Schleswig-Holsteinischer Landtag Plenarprotokoll 16/77 16. Wahlperiode 08-01-30

Plenarprotokoll

77. Sitzung

Mittwoch, 30. Januar 2008

Nachruf auf den ehemaligen Abge- Gesetzentwurf der Fraktionen von ordneten Klaus Köberle...... 5568, CDU, SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten des Vereidigung von Innenminister Lo- SSW thar Hay...... 5568, Drucksache 16/1817 Erste Lesung des Entwurfs eines Thomas Stritzl [CDU]...... 5569, Gesetzes zur Änderung der Verfas- Klaus-Peter Puls [SPD]...... 5570, 5573, sung des Landes Schleswig-Hol- [FDP]...... 5570, 5572, stein...... 5569, Karl-Martin Hentschel [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]...... 5571, Anke Spoorendonk [SSW]...... 5572, Lothar Hay, Innenminister...... 5573, 5566 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

Beschluss: Überweisung an den In- Klaus-Peter Puls [SPD]...... 5590, nen- und Rechtsausschuss...... 5574, Wolfgang Kubicki [FDP]...... 5592, Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE Wahl der Präsidentin oder des Prä- GRÜNEN]...... 5593, sidenten bei dem Schleswig-Hol- Anke Spoorendonk [SSW]...... 5594, steinischen Oberlandesgericht in Lothar Hay, Innenminster...... 5596, Schleswig...... 5574, Beschluss: Ablehnung des Gesetzent- Wahlvorschlag des Innen- und wurfs Drucksache 16/1541 (neu)... 5597, Rechtsausschusses Drucksache 16/1813 Vorsitz der Gesundheitsminister- konferenz - Schwerpunkte und Zie- Beschluss: Annahme...... 5574, le der Landesregierung...... 5597,

Erste Lesung des Entwurfs eines Antrag der Fraktion der FDP Gesetzes zur Nutzung Erneuerba- Drucksache 16/1796 rer Wärmeenergie in Schleswig- Dr. Gitta Trauernicht, Ministerin Holstein (Erneuerbare Wärme- für Soziales, Gesundheit, Fa- energie-Gesetz - EWärmeG)...... 5574, milie, Jugend und Senioren...... 5597, Gesetzentwurf der Fraktion BÜND- Dr. Heiner Garg [FDP]...... 5598, NIS 90/DIE GRÜNEN Ursula Sassen [CDU]...... 5600, Drucksache 16/1791 Jutta Schümann [SPD]...... 5601, Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE Detlef Matthiessen [BÜNDNIS GRÜNEN]...... 5602, 90/DIE GRÜNEN]...... 5574, 5588, Lars Harms [SSW]...... 5603, Manfred Ritzek [CDU]...... 5577, 5588, Thomas Hölck [SPD]...... 5579, Beschluss: Antrag Drucksache 16/ Dr. Heiner Garg [FDP]...... 5581, 1796 durch Berichterstattung der Lars Harms [SSW]...... 5583, Landesregierung erledigt...... 5604, Karl-Martin Hentschel [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]...... 5585, Gemeinsame Beratung , Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und a) Tätigkeit des Petitionsausschus- Verkehr...... 5586, ses in der Zeit vom 1. Juli 2006 bis 30. September 2006...... 5604, Beschluss: Überweisung an den In- nen- und Rechtsausschuss, den Bericht des Petitionsausschusses Wirtschaftsausschuss und den Drucksache 16/1797 Umwelt- und Agrarausschuss...... 5589, b) Tätigkeit des Petitionsausschus- Zweite Lesung des Entwurfs eines ses in der Zeit vom 1. Janu- Gesetzes zur Änderung des Lan- ar 2007 bis 31. März 2007...... 5604, deswahlgesetzes...... 5589, Bericht des Petitionsausschusses Gesetzentwurf der Fraktion BÜND- Drucksache 16/1798 NIS 90/DIE GRÜNEN Detlef Buder [SPD], Berichterstat- Drucksache 16/1541 (neu) ter...... 5604, Bericht und Beschlussempfehlung Beschluss: Kenntnisnahme der Be- des Innen- und Rechtsausschusses richte Drucksachen 16/1797 und Drucksache 16/1818 16/1798 sowie Bestätigung der Werner Kalinka [CDU], Bericht- Erledigung der Petitionen...... 5606, erstatter...... 5589, Thomas Stritzl [CDU]...... 5589, Schutz von Immobilienbesitzern..... 5606, Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5567

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/1806 Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]...... 5606, Tobias Koch [CDU]...... 5607, Thomas Rother [SPD]...... 5609, Wolfgang Kubicki [FDP]...... 5610, Anke Spoorendonk [SSW]...... 5612, Dietrich Austermann, Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr...... 5613, **** Beschluss: Überweisung an den In- Regierungsbank: nen- und Rechtsausschuss und den Finanzausschuss...... 5615, , Ministerpräsident

Der Vertrag von Lissabon...... 5615, Ute Erdsiek-Rave, Stellvertreterin des Minis- terpräsidenten und Ministerin für Bildung und Antrag der Fraktionen von CDU und Frauen SPD Drucksache 16/1801 Uwe Döring, Minister für Justiz, Arbeit und Uwe Döring, Minister für Justiz, Europa Arbeit und Europa...... 5615, Manfred Ritzek [CDU]...... 5617, Lothar Hay, Innenminister Rolf Fischer [SPD]...... 5619, 5627, Dr. Ekkehard Klug [FDP]...... 5621, Rainer Wiegard, Finanzminister Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]...... 5623, Dietrich Austermann, Minister für Wissen- Anke Spoorendonk [SSW]...... 5625, schaft, Wirtschaft und Verkehr Beschluss: Antrag Drucksache 16/ 1801 durch Berichterstattung der Dr. Gitta Trauernicht, Ministerin für Soziales, Landesregierung erledigt...... 5628, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren

Entschließung zum Jugendstraf- **** recht...... 5628, Antrag der Fraktionen von FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten des SSW Drucksache 16/1816 (neu) Wolfgang Kubicki [FDP]...... 5628, 5634, Peter Lehnert [CDU]...... 5629, Anna Schlosser-Keichel [SPD]..... 5631, Karl-Martin Hentschel [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]...... 5632, Anke Spoorendonk [SSW]...... 5634, Uwe Döring, Minister für Justiz, Arbeit und Europa...... 5635, Beschluss: Überweisung an den In- nen- und Rechtsausschuss...... 5638, 5568 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

Beginn: 10:02 Uhr lange nach seiner Parlamentstätigkeit wahrgenom- men. Präsident Martin Kayenburg: Der Schleswig-Holsteinische Landtag gedenkt Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Klaus Köberle in Dankbarkeit. Unsere Anteilnahme Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 29. Ta- gilt seiner Frau und seiner Familie. Ich bitte, dem gung des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Das Verstorbenen ein stilles Gebet zu widmen. - Sie ha- Haus ist ordnungsgemäß einberufen und be- ben sich zu Ehren des Verstorbenen erhoben, ich schlussfähig. Erkrankt sind die Kolleginnen und danke Ihnen. Kollegen Monika Schwalm, Sandra Redmann, Ulri- Ministerpräsident Carstensen hat mit Schreiben ke Rodust und Konrad Nabel. - Ich wünsche allen vom 15. Januar 2008 mitgeteilt, dass Herr Lothar von hier aus gute Besserung. Hay mit Wirkung vom gleichen Tag als Nachfolger (Beifall) für den zurückgetretenen Dr. Ralf Stegner zum In- nenminister ernannt wurde. Nach Artikel 28 Abs. 2 Beurlaubt ist Minister Dr. Christian von Boetticher. der Landesverfassung hat der Landesminister im Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich von Anschluss an seine Berufung vor dem Landtag den Ihren Plätzen zu erheben. Eid zu leisten. Ich bitte daher den Herrn Innenmini- ster Lothar Hay, zur Vereidigung nach vorn zu (Die Anwesenden erheben sich) kommen. Ich bitte die Anwesenden, sich zu erhe- Am vergangenen Donnerstag verstarb im Alter von ben. 76 Jahren der ehemalige Abgeordnete des Schles- (Die Anwesenden erheben sich - Der Innen- wig-Holsteinischen Landtages Klaus Köberle. Er minister wird nach folgender Eidesformel gehörte dem Parlament in der vierten und fünften vereidigt: Ich schwöre: Ich werde meine Wahlperiode als Mitglied der Fraktion der CDU an. Kraft dem Wohle des deutschen Volkes wid- Klaus Köberle trat 1955 in die CDU ein, war von men, seine Freiheit verteidigen, seinen Nut- 1961 bis 1964 Landesvorsitzender der Jungen Uni- zen mehren, Schaden von ihm wenden, die on und gilt als Gründer der Sozialausschüsse der Gesetze der Bundesrepublik Deutschland und CDU in Schleswig-Holstein. des Landes Schleswig-Holstein wahren, mei- Mit Klaus Köberle haben wir einen Politiker verlo- ne Pflichten gewissenhaft erfüllen und Ge- ren, der als Jurist und Bankfachmann als ausgewie- rechtigkeit gegenüber allen Menschen üben, sener Experte im Finanzausschuss tätig war. Zu- so wahr mir Gott helfe.) gleich war er aber auch ein engagierter Sozialpoli- Sehr geehrter Herr Innenminister, ich beglückwün- tiker im damals noch als Ausschuss für Volkswohl- sche Sie zu Ihrem Amt, wünsche Ihnen in der fahrt bezeichneten Sozialausschuss. Amtsführung immer Glück und Erfolg und hoffe Klaus Köberle war im starken Maße geprägt durch auf eine angenehme, freundschaftliche Zusammen- die Schrecken während des Kriegsendes, als er als arbeit zum Wohle unseres Landes. - Das Haus gra- 14-Jähriger allein seine Flucht aus dem Sudeten- tuliert Ihnen. land nach Eutin erlebte. Von Wegbegleitern als Fa- (Beifall) natiker der Gerechtigkeit bezeichnet, nannte er die ursächlichen Zusammenhänge von Schuld, Versa- Ich möchte von dieser Stelle aus auch einen Glück- gen und Verantwortung beim Namen und er zog wunsch an den neuen Fraktionsvorsitzenden der so- daraus Konsequenzen. Als Vorstandsmitglied der zialdemokratischen Fraktion, Herrn Dr. Stegner, Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen richten. - Alles Gute! plädierte er für die Einheit der Gewerkschaften im Meine Damen und Herren, die Fraktionen von DGB. Nur diese könnten mit einem Generalstreik CDU und SPD haben mit der Drucksache 16/1828 die mögliche Gefahr eines erneuten staatlichen Irr- einen Vorschlag zur Wahl eines richterlichen Mit- weges, vergleichbar mit 1933, verhindern. glieds des Richterwahlausschusses eingereicht. Ich Wegen seiner Gradlinigkeit wurde er als verlässli- schlage Ihnen vor, diese Vorlage als Tagesord- cher und engagierter Abgeordneter und Kollege ge- nungspunkt 10 a in die Tagesordnung einzureihen schätzt. Die Förderung des wirtschaftlichen Mittel- und den Punkten ohne Aussprache hinzuzufügen. standes lag ihm besonders am Herzen. Diese Auf- Des Weiteren haben sich die Fraktionen darauf ver- gabe hat er auch als Direktor der Wirtschaftsbank ständigt, den Tagesordnungspunkt 3, Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Än- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5569

(Präsident Martin Kayenburg) derung des Schulgesetzes, Drucksache 16/1715, in Thomas Stritzl [CDU]: dieser Tagung abschließend zu beraten. - Ich höre Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und keinen Widerspruch, dann werden wir so verfahren. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ta- Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen eine gesordnungspunkt spiegelt wider, dass wir - so Aufstellung der im Ältestenrat vereinbarten Rede- könnte man es skeptisch sagen - ein weiteres Mal zeiten übermittelt. Der Ältestenrat hat sich verstän- Hand an unsere Verfassung legen wollen. Vielleicht digt, die Tagesordnung in der ausgedruckten Rei- ist es aber die konsequente Überlegung, um für ver- henfolge mit folgenden Maßgaben zu behandeln: fassungsrechtliche Änderungen auch ein Landes- Zu den Tagesordnungspunkten 6, 8 bis 11, 14, 15 verfassungsgericht für Schleswig-Holstein einzu- sowie 20 bis 27 ist eine Aussprache nicht geplant. richten. Von der Tagesordnung abgesetzt werden soll der So geht es bei der vorliegenden Frage nur noch dar- Tagesordnungspunkt 2, Gesetzentwurf der Fraktion um, was jemand vor dem Landesverfassungsgericht der FDP zur Änderung des Schleswig-Holsteini- des Landes Schleswig-Holstein mit Rechtsmitteln schen Schulgesetzes, Drucksache 16/1762. Anträge angreifen können soll. Dem Vorschlag liegt die zur Aktuellen Stunde oder zur Fragestunde liegen fraktionsübergreifende Überlegung zugrunde, dass nicht vor. Wann die weiteren Tagesordnungspunkte mit einer Klage vor dem Landesverfassungsgericht voraussichtlich aufgerufen werden, ergibt sich aus des Landes Schleswig-Holstein eben nicht nur der Ihnen vorliegenden Übersicht über die Reihen- kommunale Verfassungsstreitigkeiten, sondern folge der 29. Tagung. auch abstrakte Normenkontrollen durchgeführt und Wir werden heute unter Einschluss einer zweitsün- Grundrechtsverletzungen durch Landesrecht gel- digen Mittagspause längstens bis 18 Uhr tagen, am tend gemacht werden können. - Ich will jetzt keine Donnerstag ist das Ende der Tagung, ebenfalls un- längeren Ausführungen zum Thema machen; ab- ter Einschluss einer zweistündigen Mittagspause, strakte Normenkontrollen und konkrete Normen- gegen 16:30 oder 17 Uhr zu erwarten. - Ich höre kontrollen sind nicht Gegenstand der parlamentari- keinen Widerspruch, dann werden wir so verfahren. schen Diskussion. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Letztlich ist politisch zu entscheiden, ob wir als Kollegen, auf der Tribüne begrüßen wir sehr herz- Landtag den Weg dafür öffnen wollen, um auch vor lich Rechtspflegeranwärterinnen und -anwärter dem Landesverfassungsgericht des Landes Schles- vom Amtsgericht Kiel, Schülerinnen und Schüler wig-Holstein Klagen durchführen zu können, die mit ihren Lehrkräften von der Kreisberufsschule Grundrechtsverletzungen seitens der Antragstel- Segeberg und angehende Verwaltungsfachange- ler durch Landesgesetze infrage stellen. Das ist die stellte mit ihren Lehrkräften von den Beruflichen politische Diskussion. Schulen Rendsburg sowie unsere früheren Kollegen Das Haus hat sich mit überragender Mehrheit, also Behm, Plüschau und Poppendiecker. - Seien Sie interfraktionell, darauf verständigt zu sagen: Ja- uns alle sehr herzlich willkommen! wohl, wir machen das wie fast alle anderen Landes- (Beifall) gesetzgeber auch. Ich glaube, Hamburg ist das ein- zige Bundesland, das noch keinen Grundrechtsbe- Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 7 auf: zug in seiner Landesverfassung hat. Wir hatten die- sen Grundrechtsbezug nicht, weil wir kein Landes- Erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur verfassungsgericht hatten. Nun haben wir ein Lan- Änderung der Verfassung des Landes Schleswig- desverfassungsgericht. Insofern soll auch dieses die Holstein Möglichkeit haben, die Grundrechtskonformität von Landesgesetzes prüfen zu können. Das ist un- Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU, SPD, sere Überzeugung. FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abge- ordneten des SSW Von daher ist es klug, das Landesverfassungsge- Drucksache 16/1817 richt des Landes Schleswig-Holstein mit Personen zu besetzen, die die Befähigung zum Richteramt Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das haben. ist nicht der Fall. Ich eröffne die Grundsatzberatung und erteile für die Fraktion der CDU Herrn Abge- (Beifall bei CDU, SPD, FDP und SSW) ordneten Thomas Stritzl das Wort. 5570 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

Präsident Martin Kayenburg: heitsrechten entscheiden kann, die im Grundgesetz des Bundes verankert sind. Für die Fraktion der SPD erteile ich Herrn Abge- ordneten Klaus-Peter Puls das Wort. Erforderlich dafür ist eine erneute Ergänzung unse- rer Landesverfassung. Rechtlich möglich wäre die Klaus-Peter Puls [SPD]: Formulierung eines eigenen landesrechtlichen Grundrechtskatalogs - das haben viele andere Bun- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist so desländer so gehandhabt - oder die schlichte Über- weit: Seit mehr als zehn Jahren versuchen wir als nahme der Grundrechte des Grundgesetzes in die SPD, in Schleswig-Holstein die dritte Staatsge- Landesverfassung durch ausdrückliche Bezugnah- walt unseres Landes mit dem noch fehlenden Lan- me. Wir haben uns für die zweite Möglichkeit ent- desverfassungsgericht auszustatten. Mit Rot-Grün schieden und wollen nach mecklenburg-vorpomme- in den 90er-Jahren und auch der Unterstützung rischen Vorbild folgenden Satz in unsere Landes- durch die FDP, Herr Kubicki, war die dafür erfor- verfassung schreiben: „Die im Grundgesetz der derliche Zweidrittelmehrheit im Landtag nicht er- Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grund- reichbar. Die Große Koalition aus SPD und CDU rechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestand- hat es nun möglich gemacht: Mit Gesetz vom teil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes 17. Oktober 2006 haben wir beschlossen, es allen Recht.“ anderen Bundesländern gleichzutun und auch bei uns und für uns zur Klärung verfassungsrechtlicher Ebenfalls noch in dieser Tagung des Landtages Streitfragen und Meinungsverschiedenheiten ein ei- werden wir dafür sorgen, dass für die Besetzung genes Gericht zu errichten. des Landesverfassungsgerichts mit kompetenten verfassungsrechtlich versierten Persönlichkeiten die Bis dato war es dem Bundesverfassungsgericht in parlamentarischen Vorbereitungen getroffen wer- Karlsruhe vorbehalten, schleswig-holsteinische den. Wir werden einen Wahlvorbereitungsaus- Landesverfassungsfragen zu klären. Künftig wer- schuss konstituieren und an dessen Spitze die Frak- den also Juristinnen und Juristen, die im schleswig- tionsvorsitzenden der beiden großen Koalitionen holsteinischen Landesrecht zu Hause sind, orts- wählen. Wir hoffen, dass dann spätestens Mitte des nah, sachnah und hoffentlich zeitnah die an sie her- Jahres das hohe Gericht im Namen des Volkes sei- angetragenen Streitfälle entscheiden. ne Arbeit aufnehmen kann. In der Dezember-Tagung des vergangenen Jahres (Beifall bei SPD, CDU und SSW) haben wir in einem Landesverfassungsgerichtsge- setz und in der Geschäftsordnung unseres Landta- Präsident Martin Kayenburg: ges Organisations- und Verfahrensfragen gere- gelt. Entscheiden wird das neue Gericht zum Bei- Für die Fraktion der FDP erteile ich dem Oppositi- spiel über die Auslegung der Landesverfassung, onsführer, Herrn Fraktionsvorsitzenden Wolfgang wenn es Streitigkeiten über Rechte und Pflichten Kubicki, das Wort. von Verfassungsorganen wie Landtag oder Landes- regierung gibt. Entscheiden kann das neue Gericht Wolfgang Kubicki [FDP]: bei Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbar- keit von Landesgesetzen mit der Landesverfassung Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zu auch auf Antrag kleinerer Oppositionsfraktionen. dem gemeinsamen Gesetzentwurf auf Änderung der Und endlich kann in Schleswig-Holstein vor Ort Landesverfassung eigentlich alles gesagt - nur nicht entschieden werden über Verfassungsbeschwerden von mir. Deshalb möchte ich einige Anmerkungen von Gemeinden und Kreisen, die das in der Landes- anschließen. verfassung verankerte Recht auf kommunale Diese kleine Änderung, die wir im vorliegenden Selbstverwaltung durch den Landesgesetzgeber Gesetzentwurf mithilfe einer sogenannten Rezepti- verletzt sehen. onsklausel vornehmen, wird zu einer entscheiden- Heute geht es nun darum, die Palette der inhaltli- den materiellrechtlichen qualitativen Aufwertung chen Kompetenzen noch einmal zu erweitern. Wir unserer Landesverfassung führen. Es ist die logi- wollen mit einem gemeinsamen Gesetzentwurf aller sche Konsequenz für die Einrichtung eines Landes- Fraktionen des Hauses dafür sorgen, dass das neue verfassungsgerichts, dass die Gesetze, die wir hier Gericht auch über die Vereinbarkeit von Landesge- verabschieden, mit der Landesverfassung vereinbar setzen mit den bürgerlichen Grund- und Frei- sein müssen und dass sie auch dem Grundrechte- katalog des Grundgesetzes entsprechen. Es wäre Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5571

(Wolfgang Kubicki) absurd, wenn wir beispielsweise bei Grundrecht- während meiner Zeit im Landtag. Das ist ein grund- seingriffen das Bundesverfassungsgericht anrufen legender Schritt, denn die Grundrechte in Schles- müssten, weil wir eine entsprechende Rezeptions- wig-Holstein werden in die Verfassung aufgenom- klausel in der Landesverfassung nicht verankert men. Dennoch ist diese Änderung eher einem Zu- hätten. fall zu verdanken. Wir haben im Rahmen der Aus- schussberatungen über das neue Landesverfas- Herr Kollege Puls, meine Fraktion - das wissen Sie sungsgericht die Frage gestellt, welche Möglichkei- - hat ausdrücklich darauf bestanden, die Rezepti- ten der Klage in Zukunft bestehen. Auf eine Frage onsklausel einzufügen. Denn es ist praktikabel. von mir hin sagte der Wissenschaftliche Dienst, der Stellen Sie sich einmal vor, wir würden einen eige- dies überprüft hat, es werde keine Möglichkeit ge- nen Grundrechtekatalog normieren. Angesichts der ben, die schleswig-holsteinischen Gesetze vor dem Geschwindigkeit, mit der die Grundrechte auf Bun- Hintergrund der Grundrechte zu prüfen, weil dies desebene regelmäßig novelliert werden, müssten nicht Bestandteil der Verfassung sei. Daraufhin ha- wir als Landesgesetzgeber ständig hinterherlaufen, ben wir angeregt, dies zu korrigieren, auf dass die wenn wir - - Grundrechte in die Verfassung aufgenommen wer- (Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE den. Zunächst gab es bei den großen Fraktionen ei- GRÜNEN]: Vorangehen!) ne Abneigung dagegen. Vor allem Kollege Puls hat - Für die Grundrechte, Herr Kollege Hentschel, sind vehement widersprochen und gesagt, dies komme wir bedauerlicherweise trotz unserer Allzuständig- nicht in die Tüte. Ich freue mich daher außerordent- keit nicht zuständig. Das macht der Bundesgesetz- lich, dass es innerhalb von kurzer Zeit bei beiden geber. Wir müssten also entsprechende Rege- großen Fraktionen zu einer Klärung gekommen ist. lungen, wie sie in anderen Landesverfassungen vor- (Wolfgang Kubicki [FDP]: Keine Ge- gesehen sind, regelmäßig novellieren, was zu nach- schichtsklitterung! - Werner Kalinka [CDU]: laufenden gesetzgeberischen Aktionen führen wür- Das stimmt so nicht!) de. Deswegen ist die Rezeptionsklausel der sichere - Herr Kollege Kalinka, wir können gern das Proto- Weg. koll zur Hand nehmen. Ich freue mich, dass es dazu Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich beim gekommen ist und dass wir jetzt übereinstimmend Wissenschaftlichen Dienst des Landtages bedan- diese Grundlage schaffen. Ich glaube, das ist ein ken, der uns und alle anderen Fraktionen auf die großer Schritt. Ich glaube, das ist auch ein großer Problematik hingewiesen hat, die uns zum Handeln Schritt für die Große Koalition, denn das Recht, veranlasst hat. Ich bin dankbar, dass wir in dieser Verfassungsklagen zu führen und Verstöße gegen wichtigen Frage eine einvernehmliche Lösung über Grundgesetze zu prüfen, ist originär ein Recht für alle Parteiengrenzen hinweg in diesem Hause ge- die Opposition. Das stärkt die Opposition. funden haben. Denn das tut der Verfassung gut. Es (Dr. Johann Wadephul [CDU]: Das gab es tut dem neuen Gericht gut und ich bin mir sicher, doch auch vorher!) Herr Kollege Puls, dass das Verfassungsgericht, das wir jetzt eingerichtet haben, auf dieser Grundlage - Natürlich. Ich gehe davon aus, dass die Regie- eine sehr wirkungsvolle und sinnvolle Arbeit lei- rungsfraktionen ihre eigenen Gesetze, die sie mit sten kann. Mehrheit verabschieden, für verfassungskonform halten. Das ist meine Einschätzung. Wie in der Ver- (Beifall bei FDP, CDU und SPD) gangenheit gesehen, existieren in dieser Frage bei der Opposition häufig Zweifel. Wenn dies geprüft Präsident Martin Kayenburg: werden soll, dann ist das eine Stärkung der Opposi- Für die Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tion, wenn dies möglich wird. Dafür bedanke ich erteile ich Herrn Fraktionsvorsitzenden Karl-Martin mich bei den beiden großen Fraktionen. Ich glaube, Hentschel das Wort. Sie sollten es ertragen können, dass ich mich bei Ih- nen bedanke. Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: und vereinzelt bei der SPD) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich. Das, was wir heu- te verabschieden, ist im Grunde die wichtigste Än- derung der schleswig-holsteinischen Verfassung 5572 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

Präsident Martin Kayenburg: zentrationslagers Auschwitz am 27. Januar. Wichtig ist also, dass die Grundrechte nicht auf Sonntagsre- Für die Abgeordneten des SSW erteile ich der Vor- den beschränkt bleiben, sondern das demokratische sitzenden, Frau Anke Spoorendonk, das Wort. Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger stärken. Anke Spoorendonk [SSW]: (Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung unse- Vor allem für die Jüngeren sind der demokratische rer Landesverfassung ist keine juristische Lappalie, Willensbildungsprozess und die ungeheuerlichen sondern berührt ein zentrales demokratisches Anstrengungen, die dem Grundgesetz 1949 voraus- Recht. Darum freue ich mich ausdrücklich über die gingen, nur noch Gegenstand verstaubter Papiere. Einhelligkeit in diesem Punkt. Das ist ein wichtiges Diese zunehmende Distanz ist - so denke ich - be- Signal nach außen dahin gehend, dass wir es im sorgniserregend. Ich hoffe, dass das Landesverfas- Landtag mit den Bürgerrechten ernst meinen. sungsgericht als ein unabhängiges und streitbares Grundrechte werden nun einmal auch in unserer de- neues Verfassungsorgan hilft, diese Distanz zu ver- mokratisch verfassten Gesellschaft - und eben auch ringern. in Schleswig-Holstein - verletzt. Dahinter stehen in (Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE der Regel keine bösen Motive, sondern oftmals GRÜNEN) Nachlässigkeit oder gar Schlamperei. Die Verletzung der Grundrechte kommt zum Präsident Martin Kayenburg: Glück nicht häufig vor. Dazu könnte es aber kom- Im Rahmen der verbliebenen Redezeit erteile ich men, wenn wir uns bei einem eigenen Landesver- Herrn Abgeordneten Wolfgang Kubicki das Wort. fassungsgericht weiter mit den langen Verfahrens- zeiten in Karlsruhe abfinden. Grundrechte gehören zum demokratischen Fundament unserer Gesell- Wolfgang Kubicki [FDP]: schaft. Sie verkümmern, wenn sie nicht immer wie- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der aufs Neue gelebt werden. Der Tag begann so harmonisch. Trotzdem müssen Der estnische Staatspräsident Lennart Meri hat vor wir jetzt einige Unrichtigkeiten klarstellen. Frau ein paar Jahren in Kiel erzählt, dass er noch zu Zei- Kollegin Spoorendonk, es gibt in Schleswig-Hol- ten des Kalten Krieges ein Exemplar des Deutschen stein kein Individualklagerecht, auch künftig Grundgesetzes nach Hause schmuggelte. Damals nicht, und zwar trotz der Rezeption der Grundrech- war das für ihn eine unerhörte Lektüre und gleich- te bei Grundrechtsverletzungen. Dafür ist nach wie zeitig ein starker Ansporn, die undemokratischen vor Karlsruhe zuständig. Wir dürfen also nicht den Verhältnisse in seinem Land zu verändern. Genau Eindruck erwecken, als könnten Bürgerinnen und darum geht es. Wir müssen das Grundgesetz ernst Bürger des Landes Schleswig-Holstein morgen zum nehmen und die Grundrechte leben. Dazu gehört, Landesverfassungsgericht laufen und eine Individu- dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes alklage erheben. ihre Grundrechte mittels eines kurzen und über- Herr Kollege Hentschel, nicht Ihre Frage hat das sichtlichen Verfahrens hier in Schleswig schützen Problem auf den Tisch gebracht. Ihre Frage haben können. Professor von Mutius hat in seinem Gut- Sie überhaupt nur stellen können, weil Ihnen vorher achten auf die guten Erfahrungen anderer Bundes- klar geworden ist, worum es geht. Anlässlich der länder hingewiesen, bei denen ein eindeutiger Zu- Prüfung des neuen Polizeirechtes haben sowohl der sammenhang zwischen der Bekanntheit und der Wissenschaftliche Dienst des Landtages als auch Akzeptanz des Landesverfassungsgerichts und der der Kollege Burkhard Hirsch, den wir gebeten ha- Möglichkeit der Bürgerklage besteht. Die Bürgerin- ben, das zu begutachten, festgestellt, dass auch das nen und Bürger begreifen, dass die Verfassung Bundesverfassungsgericht das Polizeirecht an der nicht nur die Beziehungen der Verwaltungen unter- Verfassung des Landes Schleswig-Holstein deshalb einander regelt, sondern dass sie auch für sie da ist. nicht auf Grundrechtsrelevanz messen kann, weil Das Grundgesetz ist nach dem Krieg nach Jahren die Rezeptionsklausel fehlt. Dies war, was die Ein- der Unterdrückung und Unfreiheit als Akt der de- richtung eines Landesverfassungsgerichts angeht, mokratischen Selbstbestimmung entstanden. Ich sa- völlig egal. Die Tatsache, dass wir eine andere Ge- ge dies auch vor dem Hintergrund des Gedenktages richtszuständigkeit geschaffen haben, hat an dem anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Kon- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5573

(Wolfgang Kubicki) grundlegenden Problem nichts geändert. Das soll- log noch einen Verweis auf die Grundrechte des ten wir auch so bekennen. Grundgesetzes enthalten. Diese fast 60-jährige Tra- dition gründet auf der Entscheidung des schleswig- Ich sage es nicht nur in die Richtung des Kollegen holsteinischen Landesverfassungsgebers vom De- Puls, sondern ich sage dies auch in die Richtung zember 1949, der damals eine Verfassung, die da- des nicht mehr anwesenden Kollegen Wadephul, mals als Landessatzung bezeichnet wurde, schaffen der jetzt da oben mit dem ehemaligen Innenminister wollte, die mehr den Charakter eines Organisations- sitzt. Ich bin wirklich dankbar, dass die beiden statuts aufweisen sollte. Damit sollte auch die Stel- großen Fraktionen dieses Problem gesehen haben lung Schleswig-Holsteins im Gesamtstaat verdeut- und sich ihm gestellt haben. Wir kommen jetzt zu licht werden, wobei natürlich unstreitig war, dass einer Regelung, die außer in Hamburg - dies sage die im Grundgesetz verankerten Grundrechte auch ich ausdrücklich - in allen anderen Ländern in in Schleswig-Holstein unmittelbar geltendes Recht Deutschland gilt. Dafür sollten wir wirklich dank- waren und bis heute sind. bar sein und nicht einfach nur Wasser ins Feuer schütten und ein bisschen Rauch aufsteigen lassen. Unsere Landesverfassung beschränkt sich aller- Dies wollte ich noch einmal klarstellen. dings nicht auf Regelungen der Staatsorganisation, sondern sie beinhaltet bereits (Beifall bei der FDP) einige darüber hinausgehende Staatszielbestim- mungen und auch grundrechtsähnliche Rechte Präsident Martin Kayenburg: wie zum Beispiel das freie Bekenntnis zu nationa- Nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung erteile ich len Minderheiten und Volksgruppen in Artikel 5, Herrn Abgeordneten Klaus-Peter Puls das Wort. was unsere Landesverfassung besonders im positi- ven Sinne von anderen Bundesländern abhebt. Klaus-Peter Puls [SPD]: Der Schutz von Kindern und Jugendlichen in Arti- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kel 6 a ist eine Ergänzung der jüngsten Vergangen- möchte noch ganz kurz etwas sagen, weil ich per- heit. Der Schutz der natürlichen Grundlagen des sönlich vom Kollegen Hentschel angesprochen Lebens nach Artikel 7 oder die Regelung des worden bin. Er sagte, ich wollte es nicht in die Tüte Schulwesens nach Artikel 8 der Landesverfassung lassen, dass hier und heute diese Grundgesetzände- sind ebenfalls zu nennen. Nach dem bisher Gesag- rung erfolgt. Herr Kollege Hentschel, dieser Ein- ten besteht somit aus meiner Sicht kein zwingendes druck konnte bei Ihrer Wortmeldung entstehen. Ich verfassungsrechtliches Bedürfnis nach einem Ver- habe Sie in den Ausschussberatungen nur vehement weis auf die Grundrechte des Grundgesetzes, wie darauf hingewiesen, dass nach geltendem schles- das im Gesetzentwurf aller Fraktionen vorgesehen wig-holsteinischen Landesverfassungsrecht eine ist. Überprüfung von Gesetzen auf Ihre Vereinbarkeit Trotzdem ist der Entwurf zu begrüßen, wenn auch mit Grundrechten hin durch das Landesverfas- aus anderen Gründen. Es erfolgt nämlich eine Aus- sungsgericht nicht möglich ist. Dann ist es zu der weitung des Kompetenzbereiches unseres neuen Frage gekommen, wie wir das möglich machen. Landesverfassungsgerichts. Darauf ist hinzuweisen. Heute haben wir das möglich gemacht. Insofern Allerdings sind dort ehrenamtliche Richter und müssten wir uns eigentlich alle einig sein. Richterinnen tätig, die dort Recht sprechen sollen. (Beifall bei der SPD) Wenn diese Überlegungen im Gesetzgebungspro- zess zum Landesverfassungsgericht auch noch nicht Präsident Martin Kayenburg: die entscheidende Rolle gespielt haben, so ist zu konstatieren, dass das Landesverfassungsgericht in Für die Landesregierung hat Herr Innenminister bestimmten Fallkonstellationen nach bestehender Lothar Hay das Wort. Rechtslage gehindert wird, schleswig-holsteini- sches Landesrecht am Maßstab der Grundrechte zu Lothar Hay, Innenminister: prüfen. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herr Kubicki hat beispielsweise auf die Novellie- Herren! Es ist zu Recht schon darauf hingewiesen rung des Landesverwaltungsgesetzes - kurz ausge- worden, dass die Verfassungen der Länder Schles- drückt: Polizeirecht - hingewiesen. Das wäre nicht wig-Holstein und Hamburg bisher die einzigen möglich gewesen. sind, die weder einen eigenen Grundrechtskata- 5574 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Minister Lothar Hay)

Dies wäre durch den vorgelegten Gesetzentwurf im Ich weise das Hohe Haus nochmals darauf hin, dass Verfahren der abstrakten Normenkontrolle mög- für die Wahl die Mehrheit von zwei Dritteln der ab- lich. Da kann das auf seine Vereinbarkeit mit den gegebenen Stimmen, das heißt 46 Stimmen, erfor- Grundrechten hin überprüft werden. derlich ist. Wer dem Wahlvorschlag Drucksache 16/1813 seine Zustimmung geben will, den bitte ich Wenn auch eine Rechtsschutzlücke für die Bürge- um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltung? rinnen und Bürger hierdurch nicht besteht, Herr - Dann ist einstimmig so beschlossen worden. Kollege Hentschel, weil der notwendige Rechts- schutz gegen staatliche Grundrechtseingriffe nach Ich stelle fest, dass damit die erforderliche Zwei- Ausschöpfung des ordentlichen Rechtsweges durch drittelmehrheit für die Annahme erreicht und der die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfas- Wahlvorschlag angenommen ist. Damit ist Frau Uta sungsgericht gesichert ist, so verstärkt die Hinzufü- Fölster zur Präsidentin bei dem Schleswig-Holstei- gung des Artikels 2 a des Gesetzentwurfs den nischen Oberlandesgericht in Schleswig gewählt. - Grundrechtsschutz doch erheblich. Rechtsverstöße Frau Präsidentin, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich können dann sowohl vor dem Bundesverfassungs- zur Wahl. Die guten Wünsche des Hohen Hauses gericht im Namen der Verfassungsbeschwerde als und die Glückwünsche begleiten Sie. Mögen Sie auch vor dem Landesverfassungsgericht im Nor- für unser Land in Ihrer Amtsführung immer eine menkontrollverfahren gerügt werden. glückliche Hand haben. Herzlichen Glückwunsch! Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat, nicht (Beifall) von Hermann Hesse, sondern mit einem Wort des Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 5 auf: englischen Philosophen und sozialen Reformers John Stuart Mill: Erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur „Die Verfassung ist ein Mittel, das sicherstel- Nutzung Erneuerbarer Wärmeenergie in Schles- len soll, dass die Herrschenden ihre Macht wig-Holstein (Erneuerbare Wärmeenergie-Ge- nicht missbrauchen.“ setz - EWärmeG) (Beifall bei SPD, CDU, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/1791 Präsident Martin Kayenburg: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das schließe die Beratung. ist offensichtlich nicht der Fall. Ich eröffne die Grundsatzberatung. Das Wort hat der Herr Abge- Ich schlage dem Hohen Haus vor, den Gesetzent- ordnete Detlef Matthiessen. wurf Drucksache 16/1817 an den Innen- und Rechtsausschuss zu überweisen. Wer so beschlie- Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ßen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - NEN]: Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist einstimmig so beschlossen worden. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Wärme zum Heizen, zur Brauchwassererwär- Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: mung, Energie zur Lüftung von Gebäuden, das ver- schlingt laut internationaler Energieagentur 40 % Wahl der Präsidentin oder des Präsidenten bei des weltweiten Energieverbrauchs. Private Haus- dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesge- halte in unserem Land verbrauchen etwa ein Drittel richt in Schleswig der Endenergie, also Erdgas, leichtes Heizöl und Strom. Davon werden circa 70 % für die Raumhei- Wahlvorschlag des Innen- und Rechtsausschusses zung verbraucht. Drucksache 16/1813 Wir brauchen ein Erneuerbare Wärmeenergie-Ge- Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Ich lasse setz, um einen relevanten Beitrag zum Klimaschutz über den Wahlvorschlag des Innen- und Rechtsaus- leisten zu können. Mit dem Erneuerbare Wärme- schusses abstimmen und schlage Ihnen offene Ab- Gesetz wollen wir Schleswig-Holsteins Häuser stimmung vor. - Widerspruch höre ich nicht. Dann wärmer anziehen. Mit dem Erneuerbare Wärme- werden wir so verfahren. energiegesetz in Schleswig-Holstein wollen wir die Sonne in die Häuser lassen. Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5575

(Detlef Matthiessen)

Heizen und Warmwasserbereitung beruhen immer mafreundlichen Technologien könnte dies für noch überwiegend auf fossilen Brennstoffen. Das viele Familien erst einmal bedeuten, dass es ist technisch gesehen von gestern. Der Energiever- gar kein Eigenheim gibt.“ brauch unserer Häuser kann heute schon überwie- Er befürchtet also, dass wegen der hohen Kosten gend mit regenerativer Energie abgedeckt werden. gar nicht mehr gebaut würde. Das Gesetz übte zu Der Energieverbrauch insgesamt kann aber vor al- viel Zwang aus. Deswegen will ich gern darauf ein- len Dingen radikal gesenkt werden. Ziel des Ge- gehen. Das Gesetz übt einen Zwang aus. Ja, es setzentwurfes ist es, im Interesse des Klimaschut- macht Vorschriften. Das ist bei Gesetzen nun ein- zes eine anteilige Nutzung erneuerbarer Energien mal so üblich. Das haben sie so an sich. Das ist in bei Wohngebäuden verbindlich als Standard ein- diesem Fall auch so beabsichtigt. Das gilt für die zuführen. Einführung der Gurtpflicht im Auto, das gilt für die Die Vorteile sind nicht nur für die Umwelt, sondern Wärmeschutzverordnung von 1995, das gilt für die auch wirtschaftlicher Natur. Wenn ohnehin Bau- Landesbauordnung und das gilt auch für das Erneu- maßnahmen anstehen, sind energetische Moderni- erbare Wärmeenergie-Gesetz Schleswig-Holstein. sierungen besonders wirtschaftlich. Der erhöhte Eine Fehlannahme ist jedoch, dass erneuerbare Aufwand für Solarkollektoren und Wärmeschutz Wärme, also die solare Baupflicht, fürchterlich teu- amortisiert sich über die eingesparten Heizkosten. er ist. Es wird nur eines vom Kopf auf die Füße ge- Fast alle Häuser, die vor 1977 gebaut wurden, stellt. Ich kann entweder billig bauen und teuer un- könnten durch Wärmeschutz und eine effiziente terhalten oder ich baue etwas teurer und spare an Heizungsanlage den Verbrauch um die Hälfte redu- der Unterhaltung. zieren und damit Heizkosten einsparen - so die Ein- schätzung der Energieagentur Schleswig-Holstein. (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit steigenden Energiepreisen steigt auch die Ren- Billig bauen, teuer heizen oder günstig bauen, ge- tierlichkeit der Investitionen. Die Verknappung ringe Heizkosten - so lautet die Formel. An dem der Energierohstoffe wird bislang nicht in den gän- Budget, das der Familie zur Verfügung steht, ändert gigen Kalkulationen und Wirtschaftlichkeitsberech- das zunächst nichts. Jeder vernünftige Architekt nungen berücksichtigt. Die Preise werden allenfalls, kann das der Bank vorrechnen. Die LBS-Gruppe, wenn überhaupt, nur im Rahmen der allgemeinen also die Bauabteilung unserer Sparkassen, wirbt ge- Inflation steigend angenommen. Dabei liegt der zielt für den Bau von Passivhäusern, weil sie sich Preis für leichtes Heizöl - so steht es in der WI 4/ zu Recht sagt: Das Geld, das der Ölscheich ein- 2008, das ist die Wohnungspolitische Information streicht, leite ich doch lieber in meine Bausparkas- des Bundesverbandes Deutscher Wohnungs- und se. Aus der Sicht der Baufinanzierer ist solares Immobilienunternehmen - von November 2006 bis Bauen auch sicherer, weil die Energiepreise immer November 2007 um 23,7 %. Es wurde 23,7 % teu- unkalkulierbarer werden. rer. In einem Jahr. Die Energieagentur Schleswig-Holstein spricht Meine Damen und Herren, die Preise steigen auch von einer Wertsteigerung der Immobilie schnell. Die Investitionen sind jedoch langlebig. jenseits der Energieeinsparung. Ich zitiere: Bei Heizungen 12 bis 15 Jahre. Eine Solaranlage „Fachmännisch geplante und durchgeführte kann auch gern 20 Jahre alt werden. Bauliche Maß- Sanierungsmaßnahmen schützen die Bausub- nahmen sind für Jahrzehnte gedacht. Jeder Neubau stanz und vermeiden Bauschäden. Optimaler von heute unter dem KfW-40-Standard ist das wär- Wärmeschutz bedeutet, Wärmebrücken wei- metechnische Sanierungsobjekt von morgen. testgehend zu vermeiden. Das Gebäude ge- (Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- winnt an Attraktivität, nicht nur äußerlich.“ NEN]: Das ist wahr!) Von dem Gesetz erwarten wir einen wichtigen und Ich komme zu unserem Kollegen vom SSW, zu kalkulierbaren Wirtschaftsimpuls für das Handwerk Lars Harms. Ich zitiere: im Bereich Haustechnik sowie bei zahlreichen Bau- gewerken. Solar- und Regenerativtechnik wird „Der Gesetzentwurf der Grünen ist voller gu- von der Ausnahme zum Normalfall und damit zu ter Absichten,“ noch günstigeren Preisen auf der Verbraucherseite - so schreibt er in seiner Presseerklärung - führen. Das bedeutet neue Chancen im Baugewer- be. Der Anteil sanierungsbedürftiger Häuser in „aber die Umsetzung ist fragwürdig. Ange- Schleswig-Holstein ist sehr hoch, ein großes wirt- sichts der heute noch hohen Kosten der kli- 5576 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Detlef Matthiessen) schaftliches Potenzial für das Baugewerbe. Es setzt, wenn sie günstiger als fossile Energieträger könnten Tausende neuer Arbeitsplätze entstehen. sind. (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Betriebswirtschaftlich ist das zum Teil verständlich, klimapolitisch und volkswirtschaftlich ist das Gift. Ich habe bei der Formulierung des schleswig-hol- Mieterinnen und Mieter sind deshalb auch wesent- steinischen Gesetzes Anleihen in Baden-Württem- lich Profiteure unseres regenerativen Wärmeener- berg genommen. giegesetzes für Schleswig-Holstein. (Dr. Heiner Garg [FDP]: Anleihen? - Heiter- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keit) In welchen Fällen findet das Gesetz Anwendung? Das Gesetz dort hat eine ähnliche Systematik wie Im Neubaubereich soll ein Anteil von 40 % der unser Vorschlag. Das baden-württembergische Ge- Wärme durch erneuerbare Energien gedeckt wer- setz wurde im November eingebracht und gilt dort den, im Bestand soll ein Anteil von 20 % der Wär- seit Beginn des Jahres, also von heute an gerechnet me durch erneuerbare Energien gedeckt werden. seit 30 Tagen. Der Wärmebedarf bestehender Wohngebäude soll Es wurde mit den Stimmen der CDU, der Grünen bestimmte Werte, nämlich Energiekennzahlen, und der FDP verabschiedet. nicht überschreiten. Zeitlich gestaffelt sollen Ge- (Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Hört, hört!) bäude ab dem Jahr 2010 nicht mehr als 35 Liter pro Quadratmeter Wohnfläche verbrauchen. Das heißt, Herr Dr. Garg findet das Gesetz in Baden-Württem- wir wollen an die richtigen Energieschleudern ran, berg gut, unsere darüber hinausgehenden Vorschlä- gerade auch dann, wenn dort nichts getan wird. Ab ge hier findet er nicht so gut. Darüber wird zu bera- 2015 26 Liter, ab 2020 17 Liter. Die hierfür not- ten sein. Für mich ist der Maßstab der Stand der wendigen Technologien sollen weiter ausgebaut Technik und der Wirtschaftlichkeit. werden und zu einer nachhaltigen Energieversor- Noch ein Hinweis für Sie, Herr Dr. Garg: Wir ge- gung beitragen. ben nur einen Rahmen vor, etwa durch Energie- Bereits heute ist es sowohl technisch möglich als kennzahlen, die einzuhalten sind, und zwar einen auch wirtschaftlich sinnvoll, 90 % des Wärmebe- weiten zeitlichen Rahmen. Das verstehe ich unter darfes durch erneuerbare Energien zu decken. Tat- liberaler Wirtschaftslenkung. sächlich werden aber nur 6 % genutzt. Mit Blick (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf das Klimaschutzziel, bis 2020 CO2-Einsparun- gen von 40 % zu erreichen, müssen wir die bisher Die Dramatik der Verknappung und Verteuerung getroffenen Maßnahmen zum Ausbau der erneuer- fossiler Energieträger ist im öffentlichen Bewusst- baren Energien drastisch verstärken. sein noch nicht in vollem Umfang angekommen. Die geforderten Maßnahmen rechnen sich bereits (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heute für Hauseigentümerinnen und Hauseigentü- Der aktuelle Entwurf des Bundesgesetzes zur Nut- mer und werden in Zukunft mit der zu erwartenden zung erneuerbarer Energien aus dem Bundesum- Energiepreisentwicklung in ihrer Wirtschaftlichkeit weltministerium sieht eine verbindliche Nutzung noch weiter steigen. dieser Energien nur im Neubaubereich vor. Das ist Die Tatsache, dass heute nur jede zehnte neue Hei- wenig ambitioniert, auch in den dort ins Auge ge- zung mit erneuerbaren Energien betrieben wird, fassten Zahlen. Die Masse des Heizenergiever- lässt darauf schließen, dass die Vorteile der erneu- brauchs findet nämlich in Bestandsgebäuden statt. erbaren Energien für die Kunden noch zu intranspa- Die wärmetechnische Sanierung im Bestand hat rent sind und die Investoren vor den Investitions- wirtschaftlich einen wichtigen Vorteil - wir kennen kosten zurückschrecken. die Story von Motorola in Flensburg, wir kennen die Story von Nokia jetzt aktuell in Nordrhein- Auf der anderen Seite steht auch oft die unter- Westfalen -: Die sanierungsbedürftigen Häuser in schiedliche Interessenlage zwischen Investor und Kiel, Neumünster, Marne und Mölln können nicht Nutzer einer Immobilie. Die Interessen der Käufer weglaufen, die Arbeit bleibt hier im Lande. Hier von Heizungsanlagen, also der Vermieterinnen und kommen Ökonomie und Umweltnutzen zusammen. Vermieter, und der Wärmeverbraucher, also der Mieterinnen und Mieter, liegen häufig auseinander. Meine Damen und Herren, ich freue mich auf die Vor dem Hintergrund dieses Dilemmas werden Befassung mit dem schleswig-holsteinischen Er- häufig erneuerbare Energien auch dann nicht einge- neuerbaren Wärmeenergie-Gesetz im Ausschuss. Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5577

