 B Tagesordnungspunkt 23: René Röspel (SPD) ...... 15674 C a) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), , Dr. Klaus W. Dr. (CDU/CSU) ...... 15675 D Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU: Flug- Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 15677 C hafenanbindung nach Schönefeld frist- gerecht fertig stellen – Planfeststellung der Dresdner Bahn voranbringen Tagesordnungspunkt 21: (Drucksache 15/4839) ...... 15687 A Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, b) Beschlussempfehlung und Bericht des (Bremen), , Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- CDU/CSU: Mauer-Mahnmal im Marie- neten Peter Rzepka, , Elisabeth-Lüders-Haus aufwerten Verena Butalikakis, Siegfried Helias, (Drucksache 15/4719) ...... 15680 B Günter Nooke und weiterer Abgeordneter: Flugverkehrskonzept für den Groß- Günter Nooke (CDU/CSU) ...... 15680 C raum Berlin überprüfen – Flughafen Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD) ...... 15681 D Berlin-Tempelhof offen halten (Drucksachen 15/3727, 15/4508) ...... 15687 A Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU) . . . . 15682 D Peter Rzepka (CDU/CSU) ...... 15687 B Angelika Krüger-Leißner (SPD) ...... 15683 C Hellmut Königshaus (FDP) ...... 15689 C

Tagesordnungspunkt 20: Nächste Sitzung ...... 15690 D a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Anlage 1 zes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 15691 A (UMAG) (Drucksache 15/5092) ...... 15684 B Anlage 2 b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Beratung des Antrags: Impulse für eine inter- zes zur Einführung von Kapitalanleger- nationale Ausrichtung des Schulwesens – Den Musterverfahren Bildungsstandort Deutschland auch im Schul- (Drucksache 15/5091) ...... 15684 C bereich stärken (166. Sitzung, Tagesord- nungspunkt 12) Tagesordnungspunkt 22: (FDP) ...... 15691 D Antrag der Abgeordneten (Bayreuth), , Birgit Anlage 3 Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Wettbewerbsnachteile Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur und bürokratische Restriktionen für Beratung des Antrags: Die Wahlrichtlinien Omnibusverkehre beseitigen der Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im (Drucksache 15/4945) ...... 15684 D südlichen Afrika (SADC) als Maßstab für freie und faire Wahlen auch in Simbabwe (166. Sitzung, Tagesordnungspunkt 15) in Verbindung mit Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 15692 C

Zusatztagesordnungspunkt 9: Anlage 4 Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- des Antrags: Mauer-Mahnmal im Marie- rung des Personenbeförderungsgesetzes Elisabeth-Lüders-Haus aufwerten (Tagesord- (Drucksache 15/3424) ...... 15684 D nungspunkt 21) Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) ...... 15685 A Ursula Sowa (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 15693 A Klaus Hofbauer (CDU/CSU) ...... 15686 A Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . 15694 A IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Anlage 5 (Tagesordnungspunkt 22 und Zusatztagesord- nungspunkt 9) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe: Heinz Paula (SPD) ...... 15699 A – Gesetz zur Unternehmensintegrität und Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ Modernisierung des Anfechtungsrechts DIE GRÜNEN) ...... 15700 B (UMAG) , Parl. Staatssekretärin – Gesetz zur Einführung von Kapitalan- BMVBW ...... 15700 C leger-Musterverfahren (Tagesordnungspunkt 20 a und b) Anlage 7 (SPD) ...... 15694 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: (CDU/CSU) ...... 15695 B – Flughafenanbindung nach Schönefeld Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/DIE fristgerecht fertig stellen – Planfeststel- GRÜNEN) ...... 15696 C lung der Dresdner Bahn voranbringen Rainer Funke (FDP) ...... 15697 C – Flugverkehrskonzept für den Großraum Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 15698 B Berlin überprüfen – Flughafen Berlin- Tempelhof offen halten (Tagesordnungspunkt 23 a und b) Anlage 6 Siegfried Scheffler (SPD) ...... 15702 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ – Antrag: Wettbewerbsnachteile und büro- DIE GRÜNEN) ...... 15706 A kratische Restriktionen für Omnibusver- kehre beseitigen Anlage 8 – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes Amtliche Mitteilungen ...... 15706 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15617

(A) (C) Redetext

167. Sitzung

Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ordneten Joachim Günther (Plauen), Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Dr. Karlheinz Guttmacher, Klaus Haupt, weite- Sitzung ist eröffnet. rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Interfraktionell ist vereinbart worden, zusammen mit Tagesordnungspunkt 22 folgenden Zusatztagesordnungs- Jahresbericht der Bundesregierung zum punkt zu beraten: Stand der deutschen Einheit 2004 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- eines Gesetzes zur Änderung des Personenbeförderungs- gesetzes rung – Drucksache 15/3424 – Jahresbericht der Bundesregierung zum Überweisungsvorschlag: Stand der deutschen Einheit 2004 Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – Drucksachen 15/3201, 15/3047, 15/3202, (B) Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi- 15/4163, 15/3796, 15/4706 – (D) derspruch. Dann ist das so beschlossen. Berichterstattung: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Abgeordnete Siegfried Scheffler Werner Kuhn (Zingst) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Peter Hettlich richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Widerspruch. Dann ist so beschlossen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Nachhaltiges Wachstum in Ostdeutschland Wolfgang Thierse, SPD-Fraktion. sichern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – zu dem Antrag der Abgeordneten Arnold DIE GRÜNEN) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Vaatz, Werner Kuhn (Zingst), Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wolfgang Thierse (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ostdeutschland eine Zukunft geben Am Beginn dieser Debatte haben wir Anlass zu erinnern. – zu dem Antrag der Abgeordneten Joachim Heute vor 15 Jahren, am 18. März 1990, machten die Günther (Plauen), Eberhard Otto (Godern), Bürgerinnen und Bürger der DDR eine ganz neue Erfah- Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeord- rung: Zum ersten Mal war ihre Stimme, war ihr Kreuz neter und der Fraktion der FDP auf einem Wahlschein etwas wert. Gewählt wurde die 10. und zugleich letzte Volkskammer und das war end- Ostdeutschland als Speerspitze des Wan- lich eine, die diesen verpflichtenden Namen verdiente. dels – Leitlinien eines Gesamtkonzepts für Die Mehrzahl der wahlberechtigten Bürgerinnen und die neuen Länder Bürger erlebte den Wahlsonntag nicht nur als ein histo- – zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne- risch, sondern auch als ein biografisch bedeutsames Er- ten Arnold Vaatz, Werner Kuhn (Zingst), Dirk eignis. Nach knapp sechs Jahrzehnten und zwei Diktatu- Fischer (Hamburg), weiterer Abgeordneter und ren konnten sie endlich in einem demokratischen

Seite 15617, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Verfahren auf die politische Gestaltung ihres Landes und 15618 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Wolfgang Thierse (A) auf seine Zukunft Einfluss nehmen. Wofür sich die end- eröffnete die parlamentarische. Aus Basisgruppen und (C) lich mündig gewordenen Bürgerinnen und Bürger an Bewegungen waren Parteien geworden. Aus einfachen diesem Tag entschieden, ist bekannt: für die parlamenta- Bürgerinnen und Bürgern, die eben noch Erstwähler wa- rische Demokratie und für die deutsche Einheit. ren – sie durften erstmals ein demokratisches Parlament wählen –, wurden Abgeordnete, Staatssekretäre, Minis- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ter. Nicht wenige sind noch heute in der Politik, auch GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) hier im Deutschen Bundestag. Ich begrüße auf der Tri- Dieser 18. März war kein Geschenk, keine himmli- büne Sie und euch, liebe Kolleginnen und Kollegen der sche Fügung, sondern ein hart errungenes Ereignis der Volkskammer, besonders herzlich. friedlichen Revolution vom Herbst 1989. Was Wäh- lengehen im Alltag der Diktatur bedeutete, war noch (Beifall im ganzen Hause) nicht vergessen. Nur wenige Monate zuvor, am Die 10. Volkskammer war im besten Sinne des Wor- 7. Mai 1989, hatte die letzte von der SED inszenierte tes eine Schule der Demokratie und zugleich ein Ar- Scheinwahl stattgefunden – eine Scheinwahl im doppel- beitsparlament. Es ging bis an die Grenzen der indivi- ten Sinne des Wortes: Die Wähler falteten ihren Wahl- duellen Belastbarkeit. Wir Abgeordneten praktizierten schein und steckten ihn in die Urne. Das war schon alles. gewissermaßen aus dem Stand heraus, doch außeror- Wirklich zu entscheiden hatten sie nichts. Was zählte, dentlich motiviert die Spielregeln und Verfahrensweisen war allein der äußere Anschein eines Wahlverfahrens. der Demokratie und sahen uns zugleich einer Fülle von Wer es wagte, eine Wahlkabine aufzusuchen, wurde Problemen gegenüber. Ein funktionsfähiges parlamenta- misstrauisch beäugt; er machte sich verdächtig, unlau- risches Regierungssystem musste in Gang gesetzt wer- tere Absichten zu hegen, aus der Reihe zu tanzen, provo- den, um den neuen Staat handlungsfähig zu machen. Die zieren zu wollen. Ein absurdes Verfahren. Politik musste Legitimität und Kalkulierbarkeit in einem Doch die Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 ver- Land gewinnen, dessen Wirtschaft zusammenbrach, des- dienen es, dass wir an sie erinnern, denn etwas Wesentli- sen Versorgung kaum noch gewährleistet werden konnte, ches war dabei anders als sonst. Am Abend dieses Tages dessen Bevölkerung mit Abwanderung drohte. gingen überall im Lande viele von jenen, die das Zettel- falten satt hatten, in die Wahllokale, beobachteten die Der Souverän hatte dem Parlament einen klaren Auf- Auszählung und notierten die Ergebnisse. Danach trafen trag erteilt: die Herstellung der deutschen Einheit. sie sich zum gemeinsamen Nachrechnen, die Berliner Auch wenn manche Legendenerzähler heute anderes be- beispielsweise in der Elisabethkirche in Mitte. Sie ad- haupten: An politischen Experimenten war der Souverän dierten die Einzelergebnisse und verglichen ihre Zahlen nicht sonderlich interessiert. Die Frage war nur, auf wel- (B) mit dem offiziellen Ergebnis. Was kam heraus? Schon in chem Weg dieser Wählerauftrag zu erfüllen war, nach (D) einem einzigen Berliner Stimmbezirk war die Zahl der Art. 23 oder nach Art. 146 des Grundgesetzes. Die aus- Nichtwähler und der Menschen, die mit Nein gestimmt gehandelte Formel lautete dann: zügiger Beitritt, aber hatten, weitaus größer, als das offizielle Endergebnis für zuvor Verhandlungen. Dies war dann auch in der Tat der die ganze Stadt behauptete. Im offiziellen Wahlergebnis einzig realistische Weg einer schnellen Überwindung der waren aus Nichtwählern Wähler geworden und aus deutschen Teilung im Angesicht des immer weiter vo- Neinstimmen Jastimmen. Was ohnehin viele geahnt hat- ranschreitenden Zusammenbruchs der DDR und des da- ten, wurde nun zwar nicht amtlich, aber es sprach sich mit einhergehenden Verlustes an politischer Gestaltungs- schnell herum: Das von Egon Krenz verkündete Wahler- möglichkeit. Unsere Verhandlungsposition war nicht gebnis – 98,89 Prozent Zustimmung – war gefälscht und immer die beste. Doch es bleibt ein Verdienst der für diese Fälschung gab es Augenzeugen, gab es Be- 10. Volkskammer und der Regierung unter Ministerprä- weise. sident de Maizière, darauf beharrt zu haben, dass vor der Vereinigung außenpolitische und vertragliche Regelun- Zivilcourage verjährt nicht. Wir haben allen Grund, gen erreicht werden müssen, dass die Bodenreform und jenen mutigen Frauen und Männern aus Bürgerrechts- der redliche Erwerb von Eigentum Bestand haben müs- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 und Kirchenkreisen unseren Respekt zu bekunden. sen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Nur sechs Monate hatte die Volkskammer Zeit, die GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) staatliche Einheit in Selbstbestimmung und in Anerken- Sie haben dazu beigetragen, die von der DDR in An- nung unserer historischen Verantwortung zu vollenden. spruch genommene Legitimität zu untergraben. Sie ha- Der Regelungsbedarf war gewaltig. Ich erinnere nur an ben die Verdorbenheit der Diktatur anschaulich gemacht einige der wichtigsten Arbeitsfelder: Wirtschafts-, Wäh- und nicht wenige Menschen zum Nachdenken und Um- rungs- und Sozialunion, Rechtsangleichung, Stasi-Un- denken angeregt. Diese und weitere Aktionen der Bür- terlagen-Gesetz. Der Beitrittsbeschluss erging erst nach gerbewegung trugen im Vorfeld der friedlichen Revolu- Abschluss des Einigungsvertrages und der Zwei-plus- tion dazu bei, dass der 18. März 1990 möglich wurde, Vier-Verhandlungen. Wir wollten einvernehmlich mit jener Tag, an dem die Forderungen der Demonstranten den Siegermächten und Nachbarn in die Einheit gehen. vom Herbst 1989 ihre demokratische Legitimation er- Ich bin bis heute außerordentlich dankbar dafür, dass uns hielten. dies gemeinsam gelungen ist. Die Wahl vom 18. März markiert einen wichtigen (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE

Seite 15618, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Wendepunkt. Sie beendete die revolutionäre Phase und GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15619

Wolfgang Thierse (A) Natürlich, es hat Fehler, Versäumnisse, Überforde- Zahlreiche Studien belegen zudem, dass das Ver- (C) rung gegeben. Wie sollte es auch anders sein? Es gab trauen in die Demokratie und die Zufriedenheit mit ihr in kein Lehrbuch, in dem beschrieben wird, wie ein demo- Ostdeutschland noch geringer und labiler sind als im kratisches Parlament sich selbst überflüssig macht, sich Westen Deutschlands. Für eine nicht geringe Zahl von selbst und zugleich seinen Staat abschafft, und das auch Menschen bedeuteten die Vereinigung, der Gewinn der noch zu akzeptablen Bedingungen. Demokratie und die Einführung der sozialen Marktwirt- schaft, den Arbeitsplatz zu verlieren, lange Jahre arbeits- Was in der 10. Volkskammer erreicht wurde, war los zu bleiben und schließlich die Zukunft zu fürchten. ohne Vorbild. Es konnte nur gelingen, weil wir Unter- Die Demokratie, das Ende der DDR, bedeutet für diese stützung erhielten: aus den alten Bundesländern, von der Menschen rückblickend nicht Chance, sondern Risiko Bundesregierung, von den Schwesterparteien und -frak- und letztendlich Verlust einer sicher geglaubten Exis- tionen des 11. Deutschen Bundestages. Auch daran sei tenz. heute erinnert. Auch dafür sage ich als einer, der damals mit dabei war, herzlichen Dank. Diese existenzielle Erfahrung prägt auch junge Leute – vor allem in ländlichen Regionen Ostdeutschlands –, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE die unsicher sind und nicht wissen, wie ihre Zukunft aus- GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) sehen wird. Es ist eben besorgniserregend, dass offenbar Trotz der Kürze ihres Mandats hat die frei gewählte immer mehr Menschen Politikern und demokratischen Volkskammer des Jahres 1990 ein bedeutendes Kapitel Institutionen nicht mehr zutrauen, die Probleme zu lö- in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus ge- sen, egal ob im Bund, im Land oder in der Kommune. schrieben. Sie war eben mehr als nur ein Übergangs- Mitarbeiter von Initiativen, die sich gegen Rechts- parlament, mehr als ein Lückenfüller zwischen Diktatur extremismus engagieren, berichten, dass sich mancher- und Demokratie. Ihr ist es gelungen, in das vereinte orts regelrecht eine parlaments- und politikfeindliche Deutschland eine auf die friedliche Revolution der ost- Stimmung ausbreitet. Dort werde es für Kommunalpoli- deutschen Bürgerinnen und Bürger begründete Demo- tiker zunehmend schwerer, die Werte der Demokratie zu kratie mit eingebracht zu haben. Das ist eine große, eine verteidigen und offen für sie zu streiten. Das ist ein bri- historische Leistung und ich wünschte mir, dass sie in santes Stimmungsbild, das selbstverständlich nicht auf der Öffentlichkeit mehr als bisher wahrgenommen und den gesamten Osten Deutschlands zutrifft. Aber es sind gewürdigt wird. Entwicklungen in einzelnen Regionen, die wir ernst neh- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE men und auf die wir gesellschaftliche Antworten finden GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) müssen. Ich plädiere sehr dafür, neben allen notwendi- gen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen An- (B) (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel Erinnerung, strengungen, die getan werden müssen, auch die politi- so viel Würdigung musste heute sein. sche Bildung, das Werben und Überzeugen für die Nun zum Heute: Vor einigen Tagen las ich eine kurze freiheitliche und pluralistische Demokratie deutlich zu Agenturmeldung, die es in sich hatte. Nach einer Unter- verstärken. suchung der TU Dresden – es wurden 1 835 Menschen (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE in Deutschland befragt – vertrauen nur rund 4 Prozent GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- der Deutschen den Parteien und 11 Prozent dem Bundes- ten der CDU/CSU) tag. Dagegen glauben 44 Prozent der Befragten dem Bundesverfassungsgericht, 40 Prozent der Polizei und Neben allen Anstrengungen, die wir unternehmen, 31 Prozent der Justiz. Auch Medien wie Zeitungen mit um Perspektiven für den Osten zu entwickeln, und allem 14 Prozent und Fernsehen mit 15 Prozent lagen noch vor notwendigen Streit unter den Demokraten darüber ge- Parlament, Regierung und Parteien. Professor Patzelt re- hört der elementare Streit für unsere Demokratie dazu. sümiert: „Wer Parteien wenig vertraut, hat auch wenig Lassen Sie mich zum Schluss Klaus von Dohnanyi zi- Zutrauen zum Parlament.“ oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 tieren. Er sagte gestern in einem Interview, die Verdros- Das ist ein dramatischer Vertrauensverlust gegen- senheit in Deutschland sei wohl auch deshalb so groß, über der Demokratie und ihren Institutionen und Ak- weil vergessen werde, welche Leistungen Deutschland teuren, und das 15 Jahre nach dem wunderbaren demo- seit der Wiedervereinigung vollbracht habe. Er formu- 09.15-09.25.doc kratischen Aufbruch im Osten Deutschlands, 15 Jahre liert das mit drastischen Zahlen: So sei die Zahl der Er- nach dem Glück der Wiedervereinigung. Dafür gibt es werbstätigen seit 1989 in Großbritannien um knapp gewiss sehr verschiedene Gründe: ohne Zweifel Fehler 2 Millionen gestiegen, in Frankreich um rund 3 Millio- und Fehlverhalten von Politikern, die Härte des wirt- nen, in Deutschland dagegen habe der Zuwachs an Er- schaftlichen, des sozialen, des gesellschaftlichen Wan- werbstätigen rund 10 Millionen betragen. Klaus von dels in Deutschland seit 1989 – eines Wandels, bei dem Dohnanyi wörtlich: es nicht nur Sieger gibt –, die Größe der Probleme und Da ist natürlich die frühere DDR dazugekommen. die Langsamkeit, mit der wir sie zu lösen imstande sind, Dort gab es ja für eine Marktwirtschaft kaum kon- die Wahrnehmung einer zunehmenden Diskrepanz zwi- kurrenzfähige Arbeitsplätze. schen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits und der Lang- Er sagt weiter, auch die öffentliche Verschuldung könne samkeit und Begrenztheit demokratischer politischer sich im Vergleich mit anderen Ländern sehen lassen.

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Wolfgang Thierse (A) Frankreichs und Österreichs, weit unterhalb des Ver- erfolgreich abgeschlossen oder zumindest auf einem gu- (C) schuldungsniveaus Italiens. ten Weg. Und dabei haben wir zugleich mit mehr als (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- 1 Billion Euro Ostdeutschland aufgebaut. NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Er hat Recht. Neben vielen Problemen im Osten Die großen Unterschiede bestehen in der Privatwirt- Deutschlands gibt es auch genügend Erfolgsgeschichten schaft, in der Wirtschaftskraft, in der Wirtschaftsleistung Ost: von der erneuerten Infrastruktur über die Auto- pro Kopf der Bevölkerung oder pro Erwerbstätigem. industrie bis zu den Universitäten und Hochschulen. Aber auch hier muss angemerkt werden: Die Wirt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaftskraft hat sich in Ostdeutschland in diesen 15 Jah- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ren verdoppelt und – das möchte ich hinzufügen – ein CDU/CSU und der FDP) ostdeutsches Bundesland, Sachsen, wächst seit zwei Jah- ren stärker als alle anderen Bundesländer, die westdeut- Liebe Kolleginnen und Kollegen, schen Bundesländer also inbegriffen. Zum Beispiel bie- tet Dresden heute – was nicht bekannt ist – mehr wir treten nicht dem Paradies bei, aber auch nicht Arbeitsplätze pro tausend Einwohner als Bonn. Es sind, der Hölle. anders als die erwähnten Schlagzeilen behaupten, Ar- Das habe ich vor 15 Jahren in einer Volkskammerdebatte beitsplätze entstanden. Ein Beispiel: Dresden und Frei- gesagt. Ich glaube, ich habe Recht behalten. berg haben sich zum Zentrum der europäischen Halblei- terindustrie entwickelt. Jeder fünfte weltweit produzierte (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem Mikrochip kommt aus Dresden. Es gibt um unsere Lan- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei deshauptstadt herum 11 000 Menschen, die in diesem Abgeordneten der FDP) Bereich Arbeit haben, in ganz Sachsen 20 000. Es gibt in Ostdeutschland an vielen Stellen solche Erfolgsge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schichten. Wir sollten sie nicht in bester deutscher Ma- Das Wort hat der Ministerpräsident des Freistaates nier schlechtreden. Sachsen, Professor Dr. Georg Milbradt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der neten der FDP) FDP) Stattdessen sollten wir herausstellen, dass wir in Ost- (B) Dr. Georg Milbradt, Ministerpräsident (Sachsen): deutschland das Beste aus den Fähigkeiten der Men- (D) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schen gemacht haben – natürlich mit großzügiger Unter- Herren! Ich möchte zunächst Ihnen, Herr Thierse, dan- stützung aus Westdeutschland, für die wir dankbar sind. ken für diesen Rückblick auf den 18. März 1990 und das, was seitdem geschehen ist. Ich freue mich auch, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der dass die Volkskammerpräsidentin aus diesen Tagen, Frau FDP) Bergmann-Pohl, auf der Tribüne bei uns ist. Wir könnten und wir müssen aber noch besser sein. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- Deutschland muss wieder wachsen und wir brauchen NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) mehr Arbeitsplätze. Bei den Volkskammerwahlen hat sich die Mehrheit Nun sagen manche, wir würden jedes Jahr 4 Prozent der Ostdeutschen für die Wiedervereinigung entschie- des Bruttosozialprodukts für den Aufbau Ost aufwen- den. Sie haben sich entschieden, ihre Zukunft in die ei- den, was uns beim Wirtschaftswachstum herunterziehe genen Hände zu nehmen, und sie haben diese Chance und die internationalen Vergleiche beeinträchtige. Das oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 genutzt. Nach 15 Jahren kann man über Ostdeutschland stimmt. Der Aufbau Ost ist aber nicht die Ursache der sagen: Wir sind gut, aber wir müssen noch besser wer- deutschen Wachstumsschwäche. Vielmehr leidet auch den. der Aufbau Ost unter den strukturellen Defiziten, die für das schwache Wachstum in ganz Deutschland verant- Ostdeutschland ist in den vergangenen 15 Jahren wei- wortlich sind und die auch schon 1989, 1990 bestanden ter vorangekommen, als es die Pessimisten wahrhaben haben. wollen. Leider beherrschen die Pessimisten die Schlag- zeilen. Die Rede ist von einem ostdeutschen Mezzo- Wenn wir heute über eine Perspektive für Ostdeutsch- giorno, von verblühenden Landschaften oder von dem land reden, dann müssen wir vor allem über eine Per- Milliardengrab Ost. Die Pessimisten, so meine ich, ha- spektive für Deutschland insgesamt reden. Ich meine, ben Unrecht. Die Lage in den ostdeutschen Bundeslän- Ostdeutschland kann eine solche gesamtdeutsche Per- dern ist zwar schwierig, aber wir haben in Ostdeutsch- spektive bieten; denn wir haben 15 Jahre lang sehr in- land in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten trotz tensiv erfahren müssen, was am westdeutschen Modell aller Hemmnisse viel erreicht. Insbesondere dort, wo der funktioniert und was nicht funktioniert. Wir haben erfah- Staat direkt Verantwortung trägt, wo er direkt verant- ren, wie schwach die Kräfte unserer Wirtschaft sind, wortlich ist – zum Beispiel bei Umwelt, Gesundheit, In- weil wir den Marktkräften misstrauen und an bestimmte

Seite 15620, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr frastruktur oder Bildung –, ist der Anpassungsprozess Regelungen sowie insbesondere an den Vater Staat glau- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15621

Ministerpräsident Dr. Georg Milbradt (Sachsen) (A) ben. Dieses Misstrauen in das System ist Teil des Sys- Die Menschen in Ostdeutschland erwarten von der (C) tems, das wir 1990 übernommen haben. Politik mehr. Sie wollen arbeiten und muten sich eine Menge zu, um Arbeit zu finden. Ich höre das immer In den nächsten Jahren kommt erschwerend hinzu, wieder zum Beispiel von den Bürgern in meinem Wahl- dass die Aufbauhilfe der Europäischen Union und aus kreis Kamenz. Bei vielen klingelt der Wecker Montag dem Solidarpakt deutlich abnehmen wird. Mit einer um 4 Uhr, weil sie vier, fünf oder sechs Stunden mit dem Politik des „Weiter so!“ werden wir dann in große Auto nach Bayern oder Baden-Württemberg zur Arbeit Schwierigkeiten geraten. Wir müssen sowohl in Ost- fahren müssen. Nach Hause kommen sie in der Regel deutschland als auch in Gesamtdeutschland dynamischer erst am späten Freitagabend. Die Menschen muten sich und attraktiver werden, um einen Ausgleich für das feh- und ihren Familien etwas zu, weil sie arbeiten wollen lende Geld zu erzielen. Anders ausgedrückt: Wir müssen und weil sie den Sinn ihres Lebens nicht darin sehen, in unsere Strategie zum Aufbau Ost verbessern. Mit dersel- der berühmten sozialen Hängematte zu liegen. Doch ben Strategie wie in den letzten 15 Jahren werden wir mehr als 5 Millionen Menschen nützt selbst diese Flexi- den Rest des Weges nicht schaffen. bilität nichts. Für sie müssen wir etwas tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Deswegen sage ich: Arbeit muss absolute Vorfahrt ha- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- ben, wie es der Bundespräsident am Dienstag gesagt hat. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen den Menschen wieder bessere Chancen ge- ben, Arbeit zu finden. Vorschläge dazu liegen schon lange auf dem Tisch. Ich selbst habe vor fast genau einem Jahr das Strategie- (Siegfried Scheffler [SPD]: Das sagen wir papier „Zukunft Ost – Chance für Deutschland“ vorge- alle!) legt. Die Regierungskommission unter Klaus von Dohnanyi hat sich ganz ähnlich geäußert. Passiert ist Die Maßnahmen sind bekannt. Ich will sie nicht wieder- aber wenig. Im Gegenteil: Die gesamtdeutsche Politik ist holen und auch den Streit nicht wieder neu entfachen. zur Tagesordnung zurückgekehrt, auf der die Probleme Aber eines ist ganz klar: Deutsche Luxusgesetze, die auf Ostdeutschlands schon seit Jahren nur noch ganz am jede EU-Richtlinie noch draufsatteln, darf es nicht mehr Schluss unter „Sonstiges“ vorkommen. geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich meine jetzt kein bestimmtes Gesetz, Eine derartige Haltung können wir uns nicht länger leis- ten. (Lachen bei der SPD) (B) Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Sachsen hat sondern ich meine die Summe der Gesetze. (D) frühzeitig darauf hingewiesen, welche Gefahren die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dienstleistungsfreiheit im Zuge der Osterweiterung der EU mit sich bringt. Wir haben klar gesehen, dass bei uns Klar ist, dass nicht alles auf einmal verwirklicht wer- viele Arbeitsplätze gefährdet sind, weil die Lohnkosten den kann. Deswegen schlage ich vor, dass die Reformen, in Polen und Tschechien 80 Prozent niedriger sind als in die in Westdeutschland nicht durchsetzbar sind, zumin- Sachsen. Es war von Anfang an klar, was passieren dest in Ostdeutschland ausprobiert werden. Das wird es würde. Ich habe deshalb Lohnkostenzuschüsse vorge- den unternehmerischen, erfinderischen und tüchtigen schlagen, um die Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor Menschen in Ostdeutschland zunächst erlauben, ihre konkurrenzfähig zu halten; denn die Alternative war und Kräfte und Ideen auszuprobieren. Dann können wir ist, dass die Beschäftigten in diesem Bereich arbeitslos schauen, was passiert, wenn man neue Wege beschreitet. werden oder bleiben. Dann kann der Westen auch vom Osten lernen. Man mag ja über diesen Vorschlag streiten, man kann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 aber nicht bestreiten, dass man etwas tun muss. Ich meine, die ökonomischen Wirkungen der Osterweite- Solche Öffnungs- und Experimentierklauseln sind rung der EU auf Ostdeutschland und insbesondere die eigentlich nichts Neues. Es gab bisher schon eine ganze Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt für Geringqualifi- Reihe solcher Sonderregelungen. Die bekannteste hört zierte sind systematisch unterschätzt worden. Die ver- auf den etwas sperrigen Namen Bundesverkehrswege- einbarten Übergangsregelungen waren von Anfang an planungsbeschleunigungsgesetz. unzureichend. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischen- Nun verlieren Fleischer nicht nur in Sachsen, sondern frage des Kollegen Kröning? – Nein. auch anderswo in Deutschland ihre Arbeit. Erst jetzt sind die Auswirkungen der Dienstleistungsfreiheit politisch ein Thema, und das eigentlich auch nur, weil auch West- Dr. Georg Milbradt, Ministerpräsident (Sachsen): deutschland betroffen ist. Dieses Gesetz hat es beispielsweise ermöglicht, den Flughafen Leipzig innerhalb von nur vier Jahren zu ei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nem internationalen Flughafen auszubauen. In Stuttgart

Seite 15621, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr der FDP – Widerspruch bei der SPD) und München hat ein solches Projekt über 25 Jahre 15622 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Ministerpräsident Dr. Georg Milbradt (Sachsen) (A) gedauert. Das war auch die Voraussetzung dafür, dass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) DHL sein neues europäisches Frachtkreuz am Flughafen Nächster Redner ist der Kollege Peter Hettlich, Bünd- Leipzig ansiedelt und 10 000 Arbeitsplätze schafft. nis 90/Die Grünen. Ein Gesetz, das so etwas möglich macht, meine Da- men und Herren von den Grünen, darf nicht einfach aus- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): laufen, wie es dieses Jahr geschehen soll. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 15 Jahren fanden die ersten und zugleich einzigen freien Vielmehr müssen wir es bis mindestens 2019 verlängern und geheimen Wahlen zur Volkskammer statt. Dieser und am besten – ich habe nichts dagegen – auch auf Jahrestag ist Anlass, an die außerordentliche Leistung Westdeutschland ausdehnen. der 400 Abgeordneten zu erinnern, die in den darauf fol- genden Monaten eine schier unmögliche Aufgabe zu be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wältigen hatten. Ich weiß nicht genau, wie viele Gesetze, Siegfried Scheffler [SPD]: Machen wir doch Verordnungen und Drucksachen in dieser kurzen Zeit er- auch!) arbeitet wurden, aber ich weiß, dass dieses Parlament und seine Abgeordneten ihre Aufgaben sehr ernst ge- Deswegen freue ich mich über die Ankündigung des nommen haben und sie oftmals an den Rand der physi- Bundeskanzlers, bis zum Sommer ein Planungsvereinfa- schen und psychischen Erschöpfung gegangen sind. chungsgesetz vorzulegen. Das geht in die richtige Rich- tung. Aber im letzten Herbst sind Sie genau diesen Weg Diese kurze, aber umso intensivere parlamentarische nicht mitgegangen. Sie haben unsere Anträge abgelehnt. Phase endete mit dem Beitritt zur Bundesrepublik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Deutschland am 3. Oktober 1990. Für einige endete da- Siegfried Scheffler [SPD]: Das stimmt doch mit auch ihre politische Karriere. Einige hatten sich den gar nicht!) Parlamentarismus sicher anders vorgestellt. Einige von ihnen sind noch heute Mitglieder der Landesparlamente – Wir in Ostdeutschland haben immer verlangt, dieses oder des Bundestages. Ich möchte mich bei diesen Kol- Gesetz bis 2019 zu verlängern, aber es ist im Bundestag legen und bei den Gästen stellvertretend für ihre aufgrund der Grünen nur um ein Jahr verlängert worden. 400 Kollegen des Jahres 1990 ausdrücklich für ihre her- Das ist die Wahrheit. vorragende Arbeit bedanken. Sie haben in diesen weni- gen Monaten ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – geschrieben. Widerspruch bei der SPD) (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meine sehr verehrten Damen und Herren von der und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der SPD, ich freue mich darüber, dass wir in diesem Punkt CDU/CSU und der FDP) mittlerweile einer Meinung sind. Wir brauchen in ganz Deutschland viel mehr solcher Katalysatoren, die die Die seither vergangenen 15 Jahre wecken je nach per- bisher schwerfälligen Prozesse deutlich beschleunigen. sönlicher Biografie unterschiedliche Empfindungen und Ich möchte sie in Ostdeutschland gerne ausprobieren, so Gefühle. Es waren 15 Jahre voller erfüllter und geschei- wie wir es im Verkehrsbereich getan haben. West- terter Hoffnungen, es waren 15 Jahre voller Irrungen und deutschland kann dann von unseren Erfahrungen profi- Wirrungen. Wir sollten ehrlich sein: Keiner hatte damals tieren, die bei diesem Gesetz offensichtlich so gut sind, eine Vorstellung davon, was auf uns zukommen würde, dass der Bundeskanzler dieses Gesetz sogar auf die keiner hatte die Patentlösungen für die Probleme in der Stromleitungen anwenden will. Das könnte nach der Schublade. friedlichen Revolution im Herbst 1989 Ostdeutschlands zweiter Beitrag zur deutschen Einheit sein: der erfolgrei- Daran hat sich bis heute nichts geändert und daran wird sich auch nichts ändern. Der Aufbau Ost ist ein oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 che Umbau eines an seine Grenzen geratenen Wirt- schafts- und Sozialsystems. mühseliger und noch lange andauernder Prozess, in dem viele komplizierte Vorgänge parallel und zum Teil über In der politischen Auseinandersetzung wird gern der Kreuz ablaufen. Für derartige Probleme gab und gibt es Eindruck erweckt, Deutschland sei ein zum Zwerg ge- keine schnellen Lösungen, sondern nur eine Vielzahl schrumpfter Riese. Das ist falsch. Deutschland ist ein ge- von möglichen Lösungswegen, die einer permanenten fesselter Gulliver, dem man nur die Fesseln abnehmen kritischen Überprüfung unterliegen und je nach Erfolg muss. Wir Ostdeutschen wollen zeigen, dass Deutsch- fortgeführt oder auch verworfen werden müssen. Des- land ein hervorragender Standort mit einem gewaltigen halb widerspreche ich Ihnen, Herr Ministerpräsident Potenzial ist. Wir alle wollen jene widerlegen, die Milbradt, energisch: Es ist einfach zu billig, 09.30-09.40.doc Deutschland schlechtreden. Denn das, was für Ost- deutschland gilt, gilt auch für Deutschland. Wir sind gut, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gar keine Frage. Wir können besser sein und wir müssen wenn Sie glauben, dass Sie mit Ihrer Ablehnung zum besser sein. Beispiel des ADG oder des Verkehrswegeplanungsbe- Herzlichen Dank. scheunigungsgesetzes die Probleme von Ostdeutschland auf einfache Art und Weise lösen könnten. Das nehme

Seite 15622, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ich Ihnen nicht ab. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15623

Peter Hettlich (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Angesichts der degressiven Ausgestaltung des (C) sowie bei Abgeordneten der SPD) Korbes I des Solidarpakts, die ab den Jahren 2008/2009 beginnt, muss es uns in den kommenden vier bis fünf So gesehen bleibt das Bild heute zwiespältig. Einer- Jahren gelingen, die Länderhaushalte nachhaltig zu kon- seits ist in den vergangenen 15 Jahren unglaublich viel solidieren. Wie schwer das ist, können wir an den offen- erreicht worden, andererseits ist es uns nicht gelungen, sichtlich gescheiterten Bemühungen des Saarlandes und die Hoffnungen von vielen Bürgern zu erfüllen. Es ist Bremens sehen. Daher meine ich, dass die Haushalts- uns immer noch nicht gelungen, die Mauer in den Köp- sanierung keine Frage des Wollens, sondern des Müs- fen restlos zu beseitigen. Nach wie vor besteht für mich sens ist. das drängendste Problem weiter fort: die hohe Arbeitslo- sigkeit. Für mich bleibt daher das Ziel, die Schaffung Mir ist bewusst, dass dies schwerwiegende Entschei- gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ost- und West- dungen nach sich zieht und auch in Zukunft noch nach deutschland anzustreben, absolut vorrangig. Dies kön- sich ziehen wird. Wir haben aber keine Alternative. Da- nen wir nur durch die Schaffung einer sich selbst tragen- her sage ich Ihnen auch an dieser Stelle unsere Unter- den und nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung stützung auf diesem schwierigen Weg zu. und durch die energische Bekämpfung der Arbeits- losigkeit erreichen. Das muss weiterhin unser gemeinsa- Der demographische Wandel läuft in Ostdeutsch- mes vordringliches Ziel bleiben. Dafür müssen wir uns land schneller und dramatischer ab, als wir es uns vor gemeinsam einsetzen. 15 Jahren haben vorstellen können. Neben den niedrigen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Geburtenraten ist es der negative Wanderungssaldo, SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) der mich beunruhigt. Es geht dabei nicht so sehr um die quantitative als um die qualitative Dimension. Vor allem An dieser Stelle möchte ich deutlich machen – inso- gut ausgebildete junge Menschen haben in den vergan- fern muss ich meine früheren Aussagen teilweise korri- genen 15 Jahren die ostdeutschen Bundesländer verlas- gieren –: Ich kann Ihnen heute nicht versprechen, ob wir sen. Die Abwanderung hat für uns nicht nur zur Folge, dieses Ziel bereits in den kommenden 15 Jahren errei- dass wir Steuerzahler und Konsumenten verlieren, son- chen werden. Wir stehen vor sehr harten und anstrengen- dern wir verlieren auch gerade die Generation, auf der den Jahren, die unsere ganze Kraft auf allen Ebenen for- wir eigentlich die Zukunft Ostdeutschlands aufbauen dern werden. Ich kann daher nur versprechen, dass ich wollten. Es sind unter anderem die Unternehmer und meine Kraft dafür einsetzen werde, damit dieses Ziel Unternehmerinnen von morgen, die uns heute verlassen. möglichst schnell erreicht wird. Man möchte beinahe sagen, dieser Braindrain in Ost- West-Richtung ist quasi unsere Gegenleistung für die (B) Wir werden in den kommenden Jahren weiterhin auf (D) die gesamtdeutsche Solidarität angewiesen sein. Der West-Ost-Transferleistungen. Die westdeutschen Bun- Solidarpakt II ist der Beweis dafür, dass es sich hierbei desländer werden jedenfalls noch auf Jahre hin davon nicht um eine bloße Worthülse handelt. profitieren. (Beifall des Abg. Volker Kröning [SPD]) Wir müssen alles daran setzen, diesen Trend umzu- kehren. Angesichts einer Unternehmenslücke von rund Wir werden sicherstellen, dass die zugesagten Mittel in 100 000 in Ostdeutschland liegt es auf der Hand, zum Höhe von 156 Milliarden Euro in den kommenden 15 Jah- Beispiel hier konkret anzusetzen. Es gibt gut ausgebil- ren fließen werden. Dies betrifft sowohl die Korb-I- als dete Menschen und eine hervorragende Forschungsland- auch die Korb-II-Mittel. Aber – das sei hier deutlich ge- schaft in Ostdeutschland; wir produzieren viele innova- sagt – ich erwarte auch, dass die Länder die Mittel ent- tive Geschäftsideen und Erfindungen. Dennoch gelingt sprechend den gesetzlichen Vereinbarungen verwenden es uns nicht, diese guten Voraussetzungen in ausreichen- (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das macht doch dem Maße in erfolgreiche Unternehmungen umzusetzen Sachsen!) und innovative Produkte zur Marktreife zu bringen. oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 und die Debatten über Fehlverwendungen der Vergan- Der „Global Entrepreneurship Monitor 2004“ spricht genheit angehören werden. von einem schlechten Gründerklima in Deutschland trotz eines hervorragenden Angebots an Förderprogram- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men für Unternehmensgründungen. Zum einen liegt das und bei der SPD) an einem ungewöhnlich stark ausgeprägten Pessimis- Das ist unser Teil des Solidarvertrages. Das ist unsere mus, zum anderen an fehlenden unternehmerischen Verpflichtung. Wir müssen in den nächsten Jahren den Kenntnissen und Grundfähigkeiten. Es ist zwar richtig, Beweis erbringen, dass wir Solidarität nicht als Einbahn- dass nicht jeder zum Unternehmer geboren ist, aber wir straße verstehen. Es geht mir nicht darum, die ostdeut- können es uns auch nicht erlauben, diejenigen gehen zu schen Ministerpräsidenten anzuprangern. Einige zusätz- lassen, die über Unternehmereigenschaften verfügen. Ich liche Belastungen für die Länder wie zum Beispiel die begrüße ausdrücklich, dass es positive Bestrebungen sei- Sonderrenten waren nicht vorhersehbar. Andere Pro- tens der Länder gibt, hier mit entsprechenden Ergän- bleme sind hausgemacht. Wir müssen kritisch erken- zungsstudiengängen und Coachingprogrammen anzuset- nen, dass die strukturellen Haushaltsdefizite eine zen. Aber auch wir sollten unsere Anstrengungen große, vielleicht sogar die größte Gefahr für den Auf- verstärken; denn in der Schaffung neuer Unternehmen

Seite 15623, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr bau Ost darstellen. liegt mit ein Schlüssel zur Zukunft Ostdeutschlands. 15624 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Peter Hettlich (A) In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals für Erstmals konnten die Menschen frei wählen. Viele der (C) ein Herzensanliegen meinerseits werben. Wir müssen Kandidaten standen am Abend dieses Tages vor der völ- dringend die Finanzierungsmöglichkeiten für die klei- lig neuen Situation, dass sie der ersten frei gewählten nen und mittelständischen Unternehmen verbessern, Volksvertretung angehörten. und zwar nicht nur in Ostdeutschland, sondern bundes- weit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einige dieser Kollegen sind heute hier. Ihnen gilt mein und bei der SPD) besonderer Gruß; denn sie waren ein sehr besonderes Parlament. Sie waren das einzige Parlament, das – zu- Dies betrifft gleichermaßen die Neugründungen als auch mindest mehrheitlich – von Anfang an darauf hingear- die bestehenden Betriebe. Ich erfahre oft – viel zu oft – beitet hat, sich selbst aufzulösen. Sie haben damals den von Unternehmern über ihre Kämpfe und Mühen auf Wählerauftrag ernst genommen, den Weg zur deutschen verschiedenen Ebenen, wenn Kreditanträge entweder an Einheit zu gehen. Sie haben das am 3. Oktober 1990 den Hausbanken, fehlenden Sicherheiten oder an allen auch besiegelt. Welch große Leistung, wenn ich an ges- möglichen und unmöglichen Hürden scheitern. Bundes- tern Abend denke! kanzler Schröder hat gestern nochmals deutlich ge- macht, dass uns die Sorgen und Nöte der kleinen und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie mittelständischen Unternehmen besonders am Herzen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE liegen. Aber wie können diese Unternehmen an die zins- GRÜNEN) günstigen Darlehen der Mittelstandsbank kommen, Heute, 15 Jahre später, diskutieren wir darüber, wie wenn die Hausbanken oftmals ihrer Verantwortung nicht der Aufbau Ost weiter vorangebracht und ein weiteres gerecht werden? Ausbluten der Bevölkerung in Ostdeutschland verhin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dert werden kann. Man muss ganz ehrlich sagen: Ganz und bei der SPD) so kompliziert haben wir uns das vor 15 Jahren nicht vorgestellt. Wie man so schön sagt: Leider ist der Ich will die Hausbanken nicht pauschal kritisieren; Mensch hinterher immer klüger. denn einerseits gibt es auch Defizite bezüglich der Qua- lität der eingereichten Kreditunterlagen und andererseits (Zuruf von der SPD: Nicht leider, sondern gibt es in Ostdeutschland kaum noch Möglichkeiten ei- Gott sei Dank!) ner klassischen Besicherung der Kredite zum Beispiel über die Betriebsimmobilie. Die Verkehrswerte der Im- Ich sage aus heutiger Sicht: Hätten wir damals ein mobilien sind in vielen Fällen – selbst bei Neubauten – Niedrigsteuergebiet Ost durchgesetzt, wäre uns man- (B) (D) nur noch virtueller Art. 60 bis 80 Prozent aller Finanzie- che Milliarde für Programme und Transmissionen er- rungsanträge scheitern daher an fehlenden Sicherheiten. spart geblieben und wären manche Arbeitsplätze erst gar Es kann andererseits auch nicht sein, dass dann die Lan- nicht abgebaut worden. desbürgschaftsbanken die ganze Verantwortung über- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nehmen müssen. Es stimmt etwas nicht mehr im System, der CDU/CSU) wenn in einer Marktwirtschaft das Risiko zu 80 Prozent auf den Staat abgewälzt wird. Heute müssen wir uns mit der Realität herumschla- Ich habe in vielen Gesprächen den Eindruck gewon- gen: Arbeitslosenquote bei 20 Prozent, Bevölkerungs- nen, dass es hier einen gordischen Knoten zu durch- abwanderung und Wohnungsleerstand in einer Dimen- schlagen gilt. Je eher wir das tun, desto eher können sion, die sich vorher niemand so richtig vorstellen auch hier Bremsen gelöst und kann zu einer Belebung konnte. In Berlin gibt es das politische Szenario, dass und Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung zwar jeder weiß, dass Kurskorrekturen sofort vorgenom- beigetragen werden. Das wäre gut und wichtig – auch men werden sollten, dass aber der Bundeskanzler scheinbar erst ein Treffen mit der Union braucht, um der oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 für Ostdeutschland. eigenen Fraktion zu sagen: Genossen, ich werde von der Danke schön. Opposition erpresst; nun geht doch endlich einmal einen Schritt weiter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es gibt viele Probleme, die zur Diskussion stehen. Wenn Das Wort hat der Kollege Joachim Günther, FDP- wir ehrlich sind, haben wir doch für viele Probleme eine Fraktion. Lösung. Bloß: Der Mut, Lösungen durchzusetzen, fehlt (Beifall bei der FDP) an der einen oder anderen Stelle. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Joachim Günther (Plauen) (FDP): der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor 15 Jahren fanden die ersten freien Volkskam- Wir müssen aus den Parteischützengräben heraus, egal merwahlen statt. Herr Thierse, Sie haben sehr gut an die- auf welcher Seite. Wir müssen schnell zu Kompromissen

Seite 15624, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr ses Ereignis erinnert. Es war ein historischer Moment. kommen. Die Bevölkerung wartet darauf. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15625

Joachim Günther (Plauen) (A) Allein die Diskussion im vergangenen Jahr – wenn damals für Freiheit, soziale Marktwirtschaft und ein (C) ich daran erinnern darf –, den Jahresbericht zum Stand Ende des Spitzelstaates eingetreten. der deutschen Einheit abzusetzen, hat gezeigt, dass Ich sehe hier einige Kollegen von damals und erin- sich einige über den Ernst der Situation gar nicht im Kla- nere mich, wie sie für diese Position gekämpft haben. ren waren. Die Chefsache Ost von der Tagesordnung zu Mein Blick fällt gerade auf ; er war wirk- nehmen ist Gott sei Dank selbst bei Ihnen nicht durch- lich einer der Eifrigsten. Ich frage mich, wie diese Kolle- setzbar gewesen. Der Bericht wird bis 2008 fortgeschrie- gen mittragen können, dass in einem Ministerium da- ben. Trotzdem habe ich den Chef bis heute nicht richtig rüber diskutiert wird, dass in Deutschland ein Jahr lang auf den Tisch hauen hören, wenn es um den Aufbau Ost Telefonüberwachung stattfindet. Wie kann es sein, dass geht. Das ist das Problem. sich der Fiskus oder Sozialorgane Einsicht in die Kon- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tenstände aller Bürger verschaffen können? Das war der CDU/CSU) nicht die Freiheit, die sie 1989 gemeint haben. Wo ist denn sein Machtwort, wenn es zum Beispiel um (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen geht, was der CDU/CSU) selbst von Ihren Experten gefordert wird? Wo ist denn Wir leben heute in einem freiheitlichen Rechtsstaat. sein Machtwort, wenn aufgrund der Entsenderichtlinie Wir können heute unsere Stimme erheben und wir wer- oder der Dienstleistungsrichtlinie Tausende deutsche Ar- den sie erheben. Herr Schulz, Sie müssen sich wirklich beitsplätze verloren gehen und deutsche durch billige fragen, ob Sie Bündnis 90 nicht neu gründen sollten. Das osteuropäische Arbeitnehmer ersetzt werden? Gestern wäre eine angemessene Reaktion auf die jetzige Situa- hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung an- tion. Wir werden weiter für die Freiheitsideale in unse- gekündigt, dass sich hier etwas ändern muss. Herr Bun- rem Staat kämpfen. deskanzler, ich kann Ihnen nur sagen: Schicken Sie Ihren Außenminister und Ihre Sozialministerin nach Brüssel, Herzlichen Dank. um andere Lösungen herbeizuführen. Dann kann sich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Fischer endlich einmal um deutsche Arbeitsplätze der CDU/CSU) kümmern und braucht sich nicht mit Visaangelegenhei- ten zu beschäftigen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. Die FDP-Fraktion und auch die Unionsfraktion haben Petra Pau (fraktionslos): (B) in ihren Anträgen klare Vorschläge für den Aufbau Ost (D) gemacht: Senkung der Steuer- und Abgabenlast sowie Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Modellregionen für Bürokratieabbau. Herr Milbradt, Wir debattieren heute abschließend über den Jahresbe- Sie haben zwar viele ostdeutsche Beispiele genannt. richt der Bundesregierung zum Stand der deutschen Ein- Aber wir müssen in Ostdeutschland – auch in Sachsen – heit und den Aufbau Ost. Dazu liegen mehrere Anträge den Mut haben, dort, wo wir etwas regeln können, der Koalition, der FDP und der Opposition zur Rechten schnell zu Änderungen zu kommen. Ich nenne als Bei- vor. spiele nur Sonntagswaschanlagen und Öffnungszeiten. Die PDS im Bundestag sieht die Debatte heute im In Landesangelegenheiten sollten die Länder entschei- Kontext mit der Generalaussprache gestern und mit dem den. Alles andere sollte der Bund sofort regeln. Jobgipfel im Anschluss im Kanzleramt. Deshalb haben (Beifall bei der FDP) wir bereits gestern aufmerksam gelauscht, was die Spit- zen von Rot-Grün und die Spitzen der CDU/CSU zur be- Wir brauchen befristete Steuerregelungen im grenz- sonderen Lage in den neuen Bundesländern beisteuern. nahen Gebiet. Wir brauchen weiterhin die Ziel-1-Ge- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Lauschen

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 biet-Förderung der EU für Ostdeutschland. Darüber gibt es keine Diskussionen. Aber wir müssen auch zur können Sie ja! – Weitere Zurufe von der CDU/ Kenntnis nehmen, dass der Tankstellentourismus für CSU) Steuerausfälle in Milliardenhöhe bei uns sorgt. Auch – Sie müssen sich gar nicht aufregen. – Mit Verlaub, das hierfür gibt es Lösungsvorschläge, zum Beispiel die Ein- war gestern einfach nichts zum Thema Ostdeutschland. führung einer Chipkarte. Das Beste wäre natürlich, wenn die Ökosteuer abgeschafft würde; wir wissen das. Aber (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch niemand würde das umsetzen. [fraktionslos]) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie kennen meine These: Vieles, was bundesweit im der CDU/CSU) Argen liegt, wirkt im Osten besonders zugespitzt. Vieles, was im Osten heute kriselt, erreicht morgen die gesamte 09.45-09.55.doc Meines Erachtens können wir bei all diesen Punkten Republik. Gerade deshalb muss es ein besonderes und durch schnelle Impulse ein Ergebnis erreichen. Wir gesamtdeutsches Interesse sein, die Probleme Ost positiv brauchen in unserem Land Zuversicht. Es geht darum, zu wenden. Davon sind wir – bei allen sichtbaren Fort- dass unser Land gestaltet und nicht verwaltet wird. Das schritten – in der Substanz meilenweit entfernt. Sie gie- haben die Volkskammerabgeordneten vor 15 Jahren mit ßen mit Strategien, die im Westen schaden und im Osten

Seite 15625, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr ihrer Arbeit eigentlich in Angriff genommen. Sie sind Gift sind, zusätzlich Öl ins Feuer. 15626 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Petra Pau (A) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch aber auch hier im Saal. Wir haben ihnen allen viel zu (C) [fraktionslos]) verdanken. Die Agenda 2010 und Hartz IV gehören dazu. (Beifall bei allen Fraktionen) Ich möchte Ihnen das an drei Generalproblemen illus- Eindrucksvoll hat Wolfgang Thierse den Weg der trieren: Ostdeutschen in die Demokratie beschrieben. Das war nicht selbstverständlich. Wir sollten bei allem Zorn über Wir haben bundesweit eine Massenarbeitslosigkeit einige Unbelehrbare doch dankbar feststellen: Die große von deutlich über 5 Millionen. Relativ ist die Arbeits- Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland steht zum losigkeit Ost mehr als doppelt so hoch wie die Arbeits- freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat. Das ist eine losigkeit West. Trotzdem haben Sie Hartz IV verordnet. sichere gemeinsame Basis in Deutschland. Dabei wissen alle: Hartz IV schafft keine Arbeitsplätze. Im Gegenteil; weitere Unternehmen und Arbeitsplätze (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden dadurch gefährdet. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) (Zuruf von der SPD: Unsinn!) Auch in der Infrastruktur Ostdeutschlands gibt es Wir haben ein demographisches Problem. Sie versu- seither eindrucksvolle Veränderungen. Man erkennt das chen aber nicht, das Problem zu lösen. Sie versuchen le- Land nicht wieder – seien wir doch ehrlich! Wir werden diglich, die Kosten des Problems umzuverteilen. Auch zum 3. Oktober dieses Jahres eine Ausstellung über hier gilt – ich zitiere aus einem Artikel der „Neuen Städte in Ostdeutschland im Vergleich zwischen 1990 Zürcher Zeitung“ –: Der demographische Wandel findet und 2005 vorbereiten. Da wird zu sehen und zu begrei- überall in Deutschland statt, als Katastrophe aber nur im fen sein, wie sich dieses Land verändert hat, Osten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutschland ist Exportweltmeister. Zugleich krankt der Binnenmarkt. Das wissen alle und das spüren alle wie westdeutsche Solidarität und ostdeutscher Aufbau- strukturschwachen Regionen. Der Osten aber spürt das wille ein schönes Stück Deutschland wiedergeboren ha- flächendeckend. Trotzdem forcieren Sie eine Politik, die ben. Görlitz, Dresden, Erfurt, Quedlinburg, Wismar und den Binnenmarkt schwächt, anstatt die noch ansässigen Stralsund, Potsdam und Weimar – das ist deutsches Unternehmen zu stärken. Weltkulturerbe, auf das wir alle gemeinsam stolz sein können. Ich fasse für die PDS zusammen: Wir brauchen end- lich eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspoli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) tik. Wir brauchen gezielte Anreize gegen das Ausdörren DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael (D) ganzer Regionen. Wir brauchen eine Steuerpolitik, die Goldmann [FDP]) den Kommunen etwas gibt und sie stärkt. Was wir aller- Auch in Industrie und Landwirtschaft wurde dings nicht brauchen, Herr Ministerpräsident, sind Stra- Erstaunliches geleistet. Mikroelektronik, Optronik, tegien, die den Osten und seine Menschen zum Testbal- Automobilfabrikation, Flugzeugtriebwerkhersteller aus lon für Sozialabbau und zum Billiglohnland machen. Ostdeutschland behaupten sich weltweit. Eine leistungs- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- starke Chemieindustrie, eine moderne Energiewirtschaft tionslos] – Widerspruch bei Abgeordneten der und große Raffinerien – das sind einige Beispiele für den CDU/CSU) wirtschaftlichen Fortschritt. Kurzum: Wir brauchen hier kein „Weiter so“, sondern Auch die Wissenschaft ist vorbildlich. Ich freue mit Blick auf den Osten und die gesamte Republik eine mich, dass Dresden gegen eine Konkurrenz aus ganz politische Wende. Deutschland „Stadt der Wissenschaft“ geworden ist. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 [fraktionslos]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Spätestens jetzt wird der Einwand kommen, das sei Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Bau- Schönfärberei. und Wohnungswesen und Beauftragte der Bundesregie- ( [CDU/CSU]: Bis jetzt noch rung für die neuen Bundesländer, Manfred Stolpe. nicht! Es ist ja auch noch nichts Falsches da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bei!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Nein, es ist keine Schönfärberei, aber es ist auch nur die Manfred Grund [CDU/CSU]: Jetzt geht’s los!) halbe Wahrheit. Denn der Transformationsprozess vom Plan zum Markt und der Globalisierungsdruck mit Ra- Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- tionalisierung, Modernisierung und Stellenabbau haben kehr, Bau- und Wohnungswesen: Ostdeutschland eine verheerende Massenarbeitslosig- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und keit gebracht. Das ist unsere Hauptsorge. Unser Handeln Herren! Ich grüße mit Respekt und Dankbarkeit die Mit- muss sich daran messen lassen, was wir dagegen tun. Es

Seite 15626, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr glieder der ersten freien Volkskammer auf der Tribüne, ist gut, dass wir in diesen Tagen über Arbeit in Deutsch- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15627

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) land sprechen – heute die größte Herausforderung für Wichtig ist es auch, Forschung und Entwicklung (C) unser ganzes Land. Es ist eine gute Entscheidung des weiter gezielt zu fördern. Hier haben die ostdeutschen Bundeskanzlers gewesen, dass nun ältere Langzeitar- Länder noch einen großen Nachholbedarf. Die Entwick- beitslose in großem Umfang in Beschäftigung gebracht lung neuer innovativer Produkte und Produktionsverfah- werden können. 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze bieten ren ist eben der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg. Perspektiven und sinnvolle Tätigkeiten für eine Genera- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tion, die von vielen schon abgeschrieben wurde. Auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die größere Flexibilität bei der Befristung solcher Tätig- keiten ist so etwas wie Lebenshilfe. Es ist ferner gut, Die ostdeutschen Unternehmen haben große Chancen, dass auch für alle unter 25-Jährigen Tätigkeiten angebo- sich dauerhaft im nationalen und internationalen Wettbe- ten werden können. werb zu behaupten, wenn sie dynamisch auf neue Markt- entwicklungen reagieren können. Für die Jugend und die wirtschaftliche Zukunft Ost- deutschlands brauchen wir konkrete Maßnahmen, die Meine Damen und Herren, all das kostet Geld. Der Arbeit schaffen und Entwicklung ermöglichen. Deshalb Bund wird seine Zusage zum Korb II im Rahmen des bauen wir die nötigen Verkehrswege weiter. Die Flughä- Solidarpaktes einhalten und überproportional Mittel be- fen Leipzig und Schönefeld sind Wachstumsmotoren; reitstellen: bis 2019 insgesamt 51 Milliarden Euro. In den ersten Jahren der Laufzeit des Solidarpaktes II wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den es jährlich mehr als 5 Milliarden Euro sein. Wir wichtige Autobahnen und Schienenwege können zügig müssen diese Mittel effizient nutzen und gezielt dort ein- gebaut oder weitergebaut werden. Auch das hat der ges- setzen, wo sie das meiste Wachstum und den größten trige Tag gebracht. Das betrifft die A 4, die A 14, die Beschäftigungszuwachs bringen. Was kann eigentlich A 72 und zum Beispiel auch die Schienenverbindung ernsthafter den bundespolitischen Willen bekunden als von Berlin nach Rostock. solche unverrückbaren Finanzgarantien, die der Bund in diesem Zusammenhang abgegeben hat? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das schafft die nötigen Verbindungen und das schafft immer auch Arbeitsplätze; denn die Faustregel gilt: Auch der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen 1 Milliarde für Infrastrukturinvestitionen machen rund unterstreicht nach meinem Eindruck die Ernsthaftigkeit, 28 000 Arbeitsplätze aus. mit der man sich dem Aufbau Ost widmet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Die Stadtumbaumaßnahmen werden fortgesetzt, (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Siegfried Scheffler [SPD]: Sehr gut!) Meine Damen und Herren, vor einem Jahr ist die De- inzwischen auch in westdeutschen Problemstädten. batte über eine Neujustierung der Förderpolitik in Gang gebracht worden; Ministerpräsident Milbradt hat darauf (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des hingewiesen. Auch von unserer Seite wurden damals BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vorschläge für eine Neujustierung unterbreitet. Unter Das Gebäudesanierungsprogramm 2006/2007 wird dem Motto „Stärken stärken, Potenziale nutzen“ haben 120 000 Arbeitsplätze sichern bzw. neu schaffen. Den wir darüber mit Fachleuten, Wissenschaftsinstituten und mittelständischen Unternehmen kann durch die neuen einer breiten Öffentlichkeit gesprochen. Das Thema ist Regierungsentscheidungen spürbar geholfen werden. Da wieder lebendig geworden; der Widerspruch hat dazu wird es wichtig sein, dass wir bei der Umsetzung dieser beigetragen. Grundsatzentscheidung dabei sind. (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Lebendiger als Sie zumindest!) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Wo ist denn Bundeskanzler Schröder?) Es ist auch deutlich geworden: Wir sind gefordert, die Zuschüsse bei Neuinvestitionen werden weiterhin ge- unterschiedliche Entwicklung, die sich in Ostdeutsch- währt. Das alles schafft Arbeit. Genau das brauchen wir land zeigt, zu berücksichtigen. Tatsache ist nämlich: In vor allem. den vergangenen Jahren entstanden an zahlreichen Standorten leistungsfähige Zentren mit zukunftsfähigen In den nächsten Jahren wird es sehr darauf ankom- Industrien. Diese Zentren stellen Ausgangspunkte für men, Unternehmen in Ostdeutschland zu stärken und die das wirtschaftliche Erstarken ganzer Regionen dar. Mo- Investitionsbereitschaft anzukurbeln. Die Gemein- tor dieser positiven Entwicklung ist das verarbeitende schaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirt- Gewerbe, das robuste Zuwachsraten aufweist. Die Stra- schaftsstruktur und die Investitionszulage spielen hier tegie, diese Zentren zu fördern, macht Sinn. Ich will Ih- eine wichtige Rolle. nen aber auch offen sagen, dass ich gewisse Skepsis (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hegte, ob diese Strategie nicht am Ende zulasten von des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Randregionen gehen würde. Es kommt deshalb nach meiner Überzeugung auf den richtigen Mix an: Schwer- Die Bundesregierung wird dies bei der Aufstellung des punktsetzungen ja, aber Verlierer darf es nicht geben.

