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Sendung vom 31.05.2005, 20.15 Uhr

Dr. Burkhard Hirsch Bundestagsvizepräsident a.D. im Gespräch mit Dr. Jörg Lösel

Lösel: Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zum alpha-forum. Zu Gast ist bei uns heute Dr. Burkhard Hirsch. Dr. Hirsch gilt als liberales Urgestein der FDP. Er war Innenminister in Nordrhein-Westfalen, Landesvorsitzender der FDP und stellvertretender Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen und er war langjähriges Mitglied im Deutschen für die FDP. Er war im Bundesvorstand seiner Partei und von 1994 bis 1998 Bundestagsvizepräsident. Herr Dr. Hirsch, Sie sind in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Zeit des Zweiten Weltkrieges aufgewachsen, wie haben Sie diese Zeit erlebt und wie hat Sie diese Zeit geprägt? Hirsch: Es ist sehr schwer, das in wenigen Worten darzustellen. Man hatte ja damals keine anderen Informationsmöglichkeiten als diejenigen – Fernsehen hat es damals noch nicht gegeben, es gab damals nur den Rundfunk und die Zeitungen –, die erlaubt waren. Viele Einzelheiten, die mich dann lange Zeit beschäftigt haben, habe ich erst nach dem Ende des Krieges erfahren. Wir wussten allerdings davor schon, dass es eine zweite Wirklichkeit gibt: Man sprach von Konzentrationslagern, aber man nannte Sie "Konzertlager". Und ich kann mich natürlich auch daran erinnern, dass da plötzlich Menschen mit einem gelben Stern auf der Brust auftauchten und dass diese Menschen dann auf einmal komplett verschwunden waren. Es gab niemanden, der einem erklärt hätte, was da passiert war, es gab niemanden, der einem erklärt hätte, was Kommunismus ist, was Sozialdemokraten sind, was "Rotfront" heißt usw. Man merkte, dass es Dinge gab, über die nicht gesprochen werden durfte und über die man auch tatsächlich nicht sprach. Das hat mich noch lange beschäftigt. Erst nach 1945 habe ich dann die ersten zuverlässigen Informationen bekommen über Massenerschießungen im Osten, über die Wirklichkeit in den Konzentrationslagern. Ich habe mich dann als Student hingesetzt und die ganzen Akten der Nürnberger Prozesse gelesen, um zu verstehen, was eigentlich passiert war. Man fühlte solche Scham und Verachtung angesichts dieser "Größen" des Dritten Reiches. Ich habe mich auch lange mit der Frage beschäftigt, wie die Erwachsenen damals eigentlich mit all dem umgegangen sind. 1945 war ich selbst ja erst 15 Jahre alt. Man hatte uns noch beigebracht, wie man einen russischen Panzer vom Typ "T 34" knackt, wo man auf diesen Panzer aufspringen und die Haftladung anbringen muss. Gott sei Dank kamen dann aber zu uns nicht die Russen, sondern die Amerikaner mit anderen Panzern, sodass wir unsere Kenntnisse nicht mehr anwenden mussten. Es entstand eben nach 1945 eine völlig andere Welt. Man verstand manches, was einem früher nicht so deutlich gewesen war: Mir fielen wirklich Schuppen von den Augen. Ich lebte damals ja in . Wir haben dann gesehen, wie dort ein Regime aufgebaut worden ist, das doch auch wieder Ähnlichkeiten mit dem hatte, dem wir gerade entkommen waren. Das hat mich natürlich dazu bewegt zu sagen, dass man das so nicht hinnehmen könne. Lösel: Das war also im Grunde genommen auch ein Stück weit Motivation für Sie, um politisch tätig zu werden. Sie sind 1948 noch in der sowjetischen Besatzungszone der LDP, der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, beigetreten. Aber bereits 1949 verließen