(Detlef Matthiessen)

Ich bin mir sicher, dass wir zu einem guten Ergeb- Woche muss für die Rettung des Klimas jeder Bür- nis kommen werden. Ich beantrage Überweisung an ger - ob jung oder alt - mit einer Belastung von 3 € den Umweltausschuss. rechnen. Im Jahr sind das circa 160 € oder auf ganz Deutschland hochgerechnet etwa 13 Milliarden €, (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für die Europäische Union 60 Milliarden bis 80 Milliarden €. Präsident Martin Kayenburg: Wenn wir jedoch nichts tun, werden die Aufwen- Für die Fraktion der CDU erteile ich Herrn Abge- dungen zur Schadensbehebung von Klimaschäden ordneten Manfred Ritzek das Wort. mindestens fünfmal so teuer, im schlimmsten Fall sogar zwanzigmal so hoch sein - so Barroso. Manfred Ritzek [CDU]: (Beifall der Abgeordneten Angelika Birk Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herren! In dem Dokumentarfilm von Al Gore, dem früheren amerikanischen Vizepräsidenten und Dieser Betrag von etwa 13 Milliarden € pro Jahr für Hauptdarsteller des Dokumentarfilms „Eine unbe- Deutschland zur Rettung des Klimas ist nicht nur queme Wahrheit“, werden schmelzende Gletscher, ein Kostenfaktor, sondern er bedeutet auch Finanz- Hurrikans, Überschwemmungen, Ernteausfälle, mittel zur Entwicklung neuer Technologien und Dürren gezeigt - Bilder, die uns vor Augen führen, Schaffung neuer Arbeitsplätze im Bereich regene- dass die Zeit des Achselzuckens vorbei ist. Ich rative Energien. glaube, dem stimmen wir alle zu. (Vereinzelter Beifall) (Beifall) Wir können mithelfen, ganz konkret unseren Bei- Wir alle sind gefordert, jeder Einzelne, unser Land trag zum Klimaschutz zu leisten. Eine Möglichkeit Schleswig-Holstein, Deutschland, Europa und die ist die Erhöhung der Nutzung des Anteils regenera- ganze Welt, sich den Herausforderungen des Kli- tiver Wärmeenergien, also der Verbrauch in Haus- mawandels zu stellen. halten oder allgemein in Gebäuden, die nach ihrer Zweckbestimmung überwiegend dem Wohnen die- Die Landesregierung hat vor einigen Tagen die Be- nen, wie zum Beispiel in Wohn-, Alten- und Pfle- deutung von Klimaschutzmaßnahmen und Kli- geheimen. maschutzzielen genannt, ebenso die beiden Koali- tionsparteien wie auch die Oppositionsparteien. Da Haushalte in Deutschland sind mit circa 14 % oder sind wir uns alle einig. Das ist eine gute Basis für etwa 125 Millionen t pro Jahr am CO2-Ausstoß be- ein langfristiges, verantwortungsbewusstes Handeln teiligt, mit etwa 30 % entsprechend etwa 142 Mil- zur Rettung des Klimas auch in Schleswig-Hol- lionen t Steinkohleeinheiten am Energieverbrauch. stein. Der Haus- beziehungsweise Wohnsektor ist ein wichtiger Bereich zur Erhöhung der Energieeffizi- Soeben hat auch die Europäische Kommission enz und zur CO2-Reduzierung neben den Bereichen einen EU-Plan bis zum Jahre 2020 verabschiedet Industrie, Verkehr, Gewerbe, Handel und Dienstlei- mit einem Klimapaket, das auch für Deutschland stungen. die Erfüllung konkreter Ziele bis zum Jahr 2020 fordert, nämlich die Erhöhung des Anteils regene- Auf das Segment Wohnen bezieht sich der Gesetz- rativer Energien von heute 6,6 % auf 18 %, das entwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Es ist nur zu schade, dass die Grünen wieder einmal Erreichen eindeutiger Grenzen für den CO2-Aus- stoß mit einer Reduzierung um 14 % gegenüber etwas abgeschrieben haben, nämlich das Gesetz des 1990 und die Umsetzung von Maßnahmen zur Er- Landes Baden-Württemberg. In einigen Zahlen, wo höhung der Energieeffizienz in allen Bereichen des die Grünen glaubten, die Anforderungen noch et- Energieverbrauchs. was verschärfen zu müssen, weichen sie vom Ge- setz aus Baden-Württemberg ab. Ansonsten ist der Ich zitiere Kommissionspräsident Barroso: Text fast ein reines Plagiat. „Plagiat“ kommt aus „Eine Wundertüte für die Rettung des Klimas dem Lateinischen und bedeutet „Menschenraub“; gibt es nicht. Anstrengungen sind notwendig, so schlimm ist es zwar nicht, aber der Gesetzent- die Geld kosten.“ wurf ist als Gesetzentwurf für unser Land überflüs- sig. Erstmals nennt die Europäische Union auch kon- krete Zahlen der finanziellen Belastung: Woche für (Beifall bei der CDU) 5578 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Manfred Ritzek)

Denn das Bundesumweltministerium hat im Ok- besondere mit den Ländern überprüft werden und tober letzten Jahres einen ersten Referentenentwurf das ist zurzeit Inhalt des Diskussions- und Anhö- zu einem „Gesetz zur Förderung erneuerbarer Ener- rungsprozesses auf Bundesebene. Geprüft werden gien im Wärmebereich“ vorgelegt. Am 5. Dezem- sollte, ob alle Anforderungen im Gesetzentwurf ber ist das Gesetz im Rahmen des Meseberg-Pake- wettbewerbsneutral sind, besonders ob es keine Be- tes von der Bundesregierung beschlossen worden. vorzugung bestimmter Energietechniken und Ener- Es wird nun - insbesondere auch in Abstimmung gieträger gibt. Geprüft werden muss, ob bestimmte mit den Ländern - im beraten und verab- Energietechniken, die im Gesetz nicht oder nur ein- schiedet. geschränkt aufgeführt sind, kostengünstiger wären bei gleicher Zielführung. Geprüft werden muss, ob Ein Vorpreschen unseres Landes würde bezogen der Ausschluss von flüssiger oder gasförmiger Bio- auf das zu erwartende Bundesgesetz vorhersehbare masse wie Deponiegas, Klärgas, Klärschlamm, Schwierigkeiten machen, so wie diese jetzt auf Ba- Grubengas sowie der biologisch abbaubare Anteil den-Württemberg zukommen. Beide Gesetze - auch von Abfällen aus Haushalt und Industrie rechtlich auf den Entwurf der Grünen trifft das zu - unter- Bestand hat. Geprüft werden muss, ob Erdgas nicht scheiden sich nämlich sowohl in der Konzeption als auch als Möglichkeit der Nutzungspflicht für Hei- auch in Details. Da wir uns in konkurrierender Ge- zungssysteme zwingend aufgenommen werden setzgebung befinden, hat das Bundesgesetz grund- muss. Denn die Kombination Erdgas und Solarther- sätzlich Vorrang, zumindest ab Inkrafttreten des mie ist zum Beispiel eine erstklassige kosteneffekti- Bundesgesetzes. ve Option mit hohem Anteil zur CO2-Reduzierung. Diese Probleme brauchen wir uns nicht ins Haus zu Geprüft werden muss, ob die Gefahr einer Gänge- holen. Wir sollten uns vielmehr auf die Bedeutung lung der Haus- und Wohnungseigentümer und ein der Sache konzentrieren, heute schon. Die Verab- nicht zu rechtfertigender Eingriff in das Eigentum schiedung des Bundesgesetzes ist dann nur noch besteht. Geprüft werden muss, ob die Wirtschaft- der gesetzliche Rahmen. lichkeit und Verhältnismäßigkeit bei der Pflicht zur Zweck des zukünftigen Bundesgesetzes ist es, „ins- Nutzung regenerativer Energien gewahrt ist. Und besondere im Interesse des Klimaschutzes, der geprüft werden muss, ob die Bußgeldvorschriften Schonung fossiler Ressourcen und der Minderung nicht zu sehr den Charakter der Bedrohung haben. der Abhängigkeit von Energieimporten eine nach- Der Gesetzentwurf des Bundes beinhaltet weitere haltige Entwicklung der Energieversorgung zu er- Fragen, auf die ich aber nicht weiter eingehen will. möglichen und die Weiterentwicklung von Techno- Wir sollten nicht warten, bis das Bundesgesetz ver- logien zur Erzeugung von Wärme aus erneuerbaren abschiedet wird. Energien zu fördern“. Weiter heißt es im Gesetzent- wurf: (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) „Um den obigen Zweck unter Wahrung der Wir können heute schon starten, so wie es uns die wirtschaftlichen Vertretbarkeit zu ermögli- Innovationsstiftung Schleswig-Holstein in Zusam- chen, verfolgt dieses Gesetz das Ziel, dazu menarbeit mit dem Wirtschaftsministerium und der beizutragen, den Anteil erneuerbarer Energi- Investitionsbank bei der Energieolympiade der en für die Heizung, Warmwasserbereitung Kommunen 2008 vormacht. Stadtwerke können und Erzeugung von Kühl- und Prozesswärme einen Klimakredit zur Heizungsmodernisierung in bis zum Jahr 2020 auf 14 % zu erhöhen.“ Zusammenarbeit mit den örtlichen Banken anbie- ten. Kommunen, auch die kleinsten, können Klima- Der Gesetzentwurf des Bundes definiert unter ande- tage im Rahmen einer Industriemesse durchführen. rem Geltungsbereich der Nutzungspflicht, Nach- Vor Ort können Fachleute am besten über die Ener- weis der Umsetzung, Ausnahmen, Überprüfung, fi- gieauswahl, über Klimakredite, Solarenergie und nanzielle Förderung, für die im Übrigen pro Jahr andere regenerative Energieträger, über Brennwert- bis 2012 mit etwa 50 Millionen € gerechnet wird. technik, über Wärmepumpen, über Miniblockheiz- Im Anhang des Gesetzentwurfs werden dann die kraftwerke, über richtiges Wohnen, neue Haushalts- Anforderungen an die einzelnen regenerativen geräte, staatliche Fördermittel und so weiter infor- Energien erklärt, um auch als solche gemäß den mieren. Dieses bunte Programm könnte und sollte Anforderungen des Gesetzes anerkannt zu werden. zusätzlich gefördert werden, und zwar wieder von Es gibt viele kritische Punkte und viele Anfragen, unserer Innovationsstiftung, der Investitionsbank, die dieses Gesetz begleiten und die von den Län- dem Wirtschafts- und dem Umweltministerium. dern geprüft werden. Der Gesetzentwurf muss ins- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5579

(Manfred Ritzek)

Warum nicht eine neue Olympiade, warum nicht ei- 50.000 bis 100.000 € androht, wer einen Überwa- ne Weltmeisterschaft? chungsmechanismus aufbauen will, der nur durch eine Baupolizei zu leisten ist, der wird die Bevölke- Das Klimaproblem müssen wir weltweit lösen. Be- rung nicht vom Einsatz erneuerbarer Energien über- ginnen wir konkret vor Ort. Nehmen wir auch das zeugen können. neue, bald zu verabschiedende Bundesgesetz als positive Herausforderung für unser Land an. (Beifall bei SPD und FDP) Meine Damen und Herren, ich beantrage die Ableh- Einen Gesetzentwurf abzuschreiben, die Zielsetzun- nung des Gesetzentwurfs der Grünen und die Über- gen zu verschärfen, ohne die wirtschaftlichen und weisung des gesamten Sachverhalts an den Wirt- sozialen Folgen abzuschätzen, ist schlichtweg man- schaftsausschuss. gelhaft. (Beifall bei der CDU) (Beifall bei SPD, CDU und FDP)

Um einen wirksamen Beitrag zur CO2-Reduzierung Präsident Martin Kayenburg: zu erreichen, ist der Wohnungsbau von besonderer Für die Fraktion der SPD erteile ich Herrn Abge- Bedeutung, insbesondere der Bestandswohnungs- ordneten Thomas Hölck das Wort. bau. Hier liegen enorme Energieverbrauchspoten- ziale, die durch effektive, aufeinander abgestimmte Thomas Hölck [SPD]: Maßnahmen schnell, unbürokratisch und kosten- günstig verringert werden müssen. 90 % der ver- Sehr verehrter Herr Landtagspräsident! Liebe Kol- brauchten Heizenergie wird von Gebäuden ver- leginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf zur braucht, die vor 1982 errichtet wurden. Deshalb hat Nutzung erneuerbarer Wärmeenergie in Schleswig- die Energieeinsparung in Wohnungsbeständen eine Holstein hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zentrale Bedeutung und ist dem Einsatz erneuerba- NEN dem Landtag einen Vorschlag unterbreitet, rer Energien zunächst vorzuziehen. Den Energie- der in dieser Form dem hohen Stellenwert der Kli- verbrauch zu reduzieren, ist der beste Klimaschutz. madiskussion nicht gerecht wird. Es ist völlig un- Jede nicht verbrauchte Kilowattstunde schont Res- streitig, dass die Erzeugung und Nutzung erneuer- sourcen, senkt Kosten und vermindert die Abhän- barer Energien ausgebaut werden muss. Aber ob gigkeit von Energieimporten. CO2-reduzierende das gesetzlich vorgeschrieben dezentral für jedes technische Anforderungen, die gerade im Neubau Gebäude geschehen muss, ist unter den derzeitigen eine wichtige Rolle spielen können, müssen in der Rahmenbedingungen völlig zweifelhaft. Sinnvoller Energieeinsparverordnung geregelt werden. ist ein bundeseinheitliches Vorgehen. Die Gesetzes- grundlagen sind auf Bundesebene bereits in der Be- Sollte der von den Grünen vorgelegte Gesetzent- ratung. Ziel ist es, den Anteil erneuerbarer Energien wurf beschlossen werden, würde sich die Gewich- bis 2020 auf 25 bis 30 % zu erhöhen und anschlie- tung der künftigen Investitionen im Wohnungs- ßend weiter auszubauen. bau, auch im Hausbau, verändern. Investitionen in wärmedämmende Maßnahmen würden zugunsten Die SPD-Landtagsfraktion unterstützt uneinge- des Einsatzes erneuerbarer Energien eingeschränkt. schränkt den weiteren Ausbau und die Nutzung er- Das kann nicht gewollt sein und hätte negative Fol- neuerbarer Energien. gen für den Bestandswohnungsbau und für die Mie- (Beifall bei der SPD) ter. Erneuerbare Energien bilden für eine nachhaltige Es lohnt sich daher, einen Blick in die Wohnungs- Energieversorgung und den Klimaschutz ein we- marktprognose für Schleswig-Holstein bis 2020 zu sentliches Fundament. Für eine erfolgreiche Ener- werfen. Nach Angaben der Wohnungswirtschaft giewende ist es notwendig, dass die Bürgerinnen sind 40 % der Mietwohnungen in den nächsten Jah- und Bürger Gesetzesvorschriften nicht als bürokra- ren ohne Modernisierung nicht mehr wettbewerbs- tischen und finanziellen Ballast empfinden. Viel- fähig. Dabei gehen 65 % der Befragten davon aus, mehr ist es wichtig, dass die Bevölkerung motiviert dass sich die notwendigen Aufwendungen durch wird, erneuerbare Energien einzusetzen. Das wird die erzielbaren Mieten nicht finanzieren lassen. Mit mit diesem Gesetzentwurf mit Sicherheit nicht ge- dem Einbau von Haustechnik zum Einsatz erneuer- lingen. Wer die Bevölkerung finanziell durch neue barer Energien wird sich die Wettbewerbsfähigkeit Vorgaben belastet, kürzeste Übergangsregelungen ganzer Stadtquartiere nicht wieder herstellen lassen. will, wer Geldbußen bei Ordnungswidrigkeiten von Nicht mehr marktgerechte Wohnungsbestände wer- den vom Markt genommen. Ich befürchte, dieser 5580 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Thomas Hölck)

Gesetzentwurf wird diese Entwicklung weiter be- (Dr. Heiner Garg [FDP]: So ist das!) schleunigen. Damit wird bezahlbarer Wohnraum Dabei ist es gar nicht nötig, Eigentümer und Woh- vernichtet, mit unabsehbaren Folgen für Mieter mit nungswirtschaft zu klimaschützenden Investitionen geringem Einkommen. zu zwingen. Die Unternehmen des Verbandes nord- (Beifall bei der SPD) deutscher Wohnungsunternehmen haben sich in der Aktion „Energiewende für Klimaschutz und Wirt- Aufgrund der hohen Sanierungsrückstände in schaftlichkeit“ freiwillig dem Klimaschutz ver- Schleswig-Holstein brauchen wir ein Handlungs- pflichtet. Ziel ist es, den Energieverbrauch und konzept, das den sozialen, wirtschaftlichen und den CO -Ausstoß bis 2020 bei nachprüfbaren Kri- energetischen Aspekten im Bestandswohnungsbau 2 terien um 15 % beziehungsweise 25 % zu senken. gerecht wird. Das bedeutet Förderung von energeti- Ohne passende politische und wirtschaftliche Rah- schen Sanierungsmaßnahmen durch ein neues menbedingungen wird die Selbstverpflichtung nicht Wohnraumfördergesetz statt dirigistischer umgesetzt werden können. Zwangsmittel mit unverhältnismäßigen Umset- zungsfristen. Durch die notwendigen Modernisie- Wie wichtig aber die Wärmedämmung ist, können rungsmaßnahmen werden die Betriebskosten ab- Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü- gesenkt. Die Refinanzierung der Maßnahmen er- nen, in der Antwort der Landesregierung auf die folgt durch vertretbare Mieterhöhung. Entscheidend Große Anfrage der SPD-Landtagsfraktion zur Woh- ist, dass im Ergebnis die Summe der Belastungen nungspolitik in Schleswig-Holstein nachlesen. Bei der Mieterinnen und Mieter nicht überproportional einem Modernisierungsaufwand, der sich auf die ansteigt. Das wird in weiten Bereichen nur gelin- Wärmedämmung der Gebäudehülle und eine gen, wenn Wohnraumfördermittel oder KfW-Mittel gleichzeitige Modernisierung der Heizungsanlage des Bundes zur energetischen Erneuerung von bezieht, ist eine Reduzierung von 80 kg CO2 pro Wohneinheiten zur Verfügung stehen. Quadratmeter Wohnfläche zu erreichen. Bei 150.000 Wohnungen, die nach Schätzungen von Je intensiver man sich mit den Auswirkungen des Experten - wiederum aus „Wettbewerbsgründen“ - Gesetzentwurfs der Fraktion der Grünen beschäf- bis 2010 saniert werden müssten, lassen sich bei ei- tigt, um so offensichtlicher wird, dass der ganzheit- ner durchschnittlichen Wohnungsgröße von 62 m2 liche Politikansatz fehlt. Ich will dies an einem wei- 744.000 t CO pro Jahr einsparen. Wir haben also teren Beispiel verdeutlichen. 2 kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefi- Man könnte argumentieren, es ist ja egal, ob vor- zit, handene Wohnungsbestände, Ein- oder Zweifamili- (Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE enhäuser energetisch saniert werden oder der Anteil GRÜNEN]: Richtig!) der erneuerbaren Energien zur Wärmeerzeugung er- höht wird. weil niemand weiß, woher die geschätzten 3,1 Mil- liarden € kommen sollen, um diese Modernisie- Hauptsache, der CO -Ausstoß wird verringert und 2 rungsmaßnahmen zu finanzieren. die Klimaschutzziele werden erreicht. - Das halte ich für eindeutig falsch. Auf die Reihenfolge Die Frage der Wirtschaftlichkeit beziehungsweise kommt es an. Dämmung als erster Schritt und, der Verhältnismäßigkeit wird in dem Gesetzent- wenn möglich, der Einsatz erneuerbarer Energie als wurf der Grünen nicht beantwortet. Beim Abschrei- zweiter Schritt. ben des Gesetzes aus Baden-Württemberg wurde nicht einmal der Versuch unternommen, die Ver- Die energetische Modernisierung der Fassaden hältnismäßigkeit zu wahren. Auf die im baden- dient gleichzeitig der Wohnumfeldverbesserung. württembergischen Gesetz vorgesehene ersatzweise Die städtebauliche Erneuerung und die Erneuerung Erfüllung, als Alternative zur anteiligen Nutzungs- der Quartiere ist ein wichtiges Nebenprodukt, wenn pflicht erneuerbare Energien einzusetzen, wurde die Gebäudehüllen wärmedämmtechnisch saniert ganz verzichtet. Das heißt, ein Anrechnen an ande- werden. Auf diesen Aspekt dürfen wir hinsichtlich rer Stelle bereits umgesetzter oder noch durchzu- der wichtigen integrativen Funktion von Quartieren führender Wärmedämmmaßnahmen findet nicht nicht verzichten. statt. Das Gesetz strotzt vor Überregulierung und Büro- Es bleibt festzuhalten: Eine Umstellung der Ener- kratisierung und trampelt jeden freiwilligen Ansatz, gieversorgung weg von fossilen Energieträgern hin den CO -Ausstoß zu reduzieren, mit Zwangsmaß- 2 zu erneuerbaren Energien ist grundsätzlich heute nahmen nieder. schon machbar. Der Einsatz erneuerbarer Energie Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5581

(Thomas Hölck) wird bei zunehmender Knappheit fossiler Rohstoffe vorgelegt wurden, konkret auseinandersetzt, um mittelfristig betriebswirtschaftlich sinnvoll sein. diesen Unterschied auch zu zeigen. Es ist grund- Der Aufbau einer dezentralen Energieversorgung sätzlich in Ordnung, wenn die Initiative auch auf ist dafür der geeignetere Weg. Viele dezentrale Landesebene ergriffen wird. Da bin ich etwas ande- Kraftwerke, insbesondere die von der SPD-Fraktion rer Meinung als die beiden Kollegen zuvor. favorisierten Kombikraftwerke, die sich in der Nä- (Beifall des Abgeordneten Detlef Matthies- he der Verbraucher befinden und erneuerbare Ener- sen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gie produzieren, helfen uns, die Klimaschutzziele zu erreichen, zu denen sich die Bundesrepublik Aber man muss sich dann schon für das entschei- Deutschland verpflichtet hat und die von der EU- den, was man liberale Wirtschaftslenkung nennt Kommission künftig gefordert werden. und was man darunter vielleicht versteht. Schauen wir also einmal in Ihren Gesetzentwurf hinein, Herr Fazit: Die Idee ist diskussionswürdig, das Gesetz ist Kollege Matthiessen! schlecht, aber immer noch besser, als neue Atom- kraftwerke im Kreis Steinburg bauen zu wollen. § 4, anteilige Nutzungspflicht. In § 4 Ihres Gesetz- entwurfs wird geregelt, dass für private neu gebaute Ich beantrage Überweisung in den Wirtschaftsaus- Häuser und Wohnungen ab dem 1. April 2008 - das schuss, in den Innen- und Rechtsausschuss und in ist nicht mehr lange hin - 40 % des jährlichen Wär- den Umweltausschuss. mebedarfs durch erneuerbare Energie gedeckt wer- (Beifall bei der SPD) den sollen. In privaten bereits bestehenden Häusern und Wohnungen sollen ab dem 1. Januar 2010 Präsident Martin Kayenburg: 20 % des Wärmeenergiebedarfs aus erneuerbaren Energien stammen. Für die Fraktion der FDP hat Herr Abgeordneter Dr. Heiner Garg das Wort. Zum Vergleich: In dem grundsätzlich vernünftigen Gesetz aus Baden-Württemberg - das will ich im- Dr. Heiner Garg [FDP]: mer heranziehen - werden für Neubauten 20 % und für bereits bestehende Häuser und Wohnungen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- 10 % vorgeschrieben. Das ist realistisch und das ist gen! Lieber Kollege Matthiessen, mer könnet elles, auch erreichbar. Ich frage mich, warum Sie an der sogar uf Hochdütsch. - So oder so ähnlich müssen Stelle nicht wirklich die Anleihe genommen haben, Sie sich gefühlt haben, als Sie den Gesetzentwurf sondern noch eines draufgesetzt und schlicht ver- aus Baden-Württemberg auf Ihren Schreibtisch leg- doppelt haben. Meine verehrten Kolleginnen und ten und dann Ihren eigenen formulierten. Als ich Kollegen von den Grünen, Sie schießen damit weit die Drucksache mit der entsprechenden Überschrift über das Ziel hinaus und verursachen Mehrkosten das erste Mal gelesen habe, habe ich gedacht: bei Bürgerinnen und Bürgern, anstatt Anreize zu Warum nicht? setzen. Am 7. November 2007 hat die CDU-FDP-Regie- Schauen wir uns § 5 an: Energetische Anforderun- rung in Baden-Württemberg das Gesetz beschlos- gen. Denn hier geht es weiter. In § 5 bauen die Grü- sen, das den Titel trägt: Gesetz zur Nutzung erneu- nen etwas ein, was sich im vernünftigen Gesetz aus erbarer Wärmeenergie in Baden-Württemberg. Baden-Württemberg aus gutem Grund gerade nicht Dann habe ich Ihre Drucksache neben das grund- findet. Sie wollen den Jahresenergiebedarf für be- sätzlich vernünftige gelb-schwarze Gesetz aus Ba- stehende Wohngebäude, für Heizung, Warmwas- den-Württemberg gelegt und verglichen. Und siehe serbereitung und Lüftung per Gesetz reduzieren, da: Der vermeintlich grüne Gesetzentwurf ent- und zwar bis auf 170 kWh pro Quadratmeter spricht durchaus zu einem Teil - jedenfalls was Wohnfläche im Jahr 2020. Damit sich jeder, der Buchstaben und Sätze anbelangt - dem Gesetzent- sich nicht jeden Tag mit diesem Thema beschäftigt, wurf aus Baden-Württemberg. etwas darunter vorstellen kann: Das heißt im Klar- Wer allerdings glaubt, dass auch der Inhalt weitge- text gesprochen: Sie wollen, dass der Staat dem hend identisch ist, der irrt. Zwar sind dieselben Bürger vorschreibt, wie hoch der Energiever- Buchstaben verwandt worden, aber die Zielrichtung brauch in seinem Haus höchstens sein darf. des Gesetzes des Kollegen Matthiessen ist eine an- Man kann das machen, aber wir nehmen jetzt ein- dere als die des baden-württembergischen Gesetz- mal einen durchschnittlichen schleswig-holsteini- entwurfs. Deshalb ist es, finde ich, wert, dass man schen Bürger. Er hat im Oktober 2007 ein 120 m2 sich mit den einzelnen Regelungen, die uns heute großes Einfamilienhaus fertig gebaut, lebt dort mit 5582 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Dr. Heiner Garg) seiner Frau und seinen zwei Kindern, zahlt den setzgebungsverfahren informiert? Denn neben dem Kredit für eben dieses Haus die kommenden 25 Gesetz von Schwarz-Gelb gab es auch noch einen Jahre bei seiner örtlichen Sparkasse zurück und Entschließungsantrag von CDU und FDP, der - heizt sein Haus, wie er denkt, relativ umweltfreund- man höre und staune! - fordert, dass die Ziele des lich mit Erdgas. Laut einer Statistik des Bundeskar- Erneuerbare-Energien-Gesetzes analog auch für die tellamts verbraucht diese Familie etwa 35.000 kWh Landesliegenschaften und für die Landesgebäude an Wärmeenergie, also 290 kWh pro Jahr und gelten sollen. Warum fehlt denn diese unabdingbare Quadratmeter. Forderung in Ihrem heute vorgelegten Gesetzent- wurf? Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, was soll er nun in sieben Jahren eigentlich machen? (Lachen und vereinzelter Beifall bei FDP und Einen neuen Kredit aufnehmen, um die komplette SSW) Heizungsanlage umzustellen? Oder soll er nur je- Dieser Gesetzentwurf ist aus meiner Sicht typisch den zweiten Tag heizen? Das, was Sie vorschlagen, für grüne Politik. Es werden gute Ideen aufgegrif- ist schlichtweg unrealistisch, um nicht zu sagen ab- fen, diese dann aber zulasten der Bürgerinnen und surd. Bürger völlig verunstaltet, Mehrkosten verursacht, (Beifall bei der FDP - Vereinzelter Beifall verbunden mit mehr Bürokratie und mit mehr Stra- bei der CDU) fen. Anreize zu einem klimaschonenden Verhalten werden nicht geschaffen und ein solches Verhalten Was machen Sie mit Härtefällen? Was machen Sie nicht belohnt. Stattdessen soll nach Ihrem Willen mit Rentnern und sozial Benachteiligten? Warum noch nicht einmal das Land mit gutem Beispiel vor- führen Sie in Ihrem Gesetzentwurf noch nicht ein- angehen. Warum eigentlich nicht? Gut gemeint, mal eine Übergangsregelung ein? schlecht gemacht und deswegen in dieser Form mit Außerdem: Meinen Sie nicht, dass dadurch ein er- Sicherheit nicht zustimmungsfähig. heblicher Fehlanreiz besteht? Das stört mich an Ih- (Beifall bei FDP und CDU) rem Gesetz am meisten. Meinen Sie nicht, es ist sinnvoller, die Reduzierung der Wärmeenergie zu Fazit: Die Grünen schreiben ein Gesetz von FDP belohnen, anstatt die Überschreitung willkürlicher und CDU in Baden-Württemberg ab. Das kann Matthiessen’scher Höchstgrenzen zu bestrafen? prinzipiell nicht schaden. Die Grünen verunstalten Und schließlich die Frage: Wer soll das alles ei- dieses Gesetz mit Zwangsmaßnahmen und mehr gentlich kontrollieren und was sind die Konsequen- Bürokratie. Das schadet dann schon eher. Die Grü- zen, wenn die Vorgabe aus Ihrem Gesetz nicht ein- nen zeigen mit dieser Vorlage, dass ihnen Gänge- gehalten wird? lung und Bestrafung der Bürger wichtiger sind, als vernünftige Anreize zur Energieeinsparung zu All das war bislang wenig überzeugend. Aber es schaffen. Das allerdings lehnen wir ab. geht noch weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP) § 6, elektrische Heizungen. In § 6 fordern Sie, dass bis zum 30. Juni 2015 sämtliche Direktheizungen Aus Sicht der FDP-Fraktion muss es, wenn man das oder Nachtspeicherheizungen außer Betrieb zu neh- als Landesaufgabe definiert, Aufgabe des Landes men sind. Die Forderung, die Nutzung der elektri- sein, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaf- schen Heizungen zu reduzieren, ist sinnvoll. Das fen, um den Anteil erneuerbarer Energien an der sage ich, um kein Missverständnis aufkommen zu Stromerzeugung zu erhöhen, anstatt Bürger zu be- lassen. Sie ist aber genauso überflüssig, Kollege strafen. Matthiessen. Die Bundesregierung hat nämlich im Wie wäre es beispielsweise mit einer Initiative, das August 2007 beschlossen, genau dieses Ziel im ge- Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz zu reformieren mit samten Bundesgebiet zu erreichen, und zwar - mit dem Ziel, eine möglichst hohe Energieeffizienz bei guten Begründungen - bis zum Jahr 2020. der Erzeugung von Strom und Wärme zu gewähr- Liebe Kolleginnen und Kollegen, was mich an der leisten und die Verschwendung von Energie zu mi- Verschlimmbesserung durch die Grünen allerdings nimieren? Wie wäre es mit einer parlamentarischen am meisten nicht nur ärgert, sondern auch gewun- Unterstützung von Fernwärmekonzepten zur effizi- dert hat, sind die fehlende Selbstverpflichtung und enten und umweltschonenden Nutzung erneuerba- die fehlende Vorbildfunktion. Warum, lieber Kolle- rer Energien in der Wärmeproduktion? Wie wäre es ge Matthiessen, haben Sie sich bei Ihren Kollegen mit einem Abbau von überflüssigen Regelungen, in Baden-Württemberg nicht über das gesamte Ge- die die energetische Nutzung von Biomasse behin- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5583

(Dr. Heiner Garg) dern, zum Beispiel die Zulassung von Getreide als Holstein darauf, dass eine bundesweite Lösung ge- Regelbrennstoff, Zulassung der energetischen Ver- funden werden muss, damit es keinen Flickentep- wertung agrarischer Reststoffe wie tierische Fette, pich auf Länderebene gibt. Als gewählter Abgeord- die nicht zu Ernährungs- oder Futterzwecken zuge- neter will ich dort über Gesetze entscheiden, wo ich lassen sind und zurzeit mit hohen Kosten entsorgt entsprechend Einfluss nehmen kann, also hier im werden müssen? Parlament. Daher halte ich es für richtig und wich- tig, dass wir uns hier mit diesem Thema ausführlich Natürlich erwarte ich an der Stelle auch mehr In- befassen und nicht darauf warten, dass Bund und itiative von der Landesregierung. Aber initiativ die Länder irgendwann einmal etwas gemeinsam wurde zunächst nur einmal BÜNDNIS 90/DIE aushandeln. GRÜNEN. Wir werden über den Gesetzentwurf na- türlich im entsprechenden Fachausschuss beraten, Leider liegen mir keine genauen Zahlen vor, aber es gegebenenfalls auch Änderungsvorschläge einbrin- ist davon auszugehen, dass auch bei uns in Schles- gen. Aber um zum Anfang zurückzukehren: Ihr wig-Holstein ein Großteil der Gebäude energetisch kennet halt doch nit elles. sanierungsbedürftig ist. Der große Teil des Ener- gieverbrauchs in den Wohnungen geht auf Heiz- (Beifall bei der FDP) wärme und Warmwasser zurück. Generell gilt, dass Wärme die wichtigste Energieform für Deutsch- Präsident Martin Kayenburg: land ist. Sie hat einen Anteil von fast 60 % des Ge- Für den SSW erteile ich Herrn Abgeordneten Lars samtenergieverbrauchs und ihre Erzeugung etwa Harms das Wort. 30 % der CO2-Emissionen. Angesichts der Tatsa- che, dass wir uns national und international ver- Lars Harms [SSW]: pflichtet haben, den CO2-Ausstoß drastisch zu mi- nimieren - nämlich um 40 % bis zum Jahre 2020 -, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und erfordern derartige Ziele auch entsprechende Maß- Herren! Die umfangreichen klima- und energiepoli- nahmen und Gesetze. tischen Debatten, die wir hier im Landtag geführt haben, haben immer wieder eines deutlich gemacht: Lange Zeit war die Wärmeerzeugung aus erneuer- Der gute Wille zur Verbesserung ist bei allen vor- baren Energien nur eine Idee, die an technischen handen, jedoch wird über die Umsetzung ausführ- und ökonomischen Hindernissen gescheitert ist. lich gestritten. Gleiches können wir derzeit in Doch die Zeit ist auch hier nicht stehen geblieben. Deutschland auch im Zusammenhang mit dem Ge- Der technische Stand ist in den letzten Jahren er- setz für erneuerbare Wärmeenergie feststellen. heblich fortgeschritten und die Preisexplosionen auf Die Bundesregierung hat vor gut zwei Jahren ange- dem Energiesektor lassen die erneuerbaren Wärme- kündigt, ein solches Gesetz auf den Weg zu brin- energien zur echten Alternative werden. Es ist gen, doch erst seit Dezember letzten Jahres ist der längst nicht mehr nur eine Nische für ideologische Entwurf öffentlich. Baden-Württemberg hat die- Fantasten. Mittlerweile ist die erneuerbare Wärme- sen langen Zeitraum konstruktiv genutzt. Seit dem energie zu einem ökonomischen Rechenexempel 1. Januar hat man dort ein geltendes Gesetz zur geworden, das am Ende auch für die Verbraucher Nutzung erneuerbarer Wärmeenergie. Das Gesetz aufgehen kann. Aber Zahlen belegen, dass auf die- wurde, wie von dem Kollegen bereits erwähnt, von sem Sektor in den letzten Jahren nur ein geringes CDU, FDP und Grünen gemeinsam verabschiedet. Wachstum zu verzeichnen ist. Um hier den notwen- digen Kick hinzubekommen, benötigen wir einen Beflügelt von den guten Erfahrungen in Baden- entsprechenden Rahmen. Dies fordern die Verbän- Württemberg haben die Grünen unter anderem in de bereits seit Jahren. Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und nun auch hier bei uns in Schleswig-Holstein entsprechende Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf können wir Gesetze eingebracht, daher auch die große Überein- der Wärmeerzeugung aus erneuerbaren Energien stimmung des vorliegenden Gesetzentwurfs mit letztendlich zum Durchbruch zu verhelfen und wir dem baden-württembergischen Gesetz, obgleich die können damit die notwendige Dynamik entfalten, vorliegende Kopie wesentlich weiter geht als das um die energiepolitischen und insbesondere die Original. CO2-Reduktionsziele zu erreichen. Daher sind wir der Meinung, dass der Gesetzentwurf in die richtige Doch was in Baden-Württemberg geht, muss nicht Richtung weist. unmittelbar in anderen Landesparlamenten gehen, wird jetzt gesagt. So setzt die CDU in Schleswig- Jedoch habe ich bei einigen Punkten des Gesetzent- wurfs Klärungsbedarf, zum Beispiel bei § 2, An- 5584 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Lars Harms) wendungsbereich. Demnach gilt das Gesetz nur für Ich sehe das Problem nicht so sehr im Bereich der Gebäude, die überwiegend zu Wohnzwecken ge- solarthermischen Anlagen - auf diesem Gebiet ha- nutzt werden, einschließlich Wohn-, Alten- und ben wir sicherlich genügend Produktionskapazitä- Pflegeheimen. Der vorliegende Entwurf bezieht ten -, aber im Bereich von Biogas, Bioöl oder Geo- sich also ausschließlich auf Wohngebäude. Alle thermie. Nichtwohngebäude, beispielsweise Büros, gewerb- Eine weitere Frage bei der Umsetzung des Ge- lich genutzte Gebäude oder Schulen, finden sich im setzes, gerade in Bezug auf die solarthermischen Gesetz nicht. Damit sind also auch alle öffentli- Anlagen, lautet: Wie soll dies in Einklang gebracht chen Gebäude außen vor. Doch gerade dieser Be- werden, wenn ein Wohngebäude beispielsweise un- reich sollte eine Vorreiterrolle spielen und hier mit ter Denkmalschutz steht oder der örtliche Bauleit- gutem Beispiel vorangehen. Wir können doch auf plan derartige Anlagen überhaupt nicht erlaubt? In der einen Seite nicht der Bevölkerung vorschreiben, meiner ehemaligen Heimatgemeinde ist erst vor für Energieeinsparmaßnahmen und erneuerbare Kurzem erlaubt worden, sich eine Solaranlage aufs Wärmeenergien Investitionen zu tätigen, und ande- Dach zu setzen. rerseits die öffentlichen Gebäude außen vor lassen. Damit verliert das Gesetz seine Glaubwürdigkeit (Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und trägt dann eben nicht dazu bei, das öffentliche NEN]: Das hat bei anderen auch lange ge- Bewusstsein für erneuerbare Wärmeenergien zu dauert!) stärken. Hier muss auf jeden Fall nachgebessert Was macht dann der Häuslebauer, wenn dieses Ge- werden. setz in Kraft getreten ist, seine Kommune aber sagt: Ich habe bereits eingangs gesagt, dass der vorlie- Du darfst nicht! - Dies ist nicht geklärt. Es gehört in gende Gesetzentwurf in manchen Punkten vom ba- ein gutes Gesetz hinein, dass solche Fragen geklärt den-württembergischen Original abweicht, so auch sind. Auch dies sind Punkte, die wir im Ausschuss in § 4, der anteiligen Nutzungspflicht von erneuer- näher erörtern und klären müssen. baren Wärmeenergien. Das baden-württembergi- Heftige Bauchschmerzen bereitet mir § 5 des Ent- sche Gesetz sieht vor, dass die Wärmeversorgung wurfs, in dem es um die energetischen Anforderun- für Neubauten, für die ab 1. April 2008 die Bauun- gen an bestehende Wohngebäude geht. Die dort terlagen erstmalig eingereicht werden, zu minde- vorgeschriebene etappenweise Reduzierung des stens 20 % über erneuerbare Energien wie Sonnen- Jahresendenergiebedarfs bestehender Wohnge- energie, Erdwärme und Wärmepumpen oder Bio- bäude für Heizung, Warmwasserbereitung und Lüf- masse gedeckt wird. Für den Gebäudebestand wird tung sehe ich sehr kritisch. ab 2010 ein Anteil regenerativer Energien von 10 % vorgeschrieben, der immer dann erfüllt wer- Das erfordert, dass Geld in die Hand genommen den muss, wenn es zum Austausch der Heizungsan- werden muss, um die Vorgaben zu erfüllen. Wir lage kommt. wissen, dass klimafreundliche Technologien und Energieeinsparmaßnahmen nicht umsonst sind. An- Der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen sieht gesichts der immer noch hohen Kosten in diesen nun für Schleswig-Holstein die doppelte Prozent- Bereichen könnte dies bedeuten, dass viele Famili- zahl vor. Im Gegensatz dazu sieht der Gesetzent- en erst einmal auf ihr Eigenheim verzichten müs- wurf der Bundesregierung sogar vor, dass erneuer- sten oder vor massive finanzielle Probleme gestellt bare Wärmeenergien nur bei Neubauten vorgese- würden. Das kann nicht gewollt sein. Daher ist es hen sind. Es ist nachvollziehbar: Je höher der Anteil notwendig, dass es im Gesetz entsprechende Inve- erneuerbarer Wärmeenergien, desto besser für die stitionsprogramme gibt. Umwelt und das Erreichen der politischen Klima- schutzziele. Aber: Lassen sich die vorgegebenen Ebenso halten wir es für notwendig, dass es auch Zahlen auch mit Leben erfüllen? Schaffen wir das Härtefallregelungen geben muss, beispielsweise überhaupt - vorausgesetzt, wir wollten es? Haben wenn es für den Eigentümer unzumutbar ist zu in- wir die Kapazitäten, um die angestrebte Verdoppe- vestieren, weil es die ökonomische Situation ein- lung umzusetzen? Dies sollten wir in der Anhörung fach nicht zulässt. Ich denke hierbei an Rentner hinterfragen, denn es nützt uns nichts, wenn wir be- oder Familien mit niedrigen Einkommen. Hier stimmte Mengen gesetzlich festlegen, diese aber muss der Gesetzgeber darauf achten, dass es Härte- von der Wirtschaft nicht eingehalten werden kön- fallregelungen für finanziell Schwächere gibt, da- nen. mit sie nicht irgendwann hinten runterfallen. Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5585