Seite 15627, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Bundeshaushalts berücksichtigen. Auch das muss ein Ziel unserer Politik sein. 15628 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gung in Angriff genommen und ich denke, wir haben die (C) DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/ Weichen richtig gestellt. CSU]: Das ist so ein krudes Zeug!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und So wollen wir beharrlich und in konkreten Einzelschrit- der FDP) ten vorgehen, ohne auf angebliche Wundermedizin zu- Wenn ich konstatieren muss, dass in der gestrigen Re- rückzugreifen oder diesen Weg als Königsweg zu ver- gierungserklärung des Bundeskanzlers nicht ein einziges kaufen. Wort über den Aufbau Ost zu hören war, Ich bin froh, dass wir uns mit den ostdeutschen Län- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Unglaublich!) dern grundsätzlich verständigt haben. Wir wollen mit- hilfe des Solidarpaktes zukunftsfähige Strukturen auf- kein einziges Wort zu dem historischen Datum, das wir bauen, damit die ostdeutschen Länder ab 2020 auf heute haben, kein Wort zur wirtschaftlichen Entwicklung eigenen Füßen stehen können. Diesem Ziel fühlen wir in Ostdeutschland, dann kann ich verstehen, dass sich uns verpflichtet. Da stehen wir auch in der Verantwor- die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern tung aufgrund der vom Westen geleisteten Solidarzah- von dieser Bundesregierung verlassen fühlen; denn von lungen. der „Chefsache Aufbau Ost“ ist nichts mehr zu spüren. Meine Damen und Herren, wir haben erst Halbzeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – beim Aufbau Ost, aber wir werden unsere Ziele errei- Siegfried Scheffler [SPD]: Protokoll nachle- chen; denn die politischen Grundlagen sind gelegt, sen!) starke Wirtschaftskerne wachsen heran, die Solidarität Sicher sind die Ankündigungen des Bundeskanz- West steht und die Menschen im Osten arbeiten mit gro- lers sehr interessant gewesen: ßer Ausdauer und der Bereitschaft zu hoher Flexibilität für diesen Erfolg. (Siegfried Scheffler [SPD]: Wie kann man so schamlos die Unwahrheit sagen?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/ die Körperschaftsteuer von 25 auf 19 Prozent zu senken; CSU]: Ihr von der SPD seid mit sehr wenig zu- die Personengesellschaften – das sind ja gerade die klei- frieden!) nen Unternehmen, die es in Ostdeutschland häufig gibt – durch die bessere Anrechnung der Gewerbesteuer auf Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Einkommensteuer wettbewerbsfähiger zu machen, Das Wort hat der Kollege Werner Kuhn, CDU/CSU- damit sie mehr Eigenkapital in ihren Unternehmen hal- (B) Fraktion. ten können; die Veränderungen bei der Erbschaftsteuer. (D) Das sind sicher wichtige Maßnahmen für den Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU) schaftsstandort Gesamtdeutschland. Aber wichtiger ist, dass wir – das gilt besonders für 10.00-10.10.doc Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): Ostdeutschland – die Auftragsdecke für die Unterneh- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und men insgesamt wieder verbessern. Wir müssen diejeni- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es gen, die Aufträge schaffen können, in die entsprechende ist angemessen, heute, nach 15 Jahren, des 18. März finanzielle Lage versetzen. Dazu gehören die öffentliche 1990 zu gedenken. Damals konnten wir die ersten Hand, die Kommunen, die Landkreise, die einen Nach- freien Wahlen nach 58 Jahren Diktatur in Ostdeutsch- holebedarf haben. Herr Minister Stolpe, in Ihrer Rede land durchführen. Ich bedanke mich herzlich bei all de- hat gefehlt, wie wir mit den Verabredungen des Vermitt- nen, die sich damals zur Verfügung gestellt haben, die lungsausschusses umgehen wollen, zum Beispiel dass den Aufbau Ost sozusagen in der Volkskammer eingelei- bei Einführung des Arbeitslosengeldes II ein Kaufkraft- tet und in Angriff genommen haben. ausgleich erfolgt, weil in Ostdeutschland traditionell oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sehr viele Arbeitslosenhilfeempfänger von der Hilfe des bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Bundes abhängig waren. Dieser Kaufkraftausgleich NISSES 90/DIE GRÜNEN) sollte in einer Größenordnung von 1 Milliarde Euro er- folgen. Nichts davon haben wir bis jetzt gespürt. Legen Ich hatte damals die große Ehre, zu den Kommunal- Sie endlich ein kommunales Investitionsprogramm auf wahlen am 6. Mai anzutreten. Auch dort war Engage- aus den Mitteln, die die Gemeinden an Sozialhilfezah- ment gefragt. Wir kamen sozusagen aus grauer Städte lungen gespart haben und mit 50-prozentiger Ergänzung Mauern, durch den Bund. Dann könnten wir auch den Jobmotor in Ostdeutschland wieder in Gang setzen. (Zurufe von der SPD: Oh!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und aus dem real existierenden Sozialismus in eine neue Zu- der FDP – Siegfried Scheffler [SPD]: Setzen kunft. Wir wussten genau, dass die freiheitliche Demo- Sie sich dafür ein!) kratie nicht nur Zuckerschlecken ist, dass uns die Markt- wirtschaft nicht in den Schoß fällt und dass wir einen Wir befinden uns – auch dazu ist gestern in der Debatte steinigen Weg zu gehen haben. Aber wir haben die Auf- kein einziges Wort vom Bundeskanzler gekommen – in gaben in der christlich-liberalen Regierung unter Füh- einer sehr schwierigen Situation, was die Binnen-

Seite 15628, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr rung von mit unserer christlichen Überzeu- nachfrage betrifft. Wir haben sehr hohe Spareinlagen; Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15629

Werner Kuhn (Zingst) (A) das können Sie nachlesen, Herr Kollege Scheffler. Das Ich kann Ihnen nur sagen: Es gibt Maßnahmen, die (C) sagen Ihnen auch alle Wirtschaftsforschungsinstitute: kein Geld kosten. Schaffen Sie endlich die Ich-AGs und Die Binnennachfrage ist zurückhaltend, weil nicht klar die Jobfloater ab! Mit den Ich-AGs machen Sie dem ist, was die Bürgerinnen und Bürger in der Zukunft an Handwerk Konkurrenz; das ist ein Verdrängungswettbe- privater Altersvorsorge werb. Am Ende müssen die Beschäftigten beider Grup- pen zum Arbeitsamt. Das ist die Konsequenz, die Sie (Siegfried Scheffler [SPD]: Sie tragen doch nicht verstehen. zur Verunsicherung bei! Ihre Fraktion macht nur Schwarzmalerei!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Zuruf von der SPD: Ange- oder für ihre Krankenversicherung tatsächlich zu zahlen ber!) haben werden. Wo ist denn Ihre Bürgerversicherung? Legen Sie doch endlich einmal die Karten auf den Tisch, Ich möchte herausstellen, welch hervorragende Arbeit damit wir Bescheid wissen, was in Zukunft an privater wir in den neuen Bundesländern geleistet haben. Vorsorge zu erwarten ist! Dann wird sich auch, gerade in (Zuruf von der SPD: Oh!) Ostdeutschland, die Binnennachfrage wieder verbessern. Der Ministerpräsident von Sachsen, Herr Milbradt, hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – in seiner Rede ganz klare Vorgaben formuliert. Wir soll- Siegfried Scheffler [SPD]: Ihre Partei redet ten nicht im Verdrängungswettbewerb, sondern in der doch alles nur schlecht, jeden Tag!) Entwicklung von neuen Produkten und in der Förde- rung von Forschung und Entwicklung unser Heil su- Es besteht in den Kommunen ein Bedarf an Aufträgen chen. für die Renovierung von Schulen und Kitas sowie dem Bau von Straßen. Die Handwerksmeister fragen die Bür- (Unruhe bei der SPD) germeister, wann sie endlich mit solchen Aufträgen Wir sollten aber nicht nur die Universitäten fit machen, rechnen können. Damit könnten sich die Firmen über dass sie mit der Industrie zusammenarbeiten können. Wasser halten und die Beschäftigten aus der Region ihre Wir sollten auch die außeruniversitäre Forschung – bei- Arbeitsplätze behalten. Damit könnte auch verhindert spielsweise in den Leibniz-Instituten und in den Max- werden – das hat schon der Kollege Günther erwähnt –, Planck-Instituten – unterstützen. Aber diesbezüglich ist dass der Abwanderungsdruck größer wird und Ost- nur eine große Entflechtungsdebatte im Gange. Das hat deutschland einen Braindrain erlebt, den wir überhaupt aber nichts mit Bürokratieabbau zu tun. Die Finanzie- nicht verkraften können. rung dieser außeruniversitären Forschung in Ostdeutsch- Wir wollen die Stellen in den Industrieclustern und in land soll auf die Länder übertragen werden, die eh schon (B) den hoch entwickelten Industriezentren mit qualifizier- keine Luft mehr zum Atmen haben und die das finanziell (D) ten Mitarbeitern aus den eigenen Reihen besetzen. Aber gar nicht leisten können. die Menschen haben das Vertrauen in die Wirtschaftspo- (Unruhe bei der SPD) litik der Regierung verloren und wandern in Scharen ab. Die „Ostsee-Zeitung“ aus Mecklenburg-Vorpommern Ich fordere Sie auf: Geben Sie der außeruniversitären Forschung eine Chance, damit sie bei der Schaffung von schrieb, dass die jungen Menschen dem Küstenland den Industrieclustern ihren Beitrag leisten kann. Rücken kehren. So kann es nicht weitergehen. Hier müs- sen durchgreifende Maßnahmen in Angriff genommen (Siegfried Scheffler [SPD]: Beim dem Quatsch werden. muss man Schmerzensgeld kriegen! Das ist unglaublich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- ruf des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]: Jetzt Ich meine nicht, dass man den Aufbau Ost – das war ist mir klar, warum Sie in der Kommunalpoli- Ihr Kritikpunkt, Herr Scheffler – nur mit Schmerzens- tik nicht bleiben konnten!) geld ertragen kann. Unser Bundestagspräsident, Herr Thierse, hat heute in seiner Rede darauf aufmerksam ge- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Es geht auch um die Bestandspflege der Betriebe, macht, woher wir eigentlich gekommen sind. die nach einem sehr schwierigen Wettbewerb in den letz- ten 15 Jahren jetzt noch am Markt sind. Man muss natür- (Siegfried Scheffler [SPD]: Herr Milbradt hat lich einmal fragen: Wo sind die Instrumente der Förde- gesagt, dass alles erfolgreich aufgebaut ist!) rung, um die Eigenkapitalausstattung zu verbessern? Die Wir stimmen darin überein, dass wir aus einer plan- Kreditanstalt für Wiederaufbau soll sich besonders im wirtschaftlichen Kommandowirtschaft und aus der Bereich der kleinen und mittelständischen Unternehmen Unfreiheit – bei den manipulierten Wahlen konnten wir engagieren. die Wahlzettel nur zusammenfalten und in eine Urne stecken – gekommen sind. (Zurufe von der SPD) Wir müssen die freiheitliche Demokratie schützen. Wo sind denn die Hilfen und die Instrumente, die ange- Ich sage dem Herrn Bundeskanzler – er ist heute bei die- kündigt worden sind? Ich habe hier schon immer Mezza- ser Debatte nicht anwesend –: Schaffen Sie endlich wie- nine Kredite mit einer Haftungsfreistellung für die Haus- der politisches Vertrauen gerade in den neuen Bundes- banken gefordert. Wo sind letztendlich die Aktivitäten, ländern! Unterbinden Sie den unglaublichen Machtpoker die Sie angekündigt haben, damit gerade kleine und mit- Ihrer Partei in Kiel! telständische Unternehmen in Ostdeutschland besser

Seite 15629, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Fuß fassen können? (Beifall der Abg. [CDU/CSU]) 15630 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Werner Kuhn (Zingst) (A) Seien Sie ein standhafter Verlierer! Wir sind 1989/90 auf Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten (C) die Straße gegangen mit dem Slogan „Freiheit statt So- und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten zialismus“. Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der DNA-Analyse zu Zwecken des Strafverfahrens (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD) – Drucksache 15/4926 – Wir werden es nicht zulassen, dass das Vertrauen in die Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) freiheitliche Demokratie durch Ihre falsche Politik Innenausschuss – ganz besonders in Ostdeutschland – weiter beschädigt Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- neten der FDP) neten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Rich- Ich schließe die Aussprache. tervorbehalts für die DNA-Analyse anonymer Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Spuren empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und – Drucksache 15/4136 – Wohnungswesen auf Drucksache 15/4706. Der Aus- schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh- (Erste Beratung 148. Sitzung) lung, den Antrag der Fraktionen der SPD und des Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3201 mit schusses (6. Ausschuss) dem Titel „Nachhaltiges Wachstum in Ostdeutschland sichern“ in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer – Drucksache 15/5130 – stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenpro- be! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit Berichterstattung: den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/ Abgeordnete CSU und der FDP angenommen. Joachim Stünker Dr. Jürgen Gehb Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Jerzy Montag der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Jörg van Essen (B) der CDU/CSU auf Drucksache 15/3047 mit dem Titel (D) „Ostdeutschland eine Zukunft geben“. Wer stimmt für c) Beratung der Beschlussempfehlung und des diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang men der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk, und Enthaltung der FDP angenommen. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Verbrechen wirksam bekämpfen – Geneti- der FDP auf Drucksache 15/3202 mit dem Titel „Ost- schen Fingerabdruck konsequent nutzen deutschland als Speerspitze des Wandels – Leitlinien ei- – Drucksachen 15/2159, 15/5130 – nes Gesamtkonzepts für die neuen Länder“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent- Berichterstattung: haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Abgeordnete Christine Lambrecht men der Koalition bei Gegenstimmen der FDP und Ent- Joachim Stünker oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 haltung der CDU/CSU angenommen. Dr. Jürgen Gehb Jerzy Montag Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 sei- Jörg van Essen ner Beschlussempfehlung in Kenntnis des „Jahresbe- richts der Bundesregierung zum Stand der deutschen ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Einheit 2004“ auf Drucksache 15/3796 die Ablehnung Essen, Gisela Piltz, Rainer Funke, weiterer Abge- des gemeinsamen Entschließungsantrags der Fraktionen ordneter und der Fraktion der FDP der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/4163. DNA-Reihentests auf sichere Rechtsgrund- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- lage stellen probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der – Drucksache 15/4695 – CDU/CSU und der FDP angenommen. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c sowie Innenausschuss Zusatzpunkt 4 auf: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 17 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich

Seite 15630, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15631

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich würde gerne die Aussprache eröffnen und bitte die entscheiden? Das würde mich wirklich einmal interes- (C) Kolleginnen und Kollegen, ihre Gespräche außerhalb sieren. des Saales weiterzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion. würde mich auch interessieren, Herr Kollege!) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber Sie werden es natürlich ablehnen. Mein Kollege Röttgen hat in seiner Rede zu diesem Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Thema vor wenigen Wochen gesagt: Redet nicht so viel! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach Handelt lieber! Aber das Nichthandeln ist ja geradezu dem rhetorischen Feuerwerk, das soeben Bundesminis- Koalitionsräson geworden. Sie erschöpfen sich in Inter- ter Stolpe abgebrannt hat, traut sich jemand wie ich views, Interviews, Interviews. Auch Sie, verehrte Frau kaum ans Rednerpult. Wenn der Aufbau Ost mit einer Ministerin, haben in der letzten Woche vieles – wie den solchen Leidenschaft und einem solchen Tempo betrie- verbreiteten Einsatz der DNS-Analyse – angekündigt. ben wird, dann muss einem nicht bange sein. Aber kaum haben Sie es gesagt, bekommen Sie einen Nasenstümper. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Nasen- Desoxyribonukleinsäure – oder auf Englisch: deso- stüber!) xyribonucleid acid – ist die zungenbrecherische Lang- version der Abkürzung DNS oder DNA. Dahinter ver- – Nasenstüber. birgt sich eine Trägersubstanz, bei deren Analyse man (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, vom Ströbele! – Erbinformationen, Anlagen, Charaktereigenschaften und Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Nasenstün- versteckte Krankheiten erkennen kann. ker!) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Jörg – Nicht einen Nasenstünker, Tauss [SPD]: In Lexika gelesen!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zuruf von der – Herr Tauss, der intelligenteste Abgeordnete in diesem CDU/CSU: Der sieht schon ganz lädiert aus! – Haus! Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – DIE GRÜNEN]: Wir sind gewaltfrei!) Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: So einen Nasenstüber. (B) eine Ironie versteht er nicht!) (D) Das erinnert mich an das, was der Bundeskanzler Das ist der Trägerstoff, bei dem man, wie ich eben ge- gerne macht, nämlich vollmundige Ankündigungen in sagt habe, diese Merkmale durch eine so genannte gen- Boulevardzeitungen wie „Wer sich an kleinen Mädchen molekularische Untersuchung feststellen kann. Aber es vergreift, muss weggesperrt werden, und zwar für im- geht nicht nur um diese; denn man kann es auch bei den mer!“ oder „Wer sich als Ausländer hier nicht benehmen so genannten codierten Merkmalen belassen, man kann kann, muss raus, und zwar für immer!“ Damit holt man nämlich auch nur feststellen, ob eine bestimmte Refe- sich in bestimmten Kreisen zunächst Applaus, renzmenge an Speichel, Blut, Sperma, Haaren oder Hautpartikeln mit der DNA desjenigen, von dem sie (Jörg Tauss [SPD]: Das wissen Sie! – Hans- stammen soll, identisch ist. Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: In Ihren Kreisen!) Nun ist das nicht nur ein Quantensprung in der Wis- senschaft, sondern auch geradezu ein Glücksfall für die wenn es aber darum geht, das in den Gremien in eine le- Verbrechensbekämpfung. Das wissen nicht nur wir; das gislatorische Form zu bringen, dann kneifen Sie jämmer- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 weiß die Ministerin, das weiß die SPD, ja das weiß sogar lich. die Fraktion der Grünen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ neten der FDP) DIE GRÜNEN]: Was?) Heute haben wir in erster Lesung den Entwurf eines Umso unverständlicher ist es mir, dass Sie all das, was Gesetzes zur Neuregelung der DNA-Analyse. Es geht dazu von uns vorgelegt wird, schlichtweg ablehnen. um den so genannten genetischen Fingerabdruck. Was unterscheidet diesen genetischen Fingerabdruck von un- Wir haben also heute in zweiter und dritter Lesung die serem klassischen Fingerabdruck? Sie haben sich – im Frage zu beantworten, ob wir bei einer anonymen Unter- „Tagesspiegel“ konnte man es lesen – einer „vertrauli- suchung solcher Körperzellen den Richtervorbehalt chen Expertise“ des Wissenschaftlichen Dienstes dieses 10.15-10.25.doc aufheben sollen oder nicht. Sagen Sie einmal, meine Da- Hauses bedient. Wenn man sich einmal das Deckblatt men und Herren: Was soll eigentlich einem Richter vor- dieser Expertise anschaut, dann erkennt man, dass sie behalten bleiben, wenn man in einer weiblichen Leiche nicht etwa von einer wissenschaftlichen Gruppe, son- Spermaspuren findet? Man kennt den Täter nicht; das ist dern von einer geprüften Rechtskandidatin erstellt wor- eine rein anonyme Untersuchung. Was bleibt dem Rich- den ist. Ich will einmal zu Ihren Gunsten unterstellen,

Seite 15631, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr ter, dem man die Entscheidung vorbehält, eigentlich zu dass es eine mit Erfolg geprüfte Rechtskandidatin ist. 15632 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Dr. Jürgen Gehb (A) (Widerspruch und Unruhe bei der SPD – Jörg Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): (C) Tauss [SPD]: Das ist ja eine Unverschämtheit Nichts lieber als das. gegenüber dem Haus!) (Zuruf von der CDU/CSU: Nasenstünker!) Wenn wir Gutachten von bekannten Professoren haben, begegnen wir denen durchaus kritisch. Nichts anderes Joachim Stünker (SPD): will ich in diesem Fall tun; ich will auch diesen Ausfüh- Herr Kollege Gehb, wenn Sie schon meinen, heute rungen kritisch begegnen. Man findet dort die funda- Morgen den Oberlehrer spielen zu müssen, sind Sie dann mentale Ausführung, mit der Entnahme und Untersu- bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es genau chung solcher Körperzellen sei ein Eingriff in das Recht 12,7 Prozent sind? auf informationelle Selbstbestimmung verbunden und deswegen seien der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – die verfassungsmäßigen Grenzen zu beachten. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie werden der Ernsthaftigkeit dieser Sache nicht ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE recht!) GRÜNEN]: So das Bundesverfassungsge- richt!) Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Ja, selbstverständlich ist das zu beachten. Ich wiederhole für diejenigen, die sie nicht verstanden haben, die Frage des Kollegen Stünker: Er fragte, ob ich (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bereit sei, zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht NEN]: Und deswegen lehnen wir Ihren Antrag 13 Prozent sind, sondern 12,7 Prozent. Ich bin bereit, es ja ab!) zur Kenntnis zu nehmen, und entschuldige mich für diese gravierende Abweichung zu dem von mir in freier Beim klassischen Fingerabdruck ist das natürlich auch Rede Vorgetragenen. der Fall. Oder glauben Sie eigentlich, dass bei jedem, der mit offener Hose auf der Straße herumläuft, ein Finger- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) abdruck genommen wird, meine Damen und Herren? Nach dieser spaßigen Unterbrechung will ich weiter- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) machen. Wir werden ja immer wieder mit der Rechtspre- chung des Bundesverfassungsgerichts konfrontiert. Sie Auch dafür muss natürlich – wie das in § 81 b der Straf- machen das besonders gerne, Herr Montag. Nachdem prozessordnung geregelt ist – ein Anlass bestehen. Von Sie die nachträgliche Sicherungsverwahrung zunächst Ihnen wird aber das Horrorszenario beschrieben, alles als etwas Schimpfliches dargestellt haben, wurde Ihnen (B) und jedes würde mit erkennungsdienstlichen Maßnah- dieses Instrument vom Bundesverfassungsgericht erklärt (D) men verfolgt. Wissen Sie eigentlich, wie viel Prozent der und dann haben Sie klein beigegeben. Heute gerieren Sie Beschuldigten erkennungsdienstlichen Maßnahmen un- alle sich als Erfinder der nachträglichen Sicherungsver- terzogen werden? Frau Lambrecht, Sie sind doch immer wahrung. So wird es eines Tages auch beim genetischen so vorlaut. Fingerabdruck kommen. (Lachen der Abg. Christine Lambrecht [SPD] – Lassen Sie mich auf das Bundesverfassungsgericht Heiterkeit bei der CDU/CSU) zu sprechen kommen. Worin besteht der Unterschied? Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Bei der Un- Wissen Sie es? tersuchung von Körperzellen darf es natürlich nur um (Lachen der Abg. Christine Lambrecht [SPD]) solche Merkmale gehen, die keine Rückschlüsse auf die so genannten codierten Merkmale zulassen, Na, Sie wissen es nicht, dann will ich es Ihnen sagen. (Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt doch gar (Christine Lambrecht [SPD]: Danke schön, nicht!) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Herr Lehrer!) also auf Erbanlagen, Charaktereigenschaften, mögliche Es sind ganze 13 Prozent der Beschuldigten. Krankheiten. Es geht nur um das Vergleichsmuster, da- rum, ob zum Beispiel die Spermaspur von der Person (Zuruf von der SPD: Das ist doch bekannt, stammt. Herr Gehb! – Gegenruf des Abg. Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Frau Lambrecht (Widerspruch des Abg. Joachim Stünker wusste es aber noch nicht! Das ist das Pro- [SPD]) blem!) Weiter hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: So wie das im Moment ausgestaltet ist, kommt der geneti- Selbst das Bundesverfassungsgericht, das Sie ja – jeden- sche Fingerabdruck – jetzt gut zuhören! – forensisch in falls, wenn es Ihnen passt, sonst nicht – gerne als Kron- die Nähe des Daktyloskopen. „Daktyloskop“, Herr zeugen heranziehen – – Stünker, ist die Übersetzung für „Fingerabdruck“.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Lachen bei der SPD) Herr Kollege Gehb, gestatten Sie eine Zwischenfrage Damit hat das Bundesverfassungsgericht selbst gesagt,

Seite 15632, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr des Kollegen Stünker? dass es eine Unterscheidung zwischen dem klassischen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15633

Dr. Jürgen Gehb (A) Fingerabdruck und dem genetischen Fingerabdruck Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) nicht gibt. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Karne- Zypries. val zur falschen Zeit! – Hans-Christian (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wi- DIE GRÜNEN) der besseres Wissen erzählen Sie das!) Deswegen frage ich mich, warum Sie diesen Schritt Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: nicht mitgehen. Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Noch etwas anderes: Es geht nicht nur darum, mit die- Damen und Herren! Der Abgeordnete Goldmann hat sem Instrument den Täter zu überführen. Es gibt auch eben einen sehr richtigen Zwischenruf gemacht, als Sie, Beschuldigte, die sich in einer schwierigen Beweissitua- Herr Gehb, geredet haben. Er hat gerufen: Sie werden tion befinden. Wenn ein genetischer Fingerabdruck die der Ernsthaftigkeit der Debatte nicht gerecht. – Ich kann Schuld eines anderen beweist, dann ist damit gleichzei- das nur bestätigen. tig die Unschuld anderer Beschuldigter bewiesen. Auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das müssen Sie, meine Damen und Herren, mit ins Kal- DIE GRÜNEN – Widerspruch des Abg. kül ziehen. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU] – Thomas Strobl (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [Heilbronn] [CDU/CSU]: Haben Sie auch Ar- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun wir!) gumente? Haben Sie auch noch was zu sa- gen?) Es geht nicht immer nur darum, die armen Täter mit neuen Untersuchungsmethoden zu überziehen. – Machen Sie sich keine Sorgen! Ich habe neun Minuten Redezeit. Es sind noch 8 Minuten und 44 Sekunden üb- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE rig. GRÜNEN]: Den Beschuldigten!) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Es gibt keinen bürgerrechtlichen Anspruch auf Schutz Dann mal ran! Die erste Minute ist schon von Tätern. Nach wie vor steht bei uns der Schutz der rum!) Opfer vor dem Schutz der Täter. Das ist der fundamen- tale Unterschied zwischen Ihrer Auffassung und unserer Was ich jetzt sage, meine ich ganz im Ernst, Herr Auffassung. Gehb. Ich finde das ein bisschen schade. Als wir hier das letzte Mal über die Änderung des Versammlungsrechts (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (B) und die Änderung des Strafrechts geredet haben, haben (D) Hans-Michael Goldmann [FDP]) Sie eine sehr rechtsstaatliche Rede gehalten und eine Gestern war nun wirklich nicht Ihr Tag, meine Damen Menge Bedenken vorgetragen. Ich habe gedacht, Sie und Herren. Sie haben nicht nur Frau Simonis blamiert, hätten sich in Ihrer neuen Rolle als rechtspolitischer Sie haben nicht nur das Land blamiert, Sprecher ein kleines bisschen geändert (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Der (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Warum?) Kanzler ist blamiert!) und würden die Dinge jetzt wirklich ernsthaft angehen. sondern Sie haben uns alle, die wir Politiker sind, in ein katastrophales Licht gestellt. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wir hoffen, der Gehb ändert sich nicht mehr! Den (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was hat das da- mögen wir so, wie er ist!) mit zu tun?) Ich finde es vor allem nicht richtig – das sage ich, ob- Wenn Sie noch einen Funken Anstand haben und ein wohl mir als Nichtmitglied dieses Hohen Hauses das oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 bisschen Sachpolitik machen wollen, kaum zusteht –, dass Sie den Wissenschaftlichen Dienst (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) des Bundestages auf diese Art und Weise diskreditieren. dann stimmen Sie unseren Vorlagen zur Neuregelung der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DNA-Analyse und zur Aufhebung des Richtervorbehalts DIE GRÜNEN und der FDP) zu! Sie wissen so gut wie ich, dass jemand, der ein Gutach- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist ten in Auftrag gibt – das ist, soweit ich weiß, das gute der Gipfel der Lächerlichkeit!) Recht jedes Abgeordneten –, nicht bestimmen kann, wer das Gutachten macht, und vor allem nicht bestimmen Dann hätten Sie wenigstens einen Funken Sachpolitik kann, wie es aussieht. Das ist nämlich gerade der Kick als Beitrag geleistet. an der Geschichte. Deswegen bittet man nämlich um ein Herzlichen Dank. wissenschaftliches Gutachten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich habe es nur Joachim Günther [Plauen] [FDP] – Jerzy ein bisschen zerpflückt! – Thomas Strobl Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein [Heilbronn] [CDU/CSU]: Waren Sie auch

Seite 15633, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Kasperle-Beitrag!) nicht zufrieden?) 15634 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Jetzt lassen Sie mich zur Sache kommen. Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Professor (C) Montag, Sie sollten sich auf Ihren Obmann (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Zeit konzentrieren!) wird es!) Insofern sollten wir uns mit der Frage befassen. Was den Gesetzentwurf betreffend die anonymen Spuren anbelangt, habe ich schon das letzte Mal, als wir darüber Lassen Sie mich nun zu den einzelnen Punkten kom- geredet haben, gesagt, dass wir Ihre Auffassung teilen. men. Wir sehen das also genauso, wir wollen dem aber nicht (Weitere Zurufe von der CDU/CSU, der SPD isoliert stattgeben, weil wir der Auffassung sind, dass es und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sinnvoller ist, ein Gesamtkonzept zu entwickeln. – Das Wort hat überwiegend die Rednerin. – Der erste (Beifall bei der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ Punkt betrifft den Richtervorbehalt. Wir sind der Auf- CSU]: Wann denn? Bis 2010 oder was? Das fassung, dass man bei der DNA-Analyse anonymer Tä- wird dauernd angekündigt! Es tut sich nichts!) terspuren darauf verzichten kann. Ein solches Gesamtkonzept, sehr geehrter Herr Abge- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Genau! Macht ordneter, wird die Bundesregierung in Kürze vorlegen. ihr aber nicht! Es ist Ihr Schicksal, dass Sie Wir meinen, dass es sinnvoller ist, ein Gesamtkonzept klüger sind als Ihre Fraktion!) vorzulegen, das ausgegoren ist und nicht so viele Män- – Nein, seien Sie ganz ohne Sorge. Die Koalition ist sich gel aufweist wie die Vorlage, die Sie jetzt vom Bundes- da einig. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, ist das rat übernommen haben. auch bereits in der letzten Debatte hier gesagt worden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Seit DIE GRÜNEN – Jerzy Montag [BÜND- wann ist sich diese Koalition einig? – Thomas NIS 90/DIE GRÜNEN]: Abgeschrieben!) Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Gibt es tat- – Genau, nur abgeschrieben. sächlich Punkte der Einigkeit?) Dass auch der Bundesrat mit dem Gesetzentwurf Pro- – Sehr häufig. Keine Angst. Diskussionen gibt es hier bleme hat, zeigt sich daran, dass es dort zwischen CDU, und auch im Bundesrat. Wem sagen Sie das? CSU und FDP knallharte Auseinandersetzungen darüber Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie aber das ganze gibt, wer überhaupt zustimmt. System der Strafprozessordnung ins Wanken bringen. (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jerzy (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) (D) Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) Das können wir wirklich nicht tolerieren. Viele Länder haben inzwischen erkannt, dass das, was (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Länder Hessen, Bayern, Hamburg, Saarland und DIE GRÜNEN) Thüringen vorgelegt haben, wohl nicht der Weisheit letz- Sie wollen nämlich völlig auf die Einschaltung des ter Schluss ist. Staatsanwaltes verzichten. Das ist schlicht und ergrei- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ fend ein strafverfahrensrechtlicher Systembruch. DIE GRÜNEN und der FDP – Dr. Jürgen (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wie Gehb [CDU/CSU]: Was ist schon der Weisheit bitte?) letzter Schluss?) – Jetzt wissen Sie noch nicht einmal, was in Ihrem Ge- Dass das so ist, habe ich auch schon bei der Einbrin- setzentwurf steht, oder was? gung des Gesetzentwurfes im Bundesrat deutlich ge- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 macht. Es handelt sich um einen sehr sensiblen Grund- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Doch, doch!) rechtsbereich. Diese Tatsache haben Sie beim Die Strafprozessordnung kennt in keiner einzigen Vor- Versammlungsrecht berücksichtigt und sollten das viel- schrift eine originäre Zuständigkeit der Polizei, auch leicht auch in diesem Fall einmal tun. Der hier zur De- nicht bei der erkennungsdienstlichen Behandlung. batte stehende Entwurf berücksichtigt das nicht. Dass es einen Unterschied zwischen dem daktyloskopischen und (Joachim Stünker [SPD]: Sehr richtig! – Jörg dem genetischen Fingerabdruck gibt, konzedieren Sie in van Essen [FDP]: Richtig!) Ihrem Antrag selbst. Die Polizisten und Polizistinnen kommen in strafrecht- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Natürlich! Das lichen Ermittlungsverfahren immer nur als Hilfsbeamte ist richtig!) der Staatsanwaltschaft zum Zuge. Sie stehen also in ei- nem direkten Abhängigkeitsverhältnis. Sie schreiben im Vorwort, dass es nur eine weitgehende Ähnlichkeit, aber keine vollständige Übereinstimmung (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig! Aus gu- gibt. ten Gründen!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Genau, das hat seinen guten Grund. Das soll in der

Seite 15634, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr NEN]: Selbst das ist falsch! – Gegenruf des Strafprozessordnung auch so bleiben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15635

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ und man alles in eine Norm schreiben könne – die Exe- (C) DIE GRÜNEN und der FDP – Dr. Jürgen kutive werde es schon richten. So ist unser rechtsstaatli- Gehb [CDU/CSU]: Das hat mit dem Richter- ches System aber nicht angelegt. vorbehalt nichts zu tun!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist Es muss einen ganz klaren Unterschied zwischen dem es!) strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und den präventi- ven, vorbeugenden Aufgaben der Polizei geben. Die Formulierung von Gesetzen muss ordentlich erfol- gen; Wir meinen, dass es nicht geht, in der Strafprozess- ordnung eine originäre Zuständigkeit der Polizei für die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Durchführung der DNA-Analyse einzuführen, indem der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Richtervorbehalt vollständig gestrichen wird. FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Erstes Semester, Herr Gehb!) Zudem verzichtet der Entwurf, den Sie vorgelegt ha- ben, vollständig auf die so genannte Negativprognose wir haben bei der Formulierung einer Norm verfassungs- als Voraussetzung für die DNA-Analyse. Ausreichen soll rechtlichen Anforderungen zu entsprechen. Die Ein- Ihrer Meinung nach künftig jede Straftat. Ebenso sagen griffsbefugnis muss in der Norm festgelegt sein; die Ent- Sie, dass jede Anlasstat genügen soll. Wir meinen, das scheidung darüber kann nicht zwanglos an die Exekutive wird diesem besonders sensiblen Thema nicht gerecht. weitergereicht werden. Wir meinen, dass immer auch ein bestimmtes Maß an (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Abwägung erforderlich ist. Das hat nichts mit Täter- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der schutz zu tun, um das einmal ganz klar zu sagen. Diesen FDP) Vorwurf dieser Regierung zu machen, die in der letzten Zeit gerade den Opferschutz in den Vordergrund gestellt Das ist der Denkfehler, den Sie machen, wenn Sie davon und mehrere Opferschutzgesetze verabschiedet hat sprechen, dass nur 12,7 Prozent der Beschuldigten er- kennungsdienstlichen Maßnahmen unterzogen werden; (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ deswegen kann das nicht funktionieren. DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU]: Kauder!) Wir können uns bei der Gefahrenprognose zwar da- rüber unterhalten, ob es besondere Fälle gibt, die einer – der Herr Kauder teilt unsere Auffassung und hat das anderen Prognose bedürfen. Wir können uns auch auf auch nicht kritisiert –, ist wirklich etwas neben der Sa- die Delikte mittlerer Kriminalität oder Ähnliches bezie- che. hen. Aber es muss auf alle Fälle bei einer qualifizierten (B) (D) Wir sagen also: Keinen Richtervorbehalt bei der Prognose bleiben; eine vollständige Gleichstellung mit DNA-Analyse anonymer Täterspuren. Keinen Richter- dem Fingerabdruck kann es nicht geben. Ein weiterer vorbehalt, wenn der Betroffene einverstanden ist. An- Punkt, über den Einvernehmen besteht – auch über die sonsten bleibt es dabei. Parteigrenzen hinweg, wenn ich das richtig in Erinne- rung habe, Herr van Essen –, ist die Regelung der so Beim Anlasstatenkatalog, also dem Katalog von genannten freiwilligen Reihengentests. Hier sind wir ge- Straftaten, die Anlass geben, darüber nachzudenken, ob meinsam mit anderen aus der Opposition der Auffas- man die Daten speichern sollte, meinen wir, dass auch sung, dass es einer gesetzlichen Regelung bedarf. Insbe- die wiederholte Begehung nicht erheblicher Straftaten sondere sind die Betroffenen darüber aufzuklären, was auf ein bestimmtes Gefahrenpotenzial schließen lässt. sie erwartet und was die Rahmenbedingungen für die Das hat uns das Bundeskriminalamt in neueren Studien Teilnahme an einem solchen freiwilligen Test sind. dargelegt. Dem werden wir uns selbstverständlich nicht verschließen. Sie sehen also, wir sind durchaus der Auffassung, dass wir etwas verändern sollten. Ich verspreche Ihnen, Wir meinen, dass wir die Gefahrenprognose als Vo- dass die Bundesregierung dazu zeitnah einen Entwurf oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 raussetzung unbedingt beibehalten müssen. Wir wollen vorlegen wird. jedoch nicht, dass schon die Erwartung von Bagatell- delikten für die DNA-Analyse genügt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das gibt es doch beim normalen Fingerabdruck auch nicht, Frau Ministerin! 13 Prozent! Sie tun ja gerade Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: so, als würde jeder Ladendieb mit erkennungs- Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDP- dienstlichen Maßnahmen überzogen!) Fraktion.

10.30-10.40.doc – Herr Abgeordneter, das ist genau das, worauf ich jetzt Jörg van Essen (FDP): kommen wollte: Sie machen einen logischen Denkfeh- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ler, wenn Sie meinen, dass die Definition einer Norm Bevor ich zur Sache komme, ein kurzes Wort an den und ihre faktische Anwendung gleichgesetzt werden Kollegen Gehb, der sich hier in der Debatte über die ge- könnten prüfte Rechtskandidatin, die für den Wissenschaftlichen (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist doch Dienst gearbeitet hat, lustig gemacht hat: Als ich Student

Seite 15635, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr so!) war, habe ich ein Seminar besucht und wie meine 15636 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Jörg van Essen (A) Mitstudenten auch eine Seminararbeit verfasst. Sie ist von Daten eine Prognose, dass schwere Straftaten zu er- (C) unter dem Namen eines Professors als Stellungnahme warten sind. Bei der Prognose kann auch wichtig sein, beim Bundesverfassungsgericht eingereicht worden. Das ob jemand eine Fülle von kleineren Straftaten begangen macht deutlich, dass offensichtlich sogar Studenten in hat. Diese Erkenntnis verdanken wir dem Bundeskrimi- der Lage sind, vernünftige Gedanken aufzuschreiben. nalamt. Ich finde, wir sollten auf diese Erkenntnis rea- Deshalb denke ich, wir sollten hier im Plenum mit ge- gieren. prüften Rechtskandidaten nicht so umgehen, wie Sie das Ich bin nachdrücklich der Meinung, dass diese Maß- gerade getan haben. nahme in der Hand der Staatsanwaltschaft bleiben muss. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Deshalb ist die Kritik der Bundesjustizministerin nach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) meiner Auffassung auch in diesem Punkt berechtigt. Es ist doch ganz selbstverständlich, dass hier keine eigene Befugnis für die Polizei geschaffen werden kann, wie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das im Gesetzentwurf der CDU/CSU steht. Auch das Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des macht deutlich, dass wir hier wirklich einen Nachdenk- Kollegen Gehb? bedarf haben. Ich bin sehr dankbar, dass die Anregung zum Verfah- Jörg van Essen (FDP): ren beim so genannten DNA-Massenscreening, die von Nein. Ich denke, wir haben ein ernsthaftes Thema und meiner Fraktion in den Deutschen Bundestag einge- sollten diese Sache hier nicht weiter vertiefen. bracht worden ist, aufgegriffen wurde. Bei diesem Ver- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Herr Gehb, fahren werden sehr viele Menschen aufgefordert, für setzen! Fünf!) eine DNA-Analyse zur Verfügung zu stehen, beispiels- weise dann, wenn es zu einem Mord und insbesondere Frau Ministerin, für vieles von dem, was Sie gesagt zu einem Sexualmord gekommen ist. Das geschieht bis- haben, finden Sie meine volle Unterstützung. Wir haben lang ohne jede rechtliche Regelung. Dafür muss es eine hier ein grundrechtsensibles Thema. Wenn das so ist, klare Grundlage geben. Insbesondere muss festgelegt dann muss die Debatte dem auch entsprechen. Wenn wir werden, dass die Spuren derer, die nicht tatverdächtig uns den Bereich der DNA-Analyse anschauen – wir ha- sind, hinterher zu vernichten sind. ben darüber in den letzten Wochen ja mehrfach debat- tiert –, dann müssen wir feststellen, dass wir tatsächlich Ich habe das Gefühl, dass wir einen wichtigen Schritt Diskussionsbedarf haben. Aber ich finde, wir sollten das nach vorne machen, wenn wir das so angehen. Wir ha- mit der notwendigen Ruhe und mit dem notwendigen ben neue kriminologische Erkenntnisse und es gibt eine Verstand und nicht mit Eifer tun. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Meine (B) Vorhersage und auch mein Wunsch ist es, dass wir die (D) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Fragen quer durch das ganze Haus gemeinsam mit SPD) rechtsstaatlicher Sensibilität regeln. Wir als Liberale sind dazu jedenfalls bereit. Wenn man das mit Ruhe macht, dann muss man sagen: Der Kollege Gehb hat in einem Punkt tatsächlich Recht Vielen Dank. – und darin unterstütze ich ihn nachdrücklich –: Die (Beifall bei der FDP, der SPD und dem DNA-Analyse ist nicht nur ein Aspekt bei der Belastung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von Menschen, sondern sie ist auch ein ganz wichtiger Faktor bei der Entlastung von Menschen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen CDU/CSU) Gehb das Wort. Das muss bei unserer Debatte immer wieder berücksich- tigt werden: Wer weniger zulässt, der lässt auch weniger Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Entlastungsmöglichkeiten zu. Dieser Aspekt ist mir Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ganz wichtig. Damit sich der freilich unzutreffende Vorwurf – Sie kön- nen das auch im Protokoll nachlesen –, ich hätte hier je- Auf der anderen Seite haben wir die Vorgaben des manden lächerlich gemacht, durch Wiederholungen im Bundesverfassungsgerichtes zu beachten. Wir als FDP weiteren Verlauf nicht noch mehr verfestigt, möchte ich werden keiner Lösung zustimmen, die gegen die Recht- das richtig stellen. sprechung des Bundesverfassungsgerichts gerichtet ist. In dem Sinne, dass Allgemeingutachter bei uns gele- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Thomas gentlich kritisch gewürdigt werden – Herr Montag, Sie Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wir auch reden zum Beispiel sogar von deutschen Richtern als nicht!) von Leuten, die bestellte Entscheidungen fällen –, habe ich lediglich sagen wollen, dass die Authentizität der Allerdings – und das habe ich schon in der letzten De- Verfasserin dieses Gutachtens nicht höher einzuschätzen batte gesagt – gibt es auch Möglichkeiten, auszuloten, ist als die von hochkarätigen Professoren. Dabei habe was möglich ist und was nicht möglich ist. Ich unter- ich den Begriff „geprüfte Rechtskandidatin“ in der mir stütze nachdrücklich, was die Ministerin vorhin gesagt eigenen Art, manchmal etwas spaßig zu sein, verwendet. hat und was auch das Bundesverfassungsgericht erklärt

Seite 15636, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr hat: Auch in Zukunft brauchen wir vor der Speicherung (Lachen bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15637

Dr. Jürgen Gehb (A) Dass ich deshalb hinterher, wie immer, Gegenstand von Die Frage, ob das Mittel erfolgreich ist, entbindet uns als (C) Diffamierungen werde, zeigt mir die Hilflosigkeit der Rechtspolitiker nicht von der Überprüfung, was mit der langweiligen Vorleser gegenüber jemandem, der sich Verfassung zu machen ist und was die Verfassung ver- traut, hier einmal etwas in freier Rede zu sagen. bietet. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Zweitens. Es wird behauptet – Herr Gehb ist in seiner [Salzgitter] [SPD]: Immer noch peinlich! – Rede darauf eingegangen –, es gebe angeblich eine ver- Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE fassungsrechtliche Neubewertung der DNA-Analyse GRÜNEN]: Unverbesserlich!) und der Speicherung. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: 14.12.2000!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege van Essen, wollen Sie antworten? – Jetzt schreien Sie doch nicht immer dazwischen. So steht es in der Begründung Ihres Gesetzesantrags. Ich (Jörg van Essen [FDP]: Nein!) habe mir die beiden Fundstellen angeschaut und festge- – Dann gebe ich das Wort dem Kollegen Jerzy Montag, stellt: Die eine Fundstelle bezieht sich auf eine Entschei- Bündnis 90/Die Grünen. dung aus dem Jahr 1996, als die DNA-Speicherung in der StPO noch nicht enthalten war; denn sie ist erst 1998 ins Gesetz aufgenommen worden. Die Fundstelle ist da- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mit uralt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Dr. Gehb, Sie schaffen es jedes Mal wie- Die zweite Entscheidung aus dem 103. Band ist die der, das notwendige Niveau einer Debatte im Deutschen Entscheidung vom Dezember 2000. Bundestag in freier Rede im Sturzflug nach unten zu (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: durchstoßen. 14. Dezember!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In diese muss man hineinschauen, um zu wissen, was und bei der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ dort steht. Sie schreiben, dass darin eine Neubewertung CSU]: Und Sie können es mit Ablesen nicht der Eingriffsintensität des genetischen Fingerabdrucks verbessern!) abgehandelt sei. Das Zitat – das kann man in der freien Heute haben Sie dafür wiederum ein ganz tolles Beispiel Rede nicht einfach vortragen, dafür muss man ein Blatt geliefert. Papier zur Hand nehmen – lautet: (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Oh, der blanke (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Doch!) (B) Neid!) (D) Die mit Hilfe des … DNA-Indentifizierungsmus- Meine Damen und Herren, die Union hat mit ihrem ters erreichbare Code-Individualität wird in forensi- neuen Gesetzesvorschlag die Katze aus dem Sack gelas- scher Sicht am besten durch ihre Nähe zum Dakty- sen. Wenn wir diesen Gesetzesvorschlag analysieren, logramm verdeutlicht. dann stellen wir fest, dass zukünftig jede Straftat Anlass Das bedeutet nichts anderes, als dass die Trefferhäufig- für eine Speicherung der DNA-Identitätsmuster sein keit genauso gut und vielleicht sogar besser ist als die soll. Auf eine qualifizierte Negativprognose will die beim Fingerabdruck. Das ist eine unbestreitbare Tatsa- Union verzichten und jegliche richterliche Prüfung und che. Aber über die Frage der Intensität des Grund- Anordnung durch den Richter will sie aus der Strafpro- rechtseingriffs sagt diese Fundstelle nicht das Geringste zessordnung herausstreichen. aus. Das wissen Sie ganz genau. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollege Montag kann nicht einmal lesen!) sowie bei Abgeordneten der SPD)

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Wenn wir uns anschauen, womit Sie diesen Anschlag Für uns Grüne bleibt es dabei: Es muss bei den so ge- auf die StPO – so bezeichne ich das – begründen, dann nannten Anlasstaten eine Schwelle geben, also bei den stellen wir fest, dass Sie zwei Gründe nennen: Taten, die Anlass bieten sollen und müssen, über eine Erstens. Sie sagen, die DNA-Analyse und die Spei- solche Analyse und Speicherung für die Zukunft nachzu- cherung sowie der Vergleich der Identitätsmuster seien denken. Dabei ist richtig, dass die wiederholte Begehung sehr erfolgreiche Elemente der Polizeiarbeit. Das ist auch geringerer Straftaten dann Anlass zu einer solchen richtig. Ich sage für die Grünen ausdrücklich: Das Maßnahme sein kann, wenn die Gesamtbewertung die- stimmt. Natürlich ist man mit dieser neuen Methode he- ser wiederholten Taten und der Person dazu führt, dass rausragend in der Lage, die Unschuld von Menschen zu es sich hierbei um einen schwerwiegenden Fall handelt. beweisen. Deswegen werden wir uns auch dafür stark Wir als Grüne sind auch der Auffassung, dass die machen, dass dann, wenn man einer solchen Analyse zu- qualifizierte Negativprognose im Gesetz bleiben muss. stimmt, der Richtervorbehalt entfällt. Aber nicht jedes Alle meine Vorredner und auch die Ministerin haben da- Mittel, das polizeilich erfolgreich ist, ist deswegen in von gesprochen, dass dies eine verfassungsmäßige vollem Umfang verfassungsrechtlich zulässig. Schranke ist, die wir nicht unterschreiten werden. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN empfehle Ihnen, Herr Kollege Dr. Gehb: Nehmen Sie ein

Seite 15637, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr sowie bei Abgeordneten der SPD) Papier zur Hand oder setzen Sie sich vor den Bildschirm 15638 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Jerzy Montag (A) und lesen Sie die Entscheidung des Bundesverfassungs- Damals ging es um demokratische Rechte, um Bürger- (C) gerichts noch einmal nach. rechte. Die alte Bundesrepublik berief sich gern auf diese Tradition. Das war allerdings gestern. Seit der Ver- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich kenne sie einigung 1990 erleben wir das Gegenteil. Grund- und auswendig!) Bürgerrechte wurden massiv abgebaut. Was wir machen wollen und werden, ist die Ausarbei- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das tung eines Gesetzentwurfs, der alle Aspekte dieses Pro- ist ja unglaublich!) blems beinhaltet. Wir werden die Frage der Umwidmung lösen. Es gibt ein Problem der richterlichen Überprüfung Auch darum geht es heute in der Debatte. derjenigen Analysen, die im konkreten Ermittlungsver- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sie können auf fahren gemacht worden sind und später in die Datenbank die Daten der SED-Diktatur zurückgreifen!) eingestellt werden sollen. Wir werden die Frage der DNA-Reihentests im Gesetz verankern, und zwar so, – Herr Kollege, regen Sie sich doch nicht so auf! dass klar ist, dass die Beteiligung an diesen Gentests Laut Grundgesetz gilt, dass jede und jeder über per- freiwillig ist. Wir sind der Meinung, dass derjenige, der sönliche Daten selbst bestimmen kann. Ausnahmen, so über die Konsequenzen belehrt worden ist, sehr wohl das sagt das Bundesverfassungsgericht, müssen wohlbe- Recht haben muss, zu sagen: Ich stimme einer solchen gründet sein und äußerst restriktiv behandelt werden. Analyse und Speicherung zu. In dem Fall kann der Rich- DNA-Daten sind sehr sensible Daten. CDU und CSU tervorbehalt entfallen. wollen sie dennoch mehr denn je erfassen, speichern und Schließlich – hören Sie gut zu, falls Sie es immer nutzen. Das dahinter stehende Menschenbild erschreckt noch nicht verstanden haben – mich, Herr Kollege, weil dann alle potenziell verdächtig sind. Das lehnt die PDS ab. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich habe es verstanden!) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos] – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/ sage ich Ihnen als grüner Rechtspolitiker: Die richterli- CSU]: Das Menschenbild der DDR ist erschre- che Überprüfung anonymer Spuren, die der Bundestag ckend!) im Jahre 2000 ins Gesetz hineingeschrieben hat, kann Dahinter steckt übrigens auch ein gefährliches Gesell- wegfallen. schaftsmodell, wonach der Staat aus Sicherheitsgründen (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Kann weg- möglichst alles wissen muss. Da Sie gerade über die Ge- fallen?) schichte, auch die Geschichte der DDR, reden: Ich hätte (B) nicht geglaubt, dass man so wenig aus der Geschichte (D) Wir werden uns dafür einsetzen, dass der Richtervorbe- lernen kann und mit solchen Initiativen in den Bundestag halt entfällt. Das ist nicht das erste Mal, dass ich das hier geht. sage. Aber wir werden das nicht in einem isolierten Ver- fahren machen, sondern in einem Gesetz, das all diese (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Elemente umfasst. [fraktionslos]) Danke schön. Leider stehen CDU und CSU keinesfalls allein da, wenn es um den Abbau von Bürgerrechten geht. Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben mit dem Innenminister Schily einen sehr verläss- und bei der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ lichen Patron und Patriarchen in der rot-grünen Koali- CSU]: Sie haben dafür nicht mehr viel Zeit!) tion. Er forderte am Wochenende, Telekommunikations- daten sollten mindestens zwölf Monate gespeichert Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werden, also alle Telefonverbindungen, E-Mails, SMS und mehr. Der Deutsche Anwaltverein spricht von staat- Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau. oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 licher Schnüffelei in unerträglicher Dimension. Ich finde, er hat Recht. Selbst die Telekommunikationsan- Petra Pau (fraktionslos): bieter monieren, das alles sei zu teuer und viel zu büro- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kratisch. Auch das ist nachvollziehbar, allerdings nicht CDU und CSU wollen DNA-Analysen ausweiten, nicht das dringendste Argument. Die eigentliche Gefahr für zum ersten Mal, aber immer öfter. Die PDS im Bundes- die Bürgerrechte und die Verfasstheit unserer Gesell- tag wird diesem Anliegen erneut nicht zustimmen. schaft ist größer. Denn wer mit der Zeit geht, das Inter- net nutzt, mobil telefoniert oder sich navigieren lässt – (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch all jene müssen in Kauf nehmen, dass sie zunehmend [fraktionslos]) ausgespäht werden und diesen Einbruch in ihre Privat- sphäre auch noch selbst bezahlen müssen. 10.45-10.55.doc Übrigens ist heute der 18. März. In Berlin, am Bran- denburger Tor, und auch anderswo wird es zahlreiche Das ist übrigens keine pure Folgenfrage der techni- Veranstaltungen geben, auf denen parteiübergreifend der schen Entwicklung, sondern das ist eine Folgenfrage an Revolution von 1848 gedacht wird. die Politik. ( [CDU/CSU]: Wie wäre es (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch

Seite 15638, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr mit der Volkskammer?) [fraktionslos]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15639

Petra Pau (A) Die Politik muss eingreifen, wenn technischer Fort- den. Wenn das unstreitig ist, Kollege Montag, dann ist (C) schritt demokratische Errungenschaften bedroht. Sie tut zu fragen, warum Sie seitens der Bundesregierung seit es aber nicht oder nur unzureichend. Die Anträge der Jahren tönen, was Sie alles ändern wollen, aber tatsäch- CDU/CSU und die Vorstöße des Innenministers sind in lich nichts anderes zustande bringen, als die Anträge der ihrem Anspruch das Gegenteil einer modernen und de- Union abzulehnen. mokratischen Zivilgesellschaft. Genau diese Absage an (Beifall bei der CDU/CSU) die Bürgerrechte lehnt die PDS im Bundestag ab.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: [fraktionslos]) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Thomas Strobl, CDU/CSU- Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Fraktion. Bitte sehr. (Beifall bei der CDU/CSU) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Herr Kollege Strobl, ich frage Sie, ob Sie bereit sind, Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- zur Kenntnis zu nehmen und es auch selber im Deut- gen! schen Bundestag festzustellen, dass wir es waren, die in einer Gesetzesänderung zum 1. April 2004 die Vor- … aus meiner Sicht spricht nichts dagegen, die schriften über die DNA-Analyse und -Speicherung auf DNA-Analyse im Prinzip der erkennungsdienstli- alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung er- chen Behandlung gleichzustellen. Alle Täter, bei weitert, denen z. B. eine Wiederholungsgefahr besteht, müs- sen dann eine Haar- oder Speichelprobe abgeben. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Dieser Eingriff ist nicht schwerwiegender als heute GRÜNEN]: Alle!) die Abnahme eines Fingerabdrucks und das Foto- die Möglichkeit der Geschlechtsbestimmung ins Gesetz grafieren. aufgenommen und andere Ergänzungen vorgenommen (Beifall bei der CDU/CSU) haben. Ich frage Sie, ob all dies an Ihnen vorbeigegan- gen ist. Mit diesem Zitat möchte ich beginnen. Das hat zwei Tage vor dieser Debatte – welch ein Zufall – der Präsi- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Scheinbar!) (B) (D) dent des Bundeskriminalamtes öffentlich gefordert. Recht hat der Mann. Der BKA-Präsident Ziercke sagte Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): in demselben Interview: Verehrter Herr Kollege Montag, ich nehme seit länge- rer Zeit zur Kenntnis, dass Sie immer dann, wenn wir Eine immer wichtigere Rolle spielt die „intelligente eine Debatte anstoßen, zwar zwangsläufig bereit sind, Fahndung“, z. B. der genetische Fingerabdruck. sich dieser Debatte zu stellen, sich dann aber in sicher- Recht hat der Mann. Das ist nicht irgendjemand, son- heitspolitischen Fragen mit dem Tempo einer schleswig- dern ein Fachmann, ein allseits erfahrener Kriminalbe- holsteinischen Wanderdüne bewegen. Ein Stück weit amter. Das ist unabhängig von politischen Bewertungen. verwerflich finde ich es sogar, dass Sie lediglich dann, Er ist zur Zeit der rot-grünen Bundesregierung zum Prä- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Bitte auf die sidenten des BKA ernannt worden. Frage antworten!) Wenn wir dank des Fortschreitens der Technik nun, wenn eine spektakuläre Straftat – ein spektakulärer um mit dem BKA-Präsidenten zu sprechen, mit dem ge- Mord oder eine spektakuläre Kinderschändung – pas- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 netischen Fingerabdruck eine unstreitig bedeutsame Me- siert, bereit sind, sich minimal in kleinsten Schritten ge- thode intelligenter Fahndung haben, dann darf schon die setzgeberisch zu bewegen. Frage gestellt werden, warum Rot-Grün diese intelligen- ten Fahndungsmethoden unseren Ermittlungs- und Das, was Sie gemacht haben – darin sind sich alle Strafverfolgungsbehörden vorenthalten will Polizeifachleute einschließlich des BKA-Präsidenten einig –, ist bei weitem nicht ausreichend. Ansonsten be- (Joachim Stünker [SPD]: Die haben sie doch!) schränken Sie sich darauf, die von der CDU/CSU und warum eigentlich Polizei und Staatsanwaltschaft bei gestellten Anträge unter irgendwelchen verfassungs- der Verbrechensverfolgung und der Aufklärung von rechtlichen oder anderen Vorwänden abzulehnen. Straftaten künstlich dumm gehalten werden sollen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag Herr Kollege Montag, ich bin mit der Beantwortung [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind der Frage noch nicht ganz fertig. Sie von Rot-Grün müs- nicht dumm!) sen sich schon entscheiden. Ich habe die Debatte, die wir Die DNA-Analyse ist in den vergangenen Jahren zu vor einem Jahr – Anfang Januar des Jahres 2004 – einem äußerst erfolgreichen Mittel gerade bei der Auf- geführt haben, im Protokoll nachgelesen. Darin