Sie die SBZ, die sowjetische Besatzungszone, und sind nach Westdeutschland geflohen. Hirsch: Ja, ich bin dort in die LDP gegangen. Wir hatten einen Lehrer, der zur LDP gehörte: Wir sind damals in Versammlungen gegangen und haben uns mit Kommunisten herumgeprügelt und haben Plakate geklebt oder abgerissen usw. Wir haben also all das gemacht, was damals halt so üblich gewesen ist. Das war alles viel härter als das, was man dann später im Westen sah und erlebte. Ich trat also im Juli 1948 in die LDP ein: Ich hatte gerade mein Abitur gemacht und meine Eltern waren bereits in Westdeutschland. Ich selbst wollte jedoch in Halle bleiben, denn ich wollte dort studieren. Ich habe dann als Chemiehilfswerker in Leuna gearbeitet. Die LDP war durchspitzelt, was wir jedoch nicht wussten. Ich wurde jedenfalls gewarnt, dass die Russen anfingen, sich nach mir zu erkundigen. Ich hatte im Werk in Leuna natürlich das Maul aufgerissen – wie man das halt so macht. Ich floh dann zunächst einmal nach Berlin und wollte von dort in den Westen. Dazu fehlte mir jedoch das Geld. Die Beamten fragten mich, ob ich denn belegen könnte, dass die Russen mich verhaften wollten. Ich antwortete ihnen: "Ich habe ja an alles Mögliche gedacht, aber nicht daran, mir das von denen auch noch bescheinigen zu lassen!" Ich bin dann unter ziemlich schwierigen Umständen nachts durch den Harz gewandert, den ich ziemlich gut kannte, und kam so nach Westdeutschland. Dort bin ich dann in die FDP eingetreten. Lösel: Sie wurden 1959 Landesvorsitzender der Jungdemokraten in Nordrhein-Westfalen. Sie sind also ziemlich schnurstracks auf eine Politikerkarriere losgegangen. Was wollten Sie bewirken? Hirsch: Ich bin eigentlich nicht schnurstracks auf eine politische Karriere losgegangen, sondern ich habe zunächst einmal angefangen, Medizin zu studieren. Dies habe ich aber nach einiger Zeit wieder aufgegeben und angefangen in Marburg Jura zu studieren. Ich habe mich natürlich auch mit der Frage herumgeschlagen, was ich denn eigentlich mal werden möchte. Die Alternative lautete dann immer: entweder Amtsrichter in Niebüll oder Justizminister. Da ich in der FDP war und es einen einfach nicht mehr loslässt, wenn man sich einmal mit der Politik befasst hat, ging ich also als Referendar nach Düsseldorf. Dort wurde ich als Jungdemokrat auch recht bald in die Ratsfraktion der FDP der Stadt Düsseldorf gewählt. Ich saß dann fast zehn Jahre im Rat der Stadt Düsseldorf. Das war eine Tätigkeit, die mich im Vergleich mit vielem, was ich dann später alles gemacht habe, noch am meisten befriedigt hat. Denn man hielt dort im Rat nicht nur Reden, sondern man konnte bestimmte Anliegen verfolgen oder sogar durchsetzen. Ich habe die Kommunalpolitik immer als eine Arbeit für diejenigen Menschen empfunden, die nicht nach Belieben ihren Wohnsitz verändern, die nicht nach Belieben wegziehen können, weil sie dort in dieser Stadt leben und arbeiten, weil sie ihre Kinder dort zur Schule schicken und schlicht die normalen Lebensverhältnisse funktionieren müssen. Das hat mich sehr beschäftigt und ich habe diese Jahre im Stadtrat von Düsseldorf wirklich als sehr, sehr befriedigend empfunden. Ich war zu dieser Zeit Anwalt in Düsseldorf und habe als Anwalt auch in der Industrie in Düsseldorf gearbeitet. Und dann erst ergab sich eines Tages für mich die Möglichkeit in den Bundestag zu gehen. Dies ist mir im zweiten Anlauf auch tatsächlich gelungen, wobei ich aber zunächst