(Lars Harms)

Wenn man so will, ist das wieder die konsequente ke, Chemieindustrie oder die Frage von Hausemis- Umsetzung der Agenda-21-Prinzipien: Durch Inve- sionen, die heutigen Heizungsanlagen in den Häu- stitionsprogramme ökonomisch sinnvoll gestalten, sern geht, gelten Grenzwerte als ein sinnvolles In- mit dem Gesetz umweltpolitische Ziele umsetzen strument, weil sie marktwirtschaftlich sind. Grenz- und durch die Berücksichtigung der Rentner, Fami- werte sind marktwirtschaftlich, weil die Umsetzung lien und Geringverdiener auch die soziale Dimensi- dieser Grenzwerte dem Einzelnen überlassen bleibt. on nicht vergessen. Er kann dann entscheiden, wie er das technisch macht. Das ist Marktwirtschaft. (Beifall beim SSW) Die Diskussion, die wir eben gehört haben, erinnert Auch wenn wir einige Punkte des Gesetzentwurfs mich an die Diskussion über den Katalysator da- kritisch angesprochen haben, sind wir der Auffas- mals. Auch da wurde immer gefragt: Warum wollt sung, dass wir mit einem solchen Gesetz einen er- ihr alles regulieren? Nachher ist es ganz anders ge- heblichen Beitrag für die Umsetzung der Klima- kommen und wir haben heute europaweit einheitli- schutzziele leisten können. Angesichts der Träg- che Regelungen zum Katalysator, das ist mittler- heit, Energiesparmaßnahmen durchzuführen oder weile selbstverständlich. Es gibt nun einmal Regu- erneuerbare Energien stärker zu nutzen, halte ich lationsmechanismen und die Argumente, die be- das Gesetz für ein gutes Instrument, um endlich Be- haupten, Grenzwerte seien nicht marktkonform, wegung in die Sache zu bringen. Das erfordert aber sind schlicht unsinnig. auch, dass wir Geld in die Hand nehmen und Inve- stitionsmodelle bereithalten, um es den Bürgerin- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - nen und Bürgern zu ermöglichen, die Vorgaben des Dr. Heiner Garg [FDP]: Das hat kein Mensch Gesetzes überhaupt erfüllen zu können. behauptet!) (Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE Das zweite zentrale Argument war, wir sollten GRÜNEN) nicht etwas regeln, was der Bund regelt. Dieses Ar- gument ist falsch, weil der Bund nur den Neubau Wir sollten uns weiter der Agenda 21 verpflichtet regelt. Der Bund regelt den Altbau überhaupt nicht. fühlen. Das vorliegende Gesetz wäre eine Chance, Er überlässt den Altbau sogar explizit den Ländern, hier einen Schritt weiterzukommen, wenn es denn weil hier unterschiedliche Bedingungen existieren. entsprechend geändert wird und ökonomische, öko- Das ist auch sinnvoll. Der Altbau macht aber die logische und soziale Aspekte in dem Gesetz be- große Masse aus. Der Neubau macht jährlich nur rücksichtigt werden. 1 % aus, das sind bis 2020 13 %; aber der Anteil, (Beifall beim SSW und des Abgeordneten der beim Neubau gespart wird, ist viel geringer als Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE beim Altbau. Das heißt, wir reden bei den Altbau- GRÜNEN]) ten über 95 bis 99 % der möglichen Einsparungen. Deshalb ist die Regulierung des Altbaus durch Lan- Präsident Martin Kayenburg: desgesetz unbedingt notwendig und die Argumente, die hier vorgetragen wurden, sind einfach nicht zu- Zu einem Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 der Ge- treffend. schäftsordnung erteile ich Herrn Abgeordneten Karl-Martin Hentschel das Wort. (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist schon erstaunlich, was wir immer wieder bei Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- umweltpolitischen Debatten erleben, nämlich dass NEN]: am Sonntag Grundsatzreden gehalten werden. Der Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Kollege Ritzek hat wunderbar die Notwendigkeit, Herren! Ich danke Lars Harms für den konstrukti- Energie zu sparen, dargestellt, hierzu Al Gore zi- ven Beitrag. Ich denke, die Fragen werden wir im tiert und so weiter und so fort. Wenn es aber kon- Ausschuss behandeln, deshalb möchte ich darauf kret wird, dann, wenn es darum geht, die Dinge nicht weiter eingehen. auch tatsächlich umzusetzen - obwohl uns viele Ökonomen vorgerechnet haben, dass das billiger Ich möchte gern auf zwei Punkte eingehen, die zen- wird; Sie selber haben zitiert und gesagt, wenn wir tral sind. Zum einen ist der Vorwurf gekommen, keinen Klimaschutz machen, wird es zehnmal teu- wir würden hier unnötige Regularien einführen und rer als mit Klimaschutzmaßnahmen; das steht auch Grenzwerte seien nicht notwendig. In allen umwelt- in dem jetzigen Bericht der EU von Barroso drin -, politischen Diskussionen, ob es um Atomkraftwer- kriegen Sie kalte Füße. Wenn es konkret wird, sa- 5586 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Karl-Martin Hentschel) gen Sie: Wir doch nicht, lass das doch andere ma- das Etikett umweltfreundlich auf der Stirn tragen, chen! Der Beitrag des Kollegen von der SPD hat aber inhaltlich überhaupt nicht umweltfreundlich mich zutiefst enttäuscht, das muss ich wirklich sa- und schon gar nicht wirkungsvoll sind. Sie müssen gen. davon ausgehen, dass jede Maßnahme, die getrof- fen wird, auf ihre Effizienz geprüft wird. Das heißt, (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es wird geprüft: Ist das, was wir uns an CO2-Ver- Sie sagen am Sonntag im Wahlkampf zum Umwelt- meidung bis 2020 vorgenommen haben, im Ver- schutz, sie wollten eine Umweltschutzpartei sein, hältnis zu den Kosten, die für die Investitionen an- wenn es hier aber konkret wird, halten Sie nicht gesetzt werden, tragbar, sind die Kosten zu amorti- einen Redebeitrag, der sich konstruktiv mit der Sa- sieren? Dazu gibt es eine sehr gute Untersuchung. che auseinandersetzt, sondern einen Redebeitrag, Ich empfehle Ihnen, das nachzulesen. Das Fraunho- der schlicht wirklich von gestern ist. fer-Institut ISI hat das Meseberger Programm der Meine Damen und Herren, überlegen Sie sich das Bundesregierung daraufhin geprüft, welche Maß- noch einmal! Ich freue mich, dass es im Ausschuss nahme am ehesten geeigneten ist, für CO2-Vermei- eine Beratung geben wird, und bin sehr sicher, dass dung zu sorgen und welche Maßnahme da eher be- wir zu der Entscheidung kommen werden, dass lastend und kostentreibend ist. auch Schleswig-Holstein ein Wärmeschutzgesetz (Wolfgang Kubicki [FDP]: Luftanhalten ist bekommen wird. geeignet!) (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das, was die anderen Abgeordneten hier alle zur und SSW) Kostenkalkulation gesagt haben, einschließlich Herrn Hölck - dessen Beitrag ich sehr unterstützen Präsident Martin Kayenburg: kann; ich hoffe, das schadet ihm nicht innerhalb der eigenen Truppe -, Für die Landesregierung hat der Minister für Wis- senschaft, Wirtschaft und Verkehr, Dietrich Auster- (Heiterkeit) mann, das Wort. ist sehr nachvollziehbar. Die Frage ist: Ist das, was wir dort tun, auch tatsächlich für den Umweltschutz Dietrich Austermann, Minister für Wissenschaft, wirkungsvoll? Sie können ein konkretes Beispiel Wirtschaft und Verkehr: nehmen: Sie könnten den Menschen zum Beispiel Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manch- vorschreiben, das Dreifache an Fläche an Solarkol- mal enthält die Tagesordnung eines gewisse Ironie. lektoren auf ihr Dach aufzubringen. Eben hat ein- Wir beraten unter Tagesordnungspunkt 5 über mal ganz kurz hier die Sonne durchgeschaut, in Ba- einen Gesetzentwurf der Grünen, der vorgeblich den-Württemberg ist das ein bisschen anders, das dem Thema Klimaschutz im Zusammenhang mit Land hat wesentlich mehr Sonnentage als Schles- Häusern in Schleswig-Holstein dient und damit wig-Holstein. Aber im Winter werden ihnen die 400.000 Eigenheimer betrifft. Unter Tagesord- Sonnenkollektoren trotzdem wenig helfen, Warm- nungspunkt 16 beraten wir über den Schutz von Im- wasser zu erzeugen, und im Sommer brauchen sie mobilienbesitzern, die sich in problematischer Lage sie nicht. befinden. (Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE (Heiterkeit des Abgeordneten Dr. Heiner GRÜNEN]: Duschen Sie nur im Winter, Garg [FDP]) Herr Minister!) Ich denke, deutlicher kann man nicht machen, wo- Wenn man also überlegt, was ich für die Heizung hin der Gesetzentwurf der Grünen führt, wenn man tue und was ich an anderer Stelle tue, muss ich ihn tatsächlich nachvollziehen sollte. doch überlegen, was die höchste Effizienz hat. Die höchste Effizienz haben natürlich energieeffiziente (Zuruf der Abgeordneten Angelika Birk Produkte, das Umstellen der Heizung in Bezug auf [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) den Brenner und die Brennerqualität und vieles an- Herr Hentschel, Sie haben versucht nachzubessern, dere mehr. Man kann eine klare Relation aufstellen: was Herr Matthiessen vorgetragen hat. Das ist Ih- Eingesetzte Euro - Wirkung bei der CO2-Vermei- nen aber nicht gelungen, kann Ihnen auch gar nicht dung. Wenn Sie diese Rechnung aufmachen, zielt gelingen. Der entscheidende Punkt ist doch der: alles das, was Sie hier vorschlagen, in die falsche Man kann nicht einzelne Maßnahmen treffen, die Richtung. Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5587

(Minister Dietrich Austermann)

Sie können das Gleiche auch am Beispiel Biomasse (Beifall bei CDU und SPD) sehen. Ich sage das einmal aus meiner konkreten Die Bundesregierung will den Ländern die Mög- Erfahrung. Ich wohne in einem kleineren Reihen- lichkeit geben, eigene Regelungen vorzunehmen, haus in Itzehoe. Wir waren, als wir es bezogen ha- die sich auf die jeweiligen Ländersituationen be- ben, an die Fernwärme angeschlossen und haben ziehen. Dazu könnte beispielsweise gehören, dass uns alle für „mordsmodern“ gehalten. Dann ist die Gemeinden den Anschluss an Netze innerhalb eines Fernwärme, die auf Öl basiert hat, auf Gas umge- Neubaugebietes vorschreiben. Ich sage allerdings, stellt worden. Damit waren wir wieder spitze, das dass diese Maßnahmen so gewählt werden müssen, war modern, jeder hat gesagt: Erdgas stößt wesent- dass der Nutzen in absehbarer Zeit eine gewisse lich weniger CO aus als Erdöl. Dann haben die 2 Rentabilität bringt. Sonst bekommen wir nämlich Nachbarn angefangen, ihre eigene Anlage im eige- nicht die Zustimmung der Menschen zum Umwelt- nen Haus zu bauen, weil sie gesagt haben, sie woll- schutz. Wenn die Menschen feststellen, dass das, ten nicht von der großen Anlage abhängig sein. Das was sie tun, wesentlich teurer ist, sich allerdings nie war nicht so richtig. In letzter Zeit haben alle einen rentieren wird, dann sehen sie darin keinen Anreiz. Kamin errichtet. Gehen Sie einmal bei dieser Witte- Meiner Meinung nach müssen aber Anreize für rungslage abends durch die Straßen und versuchen einen modernen Umweltschutz geschaffen werden. sich darüber klar zu werden, wenn einer Pellets in Also, Ihr Antrag ist gut gemeint, aber schlecht ge- seinen Ofen schmeißt, ob das umweltfreundlicher macht. Es ist für Neubauten sinnvoll, aber bei Alt- ist als eine Zentralheizung mit Erdgas! bauten sollten die Maßnahmen erfolgen, die ver- Gucken Sie sich einmal die Feinstaubrelationen an! nünftig sind. Wir haben inzwischen in Deutschland eine stärkere Man sollte schauen, wo die größte CO -Belastung Belastung durch Feinstaub aus Haushalten als 2 für Deutschland entsteht und was dies für die allge- durch die gesamten Diesel-Lkw und -Pkw. meine Energieversorgung bedeutet. Dann kommen Man sollte also versuchen, wenn man ein Pro- Sie zu einem anderen Thema. gramm macht, das vorgibt, umweltfreundlich zu Herr Ritzek, Sie haben Al Gore erwähnt. Ich glau- sein, die Relation dessen, was Belastung und Entla- be, er gibt 20.000 $ im Monat für die Beheizung stung betrifft, einzuhalten. Die Landesregierung hat seines Gebäudes aus. Insofern sollte man vielleicht dies mit ihrem Klimaschutzprogramm gemacht, schauen, welche Beispiele man bringt. Natürlich das vor Kurzem vorgestellt worden ist. Wir haben trägt jeder Einzelne ein hohes Maß an Verantwor- ein Grünbuch vorgelegt, das sich bemüht, dort an- tung, aber die Verantwortung darf nie so groß sein, zusetzen, wo wir am wirkungsvollsten sind. dass der Einzelne überfordert wird, auch tatsächlich Es gibt die Große Anfrage der Regierungskoalition, mitzumachen. Insofern danke ich den Kollegen der die in die gleiche Richtung geht, nämlich zu unter- Koalition und den Sprechern der Opposition - bis suchen, wo man die meisten positiven Wirkungen auf den der Grünen -, dass sie auf diesen Zusam- für die Umwelt erreicht. menhang hingewiesen haben: Es muss die Wirt- schaftlichkeit gewährleistet sein. Es muss die Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf erar- Amortisation gewährleistet sein. Es muss das Nut- beitet, der bei den Hausbauern ansetzt. Das ist rich- zen-Kosten-Verhältnis eingehalten werden. tig und vernünftig. Denn jeder, der ein Haus baut, weiß, wie er kalkulieren muss, und er geht den Kos- Das Fraunhofer-Institut hat gesagt, dass Maßnah- ten mit der richtigen Rechnung nach. Aber versu- men im Haushalt und in der Industrie das größte chen Sie heute einmal, den vielen Menschen in Potenzial hätten, um Energie zu sparen. Sie nehmen Schleswig-Holstein und in Deutschland - wir reden den Rang eins beim Thema Amortisation ein. An alle von Reallohnverzicht, von einer steigenden In- zweiter Stelle steht die Vermeidung von CO2 durch flationsrate, von Altersarmut und vielen anderen Pkws. An dritter Stelle werden Förderprogramme Dingen - zu sagen, dass sie eben mal so 50.000 € in zum Thema Klima und Energie genannt und dann die Hand nehmen müssen, um ihre Heizung auf kommt eine Weile gar nichts. Irgendwann kommt Vordermann zu bringen, die Fenster zu dämmen die Kraft-Wärme-Kopplung, aber sie kann sich und vieles andere mehr zu machen. Dabei weiß nur in einem gewissen Zeitraum rentieren. Bei der man doch, dass dies weder etwas an Effizienz noch Gewinnung von Strom aus erneuerbaren Energien an CO2-Vermeidung bringt. Deswegen sage ich: sieht die Bilanz sogar negativ aus und deshalb emp- Bevor Sie Gesetzentwürfe abschreiben, sollten Sie fehle ich, dass wir uns im Ausschuss diese Thema- gucken, was gemeint ist. tik besonders angucken. Wir sollten den Aspekt be- 5588 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Minister Dietrich Austermann) leuchten, ob das, was wir wollen, auch wirklich et- aber mit diesem Gesetz habe ich mir lediglich einen was für die Umwelt bringt. Ausschnitt vorgenommen; ich meine, das ist ein sehr relevanter Ausschnitt. Die zweite wichtige Frage ist, ob das, was wir für die Umwelt wollen, von den Bürgern auch bezahl- Es gibt zahlreiche weitere Maßnahmen. Auch ge- bar ist. Die 400.000 Eigenheimbesitzer in Schles- gen die von Ihnen genannten Ausstellungen, Mes- wig-Holstein wollen nämlich nicht bedrängt, son- sen sowie Vor-Ort-Beratungen, Herr Ritzek, habe dern mitgenommen werden. Da helfen Anreize, ich nichts. aber keine Drohung mit 50.000 € Bußgeld. Der Gipfel war aber der Kollege Hölck, der sagte, (Beifall bei CDU, SPD und FDP) ich sei gegen Wärmedämmung. Also, das ist mir völlig unverständlich. Wir können Anteile an rege- Präsident Martin Kayenburg: nerativer Wärme in Häusern nur dann abdecken, wenn der Energiebedarf insgesamt niedrig ist. Also, Nach § 56 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung erteile wir wollen gut gedämmte Häuser und wir wollen, ich Herrn Abgeordneten Detlef Matthiessen für dass neue Fenster eingebaut werden. Ich habe das einen Kurzbeitrag das Wort. bei meinem Haus auch gemacht. Mein Haus ist von 1910. Ich habe den Energieverbrauch im Laufe der Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zeit durch Maßnahmen, die sehr rentierlich sind, NEN]: erheblich senken können. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Wolfgang Kubicki [FDP]: Und das Auto?) gen! Das war ein sehr bemerkenswerter Beitrag des Wirtschaftsministers, der auch Energieminister die- Das ist meine persönliche Erfahrung. Ich kann Ih- ses Landes ist. nen aber auch sagen: Es gibt Gutachten ohne Ende, die die Rentierlichkeit solcher Investitionen un- (Demonstrativer Beifall bei der CDU) terstreichen. Von daher - ich sage es nochmals - ist Er hat sozusagen geäußert: Es lohnt sich nicht, So- mir der Beitrag des Wirtschafts- und Energieminis- larkollektoren aufs Dach zu legen. Es lohnt sich ters dieses Landes völlig unverständlich. nicht, die Häuser zu dämmen. Pelletheizungen tau- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen nichts. Und auch Strom aus erneuerbaren Ener- gien ist nicht rentierlich. - Die Rede muss ich später Es ist ein Offenbarungseid. noch einmal lesen. Ich empfand es geradezu als Ti- Im Übrigen zeichnete sich kein anderer Beitrag aus rade gegen Energiesparmaßnahmen, die aus meiner diesem Haus durch eine derartige Tonalität gegen- Sicht mit gesicherten Erkenntnissen belegt sind. über erneuerbaren Energien im Wärmebereich und (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei der Dämmung aus. Das war ein Unterschied wie Tag und Nacht, Herr Minister. Natürlich ist es aus volkswirtschaftlicher Sicht so: Wenn man Geld in die Hand nimmt, um Klima- Es ist so, Herr Kollege Ritzek: Der Bundeswirt- schutz zu machen, muss man die Frage stellen, wel- schaftsminister hat lediglich einen Gesetzentwurf cher Euro am rentierlichsten investiert ist, und gera- vorgelegt, der den Neubaubereich regelt. Er hat ex- de im Bereich der Wärmenutzung liegen sehr große tra hineingeschrieben: Liebe Länder, regelt es im Potenziale im Klimaschutz und im technologischen Altbaubereich selbst. - Dem dient unser Gesetz. Fortschritt. Diese Potenziale wollen wir mit dem (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erneuerbare Energien-Gesetz in Schleswig-Hol- stein nutzen. Präsident Martin Kayenburg: Ich habe in dieses Gesetz eine ganze Menge an Zu einem weiteren Kurzbeitrag gemäß § 56 Abs. 4 Dingen nicht hineingeschrieben. Ich habe nicht der Geschäftsordnung erteile ich Herrn Abgeordne- über Schlachtabfälle und Getreideanwendung ge- ten Manfred Ritzek das Wort. schrieben. Ich habe auch nichts über öffentliche Gebäude oder Bauleitplanung geschrieben. All dies Manfred Ritzek [CDU]: sind Themen, über die es sich selbstverständlich zu diskutieren lohnt, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig: In dem Bundesgesetz steht, dass die Rege- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lungen nur für Neubauten ab dem 1. Januar 2009 Gültigkeit haben sollen und dass für Altbauten die Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5589

(Manfred Ritzek)

Länder zuständig sein sollen. Aber gerade das - das Ich erteile dem Berichterstatter des Innen- und können Sie in meinem Redebeitrag nachlesen - Rechtsausschusses, Herrn Abgeordneten Werner wird zu heißen Diskussionen führen. Denn Ihr Ge- Kalinka, das Wort. setzentwurf, Herr Matthiessen, erzeugt durch die verschärften Grenzwerte und die Nichtberücksichti- Werner Kalinka [CDU]: gung der Wirtschaftlichkeit und Verhältnismäßig- keit Angst. Wenn Sie solche Maßnahmen für die Herr Präsident! Der Innen- und Rechtsausschuss Menschen oder generell auf Landesebene ergreifen hat den ihm durch Plenarbeschluss vom 13. Sep- wollen, dann dürfen Sie beispielsweise die 400.000 tember 2007 überwiesenen Gesetzentwurf in meh- Eigenheimbesitzer nicht verunsichern, indem Sie reren Sitzungen beraten, zuletzt in seiner Sitzung bei Nichterreichen von bestimmten Werten Bußgel- am 23. Januar 2008, und eine schriftliche Anhörung der fordern. durchgeführt. (Beifall bei der CDU) Mit den Stimmen von CDU und SPD gegen die Stimme von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN emp- Des Weiteren nennen Sie Investitionssummen, die fiehlt er dem Landtag die Ablehnung des Gesetz- viele Häuslebauer gar nicht schultern können. entwurfs der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ein großer Kritikpunkt an Ihrem Gesetz ist also, NEN zur Änderung des Landeswahlgesetzes, dass Sie Angst innerhalb der Bevölkerung erzeu- Drucksache 16/1541 (neu). gen, und das ist der schlechteste Weg, um die Maß- nahmen zu erreichen, die wir uns alle aufs Panier Präsident Martin Kayenburg: geschrieben haben. Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Gibt es (Beifall bei der CDU) Wortmeldungen zum Bericht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Nach unserem Präsident Martin Kayenburg: Vorschlag hat die stärkste Fraktion - die CDU - das Wort, und zwar der Herr Abgeordnete Thomas Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich Stritzl. schließe die Beratung. (Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki Es ist beantragt worden, den Gesetzentwurf Druck- [FDP]) sache 16/1791 federführend an den Innen- und Rechtsausschuss und mitberatend an den Wirt- Thomas Stritzl [CDU]: schaftsausschuss sowie an den Umwelt- und Agrar- ausschuss zu überweisen. Wer so beschließen will, So schöne Sachen kann man gar nicht vergessen, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Herr Kollege Kubicki. Enthaltungen? - Dann haben wir einstimmig so be- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und schlossen. Herren! Die CDU-Fraktion wird den vom Aus- Auf der Tribüne begrüßen wir ganz herzlich Schü- schussvorsitzenden vorgetragenen Empfehlungsbe- lerinnen und Schüler der Realschule Bad Bramstedt schluss des Innen- und Rechtsausschusses mittra- sowie ihre Lehrerinnen und Lehrer. - Seien Sie uns gen und heute im Plenum entsprechend abstimmen. herzlich willkommen! Ich glaube, sowohl in der ersten Lesung dieses Ge- setzentwurfs als auch im Rahmen der Ausschussbe- (Beifall) ratungen wurden die unterschiedlichen Stellung- Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: nahmen deutlich. Ich will diese deshalb heute nicht noch einmal in extenso vortragen. Es überwiegen die verfassungsrechtlichen Zweifel. Es überwiegen Zweite Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Landeswahlgesetzes die europarechtlichen Zweifel im Hinblick auf die Umsetzung des Vorschlags, den die Grünen unter- Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE breitet haben. Darüber hinaus überwiegen auch - - GRÜNEN (Zuruf der Abgeordneten Angelika Birk Drucksache 16/1541 (neu) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bericht und Beschlussempfehlung des Innen- und - Frau Kollegin Birk, ich gebe Ihnen gern die Gele- Rechtsausschusses genheit, die rechtliche Überlegenheit Ihres Ent- Drucksache 16/1818 wurfs aus Ihrer Sicht hier darzustellen. 5590 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Thomas Stritzl)

(Beifall bei der FDP) Dass Demokratien, durch unser Grundgesetz und durch uns und durch die Parteien, die nach politi- Ich will dies mit Blick auf die Zeit selbst jetzt nicht scher Betrachtung an der Willensbildung des Vol- vornehmen, um das Gegenteil zu beweisen. Für den kes mitwirken sollen, getragen, auch in ihrer inne- Fall, dass Sie dies hier machen wollen, werde ich ren Ordnung möglichst nach diesem Grundsatz der mich noch einmal zu einem Dreiminutenbeitrag zu freien Wahlbetätigung organisiert sein müssen, ist Wort melden. unsere Überzeugung. Auch vor diesem Hintergrund Stichwort ist die Frage der politischen Gestal- glaube ich, dass Ihr Vorschlag nicht vorzugswürdig tungsfähigkeit, die dahintersteht. Auch darüber ist. Das heißt nicht, dass wir nicht all das tun müs- müssen wir reden. Wir sind auch der Meinung, dass sen, um auch aus einem Eigeninteresse der Politik eine zusätzliche Quotierung, wie sie von der grü- heraus möglichst viele Maßnahmen zu unterneh- nen Fraktion vorgeschlagen wurde, im Ergebnis men, um eine zunehmende Ferne der Menschen - dem gewünschten Ziel nicht näherkommt. Auch wir jung oder alt, Mann oder Frau, Beamter oder aus wollen natürlich einen höheren Anteil von Frauen. der freien Wirtschaft kommend - von der Politik Diesen streben wir an und wir haben in unserer Par- entgegenzuwirken. Ich glaube, das ist unser ge- tei selbst einen entsprechenden Quorumsbeschluss. meinsamer politischer Auftrag. Übrigens wird man Eine gesetzliche Quotierung aber, die darüber hin- auch dem durch Quotierungen irgendwelcher Art ausgeht und einen entsprechenden direkten Einfluss nicht entgegenwirken. Meine Befürchtung wäre, auf das Landeswahlgesetz hat, halten wir - wie ge- dass diese Ferne dadurch noch verstetigt würde. sagt - weder rechtlich noch politisch für vorzugs- Auch das kann im Ergebnis nicht unser gemeinsa- würdig. mes Ziel sein. Man muss natürlich die Frage beantworten: Wollen (Beifall bei der FDP) wir - wenn wir die Entwicklung zu Ende denken - Haben wir Zutrauen zu der Urteilsfähigkeit der in der Zukunft nur eine Quote für Frauen? Brauch- Menschen. Haben wir Zutrauen zu ihrem Auswah- ten wir nicht im Hinblick auf den demografischen lermessen, das sie ausüben können und müssen! Wandel unserer Gesellschaft auch eine Jugendquo- Glauben wir an die Selbstständigkeit der Wählerin- te? Bräuchten wir vielleicht im Hinblick auf die Zu- nen und Wähler in der Bevölkerung und in den Par- sammensetzung der Parlamente eine Berufsquote? teien! All dies trägt im Ergebnis die Zustimmung (Zuruf) zur Innen- und Rechtsausschussempfehlung, die - Natürlich. Die Vielfältigkeit des Parlamentes müs- vom Ausschussvorsitzenden vorgetragen wurde. ste sich auch in der Unterschiedlichkeit der Berufe Auch wenn Ihr Vorschlag gut gemeint ist, so wird deutlich machen. Darüber kann man nachdenken. er im Ergebnis nicht das bewirken, was Sie wollen. Man kann das alles quotieren. Ich will gar nicht be- Deshalb lehnen wir ihn ab. streiten, dass man das politisch wollen kann. (Beifall bei CDU, FDP und vereinzelt bei der (Unruhe - Zuruf des Abgeordneten Dr. Hei- SPD) ner Garg [FDP]) Präsident Martin Kayenburg: Präsident Martin Kayenburg: Für die Fraktion der SPD hat Herr Abgeordneter Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Abgeordne- Klaus-Peter Puls das Wort. ter Stritzl hat das Wort. Klaus-Peter Puls [SPD]: Thomas Stritzl [CDU]: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ge- Wir wollen das politisch nicht, weil wir dem Prin- setzentwurf der Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE zip nachhängen und uns ihm verpflichtet fühlen, GRÜNEN zielt darauf ab, durch eine gesetzliche dass derjenige, der wählen soll, nämlich die Bürge- Quotenregelung den Anteil der weiblichen Abge- rin oder der Bürger, ein freies Wahlrecht hat, und ordneten im Schleswig-Holsteinischen Landtag zu zwar möglichst uneingeschränkt durch politische erhöhen. Die Parteien sollen durch Gesetz darauf Vorgaben. verpflichtet werden, dass auf ihren Listen für die Landtagswahlen jeweils zur Hälfte Männer und (Beifall bei CDU und FDP) Frauen kandidieren. Das soll durch eine Platz für Platz abwechselnde Besetzung der Landeslisten mit Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5591

(Klaus-Peter Puls)

Männern und Frauen im sogenannten Reißver- ner gesetzlichen Quotierung, obwohl damit unstrei- schlussverfahren erreicht werden. tig Verfassungsgrundsätze wie die Gleichheit der Wahl, die Wahlvorschlagsfreiheit der Parteien und Die SPD-Landtagsfraktion lehnt den Gesetzentwurf sogar das materielle Grundrecht der Gleichberechti- ab. Wir finden das Ziel okay. Selbstverständlich gung von Frauen und Männern beeinträchtigt wür- sind wir für die Chancengleichheit von Männern den. Letzteres gilt, so der Wissenschaftliche Dienst und Frauen auch beim Erwerb politischer Mandate. wörtlich, „weil sich eine Quotenregelung zugunsten Wir sind auch für eine der gesellschaftlichen Reali- von Frauen“ - ich füge ein: natürlich immer - tät entsprechende Repräsentanz der Frauen hier „gleichzeitig als Benachteiligung von Männern aus- im Landesparlament. Im Jahr 2005 sind in den wirkt“. 69-köpfigen Landtag 22 Frauen gewählt worden. Das ist nur ein knappes Drittel der Abgeordneten. Der für die Ausschussberatungen schriftlich ange- Wir halten es indes für äußerst fraglich, ob eine ge- hörte Professor Dr. kommt zu dem setzlich verordnete Frauenquote auf den Landes- Ergebnis, dass jede - auch eine geschlechtsspezifi- listen der Parteien das geeignete Mittel ist, um der sche - Differenzierung im grundgesetzlich gewähr- realen parlamentarischen Unterrepräsentanz der leisteten Wahlvorschlagsrecht der Parteien und je- Frauen abzuhelfen. 40 von 69 Landtagsabgeordne- de Differenzierung in Form von Begünstigungen ten, das sind fast 60 %, erreichen den Landtag näm- von Frauen oder Männern beziehungsweise umge- lich nicht über die Parteiliste. Vielmehr kommen kehrt schlicht verfassungswidrig ist. Scholz hält sie über ihren Wahlkreis. Im Wahlkreis kandidiert auch das von den Grünen vorgesehene Alternie- pro Partei immer nur eine Person. Wo nur eine ein- rungsgebot zwischen Männern und Frauen bei der zige Person aufgestellt wird, kann man nicht quo- Aufstellung von Wahllisten für verfassungswidrig, tieren. Auf die Zahl und auf die Zusammensetzung weil - so Scholz wörtlich - „ein solches Alternie- der in den Wahlkreisen direkt gewählten 40 Land- rungsgebot in die demokratische Wahlrechtsfreiheit tagsabgeordneten kann man also auch mit einer ge- und Wahlrechtsgleichheit der jeweils zuständigen setzlich festgelegten Listenquotierung überhaupt Parteimitglieder eingreift“. keinen Einfluss nehmen. Nur 29 unserer 69 Land- Ich komme zum Schluss. Unsere Argumente gegen tagsabgeordneten gelangen über die Parteilisten in den Gesetzentwurf der Grünen sind nicht formal den Landtag. Bei dieser Minderheit setzt der grüne rechtlicher Natur. Wir teilen und unterstreichen die Gesetzentwurf an. Nur für die Aufteilung dieser Einschätzung des Landesfrauenrats, dass der vorlie- Minderheit von 29 Abgeordneten könnte die ge- gende Gesetzentwurf nicht nach den Ursachen setzlich verordnete Quote überhaupt etwas bewir- fragt, sondern lediglich die Symptome bekämpft. ken. Wir teilen und unterstreichen die Auffassung des Selbst die im Ausschussverfahren angehörten Frau- Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Schleswig- enorganisationen melden Zweifel an der Zweck- Holstein, der in seiner Stellungnahme zum Gesetz- tauglichkeit des von den Grünen vorgeschlagenen entwurf der Grünen wörtlich sagt - das soll mein Mittels an. Der Deutsche Juristinnenbund erwartet letztes Zitat sein -: allenfalls den Effekt einer - so wörtlich - „sehr be- „Eine wesentliche Ursache für die geringe scheidenen Verstärkung der Frauenrepräsentanz im und sogar rückläufige Beteiligung der Frauen Landtag“. Der Landesfrauenrat rechnet angesichts an der Politik liegt in der traditionellen Rol- der Tatsache, dass der größte Teil der Abgeordne- lenverteilung und in den herkömmlichen Le- ten in den Wahlkreisen direkt gewählt wird, eben- bens- und Arbeitsbedingungen. Frauen mit falls - wenn überhaupt - nur mit einer „dezenten Familienpflichten haben es schwerer als Anhebung des Frauenanteils im Parlament.“ Männer, sich politisch zu engagieren. Dabei Rechtlich gibt es wie immer unterschiedliche Auf- darf die Familienarbeit kein Hindernis für ein fassungen. Der Wissenschaftliche Dienst des Land- politisches Engagement sein.“ tages hält die von den Grünen beantragte Festle- Hier sollten wir mit unserer Politik in Parteien und gung einer landesgesetzlichen Fünfzig-Prozent- Parlamenten ansetzen. Konstruktive Vorschläge zur Quote für zulässig. Aus dem Staatsziel, die tatsäch- besseren Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Po- liche Durchsetzung der Gleichberechtigung von litik sind gefragt. Formelles Kurieren an den Sym- Frauen und Männern zu fördern und auf bestehende ptomen hilft uns nicht weiter. Vor allem unseren Nachteile hinzuwirken, so steht es in Artikel 3 Ab- Frauen hilft es nicht weiter. satz 2 Satz 2 des Grundgesetzes -, ergebe sich je- denfalls die verfassungsrechtliche Möglichkeit ei- (Beifall bei SPD und CDU) 5592 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

Präsident Martin Kayenburg: Zum ersten Punkt: Der Gesetzentwurf der Grünen ist ein untaugliches Mittel, eine Proporzbesetzung Für die Fraktion der FDP hat der Oppositionsfüh- im Landtag zu erreichen, weil nach dem Landes- rer, der Herr Abgeordnete Wolfgang Kubicki, das wahlgesetz der Großteil der Abgeordnetenmandate Wort. nicht nach der Liste einer Partei, sondern direkt ge- (Jürgen Weber [SPD]: Jede Stimme für die wählt wird. Liebe Kollegen und Kolleginnen von SPD ist ein Stück Quotierung!) den Grünen, es sind übrigens - jedenfalls in den Wahlkreisen nach unserem Wahlrecht - auch Ein- Wolfgang Kubicki [FDP]: zelkandidaturen möglich, die gar nicht von einer Partei aufgestellt werden. 40 der in der Regel ge- Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! wählten 69 Abgeordneten des Landtages werden di- Kollege Weber, den Zwischenruf habe ich nicht rekt gewählt. Dort ist eine Quotierung unmöglich - verstanden. Vielleicht wiederholen sie ihn. Jede der Kollege Puls hat darauf hingewiesen -, weil die Stimme für die SPD ist was? Wählerinnen und Wähler über die Kandidaten ent- (Jürgen Weber [SPD]: Jede Stimme für die scheiden und nicht die Parteien. SPD ist ein Stück Quotierung!) Zu Punkt zwei: Es ist und bleibt eine Aufgabe der - Aha. Die Sozialdemokraten haben quotierte Lis- Parteien, Frauen verstärkt für Politik zu interessie- ten. Warum halten Sie das nicht ein? ren und ihnen den Anreiz zu geben, sich entspre- chend parteipolitisch zu engagieren. Dafür ist es (Zurufe) unter anderem wichtig, auch die entsprechenden Die FDP-Fraktion wird der Beschlussempfehlung Rahmenbedingungen zu schaffen, wenn es bei- des Innen- und Rechtsausschusses zustimmen und spielsweise um die Vereinbarkeit von Familie und den Gesetzentwurf der Grünen zur Einführung ei- Beruf - für Frauen und Männer gleichermaßen - ner Geschlechterquote bei der Aufstellung zur Liste geht. Um mit den Worten der Kollegin Spooren- im Landeswahlrecht ablehnen. donk aus der letzten Debatte zu sprechen - ich zitie- (Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE re -: GRÜNEN]: Das überrascht nicht!) ,,Eine nachhaltige Verbesserung der demo- Wir sind uns mit allen anderen Fraktionen und dem kratischen Beteiligung von Frauen erreicht SSW hier im Landtag einig, dass die von den Grü- man nicht mit dem Diktat des Landeswahlge- nen im Gesetzentwurf angebotene Lösung erstens setzes." ein untaugliches Mittel ist, um tatsächlich eine Das ist zutreffend. fünfzigprozentige Geschlechterquote hier im (Beifall bei FDP, SSW und vereinzelt bei der Landtag zu erreichen, zweitens, dass es eine gesell- SPD) schaftliche Aufgabe bleibt, verstärkt Frauen für Po- litik zu interessieren, sie drittens den Mitgliedern Dritter Punkt: Eine Quotierung bei der Aufstellung der Parteien die Möglichkeit nimmt, an jeder Stelle von Listen darüber führt dazu, dass man den Mit- der Liste frei zu kandidieren, und viertens es selbst gliedern der entsprechenden Wahlversammlungen nach den Ergebnissen der Anhörungen zumindest faktisch ein Vorschlagsrecht, die Möglichkeit zur ein nicht unerhebliches rechtliches Risiko darstellt, Kandidatur und die Möglichkeit zur Auswahl wenn wir dem Gesetzentwurf der Grünen zustim- nimmt. Es kann nach unserer Auffassung nicht sein, men würden. Herr Kollege Kalinka, ich teile die dass beispielsweise einer Frau untersagt wird, auf Auffassung des Wissenschaftlichen Dienstes nicht. einem bestimmten Listenplatz zu kandidieren, weil Ich halte es ähnlich wie Professor Scholz schlicht dieser schon für einen Mann ,,reserviert“ ist, wie für verfassungswidrig. das beispielsweise bei der Quotierung der Fall ist. Herr Kollege Hentschel, manche mögen das nicht Herr Kollege Hentschel, bei allen Erfolgen der Grü- bedauern. Ich selbst fände es schade, wenn Sie, nen bei den letzten Wahlen: Vielleicht sollten Sie nachdem der Kollege Harbeck gegen Sie um den einmal mit Vertretern der jüngeren Generation re- Listenplatz eins oder zwei kandidieren wird, kom- den. Meine Töchter - 27 Jahre alt, beide Juristinnen plett durchgereicht werden, weil kein weiterer Platz - haben mir gesagt: Mit welchem Unsinn beschäf- für Sie zur Verfügung steht. tigt ihr euch eigentlich noch? Das stammt aus dem letzten Jahrhundert! Zum vierten Punkt: Für sehr wichtig halte ich die Ergebnisse der schriftlichen Anhörung hinsicht- (Beifall bei der FDP) lich der rechtlichen Zulässigkeit der beabsichtigten Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5593

(Wolfgang Kubicki)

Wahlrechtsänderung. Es liegen uns verschiedene Auf dem Redezettel sind Sie nicht eingetragen. Stellungnahmen verschiedener Gutachterinnen und Gutachter vor. Einige hiervon halten eine entspre- Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: chende Quote im Wahlrecht für zulässig. Sie müs- sten in der Tat dann auch bei ungleicher Befähi- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen gung für den öffentlichen Dienst dazu kommen, und Kollegen! Einige der Vorredner haben nur sehr dass man die Frauenquote vorantreiben kann, was ausschnittweise zitiert. Wenn sie vollständig zitier- rechtlich mit Sicherheit unzulässig ist. Man kann ten, müssten sie zu anderen Schlüssen kommen. Ei- das nämlich nur bei gleicher Qualifikation. nige haben das Anliegen ins Lächerliche gezogen. Wir beleiben dabei: Die Quote ist ein notwendiges Andere halten sie für verfassungswidrig. Stimmt Instrument der Demokratie. man letzteren Auffassungen zu - das tue ich aus- drücklich -, dann ist eine Diskussion über Sinn und Wir haben mit unserem Vorstoß von allen Frauen- Unsinn einer entsprechenden Änderung des Wahl- organisationen, auch von den Frauenorganisatio- rechts beendet, weil sie schlicht und einfach unzu- nen der großen Volksparteien, Zustimmung erhal- lässig ist. ten. Bei einer Zustimmung zum Gesetzentwurf der Grü- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen gingen wir - das muss man wirklich sagen - al- Ich möchte deutlich auf das Resümee des Landes- so sehenden Auges ein nicht unerhebliches Risiko frauenrates eingehen. Ich zitiere: einer Wahlanfechtung ein. Dieses Experimentier- feld stelle ich mir gerade einmal vor. Wir haben ei- „Der Gesetzentwurf fragt nicht nach den Ur- ne neue Landtagswahl nach einem neuen Wahlrecht sachen, sondern bekämpft direkt die Sympto- und anschließend wird die Landtagswahl angefoch- me. Trotzdem ist sie nach Auffassung des ten. Ich komme aus einer Kanzlei, die das schon Landesfrauenrates geeignet, kurzfristig, ko- mehrfach erfolgreich gemacht hat. stenneutral und effektiv der bestehenden feh- lenden Chancengleichheit entgegenzuwir- (Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ken.“ NEN]: Klar, dass Sie einen Auftrag wollen!) (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Weitere Beiträge dieser Art sprechen auch für mich tatsächlich gegen eine Frauenquote. Man sieht also genau: Die haben debattiert, die ha- ben abgewogen; dann sind sie zu diesem Schluss (Beifall bei der FDP- Heiterkeit bei FDP, gekommen. Das hat auch seinen Grund. CDU und SPD) Es ist nun einmal so, dass sich unsere Verfassung Wir sind zwar kurz vor Karneval, sollten das The- nach der Wiedervereinigung weiterentwickelt hat. ma aber doch ernsthafter behandeln, als das die Ein aktives Agieren des Staates zur Abschaffung Frau Kollegin Birk von den Grünen macht. Es der Diskriminierung der Frau ist geboten. Darauf bleibt dabei - dieser Auffassung bin auch ich -, weist uns der Juristinnenbund eindrücklich hin. Er Frauen für politisches Engagement zu interessie- schreibt: ren und bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, ist keine Frage des Wahlrechts. Wir sollten uns an „Die Regelung“ dem Wahlrecht auch nicht in dieser Form versündi- - also das Gesetz, das wir vorschlagen - gen. „steht im Einklang mit dem Grundgesetz, der (Beifall bei FDP und SSW) neueren Rechtsprechung des Bundesverfas- sungsgerichts zu Artikel 3 Abs. 2 Satz 2 GG, Präsident Martin Kayenburg: den Wertungen der Europäischen Charta der Grundrechte und der Verpflichtung Deutsch- Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN er- lands aus Artikel 4 und 7 des UN-Überein- teile ich der Frau Abgeordneten Angelika Birk das kommens über die Beseitigung der Diskrimi- Wort. nierung der Frau.“ (Zuruf) Auf allen politischen Ebenen hat unser Gesetz - Ich schließe daraus, dass auch der SSW reden Rückendeckung. möchte. (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Anke Spoorendonk [SSW]: Ja!) Das zu Ihren Überlegungen, Herr Stritzl! 5594 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Angelika Birk)