Seite 15639, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr klärung von schweren und schwersten Straftaten gewor- wurden zwei Argumente gegen die Anträge der Union 15640 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) vorgebracht. Die eine Argumentation entspricht dem, Das sagt der Verfassungsminister. Herr Kollege Montag, (C) was Sie ausgeführt haben, nämlich dass in den Anträgen Sie sollten sich insbesondere eines, was Herr Schily ge- der Union nichts Neues enthalten sei und dass Sie die sagt hat, zu Eigen machen: Dies ist ein Thema, bei dem darin angesprochenen Maßnahmen längst durchgeführt Sie ein Stück weit Ihre Ideologie und Ihre Dogmatik zu- hätten. Die andere Argumentationsschiene ist die, wel- rückstellen und das zur Kenntnis nehmen sollten, was che der Herr, der neben Ihnen sitzt, Fachleute der Verbrechensaufklärung und der Verfol- gung von Straftaten Ihnen und uns sagen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn damit gemeint?) (Beifall bei der CDU/CSU) und seine geistigen Verbündeten verwenden, nämlich Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, in dem dass alle Vorschläge der Union verfassungswidrig und es Ihnen gelungen ist, in der Öffentlichkeit durch ge- schlimm sind. – Beides kann nicht richtig sein. Deswe- zielte Falschinformationen ein teilweise völlig falsches gen sollten Sie über Ihre eigene Argumentation nachden- Bild entstehen zu lassen. ken. Ansonsten wird nämlich offenkundig, dass es vor- geschobene Argumente sind und dass Sie in der Sache (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE keine Gründe vorzubringen haben, warum unsere Vor- GRÜNEN]: Wir nicht!) schläge abzulehnen sind. Der genetische Fingerabdruck ist nichts anderes als eine Unsere Vorschläge sind auch deswegen nicht abzuleh- moderne Form des klassischen Fingerabdrucks. In der nen, weil sich der genetische Fingerabdruck zum Finger- DNA-Analysedatei des BKA wird lediglich ein Zahlen- abdruck des 21. Jahrhunderts entwickeln wird. Er ist code des DNA-Profils gespeichert, mit dem keinerlei also ein äußerst effizientes und erfolgreiches Mittel und Rückschlüsse auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale stellt, wie uns alle Experten aus der Praxis bestätigen, ei- oder Erbanlagen möglich sind. Das ist der Stand der nen Quantensprung in der Kriminalistik dar. Wissenschaft. Nur der Kollege Montag und der Kollege Ströbele wissen es natürlich besser. Dieselben Experten, meine Damen und Herren von Rot-Grün, fordern von uns als Gesetzgeber, dass eine (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) Ausweitung des Ermittlungsinstruments genetischer Die Behauptung, man könne mit den Informationen des Fingerabdruck und eine Abschaffung des Richtervor- genetischen Fingerabdrucks Rückschlüsse auf Erb- behaltes wichtige Schritte wären, um die Aufklärungs- anlagen ziehen oder sogar ein Persönlichkeitsprofil er- quote bei Straftaten weiter zu erhöhen. An einer Erhö- stellen, ist schlicht falsch. Sie wird auch durch ständiges hung dieser Aufklärungsquote sollten wir doch alle ein Wiederholen nicht richtiger. vitales Interesse haben. (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte in diesem Zusammenhang einen ausge- Diese Forderung wird im Übrigen nicht nur von wiesenen Fachmann sprechen lassen, den Berliner Mole- Unionspolitikern und uns nahe stehenden Experten erho- kularbiologen und führenden DNA-Spezialisten Profes- ben. Ich wundere mich, dass Bundesinnenminister sor Dr. Hubert Pöche. Er leitet die Abteilung für Schily an einer so wichtigen Debatte nicht teilnimmt. forensische Molekularbiologie am Institut für Rechts- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wis- medizin der Berliner Charité. Er erklärte vor einigen sen, dass gleichzeitig der Bundesrat tagt!) Wochen auf die Frage, ob durch den genetischen Finger- abdruck Rückschlüsse auf bestimmte Persönlichkeits- – Vielleicht ist er aber auch durch seine ständigen sicher- merkmale oder Erbanlagen möglich sind: heitspolitischen Warnungen an das Auswärtige Amt in- zwischen zu frustriert, verehrter Herr Kollege Schmidt. Überhaupt nicht. Denn die Erbanlagen sind nur in Der Bundesinnenminister hat bereits im Jahr 2001 deut- den Genen feststellbar. Gene oder die so genannten lich gesagt: codierenden Regionen der DNA werden aber zum oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Zweck der Identitätsfeststellung nicht untersucht. Das ist keine dogmatische Frage. Ich finde es zum Wir untersuchen nur die „stummen Abschnitte“, die Beispiel richtig, dass die DNS-Datei auch zur Auf- nicht codierenden Regionen zwischen den Genen. klärung von Einbruchsdiebstählen herangezogen Und die sind nicht informativ, was zum Beispiel wird. Erbkrankheiten oder Erbanlagen betrifft. Das sagt der Verfassungsminister, Herr Kollege Montag, Punkt, Ende des Zitats. der einst Mitglied Ihrer Partei gewesen ist. (Beifall bei der CDU/CSU) (Jörg van Essen [FDP]: Erste Verfassungs- ministerin ist die Justizministerin!) Bitte nehmen Sie dies ein für allemal zur Kenntnis und verunsichern Sie nicht weiterhin die Bevölkerung, Erst vor kurzem, Anfang 2005, hat sich der Bundes- indem Sie Falsches behaupten! Zum Beispiel Erbkrank- innenminister für eine Ausweitung der DNA-Analyse heiten sind mit dem Genmaterial einer herkömmlichen ausgesprochen: Speichelprobe nach Professor Pöche nur schwer be- Die DNA-Spur ist der moderne Fingerabdruck. stimmbar, weil man dafür viel mehr Genmaterial Deshalb sollte ihre Erhebung zum Normalfall wer- bräuchte. Weitergehende Erkenntnisse sind also nicht

Seite 15640, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr den. möglich. Solches Genmaterial wird im Übrigen bei jeder Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15641

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) Blutprobe gewonnen, die einem Autofahrer, der einer (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das spielt doch (C) Trunkenheitsfahrt verdächtig ist, abgenommen wird. heute alles keine Rolle mehr! Analphabeten- Hier habe ich allerdings von Rot-Grün noch nie gehört, tum!) dass für jede Blutprobe, die einem Autofahrer entnom- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker. men werden soll, eine richterliche Anordnung erforder- lich sein soll. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Joachim Stünker (SPD): Es geht nicht darum, was von Rot-Grün ständig unter- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe stellt wird, nämlich dass wir eine uferlose Ausweitung Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehb, ich habe eines Ermittlungsinstrumentes wollen. Wir wollen nur, volles Verständnis dafür, dass Sie angesichts der Ereig- dass dann, wenn jemand ohnehin erkennungsdienstlich nisse am gestrigen Tag kräftig gefeiert haben. Aber behandelt wird, zusätzlich zum herkömmlichen Finger- wenn man am nächsten Morgen reden will, muss man abdruck und zu dem dreigeteilten Foto das DNA-Iden- rechtzeitig aufhören. tifizierungsmuster gespeichert werden kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Verehrter Herr Kollege Dr. Gehb, Sie lagen leider Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich rede betrun- nicht ganz richtig – genauso wenig wie der Kollege ken noch besser als Sie nüchtern, Herr Stünker von der SPD-Fraktion –, als Sie behauptet ha- Stünker, und ich habe nichts getrunken!) ben, eine erkennungsdienstliche Behandlung erfolge in 15 Prozent der Strafverfahren. Vor wenigen Tagen hat – Herr Kollege Gehb, nehmen Sie doch einfach einmal der nordrhein-westfälische Innenminister Behrens, der zur Kenntnis, dass die Mitglieder aller Fraktionen bis auf der SPD angehört, gesagt: Jährlich werden in Nordrhein- die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion der Mei- Westfalen nur bei rund 5 Prozent aller der Polizei be- nung sind, dass Ihre Rede heute diesem Thema nicht an- kannten Delikte Fingerabdrücke genommen und Fotos gemessen war. Es war wohl doch nicht Ihr Tag, Herr von den Tätern gemacht. Kollege! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich habe das für die DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ Gesamtschüler nur etwas aufgerundet!) CSU]: Das meinen Sie!) Das heißt, nur ein Bruchteil der Bevölkerung kommt mit – Herr Kollege Gehb, ich möchte dazu inhaltlich noch erkennungsdienstlichen Maßnahmen in Berührung. In- sagen – die Ministerin hat es auch getan –: Es ist wirk- sofern ist der Eindruck, hier sollten massenhaft DNA- (B) lich nicht in Ordnung, dass Sie uns gerade in dieser Le- (D) Tests vorgenommen werden, völlig falsch. Trotzdem gislaturperiode inzidenter, also mittelbar den Vorwurf versuchen Sie ständig, ihn zu erwecken. Von einem in- machen, Täterschutz vor Opferschutz zu stellen, wo flationären Gebrauch kann aber keine Rede sein. wir in dieser Legislaturperiode im Interesse des Opfer- (Beifall bei der CDU/CSU) schutzes gerade in der Strafprozessordnung und an ande- ren Stellen wirklich Erhebliches geleistet haben, Es ist zurzeit in der Politik und insbesondere in die- sem Haus angesagt, Molière zu zitieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

11.00-11.10.doc Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: teilweise in Zusammenarbeit mit Ihrer Fraktion. Ich glaube, es war Montesquieu. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ja, weil Sie der Herr Kauder zum Jagen getragen hat!) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): – Nein, da wurde keiner zum Jagen getragen, Herr Kol- Ich will deswegen mit einem Zitat enden, welches in oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 lege Gehb. – Was Sie behaupten, ist einfach nicht in Bezug auf Sie ganz gut passt. Molière sagte einmal: Ordnung. Unter Kollegen, die im Ausschuss regelmäßig Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir gut zusammenarbeiten, sollte man Derartiges hier im tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Plenum vor laufenden Kameras nicht von sich geben; denn es ist aus meiner Sicht unanständig, Herr Kollege Dieses Nichtstun, welches Sie in diesem Bereich seit ei- Gehb, uns das vorzuhalten. nigen Jahren praktizieren, ist es, was wir Ihnen vorwer- fen. Deswegen fordern wir Sie klar auf: Stimmen Sie un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ seren Gesetzentwürfen und unserem Antrag im Interesse DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ der schnellen Aufklärung von Straftaten und der Vorbeu- CSU]: Unanständig ist etwas ganz anderes!) gung von Verbrechen zu! Frau Kollegin Merkel hat gestern Morgen in diesem Hohen Hause ein wenig philosophiert. Sie hat versucht, (Beifall bei der CDU/CSU) den neuen gesellschaftspolitischen Ansatz der Unions- fraktionen – die „Ordnung der Freiheit“ – zu entwickeln, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: um ihn der rot-grünen Regierungspolitik gegenüberzu- Dann werden wir dieses Zitat bei Molière suchen oder stellen. Die Frage, ob ihr die Definition gelungen ist,

Seite 15641, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr vielleicht doch bei Montesquieu. will ich nicht beantworten. Heute reden wir hier über 15642 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Joachim Stünker (A) Rechtspolitik. Ich meine, dass einer Definition von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) „Ordnung der Freiheit“ ein allgemein gültiger Ansatz DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ zugrunde liegen muss. Was heißt Freiheit im Sinne der CSU]: Aber der Schily sagt das auch!) Unionsparteien? Was erleben wir in der Rechtspolitik, der Innenpolitik und der Politik der inneren Sicherheit? Denn der genetische Fingerabdruck geht eindeutig über Wie wird von Ihnen hier „Ordnung der Freiheit“ defi- den normalen Fingerabdruck hinaus; er gibt mehr Er- niert? kenntnismöglichkeiten als dieser. Von daher hat seine Speicherung eine andere Bedeutung. Zu dem, was Sie uns dazu in der Vergangenheit in im- mer kürzeren Abständen vorgelegt haben und was Sie (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: uns dazu heute wieder vorlegen, kann ich nur eines sa- Welche denn? Sagen Sie mal konkret, was! – gen – es knüpft an eine Presseerklärung des DAV, des Gegenruf des Abg. Hans-Christian Ströbele Deutschen Anwaltvereins, zu dieser Thematik in diesen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Ge- Tagen an –, meine Damen und Herren von der Union: schlecht zum Beispiel, Herr Kollege!) Besinnen Sie sich wieder darauf, dass die Menschen in – Wenn Sie das wissen wollen, gebe ich Ihnen folgende der Bundesrepublik Grundrechte als Abwehrrechte Empfehlung: Es gibt einen sehr guten Bericht der gegen Eingriffe des Staates haben! Arbeitsgruppe des Rechtsausschusses der Justizminister- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ konferenz, in dem genau darauf hingewiesen wird, wel- DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer che Möglichkeiten es nach den gegenwärtigen wissen- [CDU/CSU]: So schlimm ist es nun wirklich schaftlichen Erkenntnissen gibt. nicht!) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ge- Genau darum geht es, wenn wir hier über die – ich be- ben Sie den Bericht Herrn Schily!) tone – zukünftige Ausgestaltung der DNA-Analyse zum Schauen Sie sich das an! Dann können wir uns, glaube Zwecke einer wirksamen Bekämpfung von Straftaten ich, auf der Basis vielleicht einigen. streiten. Es geht – darauf hat mein Kollege Strässer schon in der letzten Debatte über dieses Thema hinge- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: So ge- wiesen – um einen verfassungsrechtlichen Zielkon- nau wollte ich das eigentlich nicht wissen!) flikt: Natürlich haben die Menschen, hat die Gesell- Da dem so ist, geht es hier eigentlich nur um einen schaft einen Anspruch darauf, dass der Staat sie vor einzigen Punkt. Wir können uns, denke ich, über alles ei- Straftätern und Straftaten schützt und die notwendigen nigen, wenn es um die zukünftige Speicherung von ent- Aufklärungsinstrumente schafft. Der Staat hat hier nicht (B) sprechenden Daten geht, die wir durch solche Untersu- (D) nur das Gewaltmonopol, sondern auch die Justizgewäh- chungen gewinnen, wenn wir darüber reden, welche rungspflicht. Darüber sind wir uns doch alle einig. Schwelle die Anlasstat haben muss oder welche Pro- Ich hoffe, dass wir alle uns auf der anderen Seite noch gnose wir im Hinblick darauf stellen müssen, dass der immer darüber einig sind, dass dem die Grundrechte je- betreffende Täter zukünftig wieder straffällig werden des einzelnen Menschen in diesem Lande gegenüberste- könnte, oder wenn wir darüber reden, ob wir im Lichte hen. Dazu gehört nun einmal das Recht auf informa- neuerer wissenschaftlicher, kriminologischer Erkennt- tionelle Selbstbestimmung, abzuleiten aus Art. 2 nisse die Voraussetzungen senken könnten. Darauf hat Abs. 1 des Grundgesetzes. Darauf hat uns das Bundes- die Frau Ministerin vorhin hingewiesen. Dazu werden verfassungsgericht in mehreren Entscheidungen hinge- wir Ihnen einen Entwurf vorlegen; darüber können wir wiesen. Auch das gehört zur Ordnung der Freiheit, liebe miteinander reden. Kolleginnen und Kollegen. Aber über eines sollten wir uns einig sein – ich freue (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mich, Herr Kollege van Essen, dass die FDP in dieser DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Frage zumindest bis heute standhaft an unserer Seite oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 FDP) steht –: Hören Sie daher auf, Freiheit immer nur ökonomisch zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) definieren! Definieren Sie Freiheit auch im Sinne von Wenn es um grundlegende Eingriffe in Grundrechte des Bürgerrechten! Einzelnen geht, dürfen wir den Richtervorbehalt nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aufgeben. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ FDP) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Deshalb sollten wir, Herr Kollege Strobl, zu einer FDP – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Es geht Grundüberzeugung zurückkehren, die uns in den Jahren doch darum nicht! Es ist eine anonyme Spu- 1998/1999 in diesem Hohen Hause geeint hat, als wir renfindung! Da gibt es doch keine Person!) nämlich das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz – ein – Wenn wir zu den anonymen Spuren kommen, Herr furchtbares Wort – beschlossen haben, dass nämlich die Kollege Gehb – – völlige Gleichstellung der DNA-Analyse mit der Ent- nahme eines Fingerabdrucks weder sachlich geboten (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wo ist denn da

Seite 15642, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr ist noch verfassungsrechtlich vertretbar erscheint. die Person?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15643

Joachim Stünker (A) – Herr Kollege Gehb, machen Sie sich doch einmal (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (C) sachkundig! Um die anonymen Spuren geht es doch gar GRÜNEN und der FDP – Jörg van Essen nicht mehr. [FDP]: Immer schon! Das war schon immer unsere Linie!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das haben Sie doch gerade gesagt!) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Es gab schon seriösere Reden von Ihnen!) Dass wir bei anonymen Spuren auf den Richtervorbehalt verzichten wollen, darüber sind wir uns doch alle einig. Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen. Ich Darum geht es doch gar nicht. plädiere noch einmal dafür – ich habe das wiederholt ge- tan, heute Morgen offensichtlich ohne Erfolg, aber in (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nichts anderes Anbetracht des gestrigen Tages sehe ich Ihnen das steht doch im Antrag drin, Herr Stünker!) nach –: Lassen Sie uns über dieses Thema sachlich und in Ruhe reden! Die Justizministerkonferenz hat sich be- Sie wollen mit dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorge- wusst ein Ziel gesetzt: Sie wird am 6. Juni auf der legt haben, genau den Paradigmenwechsel vornehmen, Grundlage des Berichtes, den ich eben angesprochen den Ihnen die Frau Ministerin vorhin vorgehalten hat habe, darüber diskutieren. Lassen Sie uns das gründlich und der darin besteht, dass Sie in der Strafprozessord- diskutieren, denn wir berauben uns damit keinerlei Er- nung diese Methode zum originären Ermittlungsinstru- mittlungsmöglichkeiten, Herr Kollege Strobl. Wir kön- ment der Polizei machen wollen und darüber die dritte nen in jedem aktuell anhängigen Strafverfahren DNA- Gewalt, die Judikative, nicht befinden lassen wollen. Untersuchungen bei den Ermittlungen anwenden. Das ist (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Mit einem so überhaupt nicht das Thema. schlichten Gemüt kann man nicht diskutie- ren!) (Widerspruch des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]) Darin besteht genau der Paradigmenwechsel in der Straf- prozessordnung, und zwar bezieht er sich auf zukünftige – Natürlich ist das so. Schütteln Sie nicht den Kopf! Speicherungen, Herr Kollege Gehb. Genau darum geht Oder wissen Sie nicht, worüber wir reden? es. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jetzt hören Sie (B) aber einmal auf! – Thomas Strobl [Heilbronn] (D) Dazu sagen wir Ihnen: In dieser Frage muss es im [CDU/CSU]: Wenn es so wäre, bräuchten wir Grundsatz beim Richtervorbehalt bleiben. Wir können nicht darüber zu streiten!) bei Gefahr im Verzug davon eine Ausnahme machen; wir können eine Ausnahme machen, wenn die betref- Es geht doch in unserer Auseinandersetzung nur um fende Person in eine DNA-Analyse einwilligt. Das alles eines, nämlich ob die Sammlung und Speicherung der können wir machen. Aber wenn Sie vom Grundsatz her Daten durch den Staat in Zukunft unbegrenzt zulässig jede Kontrollmöglichkeit durch den Richter aufgeben ist. So etwas werden wir heute und auch in Zukunft nicht wollen, machen wir das nicht mit. mittragen. Da wird auch dieses Haus nicht mitmachen, denn Sie werden drei Fraktionen gegen sich haben. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das wollen wir doch gar nicht! Das haben wir doch gar nicht Schönen Dank. gesagt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das steht in Ihrem Antrag. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: CSU]: Sie haben ihn nicht gelesen!) Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache. – Natürlich machen Sie das. Lesen Sie, was Ihnen die Bayern aufgeschrieben haben, Herrgott noch mal. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 15/4926 an die in der Tagesord- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es NEN]: Die bayerische Staatsregierung!) anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Das ist ja auch der Grund dafür, weshalb die Niedersach- sen und die Baden-Württemberger heute im Bundesrat Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- nicht zustimmen werden, tion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Aufhebung des Richtervorbehalts für die DNA-Analyse (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Warum denn?) anonymer Spuren. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter weil nämlich die FDP Gott sei Dank mittlerweile begrif- Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- fen hat, dass hier ein Paradigmenwechsel vorgenommen sache 15/5130, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte

Seite 15643, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr werden soll, den sie nicht mitmachen kann. diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, 15644 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (C) gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt wor- den. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die c) Beratung des Antrags der Abgeordneten weitere Beratung. Dr. , Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter und der Frak- Abstimmung über die Beschlussempfehlung des tion der FDP Rechtsausschusses auf Drucksache 15/5130 zu dem An- trag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Verbre- Zur Tagung des Europäischen Rates am chen wirksam bekämpfen – Genetischen Fingerabdruck 22./23. März 2005 – Stabilität und Wachstum konsequent nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt unter stärken Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag – Drucksache 15/5131 – auf Drucksache 15/2159 abzulehnen. Wer stimmt für Überweisungsvorschlag: diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Drucksache 15/4695 an die in der Tagesordnung aufge- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung der Abgeordnete Kurt Bodewig. so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c auf: Kurt Bodewig (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren kamen in Lissa- Dr. Angelica Schwall-Düren, Günter Gloser, Kurt bon die Staats- und Regierungschefs der EU 15 zusam- Bodewig, weiterer Abgeordneter und der Frak- men, um über die Zukunft Europas zu entscheiden. In tion der SPD sowie der Abgeordneten Rainder der „FAZ“ vom darauf folgenden Tag wurde über das Steenblock, Ulrike Höfken, Marianne Tritz, wei- historische Treffen unter dem sehr prosaischen Titel „In terer Abgeordneter und des BÜNDNISSES 90/ Lissabon redet der alte Kontinent über eine schöne neue (B) DIE GRÜNEN Welt“ berichtet. Das war vor Rumsfelds „altem Europa“, (D) Für eine zukunftsgerichtete Weiterführung aber es war zu Beginn einer atemberaubenden Entwick- der Lissabon-Strategie – Neue Impulse zur lung auf dem indischen Subkontinent und in China. Im wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Artikel von Michael Stabenow hieß es damals: Erneuerung Vor einem halben Jahrtausend waren von Lissabon – Drucksache 15/5116 – aus europäische Seefahrer wie Kolumbus, Vasco da Gama und Magellan zu neuen Ufern aufgebro- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) chen … Es war, obwohl damals niemand den Be- Finanzausschuss griff kannte, das erste Zeitalter der Globalisierung. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 11.15-11.25.doc Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Schon damals galt: Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Globalisierung ist für unsere Volkswirtschaften das, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit was für die Physik die Schwerkraft ist. Man kann Ausschuss für Bildung, Forschung und nicht für oder gegen das Gesetz der Schwerkraft oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Technikfolgenabschätzung sein – man muss damit leben. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt- So der Ökonom Alain Minc. Dieter Grill, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Staats- und Regierungschefs gaben damals in der CDU/CSU Lissabon eine gemeinsame Antwort: Sie wollten die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wachstum in Deutschland und Europa stär- wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt machen. ken – Neue Strategie für Lissabon-Ziele entwi- Die Lissabon-Strategie wurde in Euphorie geboren, ge- ckeln schuldet dem damaligen Zeitgeist der New Economy – Drucksache 15/5025 – und getragen von dem Vertrauen in eine außerordentli- che Wachstumsdynamik, übrigens nicht unähnlich den Überweisungsvorschlag: hohen Erwartungen der Bevölkerung in Bezug auf die Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Finanzausschuss Aktienmärkte. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und In der Folge durchliefen beide Bereiche europaweit Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung eine nicht so erfreuliche ökonomische Entwicklung. Wir

Seite 15644, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen müssen leider im Rahmen der Halbzeitbilanz nüchtern Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15645

Kurt Bodewig (A) feststellen: Das strategische Ziel ist für Europa nicht er- ein Wettbewerbsvorteil; hier hat Europa, hier hat (C) reicht. Gegenüber den USA und Asien hat die EU an Bo- Deutschland eine Führungsrolle. Wir exportieren Um- den verloren. Aber das heißt nicht, dass der strategische weltschutztechnologien weltweit. Daran sollten wir fest- Ansatz von Lissabon falsch wäre. Der Bericht der High halten und auch diese Anstrengung verstärken. Level Group unter Leitung des früheren niederländi- schen Regierungschefs Wim Kok bekräftigt die Ange- Ökologische Innovationen, Ressourceneffizienz, ver- messenheit der Lissabon-Ziele, sagt aber deutlich, dass antwortlicher Umgang mit den Lebensgrundlagen, in all die damalige Plattform zu breit geworden ist. Ich zitiere: diesen Punkten unterscheiden wir uns wohltuend von „Bei der Lissabon-Strategie geht es um alles und damit dem verantwortungslosen Umgang etwa auf dem nord- im Grunde um nichts.“ amerikanischen Kontinent; ich denke zum Beispiel an die gestrige Entscheidung zu den Ölvorkommen in Die Kok-Gruppe empfiehlt, Wachstum und Beschäf- Alaska. Wir gehen einen anderen und, wie ich glaube, tigung ins Zentrum der Strategie zu rücken, und mahnt den richtigen Weg. politische Entschlossenheit an. Dazu gehört im globalen Kontext auch das Thema Wettbewerbsfähigkeit, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wettbewerbsfähigkeit Europas in der sich verändernden DIE GRÜNEN) Welt und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im ge- Wir setzen auf Ressourceneffizienz wie auf Produkt- meinsamen europäischen Markt. Wettbewerbsfähigkeit innovationen, auf neue Energien genauso wie auf die ist keine kalte Bürde; sie ist Voraussetzung für soziale langfristige Energieversorgung unter Nutzung der bei Sicherheit und die Wirksamkeit des europäischen So- uns verfügbaren Ressourcen. Hier werden Milliarden in- zialmodells. Sie ist übrigens geprägt durch Innovations- vestiert. Das ist gut. Weitere Anstrengungen müssen wir potenzial und die Qualifikation der Menschen. Die In- folgen lassen. Mit technologischen und ökologischen vestition in Menschen ist Teil dieser Strategie; denn nur Innovationen werden neue Beschäftigungspotenziale so können diese neue Chancen für sich, aber auch für un- geschaffen und Produktionskosten reduziert. Damit wird ser Land ergreifen. auch für diesen Bereich die europäische Wettbewerbsfä- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten higkeit gestärkt. Die klare Empfehlung des Kok-Berich- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tes ist auch hier, Umweltschutz und Umwelttechnolo- gien als einen Wettbewerbsvorteil zu beachten. Meine Heimatstadt Grevenbroich liegt in einem Wis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sensdreieck. Ein entscheidender Winkelpunkt ist hier die DIE GRÜNEN) RWTH Aachen, eine Universität, in der Ingenieurwis- senschaften und Naturwissenschaften seit jeher Tradi- (B) Angesichts der internationalen wirtschaftlichen Situation (D) tion haben. Wer die technologischen und ökologischen eint uns auch die Auffassung, dass die Reduktion der Potenziale der dort forschenden und lehrenden Wissen- Abhängigkeit vom Öl ein zunehmend wichtiges Ziel schaftler kennt, weiß, dass Deutschland gut positioniert ist. ist – viel besser, als manche Debatten in diesem Hause vermuten lassen. Wir wollen hier weiter investieren. Der Auf der CeBIT wurde wieder einmal deutlich, dass Bundeskanzler hat das gestern noch einmal ausdrücklich Deutschland auch in der Informationstechnologie au- unterstrichen. Wir glauben, dass es genau die richtige ßerordentlich stark ist. Beim E-Commerce ist Deutsch- Strategie ist, die eigenen Stärken zu vermehren. Wir tun land in absoluten Zahlen Marktführer in Europa. In die- das und Sie sollten dabei mitwirken. sem Bereich wurde im Jahre 2003 ein Umsatz von gut 138 Milliarden Euro erzielt. Zwei Jahre zuvor betrug der (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rainder Umsatz nur 20 Milliarden Euro. Er hat sich also in zwei Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Jahren versiebenfacht. Das zeigt unsere Stärke. Wir kön- nen und wir werden sie weiterentwickeln. In Deutschland wird trotz der schwierigen Haushalts- lage verstärkt in Forschung und Entwicklung inves- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 tiert. Aktuell werden Bundesmittel in Höhe von des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 8,9 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Schwer- punkte bilden dabei Bereiche mit besonders hohem Ich will aber auch Folgendes deutlich machen: Wir Innovationspotenzial wie Bio-, Nano- und I-und-K- brauchen ein Europa, das die Wirtschaft von ordnungs- Technologien. Gleichzeitig hat auch die Wirtschaft mehr politisch nicht gerechtfertigten bürokratischen Hemm- Mittel für F und E mobilisiert, sodass der Anteil der ge- nissen befreit. Bürokratische Überregulierungen sind samten F-und-E-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt von wachstumshemmnend. Deshalb setzen wir auf eine bes- 2,3 Prozent im Jahr 1998 auf 2,5 Prozent im Jahr 2003 sere und umfassendere Gesetzesfolgenabschätzung in gestiegen ist. Auch das ist eine gute Zahl. der EU, die ein besonderes Augenmerk auf Beschäfti- gung, auf soziale Auswirkungen, auf Umweltbelange so- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wie auf die industrielle Wettbewerbsfähigkeit richtet. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein wichtiges Ziel ist auch, die Marktabschottung zu Für uns gehört weiterhin dazu, das europäische Leit- verhindern; denn sie ist europäisch desintegrierend. bild einer nachhaltigen Entwicklung aufrechtzuerhal- Gleiche Chancen für alle – das schafft eine neue Dyna- ten und weiterzuentwickeln. Es ist sinnvoll, sich hier am mik. Gleichzeitig sage ich in Richtung FDP, dass es ge-

Seite 15645, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Kok-Bericht zu orientieren. Natürlich ist Umweltschutz nauso wenig eine Inländerdiskriminierung geben darf. 15646 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Kurt Bodewig (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass das so bleibt. Man kann diese Hand ergreifen oder (C) DIE GRÜNEN) man kann sich in den Schmollwinkel zurückziehen. In dem Antrag der FDP wird sie aber akzeptiert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir sind uns alle einig, dass wir eine Dienstleis- Eines muss uns klar sein: Dieses Land hat Potenziale, tungsrichtlinie brauchen, allerdings nicht in der gna- die wir gemeinsam entwickeln können. Schwarzmalerei denlosen Form der Bolkestein-Richtlinie. ist die falsche Strategie. Wir dürfen uns nicht in den Kel- ler reden, sondern müssen nach vorne schauen und Farbe (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ins Bild bringen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank. Wir setzen auf Entbürokratisierung und Entfaltung ei- ner neuen Dynamik im Dienstleistungsbereich, aber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch auf den Grundsatz der Harmonisierung. Ein race DIE GRÜNEN – Dr. Hans-Peter Friedrich to the bottom darf es nicht geben. Wir wollen kein So- [Hof] [CDU/CSU]: Realitätsverlust ist das Al- zialdumping, sondern eine europäische Harmonisierung. lerschlimmste, Herr Kollege!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Hintze. Das kostet vielleicht etwas mehr Zeit als die rigorose Durchsetzung des alles übergreifenden Herkunftsland- (Beifall bei der CDU/CSU) prinzips. Aber es führt zu einem gemeinsamen Europa und nicht zur Spaltung. Peter Hintze (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Ein großer Europäer, nämlich , sagte ein- Herren! Lieber Herr Kollege Bodewig, ich bin mir nicht mal: Mit den Europaverhandlungen ist es wie mit dem ganz sicher, mit wem Sie im Ausland über die wirt- Liebesspiel der Elefanten. Es spielt sich auf hoher Ebene schaftliche Situation in Deutschland sprechen. Aber ab, wirbelt viel Staub auf und es dauert lange, bis etwas vielleicht nehmen Sie zur Kenntnis, was das Londoner herauskommt. Centre for Economic Reform am gestrigen Tage zum (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- Lissabon-Bericht veröffentlicht hat. Es hat festgestellt, NIS 90/DIE GRÜNEN) dass Deutschland im Rahmen des Lissabon-Prozesses von 27 Staaten – von den 25 der EU und zwei Staaten Ich glaube, es gibt andere Instrumente der Harmonisie- direkt vor der Mitgliedschaft – den 20. Platz und Frank- (B) rung als die sektoralen Richtlinien. Wir müssen andere (D) reich im Vergleich dazu den vierten Platz einnimmt. Formen einer niederschwelligen Harmonisierung entwi- ckeln. Da bietet die Diskussion um die Dienstleistungs- (Jörg Tauss [SPD]: Da müsst ihr euch richtlinie eine besondere Chance. bewegen!) Wir wollen Wachstum und Beschäftigung sowie mehr Dazu muss man sagen: Es ist schon beachtlich, welche und bessere Arbeitsplätze. Innovation ist die Keimzelle Realitätsverweigerung die Sozialdemokraten in diesem des Wachstums. Wir haben bereits wesentliche Schritte Haus angesichts der ökonomischen Lage in Deutschland unternommen. Die Agenda 2010 ist ein klarer Beitrag betreiben. zur Lissabon-Strategie. Dieser Schritt war notwendig; er (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- war nicht einfach, aber lohnend. Wir werden auf diesem neten der FDP) Weg weitermachen. Wir befinden uns am Ende einer bemerkenswerten (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rainder Woche. Diese Woche hat schonungslos aufgedeckt, wo Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) die Probleme in unserem Land liegen und wer für diese oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Bei all unseren Maßnahmen ist immer das Ziel, ein Probleme verantwortlich ist. größeres Beschäftigungspotenzial zu entwickeln. Wir (Jörg Tauss [SPD]: Waigel!) wollen dabei ein angemessenes soziales Sicherungsnetz erhalten; denn wir wissen: Nur mit Wachstum und Be- Der Bundespräsident hat in seiner klugen Rede die Ursa- schäftigung und mit Wettbewerbsfähigkeit wird es gelin- chen für die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland gen, unser europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell klar analysiert und Wege zu einem stabilen Wirtschafts- zukunftsfähig zu machen. wachstum und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf- gezeigt. Von der linken Seite des Hauses wurde ihm in Ich habe eine Bitte an die Opposition. Uns Europapo- einigen Zwischentönen bestritten, dass er dazu etwas sa- litikern kommt zugute, dass wir öfter in anderen Ländern gen darf. mit den Menschen sprechen können. Schauen Sie sich bitte deren Sicht auf Deutschland an. In anderen Ländern (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) wird Deutschland als Exportweltmeister gesehen, es Ich bin dem Bundespräsidenten dankbar dafür, dass er in wird als attraktiver Standort, der den Wettbewerb um die dieser Frage so klar und eindeutig gesprochen hat. besten Köpfe aufgenommen hat, sowie als Technologie- und Innovationsschmiede wahrgenommen. Der Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –

Seite 15646, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr kanzler hat gestern die Hand gereicht, mitzuarbeiten, Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15647

Peter Hintze (A) doch nicht eindeutig! – Weiterer Zuruf von der und auch – ich will das gerne hinzufügen – ohne die häu- (C) SPD: Einseitig!) figen Aufforderungen unserer Kollegen von der FDP Gestern hat nun der Herr Bundeskanzler eine Regie- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein Traum!) rungserklärung abgegeben. hätte der Bundeskanzler weiter geschwiegen, wenn er (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Wilhelm das Parlament zwischen Abu Dhabi und Dubai über- Schmidt [Salzgitter) [SPD]: Sehr eindeutig! – haupt besucht hätte. Hätten wir den Kanzler nicht zu die- Jörg Tauss [SPD]: Das war eindeutig!) ser Regierungserklärung getrieben, Bemerkenswert an dieser Erklärung war, dass sie über- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: haupt stattfand. Über Monate haben wir bei Rot-Grün Quatsch!) das krampfhafte Festhalten am Stillstand erlebt. Wo- dann hätte die Regierung weiterhin die Hände in den chenlang stand die 5-Millionen-Zahl im Raum. Alle Schoß gelegt. Menschen in Deutschland waren davon umgetrieben und der Bundeskanzler verweigerte uns jegliche Debatte. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine glatte Selbstüber- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie als schätzung von Ihnen ist das!) Generalsekretär des Stillstands müssen so- wieso nichts erzählen!) – Die Zurufe des Kollegen Schmidt lohnen selten aufge- griffen zu werden. Ich will mir heute eine Ausnahme er- Dazu passt – wir haben dies in verschiedenen Aktuel- lauben. len Stunden beklagt –: Wir mussten auch erleben, dass der Bundeskanzler über einen Namensartikel in einer (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Schon deutschen Tageszeitung Änderungen des Stabilitäts- wieder arrogant!) paktes ankündigte, die zu einer Aushöhlung des Paktes Lieber Herr Schmidt, Sie können als Parlamentarischer führen, und dass er dem Parlament, den Abgeordneten, Geschäftsführer nicht alles überblicken. Sie haben viel bis auf den heutigen Tag eine Debatte über seine Vor- zu tun: Wahl des Wehrbeauftragten, die Entscheidung in schläge verweigert hat. Das halten wir angesichts der Schleswig-Holstein usw.; ich nehme Ihnen das nicht Lage für skandalös. übel. Aber in den Fachausschüssen hat uns die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt regierung zur Lissabon-Strategie mitgeteilt, die Erarbei- [Salzgitter] [SPD]: Unglaublich! Da klatschen tung eines nationalen Aktionsplans, die Erarbeitung immerhin sechs Leute! Für so bedeutsam hal- dessen also, was die einzelnen Mitgliedstaaten unterneh- (B) ten sie die Debatte! Sechs Leute sind hier!) men, sehe man in Deutschland für die Zeit nach der Bun- (D) destagswahl 2006 vor. Vorher gebe es keinen. Wir muss- Symptomatisch für die Lähmung, in der sich Rot- ten die Regierung dahin tragen, dass etwas angesichts Grün befindet, ist das, was wir gestern in Kiel erlebt ha- der dramatischen Arbeitslosenzahlen in Deutschland ge- ben. schieht. (Günter Gloser [SPD]: Wir reden über Lissa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bon! – Weiterer Zuruf von der SPD: Thema neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wir dan- verfehlt!) ken euch!)

Was soll die deutsche Bevölkerung denken, wenn ange- Nun ist einiges aufgegriffen worden. Das ist auch gut. 11.30-11.40.doc sichts der wirtschaftlichen Lage in Deutschland, ange- Aber vieles ist leider verweigert worden. Ich fürchte, sichts der großen Probleme und angesichts eines drohen- dass wir bis zum Jahre 2006 wertvolle Zeit verlieren den Konjunktureinbruchs ein Wahlgang nach dem werden, und das in einer hochkritischen Situation: Sämt- anderen durchgeführt wird, liche Annahmen der Bundesregierung für den Bundes-

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 haushalt 2005 und für die Sozialversicherungssysteme (Zurufe von der CDU/CSU: Peinlich!) sind bereits heute Makulatur. Ich verweise dazu auf zwei Frau Simonis viermal durchfällt und das Elend kein Faktoren. Von Februar 2004 bis Februar 2005 hatten wir Ende hat! Ich sage dazu: Sie fügen Schleswig-Holstein bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- einen schweren Schaden zu, wenn Sie die Dinge sich gungsverhältnissen den höchsten Einbruch in einem weiter so hinschleppen lassen. Wir müssen in diesem Zwölfmonatszeitraum in der deutschen Wirtschaftsge- Lande handeln und die richtigen Maßnahmen ergreifen. schichte. Das heißt, die Einnahmen, mit denen wir für unsere Sozialversicherungssysteme rechnen, werden (Beifall bei der CDU/CSU – drastisch unterschritten. Das hat Rückwirkungen, die die [CDU/CSU]: Schleswig-Holstein braucht ei- Bundesregierung jetzt noch leugnet und ignoriert, die sie nen Stabilitätspakt!) aber einholen werden. Was die wirtschaftliche Strategie von Lissabon und ( [SPD]: Das haben Sie letztes Jahr die Debatte gestern angeht: Ohne unsere Initiative, ohne auch behauptet, und das war auch falsch!) die Initiative der Union Diese negative Tendenz droht sich fortzusetzen. Das hat (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Jörg gravierende Auswirkungen auf die öffentlichen Kassen.

Seite 15647, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Tauss [SPD]: Ihr seid wunderbar!) Dazu kommen rasch steigende Rohstoffpreise auf breiter 15648 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Peter Hintze (A) Front, die die wirtschaftliche Entwicklung zu lähmen (Jörg Tauss [SPD]: Da habt ihr die Rekorde (C) drohen. Die größte Volkswirtschaft in Europa, nämlich gelegt, mein Lieber! – Gegenruf von der CDU/ unsere in Deutschland, steht vor einem gefährlichen CSU: Menschenskind, Tauss!) Konjunktureinbruch. Deswegen können wir uns weiteres Zuwarten schlicht und ergreifend nicht erlauben. Wir Im Jahr 2000 erklärte Bundeskanzler Schröder in Lis- müssen handeln, und zwar in einem Gesamtkonzept. sabon nach dem damaligen Europäischen Rat, er habe kein Problem, ein jährliches Wirtschaftswachstum von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 3 Prozent anzupeilen. Angepeilt hat er es kräftig, aber neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Bildung beim Anpeilen hat es die Regierung belassen. Leider und Wissenschaft blockieren, das ist das Ein- gibt es einen weiten Abstand zum Ziel. Das ist die Bi- zige, was ihr könnt! – Dr. Hans-Peter Friedrich lanz dieses Prozesses der letzten fünf Jahre. [Hof] [CDU/CSU]: Wenn das Maul größer ist (Beifall bei der CDU/CSU) als das Hirn, dann ist es das Tauss-Syndrom!) Ich empfinde es als erfreulich, dass der neue Kom- – Der Kollege Tauss ist ja auch der berüchtigste Zwi- missionspräsident Barroso klare Worte gefunden und schenrufer des Deutschen Bundestages. auch das Eingeständnis formuliert hat, dass es so wie in den letzten fünf Jahren in Europa nicht weitergehen (Zuruf von der CDU/CSU: Und der intelligen- kann. Wir sind die größte Volkswirtschaft innerhalb Eu- teste!) ropas. An uns hängt es ganz entscheidend, ob es weiter Sie sollten aufhören, Forschung und Entwicklung in so elend bleibt oder ob wir aus dem Elend herauskom- Deutschland zu blockieren, men. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ein Maßstab, „Elend“!) neten der FDP – Widerspruch bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Schwätzer!) Barroso hat konkrete Vorschläge für einen Neustart vor- gelegt. Wachstum und Beschäftigung sollen im Zentrum wie Sie es bei der Grünen Gentechnik zulasten unseres stehen. Dies ist richtig und entspricht genau dem, was Wirtschaftsstandorts gemacht haben. Ich vertrete hier im wir auch in Deutschland brauchen. Deutschen Bundestag den Wahlkreis Wuppertal. Dort gibt es mit dem Unternehmen Bayer eines der in diesem Der Herr Schmidt hat gerade dazwischengerufen: Bereich führenden Unternehmen der Welt. Mit Ihrer Po- Was ist Elend? litik sorgen Sie dafür, dass diesen Unternehmen immer (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was das (B) mehr der Boden entzogen wird. Ich hoffe, dass es bei Ih- für ein Elend ist! Sie verlieren jeden Maßstab! (D) nen zu einer Umkehr kommt. Das war mein Zwischenruf!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zahl der sozial- neten der FDP) versicherungspflichtigen Arbeitsplätze schrumpft in ei- nem erschreckenden Maß. Bereits heute, da wir darüber Vor fast genau fünf Jahren, am 23. und 24. März 2000, reden, gibt es mehr Menschen, die ihren Lebensunterhalt hat der Europäische Rat in Lissabon nicht zuletzt auf aus sozialen Kassen bestreiten müssen, als Menschen, Initiative dieser Bundesregierung das Ziel formuliert, die die über unser Sozialsystem in diese sozialen Kassen Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum „wettbe- einzahlen. werbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Quatsch! Woher haben Sie denn das?) (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommen wir zum Thema!) Das hat massive Rückwirkungen auf die politische

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Handlungsfähigkeit der Bundesregierung und des Bun- Das Ziel war gut, das Ziel war richtig, aber die Bilanz destages. zur Halbzeit ist ernüchternd und bedrückend. Herr Kol- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lug und lege Bodewig hat eben schon einmal ganz zaghaft auf Trug! – Zuruf des Abg. Rainder Steenblock den Bericht des früheren niederländischen Ministerpräsi- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) denten Kok verwiesen. Wenn man sich diesen Bericht einmal vor Augen führt, kann man nur feststellen: Die – Wir machen das einmal. Es sind 26 Millionen sozial- Zwischenbilanz des Lissabon-Prozesses, die diese Bun- versicherungspflichtig Beschäftigte, 20 Millionen in desregierung wesentlich mitzuverantworten hat, ist ab- Rente, 5,2 Millionen Arbeitslose, 2,7 Millionen ohne solut vernichtend. Vor allem die Feststellung des Kok- Sozialversicherung. Berichtes, es mangele am politischen Willen in den Mit- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was hat gliedstaaten, zeigt uns: Ankündigungen und schöne das mit 20 Millionen Rentnern zu tun?) Worte reichen nicht aus, nur Taten zählen. Hier steht Deutschland leider sehr schlecht da. Wir sind Schluss- – Auch das will ich Ihnen erklären, Herr Schmidt. Sie licht beim Wachstum in Europa. Die Arbeitslosenzahlen bewerben sich möglicherweise auch einmal für andere erreichen immer neue Höchststände, und das alles bei Ämter. Für diesen Fall ist es nicht schlecht, wenn Sie das

Seite 15648, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr immer neuen und höheren Schulden. wissen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15649

Peter Hintze (A) (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Haha!) schädigen wir damit auch die Europäische Union und die (C) gemeinsamen Bemühungen. Rentner sind Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet und einen moralischen und rechtlichen Anspruch darauf (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. haben, aus der Rentenversicherung nun ihre Rente zu be- Ulrich Heinrich [FDP]) kommen. Ein weiterer wichtiger Punkt steht am Sonntag an. Es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geht um die Zukunft des Stabiltiätspakts. neten der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (Kurt Bodewig [SPD]: Wachstum und [SPD]: Das ist etwas ganz anderes als das, was Stabilität!) Sie gerade unterstellt haben! Sie sind ein Ver- unglimpfer und Verleumder!) Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die linke Seite dieses Hauses die Ohren verstopft, wenn es um dieses – Lieber Herr Schmidt, dieser kleine Zwischenruf fällt Thema geht. Vielleicht sind Ihre Augen noch offen. Ich mit Macht auf Sie zurück und bleibt an Ihnen kleben. empfehle Ihnen den Beitrag des Präsidenten der Deut- (Beifall des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU]) schen Bundesbank, Professor Weber, in der „Süddeut- schen Zeitung“ von heute. Er schreibt geradezu be- Das Solidarsystem unserer Sozialversicherung funk- schwörend, dass die Philosophie von SPD und Grünen, tioniert aber nur, wenn wir unsere wirtschaftlichen dass man mit höherer Verschuldung etwas Positives für Kräfte so aktivieren, die Wirtschaft tun könnte, absolut falsch ist. Höhere Ver- schuldung legt im Gegenteil die Axt an die wirtschaftli- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da brauchen che Entwicklung in Deutschland. Deswegen ist die Auf- wir Ihre Belehrung schon gar nicht!) weichung des Stabilitätspaktes ein schwerer Fehler. dass in die Systeme eingezahlt wird, sodass wir aus ih- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen auch auszahlen können. Diese Regierung riskiert se- henden Auges die Fahrt in Richtung Abgrund und ruft Gesunde Staatsfinanzen und wirtschaftliches Wachs- noch, es gebe kein Problem. Das ist das Problem, das wir tum haben. (Jörg Tauss [SPD]: Wie bei Waigel!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind die zwei Seiten einer Medaille. Deshalb sind alle neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Bemühungen um Wachstum und Beschäftigung im Lis- [SPD]: Sie haben eben von „Elend“ gespro- sabon-Prozess zum Scheitern verurteilt, wenn wir uns chen! Wir haben uns darüber unterhalten, ob ein kurzfristiges konjunkturelles Aufflackern mit einer (B) (D) Sie Elend meinen oder nicht! Was hat das mit langfristigen Verschuldung erkaufen wollen. Elend zu tun?) An diesem Wochenende haben die Finanzminister der – Das Elend droht, wenn dieser Prozess so weitergeht. Europäischen Union die letzte Möglichkeit, sich noch (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben vor dem Europäischen Rat über eine Rettung des euro- gesagt, wir sind im Elend, nicht, es droht!) päischen Stabilitätspakts zu einigen. Sollte dies nicht ge- lingen, wird, so fürchte ich, auf dem Europäischen Rat in – Dann will ich auf diesen Zwischenruf hin, um eine in- der kommenden Woche unter dem Verhandlungsdruck tellektuelle Übereinstimmung herzustellen, sagen: Es die Vernunft vollends auf der Strecke bleiben. Das wäre droht Elend, wenn es so weitergeht, wenn Sie sich diesen ein Problem für Europa, für den Euro und für die Ver- Fakten und den notwendigen Konsequenzen weiterhin lässlichkeit der Politik. Die Menschen müssen sich da- verweigern. rauf verlassen können, dass wir hier in diesem Hause, dass aber natürlich auch die Staats- und Regierungschefs (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Gut, dass in Brüssel das Wohl dieser und zukünftiger Generatio- Sie nicht mehr in der Kirche sind!) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 nen im Blick halten und nicht heute das verfeuern, was Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch für die wir morgen brauchen. europäische Ebene gilt: Ehrgeizige Ziele und auf Effi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zienz gerichtete europäische Abstimmungsprozesse sind neten der FDP) richtig und wichtig. Aber die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik ist in allererster Linie eine natio- Die Bundesregierung betreibt im Moment eine Politik nale Aufgabe. Wir müssen hier die Arbeit erledigen. Wir gegen den Pakt. müssen uns über die Realität und darüber verständigen, (Kurt Bodewig [SPD]: Das ist doch Unsinn! – wie wir die wirtschaftliche Lage in Deutschland verbes- Jörg Tauss [SPD]: Sie machen eine Politik ge- sern, einen massiven konjunkturellen Einbruch abwen- gen die Konjunktur!) den und massive strukturelle Probleme überwinden kön- nen. Das ist auch die europapolitische Pflicht, die Sie war noch nicht einmal bereit, die ihnen schon weit Deutschland im Rahmen des Lissabon-Prozesses hat. Es entgegenkommenden Vorschläge von Ratspräsident geht natürlich um uns, um unser Land, um unsere Men- Juncker aufzunehmen, der auch verbindliche Regeln für schen; es geht aber auch um unsere Verantwortung für den Fall vorgeschlagen hat, dass wir aus der wirtschaftli- das Ganze, für Europa, für die Europäische Union. Wenn chen und finanziellen Misere wieder herauskommen, da-

Seite 15649, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr wir in Deutschland weiterhin falsche Politik machen, be- mit in guten Zeiten nicht ignoriert wird, was uns in 15650 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Peter Hintze (A) schweren Zeiten sehr zu schaffen macht. Es ist schon (Beifall bei der SPD – Peter Hintze [CDU/ (C) sehr kritisch, dass die Bundesregierung nicht einmal die- CSU]: Eine gute!) sen Gedanken aufgreift. 5,2 Millionen Arbeitslose und eine Rekordverschuldung Meine Güte! Und das bei dem Thema, das wir hier heute zu behandeln haben. (Jörg Tauss [SPD]: Welche Rekord- Sie haben eine wirklich schlechte Replik auf gestern verschuldung? Waigel?) zu zelebrieren versucht nach dem Motto „Was ich der sind der klare Beweis dafür, dass der Bundeskanzler und Regierung immer schon einmal sagen wollte“. Sie haben sein Finanzminister mit ihrem wirtschafts- und finanz- Versatzstücke aus vielen Reden noch einmal zusammen- politischen Latein am Ende sind. gestückelt und das dann hier zum Vortrag gebracht. In einer Situation, in der wir als Regierung – Sie anschei- Die Lissabon-Strategie bedeutet für Deutschland, sich nend nicht – darum ringen, wie wir dieses Europa an den von Fesseln zu befreien. Es ist von vielen kritisch be- Lissabon-Zielen ausrichten können, trachtet worden, dass die Vorsitzende der CDU/CSU- Fraktion hier über das Thema Freiheit gesprochen hat. ( [CDU/CSU]: Davon ist Das kann nur kritisch betrachten, wer die soziale Markt- bei Ihnen nicht viel zu merken!) wirtschaft und ihre Ideen noch nie verstanden hat. halten Sie diese Rede, lieber Kollege Hintze. Diese 11.45-11.55.doc (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Rede, lieber Kollege Hintze – so sehr ich Sie im Europa- neten der FDP – Günter Gloser [SPD]: Hayek ausschuss schätze –, war wirklich daneben. oder Erhard, das ist die Frage!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Freiheit ist das entscheidende Element, um wirtschaftli- sowie bei Abgeordneten der SPD) che Kräfte freizusetzen, um die Fähigkeiten der Men- Ich will nur zu drei Punkten kurz etwas sagen. schen freizusetzen. Wir müssen unserem Land wieder die Freiheit zurückgeben, die auch seine Kräfte entfes- Der erste: Die Menschen in diesem Land erwarten selt, die das Steuerdickicht lichtet, den Marsch in den von uns, wenn wir uns um diese großen Fragen streiten Schuldenstaat stoppt und die Knebelungsregulierung – was richtig ist –, unterschiedliche Konzepte, aber sie aufbricht. erwarten von uns auch Glaubwürdigkeit und dass wir ehrlich zu dem stehen, was wir sagen. Sie sprechen über Reformen in diesem Land. Sie wissen genau, dass diese Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bundesregierung in den letzten Jahren ein Reformpaket Herr Abgeordneter, Sie müssen zum Ende Ihrer Rede geschnürt hat – Sie können mit dem Inhalt übereinstim- (B) kommen. men oder nicht –, das an die Grenzen der Belastbarkeit (D) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) vieler Leute in diesem Land gegangen ist. Aber wir ha- ben uns dieser Aufgabe gestellt, wir haben diese Refor- Sie hatten recht viel Zeit und haben auch schon eine Mi- men in Deutschland realisiert und umgesetzt. Wir sind nute überzogen. auf diesem Weg mit der Geschwindigkeit, die möglich ist, nach vorne gegangen. Auf diesem Weg müssen wir (Zurufe von der SPD: Oh!) weitergehen.

Peter Hintze (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich komme zum Schluss. Sie haben in dieser Debatte nicht nur eine miese Opposi- tion gemacht, sondern Sie haben im Bundesrat auch an In diesem Sinne sollte uns der Lissabon-Prozess auf- allen möglichen Stellen im Bremserhäuschen gesessen, rütteln, das zu tun, was in unserem Lande notwendig ist, wenn es darum ging, Reformen konsequent umzusetzen. damit Wachstum und Beschäftigung wieder einkehren Ich erwarte von Ihnen, dass Sie wenigstens zu Ihrer

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 und wir von dem unseligen Kurs der rot-grünen Regie- Rolle im Bundesrat als Verhinderer von Reformen ste- rung abkehren. hen und dass Sie sich aus dieser Debatte nicht heraus- Danke. stehlen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Günter Gloser [SPD]: Und wieder bleibt die sowie bei Abgeordneten der SPD) Frage offen: Hayek oder Erhard?) Das Zweite: Was mich wirklich erschreckt hat, ist die Beziehung, die Sie zwischen Transfereinkommen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: beziehern, Beschäftigten und dem Elend hergestellt ha- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder ben. Steenblock. (Jörg Tauss [SPD]: Und den Versicherten!)