einmal meine Tätigkeit in der Stahlindustrie fortgesetzt habe. Erst zwei, drei Jahre später kam dann im Jahr 1975 die Frage auf mich zu, ob ich Innenminister in Nordrhein-Westfalen werden wollte. Das war der eigentlich entscheidende Moment, in dem ich mich fragen musste: "Gibst du jetzt deine normale berufliche Tätigkeit weitgehend auf und betreibst du die Politik hauptamtlich bzw. beruflich? Oder machst du das nicht?" Das war die eigentliche Entscheidung! Damals habe ich mir erst nach langem Hin und Her, nach wirklich langem Hin und Her, gesagt: "Wenn einem angeboten wird, Innenminister in einem so großen Bundesland zu werden, dann kann man das eigentlich nicht ablehnen, dann muss man das machen!" Lösel: Das war also ein langer Entwicklungsprozess, der Sie zum Politiker hat werden lassen. Einige Jahre davor, also 1967/68, hatte es ja in Deutschland die Studentenbewegung gegeben. Da spielte die Selbstverwirklichung des Individuums eine große Rolle, man ging gegen die Notstandsgesetze vor usw. Die FDP war damals im Bundestag ja in der Opposition. Hat Sie die Gedankenwelt der damaligen Studentenbewegung ebenfalls beeinflusst, also die Gedankenwelt von Adorno, Marcuse und der Frankfurter Schule? Hirsch: Ich hatte in Marburg ja noch Abendroth und Grabowsky gehört, war aber nicht so sehr überzeugt davon. In den Jahren 1967 und 1968 saß ich in Düsseldorf im Rat der Stadt. Ich sagte mir damals: "Wenn du in diesem Land etwas erreichen und verändern willst, dann geht der Weg nur über die Institutionen! Der Weg kann also nicht sein, öffentlich Krawall zu schlagen. Stattdessen musst du versuchen, über die Institutionen Einfluss zu gewinnen!" Uns hat die Notstandsgesetzgebung natürlich auch außerordentlich beschäftigt, und auch die Unbeweglichkeit, die Reformunfähigkeit des politischen Systems damals, sodass man merkte, dass es so nicht weitergehen könne. Das war schon bewegend, aber an der Studentenbewegung habe ich mich deswegen nicht beteiligt, weil ich mir eben gesagt hatte: "Tu das, was du im Rat machen kannst und versuche über die FDP zu erreichen, was du verwirklichen willst!" Das mündete etwas später ja auch in die Vorarbeiten zum Freiburger Programm der FDP, an dem ich mitgearbeitet habe. Lösel: Diese Vorarbeiten und das spätere Freiburger Programm waren ja auch ein ganz wichtiger Neuansatz der FDP im Hinblick auf die Entwicklung der sozialliberalen Koalition. Daran haben Sie sehr stark mitgearbeitet: Was hat man sich damals als Ziele gesetzt bei dieser Arbeit? Hirsch: Maihofer und Karl Hermann Flach – vorher noch Wolfgang Döring und auch Thomas Dehler, der mich außerordentlich beeindruckt und beeinflusst hat – haben das vorangetrieben. Maihofer griff damals jedenfalls einen Gedanken von Friedrich Naumann wieder auf. Naumann hatte nämlich einmal formuliert, man müsse aus dem Industrieuntertanen einen Industriebürger machen. Es ging also darum, dass sich die Demokratisierung nicht nur auf den politischen Bereich erstrecken könne, sondern dass sie auch im Arbeitsleben durchgesetzt werden müsse. Die Forderung war daher, dass man eine bewusste Sozialpolitik betreiben müsse. Wir haben damals auch Vorstellungen hinsichtlich eines höheren Maßes an individueller Freiheit und Entscheidungsfreiheit, hinsichtlich einer Bodenwertabgabe, hinsichtlich einer Reform des Erbschaftsrechtes usw. entwickelt. Und dann ging es vor allem um die Mitbestimmung, um die betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung. Das waren die Hauptthemen des Freiburger Programms. Maihofer hat die Koalition mit der SPD ja auch mal eine "historische Koalition" genannt, nicht in dem Sinn, dass wir da Geschichte machen würden, nein, sein Gedanke war, dass die Liberalen mit den Sozialdemokraten zusammen eine freiheitliche Gesellschaft aufbauen. Man muss nämlich immer daran denken, dass die Liberalen eigentlich nicht so sehr von den Nationalliberalen oder von "Manchester" geprägt waren, sondern der Beginn 1848 war ja die Forderung, den Wert der Arbeit zu heben, eine Gleichwertigkeit von Kapital und Arbeit herzustellen. Die bürgerliche Revolution damals im 19. Jahrhundert war also auch eine soziale Revolution: Die Liberalen haben z. B. die ersten Gewerkschaften gegründet usw. Die sozialliberale Koalition von 1969 an war also der Wiederbeginn eines sozialliberalen Denkens, wie es weite Teile des Freisinns und des Liberalismus des 19. Jahrhunderts beherrscht hatte. Das wollten wir! Wir wollten diesen Zwiespalt zwischen einer liberalen Gesellschaft und sozialer Verantwortung überwinden. Ich habe mir nämlich immer gesagt: Eine liberale Gesellschaft ohne soziale Verantwortung ist mörderisch! Du musst also dafür sorgen, dass sich der Einzelne wirklich entfalten kann und nicht vom Stärkeren erdrückt wird. Lösel: 1975 wechselten Sie nach Nordrhein-Westfalen ins Innenministerium, d. h. Sie wurden Innenminister von Nordrhein-Westfalen. Was war der Grund dafür? Hirsch: Das war eigentlich ganz gegen meinen Willen. Nun, nicht ganz gegen meinen Willen, aber ich habe diesem Angebot doch nur sehr, sehr zögernd zugestimmt. Ich musste dafür nämlich meinen Beruf aufgeben: Ich war Syndikus in einem großen Unternehmen in Düsseldorf und ich musste das Bundestagsmandat niederlegen. Ich war also wirklich ein frei schwebender Innenminister, was ich, hätte ich damals schon meine späteren Erfahrungen besessen, so nicht wieder gemacht hätte. Ich habe das 1980 auch in der Tat ziemlich bitter bezahlt. Der Grund war der gewesen, dass damals Willi Weyer, mein von mir sehr geachteter Vorgänger in diesem Amt, der große Popularität besaß, aus gesundheitlichen Gründen sein Amt nicht mehr fortsetzen wollte. Die FDP kam daher auf mich zu und forderte mich auf, sein Nachfolger zu werden. Ich habe mich dann nach wirklich langem Zögern dazu entschlossen, das zu machen. Ich habe es letztlich auch nicht bereut: Das war schon eine interessante Erfahrung, die nicht nur darin bestand, wie man seine eigene Arbeitskraft vervielfältigen kann, sondern auch darin, dass einem dabei eine Verantwortung zuwächst, der man sich bewusst werden muss; man merkt, dass man einen schmalen Grat geht zwischen dem, was aus staatlichen Gründen notwendig ist, und dem, was man selbst verwirklichen will, um individuelle Freiheit zu erhalten. Sie müssen ja nur einmal daran denken, welch große Auseinandersetzungen wir damals wegen der RAF hatten: Das war die Zeit des Beginns eines wirklich massiven Terrorismus' in Deutschland. Und es gab die großen Auseinandersetzungen um den Extremistenerlass, denn der Verfassungsschutz war eine Abteilung des Innenministeriums. Darüber hinaus gab es viele soziale Probleme, die mit dem Wohnungsbau zusammenhingen, denn auch der Wohnungsbau war ein Teil des Innenministeriums. Und schließlich wollte ich auch noch die Gemeindeverfassung modernisieren, was ich auch in der Tat getan habe: Dabei habe ich all das