Wir müssen uns aber natürlich klarmachen, auf Politik wird zunehmend als latent aggressive und welche Lage wir treffen. Wir treffen auf die Lage, ineffektive Männerdomäne wahrgenommen. dass die Kreisvorsitzenden bei jeder Listenaufstel- Neben der Frage der Unvereinbarkeit von Beruf lung und bei jeder Diskussion um Direktkandidatu- und Familie, die zweifellos wichtig ist, an die wir ren in den Wahlkreisen - darauf komme ich noch - mit anderen Gesetzen ranmüssen - da bin ich ganz in argen Nöten sind. Diese Situation ist sehr tref- nah bei Ihnen, Frau Spoorendonk, und all denjeni- fend von der ASF, von den Sozialdemokratinnen, in gen, die dies anführen -, ist auch die Unlust und die ihrem Statement beschrieben worden. Die Kreis- Auseinandersetzung mit den harten Widerständen wahlleiter sind oft in Loyalitätskonflikten, weil sie ein Grund dafür, dass Frauen sagen: Ich verbringe einem Platzhirsch sagen müssen: Nun lass da mal mein halbes Leben, um mich überhaupt nur durch- jemand anders ran, wir müssen mehr Frauen haben. zusetzen, dass ich im Landtag ankomme; und die Wenn aber ein gesetzlicher Druck dahintersteht, hat zweite Hälfte verbringe ich dann womöglich in ei- dieser Kreisvorstand ein ganz anderes Argumenten- nem Gremium, in dem nur 20 % Frauen sitzen. polster, wenn er in der Auseinandersetzung darum Dann verbringe ich mein Leben sinnvoller. wirbt, dass diesem Gesetz Genüge getan wird. Das ist eine Art von Resignation, da können wir Sie können fragen: Ist das denn verhältnismäßig? doch nicht stehen bleiben, da müssen wir etwas tun! Ist das denn geboten? - Genau die Frage der Ver- Sonst haben wir tatsächlich eine Demokratie, die hältnismäßigkeit ist von unserem Wissenschaftli- auch in den nächsten Jahrzehnten überwiegend von chen Dienst und vom Juristinnenbund abgeprüft Männern bestimmt wird. Das kann doch wohl nicht worden. Die in dieser Frage als Koryphäe geltende ernsthaft Ihr Vorschlag sein, Herr Stritzl, Herr Puls! Frau Professor Sybille Raasch aus Hamburg kommt (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - ganz deutlich zu dem Schluss, Herr Scholz und an- Unruhe bei CDU und FDP) dere, die Verfassungswidrigkeit wittern, haben die- se Neuerung in unserem Grundgesetz, in unserer Die gläserne Decke kann man nur mit klaren Quo- Verfassung nach der Wiedervereinigung schlicht tenregelungen durchbrechen. Das macht uns Spa- verschlafen. Sie kommen mit Argumenten, die hi- nien vor, das macht uns Frankreich vor, das macht storisch nicht mehr zutreffend sind. Im Gegenteil, uns eine Reihe anderer Länder vor. es ist so, dass die Maßnahme gerade bei der Abwä- gung der Verhältnismäßigkeit, weil es kein milde- Vizepräsidentin Ingrid Franzen: res Mittel gibt, sogar erforderlich ist. Frau Kollegin, die Zeit! (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Alle Parteiquotierung hat bisher nicht geholfen. Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gucken wir uns unseren eigenen Landtag an. Wir Die Grünen sind immer die Pionierinnen, die Im- hatten hier schon mehr Frauen sitzen. Ich selber ha- pulsgeberinnen in Sachen Gleichstellungspolitik be das in den letzten Legislaturperioden erlebt. Das, gewesen. Wir geben an dieser Stelle nicht auf. Sie was hier passiert, nämlich der Rückgang des Frau- werden von diesem Gesetz wieder hören. Das ver- enanteils, ist auch im Bundestag der Fall; das ist spreche ich Ihnen. auch in den anderen Bundesländern der Fall. Wenn wir Gesetze für überflüssig halten, landen wir dem- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nächst vielleicht wieder bei 20 % Frauenanteil. Vizepräsidentin Ingrid Franzen: Das ist eine Grundfrage der Demokratie. Da wider- spreche ich auch dem früheren Innenminister Steg- Ich danke der Frau Abgeordneten Angelika Birk. - ner, der gesagt hat: Na ja, das ist irgendwie nice to Das Wort für den SSW im Landtag hat deren Vor- have, aber was hat das mit Demokratie zu tun? sitzende Anke Spoorendonk. Bestätigt fühle ich mich auch durch die Aussage der kommunalen hauptamtlichen Gleichstellungs- Anke Spoorendonk [SSW]: beauftragten, die geschrieben haben: Die zuneh- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mend beklagte allgemeine Politikverdrossenheit, Schon bei der ersten Lesung zur Änderung des die für einen demokratischen Rechtsstaat nicht hin- Wahlgesetzes wurde deutlich, dass wir uns in der nehmbar sein kann, betrifft überwiegend Frauen. Bestandsaufnahme alle einig sind: Es ist ein Trauer- Frauen fühlen sich durch die politischen Gremien spiel, dass die Frauenquote in den deutschen Par- insbesondere auf Landesebene nicht mehr vertreten. Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5595

(Anke Spoorendonk) lamenten fast 90 Jahre nach Einführung des Frau- Scholz unter der Überschrift „Grundsatz der enwahlrechts immer noch so niedrig ist. Gleichheit des Wahlrechts“ jede geschlechtsspezifi- sche Differenzierung als verfassungswidrig zurück- Damit hört die Einigkeit aber auch schon auf, denn wies, führten der Wissenschaftliche Dienst des Kernpunkt der Debatte zu dem vorliegenden Ge- Landtages und der Deutsche Juristinnenbund umge- setzentwurf ist ja das Wie und nicht das Was. Strit- kehrt aus, dass der grüne Gesetzentwurf nicht nur tig ist weiterhin die Frage, wie das Ziel der gleich- rechtlich einwandfrei, sondern auch angemessen berechtigten Teilhabe von Frauen und Männern am sei. Man kann also so vorgehen wie von BÜNDNIS politischen Leben unserer Gesellschaft am ehesten 90/DIE GRÜNEN vorgeschlagen. Und eine ganze verwirklicht werden kann. Zumindest nehme ich für Reihe von Ländern, insbesondere außerhalb Euro- den SSW in Anspruch, dass dies unser Ziel ist. Ich pas, sind in den letzten Jahren diesen Weg ja auch sage das so deutlich, um allen Missverständnissen gegangen. vorzubeugen, auch dem Missverständnis, dass es dabei nur einen grünen Weg gibt. Zum anderen gab es in den Stellungnahmen der an- gehörten Frauenverbände die klare inhaltliche Po- Die Quotierung per Wahlgesetz ist eine scheinbar sition, dass etwas geschehen muss, damit Frauen in simple Lösung für dieses Problem - das sagte ich der Politik besser gefördert werden. Sie weisen schon bei der ersten Lesung -, ob es auch eine gute darauf hin, dass grundsätzlich jede Initiative zu be- Lösung ist, wage ich nach wie vor zu bezweifeln. grüßen ist, die sich das Ziel gesetzt hat, die grund- Denn wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass weni- gesetzlich verbriefte Gleichstellung von Männern ger Frauen als Männer bereit sind, sich innerhalb und Frauen weiter voranzutreiben. Ihnen geht es al- einer Partei um einen Listenplatz zu bewerben. Vie- so weniger um eine Analyse des vorliegenden Ge- len erscheinen die politische Kultur, das Klima in setzentwurfs, sondern um die Sache selbst. den Parteien, die Sitzungsformen und der Zeitdruck nicht besonders attraktiv. Der SSW teilt die rechtlichen Bedenken gegen die- sen Gesetzentwurf nicht. Ich meine, der Wissen- (Beifall der Abgeordneten Frauke Tengler schaftliche Dienst hat überzeugend dargelegt, dass [CDU] und Thomas Rother [SPD]) eine Frauenquote im Wahlgesetz rechtlich gesehen Viele Frauen engagieren sich daher lieber in soge- ein gangbarer Weg ist. Aus Sicht des SSW muss in- nannten NGOs, wo es einen konkreten Zusammen- haltlich zu dem grünen Vorschlag Stellung bezogen hang zwischen Zielsetzung und Aktion gibt, wo die werden. Deshalb sage ich zum wiederholten Male, Menschen und nicht die Strukturen im Mittelpunkt dass ich vom Ansinnen der Grünen, den anderen stehen. Parteien einen innerparteilichen Reformprozess per Seit der ersten Lesung hat es - wie bei Gesetzent- Gesetz vorzuschreiben, nichts halte. würfen üblich - eine Anhörung des zuständigen (Beifall bei SSW, CDU und FDP) Ausschusses gegeben, eine schriftliche, während Für die Entscheidung der Kolleginnen und Kolle- die mündliche in abgeänderter Form als öffentliche gen von den Grünen, dem Landtag diese Wahlge- Podiumsdiskussion des Landesfrauenrates stattfand. setzänderung zu unterbreiten, scheinen die Beispie- Auch wenn sich weder die Positionen der angehör- le Spanien und Norwegen eine wesentliche Rolle ten Verbände noch die der Fraktionen durch diese gespielt zu haben. Mag sein, dass Spanien als Mo- Anhörungen änderten, haben sie dazu geführt, dass dell für eine gesetzlich vorgeschriebene Frauenquo- alle Argumente wieder einmal auf den Tisch ge- te geltend gemacht werden kann, Norwegen kann kommen sind. Die Uneinigkeit bleibt, sie findet es ganz sicher nicht. Dort operiert man auch mit aber nunmehr auf einem höheren Niveau statt, Frauenquoten, aber eben nicht im Wahlgesetz. könnte man sagen. Daher Lob an den Landesfrau- Dreh- und Angelpunkt der norwegischen Gleich- enrat, dass er sich in diese Diskussion um Frauen stellungspolitik sind nämlich die Veränderung im und Politik eingeklinkt hat. gesellschaftlichen Raum und der politische Diskurs. (Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklung GRÜNEN) in unseren nördlichen Nachbarländern zeigt uns mit Auf zwei Aspekte möchte ich etwas holzschnittar- anderen Worten, wie wichtig der gesellschaftliche tig eingehen. Zum einen kam in der Anhörung eine Diskurs ist. Ich weiß, dass ich das schon bei der er- rechtliche Beurteilung des grünen Vorstoßes zum sten Lesung gesagt habe, aber das ist mein wichtig- Ausdruck. Hier krachten bildlich gesprochen zwei ster Punkt. Dazu gehört auch der politische Wettbe- Welten aufeinander: Während Professor Rupert werb der Parteien. Wenn Parteien meinen, dass sie 5596 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Anke Spoorendonk) diese Debatten ohne die gleichberechtigte Teilhabe Der Gesetzgeber hat sich lediglich auf die Formu- von Frauen am politischen Geschehen in den Parla- lierung von Mindestanforderungen zur Einhaltung menten führen können, dann muss auch das disku- der demokratischen Spielregeln zu beschränken, die tiert und infrage gestellt werden, damit sich die vornehmlich dafür sorgen sollen, dass die verfas- Wählerinnen und Wähler - wenn sie es denn wollen sungsrechtlichen Grundsätze einer geheimen und - auch gegen diese Parteien entscheiden können. freien Wahl auch bei der Bewerberaufstellung in Das ist aus meiner Sicht der wichtigste Punkt. Da- den Mitglieder- und Delegiertenversammlungen her lehnen wir den Gesetzentwurf ab. eingehalten werden. Da gibt es immer wieder den einen oder anderen Ausrutscher, wie man vom ho- (Beifall bei SSW, CDU, FDP und der Abge- hen Norden hören konnte. ordneten Birgit Herdejürgen [SPD]) Diesem Grundgedanken, der sich in allen Wahlge- Vizepräsidentin Ingrid Franzen: setzen widerspiegelt, stimme ich ausdrücklich zu, sichert er doch nachhaltig den an die Parteien ge- Ich danke der Frau Abgeordneten Spoorendonk. - richteten Verfassungsauftrag des Artikels 21 unse- Das Wort für die Landesregierung hat nun der In- res Grundgesetzes. Mit der Einfügung einer Quotie- nenminister Lothar Hay. rungsregelung würden nach meiner Auffassung die auch bei der Kandidatenaufstellung strikt zu be- Lothar Hay, Innenminster: achtenden Grundsätze einer freien und gleichen Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da- Wahl in unzulässiger Weise eingeschränkt werden. men und Herren! Frau Birk, Sie haben sich - wenn Der Gesetzgeber darf nicht in den organisatorischen ich es richtig verstanden habe; ich hoffe, dass ich Gestaltungsspielraum der Parteien eingreifen und Sie falsch verstanden habe - zu den Aufgaben eines die freie Stimmabgabe der an der Aufstellungsver- Kreiswahlleiters geäußert. Ein Kreiswahlleiter hat sammlung teilnehmenden Parteimitglieder sowie nur die Aufgabe, die geltenden Gesetze bei der deren Kandidaturmöglichkeiten mit gleichen Chan- Aufstellung von Listen und Wahlkreisen zu über- cen auf jeden Listenplatz einschränken. prüfen. Die als Eckpfeiler einer demokratischen Wahl be- (Zuruf der Abgeordneten Angelika Birk stehenden verfassungsrechtlichen Prinzipien der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wahlgleichheit und Wahlfreiheit können deswegen auch nicht durch den in Artikel 3 Abs. 2 des Grund- - Gut, dann habe ich Sie falsch verstanden. gesetzes eingefügten staatlichen Förderauftrag Eine gleichgewichtige aktive Beteiligung beider Gleichstellung sozusagen ausgehebelt werden. Von Geschlechter an der politischen Willensbildung des daher haben auch Quotierungsvorschriften bei der Volkes ist die Grundlage für eine erfolgreiche par- Aufstellung von Landeslisten bisher weder in das lamentarische Arbeit, die dem Ziel der Chancen- Bundeswahlgesetz noch in die Landeswahlgesetze gleichheit verpflichtet ist. Daher ist dem von anderer Länder Eingang gefunden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verfolgten Ziel, eine Meine sehr geehrten Damen und Herren, letztlich möglichst ausgewogene Repräsentanz beider Ge- muss es den Parteien überantwortet bleiben, bei der schlechter im Schleswig-Holsteinischen Landtag zu Aufstellung ihrer Wahlvorschläge - dies gilt nach erreichen, grundsätzlich zuzustimmen. meiner Auffassung nicht nur für die Besetzung der Allerdings ist es auch nach Auffassung der Landes- Landesliste, sondern auch bei der Nominierung der regierung der falsche Weg zur Erreichung dieses Bewerberinnen und Bewerber auf Wahlkreisebene - Zieles, verbindliche Quoren bei der Aufstellung für ein ausgewogenes Verhältnis geeigneter Kandi- und Einreichung der Landeslisten wahlgesetzlich datinnen und Kandidaten Sorge zu tragen. Nur auf festzulegen. Die Aufstellung der Bewerberinnen diese Weise wird sich eine möglichst gleichgewich- und Bewerber zur Landtagswahl ist als Angelegen- tige Repräsentanz von Frauen und Männern im heit der inneren Ordnung der Parteien grundsätzlich Schleswig-Holsteinischen Landtag verwirklichen dem Satzungsrecht sowie anderer parteiinterner Re- lassen. gularien vorbehalten. Damit haben die Parteien Sehen Sie es mir nach, wenn ich mit einem aus auch unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Wir in meiner Sicht immer noch aktuellen Zitat von Au- den sozialdemokratischen Gremien haben da vor gust Bebel - sicherlich bekannt - schließe: Es gibt Kurzem eine empfindliche, schmerzhafte Erfahrung keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale machen müssen, was die Listenaufstellung zur Bun- Unabhängigkeit und Gleichstellung der Geschlech- destagswahl betrifft. ter. Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5597

(Minister Lothar Hay)

(Beifall bei SPD und CDU) mit die Voraussetzungen für die Einrichtung dieses Gesundheitsfonds auch tatsächlich gegeben sind. Vizepräsidentin Ingrid Franzen: Ein weiteres Thema ist die schwierige Lösung des Ich danke dem Herrn Innenminister. Weitere Wort- Problems der Alterssicherung für die Beschäftigten meldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Bera- von Krankenkassen in Verbindung mit der Insol- tung. Der Ausschuss empfiehlt die Ablehnung des venzfähigkeit; ein altes Thema, aber ein durch die Gesetzentwurfs. Wer so beschließen will, den bitte Gesundheitsreform neu auf den Tisch gekommenes ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Der Ge- Thema, das gelöst werden muss. Wir haben als setzentwurf Drucksache 16/1541 (neu) ist mit den Länder in den letzten Wochen gemeinsame Positio- Stimmen der Fraktionen der CDU, der SPD, der nen entwickelt und werden Eckpunkte für den Auf- FDP und der Gruppe des SSW gegen die Stimmen bau eines kapitalgedeckten Sondervermögens zwi- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abge- schen Bund und Ländern abstimmen. Das wäre eine lehnt worden. Lösung, die ich begrüßen würde, weil sie Sicherheit für die AOK in Schleswig-Holstein bedeuten wür- Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: de. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Schles- Vorsitz der Gesundheitsministerkonferenz - wig-Holstein hat zu Beginn des Jahres turnusmäßig Schwerpunkte und Ziele der Landesregierung den Vorsitz der Gesundheitsministerkonferenz Antrag der Fraktion der FDP übernommen. Wie andere Fachministerkonferenzen Drucksache 16/1796 auch ist die Gesundheitsministerkonferenz ein wichtiges Instrument zur Abstimmung der Länder Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das in - Sie werden es kaum glauben - unglaublich vie- ist nicht der Fall. Es ist mit diesem Antrag ein Be- len Detailfragen, wenn Sie die Tagesordnungen die- richt zu dieser Tagung erbeten worden. Ich spreche ser Gesundheitsministerkonferenz zur Kenntnis mit der FDP-Fraktion als Antragsteller. Wer diesen nehmen. Sie können sicher sein, Herr Garg, dass Bericht haben will, den bitte ich zunächst um das diese Aufgabe von meinem Haus und mir profes- Handzeichen, dass der Bericht erteilt werden soll. - sionell wahrgenommen wird. Nachhilfe brauchen Das ist der Fall. Dann darf ich Sie, Frau Ministerin wir da nicht. Aber Unterstützung für die schleswig- für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Se- holsteinischen Interessen wird natürlich auch in nioren Trauernicht, um den Bericht bitten. diesem Jahr immer gern entgegengenommen. Die Bandbreite der diesjährigen GMK ist enorm. Dr. Gitta Trauernicht, Ministerin für Soziales, Sie reicht von Ausbildung über Infektionsschutz bis Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren: zu Arzneimittel- und EU-Fragen. Aber es gibt zen- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und tralere Themen. Das zentrale Thema des letzten Herren! Die ersten Wochen dieses Jahres haben Jahres war auch politisch in Schleswig-Holstein die schon deutlich gemacht, dass die Gesundheitspoli- Zukunft der Krankenhausversorgung in Deutsch- tik auch 2008 von intensiven und oft kontroversen land. Dies ist naturgemäß auch dieses Jahr ein zen- Debatten bestimmt sein wird. In der Kürze dieser trales Thema für mich als Vorsitzende der Gesund- Debatte wird es mir nur möglich sein, einige Stich- heitsministerkonferenz. Deswegen habe ich in der punkte aufzugreifen. Ich will gern die Stichpunkte letzten Woche noch einmal mit der Spitze des Bun- aufgreifen, die der Kollege Garg in seinem Antrag desgesundheitsministeriums ein Gespräch dazu ge- deutlich gemacht hat. führt, weil ich in meinem Druck nicht nachlasse, dass es zu einer Nachfolgeregelung für das Fallpau- Zur Umsetzung des Gesundheitsfonds! Ein Gut- schalengesetz kommt. achten aus München macht deutlich: Es wird De- batten geben. Die Umsetzung des Gesundheitsfonds (Beifall bei der SPD) wirft ihre Schatten voraus. Ich habe immer Trans- Das Bundesgesundheitsministerium hat angekün- parenz gefordert, um über die Folgewirkungen die- digt, im ersten Quartal dieses Jahres einen Gesetz- ses Gesundheitsfonds, insbesondere auch für entwurf vorzulegen, der eine Nachfolgeregelung für Schleswig-Holstein, informiert zu sein, und werde das Fallpauschalengesetz ab 2009 vorsieht und dar- dies natürlich mit den Kolleginnen und Kollegen über hinausgehende Themen, die den ordnungspoli- zusammen in diesem Jahr zum Thema machen, da- tischen Rahmen der Krankenhausversorgung be- treffen. Dieses Thema werde ich als Vorsitzende 5598 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Ministerin Dr. Gitta Trauernicht) der GMK erneut auf die Tagesordnung der Konfe- desweit für mehr Akzeptanz und bessere Vorsorge renz setzen, die übrigens Anfang Juli in dem wun- werben. derbaren Schloss in Plön stattfinden wird. Die Gesundheitsversorgung wird häufig nur als Ko- Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht alle stenfaktor gesehen. Gesundheitsversorgung ist aber gesundheitspolitischen Themen werden dieses Jahr auch Gesundheitswirtschaft, also ein Zukunftsthe- zwangsläufig von der GMK behandelt. So hat sich ma unserer Republik. Vor diesem Hintergrund die GMK bereits im letzten Jahr mit der psychiatri- freue ich mich, bereits in diesem Monat ein Netz- schen Versorgung, die Sie angesprochen haben, werk der Gesundheitsinitiativen aller Bundeslän- beschäftigt. Sie hat ebenfalls einstimmig für ein der als GMK-Vorsitzende mit auf den Weg bringen Präventionsgesetz votiert. Sollte es zur Vorlage ei- zu können. nes Präventionsgesetzes durch die Bundesregierung Sie sehen, meine sehr geehrten Damen und Herren, kommen, dann wird dieses Thema nicht auf der diverse Themen, ein kleiner Ausschnitt. Auch 2008 GMK, sondern im weiteren Verfahren im Bundes- wird gesundheitspolitisch sehr spannend werden. rat und Bundestag behandelt. Da gibt es klare Ab- Ich meine, dass wir dies nicht nur im Rahmen der sprachen, dass man entweder die eine oder die an- GMK, sondern auch hier bei vielen Gelegenheiten dere Schiene wählt. Sollte es nicht zur Vorlage ei- miteinander im Einzelnen debattieren können. nes Präventionsgesetzes kommen, wird dies sicher- lich auch in diesem Jahr wieder Thema beim Ka- (Beifall bei SPD und CDU) mingespräch der Gesundheitsministerkonferenz sein. Vizepräsidentin Ingrid Franzen: Ein weiteres mir sehr wichtiges Thema ist das The- Ich danke der Frau Ministerin. Sie hat etwas länger ma der Sicherung der hausärztlichen Versorgung. berichtet. Dann gilt diese Redezeit auch für die Hier gibt es ein elementares Interesse der Länder, Fraktionen, also 6 Minuten und 20 Sekunden. dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die Versorgung von Menschen auch in ländlichen Ich eröffne die Aussprache. Für die antragstellende Räumen zu sichern. In der diesjährigen Konferenz FDP-Fraktion erteile ich Herrn Abgeordneten werden wir einen Bericht der Fachleute diskutieren. Dr. Heiner Garg das Wort. Sollte es entsprechende politische Entscheidungen geben müssen, werden diese sicherlich durch die Dr. Heiner Garg [FDP]: GMK vorbereitet. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Ich kann es nur stichwortartig sagen: Die Zahnärz- gen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Man mag sich tekammer Schleswig-Holstein hat uns als Ministeri- fragen: Warum will er heute wissen, welche um ihre Position deutlich gemacht. Wir werden die- Schwerpunkte Schleswig-Holstein bei der Gesund- ses Thema beim Bund zur Sprache bringen. Als heitsministerkonferenz setzt, weil die Kollegin Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz Trauernicht den Vorsitz hat? Frau Ministerin, ich werde ich natürlich auch das Thema der Minister- bin kein Lehrer und mitnichten würde ich Ihnen präsidentenkonferenz zur Verbesserung des Kinder- Nachhilfe erteilen wollen. Das überlasse ich den schutzes und der Kindergesundheit aufgreifen. Pädagogen hier im Haus. Ich finde es langweilig, irgendjemandem hier Nachhilfe erteilen zu wollen. (Beifall bei der SPD) Weil in den letzten Tagen so viel von staatspoliti- Wir haben als Schleswig-Holstein ein vorbildliches scher Verantwortung die Rede war: Ich komme Kinderschutzgesetz auf den Weg gebracht. Aber meiner staatspolitischen Verantwortung dadurch es gibt in den Ländern unterschiedliche Wege. Eine nach, dass ich frage, welche Zielsetzungen Sie ha- Abstimmung untereinander ist erforderlich. Der ben, welche Vorstellungen Sie ganz konkret haben, Bund hat seine Hausaufgaben noch nicht gemacht. das gesundheitspolitisch spannende Jahr 2008 aktiv Also auch das ist ein Schwerpunktthema. mitzugestalten. Ich werde den GMK-Vorsitz auch nutzen, um Spannend ist das Jahr, liebe Kolleginnen und Kolle- Schleswig-Holsteins besondere Stärken herauszuar- gen, aus gesundheitspolitischer Sicht deswegen, beiten. Im Rahmen der Gesundheitsinitiative haben weil man sich in Berlin erstmals auf die Höhe des wir das Leitprojekt Brustgesundheit. Sie wissen, Einheitsbeitrags für den Gesundheitsfonds wird dass wir hier bundesweit in der Qualität der Versor- verständigen müssen, dem die Union mit dem Mo- gung federführend sind. Wir wollen dieses Thema dell des Gesundheitsfonds ja fröhlich zugestimmt in den Mittelpunkt der Diskussion stellen und bun- hat. Man wird sich zumindest vor der Bundestags- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5599

(Dr. Heiner Garg) wahl darüber verständigen müssen, in welche Rich- Trauernicht, Sie haben aber nicht ausgeführt, wel- tung das gehen soll. che Maßnahmen Sie eigentlich von Schleswig-Hol- stein aus starten wollen. Wie wollen Sie denn errei- Das ist ein ganz spannendes Thema, Frau Ministe- chen, dass beispielsweise die hausärztliche Ver- rin Trauernicht, insbesondere auch im Hinblick auf sorgung in einem Flächenland wie Schleswig-Hol- die Neuregelung hinsichtlich der Insolvenzfähigkeit stein tatsächlich bis 2020 gesichert ist, wo wir heute der Krankenkassen. Sie haben dies erwähnt. schon in bestimmten Regionen Probleme haben? Frau Ministerin Trauernicht, liebe Kolleginnen, lie- Dazu gehört nicht nur die Frage einer Neuregelung be Kollegen, wenn die Eigenwerbung auf den Inter- der Vergütung, sondern dazu gehört natürlich auch netseiten der Gesundheitsministerkonferenz zur Be- die Frage: Was soll grundsätzlich passieren, damit deutung der Konferenz stimmt, dann kommt der es zu einer Attraktivitätssteigerung des Hausärzte- GMK in der Tat eine ganz besondere Bedeutung zu. berufs kommt? Dazu haben Sie heute bedauerli- Denn neben der Abgrenzung der Landeskompeten- cherweise nichts gesagt. zen gegenüber dem Bund können die Landesge- Ich nenne das Beispiel der Krankenhausfinanzie- sundheitsminister über den Bundesrat entsprechen- rung. Auch wenn in der Gesundheitsministerkonfe- den Einfluss auf einzelne Vorhaben des Bundes renz mit Sicherheit nicht über das UK S-H in der nehmen. Sie wissen: In der Vergangenheit haben Form geredet wird, wie wir uns das vorstellen, so wir jedenfalls Ihnen vorgeworfen, genau diesen höre ich doch, dass allein dort als Sanierungsbeitrag Einfluss nicht in ausreichendem Maß wahrgenom- 1.000 Mitarbeiter entlassen werden sollen. Ich frage men zu haben. Sie, Frau Ministerin: Wie viele von diesen Darüber mögen Sie schmunzeln. Ich kann Ihnen 1.000 Mitarbeitern sollen denn etwa dem Pflegebe- versichern: Die schleswig-holsteinischen Kranken- reich angehören? häuser schmunzeln darüber nicht. Sie dürfen näm- Damit sind wir bei dem Punkt angelangt, der nicht lich immer noch den Sanierungsbeitrag leisten, ob- nur das UK S-H, sondern ganz viele Krankenhäuser wohl sie sich im Bundesdurchschnitt als am wirt- in diesem Land betrifft. Sie fahren am Anschlag. schaftlichsten erwiesen haben. Das heißt: Sie wer- Das Pflegepersonal ist nicht weiter belastbar. Wei- den nach wie vor dafür bestraft, dass sie in der Ver- tere Belastungen sind nicht zumutbar und die finan- gangenheit ordentlich gearbeitet haben. An dieser ziellen Ressourcen unserer Krankenhäuser in Stelle haben Sie Ihren Einfluss aus unserer Sicht je- Schleswig-Holstein sind so dünn, wie sie noch nie denfalls nicht in ausreichendem Maße wahrgenom- waren. Ich frage Sie: Wie sollen eigentlich Tarifab- men. schlüsse von 3 %, 4 % oder 5 % verkraftet werden, Also ist die Frage legitim: Welchen Einfluss wollen ohne dass es zu einer zusätzlichen Belastung des Sie wahrnehmen? Bislang war nicht bekannt, wel- Personals und damit im Zweifel auch zunächst ein- che Initiativen von Schleswig-Holstein ausgehen mal zu einer Gefährdung der Patientenversorgung sollten. Ich denke, es ist legitim nachzufragen. Ich kommt? denke auch, es ist legitim nachzufragen: Frau Mini- Die Antwort auf die Frage, welche Möglichkeiten sterin, mit wem haben Sie eigentlich gesprochen? Sie sehen, die Rahmenbedingungen zur Finanzie- Mit wem haben Sie sich im Vorfeld abgestimmt? rung unserer Krankenhäuser hier in Schleswig-Hol- Mit der Ärztekammer? Mit der Zahnärztekammer? stein über das Amt, das Sie jetzt für ein Jahr inne- Mit den Krankenkassen? Mit den Krankenhäusern? haben, ein wenig weiter voranzutreiben, hätte ich Ich fürchte, Sie haben mit keinem der Beteiligten mir schon konkreter gewünscht. Ich denke, inso- rechtzeitig darüber gesprochen, was eigentlich not- weit sind Sie uns eine Antwort schuldig geblieben. wendig ist. Ich will noch einmal den Gesundheitsfonds auf- Der Antrag meiner Fraktion hat Ihnen deswegen greifen. Die Hoffnung, dass ein morbiditätsorien- heute die Möglichkeit eingeräumt, Ihre Vorstellun- tierter Risikostrukturausgleich zugunsten der Kas- gen zu skizzieren. Themen gibt es reichlich. Ich sen erfolgt, die besonders viele chronisch Kranke nenne noch einmal das Beispiel des Gesundheits- absichern, ist doch eher vage, um nicht zu sagen: fonds, ich nenne das Beispiel der Sicherstellung der Das war eher ein Wahlkampfschlager von Frau Ulla hausärztlichen Versorgung, das Beispiel der Hono- Schmidt, um sich die Zustimmung zu ihrem komi- rarreform, das Beispiel der Krankenhausfinanzie- schen Reformwerk zu erkaufen. rung. Die in unserem Antrag aufgelisteten Themen- komplexe stehen bereits auf der Tagesordnung der Ich wage folgende Prognose: Insbesondere die Gesundheitsministerkonferenz; Frau Ministerin schleswig-holsteinischen Krankenkassen werden 5600 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Dr. Heiner Garg) genau davon nicht profitieren. Die kürzlich vorge- folgreiche Moderation des Meinungsaustauschs legte Zusammenstellung des Bundesversicherungs- zwischen den Bundesländern. Hierbei geht es um amtes sieht zwar 80 Krankheitskomplexe vor, für Weichenstellung und Gestaltung eines funktionsfä- die die Kassen zukünftig einen Zuschuss aus dem higen länderübergreifenden Gesundheitswesens. Es Gesundheitsfonds verlangen können; Massenleiden, geht auch darum, die Chance des Vorsitzes zu nut- für die die Kassen bereits heute viel Geld ausgeben, zen, um mit Nachdruck auf landesspezifische Pro- so zum Beispiel Asthma, Rheuma oder Bluthoch- bleme aufmerksam zu machen. druck, werden aber gerade nicht berücksichtigt. Der in diesem Hohen Hause von allen Parteien ge- Frau Ministerin, auch an der Stelle wünsche ich forderte bundeseinheitliche Basisfallwert ist eine mir, dass wir das im Ausschuss ein bisschen kon- der schleswig-holsteinischen Forderungen, die als kreter erörtern, als Sie das gerade getan haben. Es Bundesratsinitiative bereits eingebracht wurden. An hilft auch nicht, wenn irgendein Institut aus Mün- den Erfolg, damit die Krankenhauslandschaft in chen genau das Gegenteil behauptet und sagt, die Schleswig-Holstein und insbesondere das UK S-H schleswig-holsteinischen Kassen würden davon sanieren zu können, glaube ich jedoch nicht. profitieren. Schleswig-Holstein hat ja durch die Reduzierung von Kosten und Bettenkapazitäten bereits große Ein letzter Aspekt von meiner Seite. Sie haben die Einsparungen erbracht, die in dem Maße in anderen Frage der pensionsähnlichen Lasten, insbesondere Bundesländern noch nicht vollzogen wurden. Daher um hier im Land zu bleiben, auch für die AOK warne ich davor, allzu große Hoffnungen auf Mehr- Schleswig-Holstein angesprochen. Insoweit wird einnahmen durch einen bundeseinheitlichen Basis- man Regelungen finden müssen, die eben nicht ent- fallwert zu setzen. Dieser wird sich meines Erach- weder die Mitglieder anderer Kassen oder den Steu- tens mehr nach unten orientieren und nicht an die erzahler allgemein belasten. Die Frage ist nur: Wie Obergrenze anpassen. Dennoch sind Bemühungen sollen diese Lasten dann getragen werden und - in diese Richtung nach wie vor wichtig, führen sie doch zu mehr Gerechtigkeit. Vizepräsidentin Ingrid Franzen: In diesem Zusammenhang scheint es mir auch Herr Kollege, die Zeit! wichtig, das DRG-System und seine Weiterent- wicklung - es wird ja das lernende System genannt Dr. Heiner Garg [FDP]: - aufmerksam zu verfolgen. Hierin liegt auch ein Frau Präsidentin, mein letzter Satz - und wie vertra- Schlüssel für eine angemessene, dem Aufwand der gen sich diese Vorstellungen mit dem abstrusen medizinischen Maßnahme entsprechende Vergü- Konstrukt des Gesundheitsfonds? tung. Komplizierte, hervorragende medizinische Leistungen mit teurem apparativen Einsatz müssen Das Jahr 2008 wird also gesundheitspolitisch span- entsprechend vergütet werden. nend werden. Ich freue mich auf die spannenden Ausschussberatungen. Das, was Sie heute angeris- Schleswig-Holstein ist ein Flächenland und hat da- sen haben, kann nur ein erster Hinweis darauf sein, her im Vergleich zu anderen Bundesländern mit was uns 2008 bevorsteht. großen Ballungsgebieten einen besonderen Auftrag zur flächendeckenden Gesundheitsversorgung zu (Beifall bei FDP und SSW) erfüllen. Auch diese Problematik muss bei der Ge- sundheitsministerkonferenz zur Sprache kommen. Vizepräsidentin Ingrid Franzen: Das Augenmerk darf nicht zu sehr auf den Wettbe- Ich danke Herrn Abgeordneten Dr. Garg. - Für die werb in der medizinischen Versorgung gerichtet CDU-Fraktion erteile ich der Frau Abgeordneten werden, Krankenhäuser dürfen sich nicht immer Ursula Sassen das Wort. mehr auf bestimmte lukrative Behandlungsmög- lichkeiten spezialisieren - was aus Gründen der Wirtschaftlichkeit in Ordnung ist; aber es darf nicht Ursula Sassen [CDU]: sein, dass dabei die Basisversorgung, vor allen Din- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und gen in der Fläche, auf der Strecke bleibt. Herren! Schleswig-Holstein hat in diesem Jahr den (Beifall bei der CDU) Vorsitz der Gesundheitsministerkonferenz inne. Ministerin Dr. Gitta Trauernicht nimmt damit eine Das GKV-Modernisierungsgesetz fördert dies näm- herausragende Aufgabe wahr. Ein solcher Vorsitz, lich durch den Ausbau der integrierten Versorgung, die Leitung der GMK, beinhaltet mehr als die er- die Öffnung für ambulante Behandlung und die Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5601

(Ursula Sassen)

Einrichtung medizinischer Versorgungszentren. und befasst sich mit allen gesundheitspolitischen Medizinische Grundversorgung in der Fläche - Themen sowohl der Landesebene als auch der Bun- sowohl stationär als auch ambulant, das heißt haus- desebene. ärztliche Versorgung - muss gewährleistet sein. Ich Da die Länder in der Gesundheitspolitik nach wie bin froh, dass die Ministerin schon darauf hinge- vor viele eigene Zuständigkeiten und Kompetenzen wiesen hat, sich hierfür einsetzen zu wollen. haben und auch bei den Vorhaben des Bundes über Das sind Themen für das Flächenland Schleswig- den Bundesrat Einfluss nehmen, kommt dieser Ge- Holstein, die in der Gesundheitsministerkonferenz sundheitsministerkonferenz eine sehr hohe Bedeu- eine Rolle spielen sollten. tung zu. Deshalb ist es gut, dass 2008 die Konfe- renz in Schleswig-Holstein stattfindet. Schließlich Wir, meine Fraktion und ich, sehen die Chance und bietet es auch die Chance, dass von uns neue wich- Pflicht, aus dem Vorsitz der Gesundheitsminister- tige gesundheitspolitische Signale ausgehen. Da bin konferenz Kapital zu schlagen - insbesondere für ich sehr zuversichtlich, weil wir Sie mit im Boot unser Land -, nicht nur für die Landesregierung! haben, Herr Kollege Garg, und Sie sind engagiert. Wir alle, auch das Parlament, sind gefordert, der Insofern bin ich da ganz sicher. Ministerin beispielsweise einen Prioritätenkatalog für landesspezifische Forderungen mit auf den Weg (Dr. Johann Wadephul [CDU]: Ruder mal zu geben, damit Schleswig-Holstein vom Vorsitz schön!) der Gesundheitsministerkonferenz profitiert. Betrachtet man rückwirkend zum Beispiel die Be- (Beifall der Abgeordneten Martin Kayenburg schlüsse der Gesundheitsministerkonferenz 2007, [CDU] und Frauke Tengler [CDU]) so gab es dort Planungen und Entscheidungen zur Zukunft der Krankenhausversorgung - damit sind Der von der FDP angeforderte mündliche Bericht wir noch nicht am Ende -, der Gesundheit in Euro- zur heutigen Tagung greift wichtige Aspekte auf, pa, zum Thema Pandemievorsorge und so weiter. die sich meines Erachtens nicht einfach kurz abhan- Es ist sehr zu begrüßen, dass die Ministerin selbst- deln lassen sollten. Ich schlage daher vor, dass wir verständlich die zurzeit sehr intensiv diskutierten uns im Ausschuss im Rahmen der Selbstbefassung gesundheitspolitischen Themen auf der Minister- intensiv mit vorrangigen gesundheitspolitischen konferenz bei uns in Schleswig-Holstein anspre- Fragen und Forderungen auseinandersetzen und chen wird. Sie hat gerade darüber berichtet. Es ist diese der Ministerin - wie gesagt - mit auf den Weg aufgrund der Brisanz und der Dringlichkeit der geben. Themen damit zu rechnen, dass über den Gesund- (Beifall bei CDU und SPD) heitsfonds - das ist ganz klar - und über die Reform der Krankenhausfinanzierung, über die wir be- Vizepräsidentin Ingrid Franzen: reits in der letzten Landtagssitzung und auch im Ausschuss diskutiert haben, debattiert wird. Es wird Ich danke Frau Abgeordneter Ursula Sassen. - Das sicherlich das Insolvenzrecht der gesetzlichen Wort für die SPD-Fraktion hat nun Frau Abgeord- Krankenkassen ein großes Thema sein und natür- nete Jutta Schümann. lich auch die Sicherstellung der hausärztlichen Ver- sorgung. Auch dies sind Themen, mit denen wir Jutta Schümann [SPD]: uns in den vergangenen Monaten bereits mehrfach Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! beschäftigt haben, sowohl im Landtag als auch im In fünf Minuten das gesamte Spektrum der Gesund- Ausschuss. heitspolitik auf Bundes- und Landesebene im Quer- Dass es mittlerweile eine positive Entwicklung schnitt und in der Tiefe abzuhandeln, ist natürlich beim Präventionsgesetz gibt, ist aus meiner Sicht unmöglich. Darüber sind wir uns einig. Die Minis- und aus Sicht der SPD sehr zu begrüßen. Ich erin- terin hat darauf hingewiesen und es wäre fair gewe- nere daran, dass lange Zeit große Vorbehalte von- sen, das zu respektieren, Herr Kollege Garg. seiten des Bundeskoalitionspartners bestanden ha- Die Gesundheitsministerkonferenz in Deutsch- ben. Es ist volkswirtschaftlich aber dringend erfor- land ist ein wichtiges Gremium des fachlichen und derlich, dass mit diesem Gesetz Voraussetzungen politischen Meinungsaustausches zwischen Minis- geschaffen werden, damit Gesundheitsförderung tern und Ministerinnen, Senatoren und Senatorin- und die gesundheitliche Prävention im Bereich der nen für Gesundheit der Länder und des Bundes. Die Sozialversicherungen gestärkt werden. Das Gesetz Gesundheitsministerkonferenz tagt einmal jährlich schafft die strukturellen Voraussetzungen für Maß- nahmen und Leistungen, die den verantwortlichen 5602 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Jutta Schümann)

Umgang mit der eigenen Gesundheit unterstützen Aber wie sieht es tatsächlich konkret mit dem Ba- sollen und sich sowohl auf das Verhalten des Ein- sisfallwert aus? Ist der Vorstoß, den Sie gemacht zelnen als auch auf die Gestaltung des Lebensum- haben, weiter diskutiert worden? Ist zu erwarten, feldes beziehen. Es ist ein ganz wichtiger Aspekt, dass wir tatsächlich im Sommer eine größere Einig- dass jeder, der vorbeugt, darin auch von den Kassen keit haben als bisher? Gut, Sie waren da diploma- unterstützt werden kann. tisch und vorsichtig, als Vorsitzende dürfen Sie auch nicht diktatorisch Beschlüsse herbeireden. Das Es ist sehr zu begrüßen, dass die Ministerin beab- ist mir schon klar. Trotzdem muss uns bewusst sichtigt, neben den bundespolitisch anstehenden sein, dass dieses Thema wirklich das Thema Num- dringenden gesundheitspolitischen Themen eigene mer eins für das Überleben unserer Krankenhäu- landespolitische Initiativen wie zum Beispiel das ser ist. Thema Kindergesundheit aufzugreifen. (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist auch zu begrüßen, dass das Thema Bekämp- und SSW) fung des Brustkrebses auf die Tagesordnung ge- setzt werden soll. Hier sind wir bundesweit füh- Das haben Sie insofern auch richtigerweise hervor- rend, die Ministerin hat darauf hingewiesen. Wir gehoben. haben in Abstimmung mit den Dienstleistern im Der zweite Punkt, der mir aber genauso auf den Nä- Gesundheitswesen in Schleswig-Holstein und den geln brennt und offensichtlich bei der GMK entwe- Kostenträgern in den letzten Jahren vorbildliche der kein Thema mehr ist, noch kein Thema ist oder Versorgungsstrukturen aufgebaut. vielleicht auch keines sein darf, ist die Frage: Was (Beifall bei der SPD) wird eigentlich aus der Pflegereform? Wir haben auf Bundes- und Landesebene Hausaufgaben zu Darauf können wir stolz sein und diese Entwick- machen. Der Bund hat sie aus meiner Sicht unzurei- lung kann man weiterhin nur unterstützen. Wir soll- chend gemacht. Es sind einige kleine Schritte er- ten uns nachhaltig und intensiv dafür einsetzen, reicht worden. Wir haben lange im Landtag darüber dass dies auch bundesweit ausgebaut wird. debattiert, was sich die unterschiedlichen Fraktio- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gesundheits- nen dazu vorstellen. Jetzt sind die Länder am Zug, ministerkonferenz bietet also gute Chancen und wir die unterschiedlichsten Vorstellungen sind im sollten die Landesregierung und die Ministerin im Raum. Wir warten gespannt darauf, was das Land Interesse des Gesundheitsstandorts Schleswig-Hol- Schleswig-Holstein beziehungsweise die Regierung stein nach besten Kräften unterstützen, damit die auf den Tisch legen wird, weil sie mehrere Gesetze Konferenz ein Erfolg wird. angekündigt hat. (Beifall bei SPD und CDU) Unsere Fraktion hat kein eigenes Gesetz auf den Weg gebracht, weil die konkreten Stichworte, die Vizepräsidentin Ingrid Franzen: Sie geliefert haben, eigentlich so aussahen, als ob Sie schon fertig seien. Nun dauert es aber eine gan- Ich danke Frau Abgeordneter Jutta Schümann. - ze Weile. Offensichtlich ist es auf der GMK - aus Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE welchen Gründen auch immer - kein Thema, ob- GRÜNEN hat nun Frau Abgeordnete Angelika wohl es da eine ganze Menge Abstimmungsbedarf Birk. auch zwischen Bund und Ländern gibt, wenn ich den Fachleuten glauben darf. Es wäre auch hilf- Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: reich, wenn die Länder nicht so unterschiedliche Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Gesetze machen, dass wir bei der Pflegeausbildung und Kollegen! Wir haben bei dieser Debatte eine oder in anderen Fällen so weit auseinanderlaufen, merkwürdige Mischung aus Positionen vertreten dass kein Zusammenkommen mehr möglich ist. und Tagesordnung herunterbeten. Frau Ministerin Meine Frage ist, was damit ist. Trauernicht, ich hätte mir gewünscht, dass Sie ent- Bei den anderen Punkten, die Sie genannt haben, ist schiedener gesagt hätten, welche Position Sie je- plausibel begründet, warum diese auf der Agenda weils einbringen. Sie haben natürlich auch wegen stehen. Es ist hilfreich, wenn Schleswig-Holstein der Kürze der Zeit auf Debatten verwiesen, die wir seine eigenen Stärken ins Feld führen kann. Insbe- schon hatten. sondere zum Gesundheitsfonds darf ich mir aber (Zuruf des Abgeordneten Dr. Heiner Garg doch eine Bemerkung erlauben: Sie haben den [FDP]) Kompromiss verschiedentlich kritisch gewürdigt. Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5603