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lieber Kollege Hintze, der Zusammenhang, den Sie dort NEN): herzustellen versucht haben, grenzt an Demagogie. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-

Seite 15650, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Lieber Kollege Hintze, was war das für eine Rede? SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15651

Rainder Steenblock (A) Sie haben die Rentner in den Topf „ohne Beschäftigung“ lung auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhö- (C) geworfen; das haben Sie auch noch einmal ausgeführt. hen. Das ist die Richtgröße, die wir unterstützen. Wir Was ist das für eine Diskriminierung von Leuten? Was wollen auf diesem Wege alle Anstrengungen unterneh- haben Sie damit angedacht oder zumindest zu denken men, um dieses Ziel zu erreichen. nahe gelegt? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Die da drüben können noch nicht einmal die Eigen- Sie können das Bild, dass Sie zu zeichnen versucht ha- heimzulage abschaffen!) ben, doch nicht ernst meinen: hier die ganzen Transfer- einkommenbezieher, die vom Staat alimentiert werden – Ja, das kommt gleich. müssen, da die paar Beschäftigten; schon gar nicht, wie Man muss ehrlicherweise feststellen – so viel zur Sie diese Gruppen eingeteilt haben. Lieber Kollege Glaubwürdigkeit –, dass wir dieses Ziel im Jahre 2002 Hintze, so geht das nicht! Mit solchen demagogischen nicht erreicht haben. Wir liegen bei 1,93 Prozent. Wenn Äußerungen können wir die Debatte nicht bestehen. wir das Tempo der letzten vier Jahre – eine durchschnitt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liche Steigerung um jeweils 0,11 Prozent – beibehalten, sowie bei Abgeordneten der SPD) dann werden wir dieses Ziel nicht erreichen. Wir müssen schneller werden, sonst sind wir erst 2040 oder 2050 bei Deshalb appelliere ich an Sie, Ihre Äußerungen zurück- diesen 3 Prozent. Das können wir nicht wollen und das zunehmen. können wir uns auch gar nicht leisten. Deshalb müssen wir, die wir für die Politik verantwortlich sind, zusätzli- Das Dritte, die Sache mit der Verschuldung; das ist che Anstrengungen unternehmen. eine beliebte Argumentation. Wir führen diese Stabili- tätsdebatte mit großer Ernsthaftigkeit. Man kann darüber Ich sage aber auch sehr deutlich: Auch die Unterneh- streiten, ob Verschuldung notwendig ist, um bestimmte men müssen ihren Teil dazu beitragen, dieses Ziel zu er- wirtschaftliche Prozesse wieder anzustoßen. Bei den reichen. Führen Sie sich einmal vor Augen, dass die Vorschlägen, die gestern gemacht worden sind, stehen 500 größten europäischen Unternehmen ihre Ausgaben Sie bei der Gegenfinanzierung, auch im Unternehmen- für Forschung und Entwicklung im Jahre 2003 um steuerbereich, wieder auf der Bremse. Sie sagen: „Gut, 2 Prozent reduziert haben, während die 500 größten Steuererleichterung für die Unternehmen, Steuererleich- amerikanischen Unternehmen ihre Ausgaben für For- terungen hier und dort“, aber wenn es um die Gegen- schung und Entwicklung im gleichen Zeitraum um finanzierung geht, wenn es darum geht, die Verschul- 3,9 Prozent erhöht haben! Daran erkennen Sie, was hier dung tatsächlich unter die Maastricht-Grenze zu senken, in Europa zurzeit falsch läuft. Das hat auch etwas mit (B) wenn wir dafür Maßnahmen ergreifen müssen, die ande- den hier wirtschaftlich verantwortlich tätigen Unterneh- (D) ren wehtun – vielleicht auch Ihrer Klientel –, dann steh- men zu tun. Wir müssen zu einer Veränderung der Ein- len Sie sich sofort aus der Verantwortung, kloppen hier stellung im Bereich der wirtschaftsnahen Forschung aber große Sprüche. So geht das nicht. kommen. Die Politik muss hier eine Hilfestellung geben. Ich glaube aber, dass auch die Unternehmen hier in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verantwortung sind, aus der wir sie nicht entlassen kön- sowie bei Abgeordneten der SPD) nen. Der Kollege Bodewig hat die Lissabon-Strategie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon sehr umfassend beschrieben und den Rahmen sehr und bei der SPD) deutlich gemacht. Deshalb möchte ich mich im Wesent- Die Europäische Union hat vorgeschlagen, die Mittel lichen auf zwei Aspekte beschränken, die mir in dieser für das 7. Forschungsrahmenprogramm von 20 Milliar- Diskussion wichtig sind: Die Erhöhung von Wachstum den Euro auf 40 Milliarden Euro zu erhöhen. Das ist ein und Beschäftigung und die Verwirklichung der mutiger und, wie ich glaube, richtiger Schritt, um den Wissensgesellschaft sind nur mit einer konsequenten wir nicht herumkommen. Hier müssen wir den Schwer- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Förderung von Forschung und Entwicklung zu erreichen punkt im EU-Haushalt setzen. Wir müssen Gelder aus und mit einer deutlichen Verbesserung unserer – die will anderen Bereichen umschichten, um diesen Schwer- ich einmal so bezeichnen – Bildungsarbeit. Unser Bil- punkt im Forschungs- und Entwicklungshaushalt zu set- dungssystem muss zukunftsfest gemacht werden. Diese zen. Wir müssen aber auch die nationalen Aufgaben rea- beiden Bereiche – Forschung und Entwicklung sowie lisieren. Bildung – sind die Kernbereiche, um die es geht, wenn wir in Europa die Ziele von Lissabon erreichen wollen. Lieber Kollege Hintze, Sie fordern hier die Verant- wortung der Regierung für die nationalen Anstren- Wir müssen dabei eins sehr deutlich sagen: Auf dem gungen bezüglich der Lissabon-Ziele ein. Dieser Ver- Weg in diese Wissensgesellschaft müssen die sozialen antwortung kann man sich nicht in der Art und Weise Gegensätze und die Behinderungen beim Zugang zu Bil- entziehen, wie Sie das tun. Die Bundesregierung und die dung, die ganz besonders in Deutschland noch vorhan- sie tragenden Fraktionen haben Ihnen mehrmals angebo- den sind, reduziert werden. Sonst werden wir in ten, ein großes Milliardenprogramm für Investitionen im Deutschland dieses Ziel nicht erreichen. Bildungsbereich dadurch zu finanzieren, dass die Eigen- heimzulage gestrichen wird. Dies scheitert regelmäßig Die Staats- und Regierungschefs haben in Lissabon an der Opposition. den Weg dorthin klar beschrieben: Sie haben sich darauf

Seite 15651, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr geeinigt, die Ausgaben für Forschung und Entwick- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 15652 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Rainder Steenblock (A) Sie nehmen eine Schuld auf sich, die historische Dimen- Die europäischen Regierungschefs werden sich in (C) sionen hat, weil Sie unser Bildungssystem und unsere Brüssel vor allen Dingen mit dem Stabilitätspakt und mit Forschungseinrichtungen durch die Art und Weise, wie der Neuausrichtung der so genannten Lissabon-Strategie Sie hier Verhinderungspolitik betreiben, systematisch beschäftigen. Nach der Lissabon-Strategie der EU – sie schwächen. ist in Lissabon beschlossen, deswegen heißt sie so – sollte die EU von 2000 bis 2010 zur dynamischsten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirtschaftsregion der Welt werden. Man muss schon und bei der SPD – Peter Hintze [CDU/CSU]: jetzt, zur Halbzeit, feststellen: Diese Strategie ist gran- Das ist unter Ihrem Niveau, Herr Kollege!) dios gescheitert; das hat der von Wim Kok vorgelegte – Das ist unter Ihrem Niveau. Das finde ich auch. – Per- Halbzeitbericht unmissverständlich klar gemacht. Der sönlich haben wir ja ein gutes Verhältnis, aber das, was Abstand – um das einmal zu verdeutlichen – zur führen- Sie dort politisch zu verantworten haben, geht nicht. Das den Industrienation USA hat sich weiter vergrößert statt lassen wir Ihnen nicht durchgehen und wir werden an je- verkleinert. Die EU hinkt derzeit den USA bei der Ar- der Stelle sagen, dass Sie die Verantwortung dafür tra- beitsproduktivität pro Beschäftigtem um 44 Prozent, bei gen, dass wir die 6 Milliarden Euro nicht im Bildungsbe- der Beschäftigungsquote um 11 Prozent und beim Brut- reich investieren können. toinlandsprodukt pro Kopf um 60 Prozent hinterher. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn die EU im weltweiten Wettbewerb um Arbeits- und bei der SPD) plätze – darum geht es hier – nicht weiter ins Hintertref- fen geraten will, muss sie umsteuern. Setzen Sie diesen Liebe Kolleginnen und Kollegen, innerhalb der Lissa- Prozess – das sage ich zum nicht anwesenden Bundes- bon-Strategie haben wir eine Reihe von Aufgaben zu- kanzler – auf dem bevorstehenden Europäischen Rat in sätzlich zu erledigen. Wir sind uns in dieser Regierung Gang! Notwendig ist vor allem eine Umschichtung des einig, dass wir das ernst nehmen und dass wir unsere EU-Haushaltes zugunsten der Mittel, die in Bildung, Verantwortung, die wir im Bereich der nationalen Ak- Wissenschaft und Forschung fließen, wie wir das in un- tionspläne haben und auch weiterhin haben werden, serem Antrag gefordert haben. 3 Prozent sind eindeutig übernehmen. Mit einer Verweigerungshaltung und groß zu wenig, um diesen Abstand wenigstens etwas zu ver- tönenden Reden, die keine inhaltliche Substanz haben ringern. und in denen keine konkreten Vorschläge gemacht wer- den, wie es weitergehen soll, werden wir das nicht errei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten chen. der CDU/CSU) Die wissenschaftlich-technische Entwicklung ent- (B) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: scheidet darüber, wer im wirtschaftlichen Wettbewerb (D) Herr Kollege, bitte. die Nase vorne hat. Die Forschung von heute sichert Ar- beitsplätze von morgen. Wir sind davon überzeugt, dass Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die große technologische Lücke, die sich zwischen NEN): Europa und den USA aufgetan hat, vor allem dadurch Deshalb werden wir unsere Verantwortung wahrneh- verursacht worden ist, dass die USA seit Jahren deutlich men und diesen Weg konsequent weitergehen. mehr Geld für die Forschung eingesetzt haben. Damit Europa seinen technologischen Rückstand aufholen Vielen Dank. kann, muss es mehr Mittel für angewandte Forschung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufwenden und effizienter und zielgenauer einsetzen. Es und bei der SPD) ist eine Chance für Europa, das so zu machen und besser zusammenzuarbeiten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Schuld für die insgesamt negative Entwicklung

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk. liegt nicht in erster Linie in Brüssel. Die EU kann nun einmal nicht besser sein als die Summe ihrer Mitglied- staaten. Da liegt manches im Argen, insbesondere in Jürgen Türk (FDP): Deutschland. Das ist kein Schlechtreden, sondern das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und muss man einmal deutlich sagen. Ansonsten kann man Kollegen! Kollege Steenblock, ich werde mich nicht an nichts verändern. Deutschland leidet seit Jahren an nicht diesem Schwarzer-Peter-Spiel beteiligen. Es bringt uns oder zu zaghaft in Angriff genommenen Reformen und nicht weiter. fällt deshalb bei fast allen wirtschaftlichen Kennzahlen (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- im europäischen Vergleich zurück. Wenn aber die bedeu- NEN]: Er ist der schwarze Peter!) tendste Volkswirtschaft der Europäischen Union krankt, kann Europa nicht so vorankommen, wie das nötig und Sie sind in der Verantwortung; denn Sie stellen die Bun- wünschenswert ist. desregierung. Es läuft nicht. Schauen Sie auf die 5,2 Millionen Arbeitslosen! Dafür müssen Sie die Ver- (Beifall bei der FDP) antwortung übernehmen. Nun ein Wort zur umstrittenen Dienstleistungsricht- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: linie. Herr Bodewig, das Ziel dieser Richtlinie ist es, die

Seite 15652, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Herr Hintze ist der schwarze Peter!) Wettbewerbsfähigkeit Europas durch den Abbau unnöti- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15653

Jürgen Türk (A) ger Bürokratie und die Vereinfachung der Verfahren in (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Aber (C) den Mitgliedstaaten zu erhöhen; darin stimmen wir Steuern können wir senken!) wahrscheinlich noch überein. Der Kern des Richtli- nienentwurfs, das Herkunftslandprinzip, muss natürlich Wir appellieren an Sie, beim Rat nicht alles aufs Spiel zu noch genauer definiert werden. Vielleicht können wir setzen und zu verhindern, dass Deutschland am Ende das auch zusammen machen. Wir verstehen darunter, noch mehr zahlen muss, als es jetzt schon zahlt. dass man die Bürokratie für den freien Wettbewerb Vielen Dank. schon im Herkunftsland erledigt und dann die Regeln des Gastlandes erfüllt. So sehen wir das Prinzip. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich bedarf die Richtlinie noch einiger Klarstel- lungen. So ist es notwendig, die Voraussetzungen für eine enge grenzüberschreitende Kooperation von Behör- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: den zu schaffen. In sensiblen Bereichen müssen groß- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Werner zügige Übergangsregelungen gelten, und zwar in Stufen. Bertl. Natürlich sind wir nicht daran interessiert, dass Verwer- fungen entstehen. Daher muss man die Regelungen ent- Hans-Werner Bertl (SPD): sprechend anpassen. Aber das Ziel muss in Sicht blei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ben. Wir wollen ein Europa, das für seine Bürgerinnen und (Beifall bei der FDP) Bürger ein Raum der Freiheit, der sozialen Sicherheit, des Wachstums und der Beschäftigung ist. Ich glaube, es Zudem muss eine Rechtsaufsicht durch das Inland ist unsere Aufgabe, den weiteren Ablauf und die Kon- gewährleistet werden, damit es zu keiner Inländer- zentration der Lissabon-Strategie so in Europa zu gestal- diskriminierung kommt. ten, dass die Vollendung des Binnenmarktes unter dieser Wir bekennen uns zur Liberalisierung des Binnen- Zielsetzung erfolgt. Wir müssen begreifen, dass das nur marktes. Dazu zählt auch und gerade die Liberalisierung dann von den Menschen in 25 Staaten akzeptiert und des besonders wachstumsträchtigen Dienstleistungs- mitgetragen wird, wenn dieser Weg nicht von Ängsten sektors. Wir fordern dazu auf, mit Augenmaß an der Er- um Arbeitsplätze, um soziale Standards und um soziale arbeitung der Richtlinie mitzuwirken und sie nicht zu be- Sicherungssysteme begleitet wird, die manchmal durch hindern oder gar zu bremsen. Richtlinien bei den Menschen in Europa entstehen. Eu- ropa ist etabliert und gewollt. Die Bürger zeigen uns 12.00-12.10.doc Wir fordern auch, nicht länger die Axt an das Ver- aber oft, dass sie sich noch nicht sicher fühlen und Un- (B) tragswerk zu legen, das Europas Wachstum sichern soll: sicherheit und Sorgen den Weg der 25 Staaten zum voll- (D) den Stabilitätspakt. Die Bundesregierung hat eine un- endeten Binnenmarkt begleiten. rühmliche Vorreiterrolle dabei gespielt, den Stabilitäts- pakt bereits ein Jahr nach Lissabon zu beerdigen, indem Die Lissabon-Strategie – ein Begriff seit März 2000 – sie dreimal hintereinander – Sie wissen das –, nämlich zeigte für mich einen sehr ambitionierten Weg der Euro- 2002, 2003 und 2004, die Höchstgrenze für die jährliche päischen Union auf. Es gibt acht Hauptziele und 120 un- Neuverschuldung und für die Gesamtverschuldung über- tergeordnete Ziele und alle haben das Bestreben, den schritten hat. Das wird sie wahrscheinlich auch 2005 tun. Dreiklang von Beschäftigung, Wirtschaftsreform und so- zialem Zusammenhalt so zu gestalten, dass am Ende ein Jetzt versucht sie, den Stabilitätspakt aufzuweichen. Lebensraum für fast eine halbe Milliarde Menschen so Ich kann das nicht verstehen. Wenn Sie versuchen, aus gefestigt steht, dass er Freiheit, soziale Sicherheit und 5 Prozent 3 Prozent zu machen, dann verstoßen Sie ge- Wohlstand bietet. Das ist ein Ziel, das zu verwirklichen gen alle Grundrechenarten. Das diszipliniert auch nicht. sich lohnt. Sie stellen damit nicht nur die luxemburgische Präsi- dentschaft infrage, sondern Sie gefährden den ganzen (Beifall bei der SPD) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Terminplan für die finanzielle Vorausschau ab 2007. Der Halbzeitbericht von Wim Kok zeigt uns, dass wir (Kurt Bodewig [SPD]: Wenn Luxemburg zum Er- in vielen Bereichen den richtigen Weg eingeschlagen ha- gebnis kommt, ist der Terminplan gewahrt!) ben, er zeigt aber auch, und zwar sehr deutlich, wie not- Sie wissen, dass das insgesamt nicht mehr aufgehen wendig es ist, Ziele gestrafft anzugehen und sich vor al- wird, wenn Luxemburg scheitert. Das nehmen Sie in len Dingen auf ein Weniger zu konzentrieren. Der Kauf. Hinweis auf notwendige Konzentration, nämlich auf nachhaltiges Wachstum und Steigerung der Produktivi- tät, auf Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und – ganz Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: entscheidend – auf Förderung von Forschung, Entwick- Herr Kollege, denken auch Sie bitte an die Zeit. Es ist lung und Innovationen sowie die Erhöhung der Beschäf- eine Debatte, in der alle ein bisschen Mühe haben, die tigungsrate, zeigt in der Halbzeitbilanz, dass auch wir in Zeit einzuhalten. Deutschland Chancen haben, die komplexen Herausfor- derungen anzunehmen und ein europäisches Sozial- Jürgen Türk (FDP): staats- und Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das den Das ist nicht in Ordnung. Wir wollten klar und deut- Menschen soziale Sicherheit und Wohlstand in diesem

Seite 15653, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr lich sagen, dass man das nicht machen kann. Raum der 25 ermöglicht. 15654 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Hans-Werner Bertl (A) Wir haben in unserem Land damit begonnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Notwendigkeit eines nationalen Aktionsplans im Die Agenda 2010 ist die größte Arbeitsmarktreform, die Hinblick auf Arbeit für Junge und Ältere – ich erspare je gemacht worden ist. mir den Hinweis auf die demographische Situation; sie ist, glaube ich, bekannt – besteht in der Tat. Unser Weg (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist hat bereits zu ersten Ergebnissen geführt. Vieles gerät das!) schnell in Vergessenheit. Die Novellierung des Berufs- bildungsgesetzes bietet in weiten Bereichen jungen Es sind tief greifende Umstrukturierungen unseres So- Menschen Möglichkeiten, an Bildung und Berufsbil- zialsystems vorgenommen worden. Wir haben über dung teilzuhaben, die es früher nicht gegeben hat. Was 300 000 Menschen aus der Sozialhilfe herausgeholt und das Sozialgesetzbuch II angeht, stehen 6,8 Milliarden ihnen einen Zugang zu aktiver Arbeitsmarktpolitik er- Euro für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik möglicht. Wir haben über 180 000 Jugendliche, die in zur Verfügung. Das zeigt, dass wir den richtigen Weg diesem Land kein Mensch mehr zur Kenntnis genom- verfolgen. men hat, aus der Sackgasse geholt und bieten ihnen die Möglichkeit, durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des fördert zu werden. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Ein Ausbildungsangebot für alle jungen Menschen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bis 25 Jahre hat es in diesem Land noch nie gegeben. Wie bereits gestern deutlich geworden ist, ist die Mög- Wir haben damit begonnen, steuerliche Entlastungen lichkeit, Maßnahmen für Ältere aufzuzeigen, geschaffen mit einem Volumen von über 50 Milliarden Euro auf den worden. Vieles davon läuft erst seit dem 1. Januar und Weg zu bringen. Ökologische Nachhaltigkeit ist keine zeigt langsam Wirkung. Manches wird erst in den nächs- platte Formel, sondern eine entscheidende Zielsetzung. ten Wochen und Monaten seine Wirkung entfalten. Ich glaube, es ist bereits deutlich geworden, dass Bil- Aber ich glaube, der von uns verfolgte Weg, mit dem dung, Forschung und Entwicklung in den Mittelpunkt wir auch die Konsequenz aus dem Kok-Bericht ziehen, gestellt werden müssen. Das wird von uns auch getan ist richtig und er zeigt, dass wir die richtige Richtung und es zeigt bereits Wirkung. einschlagen wollen. Mehr Wachstum und die Verwirk- Wenn der Bericht von Wim Kok eine Botschaft ent- lichung der Wissensgesellschaft müssen für uns in Eu- (B) hält, dann ist es der Auftrag, mit aller Konzentration da- ropa mit der konsequenten Förderung von Forschung (D) für zu sorgen, dass finanzielle Ressourcen in den Mit- und Entwicklung einhergehen, und zwar – das sage ich gliedstaaten insgesamt in Bereiche mit hohen deutlich – mit höherem Einsatz in allen Bereichen der Wachstumspotenzialen gelenkt werden. Wir müssen in Bildung. Europa ein Umfeld für kleine und mittlere Unternehmen Wer die sozialen Gegensätze in Europa verringern schaffen, welches ihnen Zugang zu öffentlich geförder- will, hat meines Erachtens nur eine Möglichkeit: Inves- ter Forschung und Entwicklung ermöglicht. Wir müssen tition in Bildung, und zwar für die junge Generation, den Zugang zu den Märkten ermöglichen und insbeson- und lebensbegleitendes Lernen für alle, weil es das beste dere den Zugang zu finanziellen Mitteln fördern, die In- Mittel gegen soziale Ausgrenzung im Verbund der novationen und Investitionen sicher gestalten und gerade 25 Staaten in der Europäischen Union ist. Ich glaube, da- kleine Unternehmen hinsichtlich ihrer Liquidität besser rin liegt unsere Zukunft. stellen. Denn in diesem Bereich bestehen die großen Probleme, sowohl bei uns als auch in der Europäischen Ich bin sicher, dass wir den Wim-Kok-Bericht ver- Union. standen haben. Wir haben unsere Politik entsprechend

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 darauf ausgerichtet. Die Agenda 2010 zeigt, dass wir Das Ziel, Bildung und Innovationen zu fördern, ver- diesen Weg sehr konsequent verfolgen werden. Ich for- langt auch von uns in unserem Land die Konzentration dere Sie auf: Begleiten Sie uns auf diesem Weg, insbe- unserer finanziellen Ressourcen. Wie wir bereits gehört sondere was die Investitionen in Bildung, Forschung und haben, gehen Sie diesen Weg entweder kaum oder gar Entwicklung angeht, die im Grunde das Einzige sind, nicht mit. was uns übrig bleibt. Diesen Weg müssen wir in Deutschland gehen, um unsere Zukunft in Europa und Wir wollen bis 2010 die Ausgaben für Forschung der Welt zu gestalten. und Entwicklung auf 3 Prozent des Bruttoinlandspro- Vielen Dank. duktes erhöhen. Dabei ist auch die Wirtschaft gefordert. Der Blick in andere Länder – insbesondere in die USA –, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wo Investitionen im Bereich der Wirtschaft in Forschung DIE GRÜNEN) und Entwicklung fließen und zu entsprechenden Ergeb- nissen führen, die uns schon heute Sorgen machen müs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sen, zeigt, dass wir auf diesem Weg auch gemeinsam mit Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthäus Strebl. der Wirtschaft noch einiges in unserem Land erreichen

Seite 15654, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15655

(A) Matthäus Strebl (CDU/CSU): Es geht nicht darum, mit kurzfristigen Maßnahmen (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und eine Staatsinsolvenz in Deutschland abzuwenden. Viel Herren! Mit der im Jahr 2000 verabschiedeten Lissabon- wichtiger ist es, auf die Herausforderungen der Bevölke- Strategie sollte die Europäische Union zum wettbe- rungsentwicklung, der Globalisierung und vor allen Din- werbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der gen der EU-Osterweiterung zu reagieren. Daher stellt Welt gemacht werden. Bereits fünf Jahre später ist klar, sich die Frage: Meine sehr verehrten Damen und Herren dass Europa die Lissabon-Ziele verfehlt hat und sich von Rot-Grün, was machen Sie? Sie verstricken sich mit Deutschland wegen der rot-grünen Politik als Bremser überflüssigen Gesetzen, wie zum Beispiel mit dem Anti- erweist. Die Gründe hierfür sind offensichtlich: Ur- diskriminierungsgesetz. Bereits am Entwurf erkennt sprünglich war eine EU-weite Anhebung der Beschäfti- man, dass dieses Gesetz zu mehr Bürokratie, explodie- renden Kosten und einer wahren Klageflut führen wird. gungsrate auf 70 Prozent geplant. Der Anstieg der Be- Es ist ein Jobkiller. Auch rechtliche Vereinfachungen schäftigung erfolgte jedoch zu Beginn sehr zögerlich oder Klarstellungen machen diesen Entwurf nicht besser. und kam 2003 völlig zum Erliegen. Mit einer Beschäfti- Daher fordere ich Sie auf: Nehmen Sie Ihr Bürokra- gungsquote von europaweit 64,3 Prozent im Jahr 2003 tiemonstrum komplett vom Tisch! ist dieses Ziel in weite Ferne gerückt. Die Wirtschaft legte nur bescheidene Wachstumsraten vor. In Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. land gab es so gut wie gar kein Wachstum, weil die ma- Jürgen Türk [FDP]) kroökonomischen Bedingungen bei uns nicht stimmen. Die Bevölkerung erlebte bereits in den letzten Jahren (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. eine Flut von politischen Maßnahmen, die weitgehend Jürgen Türk [FDP]) wirkungslos geblieben sind. Nur dort, wo die Union mit- gemacht hat, ist es etwas geworden. Das Produktivwachstum verlangsamte sich. So lag das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Europa bei 91 Pro- Europa kann nur einen großen Schub erhalten, wenn zent, während es in den Vereinigten Staaten von Ame- Deutschland wieder auf die Füße kommt. Dazu gehören rika bei über 140 Prozent lag. Hinzu kommen weitere in erster Linie ein Aufschwung in der Wirtschaft und in- Herausforderungen wie die zunehmende Überalterung in folgedessen mehr Arbeitsplätze. Das ist nur unter den Europa, die sich weiter beschleunigende Globalisierung richtigen politischen Rahmenbedingungen möglich. sowie die Sorgen und Möglichkeiten, die sich aus der Auch die deutschen Manager teilen nicht den Optimis- EU-Osterweiterung ergeben. mus, den der Kanzler gestern hier mit seiner eineinhalb- stündigen Rede verbreiten wollte. Einer Umfrage zu- Die Defizite Europas sind struktureller Natur. Europa folge wiegt für die Manager besonders schwer, dass (B) ist hinter die USA und Asien zurückgefallen. Dabei angesichts der rückläufigen Wachstumsprognosen Er- (D) sollte Deutschland als größte Exportnation in der Ge- folg versprechende Konzepte fehlen. Nur noch meinschaft als der Wachstumsmotor und Impulsgeber 21 Prozent erwarten, dass sich die Standortbedingungen agieren. Stattdessen begnügt sich Deutschland damit, künftig verbessern werden. Das ist das Ergebnis einer Schlusslicht innerhalb der EU zu sein. Umfrage unter 869 Topmanagern in Deutschland, die vom „Handelsblatt“ in Auftrag gegeben wurde. Eine (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Auch beim Verbesserung der Standortbedingungen wäre aber eine Export?) Grundvoraussetzung für mehr Wachstum und mehr Ar- beitsplätze in Deutschland. Die Bundesregierung hat im Wettbewerb mit den Mit- gliedstaaten zwar Rekorde aufzuweisen. Doch leider Daher fordern wir diese Bundesregierung auf, auf na- 12.15-12.25.doc handelt es sich dabei um Negativrekorde. Die Arbeits- tionaler und auf europäischer Ebene Wachstum und Ar- losigkeit ist auf einen historischen Höchststand von offi- beitsplätze in das Zentrum der Lissabon-Strategie zu ziell 5,2 Millionen bzw. tatsächlich weit über 7 Millio- stellen, nen Arbeitslose angewachsen. In Deutschland betrug das (Beifall bei der CDU/CSU) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Wachstum des Bruttoinlandsproduktes nur 1,6 Prozent im vergangenen Jahr, während die Wirtschaft in den in dem Kernbereich Wirtschaft und Soziales endlich ihrer OECD-Staaten im Jahr 2004 um 2,9 Prozent gewachsen nationalen Verantwortung nachzukommen, sich nicht auf ist. Außerdem kämpfen die Sozialversicherungen bei die bloße Umsetzung europäischer Richtlinien zu be- uns nach wie vor gegen den Bankrott. schränken oder eine wachstumshemmende Übererfüllung anzustreben und vor allen Dingen endlich eine nationale Die Bundesregierung schafft es nicht, durchgreifende Gesamtstrategie vorzulegen, die der beschäftigungswirk- strukturelle Veränderungen in die Wege zu leiten. Sie samen Wachstumsförderung eindeutig Priorität einräumt lebt in dem Irrglauben, mit der Agenda 2010 alles und über bisherige Reformvorhaben hinausgeht. Nötige getan zu haben, um eine Verbesserung herbeizu- führen. Gesamteuropäische Beschäftigungsprogramme sind zwar schön und gut; aber nur, wenn diese Bundesregie- (Zuruf von der CDU/CSU: Leider wahr!) rung die nationalen Brennpunkte in den Griff bekommt, kann das Ziel einer dynamischen europäischen Wirt- Der Kanzler konnte in seiner gestrigen Regierungserklä- schaftsregion Wirklichkeit werden. rung keine zukunftsweisenden Perspektiven aufzeigen, und das, obwohl er fast eineinhalb Stunden Redezeit (Beifall des Abg. [CDU/

Seite 15655, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr hatte. CSU]) 15656 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (C) Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass Ihre Rede- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zeit vorbei ist. Lieber Kollege Hintze, Sie versuchen, den Bundes- präsidenten hier im Parlament parteipolitisch zu instru- Matthäus Strebl (CDU/CSU): mentalisieren. In der Praxis heißt das nicht nur, dass Sie Ja, Frau Präsidentin. dem Amt des Staatsoberhauptes auf längere Sicht scha- den, sondern auch, dass Ihre Partei hier, was eigene Ich komme zum Schluss. Der Kanzler und sein Visa- Ideen angeht, abdankt. Das haben wir bei Ihnen festge- kanzler können sich selbst beweihräuchern, wie sie wol- stellt. len: Für sie springt nur ein müder Applaus der rot-grü- nen Koalition heraus; aber Deutschland bringt es nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) voran. Ich komme auf die europäischen Statistiken zu spre- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen. Man muss mit Begriffen sehr aufpassen, zum Bei- neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] spiel wenn man über Elend redet. Die Gefahr, in [SPD]: Eine sehr unangemessene Rede zu die- Deutschland arm zu werden, ist insgesamt relativ gering. sem Thema!) Konkret gesprochen: In 22 anderen europäischen Län- dern ist diese Gefahr größer. Auch darauf sollte man auf- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: merksam machen, damit man bei den Leuten keine Ar- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Axel Schäfer. mutsangst schürt. Besser als Angst zu schüren ist es, ihnen zu sagen: Jawohl, wir haben die Chancen, deut- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sche Probleme auch in und mit Europa zu lösen; wir sind nicht immer nur die Letzten. – Angst zu schüren ist Axel Schäfer (Bochum) (SPD): wirklich das Letzte, was man sich als Argument einfal- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! len lassen sollte. Die europäische Agenda 2010 ist der Lissabon-Prozess. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Die deutsche Agenda 2010 ist die Regierungserklärung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von Gerhard Schröder. Diese Agenda ist gestern konkre- tisiert und weiterentwickelt worden; sie ist auf einem gu- Lieber Kollege Türk, wir ziehen heute Zwischen- ten Wege. bilanz. Das ist wie beim Fußball: Zur Halbzeit stellt man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fest, wo man steht. Wir stehen nicht so gut da, wie wir (B) DIE GRÜNEN) wollten, und wir müssen uns anstrengen. Aber wer ein (D) Spiel bereits zur Halbzeit verloren gibt, der kann und Entscheidend in Bezug auf den Lissabon-Prozess ist, wird 2010 natürlich nicht gewinnen. Wir wollen gewin- dass wir unsere Verantwortung wahrnehmen. Das tut nen und wir werden gewinnen. diese Regierung; aber auch die Opposition – es ist hier angesprochen worden – trägt Verantwortung. Sie, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Opposition, haben zwei Möglichkeiten: Entweder behar- DIE GRÜNEN) ren Sie im Bundesrat auf Ihrer Mitentscheidung und stel- Diese Bundesregierung hat im Gegensatz zu ihrer len sich Ihrer Mitverantwortung oder Sie beharren im Vorgängerregierung die Beiträge in den Sozialsystemen Bundesrat auf Ihrer Mitentscheidung und stehlen sich nicht weiter ansteigen lassen. Wir haben die Rentenver- dann – mit allen Konsequenzen – immer wieder aufs sicherung stabilisiert und wir haben eine Senkung der Neue aus der Verantwortung. Vor dieser Alternative ste- Beiträge zur Krankenversicherung ermöglicht. Dies ist hen Sie. Darüber müssen wir hier reden. eine der zentralen Voraussetzungen für den Lissabon- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Prozess. Das ist auch von der Kommission ausdrücklich oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) anerkannt worden. An der Zahl der Arbeitslosen kann man das sehr Es ist wichtig, an diesem 18. März darauf aufmerk- leicht deutlich machen. Wir haben uns gemeinsam da- sam zu machen: Wir befinden uns zeitlich in der Mitte rauf verständigt, dass die erwerbsfähigen Sozialhilfe- des Solidarpaktes, der bekanntlich – so lautet die Ver- empfänger in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen einbarung – eine Laufzeit bis 2019 hat. Dieser Solidar- werden. Das ist nicht wegen der Statistik geschehen, pakt macht die spezifische Lage Deutschlands deutlich, sondern um klar zu machen, dass diese Menschen eine für die es in Europa bekanntlich keinen Vergleich gibt, Chance bekommen sollen. Die Statistik ergibt, dass jetzt was uns die Kommission auch immer konzediert hat. Ich 5,2 Millionen Menschen arbeitslos sind. Damit sind will hier noch einmal betonen: Wir befinden uns in der genauso viele Menschen arbeitslos oder Sozialhilfe- Mitte eines welthistorischen Experimentes, das darin be- empfänger wie 1998 am Ende der Ära Kohl. Das ist die steht, ein geteiltes Land mit unterschiedlichen Sozial- Situation. Darüber reden Sie nicht. Sie betreiben Angst- und Wirtschaftssystemen auf der Basis von Frieden und mache und bauen einen Popanz auf. Sie verunsichern Demokratie zu vereinigen. Dafür gab es vorher keine Menschen und Sie beeinträchtigen damit die Chancen, Konzepte. Das heißt, wir müssen uns immer wieder aufs die wir gemeinsam nutzen müssen, damit wir in Neue anstrengen, wir müssen Dinge verändern, wir müs-

Seite 15656, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Deutschland vorankommen. sen dazulernen. Das machen wir auch. Nur dann, wenn Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15657

Axel Schäfer (Bochum) (A) wir diesen Weg gehen, haben wir in Deutschland und Die Opposition hat in der Frage der Verfassung zögerlich (C) mit Europa Erfolg. Anschluss gefunden. Sie hat in Bezug auf die finanzielle Vorausschau sofort der Regierung zugestimmt. Sie hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Brüssel-Gipfel erst geschmäht und hat dann ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schwiegen, als sie gesehen hat: Wir sind in diesem Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns dabei reich auch außen- und sicherheitspolitisch vorangekom- durchaus auch einmal zur europäischen Außensicht men. Lissabon zeigt unser Verständnis von Politik: kommen. Ich möchte aus der französischen, konservativ kritisch, aber auch selbstkritisch. Ferner zeigt dieser Pro- orientierten Zeitung „Le Figaro“ zitieren: zess, dass die rot-grüne Bundesregierung der Garant da- für ist, die deutschen Interessen in Europa zu vertreten Wenn in Deutschland reformiert wird, dann wird und zugleich die europäische Einigung als das wichtigste das gründlich getan. Als es darum ging, die Groß- deutsche Interesse anzusehen. zügigkeit des Sozialstaates einzudämmen, hat die deutsche Regierung den starren Arbeitsmarkt Vielen Dank. ebenso wie die Renten reformiert. In Frankreich be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gnügt man sich hingegen zu oft mit Einzelreformen DIE GRÜNEN) ohne Gesamtkonzept. So werden oft neue Un- gleichheiten geschaffen. Berlin besitzt einen weite- ren … Vorzug, die Beständigkeit. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Danke schön. – Ich schließe damit die Aussprache. Mit „Berlin“ ist die Bundesregierung gemeint. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf In Paris hat man allzu oft den Eindruck, von einem den Drucksachen 15/5116 und 15/5025 an die in der Ta- zum anderen Plan zu hüpfen, je nach den Vorstel- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. lungen einzelner Minister. Die Vorlage auf Drucksache 15/5131 soll zur federfüh- So weit „Le Figaro“. renden Beratung an den Ausschuss für die Angelegen- heiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an (Beifall bei der SPD) den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit sowie an den Ich komme jetzt bewusst, weil das angesprochen wor- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- den ist, in diesem Zusammenhang auf den Stabilitätspakt heit überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vor- zu sprechen. Ich gebe Ihnen den Rat: Lies nach bei schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überwei- Helmut Schmidt! Er verfügt bekanntlich auch heute sungen so beschlossen. (B) noch bei Ihnen, bei CDU/CSU und FDP, zu Recht über Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: (D) hohes Ansehen. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass es erstens gelungen ist, tatsächlich eine stabile europäi- Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria sche Währung zu schaffen – Währungsstabilität ist in Eichhorn, Hannelore Roedel, Willi Zylajew, wei- Deutschland bekanntlich besonders wichtig –, und dass terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ wir zweitens eine Flexibilisierung des Paktes brauchen. CSU Das ist auch richtig, denke ich. Weniger Bürokratie in Heimen Der Lissabon-Prozess darf nicht allein im Hinblick – Drucksache 15/4932 – auf Wirtschaft, Arbeit und Wissen beurteilt werden. Vielmehr muss er im Zusammenhang mit dem europäi- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) schen Prozess der Entwicklung und der Neu- und Um- Rechtsausschuss gestaltung, in dem wir uns befinden, gesehen werden. Finanzausschuss Dazu gehören drei Dinge: Das Erste ist die Verfassung, Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung in der wir gemeinsame Werte definieren und Handlungs- Haushaltsausschuss oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 fähigkeit gewährleisten. Das Zweite ist der Finanzrah- Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- men, der auf solide Weise die Notwendigkeiten mit den sprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie da- Möglichkeiten verbindet. Das Dritte ist ein außen- und mit einverstanden? – Das scheint so. Dann ist so be- sicherheitspolitisches Konzept, das die Europäische schlossen. Union als Friedensmacht stärkt. Auf all diesen Feldern hat sich seit Beginn des Lissabon-Prozesses im Jahr Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge- 2000 Entscheidendes getan. Das Wichtigste ist: Wir sind ordnete Maria Eichhorn. sowohl mit der Verfassung, mit der Agenda 2007 als auch mit dem Konzept von Brüssel aus dem Jahre 2003 Maria Eichhorn (CDU/CSU): auf einem guten Weg. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Si- tuation der Einrichtungen der stationären Altenhilfe hat Ich sage ganz selbstbewusst: Diese Initiativen sind sich in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegend, ja entscheidend von der deutschen Bundesregierung ge- man könnte sagen, drastisch verändert. Altenwohnheime kommen; von ihr kamen die wesentlichen Impulse in all wurden zu Pflegeheimen. Bei neuen Einrichtungen do- diesen drei Feldern. miniert die Zahl der Pflegeplätze ganz erheblich. Das (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rainder durchschnittliche Eintrittsalter liegt weit über 80 Jahre.

Seite 15657, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das Nebeneinanderbestehen mehrerer Erkrankungen 15658 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Maria Eichhorn (A) sowie die Zunahme der Altersdemenz erfordern von der (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die Pflegebe- (C) Altenpflege eine deutlich höhere Leistungsqualität. Be- dürftigen noch weniger!) gleitet wird dies von einem dramatischen Personalman- denn – darin sind wir uns ja einig, meine Damen und gel in der Pflege. Heimleitungen und Pflegekräfte stöh- Herren – es fehlt das Wesentliche, nämlich die Zeit für nen zu Recht über das Anwachsen von Vorschriften, den die Versorgung und Betreuung der Pflegebedürftigen in zusätzlichen Aufwand für Doppel- und Mehrfachprüfun- den Heimen. gen sowie steigende Verwaltungs- und Dokumentations- pflichten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Regelungen im Heimgesetz, im Pflege-Versicherungsge- Zahlreiche Institutionen neben Heimaufsicht und Me- setz und auch andere der fast 800 geltenden Vorschriften dizinischem Dienst der Krankenkassen nehmen Prü- teilweise widersprechen. fungen in Heimen vor. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von einer selten koordinierbaren Kon- Wer sich mit dem Thema Pflege auseinander setzt, trollwut, die im Betriebsalltag zu erheblichen Behinde- stellt fest: Es besteht dringender Handlungsbedarf zur rungen führt. Die Vorbereitung verschiedener Prüfter- Entlastung der Leitungs- und Pflegekräfte in den Hei- mine sowie die Begleitung der Prüfungen verhindern die men. Die Bürokratie muss beschränkt werden, damit die eigentliche Pflegearbeit. Viele Prüfungsinhalte über- Qualität von Betreuung und Pflege in Zukunft gesichert schneiden sich. Prüfungen des gleichen Sachverhalts fin- bleibt. Angesichts der zunehmenden Klagen hat die den nicht nur durch verschiedene Behörden statt, son- Unionsfraktion im Juli letzten Jahres diesbezüglich eine dern auch aufgrund verschiedener Prüfungsrichtlinien. Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Diese Es ist ganz klar, dass es zu widersprüchlichen Beurtei- 12.30-12.40.doc meint jedoch, dass der Zeitbedarf für Verwaltungstätig- lungen kommt. Zum Beispiel sind auf der einen Seite keiten oft überschätzt werde und alle indirekt zu erbrin- Bewohnerbereiche wohnlich zu gestalten; auf der ande- genden Leistungen beim Zeitaufwand lediglich 17 Pro- ren Seite jedoch müssen Hygieneanforderungen oder zent ausmachten. Brandschutzauflagen beachtet werden. Dabei kommt es natürlich immer wieder zu völlig unterschiedlichen Er- (Matthäus Strebl [CDU/CSU]: Keine Ah- gebnissen. nung!) In manchen Bereichen treten Doppel- und Mehrfach- Der Aufwand für die Pflegedokumentation liege ledig- prüfungen auf. Koordination und Informationsaustausch lich bei sieben Minuten pro Tag und Bewohner. zwischen den Prüfungsbehörden sind verbesserungsfä- Meine Damen und Herren, die Realität sieht völlig hig. Daher ist eine bessere terminliche und inhaltliche Zusammenarbeit der Prüfinstanzen erforderlich, um de- anders aus. ren Kompetenzen klarer voneinander abzugrenzen bzw. (B) (D) (Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster] miteinander in Einklang zu bringen. [FDP]) Wichtig wäre ein gemeinsamer Prüf- und Fragenkata- Dies haben nicht nur unsere Besuche in den Heimen, log. sondern auch zahlreiche Fachgespräche erbracht, die wir (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) mit Experten in Ländern und Verbänden geführt haben, Ziel muss sein, dass die verschiedenen Prüfungen zu ei- um weiter gehende Informationen zu erhalten. Zahlrei- ner besseren Pflege führen und die Ergebnisqualität in che Verbände haben uns darauf hingewiesen, dass vor den Mittelpunkt der Prüfungen rückt. allem durch das im Jahre 2002 in Kraft getretene novel- lierte Heimgesetz sowie das Pflege-Qualitätssicherungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gesetz der Verwaltungs- und Bürokratieaufwand für Nach dem Heimgesetz können Prüfungen jederzeit un- die Träger und Einrichtungen der Altenhilfe enorm ge- angemeldet erfolgen. Die Union hält dies für unverzicht- stiegen ist. bar. Dabei muss allerdings die Ergebnisqualität eindeutig im Vordergrund der Prüfung stehen. Unangemeldete

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Die Union hatte bereits im Jahre 2001, als über die Novellierung des Heimgesetzes diskutiert wurde, auf die Kontrollen zeigen die Wirklichkeit des Betriebsalltags in Gefahr einer zunehmenden Bürokratisierung hingewie- Pflegeheimen. Heime, die eine gute Leistung erbringen, sen. Die von uns damals befürchtete Bürokratisierung ist werden unangemeldete Kontrollen jederzeit begrüßen. nun zur Realität geworden. Arbeitszeitmessungen zei- Es zeigt sich auch, dass sich einige Regelungen im gen, dass lediglich 40 bis 55 Prozent der Arbeitszeit von Heimgesetz und im Pflege-Versicherungsgesetz wider- Pflegekräften direkt für und mit den Bewohnern von Al- sprechen. Zum Beispiel endet die Zahlungspflicht nach tenhilfeeinrichtungen verbracht werden. Die übrige Zeit, dem SGB XI mit dem Tod des Heimbewohners. Im also mindestens die Hälfte der Zeit, wird auf die Be- Heimgesetz dagegen ist eine zweiwöchige Fortgeltung arbeitung der vielen bürokratischen Anforderungen und der Vertragsdauer vorgesehen. Wir halten die jetzige auf Nebentätigkeiten verwendet. Regelung im Heimgesetz für praxisnah und gerecht und befürworten eine Klarstellung in diesem Sinne. Wir ha- (Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! – ben uns bereits bei der Novellierung des Heimgesetzes Erschreckend!) für diese Regelung ausgesprochen und meinen, dass das Pflege-Versicherungsgesetz entsprechend angepasst wer- Wer wie viele von uns regelmäßig Heime besucht, weiß, den sollte. dass die Heimleiter und Pflegekräfte für so viel Bürokra-

Seite 15658, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr tieaufwand kein Verständnis haben, (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15659

Maria Eichhorn (A) Die Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte von aufzunehmen und gemeinsam mit uns zum Wohle der (C) Heimbewohnern und Heimbewohnerinnen ist sinnvoll Heimbewohner umzusetzen. und notwendig. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein wichti- ger Punkt!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Graf. Aber auch hier ist zu prüfen, inwieweit schriftliche Stel- lungnahmen erforderlich sind. Wichtig ist uns auch, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mitwirkung der Bewohnerinnen und Bewohner zu stär- ken, die selbst nicht in der Lage sind, ihre Anliegen vor- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): zubringen. Hier gibt es Möglichkeiten im Heimgesetz, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die aber bisher viel zu wenig genutzt werden. Wir müs- Seit dem Jahr 2003 haben die Ministerinnen Schmidt sen darauf drängen, dass diese Möglichkeiten tatsächlich und Schmidt, also Renate und Ulla, den runden Tisch ausgeschöpft werden. „Pflege“ eingerichtet. Durch die Einbindung von Bund, Ländern, Kostenträgern, Verbänden, Interessenvertre- Pflegedokumentation ist sinnvoll und eine wichtige tungen und Fachwissenschaft sind dort alle Kräfte ge- Voraussetzung für die Qualitätsentwicklung und die bündelt worden, die in der Pflege Verantwortung tragen. Qualitätssicherung. Im Vordergrund der Dokumentation Auch die Vertreterinnen und Vertreter der betroffenen äl- muss aber auch das Ergebnis der Pflege stehen, was in teren und pflegebedürftigen Menschen werden beteiligt. unserem Antrag eine durchgehende Leitlinie darstellt. Daher muss der zeitliche und inhaltliche Umfang auf das Eine wichtige Arbeitsgruppe dieses runden Tisches Sinnvolle und Notwendige begrenzt werden. Dies kann befasst sich speziell mit der Aufgabe, Entbürokratisie- zum Beispiel durch eine stärkere Standardisierung der rungspotenziale in der Altenpflege aufzudecken und auf Pflegedokumentation erfolgen. In Bayern wurde dafür breiter Basis, also zusammen mit den Betroffenen und ein Konzept erarbeitet, das bereits über ein Jahr lang er- nicht über ihren Kopf hinweg, Lösungsvorschläge zu probt wurde. Die zeitliche Ersparnis der Pflegekräfte finden. durch die Verbesserung der organisatorischen und struk- (Beifall bei der SPD) turellen Rahmenbedingungen bei der Pflegedokumenta- tion liegt bei etwa 50 Prozent. Würde dieses Konzept Eine der Grundlagen der Diskussion des runden Ti- bundesweit umgesetzt, könnte Arbeitszeit im Gegenwert sches war die Tatsache, dass sich, wie erwähnt, die Si- von circa 37 Millionen Euro freigesetzt werden, die wir tuation in den Einrichtungen der stationären Altenhilfe für die Pflege am Menschen natürlich dringend gebrau- in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert hat und (B) chen könnten. die ambulante Pflege eine immer größere Rolle spielt. (D) Während früher oft Menschen in – aus heutiger Sicht – (Beifall bei der CDU/CSU) relativ jungen Jahren, also mit Anfang 70, ins Altenheim gezogen und dort alt geworden sind, liegt nun das durch- Alternative Wohn- und Betreuungskonzepte ge- schnittliche Einzugsalter bei über 80 Jahren. Erst wenn winnen zunehmend an Bedeutung. Diesen innovativen die Betroffenen allein gar nicht mehr zurechtkommen, Ansätzen stehen jedoch gesetzliche Regelungen in der Demenzerkrankungen oder Multimorbidität festgestellt Heimmindestbauverordnung und im Heimgesetz entge- werden und die Familie die Pflege nicht leisten kann, gen. Integriertes Wohnen und betreute Wohngemein- wird der Entschluss gefasst, ins Altenheim umzuziehen. schaften werden an Bedeutung gewinnen. Deswegen Hinzu kommt die demographische Entwicklung, die seit müssen wir das Heimgesetz und die einschlägigen 25 Jahren absehbar war, aber erst in unserer Regierungs- Rechtsverordnungen entsprechend anpassen. zeit wirklich zum Thema gemacht wird. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Auch im Bereich der Behindertenhilfe schränken starre Regelungen die rehabilitationsfördernden Wohn- Die Bundesregierung hat also weit früher als die und Lebensformen ein. Das Letzte, was eine gute Pflege Opposition erkannt, wie dringend Verbesserungen der gebrauchen kann, ist eine überbordende Bürokratie; Pflegestrukturen in Deutschland, auch durch Entbüro- denn der zunehmende Bürokratismus geht zulasten der kratisierung der einschlägigen Vorschriften und Verfah- Qualität in den Einrichtungen. Die Zeit, die für die Büro- rensabläufe, erforderlich sind, zumal es aus Ihrer Regie- kratie aufgewendet werden muss, fehlt für die Pflege rungszeit hier noch einiges zu entrümpeln gibt. und für die Betreuung der Bewohnerinnen und Bewoh- In meinem Wahlkreis Rosenheim gibt es pro Kopf der ner. Bevölkerung die meisten Altenheime und Pflegeeinrich- tungen in der Bundesrepublik. Ich habe viele dieser Die Menschen in den Heimen haben mehr Zuwen- Heime besucht, auch Praktika dort abgeleistet und kenne dung verdient. die Klagen der Betreiber und des Personals sehr wohl. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wenn man aber einzelne Einrichtungen vergleicht, wird Daniel Bahr [Münster] [FDP]) sehr schnell klar, dass sie sehr unterschiedlich durch bü- rokratische Prozesse – zum Beispiel bei der Pflegedoku- Deswegen fordere ich Sie, meine Damen und Herren mentation – belastet sind, dass also viel in der Organisa-

Seite 15659, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr von der Regierungskoalition, auf, unsere Forderungen tion der Häuser begründet liegt. Wie überhaupt die 15660 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Angelika Graf (Rosenheim) (A) Fachleute beim runden Tisch deutlich gemacht haben, bares Zahlenmaterial in diesem Bereich vorliegen kann, (C) dass viele Probleme mit bürokratischen Fehlentwicklun- dürfte Ihnen zudem bekannt sein. gen weniger der rechtlichen Situation als vielmehr der Umsetzung in der Praxis entspringen. Auch einrich- ( [CDU/CSU]: Daneben ist aber auch tungs- und verbandsinterne Vorgaben, deren Notwendig- wichtig, was die Leute selber wollen!) keit zumindest zweifelhaft ist, spielen hier oft eine Rolle. In dieser Verordnung wurde übrigens die in weiten Tei- Die Frage ist außerdem, was man in den Bereich der Bü- len der Öffentlichkeit gestellte Forderung umgesetzt, rokratie einordnet. Die in Ihrem Antrag angeführten mehr und bessere Mitwirkungsmöglichkeiten für Be- Dienstübergaben gehören zumindest nach meiner Auf- wohnerinnen und Bewohner zu schaffen. Dagegen kön- fassung bestimmt nicht dazu. nen Sie doch nicht im Ernst sein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Hannelore Roedel [CDU/CSU]: Haben wir DIE GRÜNEN) auch nicht gesagt, Frau Graf! – Ingrid Insgesamt muss man feststellen, dass im Teil I des Fischbach [CDU/CSU]: Frau Graf hat nicht Antrages, den Sie heute vorlegen, in weiten Teilen die zugehört!) Behauptungen wiederholt werden, die bereits in der Ihre Unterstützung bezüglich des Heimgesetzes for- Kleinen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom Sommer dere ich aber auch mit Blick auf die Vorschläge der Fö- 2004 enthalten waren. Sie werden auch durch Wiederho- deralismuskommission ein. Dieses Rechtsgebiet muss lung nicht substanzieller. Ich kann Ihre Klage über die meiner Vorstellung nach in Bundeszuständigkeit blei- Beantwortung der Anfrage eigentlich nicht verstehen. ben, Wir werden uns über die Quelle, aus der Sie die Daten haben, die in Ihrer Anfrage zitiert werden, bei der Bera- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tung im Ausschuss sicherlich noch austauschen können. DIE GRÜNEN) Wenn Sie behaupten, dass das – übrigens mit Ihrer um für die Heimbewohner halbwegs gleiche Lebensum- Zustimmung – novellierte Heimgesetz und das Pflege- stände in Deutschland zu gewährleisten und den Auf- Qualitätssicherungsgesetz den Verwaltungs- und Büro- wuchs unterschiedlicher bürokratischer Regelungen kratieaufwand enorm gesteigert hätten, so muss ich Ih- – die Tatsache, dass jedes Bundesland eine eigene Vor- nen entgegenhalten, dass die Forschungsgesellschaft für gabe hat – zu vermeiden. Gerontologie in ihrem Schreiben an die Ministerin vom 29. September 2004 nochmals klargestellt hat, dass em- Zurück zu Ihrem Antrag. Es liegen keine Zahlen be- pirische Grundlagen für solche Behauptungen fehlen. züglich Doppelprüfungen von prüfenden Institutionen (B) wie dem MDK und der Heimaufsicht vor. Aus dem Be- (D) Die Regelungen des Heimgesetzes und des Pflege- richt des MDK vom November 2004 ergibt sich, dass Qualitätssicherungsgesetzes sind insbesondere vor dem seit 1996 bis Ende 2003 insgesamt nur etwa 63 Prozent Hintergrund der öffentlichen Debatte um Pflegemiss- aller stationären Einrichtungen geprüft wurden, das heißt stände ein wichtiges Schutzinstrument für Verbraucher, jährlich 9 Prozent. Ich denke, damit relativiert sich, also Heimbewohner, und das Pflegepersonal. Im Rah- selbst wenn alle Heime jährlich von der Heimaufsicht men des Heimgesetzes – das wurde schon erwähnt – Besuch bekommen, das in Ihrem Antrag hochgespielte werden übrigens die unangemeldeten Kontrollen mög- Problem der Doppel- und Mehrfachprüfungen. lich gemacht, die Sie so vehement in Ihren Presseerklä- rungen und in dem vorliegenden Antrag fordern. (Beifall bei der SPD – Willi Zylajew [CDU/ CSU]: Lebensfremd!) Ich streite nicht ab, dass der Balanceakt zwischen Do- kumentationspflicht zur Wahrung der Pflegequalität und Wir sind uns, denke ich, einig, dass aufgrund der gro- dem effektiven Einsatz des Pflegepersonals schwierig ßen Aufgaben, die in Zukunft im Pflegebereich auf die ist. Aber ich bitte Sie, hier keine unnötigen populisti- Gesellschaft zukommen, bürokratische Hemmnisse in oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 schen Bürokratiedebatten vom Zaun zu brechen, den Abläufen keinen Platz haben und dass man gesetz- liche Vorschriften daran orientieren muss. Ich bin also (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sehr dafür, unnötige Bürokratie abzubauen. Ich will nur, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ingrid dass unsere Entscheidungen nicht auf falschen Grundla- Fischbach [CDU/CSU]: Wer macht denn hier gen getroffen werden. Populismus?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aus denen Sie eindeutig parteipolitisch Nutzen ziehen DIE GRÜNEN) wollen. Damit helfen Sie den Pflegebedürftigen definitiv nicht. Der runde Tisch erarbeitet zurzeit dazu Vorschläge. In einem Zwischenplenum wird nächste Woche über die er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten arbeiteten Empfehlungsentwürfe diskutiert. Diese wer- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den dann im Sommer der Bundesregierung, dem Kabi- nett und damit uns allen vorgelegt. Dass die Evaluation der Auswirkungen der erst seit 2002 – übrigens gemeinsam mit dem Bundesrat – geän- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Dann stimmen derten Heimmitwirkungsverordnung im Juli dieses Jah- Sie unserem Antrag doch zu, wenn Sie in die

Seite 15660, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr res startet und schon aus diesem Grund noch kein belast- gleiche Richtung gehen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15661

Angelika Graf (Rosenheim) (A) Bemerkenswert ist, dass ein großer Teil der Forderungen Daniel Bahr (Münster) (FDP): (C) in Ihrem Antrag eine auffällige Ähnlichkeit mit den Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehr- schon am runden Tisch zur Pflege im Umlauf befind- ten Damen und Herren! Liebe Kollegin Graf, ich ver- lichen Empfehlungsvorschlägen zur Entbürokratisierung stehe nicht, warum Sie eine solche parteipolitische hat. Schärfe in diese Debatte bringen. (Hannelore Roedel [CDU/CSU]: Dann ist dies (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ja doch sinnvoll!) Wir alle hören doch bei unseren Besuchen in den Pflege- Bemerkenswert ist auch, dass Sie die Forderungen der heimen immer wieder von den Problemen der Bürokrati- Länder, die beim Abbau der Bürokratie im Pflegebereich sierung und der zunehmenden Verwaltungstätigkeit der Pflegenden. Deshalb war ich angesichts der vorher ge- und insbesondere bei der Förderung und Weiterentwick- machten Ankündigungen enttäuscht, dass es in der gest- lung neuer Wohnformen eine wichtige Rolle spielen, of- rigen Rede des Bundeskanzlers zur Frage, wie wir mit fenbar gezielt außen vor lassen. Ein Schelm, der so kurz der Agenda 2010 in diesem Jahr weiterarbeiten, nur zwei vor der Wahl in NRW Böses dabei denkt! Dabei wäre es Sätze zum Thema Pflege gab, obwohl sogar im Manu- gerade vor dieser Wahl wichtig, den Bürgerinnen und skript schon etwas mehr stand. Bürgern in NRW klar zu sagen, wie die Konzepte uni- onsregierter Länder so aussehen. Widersprüchlicher (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kann es nicht sein: Sie sprechen in Ihrem Antrag von ei- Liebe Kollegin Graf, bei der Bundestagswahl 2006 nem höheren Fachkräftebedarf und die baden- werden die Pflegebedürftigen, die Pflegenden und die württembergische Landesregierung schlug vor kurzem Angehörigen als Wählerinnen und Wähler darüber ent- vor, die Fachkraftquote von 50 Prozent auf ein Drittel zu scheiden, ob es uns bis dahin gelungen ist, in der Pflege- senken. politik etwas Entscheidendes vorangebracht zu haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wilhelm Ich glaube, dass hinsichtlich der Entbürokratisierung Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!) doch über alle Parteigrenzen hinweg Übereinstimmung besteht. Sie arbeiten also an einer Entprofessionalisierung im (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sehr gut!) Pflegebereich. Frau Graf, das, was Sie in Ihrer Rede an positiven Din- Zurück zu Ihren Forderungen. Wir dürfen nicht hinter gen über das gesagt haben, was die CDU/CSU auf den den bislang erreichten Zielen zum Schutz der älteren Weg gebracht hat, wäre doch etwas, bei dem wir in Sa- (B) Menschen durch blinden Aktionismus zurückfallen. chen Entbürokratisierung gemeinsam entscheidend vo- (D) Auch bei der Entbürokratisierung in der Pflege muss rankommen könnten. gründlich abgewogen werden, welche Vorschriften hin- 12.45-12.55.doc derlich und welche Vorschriften förderlich sind. Denn Zum Antrag in der Sache. Die Pflege ist doch in sonst tritt schnell das Gegenteil des ursprünglich gut Ge- Deutschland mit Gesetzen und Verordnungen überfrach- meinten ein. tet. Wir sind mit der Tatsache konfrontiert, dass die Struktur- und Prozessqualität in den Einrichtungen Die Vorschläge des runden Tisches, die Sie kopiert detailliert festgelegt wird, die Ergebnisqualität kaum be- haben, sind derzeit eben nur Vorschläge und noch nicht schrieben und überprüft wird. In der Folge müssen die abgestimmt. Der demokratische Prozess des runden Einrichtungen mit erheblichem Aufwand ihre Strukturen Tisches wäre, unterstützten wir Ihren Antrag, unterbro- und Prozesse beschreiben. Die Zeit zur Optimierung der chen und die konstruktive Arbeit aller Beteiligten würde Ergebnisqualität – der eigentlich entscheidenden Quali- desavouiert. Außerdem würde der Einbezug möglichst tätsdimension – und zur Pflege am Menschen nimmt so- vieler Interessenvertreter, die mitmachen müssen und mit ab. nicht vor Ihren parteipolitischen Karren gezogen werden oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Für die Pflegeeinrichtungen sind Hunderte Vorschrif- dürfen, verhindert. ten relevant. Hinzu kommt ein erheblicher Aufwand durch Doppel- und Mehrfachprüfungen. Egal ob man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das so dramatisch beschreibt, wie die CDU/CSU es in DIE GRÜNEN – Ingrid Fischbach [CDU/ ihrem Antrag getan hat, oder ob man das etwas abmil- CSU]: Ach, hören Sie auf!) dert: Es gibt Doppel- und Mehrfachprüfungen und vor Deshalb möchte ich Ihnen raten, den Antrag zurück- allem gibt es eine steigende Dokumentationspflicht so- zuziehen, zumal er fast nur Forderungen enthält, über die wie widersprüchliche Regelungen im Heimgesetz einer- der runde Tisch sowieso schon diskutiert. Ich denke, Sie seits und im SGB XI andererseits. Der VdAB hat gesagt, sollten sich das wirklich überlegen. dass 40 Prozent der Arbeitszeit von Pflegekräften für verwaltende Tätigkeiten aufgebraucht werden. Die Bun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ desregierung zitiert immer gerne die Studie von DIE GRÜNEN) Wingenfeld und Schnabel und spricht von nur sieben Minuten pro Tag für die Dokumentation. Ich glaube, dass man durchaus darüber streiten kann, wie Dokumen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tation und Verwaltungstätigkeit zu definieren sind, aber

Seite 15661, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Daniel Bahr. bei jedem Besuch in einem Pflegeheim und bei jedem 15662 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Daniel Bahr (Münster) (A) Gespräch mit einem Pflegenden wird doch deutlich, dass Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion geht in die rich- (C) die Politik in den letzten Jahren viel zu häufig mit Geset- tige Richtung. Es werden Prüfkompetenzen angespro- zen und Verordnungen und viel zu häufig mit Bürokratie chen. Ich halte auch die Forderung nach mehr Transpa- die eigentliche Aufgabe der Betreuung in Pflegeeinrich- renz für richtig, aber ich glaube, dass in dem CDU/CSU- tungen überfrachtet hat. Wir sollten deshalb gemeinsam Antrag der Aspekt der Transparenz viel zu wenig be- daran arbeiten, Entbürokratisierung voranzubringen. rücksichtigt wird. Ich wünsche mir, dass die Einrichtun- gen ihre Leistungen selbst kommunizieren können. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) finde es nämlich bedauerlich, dass im Fernsehen immer nur von schwarzen Schafen die Rede ist und Pflegeskan- Es geht nämlich auch darum, dass bei der Arbeit mit dale zum Thema gemacht werden. Ich vertraue mehr auf den Pflegebedürftigen immer die Angst der Pflegenden Pflegende und Pflegeeinrichtungen. Wenn wir sie nicht mitspielt, gegen irgendeine Regelung zu verstoßen und mit immer mehr Regelungen überfrachten, können sie zu bei einer der vielen externen Prüfungen einen Mangel mehr Qualität im Ergebnis kommen. Deswegen wünsche nachgewiesen zu bekommen. Im Bereich der Pflege sind ich mir, dass wir eine gemeinsame Initiative zur Entbü- 40 Instanzen prüfberechtigt. Ich denke, das sind zu viele. rokratisierung auf den Weg bringen, und fordere dazu Ich kann deshalb die Sorge der Pflegenden sehr gut auf, das noch in dieser Legislaturperiode zu tun. nachvollziehen. Herzlichen Dank. Die Folgen sind im Bereich der Pflegedokumentation (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ganz besonders offensichtlich. Die Auflagen werden aus der Angst heraus, etwas falsch zu machen, übererfüllt. Der scheinbare Bedarf, Prozesse und Strukturen in der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Pflege bis ins letzte Detail zu regeln, setzt die Pflegen- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard den letztlich auch dem deutlichen Misstrauen aus, dass Schewe-Gerigk. sie aus eigener Verantwortung nicht in der Lage seien, Leistungen mit einer hohen pflegerischen Qualität zu er- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE bringen. GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren, lassen Sie uns diesen Gestern wurde von der Europäischen Kommission eine Misstrauensvorbehalt abbauen! Glauben wir daran, dass Debatte über die Folgen der Alterung angestoßen. Der die Pflegenden in den Pflegeeinrichtungen auch dann zu zuständige EU-Kommissar Vladimir Spidla sagte: Eu- einer anständigen Ergebnisqualität kommen, wenn wir ropa hat ein Problem. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen ihnen Autonomie und Entscheidungskompetenz zurück- und von der SPD finden nicht, dass es zielführend ist, (B) (D) geben! Kommen wir von diesen kontraproduktiven Re- den unumkehrbaren Alterungsprozess nur als Problem gelungen weg, damit wir gerade für junge Leute wieder zu betrachten. Natürlich müssen wir alles tun, um das einen Anreiz schaffen, im Bereich der Pflege eine Be- abzuschwächen, aber wir müssen auch endlich beginnen, rufsperspektive zu sehen! den demographischen Wandel zu gestalten, die Chancen zu erkennen und die Herausforderungen anzunehmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der im November des letzten Jahres vorgelegte Be- richt des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen Eine dieser Herausforderungen ist sicherlich die stei- zeigt eindeutig: Der Versuch, über einen permanenten gende Zahl der pflegebedürftigen Menschen in unserer Eingriff sogar in den Gestaltungsspielraum der Einrich- Gesellschaft. Die Situation in den Heimen verändert tungen ein bestimmtes Qualitätsniveau zu erreichen, ist sich. Die Menschen gehen heute sehr viel später ins fehlgeschlagen. Es bestehen trotz aller Regelungen wei- Heim als noch vor Jahren, meist erst dann, wenn es auf- terhin gravierende Mängel in zahlreichen Kategorien der grund hoher Pflegebedürftigkeit keine Alternativen mehr Ergebnisqualität. Anders ausgedrückt: Eine Verbesse- gibt. Das durchschnittliche Alter beim Einzug ins Heim oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 liegt – das wurde hier schon gesagt – bei 84 Jahren. Das rung der Qualität, richtig verstanden als Ergebnisquali- heißt für die Pflegekräfte, dass an sie besonders hohe tät, erreichen wir nicht durch immer neue Regelungen. Anforderungen gestellt werden. Auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion zur Quali- Meiner Meinung nach liegen in dem Bereich die qua- tät der Pflege – Anlass war der Bericht des MDK – hat lifizierten Arbeitsplätze der Zukunft. Wir sollten diese die Bundesregierung immer auf die für den Sommer zu Chance nicht verpassen, indem wir hier einen Niedrig- erwartenden Ergebnisse des runden Tisches hingewie- lohnsektor errichten. Auch darum ist es wichtig, dass das sen. Schon die Zwischenergebnisse des runden Tisches Heimgesetz in der Bundeskompetenz bleibt. zeigen, dass die Ergebnisse weit hinter den Erwartungen zurückbleiben werden. Viele Teilnehmer, die mir darü- Ich will nur zwei Beispiele bringen. Baden-Württem- ber berichten, sind enttäuscht, weil sie glauben, es hätte berg hatte unter dem Stichwort Entbürokratisierung ei- viel mehr dabei herumkommen müssen. Aber ich will nen Antrag in den Bundesrat eingebracht, der zum Ziel die Debatte nicht schon im Vorhinein kaputtmachen. Ich hat, die Fachkraftquote auf 30 Prozent zu reduzieren. hoffe, dass wir Maßnahmen zur Entbürokratisierung (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Zurück- noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen gezogen!) – dazu fordere ich auch Sie auf – und das nicht auf die

Seite 15662, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr 2006 beginnende Legislaturperiode verschieben. Was ist daran Entbürokratisierung? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15663