eingebracht, was ich in Düsseldorf als Ratsmitglied gesehen und erlebt hatte. Lösel: Welches markante Beispiel aus Ihrer Zeit als Innenminister haben Sie parat, an dem man deutlich machen könnte, dass in Ihrem Denken oder Ihrem Handeln auch ein Umschwenken passierte? Ich nehme mal den Radikalenerlass als Beispiel: Sie waren ja später gegen diesen Radikalenerlass. Wie sehen Sie das heute? Hirsch: Ich war aufgrund meiner Erfahrungen in der sowjetischen Besatzungszone, wo ich ja zur Schule gegangen war, wild entschlossen, dafür zu sorgen, dass Kommunisten nicht Lehrer werden. Ich wollte nicht, dass die Schüler ideologisiert werden. Das brachte mich in Schwierigkeiten mit der eigenen Partei, die in dieser Frage sehr viel lockerer war. Ich habe auf der anderen Seite zum ersten Mal detailliert in Akten des Verfassungsschutzes hineingesehen. Der Verfassungsschutz war eine Abteilung des Hauses und der Leiter dort war ein hoch angesehener Mann, mit dem ich sehr gut zusammengearbeitet habe. Aber ich habe aufgrund dieser Dossiers eben doch gesehen, wie viel Material über einzelne Menschen dort gesammelt war: Das reichte bis in die Schulzeit hinein. Ich habe mich gefragt: Woher haben die das? Wie kommt so etwas zusammen? Ich habe dann dafür gesorgt und schwer dafür gekämpft, dass in Akten kein Material mehr über Kinder gesammelt wird und dass Akten über Jugendliche sehr schnell gelöscht wurden. Ich habe nämlich gesagt, der Verfassungsschutz soll sich nicht mit den Kindern, sondern wenn überhaupt mit den Eltern befassen. Das war wirklich eine dieser Gratwanderungen: Auf der einen Seite musste man dafür sorgen, dass die Schule ideologiefrei bleibt. Aber man darf auf der anderen Seite die Nachforschungen bei einzelnen Menschen nicht so weit treiben, dass man sich fragen muss, wo wir hier eigentlich leben. Und man muss daran denken, dass sich die Menschen ja auch verändern. Ich hatte doch selbst erlebt, wie sich viele Menschen nach 1945 schlagartig und zu meiner größten Überraschung veränderten. Das war teilweise geradezu erschreckend und erstaunlich. Ich habe mich da immer gefragt: "Wie machen die das?" Und mit welcher Selbstverständlichkeit glauben wir nun, dass jemand in unserer Zeit, in unserer Generation, sich nicht verändern und einsehen könnte, dass er sich einer falschen Überzeugung verschrieben hatte? Das waren jedenfalls insgesamt Dinge, die nur sehr schwer zusammenzubringen waren. Das war also eines dieser Beispiele. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die damalige Auseinandersetzung mit der Kernenergie: Ich halte nach wie vor den Ausbau der Kernenergie für unverantwortlich, weil weder das Entsorgungsproblem gelöst ist noch das der Proliferation, also der Verbreitung von Kernwaffen. Wir hatten in Nordrhein- Westfalen damals ja die Auseinandersetzung um den Schnellen Brüter in Kalkar. Dort haben wir unter großen Mühen eine sehr deeskalierende Polizeitaktik angewendet. Es gab eine riesengroße Demonstration dort, die wir einigermaßen friedlich bewältigt haben. Ich war als Innenminister dazu verpflichtet, auch Polizeibeamte nach Brokdorf und nach Wackersdorf zu schicken. Ich habe mir dann von ihnen berichten lassen, mit wem sie es dort zu tun hatten und wie die Bevölkerung reagiert hat. Ich war dann doch sehr beunruhigt und bin nach wie vor davon überzeugt, dass diese Art der Energieerzeugung zu autoritären Systemen tendiert und tendieren muss wegen der inhärenten Gefahren