(Angelika Birk)

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet bei der Umset- wäre unglaubwürdig, wenn wir auf einer Konferenz zung des Gesundheitsfonds das Thema Insolvenz- etwas forderten, was wir vor Ort nicht tun. recht der Krankenkassen ganz dringlich auf der Ta- (Beifall der Abgeordneten Monika Heinold gesordnung steht. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Dr. Hei- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ner Garg [FDP]) und des Abgeordneten Dr. Heiner Garg [FDP]) Vizepräsidentin Ingrid Franzen: Es scheint hier also allgemein die Erwartung zu Ich danke der Frau Abgeordneten Angelika Birk. - sein, dass wir nicht nur ein langsames Reduzieren Für den SSW erhält nun Herr Abgeordneter Lars der Anzahl der Krankenkassen vor uns haben, wie Harms das Wort. wir es für wünschenswert halten, weil wir zu viele kleine Kassen haben. Es scheint offensichtlich ein Lars Harms [SSW]: Dammbruch zu befürchten zu sein. Insbesondere die AOK muss jetzt schon Vorsorge treffen, damit Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und sie nicht über den Deister geht. Herren! Der geplante Gesundheitsfonds bringt ei- ne Debatte wieder in den Vordergrund, die eigent- (Zuruf des Abgeordneten Martin Kayenburg lich nie richtig verstummt und mittlerweile zur [CDU]) Angstdebatte geworden ist. Viele Bürgerinnen und Das zum Erfolg eines solchen Gesundheitsfonds. Bürger sind der Ansicht, dass unser Gesundheits- Man kann sich viel überlegen zur Reform der Kran- system kurz vor dem Kollaps steht und das, obwohl kenkassen. Dazu haben wir mit der Bürgerversi- die Fakten eigentlich dagegensprechen. So gibt es cherung auch unseren Beitrag geleistet. Auch bei in Deutschland kaum Wartelisten und die gesund- unserem Vorschlag hätte man sich Gedanken über heitliche Versorgung bewegt sich seit Jahren auf ei- Kassen machen müssen, die möglicherweise insol- nem sehr hohen Niveau. Unter den Patienten geht vent werden und keine Rücklagen haben. trotzdem die kalte Angst um. Das liegt nicht nur an einer Presse, die Probleme hochschaukelt, sondern Aber dass dieses Thema offensichtlich so nachge- auch an uns. Wir nehmen uns als Fachleute zu we- klappt wird und so an Fahrt gewonnen hat, kann nig Zeit, die komplizierten Regelungen so zu über- unsere Kritik nur unterstreichen. setzen, dass sie von den Bürgerinnen und Bürgern (Beifall bei der Abgeordneten Monika Hei- auch verstanden werden. Bei ihnen dringt seit Jah- nold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ren statt Leistungen, Diagnosesystem oder Haus- arztsystem nur noch eines durch: immer höhere Ei- Schauen wir einmal, was die Gesundheitsminister- genbeteiligung und immer geringere Ansprüche, konferenz dazu als Lösung auf den Tisch bringen mit einem Wort: Kürzungen. wird. Geld drucken kann sie nicht. Herr Garg und andere haben die Möglichkeiten aufgezeigt, die Wir können so nicht weitermachen, denn unver- bleiben. Entweder zahlen die Versicherten oder die ständliche Fachtermini nähren den Verdacht, dass Steuerzahler. Wer in dieser Frage ganz bestimmt das System marode ist. Gerade das ist es aber nicht. nicht zahlen kann, ist das Land Schleswig-Holstein, Vielmehr sind die angeblichen Reformen, die in es sei denn, die Länder finden hier zu einer neuen den letzten Jahren durchgeführt worden sind, Gift Gelddruckmaschine auf Landesebene; mir ist so et- für das System gewesen. Nicht das Gesundheits- was jedoch nicht bekannt. system an sich ist handlungsunfähig, sondern Ent- scheidungen wie die für einen Gesundheitsfonds Die Situation der Prävention möchte ich zum versetzen dem Gesundheitssystem den entscheiden- Schluss noch einmal hervorheben. Meine Fraktion den Schlag. Die Probleme sind somit hausgemacht hat schon in der vorherigen Legislaturperiode des und nicht vom Himmel gefallen. Bundestages hierzu einen Gesetzentwurf unterbrei- tet. Auf bundespolitischer Ebene ist jetzt endlich Die Gesundheitsministerin sollte deshalb versu- ein bisschen Bewegung in die Sache gekommen. chen, bei diesem Reformzug, dem jedes Jahr mehr Uns reicht das jedoch längst nicht. Hier sind natür- Waggons angehängt werden, die Notbremse zu zie- lich die Länder gefordert. Wir sind gespannt, mit hen. Sie sollte eben nicht der Versuchung erliegen, welchem Präventivszenario sie in die Debatte ge- schon jetzt auf die Landespressekonferenz zu schie- hen. Es wäre schön, wenn wir - gerade weil wir als len, auf der sie dann über ihre Erfolge auf zehn bis Länder hier Hausaufgaben zu machen haben - dies 15 Themenfeldern sprechen kann. Genau so machte auch hier im Landtag noch einmal diskutierten. Es es nämlich die vorherige Gesundheitsministerkon- 5604 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Lars Harms) ferenz-Vorsitzende, Monika Stolz aus Baden-Würt- muss gerecht auf alle Schultern verteilt werden und temberg, übrigens ebenso wie ihre Vorgänger. das Gesundheitssystem muss transparenter werden. Hierfür ist der Gesundheitsfonds der denkbar Ich befürchte allerdings, dass die Weichen längst falsche Weg. Die Gesundheitsministerkonferenz gestellt sind und die Plöner Gesundheitsminister- wäre ein riesiger Erfolg, wenn dort die Aussetzung konferenz im Juli wieder nur so von Themen strot- des Gesundheitsfonds beschlossen würde und man zen wird. erneut begänne, eine einheitliche und gerechte Fi- Die antragstellende Fraktion, die FDP, hat insge- nanzierung unter Beteiligung aller anzustreben. samt sieben Themengebiete angeführt, bei denen (Beifall beim SSW und der Abgeordneten unmittelbar Entscheidungen anstehen, und das sind Jutta Schümann [SPD]) bei Weitem nicht alle. Ich möchte hier nur die elek- tronische Versichertenkarte nennen, deren Entwick- ler mit erheblichen Schwierigkeiten kämpfen. Vizepräsidentin Ingrid Franzen: Angesprochen sind außerdem nur indirekt die Pro- Ich danke dem Herrn Abgeordneten Lars Harms. - bleme der flächendeckenden Versorgung auf dem Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich Land, wenn die Hausärzte in den nächsten Jahren schließe die Beratungen und stelle zunächst fest, scharenweise in den Ruhestand gehen und keine dass der Berichtsantrag - Drucksache 16/1796 - Praxisnachfolger finden. Es nehmen Infektions- durch den erteilten Bericht der Landesregierung krankheiten zu, beispielsweise der Norovirus, die seine Erledigung gefunden hat. Aus meiner Sicht ist nicht behandelbar sind. Last, but not least muss das kein Antrag gestellt worden. Damit ist der Tages- Problem der explodierenden Medikamentenkosten ordnungspunkt erledigt. gelöst werden. Das sind viele Baustellen, die noch Wir hätten noch etwas Zeit und der Vorsitzende des zu der Tagesordnung hinzukommen. Petitionsausschusses wäre bereit, seinen Bericht zu Wie sieht die Richtschnur bei all diesen Entschei- den Tagesordnungspunkten 23 und 24 - ohne Aus- dungen aus? Eigentlich ist es ganz einfach: eine gu- sprache - zu geben. Wird das gewünscht oder wol- te Versorgung zu vernünftigen Preisen. Die Anbie- len Sie in die Pause gehen? - Gut, dann werde ich teregoismen und eine Doppelt- und Dreifachstruk- Herrn Buder bitten. tur verhindern allerdings die Umsetzung dieses Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 und 24 auf: Ziels. Jahre nach der sogenannten Blüm-Reform sind immer noch Kostenträger und Kostenauslöser fein getrennt, was zu immer neuen Kostenschüben Gemeinsame Beratung führt, während die Unzufriedenheit bei Beschäftig- ten und Patienten wächst. Ohne eine vernünftige a) Tätigkeit des Petitionsausschusses in der Zeit Lösung zum Basisfallwert kommen wir auf keinen vom 1. Juli 2006 bis 30. September 2006 grünen Zweig. Deshalb darf Schleswig-Holstein nicht nur einen Antrag hierzu im Bundesrat stellen, Bericht des Petitionsausschusses sondern muss ihn dann auch auf dieser Konferenz Drucksache 16/1797 durchsetzen. Die Große Koalition in Berlin setzt immer noch auf b) Tätigkeit des Petitionsausschusses in der Zeit einen falschen Wettbewerb, nämlich den der Nach- vom 1. Januar 2007 bis 31. März 2007 frage. Eine grundsätzliche Reform der Krankenver- sicherung und eine gerechte Verteilung der Finan- Bericht des Petitionsausschusses zierungslasten sind nicht in Sicht. Ich habe bereits Drucksache 16/1798 mehrmals davor gewarnt, in einen Planungsüberei- fer zu verfallen und alle heißen Eisen auf einmal Ich erteile dem Vorsitzenden des Petitionsausschus- anzufassen. Letztendlich verliert man im Gewusel ses für die Berichterstattung das Wort. Herr Abge- der einzelnen Gesetze das Hauptziel aus den Au- ordneter Detlef Buder, bitte sehr! gen. Schlimmer noch: Wir haben in der Vergangen- heit erlebt, wie sich die Maßnahmen gegenseitig in Detlef Buder [SPD]: die Quere kamen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Darum noch einmal die Forderung des SSW: Die Ich stelle Ihnen heute zwei Tätigkeitsberichte des Gesundheitsminister sollten sich auf ein Ziel be- Petitionsausschusses vor - Sie haben sie in Ihren schränken. Dieses Ziel lautet: Die Finanzierung Unterlagen -, nämlich den Bericht für das 3. Quar- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5605

(Detlef Buder) tal 2006 und den für das 1. Quartal 2007. Damit ha- angrenzenden B-Plan eine Lösung im Sinne der Pe- ben wir dann langsam unsere Rückstände aufgeholt, tenten herbeigeführt werden könnte. die durch die Umstrukturierung in der Geschäfts- Dabei ist dem Ausschuss durchaus bewusst gewe- stelle entstanden waren. sen, dass die Bauleitplanung der Gemeinde obliegt Der Petitionsausschuss hat in den beiden Zeiträu- und diese Aufgabe somit in den grundsätzlich ge- men - vom 1. Juli bis 30. September 2006 sowie schützten Bereich der kommunalen Selbstverwal- vom 1. Januar bis 31. März 2007 - insgesamt 242 tung fällt. Aber gerade weil das so ist und weil vor Petitionen abschließend beraten. Durchschnittlich Ort ortsnahe und bürgerfreundliche Entscheidungen 35 % der Petitionen konnten ganz oder teilweise gefällt werden können, sind wir auf die Idee ge- im Sinne der Petenten entschieden werden. kommen, das dort mit einzubeziehen. Ich freue mich immer, wenn der Ausschuss einem Die Gemeinde hat die Petenten und ihr Grundstück Petenten schnell und unbürokratisch helfen kann, jahrelang steuer- und abgabenrechtlich veranlagt - was ja unsere Aufgabe ist. Dies gelingt in vielen und das, obwohl ihr die planungsrechtliche Situati- Fällen durch konstruktive Zusammenarbeit mit der on im Gegensatz zu den Petenten bekannt gewesen Landesregierung und den zuständigen Stellen vor ist. Sie hat also Abgaben genommen, Fremdenver- Ort. Oft können relativ zeitnahe Lösungsmöglich- kehrsabgabe genommen, Kurtaxe eingezogen und keiten für die Petenten erarbeitet und gangbare dann hat man den Petenten beim Ortstermin gesagt: Kompromisse gefunden werden. Umso bedauerli- Ihr müsst das alles bezahlen, weil ihr dort wohnt, cher ist es dann, wenn dies nicht klappt, obwohl obwohl ihr eigentlich dort gar nicht wohnen dürftet. sich der Petitionsausschuss für den Petenten einge- Daraufhin habe ich gefragt, wie man das zusam- setzt und alle Weichen für eine Lösung gestellt hat. menbringen kann. Das konnte man mir leider über- haupt nicht erklären. Diese Erfahrung musste der Ausschuss mit einer Petition aus Nordfriesland machen, um wieder ein- Im Gegensatz zu den Petenten war der Gemeinde mal ein praktisches Beispiel zu nennen - übrigens das bekannt. Für den Ausschuss war dies Anlass einer von fünf Ortsterminen, die der Ausschuss in genug, auch die Gemeinde in der Pflicht zu sehen. den beiden Berichtszeiträumen durchgeführt hat. Der Ausschuss hat die Gemeinde gebeten, Prüfun- gen für die Aufnahme des Grundstücks in die ge- Die Petenten - ein älteres Ehepaar - hatten sich ver- meindliche Planung zu veranlassen, nur - wie ich zweifelt an den Petitionsausschuss gewandt. Sie eingangs gesagt habe - leider ohne Erfolg. sollten ihr kleines, idyllisch am Dünenrand mitten in St. Peter-Ording gelegenes Sommerhäuschen, Demnächst wird auch die letzte Frist ablaufen, die das seit mehr als 20 Jahren ihr Eigentum war, abrei- Petenten werden ihr kleines Refugium wohl abrei- ßen. Der Grund: Es hatte sich im Laufe der Zeit ßen müssen. Zur Duldung des Hauses bis zum Le- herausgestellt, dass das Häuschen in den 50er-Jah- bensende der Petenten - was wir auch noch vorge- ren, als es noch nicht im Besitz dieser Familie war, schlagen haben und was auch geht - hat sich der abweichend von der damals erteilten Genehmigung Kreis Nordfriesland leider nicht bewegen lassen, - man kann sagen: ungefähr fünf Meter daneben - weil er auch auf dem Standpunkt steht, wenn hier errichtet worden war. Eine nachträgliche Genehmi- einer etwas ändert, muss das die Gemeinde St. Pe- gung kam aus planungsrechtlichen Gründen nicht ter-Ording sein. Ich bedaure das zutiefst, nicht nur, in Betracht und ein entsprechender Prozess wurde weil ich die Enttäuschung der Petenten nachvollzie- aufgrund der Planungsvorschriften in diesem Ort hen kann, sondern auch, weil ich das gesamte Vor- verloren. Dies ging also nicht, sondern es blieb gehen - auch wenn es rechtlich nicht zu beanstan- praktisch nur der Weg, sich gütlich zu einigen. Man den ist - als ausgesprochen ungerecht empfinde. muss dabei bedenken, dass ein innerörtlicher Be- (Beifall im ganzen Haus) reich als Außenbereich deklariert worden war und somit als nicht bebaubar und privilegierbar. Es wäre hier wirklich ein Leichtes gewesen, mehr Mitmenschlichkeit und Bürgernähe zu beweisen. Eigentlich wollten die Petenten ihren Ruhestand in dem kleinen Sommerhaus genießen, sahen sich nun Aber auch wenn der Ausschuss - wie in dem eben jedoch mit einer Abrissverfügung konfrontiert. Der dargestellten Fall - nicht immer eine Lösung für die Petitionsausschuss hat sich eingehend mit diesem Petenten erreichen konnte, hat sich der Petitions- Fall befasst und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass ausschuss mit einer Erfolgsquote von durchschnitt- durch eine Einbeziehung des Grundstücks in den lich 35 % in den hier vorgestellten Berichtszeiträu- men wieder als ein wirkungsvoller Anwalt der Bür- 5606 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Detlef Buder) gerinnen und Bürger gegen Ungerechtigkeit, Be- dafür durch die Eintragung der Schuld im Grund- nachteiligung und zu viel Bürokratie durch staatli- buch eine Sicherheit zu geben. In der Regel haben che Stellen erwiesen. die Kunden ihren Kredit ordnungsgemäß bedient und in Notsituationen wurde versucht, im Gespräch Wenn Sie Einzelheiten gern nachlesen möchten, mit der Bank oder der Sparkasse vor Ort eine Lö- liegen Ihnen ja die ausführlichen Berichte vor. Ich sung zu finden. bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen für die intensive Mitarbeit und bei der Geschäfts- Nun gehen immer mehr Banken dazu über, notlei- stelle für die Vorbereitung der einzelnen Beschlüs- dende Kredite an Finanzinvestoren zu verkaufen, se und bitte Sie, die Erledigung der Petitionen zu und, um dafür einen guten Preis zu erhalten, wer- bestätigen. den auch ordnungsgemäß bediente Kredite in einem Paket gleich mitverkauft. Aus Sicht der Banken ist (Beifall) der Verkauf nicht bedienter Kredite verständlich, schlummern doch circa 300 Milliarden € - so heißt Vizepräsidentin Ingrid Franzen: es - notleidender Kredite in den Büchern deutscher Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Gibt es Banken. Für den einzelnen Kunden aber kann der Wortmeldungen zum Bericht? - Das ist nicht der Verkauf seines Kreditvertrages verheerende Folgen Fall. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Der haben. Ausschuss empfiehlt, die Berichte Drucksachen Das deutsche Grundschuldrecht existiert seit über 16/1797 und 16/1798 zur Kenntnis zu nehmen und 100 Jahren. Kredit- und Grundschuld sind durch die Erledigung der Petitionen zu bestätigen. Wer eine Sicherungsvereinbarung miteinander verbun- dem zustimmen will, den bitte ich um das Handzei- den. Diese notwendige Bindung wird aber ungültig, chen. - Das ist einstimmig so geschehen. wenn der Kreditvertrag verkauft wird. Dann kön- Dann gehen wir jetzt in die Mittagspause und set- nen, so unglaublich das klingen mag, Kredit- und zen die Tagung um 15 Uhr mit Tagesordnungs- Grundschuld unabhängig voneinander verwertet punkt 16, Schutz von Immobilienbesitzern, fort. werden. Bei einem ordnungsgemäß bedienten Kre- Die Sitzung ist unterbrochen. dit hat der Kreditnehmer zwar einen Schadenersatz- anspruch gegenüber seiner Ursprungsbank. Aber (Unterbrechung: 12:53 bis 15:01 Uhr) was hilft ihm das, wenn er erst einmal sein Eigen- tum durch eine Zwangsversteigerung verloren hat, Vizepräsidentin Ingrid Franzen: weil er - so diese Rechtslage - diese Zwangsvoll- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die streckung dulden muss. Hier bedarf es dringend ei- Sitzung nach der Mittagspause fort. ner rechtlichen Klarstellung zum Schutz der Ver- braucherinnen und Verbraucher. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW) Schutz von Immobilienbesitzern Total verheerende Folgen kann es für den Eigen- Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heimbesitzer haben, wenn sein Kredit verkauft Drucksache 16/1806 wurde und er anschließend in Zahlungsschwierig- keiten gerät, sei es durch Krankheit, Arbeitslosig- Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das keit, Scheidung oder aber eine andere Veränderung ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache seiner Lebenssituation. Davor sind wir alle nicht und erteile für die antragstellende Fraktion der Frau gefeit. Der Versuch, dann mit einer Briefkastenfir- Abgeordneten Monika Heinold das Wort. ma auf den Bahamas über neue Konditionen ver- handeln zu wollen, wird wohl eher scheitern, denn Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: diese Finanzinvestoren haben in der Regel nur ein Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Interesse. Sie wollen schnell und zügig Cash ma- Schaffung von Eigentum ist für die meisten Men- chen. schen eine einmalige Investition. Dafür sparen sie (Günter Neugebauer [SPD]: Leider ja! - Det- über Jahre, bringen Eigenleistungen ein, verzichten lef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auf Urlaub und anderes. Die Finanzierung des Ei- NEN]: Das ist leider so!) gentums läuft in der Regel über eine Bank. Bisher war es selbstverständlich und risikolos, der Bank Meist drängen sie dann auf eine Zwangsversteige- rung, bei der sie dann die Grundschuld in voller Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5607

(Monika Heinold)

Höhe vollstrecken können, unabhängig von der Noch enthält aber das Risikobegrenzungsgesetz, noch bestehenden Höhe des Kredites. wie es im Entwurf vorgelegt worden ist, keinen ver- besserten Kundenschutz. Deshalb hat sich auch un- (Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE ser Antrag heute nicht erledigt. Ich plädiere dafür, GRÜNEN]: Sauerei!) ihn im Innen- und Rechtsauschuss zu beraten und Damit steht der Eigenheimbesitzer vor folgender uns dort mit der Sachlage zu beschäftigen. Situation: Er soll die Restschuld seines Kredites be- Noch ein Wort zum Schluss. Zu den Sparkassen. zahlen, die volle Höhe der eingetragenen Grund- Die Sparkassen sind dem Gemeinwohl verpflichtet schuld zahlen und zusätzlich dann anfallende Zin- und sollen die Wirtschaft vor Ort stärken. Ich er- sen auf die Grundschuld. warte, dass sie sich auch dementsprechend, nämlich (Günter Neugebauer [SPD]: Unglaublich!) gemeinwohlorientiert, verhalten. Die Zwangsversteigerung ist vorprogrammiert und (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der stolze Eigenheimbesitzer oder die Eigenheim- sowie der Abgeordneten Günter Neugebauer besitzerin ist nicht nur das Eigenheim los, sondern [SPD] und Wolfgang Kubicki [FDP]) komplett pleite. Diese Rechtslage muss dringend Der Verkauf von Forderungen an internationale geändert werden. Kredithaie dient nicht dem Gemeinwohl. Auch das (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss man mit dieser Deutlichkeit sagen. und des Abgeordneten Günter Neugebauer (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [SPD]) und vereinzelt bei der SPD) Das hat mit Verbraucherschutz genauso wenig zu tun wie die gängige Praxis, dass sich Banken zu- Vizepräsidentin Ingrid Franzen: nehmend beim Abschluss des Kreditvertrages im Kleingedruckten schon einmal vorab die Genehmi- Ich danke der Frau Abgeordneten Monika Heinold. gung für diese Forderungsverkäufe erschleichen. So - Das Wort für die CDU-Fraktion hat nun Herr Ab- werden Hausbesitzer in den Ruin getrieben, interna- geordneter Tobias Koch. tionale Finanzinvestoren machen Gewinne und der deutsche Steuerzahler zahlt all dies, denn die Verlu- Tobias Koch [CDU]: ste werden die Banken natürlich als Verluste abset- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und zen. Herren! Der vorliegende Antrag von BÜNDNIS Das ist volkswirtschaftlicher Unsinn und unverant- 90/DIE GRÜNEN geht noch davon aus, dass es ei- wortlich. Unseriösem Geschäftsgebaren muss ein ner Bundesratsinitiative der Landesregierung be- Riegel vorgeschoben werden. Eigenheimbesitzer darf, um einen besseren Schutz von Kreditnehmern dürfen nicht schutzlos in den Fängen internationaler im Falle des Weiterverkaufs ihrer Kredite zu errei- Finanzinvestoren landen. Deshalb haben wir uns chen. Tatsache ist hingegen - die Kollegin Heinold auch über die Landesregierung geärgert, die in der wies auch gerade darauf hin -, dass die durch Kre- Antwort auf eine Kleine Anfrage von uns keinen ditverkäufe aufgeworfenen Fragen bereits Eingang Handlungsbedarf sah, obwohl sie gesagt hat - das in das laufende Gesetzgebungsverfahren zum Risi- war damals der Sachstand -, dass das Risikobegren- kobegrenzungsgesetz gefunden haben, welches zungsgesetz gar keinen Vorschlag macht, um diese derzeit von den Bundestagsfraktionen beraten wird. Dinge zu verändern und zu heilen. Die Bundesjustizministerin hat sich bereits im De- (Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE zember 2007 dahin gehend geäußert. Der Finanz- GRÜNEN]: Hört, hört !) ausschuss des Deutschen Bundestages hat sich ge- rade in der letzten Woche im Rahmen einer Exper- Inzwischen hat der Finanzausschuss im Bundestag tenanhörung damit auseinandergesetzt. Eine Bun- getagt. Es gab eine Anhörung. Jetzt sind scheinbar desratsinitiative ist deshalb meines Erachtens ent- auch die Politikerinnen und Politiker in Berlin auf- behrlich geworden. Aus diesem Grund ist auch gewacht. Zumindest hat die Bundesjustizministerin nachvollziehbar, dass die Landesregierung in ihrer erste konkrete Vorschläge gemacht und Handlungs- Antwort auf die Kleine Anfrage der Kollegin Hei- bedarf erkannt. nold die Einleitung einer Bundesratsinitiative ver- (Günter Neugebauer [SPD]: Sehr gut!) neint. 5608 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Tobias Koch)

Zum Inhalt des Antrages ist zunächst einmal festzu- - Sie merken, es ist die letzte Presseüberschrift von stellen, dass die Veräußerung von Krediten grund- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN -, sind eher dazu an- sätzlich von deutschen Gerichten nicht beanstandet getan, Angst und Schrecken weiter zu verbreiten, wird. Der Bundesgerichtshof hat im Februar letzten als sich hier verantwortungsbewusst mit einem er- Jahres entschieden, dass Kreditverkäufe im Ein- kannten Problem auseinanderzusetzen. klang mit dem Bankgeheimnis stehen. Das OLG (Beifall bei der CDU) Schleswig hat im Hinblick auf den Kreditverkauf der Sparkasse Südholstein geurteilt, dass eine Un- Das beste Mittel gegen Verunsicherung besteht dar- gleichbehandlung des Sparkassensektors unzulässig in, für mehr Information und Transparenz zu sor- sei. gen. Dazu gehört erstens, dass Kreditnehmer schon bei Aufnahme des Kredites ausdrücklich darauf (Wolfgang Kubicki [FDP]: Nee, nee, nee!) hingewiesen werden, dass ein späterer Verkauf des Des Weiteren ist festzustellen, dass die Veräuße- Kredites gegebenenfalls möglich ist. Zweitens ist es rung von Krediten international üblich und - was erforderlich, dass Kreditnehmer bei einem Verkauf noch viel entscheidender ist - volkswirtschaftlich unverzüglich über den neuen Vertragspartner infor- sinnvoll ist. Den Banken gelingt es auf diese Weise, miert werden. ihre Bilanzen zu entlasten, da jeder gewährte Kredit Um eine Verwertung der Grundschuld und eine mit Eigenkapital zu unterlegen ist. Auf dem Wege damit verbundene Zwangsvollstreckung in den des Kreditverkaufs verschaffen sich die Banken Fällen auszuschließen, in denen der Kreditnehmer neue Spielräume und erfüllen damit ihre Kreditbe- seinen Zahlungsverpflichtungen nachgekommen reitstellungsfunktion für die deutsche Volkswirt- ist, erscheint mir eine gesetzliche Klarstellung er- schaft. forderlich. Die Grundschuld darf nicht auf die zwi- Ferner ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den schen Kreditnehmer und Bank abgeschlossene Si- veräußerten Krediten ganz überwiegend um notlei- cherungszweckerklärung übertragen werden. Auch dend gewordene Problemkredite handelt, bei denen ein Kreditkäufer muss an die vertragliche Ver- der Kreditnehmer seinen Zahlungsverpflichtungen pflichtung gebunden sein, die Grundschuld nur bei nicht nachgekommen ist. In diesen Fällen rühren Zahlungsverzug zu verwerten, und zwar nur in dem die vom Kreditnehmer zu tragenden Konsequenzen Umfang, in dem der Kredit zu diesem Zeitpunkt somit nicht aus dem Kreditverkauf, sondern aus der noch nicht getilgt ist. von ihm begangenen Vertragsverletzung her. (Vereinzelter Beifall bei CDU und SPD - Ich glaube, diese Vorbemerkungen machen deut- Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich, dass kein Anlass dafür besteht, Kreditverkäufe NEN]: Ein Anfang!) grundsätzlich infrage zu stellen, sondern dass es nur Für durchaus prüfenswert halte ich auch den Vor- darum gehen kann, unerwünschte Auswüchse und schlag, im Falle des Kreditverkaufs ein Sonder- Nebenwirkungen gesetzlich zu begrenzen. Solche kündigungsrecht für Kreditnehmer einzuführen. unerwünschten Auswirkungen bestehen dann, wenn Ich glaube, das wäre eine angemessene Reaktion, bei Kreditnehmern, die für ihren Kredit immer ord- wenn sich der Kreditgeber aus der geschlossenen nungsgemäß Zins und Tilgung gezahlt haben, eine Vertragspartnerschaft, die auch ein Vertrauensver- Zwangsvollstreckung erfolgt und die vom Kredit- hältnis darstellt, zurückzieht. nehmer gestellte Sicherheit wie zum Beispiel eine Grundschuld verwertet wird. Wenn solche Fälle Daneben finden sich im Antrag von BÜNDNIS vorkommen, ist in der Tat die Politik zum Handeln 90/DIE GRÜNEN noch deutlich weiter gehende aufgefordert. Forderungen. So sollen Kreditverkäufe nur mit aus- drücklicher Genehmigung des Kreditnehmers mög- Allerdings sollten wir als Politik auch darauf ach- lich sein. Außerordentliche Kündigungsrechte des ten, dass wir die entstandene Verunsicherung bei Kreditgebers sollen abgeschafft werden und den Verbrauchern nicht noch weiter schüren. Rei- schließlich sollen Banken gezwungen werden, Kre- ßerische Forderungen nach dem Motto: „Häusle- dite anzubieten, bei denen ein späterer Verkauf aus- bauer dürfen nicht von internationalen Kredithaien geschlossen ist. Diese Forderungen finden nicht die geschluckt werden“ Zustimmung meiner Fraktion. Sie sind undifferen- (Beifall der Abgeordneten Monika Heinold ziert und unterscheiden nicht zwischen notleidend [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und ordentlich bedienten Krediten und sie hätten schwerwiegende volkswirtschaftliche Konsequen- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5609

(Tobias Koch) zen, deren Auswirkungen die jetzt entstandenen samer vorgehen, können Abwicklungsgesell- Probleme bei Weitem übersteigen würden. schaften ihre beziehungsweise die Interessen ihrer Auftraggeber bei den Verhandlungen Wir werden dies in den Ausschussberatungen gern und im Falle des Scheiterns bei der Zwangs- näher erläutern. Die Ausschussüberweisung an den vollstreckung offener durchzusetzen versu- Innen- und Rechtsausschuss ist bereits beantragt. chen." Ich schlage vor, mitberatend den Finanzausschuss mit aufzunehmen. Das sind sehr offene Worte, die deutlich machen, dass die Interessen der privaten Immobilienbesitzer (Beifall bei der CDU) bei solchen Geschäften auf der Strecke bleiben sol- len. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, un- Vizepräsidentin Ingrid Franzen: terstützen wir das Vorhaben der Grünen, den Ver- Ich danke Herrn Abgeordneten Koch. - Bevor wir braucherschutz an dieser Stelle zu stärken. in der Rednerliste fortfahren, möchte ich auf der (Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE Besuchertribüne Mitglieder des Motorsportclubs GRÜNEN) Hohenwestedt, Studierende der CAU Kiel - WiPo- Fachschaft - und Jugendliche des Interact Clubs It- Denn Kreditnehmer entscheiden sich gezielt für ei- zehoe begrüßen. - Seien Sie uns alle sehr herzlich ne Bank und sind auch oft bereit, für eine Vor-Ort- willkommen! Betreuung durch ihre Hausbank teurere Konditio- nen in Kauf zu nehmen. Durch dieses fast persönli- (Beifall) che Verhältnis entsteht auch ein Vertrauensverhält- Für die SPD-Fraktion hat nun Herr Abgeordneter nis. Ein Forderungsverkauf missachtet jedoch die- Thomas Rother das Wort. ses Vertrauensverhältnis und das Recht auf freie Wahl des Vertragspartners. Die Möglichkeit einer Thomas Rother [SPD]: Anschlussfinanzierung wird in der Regel verbaut, insbesondere dann, wenn nicht Banken, sondern Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Finanzinvestoren die neuen Gläubiger sind. und Kollegen! Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN greift mit ihrem Antrag zur Verbesse- Und - da soll man sich nichts vormachen - Kredit- rung des Schutzes von Immobilieneigentümern ein nehmer sind sich beim Vertragsabschluss meist erst seit wenigen Jahren vermehrt auftretendes Phä- nicht bewusst, dass ihre Kredite möglicherweise nomen am deutschen Finanzmarkt auf. Fast täglich verkauft werden können. Welche Bank weist über gibt es dazu neue Meldungen, aber nicht alle diese die Allgemeinen Geschäftsbedingungen hinaus Meldungen geben jeden Sachverhalt richtig wieder schon darauf hin? Und welcher Kreditnehmer ver- und dies gilt insbesondere dann, wenn es um die steht schon den Inhalt einer Sicherungsabrede? Sparkassen geht. Des Weiteren sind bei einer Forderungsabtretung Im Bereich der Wirtschaft ist der Forderungsver- Datenschutz und Bankgeheimnis gefährdet. Denn kauf, das sogenannte Factoring, ein übliches Ver- welcher Forderungserwerber will sich nicht über fahren zur Unternehmensfinanzierung. Hier stehen seine neuen Schuldner informieren? - Leider hat der den Kreditnehmern jedoch über eine geschickte Bundesgerichtshof das im vergangenen Jahr im Wahl der Unternehmensrechtsform Möglichkeiten Sinne der neuen Gläubiger entschieden. Das ist un- zur Begrenzung der privaten Haftung zur Verfü- ter Verbraucherschutzgesichtspunkten unbefriedi- gung. Beim Verkauf privater Immobilienkredite ist gend; es besteht also ein gesetzlicher Korrekturbe- die Sachlage schon deshalb anders, weil es sich darf. Diese Regelungsnotwendigkeit müsste nicht häufig um die einzige Großinvestition im Leben ei- nur für die Verbraucher, sondern auch für die Ban- ner Privatperson mit voller persönlicher Haftung ken von Belang sein. Denn auch sie können kein handelt. Interesse an dauerhaft negativen Schlagzeilen ha- ben. Ein wesentliches Verkaufsmotiv der Banken hat die Deutsche Bank im vergangenen Jahr so beschrie- Das öffentliche Bekenntnis der Förde-Sparkasse ben: zum Verzicht auf den Verkauf von privaten Im- mobilienkrediten - so stand es in den „Kieler ,,Während Banken im Allgemeinen und vor- Nachrichten“ vom 24. Januar - macht das offen- wiegend regional tätige Institute im Besonde- sichtliche Ausmaß der Verunsicherung der Immobi- ren Rücksicht auf ihren Ruf nehmen und des- lienbesitzer gegenüber ihren Hausbanken deutlich. halb bei der Abwicklung von Krediten behut- 5610 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Thomas Rother)

Mit dem Risikobegrenzungsgesetz, das zurzeit im werden kann, dass der Traum vieler Menschen von Bundestag beraten wird, scheint diese Regelung den eigenen vier Wänden zum Albtraum wird. nicht zu erfolgen, obwohl sich einige Sachverstän- (Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dige und sogar die Bundesjustizministerin in der NEN und SSW) Anhörung in der vergangenen Woche im Finanz- ausschuss des Bundestages dafür ausgesprochen ha- ben. Allerdings sind wir noch nicht am Ende der Vizepräsidentin Ingrid Franzen: Diskussion angelangt. Ich danke Herrn Abgeordneten Thomas Rother. - Aus meiner Sicht geht es vor allem darum, zum Für die FDP-Fraktion hat nun deren Fraktionsvor- einen die Banken zu verpflichten, ihre Kunden aus- sitzender Wolfgang Kubicki das Wort. drücklich über die Möglichkeiten von Kreditver- käufen im abzuschließenden Kreditvertrag und Wolfgang Kubicki [FDP]: nicht nur in den Allgemeinen Geschäftsbedingun- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen zu informieren, und zum anderen die Banken Erlauben Sie mir einige Vorbemerkungen, weil mir anzuhalten, speziell Kredite anzubieten, die ein Ab- bestimmte unterschwellige Dinge so langsam auf tretungsverbot vorsehen. Dann können die Kunden den Geist gehen. selbst entscheiden, wie wichtig ihnen der Aus- schluss von Forderungsabtretungen ist. Finanzinvestoren sind nicht per se böse. Herr Kol- lege Neugebauer hat händeringend gelobt, dass Flo- (Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE wers wesentliche Anteile der HSH Nordbank ge- GRÜNEN) kauft hat, und ich möchte auch daran erinnern, dass Genauso sollte ein Abtretungsverbot an Nicht-Ban- unsere Fachklinika an eine Gesellschaft verkauft ken eingeführt werden. Dann hätten wir das Pro- wurde, die ihren Sitz auf den Cayman Islands hat. blem mit den Finanzdienstleistern ausgeklammert. (Dr. Heiner Garg [FDP]: Mit den Stimmen (Beifall der Abgeordneten Monika Heinold von Frau Heinold!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Anke Also hier so zu tun, als wären relativ normale Vor- Spoorendonk [SSW]) gänge im Wirtschaftsleben per se böse, weil be- Des Weiteren müssten wir ein befristetes Sonder- stimmte Beteiligte involviert sind - - kündigungsrecht für Kreditnehmer einführen. (Rolf Fischer [SPD]: Das hat nichts mit dem (Beifall der Abgeordneten Monika Heinold Thema zu tun!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) - Herr Fischer, ich glaube, bedauerlicherweise ver- Denn Schuldner und Gläubiger müssen sich auf stehen Sie davon relativ wenig. Deshalb machen gleicher Augenhöhe begegnen können; das ist zur- Sie auch diesen Zwischenruf. zeit nicht der Fall. (Dr. Ralf Stegner [SPD]: Gott sei Dank ver- Außerdem ist jede Form des Forderungsverkaufs stehen Sie etwas davon!) aus meiner Sicht mit einer Kündigung des Vertrags- Worüber wir heute reden, ist ein Sachverhalt, der verhältnisses gleichzusetzen. alles andere als theoretisch oder abstrakt ist. Es geht (Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für viele tausend Bürger um die Tatsache ihrer Ver- NEN und SSW) unsicherung, weil sie davon betroffen sind, dass ihr Wohnungseigentum, das sie sich kreditfinanziert Das stimmt, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum zur Altersversorgung angeschafft haben, möglicher- Teil mit den Forderungen der Grünen für eine Bun- weise verloren geht. In den Medien kursieren Be- desratsinitiative überein, sollte aber in den Aus- richte über Zwangsversteigerungen, die in die schussberatungen präzisiert werden. Wege geleitet wurden, weil die Hausbank die ent- Nummer 1 des Grünen-Antrags ist aus meiner Sicht sprechenden Kredite an Dritte - oftmals Finanzin- mehr Begründung als Beschlussgrundlage, weil es vestoren - weiterverkauft hatte und diese die Kredi- zum Beispiel wenig nützt, den rechtlichen Charak- te wiederum nun bedient haben wollten. ter einer Grundschuld hier festzustellen. Wir kön- Offenbar haben die Banken dabei nicht nur Kredite nen uns aber unabhängig davon sicherlich sehr weiterverkauft, bei denen die Kreditnehmer nicht schnell über Wege einig werden, wie verhindert mehr in der Lage waren, die Kredite zu bedienen, sondern auch solche Kredite, die ordnungsgemäß Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5611

(Wolfgang Kubicki) und regelmäßig von den Darlehensnehmern bedient eine Vorfälligkeitsentschädigung für die Restlauf- wurden. Diese Praxis ist aus meiner Sicht proble- zeit des Kredites zu verlangen. Das ist ziemlich ko- matisch. Allerdings ist sie nach derzeitiger Rechts- misch. lage juristisch nicht zu beanstanden, denn es wird Schließlich ist über die Frage diskutiert worden: schlicht die Grundschuld verkauft, die während der Wollen wir eine gesetzliche Zweckbindung der gesamten Kreditlaufzeit in voller Höhe bestehen Grundschuld an das ausgereichte Darlehen? Die bleibt. Die sogenannte Sicherungszweckerklärung, meisten Kreditnehmer hätten das Problem heute die die Tilgungen mitberücksichtigt, wechselt hin- nicht, hätten sie eine Hypothek statt einer Grund- gegen den Besitzer nicht, jedenfalls nicht zwangs- schuld. Diese kann nicht mit veräußert werden. läufig. Frau Heinold, das Problem ist ein anderes. Jedes In diesem Zusammenhang finde ich es bedauerlich, Mal, wenn Sie einen neuen Kredit beantragen oder dass uns die Sparkassenverbände wieder nur mit einen Wechsel haben, müssen Sie entweder eine halben Wahrheiten beglücken, denn die Erklärung, neue Grundschuld oder eine neue Hypothek eintra- sie würden den Käufern, an die sie die Kredite wei- gen lassen. Das ist natürlich mit zusätzlichen Kos- terverkaufen, sozusagen die Sicherungszweckerklä- ten beim Notar und beim Grundbuchamt verbun- rung per Vertrag mit aufs Auge drücken, mag rich- den. Man muss wissen, es wird in jedem Fall teurer. tig sein. Dies schafft jedoch trotzdem keine unmit- Ein Schutz ist aber wahrscheinlich zum Nulltarif telbare Beziehung zwischen den neuen Inhabern nicht zu haben. der Darlehensforderung und den Kunden der ehe- maligen Bank und nur darauf kommt es an. Wir als FDP-Fraktion fragen uns natürlich auch, wo die Landesregierung in dieser Frage geblieben ist, Der Finanzinvestor als Aufkäufer der Grundschuld denn bei den Diskussionen, die wir im Ausschuss oder ein Dritter kann - unabhängig davon, was uns hatten, hieß es immer, wir warten die Entscheidung die Sparkassen- und Giroverbände sagen - vom der Gerichte ab. Nach meiner Einschätzung ist das Kreditnehmer die Grundschuld in voller Höhe ein- zu wenig. fordern beziehungsweise sich in entsprechender Höhe aus der Grundschuld Befriedigung verschaf- Hier möchte ich zum Sonderfall der Sparkassen fen. kommen. Die Sparkassen sind öffentlich-rechtliche Institute. Solange sie dies sind, heißt dies auch, dass Nach Auffassung auch meiner Fraktion ist eine Än- sie die Daten ihrer Kunden - ich betone ausdrück- derung der bestehenden Rechtslage erforderlich. lich - an private Dritte nur dann weitergeben dür- Am vergangenen Mittwoch gab es im Finanzaus- fen, wenn die Kunden vorher zugestimmt haben. schuss des Deutschen Bundestages eine ausführli- Die Sparkassen haben einen öffentlichen Auftrag, che Anhörung zu dieser Frage. Alle Beteiligten ha- unterliegen dem Regionalprinzip, propagieren ben erklärt, dass sie dieses Problem gesehen haben selbst ihre Gemeinwohlorientierung und müssen und diesem Problem rechtlich entsprechend Rech- diese auch erfüllen. nung tragen wollen. (Beifall bei der FDP sowie vereinzelt bei Die Regelung sollte aus unserer Sicht mindestens SPD und CDU) folgende Punkte beinhalten: Vor einem Weiterver- kauf an einen Dritten - dabei ist es völlig egal, ob Herr Innenminister Hay, Sie sind neu im Amt. Ich innerhalb der Bankenfamilie oder des Sparkassen- frage Sie natürlich, warum das Land Schleswig- verbundes oder an einen Finanzinvestor - muss die Holstein - warum das Innenministerium - nicht et- Hausbank den Kreditnehmer informieren und sich was Ähnliches gemacht hat wie das bayerische in aller Regel seine Zustimmung einholen. Dies gilt Staatsministerium des Inneren. Dort hat man am zumindest dann, wenn es sich nicht um notleiden- 20. Juli 2007 einen Erlass herausgegeben, in dem de Kredite handelt. klargestellt wird, dass man den Verkauf von Kre- diten mit dem öffentlichen Auftrag der Sparkassen Der Darlehensnehmer muss ferner bei Verkaufsab- grundsätzlich für unvereinbar hält. So etwas hätte sicht das Recht erhalten, die valutierende Verbind- ich mir auch gewünscht, vor allem auch eine Mah- lichkeit ohne Vorfälligkeitsentschädigung abzulö- nung an unsere Sparkassen in Schleswig-Holstein, sen. Dies sage ich ausdrücklich. Mir sind Fälle be- die - zumindest in zwei Fällen - in besonderer Wei- kannt, von denen ich auch einige auf dem Tisch se zu der heutigen Debatten beigetragen haben. hatte, bei denen die Hausbank immer dann, wenn Wer aus Angst vor den zu Beaufsichtigenden die entsprechende Neufinanzierungen hinterlegt wer- Aufsicht verweigert, ist als Aufsicht schlicht unge- den konnten, auf die glorreiche Idee gekommen ist, eignet. 5612 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Wolfgang Kubicki)