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Bayern hat einen Antrag gestellt, der zum Ziel hat, scheint also für die Älteren eine bevorzugte Wohnform (C) dass Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen nur zu werden. noch in Zweibettzimmern untergebracht werden sollen. Im Übrigen gehen Experten auch von einer geringe- Das finde ich wirklich menschenverachtend. Das Heim- ren Pflegebedürftigkeit aus, wenn durch ein entspre- gesetz muss in der Bundeskompetenz bleiben. chendes Wohnumfeld die Selbstständigkeit der Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen gestärkt wird. Neue Wohnformen erfüllen also und bei der SPD) nicht nur die Bedürfnisse der älteren Menschen, sondern sie helfen auch Kosten sparen, und zwar sowohl für die Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Betroffenen als auch für die Pflegekassen. Wenn weit Ihrem Antrag kann ich in vielen Punkten zustimmen. über 90 Prozent der älteren Menschen sagen, dass sie ih- Auch an mich wurde herangetragen, dass der Verwal- ren Lebensabend nicht in einem Heim verbringen möch- tungs- und Bürokratieaufwand durch das Heim- und ten, sind wir gefordert, hier etwas zu tun. das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz für die Heime eine große Zusatzbelastung bedeutet. Es wurde davon ge- Wir müssen aber auch handeln, indem wir bürokra- sprochen, dass mehr als 40 Prozent der Bruttoarbeitszeit tische Hürden für solche Wohnformen, zum Beispiel in für verwaltende Tätigkeiten aufgewendet werden müs- Gestalt der Heimmindestbauverordnung, abschaffen. sen. Aber nach Prüfung stellen wir fest, dass das nicht (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr gut!) durch das Heimgesetz verursacht wird. Studien weisen darauf hin, dass viel von der Bürokratie bei der Doku- Es kann nicht sein, dass für Wohnprojekte die gleichen mentation hausgemacht ist. Eine Untersuchung von Vorschriften bezüglich Sanitätsausstattung, Zimmergrö- Wingenfeld/Schnabel aus dem Jahr 2002 besagt, dass für ßen, Feuerschutzeinrichtungen wie für Heime gelten. Es die Pflegedokumentation sieben Minuten pro Tag je Be- ist notwendig, diese Vorschriften zu ändern. Ich glaube, wohner bzw. Bewohnerin angenommen werden. wir brauchen für solche selbst gewählten Wohnformen auch andere Anforderungen bezüglich der Höhe der (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die Wahrnehmung Fachkraftquoten. Es geht darum, dass die Menschen in in den Pflegeheimen ist eine andere!) einer solchen Wohngemeinschaft so eigenständig wie möglich leben möchten. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse des runden Tisches, der uns auch Vorschläge zur Entbürokratisie- Selten habe ich so viel Übereinstimmung mit einem rung vorlegen soll. Eine Standardisierung der Dokumen- Antrag der CDU/CSU festgestellt. Auch scheint es mir tation könnte hier sicherlich ein wichtiger Lösungsansatz eine große Übereinstimmung zwischen den Vorschlägen sein. des runden Tisches „Pflege“ und dem, was Sie beantragt (B) haben, zu geben. Ich schlage vor, dass wir zu diesem (D) Die angesprochenen Widersprüche zwischen Heim- Thema eine ausführliche Diskussion führen. gesetz und Pflege-Versicherungsgesetz sind ärgerlich. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Entschei- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Richtig!) dung!) Vor allem die Regelung, dass das Vertragsverhältnis Wenn der Bericht vorliegt, können wir schauen, ob zwischen Heim und Bewohner oder Bewohnerin mit alle Forderungen von der Politik übernommen werden dem Tod endet, widerspricht nicht nur dem Heimgesetz, oder ob man bestimmte Dinge anders macht. Ich glaube, sondern hier fehlt es auch an Sensibilität. Was ist das für die Politik ist gut beraten, die Empfehlungen der Wis- eine Zumutung für die Verwandten eines Verstorbenen, senschaft und der Praxis aufzunehmen, aber dann auch wenn sie am Tage nach dem Tod das Zimmer unverzüg- selbst Entscheidungen zu treffen. Deshalb bitte ich die lich leer zu räumen haben, weil es direkt neu vermietet CDU/CSU, ihren Antrag noch so lange zurückzuhalten. werden muss? Hier brauchen wir eine gesetzliche Klar- Das wäre auch ein guter Ansatz zum Thema Bürokratie- stellung zugunsten der Regelung des Heimgesetzes, die abbau, damit wir nicht doppelt arbeiten müssen. oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 eine zweiwöchige Fortsetzung des Vertrages zulässt. Vielen Dank. Ich freue mich aber auch über den Konsens zwischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Fraktionen, der eine der meiner Meinung nach not- und bei der SPD) wendigsten Innovationen – hier geht es nicht um Büro- kratieabbau, sondern um Innovationen – der Altenhilfe Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: betrifft, nämlich die Notwendigkeit, das Heimgesetz an Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willi Zylajew. alternative Wohn- und Betreuungsformen anzupas- sen. Zu diesem Thema hat die grüne Fraktion vor drei (Beifall bei der CDU/CSU) Wochen eine Veranstaltung durchgeführt. Der Reichstag platzte aus allen Nähten. Das macht deutlich, welcher Willi Zylajew (CDU/CSU): Handlungsbedarf bezüglich neuer Wohnformen im Alter Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! besteht. Das bestätigt auch eine im Mai 2004 durchge- Keine Frage, alte und behinderte Menschen in stationä- führte Umfrage des Emnid-Instituts, wonach fast die ren Einrichtungen bedürfen der öffentlichen Aufmerk- Hälfte der 40- bis 49-Jährigen im Alter in einer Senio- samkeit. Diese öffentliche Aufmerksamkeit bringen wir renwohngruppe wohnen und leben möchte. Das, was bei in unserer Gesellschaft durch verbindliche Regeln über

Seite 15663, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr den 68ern noch als revolutionärer Lebensstil galt, Bau und Betrieb solcher Heime zum Ausdruck. 15664 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Willi Zylajew (A) Pflegebedürftige Mitbürgerinnen und Mitbürger brau- – Natürlich: überreguliert. Diese Überregulierung wird (C) chen Beistand, Betreuung, Versorgung, brauchen im gu- auch noch übermäßig intensiv überprüft. Dabei geht un- ten Sinne des Wortes öffentliche Fürsorge. Die rechtli- endlich viel Arbeitszeit verloren. chen Regeln, die wir dafür entwickelt haben, sind Bestandteil dieser Fürsorge. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Unsere Erfahrung ist: Die Frauen und Männer in der Solms) Pflege haben sich für den Pflegeberuf entschieden, weil sie Menschen helfen wollen. Sie brauchen diese Fürsorge aber auch in Form von Menschen, die Zeit für sie haben, die zuwendungsfähig (Ilse Falk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) und zuwendungsstark sind. Die Menschen, die diese Ar- beit tun, sollten wir auch in Ruhe arbeiten lassen. Sie haben als Pflege- und Betreuungskräfte unseren Dank und unsere Anerkennung verdient. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Angelika Graf 13.00-13.10.doc Wir sind uns, vielleicht mit Ausnahme von Ihnen, [Rosenheim] [SPD]: Wer bestreitet das?) Frau Kollegin Graf, offensichtlich darüber einig – da freue ich mich sehr über den Beitrag von Frau Schewe- Wir sollten ihnen Respekt zollen. Wenn Sie an dieser Gerigk –, dass wir große Entbürokratisierungspoten- Stelle blocken, dann wegen Ihres Misstrauens; der Kol- ziale haben; der Kollege Bahr hat das ausgeführt. lege Bahr hat das angesprochen. Woher, Frau Graf, neh- men Sie sich das Recht, den Pflegekräften mit perma- (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das habe nentem Misstrauen zu begegnen, ich nicht abgestritten! Sie haben nicht zuge- hört! – Zuruf von der CDU/CSU: Das war ja (Christel Humme [SPD]: Das stimmt doch gar klar!) nicht!) Wir haben aus unserer Sicht keine Zeit mehr, Sitzung um sie mit bürokratischen Vorschriften und Kontrollen zu Sitzung des runden Tisches abzuwarten, sondern wir überfrachten? Die Pflegekräfte sind Tarifangestellte. Ich müssen relativ schnell zu Ergebnissen kommen. Ich sage weiß nicht, welches Bild Sie von Arbeiternehmerinnen Ihnen sehr deutlich: Wenn hier jemand abgeschrieben und Arbeitnehmern haben. hat, dann waren das wohl die Pseudowissenschaftler, die Ihnen genehm waren; sie haben aus unserer Anfrage ab- (Christel Humme [SPD]: Ein gutes!) geschrieben. Ich gehe zunächst einmal davon aus, dass diese Frauen (B) (D) (Renate Gradistanac [SPD]: Unverschämt- und Männer ihr Bestes tun wollen und nichts anderes. heit!) (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Habe ich Sie haben einen runden Tisch mit Verbandsfunktionä- ren und Vertretern aus irgendwelchen Gremien einberu- etwas anderes gesagt?) fen. Wir haben unseren runden Tisch quasi durch die Sie verstehen, dass man dokumentieren, optimieren und Wahlkreise wandern lassen. Wir haben schon im Som- auch kontrollieren muss; dagegen wehren sie sich nicht. mer letzten Jahres in den Wahlkreisen die Pflegeeinrich- Aber sie wollen in erster Linie wieder Zeit für Menschen tungen zur Vorbereitung der Anfrage besucht. Sie haben haben. Wenn Sie unseren 14 Positionen folgen, können sich mit Experten, Funktionären und Wissenschaftlern, wir das erreichen. die vermutlich alle regierungsgenehm waren, unterhal- ten. Wir haben uns außerhalb der Arbeitszeit mit Pflege- Wie schaut die Situation auf einer solchen Station kräften unterhalten, aus? Es gibt einen Stellenschlüssel. Der lautet: eins zu (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Ich vier für Pflegestufe I, eins zu zwei für Pflegestufe II und eins zu 1,8 für Pflegestufe III. Bezogen auf den Wochen- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 auch!) und Jahresschichtdienstplan entspricht das einer Rela- die auf der Station die Arbeit erledigen. Sie haben uns tion von einer Pflegekraft auf der Wohnbereichsebene diese mehr als 40 Prozent Bürokratie ausdrücklich bestä- für zwölf Personen. Das bedeutet: Fünf Minuten pro tigt. Sie haben gesagt: Wir wollten eigentlich in die Zeitstunde kann sich eine Pflegekraft um eine pflegebe- Pflege, um an Menschen zu arbeiten und nicht um die dürftige Person kümmern. Fünf Minuten, mehr nicht! Arbeitszeit mit Bürokratie zu verbringen. Davon ziehen wir jetzt noch 40 Prozent für Bürokratie (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: An Men- ab. schen? Mit Menschen!) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Wir haben fast alles geregelt: von der Heimmindest- DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! bauverordnung über die Heimpersonalbauverordnung Das habe ich eben widerlegt!) bis hin zur Pflege-Buchführungsverordnung. Alles ist in Da kann Ihr Professor Dingenskirchen schreiben, was er Hunderten und Tausenden Vorschriften perfekt geregelt: vom Hygienebereich bis zum Impfschutz oder zum Um- will: Wenn Sie in der Nachtschicht dreimal „klingeln“ gang mit medizinischen Geräten. aufschreiben, haben Sie die sieben Minuten am Tag für Pflegedokumentation schon fast aufgebraucht. Das ist

Seite 15664, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Überregelt!) schlichtweg unsinnig. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15665

Willi Zylajew (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – machen. Sie standen hier am Rednerpult und haben ge- (C) Christel Humme [SPD]: Ihre Minuten sind sagt, dieses Thema bedürfe keiner populistischen Be- auch schon aufgebraucht!) merkung. Gleichzeitig haben Sie sehr viele populistische Bemerkungen gemacht. 40 Minuten pro Arbeitsschicht von acht Stunden stehen zur Verfügung. Von diesen 40 Minuten werden mehr als (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ingrid 24 Minuten für Schulung, Übergabe, Dokumentation Fischbach [CDU/CSU]: Das ist doch nicht und Wahrnehmung von Terminen mit Ärzten, Betreuern wahr! Sollen wir Populismus definieren? Ich und Angehörigen genutzt. glaube, Sie wissen gar nicht, was das heißt!) (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Schulung Sie sprachen davon, dass es um die Arbeit an Menschen muss sein!) geht. Nach unserem Menschenbild ist es eine Arbeit für und mit Menschen. Dazu kommen dann noch die Bereiche Brandschau, Ve- terinäramt, Gesundheitsamt, Heimaufsicht, MDK usw. (Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Dadurch sind schnell mehr als 40 Prozent für Bürokratie Mein Gott! – Zuruf von der CDU/CSU: Ist das weg. Ich denke, das wissen Sie auch. ein Unterschied? Das ist nicht ganz neu!) (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Sie haben Ich möchte mit zwei den Antrag kommentierenden einfach nicht zugehört!) Bemerkungen fortfahren, die auch eine Zusammenfas- sung dessen sind, was meine Kollegin Angelika Graf Darüber streiten wir im Endeffekt nicht. Sie sind ja mit schon ausgeführt hat: uns der Meinung, dass Bürokratie vorhanden ist, die wir so nicht mehr hinnehmen wollen. Erstens. Behauptungen, die ständig wiederholt wer- den, werden dadurch nicht richtiger. Sie haben einen runden Tisch eingerichtet. Zweitens. Erkenntnisse, die von einer breiten Fach- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ welt und von Politikern und Politikerinnen aller Couleur DIE GRÜNEN]: Wo haben Sie denn die Infor- getragen werden, können nicht von einer Seite verein- mation vom runden Tisch her?) nahmt und vor allen Dingen – das finde ich besonders Wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, dann ärgern schlimm – diskreditiert werden. Sie sich eigentlich nur darüber, dass wir hier schon ein paar Schritte weiter sind als die Regierung. Zur ersten Bemerkung. Im Antrag wird wiederholt behauptet – ich muss das an dieser Stelle noch einmal (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Nein, ich sagen –, dass mehr als 40 Prozent der Arbeitszeit für (B) ärgere mich über Ihr Demokratieverständnis in Verwaltungstätigkeiten aufgewendet werden müssen (D) diesem Zusammenhang!) (Willi Zylajew [CDU/CSU]: Das ist richtig!) Das ist aber nicht traurig. Wir wollen mit diesem Antrag im Endeffekt erreichen, dass die Arbeitsweise des run- und dass dieser Anteil durch das Pflege-Qualitätsgesetz den Tisches effizienter und schneller wird. Wenn wir das und die Novellierung des Heimgesetzes enorm gestiegen erreichen, sind wir zufrieden. ist. Diese Behauptung wurde von Ihnen bereits in Ihrer ersten Anfrage im Juni 2004 aufgestellt und in der Ant- (Beifall bei der CDU/CSU) wort der Bundesregierung vom Juli 2004 richtig gestellt. Wir wollen die Arbeit keinesfalls unterbrechen, wir wol- Grundlage der Antwort der Regierung ist die Expertise der Forschungsgesellschaft für Gerontologie vom Mai len sie beschleunigen. 2003. Ich finde, das muss man dann auch zur Kenntnis (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sehr gut!) nehmen und akzeptieren. Wenn Sie an einer Beschleunigung interessiert sind, Zusammenfassend hat das FfG gesagt, dass es keine dann stimmen Sie unserem Antrag zu. Ich bin mir sicher, gesicherten Grundlagen für die Diskussion über Entbü- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 dass wir dann im Interesse der Menschen, die in den Ein- rokratisierungspotenziale gibt. Im September 2004 hat richtungen arbeiten und unser Vertrauen verdienen, viel das FfG das in einem Schreiben nochmals ganz deutlich Gutes tun können, von dem auch pflegebedürftige alte klargestellt. In der Kurzexpertise vom Mai 2003 wird Menschen und Behinderte profitieren. auf Seite 26 hierzu ausgeführt: Mit einem Zeitminus von 19 Sekunden bedanke ich Allen genannten Entbürokratisierungspotenzialen mich sehr für die Aufmerksamkeit. ist gemeinsam, daß sie auf subjektiven Ein- schätzungen beruhen. Je nach Standpunkt und Inte- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ressenlage kann der gleiche Sachverhalt unter- schiedlich bewertet und mit unterschiedlichen Vizepräsident Dr. : Konsequenzen bedacht werden. Das Wort hat jetzt die Kollegin Hilde Mattheis von der SPD-Fraktion. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist bei Sachverhalten immer so!) Hilde Mattheis (SPD): Zur Behauptung, dass 40 Prozent der Arbeitszeit für Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Verwaltungstätigkeit verwendet werden müssen, hat die

Seite 15665, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr möchte eingangs eine Bemerkung zu meinem Vorredner Regierung auf Ihre 13. Frage wie folgt geantwortet: Der 15666 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Hilde Mattheis (A) Zeitaufwand für Verwaltungstätigkeit wird oft über- gestärktes Selbstbewusstsein des Pflegepersonals schaf- (C) schätzt. Nach einer Studie von Wingenfeld und Schnabel fen wir es, dass man sich nicht hinter Papierbergen – vielleicht kann man sich das einfach einmal merken – versteckt, sondern das eigentliche Ziel, Zeit für die zu beträgt der Aufwand für diese indirekten Leistungen ins- Pflegenden zu gewinnen, erreicht. Wer also Entbürokra- gesamt weniger als 20 Prozent. – Die komplette Antwort tisierung fordert, muss dies von einer gesicherten Daten- kann in der Drucksache 15/3565 – Sie werden sie sicher- lage aus tun. Ansonsten setzt er sich dem Vorwurf aus, lich in der Schublade haben – auf Seite 7 nachgelesen mit diesem Wort einfach billige Effekthascherei zu be- werden. treiben. Was könnte also hinter dieser Behauptung stecken? (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wird es Könnte es sein, dass diese Behauptung der Einstieg in Gesetze oder Initiativen geben?) eine Diskussion über Personalreduzierung und Per- sonalbemessung bedeutet, wie es in verschiedenen Bun- Ich komme zu meiner zweiten Eingangsbemerkung: desländern schon angedacht ist? Ich nenne hier Bayern Erkenntnisse, die von einer breiten Fachwelt und von und Baden-Württemberg. Dieser Verdacht kommt im Politikerinnen und Politikern aller Couleur – darin stim- Zusammenhang mit der in Ihrem Antrag angeführten men wir überein – getragen werden, können nicht von Konzeption aus Bayern auf. Der Freistaat hat bereits einer Seite vereinnahmt werden. Das Thema verlangt es, mehrfach gezeigt, dass die Landesregierung Sozialpoli- dass wir uns ihm sehr ernsthaft widmen. Ich weiß wirk- tik nach Kassenlage machen und Standards senken will. lich nicht, was Sie sich zum jetzigen Zeitpunkt davon versprechen, Forderungen zu erheben, die nachweislich Es lohnt sich also, sich die auf Seite 4 Ihres Antrags – das wurde hier mehrfach angeführt und von Ihnen angeführte bayerische Konzeption etwas genauer anzu- nicht dementiert – Empfehlungsentwürfe des runden schauen. Interessanterweise wird diese in Ihrem Antrag Tisches sind. Diese sollen im Sommer 2005, also noch nicht noch einmal erwähnt. Der Grund hierfür ist sicher- dieses Jahr vor der Sommerpause, als Ganzes, nicht als lich, dass im bayerischen Abschlussbericht Ihre Behaup- einzelne Mosaiksteine oder Forderungen, vorgestellt und tung widerlegt wird, dass ausschließlich der Gesetzgeber diskutiert werden. den bürokratischen Aufwand verlange. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Werden sie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dann auch umgesetzt?) Frau Kollegin Mattheis, erlauben Sie eine Zwischen- – Ich bitte Sie, Herr Bahr. Wir alle gemeinsam haben das frage des Kollegen Daniel Bahr? Interesse, für zu Pflegende Verbesserungen zu erreichen. Dafür stehen wir alle ein. (B) Hilde Mattheis (SPD): (D) Nein. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: In dieser Legislaturperiode?)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aber man sollte doch nicht so tun, als ob man diese Ver- 13.15-13.25.doc Also keine Zwischenfrage. besserungen alleine erkannt hätte, um dann in Einzel- schritten zu versuchen, sich selber zu profilieren, ohne Hilde Mattheis (SPD): das Gesamtkonzept anzuschauen. Um das geht es. Der Projektleiter Michael Wipp führt aus: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es gibt in der stationären Altenhilfe keine rechtli- Es geht um die Gesamtkonzeption und darum, dass der chen oder vertraglichen Anforderungen, die zu Ein- runde Tisch von Leuten aus der Fachwelt, die pflegen zelleistungsnachweisen verpflichten. Diesem Sach- und wissen, was es bedeutet, in der Pflege wissenschaft- verhalt sollte man schon seine Aufmerksamkeit lich und praktisch tätig zu sein, organisiert wird. Diesen widmen. Tausende von Mitarbeiterinnen und Mit- Prozess jetzt dadurch zu torpedieren, dass man Forde- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 arbeitern zeichnen bundesweit in etwa 9 000 statio- rungen aufstellt, die im Prinzip nichts anderes als reine nären Einrichtungen Tag für Tag alle Leistungen Effekthascherei sind, halte ich diesem Thema nicht für einzeln ab, ohne dass dafür eine verpflichtende Ba- angemessen. sis besteht! (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ingrid (Beifall bei der SPD – Daniel Bahr [Münster] Fischbach [CDU/CSU]: Fragen Sie sie einmal, [FDP]: Hauptsache, es ändert sich was!) wie viel Bürokratie sie erledigen müssen!) Lassen Sie uns gemeinsam vorgehen; Frau Kollegin Gefordert wird, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Graf hat es doch abschließend vorgeschlagen. bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Unser Ziel (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Greifen Sie darf nicht sein – das ist nicht unser Fokus –, über Form- unsere Vorschläge doch auf!) blätter zu diskutieren, wie Sie das in Ihrem Antrag tun, und sie hochzuloben. Vielmehr müssen wir Pflegerinnen Ziehen Sie Ihren Antrag zurück! Lassen Sie uns gemein- und Pfleger durch ein großes Angebot an Aus- und sam, wenn vernünftige Empfehlungen des runden Weiterbildung unterstützen, das Haftungsrisiko für das Tisches vorliegen, überlegen, wie wir die Situation ver- Pflegepersonal entschärfen und auch Supervision anbie- bessern können. Übrigens hat bisher noch keiner von Ih-

Seite 15666, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr ten; denn über die Stärkung der Eigenverantwortung und nen gesagt – das haben Sie offensichtlich vergessen –, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15667

Hilde Mattheis (A) dass die Länder zu einem Großteil mit daran beteiligt Marlene Mortler, weiterer Abgeordneter und der (C) sind. Fraktion der CDU/CSU (Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster] Gentechnikgesetz wettbewerbsfähig vervoll- [FDP]) ständigen – Drucksachen 15/4828, 15/5134 – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Berichterstattung: Frau Kollegin Mattheis, offenkundig haben Sie die Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß Zeit vergessen. Helmut Heiderich Ulrike Höfken Dr. Christel Happach-Kasan Hilde Mattheis (SPD): Ich komme zum Schluss. – Ich möchte gerne, dass Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und sich die Länder Baden-Württemberg und Bayern ge- des Bündnisses 90/Die Grünen liegen vier Änderungsan- träge der Fraktion der FDP vor. meinsam mit den anderen Bundesländern wie Rhein- land-Pfalz und NRW, die ganz vernünftige Vorschläge Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die auf den Tisch legen werden, auf den Weg machen und Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich nicht versuchen, sich im Zusammenhang mit einer öf- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. fentlichen Diskussion, die sehr wichtig ist, selber zu pro- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- filieren und Standards durch die Hintertür abzubauen. nerin der Kollegin Elvira Drobinski-Weiß von der SPD- Ich danke für die Aufmerksamkeit. Fraktion das Wort.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Elvira Drobinski-Weiß (SPD): DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schließen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: heute die Beratungen über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts der Ich schließe die Aussprache. Fraktionen der SPD und der Grünen ab. Damit machen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf wir den Weg für die notwendige Umsetzung des EU- Drucksache 15/4932 an die in der Tagesordnung aufge- Gentechnikrechts frei. (B) (D) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Mit unserem Gesetz werden gentechnische Arbeiten verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung erleichtert und die Verfahren beschleunigt; zudem wird so beschlossen. die Sicherheit solcher Arbeiten gewährleistet. Ich nenne einige Punkte: Ich rufe die Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf: Für erste gentechnische Arbeiten in der Sicher- a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- heitsstufe 1 und weitere gentechnische Arbeiten in der nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Sicherheitsstufe 2 ist statt einer Anmeldung nur noch NEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge- eine Anzeige der gentechnischen Arbeit vorgesehen. setzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts Damit kann der Betreiber sofort nach Eingang der An- zeige bei der Behörde mit den gentechnischen Arbeiten – Drucksache 15/4834 – beginnen und nicht wie bisher erst 30 Tage nach Eingang der Anmeldung bei der Behörde. (Erste Beratung 158. Sitzung) Bestimmte Mikroorganismen können aus dem An- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- wendungsbereich des Gentechnikgesetzes herausgenom- ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- men werden, ohne dass für den Umgang mit solchen Or- wirtschaft (10. Ausschuss) ganismen eine Melde- und Registerführungspflicht besteht. Das ist auch ein Beitrag zur Entbürokratisie- – Drucksache 15/5133 – rung. Berichterstattung: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Helmut Heiderich Die Abgabe solcher Mikroorganismen, die aus dem Ulrike Höfken Geltungsbereich des Gentechnikgesetzes herausgenom- Dr. Christel Happach-Kasan men worden sind, an Labors unterliegt zukünftig den b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Überwachungsmechanismen, die allgemein für Laborar- richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, beiten gelten. Das entspricht einer Forderung des Bun- desrates. Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut Wir haben im Laufe der Beratungen mehrere Forderun-

Seite 15667, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Heiderich, Peter H. Carstensen (Nordstrand), gen des Bundesrates und der Wirtschaft aufgenommen. 15668 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Elvira Drobinski-Weiß (A) Die Verfahrenserleichterungen, Beschleunigungs- und den, das aufgrund der Entbürokratisierungsmaßnahmen, (C) Entbürokratisierungseffekte sind in der Anhörung zu un- Vereinfachungen und Verfahrenserleichterungen für gen- serem Gesetzentwurf von den Industrievertretern aus- technische Arbeiten von Industrievertretern begrüßt wird drücklich begrüßt worden. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Von wem Damit es keinerlei Grund mehr gibt, das Gesetz im denn?) Bundesrat zu blockieren, sind wir den Forderungen des und einen vernünftigen Rechtsrahmen darstellt. Bundesrates auch mit einer Änderung zum Standortre- gister entgegengekommen, die nicht allen von uns leicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gefallen ist. Aber um mit einem zügigen In-Kraft-Treten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des Gesetzes endlich unsere EU-rechtliche Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie zu erfüllen, haben wir eine Der Ball liegt nun beim Bundesrat. Sehr geehrte Damen Registerregelung gefunden, mit der den Bedenken der und Herren von der CDU, ich hoffe, Sie machen Ihren Länder entsprochen wird, ohne dass den berechtigt Inte- Länderkollegen klar, dass es keine sachlichen und fach- ressierten der Zugang zu Informationen unzumutbar er- lichen Gründe gibt, dieses Gesetz zu blockieren. schwert wird. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Jede (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Menge!) DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Danach sind im öffentlichen Teil des Registers die Ge- Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin. meinde und die Gemarkung der Freisetzung oder des Anbaus sowie die Flächengröße einsehbar. Zum nicht öffentlichen Teil, der genaue Angaben zum Grundstück Elvira Drobinski-Weiß (SPD): und die personenbezogenen Daten enthält, haben nur die Das tue ich. – Deshalb erwarten wir nun, dass das Ge- zuständigen Landesbehörden Zugang. Sie überprüfen setz im Bundesrat zügig behandelt wird und bald in unverzüglich, ob beim Anfragenden ein berechtigtes In- Kraft treten kann. Daran wird sich zeigen, wie Ernst es teresse an diesen Informationen besteht. der Opposition mit den Innovationen und der Wettbe- werbsfähigkeit ist. Ein erstes Zeichen könnten Sie set- Mit unserem Gesamtpaket Gentechnikgesetz schaffen zen, indem Sie für unser Gesetz stimmen. wir zum einen Rechtssicherheit mit Erleichterungen für die Forschung und die Wirtschaft. Zum anderen gewähr- Vielen Dank. leisten wir die Wahlfreiheit für die Verbraucher und den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ landwirtschaftlichen Bereich. (B) DIE GRÜNEN) (D) (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Wieso?) Die Regelungen ermöglichen den Anbau von GVO, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schützen aber gleichzeitig den Fortbestand einer gen- Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von technikfreien Landwirtschaft. der CDU/CSU-Fraktion. Wir haben gerechte Haftungsregelungen nach dem (Beifall bei der CDU/CSU) Verursacherprinzip, um die uns die Bauern in anderen EU-Ländern beneiden. Helmut Heiderich (CDU/CSU): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Künast-Gentechnikgesetz bleibt auch nach der zweiten DIE GRÜNEN) Änderung ein Gentechnikverhinderungsgesetz. Einem Ich sage das, weil aus den Reihen der Opposition dazu solchen werden wir ganz sicher nicht zustimmen. derzeit wieder viel Unsinn zu hören ist. Die Haftungsre- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 gelung basiert auf dem allgemeinen Prinzip des BGB- Nachbarrechts und ist keineswegs eine Neuerung, son- An diesem Tatbestand ändern auch einige kleine Trippel- dern lediglich eine Präzisierung. Wenn sich in Ergänzung schritte nichts, die Sie nun auf uns zugegangen sind. Es dazu Lösungen ergeben, zum Beispiel Versicherungen handelt sich im Übrigen um einige bürokratische Er- oder eine Einigung zwischen beteiligten Firmen und leichterungen, die wir schon vor drei Jahren vorgeschla- GVO-Anbauern auf die Finanzierung eines Fonds, dann gen hatten und die Sie damals als Risiko für die Öffent- ist das schön. Ein Fonds mit staatlicher Beteiligung aber lichkeit bezeichnet und abgelehnt haben. Da Sie drei kommt nicht infrage: Gewinne privatisieren, Verluste Jahre gebraucht haben, um auf diesen Stand zu kommen, verallgemeinern – dabei machen wir nicht mit: Wir ha- haben Sie nun nicht das geringste Recht, zeitlich Druck ben gute und gerechte Regelungen; daran gibt es nichts auf den Bundesrat auszuüben. Das sollten Sie sich lieber zu rütteln. sparen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) DIE GRÜNEN) Nach wie vor haben Wissenschaft und Forschung, ha- Wir haben ein erstes Gentechnikgesetz, welches die ben Unternehmen und Arbeitsplätze keine ausreichende Koexistenz verschiedener Anbauformen ermöglicht, und Chance, solange die Künast-Ideologie die Regeln der

Seite 15668, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr wollen jetzt ein zweites Gentechnikgesetz verabschie- Gentechnik in Deutschland bestimmt. Allerdings hat Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15669

Helmut Heiderich (A) sich inzwischen die politische Stimmungslage insbeson- ( [SPD]: Das ist eine vernünf- (C) dere im Regierungslager – das ist ein Zeichen der Hoff- tige Folge Ihrer Argumentation!) nung; ich erinnere nur an Herrn Clement und Frau Herr Schmoldt führt weiter ganz klar aus: Bulmahn – verändert. Die Verhinderung von For- schungsprojekten, und das ausgerechnet im Bereich der Eine solche ideologische Blockade können sich nur Sicherheitsforschung, durch ein von der Ministerin per- Leute leisten, die keine Angst haben müssen, je- sönlich ausgesprochenes Forschungsverbot hat wohl vie- mals Hunger zu haben. Diese Blockade muss auf- len gezeigt, dass es so nicht mehr weitergehen kann. gebrochen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Damit hat Herr Schmoldt Recht. Verehrte Kollegen von der SPD, ebenso eindeutig hat das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – BMBF zur Künast-Forschungsblockade Position bezo- Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Sie haben nicht gen. Ein solcher Vorgang sei bisher so nicht aufgetreten, zugehört!) erläuterte Staatssekretär Catenhusen im Forschungsaus- schuss am Mittwoch. Es wurde ganz eindeutig gesagt, Wenn sich wie gestern der Bundeskanzler persönlich das BMBF teile die Auffassung des BMVEL nicht. Ich – abweichend von seinem Redemanuskript – der Grü- kann dazu nur sagen: Gott sei Dank. nen Gentechnik ausführlich zuwendet, hat dies einen Grund. Er spürt inzwischen ebenfalls, dass seine Forde- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung, die Biotechnik zur Schlüsseltechnik des 21. Jahr- Dabei wurde inzwischen ebenfalls öffentlich bekannt, hunderts zu machen, von Künast und Co. knallhart aus- dass Frau Künast nicht nur zwei, sondern insgesamt vier gebremst und abgeblockt wird. Forschungsprojekte verboten hat, obwohl diese bereits (René Röspel [SPD]: Das hat er nicht gesagt! vom Forschungsministerium als wissenschaftlich exzel- Er hat gesagt, dass das Gesetz gut ist! Soll ich lent beurteilt worden waren und finanziert wurden. es vorlesen?) (René Röspel [SPD]: Dazu hätten Sie letzte – Ich sage Ihnen jetzt, was er gesagt hat. – Das Resümee Woche etwas sagen sollen! – Weitere Zurufe des Bundeskanzlers lautete: von der SPD) Also lassen Sie uns nicht Debatten von gestern füh- 13.30-13.40.doc – Ich verstehe, dass Sie dabei etwas unruhig werden; ren, sondern darauf setzen, dass jetzt die Ausbrin- denn Sie merken, dass hier die Wissenschaft und ihre gung geschieht und wir in diesem Bereich weiter- Freiheit von Frau Künast attackiert und eingeschränkt kommen. werden. Sie sind zu Recht unruhig. An Ihrer Stelle wäre (B) (D) ich das ebenfalls. Das heißt für mich: Der Kanzler will, dass Pflanzen aus gentechnisch verändertem Saatgut auf deutschen Äckern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wachsen können und dass wir etwas dafür tun, dass die Die Ausrede aus dem Künast-Ministerium, hier entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. handle es sich um Produktentwicklung, ist ebenso durch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sichtig wie sachlich falsch. Ich kann den Kanzler darin durchaus unterstützen. Das (René Röspel [SPD]: Das hatten wir doch gilt ebenfalls für seine Aufforderung: letzte Woche in der Aktuellen Stunde!) Jedenfalls sollte begonnen werden. Ich denke, das Es geht eindeutig um Grundlagenforschung, um Me- ist die Aufgabe, die vor uns liegt. thodenentwicklung und nicht um Produkte. Dies sehen übrigens SPD-Kollegen im Forschungsausschuss ge- Da hat er Recht. nauso. Ich erinnere daran, dass dies nicht der erste Fall Nicht nachvollziehen kann ich die Feststellungen, ist. Schon im letzten Jahr hat Frau Künast in Pillnitz und oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Kollege Röspel: Quedlinburg eingegriffen. Damals hat die Presse ge- schrieben, das sei staatlich veräppelte Forschung. Außer- Wir werden ein Gentechnik-II-Gesetz bekommen, dem ist inzwischen aus der Presse bekannt geworden, das zusammen mit dem ersten Gesetz einen ver- dass Frau Künast fünf ihrer Forschungsinstitute von nünftigen Rechtsrahmen für Investitionen in diesem vornherein jede Antragstellung im Bereich der Gentech- Bereich darstellt. nik untersagt hat, damit erst gar nichts auf den Tisch des (René Röspel [SPD]: Der Kanzler hat mit al- Hauses kommt, was sie nachher wieder verbieten muss. lem Recht, was er gesagt hat!) Ich kann verstehen, wenn es Frau Künast etwas warm Hier war vielleicht eher der Wunsch Vater des Gedan- wird. Denn der Vorsitzende der IG BCE, Herr Schmoldt, kens. Bemerkte der Kanzler doch gleich anschließend, hat vorgestern gegenüber dem „Handelsblatt“ gesagt: dass die Haftungsfragen nicht so geregelt seien, wie es Es drängt sich der Eindruck auf, als habe Frau sich diejenigen, die investieren sollen, vorstellen. Auch Künast Angst davor, die Forschung könne ihr ein an dieser Stelle hat der Kanzler Recht. Wenn Sie es Argument gegen die Gentechnik aus der Hand nachlesen wollen: Die Rede liegt auf meinem Platz. Sie schlagen. können da gerne hineinschauen.

Seite 15669, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Hört! Hört! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 15670 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Helmut Heiderich (A) Folgen wir also der Aufforderung des Kanzlers! Was chen. Sonst behält Herr Schmoldt am Ende doch Recht, (C) ist zu tun? wenn er sagt – ich zitiere ihn noch einmal –: Erstens. Ministerin Künast muss ihre Sechs-Punkte- Es besteht die reale Gefahr, dass Forschung ins Verpflichtung abarbeiten, die sie im November 2004 Ausland wandert. Ein schlechtes Signal für den gegenüber dem Bundesrat abgegeben hat. Diesbezüglich Standort Deutschland … ist bis dato nichts geschehen. Zuallererst gilt es, die Feldforschung von Universitäten und Instituten, von Wir wollen die Abwanderung der Forschung verhin- Saatzuchtunternehmen und Biotechnikunternehmen zu dern. Deswegen lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. sichern: entweder durch die Festlegung, dass Freisetzun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen kein In-Verkehr-Bringen sind, wie es in anderen Ländern Europas geschehen ist, oder durch die Einrich- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tung eines Haftungsfonds im Hause Künast, der die For- schung, und zwar insgesamt, gegen eventuelle Scha- Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast. densfälle absichert. In den letzten Tagen ist (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- durchgesickert, dass sie so etwas wollen. SES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/ Zweitens. Wir brauchen einen breiten Erprobungsan- CSU: Schwacher Beifall!) bau in Zusammenarbeit mit den Bundesländern und mit privaten Unternehmen, um die – im Übrigen positiven – Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- Erfahrungen aus dem letzten Jahr – die Länder haben schutz, Ernährung und Landwirtschaft: den Anbau vergangenes Jahr allein durchgesetzt – zu Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- vertiefen. ren Abgeordnete! Lassen Sie mich zu Anfang auf Frau Merkel Bezug nehmen – sie ist ja heute leider nicht da –, Drittens. Vor allen Dingen müssen wir das Haftungs- die gestern – sie hat damit, glaube ich, auf den Punkt ge- recht für Anwender, Saatzüchter und private For- bracht, was in Wahrheit die Position der CDU/CSU ist – schungsunternehmen endlich kalkulierbar machen. Da eine Gentechnik ohne Regeln und ohne Rücksicht gefor- das immer wieder durcheinander geworfen wird, sage dert hat. ich ganz deutlich: Natürlich soll jeder die Verantwortung für sein eigenes Verschulden übernehmen. Alle anderen (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Behauptungen sind schlicht unredlich. Aber dass der Quatsch!) Einzelne für höhere Gewalt, für kriminelle Energie Drit- ter oder für ähnliche unbeeinflussbare Tatbestände he- – Ja, natürlich. (B) rangezogen werden soll, kann doch niemand ernsthaft (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist (D) fordern, völliger Quatsch!) (René Röspel [SPD]: Das macht ja auch nie- Sie hat nämlich von der Ordnung der Freiheit gere- mand!) det. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Diese so genannte zumindest dann nicht, wenn man sich an die Vorschrif- Ordnung der Freiheit, die da vorgeschlagen wird, die in ten peinlich genau gehalten hat. Sie verlangen auch dann vielen Redebeiträgen, auch heute in dem von Herrn vom Landwirt oder vom Anwender die Haftung, wenn er Heiderich, durchschimmerte, hat nichts mit Ordnung zu für die Schäden überhaupt nichts kann. Genau das ist die tun; sie ist vielmehr so etwas wie die reinste Anarchie, in Krux der von Ihnen geplanten Haftungsregeln. der überlebt, wer der Stärkste ist. Ich schlage vor – ich denke, diese Zielrichtung macht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirklich Sinn –, für solche Situationen eine Lösung wie und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU im Nachbarland Holland zu schaffen. Dort haben sich sowie bei Abgeordneten der FDP – Ernst alle Betroffenen, einschließlich der Ökolandwirte, auf Burgbacher [FDP]: Sie müssen alles regulie- oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 einen übergeordneten Haftungsfonds für Schäden durch ren! Das kennen wir!) unkalkulierbare Eventualitäten – nicht für Schäden Ich will Ihnen auch sagen, warum. Sie wollen näm- durch persönliches Verschulden – geeinigt. In diesen lich keine Regeln für das Nebeneinander verschiedener Fonds zahlen Biotechnikunternehmen, Züchter, Land- Anbauformen; vielmehr wollen Sie, dass einer auf Kos- wirte, und zwar einschließlich der Bio- und Ökobetriebe, ten aller anderen lebt. Sie wollen keinen Schutz für der Agrarhandel und in der Startphase auch der Staat ein. Landwirte. Dies wäre zumindest für die kommenden zwei Jahre eine Übergangslösung, die kurzfristig geschaffen werden (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ könnte, die bei den Vermittlungsverfahren mit dem Bun- DIE GRÜNEN und der SPD) desrat eine Zielmarke wäre und die allen unnötigen Sie haben doch längst die Interessenvertretung der Bau- Streit aus der Welt schaffte. ern in Deutschland aufgegeben. Wenn Kanzler Schröder in diesem Bereich wirklich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weiterkommen will, dann muss er im anstehenden Ver- und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU mittlungsverfahren so weit Einfluss nehmen, dass wir sowie bei Abgeordneten der FDP) dieses Ziel am Ende im Interesse von Innovationen, Ar-

Seite 15670, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr beitsplätzen und Zukunftschancen in Deutschland errei- – Ich werde Ihnen das gleich darlegen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15671

Bundesministerin Renate Künast (A) Alle die Landwirte – das ist die Mehrheit in Deutsch- Sie haben auch den Sechs-Punkte-Plan angespro- (C) land –, die nicht gentechnisch veränderte Pflanzen an- chen. Davon werden Sie wahrscheinlich auch in vier bauen wollen, bekommen von Ihnen noch nicht einmal Jahren hier vorn erzählen; das ist Ihr gutes Recht. einen Hauch von Schutz. Sie haben das gerade selbst be- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: So lange, bis gründet; denn Sie wollen die Haftung so verteilen, dass Sie es endlich machen!) diejenigen, die solche Pflanzen nicht anbauen, auch noch für die Haftung geradestehen müssen. Aber wir haben längst Teile davon abgearbeitet. Darüber reden Sie nur nicht gern, weil Sie in dieser Beziehung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon wieder verloren haben. Wir haben von der Kom- und bei der SPD) mission zu dem gerade angesprochenen Problem, ob man den Menschen ungenehmigte und hinsichtlich ihrer Das ist eine gehobene Form von Unsinn und das ist eine Sicherheit nicht bewertete Konstrukte als Lebensmittel Nichtinteressenvertretung. verkaufen darf, die klare Stellungnahme erhalten: Nein, Ferner räumen Sie den Verbraucherinnen und Ver- das darf man nicht. Also, Herr Heiderich, dann können brauchern noch nicht einmal die Freiheit ein, entschei- es allenfalls noch fünf Punkte sein, über die Sie eigent- den zu können, weil Sie nicht dafür sorgen wollen, dass lich reden könnten. es auch nicht gentechnisch veränderte Produkte auf dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutschen Markt gibt. Sie wollen verheimlichen und ver- und bei der SPD) schleiern. Sie wollen keine Eins-zu-eins-Umsetzung von EG- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sie wollen Recht; Sie wollen, was EG-Recht betrifft, rechtswidrig, verbieten und nicht anerkennen! – Ernst verantwortungslos und gefährlich handeln. Sie wollen Burgbacher [FDP]: Entweder böswillig oder allenfalls die Interessen von schlecht informierten Lob- dumm!) byisten umsetzen. Aber selbst mit denen reden wir und erklären ihnen, dass sie manches gar nicht richtig gele- – Sie quaken hier immer groß und laut. Aber schauen sen haben. wir uns einmal die Details an! Wir sind ja nicht blind und können lesen. Sie wissen eines ganz genau, wenn Sie unsere gesetz- lichen Regelungen kritisieren: Die Kommission hat klar Sie scheren sich nicht um 70 Prozent der Bevölke- gesagt, dass Koexistenz- und Haftungsfragen zur Auf- rung. Ich wundere mich schon: Nach der letzten Bundes- gabe der Mitgliedstaaten zählen. Deshalb regeln wir das tagswahl hat Frau Merkel mit Tränen in den Augen in ei- auch, (B) (D) nem „Spiegel“-Interview gesagt: Wir haben die Wahl in (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Aber völlig den Städten verloren; jetzt wollen wir Umwelt- und Ver- falsch!) braucherschutz machen. – Was ist denn plötzlich los? Jetzt wollen Sie nicht einmal, dass die Verbraucher wis- weil wir ja unsere Rechte nicht an der Haustür in Brüssel sen, was in Lebensmitteln enthalten ist. Das ist doch Ihre abgeben. Das kritisieren Sie doch sonst auch immer, Strategie. Herr Heiderich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/ und bei der SPD) CSU]: Gucken Sie einmal nach Schleswig- Nun zu der Frage, was in diesem Gesetz geregelt Holstein!) wird. Da ist zum einen das Standortregister zu nennen. Worum geht es dabei? Wir legen hier fest, dass Ge- Das ist Ihre Art von Freiheit. meinde, Postleitzahl und Gemarkung in einem öffentlich Ich will Ihnen das erklären, denn Sie haben es gerade zugänglichen Register für alle Bürgerinnen und Bürger, oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 noch einmal angesprochen. Ihre Freiheit sieht wie folgt quasi im Internet, zugänglich sein müssen. Ferner sagen aus: Sie wollen, dass wenn in Freisetzungsversuchen wir, dass alle anderen Nachbarn, Landwirte, Imker, die- ungenehmigte Konstrukte, die ja gerade im Experi- jenigen, die das Recht haben, genau zu wissen, was auf ment sind, auskreuzen, diese als Lebensmittel auf dem dem betreffenden Feld vor sich geht, unverzüglich eine deutschen Markt verkauft werden dürfen. Genau das flurstückgenaue Auskunft bekommen. Ich hoffe, dass Sie, Herr Heiderich, dann auch dafür sorgen, dass dieses wollen Sie. Sie wollen, dass die Verbraucher quasi zum unverzüglich von den Bundesländern eingestellt wird. Teil eines großen Experiments werden. Wenn Bauern nämlich ein halbes Jahr auf entsprechende (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Veröffentlichungen warten müssen, wissen sie gar nicht, und bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/ was sie aussäen sollen. Sie stellen Ihre Partei ja immer CSU]: Ach ja? Erzählen Sie nicht so einen als Interessenvertretung der Bauern dar, aber das galt Quatsch!) früher vielleicht einmal. (Zuruf des Abg. Helmut Heiderich [CDU/ Ich kann Ihnen aber sagen, dass Sie mit Ihrer Ideologie, CSU]) Herr Heiderich, und alle anderen an der Stelle etwas tun, was noch nicht einmal in den von Ihnen so gelobten Ich sage Ihnen: Die Menschen haben ein Recht auf

Seite 15671, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr USA erlaubt ist. Information. 15672 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Bundesministerin Renate Künast (A) Ich wäre beglückt, wenn Sie hier nicht nur einseitig – Mensch, Sie wissen doch, Frauen halten immer enga- (C) Lobbyinteressen vertreten würden und darum großes gierte Redebeiträge. Das wird Frau Happach-Kasan Buhei machen würden, sondern auch einmal anfangen doch auch gleich machen, oder? Soll ich dann vielleicht würden, eine wenigstens in Ansätzen differenzierte Posi- auch solch eine Zickeneinrede machen? tion einzunehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und bei der SPD) Wissen Sie, warum Edmund Stoiber diesem Sankt- Warum gelingt Ihnen eigentlich nicht, was den Landes- Florians-Prinzip folgt? Bei ihm im Wahlkreis gibt es mit kirchen gelingt? Immer mehr Landeskirchen sagen bei 200 000 Hektar die größte gentechnikfreie Zone der Abschluss von Pachtverträgen, dass auf ihrem Gelände Bundesrepublik Deutschland. Angesichts dessen sollte nur gentechnikfreier Anbau erlaubt ist. Sie wollen doch man sich wirklich einmal in seinem Wahlkreis erkundi- nicht behaupten, dass alle evangelischen und katholi- gen, welche Interessen die Landwirte vor Ort und die schen Landeskirchen irren. Menschen, die deren Produkte kaufen, haben. Bayern (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Es gibt weiß sehr genau, dass Österreich und die Schweiz auf gar keine katholischen Landeskirchen!) den Standortfaktor der GVO-Freiheit setzen. Wir wissen ja – Herr Heiderich wird das auch wissen –, dass in Bay- Sonst berufen Sie sich ja auch immer auf sie. ern schon einige Genehmigungen für Anbauten und Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN suchsflächen zurückgezogen wurden, sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Maria (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Wissen Sie Flachsbarth [CDU/CSU]: Voll daneben!) auch, warum?) Zum anderen gibt es immer mehr Regionen in weil Österreich sich das Geschäft nicht hat verderben Deutschland, die sich zu gentechnikfreien Zonen erklä- lassen wollen. ren. Eine sehr große gibt es im Bereich der Rhön, sogar über drei Landesgrenzen hinweg, direkt vor der Haustür Es gibt weltweit einen Markt für gentechnikfreie von Herrn Heiderich. Sie hätten also die Möglichkeit, Produkte. Warum gibt es keinen GVO-Weizen in den sich ausnahmsweise einmal über die Sorgen der Men- USA? Weil Japan gesagt hat, dann würden sie gar keinen schen vor Ort zu informieren, indem Sie in der sitzungs- Weizen mehr von dort importieren. Daraufhin haben die freien Zeit eine kleine Reise unternehmen. USA gesagt, dann bauen wir eben keinen an. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der CDU/CSU: Unseriös!) (B) und bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/ (D) CSU]: Von Ihnen mit Steuergeldern gespon- Warum gibt es keine GVO-Pommes? Weil der größte sert!) Fast-Food-Konzern, der weltweit mit den gleichen Ge- schmacksangeboten agiert, sagt, dass er kein Debakel – Davon träumen Sie. Wenn wir dafür Geld ausgäben, mit GVO-Pommes in seinem Unternehmen erleben hätten Sie das doch schon längst herausbekommen. Ihr möchte. Warum gibt es keine GVO-Rapsfelder? Weil der Job ist doch nichts anderes, als in den Ministerien zu sto- Lebensmittelsektor klar sagt, dass, sobald irgendwo an- chern und zu versuchen, illegal an Papiere heranzukom- gefangen wird, GVO-Raps anzubauen, kein Raps mehr men. aus diesem Land für die Herstellung von Margarine ver- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wendet wird, sondern woandersher importiert wird. SES 90/DIE GRÜNEN – Helmut Heiderich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [CDU/CSU]: 129 000 Euro!) und bei der SPD) Wo gibt es die größte gentechnikfreie Zone in dieser Republik? Ich komme nicht umhin, an dieser Stelle ein- Sie verfolgen doch das Interesse, den mittelständischen oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 mal an den heiligen Sankt Florian zu erinnern. Dessen Unternehmen die Möglichkeiten zu verderben, zusätzli- Lied singt nämlich Edmund Stoiber, der Ministerpräsi- che Einnahmen zu erzielen. dent Bayerns. Das geht so: Heiliger Sankt Florian, ver- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Soja! schütt’ – pardon – verschon’ mein Haus, zünd’ andere Schweinefutter!) an! Mein letzter Satz lautet – das ist eine ganz klare Auf- (Ernst Burgbacher [FDP]: Warum sind Sie so forderung an Sie –: Schauen Sie in den Gesetzentwurf. nervös? Klar, ein Auflösungsprozess ist immer Er ermöglicht Verfahrenserleichterungen in Bereichen, schwierig! – Gegenruf des Abg. René Röspel wo Europa stark ist, nämlich bei der Weißen Biotechno- [SPD]: Ha, ha!) logie. Hier haben wir weltweit derzeit einen Marktanteil – Damit setzen Sie den Zwischenrufen die Krone auf. von 70 Prozent. Dieser Sektor birgt ungeahnte Entwick- Mit diesem Zwischenruf werden Sie einmal berühmt lungspotenziale. Wir müssen nicht in Bereichen, in de- werden. Versprecher passieren zwar vornehmlich Män- nen die USA schon weiter sind, hinterherrennen, son- nern, aber Frauen können es auch. dern wir haben hier die Möglichkeit, (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU und (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Alles platt zu

Seite 15672, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr der FDP) machen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15673

Bundesministerin Renate Künast (A) uns im Rahmen der Lissabon-Strategie von Waschpulver Gentechnik zeigt, dass diese Antworten nicht aus der (C) bis hin zu allen möglichen Produkten zu entwickeln. grünen Verbandsszene kommen, sondern aus der seriö- sen Wissenschaft: aus Universitäten, Ressortforschungs- Ganz klar sage ich auch: Wenn Sie sich weiterhin so einrichtungen, forschenden Unternehmen. Die For- ideologisch verhalten – Ihr Verhalten beruht ja auf nichts schungsverbote von Ministerin Künast sind ein anderem als einer großen Ideologieblase –, dann verder- einmaliger Vorgang. Wir lehnen sie absolut ab. ben Sie der chemischen Industrie in Deutschland und Europa das Geschäft mit der Weißen Biotechnologie. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Zurufe von der CDU/CSU) Die FDP will, dass wir in Deutschland alle Optionen Sie sind dann diejenigen, die Arbeitsplätze in dieser Re- nutzen, das Zeitalter der Biologie mitzugestalten. Die publik vernichten bzw. die Entstehung neuer verhindern. wissenschaftlichen Potenziale dafür sind vorhanden. Der Leibniz-Preis an Professor Dr. Christian Jung, Leiter des (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sie machen Instituts für Pflanzenzüchtung in Kiel, hat dies ein- die Forschung platt!) drucksvoll demonstriert. Die Weiße Gentechnik hat Deshalb bitte ich Sie: Hören Sie mit Ihrem ideologischen sich weitgehend durchgesetzt, auch wenn Ministerin Spiel auf, Künast, die für sie eintritt, die Kennzeichnungsregelung nicht ordentlich gestaltet. Da gibt es Defizite, die in Ihrer (Lachen bei der CDU/CSU) Verantwortung liegen. stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu und eröffnen Sie da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mit Deutschland neue Zukunftschancen, statt diesen Standort immer nur schlechtzureden. Mit der Beschlussfassung über das zweite Gentech- nikgesetz entscheiden wir, ob wir Wissenschaftlern und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unternehmen Gestaltungsmöglichkeiten geben oder ob und bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/ in Deutschland der von den Grünen angeführte Kampf CSU]: Lassen Sie die deutschen Forscher for- gegen Windmühlenflügel fortgesetzt wird. Rot-Grün hat schen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) keinen vernünftigen Rechtsrahmen für die Forschung und Anwendung der Gentechnik erarbeitet. Kanzler 13.45-13.55.doc Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Schröder hat die Muskeln spielen lassen, aber es hat sich Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel Happach- nichts getan. Frau Drobinski-Weiß, Ihre Rede kann nicht Kasan von der FDP-Fraktion. darüber hinwegtäuschen, dass das, was Sie hier vorge- stellt haben, ein Armutszeugnis ist. (D) (B) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast, nur so viel: Ich glaube, Sie sind urlaubsreif. Die entscheidenden Weichenstellungen zur Verhinde- Ich wünsche Ihnen wirklich schöne Osterfeiertage. Mehr rung der wissenschaftlichen Weiterentwicklung und der kann man zu Ihrer Rede nicht sagen. landwirtschaftlichen Nutzung der Grünen Gentechnik wurden durch das erste Gentechnikgesetz vorgenom- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) men. Das kann nur geheilt werden, wenn das zweite An eines darf ich erinnern: In Schleswig-Holstein hat Gentechnikgesetz dem ersten die Giftzähne zieht. Dafür 1 Prozent der Landwirte Grün gewählt, nicht einmal alle hat die FDP vier Änderungsanträge vorgelegt. Ökobauern. Die Anträge der Koalition reichen nicht. Der halbher- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Richtig!) zige Verzicht auf das allgemein zugängliche Standortre- Das ist nicht gerade üppig. gister ist eine angemessene Reaktion darauf, dass die Bundesregierung den Schutz von Feldern mit gentech- Wir leben im Zeitalter der Biologie. Die Ingenieur- nisch veränderten Pflanzen nicht sicherstellen kann und oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 kunst unserer Zeit ist das Genetical Engeneering, ein Ministerin Künast dies auch gar nicht will. Sie hat sich sympathischer Ausdruck für die Grüne und Weiße Gen- von den Feldzerstörungen nie distanziert. technik. Wir können dieses Zeitalter weiter verschlafen oder es mit Ideen und Kreativität gestalten und prägen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- so wie wir das Zeitalter der Chemie und das Zeitalter der derspruch bei der SPD und dem BÜND- Physik gestaltet und geprägt haben. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Wir haben das gefordert, aber sie hat es nicht getan. Wir haben 5,2 Millionen Arbeitslose. Diese sind eine Die FDP lehnt die verschuldensunabhängige Haftung Herausforderung für uns. Die Gentechnik bietet Chan- ab. Wir wollen eine bessere Definition des In-Verkehr- cen für qualifizierte Arbeitsplätze. Wir als FDP wollen Bringens. Es ist absurd, Ministerin Künast, wenn das diese Chance nutzen. Gesetz jedes herumfliegende Pollenkorn, das aus einem Freisetzungsversuch stammt, als illegales In-Verkehr- Im Einstein-Jahr hat das Bundesforschungsministe- Bringen bewertet. Das ist ideologische Borniertheit. rium das Einstein-Zitat aufgegriffen: Wichtig ist, dass wir nicht aufhören zu fragen. – Völlig richtig; aber wir (Gustav Herzog [SPD]: Wer soll denn den

Seite 15673, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr brauchen auch Antworten. Die Diskussion um die Grüne Schaden bezahlen?) 15674 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Dr. Christel Happach-Kasan (A) – Herr Herzog, es steht Ihnen nicht an, so dummes Zeug (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C) zu sagen. Nutzen Sie die verbleibende Chance für das Aufbrechen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Blockade gegen die Grüne Gentechnik! Erinnern Sie sich daran, was gestern in Schleswig-Holstein passiert Wir als FDP schlagen in diesem Fall die von Sachsen- ist! Wollen Sie diesen Weg weiter gehen? Anhalt erarbeitete Definition des In-Verkehr-Bringens vor. Genetical Engeneering ist eine Züchtungsmethode. Ich danke für die Aufmerksamkeit. Statt auf günstige Mutationen zu hoffen, ausgelöst durch radioaktive Bestrahlung oder den Einsatz von mutage- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen Zellgiften, werden bekannte Gene genutzt und in die Genome von Pflanzen oder Bakterien eingesetzt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (René Röspel [SPD]: Konventionelle Kreu- Das Wort hat der Kollege René Röspel von der SPD- zung läuft anders!) Fraktion. – Quatsch! Das ist doch nicht konventionelle Kreuzung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie wissen ganz genau, was in der Züchtung stattfindet; des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das ist doch unsinnig. – Schon Anfang der 90er-Jahre wurde in der Technikfolgenabschätzung festgestellt, dass René Röspel (SPD): die Eigenschaften der neuen Sorten und nicht die Züch- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und tungsmethode für ihre Bewertung entscheidend sind. Herren! Meine Redezeit reicht leider nicht aus, um auf Nehmen Sie von der SPD das doch zumindest einmal zur die ständigen Ideologievorwürfe von Herrn Heiderich Kenntnis! Die Sorten sind sicher; die finanziellen Risi- einzugehen. Er hätte seine Rede besser letzte Woche ge- ken, über die wir sprechen, sind insbesondere von der halten. Wenn ihm die Sachargumente ausgehen, dann grünen Verbandsszene künstlich erzeugt worden, nichts zeigt er diese Art von Beißreflex. anderes. Ich kann auch nicht auf die falsche These von Frau (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Happach-Kasan eingehen. Wir leben eben nicht im Zeit- Diese Erkenntnis setzt sich allmählich durch. Die Ka- alter der Biologie, Frau Happach-Kasan. tholische Landvolkbewegung will die Grüne Gentechnik (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das ha- nicht mehr ablehnen und hat erklärt, dass wir auf die ben Sie noch nicht gemerkt!) Forschung in diesem Bereich nicht verzichten können. In der Schweiz ist im Ständerat der Antrag auf ein fünf- Das ist längst vorbei. Wir leben vielmehr im Zeitalter der (B) (D) jähriges Moratorium gescheitert. In Schleswig-Holstein intelligenten Vernetzung von Chemie, Physik, Biologie hat das Aktionsbündnis die erforderlichen 20 000 Stim- und Informationstechnologie. Ihr Kenntnisstand scheint men für eine Volksinitiative gegen die Gentechnik nicht also weit zurückgeblieben zu sein. zusammenbekommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das trifft nicht DIE GRÜNEN) zu, Frau Kollegin!) Ich will ein wenig mehr Sachlichkeit in die Debatte – Doch! Sie hat es nicht geschafft. – In Dänemark hat einbringen und auf die Diskussion, die es im Bereich der man die Produktion von gentechnikfreiem Schweine- Forschung über dieses Gesetz gibt, eingehen. Ich befasse fleisch eingestellt, weil es keine Nachfrage gab. Über mich mit diesem Gesetz aus der Perspektive desjenigen, 60 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher in der viele Jahre als Biologe in einem Forschungslabor ge- Deutschland befürworten gentechnisch veränderten arbeitet hat und sich, zumindest was die Vergangenheit Joghurt mit besonderer Gesundheitswirkung. Frau betrifft, als Forscher bezeichnen kann. Ich verstehe nach Ministerin Künast, Sie wissen selbst: Wenn diese Le- wie vor die Leidenschaft von Forschern, wenn es darum oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 bensmittel preiswerter sind als andere Lebensmittel, geht, Dinge zu ergründen und die Neugier zu befriedi- dann greifen alle Leute zu. Das ist der Fakt. gen. Ich sehe – das ist überhaupt keine Frage – die Grundlagenforschung als einen Wert an sich an. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine persönliche Erfahrung ist aber auch, dass es Das überragende Problem in Deutschland ist die keine Forschungsfreiheit gibt. Bei meiner alltäglichen Arbeitslosigkeit. Jobgipfel haben nur dann Erfolg, wenn Arbeit im Labor bin ich immer auf Begrenzungen gesto- neben den notwendigen strukturellen Veränderungen in ßen. Das Chemikaliengesetz, das Wasserhaushaltsgesetz, der Steuerpolitik auch neue Wirtschaftsbereiche er- das Abfallgesetz, die Strahlenschutzverordnung und das schlossen werden. Wir brauchen neue Arbeitsplätze; Tierschutzgesetz denn alte Industrien brechen weg. Im Zeitalter der Biolo- gie ist das Genetical Engineering die aktuelle Ingenieur- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Ich kunst, die gestützt und gefördert werden muss und nicht glaube, Sie verstehen den Begriff „For- verhindert werden darf. schungsfreiheit“ nicht!) Die FDP fordert die SPD auf, sich am Wohl der Men- wurden nicht erlassen, um die Forschung zu behindern, schen und nicht am Wohl der grünen Partei zu orientie- sondern – das entspringt einer Abwägung mit anderen

Seite 15674, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr ren. Interessen – um die Tiere und die Umwelt zu schützen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15675