dabei. Das war also der zweite Bereich, der mich als Innenminister außerordentlich beschäftigt hat. Und der dritte Bereich war die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus. Dazu gehörte auch die Schleyer-Affäre, also die Tatsache, dass wir... Es fällt mir sehr schwer, darüber zu sprechen, denn es gab damals im Anschluss an den Fehlschlag, Hanns Martin Schleyer zu befreien, eine massive politische Auseinandersetzung. Ich kann mich noch daran erinnern, dass der damalige Leiter des Landeskriminalamtes in NRW lange vorher ein Raster entwickelt hatte, mit dem man herausfinden konnte, wo sich Schleyer befinden musste. Hinterher stellte sich das dann ja auch als zutreffend heraus. Aber all diese politischen Auseinandersetzungen änderten nichts daran, dass am Ende ein toter Mensch zu beklagen war. Das hat uns damals außerordentlich beschäftigt und das beschäftigt mich auch nach wie vor. Es gab im Anschluss an all das ja auch dieses Höcherl-Gutachten, um die Frage zu klären, was eigentlich falsch gelaufen war. Höcherl kam zu dem eindrucksvollen Ergebnis, dass eine föderal organisierte Polizei zentralistischen Polizeiorganisationen weit überlegen ist. Ich bin im Anschluss daran auch noch in die USA gefahren, um mir dort das FBI anzusehen: Ich habe das dort wirklich bestätigt gefunden. Auch das war also ein ganz schwieriger Prozess, nämlich zu entscheiden, was polizeilich geschehen muss, was wir in der Strafprozessordnung machen können und wo staatliche Macht ganz einfach ihre Grenze findet. Wir haben ja alles Mögliche gemacht, aber ich hätte nie daran gedacht, etwa die Verfassung zu ändern. Nie! Denn damit würde man den Lebensnerv eines demokratischen Staates zerstören. Warum soll denn der Bürger einen Staat noch verteidigen und für ihn eintreten und in ihm Verantwortung übernehmen, wenn er diesen Staat nicht als gerecht, sondern als eine Herrschaftsmaschine betrachtet und betrachten muss? Diesen Zwiespalt muss man sehen und beachten und ich habe heute leider bei so manchem, was ich sehe oder höre und erlebe, den Eindruck, dass einige Herren diese innere Balance verloren haben. Lösel: Kommen wir noch einmal auf das Jahr 1979 zurück: Sie wurden dann Landesvorsitzender der FDP in Nordrhein-Westfalen und Sie wurden auch stellvertretender Ministerpräsident in diesem Bundesland. Doch die FDP scheiterte 1980 bei der Wahl zum nordrhein-westfälischen Landtag an der Fünfprozenthürde. Was hat dieses politische Scheitern für Sie persönlich bedeutet? Hirsch: Das war ein sehr schmerzlicher Prozess. Bei dieser Landtagswahl haben wir ja den Einzug in den Landtag nur um 1270 Stimmen verpasst – und dies bei einer Einwohnerzahl von 15 Millionen Menschen. Das war schon eine sehr marginale Größe, diese 1270 Stimmen. Diese Landtagswahl litt zum einen unter Schwierigkeiten, die wir im Bereich der Polizei hatten, und zum anderen daran, dass die Bundestagswahl, die ein halbes Jahr später stattfand, zu einer Polarisierung zwischen Strauß und Schmidt führte. Die FDP rauschte pfeilgrad zwischen diesen beiden Position hindurch: Wir verloren diese Wahl eigentlich erst in den letzten 14 Tagen und dies auch noch völlig unerwartet. Gut, wir hatten in Nordrhein-Westfalen auch personelle Schwierigkeiten, die ich nicht verleugnen möchte. Für mich persönlich war es jedenfalls so, dass ich nach dieser Wahl regelrecht auf der Straße stand. Wir flogen aus dem Landtag raus und ich war mit 50 Jahren, gesegnet mit