Ich wünsche mir, dass wir über den Antrag der Aus Sicht der Banken und Sparkassen handelt es Grünen im Finanzausschuss gründlich diskutieren. sich bei diesen Forderungsverkäufen um eine Opti- Das müssen wir auch, weil er handwerklich mierung ihrer Geschäfte, da sie von den Finanzin- schlecht und in Teilen sogar falsch ist, Frau Kolle- vestoren meistens noch einen guten Preis für die gin Heinold. Er ist in Teilen rechtlich falsch. Von notleidenden Kredite bekommen. Für die Betroffe- der Intention her ist er in Ordnung. Wir sollten aber nen hat sich dies allerdings sehr häufig zu einem nur etwas verabschieden, was wir im Zweifel auch Albtraum entwickelt, da ihnen durch das Gebaren vertreten können. Ich wünsche mir ebenso, dass wir der neuen Kreditnehmer eine Überschuldung zu einem einvernehmlichen und zu einem über die droht. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Ent- Parteigrenzen hinweggehenden Ergebnis kommen, scheidung zu einem Kauf mit der Finanzierung ei- welches den Interessen der Menschen entspricht ner Immobilie immer noch eine Entscheidung für und den Finanzplatz Deutschland nicht grundsätz- das ganze Leben ist und dass die jeweiligen Kredite lich ruiniert. über Jahrzehnte laufen. Dabei kann man sich aus gesellschaftspolitischer Sicht schon fragen, ob diese Den Sparkassen im Lande sage ich auch von dieser deutsche Häuslebauerkultur angesichts der Mobili- Stelle aus ganz deutlich: Wer erklärt, er müsse sich tät und der Flexibilität von Menschen heute sowohl im Wettbewerb verhalten wie jeder andere Private, hinsichtlich ihres Arbeitsplatzes als auch hinsicht- der hat den Anspruch verloren, unter dem öffent- lich der Situation im privaten Bereich vor dem Hin- lich-rechtlichen Dach seine Geschäfte zu betreiben. tergrund der hohen Scheidungsraten überhaupt Wer wie ein Privater handelt, soll dies auch in einer noch zeitgemäß ist. privaten Rechtsform tun. Das soll heißen: Halten die Sparkassen in Schleswig-Holstein an ihrer (Beifall beim SSW und vereinzelt bei Rechtspolitik fest, ist für uns eine Privatisierung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unausweichlich, weil es für die jetzigen Privilegien Die Kreditinstitute verdienen aber sehr gut an den keine Rechtfertigung mehr gibt. traditionellen Bankgeschäften mit Immobilienbesit- (Beifall bei der FDP) zern und halten daher auch an den alten Finanzie- rungsmodellen fest. Vizepräsidentin Ingrid Franzen: So verstehe ich zum Beispiel nicht, dass die Banken Ich danke Herrn Abgeordneten Kubicki. - Für den und Sparkassen bei der frühzeitigen Kündigung von SSW im Landtag hat die Vorsitzende, Frau Abge- Baukrediten auch heute noch Vorfälligkeitszinsen ordnete Anke Spoorendonk, das Wort. nehmen. In unserem nördlichen Nachbarland kennt man dieses Geschäftsgebaren nicht. Dort sind der Anke Spoorendonk [SSW]: häufige Kauf und der Verkauf von Immobilien gang und gäbe und keine einmalige Sache. Das sa- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ge ich jedoch nur nebenbei. Seit 2005 häufen sich in den Medien bekanntlich Berichte über Banken und leider auch Sparkassen, Natürlich müssen die Immobilienbesitzer in der die Kredite von Immobilienbesitzern in großen Pa- Bundesrepublik beschützt werden. Wir haben be- keten an - häufig auch ausländische - Finanzinve- reits bei der Diskussion um die Änderung des Spar- storen verkaufen. Diese Forderungsverkäufe wer- kassengesetzes darauf hingewiesen, dass auch die den oft ohne Zustimmung der jeweiligen Kredit- öffentlich-rechtlichen Sparkassen von diesem ver- nehmer getätigt oder man vergisst, bei Vertragsab- hängnisvollen Trend erfasst sind. So hat die Spar- schluss auf entsprechende Klauseln hinzuweisen. kasse Südholstein im letzten Jahr notleidende Kre- ditforderungen in Höhe von 123 Millionen € an den Für die Kreditnehmer sind die Folgen zum Teil gra- US-Beteiligungsfonds Lone Star verkauft. Der vierend. Zum einen gehen diese Finanzinvestoren SSW hat klargemacht, dass solche Forderungsver- beim Eintreiben der gekauften Kreditforderung sehr käufe aus unserer Sicht nichts mit gemeinwohlori- rüde vor. Zum anderen leiten sie in Bezug auf die entierten Sparkassen zu tun haben dürfen. Grundstücke der Kreditnehmer rasch Zwangsvoll- streckungen ein. Das Fatale ist, dass bisher selbst (Vereinzelter Beifall bei SPD und BÜNDNIS solche Kreditnehmer betroffen waren, die stets ih- 90/DIE GRÜNEN) ren vertraglichen Verpflichtungen nachgekommen Ich denke, man muss es klar sagen: Ansonsten stellt sind und regelmäßig Zins und Tilgung bedient ha- man das ganze System von innen her infrage. Wir ben. meinen daher weiterhin, dass der Sparkassen- und Giroverband Schleswig-Holstein dafür sorgen Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5613

(Anke Spoorendonk) muss, dass seine Mitglieder künftig solche Ge- Dietrich Austermann, Minister für Wissenschaft, schäftspraktiken nicht mehr anwenden. Ansonsten Wirtschaft und Verkehr: verlieren die öffentlich-rechtlichen Sparkassen wei- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich terhin an Legitimität. verstehe das Interesse der Abgeordneten, die Kun- (Günter Neugebauer [SPD]: Sehr richtig!) den von Banken dagegen zu schützen, dass durch Kreditverkäufe ihre Rechtsposition geschmälert Doch selbst dann, wenn sich alle Sparkassen in Zu- wird. Man muss aber sagen, dass wir uns in einem kunft daran halten werden, bleibt es weiterhin eine Bereich bewegen, wie es der Abgeordnete Koch Tatsache, dass diese Forderungsverkäufe zurzeit deutlich gemacht hat, in dem auf der einen Seite für rechtlich nicht zu beanstanden sind und daher auf den mündigen Bürger Vertragsfreiheit besteht und jeden Fall von den privaten Geschäftsbanken weiter auf der anderen Seite der Verbraucherschutz und betrieben werden. Deshalb unterstützt der SSW die die Notwendigkeit bestehen, Schutzvorschriften Forderung der Grünen, dass wir eine bundesgesetz- auszudehnen. Ich glaube, dass es in einem ordent- liche Regelung benötigen, die diese Forderungs- lich abgewickelten Vertragsverhältnis grundsätzlich verkäufe nur zulässt, wenn der betroffene Kredit- keine Probleme gibt. Da gibt es, wie der Abgeord- nehmer ausdrücklich zustimmt. nete Kubicki besonders deutlich machen kann, (Beifall bei der SPD) Schutzvorschriften nach der ZPO gegen unrechtmä- Diese Zustimmung darf nicht nur durch eine ent- ßige Zwangsvollstreckung. Es gibt auch andere sprechende Standardformulierung im Kreditvertrag Mittel und Wege, die genutzt werden können. ersetzt werden. Ich habe mir die Fälle angesehen, die in der Öffent- Auch den anderen Punkten des Antrags der Grünen lichkeit diskutiert worden sind. Ich bin weit davon stehen wir positiv gegenüber. Für die Ausschuss- entfernt, den Sparkassen im Lande einen generellen überweisung gilt dies allemal. Allerdings sollten Vorwurf zu machen, dass sie mit ihren Kunden wir uns im Ausschuss intensiv mit den einzelnen nicht anständig umgehen. Das wäre nicht gerecht- Forderungen auseinandersetzen. So ist mir zum fertigt. Beispiel nicht klar, ob es überhaupt rechtlich zuläs- (Beifall bei der CDU) sig ist, dass Banken und Sparkassen in Zukunft Bei den Fällen, die öffentlich diskutiert worden auch Kredite anbieten sollen, die nicht weiterver- sind, manchmal auch aufgrund leichtfertiger Re- kauft werden dürfen. Hier müsste noch einiges ge- cherchen der Medien, war der Kreditverkauf das klärt werden. letzte Mittel, gegen säumige Schuldner vorzugehen, Für den SSW bleibt es aber dabei: Die Landesregie- weil man keine Einigung erreichen konnte. Das rung hat auch in diesem Bereich eine Verantwor- sind insbesondere die Fälle, die einer Sparkasse im tung. Darum, so meine ich, ist es richtig, auch im südlichen Holstein angelastet werden sollen. Ausschuss zu hinterfragen, ob das Risikobegren- Aber ich bestreite überhaupt nicht, dass es ruppige zungsgesetz wirklich auch das trifft, was wir mit Unternehmen gibt, die Forderungen kaufen und diesem Antrag erreichen wollen. Ich meine, zu sa- dann versuchen, diese Forderungen massiv durch- gen, wir brauchen keine Bundesratsinitiative, ist zu zusetzen. Dagegen gibt es auch Schutzvorschrif- einfach. Wir müssen dafür sorgen, dass Immobili- ten. Eine Forderung, die nicht besteht, durchzuset- enbesitzer vor den Folgen der Verkäufe ihrer Kredi- zen, dürfte in Deutschland sehr schwierig sein, auch te geschützt werden. Das muss das Ziel unserer Be- wenn es auf der Basis einer Grundschuld passiert. ratung sein. Ich meine, das sollte man vorweg sagen, bevor man (Beifall beim SSW und bei BÜNDNIS 90/ sich mit der Frage befasst, wie man an der einen DIE GRÜNEN) oder anderen Stelle Maßnahmen ergreifen kann, auch gesetzgeberische Maßnahmen mit Unterstüt- Vizepräsidentin Ingrid Franzen: zung der Landesregierung, um den Schutz von Bür- gern an der Stelle zu erweitern, wo der Schutz nicht Ich danke der Abgeordneten Spoorendonk. - Das ausreichend ist. Wort für die Landesregierung hat nun Herr Wirt- schaftsminister Dietrich Austermann. Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, das manches Unter- nehmen durch sein Geschäftsgebaren dazu beiträgt, Menschen in die Verschuldung zu treiben. Wenn Sie beispielsweise in der Werbung tagein, tagaus 5614 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Minister Dietrich Austermann) hören „heute kaufen, 2010 bezahlen“, dann kann fallrisiken schützen will, das Eigenkapital entlastet man sagen: Mündige Bürger wissen, wie man damit und Möglichkeiten für neue Kredite schafft, woran umzugehen hat. Aber wir haben eben Menschen, ja auch ein Interesse besteht, dass man ein Unter- die offensichtlich an der einen oder anderen Stelle nehmen wieder in die Lage versetzt, Kredite auszu- nicht in der Lage sind, die Dinge zu regeln, ohne geben. dass sie öffentliche oder staatliche Unterstützung Es geht nach der Meinung der Landesregierung also bekommen. Deswegen sage ich, es darf nicht sein, nicht darum, um das deutlich zu machen, das Kind dass eine junge Familie über Nacht ihr Haus ver- mit dem Bade auszuschütten und den schnellen liert, obwohl sie die Kreditraten immer bezahlt hat. Griff in die Regulierungskiste zu tun. Wir müssen Es darf nicht sein, dass mittelständische Unterneh- ein durchdachtes, ausgewogenes Paket machen. men wegen eines Kredites plötzlich vor dem Nichts stehen, obwohl der Kredit immer bedient wurde Im Finanzausschuss des Bundestages ist das Thema und das Ganze ordnungsgemäß abgewickelt worden erörtert worden, nach meiner Information durchaus ist. Ich lasse es bei dem Hinweis auf die Medienbe- kontrovers. Wir könnten uns folgende Punkteverän- richte bewenden. derungen des Kreditrisikobegrenzungsgesetzes vorstellen: Pflicht des Darlehensgebers zum Ange- Es liegt im Interesse der Kreditwirtschaft, dafür bot nicht abtretbarer Darlehensverträge, Verpflich- zu sorgen, dass solche Missstände bekämpft wer- tung des Darlehensgebers zu Folgeangeboten oder den. Das Geschäft hat mit Vertrauen zu tun. Das Hinweis auf Nichtverlängerung des Vertrages, leidet schwer, wenn Kreditforderungen an Adressen Pflicht zur Anzeige der Abtretung oder zum Wech- verkauft werden, die lediglich an der Verwertung sel des Darlehensgebers, Erweiterung des Kündi- der Kreditsicherheiten interessiert sind und nicht an gungsschutzes für Darlehensnehmer bei Immobili- einem ordentlichen Kreditverhältnis. Ich glaube, da ardarlehen, Sonderkündigungsrecht des Darlehens- sind wir alle einer Meinung. nehmers ohne Vorfälligkeitsentschädigung - der Ich will ein Beispiel für einen Fall nennen, der mir Abgeordnete Kubicki hat auch darauf hingewie- vor einigen Jahren öffentlich untergekommen ist. sen -, nicht abtretbare Unternehmenskredite, ver- Die Bundesanstalt für Arbeit hat in einem Milliar- schuldungsunabhängiger Schadensersatzanspruch denvolumen Rückforderungen von Arbeitslosen- bei ungerechtfertiger Vollstreckung aus der Urkun- geld an ein anderes Unternehmen übertragen. Jeder de über die Erklärung der Unterwerfung unter die weiß, dass so etwas in der Weise geschieht, dass ein sofortige Zwangsvollstreckung. Abschlag auf die eigene Forderung vorgenommen Ich meine, das sind einige Anregungen, die wir im wird und dass man das verkauft, um jemand ande- Ausschuss miteinander diskutieren sollten, um dann rem die Möglichkeit zu geben, schneller zu der For- zu sehen, ob es notwendig ist, im Bundesrat für den derung zu kommen. Man kriegt damit sein Geld. Schutz der Kreditnehmer initiativ zu werden, die Wir sollten also nicht so tun, als sei uns das alles ungerechtfertigt in eine schwierige Situation gera- nicht bekannt, als sei das Geschäft in Deutschland ten. Wir haben uns jedenfalls vorgenommen, im nicht erlaubt. Rahmen des Bundesratsverfahrens zu prüfen, ob Der Markt reagiert bereits auf die Verunsicherung Ergänzungs- oder Änderungsvorschläge über das der Kunden. So hat die Commerzbank als erste hinaus, was ich gesagt habe, notwendig sind. So Bank in Deutschland mitgeteilt, dass sie zukünftig kommen wir, glaube ich, schneller zu einem Ergeb- Kredite mit Verkaufsschutz anbieten will. Der nis, als wenn wir ein eigenes Gesetz machen und Markt bietet selbst Alternativen an; das ist gut. eigene Maßnahmen ergreifen. Wir wollen die Debatte aktiv gestalten, indem wir (Beifall im ganzen Haus) uns an der Diskussion beteiligen, die im Bundestag durch das Risikobegrenzungsgesetz eingeleitet wor- Vizepräsidentin Ingrid Franzen: den ist. Wir werden unsere Position im Zusammen- hang mit der Beratung im Bundesrat einbringen. Ich danke dem Herrn Minister. Weitere Wortmel- Aber der Kreditportfolio-Handel muss möglich dungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Bera- bleiben. Die Veräußerung von Krediten ist ein in- tung. Es ist Ausschussüberweisung beantragt wor- ternational übliches Mittel der Risikosteuerung, den, und zwar Überweisung des Antrages Drucksa- auch wenn es durch das Subprime-Desaster in den che 16/1806 federführend an den Innen- und USA und seine Folgen bis nach Deutschland dis- Rechtsausschuss und mitberatend an den Finanz- kreditiert worden ist. Es bleibt ein sinnvolles Instru- ausschuss. Wer so beschließen will, den bitte ich ment, wenn sich ein Kreditinstitut vor Kreditaus- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5615

(Vizepräsidentin Ingrid Franzen) um das Handzeichen. - Das ist einstimmig so ge- Union oder die Schaffung einer Verbindlichkeit der schehen. Grundrechtecharta und alle wesentlichen Struktur- reformen. Alle inhaltlichen Elemente des Verfas- Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 13: sungsvertrages, die auf eine Staatlichkeit der EU hindeuten könnten, sind dagegen nicht übernom- Der Vertrag von Lissabon men worden. Das war ja auch das wesentliche Ar- gument in der Diskussion in einigen Mitgliedstaa- Antrag der Fraktionen von CDU und SPD ten. Symbole der Union wie Europaflagge und Drucksache 16/1801 Europahymne werden daher im Vertrag von Lissa- Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das bon vermieden. Die Bundesrepublik hat aber mit 15 ist nicht der Fall. Mit diesem Antrag wird ein Be- weiteren Mitgliedstaaten zur Schlussakte erklärt, richt in dieser Tagung erbeten. Wer diesem Be- dass die Flagge, die Hymne, die Ode an die Freude, richtsantrag zustimmen will, den bitte ich jetzt um der Leitspruch „In Vielfalt geeint“, der Euro als sein Handzeichen. - Das ist so geschehen. Währung der Europäischen Union, der Europatag am 9. Mai für sie auch künftig als Symbole der Zu- Dann bitte ich Sie, lieber Herr Justiz-, Arbeits- und sammengehörigkeit der Menschen in der Europäi- Europaminister Uwe Döring, um den Bericht. schen Union und ihre Verbundenheit mit dieser zum Ausdruck bringen. Uwe Döring, Minister für Justiz, Arbeit und Euro- pa: Zur Vermeidung des Eindrucks einer Verfassung trägt auch bei, dass die Verbindlichkeit der Grund- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich rechtecharta durch einen Verweis im Vertrag er- darf vorweg sagen: Es war einer der amerikani- reicht wird. Auf Ausnahmen für Polen und das Ver- schen Verfassungsväter, der gesagt hat: Eine Ver- einigte Königreich möchte ich jetzt nicht eingehen. fassung muss kurz und in ihrem Sinn dunkel sein. Der vereinzelt zu vernehmende Einwand, es hande- Diese ist weder kurz noch dunkel in ihrem Sinn, le sich dabei in Wirklichkeit um alten Wein in neu- sondern sehr ausführlich. Deshalb bitte ich schon en Schläuchen, trifft also bedingt zu. Dennoch: Die jetzt um Nachsicht; aber Sie haben um den Bericht Europäische Union ist derzeit für eine Verfassung gebeten. noch nicht reif. Die „neue Verpackung“ hat sich (Heiterkeit) deshalb als notwendig erwiesen. Der Vertrag von Lissabon wurde von den Staats- Ob die Reformen in den Verträgen real die erhoffte und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten am Wirkung zeigen werden, bleibt abzuwarten. Inhalt- 13. Dezember letzten Jahres unterzeichnet. Der lich sind aus der Sicht der Landesregierung beson- nächste Schritt ist die Ratifizierung durch die Mit- ders folgende Regelungen von Bedeutung. gliedsstaaten. Das soll spätestens bis Ende 2008 er- Erstens. Ein wichtiges Element für die Parlamente folgen, damit der Vertrag zu Beginn des Jahres der Mitgliedstaaten stellt die Verstärkung des Sub- 2009 rechtzeitig vor den Wahlen zum Europäischen sidiaritätsmechanismus, das Frühwarnsystem, dar. Parlament in Kraft treten kann. Ein Referendum Bei Verdacht auf Verletzung dieses Grundsatzes über den Vertrag wird es voraussichtlich nur in Ir- können nationale Parlamente innerhalb von acht land geben. In allen anderen Mitgliedstaaten wer- statt bisher sechs Wochen Einspruch gegen Entwür- den die Parlamente die Vertragstexte ratifizieren, fe der EU-Gesetzgebung einlegen. Aber machen wie es übrigens in Ungarn bereits geschehen ist. wir uns nichts vor: Auch das ist eine ausgesprochen Zur grundsätzlichen Einordnung: Der Vertrag von kurze Zeit für Reaktionen, und wenn sich der Land- Lissabon beinhaltet die wesentlichen Reformen des tag noch mit einbringen will, wird das sehr schwie- Vertrages über die Verfassung von 2004, der ja be- rig und ist das sehr kurzfristig. Das Schwert ist kanntlich gescheitert ist - Sie wissen das - an den zwar etwas geschärft, aber unter gewissen Voraus- Referenden in Frankreich und in den Niederlanden. setzungen kann dies von der EU-Kommission auch wieder verworfen werden. Darauf, welche Mecha- Der Vertrag von Lissabon stellt daher keinen neuen nismen hierzu im Einzelnen erforderlich sind, einheitlichen Rechtsakt dar, sondern ist ein Ände- möchte ich hier nicht eingehen. rungsvertrag zu den bereits bestehenden Verträ- gen. Trotzdem bleiben aber Kernelemente des Ver- Zweitens. Die Rechte lokaler und regionaler Ge- fassungsentwurfs erhalten, so etwa die Verleihung bietskörperschaften werden nicht nur durch eine von Rechtspersönlichkeiten an die Europäische ausdrückliche Erwähnung im Rahmen des Schutzes der nationalen Identitäten, sondern auch durch ein 5616 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Minister Uwe Döring) eigenes Klagerecht des Ausschusses der Regionen soweit ein System der strikt gleichberechtigten Ro- bei Verletzung des Subsidiaritätsprinzips gestärkt. tationen. Dabei soll das demografische und geogra- fische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten Drittens. Die Kompetenzabgrenzung zwischen der zum Ausdruck kommen. Wie dies geschieht, wer- Europäischen Union und den Mitgliedstaaten wird den wir sehen. Die Verkleinerung der Kommission durch die Einführung von Kompetenzkategorien hingegen ist zu begrüßen. deutlich verbessert. Es gibt drei Kompetenzkatego- rien: ausschließliche, geteilte sowie Unterstüt- d) Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und zungs-, Koordinierungs- und Ergänzungskompeten- Sicherheitspolitik - „Außenminister“ darf er ja zen der Union. Nicht übertragene Zuständigkeiten nicht heißen - nimmt zugleich den Vorsitz im Rat verbleiben wie bisher bei den Mitgliedstaaten. der Auswärtigen Angelegenheiten wahr. Er ist zu- dem Vizepräsident der Kommission und wird von Kommen wir nun zu den institutionellen Reformen. einem europäischen auswärtigen Dienst unterstützt. Das wird am meisten diskutiert und wird wahr- Dieser Dienst wird sich aus Personal von EU-Kom- scheinlich auch ganz besondere Auswirkungen auf mission, Rat und Mitgliedstaaten zusammensetzen. die normale europäische Politik haben. Damit werden wir eine Antwort auf die berühmte a) Die Befugnisse des Europäischen Parlaments Frage erhalten, die seinerzeit Henry Kissinger ge- werden erheblich ausgebaut. So wird das Mitent- stellt hatte: Wenn ich in Europa jemanden anrufen scheidungsverfahren zum Regelfall. Hinzu tritt eine will, wie ist die Telefonnummer? Damit wollte er Erweiterung der Haushaltsbefugnisse sowie der darauf anspielen, dass es viele und nicht einen An- Mitwirkungsrechte, zum Beispiel bei der Wahl des sprechpartner gab. Jetzt haben wir demnächst je- EU-Kommissionspräsidenten, und das Europäische manden, der für die Außenpolitik zuständig ist. Es Parlament wird sich künftig bei einer Höchstzahl gibt also nunmehr die Telefonnummer für Amerika von 96 Sitzen pro Mitgliedsstaat aus 750 Mitglie- in Europa. dern zuzüglich seines Präsidenten zusammensetzen. (Dr. Heiner Garg [FDP]: 11833!) Sie wissen alle, welche Diskussionen geführt wer- den mussten, bis man überhaupt zu diesem Ergeb- - Ja, Sie haben sie, Herr Garg. Es hätte mich auch nis gekommen ist. Das war schwierig genug. Ich gewundert, wenn Sie sie noch nicht hätten. stelle mir vor, wir hätten solche Regelungen in (Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schleswig-Holstein. Gott sei Dank ist das nicht der Das ist die Auskunft!) Fall. - Sie brauchen häufiger die Auskunft, nicht wahr? b) Der Europäische Rat, der künftig Organstatus besitzt, wird statt der bisherigen halbjährlichen Ro- e) Das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit tation nun durch einen auf zweieinhalb Jahre ge- wird allgemeine Regel im Rat und tritt zum 1. No- wählten Präsidenten geleitet. Hierzu wird gerade ei- vember 2014 in Kraft. Entscheidungen der soge- ne Personaldiskussion geführt, und es wird gefragt, nannten doppelten Mehrheit kommen dann zustan- wer möglicherweise dafür in Frage kommt. Der de, wenn 55 % der Staaten, die gleichzeitig 65 % Präsident kann einmal wiedergewählt werden. Der der EU- Bevölkerung repräsentieren, zustimmen. Präsident des Europäischen Rats soll Kontinuität, Künftig wird es ein vereinfachtes Vertragsanpas- Zusammenhalt und Konsens im Europäischen Rat sungsverfahren geben, das heißt: Nicht mehr jede fördern. Änderung muss ratifiziert werden; vielmehr müssen Die Leitung der Fachministerräte dagegen wird wie die nationalen Parlamente widersprechen. Außer- bisher rotieren. Das heißt, das bisherige System der dem ist erstmals vorgesehen, dass ein Mitgliedstaat halbjährlichen Rotation mit Bildung von Trio-Präsi- auch wieder austreten kann. Zudem gibt es eine dentschaften wird fortgeführt werden. Reihe von Änderungen in Einzelpolitiken. Ich zähle sie jetzt nur auf. c) Die EU-Kommission wird verkleinert. Ihre Mit- gliederzahl wird ab 2014 auf die Anzahl verringert, Im Bereich der Verteidigung ist eine verstärkte Zu- die zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedstaaten ent- sammenarbeit möglich. Der Raum der Sicherheit, spricht. Das sind bei der gegenwärtigen Anzahl von der Freiheit und des Rechts werden vergemein- 27 Mitgliedstaaten 18 Kommissare einschließlich schaftet. Es gibt gemeinsame Regeln im Bereich des Kommissionspräsidenten und des Hohen Ver- der Energiepolitik, hier insbesondere im Bereich treters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. des Klimaschutzes und der Umweltpolitik, eine Die Verteilung auf die Mitgliedstaaten wird da- neue soziale Klausel, die sich mit dem Recht der durch natürlich erheblich komplizierter. Es gibt in- Gewährleistung eines angemessenen Sozialschutzes Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5617

(Minister Uwe Döring) beschäftigen wird sowie des Beschäftigungsniveaus Union sagen, was zu bedeutenden Firmen in Euro- und der Bekämpfung der allgemeinen sozialen Aus- pa wie zum Beispiel Nokia, die als Firmengrund- grenzung. satz bezüglich der sozialen Verantwortung schrei- ben - ich zitiere -: „Wir möchten zum Wohl der Ge- Ich darf ein Fazit ziehen. Die Landesregierung un- sellschaft, in der wir tätig sind, beitragen.“ und - ich terstützt diesen Vertrag von Lissabon nachdrück- zitiere weiter -: „Erfolg hat ein Geheimnis; bei No- lich. Er ist zwar ein Kompromiss der Europäischen kia ist das der Mensch“? Was sollte ich zur Euro- Union, aber auch ein Schritt nach außen, der erfor- päischen Union sagen, die eigentlich ein Instrument derlich ist. Europa wird weiter zusammenwachsen, der Hoffnung sein soll, aber stattdessen in Bezug und der Vertrag wird die EU sicherlich stärken. auf Bochum nicht in der Lage ist, Arbeitsplätze zu (Beifall des Abgeordneten Jürgen Weber sichern, ja sogar Finanzleistungen aus dem Struk- [SPD]) turfonds erbringt, die, über welche Wege und Ver- Deswegen begrüßen wir diesen Vertrag. Ich habe wendung auch immer, zum Verlust von Arbeitsplät- Ihnen die Grundzüge dargelegt. Ich hoffe, ich habe zen führen? das so getan, dass Sie das am späten Nachmittag Ich zitiere unseren Wirtschaftsminister - - noch einigermaßen aufnehmen konnten. Es ist im- mer ein schweres Stück Arbeit, sich mit diesen Ver- Vizepräsidentin Ingrid Franzen: fassungsfragen auseinanderzusetzen. In ihren Aus- wirkungen sind sie allerdings beachtlich. Deswegen Darf ich Sie unterbrechen? Erlauben Sie eine Zwi- danke ich Ihnen für Ihre Geduld und die Zeit, die schenfrage des Herrn Abgeordneten Wolfgang Ku- Sie mir gegeben haben. - Ich habe sogar noch ein bicki? wenig übrig. Manfred Ritzek [CDU]: (Beifall bei SPD und CDU) Nein, bitte nicht. Vizepräsidentin Ingrid Franzen: Vizepräsidentin Ingrid Franzen: Ich danke dem Herrn Minister für seinen Bericht und eröffne die Aussprache. Für die CDU-Fraktion Ich darf Sie darauf hinwiesen, dass das Thema der hat nun der Herr Abgeordnete Manfred Ritzek das Vertrag von Lissabon ist. Wort. Manfred Ritzek [CDU]: Manfred Ritzek [CDU]: Ich komme jetzt dazu. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Was sagt die Europäische Union zu diesem Ereig- Herren! Die Zustimmung beziehungsweise Begei- nis? Ich bin gebeten worden, dazu nichts mehr zu sterung über den Vertrag von Lissabon wird sicher- sagen. Sie begründet das und sicherlich sind diese lich hier im Hohen Haus von allen geteilt. Es ist das Begründungen richtig. Ergebnis, das erzielbar war, nachdem zuvor zwei Länder dem ursprünglichen Verfassungsentwurf Es war mir wichtig, diese Aussagen vorab zu er- nicht zugestimmt haben. wähnen. Aber ehe ich auf den Vertrag von Lissabon einge- Doch jetzt zum Vertrag von Lissabon: Das Erreich- he und ebenfalls meine Zustimmung gebe und - das te erhält sicherlich - wie bereits betont - Zustim- will ich auch sagen - teilweise meine Begeisterung mung von allen hier im Hohen Haus. Die Europäi- kundtue, ist es mir ein Anliegen, auf einen aktuel- sche Union ist unser Europa mit einer verantwortli- len Tatbestand einzugehen, der einen solchen Ver- chen Politik. trag etwas relativiert. Am 13. Dezember 2007 wurde der neue Grundla- Ich meine die Vorgänge in Bochum bezüglich No- genvertrag von den 27 Regierungschefs der Euro- kia. Ich stelle mir vor, was ich heute in Düsseldorf, päischen Union in Lissabon unterzeichnet. Seine im Landtag von Nordrhein-Westfalen, sagen müs- Bezeichnung ist: „Vertrag von Lissabon zur Ände- ste, wenn ich etwas zur Zustimmung zum Vertrag rung des Vertrages über die Europäische Union und von Lissabon sagen sollte. Was sollte ich den Men- des Vertrages zur Gründung der Europäischen Ge- schen über die positiven Inhalte des Lissabon-Ver- meinschaft“. trages für die Zukunftsgestaltung der Europäischen 5618 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Manfred Ritzek)

Der Vertragstext ist wegen der ständigen Querver- sowie die Außen- und Sicherheitspolitik neu gestal- weise auf Änderungen ein schwer zu lesendes Werk ten können. auf 287 Seiten. Ich hoffe, dass dieser Vertrag oder Von besonderer Bedeutung ist auch die bereits am der Vertragstext auch bald für Normalbürger in eine 12. Dezember 2007 in Straßburg unterzeichnete leserliche Form gegossen wird. Alle Staaten - es Charta der Grundrechte der Europäischen Union. heißt jetzt nicht mehr Länder - und dort meistens Auch wenn es Sonderregelungen für Polen und die Parlamente, müssen dem Vertrag von Lissabon Großbritannien gibt - der Minister hat es bereits er- noch ihre Zustimmung geben und ihn ratifizieren, wähnt -, ist diese Charta der Grundrechte fester Be- möglichst bis Ende 2008, damit er rechtzeitig vor standteil des Grundlagenvertrages. den Wahlen zum Europäischen Parlament im Som- mer 2009 in Kraft treten kann. Ungarn hat unmittel- In Artikel 6 heißt es dazu: bar nach der Unterzeichnung diesen Vertrag mit „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten überwältigender Mehrheit ratifiziert. und Grundsätze an, die in der Charta der In einem Zitat vom Präsidenten der Europäischen Grundrechte der Europäischen Union vom Kommission heißt es: 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung nie- „Fünfzig Jahre nach den Römischen Verträ- dergelegt sind; die Charta der Grundrechte gen können wir stolz darauf sein, was wir er- und die Verträge sind rechtlich gleichran- reicht haben in der Vergangenheit. Jetzt, gig.“ nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon, können wir vertrauensvoll nach Neben der Präambel gliedert sich die Charta der vorne schauen auf das, was wir erreichen Grundrechte der Europäischen Union in sieben Ti- werden.“ tel mit 50 Rechten und Freiheiten. Die Titel sind Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Soli- „Die EU schreitet voran“ - so heißt es auch in der darität, Bürgerrechte, Justizgrundrechte und allge- Einleitung zum Legislativ- und Arbeitsprogramm meine Bestimmungen über die Auslegung und An- der Kommission 2008. Weiterhin heißt es, die EU wendung der Charta. Diesen Inhalt auch für unser werde „mit dem ratifizierten Vertrag von Lissabon Land einzufordern und lebendig zu gestalten, ist besser dafür gerüstet sein, die Herausforderungen in auch eine unserer Aufgaben. Angriff zu nehmen und politische Strategien für das 21. Jahrhundert zu entwerfen.“ Eines der Hauptziele der Europäischen Union ist es - so betont es die Kommission nach der Unter- Ferner heißt es: „Die Lissabonstrategie für Wachs- zeichnung des Lissabon-Vertrages -, die Bürgerin- tum und Beschäftigung spiegelt sich in einer ver- nen und Bürger in den Mittelpunkt des Projektes besserten Wirtschaftsleistung wider.“ Sie bleibt das Europa zu rücken. Lassen sie uns die Einzelmaß- wichtigste Instrument für die Förderung einer wohl- nahmen mit diesem Anspruch konsequent einfor- habenden, umweltverträglichen und sozial integrati- dern, verfolgen und mitgestalten. ven Europäischen Union in Partnerschaft mit den Mitgliedstaaten. Das müssen wir auch für Schles- Zu einigen bedeutenden Bestimmungen, die ich wig Holstein konsequent einfordern. nicht im Detail vorgetragen möchte, weil auch der Minister dazu bereits etwas gesagt hat, nenne ich Im Lissabon-Vertrag ist die Europäische Union ei- ganz kurz noch einmal die Überschriften: Die Zu- ne historische Verpflichtung eingegangen. Sie wird stimmung der Wahl des Präsidenten der Europäi- sich mit dem Klimawandel auseinandersetzen, so schen Kommission wird durch das Parlament gege- wie wir es auch in unserem Land tun. Sie ist die ben. Es gibt eine praktisch volle Mitwirkung des Verpflichtung für die Gewährleistung einer siche- Europäischen Parlaments in der europäischen Ge- ren, wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Energie- setzgebung neben dem Rat. Es existiert die doppel- versorgung eingegangen. Auch hier sind wir her- te Mehrheit bei Abstimmungen, also mindestens vorragend aufgestellt. Sie fühlt sich wichtigen Part- 55 % der Staaten und mindestens 65 % der EU-Be- nern ihrer Nachbarschaft und der ganzen Welt ver- völkerung. Die Kommission wird von heute 27 auf bunden. Auch hier können wir positiv dazu beitra- 18 Kommissare im Jahr 2014 verkleinert. Die zwei- gen, besonders durch unsere Nachbarschaft mit Dä- einhalbjährige Ratspräsidentschaft ist erwähnt wor- nemark. Sie will die Globalisierung zu einer Chan- den. Der Hohe Vertreter für die Außenpolitik, das ce für die Bürgerinnen und Bürger machen und sie freiwillige Austrittsrecht und vieles mehr stehen in wird die Aufgaben Justiz, Inneres und Migration dem neuen Vertrag. Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5619

(Manfred Ritzek)

Die Europäische Union hat mit dem Reformvertrag gen legen und nicht so sehr in die Institutionenkun- einen Meilenstein für kommunale Rechte in der de einsteigen. Europäischen Union gesetzt. Das belegt die gleich (Beifall der Abgeordneten Anette Langner zu Beginn in den Artikeln 3 a und 3 b festgelegte [SPD], Dr. Heiner Garg [FDP] und Detlef Achtung des Rechts der nationalen, regionalen und Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) kommunalen Selbstverwaltung. Dort heißt es: „Frohgemut ins europäische Dickicht“ titelte eine „Die Union achtet die Gleichheit der Mit- große deutsche Wochenzeitung zur Unterzeichnung gliedstaaten vor den Verträgen und ihre je- des Europäischen Reformvertrages von Lissabon. weilige nationale Identität, die in ihren So ganz falsch ist dies nicht. Der vorliegende Text grundlegenden politischen und verfassungs- ist zwar etwas kürzer als der ehedem abgelehnte, mäßigen Strukturen einschließlich der regio- aber nicht nur der europäische Laie wird weiterhin nalen und lokalen Selbstverwaltung zum seine großen Probleme mit Umfang, Lesbarkeit und Ausdruck kommt. … Die nationalen Parla- Verständlichkeit haben. mente achten auf die Einhaltung des Subsi- diaritätsprinzips …“ Und doch ist dieser europäische Reformvertrag ein wichtiger Schritt aus der Krise Europas, die es Die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips und die nach den negativen Referenden in Frankreich und Einbeziehung der Staaten, Regionen und Kommu- in den Niederlanden zu überwinden galt. Er bietet nen in die Subsidiaritätsprüfung werden hoffentlich eine verbesserte Grundlage für das Zusammenleben die Rathäuser, die Landratsämter und alle Men- der Bürgerinnen und Bürger im erweiterten Europa, schen in der Europäischen Union nachhaltig vor und zwar deshalb, weil wir mehr Demokratie in überbordender EU-Politik schützen. Ein eigenes Europa haben, weil das Europäische Parlament ge- Klagerecht des Ausschusses der Regionen vor dem stärkt wurde, weil die Bürgerrechte durch ein Europäischen Gerichtshof bei einer Verletzung die- europäisches Bürgerbegehren gestärkt sind und ses Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsrechts weil die nationalen Parlamente mehr Rechte be- stärkt das Prinzip. kommen haben, bei europäischen Fragen mitzuwir- Wir alle sind gefordert, das Subsidiaritätsprinzip ken. Kurz gesagt: Wir haben jetzt mehr verankerte umzusetzen. Die Europäische Union wird mit dem Bürgerrechte. Das ist für mich der wahre Erfolg neuen Grundlagenvertrag handlungsfähiger, schlan- dieses Vertrages. ker und demokratischer. Die Grundrechtecharta, die jetzt rechtsverbind- Unsere entscheidende Aufgabe ist es, die Menschen lich ist, stellt faktisch eine europäische Verfassung stärker in den Prozess der Europäischen Union ein- dar, auch wenn der Chartatext leider nicht im Ge- zubeziehen. Der Vertrag von Lissabon eröffnet die samtvertrag enthalten ist und es in Großbritannien Chance dazu. Wir sind herausgefordert, daran mit- und Polen nicht nachvollziehbare Einschränkungen zuwirken, sofort und hier in unserem Land. gibt. Der Minister hat darauf hingewiesen. (Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der Wir haben immer gesagt - auch in diesem Parla- SPD) ment -, dass wir nicht nur eine Wirtschafts- sondern vor allen Dingen eine europäische Wertegemein- Vizepräsidentin Ingrid Franzen: schaft wollen. Das war und ist unser Ziel, weil nur die gemeinsamen Werte ein friedliches und demo- Ich danke Herrn Abgeordneten Manfred Ritzek. - kratisches Miteinander in Europa garantieren. Mit Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun Herr Abge- dem Ziel, das mit der Grundrechtecharta verbunden ordneter Rolf Fischer. ist, haben wir diesen Weg zu mehr Bürgerrechten, zu mehr Demokratie und zu mehr Humanität in Rolf Fischer [SPD]: Europa erreicht. Das ist eine große politische Leis- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tung und das ist der Durchbruch dieses Reformver- Herren! Wir haben von dem Minister sehr viel ge- trages. hört. Vielen Dank noch einmal an dieser Stelle für (Beifall bei der SPD) den Bericht, der das komplexe und komplizierte Geflecht dargestellt hat, das diesem Reformvertrag Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt beginnt die zugrunde liegt. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Ratifizierungsphase und ich appelliere an die Re- einige Schwerpunkte stärker auf politische Wertun- gierung, aber auch an die Fraktionen hier im Land- tag: Die Ratifizierungsphase ist kein Selbstläufer, 5620 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Rolf Fischer) und wir dürfen den Kardinalfehler der ersten Runde wir aber immer wieder neu analysieren und festle- nicht wiederholen. Das heißt, wir müssen das öf- gen müssen. Das ist kein statischer Prozess. Ich fentliche Gespräch noch stärker forcieren, als wir es glaube, wir würden auf der Basis dieser neuen bislang getan haben. Wir brauchen jetzt eine inten- Strukturen, über die wir hier diskutieren, den Ein- sive und klare Kommunikation mit den Bürgerin- fluss Schleswig-Holsteins auf Dauer verlieren, nen und Bürgern. Die Reformen sind zweifellos ein wenn es uns nicht gelänge, diese Europapolitik zu Erfolg, wie ich finde, aber sie sind für viele Men- einem dynamischen Prozess zu machen, das heißt, schen auch nur eine neue Mechanik. Wir müssen immer wieder, auch hier im Parlament, im Europa- deshalb für diesen Reformvertrag werben, ihn les- ausschuss und in den Gremien dafür zu sorgen, dass bar und verständlich machen, damit die Bürgerin- wir unsere Politik diesen neu entstehenden Verhält- nen und Bürger tatsächlich den Wert erkennen, der nissen in Europa, den neu entstehenden Beziehun- mit diesem Reformvertrag geschaffen wurde. gen so anpassen, dass wir den Vorteil, den wir in der Ostseeregion bisher haben, weiter beibehalten (Beifall beim SSW) können. Das ist auch deshalb wichtig, weil Europa ein ler- (Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE nendes System ist - wir haben diesen Begriff ja GRÜNEN - Jürgen Weber [SPD]: Er ist ein schon gehört - und sich auch weiter verändern wird. leidenschaftlicher Europäer!) Die Bürgerinnen und Bürger und wir - ihre Vertre- ter in den Parlamenten - müssen also über die Zu- - Leidenschaft ist ganz wichtig bei diesem Thema, kunft der Union, über die gemeinsamen Werte und insbesondere, weil viele das vermissen lassen. Inso- die damit verbundene europäische Identität immer fern nehme ich einmal den Begriff des Kollegen wieder sprechen. Weber auf und führe diese Idee auch ein bisschen weiter, da ich schon einmal am Mikrofon stehe: So wichtig ein Europa der Nützlichkeit ist, so we- Wir haben die Möglichkeit, unsere regionale Politik nig kann es ohne die grundsätzlichen Überzeugun- weiter zu vertiefen. gen auf Dauer überleben. Ich möchte ganz entschieden darum bitten, dass wir (Beifall bei der SPD) die Kontakte gerade zu Polen und Russland vor Viele Menschen brauchen Zeit, sich mit dem neuen dem Hintergrund der Diskussion, die dieser Re- Gesicht Europas anzufreunden und Vertrauen zu formvertrag mit der polnischen Seite ja auch fassen. Deshalb werbe ich dafür, auch die Kritiker durchaus schwierig hat werden lassen, über die re- an diesem Reformvertrag, die sich Gedanken in gionale Ebene vertiefen. Es geht um die nördlichen Richtung Aufrüstung und ähnliche Entwicklungen Woiwodschaften, mit denen es Parlamentspartner- machen, ernst zu nehmen und das Gespräch mit ih- schaften gibt. Es geht um Königsberg/Kaliningrad, nen zu suchen. es geht um Sankt Petersburg, und es geht auch - das Der Vertrag ist auch eine große Chance für Schles- möchte ich an dieser Stelle einwerfen - um Archan- wig-Holstein. Nicht nur, dass wir die Verfassung gelsk, eine bisher in diesem Parlament noch nicht oder den Reformvertrag immer wieder begrüßt und häufig angesprochene Region. Mit ihr unterhält uns auch mit Initiativen beteiligt haben - wir kön- Schleswig-Holstein vielfältige Beziehungen. Wenn nen aus unserer Situation als aktiver Partner in der wir von einer neuen Außenpolitik in Europa spre- Ostsee- und in der Nordseekooperation den Dialog chen, an der sich die Regionen beteiligen sollen, im Bereich der neuen Außenpolitik verstärken und dann sollte auch diese Region neu und stärker be- auch neu beleben. rücksichtigt werden. Die europäische Außen- und Nachbarschaftspolitik, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eine die durch den neuen - leider nicht so zu nennenden ganze Reihe von Möglichkeiten, durch die Formen - europäischen Außenminister formuliert wird, der Subsidiaritätskontrolle auch als Land und als muss auch die Regionen Europas einbeziehen, Bund europapolitisch mitzumischen. Das ist, glaube wenn sie mit Leben erfüllt werden soll. ich, eine Chance, die wir nutzen sollten. Das Früh- warnsystem, das definiert wurde, ist ja auch in die- Ohne Regionen geht in diesem Europa gar nichts. sem Landtag anhand zweier Probeläufe diskutiert (Beifall bei SPD und SSW) worden. Ich will an dieser Stelle klar sagen: Noch sind die Fristen viel zu kurz. Wir werden kaum Ich plädiere deshalb ganz entschieden für eine euro- wirklich Einfluss nehmen können. Aber der Kern - päische Landespolitik, wie sie auch schon vom und daher gilt dem Landtagspräsidenten durchaus Europaminister bestimmt und dargestellt wurde, die Dank, dass er zwei solcher Probeläufe hat durch- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5621