René Röspel (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mein Vorschlag: Saatguthersteller – jedenfalls die (C) DIE GRÜNEN) großen – sollten einen Ausgleichsfonds für Haftung schaffen und den beteiligten Forschern anbieten, in die- Man kommt nicht an der Tatsache vorbei, dass auch sen Ausgleichsfonds mit einzutreten. Das wäre, glaube der vorliegende Gesetzentwurf eine solche Abwägung ich, eine Möglichkeit, die machbar wäre. Wir werden ist. Wenn Forscher zum Beispiel gentechnisch verän- Gespräche darüber führen. Wir bleiben weiterhin mit der derte Pflanzen freisetzen – das heißt, sie zu Versuchs- Forschung im Gespräch. Wir werden, wie es auch der zwecken auf einem Feld ausbringen –, dann kann in der Kanzler gestern gesagt hat, das Gesetz in zwei Jahren Tat Schaden entstehen, nämlich dann, wenn solche noch einmal daraufhin prüfen, ob Verbesserungen not- Pflanzen in das Feld des Nachbarbauern auskreuzen und wendig sind. er seine Ernte nicht mehr, wie von ihm vorgesehen, als gentechnikfrei verkaufen kann. Dann ist in der Tat ein (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Klasse!) Schaden eingetreten. Wir sind im deutlichen Gegensatz zu Ihnen der Meinung, dass wir den Geschädigten nicht Zum Schluss ein paar deutliche Zahlen, an denen Sie im Regen stehen lassen dürfen, sondern ihm helfen müs- nicht vorbeikommen, um einmal klar zu machen, wie es sen. Wahrscheinlich geht es dabei nur um wenige Tau- um die Forschungsfreundlichkeit dieser Regierung steht: send Euro. Im Rahmen des Bildungs- und Forschungsetats wur- den 1996 150 Millionen für die Biotechnologie ausge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geben; 1997 waren es 147 Millionen. In den letzten DIE GRÜNEN) kümmerlichen Jahren der Regierung Kohl mit ihrem Forschungsminister Rüttgers ging es also richtig bergab. Es darf auch aufgrund der Tatsache, dass Forscher dieses Feld betreiben, keine Ausnahmeregelung geben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das ist das Ergebnis einer Abwägung und entspricht der EU-Rechtssetzung, dass es sich um ein In-Verkehr-Brin- Seit 1998, seitdem Rot-Grün an der Regierung ist, geht gen handelt, wenn diese Ernte weitergegeben wird. es nicht nur in diesem Bereich bergauf. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Lesen (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Jedes Sie mal die Richtlinie!) Jahr mehr Arbeitslose! Jedes Jahr mehr Fir- menpleiten!) Um die Dimension dieser Abwägung deutlich zu ma- chen – Sie sprachen vorhin die Arbeitsplätze an –, will Wir haben die Mittel in 2005 auf 240 Millionen Euro im ich darauf hinweisen, dass in dem Biotechnologiereport Bereich Biotechnologie erhöht. Das ist ein Plus von von Ernst & Young aus dem Jahre 2003 die Information 60 Prozent; das darf man durchaus sagen. Der Etat für (B) enthalten ist, dass in Deutschland in der Biotechnolo- Bildung und Forschung ist, wenn man die Mittel für die (D) giebranche etwa 12 000 Menschen beschäftigt sind. Im Förderung der Ganztagsschulen und die Mittel für das Bereich der Grünen Gentechnik ist die Zahl wahrschein- BAföG hinzuzählt, um 37 Prozent gestiegen, seitdem lich viel kleiner. Im Internet war die höchste Zahl wir die Regierung übernommen haben. Die alte Regie- 24 000; dies kann ich aber nicht bestätigen. In der ökolo- rung hat versagt. Der ehemalige Forschungsminister gischen Lebensmittelwirtschaft sind in den letzten zehn Rüttgers hat die Biotechnologie sowie Bildung und For- Jahren 75 000 Arbeitsplätze neu entstanden. In der schung heruntergewirtschaftet. Landwirtschaft sind insgesamt 1,3 Millionen Menschen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beschäftigt. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erst Rot-Grün hat das ans Licht geholt und gießt dieses DIE GRÜNEN) Pflänzchen, damit es wirklich gedeihen kann. Wir müssen also abwägen, welche Kriterien wir setzen Vielen Dank. und wie wir uns entscheiden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Interessant an der Diskussion, die immer wieder über DIE GRÜNEN) das Auskreuzungsrisiko geführt wird, finde ich, dass einerseits wissenschaftlich fundiert behauptet wird, dass das Risiko einer solchen Auskreuzung sehr gering sei. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Manchmal wird sogar gesagt, es gehe gegen null; das Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth teile ich nicht. Wenn aber darüber diskutiert wird, den von der CDU/CSU-Fraktion. möglichen Schaden einer solchen Auskreuzung zu über- (Beifall bei der CDU/CSU) nehmen, dann wird andererseits gesagt – das hat die Ver- sicherungswirtschaft deutlich gemacht –: Einen solchen Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Schaden können wir nicht übernehmen; das Risiko ist Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- viel zu hoch. Auch die Beteiligten wehren sich dagegen, ren! In der Gentechnik steckt ein gewaltiges wirtschaftli- weil das Risiko angeblich zu hoch ist. Irgendwo besteht ches und wissenschaftliches Potenzial. Der Biotech- da ein Widerspruch. Entweder ist das Risiko sehr gering standort Deutschland hat mit seinen Forscherinnen und oder untragbar. Forschern die Fähigkeit, in der Entwicklung innovativer (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie und zukunftsfähiger Anwendungen im Rahmen der Nah-

Seite 15675, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rungsmittelproduktion, der Produktion nachwachsender 15676 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Dr. Maria Flachsbarth (A) Rohstoffe mit neuen spezifischen Eigenschaften und der Gentechnik in Deutschland zum Durchbruch verhelfen (C) Produktion von Energiepflanzen weltweit führend zu können? sein. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Haben Sie das Trotz des von der Bundesregierung ausgerufenen nicht verstanden?) Jahrs der Innovationen wurde im letzten Jahr ein Gesetz vom Deutschen Bundestag verabschiedet, das der Gen- Ich will Ihnen das Hauptproblem nennen, das den Ein- technik solch strenge Auflagen macht, dass es von ange- satz der Grünen Gentechnik in Deutschland tatsächlich sehenen Wissenschaftlern als Gentechnikverhinderungs- verhindert: Das ist das Haftungsproblem. Inzwischen re- gesetz bezeichnet wurde. det auch die Bundesregierung davon, einen Haftungs- fonds einzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (René Röspel [SPD]: Aber ohne staatliche neten der FDP) Gelder!) Nun ist das Jahr der Innovationen vorbei. Dieses Jahr ist In der Sechs-Punkte-Erklärung sagte Renate Künast, das Albert-Einstein-Jahr ausgerufen worden. Es be- dass es so etwas geben könnte. Der Auslöser für diese ginnt so, wie das letzte Jahr aufgehört hat: mit Stagna- halbherzige Erklärung ist uns allen bekannt. Es waren tion. Denn der Grund, warum wir uns gut anderthalb die blauen Briefe aus Brüssel und die ablehnende Hal- Monate nach dem In-Kraft-Treten des neuen Gentech- tung des Bundesrates – sogar der SPD-geführten Bun- nikgesetzes erneut mit einem diesbezüglichen Gesetz- desländer. entwurf befassen müssen, liegt darin, dass die Koali- tionsfraktionen den ursprünglich einheitlichen Entwurf (Beifall bei der CDU/CSU) aus rein politischen Gründen geteilt haben, um die Mit- wirkungsrechte des Bundesrates zu kappen. Auch der Bundeskanzler hat in seiner gestrigen Re- gierungserklärung von der Einrichtung eines Haftungs- Der Name dieses Jahres, Albert-Einstein-Jahr, steht fonds gesprochen. Zugegeben: Ein Haftungsfonds ist wieder für Innovationen. Auch der Bundeskanzler findet eine vernünftige Sache. Wir fordern das schon seit lan- nur warme Worte für die Gentechnik, zum Beispiel am gem. Wir haben mit dem Klärschlammfonds ein bewähr- 27. Oktober letzten Jahres auf der Festveranstaltung des tes, praktikables und rechtsfestes Modell. Wir sollten ge- Vereins Acatech-Konvent für Technikwissenschaften, legentlich einmal über die Grenze nach Holland schauen auf dem er eine neue Balance in der Debatte um die und diese Vorschläge übernehmen. Allerdings täuscht Gentechnik gefordert hat. In der gestrigen Regierungser- die Einrichtung eines Haftungsfonds über die eigentli- klärung hat er gesagt: „Wir wollen einen vernünftigen chen Probleme hinweg, nämlich darüber, dass in § 36 a (B) Rahmen setzen.“ des Gentechnikgesetzes eine überaus strenge und über- (D) zogene Haftung geregelt ist. Das Gesetz sieht vor, dass, Wie sieht dieser Rahmen aber nun tatsächlich aus? wenn der direkte Verursacher eines Schadens nicht er- Der vorliegende Entwurf baut auf dem völlig unzurei- mittelt werden kann, jeder Nachbar, der kreuzungsfähige chenden ersten Gentechnikgesetz auf und enthält vor- GVOs anbaut, für den Ausgleichsanspruch haftet. Er soll wiegend verfahrensrechtliche Vorschriften. Die CDU/ auch dann haften, wenn er alle Regeln der guten fachli- CSU hat bereits in der letzten Wahlperiode umfangrei- chen Praxis eingehalten hat. che Vorschläge zur Entbürokratisierung und Straffung 14.00-14.10.doc des Gentechnikrechts vorgelegt. Einige wenige unserer (René Röspel [SPD]: Das ist wie bei Millionen Forderungen wurden nunmehr aufgenommen. Das hätte von Autofahrern und der Gefährdungshaf- man allerdings viel früher haben können. tung!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist so, als würde man – um ein Beispiel des nieder- sächsischen Ministerpräsidenten Wulff aufzugreifen –, So besteht inzwischen Konsens, dass in der wenn bei einem Autounfall der tatsächliche Unfallverur- Sicherheitsstufe I – das bedeutet: kein Risiko – für gen-

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 sacher nicht ermittelt werden kann, einfach denjenigen technische Anlagen und erstmalige Arbeiten nur noch haften zu lassen, der am nächsten am Unfallort vorbei- eine bloße Anzeige erforderlich ist. Allerdings sind die fährt. Formulierungen widersprüchlich. Es wird im Text nicht deutlich, worin der Unterschied zwischen „Anmeldung“ (Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel und „Anzeige“ liegt. Auch das wurde bereits in der An- [SPD]: Nein! Das stimmt nicht! Der Halter hörung im März dieses Jahres von den Experten kriti- haftet!)) siert. – Doch, genau das stimmt. (Beifall bei der CDU/CSU) ( [BÜNDNIS 90/DIE Weiterhin wird die Schaffung einer amtlichen Metho- GRÜNEN]: Das ist doch ganz einfach! Sie ha- densammlung zur Entnahme und Untersuchung von ben es nicht verstanden!) Geoproben vorgesehen, um eine einheitliche Vorgehens- weise zu gewährleisten. Schließlich werden bei den Fra- Es ist kein Wunder, dass bei einem solchen Rechtskon- gen der Standortregister kleine Fortschritte erzielt. strukt die Versicherungen Probleme haben, Versiche- rungspolicen für einen solchen Anbau zu kalkulieren. Doch, meine Damen und Herren von Rot-Grün, mei- Würde man im Straßenverkehrsrecht vergleichbare Re-

Seite 15676, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr nen Sie wirklich, dass diese kleinen Änderungen der gelungen schaffen, bestünde dort das gleiche Problem. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15677

Dr. Maria Flachsbarth (A) (René Röspel [SPD]: Bei der Gefährdungshaf- des Bundesforschungsministeriums dort keinerlei neue (C) tung haftet der Halter unabhängig von seinem Anträge mehr zur Gentechnikforschung in Deutschland Verschulden!) und damit auch keine Hoffnung auf Innovation und Ar- beitsplätze. Wir brauchen stattdessen ein Gentechnikhaftungs- recht, das den Anbau ermöglicht, für einen gerechten (Jörg Tauss [SPD]: Völlig falsch!) Interessenausgleich sorgt Anders ist es bei der EU. Dort werden im 7. For- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE schungsrahmenprogramm der Bio- und Gentechnik er- GRÜNEN]: Genau das tun wir!) heblich gesteigerte Mittel zugewiesen. Europa investiert und Deutschland blockiert. und, wie im europäischen Recht vorgesehen, Koexistenz tatsächlich ermöglicht. Regelungen des Bürgerlichen Auch das Zweite Gesetz zur Neuordnung des Gen- Gesetzbuches bieten dafür eine gute Grundlage. Sie technikrechts wird die Situation für die Gentechnik in schaffen in § 906 BGB einen gerechten Ausgleich der Deutschland nicht verbessern. Insgesamt richtet das Vor- jeweiligen Eigentümerinteressen. Davon weicht das gehen der Bundesregierung somit in Wissenschaft und Gentechnikrecht ab. Wirtschaft schweren Schaden für den Standort Deutsch- Leider bietet der vorliegende Gesetzentwurf für diese land an. Leider hat wieder einmal Ideologie über Politik Probleme keine Lösungen. Die Aussagen des Bundes- gesiegt. Wir werden diesem Gesetz daher selbstverständ- kanzlers stehen daher im eklatanten Widerspruch zur lich nicht zustimmen. Wirklichkeit. Auch das in der Regierungserklärung ab- Herzlichen Dank. gegebene Versprechen, das Gentechnikrecht nach zwei Jahren zu evaluieren bzw. anzupassen, hilft doch über- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haupt nicht weiter. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Das Wort hat die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin von der SPD-Fraktion. Wir leben in einer Zeit, in der sich das gesamte Wissen der Menschheit alle vier Jahre verdoppelt. Wenn wir (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich jetzt nicht dabei sind, werden andere Staaten die Spitze Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) der Entwicklung einnehmen, die Profite einfahren und übrigens auch die entsprechenden Sicherheitsstandards Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): (B) setzen. Deutschland bleibt dann außen vor. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- (D) Ich möchte nur an die Erfahrungen erinnern, die wir nächst will ich mich bei all denen ganz herzlich bedan- Anfang der 90er-Jahre mit der Roten Gentechnik gesam- ken, die am Ende dieser aufregenden Woche ins Plenum melt haben. , damals hessischer Umwelt- gekommen sind, minister, verhinderte den Bau eines Bioreaktors zur Pro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ duktion von humanem Insulin, weil auch die Rote DIE GRÜNEN) Gentechnik als höchst risikoreich galt. insbesondere bei , aber auch bei allen ande- (Kurt Segner [CDU/CSU]: Hört! Hört!) ren Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen; Hoechst Frankfurt baute die Fertigung dann übrigens im von den Oppositionsfraktionen sind bei diesem Zu- benachbarten Ausland, im Elsass, auf. Die Wertschöp- kunftsthema leider nur ganz wenige im Saal. fung erfolgt bis heute im Ausland, in Frankreich. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich Die zutiefst gentechnikfeindliche Haltung beweisen Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Unruhe bei der CDU/CSU) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 auch die zahlreichen flankierenden Maßnahmen der Bundesregierung und vor allem des grünen Koalitions- Sie können sehen: Die Koalition steht in der Tat für eine partners. Vom Landwirtschaftsministerium wurden in klare Auseinandersetzung über dieses Zukunftsthema. der Vergangenheit beispielsweise Freilandversuche im- mer wieder verhindert. Ich erinnere an den Großflä- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie müssen chenanbau von Bt-Mais in Sachsen-Anhalt und die Frei- jetzt immer zwei haben, wo wir bloß einen landversuche mit gentechnisch veränderten Apfelsorten brauchen!) in Pillnitz und Quedlinburg. Das neueste Glied dieser – Die Kollegen rufen dazwischen; der Kollege Kette haben wir in der letzten Woche in der Aktuellen Schirmbeck macht das im Ausschuss auch immer. Ich Stunde thematisiert. Das BMBF will die Projekte jetzt darf Ihnen einfach einmal Folgendes sagen: Nachdem doch weiterverfolgen, weil es die Einwände des wir im Plenum jetzt schon x-mal über diese Fragen gere- BMVEL nicht teilt. Das ist ein Paradebeispiel für trans- det haben, haben wir uns eigentlich darauf gefreut, von parentes und konsequentes Regierungshandeln. Ihnen einmal ein paar Sachargumente und nicht immer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die gleichen ideologischen Standpunkte zu hören. Die Folgen einer solchen Politik haben nicht lange (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des

Seite 15677, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr auf sich warten lassen. So gibt es nach aktueller Aussage Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE 15678 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) GRÜNEN] – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das dürfen (C) Dann müssen Sie zuhören!) die bei uns!) Ein Gutes hatte Ihre Rede, lieber Herr Heiderich. Sie Nehmen Sie doch endlich einmal zur Kenntnis: Je mehr eignet sich vorzüglich dazu, unseren Landwirten zuge- die Verbraucher über Gentechnik im grünen Bereich sandt zu werden. Die sind bisher nämlich immer der wissen, desto weniger wollen sie sie; das ist anders als Meinung gewesen, zumindest bei uns, die CDU habe ei- bei neuen Techniken. nen differenzierten Standpunkt. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sehr wohl!) stimmt doch überhaupt nicht! – Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist doch nicht Sie können sicher sein: Ihre Rede wird diese Landwirte wahr!) ganz schnell kurieren. Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass unsere Land- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirte nicht am Markt vorbei produzieren können. Wenn DIE GRÜNEN) drei Viertel der Verbraucherinnen und Verbraucher Gen- Es ist wirklich schade, dass der Landwirtschafts- technik nicht wollen, dann können Sie nicht einfach hin- minister von Baden-Württemberg nicht da ist. Der weiß terrücks auf eine schleichende Einführung der Gentech- nämlich: Nicht nur in Bayern, sondern auch in Baden- nik setzen, Württemberg bauen die Landwirte darauf, dass wir das, (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Ver- was in der europäischen Richtlinie zu Koexistenz, trauen Sie doch auf den Markt!) Kennzeichnung, Wahlrechten für Landwirte und Ver- braucher steht, ernst nehmen. Sie tun das nicht. Die Koa- sondern sollten sich mit uns zusammentun und durchset- litionsfraktionen tun das. Unsere Gesetze, sowohl das zen, dass das gemacht wird, was die neue EU-Kommis- erste Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts als sarin gesagt hat, nämlich eine Trennung zwischen Land- auch das jetzt vorliegende Gesetz, entsprechen genau wirtschaft mit GVOs und Landwirtschaft ohne diesem Grundsatz. gentechnisch veränderte Organismen. Sie sollten mit uns (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dafür eintreten, dass die Saatgutschwellenwerte bei der DIE GRÜNEN – Georg Schirmbeck [CDU/ technischen Nachweisbarkeit liegen. Sie sollten mit uns CSU]: Glauben Sie das selber?) dafür eintreten, dass die Lücke bei der Kennzeichnung tierischer Produkte endlich geschlossen wird. Es geht im Übrigen nicht – ob Ihnen das jetzt passt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) oder nicht – um das erste Gesetz. Der Herr Heiderich hat (D) das zwar wieder sehr schön hineingepackt, aber Sie müs- DIE GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth sen sich einfach einmal damit abfinden, dass Sie als Op- [CDU/CSU]: Sie gehören doch dem Rat an, position unterliegen und dass die Mehrheit des Hauses nicht wir!) etwas beschließt, Sie sollten dann gemeinsam mit uns dafür eintreten, dass (Ulrike Flach [FDP]: Aber nicht immer!) die Bürgerinnen und Bürger selber entscheiden können. das dann auch für Sie gilt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Aber der Zu- stand wird sich bald ändern!) Jetzt komme ich zu einem anderen Mythos, nämlich zu der Haftungsfrage. Eigentlich könnte man sagen: Es Sie sind doch – so sagen Sie es immer – gute Demokra- ist ausgesprochen witzig, wie selektiv Herr Heiderich ten. den Kanzler zitiert.

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich (Beifall bei der SPD – Georg Schirmbeck Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) [CDU/CSU]: Wir haben ihn doch gestern Mor- gen gehört!) Oder rufen Sie immer nur dazwischen, Herr Schirmbeck? Lieber Herr Heiderich, nehmen Sie sich doch noch ein- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Der Zustand mal die vielen vernünftigen Dinge vor, die der Kanzler ändert sich!) gestern gesagt. Er hat nämlich gesagt, es sei überhaupt nicht einzusehen, warum der Steuerzahler anstelle von – Herr Schirmbeck, ich finde das toll. Sie sind einer der Produzenten die Haftung übernehmen solle. besten und lautesten Schreier. Nur, Argumente haben Sie nicht. Das ist schade. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [CDU/CSU]: Wer hat das denn gefordert? – DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Georg Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie hören uns Schirmbeck [CDU/CSU]) doch gar nicht zu!) Koexistenz und Kennzeichnung, das heißt, dass Leute Ich sage Ihnen: Selbstverständlich ist die Haftung den

Seite 15678, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr wählen dürfen. Produzenten aufzuerlegen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15679

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) Einer der Punkte, die Sie offensichtlich nicht zur Dann kam die andere Seite und hat das Gegenteil be- (C) Kenntnis nehmen wollen, ist auch folgender: Der Agrar- hauptet. Der Amtsrichter hat wieder gesagt: Sie haben ausschuss des Deutschen Bundestages hat, auf Anregung Recht. Daraufhin kam ein empörter Dritter und erklärte: der Kollegen aus den Koalitionsfraktionen beschlossen, Sie können doch nicht dem einen und dem anderen, den Landwirten anzuraten, sich von den Produzenten wenn beide etwas Gegensätzliches sagen, Recht geben. – wie gesagt, 90 Prozent der Produkte kommen von Dem hat er dann geantwortet: Da haben Sie wieder Monsanto; damit wir hier auch einmal sagen, für wen Recht. bestimmte Leute eintreten – (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Keine Belei- digung hier! – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Bei Ihnen weiß man nie so Recht, was Sie eigentlich Weil Sie die deutschen Forscher platt ma- meinen. Ich glaube, es wäre vernünftig, wir würden uns chen!) jetzt auf die vor uns liegenden Aufgaben einigen. Das würde uns dann wirklich weiterbringen. von der Haftung freistellen zu lassen. Geschehen kann dies auf zwei unterschiedliche Weisen, zum Beispiel in Form von Einzelfreistellungen. Selbstverständlich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Frau Flachsbarth, das als Antwort auf das, was Sie ge- Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ich möchte an die sagt haben – kann Monsanto aber, vielleicht zusammen Zeit erinnern. mit den vier oder fünf anderen Produzenten, einen Haf- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Die Zeit ist tungsfonds gründen. Aber das soll nicht der Steuerzahler abgelaufen! Das sozialdemokratische Zeital- bezahlen müssen. Das geht nicht. ter geht in Deutschland zu Ende! – Beifall bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) DIE GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Darüber müssen wir noch einmal Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): sprechen! Wir haben nie gesagt, dass das der Vielen Dank, Herr Präsident. Ich habe schon darauf Steuerzahler allein bezahlen soll!) gewartet, dass Sie mich ermahnen. Danke schön. Der von Herrn Heiderich aufgegriffene Vorschlag, Wir sollten erstens sehen, dass die Versicherung für auch noch jene Landwirte an der Haftung beteiligen zu die Forschungslandschaft tatsächlich läuft. Zweitens wollen, die gar nicht die Absicht haben, mit gentech- sollten wir die Kennzeichnungslücke schließen, und nisch veränderten Pflanzen zu arbeiten, lässt sich eben- zwar gemeinsam. falls nicht umsetzen. (B) (D) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ihre Zeit ist (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist trotzdem abgelaufen! Aber wir fangen jetzt Unfug! Wir haben zwei konkrete Beispiele ge- erst an!) nannt!) Wo sind wir denn eigentlich? Drittens sollten Sie aufhören, den Landwirten und Ver- brauchern vorschreiben zu wollen, dass sie gentechnisch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ veränderte Produkte essen sollen. DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank. Das zuzulassen, nur damit Sie entsprechende Interessen vertreten können, geht nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Georg Schirmbeck [CDU/ Lassen Sie mich dazu noch eines sagen: CSU], zur SPD und zum BÜNDNIS 90/DIE (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Muss nicht GRÜNEN gewandt: Aufstehen! Aufstehen!) sein!) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Sie können nicht erstens behaupten: „Es gibt kein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Risiko“, Ich schließe die Aussprache. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das tun Wir kommen zur Abstimmung über den von den wir auch nicht!) Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Gen- und dann zweitens sagen: „Wir möchten das Risiko in technikrechts, Drucksache 15/4834. Der Ausschuss für Form eines Fonds auf den Steuerzahler abwälzen“. Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft emp- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das tun fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- wir auch nicht! Sie müssen uns schon zuhö- sache 15/5133, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- ren!) sung anzunehmen. Hierzu liegen vier Änderungsanträge der Fraktion der FDP vor, über die wir zuerst abstim- Sie müssen sich schon irgendwann entscheiden. Wenn men. Sie das nämlich nicht tun, geht es bei Ihnen bald zu wie beim Amtsrichter Dodl, der zwei streitende Parteien vor Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- sich hatte. Als die eine Seite zu ihm sagte, das und das sache 15/5136? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-

Seite 15679, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr sei der Fall, sagte der Amtsrichter: Sie haben Recht. gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der 15680 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der Fraktionen der Günter Nooke (CDU/CSU): (C) CDU/CSU und der FDP abgelehnt. Sehr geehrter Herr Präsident! Heute ist ein histori- scher Tag in der deutschen Geschichte; vielleicht sollten 14.15-14.25.doc Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- sache 15/5137? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – wir daran noch einmal erinnern. Die demokratische Re- Der Änderungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenver- volution im März 1848 war nicht erfolgreich, aber die hältnis abgelehnt. vom Herbst 1989, die wir die friedliche Revolution nen- nen, fand heute vor 15 Jahren ihren erfolgreichen Ab- Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- schluss. Die Wahl am 18. März 1990 zur Volkskammer sache 15/5138? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – der DDR war die erste freie und einzige freie Wahl in der Der Änderungsantrag ist, mit dem gleichen Stimmenver- DDR. Nach der erfolgreichen Freiheitsrevolution ging es hältnis wie zuvor abgelehnt. in den folgenden sechs Monaten bis zum 3. Oktober 1990 um die Organisation der staatlichen Wiedervereini- Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- gung Deutschlands. Es war wichtig, dass wir heute Mor- sache 15/5139? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – gen schon in der Plenardebatte an dieses historische Er- Der Änderungsantrag ist wieder mit dem gleichen Stim- eignis erinnert haben. menverhältnis abgelehnt. Auch in dem Antrag, über den jetzt debattiert wird, Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der geht es um deutsche Geschichte: die Teilung Deutsch- Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- lands nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich in dieser chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Stadt durch Mauer und Stacheldraht in besonders perfi- entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der der Weise manifestierte. In der vergangenen Woche ha- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- ben wir hier einen Gruppenantrag behandelt, der ein tionsfraktionen angenommen. ganz ähnliches Anliegen hatte wie unser Antrag heute: Dritte Beratung Es geht um das Erinnern an die Zeit der deutschen Tei- lung, aber auch um die Erinnerung an die Überwindung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem der deutschen Teilung. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Dass wir beide Anträge getrennt beraten, obwohl wir ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. in beiden Ähnliches behandeln, bedauere ich; denn da- durch wird der falsche Eindruck vermittelt, der Deutsche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundestag habe sich nicht nur mit dem nationalen Erin- DIE GRÜNEN) nern und Gedenken zu beschäftigen, sondern er müsse (B) Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- auch Fall für Fall – also quasi für jeden Ort – separat be- (D) schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- raten. Das Gegenteil ist richtig. Aus diesem Grund for- wirtschaft auf Drucksache 15/5134 zu dem Antrag der dern wir, die CDU/CSU-Fraktion, mit unserem Antrag, Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Gentechnikge- den wir vor einem Jahr eingebracht haben und in dem es setz wettbewerbsfähig vervollständigen“. Der Ausschuss um die Gedenkstättenförderung geht, ein Gesamtkon- empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4828 abzuleh- zept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- deutschen Diktaturen. Auch in dem heute zu behandeln- genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- den Antrag fordern wir die Einbindung „in das Gedenk- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen stättenkonzept Berlins und des Bundes“. die Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion ange- Der Grund dafür, dass wir uns heute dennoch mit ei- nommen. nem einzelnen Ort zu beschäftigen haben, ist ein Ver- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: säumnis. Es besteht darin, dass wir als Abgeordnete es bisher vernachlässigt haben, den bestehenden authenti- Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter schen Mauergedenkort in unserem eigenen Hause als oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Nooke, Bernd Neumann (Bremen), Renate Gedenkort zu gestalten und öffentlich zu machen. Es Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion handelt sich um den Raum unter dem Leseraum der Bun- der CDU/CSU destagsbibliothek im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus ge- Mauermahnmal im Marie-Elisabeth-Lüders- genüber den sieben Kreuzen am Spreeplatz, die an die Haus aufwerten Mauertoten an dieser Stelle erinnern. – Drucksache 15/4719 – Ich war einigermaßen überrascht, als ich beim Verfas- sen des Antrages feststellen musste, dass viele Kollegin- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) nen und Kollegen – auch solche, die in der vorigen Wo- Innenausschuss che ein Gedenken an einem zentralen Ort gefordert Ausschuss für Tourismus haben – den Raum bisher gar nicht bewusst wahrgenom- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die men haben. Bei dem mit großer öffentlicher Begleitung Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre vorgetragenen Wunsch nach Schaffung eines zentralen keinen Widerspruch. – Dann ist so beschlossen. Ortes des Gedenkens an die Teilung und auch bei den so genannten Expertentreffen zum Mauergedenken am Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster 2. und 3. Februar dieses Jahres wurde immer wieder

Seite 15680, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Redner der Kollege Günter Nooke von der CDU/CSU. übersehen, dass es auch diesen Ort schon gibt und dass Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15681

Günter Nooke (A) sich die Baukommission mit Architekt und Künstler da- Gedanken eines Einheits- und Freiheitsdenkmals – ei- (C) rauf verständigt hatte. Wir als Parlamentarier sollten das nen entsprechenden Antrag haben wir in der letzten Le- nicht vergessen und wir sollten dafür sorgen, dass der gislaturperiode beraten – wieder aufzunehmen. Gedenkraum im Zuge der für Mai 2005 vorgesehenen Ein zweiter Aspekt, den ich ebenfalls ansprechen Übergabe der nördlichen Spreeuferpromenade an die Öf- möchte – damit komme ich schon zum Ende –, betrifft fentlichkeit für diese auch zugänglich gemacht wird. die Frage nach der staatlichen Verantwortung. Bei den (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist zahlreichen Diskussionen über den Umgang mit den Or- sichergestellt!) ten des Gedenkens, zuletzt bei der Anhörung über das von der Bundesregierung geplante Stiftungsdach für die Die originalen Mauerteile, für deren Erhaltung der authentischen Orte aus der NS-Zeit in Berlin, spielt es Künstler Ben Wargin gekämpft hat und die mit dem eine große Rolle, auf welche Weise der Staat die Arbeit „Parlament der Bäume“ zwischen Bundespressekonfe- der Gedenkstätten organisieren solle. renz und dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus zu sehen sind, wurden in die Architektur des Parlamentsgebäudes Patrick Bahners hat das in seinem Beitrag in der ges- am authentischen Ort und im ursprünglichen Verlauf mit trigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einbezogen. Die Anbringung der erschütternden Infor- thematisiert und eine neue Tendenz bemerkt. Mit Blick mationen über die Zahl der Toten an der Mauer verstärkt auf Vorschläge für Berlin schreibt er – ich zitiere –: die Wirkung dieses Gedenkortes. Eine Behörde soll entstehen, ein Amt für nationales Gedächtnis. Zur öffentlichen Zugänglichmachung gehört selbst- verständlich ein mit entsprechender Sorgfalt erstelltes Und weiter: Konzept, durch das gewährleistet wird, dass der Ort wahrgenommen und verstanden werden kann. Mit dem Der Oberaufseher über das gesamte Gedenkstätten- personal spräche … auch mit politischer Autorität. Status quo ist das meines Erachtens nicht erfüllt. Der Raum ist jetzt ein düsterer Abstellkeller und der Ein- Er warnt davor, dass Geschichte „zum Material der Poli- druck wird auch nicht besser, wenn dort aus Versehen tik“ wird. einmal das Licht angeht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich sage das, anders als es uns der Autor der „FAZ“ Es geht in der heutigen Debatte nicht darum, die Ar- vermuten lassen will, nicht mit Blick auf die Bundesre- beit einer Berliner Kommission für die Mauergedenk- gierung, sondern mit Blick auf unseren Konsens im stätten zu leisten. Ganz sicher muss das Konzept zur Er- Deutschen Bundestag, den wir betonen sollten. Um es in (B) innerungskultur hier in Berlin aber auch diesen Raum einem einfachen Satz festzuhalten: Der Staat ist in der (D) berücksichtigen. Es ist zum Beispiel auch nicht einzuse- Verantwortung, er ist aber nicht Eigentümer des Geden- hen, dass der Antrag von voriger Woche quasi schon als kens. Geschichte wird unter Historikern und in der Ge- Beschlusslage des Deutschen Bundestages verstanden sellschaft immer umstritten bleiben. Mir ist diese Fest- wird und dass der Antrag, der heute vorliegt – er wurde stellung wichtig. Ich denke, wir sollten uns darauf auch übrigens am 20. Januar 2005 eingebracht –, keine Be- weiterhin verständigen können. rücksichtigung dabei fand. Im Falle des Gedenkraumes im Marie-Elisabeth- Vermutlich werden wir im Bundestag spätestens dann Lüders-Haus, um den es uns im vorliegenden Antrag wieder gefragt werden, wenn es um die Finanzierung geht, ist der Staat sogar Eigentümer. Hier sind wir in der Berliner Ideen geht. Doch auch unsere Diskussion im Verantwortung, auch mit den verantwortlichen Planern Bundestag muss dafür sorgen, dass wir unsere Hausauf- in Berlin die öffentliche Debatte zu führen, um diesen gaben machen. Das ist bisher nicht geschehen. Wer das Raum in ein Konzept des Gedenkens hier in Berlin ange- messen einzupassen. anders sieht oder besser wissen will, dem sei ein Ge-

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 spräch mit den zuständigen Planern empfohlen. Einen Danke schön. von Anbeginn der Planung an beabsichtigten Gedenk- raum sollten wir jetzt nicht unterbewerten. Dazu liegt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Ort schon bald viel zu exponiert. Auch das Interesse der Öffentlichkeit an dieser Stelle wird wachsen. Wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: müssen uns dementsprechend verhalten. Das Wort hat der Kollege Eckhardt Barthel von der SPD-Fraktion. Ich möchte noch zwei Gedanken anschließen, die mir in dieser Diskussion zur jüngeren Geschichte etwas zu sehr in den Hintergrund geraten zu sein scheinen: Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war ei- Der erste Aspekt betrifft das Erinnern allgemein. Wir gentlich schon am Anfang klar: Bei der Sache, um die es sollten uns als deutsches Parlament nicht nur um ein an- hier geht, gibt es keinen Dissens. Gerade bei diesem gemessenes Totengedenken bemühen. Erinnern meint Thema ist das auch gut so. Auch ich musste beim Lesen nicht nur die Passiva deutscher Geschichte. Gerade an des Antrages an den von Ihnen erwähnten Gruppen- einem Tag wie heute muss festgehalten werden: Es gibt antrag denken, den wir vor einer Woche beschlossen ha- auch Aktiva in der Geschichte der deutschen Nation. Die ben. Der Teil, in dem es darum geht, die Mauer sichtbar

Seite 15681, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Ereignisse von 1989/90 sind allemal dazu angetan, den zu machen und der auch in dem Gruppenantrag 15682 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Eckhardt Barthel (Berlin) (A) vorkommt, gehört eigentlich mit dazu. Es gibt also Ob das eine Woche früher oder später erfolgt, ist doch (C) durchaus Parallelen. Dahinter steckt die Überlegung: Wo nicht das Thema. Es ist auf jeden Fall gesichert, dass das sieht man in Berlin noch die Mauer? Dabei geht es nicht zugänglich gemacht wird. nur um den Ort, sondern auch um die Form. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Nein, es ist nicht Zu dem, was man im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus gesichert! Das schaffen wir nicht! – Gegenruf sieht, kann ich nur sagen: Es gibt keine eindrucksvollere des Abg. Horst Kubatschka [SPD]: Natürlich!) Form als die, die dort gewählt wurde. Vielleicht gibt es noch andere Formen der Darstellung. Aber ich jedenfalls Das ist das Entscheidende. bin von dieser Form tief beeindruckt. Mich berührt nicht Der zweite Punkt betrifft die Auflistung der Todes- nur, dass die Mauer authentisch ist, sondern durch die opfer. Ben Wargin, die Birthler-Behörde und unser Wis- Bearbeitung von Ben Wagin wird auch späteren Genera- senschaftlicher Dienst haben dazu schon eine Liste erar- tionen klar gemacht, was sie einmal bedeutet hat. Es war beitet. Ich finde es richtig, dass man sie in irgendeiner schließlich nicht nur eine einfache Mauer. Form – zu denken wäre zum Beispiel an eine kleine Für mich kommt noch eine unheimliche Symbolkraft Vita – sichtbar macht. Darüber gibt es auch Einverständ- hinzu. Diese Mauer befindet sich als Symbol der Unfrei- nis. heit im Keller. Eine Etage höher, direkt darüber, ist die Beim dritten Punkt, Herr Nooke, habe ich Probleme. Bibliothek. Eine Bibliothek ist Ausdruck von Freiheit, Es muss in der Tat eine Abstimmung mit dem Gesamt- auch Freiheit der Gedanken. In dieser Kombination konzept in Berlin geben. Ich würde aber – Sie haben finde ich die Position der Mauer besonders wichtig und von unserer Verantwortung, der des Bundestages, ge- bedeutsam. sprochen – die Gestaltung und diesen Raum gern in der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verantwortung des Bundestages und des Kunstbei- der CDU/CSU und der FDP) rats belassen. Das ist Teil eines Parlamentsgebäudes. Ganz im Gegensatz zu dem, was am Checkpoint Charlie Dafür sollten wir verantwortlich sein. Das ändert an der mit dieser „Disneyland-Mauer“ entstand – einige werden Sache nichts. Wenn etwas dargestellt wird, dann muss sich vielleicht darüber ärgern –, wird hier gezeigt, wie das mit einbezogen werden. Das sehe ich auch. Wir soll- unterschiedlich man mit der Erinnerung an die Mauer ten die Verantwortung aber nicht auf die Bundesregie- umgehen kann. rung oder den Berliner Senat delegieren. Das ist unsere Sache! (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben hier einen Antrag, dem nicht nur alle zu- (B) Wir sind uns darin einig: Dieses Stück Mauer an diesem (D) Ort hat im Zusammenhang mit dem Parlamentsgebäude stimmen, sondern von dem wir auch wissen, dass er eine sehr große Bedeutung. durch das bisherige Handeln Gott sei Dank so gut wie erledigt ist. Darüber sollten wir uns freuen. Wenn wir ihn Es ist auch gut, dass man wieder daran erinnert wird, das nächste Mal behandeln, werden wir die positiven wo die Mauer verlief. Wie ich sehe, sitzen hier einige Entwicklungen schon sehen. Vielleicht braucht man Berliner. Ich bin fünf Jahre vor dem Mauerbau nach Ber- dann gar nicht mehr darüber zu reden. lin gezogen und lebe seitdem mit einigen Unterbrechun- gen hier. Manchmal werde ich ein bisschen blass, wenn Ich bedanke mich. mich jemand fragt: Wo genau war eigentlich die Mauer? (Beifall bei der SPD) Ich gestehe, dass ich nicht mehr sagen kann, wo genau die Mauer überall stand. Das ist schon schwierig. Dies müsste meines Erachtens sichtbar gemacht werden. Ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bin übrigens nicht der einzige Berliner, dem es so geht. Die Reden der Kollegen Hans-Joachim Otto, FDP, Vielleicht finden Sie jemanden, der den Mauerverlauf und Ursula Sowa, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll.1) oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 ohne Karte zeigen kann, aber das glaube ich nicht. Inso- fern geht es auch um das Sichtbarmachen. Jetzt hat der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von Zum Antrag: der CDU/CSU-Fraktion das Wort. 14.30-14.40.doc Herr Nooke, das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist – Gott sei Dank – zumindest auf dem besten Weg, erle- Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): digt zu werden, wenn es nicht gar schon ganz erledigt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ist. Der erste Punkt war, den Zugang sicherzustellen. Im Herren! Herr Barthel, ich finde es gut, wie Sie eben ge- Mai wird der Zugang eröffnet. Ich habe mich beim sprochen haben. Man kann im Einzelnen immer andere Kunstbeirat erkundigt. Nach dessen Auskunft soll der Akzente setzen, aber ich finde, Sie haben Herrn Nooke Zugang im Mai eröffnet werden. Ich bin froh darüber. weitestgehend Recht gegeben und sind ihm weitestge- hend entgegengekommen. Wenn es eine Übereinstim- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist aber nicht mung gibt, dass wir das Denkmal erstens zugänglich ma- gesichert!) chen und zweitens mit weiteren Informationen versehen Jetzt wollen wir nicht kleinkariert sein. wollen, dann ist das ungemein wichtig. (Horst Kubatschka [SPD]: Wenn wir das be- 1)

Seite 15682, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr schließen, dann stehen wir dazu!) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15683

Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (A) Nun kann man darüber streiten, ob der Bundestag, der mündet, die ich für falsch halten würde. Denn letztlich (C) für ein Gesamtdenkmalkonzept letztlich verantwort- haben wir alle als Demokraten dazu beigetragen, Dikta- lich ist – auch beim Mauergedenken –, auch in seinem turen in Deutschland zu überwinden. Dessen sollten wir Antrag ein Gesamtdenkmalkonzept einfordert oder uns erinnern und dieses Erinnerungsvermögen sollten nicht. Natürlich kann man sagen, dass dieses Denkmal wir auch gemeinsam hochhalten. unter einer besonderen Obhut des Bundestages steht. Darauf können wir uns gerne einigen. Ich finde aber Ich halte einen Tag wie den 18. März, an dem die ers- schon, dass es wichtig ist – das haben Sie, Herr Barthel, ten demokratischen Wahlen in der DDR stattgefunden in Ihrer Rede auch zum Ausdruck gebracht –, dass wir haben – die auch die letzten waren, denn danach kam es endlich zu einem anderen Mauergedenken in Berlin zur Wiedervereinigung –, für einen positiven Anlass, um kommen. der Mauer zu gedenken. Ich hoffe, dass wir uns hier auch in Zukunft bei Gedenkkonzepten in derselben Gemein- In meinem Landkreis – ich komme aus Helmstedt in samkeit einlassen, wie es bisher der Fall gewesen ist. Niedersachsen – ist in Hötensleben ein Stück der Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Grenze erhalten worden. Ich finde, dass dieser Ort unge- mein authentisch das Grenzregime der DDR wiedergibt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und dass man das Gespenstische und Totalitäre der Grenze dort im Besonderen erfährt. Man erfährt auch, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass die Bevölkerung der DDR einen ungeheuren Bei- Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Krüger- trag geleistet hat, um diese Grenze zu überwinden. Das Leißner von der SPD-Fraktion. muss man auch einmal sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Angelika Krüger-Leißner (SPD): der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜND- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und NIS 90/DIE GRÜNEN]) Kollegen! Ich habe mich über den Antrag gewundert. Denn an dem Mauergedenken und dem Gedenken an Als Mitglied des Kunstbeirats kann ich Ihnen mitteilen, die Grenze kann man deutlich machen, dass Geschichte dass die CDU/CSU mit ihrem Antrag grundsätzlich of- in Mitteleuropa zumindest im zweiten Teil des letzten fene Türen einrennt. Ich denke, das ist Ihnen auch be- Jahrhunderts geglückt ist. Darauf können wir Mitteleu- wusst. Denn zwei Mitunterzeichner des Antrags sind ropäer stolz sein. Deshalb finde ich es gut, dass wir uns Mitglieder des Kunstbeirats und kennen den Sachverhalt gemeinsam aufraffen, der Mauer und der Grenze zu ge- genau. Sie wissen auch, was wir dort beraten und be- denken. schlossen haben. (B) Dafür ist es wichtig, dass die Mauer mit authentischen Ich stimme Ihnen zu, dass es im Kunstbeirat unstrit- (D) Mauerstücken wieder hergestellt wird. Man ist mit dem tig war, diesen wichtigen authentischen Ort – das Mahn- Abriss leider zu weit gegangen. Ich will das nicht kriti- mal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus – öffentlich zu- sieren – es war in der Euphorie 1990 nicht anders gänglich zu machen. Das haben wir dort beschlossen. möglich –, aber ich glaube, dass man es übertrieben hat Der Kunstbeirat trägt auch die Verantwortung für diese und dass die Erinnerung an die Mauer jetzt wieder not- Installationen und er hat von Anfang an dafür plädiert, wendig ist. Es geht um die Erinnerung an das Grenzre- dass der Raum öffentlich zugänglich gemacht wird. gime der DDR, damit nicht geleugnet werden kann, was Mein Kollege Eckhardt Barthel hat völlig Recht: Das dort für ein gespenstisches Regime existiert hat. Wer im ist bereits beschlossen. An der Umsetzung dieses Be- Schatten dieser Grenze gelebt hat, der weiß, wovon ich schlusses wird bereits intensiv gearbeitet und ab Mai spreche. Wer – wie Sie, Herr Kollege Barthel – fünf wird dieser Raum öffentlich zugänglich sein. Daran gibt Jahre vor dem Fall der Mauer nach Berlin gezogen ist, es keinen Zweifel; dafür ist auch kein Antrag notwendig. weiß ebenfalls, wovon die Rede ist. Ihre zweite Forderung – die wissenschaftliche Erar- Insofern halte ich es für richtig, dass mit unserem An- beitung eines Totenbuches – ist aus meiner Sicht eine oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 trag darauf hingewiesen wird, dass im Bundestag noch gute Idee. Wenn sich der Kunstbeirat damit beschäftigt, ein Stück Mauer vorhanden ist und dass sich der Bun- wird er dieser Forderung sicherlich zustimmen. Die Zah- destag diesem Stück Mauer auf besondere Weise zu wid- len der Toten sind bereits vom Wissenschaftlichen men hat. Seit die Uferpromenade an der Spree zugäng- Dienst in Zusammenarbeit mit der Birthler-Behörde er- lich ist, ist die Möglichkeit dafür gegeben. fasst und von Ben Wargin auf den Mauerstücken aufge- tragen worden. Wenn tatsächlich ein Zugang geschaffen werden sollte – das soll durch die Kunstkommission abgesichert Ein zusätzliches Gedenkbuch – auch das haben Sie worden sein; Herr Nooke bestreitet das zwar zum Teil; angedacht – in Anlehnung an die Gedenkbücher in der ich weiß nicht, ob das stimmt – und wir heute den An- Lobby des Deutschen Bundestages kann ebenfalls erar- trag beschließen würden, dann haben wir, glaube ich, ge- beitet werden. Ich halte auch diese Idee für gut und bin nug Kraft, um dieses Vorhaben zu verwirklichen und mir sicher, dass der Kunstbeirat diese Anregung aufgrei- letztlich den Zugang zu dem Grenzdenkmal zu schaffen. fen wird. Ich halte es jedenfalls für positiv, wie wir uns heute in Auch die anderen Vorschläge wie Fototafeln und In- dieser Diskussion eingelassen haben. Es zeigt doch, dass formationsbroschüren sind vernünftig und sollten vom hier sachgerecht diskutiert werden kann, ohne dass die Kunstbeirat bedacht und in seine Konzeption mit aufge-

Seite 15683, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Diskussion in eine parteipolitische Auseinandersetzung nommen werden. 15684 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Angelika Krüger-Leißner (A) Die von Ihnen angesprochene Integration in das nehmensintegrität und Modernisierung des (C) Gedenkstättenkonzept Berlins und des Bundes sollte Anfechtungsrechts (UMAG) aus meiner Sicht in Form einer konsultativen Abstim- mung erfolgen. So weit bin ich mit Ihnen völlig einer – Drucksache 15/5092 – Meinung. Ihr Antrag geht also durchaus in die richtige Überweisungsvorschlag: Richtung und nimmt Aspekte auf, die der Kunstbeirat Rechtsausschuss (f) angesprochen hat. Aber, Herr Nooke, im Endeffekt brau- Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit chen wir Ihren Antrag gar nicht; denn er gibt nur das wieder, was wir längst besprochen haben. b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Dann können wir rung von Kapitalanleger-Musterverfahren sofort abstimmen!) – Drucksache 15/5091 – Es gibt in Ihrem Antrag aber zwei Punkte, die ich sehr missverständlich finde und zu denen ich ein ganz klares Überweisungsvorschlag: Wort sagen möchte. Erstens. Sie fordern ein Konzept für Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss die weitere Gestaltung des Raumes. Wir waren uns Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit aber bislang im Kunstbeirat einig, dass wir die grund- sätzliche Kargheit des Raumes erhalten wollen. Ich Die Reden hierzu sollen zu Protokoll genommen wer- finde, das ist noch immer Konsens. Die anderen konkre- den.1) Es handelt sich um die Reden der Kollegen Olaf ten Vorschläge werden wir aufgreifen und beraten. Scholz, SPD, Friedrich Merz, CDU/CSU, Rainer Funke, FDP, der Kollegin Jutta Krüger-Jacob, Bündnis 90/Die Zweitens. Sie fordern die Einbindung in das Gedenk- Grünen, sowie des Parlamentarischen Staatssekretärs stättenkonzept Berlins und des Bundes. In diesem Punkt Alfred Hartenbach. stimme ich Ihnen nur zu, wenn das im Rahmen einer konsultativen Abstimmung erfolgt. Aber es ist ganz klar, Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- dass es sich hier um ein Mahnmal des Deutschen würfe auf Drucksachen 15/5092 und 15/5091 an die in Bundestages handelt. Es sollte als solches auch im Ver- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- antwortungsbereich des Bundestages bleiben und nicht gen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der dem Einfluss der Bundesregierung oder der Landesre- Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. gierung Berlins unterliegen; eine solche Form der Ein- bindung lehne ich strikt ab. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatz- punkt 9 auf: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) 22 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst (D) Der Kunstbeirat hat verantwortlich gearbeitet und Friedrich (Bayreuth), Ernst Burgbacher, Birgit bindet alle Fraktionen ein. Ich sehe daher gar keinen Homburger, weiterer Abgeordneter und der Frak- Grund, ihn aus der Verantwortung zu entlassen. Das tion der FDP sollte so bleiben. Ihre zum Teil richtigen Vorschläge werden wir aufgreifen. Ich bitte Sie, Ihre zwei Vertreter Wettbewerbsnachteile und bürokratische Re- im Kunstbeirat zu beauftragen, diese Vorschläge in die striktionen für Omnibusverkehre beseitigen Beratungen des Kunstbeirates einzubringen. – Drucksache 15/4945 – Unter dem Strich: Eigentlich war Ihr Antrag nicht Überweisungsvorschlag: notwendig. Aber er passt natürlich zur Diskussion des Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) heutigen Tages. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus Danke. ZP 9 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Per- DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: sonenbeförderungsgesetzes Um Konsens festzustellen, ist dieses Haus manchmal ganz gut!) – Drucksache 15/3424 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf das so beschlossen. Es werden aber nur zwei Redner Drucksache 15/4719 an die in der Tagesordnung aufge- sprechen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen so beschlossen. Horst Friedrich von der FDP das Wort. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: (Beifall bei der FDP) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 1)

Seite 15684, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Unter- Anlage 5 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15685

(A) Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): bis 2015 im Vergleich zu 2000 um rund 20 Prozent sin- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ken wird. Damit bricht eine wesentliche Säule der Dieses Haus hat sich am gestrigen Donnerstag zu Recht Finanzierung des Busverkehrs im ländlichen Raum mit der Situation auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland weg. Die Altersstruktur im ländlichen Raum wandelt beschäftigt. Bei 5,2 Millionen Arbeitslosen ist das völlig sich. Die damit einhergehenden Risiken müssen durch in Ordnung. Welches Ergebnis der große Berg hervor- die Neuverteilung von Regionalisierungsmitteln recht- bringt, werden wir sehen. zeitig abgesichert werden. Es ist aus meiner Sicht auch völlig in Ordnung, dass (Beifall bei der FDP) heute über eine Branche diskutiert wird, die direkt und indirekt immerhin 750 000 Menschen in Deutschland Ich will Ihnen einmal deutlich machen, was derzeit in ihre Arbeitsplätze sichert, davon alleine rund 70 000 in § 48 des Personenbeförderungsgesetzes – Ausflugsfahr- 14.45-14.55.doc fast 6 000 privaten Unternehmen. Für die deutsche Auto- ten und Ferienzielreisen – steht: mobilindustrie ist der Omnibusmarkt mit rund 10 000 jährlich produzierten Omnibussen ein bedeuten- (2) Ferienziel-Reisen sind Reisen zu Erholungsauf- des Produktionssegment, das die internationale Füh- enthalten, die der Unternehmer mit Kraftomnibus- rungsposition der deutschen Omnibushersteller mit rund sen oder Personenkraftwagen nach einem bestimm- 15 000 Beschäftigten sichert. ten, von ihm aufgestellten Plan für ein Gesamtentgelt für Beförderung und Unterkunft mit Wir halten es nicht für so glänzend, dass diese De- oder ohne Verpflegung anbietet und ausführt. Es batte heute Nachmittag zu dieser Zeit stattfindet. Aber dürfen nur Rückfahrscheine angeboten werden und dafür kann die Opposition nichts. Das legt die Mehrheit diese nur auf den Namen des Reisenden ausgege- des Hauses fest. ben werden. Die Fahrgäste sind zu einem für alle Teilnehmer gleichen Reiseziel zu bringen und an Ungeachtet dessen macht es Sinn, sich über unseren den Ausgangspunkt der Reise zurückzubefördern. Antrag Gedanken zu machen. Er fokussiert sich auf vier Auf der Rückfahrt dürfen nur Reisende befördert Schwerpunkte: werden, die der Unternehmer zum Reiseziel ge- Erstens: der Abbau von unnötigen bürokratischen bracht hat. … Vorschriften im Personenbeförderungsgesetz. Diese Vorschriften machten damals, als dieses Gesetz erlassen Das muss man sich nun wirklich auf der Zunge zergehen wurde, zwar durchaus Sinn, sind aber in der heutigen lassen. Wir leben in einer Zeit, in der fast jeder für Zeit völlig überholt. Wenn ich mich recht erinnere, ist 19,99 Euro, 29,99 Euro oder 39,99 Euro mit dem Flieger (B) Bürokratieabbau ein Ziel jeder Fraktion. in fast alle Teile der Welt fliegen kann, ohne die Sicher- (D) heit zu besitzen, mit dem gleichen Flugunternehmen zu- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Vera rückfliegen zu können, am Reiseziel eine Unterkunft zu Lengsfeld [CDU/CSU]) finden und Ähnliches. Nur der Busunternehmer muss den Rücktransport nach wie vor gewährleisten. Was sind Zweitens. Es wird höchste Zeit, Wettbewerbsverzer- solche Vorschriften des Gesetzgebers im 21. Jahrhundert rungen auf europäischer Ebene – das Ganze nennt man für Fesseln für einen Unternehmer?! „Harmonisierungsdefizite“ – und Verzerrungen des Wettbewerbs der Verkehrsträger zu beseitigen. Das gilt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten insbesondere für den Omnibuslinienfernverkehr. Ich der CDU/CSU) komme darauf noch im Detail zu sprechen. Das Europarecht sorgt momentan dafür – das ist eine (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) besondere Perversion –, dass es im Gelegenheitsverkehr Drittens. Es gilt, sich Gedanken zu machen über die kein Kabotageverbot mehr gibt. Das bedeutet, dass ein Qualität der Berufsausbildung derjenigen, die in Zu- ausländischer Busunternehmer das Recht hat, in oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 kunft am Lenkrad sitzen. Personenbeförderung ist eine Deutschland Gelegenheitsverkehr zu betreiben. Ein wichtige Aufgabe. Das Berufsausbildungsprofil ist aus Deutscher darf das nicht. Vor diesem Hintergrund sollte unserer Sicht nicht hinlänglich geklärt. Es besteht insbe- allen klar sein, dass es Zeit ist, sich mit diesem Thema sondere eine große Differenz zwischen dem Erwerb des auseinander zu setzen. Unser Antrag ist dafür eine gute Führerscheins, dem Lebensalter, ab dem man einen Bus- Grundlage. Es ist wie immer: Die Opposition und der führerschein erwerben kann, und den jetzigen Vorschrif- Bundesrat legen Vorschläge vor; doch die Mehrheit ten für Berufskraftfahrer. bleibt eine Antwort bisher schuldig. (Beifall bei der FDP) Herzlichen Dank. Viertens. Die Grundlage der Finanzierung des Linien- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) busverkehrs vor allen Dingen in der Fläche – derzeit wird dieser Verkehr durch § 45 a Personenbeförderungs- gesetz, also durch den so genannten Schülerausgleich, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: weitgehend abgesichert – muss langfristig sichergestellt Die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika werden; denn es ist zu erwarten – das kann man pro- Mertens und die Abgeordneten Albert Schmidt (Ingol-

Seite 15685, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr blemlos prognostizieren –, dass die Zahl der Schüler stadt) und Heinz Paula haben gebeten, ihre Reden zu 15686 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Protokoll geben zu dürfen1). Sind Sie einverstanden? – darüber hinaus weiß, dass ungefähr 750 000 Arbeits- (C) Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. plätze mittelbar oder unmittelbar von diesem Gewerbe abhängen, dann sieht man ein, dass dieses Gewerbe für Letzter Redner in dieser Debatte ist der Abgeordnete uns von großer Bedeutung ist. Klaus Hofbauer. (Volkmar Uwe Vogel [CDU/CSU]: Und ökolo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gisch ist es obendrein!)

Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Die CDU/CSU-Fraktion hat ja bereits vor vier oder Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und fünf Jahren dieses Thema aufgegriffen und hat damals Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Omni- eine entsprechende Initiative im Deutschen Bundestag busgewerbe ist eine sehr starke Säule des Wirtschafts- gestartet. Wenn man das Protokoll nachliest, wird man standorts Deutschland. finden, dass die Regierungskoalition schon damals ge- sagt hat: Es ist alles in Ordnung; es ist alles paletti. Wir ( [SPD]: Sie reden gerade das müssen nichts tun; es läuft sowieso. – Die vier oder fünf Parlament leer!) Jahre, die seitdem vergangen sind, haben gezeigt, dass dem nicht so ist. Wenn man damals diese Initiativen der – Diesen Vorwurf können Sie mir machen. Aber Ihnen Union aufgegriffen hätte, dann hätte das Gewerbe heute würde es genauso gehen. nicht jene Probleme, die wir leider Gottes beklagen müs- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Uwe sen. Beckmeyer [SPD]: Darum rede ich ja auch (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) jetzt nicht!) Es ist ferner Tatsache – deswegen ist der Antrag der – Aufgrund der Tatsache, dass die Zeit schon fortge- FDP notwendig und wichtig –, dass viele kleine Schritte schritten ist, werde ich mich auf einige wenige Ausfüh- getan werden müssen, um insbesondere die Wettbe- rungen beschränken. werbsfähigkeit des Gewerbes auszubauen und zu stär- (Beifall bei der SPD) ken. Es gibt natürlich auch andere Probleme, die ange- sprochen werden müssen. Es geht zum Beispiel ja auch Herr verkehrspolitischer Sprecher der SPD, ich wollte um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Wir brau- eigentlich Folgendes sagen: Wir müssen die politischen chen eine bessere Verkehrsinfrastruktur, auch deshalb, Rahmenbedingungen für das Omnibusgewerbe deutlich weil wir mit ihr dem Gewerbe helfen können. Ebenfalls verbessern bzw. Bürokratie abbauen, weil wir ansonsten muss eine gewisse Benachteiligung dieses Gewerbes ge- diesen sehr wichtigen Zweig des Wirtschaftsstandorts (B) genüber anderen Verkehrsträgern angesprochen werden. (D) Deutschland kaputtmachen würden. Ich glaube, in die- Es bedarf einer Gleichbehandlung der Verkehrsträger, sem Zusammenhang sind erhebliche Anstrengungen not- damit das Omnibusgewerbe eine Chance hat. wendig. Erlauben Sie mir noch, die EU-Osterweiterung an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zusprechen. Wir, sprich: die Bundesregierung, haben das Ich möchte klar und deutlich sagen: Der Antrag der Thema des Omnibusgewerbes bei den Beitrittsverhand- FDP ist eine hervorragende Grundlage dafür, in diese lungen nicht mit dem notwendigen Nachdruck angespro- Diskussion einzusteigen und bestimmte Dinge aufzu- chen. Es sind erhebliche Probleme offen geblieben bzw. greifen. nicht gelöst worden, die die Wettbewerbsfähigkeit des Gewerbes beeinträchtigen. (Beifall bei der FDP) Im Hinblick auf die von mir genannten Gesichts- Ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir die in dem An- punkte unterstützen wir den Antrag der FDP-Fraktion. trag enthaltenen Punkte umsetzen würden, dann würden Wir werden uns in den weiteren Beratungen sehr inten- wir dem Omnibusgewerbe in der Bundesrepublik siv mit ihm auseinander setzen. Ich persönlich bin der oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Deutschland einen großen Dienst erweisen, wir würden Meinung: Wir sollten viele der in ihm enthaltenen es wettbewerbsfähiger machen und ihm eine Chance für Punkte in der Tat umsetzen, weil wir dadurch diesem die Zukunft geben. Denn eines muss uns bewusst sein: wichtigen Wirtschaftszweig eine Zukunft geben können. dass das Omnibusgewerbe ein entscheidender Träger Er hat eine Zukunft. Unsere Unternehmer ergreifen auch des öffentlichen Nahverkehrs ist und insbesondere im die Chancen, aber sie müssen gleichwertige Bedingun- ländlichen Raum eine bedeutende Rolle spielt. gen vorfinden. Deswegen ist dies eine hervorragende (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Initiative. Volkmar Uwe Vogel [CDU/CSU]: Das ist ganz Herzlichen Dank. wichtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das Omnibusgewerbe ist vorwiegend mittelständisch or- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Etwas ganisiert. Wenn wir den Mittelstand unterstützen wol- übertrieben!) len, dann müssen wir auch in diesem Bereich die ent- sprechenden Voraussetzungen schaffen. Wenn man Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Danke schön, auch für die Kürze der Rede. Ich 1)

Seite 15686, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Anlage 6 schließe damit die Aussprache. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15687

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf internationalen Flugverkehre von gesamtdeutschem (C) Drucksache 15/4945 an die in der Tagesordnung aufge- Interesse ist. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/3424 soll an den Ausschuss für Ver- Das Plenum des Deutschen Bundestages muss ein Fo- kehr, Bau- und Wohnungswesen überwiesen werden. rum der Diskussion darüber bleiben, welche Aufgaben Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann die alte und neue Hauptstadt für unser Land wahrneh- sind die Überweisungen so beschlossen. men kann und welche Unterstützung sie dafür braucht. Das Luftverkehrskonzept für die Hauptstadt und den Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: Großraum Berlin ist nicht nur ein Thema für die Länder Berlin und Brandenburg, sondern auch für den Bund und a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk die anderen Bundesländer. Darüber hinaus ist der Bund Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Dr. Klaus als Mitgesellschafter der Berliner Flughafengesellschaft W. Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter und als wesentlicher Miteigentümer der Immobilie Flug- und der Fraktion der CDU/CSU hafen Tempelhof – immerhin zwei Drittel des Flugha- Flughafenanbindung nach Schönefeld fristge- fengeländes befinden sich in Bundesbesitz – auch Betei- recht fertig stellen – Planfeststellung der ligter. Dresdner Bahn voranbringen Die kurzfristige Schließung Tempelhofs, die vom – Drucksache 15/4839 – Berliner Senat betrieben wurde, wäre – jedenfalls vor Überweisungsvorschlag: rechtskräftiger Planfeststellung und gesicherter Finan- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) zierung für BBI in Schönefeld – verantwortungslos und Rechtsausschuss würde die Ausschöpfung der Wachstumspotenziale im Ausschuss für Tourismus Luftverkehr in der gesamten Hauptstadtregion ernsthaft b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gefährden. Insbesondere nach den neuesten Entwicklun- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und gen rund um den Bau des internationalen Flughafens in Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag Schönefeld erscheint die Schließung Tempelhofs vor der der Abgeordneten Peter Rzepka, Roland Gewalt, Fertigstellung von BBI in Schönefeld nicht vertretbar. Verena Butalikakis, Siegfried Helias, Günter Der Luftverkehr muss auch während der Übergangszeit Nooke und weiterer Abgeordneter bis zur Fertigstellung des Flughafens in Schönefeld ge- fördert werden. Dazu müssen ausreichende Flughafen- Flugverkehrskonzept für den Großraum Ber- kapazitäten bereitgestellt werden. Diese Einsicht teilen lin überprüfen – Flughafen Berlin-Tempelhof wir im Übrigen mit Gewerkschaften und Wirtschaftsver- (B) offen halten bänden, die sich angesichts von Pleiten, Pech und Pan- (D) nen bei der Flughafenplanung in der Region ernsthaft – Drucksachen 15/3727, 15/4508 – Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung und die da- Berichterstattung: mit verbundenen Arbeitsplätze in der Region machen. Abgeordneter Siegfried Scheffler Den Flugkapazitäten der Mutter aller modernen Flug- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die häfen, wie Lord Norman Foster Tempelhof nennt, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, die wir aber kommt in der Übergangszeit eine wichtige Rolle zu. wohl nicht brauchen werden. – Ich sehe dazu von Ihrer Würde Tempelhof geschlossen, fielen zwei Start- und Seite keinen Widerspruch. Landebahnen weg. Im Zuge der Baumaßnahmen in Schönefeld wird auch dort eine Bahn geschlossen. Da- Sind Sie damit einverstanden, dass die Kollegen mit würde Berlin auf drei von derzeit sechs Start- und Siegfried Scheffler und Franziska Eichstädt-Bohlig ihre Landebahnen verzichten. Experten gehen davon aus, Reden zu Protokoll geben?1) – Damit sind Sie sehr ein- dass dadurch die Entwicklungspotenziale des Flugver- verstanden. Es gibt dafür aber auch noch andere zwin- kehrs im Großraum Berlin nicht ausgeschöpft werden oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 gende Gründe. können und schon im Jahre 2007 weitere Engpässe dro- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat jetzt der hen. Denn der Passagierboom an den Berliner Flughäfen 15.00-15.10.doc Abgeordnete Peter Rzepka. hält an. Im Januar dieses Jahres gab es rund 1 Million Passagiere an allen drei Flughäfen; das sind 20 Prozent (Beifall bei der CDU/CSU) mehr als im Januar 2004. Hinzu kommt, dass das Datum der Inbetriebnahme Peter Rzepka (CDU/CSU): von BBI auch infolge der rechtswidrigen Entscheidun- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und gen des Berliner Senats und der Landesplanung in Bran- Herren! Wir beraten heute hier im Deutschen Bundestag denburg zunehmend ungewiss wird. abschließend den Gruppenantrag zur Offenhaltung des Flughafens Tempelhof und erstmals den Unionsantrag (Markus Löning [FDP]: Skandalös ist das, was zur Dresdner Bahn. Beide Themen gehören meines Er- die da machen!) achtens auf die Tagesordnung, das erste deshalb, weil die Nachdem das Oberverwaltungsgericht Berlin im vorigen Anbindung der Hauptstadt an die nationalen und Jahr die zum 31. Oktober 2004 geplante Stilllegung des Flughafens Tempelhof für offensichtlich rechts- 1)

Seite 15687, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Anlage 7 widrig erklärt hat, ist nun durch die Entscheidung des 15688 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Peter Rzepka (A) Oberverwaltungsgerichts Frankfurt/Oder auch noch die schaften, den Flughafen Tempelhof in Eigenregie zu be- (C) landesplanerische Grundlage für den Flughafenaus- treiben, ebenso gründlich zu prüfen wie die Möglichkeit, bau von BBI in Schönefeld infrage gestellt. Der Plan- Teile einer privatisierten Flugbereitschaft des Bundes feststellungsbeschluss und damit das Baurecht für BBI zum regierungsnahen Standort Tempelhof zu verlagern. sind nun sehr stark gefährdet, jedenfalls nach Auffas- sung von Verfassungsrechtlern. Ein erneutes Landesent- (Markus Löning [FDP]: Jawohl!) wicklungsplanverfahren und ein Ergänzungsverfahren Orientieren kann sich die Bundesregierung dabei am Be- zur Planfeststellung für BBI erscheinen notwendig. Der amtenshuttle. Den wird die DBA ab Mai vom Flughafen ohnehin stark gefährdete Zeitplan für den BBI-Bau Tegel nach Tempelhof verlagern. kommt damit weiter unter Druck. Schließlich klagen 3 700 Flughafengegner gegen den Planfeststellungsbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schluss vor dem Bundesverwaltungsgericht – Ausgang Markus Löning [FDP]: Sehr vernünftig! – ungewiss. Siegfried Scheffler [SPD]: Aber nur bis zur neuen Ausschreibung im Oktober!) Ungeklärt ist schließlich die Finanzierung des Groß- flughafens in Schönefeld, insbesondere was die Anteile – Die Bundesregierung hat selbst angekündigt, auch bei der Berliner Flughafen-Gesellschaft sowie die Anteile der zukünftigen Ausschreibung Tempelhof einzubezie- der Gesellschafter Bund, Berlin und Brandenburg an hen, Herr Kollege. – Die „Berliner Morgenpost“ vom dem nach jetzigen Schätzungen 2,5 Milliarden Euro teu- 11. März titelt dazu: „Der Bundestag fliegt wieder auf ren Projekt zuzüglich der circa 5 Millionen Euro für die Tempelhof“. Die Botschaft ist klar: Der Markt entschei- BBI-Schienenanbindung angeht. det nicht gegen Tempelhof, sondern für den Standort in unmittelbarer Nähe zum Regierungsviertel, nur wenige Vor dem Bau von BBI in Schönefeld stehen alles zu- U-Bahn-Stationen entfernt. sammengenommen immer mehr Hürden. Es ist daher höchste Zeit, sich den Problemen zu stellen und Tempel- Schließlich fordern wir die Bundesregierung auf, zu hof als wichtigen Bestandteil eines tragfähigen Flugver- prüfen, ob die Immobilie ein geeigneter Standort für die kehrskonzepts im Interesse der wirtschaftlichen Ent- zentralisierte Unterbringung von Bundesbehörden wäre. wicklung Berlins anzuerkennen. Auf der Grundlage der Ergebnisse unserer Prüfauf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) träge könnten tragfähige Entscheidungen vorbereitet werden. Ich bin sicher, dass die Prüfungen ergeben wer- Die zur Begründung der vorzeitigen Stilllegung Tem- den, dass Tempelhof eine sinnvolle Ergänzung auch zu pelhofs geltend gemachten Verluste in Höhe von etwa einem zukünftigen Flughafen BBI in Schönefeld sein 16 Millionen Euro im Jahr sind nie belegt worden. (B) könnte. (D) (Dr. [SPD]: Richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bis heute werden die Zahlen unter Verschluss gehalten. Tempelhof bliebe erhalten, auch als Symbol der deut- Nach meinen Recherchen resultieren die Verluste nicht schen Luftfahrtgeschichte, der Überwindung der Blo- aus dem Flugbetrieb, sondern vor allem aus dem Gebäu- ckade Berlins und der Entwicklung der Freundschaft zu deleerstand. Seit Jahren wird eine stärkere Vermietung den westlichen Alliierten. der Immobilie durch nicht marktgerechte Miet- und Pachtforderungen verhindert, um mit dem Argument Ungeachtet unseres Einsatzes für den Erhalt des Flug- von betriebswirtschaftlichen Verlusten eine Schließung hafens Tempelhof steht die Unionsfraktion zum Projekt des Areals zu betreiben. BBI in Schönefeld. Damit BBI als Wachstumsmotor für die Region zum Erfolg wird, müssen aber endlich die (Markus Löning [FDP]: Ein Skandal, was der richtigen Weichen gestellt werden. Dazu gehört, BBI Senat da macht!) eine attraktive Verkehrsanbindung zu sichern. Damit Dabei ist ganz offensichtlich nicht geklärt, was mit die Flughafenanbindung nach Schönefeld fristgerecht oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 der denkmalgeschützten Flughafenanlage nach der fertig gestellt werden kann, ist es unbedingt notwendig, Schließung geschehen sollte. Der Steuerzahler würde das Planfeststellungsverfahren für den Ausbau der noch über Jahre hinweg mit den Verlusten der Immobilie Dresdner Bahn zügig wieder aufzunehmen und abzu- Tempelhof belastet, es sei denn, der Bund, der Berliner schließen. Senat und die Berliner Flughafen-Gesellschaft kommen Es ist nicht nachzuvollziehen, warum die Deutsche endlich zur Vernunft und machen den Weg für eine zu- Bahn AG in ihrer Mittelfristplanung die Pläne für die kunftsfähige Nutzung frei. Tragfähige Konzepte liegen neue Gleisanbindung des Flughafens zurückgestellt hat. dazu vor, Die Bundesregierung muss darauf achten, dass sich die (Dr. Peter Danckert [SPD]: Genau!) Anbindung des so bedeutenden Verkehrsprojekts BBI an das Schnellbahnnetz nicht weiter verzögert, und sie werden vom Senat aber nicht vorurteilsfrei geprüft. Bei- muss sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen, Fördergel- spielhaft zu nennen ist das Konzept, Tempelhof als der aus Brüssel zu beantragen und abzurufen. Check-in-Terminal für BBI und als innerstädtischen Flughafen für kleine Verkehrsmaschinen zu nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zudem fordern wir mit unserem Gruppenantrag die Die Dresdner Bahn ist einerseits für eine optimale

Seite 15688, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Bundesregierung auf, die Angebote von Fluggesell- Flughafenanbindung unverzichtbar. Sie soll andererseits Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15689

Peter Rzepka (A) die Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands mit wo immerhin über 50 000 Menschen wohnen, und damit (C) den Metropolen Wien, Prag und Budapest verbinden. eine Berücksichtigung der Argumente der Lichtenrader Die zögerliche und wechselhafte Haltung des Bundes- Bürgerinitiative, die sich konstruktiv in die Planung ein- verkehrsministeriums ist deshalb nicht akzeptabel. bringt, ist jedenfalls unabdingbar. (Markus Löning [FDP]: Allerdings!) (Siegfried Scheffler [SPD]: Bei Tempelhof denken Sie nicht an die, die davon betroffen Nachdem sich in den vergangenen sieben Jahren die sind!) Position des Bundesverkehrsministeriums zum Thema Dresdner Bahn öfter änderte, als die Bundesverkehrsmi- Ich bitte Sie um Zustimmung für beide hier vorgeleg- nister wechselten, fordern wir die Bundesregierung auf, ten Anträge. Ein klares Bekenntnis des Bundestages so- sich bei diesem Verkehrsprojekt endlich wieder zu enga- wohl zu Tempelhof als auch zu BBI und dessen Schie- gieren und Farbe zu bekennen. nenanbindung wäre ein wichtiges Bekenntnis zu unserer Hauptstadt Berlin und deren Zukunft. (Markus Löning [FDP]: Hat denn der Stolpe überhaupt eine Meinung?) Ich danke Ihnen. Geschieht dies nicht, bekämen wir in Schönefeld einen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neuen Bahnhof ohne die dazugehörige Schnellbahnan- bindung. Ein Schildbürgerstreich! Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU – Markus Löning Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hellmut [FDP]: Das wundert uns bei diesem Minister Königshaus. nicht! Er hat sich schon mehrere geleistet!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da- Die Bundesregierung und die Deutsche Bahn AG wä- durch wird es wahrscheinlich auch nicht bes- ren außerdem gut beraten, wenn sie Vorschläge für eine ser!) Tunnelvariante im Bereich Lichtenrade – auch hin- sichtlich ihrer Finanzierbarkeit – prüfen würden. Denn Hellmut Königshaus (FDP): es ist bisher nicht ausreichend belegt, dass diese Variante Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin zu erheblich höheren Kosten als die ebenerdige Version sehr froh, dass ich heute zu so später Stunde führen würde. Einerseits haben Kostenvergleiche mit an- deren Tunnelprojekten in Deutschland Anlass zu erheb- (Zuruf von der SPD: So spät ist es auch wieder lichen Zweifeln an der Seriosität der von der Bahn vor- nicht!) gegebenen Zahlen für das Bauverfahren im (B) nicht nur zu Kollegen der vereinigten Landesgruppen (D) Schildvortrieb gegeben. sprechen kann, sondern Gott sei Dank auch zu einigen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Man anderen Kollegen. Damit ich mich nicht allzu sehr ent- kann an allem zweifeln! – Gegenruf des Abg. wöhnen muss, ist auch der Kollege Tauss anwesend, den Markus Löning [FDP]: Vor allem kann man ich sehr herzlich begrüße. am Verkehrsminister zweifeln!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Für die Andererseits wurde die ebenerdige Bauform von der FDP-Seite galt das aber nicht!) Bahn extrem billiggerechnet, obwohl diese Bauform – Doch, auch Sie begrüße ich ganz besonders herzlich. teure Straßenunterführungen, Schallschutzwände, passi- ven Schallschutz für die Häuser und weitere kostenträch- Die Bundesregierung müsste bei den Stichworten tige Maßnahmen bedingt. „Tempelhof“ und „Dresdner Bahn“ vor Scham in den Boden versinken und Sie, meine liebe Kolleginnen und (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das Planfeststel- Kollegen von Rot-Grün, gleich mit. Der Flughafen Tem- lungsverfahren wird ergeben, was dabei he-

oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 pelhof sollte eigentlich schon längst in privater Hand rauskommt! Erzählen Sie doch nicht immer so sein. Es gibt Airlines, die für seinen Bestand kämpfen. viel Unsinn!) Es gibt Airlines, die den Flughafen übernehmen wollen, – Wir haben in Berlin die Erfahrung gemacht, dass die zum Beispiel die dba; Kollege Rzepka, der mehr Zeit Planfeststellungsverfahren zwar vorangetrieben werden, hatte, das auszuführen, hat schon darauf hingewiesen. dass sie aber letzten Endes vor den Gerichten keinen Be- Dazu, dass Sie solche Angebote ausschlagen, muss ich stand haben. Ich halte es für sinnvoll, schon im Pla- sagen: Wir sind zwar einiges gewohnt; aber so stümper- nungsverfahren richtig vorzugehen, damit die Planfest- haft ist Gott sei Dank nicht alles, was Sie machen. stellung rechtskräftig werden kann. Der Flughafen Tempelhof, ein innerstädtischer Flug- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie hafen, ist ein Pfund, mit dem man wuchern könnte und des Abg. Dr. Peter Danckert [SPD] – Wilhelm auch wuchern müsste. Metropolen, die eine bessere Ver- Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Verschonen Sie waltung haben als Berlin, bauen solche Cityflugplätze. uns doch damit!) Berlin wird schlecht verwaltet; Berlin will einen Flug- platz, den es schon hat, schließen. Das kann nicht richtig Eine Berücksichtigung der Anwohnerinteressen in sein. Armes Berlin, das so schlecht regiert wird! Bezug auf Lärm- und Erschütterungsschutz sowie zur

Seite 15689, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Durchwegung im dicht besiedelten Ortsteil Lichtenrade, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 15690 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

Hellmut Königshaus (A) Aber man muss auch sagen: Armes Deutschland, das Hellmut Königshaus (FDP): (C) von einer so schlechten Bundesregierung verwaltet wird, – ich komme zum Schluss – und das der Bundesregie- (Jörg Tauss [SPD]: Die CSU hat Riem rung unterstehende Eisenbahn-Bundesamt verweigert zugemacht!) ihn, und zwar nicht nur an der Dresdner Bahn, sondern auch an der Anhalter Bahn. Auf der nach oben offenen und zwar losgelöst von Bedarf und Bedürfnissen, allein Glaubwürdigkeitsskala sind Sie inzwischen bei null an- gesteuert von ideologischer Verblendung! Das zeigt sich gekommen. Sie sollten darauf achten, dass Sie wieder gerade bei dieser Frage. glaubwürdig werden. Denn es stimmt ja nicht, dass uns das im Bund nichts Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und der angeht, wie immer behauptet wird. Es ist unsere Flugha- Präsidentin für ihre Geduld. fengesellschaft; das hat Kollege Rzepka gerade gesagt. Wir sind Miteigentümer. Es ist das Geld der Steuerzah- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ler von Flensburg bis Füssen – alle sind daran beteiligt –, Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine sehr das von Ihnen leichtfertig verbrannt wird. Frau unangemessene Form des Abschlusses dieser Eichstädt-Bohlig und Herr Scheffler, dass Sie sich zu Plenarsitzung!) diesem Thema jetzt nicht äußern wollen, sondern Ihre Reden zu Protokoll geben, ist typisch. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- Ich danke für den Dank und möchte sagen: Kollegen, ben sich doch geäußert! Nehmen Sie das doch die ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, äußern sich zur Kenntnis!) durchaus zum Thema. Sie geben ihre Reden meist aus Sie tragen mit Ihrer Entscheidung dazu bei, eine tra- Solidarität mit anderen Kollegen zu Protokoll, für die gende Säule für die wirtschaftliche Prosperität im Raum der Arbeitstag hier noch nicht beendet ist und die noch Berlin und Brandenburg einzureißen. Termine haben. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ liche Auseinandersetzung, die Sie da betrei- DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: ben!) Aber vielleicht könnten sie, wenn sie anwe- send sind, auch reden!) Sie halten an einem Konsensbeschluss fest, der längst überholt ist. Denn Sie lassen einen Großflughafen, der Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell nach dem Konsensbeschluss schon längst fertig sein wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4839 (B) müsste, fiktiv existieren. an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse (D) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Den hat der Diepgen vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist verhindert, weil er nicht konsequent gehandelt der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. hat! Sagen Sie doch nicht so einen Unsinn!) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- 15.15-15.25.doc Inzwischen sind die Zahlen für Flugbewegungen und empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Passagiere massiv in die Höhe gegangen, geradezu ex- Wohnungswesen auf Drucksache 15/4508 zu dem An- plodiert. Aber Sie tun so, als sei das nicht der Fall. Sie trag mit dem Titel „Flugverkehrskonzept für den Groß- erkennen die Probleme überhaupt nicht mehr. Mit raum Berlin überprüfen – Flughafen Berlin-Tempelhof Trappatoni kann man sagen: „Sie haben fertig“ und „Fla- offen halten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf sche leer“. Drucksache 15/3727 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Das gilt im Übrigen auch für den Umgang mit der men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der beiden Oppositionsfraktionen angenommen. oduktion\167\05_satz\Plenar15_167-Sitzung.fm, Frame6.0 Bahn gerade im Großraum Berlin. Das Thema „Dresd- ner Bahn“ ist wirklich ein Trauerspiel. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein ordnung. Gestammel wie bei Trappatoni ist das bei Ih- nen!) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf Mittwoch, den 13. April 2005, 13 Uhr, ein. Da plant eine sozialdemokratisch regierte Bundesregie- rung eine Bahnstrecke und der sozialdemokratisch domi- Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und na- nierte Senat blockiert das Verfahren über mehrere Jahre. türlich auch den Besucherinnen und Besuchern auf den Da reden die Grünen andauernd von Lärmschutz – Tribünen eine schöne Osterpause. Die Sitzung ist geschlossen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege! (Schluss: 15.15 Uhr) Seite 15690, 18. März 2005, G:\Plenarprotokolle\Pr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15691

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 18.03.2005 Minkel, Klaus CDU/CSU 18.03.2005 DIE GRÜNEN Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 18.03.2005 Andres, Gerd SPD 18.03.2005 DIE GRÜNEN

Bindig, Rudolf SPD 18.03.2005* Dr. Pinkwart, Andreas FDP 18.03.2005

Braun, Helge CDU/CSU 18.03.2005 Probst, Simone BÜNDNIS 90/ 18.03.2005 DIE GRÜNEN Brüderle, Rainer FDP 18.03.2005 Rachel, Thomas CDU/CSU 18.03.2005 Bulmahn, Edelgard SPD 18.03.2005 Raidel, Hans CDU/CSU 18.03.2005** Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 18.03.2005 Peter H. Schauerte, Hartmut CDU/CSU 18.03.2005

Deittert, Hubert CDU/CSU 18.03.2005* Schröder, Gerhard SPD 18.03.2005

Dr. Dückert, Thea BÜNDNIS 90/ 18.03.2005 Seib, Marion CDU/CSU 18.03.2005 DIE GRÜNEN Dr. Thomae, Dieter FDP 18.03.2005 Ernstberger, Petra SPD 18.03.2005 (B) (D) * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 18.03.2005 sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Ferlemann, Enak CDU/CSU 18.03.2005 sammlung der NATO

Göppel, Josef CDU/CSU 18.03.2005 Anlage 2 Grill, Kurt-Dieter CDU/CSU 18.03.2005 Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede Haack (Extertal), Karl SPD 18.03.2005 zur Beratung des Antrags: Impulse für eine in- Hermann ternationale Ausrichtung des Schulwesens – Den Bildungsstandort Deutschland auch im Hauer, Nina SPD 18.03.2005 Schulbereich stärken (166. Sitzung, Tagesord- nungspunkt 12) Hemker, Reinhold SPD 18.03.2005 Cornelia Pieper (FDP): Am Freitag, den 6. Juni Hilsberg, Stephan SPD 18.03.2005 2003 wurde unser Antrag „den Bildungsstandort Deutschland stärken“, in erster Lesung im Plenum be- Kopp, Gudrun FDP 18.03.2005 handelt. Wir hatten seinerzeit dabei vor allem zwei Stoß- richtungen: Einerseits wollten wir die Chancen der deut- Koppelin, Jürgen FDP 18.03.2005 schen Bildungsanbieter im Hinblick auf ausländische Schülerinnen und Schüler als Kunden verbessern und so Koschyk, Hartmut CDU/CSU 18.03.2005 zugleich auch zum Image des Bildungsstandorts Deutschland beitragen. Zum anderen wollten wir einen Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 18.03.2005 Beitrag zum Bürokratieabbau an einer sehr speziellen Klaus W. Stelle leisten. Mein Fraktionskollege schloss damals seinen Beitrag in der ersten Marschewski CDU/CSU 18.03.2005 Lesung: (Recklinghausen), Erwin Wir wollen Bürokratie nicht nur deswegen ab- bauen, weil es etwa populär wäre, sondern weil es 15692 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

(A) notwendig ist. Wir wollen unser Bildungssystem Anlage 3 (C) für die internationalen Herausforderungen fit ma- chen. Wir wollen freien Schulträgern und Bildungs- Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede unternehmen die Chance geben, ihre Kompetenz im zur Beratung des Antrags: Die Wahlrichtlinien wirtschaftlichen Wettbewerb zu beweisen. Wir der Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im müssen Nicht-EU-Bürgern Schulbesuche ermögli- südlichen Afrika (SADC) als Maßstab für freie chen, wenn sie die notwendigen Voraussetzungen und faire Wahlen auch in Simbabwe (166. Sit- erfüllen. Wir dürfen nicht die aus Deutschland weg- zung, Tagesordnungspunkt 15) schicken, die hierher kommen, um zu lernen. Das ist gut für das Image des Bildungsstandorts nach Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Amnesty dem PISA-Desaster. Sichern wir die Arbeitsplätze International hat am 16. März 2005 eine Pressemitteilung in unseren Schulen und Bildungsunternehmen! Las- zu Simbabwe mit folgender Überschrift veröffentlicht: sen Sie uns unnötige Bürokratie vermeiden! Präsen- Free participation in election process impossible – Freie tieren wir uns als würdige Gastgeber! Beteiligung an den Wahlen unmöglich. Amnesty Interna- Es ist gut und ich freue mich, dass in dieser Frage ein tional hat in dieser Pressemitteilung davor gewarnt, dass Einvernehmen der Koalition mit uns gelungen ist. Es die kontinuierlichen und systematischen Menschen- geht um die Öffnung unseres Bildungssystems für die rechtsverletzungen der simbabwischen Regierung eine Welt. Es geht darum, das Angebot von Schulen mit euro- freie Beteiligung an den Wahlen unmöglich machen. päischer Ausrichtung zu erweitern, Fremdsprachen mög- Während einer Mission nach Simbabwe im letzten Mo- lichst früh anzubieten und den internationalen Schüler- nat hat Amnesty Beweise über kontinuierliche Ein- austausch zu intensivieren. Besonders wichtig ist mir schüchterungen durch die Regierung und willkürliche dabei auch der Hinweis auf die Möglichkeit, bilinguale Verhaftungen von Oppositionskandidaten und Unterstüt- Schulen nach dem deutsch-französischen Modell auch zern der Opposition gesammelt ebenso über Manipula- mit unseren osteuropäischen Nachbarländern einzurich- tionen bei der Nahrungsmittelverteilung für politische ten. Zwecke und ernsthafte Einschränkungen der Versamm- lungsfreiheit und der freien Meinungsäußerung. Ein Schulbesuch ausländischer Schülerinnen und Schüler in Deutschland ist mit Sicherheit eine Zukunfts- Die Gesellschaft für bedrohte Völker hat gleiche Er- investition in globale Märkte; denn die ausländischen kenntnisse und weist seit Monaten auf die Verletzung der Schüler von heute sind die potenziellen internationalen Menschenrechte und die Nichtbeachtung der SADC- Kontaktpartner von morgen. Wenn ausländische Schüler, Wahlvereinbarungen bereits im Vorfeld der Wahlen hin. In dieser Woche veröffentlichte die britische Menschen- (B) die zahlende Kunden von deutschen Bildungsunterneh- (D) men sind, hier – trotz PISA – hochwertige Arbeitsplätze rechtsorganisation The Redress Trust, dass Folter und im Bildungsbereich ermöglichen, dann sollten wir dies organisierte Gewalt im Vorfeld der Parlamentswahlen begrüßen und erleichtern. Dabei geht es auch um kultu- massiv Opposition und Bevölkerung einschüchtern. rellen Austausch: Ausländische Jugendliche können Sterben und Hunger, insbesondere im Matabeleland und Deutschland authentisch erleben, wenn sie ein Internat Bulawayo, aber auch im gesamten Land führten zum besuchen. So können viele Vorurteile abgebaut werden Tod von Tausenden Menschen in Simbabwe. Hundert- und es entstehen Freundschaften über die Länder hin- tausende flohen in die Nachbarländer. Mugabes Schre- weg, oft fürs Leben. ckensherrschaft bedeutet Tod, Vergewaltigung, Hunger und Unterdrückung. Was viele von uns unseren Kindern wünschen und er- Es gibt keine Chance für faire, freie und geheime, möglichen, nämlich einen bildenden Auslandsaufenthalt, also demokratische Wahlen. Es war richtig, dass der sollten wir auch mit Freude für Kinder aus anderen, ge- Deutsche Bundestag in einem gemeinsamen Antrag am rade auch aus nichteuropäischen Ländern, möglich ma- 30. Juni 2004 die Bundesregierung aufgefordert hat, sich chen. Dabei sollten wir uns als gute Gastgeber erweisen. hier auf internationaler Ebene insbesondere auch gegen- Wir freuen uns, als FDP-Bundestagsfraktion mit un- über den SADC-Staaten einzuschalten. Als gescheitert serer Initiative im Ausschuss und jetzt hier im Plenum muss man aber den Versuch der stillen Diplomatie, die durchgedrungen zu sein. Das Vergnügen haben wir ja Bundeskanzler Schröder bei seinen Gesprächen in Süd- leider derzeit nur sehr selten. Es ist schön, dass damit ein afrika unterstützt hat, betrachten. So erfreulich auch der kleiner, aber nicht unwichtiger Schritt auch für den Er- jetzt wieder gemeinsam erarbeitete Simbabwe-Antrag halt und den Ausbau von Arbeitsplätzen bei freien ist, so bedauerlich ist es, festzustellen, dass die von rot- Schulträgern getan werden konnte, der zu einem erfreu- grün getragene Bundesregierung in den vergangenen lichen Einvernehmen über die Parteigrenzen hinweg Monaten keinen deutlichen öffentlichen Druck auf Sim- führte. Schade, dass die Union schließlich gegen den babwe ausgeübt hat. Dies passt in die Linie der Bundes- Willen der Bildungspolitiker aussteigen musste. regierung, die sich von den Grundsätzen rot-grüner Menschenrechtspolitik inzwischen weit entfernt hat: Die Gespräche über den Antrag fanden in ausgespro- Waffenembargo gegenüber China aufheben, im Kongo chen guter Atmosphäre statt, auch solange die Union sich freikaufen statt erbetene Unterstützung von Bundes- teilgenommen hat. Dafür und für das Ergebnis möchte wehr und Polizei zu Ausbildungszwecken zur Verfügung ich allen Beteiligten auch für die Schulen in freier Trä- stellen. Auch in der Darfur-Katastrophe weigert sich die gerschaft danken. Bundesregierung, zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15693

(A) nach neuesten Zahlen mit geschätzten 300 000 Toten um auf das Denken und Fühlen von jungen Menschen einzu- (C) einen Genozid handelt. stellen. Sie können die Inhalte so vermitteln, dass die Ju- gendlichen auch erreicht werden und sich nicht gelang- Ich erwarte von diesem gemeinsamen Antrag, dass weilt abwenden. Allein der Besuch der authentischen die Bundesregierung ihre Linie ändert und nicht nur dis- Orte – in der Regel geschieht dies an einem Wandertag kutiert, sondern handelt. Es darf nicht wieder – wie nach anstelle von schulischer Unterrichtszeit – reicht in unse- der letzten Afrikareise des Kanzlers – zu Überschriften rer multimedialen Welt nicht mehr aus, um jugendliche in den Medien kommen wie: Die Reise war „ein Heran- Besucher und Besucherinnen zu erreichen. tasten, ein Vorfühlen, eine Bemühenszusage“ – „Tages- spiegel“ vom 24. Januar 2004 – oder es drohe die Gefahr Damit ist der entscheidende Punkt benannt: Es geht der „hohlen Gesten“ – „NOZ“ vom 26. Januar 2004 – um die Kunst der Vermittlung, um die Fähigkeit, Jugend- oder „Wie der Bundeskanzler etwas in Südafrika nicht liche nicht das Gruseln zu lehren, sondern sie über die bewegte“, „taz“ vom 24. Januar 2004. Interessant ist historischen Tatsachen und das Ausmaß der Verbrechen noch festzustellen, dass China und Russland als Wahlbe- aufzuklären. Dabei sollte das Wecken des Interesses für obachter nach Simbabwe eingeladen worden sind, die das Thema ebenso wichtig sein wie das Fördern der Be- Regierung von Simbabwe aber keine EU-Wahlbeobach- reitschaft, sich den Biografien der Opfer und dem Leben ter zulässt. Hat der Kanzler bei seinem Chinabesuch das ihrer Nachkommen zuzuwenden. Am besten lässt sich Thema Simbabwe ebenso ausgeblendet wie das Thema diese intensive Form der Auseinandersetzung durch per- Darfur? Wir unterstützen den gemeinsamen Antrag in sönlichen Kontakt befördern. Daraus folgt, dass neben der Hoffnung, dass die Bundesregierung endlich handelt, der Einstellung zusätzlicher Museumspädagogen und im Interesse der Menschen in Simbabwe. Museumspädagoginnen in den Gedenkstätten auch der internationale Jugendaustausch verstärkt werden sollte. Meines Erachtens scheidet sich ein verantwortungs- Anlage 4 voller Umgang mit der Vergangenheit Deutschlands Zu Protokoll gegebene Reden nicht an der Frage, ob es zulässig ist, NS-Gedenkstätten mit Gedenkstätten des SED-Unrechtsstaats unter einem zur Beratung des Antrags: Mauer-Mahnmahl organisatorischen Dach gemeinsam zu verwalten. Mir im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus aufwerten geht es vielmehr um den verstärkten Einsatz von päda- (Tagesordnungspunkt 21) gogischem Fachpersonal, damit die Gedenkorte in Deutschland das leisten, was sie leisten können: aus dem Ursula Sowa BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: In der Wissen um die Vergangenheit für Demokratie und die gegenwärtigen Debatte um die Weiterentwicklung einer Achtung der Menschenwürde werben und Tolerarz und (B) (D) gesamtstaatlichen Gedenkkultur ist der CDU/CSU-An- Weltoffenheit in der Begegnung mit anderen Kulturen trag ein Puzzleteil. Für Bündnis 90/Die Grünen steht da- vermitteln. Damit würden sie dem Anspruch aus dem bei eine zentrale Frage im Mittelpunkt: Warum geden- Gedenkstättenkonzept nahe kommen, Lernorte zu sein. ken wir? Aus dieser Überzeugung unterstütze ich zwar grund- Einerseits um uns der Opfer von Terror und Mord zu sätzlich die Initiative der BKM, mittels einer intensiven, erinnern, ihres Leides zu gedenken. Andererseits – und längerfristigen Debatte die Ausrichtung des Gedenkstät- das scheint mir angesichts wieder erstarkender neonazis- tenkonzepts des Bundes weiterzuentwickeln. Mein tischer Gruppen in Deutschland von erschreckender Ak- Credo lautet dabei: Die Inhalte – und das sind hier in ers- tualität – um unsere Gesellschaft gegen totalitäres Ge- ter Linie moderne Formen der Wissens- und Gedenkver- dankengut stark zu machen. mittlung – müssen ins Zentrum der Überlegungen für die Zukunft der Gedenkkultur in Deutschland gestellt wer- Es sollte uns insbesondere darum gehen, zu vermit- den. teln, dass Antisemitismus und Rassismus, Demokratie- feindlichkeit und blinder Autoritätsglaube zu schlimms- Höchst kritisch sehe ich jedoch das Fehlen einer bun- ten Verbrechen führen können und deshalb mit aller desweiten Evaluation aller Gedenkstätten und Mahn- Kraft bekämpft werden müssen. Diesen demokratischen male bei den bisherigen Überlegungen zur konzeptio- und zivilgesellschaftlichen Konsens als eine wesentliche nellen Ausrichtung einer Bund/Länder-Förderung. Grundlage unserer Gesellschaft an Jugendliche zu ver- Zahlreiche Stätten fristen ein Dasein jenseits staatlicher mitteln, gelingt nicht leicht. Deshalb ist mir die Wissens- Fördermittel, werden allein durch ehrenamtliches En- und Wertevermittlung so wichtig. Es gilt, die jungen gagement geführt und vom staatlichen Bildungsauftrag Menschen in einer Weise an die demokratische Grund- nicht erfasst. Bei Baufälligkeit bleibt in der Regel nur ordnung heranzuführen, die sie gegen rechtsradikales die Schließung der Stätten. Für die Vermittlung der Ge- Gedankengut stark macht. schichte sind jedoch auch diese Orte von großem Inte- resse und sollten in ein Netz der Lernorte integriert wer- Professor Herbert hat es auf dem Symposium der den. Hier stehen Länder und Kommunen ebenso wie der BKM am 1. März in Berlin deutlich formuliert: Die Bund in der Verantwortung. durch das Gedenkstättenkonzept von 1999 begonnene Professionalisierung der Gedenkstätten und ihres Perso- In einer vernetzten Struktur würden durch den wis- nals muss intensiviert werden. Museumspädagogen und senschaftlichen und museumspädagogischen Austausch Museumspädagoginnen, ausgestattet mit modernen des Personals Synergien entstehen, die das Ausschöpfen Lehr- und Vermittlungsmethoden, sind in der Lage, sich der Bildungspotenziale der Stätten deutlich verbessern 15694 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

(A) würden. Damit könnten sich die Gedenkstätten zu dem steht, in das Gesamtkonzept zu hieven. Denn dann wären (C) entwickeln, was sie sein sollten: Lernorte, die ihren Be- wir genau dort angelangt, wo wir nicht hinkommen wol- suchern und Besucherinnen Erfahrungen vermitteln, aus len und dürfen, nämlich im parteipolitischen Denken denen sie zeitlebens schöpfen können. Ich kann mir und Streiten. Die Konzeption der Gedenkstätten beider durchaus vorstellen, dass das Mauer-Mahnmal in diesem deutscher Diktaturen verlangt den Konsens aller Frak- Netz eine zukünftige Rolle spielen wird. In diesem all- tionen. Daher möchte ich diesen Antrag vor allem als ei- umfassenden Sinne hätte ich Ihren Antrag gern mitgetra- nen Diskussionsbeitrag auffassen, nicht aber als einen gen in dem von Ihnen dargelegten partikulären Sinne Antrag, den der Bundestag annehmen sollte. lehne ich ihn allerdings ab.

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): In der ver- Anlage 5 gangenen Woche haben wir über den Gruppenantrag Zu Protokoll gegebene Reden zum Gedenken am Brandenburger Tor diskutiert. Heute sprechen wir über das Mauer-Mahnmal im Marie- zur Beratung der Entwürfe Elisabeth-Lüders-Haus. Während ich persönlich das – Gesetz zur Unternehmensintegrität und Mo- Brandenburger Tor vor allem als Symbol der Überwin- dernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) dung der Einheit sehe, ist das Mauer-Mahnmal vor allem ein Symbol der Teilung. Die auf die Segmente geschrie- – Gesetz zur Einführung von Kapitalanleger- benen Zahlen der Mauertoten eines jeden Jahres zeigen Musterverfahren auf lapidare, aber gerade dadurch besonders eindringli- (Tagesordnungspunkt 20 a und b) che Weise das Leid, das sich an dieser innerdeutschen Grenze abgespielt hat. Die Mauerelemente, die heute in das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus einschneiden, sind ein Olaf Scholz (SPD): Mit den beiden heute in erster eindrucksvoller authentischer Ort, insbesondere wenn Lesung zu beratenden Gesetzentwürfen, dem Kapitalan- man noch vor Augen hat, wie dieser Bereich nordöstlich leger-Musterverfahrensgesetz – KapMuG – und dem des Spreebogens nach der Wende bis zu den Bauarbeiten Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung ausgesehen hat. des Anfechtungsrechts – UMAG –, gehen wir unseren Weg zur Stärkung der Untemehmensintegrität und des Während wir bei den Orten des Gedenkens an Mauer, Anlegerschutzes – im Rahmen des 10-Punkte-Pro- SED-Diktatur und deren Überwindung als Vertreter des gramms der Bundesregierung – konsequent weiter. deutschen Volkes verantwortlich sind, trifft uns bei dem Mauerdenkmal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus zudem Worum geht es? Mit dem UMAG soll einer der be- (B) noch die Verantwortung des Bundestages als Hausherr. deutendsten Teile der aktienrechtlichen Änderungsvor- (D) Daher sehe ich es – und komme damit zu den Forderun- schläge der Regierungskommission Corporate Gover- gen im Einzelnen – vor allem als Aufgabe der Baukom- nance umgesetzt werden. Das gesellschaftsrechtlich mission des Deutschen Bundestages an, den Gedenkort besonders wichtige Anfechtungsrecht in der Hauptver- von der Uferpromenade her öffentlich zugänglich zu sammlung, sowie das Recht der Aktionäre zur Durchset- machen. Wenn dies bautechnisch möglich ist, sollte die zung von Haftungsansprüchen gegen andere Organe der Öffentlichkeit unbedingt Zugang zu den Mauersegmen- Gesellschaft sind die Schwerpunkte dieser Stufe. ten bekommen. Dazu brauchen wir aber meines Erach- Die Haftung ist im deutschen Aktienrecht an sich tens keinen Beschluss des Bundestages. schon sehr konsequent – aber selbst berechtigte Ansprü- Die zweite Forderung teile ich und kann sie nur unter- che werden nur selten geltend gemacht. Uns geht es des- streichen. Neben der Sicherung und didaktischen Aufbe- halb nicht um einen Ausbau der Haftung, sondern um reitung der authentischen Orte des SED-Unrechts ist die die Erleichterung der Klagen einer Aktionärsminderheit. wissenschaftliche Aufarbeitung eine wichtige und dring- Wir schaffen eine gute Balance. Einerseits werden liche Aufgabe. Ich habe meine Bedenken, ob man es Klagen verhindert, bei denen der Grund und die Motiva- wirklich „Totenbuch“ nennen sollte, unterstütze die For- tion der Klage nicht aus einer ernsthaften wirtschaftli- derung nach einer Aufarbeitung und Dokumentation zur chen Beteiligung an der Gesellschaft hergeleitet werden Erinnerung an die Opfer der deutschen Teilung aber aus- kann. Andererseits werden die alten Regelungen – zum drücklich. In der Debatte zum Mauergedenken am Bran- notwendigen Aktienwert – spürbar gelockert. denburger Tor in der letzten Woche kam ja deutlich zum Ausdruck, dass bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung Sicher ist der Schwellenwert in Höhe von nach Ansicht aller ein Nachholbedarf besteht. 100 000 Euro sehr niedrig angesetzt. Aber: Er muss auch im Zusammenhang gesehen werden mit den weiteren Es ist selbstverständlich, dass das Mauer-Mahnmal Einschränkungen und Sicherungen wie dem Zulassungs- im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus bei den Gedenkstätten- verfahren, den Kostenregelungen und der Business konzepten des Bundes und Berlins einzubeziehen ist. Judgment Rule. Aber genau diese Einbindung in ein Gesamtkonzept, die der Antrag der CDU/CSU-Fraktion fordert, lässt mich Um es noch einmal deutlich zu sagen: Hier wird eine diesem Antrag kritisch gegenüberstehen. Balance geschaffen zwischen der Erleichterung von Kla- gemöglichkeiten auf der einen Seite und der Verhinde- Wir sollten uns hüten, jedes Mauerstück mit einem rung von missbräuchlichen Klagen auf der anderen gesonderten Antrag, hinter dem jeweils eine Fraktion Seite. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15695

(A) Vor der Zunahme missbräuchlicher Klagen fürchten gesetzgeberischen Maßnahmen enthalten, die zum Teil (C) sich manche Skeptiker auch durch die Einrichtung eines bereits verabschiedet sind. Das UMAG reiht sich hier „Aktionärsforums" im Internet. Ich sehe das anders: Mit ein und soll, nach dem Willen der Bundesregierung, als dem Aktionärsforum nutzen wir moderne Informa- weiterer wesentlicher Teil der Umsetzung der geplanten tionstechnologien, um eine einfache und unkomplizierte gesetzgeberischer Maßnahmen verstanden werden. Kommunikation unter den Aktionären zu ermöglichen. Bisher verabschiedet wurden das Transparenz- und Zudem wird dieses Forum zur Behebung eines grundle- Publizitätsgesetz vom 19. Juli 2002, das Bilanzrechtsre- genden Corporate Governance-Defizits beitragen: der formgesetz, das Bilanzkontrollgesetz, das SE-Einfüh- mangelnden Eigentümerkontrolle. rungsgesetz. In der Planung ist außerdem das Kapital- markt-Informations- und Haftungsgesetz. Auch das KapMuG dient der Verbesserung der kol- lektiven Durchsetzung von Ansprüchen der Anleger. Nach dem Willen der Bundesregierung ist Ziel all die- Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz beinhaltet ser Maßnahmen, den Finanzplatz Deutschland zu stär- ein neues prozessrechtliches Instrument; neue Instru- ken, Neuemissionen und Börsengänge zu fördern, die mente sorgen meistens erstmal für Skepsis. Das wird Aktienanlage als Instrument der Altersversorgung zu auch in diesem Fall höchstwahrscheinlich nicht anders verstehen und für ein attraktives Investmentumfeld zu sein. sorgen. Diese Ziele sind durchaus im Grundsatz zu be- Bei diesem Instrument jedoch – das lässt sich schnell grüßen. Im Hinblick auf den zunehmend globalen Wett- feststellen – werden alle Seiten gewinnen. Die Vorteile bewerb sind in den deutschen Finanzmärkten und im Ge- des Verfahrens liegen auf der Hand. Mussten bislang die sellschaftsrecht die Voraussetzungen zu schaffen, um in Anleger bei Kapitalmarktdelikten einzeln um ihre Scha- diesem Wettbewerb zu bestehen. denersatzansprüche kämpfen, so sollen sich künftig in Die Industrie und Finanzverbände, die ebenfalls den gleichgelagerten Fällen die Anleger einem Musterpro- Grundansatz einer Stärkung des Finanzplatzes Deutsch- zess anschließen können. Ich bin überzeugt, dass dieses lands begrüßen, sind allerdings über die Gesetzesfülle Verfahren für alle Seiten Vorteile bringt: Durch die Bün- der Bundesregierung besorgt. Sie befürchten, dass das delung der Verfahren von geschädigten Kapitalanlegern Ziel, bürokratische Belastungen für Unternehmen zu re- kann die Rechtsfrage in nur einem Verfahren exempla- duzieren, damit nicht erreicht werden kann. Nach mei- risch für sämtliche Klagen entschieden werden. Auch nem Eindruck ist diese Besorgnis nicht ganz von der die Gesellschaften werden hiervon profitieren. Denn Hand zu weisen: Das Beispiel des SE-Einführungsgeset- schließlich wird mit dieser Regelung auch für sie zes hat gezeigt, dass die aus den Koalitionsfraktionen Rechtssicherheit geschaffen. nicht unbedingt an einer Stärkung des Wettbewerbs für (B) Für beide Seiten ist außerdem von Vorteil: Das Ver- deutsche Unternehmen und der Steigerung der Attrakti- (D) fahren wird insgesamt beschleunigt und die Kosten redu- vität des Standorts Deutschland für ausländische Inves- ziert, da nur das Musterverfahren den Instanzenzug toren interessiert sind, wenn es darum geht, liebgewor- durchlaufen wird. Nicht zuletzt entlasten wir die Ge- dene Instrumente wie die deutsche Mitbestimmung zu richte. perpetuieren, auch wenn diese im internationalen Ver- gleich nachweisbar keine Nachahmer gefunden und sich Das Musterverfahren passt sich nahtlos ein in die für deutsche Unternehmen im Wettbewerb als Bremse europäische Entwicklung. Ob in Schweden, England, herausgestellt hat. Portugal oder Spanien – alle diese Länder haben eine Form von Sammelklagen bereits eingerichtet. Nun zu Zielsetzung und Inhalt des UMAG: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll der Missbrauch von Zwar stehen wir mit den Gesetzentwürfen am Beginn Anfechtungsklagen eingeschränkt, eine Stichtagsrege- der parlamentarischen Beratung, ich bin aber jetzt schon lung für die Anmeldung zur Hauptversammlung einge- zuversichtlich, dass wir diese bald erfolgreich abschlie- führt sowie eine „Business-Judgement-Rule“ nach ame- ßen können und freue mich auf die weitere Diskussion. rikanischem Vorbild implementiert werden, um den Unternehmen mehr Sicherheit im Hinblick auf die Haf- Friedrich Merz (CDU/CSU): Lassen Sie mich tung wegen unternehmerischer Entscheidungen zu ge- zunächst einige Vorbemerkungen zur Einordnung des ben. Gegen diese Zielsetzung habe ich nichts einzuwen- Gesetzes zur Unternehmensintegrität und zur Moderni- den. Soweit ich sehe, hat auch der Bundesrat in seiner sierung des Anfechtungsrechts in den Gesamtkontext Stellungnahme die Zielsetzung des Entwurfs im Grund- machen. Der Entwurf steht in Zusammenhang mit der satz begrüßt. Regierungskommission „Corporate Governance Unter- nehmensführung Unternehmenskontrolle Modernisierung Was die Detailregelungen des UMAG angeht, müssen des Aktienrechts“. Der Abschlussbericht der Regie- wir allerdings in den Ausschussberatungen über eine rungskommission Corporate Governance lässt sich in die ganze Reihe von Fragen noch einmal intensiver sprechen Empfehlungen an eine Kodex-Kommission und Emp- und prüfen, ob die Ziele des Entwurfs mit den von der fehlungen an den Gesetzgeber gliedern. Bundesregierung vorgeschlagenen Regelungen auch er- reicht wird. Ich habe an einigen Stellen Zweifel und sehe Die Bundesregierung hat im Februar 2003 ein Zehn- mich da einig mit dem Bundesrat und auch einigen der Punkte-Programm verabschiedet, das einen besseren betroffenen Fachverbände, die in Kernbereichen des Anlegerschutz und eine gestärkte Unternehmensintegri- Entwurfs eine Reihe von Verbesserungen vorgeschlagen tät zum Ziel hat. In diesem Katalog sind eine Reihe von haben. Die Bundesregierung ist in ihrer Gegenäußerung 15696 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

(A) dem Bundesrat ja in Einzelbereichen schon entgegenge- Auch hier gilt, dass das Ziel, zu einer Beschleunigung (C) kommen und ich hoffe, dass wir in den anstehenden der Verfahren zu kommen, an sich überlegenswert und Ausschussberatungen zu weiteren Verbesserungen kom- richtig ist. Aber auch hier sage ich, die Ausschussbera- men werden. Verbesserungen sind aus meiner Sicht vor tungen müssen zeigen, ob der Entwurf seiner Zielset- allem in folgenden Bereichen notwendig: zung gerecht wird und zu einer Entlastung der Gerichte sowie zu mehr Rechtssicherheit für die Unternehmen Der erste Punkt betrifft das Klagezulassungsverfahren und zur Beschleunigung der Verfahren führen kann. Da- nach § 148 (neu). 1 Prozent des Grundkapitals als Zulas- ran bestehen aus meiner Sicht Zweifel. Der Entwurf darf sungsvoraussetzung geht in Ordnung. Die Alternative insbesondere nicht zu einer übermäßigen Zunahme von Voraussetzung von 100 000 Euro Börsenwert ist aus Verfahren durch „Berufskläger“ und damit einer miss- meiner Sicht viel zu niedrig. Ich will dies an einem Bei- bräuchlichen Verwendung der neuen Instrumente zulas- spiel deutlich machen: Die Allianz AG hat derzeit circa ten der Gerichte und zum Nachteil der Unternehmen 7 000 Aktionäre, die diese Voraussetzung erfüllen. Da- führen. ran können Sie die Missbrauchsmöglichkeiten ablesen. Als Fazit für beide Entwürfe bleibt festzuhalten: Die Ein weiterer Punkt für Verbesserungen ist die in § 93 von der Bundesregierung mit beiden Gesetzentwürfen eingefügte „Business-Judgement-Rule“. Die Vorschrift verfolgten Ziele sind im Grundsatz zu begrüßen. Aus muss klarer gefasst werden. Um Rechtssicherheit für Sicht der Union sind Verbesserungen in beiden Entwür- Unternehmen zu erzielen, muss aus dem Gesetz hervor- fen notwendig, um diese Ziele in der Praxis zu erreichen. gehen, in welchen Fällen das Verhalten des Vorstandes Die Ausschussberatungen werden zeigen, ob es gelingt, keine Pflichtverletzung darstellt. In diesem Zusammen- durch Änderungen und Ergänzungen die von der Bun- hang müsste auch die Frage der Beweislastregeln noch- desregierung vorgelegten Entwürfe so zu verbessern, mals diskutiert werden. dass diese auch die Zustimmung der Union finden kön- nen. Die Stichtagsregelung für die Anmeldung zur Haupt- versammlung (§ 123 neu) begrüße ich. Allerdings soll- ten die Fristen so harmonisiert werden, dass Hauptver- Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sammlungsunterlagen von den Depotbanken nur einmal Mit KapMuG und UMAG beraten wir zwei Gesetzesent- versandt werden müssen. Wir sollten hier nicht unnötig würfe, die dazu beitragen, das Vertrauen der Verbraucher bürokratische Hürden aufbauen. Der Gegenäußerung der in ihre Investitionen, ihre Unternehmen und auch den Fi- Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates nanzplatz Deutschland zu stärken. entnehme ich, dass in diesem Bereich wohl mit Entge- (B) genkommen zu rechnen ist. Wir werden die auf dem Angesichts bisheriger Skandale bei Telekom oder (D) Tisch liegenden alternativen Vorschläge im Einzelnen Borussia Dortmund, muss Anlegerschutz für uns alle ein überprüfen. zentrales Anliegen sein. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, verlorenes Vertrauen in die Aktienmärkte zu- Noch einen weiteren Punkt möchte ich an dieser rückzugewinnen. Die Grünen werden deshalb die Geset- Stelle herausgreifen, und zwar die Einführung eines zesentwürfe unterstützen. Aktionärsforums im elektronischen Bundesanzeiger Mit Einführung des KapMuG soll es den Anlegern er- (§ 127 neu). Auch mit dieser Regelung werden wir uns möglicht werden, ihre Schadensersatzansprüche wegen im Zuge der Ausschussberatungen intensiver beschäfti- fehlerhafter Informationen der Unternehmen gemeinsam gen müssen. Wenn wir den Finanzplatz Deutschland geltend zu machen. Dies ist neu, denn die ZPO ist auf stärken wollen, müssen wir darauf achten, dass wir nicht die Geltendmachung von Einzelansprüchen in Einzel- selbst die Voraussetzungen dafür schaffen, um eine Ruf- verfahren ausgerichtet. Obwohl durch falsche Darstel- schädigung unserer Unternehmen zu erleichtern. Hier lungen gegenüber dem Kapitalmarkt leicht ein Gesamt- gilt es insbesondere auch zu überprüfen, ob der elektro- schaden in Millionenhöhe angerichtet werden kann, nische Bundesanzeiger der richtige Ort für derartige bleibt dies meist ohne Folgen, da die geschädigten Anle- Foren ist. ger – zumindest die ohne Rechtsschutzversicherung – durch hohe Prozess- und Kostenrisiken von einer Klage Nun einige Bemerkungen zum Entwurf eines Geset- abgehalten werden. Die Kosten übersteigen die Forde- zes zur Einlegung von Kapitalanleger-Musterverfahren. rung erheblich, da in jedem Prozess eine Beweisauf- Mit dem Gesetzentwurf sollen Musterklagen eingeführt nahme mit teurem Sachverständigengutachten notwen- werden wie zum Beispiel in Fällen falscher Ad-hoc-Mit- dig ist. teilungen oder unrichtiger Börsenprospekte. Künftig soll jeder Anleger die Einleitung eines Musterverfahrens be- An diesem für den geschädigten Anleger unzumutba- antragen können. Dieser Antrag soll dann in einem Kla- ren Zustand setzt das KapMuG an: Künftig kann jeder geregister im elektronischen Bundesanzeiger veröffent- Anleger die Einleitung eines Musterverfahrens beantra- licht werden. Gibt es in den folgenden vier Monaten gen. Sobald der Antrag gestellt ist und das Landgericht mindestens neun weitere Begehren zur Klärung dersel- dessen Zulässigkeit bejaht hat, wird dieser im neu einzu- ben Musterfrage, bestimmt das Prozessgericht einen richtenden Klageregister des elektronischen Bundesan- Musterkläger und holt einen für alle bindenden Muster- zeigers öffentlich bekannt gemacht. Sollten binnen vier entscheid beim Oberlandesgericht ein. Soweit zum In- Monaten in mindestens neun weiteren Verfahren gleich- halt und zur Zielsetzung des Entwurfs. gerichtete zulässige Anträge gestellt werden, führt das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15697

(A) OLG einen Musterentscheid herbei. Es bestimmt aus meldung und Legitimation bei der Hauptversammlung (C) dem Kreis der Kläger einen Musterkläger und lädt alle zeitgemäß modernisiert. übrigen Kläger bei. Wenn wir uns vor Augen halten, dass es sich bei Aktio- Der Musterentscheid, gegen den die Rechtsbe- nären nicht nur um „Börsenspekulanten“ handelt, son- schwerde beim BGH statthaft ist, wirkt auch für und ge- dern auch um Privatpersonen, die ihr ehrlich verdientes gen die Beigeladenen. Diese müssen zwar noch ihr eige- Geld investieren wollen und dabei auf die Angaben der nes Verfahren vor dem Landgericht führen, jedoch ohne Aktienunternehmen angewiesen sind und ihnen ver- teure Beweisaufnahme und unter Zugrundelegung des trauen wollen, ist es notwendig, diese Investitionsent- Musterentscheids. Der Ausgang seines Verfahrens ist da- scheidungen begleitend zu unterstützen. Wir können und mit vorhersehbar. Prozess- und Kostenrisko vermindern sollten dies durch die Umsetzung der beiden Gesetzes- sich also erheblich. Statt den kompletten Sachverständi- entwürfe gemeinsam tun. genkosten ausgesetzt zu sein, ist der Kläger an den Kos- ten des Musterverfahrens allenfalls gemäß dem Verhält- nis seiner Forderung zum gesamten Streitwert beteiligt. Rainer Funke (FDP): Die uns heute in erster Le- sung vorliegenden Gesetzentwürfe öffnen ein weiteres Dieses Verfahrensgesetz wird Gerichte entlasten, Ver- Kapitel zur Umsetzung des Zehn-Punkte-Katalogs der fahren erheblich beschleunigen und dazu beitragen, das Bundesregierung zur Stärkung der Unternehmensintegri- Vertrauen in die Justiz zu stärken – alles Ziele, die wir tät und des Anlegerschutzes. Wie ich bereits bei den letz- mit all unseren Gesetzesvorhaben anstreben sollten. ten Gesetzentwürfen in diesem Bereich – nämlich den Bilanzgesetzen – ausführte, unterstützen wir die grund- Auch mit dem UMAG werden die Klagemöglichkei- sätzlichen Ziele dieses zugegebenermaßen größeren Pro- ten von Aktionären verbessert und gleichzeitig wird der jekts. Es werden uns nun zwei Entwürfe vorgestellt, die Missbrauch von Anfechtungsklagen gegen Beschlüsse auf den ersten Blick sinnvoll und wohl durchdacht er- der Hauptversammlung eingedämmt. Dieser Gesetzes- scheinen. Auf den zweiten Blick muss man jedoch fest- entwurf erleichtert es den Anlegern, eine Klage wegen stellen, dass bei beiden Entwürfen der Teufel im Detail Innenhaftung der Organe, die ihre Sorgfaltspflichten ver- sitzt. letzt haben, in Gang zu setzen. Aktiv legitimiert sind künftig auch Aktionärsminderheiten, deren Anteile im Mit dem UMAG hat uns die Regierung eine Praline Zeitpunkt der Antragstellung zusammen 1 Prozent des mit Senffüllung vorgesetzt. Mit der Einführung der Grundkapitals oder einen Börsenwert von 100 000 Euro „Business Judgement Rule“ zeigt der Gesetzgeber zwar, betragen. Um diese notwendige Beteiligungshöhe zu er- dass er dem Management eines Unternehmens bei unter- (B) reichen, können Kleinaktionäre in einem Forum im elek- nehmerischen Entscheidungen den notwendigen Hand- (D) tronischen Börsenanzeiger Klagemitstreiter suchen. lungsspielraum und Haftungsfreiraum zugestehen will. Durch die konkrete Formulierung der Vorschrift benach- Nicht nur die deutliche Herabsetzung des Quorums teiligt die Bundesregierung deutsche Managements im stärkt die Position der Anleger, sondern auch die Tatsa- Gegensatz zu zum Beispiel den amerikanischen Konkur- che, dass diese künftig einen Anspruch der Gesellschaft renten. Der Entwurf legt den Geschäftsleitern quasi die im eigenen Namen geltend machen können, keinen be- Beweislast für die Richtigkeit ihrer Entscheidung auf, sonderen Vertreter mehr brauchen. Klagemissbrauch ist während in den USA die klagenden Gesellschafter be- infolge der neuen Regelungen nicht zu befürchten, denn weisen müssen, dass die Managemententscheidung nicht zu dessen Vermeidung ist der Haftungsklage ein Zulas- richtig war. sungsverfahren vorgeschaltet. Durch diese Beweislastregelung entwertet die Regie- Um Rechte und Pflichten nicht einseitig zu verteilen, rung die „Business Judgement Rule“ als geplanten wird quasi als Gegengewicht zur den Klageerleichterun- Schutz des Managements und als Ausgleich für die gen ein Haftungsfreiraum ins Gesetz aufgenommen, der ebenfalls in dem Entwurf vorgesehene Ausweitung des dem Vorstand unternehmerische Entscheidungen – so- Anfechtungsrechts der Aktionäre. Das notwendige und fern nach bestem Wissen und Gewissen getroffen – ga- traditionelle Gleichgewicht in einem Unternehmen wird rantiert. so zerstört. Das UMAG wägt die Interessen der Aktionäre ge- Nicht aktzeptabel sind in diesem Zusammenspiel genüber denen der Gesellschaft in vielerlei Hinsicht auch die Einführung einer staatlichen Unterstützung für sorgfältig ab. So bewahrt es einerseits das Anfechtungs- klagewillige Gesellschafter durch die Schaffung eines recht als wichtiges Schutzinstrument. Andererseits Aktionärsforums zum Finden von Mitstreitern sowie die kann, um dessen missbräuchlicher Ausnutzung gegen zu große Herabsetzung der gesetzlichen Quorums zur Beschlüsse der Hauptversammlung zu unterbinden, Klageeinreichung oder Durchführung einer Sonderprü- künftig per Satzung die Grundlage für eine Frage- und fung, um nur einige Punkte anzusprechen. Alle diese Redezeitbegrenzung herbeigeführt werden. Daneben Maßnahmen fördern Klagemöglichkeiten für professio- wird zum Erhalt der Handlungsfähigkeit der Gesell- nelle Prozessaktionäre. schaft ein gerichtliches Eilverfahren für Anfechtungs- klagen, das so genannte Freigabeverfahren, aus dem Lassen Sie mich zu dem zweiten Gesetzentwurf kom- Umwandlungsgesetz übernommen. Schließlich werden men, den wir heute in diesem Zusammenhang beraten. mit diesem Gesetzesvorschlag auch die Regeln zur An- Mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz wird 15698 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

(A) ein Problemkreis aufgegriffen, der in das Blickfeld jedes Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Reform der (C) Rechtspolitikers rücken sollte. Denn die Regierung star- Anfechtungsklage gegen wichtige Hauptversammlungs- tet mit diesem Gesetzentwurf einen Versuchsballon. beschlüsse. Hier hat es schmerzliche Fehlentwicklungen Nach ihren eigenen Worten in der Gegenäußerung zur gegeben. Das ist allen, die mit dem Wirtschaftsleben Stellungnahme des Bundesrates will die Bundesregie- vertraut sind, gut bekannt. Die an sich für den Minder- rung dieses neue Verfahren erst einmal erproben und heitenschutz wichtige Anfechtungsklage der Aktionäre dann prüfen, ob ein entsprechendes Verfahren als allge- kann – wenn es zu Auswüchsen kommt – die Hand- meines Institut in der ZPO verankert werden kann. Da- lungsfähigkeit eines Unternehmens erheblich blockie- mit ist es nur vorerst ein spezielles Verfahren für Kapi- ren. Das ändert der Entwurf durch die Einführung eines talanleger. Es ist darüber hinaus der Beginn der raschen gerichtlichen Freigabeverfahrens, in dem die Einführung eines neuen kollektiven Rechtsschutzinstru- Interessen der Beteiligten gegeneinander abgewogen ments in das deutsche Zivilprozessrecht durch die Hin- werden können. tertür. Ferner wird das gesamte System der Anmeldung und Zum Gesetzentwurf selbst sei noch Folgendes anzu- Legitimation der Aktionäre zur Teilnahme und Abstim- merken: Über die Einführung unbestimmter Rechtsbe- mung in der Hauptversammlung an den aktuellen Stand griffe wie des Begriffs des „Feststellungsziels“ hinaus der Technik angepasst – ein fast revolutionärer Vorgang enthält er mehrfach Einschränkungen der dem Zivilpro- für das in diesem Punkt etwas veraltete Aktienrecht. zessrecht immanenten Dispositionsmaxime. Auch wird der Entwurf den eigenen Zielen nicht gerecht. Er führt Lassen Sie mich noch darauf hinweisen, dass der Ent- durch die Bekanntgabe der Musterverfahren im elektro- wurf ein ausgewogenes Paket bildet, bei dem insbeson- nischen Bundesanzeiger zu einer negativen Prangerwir- dere die komplexe Haftung einerseits und die An- kung für die betroffenen Unternehmen; die Vorschuss- fechtungsklage andererseits in einem untrennbaren pflicht für die Beweisaufnahme im Musterverfahren systematischen Zusammenhang stehen. Einzelne Rege- entfällt und damit fallen die Kosten zunächst der Staats- kasse und damit dem Steuerzahler zur Last. Außerdem lungen können daher nicht ohne Störung des Gesamt- ist es ein Trugschluss, zu glauben, dass durch die Verla- gleichgewichts geändert werden. gerung des Musterverfahrens an ein höherrangiges Ge- Mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, richt die Verfahren schlanker werden. Vielmehr wird die kurz KapMUG, betreten wir Neuland im Bereich des Papierflut an den Gerichten erhalten bleiben, wenn sie Prozessrechts. Wir verhelfen dem einzelnen Kapitalanle- nicht noch durch das geringe Kostenrisiko verstärkt wird. Dies waren nur einige kurze Anmerkungen, aber ger durch eine neue Form der Musterklage schnell und (B) sie sehen: Wir werden zu einer sinnvollen Umsetzung effizient zu seinem Recht. Wer etwa wegen falscher (D) der Ziele des Gesetzes noch viel zu diskutieren haben. Ad-hoc-Meldungen über Gewinnerwartungen oder durch unrichtige Börsenprospekte mit seiner Kapitalan- lage einen Schaden erlitten hat, soll seine Ansprüche Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der künftig leichter als bisher vor Gericht verfolgen und Bundesministerin der Justiz: Die Bundesregierung hat durchsetzen können. 2003 ihr Zehn-Punkte-Programm zur Verbesserung. von Tatsachen- und Rechtsfragen, die sich in mindestens Unternehmensintegrität und Anlegerschutz aufgelegt. Ziel war und ist weiterhin die Wiederherstellung des zehn individuellen Schadenersatzprozessen gleich lau- Vertrauens in die deutschen Finanzmärkte. Ein Rück- tend stellen, sollen in einem Musterverfahren gebündelt blick auf die letzten zwei Jahre zeigt, dass die seither und einheitlich durch das Oberlandesgericht entschieden von uns konsequent umgesetzten Reformmaßnahmen werden. bereits wirken. Das Vertrauen in die Aktienmärkte ist zu- rückgekehrt und die deutschen Börsen haben sich positiv Wir sorgen mit der Einführung des bundesweiten entwickelt. Die Bundesregierung wird diesen Trend wei- elektronischen Klageregisters dafür, dass nicht nur die ter stützen und die noch offenen Teile des Zehn-Punkte- Gerichte, sondern auch die betroffenen Anleger Kennt- Programms konsequent umsetzen. nis von bereits anhängigen Musterverfahren erhalten. Damit können solche oft zu Hunderten, ja Tausenden Das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Moderni- eingereichten Klagen zur Entlastung der Eingangsge- sierung des Anfechtungsrechts und das Kapitalanleger- richte bei einem Oberlandesgericht konzentriert und hin- Musterverfahrensgesetz sind dabei wichtige Wegmar- sichtlich der vorgelegten Musterfrage mit nur einer Be- ken. weisaufnahme auch einheitlich entschieden werden.