einer großen Familie, arbeitslos. Wir hatten davor noch einen rauschenden Geburtstag zu meinem 50. gefeiert – und dann kam plötzlich der Augenblick, an dem ich mir sagen musste: "So, was machst du jetzt eigentlich? Wie geht es weiter?" Das war... Lösel: Sie sind dann nach Bonn gegangen. Hirsch: Ja, ich habe dann ein halbes Jahr später für den Bundestag kandidiert und bin wieder gewählt worden. Dies war jedenfalls eine Erfahrung, die mir immer wieder ganz unmittelbar in den Sinn kommt, wenn so leichthin über die Trennung von Amt und Mandat gesprochen wird. Man vergisst dabei, dass ein Minister, der kein Mandat hat, im Grunde genommen wirklich sehr abhängig wird. Er wird abhängig von seinem Verhältnis zur Fraktion und von der Politik. Wenn er zurücktritt, dann fällt er ins Bergfreie. Das muss man sich immer vor Augen halten. Ich jedenfalls würde so eine Konstellation nie wieder eingehen wollen und ich würde es auch niemandem empfehlen, ohne Mandat in eine Regierung zu gehen. Lösel: Sehen Sie denn hier andere Lösungsmöglichkeiten für den Staat ganz generell? Hirsch: Na ja, warum soll ein Minister kein Mandat haben? Die Frage der Entschädigung, der finanziellen Zusammenhänge kann man natürlich viel eleganter lösen, als das heute gemacht wird bzw. lange Zeit gemacht wurde. Man hat es ja bisher z. T. so gemacht, dass im Ministeramt dann auch noch die Diäten bzw. ein Teil der Aufwandsentschädigungen, die man als Abgeordneter bekommt, weiterlaufen. Das ist alles nicht nötig, das kann man sehr wohl trennen. Aber ein Minister muss die Sicherheit haben, dass er dann, wenn er zurücktritt, nicht wirklich ins Bergfreie fällt. Im Hinblick auf die eigentliche berufliche Tätigkeit der Abgeordneten, der Minister ist das alles sicherlich ein Problem: Je länger man ein Amt inne hat, umso schwieriger ist es, wieder in den Beruf zurückzukehren. Ich habe in diesen Jahren als Anwalt kaum noch arbeiten können, das ist klar, aber ich habe natürlich schon versucht, den Kontakt zur anwaltlichen, zur rechtlichen Praxis aufrecht zu erhalten und deshalb habe ich mich weiterhin damit beschäftigt. Man muss aber auf jeden Fall sehen, dass die Tätigkeit in der Politik mit hohen persönlichen Risiken verbunden ist. Und deswegen sollte man auch bei den Entschädigungen beim Ausscheiden eines Abgeordneten nicht so kleinlich sein. Denn das führt nur dazu, dass man sich eine politische Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes eigentlich nicht mehr leisten kann. Die Politik im Parlament aber als Amateur betreiben zu wollen, ist aufgrund der Komplexität der heutigen Politik, aufgrund des geforderten Wissens- und Kenntnisstandes und aufgrund der Spezialisierung der Exekutive kaum mehr möglich. Wenn man ein Mandat hat, dann muss man sich da auch wirklich reinknien und kann kaum noch etwas anderes machen, wenn man nicht nur als Herold der eigenen Partei durchs Land ziehen möchte, sondern politisch auch in der Tat das verwirklichen will, weswegen man gewählt worden ist. Lösel: 1982 fand dann die Bonner Wende statt: Die FDP hat eine unionsgeführte Koalition möglich gemacht. Sie haben sich damals dagegen gewehrt. Wie sieht in dieser Sache heute Ihr Urteil aus? Hirsch: Ich fand sowohl die Art der Durchführung dieser Wende wie auch ihre innerparteiliche Vorbereitung nicht in Ordnung. Aber darüber könnte man nun wirklich lange reden. Ich habe natürlich schon auch gesehen, dass wir wirtschaftlich und haushaltspolitisch