(Rolf Fischer) führen lassen - beziehungsweise der dahinterstehen- diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerk- de Gedanke ist, dass diese Strukturen natürlich un- samkeit. mittelbar mit politischem Einfluss und damit mit (Beifall bei SPD, CDU, FDP, BÜNDNIS politischer Macht verbunden sind. Und nur, wenn 90/DIE GRÜNEN und SSW) es uns gelingt, diese Strukturen auch aufzunehmen und zu verwirklichen, können wir auch politisch Einfluss in Brüssel und Berlin auf europäische Fra- Vizepräsidentin Frauke Tengler: gen nehmen. Da sind wir, glaube ich, ganz gut auf- Ich danke Herrn Abgeordneten Rolf Fischer und er- gestellt. Das sollten wir vertiefen. Auch diese teile für die FDP-Fraktion Herrn Abgeordneten Chance bietet der Reformvertrag für die regionalen Dr. Ekkehard Klug das Wort. Parlamente. Wer diese Regeln beherrscht, kann mitmachen, und ich denke, wir haben da eine gute Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Ausgangsposition. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der in Ich will am Schluss noch einen Punkt ansprechen, Lissabon von den Mitgliedsstaaten der Europäi- der mir ganz besonders wichtig ist. Wir werden zu- schen Union geschlossene Reformvertrag ist eine künftig noch mehr Wert auf die soziale Dimension Konsequenz aus den in Frankreich und den Nie- Europas legen müssen. Es ist klar, dass die damali- derlanden gescheiterten Volksabstimmungen ge Ablehnung des Verfassungsvertrags auch mit über den EU-Verfassungsvertragsentwurf. Verein- den Ängsten von Menschen zu tun hat - Angst vor facht gesagt: Man backt nun deutlich kleinere Bröt- Arbeitsplatzverlust, vor Dumpinglöhnen, vor euro- chen, versucht aber, die Grundsubstanz der ange- päischer Konkurrenz am Arbeitsplatz. Selbst, wenn strebten Reformen zu retten. diese Ängste zum großen Teil unbegründet sind, sind sie doch vorhanden und ernst zu nehmen. Lange wurde gezetert, lange wurde mit Scheitern gedroht und immer noch versucht, ein wenig mehr Die soziale Dimension dieses Reformvertrags ist für das eigene Land herauszuholen. Am Ende stand wichtig. Demonstrationsrecht, Recht auf Arbeitneh- jedoch ein Ergebnis: der in Lissabon geschlossene mervertretung, freie Gewerkschaften, Streikrecht Vertrag. Er bedeutet hoffentlich ein Ende der Sta- sind für uns Selbstverständlichkeiten, für viele EU- gnation, die wir in Europa in den letzten beiden Bürger jedoch durchaus nicht. Hier gilt es, auf Dau- Jahren erlebt haben. So haben die Staats- und Re- er gleiche Standards zu schaffen, damit es nicht zu gierungschefs in diesen letzten beiden Jahren sehr sozialen Verwerfungen in diesem neuen Europa viel Energie darauf verwandt, über die europäi- kommt, denn soziale Verwerfungen würden die schen Institutionen zu verhandeln. Statt sich weiter Identität, von der ich vorhin gesprochen haben, sehr über mathematische Formeln, Sitzverteilungen und langsam wachsen lassen. Menschen identifizieren die Schreibweise von Wörtern zu streiten, kann die sich nur mit einem politischen System, wenn sie se- Europäische Union nunmehr, nach Abschluss des hen, dass es sie ernst nimmt und ihre Forderungen Vertrags, wieder an politische Herausforderungen zu erfüllen, ihre Probleme zu lösen vermag. Die herangehen. Es ist ja unbestritten, dass es eine gan- Chance dafür ist durch den Reformvertrag größer ze Reihe von politischen Herausforderungen in den geworden. konkreten Politikfeldern gibt: Terrorismusbekämp- Ein gutes europäisches Jahr liegt hinter uns. Ein gu- fung, Kriminalitätsbekämpfung, wirtschaftliche tes europäisches Jahr liegt hoffentlich vor uns, denn Konkurrenz im globalen Wettbewerb. in einem Jahr soll der Reformvertrag von allen Be- Die sozialen Belange der Menschen in der Europäi- teiligten ratifiziert sein und am 1. Januar 2009 in schen Union, die Entwicklung eines gemeinsamen Kraft treten. Wir nehmen, denke ich, den Bericht europäischen Forschungsraums mit dem Ziel, diese des Ministers zur Kenntnis. Wir werden - das wäre Europäische Union in Wissenschaft und Forschung mein Vorschlag - gerade die regionalen Aspekte im international auf einem ersten Platz im Wettbewerb Europaausschuss immer wieder aufnehmen und dis- mit anderen Regionen, mit anderen Staaten zu hal- kutieren. ten beziehungsweise verlorenen Boden gutzuma- Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir haben chen, schließlich die Themenbereiche Klimaschutz keine europäische Verfassung mit diesem Vertrag, und Umweltpolitik - es gibt so viele Sachthemen, aber an dem Ziel einer europäischen Verfassung so viele auch dringende konkrete Aufgaben, dass es sollten wir festhalten. Denn eines ist richtig: So wie wichtig ist, dass man auf europäischer Ebene wie- eine Sprache eine Grammatik braucht, um weiterle- der den Kopf frei hat für die Bewältigung dieser ben zu können, brauchen Werte eine Verfassung. In konkreten Herausforderungen. 5622 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Dr. Ekkehard Klug)

Das Grundproblem der Europäischen Union in der Thema Vertrag von Lissabon und dessen Inhalte jüngsten Zeit - das hat gerade die Entwicklung der vermitteln, mehr oder weniger erfolgreich. Das ist letzten beiden Jahre gezeigt - ist, dass das, was man bei dieser sehr komplexen Materie sicherlich kurzgefasst als Vertiefung bezeichnet, also die Re- schwierig. Ich meine, das Entscheidende wird sein, form der inneren Strukturen, der Institutionen, nicht wie die EU-Politik aus sich heraus in den einzelnen mit dem sich sehr schnell vollziehenden Prozess der Politikfeldern die Bürger in der Europäischen Uni- Erweiterung der Europäischen Union um immer on, in den einzelnen Mitgliedstaaten, anspricht und neue Mitglieder mitgehalten hat. In dieser großen überzeugt beziehungsweise sie nicht abschreckt. EU ist es - das hat die jüngste Zeit nur allzu deut- Weil das sehr abstrakt klingt, möchte ich das ein- lich gemacht - unglaublich schwierig, gemeinsame mal an einem ganz konkreten Beispiel erläutern, Vereinbarungen in Sachen Strukturreformen zu das Sie alle kennen. Sie wissen, dass es aktuell treffen. einen Konflikt in der Klimaschutzpolitik zwi- Der größte Minuspunkt, das größte Manko, ist aus schen der Europäischen Union und der Bundesre- meiner Sicht, dass die Grundrechtecharta - das ist publik Deutschland, der Bundesregierung in Berlin, schon angesprochen worden - nicht Teil des Ver- gibt. Es geht um die Frage, inwieweit man die deut- tragstextes geworden ist, sondern nur noch in einer sche Automobilindustrie mit Vorgaben aus Brüssel Fußnote, in einem Verweis, auftaucht. belasten beziehungsweise - in Anführungszeichen gesprochen - beglücken sollte. Da geht es schon um (Beifall bei der FDP und der Abgeordneten die Frage, ob man deutsche Autohersteller, die be- Anke Spoorendonk [SSW]) kanntermaßen im Vergleich zu den Automobilpro- Großbritannien, aber auch Polen, haben sich Vorbe- duzenten in anderen EU-Staaten in einem sehr halte einräumen lassen, dass zum Beispiel dann in großen Anteil das Luxussegment, das Oberklasse- der Konsequenz vor britischen Gerichten nicht Kla- segment, bedienen, das natürlich mehr Schadstoffe ge unter Bezugnahme auf die EU-Grundrechtechar- produziert, mit allgemeinen Vorgaben so belasten ta geführt werden kann. Das ist aus meiner Sicht sollte, dass im Bereich der Autoindustrie die indu- das, was man am meisten bedauern muss. strielle Basis der Bundesrepublik Deutschland mit (Vereinzelter Beifall im ganzen Haus) vielen, vielen Arbeitsplätzen gefährdet wäre. Ich möchte damit nicht das Ziel des Klimaschutzes so- Ansonsten gibt es im institutionellen Bereich - das zusagen einfach in Abrede stellen, aber es muss hat Minister Döring, das haben aber auch die mei- einen vernünftigen Kompromiss geben, der auch sten anderen Redner in ihren Beiträgen sehr gut die Belange der Beschäftigten und damit auch das deutlich gemacht - eine Reihe von nennenswerten wirtschaftliche Wohlergehen in diesem Land, in Fortschritten, auch wenn es nun formal den EU-Au- dem die Automobilindustrie nun einmal eine gewis- ßenminister als Bezeichnung nicht gibt. Es ist se Bedeutung hat, im Auge behält. schon sinnvoll, dass man die verschiedenen Institu- tionen, die EU-Außenkommissarin - bisher Frau (Beifall bei der FDP und des Abgeordneten Ferero-Waldner - und den EU-Außenbeauftragten Niclas Herbst [CDU]) Solana, diese beiden Institutionen, die ich jetzt ein- Wenn die Deutschen den Eindruck bekommen, dass mal mit den beiden aktuellen Amtsinhabern ver- hier durch Entscheidungen aus Brüssel sozusagen knüpfen möchte, in einer neuen Institution zusam- ein ganz wesentliches Segment der wirtschaftlichen menführt, die dann in Zukunft für die EU-Außen- Basis unseres Landes gefährdet würde, dann wird und Sicherheitspolitik zuständig sein wird. Der ho- das unmittelbare Rückwirkungen auf die Einstel- he Repräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik lung der Leute zu Europa, zur Europapolitik insge- wird im EU-Außenministerrat auch den Vorsitz samt, haben. Ich halte das für unglaublich wichtig. führen. Das und eine ganze Reihe von anderen Din- Deshalb war ja auch der Einwand von Herrn Ver- gen, die auch schon genannt worden sind, sind ein- heugen, einem EU-Kommissar aus der EU-Kom- deutig Fortschritte, die wir begrüßen können. mission, so wichtig. Wir brauchen hier Kompro- Vorhin in der Debatte ist schon die Frage aufge- misse, wir brauchen hier eine Balance, die die ver- worfen worden, wie wir in der nächsten Zeit in der schiedenen Belange sozusagen gegenseitig austa- Diskussion über diesen Reformvertrag von Lissa- riert. Natürlich ist Klimaschutz wichtig, aber das bon, der jetzt in den einzelnen Nationalstaaten rati- kann nicht ohne Rücksicht auf die besondere Situa- fiziert werden muss, die Zustimmung zur Europäi- tion in einem der Mitgliedstaaten erfolgen. schen Union weiter erhöhen können. Ich denke, das (Beifall bei der FDP und des Abgeordneten hängt bei Weitem nicht nur davon ab, wie wir das Niclas Herbst [CDU]) Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5623

(Dr. Ekkehard Klug)

Darauf muss man hierzulande, aber sicher auch in dass zumindest bei den klugen, jungen Menschen einer ganzen Reihe von anderen EU-Ländern bei schon so etwas wie eine Europäisierung eingesetzt für diese wichtigen Themen achten. Nur so wird hat. Ich beobachte das bei meinen Kindern und ih- man die Zustimmung der Bürger zur weiteren euro- ren Freunden. Sie haben die Möglichkeit; in Madrid päischen Integration, gewinnen. zu studieren oder in Kopenhagen und denken dar- über jedenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt nach, Ich möchte noch anmerken - ich habe das in frühe- ich fühle mich in dem einen Land fremder als in ren Debattenbeiträgen schon gesagt -, ich glaube, dem anderen. Das ist für sie Europa. Sprachgrenzen wir müssen alles daran setzen, das Gemeinschafts- gehen auch zurück. Ich finde, zumindest im Bereich gefühl, die europäische Identität in der Bevölkerung der jungen Menschen haben wir eine sehr positive zu stärken über verschiedene gemeinsame Politik- Entwicklung in dem Sinne, wie Sie es eben skiz- ansätze, die das Gemeinsamkeitsgefühl in dieser ziert haben. Das ist bereits als Hoffnungsschimmer EU stärken. Es hat vor einigen Monaten, noch vor tatsächlich zu beobachten. den Wahlen in Polen, eine sehr interessante Diskus- sion bei einer Veranstaltung der Deutsch-Polni- Der EU-Reformvertrag ist ein wichtiger Schritt vor- schen Gesellschaft auf Bundesebene zwischen an. Wir Grünen begrüßen die Einigung über den Heinrich August Winkler, einem deutschen Histori- Reformvertrag von Lissabon als einen wichtigen ker aus Berlin von der Humboldt Universität, und Schritt. Der Vertrag erleichtert die Entscheidungs- den polnischen Teilnehmern Adam Michnik und findung auf europäischer Ebene und stärkt die Bronislaw Geremek, zwei alten Vertretern der Soli- Rechte der europäischen Bürgerinnen und Bürger. darnosc-Bewegung, gegeben. Dabei hat Bronislaw Eine besondere Bedeutung hat der Reformvertrag Geremek, der früher eine Zeit lang Außenminister im Bereich der europäischen Außenpolitik. Denn Polens gewesen ist, gesagt, dass es ganz entschei- mit der Schaffung eines europäischen Dienstes und dend darauf ankommt, auf die Schaffung eines der Stärkung des Hohen Vertreters der Union für staatsbürgerlichen und europäischen Empfindens die Außen- und Sicherheitspolitik wird die Hand- hinzuwirken. Das ist genau das, was ich auch meine lungsfähigkeit der Union nach außen gestärkt. Die- und auch an anderer Stelle schon einmal angespro- se Notwendigkeit gilt vor allem auch gegenüber chen habe. Wir müssen versuchen, ein Wir-Gefühl, den USA und Russland. Hier braucht es eine geein- eine europäische Identität, bei den Staatsbürgern te und handlungsfähige Union, die sich internatio- der Europäischen Union durch eine gemeinsame nal für eine kooperative Friedens- und Sicherheits- Politik hervorzurufen und zu stärken. politik einsetzt. Eine solche Rolle wünschen wir uns für die Europäische Union in der Zukunft. (Beifall bei der FDP und vereinzelt bei CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Dennoch darf Europa sich nicht auf dem neuen Re- SSW) formvertrag ausruhen. Vielmehr muss er der Auf- takt für weitere Reformen in Richtung eines ökolo- Vizepräsidentin Frauke Tengler: gischen und sozialen Europas sein. Hier ist noch viel zu tun. Beispiele: Beendigung des EURA- Ich danke dem Herrn Abgeordneten Dr. Klug. Be- TOM-Vertrages, gemeinsame Mindeststandards vor ich weiter das Wort erteile, begrüßen Sie bitte für die Besteuerung von Unternehmen, Einstieg in mit mir auf der Tribüne Besucher. Es sind Mitglie- das transnationale starke Stromnetz und andere der des CDU-Ortsverbandes Wees aus dem Kreis Themen mehr. Schleswig-Flensburg und Mitglieder des Rotary- Club Gettorf/Dänischer Wohld. - Seien Sie uns Die Europäische Union ist der größte Markt der herzlich willkommen! Welt - nicht in den Köpfen, aber in Umsätzen. Durch ihre Marktstärke ist sie natürlich ein Global (Beifall) Player und bestimmt die Globalisierungsprozesse Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE mit. GRÜNEN erhält Herr Abgeordneter Detlef Matt- In dieser Stellung hat sie eine Mitverantwortung für hiessen. unkontrolliertes Wirtschaftswachstum, welches die Klimakrise verschärft, intakte Umweltbeziehungen Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zerstört und zur weltweit wachsenden sozialen Un- NEN]: gerechtigkeit führt. Aus dieser Mitverantwortung Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen heraus kann sich die Europäische Union jedoch und Kollegen! Herr Dr. Klug, mein Eindruck ist, auch - sie sollte es tun - für hohe Sozial- und Um- weltstandards in den Welthandelsregimen einset- 5624 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Detlef Matthiessen) zen. Die EU sollte sich in diesem Zusammenhang Leitlinien zusammengefasst worden. Allerdings auch für die Einführung einer Devisenbesteuerung mussten sie bei der Fusion jetzt „Federn lassen“. So einsetzen, also einer der Tobin-Steuer oder der wurde die Gender-Dimension wegrationalisiert und Spahn-Steuer ähnlichen Regelung zur Unterbin- der Teil zur Sozialen Agenda systematisch redu- dung von Wechselkursspekulationen. ziert. Wir Grünen sind da stur und versuchen, diese Dimensionen immer wieder durch Änderungsvor- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schläge zu stärken. Wir Grünen erwarten von der Kommission, dass sie Denn für das Zusammenwachsen und Zusammenle- auch in der Außenhandelspolitik Sozial- und Um- ben von Europa ist der soziale Zusammenhalt we- weltdumping bekämpft, indem sie zum Beispiel in sentlich. den Handelspräferenzverträgen der EU die Redu- zierung klimaschädlicher Gase und das Bekenntnis (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur nachhaltigen Entwicklung von den Partnern ge- Für das Erreichen dieses Ziels sind die Bekämpfung nauso verlangt wie das Einhalten der ILO-Stan- von Armut und sozialer Ausgrenzung, die Gleich- dards, des Verbotes von Kinder- und Zwangsarbeit berechtigung von Mann und Frau sowie die Anti- und das Recht auf Versammlungsfreiheit und die diskriminierung wichtige Instrumente, die sowohl Anerkennung einer angemessenen Entlohnung von den sozialen Zusammenhalt als auch das Wirt- Arbeit. schaftswachstum positiv beeinflussen. Auf unserer Der neoliberale Ansatz in der Lissabon-Strategie Agenda stehen in diesem Rahmen unter anderem suggeriert, dass allein durch ungehemmtes Wirt- die Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen so- schaftswachstum Arbeitsplätze und Wohlstand ge- wie die Investitionen in Betreuungsangebote für schaffen werden. Diese einfache Gleichung geht je- Kinder und die Förderung von Familien. doch nicht auf. Die Beziehungen sind komplizier- Die nationale Umsetzung erfolgt heute in den na- ter. Auch die Lissabon-Strategie ist umfassender. tionalen Reformplänen. Die Revision ist nicht mehr Wirtschaftswachstum kann auch Arbeitsplätze weg- jährlich, sondern dreijährlich. Jetzt, im Frühjahr rationalisieren oder verlagern, wie wir das aktuell 2008, steht die erste Dreijahresreform an. Der Streit am Beispiel Nokia erleben, oder auf Kosten ange- über die Ausrichtung hat die Diskussion über das messener Entlohnung erreicht werden und soziale erste Gedankenpapier der Kommission bestimmt. Standards dabei unter die Räder kommen lassen. Die anstehende Abstimmung über den Flexicurity- Qualitatives Wirtschaftswachstum lässt hingegen Bericht wird der wichtigste Beitrag des europäi- neue Bereiche für qualitativ hochwertige Jobs ent- schen Parlaments dazu sein. stehen. Gerade hier fordern wir Grünen neue Formen der Es galt auch als Entscheidung für den sozialen Zu- sozialen Sicherheit und reagieren damit auf die Dis- sammenhalt, dass bereits seit der Gründung der kussion, das dänische Modell „Flexicurity“ in die Lissabon-Strategie die Soziale Agenda integraler Lissabon-Strategie zu übernehmen. Verkürzt be- Bestandteil ist. Nur wird sie heute oft vergessen. deutet es: mehr Flexibilität in den Arbeitsbeziehun- Diese Agenda fordert von den Mitgliedstaaten, die gen auf der Grundlage von mehr sozialer Sicher- Armutsbekämpfung und die soziale Integration in heit. Allerdings beschränkt sich die aktuelle euro- die nationalen Reformpläne aufzunehmen. Refor- päische Diskussion häufig allein auf den Teil „Fle- men der Arbeitsmärkte, der Steuer- und Soziallei- xibilität“, die den Arbeitnehmerinnen und den Ar- stungssysteme sind hierfür notwendig. Mehr ältere beitnehmern abverlangt werden soll. Die Garantie Menschen müssen im Arbeitsprozess bleiben. Die der sozialen Sicherheit wird dabei oft unterschla- Förderung von Aus- und Weiterbildung muss quali- gen. tativ und quantitativ ansteigen. Wir Grünen fordern von der EU-Kommission den rechtlichen Schutz Wir sehen in dem Modell „Flexicurity“ nicht nur der Leistungen zur Daseinsvorsorge. ein Arbeitsmarktmodell, sondern ein Gesellschafts- modell, welches die sozialen Sicherungssysteme, Die Eurozone hat schon heute eine gemeinsame die soziale Eingliederung und damit letztlich auch Beschäftigungspolitik. Sie ist seit 1996 Bestandteil die Steuersysteme einbezieht. Wir sagen: Wenn wir des EU-Vertrages und gilt für die gesamte EU. Die die Arbeitsbeziehungen flexibler gestalten wollen, gemeinsamen beschäftigungspolitischen Bemühun- dann müssen wir erst neue - im Sinne von besseren gen wurden bislang in den Nationalen Beschäfti- - soziale Sicherungssystemen schaffen. gungsplänen umgesetzt. 2005 sind diese Leitlinien mit den ökonomischen Vorgaben als Integrierte Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5625

(Detlef Matthiessen)

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anke Spoorendonk [SSW]: und SSW) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an das Mit dem Vertrag von Lissabon, der im Dezember Kieler-Woche-Gespräch 2007 mit interessanten 2007 von den Staats- und Regierungschefs verab- Vorträgen und einer interessanten Diskussion genau schiedet wurde, hat der institutionelle Reformpro- zu diesen Themen. zess der Europäischen Union, der 2003 mit dem Verfassungskonvent begann, erst einmal die wahr- Wer nachhaltig wirtschaften will, braucht umwelt- scheinlich vorletzte Hürde genommen. Es war ein verträgliches Wachstum. Nur eine gut durchdachte steiniger Weg zu diesem Vertrag, der vor allem Umweltpolitik bietet Chancen für Innovation, durch die Volksabstimmungen zur EU-Verfassung schafft neue Märkte und verbessert die Wettbe- in Frankreich und Holland entscheidend beeinflusst werbsfähigkeit durch höhere Ressourceneffizienz wurde. und neue Investitionsmöglichkeiten. Darüber hin- aus spricht die Notwendigkeit, sich ernsthaft mit Denn das Nein bei den Volksabstimmungen zur den derzeitigen Belastungen für die Umwelt ausein- vorgeschlagenen EU-Verfassung zeigte, dass sich anderzusetzen, damit Schäden für Gesundheit, die EU in einer großen Vertrauenskrise im Ver- Biodiversität, Eigentum und Wirtschaftstätigkeit hältnis zu den europäischen Bevölkerungen befand. jetzt und in Zukunft vermieden werden, ebenfalls Während einige Mitgliedstaaten - vor allem Irland für eine stärkere Berücksichtigung von Umwelt- und Dänemark - die damals beschlossene Denkpau- überlegungen in der Lissabon-Strategie. se aktiv genutzt haben, um gemeinsam mit den Bür- gerinnen und Bürgern über eine Neubestimmung So braucht die Lissabon-Strategie unbedingt neue der EU zu diskutieren, ist diese Zeit der Reflexion Leitlinien, um den Herausforderungen des Klima- in der Bundesrepublik eher zu wenig genutzt wor- wandels noch angemessener begegnen zu können. den. Während des letzten Frühjahrsgipfels 2007 war es Es wurden leider kaum Versuche unternommen, Konsens im Rat, dass Europa im Kampf gegen den mit den Bürgerinnen und Bürgern über ihre Vor- Klimawandel eine Vorreiterrolle spielen soll. Das stellungen zur Zukunft der EU zu sprechen. Das ist funktioniert jedoch nur, wenn Klima- und Nachhal- eine Tatsache, die eine lange Tradition hat. Man ist tigkeitspolitik integrale Bestandteile der Lissabon- versucht zu sagen, dass hierzulande die EU immer Strategie werden. Wenn die Kommission in ihrem noch eine Sache für ältere Herren in dunklen Anzü- „Gedankenpapier“ über eine dritte industrielle Re- gen ist. volution nachdenkt, dann muss diese Revolution das Ziel haben, dass Nachhaltigkeit jeder Produkti- Daher bin ich auch allen Fraktionen des Landtages on zugrunde gelegt wird. Dann darf sich die Kom- zu Dank verpflichtet dafür, dass sie der Anregung mission nicht mehr dagegen wehren, die Leitlinien des SSW gefolgt sind und dafür gesorgt haben, dass zur Nachhaltigkeit zum Bestandteil der integrierten wir zumindest in Schleswig-Holstein versucht ha- Leitlinien werden zu lassen. ben, eine breitere Debatte über die Zukunft der EU und die Frage der Europäischen Verfassung in Für die Mitgliedstaaten wären der Kampf gegen Gang zu bringen. Natürlich ist dies nicht einfach, den Klimawandel und die Durchsetzung der Nach- weil es auch um sehr komplexe Problemstellungen haltigkeitsstrategie dann Aufgaben im Rahmen der geht. Aber es ist noch schlimmer, wenn man über- Reformpläne. Das wäre ein richtungweisendes Ziel haupt gar nicht erst die Ambition hat, mit den Men- für den Frühjahrsgipfel 2008. schen ins Gespräch zu kommen. Die Bürgeranhö- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung im Juli 2007 war ein erster positiver Schritt, und vereinzelt bei der SPD) um auch in Schleswig-Holstein den Dialog über die europäischen Fragen voranzubringen. Dieser erste Vizepräsidentin Frauke Tengler: Versuch hat es verdient, wiederholt zu werden. Ich danke dem Herrn Abgeordneten Detlef Matt- (Beifall beim SSW und vereinzelt bei der hiessen und erteile für den SSW im Landtag der SPD) Frau Vorsitzenden und Abgeordneten Anke Spoo- Die Denkpause der EU hat dazu geführt, dass die rendonk das Wort. Europäische Verfassung, so, wie sie gedacht war, nicht in Kraft getreten ist. Damit wird eine wirkli- che politische Union auch in absehbarer Zeit nicht etabliert werden. Das ist gut so, weil das von der 5626 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Anke Spoorendonk)

überwiegenden Mehrheit der Menschen in Europa Sicherlich hätten wir uns einen konkreten Minder- auch nicht gewollt ist. heitenpassus gewünscht - das haben wir hier im Parlament auch mehrfach diskutiert -, aber es ist Der Vertrag von Lissabon umfasst jetzt noch die dennoch positiv, dass die europäischen Minderhei- Charta der Grundrechte der Europäische Union ten in der Charta mit einbezogen worden sind. und vor allem beinhaltet er eine Änderung des insti- Schließlich gehört jede zehnte Bürgerin oder jeder tutionellen Rahmens. So wird es in Zukunft weni- zehnte Bürger in Europa einer nationalen Minder- ger EU-Kommissare geben und auch die Abstim- heit oder ethnischen Volksgruppe an. Insofern hät- mungen im Ministerrat werden erleichtert. In die- ten wir uns gewünscht, dass der Schutz und die sem Zusammenhang bin ich dem Kollegen Klug Förderung der Minderheiten in der Charta aus- dafür dankbar, dass er einmal plastisch dargestellt drücklich verankert werden, aber mit der Formulie- hat, was im Rahmen der Umsetzung auf uns zu- rung in Artikel 21 ist immerhin der berühmte erste kommen könnte, wenn wir nicht darauf achten, dass Schritt in die richtige Richtung formuliert worden. es auch zu einem Schwarzer-Peter-Spiel kommen könnte. Insofern ist auch in diesem Bereich Kom- Auch in der EU setzt sich langsam die Auffassung munikation das A und O. Des Weiteren - das wis- durch, dass die kulturelle Vielfalt der Minderheiten sen wir auch -, werden die Rechte des Europäischen und Volksgruppen Europa bereichert. Diese kultu- Parlaments gestärkt und das gilt auch in einigen relle Vielfalt trägt zur Identitätsbildung, zur Völker- Fragen für die nationalen Parlamente. verständigung und zur grenzüberschreitenden Zu- sammenarbeit bei. Obwohl man seitens der EU-Bürokratie davon spricht, dass mit diesen Änderungen die Entschei- Der SSW begrüßt ferner, dass in Artikel 22 der dungsprozesse in Brüssel praktikabler werden, so Grundrechtecharta die Vielfalt der Kulturen und erscheint es mir, dass die Transparenz der EU-Be- der Sprachen in der EU berücksichtigt wird. Gerade schlüsse leider kaum verbessert wird. Dies kann im Bereich der Sprachenvielfalt hat die EU eine wiederum für die Akzeptanz der Entscheidungen große Aufgabe, wenn man das weitere Aussterben der EU vor Ort ein Problem werden. Umso bedau- der über 80 Sprachen in Europa verhindern will. erlicher ist es, dass viele Staaten die Chance verpas- Im Moment ist aus meiner Sicht noch nicht genau sen, beim Ratifizierungsprozess die Bevölkerung absehbar, welche Folgen der neue EU-Vertrag kon- direkt mit einzubeziehen. kret für Schleswig-Holstein haben wird. Ich stimme Ich meine damit, dass es aus Sicht des SSW not- dem Kollegen Fischer zu, dass der Vertrag für uns wendig ist, Volksabstimmungen zur Ratifizierung Chancen eröffnet, um beispielsweise mit dem Ver- dieses Vertragswerkes durchzuführen. Ich möchte tragswerk die Ostseekooperation, die Nordseeko- auch nicht verhehlen, dass ich darüber enttäuscht operation oder die Nachbarschaftspolitik im Ostsee- bin, dass die dänische Regierung keine Volksab- bereich zu stärken. Ich bleibe allerdings dabei, dass stimmung durchführen will. Schließlich gibt es in diese Aufgaben für den Schleswig-Holsteinischen Dänemark eine lange Tradition in Sachen Volksab- Landtag unabhängig von EU-Fragen zu seinen stimmungen und diese haben auch dazu geführt, Kernaufgaben gehören müssen. Ich sage hier zum dass intensive öffentliche Debatten zu EU-Fragen wiederholten Male. Wir können diese Aufgabe, die- geführt wurden. se Arbeit nicht der Landesregierung alleine überlas- sen. Hier sind wir gefragt. Bisher scheint nur Irland eine Volksabstimmung durchführen zu wollen und das ist äußerst bedauer- (Beifall bei SSW, SPD und FDP) lich. Dies trägt aus unserer Sicht zum weiteren Des- Und ich sehe manchmal, dass hier Anspruch und interesse der Bürgerinnen und Bürger an der EU Wirklichkeit auseinanderklaffen. bei, da sie schon wieder nicht gefragt werden. Da- bei gibt es im Vertrag von Lissabon durchaus auch Weiterhin ist es so, dass der Ausschuss der Regio- positive Elemente, die eine öffentliche Diskussion nen gestärkt wird und ihm mehr Aufgaben übertra- überhaupt nicht zu scheuen brauchen. gen werden. Das ist meiner Meinung nach auch zwingend notwendig. Da durch den neuen Vertrag So sind in Artikel 21 der Charta im Rahmen der auch den nationalen Parlamenten mehr Einfluss ge- Nichtdiskriminierungsbestimmungen ausdrücklich währt wird, müssen die Regionen in Zukunft noch auch die nationalen Minderheiten erwähnt. stärker versuchen, ihre Plattform in Brüssel besser (Beifall beim SSW und des Abgeordneten und effizienter zu nutzen. Denn ansonsten werden Dr. Ekkehard Klug [FDP]) die Regionen zwischen den politischen Entschei- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5627

(Anke Spoorendonk) dungszentren in Brüssel und in den nationalen Rolf Fischer [SPD]: Hauptstädten weiter an Boden verlieren. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Problem mit der Subsidiaritätskontrolle ist Anke Spoorendonk, ich stimme Ihnen in der Rede bereits angesprochen worden. Ich denke, hier gibt und in der Bewertung zu 99 % zu. Ich möchte nur es noch viel zu tun. Ich sehe im Moment noch nicht diesen Punkt der Volksabstimmung noch einmal richtig, wie wir es lösen können, aber wir werden ansprechen, weil er jedes Mal aufgerufen wird und uns Mühe geben und vielleicht wird es in Zukunft weil ich gleich begründen werde, warum ich dage- Änderungen geben, die es uns ermöglichen werden, gen bin und ich auf Podien deshalb immer ganz diese Kontrolle so wahrzunehmen, wie wir es uns schlecht aussehe. Natürlich macht es sich gut, dafür gewünscht haben, als wir diese Kontrolle begrüßt zu werben, dass alle Menschen abstimmen sollen, haben. und zu sagen, dass wir es jetzt so machen. Dabei bekommt man sehr viel Applaus und die Leute Der SSW hätte sich gewünscht, dass man bei der freuen sich. institutionellen Reform noch mehr Entscheidungen so nah wie möglich am Bürger dezentral verankert Dadurch wird nur das Argument nicht richtiger. Je- hätte. Denn nur vor Ort können die Bürgerinnen der weiß - und auch Sie wissen es -, dass wir in der und Bürger von der europäischen Zusammenarbeit Bundesrepublik die Möglichkeit des Volksentschei- überzeugt werden. Auch der neue Vertrag bringt des gar nicht haben. Jetzt könnte man erklären, wir nur wenig mehr Klarheit in der Frage, wofür in Zu- ändern das Grundgesetz mit einer Zweidrittelmehr- kunft die EU verantwortlich ist und wofür die na- heit, aber dann muss man auch so ehrlich sein und tionalen Parlamente und die Kommunen die Ver- sagen, dass wir es nicht nur für die Volksabstim- antwortung tragen. mung zur Europäischen Verfassung ändern, son- dern dass wir generell darüber reden, ob wir Volks- Mein Fazit ist daher, dass der Vertrag sicherlich ei- abstimmungen wollen oder nicht. nige Defizite weggeräumt und auch technokratische Hürden der europäischen Zusammenarbeit über- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wunden hat. Die Probleme, die viele Politikerinnen und SSW) und Politiker mit den bisherigen EU-Institutionen Dieser Prozess wird aber ein bisschen länger dauern hatten, sind also zum Teil gelöst worden. Aber das als die Zeit, die wir haben. Ich könnte mir vorstel- entscheidende Manko der bisherigen EU-Politik, len, dass der eine oder andere Jurist auch etwas da- die mangelnde Bürgernähe, bleibt auch in Zukunft zu zu sagen hat. Eine oder mehrere Doktorarbeiten bestehen. Deshalb müssen wir weiterhin hart daran werden zu dieser Frage wahrscheinlich in Auftrag arbeiten, dass das Ringen um politische Lösungen gegeben. Damit werden wir die Frage der europäi- aus den geschlossenen Räumen in Brüssel wieder in schen Verfassung aber nicht lösen, sondern wir den Bundestag und in die Landtage zurückkehrt. schieben sie mit großer Wahrscheinlichkeit sehr Nur so haben die Menschen die Chance, politische weit hinaus. Denn es gibt ja - das haben wir an der Konflikte und Kompromisse nachzuvollziehen und Frage der plebiszitären Elemente in unserer eigenen nur so wird die Akzeptanz der EU insgesamt ver- Landesverfassung gesehen - einen eminenten Be- bessert werden können. darf an Diskussionen zu so einer grundsätzlichen (Beifall bei SSW und SPD) Frage. Und wenn ich noch eines hinterherschieben darf, Vizepräsidentin Frauke Tengler: weil es mich auch immer ärgert: Wenn wir denn Ich danke der Abgeordneten Spoorendonk und über die Verfassung abstimmen könnten, wenn wir möchte mit Ihnen eine weitere Besuchergruppe auf denn wollten und dürften und sollten, dann müssten der Tribüne begrüßen. Es sind Mitglieder des Inner wir natürlich auch eine EU-Verfassung haben. Wir Wheel Clubs Kiel. - Herzlich willkommen! haben im Moment aber keine Verfassung. Wir ha- ben eine Grundrechtecharta und wir haben einen (Beifall) Katalog, der eine Art Geschäftsordnung ist; wenn Für einen Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 der Ge- man so will, beschreibt er eine Institutionenver- schäftsordnung erhält nun der Herr Abgeordnete flechtung. Man kann doch nicht ernsthaft hingehen Rolf Fischer das Wort. und sagen: Wir wollen eine Volksabstimmung über doppelte Mehrheiten, über komplizierte Verfahren, die ja - wie ich zugebe - letztlich nur wenige Leute 5628 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Rolf Fischer) verstehen. Darüber aber auch noch eine Volksab- auf der einen Seite gegen eine scheinbar immer stimmung zu machen, das ist doch unmöglich. weiter ansteigende Jugendkriminalität wettert, auf der anderen Seite aber bei den Einrichtungen Gel- Es geht also im Kern nur um die Grundrecht- der und Personal streicht, die sich dieses Problems echarta. Wenn wir ehrlich sind, dann brauchen wir in der Vergangenheit angenommen haben? hier - so glaube ich - keine Volksabstimmung, denn die Inhalte der Grundrechtecharta sind Teile unse- (Beifall bei FDP und SSW) res Grundgesetzes. Damit sind wir doch alle einver- In Hessen war aus einem Fachthema ein Machtthe- standen. ma geworden, und es war wohltuend, zu sehen, (Beifall bei SPD und CDU) dass die Vorschläge der hessischen CDU auf den einheitlichen Widerstand der Wissenschaftler, der Vizepräsidentin Frauke Tengler: Fachverbände und der Praktiker stießen. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich (Beifall bei FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schließe die Beratung. Ich stelle zunächst fest, dass NEN und SSW) der Berichtsantrag Drucksache 16/1801 durch die Die Tatsache, dass die Wahlen in Hessen vorbei Berichterstattung der Landesregierung seine Erledi- sind und dass sich das Thema für die Union als Bu- gung gefunden hat. Der Tagesordnungspunkt ist mit merang erwiesen hat und daher nicht zu erwarten der Berichterstattung der Landesregierung erledigt. ist, dass sich die gleichen Abgründe in Hamburg Es ist keine Ausschussüberweisung beantragt wor- auftun, gibt uns in diesem Haus die Chance, auf den. sachlicherer Ebene über den Stand des heutigen Ju- Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: gendstrafrechts zu reden. Dazu lassen Sie mich Fol- gendes feststellen: Die Jugendkriminalität ist in den letzten Jahren bundesweit zurückgegangen. Der Entschließung zum Jugendstrafrecht Anteil nicht deutscher Tatverdächtiger - diese wur- Antrag der Fraktionen von FDP und BÜNDNIS den von Herrn Koch ja immer besonders erwähnt - 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten des ist in der Altersgruppe von 14 bis 21 hinsichtlich SSW der Gewaltkriminalität in den Jahren 1997 bis 2006 Drucksache 16/1816 (neu) gerade in den westlichen Bundesländern signifikant zurückgegangen. In Schleswig-Holstein ist er zum Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das Beispiel in dem besagten Zeitraum von 24 auf 13 % ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Herr gesunken. Abgeordneter Wolfgang Kubicki hat das Wort. Das sind die Fakten. Es stellt sich daher die Frage, ob der Anlass für die Diskussion um eine Verschär- Wolfgang Kubicki [FDP]: fung des Jugendstrafrechts überhaupt bestand. Für Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! jugendliche Gewalttäter unter 18 Jahren gibt es Seit Sonntag ist der Wahlkampf in Hessen vorbei. bereits heute die Möglichkeit der Haft durch die Das Ergebnis ist bekannt. Der noch amtierende Mi- Verhängung einer Jugendstrafe. Gewalttäter über nisterpräsident Koch hat eine dramatische Niederla- 18 werden auch heute wie Erwachsene bestraft, ge erlitten, auch wenn die CDU im Land noch wenn die Richter nicht der Auffassung sind, dass es stärkste Fraktion ist. Im Endspurt des Wahlkampfes sich bei der Tat um eine Jugendverfehlung handelt hat eben dieser Ministerpräsident versucht, mit ei- oder dass der Täter in seiner Entwicklung einem Ju- ner zweifelhaften Kampagne zur Verschärfung des gendlichen gleichkommt. Für die wenigen Täter, Jugendstrafrechts noch Stimmen für die hessische denen nicht mehr mit den erzieherischen Maßnah- CDU zu ergattern. Was er mit seiner politischen men des Jugendstrafrechts beizukommen ist, ist al- Stimmungsmache allerdings erreicht hat, war, den so im Gesetz gesorgt. Wählerinnen und Wählern, die gar nicht mehr wus- Es wäre allerdings fatal, diejenigen Jugendlichen sten, warum sie sich für die SPD entscheiden soll- praktisch aufzugeben, die wir mit den erzieheri- ten, einen Grund hierfür zu liefern. Jede Stimme für schen Maßnahmen noch erreichen können; und die SPD war eine Stimme für die Abwahl von Mi- dies nur aufgrund einer öffentlichen Kampagne ge- nisterpräsident Koch. Das hat er erreicht. Das Er- gen einen eigentlich geringen Anteil von Tätern. gebnis kennen Sie. Eine Verschärfung des Jugendstrafrechts oder die Wer nimmt es der Bevölkerung übel, einem Minis- durchgängige Anwendung des Erwachsenenstraf- terpräsidenten einen Denkzettel zu verpassen, der rechts auf alle über 18-Jährigen ist nicht nur sach- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5629

(Wolfgang Kubicki) widrig, sie wird von uns auch abgelehnt. Erstes Ziel Die weitere Debatte können wir gern im Ausschuss muss es doch sein, Jugendliche, die straffällig ge- führen. Ich beantrage die Überweisung an den In- worden sind, künftig von Straftaten abzuhalten und nen- und Rechtsausschuss. damit im Ergebnis präventiv für mehr Sicherheit zu (Beifall bei FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sorgen. Höhere Strafen schrecken nicht vor Strafta- NEN und SSW) ten ab. Bei Jugendlichen gilt eher das Gegenteil. Alle empirischen Untersuchungen zeigen, dass die Rückfallgefahr bei kurzen Freiheitsstrafen beson- Vizepräsidentin Frauke Tengler: ders hoch ist. Diese Strafen schrecken nicht ab. Da- Ich danke Herrn Abgeordneten Wolfgang Kubicki. für aber sind ihre entsozialisierenden Wirkungen - Für die CDU-Fraktion erteile ich Herrn Abgeord- sehr hoch. Wer ins Gefängnis kommt, der kommt neter Peter Lehnert das Wort. zumeist auch in das entsprechende Milieu. Die Ge- fahr eines Abgleitens besteht insbesondere bei noch Peter Lehnert [CDU]: nicht in sich gefestigten Charakteren, also bei Ju- gendlichen oder Heranwachsenden, die eben noch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht die notwendige Reife haben. Jugendgewalt in Deutschland ist ein gesellschaftli- ches Problem, für das es keine Patentlösungen gibt. Eine Veränderung des Jugendstrafrechts ist also Eine Politik des Verschweigens, des Verharmlosens nicht geboten. Geboten ist Unterstützung, wo sie und der Tabuisierung würde Lösungsansätze aller- gebraucht wird, und zwar durch eine ausreichende dings behindern. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, Ausstattung der ambulanten Familienhilfen und dass sich die Lebenswirklichkeit verändert hat. Bür- der Bewährungshilfe, durch eine ausreichende ger meiden aus Angst vor Jugendgewalt zuneh- Ausstattung von Polizei und Justiz, sodass die mend öffentliche Verkehrsmittel und bestimmte Strafe auf dem Fuß erfolgen kann, was auch eine Bereiche. Das dürfen wir nicht länger hinnehmen. erzieherische Wirkung hat, sowie durch eine ausrei- Rechtsfreie Räume darf es in Deutschland nicht ge- chende Förderung freier Träger. Wir sollten uns ben. Die Menschen erwarten mit Recht, dass der ernsthaft um Schulsozialarbeit bemühen, um auf- Staat alles daran setzt, seine Bürger entschlossen fällige Kinder und Jugendliche in ihrem sozialen und erfolgreich vor kriminellen Übergriffen zu Umfeld vor jeder Straffälligkeit betreuen zu kön- schützen. Vorrangig müssen alle Maßnahmen den nen. Darüber sollten wir wirklich sehr ernsthaft de- Schutz potenzieller Opfer von Straftaten im Blick battieren. behalten. (Beifall bei FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mit welchen Fakten haben wir uns zu befassen? NEN und SSW) Die Gewaltkriminalität in Deutschland ist in den Darüber hinaus sollten wir insbesondere für Wie- letzten Jahren um 15 % gestiegen. Jugendliche und derholungs- und Intensivtäter auch eine kritische heranwachsende Täter verüben rund 43 % aller Bestandsaufnahme über die in Schleswig-Holstein Gewaltdelikte. Auch wenn es zurzeit nicht gerade derzeitig vorhandenen Hilfe- und Kontrollsysteme populär zu sein scheint, so macht es doch keinen durchführen. Derzeit bekommt man eher den Ein- Sinn, es zu verschweigen: Die Jugendgewalt in un- druck, dass viele Institutionen und Organisationen serem Land ist nun einmal nicht unerheblich von unkoordiniert und nebeneinanderher arbeiten. Poli- jungen Männern mit Migrationshintergrund ge- zei, Jugendhilfe, Bewährungshilfe, Jugendarrest, prägt. Dies macht deutlich, dass nur mit einem dif- Jugendstrafvollzug, Agenturen für Arbeit, Schuld- ferenzierten Maßnahmenkatalog angemessene nerberatung, Drogenhilfe, Freie Straffälligenhilfe, und zielgruppenorientierte Lösungen für das Pro- Opferhilfe und so weiter sind hier zu nennen. Der blem der Jugendgewalt gefunden werden können. letzte Opferschutzbericht der Landesregierung hat Damit der Staat seine Bürger wirksam vor Über- in dieser Frage zumindest keine zufriedenstellende griffen schützen kann, müssen präventive und re- Auskunft gegeben. pressive Maßnahmen ergriffen werden, die sich nicht ausschließen, sondern sich im Gegenteil sinn- Wenn CDU und SPD heute dem Antrag von FDP, voll ergänzen. Grünen und SSW zustimmen, dann wäre das, zu- mindest dem Inhalt nach, ein gutes politisches Si- Den Blick nur auf die Prävention zu richten, ist gnal. hingegen der falsche Weg, denn es gibt keine Er- folgsgarantie; insbesondere dann nicht, wenn Be- (Beifall beim SSW) troffene und ihre Familien für vorbeugende Maß- nahmen nicht zugänglich sind. Die Ursachen für 5630 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Peter Lehnert)