Lassen Sie mich mit dem UMAG anfangen: Der Ge- Im internationalen Vergleich beschreiten wir mit der setzentwurf enthält neue Regelungen zur Innenhaftung Einführung eines Musterverfahrens einen neuen Weg. der Organe der Aktiengesellschaft. Diese Regelungen Damit wird nicht nur der Anlegerschutz in Deutschland, führen zu einer besseren Durchsetzung der Haftung in sondern der Finanzplatz Deutschland insgesamt gestärkt. krassen Fällen von Unredlichkeiten und bei groben Rechtsverstößen. Gleichzeitig wird aber auch dem Be- Wir werden uns in nächster Zeit sicherlich noch wei- dürfnis nach einem sicheren Hafen im Bereich unterneh- ter intensiv mit diesen komplexen Gesetzen beschäfti- merischer Entscheidungen Rechnung getragen; gen. Ich freue mich auf die konstruktive Beratung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15699

(A) Anlage 6 darauf legte, dass die Busunternehmen ob nun Reisebus- (C) veranstalter oder der Bus-Fernlinienverkehr, von der Zu Protokoll gegebene Reden Mauterhebung befreit wurden, keine Maut zahlen müs- zur Beratung sen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und zu sein. –Antrag: Wettbewerbsnachteile und büro- War Ihnen die Kritik der Busunternehmer und ein- kratische Restriktionen für Omnibusver- schlägigen Verbände zu harsch? Und glauben Sie wirk- kehre beseitigen lich, dass Sie mit dem neuen Antrag so ganz ohne Ge- sichtsverlust den alten in der Versenkung verschwinden – Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des lassen können? Da nützen auch keine neuen Forderun- Personenbeförderungsgesetzes gen an die Bundesregierung, zumal die von ihnen gefor- (Tagesordnungspunkt 22 und Zusatztagesord- derten Absenkungen der Steuer- und Abgabenbelastung nungspunkt 9) schlicht und ergreifend unrealistische sind. Mit Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein wer- Heinz Paula (SPD): Es ist immer wieder eine beson- den wir in den parlamentarischen Beratungen zu den bei- dere Freude, wenn eine Oppositionsfraktion, und das den Anträgen über sicher dringend notwendige Verände- noch am späten Freitagnachmittag, mit den Regierungs- rungen im Interesse der Wettbewerbsförderung des koalitionen am gleichen Strang zieht und von der Bun- Omnibusverkehrs diskutieren. Nicht zuletzt die fort- desregierung die Vereinfachung gesetzlicher Bestim- schreitende Liberalisierung des Omnibuslinienverkehrs mungen fordert. Schön wäre es, wenn es immer so sein innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gibt Veranlas- könnte, dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter. sungen, auch den nationalen Rechtsrahmen zu überprü- Aber zurück zu den Tatsachen: In ihrem Antrag fen, dies natürlich in Abhängigkeit von der künftigen eu- „Wettbewerbsnachteile und bürokratische Restriktionen ropäischen Regelung, das sollten wir abwarten. für Omnibusverkehre beseitigen“ steht die FDP für die Aber eins ist für die Bundesregierung, ist für uns klar: Vereinfachung gesetzlicher Bestimmungen zum Gele- Der Bus ist und bleibt ein ökologisch sinnvoller und si- genheitsverkehr mit Omnibussen, für eine Beschränkung cherer Verkehrsträger, den es zu fördern gilt. Der Bus des Schutzes vorhandener Linienverkehre gegen Kon- benötigt weniger als ein Drittel an Kraftstoff und emit- kurrenzangebote, für eine günstigere Behandlung von tiert proportional weniger CO2 als ein PKW bei gleicher Omnibusverkehren im Steuer- und Abgaberecht sowie Auslastung und ist damit umweltfreundlicher. Der Flä- für einen höheren Anteil an Hilfen nach dem Regionali- chenbedarf geringer. Der Bus ist ein sicheres Verkehrs- sierungsgesetz für die Förderung von Busdiensten im mittel. So gab es im Jahre 2003 im MIV 5 470 Tote und (B) ÖPNV. So weit, so gut. im Busverkehr 17 getötete Insassen. (D) Dieser Antrag enthält zweifelsohne eine Reihe von Was die Bussicherheit betrifft, hat die Bundesregie- diskussionswürdigen Ansätzen zur Veränderung der der- rung eine ganze Menge getan. Ich erinnere hier nur an zeitigen Rechtslage über die in der parlamentarischen die gemeinsame Initiative von Bund und Ländern zur Beratung auch im Zusammenhang mit dem Antrag des Reisebussicherheit. Bundesrates zur Änderung des Personenbeförderungsge- setztes, der ebenfalls heute in erster Lesung behandelt Allerdings nützen bestehende und neue Vorschriften wird, gesprochen werden kann, wie die Vereinfachung nur wenig, wenn sie nicht wirksam kontrolliert werden des innerstaatlichen Genehmigungsverfahrens im Gele- und kontrolliert werden können. Die FDP täte ein Gutes, genheitsverkehr sowie die Klarstellung, dass Verkehrs- wenn sie in den Ländern, wo sie mitregiert, verstärkt mit leistungen nach dem Personenbeförderungsgesetz zum dem Bundesamt für Güterverkehr für mehr Kontrollen Beispiel nur an Busunternehmen mit inländischem Be- – zum Beispiel zur Überwachung der Lenk- und Ruhe- triebssitz erteilt werden sollen. zeiten – häufigste Unfallursachen – sorgt und dem BAG Aber ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, das Recht einräumt, Reisebusse zur Kontrolle anzuhal- das die FDP-Fraktion mit einem erneuten Antrag zum ten und dies nicht wie in Bayern zu verweigern. Thema Busverkehr ihren im Oktober vergangenen Jah- Herr Stoiber ließ mir vor einiger Zeit durch seinen res bereits vorgelegten Antrag mit weit über das Ziel hi- Leiter der Bayerischen Staatskanzlei Erwin Huber, mit- nausgeschossenen Forderungen zurücknehmen will. Mit teilen, „dass aus fachlicher Sicht eine isolierte Kontroll- dem Antrag 15/3953, „Novellierung des Personenbeför- möglichkeit des Bundesamtes für Güterverkehr nicht derungsgesetzes – Wettbewerb im öffentlichen Perso- angezeigt ist.“ Und weiter: „Die Synergieeffekte ge- nenfernverkehr zulassen“, haben sie unter anderem ei- meinsamer Kontrollen würden verloren gehen, weil bei nen generellen Wegfall des Konkurrenzschutzes bei der zwangsläufig begrenzten Kapazität des Bundesamtes Omnibusverkehren im Inland und im grenzüberschrei- bei einer stärkeren Anzahl von Einzelkontrollen Ge- tenden Bereich sowie die Einführung einer Maut für meinschaftsaktionen nicht mehr im bisherigen Umfang Busse im innerdeutschen Fernlinienverkehr gefordert. möglich wären.“ Busunternehmen zusätzlich mit Mautgebühren zu belas- ten, das, meine Damen und Herren von der FDP, ist ihre Vermehrte und wirksame Kontrollen wären aber im Förderung des Mittelstandes, ist ihre Politik, Wettbe- Interesse der Sicherheit der Fahrgäste und aller übrigen werbsnachteile für den Mittelstand zu beseitigen, im Ge- Verkehrsteilnehmer ein wichtiges Signal und lägen doch gensatz zur Bundesregierung, die ausschließlich Wert auch in ihrem Interesse. 15700 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

(A) Ein Wort noch zu ihrer Forderung nach Ausbildungs- lich entwickeln wird, da die Diskussion erst begonnen (C) richtlinien für Omnibusfahrer: Seit dem 19. April 2001 hat. besteht eine Verordnung über die Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer/zur Berufskraftfahrerin, Berufskraft- In der weiteren Diskussion zu prüfen ist insbesondere, fahrer-Ausbildungsverordnung BKV. Danach ist die inwiefern bei einer Liberalisierung des Omnibusfernver- Ausbildung Berufskraftfahrer/in in der Fachrichtung kehrs der öffentliche Verkehr Verkehrsmarktanteile hin- Personenverkehr nicht mehr möglich. Sie wurde neu ge- zugewinnen könnte, ohne dass es zu gravierenden Kan- ordnet und durch die Ausbildung Berufskraftfahrer/in, nibalisierungseffekten zwischen Reisebus und Bahn die nicht mehr nach Fachrichtungen gegliedert ist, abge- kommt. Sollte ein solcher Effekt durch eine intelligente löst. Erforderlich für den Zugang zum Beruf des Omni- Ausgestaltung des Rechtsrahmens möglich sein, so soll- busfahrers: Fahrerlaubnis zur Personenbeförderung, EU- ten im Gleichklang mit der innerhalb der EU geführten oder EWR-Fahrerlaubnis der Klasse D, D1, DE oder Diskussion konkrete Novellierungen des derzeitigen D1E, Mindestalter 21 Jahre. Die EU-Richtlinie 2003/59 Ordnungsrahmens diskutiert werden. Sollten jedoch grö- EG, die sich gerade in der Anhörung befindet und bis ßere Kannibalisierungseffekte nicht auszuschließen sein, September 2006 in nationales Recht umgesetzt werden so wird auch zukünftig eine grundsätzlich dem Schutz muss, eröffnet die Möglichkeit einer Absenkung des des wirtschaftlichen Betriebs des Systems Schiene die- Mindestalters von 21 auf 18 Jahre für die Fahrerlaubnis- nende Reglementierung des Omnibusfernverkehrsmark- klassen D und DE zur Personenbeförderung im Linien- tes notwendig sein – was im Einzelfall nicht heißt, das verkehr im Umkreis von 50 km sowie für die Fahrer- jede heutige Vorschrift für immer Bestandsschutz ge- laubnisklassen D und D1E – kleine Busse – im Falle der nießt. Berufsausbildung generell, von der nach dem Entwurf Ein konkretes Anliegen des Antrages ist übrigens be- der Verordnung Gebrauch gemacht werden soll. Da- reits „in der Pipeline“. Ein Gesetz- und Verordnungsent- durch wird für die Jugendlichen ein direkter Übergang wurf zur Grundqualifikation und Weiterbildung von nach Schulabschluss über die Berufsausbildung in den Omnibusfahrern und -fahrerinnen befindet sich bereits in Beruf erreichbar. der Verbändeanhörung. Sie sehen, bei der Veränderung rechtlicher Rahmen- bedingungen tut sich was. Gleiches wird sich auch tun, Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- was die Finanzierung von ÖPNV-Busdiensten betrifft. desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Der Das geschieht sicher im Rahmen der erneuten Überprü- vorliegende Entschließungsantrag der FDP-Fraktion ent- fung des Regionaliserungsgesetzes, dessen Revision in hält einen Katalog von elf Punkten. Durch eine Orientie- 2008 ansteht. rung an diesen Leitlinien – man könnte auch verführt (B) sein zu sagen „Wunschliste“ – soll die Wettbewerbs- (D) Die vorliegenden Anträge enthalten eine Mischung situation des Omnibusverkehrs verbessert werden. aus diskussionswürdigen Ansätzen zur Veränderung der gegenwärtigen Rechtslage, unrealistische Forderungen Wenn ich es recht sehe, hat dieser Entschließungs- nach Absenkungen der Steuer- und Abgabenlast für den antrag einen Vorgänger: In der Drucksache 15/3953 vom Omnibusverkehr und andere Vorschläge zur einseitigen 20. Oktober 2004 fordert die FDP-Fraktion, durch Förderung des Omnibus- und Gelegenheitsverkehrs. Es Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes Wett- gäbe noch viel dazu zu sagen. bewerb im öffentlichen Personenfernverkehr zuzulassen. Dabei wird nicht nur die vollständige Aufhebung der Ich freue mich auf die parlamentarische Beratung und heutigen Schutzklauseln für bestehende Omnibuslinien- auf Ihre konstruktive Mitarbeit – ohne Mautforderungen. und Eisenbahnverkehre gefordert, sondern auch die Ein- beziehung der Omnibusfernlinienverkehre in die Maut- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE regelung. GRÜNEN): Ziel des vorliegenden FDP-Antrages ist die Die Bundesregierung begrüßt, dass insoweit offenbar Vereinfachung gesetzlicher Bestimmungen des Gelegen- ein Sinneswandel eingetreten ist. Die entsetzte Reaktion heitsverkehrs mit Omnibussen. Im größeren Kontext aufseiten des deutschen Omnibusgewerbes war wohl be- geht es auch darum, inwiefern der Omnibusfernverkehr eindruckend genug. Wie sollte auch die gleichzeitige stärker liberalisiert werden kann. Forderung nach Steuer- und Abgabenentlastungen und nach Einführung einer Omnibusmaut auf Verständnis In einem besteht vermutlich große Einigkeit: Der Rei- stoßen? sebus ist ein ökologisch sinnvoller Verkehrsträger. Aller- dings sollte dabei auch festgehalten werden: Das System Mit dem neuen Entschließungsantrag wird jetzt nur Bahn ist dem Reisebus bei vergleichbarer oder teilweise noch ein Wegfall der Schutzklausel für bestehende Om- vorteilhafterer Umweltbilanz überlegen, insbesondere nibusfernlinien- und Eisenbahnverkehre gegenüber neu im Bereich der Verkehrssicherheit und im Reisekomfort. beantragten Omnibusfernlinienverkehren in Deutschland gefordert. Ferner werden Lockerungen bei den ein- Eine weitere Liberalisierung des Omnibusfernverkehrs schränkenden Regelungen für die verschiedenen Formen sollte deshalb reiflich überlegt und durchdacht sein. Die des Gelegenheitsverkehrs gefordert. europäische Kommission hat hierzu am 29. Juli 2004 erste Vorschläge vorgelegt, eine europäische Rahmen- Sicher gibt die fortschreitende Liberalisierung auch vorgabe wird vermutlich folgen. Heute ist jedoch noch des Omnibuslinienverkehrs innerhalb der Europäischen nicht erkennbar, welche Zielvorstellungen Europa letzt- Gemeinschaft – der Gelegenheitsverkehr ist in der Ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15701

(A) meinschaft bereits vollständig liberalisiert – immer wie- schreibung der Regionalisierungsmittel (wirksam ab (C) der Veranlassung, auch den nationalen Rechtsrahmen 2008) keine Kürzungen plant – und dabei bleibt es. auf Änderungsbedarf abzuklopfen. Dies ist auch schon Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass es sich Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre geschehen, also beim Omnibus um einen wichtigen und im Vergleich zu Zeiten, in denen die FDP an der Bundesregierung be- sehr sicheren und umweltfreundlichen Verkehrsträger teiligt war. Geschehen ist allerdings nichts. Es würde handelt. Hierzu müssen keine neuen Leitlinien „erfun- jetzt zu weit führen, ins Detail zu gehen. den“ werden. Verkehrsbedeutung und Umweltfreund- In ihrer Mitteilung vom 29. Juli 2004 hat die Europäi- lichkeit sind im Übrigen sehr ausdrücklich und wieder- sche Kommission zum Beispiel Vorschläge für eine wei- holt thematisiert worden, zum Beispiel in der Antwort tere dann fast vollständige Liberalisierung des grenz- auf die letzte einschlägige Großen Anfrage der FDP- überschreitenden Omnibuslinienverkehrs angekündigt. Bundestagsfraktion zum Tourismus in Deutschland und Soweit bekannt, liegen sie auf der Linie des Entschlie- im aktuellen Tourismusbericht. ßungsantrages der FDP. Vor diesem Hintergrund ist es Dass die weitere Angleichung steuer- und abgaben- für die Bundesregierung wesentlich, dass wir auf euro- rechtlicher Rahmenbedingungen bei den verschiedenen päischer und nationaler Ebene einen konsistenten mög- Verkehrsträgern eine Daueraufgabe ist, stellt auch keine lichst einheitlichen Rahmen für eine bessere Wettbe- neue Erkenntnis dar. Schon frühere Bundesregierungen werbsposition setzen. Die Bundesregierung verschließt – unter Beteiligung der FDP – sind hier nicht sehr viel sich dem nicht grundsätzlich. weitergekommen. Im Entschließungsantrag wird auch eine massive Um- Auch diese Bundesregierung setzt sich auf EU-Ebene steuerung von Investitions- und Fördermitteln zugunsten für die weitere Harmonisierung der Wettbewerbsbedin- der Straße und zulasten der Schiene gefordert. Ange- gungen aller Verkehrsträger ein. Sie hält grundsätzlich sichts der schon heute sehr hohen Verkehrsleistungen auf eine Mineralöl- und Umsatzsteuerbesteuerung sämtli- der Straße mit den entsprechenden Stau- und Umweltbe- cher Verkehrsträger unter dem Gesichtspunkt der steuer- lastungen finde ich diesen Ansatz schon bemerkenswert. lichen Gleichbehandlung für notwendig. Bei dem erwarteten Verkehrszuwachs auf den Straßen Sie alle wissen, dass dabei Vorgaben auf internationa- sind natürlich gerade bei den Bundesfernstraßen hohe ler Ebene zu berücksichtigen sind. Tun wir das nicht, ge- Investitionen erforderlich. Deshalb soll das hohe Investi- fährden wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit der tionsniveau trotz der Haushaltskonsolidierung beibehal- in Deutschland ansässigen Verkehrsunternehmen. Das ten werden. Zusätzlich wird die Initiative der Bundes- kann wohl kaum das Ziel dieses Antrages sein. regierung, durch Umsetzung von Betreibermodellen den (B) 6-spurigen Autobahnausbau zu fördern, für weitere Ent- Am konkretesten befasst sich der Entschließungs- (D) lastung an den Verkehrsschwerpunkten sorgen. Gleich- antrag mit Änderungen zu den Vorschriften über den zeitig aber muss die Schiene durch ein modernes und Omnibusgelegenheitsverkehr. Der Systematik des Perso- leistungsfähiges Streckennetz befähigt werden, ihren nenbeförderungsgesetzes entsprechend werden Aus- Anteil am Verkehrsaufkommen bedeutend zu erhöhen, flugsfahrten und Ferienziel-Reisen als Formen des Om- und zwar gerade bei Verkehren mit hoher Transport- nibusgelegenheitsverkehrs positiv definiert. Die FDP- weite. Dies kann nicht gelingen, wenn – wie gefordert – Fraktion schlägt nun vor, einige Tatbestandsmerkmale die künftige Verteilung der Investitionsmittel stärker an dieser Definitionen zu streichen, deren Zweck es vor al- den heutigen Anteilen an der Verkehrsleistung orientiert lem war, die Abgrenzung zum Omnibuslinienverkehr, wird. der ja für jede einzelne Linie der Genehmigungspflicht unterliegt, vorzunehmen. Wir brauchen nicht – noch – mehr Anreize zur Ver- kehrsverlagerung auf die Straße, sondern Anreize zur Vor dem Hintergrund, dass in der Europäischen Ge- Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene. meinschaft der Gelegenheitsverkehr mit Kraftomnibus- Deshalb kann auch die geforderte Verschiebung im sen nicht nach einzelnen Formen differenziert wird und ÖPNV zugunsten von Busdiensten kein Selbstzweck vollständig liberalisiert ist, sind wir bereit, die Vor- sein. schläge und ihre Auswirkungen sorgfältig zu prüfen. Auch im Gelegenheitsverkehr sollte der Ordnungsrah- Was den vorgeschlagenen Einsatz von Mitteln nach men auf europäischer und nationaler Ebene nicht we- dem Regionalisierungsgesetz angeht, können die sentlich divergieren. Wenn mit den Vorschlägen der FDP Rechtsgrundlagen für diese Bundesleistungen an die ein Beitrag zur Endbürokratisierung geleistet werden Länder nicht einfach beiseite geschoben werden. kann, wird sich die Bundesregierung dem nicht wider- Schließlich hat der Bund den Ländern einen Ausgleich setzen. Dies gilt auch bei der Überführung der euro- für die Übernahme des Schienenpersonennahverkehrs päischen Richtlinie zur obligatorischen Fahreraus- und im Rahmen der Bahnreform zu leisten. -fortbildung in deutsches Recht. Dort ist in Fachkreisen allgemein bekannt, dass die Bundesregierung anstrebt, Nach § 7 des Regionalisierungsgesetzes sind diese Jugendlichen einen direkten Übergang nach dem Schul- Mittel insbesondere für die Finanzierung des Schienen- abschluss – 9./10. Klasse – über die Berufsausbildung in personennahverkehrs zu verwenden; die Verantwortung den Beruf als Kraftfahrer zu ermöglichen. für die bestimmungsgemäße Verwendung trifft aller- dings das jeweilige Land. Die Bundesregierung hat wie- Alles im allem enthält der Antrag eine Mischung aus derholt betont, dass sie für die 2007 vorgesehene Fort- diskussionswürdigen Ansätzen zur Veränderung der 15702 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

(A) derzeitigen Rechtslage, unrealistischen Forderungen Zahl der Besucher in der Stadt auf einem nie da gewese- (C) nach Absenkungen der Steuer- und Abgabenbelastung nen Niveau. für den Omnibusverkehr und anderen Vorschlägen zur einseitigen Förderung des Omnibusverkehrs. In der vor- Die mit Abstand stärkste Zunahme der Zahl der Flug- gelegten Fassung ist der Antrag nicht annehmbar. gäste hat dabei der Flughafen Schönefeld zu verzeich- nen. Sicherlich ist diese Entwicklung in erster Linie den Low-Cost-Fliegern zu verdanken. Aber dass Schönefeld Anlage 7 aufgrund dieser Tatsache und seines „Zustandes“ Ge- schäftsreisenden nicht zuzumuten ist, wie es die Landes- Zu Protokoll gegebene Reden FDP noch kürzlich im Abgeordnetenhaus durchblicken ließ, offenbart die tatsächlichen Gründe für den Kampf zur Beratung der Anträge: der FDP für Tempelhof. Im Gegensatz zu Schönefeld – Flughafenanbindung nach Schönefeld frist- sind die Zahlen auf dem Flughafen Tempelhof im glei- gerecht fertig stellen – Planfeststellung der chen Zeitraum rückläufig. Dort werden nur noch knapp Dresdner Bahn voranbringen über 400 000 Passagiere pro Jahr abgefertigt. – Flugverkehrskonzept für den Großraum Schönefeld nimmt eine positivere Entwicklung; es Berlin überprüfen – Flughafen Berlin-Tem- kommt Bewegung ins Spiel. So ist es gelungen, German- pelhof offen halten wings für die Ansiedlung am Standort Schönefeld zu ge- winnen. Delta wird ab Mai und Continental ab Juli täg- (Tagesordnungspunkt 23 a und b) lich New York anfliegen. Dadurch wird der Stadt sicherlich weiterer Zuwachs an Passagieren zuteil. Zur- Siegfried Scheffler (SPD): Kaum ein Thema hat zeit verhandelt der Berliner Senat darüber hinaus mit mich in all den Jahren so stark begleitet wie der Flugha- asiatischen Unternehmen, damit auch Direktverbindun- fen Schönefeld. Dies liegt nicht nur darin begründet, gen in den asiatischen Raum entstehen. Diese Entwick- dass der Flughafen in meinem Wahlkreis Berlin-Treptow lung ist wichtig. Es mutet ja auch geradezu kurios an, liegt und dort natürlich die Gemüter bewegt, sondern dass eine große europäische Hauptstadt wie Berlin als auch, weil das Thema durchaus an die bekannte ARD- einziges interkontinentales Ziel bisher Ulan-Bator in der Show „Pleiten, Pech und Pannen“ erinnert. Es geht um Mongolei anfliegt. eine fatale Entwicklung, die durch den massiven politi- schen Druck des damaligen Verkehrsministers Deshalb muss der Ausbau der so genannten Dresdner Wissmann in einem CDU-geführten Ressort ihren An- Bahn, der für den Erfolg von Schönefeld essenziell ist fang nahm. – da stimme ich ausdrücklich zu – endlich aus den Start- (B) löchern kommen. Ich bin sehr froh, dass nach Jahren der (D) Das nicht enden wollende Gezerre macht allerdings Stagnation, die – das muss man leider sagen – dem Ber- auch die Bedeutung dieses Infrastrukturprojektes deut- liner Senat anzulasten ist, nunmehr endlich Bewegung in lich: Der Ausbau der Flughafens Berlin International in dieses Projekt kommt. Die Planfeststellungsunterlagen Berlin ist – ich denke, da werden mir die meisten zustim- wurden, wie mir der Präsident des EBA gestern noch men können – ein zentrales wirtschaftspolitisches übermittelte, vom Eisenbahn-Bundesamt geprüft und Thema für die Region Berlin/Brandenburg. Für ganz liegen jetzt bei der Anhörungsbehörde vor. Ostdeutschland wäre die Realisierung der Pläne für den Ausbau des Flughafens von herausragender Bedeutung. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht ganz die Intention des CDU/CSU-Antrages, der sich mit der Flughafenan- Man mag zu der Standortentscheidung von 1996, dem bindung von Schönefeld durch die so genannte Dresdner so genannten Konsensbeschluss, stehen, wie man will. Bahn beschäftigt. Während die erste Hälfte des Antrags Auch ich war bis zu dem Entscheid, der gemeinsam von kurz und gar nicht einmal falsch den Stand der Dinge be- den drei Beteiligten – Bund, Land Berlin und Land schreibt, zitieren Sie im zweiten Teil diverse Zeitungsar- Brandenburg – getroffen wurde, ein Gegner des Baus ei- tikel, die auf Spekulationen und Vermutungen beruhen, nes Großflughafens am Standort Schönefeld. Den sicher- und entwickeln daraus Forderungen, die entweder lich zu erwartenden Impulsen für Beschäftigung und selbstverständlich sind oder aber auf falschen Tatsachen Wirtschaft in meinem Wahlkreis vor Augen fühlte ich beruhen. mich den Sorgen der Betroffenen vor Lärm, Schmutz und Wertverlust ihrer Grundstücke verpflichtet. Genauso schwammig, wenn auch jedoch nicht un- wahrscheinlich, ist die Annahme, dass die Inbetrieb- Mit dem Vorliegen des Planfeststellungsbeschlusses nahme der wieder aufzubauenden Dresdner Bahn noch für Schönefeld ist eine Hürde für die Öffnung eines vor Inbetriebnahme des Flughafens Berlin Brandenburg funktions-, leistungs- und wettbewerbsfähigen interna- International, BBI, nicht gelingt. Angesichts des seit tionalen Verkehrsflughafens für die Hauptstadt Berlin mehreren Jahren ruhenden und nunmehr fortzusetzenden und die Hauptstadtregion Berlin/Brandenburg im Jahre Planfeststellungsverfahrens ist eine Wiederinbetrieb- 2010 genommen worden. Vom Flughafen BBI wird im- nahme der Strecke tatsächlich kaum vor Ende 2011/An- mens viel wirtschaftliche Entwicklungs- und Anzie- fang 2012 möglich. hungskraft ausgehen und er wird sich – davon bin ich überzeugt – zu einer Jobmaschine entwickeln. Alleine Was sagt uns das? Im Grunde gar nichts, denn dass im vergangenen Jahr nahm der Flugverkehr der Haupt- die Strecke nach gegenwärtigem Stand der Dinge frühes- stadt um 11,8 Prozent zu; gleichzeitig bewegt sich die tens Ende 2011/Anfang 2012 fertig gestellt ist, bedeutet Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15703

(A) nicht, dass der Großflughafen nur mit halber Kraft läuft. auch natürlich die Anwohner vor Ort die Tunnelvariante (C) Zum einen steht heute überhaupt noch nicht fest, ob BBI präferieren. Wenn das Planfeststellungsverfahren zu Er- tatsächlich 2010 eröffnet werden kann – ich bin in dieser gebnissen kommt, die zusätzliche Lärmminderungsmaß- Frage eher skeptisch –, zum anderen gibt es Alternati- nahmen nötig machen, wird dieser Verpflichtung natür- ven, die den Zeitraum bis zur Eröffnung des BBI über- lich nachgekommen. brücken können: Da die freien Kapazitäten auf diesen Strecken nicht unendlich sind, wird man alternative Stre- Nun führt die Opposition aus, dass in der Mittelfrist- cken wie einmal in der Nord-Süd-Verbindung Haupt- planung der DB AG die Mittel für den Bau der Dresdner bahnhof/Lehrter Bahnhof, Papestraße, Anhalter Bahnhof, Bahn zurückgestellt worden seien. Es mag sein, dass die Großbeerener Kurve, Berliner Außenring, Flughafen DB AG aufgrund der vom Berliner Senat verursachten BBI und zum anderen über Hauptbahnhof/Lehrter Bahn- Verzögerungen beim Planfeststellungsverfahren und der hof, Stadtbahn, Berlin-Karlshorst, Berliner Außenring, damit verbundenen Planungsunsicherheit Zeichen setzen Grünauer Kreuz, Görlitzer Bahn, Flughafen BBI nutzen wollte und diese Nachricht somit bewusst in die Welt ge- müssen, um die Frequenz darstellen zu können. Da setzt wurde. Bedeutung für den weiteren Verlauf der Schönefeld nach seiner Fertigstellung noch nicht die vol- Maßnahme hat diese Nachricht keine, da, wie sowohl len Kapazitäten erreichen wird, halte ich eine – sofern Herr Mehdorn als auch Staatssekretär Achim Großmann sie denn nötig ist – kurzfristige Alternativlösung für ak- mir versichert haben, der Bund als Mehrheitseigentümer zeptabel. der Bahn das Projekt ohne Abstriche prioritär verfolgt. Auch seitens des Senats wurde mir versichert, dass nach Natürlich wird es bei der Führung von Zügen zum Abschluss des Planfeststellungsverfahrens die Mittel Flughafen Berlin-Brandenburg International über die fließen werden. Im Übrigen hat auch Herr Minister Anhalter Bahn oder über die Stadtbahn zu zusätzlichen Stolpe klar gemacht, dass die DB AG die Planungen für Belastungen für die Anwohner kommen. Die tatsächli- den Bau der Dresdner Bahn als auch der Anbindung an che Zugzahl zu einem bestimmten Zeitpunkt kann aber den Flughafen vorantreibt und nach Erlangung des Bau- sowohl über als auch unter derjenigen des Betriebspro- rechts beabsichtigt, diese Vorhaben zu realisieren. Ich gramms liegen. Auch bitte ich zu berücksichtigen, dass habe keinerlei Grund, an diesen Aussagen zu zweifeln es sich dabei – wenn überhaupt – um einen befristeten und mich den Mutmaßungen und Schlussfolgerungen Zeitraum handelt. anzuschließen. Es sollte auch keinen erkennbaren Grund geben, bei Vorliegen des Baurechts mit dem Ausbau zu Niemandem von uns ist es derzeit möglich, definitiv warten. Mir ist keiner bekannt. zu beurteilen, ob und, wenn ja, wie viele Züge über wel- chen Zeitraum die Anhalter Bahn anstelle der noch nicht Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch einmal mit den heftigen Befürwortern des bereits erwähnten Konsensbe- (B) fertig gestellten Dresdner Bahn benutzen müssten. Inso- (D) weit sind alle Annahmen über ein zukünftig geändertes schlusses in den Oppositionsparteien über die Schlie- Betriebsprogramm für die Anhalter Bahn reine Spekula- ßung des Flughafens Tempelhof streiten muss. Bereits tion. Zudem steht, wie bereits gesagt, zum gegenwärti- 1996 wurde vereinbart, den Flughafen Tempelhof zu gen Zeitpunkt überhaupt noch nicht fest, ob BBI tatsäch- schließen, sobald der Planfeststellungsbeschluss für den lich wie geplant 2010 in Betrieb geht. Nur dann machen Flughafen Schönefeld bestandskräftig wird. Trotz großer diese Überlegungen überhaupt Sinn. Ich frage mich, wa- Bauchschmerzen wurde dieser Beschluss auch nach dem rum wir hier unsere kostbare Zeit damit verschwenden, Wechsel der Regierungen auf Bundes- und Landesebene über Spekulationen zu diskutieren. zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt. Am 13. August letzten Jahres ist der Planfeststellungsbeschluss für Dass die Bundesregierung gesteigertes Interesse da- Schönefeld erlassen worden, 2006 wird er voraussicht- ran hat, das Baurecht einem zügigem Entscheid zuzufüh- lich Rechtskraft erlangen. Ich habe keinen Anlass – trotz ren, versteht sich von selbst. Dieses Interesse haben im der eingereichten Klagen, die zurzeit vor dem Bundes- Übrigen alle Planungsbeteiligten. Die Anbindung des verwaltungsgericht in Leipzig verhandelt werden –, an Flughafens Schönefeld und damit die erfolgreiche Reali- diesem Datum zu zweifeln. Wir haben keinen Anlass, sierung des derzeit wichtigsten Infrastrukturprojektes in den Beschluss von damals infrage zu stellen und erneut Ostdeutschland ist von allerhöchster Bedeutung nicht eine Diskussion zu führen, die vor zehn Jahren im Kon- nur für Berlin, sondern für die ganze Region. Auch dass sens zu Ende gebracht wurde. Es war noch nie gut, de- dabei die Interessen der Anwohner so weit als möglich mokratisch getroffene Entscheidungen von dieser Trag- berücksichtigt werden, ist Prämisse des verkehrspoliti- weite infrage zu stellen. schen Handelns der Bundesregierung. Die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition Aber richtig ist auch, dass bei der Realisierung der gefährden jedoch mit ihren Forderungen bezüglich Of- Dresdner Bahn die ökonomischste Lösung realisiert wer- fenhaltung des Flughafens Tempelhof über den Planfest- den muss. Der Haushaltsausschuss und letztendlich wir stellungsbeschluss hinaus – wie auch jetzt wieder mit als politisch Verantwortliche haben in dieser Frage ein dem heute zur Debatte stehenden Antrag – das Gesamt- entsprechendes Mitspracherecht, da es schließlich der konzept, sprich: den Ausbau des Flughafens BBI. Es Bund ist, der den mit Abstand größten Batzen bei der Fi- liegt doch auf der Hand: Ein Weiterbetrieb des defizitä- nanzierung der Schienenanbindung und des Terminals ren Flughafens Tempelhof würde mittel- und langfristig trägt. Dieses Mitspracherecht hat letztendlich dazu ge- zu einer unkalkulierbaren Schuldenlast führen, Flugver- führt, dass nunmehr die ebenerdige Variante zur Plan- kehre von Schönefeld fernhalten und den Weg zu einer auslegung kommt, auch wenn der Berliner Senat als sauberen und soliden Finanzierung des Single-Airports 15704 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

(A) Schönefeld blockieren. Dies hat sich bei Gesprächen der lionen Euro. Ihnen allen ist die prekäre Finanzsituation (C) Flughafengesellschaft mit möglichen Kreditgebern als des Landes Berlin bekannt. Es ist für die Stadt von exis- wichtiger Punkt herausgestellt. tenzieller Bedeutung und von ökonomischer Konse- quenz, sich von Einrichtungen zu trennen, von der nur Muss ich die Opposition wirklich darauf hinweisen, eine elitäre Minderheit profitiert und die weder für die dass alle Genehmigungsfragen nach § 31 Abs. 2 Luft- Menschen noch für das Land irgendetwas bringt. Tem- verkehrsgesetz im Rahmen der Auftragsverwaltung pelhof ist schon lange ein Verlustbringer. Von 1991 bis beim Land Berlin liegen? Ich kann nicht erkennen, wo 2003 hat sich ein Defizit in Höhe von 139 Millionen bei dieser Angelegenheit Bundesinteressen berührt oder Euro angesammelt. Die jährlichen Verluste lagen zwi- verletzt werden, die ein Aktivwerden des Bundes recht- schen 7 Millionen und 17 Millionen Euro. fertigen würden. Durch die Schließung bzw. teilweise oder völlige Offenhaltung des Flughafens Tempelhof Für 2004 wurde von der FBS ein Verlust von sind öffentliche Interessen des Bundes nicht berührt. 15,2 Millionen Euro erwartet. Wenn der Flugbetrieb auf- Auch wenn Berlin als Luftverkehrsstandort für den Bund rechterhalten würde, kämen nach Berechnungen der von herausragender Bedeutung ist, trifft dies auf den FBS bis 2010 noch einmal 120 Millionen Euro dazu. Flughafen Tempelhof mit Sicherheit nicht zu. Wieso Auch die Entwicklung des Verkehrsaufkommens spricht sollte jetzt – erst recht vonseiten des Bundes – der Kon- eine klare Sprache: Im Jahre 1993 hatte der Flughafen sensbeschluss von 1996 infrage gestellt werden, der eine Tempelhof seinen Höhepunkt mit rund 68 000 Flugbe- Schließung von Tempelhof bei Vorlage des Planfeststel- wegungen und 1,1 Millionen Passagieren. Seitdem geht lungsbeschlusses bzw. Erlangung der Rechtskraft für die Entwicklung kontinuierlich bis auf eine „kleine Er- Schönefeld vorsieht? holung“ in den Jahren 1997 und 1998 nach unten. 2003 gab es noch rund 37 000 Flugbewegungen und rund Sie verdrängen mit dieser Initiative nicht nur, dass die 450 000 Fluggäste. Ich halte es für absolut falsch, für Entscheidung für die Schließung des Flughafens Tempel- eine kleine Klientel von Geschäftsleuten und Bundes- hof Teil des Planfeststellungsbeschlusses für Schönefeld tagsabgeordneten, die einen möglichst kurzen Weg zur ist, sondern auch, dass darüber hinaus ein sicherheitsrele- Arbeit und zu Terminen haben wollen, ein so überflüssi- vanter, ein ökologischer sowie ein ökonomischer Zwang ges, teures und die Menschen belastendes Fossil wie den besteht, Tempelhof zu schließen. Ich glaube und be- Flughafen Tempelhof weiter zu betreiben. Die Millio- fürchte gleichzeitig, dass die Damen und Herren, die da- nen, die Tempelhof Jahr für Jahr kostet, werden an ande- für plädieren, dieses – an diesem Standort – überflüssig rer Stelle dringend gebraucht. werdende Verkehrsmittel aufrechtzuerhalten, in erster Li- nie aus Eigeninteresse handeln. Vor diesem Hintergrund hatte die Berliner Flughafen- gesellschaft bei der Senatsverwaltung für Stadtentwick- (B) So sehr es zu begrüßen ist, die Abgeordneten des (D) lung einen Antrag auf Befreiung von der Betriebspflicht Deutschen Bundestags oder aber auch Geschäftsleute, für den Flughafen Tempelhof gestellt. Die zuständige die mit dem Privatjet einschweben, möglichst schnell an Luftfahrtbehörde in Berlin hat diesem Antrag stattgege- ihren Arbeitsplatz zu bringen, so wenig kommt es auf ben und die Berliner Flughafengesellschaft mit Wirkung die wenigen Minuten an, die man für eine Anreise vom ab 31. Oktober 2004 von der Betriebspflicht des Flugha- quasi auch im Stadtgebiet liegenden Flughafen Schöne- fens Tempelhof befreit. Die damit verbundene sofortige feld mehr benötigt. Natürlich gibt es auch Fluggesell- Vollziehbarkeit wurde jedoch nach der Klage einiger schaften, die auf Druck ihrer Passagiere den Flugbetrieb Fluggesellschaften aufgehoben. in Tempelhof aufrechterhalten möchten. Ich frage Sie aber: Wo leben wir denn, wenn einige einflussreiche ge- Doch die Befürworter von Tempelhof sollten sich in sellschaftliche Größen, oder Leute, die glauben, Sie dieser Angelegenheit keine frühzeitigen Hoffnungen seien solche Größen, meinen, auf dem Rücken der ge- machen: Dieses Urteil hat nur aufschiebende Wirkung; beutelten Hauptstadt ihre Eigeninteressen durchsetzen somit ist auch die Schließung nur aufgeschoben. Ich bin zu können? daher nach wie vor guter Dinge, dass der Flugverkehr eingestellt wird, sobald der Planfeststellungsbeschluss Bitte verbuchen Sie auch nicht die Entscheidung des für die Süderweiterung des Flughafens Schönefeld Bundes, ab Mai dieses Jahres den Beamtenshuttle zwi- rechtskräftig ist. Die von den Antragstellern dargelegten schen Bonn und Berlin ab/nach Tempelhof fliegen zu Gründe, die angeblich für einen Weiterbetrieb von Tem- lassen, als Positionierung des Bundes pro Tempelhof pelhof sprechen sollen – Angebote privater Betreiber, und somit als Annährung an Ihre Position. Der einzige Tempelhof in Eigenregie weiterzuführen, sowie das Grund, den Beamtenshuttle von Tegel nach Tempelhof Konzept, Tempelhof als Cityterminal mit eigener Tras- zu verlegen, besteht darin, dass dort zurzeit die Tickets senanbindung für BBI auszubauen –, sind entweder günstiger sind als in Tegel. Ab Oktober wird erneut aus- nicht seriös, da die Privaten zum Beispiel nicht die Ge- geschrieben und es steht keineswegs fest, dass Tempel- bäude, die die hauptsächlichen Kosten verursachen, hof erneut den Zuschlag bekommt. übernehmen wollen, bzw. es bestehen erhebliche rechtli- So wie bei dieser Entscheidung des Bundes ökonomi- che und auch konzeptionelle Bedenken gegen die Idee, sche Gesichtspunkte zum Zuge kamen, so fühlt sich na- Tempelhof als Check-in-Terminal für BBI zu nutzen. türlich auch die SPD-geführte Landesregierung dem Pri- Zudem bin ich der Ansicht, dass die Überprüfung der mat der Wirtschaftlichkeit verpflichtet: Der Flughafen Machbarkeit bei den zuständigen Stellen in guten Hän- Tempelhof fährt Jahr für Jahr erhebliche Verluste ein. den ist und nicht den Deutschen Bundestag tangieren Alleine im Jahr 2003 entstand ein Minus von 15,25 Mil- sollte. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15705

(A) Ich weiß mich mit IHK und Berliner Wirtschaft einig, zungsüberlegungen anzustellen ist gut und sinnvoll. (C) dass das derzeitige Flughafensystem mit drei Flughäfen Wichtig ist mir persönlich als Berliner, dass ein großer nicht geeignet ist, nationale und internationale Verbin- Teil des Tempelhofer Feldes als grüne Lunge, als Nah- dungen in größerem Umfang nach Berlin zu holen. erholungsgebiet für die Berlinerinnen und Berliner er- Sechs Start- und Landebahnen an drei Standorten wi- halten bleibt. In dem Konzept „Park der Luftbrücke“, ckeln vor Ort ein vergleichsweise geringes Passagierauf- das vor einigen Jahren erstellt wurde, sind daher allein kommen ab. Das ist wirtschaftspolitisch, verkehrspoli- 210 Hektar als Grünfläche eingeplant. tisch und strukturell nicht zu verantworten und ist im Zudem eröffnet ein so riesiges Areal wie der Flugha- Übrigen auch für den Steuerzahler nicht hinnehmbar. fen Tempelhof die Chance, die Inanspruchnahme von Das Gezerre um die notwendige Schließung von Tem- Flächen außerhalb des Siedlungskörpers zu reduzieren. pelhof sorgt für Unsicherheit und Verwirrung, die die Das bedeutet nicht nur ein Stück mehr nachhaltige Ent- seit 1996 bestehende Planungssicherheit permanent zer- wicklung und weniger Zersiedlung. Es bedeutet auch, redet. dass mittelfristig weniger Folgekosten für die infrastruk- Nur durch die Verlagerung des Flugverkehrs von den turelle Erschließung entstehen. Die Flächenpotenziale beiden innerstädtischen Flughäfen Tegel und Tempelhof des Flughafens Tempelhof sind ein Riesenpfund der nach Schönefeld erwachsen große wirtschaftliche Chan- Stadt. In anderen Ballungsräumen wie in Stuttgart oder cen für Berlin und Brandenburg. Dies ist es, um was es München gibt es eine erhebliche Knappheit an verfügba- uns gehen muss um Arbeitsplätze für Berlin und die Re- ren Flächen. In einer Zeit, in der noch sehr viele Flächen gion. Heute arbeiten an den Berliner Flughäfen mit rund auch in anderen Innenstadtlagen frei sind, ist viel Platz 15 000 Menschen rund 5 000 mehr als vor zehn Jahren. für Fantasie. Vorstellbar ist zum Beispiel, das heutige Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer Arbeitsplätze in den Flugfeld als einen neu gewonnenen Freiraum zu entwi- angrenzenden Bereichen. Hier besteht ein großes Poten- ckeln, der für Erholung, Sport, Kultur, Naturerlebnis und zial, das entscheidend für die Entwicklung Berlins und viele andere Aktivitäten genutzt werden kann. der Berliner Wirtschaft ist. Wer diese Chancen leichtfer- Auch im Hinblick auf die künftige Nutzung des Flug- tig aufgrund tagespolitischer Vorteile zerredet, verunsi- hafengebäudes muss Offenheit bestehen. Auch dieses chert Investoren und Wirtschaftsunternehmen und scha- Gebäude, welches übrigens das größte Gebäude Europas det der Region und den Menschen in Berlin und und eines der größten der Welt ist, bietet ein einzigartiges Brandenburg. Flächenpotenzial mitten in Berlin. Das Land Berlin – zu Die Menschen scheinen Sie bei Ihrer Initiative pro 17 Prozent Eigentümer der Immobilie – und der Bund, Tempelhof völlig vergessen zu haben; denn der wich- der zu 83 Prozent Eigentümer ist, müssen gemeinsam über denkbare Optionen für die künftige Nutzung des Ge- (B) tigste Grund für eine möglichst zügige Schließung des (D) Flughafens sind die Menschen in Tempelhof und Neu- bäudes nachdenken. Die Frage ist zum Beispiel, ob und kölln: Diese leiden unter dem Fluglärm und der empfun- gegebenenfalls für welche Bundeseinrichtungen eine Un- denen Bedrohung durch tief fliegende Flugzeuge ge- terbringung im Flughafengebäude infrage kommt. nauso, wie die Menschen in Reinickendorf, Tegel und Das derzeitige Flughafensystem erklärt sich aus- Spandau unter dem Betrieb des Flughafens Tegel leiden. schließlich aus der speziellen historischen Entwicklung Bei allem Getrommel für Tempelhof sollten Sie sich üb- mit Kaltem Krieg sowie Teilung Deutschlands und Ber- rigens einmal die Frage stellen, inwieweit das neue Flug- lins durch die Mauer. Sie müssen doch endlich einmal lärmgesetz nicht eventuell erhebliche Investitionskosten zur Kenntnis nehmen, dass die Mauer vor 16 Jahren ge- für Lärmschutzmaßnahmen nach sich ziehen wird. Wer fallen ist und somit auch die Berechtigung für dieses in- hat diese Kosten zu tragen? Sicherlich nicht die Flug- effektive Flughafensystem. gäste des Flughafens Tempelhof. Natürlich weiß ich als Berliner aber auch, dass der Tempelhof ist nicht nur ökologisch und ökonomisch Abschied von Tempelhof für viele Berlinerinnen und unsinnig. Tempelhof und Flughafen Tegel sind gefähr- Berliner schmerzlich ist. An diesem Flughafen hängen lich. Es ist den Menschen der Stadt nicht zuzumuten und zahlreiche Erinnerungen. Viele Menschen in dieser Stadt auch nicht zu erklären, dass sie mit der ständigen Gefahr haben die Luftbrücke noch selbst miterlebt und können leben müssen, dass ihnen ein Flugzeug auf den Kopf fal- sich bis heute an das Brummen der Rosinenbomber erin- len könnte, wie zuletzt am Himmelfahrtstag 2002 in nern. Ich bin mir sicher, dass der SPD-geführte Senat die Neukölln geschehen. Die Start- und Landebahn in Tem- historische Bedeutung des Flughafens für die Stadt zu pelhof endet direkt an Wohnhäusern, im Umfeld des würdigen weiß und dafür Sorge trägt, dass Tempelhofs Flughafens gibt es keine Fläche für Notlandungen. Ein- Geschichte lebendig bleiben wird – auch nach der Ein- mal ganz abgesehen davon, dass es wirklich absurd an- stellung des Flugverkehrs. mutet, wenn man bedenkt, wie streng die Kontrollen auf den Flughäfen aus Angst vor Anschlägen sind, auf der Berlin braucht nicht drei Flughäfen, sondern muss die anderen Seite Flugzeuge jedoch ihre Warteschleifen über ganze Kraft darauf konzentrieren, Schönefeld als den ei- Wohn- und Regierungsviertel ziehen. nen Flughafen der Region Berlin Brandenburg zu entwi- ckeln. Jeder zusätzliche Flughafen im Einzugsbereich Die Schließung von Tempelhof bedeutet, dass Berlin von BBI schwächt die Position von BBI – ob das Neu- ein riesiges Flächenpotenzial von 357 Hektar in Innen- hardenberg ist, Stendal oder Tempelhof. Es wäre doch stadtlage für neue Nutzungen gewinnt. Für die Verwen- absurd, wenn wir vor dem Start von BBI auch noch für dung gibt es viele denkbare Varianten. Schon jetzt Nut- Konkurrenz im eigenen Umfeld sorgen würden, indem 15706 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005

(A) wir – auch einer privat organisierten – Weiterführung nerung rufen – das ist hier notwendig, weil einige Abge- (C) von Tempelhof zustimmen würden. BBI wird nur dann ordnete das anscheinend verdrängt haben –, dass der zu einem Erfolg, wenn er wirklich Single-Airport in der Bund und die Länder Brandenburg und Berlin sich 1996 Region ist. gegen die unwirtschaftliche Aufteilung des Flugverkehrs in Berlin auf drei Flughäfen ausgesprochen haben, Ich denke, dass es gerade in der jetzigen Phase darauf ankommt, keine falschen Signale auszusenden. Die un- Der Konsensbeschluss, der von der damaligen CDU/ nötige und hauptsächlich Partikularinteressen dienende FDP-Bundesregierung und von der CDU-geführten Ber- Beibehaltung des Flughafenstandorts Tempelhof wäre liner Landesregierung gefasst wurde, sieht die Errich- ein solches falsches Signal. tung des Flughafens als Single-Airport für die Region vor. Tempelhof soll bei Vorlage des rechtskräftigen Plan- feststellungsbeschluss geschlossen werden, Tegel wenn Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE der neue Flughafen BBI eröffnet wird. Im Gegensatz zur GRÜNEN): Mit dem Antrag zur Flughafenanbindung CDU/CSU und FDP stehen wir zu diesem Beschluss. Berlin-Schönefeld fordert die CDU/CSU im Wesentli- chen, auf die Verfahrensbeteiligten im Planfeststellungs- Wir lehnen die Offenhaltung des Flughafens Tempel- verfahren zur Dresdner Bahn einzuwirken, dass dieses hof aus ökonomischen und ökologischen Gründen ab. Je zügig zum Abschluss gebracht wird und dass dabei die länger der Flughafen Tempelhof geöffnet bleibt, umso Interessen der Anwohnerinnen und Anwohner berück- schlechter wird die Ertragssituation der Flughafengesell- sichtigt werden. schaft und umso höher werden die notwendigen Mittel sein, die der Bund und die Länder Brandenburg und Ber- Auch ich bin der Meinung, dass das Verfahren jetzt lin aufbringen müssen. zügig weiterbearbeitet werden muss, der Berliner Senat seine zögerliche Haltung aufgeben und seiner Aufgabe Auch für die Anwohnerinnen und Anwohner ist die als Anhörungsbehörde nachkommen sollte. Dies ist dem Schließung des Flugbetriebs in Tempelhof ein Schritt in Berliner Senat bereits deutlich gemacht worden. Natür- die richtige Richtung; sie sind nicht länger einem Sicher- lich müssen im Planfeststellungsverfahren die Interessen heitsrisiko mit unzumutbar hoher Lärmbelästigung und der Anwohnerinnen und Anwohner ausreichend berück- Gesundheitsgefährdung ausgesetzt. In den Jahrzehnten sichtigt werden. In dem durchaus problematischen Fall, der Teilung der Stadt mussten diese Risiken getragen im Planungsabschnitt 2, der Ortsdurchfahrt in Lichter- werden, die heute nicht mehr zu verantworten sind. Ein felde, ist dies auch dringend geboten, weil auf die An- Flughafen mitten in einem Wohngebiet ist nicht länger wohnerinnen und Anwohner erhebliche Belastungen zu- tragbar. Deshalb muss gehandelt werden – bevor ein Un- (B) kommen werden. Zur Finanzierung der Investitionen für glück geschieht. Dies gilt auch für den zweiten innerstäd- (D) den Wiederaufbau der Dresdner Bahn haben wir aber tischen Flughafen in Berlin-Tegel, der mit der Inbetrieb- auch die haushaltsrechtlichen Bestimmungen zu beach- nahme des neuen Flughafens in Schönefeld geschlossen ten. Grundsätzlich finanziert der Bund die wirtschaft- wird. lichste Lösung, es sei denn, er ist rechtlich verpflichtet, eine aufwendigere Lösung zu finanzieren. Der Standort in Schönefeld ist stadtnah, die Aufre- gung, Schönefeld liege zu weit außerhalb von Berlin, ist Für den Bau und die Anbindung des Flughafens nicht nachvollziehbar. Die Flughäfen zum Beispiel in Berlin Brandenburg International sind insgesamt 497 Mil- London, Frankfurt, München und Stuttgart liegen zum lionen Euro vorgesehen, für den Ausbau der Dresdener Teil weiter vom Stadtzentrum entfernt. Bahn noch mal insgesamt 365 Millionen Euro. Der Wie- deraufbau der so genannten Dresdner Bahn – Vorhaben Zu einem Flughafen gehört auch eine gute Infrastruk- „Südkreuz-Blankenfelde“ – ist Teil des Projekts „Knoten tur, vor allem eine schnelle Schienenanbindung. Hier ist Berlin“ des Bedarfplans für die Bundesschienenwege der Bund zuständig und hier sollte jetzt schnell gehan- der DB Netz AG. Die Mittel sind in der Zusatzliste zur delt werden. so genannten 66er-Liste priorisiert. Auch vor dem Hin- tergrund der jetzt von Bundeskanzler Schröder angekün- digten Aufstockung um 2 Milliarden Euro für Investitio- Anlage 8 nen im Verkehrsbereich sehe ich die Schienenanbindung des Flughafens Schönefeld auf dem sicheren Weg. Und Amtliche Mitteilungen Sie können auch sicher sein, dass wir hier keine EFRE- Fördermittel verfallen lassen. Die Fraktion der FDP hat mit Schreiben vom 15. März 2005 mitgeteilt, dass sie den Gesetzentwurf zur Einfüh- Vom Bundesministerium für Verkehr und von der rung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaf- Bahn fordere ich, die Planungen zur Schienenanbindung fung der Gewerbesteuer auf Drucksache 15/2349 zu- und beim Bau des Flughafenbahnhofs dahin gehend zu rückzieht. prüfen, inwieweit durch eine schlankere Bauweise Ein- sparpotenziale zu realisieren sind. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Heute steht zu diesem Tagesordnungspunkt auch der Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Antrag zur „Offenhaltung des Flughafens Tempelhof“ Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- zur Entscheidung an. Dazu möchte ich nochmals in Erin- tung abgesehen hat. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. März 2005 15707

(A) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss (C) Drucksache 15/4705 Nr. 1.1 Drucksache 15/4705 Nr. 1.14 Drucksache 15/4705 Nr. 1.2 Drucksache 15/4705 Nr. 1.15 Drucksache 15/4705 Nr. 1.3 Drucksache 15/4705 Nr. 2.5 Drucksache 15/4705 Nr. 1.4 Drucksache 15/4705 Nr. 2.8 Drucksache 15/4705 Nr. 2.30 Drucksache 15/4705 Nr. 1.5 Drucksache 15/4780 Nr. 1.1 Drucksache 15/4705 Nr. 1.6 Drucksache 15/4780 Nr. 1.2 Drucksache 15/4705 Nr. 1.7 Drucksache 15/4780 Nr. 2.2 Drucksache 15/4705 Nr. 1.8 Drucksache 15/4780 Nr. 2.8 Drucksache 15/4705 Nr. 1.9 Drucksache 15/4780 Nr. 2.9 Drucksache 15/4705 Nr. 1.10 Drucksache 15/4705 Nr. 1.11 Drucksache 15/4705 Nr. 1.12 Ausschuss für Verbraucherschutz, Drucksache 15/4705 Nr. 1.13 Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 15/4705 Nr. 1.17 Drucksache 15/4780 Nr. 2.3 Drucksache 15/4705 Nr. 2.10 Drucksache 15/4911 Nr. 1.7 Drucksache 15/4705 Nr. 2.24 Drucksache 15/4911 Nr. 2.11 Drucksache 15/4705 Nr. 2.25 Drucksache 15/4911 Nr. 2.16

Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 15/4001 Nr. 1.13 Drucksache 15/4001 Nr. 1.14 Drucksache 15/4705 Nr. 2.4 Drucksache 15/4213 Nr. 2.3 Drucksache 15/4458 Nr. 1.2 Drucksache 15/4458 Nr. 2.15 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 15/4458 Nr. 2.20 Drucksache 15/3779 Nr. 1.100 Drucksache 15/4567 Nr. 1.12 Drucksache 15/4213 Nr. 2.10 Drucksache 15/4705 Nr. 2.19 Drucksache 15/4213 Nr. 2.11

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980