Kinder- und Jugendkriminalität sind so vielfältig damit wir gemeinsam gegen innerfamiliäre Gewalt, wie wir Menschen selbst. Dennoch sind einige im- falsch verstandene Familienehre und mangelndes mer wiederkehrende Ursachenmerkmale festzustel- Rechtsbewusstsein vorgehen können. len, die eindeutig mit dem Milieu, in dem die Ju- Wir müssen wissen, wo besondere Präventionsan- gendlichen aufwachsen und sich bewegen, zusam- strengungen erforderlich sind. Die Benennung der menhängen. Der Verlust von Werteorientierungen, Täter und besonders problematischer Milieus ein- fehlende Zukunftsperspektiven und mangelnde so- schließlich der Herkunft darf deshalb nicht länger ziale Kompetenzen können ebenso eine Rolle spie- problematisiert werden. Wir müssen jugendlichen len wie eine schlechte Ausbildung, das Wohnum- Tätern klare Grenzen setzen und durch rasche und feld oder die Überforderung der Eltern bei der Er- konsequente Reaktion dem gesetzlichen Vorrang ziehung ihrer Kinder. Geltung verschaffen. Die Sanktion muss der Tat auf Auch Gewalt in den Medien und entsprechende dem Fuße folgen. Nur eine rasche und konsequente Einflusswirkungen kommen als Auslöser von kri- Reaktion auf die Straftat beeindruckt jugendliche minellen Verhaltensweisen - insbesondere von Ge- Täter. Urteile müssen deshalb schnellstmöglich er- walthandlungen - infrage. Integrationsprobleme und gehen, um Wirkung zu erzielen. Die verhängten eigene Gewalterfahrungen bei jungen Menschen Sanktionen müssen spürbar sein. Eine Staatsge- verstärken ebenso wie mangelnde Sprachkompeten- walt, die schwere Gewaltdelikte lediglich mit Wei- zen bei ausländischen Jugendlichen die Problemfel- sungen, Verwarnungen und Auflagen ahndet, wei- der. Diese kausalen Zusammenhänge werden durch tere Reaktionen aber zumeist ausklammert, wird sehr viele einzelne und mittlerweile soziologisch von vielen jugendlichen Tätern nicht ernst genom- ausgewertete Biografien immer wieder bestätigt. men. Konfliktlösungen ohne Gewalt müssen be- Sie bilden einen festen und wesentlichen Bestand- stimmte jugendliche Straftäter frühzeitig lernen, teil der Ursachen der Jugendgewalt. Die Schwierig- nicht erst nach einer langen kriminellen Karriere. In keiten im Bereich der sozialen Rahmenbedingun- Erziehungsinternaten mit therapeutischem Gesamt- gen erklären vieles. Sie dürfen aber nicht als pau- konzept können sie den Alltag mit fester Struktur schale Entschuldigung herangezogen werden. Für und Respekt vor anderen erleben. Auch als Alterna- die Tat und ihre Folgen ist vor allen Dingen der Tä- tive oder Ergänzung zur Haftstrafe kommt eine ter selbst verantwortlich. Unterbringung in einer, wenn nötig geschlossenen, Erziehungseinrichtung oder in einem Präventions- Die wichtigsten Beiträge für eine individuelle und projekt in Betracht. nachhaltige Gewaltprävention leistet eine auf Wer- tevermittlung ausgerichtete Erziehung in der Fa- Ständiges Fehlen im Schulunterricht sollte konse- milie. Schule und Freizeiteinrichtungen können die quent sanktioniert werden. Eltern sollten dazu ange- Erziehungsarbeit der Eltern unterstützen. Wo Defi- halten werden, ihren Erziehungsauftrag zu erfüllen, zite festgestellt werden, bedarf es gezielter Förde- um dem Anspruch ihrer Kinder auf Bildung gerecht rungen über die unterschiedlichen Entwicklungs- zu werden. phasen junger Menschen hinweg. Der erfolgreichen Der Staat kann nur dann von Bürgern Zivilcourage Verhinderung von Gewaltkriminalität durch eine und Einsatz fordern, wenn er selbst entschlossen systematische und umfassende Präventionsarbeit genug mit jungen Straftätern umgeht. Jugendliche kommt maßgebliche Bedeutung zu. Es hat sich als und heranwachsende Straftäter spüren heute häufig erfolgreiches Präventionsmodell bereits eine Viel- erst nach einer Vielzahl sehr milder Sanktionen die zahl sogenannter runder Tische etabliert. Diese Härte des Gesetzes. Bei Serien- und Intensivstraftä- Runden Tische bringen Kooperationen von Jugend- tern verfehlen die uns zur Verfügung stehenden ämtern, Polizei, Justiz und Schulen sowie Auslän- Maßnahmen nicht selten ihre Wirkung. Das derzei- derbehörden. Eine flächendeckende Fortführung tige Instrumentarium des Jugendstrafrechts sollte dieser bewährten Programme muss systematisch deshalb zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger verfolgt werden. ergänzt werden. Erfolgreiche Prävention setzt voraus, dass Proble- Nach den Ursachen für Jugendgewalt zu suchen er- me erkannt und benannt werden. Studien belegen, fordert Sachlichkeit und Ernsthaftigkeit sowie eine dass sich ethnische Unterschiede im Gewaltverhal- vielschichtige Analyse, die sich von ideologisch ten von Jugendlichen durch familienspezifische verfestigten Grabenkämpfen verabschieden muss. Rahmenbedingungen und gewaltlegitimierende Nur mit diesem Lösungsansatz erzielen wir nach- Männlichkeitsnormen erklären lassen. Hier haben haltige Ergebnisse, die sich für die Gesellschaft, die auch die Migrantenverbände eine Verantwortung, Täter und vor allem die Opfer als hilfreich erweisen Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5631

(Peter Lehnert) werden. Ich finde es sehr positiv, Herr Kubicki, sonengruppe, die uns die Probleme macht, die mit dass wir diesen Antrag in den zuständigen Fachaus- großer Gewalt vorgeht - stellt der Arrest sozusagen schuss überweisen und dort die Diskussion sachlich einen Ritterschlag dar, auf den man stolz verweisen und fachlich weiterführen. kann. Also ist auch das Thema Arrest differenziert zu betrachten. (Beifall bei der CDU) Um noch eines deutlich zu machen: Wir dulden Vizepräsidentin Ingrid Franzen: keine Gewalt, nicht im öffentlichen Bereich und im Übrigen - ich erinnere an die Diskussion über die Ich danke dem Abgeordneten Peter Lehnert und er- Wegweisung - auch nicht im privaten Bereich der teile das Wort für die SPD-Fraktion der Frau Abge- Familie, wo viele der Jugendlichen, über die wir ordneten Anna Schlosser-Keichel. heute sprechen, ihre ersten und prägenden Gewal- terfahrungen gemacht haben. Anna Schlosser-Keichel [SPD]: (Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! GRÜNEN) Es ist zu hoffen, dass sich mit dem Pulverdampf der Wahlkämpfe auch die Lautstärke der Stammtische Wir sind uns einig, Herr Lehnert, auch Jugendliche senkt, an denen über den Umgang mit straffälligen und Heranwachsende müssen die Folgen ihrer Tat Kindern und Jugendlichen diskutiert wird. spüren, müssen unmittelbar, schnell vor dem Rich- ter stehen. Sie sollen die Strafe noch direkt mit ih- (Beifall bei SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ rem Tun in Verbindung bringen können. Deshalb DIE GRÜNEN) muss das Vorrangige Jugendverfahren, das als Die wirklichen Fachleute, Vertreter des Strafvollzu- „Flensburger Modell“ bundesweit Beachtung ge- ges und der Polizei ebenso wie Richter und Sozio- funden hat, das inzwischen auch ausdehnt worden logen, haben ohnehin auch in den vergangenen ist und gute Erfolge zeigt, in ganz Schleswig-Hol- stürmischen Wochen in bemerkenswerter Überein- stein angewendet werden. stimmung deutlich gemacht, dass längere und härte- (Beifall bei SPD und SSW) re Strafen die zweifellos vorhandenen Probleme auch nicht im Ansatz lösen können. Wir müssen im Ausschuss ernsthaft darüber bera- ten, welche unerklärlichen Widerstände es in ge- (Beifall bei der SPD) wissen Landesteilen dagegen noch gibt und wie sie Das war und das ist auch unsere Position, die wir, schnellstens auszuräumen sind. die SPD-Fraktion, in der Koalition vertreten. Mit (Wolfgang Kubicki [FDP]: Sie müssen das uns wird es keine Verschärfung des Jugendstraf- „Lübecker Modell“ nennen! - Heiterkeit) rechtes geben Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir möchten auch (Beifall bei SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ künftig den Richterinnen und Richtern die Ent- DIE GRÜNEN) scheidung überlassen, ob sie Heranwachsende nach und, um auf Herrn Lehnert zu antworten, auch kei- Erwachsenenstrafrecht verurteilen oder ob sie ne geschlossenen Erziehungsheime. Kinder, so auf- zum Beispiel einen 19-jährigen als so unreif ein- fällig sie auch sein mögen, sind ein Fall für die Ju- schätzen, dass Erziehungsmaßnahmen, die im Ju- gendhilfe und nicht für die Justiz. gendstrafvollzug ja im Vordergrund stehen, den größeren Erfolg versprechen. Da, wie gesagt, ver- Für ausländische kriminelle Jugendliche, um einen lasse ich mich auf die Entscheidungen der Richte- weiteren Diskussionspunkt aufzugreifen, gibt es be- rinnen und Richter. Der Jugendstrafvollzug ist ja reits die Möglichkeit der Abschiebung. Und was kein Knast light. Der Jugendstrafvollzug hat viel den martialischen Ruf nach dem Warnschussarrest differenziertere, für die Betroffenen oft auch un- angeht: Wir haben in Moltsfelde eine gut belegte gleich anstrengendere Möglichkeiten, an ihrer Re- Jugendarrestanstalt. Die derzeit 33 Plätze werden sozialisierung zu arbeiten. Deshalb ist es in be- völlig unabhängig von der aktuellen Diskussion stimmten Fällen sicherlich die bessere Wahl. Über demnächst um 24 Plätze erweitert. Dazu muss man das Jugendstrafvollzugsgesetz haben wir hier im wissen, dass ein Jugendarrest auf manchen Ersttäter Dezember in aller Ausführlichkeit gesprochen. Wir und Mitläufer durchaus wie der berühmte „Schuss haben damit das Handwerkszeug, um den fort- vor den Bug“ wirken und zum Nachdenken anregen schrittlichen und auf Resozialisierung ausgerichte- kann. Für „Rädelsführer“ dagegen - das ist die Per- ten Jugendstrafvollzug auch weiter zu verbessern. 5632 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Anna Schlosser-Keichel)

Das Gesetz ermöglicht auch neue Entwicklungen, Vizepräsidentin Ingrid Franzen: etwa den im vorliegenden Antrag genannten Voll- Ich danke der Frau Abgeordneten Anna Schlosser- zug in freien Formen. Das Übergangsmanagement Keichel und erteile das Wort für die Fraktion neu zu organisieren, die Schritte nach dem Straf- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Herrn Abgeord- vollzug in die Freiheit, das wird die große Heraus- neten und Fraktionsvorsitzenden Karl-Martin Hent- forderung für den Strafvollzug in den nächsten Jah- schel. ren sein. Wir werden auch unseren finanziellen Bei- trag zur Umsetzung des neuen Jugendstrafvollzugs- gesetzes leisten. Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: In erster Linie aber, liebe Kolleginnen und Kolle- gen, muss es darum gehen, aktiv zu werden, bevor Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und das Kind in den kriminellen Brunnen gefallen ist, Herren! Wir könnten jetzt, nachdem Herr Koch in wie es der Kollege Puls kürzlich ausgedrückt hat. Hessen eine solche Schlappe erlitten hat, zur Tages- Wir wissen, dass der Grund für den Ausbruch von ordnung übergehen. Aber ich glaube, dem Thema Gewalttätigkeit oft berufliche Perspektivlosigkeit, wird es nicht gerecht, wenn wir zur Tagesordnung Randständigkeit und soziale Verwahrlosung ist. übergehen, ich glaube, es ist ausgesprochen wich- Wir brauchen deshalb Schulen, die gerechte Bil- tig. In einem hat er ja recht: Die Jugendgewalt be- dung und damit gerechte Berufschancen sichern. unruhigt viele Menschen. Wenn ein Thema viele Unsere laufende Schulreform ist sicherlich ein Menschen beunruhigt, dann müssen wir uns auch wichtiger Beitrag dazu. mit ihm auseinandersetzen und müssen auch Ant- worten geben. Dabei geht es nicht darum, ob wir (Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE darüber reden, sondern darum, welche Antworten GRÜNEN) wir geben, welches die richtigen sind. Wir brauchen eine funktionierende Jugendhilfe für (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überforderte Eltern und für gefährdete Kinder und und FDP) Jugendliche. Die kostet Geld. Und wir brauchen die gute Zusammenarbeit aller Akteure, Schule, Ju- Die Antworten allerdings, die in Hessen zu geben gendhilfe, Polizei, Justiz, damit dann im Ernstfall versucht wurden, sind - das ist auch sehr erfreulich nicht aus Ersttätern Intensivtäter werden. gewesen - von allen Fachverbänden, von allen Fachleuten, von den Anwaltsvereinen, von den Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nötigen Inve- treuern in den Gerichten, von den Richtern, auf al- stitionen in diesen Bereichen Schule, Bildung, Ju- len Ebenen auf Ablehnung gestoßen. Das ist, denke gendhilfe sind nicht nur sozial angemessen, sondern ich, sehr gut gewesen, und dass diese Debatte so langfristig allemal wirtschaftlicher als der Repara- deutlich geführt wurde, ist auch ein Fortschritt. turbetrieb, den wir uns im Arrest und im Strafvoll- Denn wir haben in der Vergangenheit erlebt, wie zug leisten. mit harten Sprüchen Probleme vereinfacht darge- (Beifall bei der SPD) stellt worden sind und man glaubte, mit einfachen Lösungen Menschen bei der Wahl zu gewinnen. Ich sage das mit Blick auf unsere eigenen Haus- Dass das nicht gelungen ist, hat mich sehr gefreut. haltsberatungen, aber auch in Richtung der Kreise Ich glaube, es ist ein Fortschritt in der Debatte. und kreisfreien Städte, der Jugendhilfeträger. (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich beantrage auch die Überweisung an den Innen- und vereinzelt bei der SPD) und Rechtsausschuss und möchte jetzt schon anre- gen, im Rahmen dieser Beratung auch die in der Ich möchte auf einige Punkte eingehen. Pressemitteilung der Landesregierung vom 25. Ja- Zunächst zur Erhöhung der Höchststrafe von nuar genannten Konzepte und Präventionsprojekte zehn auf 15 Jahre, die es ja für die Heranwachsen- vorzustellen, gegebenenfalls auch andere Projekte, den schon gibt. Die Erfahrungen haben gezeigt, die sich in der Fläche entwickelt haben. dass diese Erhöhung in keiner Weise zur Ab- (Beifall bei SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE schreckung geführt hat, und alle Psychologen, alle GRÜNEN und SSW) Fachleute sagen, dass gerade im Bereich der Ju- gendkriminalität eine Abschreckung durch das Strafmaß überhaupt nicht zu erreichen ist, da Ju- gendliche gar nicht an diese Strafen denken, wenn sie diese Taten begehen, dass umgekehrt aber die Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5633

(Karl-Martin Hentschel)

Erfahrung des Gefängnisses, die Erfahrung des ist der Vollzug in freien Formen, wie er zum Teil Strafvollzugs auch nicht dazu führt, dass die Ju- in Baden-Württemberg durchgeführt wird, wo man gendlichen kuriert werden. Vielmehr sind die ex- anstelle des Gefängnisses versucht, Jugendliche trem hohen Rückfallquoten gerade im Bereich des durch entsprechende Betreuung in Erziehungsgrup- Jugendvollzugs darauf zurückzuführen, dass der pen zurückzugewinnen. Diese Ansätze sind erfreu- Freiheitsentzug häufig eine Abkehr von der Gesell- lich. Wir unterstützen sie. Wir haben ebenso wie schaft eher noch verstärkt. die FDP versucht, sie in das Gesetz einzubringen. Ich denke, darüber muss man reden. Aber diese Er- Das Problem besteht tatsächlich darin, den einzel- ziehungscamps bewirken, so wie sie proklamiert nen Jugendlichen durch entsprechende Therapien worden sind, aller Erfahrung nach das Gegenteil. und durch entsprechende Sozialarbeit zu erreichen. Wenn das nicht gelingt, ist der Rückfall vorpro- Hier ist von vielen - übrigens auch von Herrn Leh- grammiert. Jeder Jugendliche, der nicht im Gefäng- nert von der CDU; das hat mich sehr gefreut -, ge- nis landet, der auf andere Weise gewonnen wird sagt worden, dass man vorbeugend wirken muss, und sozusagen in die Gesellschaft zurückgeführt dass wir alles tun müssen, um zu verhindern, dass wird, resozialisiert wird, ist ein Gewinn, auch für die Jugendlichen auf diese Laufbahn abrutschen. Es die Sicherheit der Bevölkerung. geht um die Frusterfahrung, die Situation an den Schulen, das Gefühl, dass sie keine Chance haben, Das ist ganz wichtig. Es geht ja nicht nur um die dass sie abgeschoben werden, dass sie noch einmal Jugendlichen. Es geht auch um die Sicherheit der abgeschoben werden und anschließend ohnehin ein Bevölkerung. Dafür ist dies ein Gewinn. Zudem schlechtes Gefühl haben. spart es natürlich der Gesellschaft auch enorme Kosten. Wenn der Jugendliche nämlich erst einmal Ich habe im letzten Herbst wieder die Hauptschul- eine kriminelle Karriere einschlägt, dann bedeutet klassen hier im Landtag erlebt, als sie die Fraktio- das, dass wir im Grunde sein Leben lang immer nen besucht haben. Ich habe die Schüler gefragt. wieder für ihn bezahlen. Sie haben erzählt: Ich habe 20 Bewerbungen ge- schrieben. Ich habe 30 Bewerbungen geschrieben. Der Vorschlag, Heranwachsende generell dem all- Fast alle haben keine Zusage bekommen. gemeinen Erwachsenenstrafrecht zu unterstellen, ignoriert völlig die lange erhobenen Forderungen (Wolfgang Kubicki [FDP]: Und wieso glau- der Praktiker, der Jugendstrafjustiz. Gerade der Ju- ben Sie, dass eine andere Schulform das än- gendgerichtstag im September 2007 hat dafür vo- dern wird?) tiert, das Jugendstrafrecht bis auf 25 Jahre auszu- Jugendliche sind mit 15 Jahren dieser Situation aus- weiten. Warum? Nicht etwa, weil dies liberaler ist, gesetzt. Hinzu kommt die Situation in den Stadt- das ist überhaupt nicht das Problem, sondern des- vierteln, die Situation, dass sie sich als Ausländer wegen, weil es differenzierte Instrument gibt. Das nicht wahrgenommen fühlen. Auch das Vorbild aus Jugendstrafrecht enthält eine Vielzahl von Instru- dem Elternhaus ist häufig nicht gewaltfrei. Wenn menten, um schnell zu reagieren, die Jugendlichen man sich dann darüber wundert, dass Gewalt ausge- über unterschiedliche Maßnahmen zu resozialisie- übt wird, so ist man am falschen Platz. ren und eben nicht nur mit Gefängnis zu reagieren. Das ist ganz wesentlich. Alle Richter sagen, es (Dr. Johann Wadephul [CDU]: Das ist eine komme darauf an, den Jugendlichen für die Gesell- ganz gefährliche Argumentation, Herr Kolle- schaft zurückzugewinnen, ihn zu resozialisieren, ei- ge!) nerseits durch Härte, andererseits aber auch durch Ich denke, wir müssen daraus die Konsequenzen eine entsprechende Betreuung. Wenn das nicht ge- ziehen und alles tun, um diese Jugendlichen für die lingt, zahlen wir sein ganzes Leben lang. Gesellschaft zurückzugewinnen. Deswegen sind alle Fachleute auch hier in Schles- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wig-Holstein einhellig der Auffassung, dass das Ju- gendstrafrecht weitaus besser als das allgemeine Strafrecht geeignet ist, den notwendigen Opfer- und Vizepräsidentin Frauke Tengler: Rechtsgüterschutz zu gewährleisten. Für den SSW erhält die Abgeordnete und Vorsit- Auch die Diskussion um die sogenannten Erzie- zende Anke Spoorendonk das Wort. hungscamps geht am Thema vorbei. Die Erfahrun- gen in den USA sind, wenn man sich die Rückfall- quoten ansieht, keineswegs positiv. Etwas anderes 5634 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

Anke Spoorendonk [SSW]: Entweder wir sperren die Kinder und Jugendlichen - ich sage einmal: - für ihr ganzes Leben weg oder Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wir suchen andere Mittel und Wege. Dass wir es Eine gewisse Logik hatte der Vorstoß von Roland besser machen können, ist offensichtlich. Koch: Wenn man junge Straftäter häufiger wegsperrt und den Strafrahmen bis auf 15 Jahre er- Wir haben Probleme mit einer gestiegenen Zahl höht, dann ist keiner von ihnen mehr jugendlich, von Rohheitsdelikten in dieser Altersgruppe, und wenn er aus dem Knast kommt. Erneute Straftaten wir haben Integrationsprobleme, die das Verhal- werden die entsprechende Statistik nicht mehr bela- ten junger Männer aus Einwandererfamilien mitprä- sten, und die Jugendkriminalität sinkt offiziell. gen. Deshalb brauchen wir eine stärkere Prävention gegen die sozialen Ursachen der Gewalt, und wir Viel mehr als diese verquere Logik lässt sich dem brauchen Methoden der Sanktionierung, die nicht Vorstoß der CDU aber auch nicht entlocken. Denn nur bestrafen, sondern auch neue Lebensperspekti- es ist nun einmal so, dass die Androhung drakoni- ven aufzeigen. Wer etwas gegen Jugendkriminalität scher Strafen Jugendliche nicht von Gewalttaten unternehmen will, muss von den Jugendlichen aus- abhält. Kein Jugendlicher kalkuliert vor dem Zu- gehen, die man verändern will. schlagen den Nutzen und die Kosten und kommt aufgrund der Höhe der Strafandrohung zu dem ra- Koch und Co. haben aber mit ihrer Forderung nach tionalen Schluss, es doch lieber sein zu lassen. Kein Strafverschärfung ganz andere Teile der Bevölke- Jugendlicher wird den Unterschied zwischen zehn rung im Blick. Dass sie dabei für sich beanspru- oder 15 Jahren Haft überblicken können, geschwei- chen, den Opfern besser gerecht zu werden, ist ge denn in seinem Handeln berücksichtigen. Wenn nicht viel mehr als rhetorisches Blendwerk. Am En- es einen präventiven Effekt der Strafe gibt, dann, de ist eine solche Politik sogar gefährlich, weil sie wenn das Bestrafungsrisiko hoch ist und die Strafe offensichtlich ihr Ziel nicht erreichen kann und so der Tat auf dem Fuße folgt. in Kauf nimmt, dass weitere Menschen zu Opfern werden. Deshalb begrüßt der SSW auch ausdrück- (Beifall bei SSW) lich, dass die Minister Döring und Hay nicht am ak- Mit anderen Worten: Es muss das Ziel sein, mög- tuellen Überbietungswettbewerb um das beste Fol- lichst viele Straftaten zu entdecken und sie zügig zu terinstrument für jugendliche Straftäter teilnehmen ahnden. Die Instrumente hierfür sind schon vorhan- wollen. Ich hätte mir gewünscht, dass der Minister- den. Eine konsequente Verfolgung von Jugendkri- präsident von vornherein mit der gleichen Nüch- minalität erfordert keine Änderung des Strafrechts, ternheit in die Debatte eingestiegen wäre. Leider ist sondern entsprechende Mittel im Landeshaushalt auch er der Versuchung erlegen, auf Kosten der für Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte und Be- Sachlichkeit härtere Strafen zu fordern. Ich gehe währungshelfer und für eine bessere Betreuung im aber davon aus, dass die beiden Fachminister für Jugendstrafvollzug, nicht zuletzt, wenn es um den die gesamte Regierung sprechen und erwarte nun, Übergang in die Freiheit geht. Denn andererseits dass die Große Koalition letztlich dem gemeinsa- wissen wir auch, dass ein Gefängnisaufenthalt al- men Antrag der Opposition zustimmen wird. Aber lein nicht auf den geraden Weg zurückführt. Solan- wir stimmen natürlich auch erst einmal der Aus- ge junge Menschen im Knast sitzen, haben sie zwar schussüberweisung zu. weniger Möglichkeiten, rückfällig zu werden; aber (Beifall beim SSW und der Abgeordneten dort lernen sie nicht unbedingt, wie ein anderes, Rolf Fischer [SPD] und Monika Heinold rechtschaffenes Leben aussieht. Im Gegenteil. Sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sehen vor allem, wie andere Kriminelle so leben. Das soziale Umfeld der Gleichaltrigen hat den größten Einfluss darauf, ob jemand kriminell wird. Vizepräsidentin Frauke Tengler: Dieser Einfluss wird auch an den hohen Rückfall- Ich danke Frau Abgeordneter Anke Spoorendonk quoten nach der Entlassung aus dem Strafvollzug und erteile für einen Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 sichtbar. Das haben alle meine Vorredner bereits der Geschäftsordnung dem Fraktionsvorsitzenden angesprochen. der FDP-Fraktion, Herrn Abgeordneten Wolfgang Ein verlängerter Gefängnisaufenthalt oder auch der Kubicki, das Wort. Warnschussarrest sind also nicht geeignet, um straf- fällig gewordene Jugendliche von der Begehung ih- Wolfgang Kubicki [FDP]: rer Straftaten abzuschrecken oder sie zu resoziali- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sieren. Demnach bleiben nur zwei Möglichkeiten: Ich glaube, dass wir in der Debatte einige Sachen Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5635

(Wolfgang Kubicki) klarstellen sollten. Lieber Kollege Hentschel, zu- Herr Kollege Wadephul, ich will davor warnen zu nächst müssen wir uns vor dem Versuch hüten - wir glauben, dass der Übergang von Jugendstrafrecht schaden uns im Zweifel damit selbst -, Erklärungen zum Erwachsenenstrafrecht in dem Straffolgen- zu Entschuldigungen werden zu lassen. Ein Teil Ih- ausspruch etwas Signifikantes bedeuten würde. Sie res Debattenbeitrags hörte sich so an, als würden müssen Entwicklungsverzögerungen über die An- jugendliche Straftäter, die mit hoher Gewaltbereit- wendung des § 21 des StGB möglicherweise einbe- schaft ausgestattet waren oder sind, nichts dafür ziehen und Sie haben deutlich weniger Maßnahmen können, dass sie zu Straftätern geworden sind. Eine zur Verfügung, um auf die jugendlichen oder her- solche Debatte führt in die Irre. anwachsenden Straftäter angemessen zu reagieren. Das Jugendstrafrecht bietet eine Vielzahl von Mög- (Beifall bei der CDU und des Abgeordneten lichkeiten, die das Erwachsenenstrafrecht nicht bie- Rolf Fischer [SPD]) tet. Die Überlegung, die dahintersteht, man müsse Die Erklärungen sind keine Entschuldigungen, sie nur die Strafen erhöhen und damit würden die dürfen auch nicht als solche gewertet werden. Sie Strafaussprüche auch bei Gericht erhöht werden, ist dienen nur dazu, mit den richtigen Maßnahmen dar- relativ kindisch, weil sie mit der Lebenswirklichkeit auf zu reagieren. nichts zu tun hat. Auch ein erwachsener Straftäter, Herr Kollege Lehnert, da ich sicher weiß, dass Sie der in eine Gewalttat verwickelt ist, kommt bei der ein fachkundiger Kenner der Materie sind: Wir soll- Ersttat beispielsweise mit einer vergleichsweise ge- ten auch zur Kenntnis nehmen, dass der Migrati- ringen Strafe davon, weil immer noch die Hoffnung onshintergrund bei der Frage der Gewaltbereit- besteht, ihn möglicherweise auch über eine Bewäh- schaft keine Rolle spielt, sondern die Frage des so- rungsauflage in die Gesellschaft zurückzuholen an- zialen Bedingungsgefüges und der Bildung. statt dauerhaft im Knast zu belassen. (Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der Lassen Sie uns im Ausschuss bei diesen wunderba- SPD) ren Sätzen, die ich im Wahlkampf auch immer wie- der gehört habe, einige Abstriche machen und die Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen darüber, Sache inhaltlich wirklich aufgrund von Unterlagen dass der Anteil der deutschen gewalttätigen Jugend- - möglicherweise aufgrund von Anhörungen - de- lichen aus einer bestimmten, relativ überschauba- battieren. Ich bin sicher, wir kommen relativ zügig ren, homogenen sozialen Gruppierung mit einem - wenn auch nicht auf eine identische - auf eine sehr entsprechenden Bildungsniveau in etwa gleich groß ähnliche Grundlage. ist wie der Anteil von Jugendlichen mit Migrati- onshintergrund bei sonst gleichen sozialen Bedin- (Beifall bei FDP, CDU, SPD und SSW) gungen und gleichen Bildungsstandards. Vizepräsidentin Frauke Tengler: Herr Pfeiffer hat das für Niedersachsen untersucht, auch für Berlin ist das untersucht worden. Die Ab- Das Wort für die Landesregierung erhält Herr Mini- weichungen sind nicht sehr groß. ster Uwe Döring. (Martin Kayenburg [CDU]: Das ist ein stati- Uwe Döring, Minister für Justiz, Arbeit und Euro- stischer Trick!) pa: - Herr Kayenburg, das hat mit Statistik gar nichts Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich zu tun. Das Entscheidende ist nur, dass das soziale hoffe, ich komme mit der Zeit aus, versprechen Bedingungsgefüge vieler Jugendlicher mit Migrati- kann ich das nicht. onshintergrund ein anderes ist als das soziale Be- dingungsgefüge der meisten Jugendlichen mit Meine Damen und Herren, ich denke, die bisherige Nicht-Migrationshintergrund. Aber in vergleichba- Debatte war sehr wohltuend. Sie hat gezeigt, dass ren Gruppen ist es wie gesagt ähnlich. man das Thema sachlich diskutieren kann. Aller- dings befinden wir uns auch außerhalb eines Wahl- (Zuruf) kampfes, das muss man sehen. Es hat einige Unter- - Herr Kollege, ich bin gern bereit, die entsprechen- schiede gegeben, es hat sich aber auch viel Gemein- den Untersuchungen zur Verfügung zu stellen, da- sames gezeigt. Das ist erfreulich. mit man die zur Kenntnis nimmt. Dann kann die Sie wissen, dass ich in dieser Frage eine glasklare Frage, die Kollege Wadephul zu Recht stellt, was Position habe. Ich möchte zunächst einmal zu den da erhoben worden ist, durch eigene Lektüre selbst Gemeinsamkeiten kommen. Wir alle wollen, dass beantwortet werden. Das muss ich nicht tun. 5636 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Minister Uwe Döring)

Jugendkriminalität möglichst gar nicht erst entsteht. sammenarbeit zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft, Wenn Jugendliche dann doch Straftaten begehen, Gerichten und Jugendhilfe. Ich habe mich gerade muss es eine konsequente und schnelle Ahndung mit dem Kollegen Hay vor Ort kundig gemacht: geben. Wie ist die Wirklichkeit? Hat sich Jugend- Die Polizei hat inzwischen für Intensivtäter speziel- kriminalität tatsächlich so erheblich verändert, wie le Sachbearbeiter, die den Jugendlichen zugeordnet es einige Kriminalstatistiken im Zehnjahresver- sind, unabhängig von den Orten, wo die Straftaten gleich zeigen? Viele Fachleute sagen auch, das An- begangen wurden - egal, ob das in Itzehoe, in Mel- zeigeverhalten habe sich verändert. Gott sei Dank dorf, in Wilster oder in Pinneberg war. Die Polizei ist mehr aus dem Dunkelfeld herausgekommen. Ich hat für diese Jugendlichen ein Gesicht. Das ist habe bei Statistiken immer große Vorbehalte. Man wichtig. Die kommen auch einmal unangemeldet muss genau wissen, wie sie erhoben worden sind und gratulieren zum Geburtstag. Die sagen: Wir ha- und was sie miteinander vergleichen. Deswegen ben dich im Visier. Mach keinen Mist heute, wenn möchte ich darauf nicht näher eingehen. du feierst. Unabhängig von dieser Frage bleibt jedoch festzu- Das ist personalintensiv und kostet Personal, das stellen - und das können wir in der Tat belegen -: weiß Herr Kollege Hay besser als ich. Sie wissen, Die Rohheitsdelikte nehmen zu. Es gibt eine klei- sie werden beobachtet. Das ist wichtig. Unser vor- ne gewaltbereite Anzahl von Intensivtätern, die mit rangiges Jugendverfahren für gewalttätige Intensiv- hohem Frust und einer unglaublichen Brutalität täter soll in der Regel dazu führen, dass die Ge- Straftaten begehen. Davor darf man die Augen richtsverhandlung vier Wochen nach der letzten nicht verschließen. Es sind geschätzt etwa 5 % der Vernehmung - in der Regel sechs Wochen nach der Jugendlichen, die solche kriminellen Karrieren ha- Tat - stattfindet. Dieses wurde im Landgerichtsbe- ben, die aber rund 75 % der Straftaten der unter zirk Itzehoe erprobt und inzwischen im Landge- 21-Jährigen begehen. Dieses sind Jugendliche aus richtsbezirk Flensburg und Kiel eingeführt. Wir nicht integrierten Gesellschaftsschichten. Das wollen es in diesem Jahr auch in den meisten Amts- können Deutsche sein, Spätaussiedler, Jugendliche gerichten im Landgerichtsbezirk Lübeck einführen. aus Einwandererfamilien oder Ausländer. Es kenn- Kommen wir nun zum Jugendstrafrecht. Der Un- zeichnet sie aber Folgendes: Sie sind nicht inte- terschied zum Erwachsenenstrafrecht ist, dass hier griert in die Arbeit. Sie sind nicht integriert in die Erziehung das Ziel ist - nicht Strafe und schon gar Bildung. Sie sind nicht integriert in die Kultur. Sie nicht Rache. sind nicht integriert in unser Werte- und Rechtssys- tem. Sie sind nicht integriert in unsere Sprache - (Beifall im ganzen Haus) das gilt auch für Deutsche. Sie leben in einer Paral- Alle Fachleute sagen, dass die zur Verfügung ste- lelgesellschaft des sozialen Gettos. henden Mittel ausreichen. Wir haben sogar eine Sie sind dagegen dadurch gekennzeichnet, dass sie größere Bandbreite als bei den Erwachsenen. Nun ohne Hoffnung, frustriert und gewaltbereit sind. bin ich gern bereit, mich über weitere Instrumente Gewalt ist in diesem Fall immer Frustgewalt. Das zu unterhalten, wenn sie wirklich helfen. Doch hier ist keine Entschuldigung, deshalb teile ich das, was fehlt es in der bisherigen Diskussion und ich möch- Herr Kubicki gesagt hat. Gewalt kann niemals und te einige Anmerkungen machen. von niemandem geduldet werden. Aber wir müssen Kommen wir zur Erhöhung der Höchststrafe von verstärkt vorbeugend tätig werden und dies beginnt zehn auf 15 Jahre. Da möchte ich anmerken, dass in in der Familie, im Kindergarten, in der Schule und der Bundesrepublik jährlich nur etwas über 100 Ju- in der Berufsausbildung. gendliche zu mehr als sechs Jahren verurteilt wer- (Beifall im ganzen Haus) den. Man muss sehen, über welche Größenordnung man redet. Hierzu wird auch schon einiges getan und ich gebe die Anregung, wenn wir darüber im Innen- und Glaubt aber wirklich jemand, dass ein betrunkener Rechtsausschuss diskutieren, das nicht nur mit mir oder adrenalin-gesteuerter junger Mann beim Zutre- zu diskutieren, sondern auch mit Frau Erdsiek-Rave ten oder Zuschlagen über Höchststrafe und Delikt und dem Innenminister Lothar Hay. Insofern kann nachdenkt? Ich denke nicht. Abschreckung funktio- ich die Ziffern 4 und 5 der Entschließung nur be- niert nicht, weil der Kopf zugedröhnt ist und man grüßen. Wird ein Jugendlicher doch straffällig, so ohnehin nicht erwischt werden will. Das ist die muss dieses konsequent und schnell geahndet wer- Realität. Über Warnschussarrest könnten wir reden, den. Bei Intensivtätern muss in der Tat die Strafe wenn sich nicht Bewährung und Arrest in Teilen auf dem Fuße folgen. Hierzu gehört eine enge Zu- Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008 5637

(Minister Uwe Döring) geradezu ausschließen oder kontraproduktiv sein Als Geständnisse konnte man die Einlassungen der können. Angeklagten kaum bezeichnen. Wie oft bei solchen Delikten war von angeblichen Delikten die Rede; Beim Thema Erziehungscamps will ich die intel- ein Messer will keiner gesehen haben. Doch die lektuelle Redlichkeit der US-Bootcamps ausschlie- Aussagen der Überfallenen waren eindeutig. Das ßen, wo man den Willen brechen will. Das ist unse- Urteil lautete auf schwere räuberische Erpressung, rer Verfassung wesensfremd. Ich sage als Justizmi- Freiheitsberaubung und Computerbetrug. Die Sank- nister eindeutig: Auch ein Gefangener hat Men- tion: Der Täter wurde für die Serie von Straftaten schenwürde. zu 20 Monaten Jugendstrafe mit Bewährung verur- (Beifall im ganzen Haus) teilt, muss als Auflage 200 Stunden abarbeiten, ein Genannt werden Erziehungscamps, um den Jugend- Antiagressionstraining absolvieren, Schadensersatz lichen Disziplin, einen geregelten Tagesablauf, für die 90 € Beute leisten. Verstößt er gegen die Be- Ausbildung und Sport beizubringen. Dazu gibt es währung, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass außerhalb des Strafvollzugs Heime der Jugendhil- er die Haftstrafe antreten muss. fe auch in Schleswig-Holstein. Ein geregelter Ta- Das juristisch „mildere“ Urteil trifft den Mittäter, gesablauf, verbindliche Ausbildung, verbindlicher der auch noch wegen einer weiteren Körperverlet- Schulunterricht, verbindlicher Sport, geregelte Frei- zung verurteilt worden ist. Der Schläger muss nun zeit - all dies, meine Damen und Herren, haben wir 100 € Schmerzensgeld zahlen und geht umgehend im Dezember für den Strafvollzug in Schleswig- für vier Wochen in die Jugendarrestanstalt Neu- Holstein beschlossen. Eine Lücke kann ich hier münster-Moltsfelde. Der Tagesablauf: Um 7 Uhr nicht erkennen. wecken, stundenlange Gruppengespräche als Aus- (Beifall bei der SPD) einandersetzung mit der Tat. Ein Erwachsener Ex- Häftling aus der JVA erzählt den Newcomern, dass Die Herabsetzung der Strafmündigkeit auf zwölf es im richtigen Knast noch viel ungemütlicher zu- Jahre wollen wir, denke ich, nicht ernsthaft disku- geht. Wer nicht mitreden will, muss in die Holz- tieren. Kinder in den Knast kann niemand ernsthaft werkstatt oder im Garten ackern. Kein Telefonkon- fordern. takt nach außen, keine Besuche, kein Ausgang. Nur (Beifall im ganzen Haus) Briefe sind erlaubt. Angehörige können sich bei der Anstaltsleitung nach dem Befinden der zu 90 % Meine Damen und Herren, in der öffentlichen Dis- männlichen Arrestanten erkundigen. Kein TV, kein kussion konnte man den Eindruck haben, das Ju- Handy, keine Playstation, dafür viel Sport in der gendstrafrecht sei von Sozialpädagogen und nicht Gruppe. Bis zu 42 Arrestanten gleichzeitig werden von Rechtspolitikern gemacht und werde von Lu- zurzeit - diese Aussage bezieht sich auf das vergan- schen angewärmt. Mein Eindruck von Schleswig- gene Jahr - hier untergebracht, 994 waren es insge- Holstein ist ein anderer. Ein Beispiel - ich bitte um samt. Vergebung, dass ich die Redezeit etwas überziehe - für die Vielfalt des Jugendstrafrechts aus dem Meine Damen und Herren, das ist die Wirklichkeit. Amtsgericht Kiel zitiere ich mit Genehmigung der Ich kann dazu nur sagen: Ich vertraue unseren Ju- Präsidentin aus den „Kieler Nachrichten“ vom gendrichterinnen und Jugendrichtern, und ich freue 19. Januar 2008: mich auf die fachliche Diskussion. Ich bin gern be- reit, mit Ihnen über die Frage zu diskutieren: Gibt „Bad Boys - Dauerarrest und Arbeitsstun- es wirkliche Verbesserungen im Jugendstrafrecht? den“. Das ist ja möglich, aber es müssen auch wirkliche Der Sachverhalt: Die beiden Kieler hatten am Verbesserungen sein. Auf diese Diskussion freue Abend des 16. Mai 2007 am noch belebten Skandi- ich mich. naviendamm auf Höhe der Esso-Tankstelle zwei Ich bitte um Verzeihung, dass ich die Redezeit so 16-Jährige mit einem Teppichmesser beworfen und stark überzogen habe, aber es war der Sache dien- mit dem Vorwurf, sie hätten einem Kollegen 100 g lich. Haschisch geklaut auf ein abgelegenes Schulgelän- de eskortiert. Mit der spitzen Klinge am Hals des (Beifall im ganzen Haus) Opfers ließen sich die Räuber Bargeld und EC-Kar- te aushändigen, presstem dem Verängstigten auch Vizepräsidentin Frauke Tengler: noch die PIN ab, hielten ihn fest, bis der „Geldbo- Herr Minister, ich danke Ihnen. Sie brauchen nicht te“ vom Bankautomaten zurückkam. um Verzeihung zu bitten; Ihre Vorredner haben das 5638 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 77. Sitzung - Mittwoch, 30. Januar 2008

(Vizepräsidentin Frauke Tengler)

Gleiche getan und das Präsidium war in Anbetracht schließe, weise ich noch einmal daraufhin, dass sich der heute zur Verfügung stehenden Zeitfülle sehr morgen früh um 9:30 Uhr der Ausschuss zur Vor- gnädig. bereitung der Wahl der Mitglieder des Landesver- fassungsgerichts im Sitzungszimmer 138 konstitu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmel- ieren wird. dungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung. Ich schließe damit die Sitzung und wünsche Ihnen Es ist beantragt worden, den Antrag Drucksa- einen schönen Abend. Morgen früh um 10 Uhr se- che 16/1816 (neu) dem Innen- und Rechtsausschuss hen wir uns wieder. zu überweisen. Wer zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Gibt es Die Sitzung ist geschlossen. Stimmenthaltungen? - Es ist einstimmig so be- Schluss: 17:25 Uhr schlossen worden. Meine Damen und Herren, ich habe am Schluss ei- ne geschäftsleitende Bemerkung zur laufenden Ta- gung zu machen: Bevor ich die heutige Sitzung

Herausgegeben vom Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landtags - Stenographischer Dienst und Ausschussdienst