in große Schwierigkeiten geraten waren. Die Verschuldung fing damals ja gerade an. – Verglichen mit heute war das aber im Übrigen nur ein Klacks. – Aber ich habe doch den Eindruck gehabt und habe ihn auch heute noch, dass wir damals das Erreichen wirtschaftspolitischer Ziele mit der Preisgabe innen- und rechtspolitischer Ziele verbunden haben. Es ist ja kein Geheimnis, dass Konservative eine völlig andere Staatseinstellung haben. Sie betreiben z. T. mit einer Staatsgläubigkeit Politik, die ich wirklich nur bestaunen kann aufgrund der Erfahrungen, die wir im 20. Jahrhundert gemacht haben. Wir sind in Richtung der Wiederbelebung eines allwissenden, allmächtigen und fast autoritativen Staates, fast eines Überwachungsstaates, mittlerweile doch sehr weit gegangen. Insofern habe ich mir immer gewünscht, es käme wieder zu einer Zusammenarbeit zwischen den Liberalen und den Sozialdemokraten oder sozial denkenden Menschen. Diese Hoffnung hat sich aber nicht in dem Maß erfüllt, wie ich mir das gewünscht hätte. Lösel: Ging damals auch ein ideologischer Kampf in der FDP verloren? Hirsch: Was ist Liberalismus? Die Liberalen haben ja immer schon eine innere Auseinandersetzung geführt, eine Auseinandersetzung zwischen denen, die die Freiheit des Einzelnen mehr unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten als wirtschaftliche Bewegungsfreiheit gesehen und gedacht haben: Diese Richtung glaubt, dass eine gute Wirtschaftspolitik sozusagen automatisch zu sozialem Ausgleich führt. Ich halte das für einen völligen Blödsinn. Die andere Seite in dieser inneren Auseinandersetzung der FDP hielt und hält hingegen zuerst einmal den Freisinn hoch, der sich mehr auf die soziale Freiheit des Bürgers bezieht, und kämpft daher für die innere Freiheit einer Gesellschaft, für die Freiheit des Einzelnen in allen Lebensbereichen. Und dazu gehört eben auch eine bewusste Sozialpolitik. Diese Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Richtungen in der FDP hat es eigentlich immer schon gegeben. Lösel: Gibt es sie heute noch? Hirsch: Ja, diese Auseinandersetzung gibt es auch heute noch. Ich habe mir jedenfalls immer gesagt: "Das Entscheidende sind nicht die beiden Flügel, sondern das Dicke in der Mitte, also der Vogel selbst!" Man muss daher dafür sorgen, dass er in die richtige Richtung fliegt. Das ist auch mit ein Grund dafür gewesen, warum ich 1982 nicht wie eine Reihe meiner Freunde die FDP verlassen habe, sondern mir gesagt habe: "Du musst sehen, dass das, was du selbst für richtig hältst, in dieser Partei allmählich wieder mehr Beachtung findet." Ich habe dabei in meinem Freund einen Partner gefunden, mit dem ich sehr viel gemeinsam gemacht habe in dieser Richtung. Lösel: Gibt es denn in der FDP noch jemanden, der da in Ihre Fußstapfen treten könnte? Hirsch: Ich kann natürlich hier in Bayern nicht darüber sprechen, ohne Frau Leutheusser- Schnarrenberger zu nennen oder Herrn Stadler, den jetzigen innenpolitischen Sprecher der FDP. Es gibt auch unter den Jungliberalen eine ganze Reihe neuer und jüngerer Leute, die in der Innenpolitik manches genauso sehen wie ich. Meine Nachfolgerin als Bundestagsabgeordnete in Düsseldorf, Frau Piltz, betreut insbesondere Fragen der Kommunalpolitik und des Datenschutzes. Das sind also Namen, die heute z. T. noch nicht so bekannt sind, die man sich jedoch merken sollte. Lösel: Nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl agierten Sie für die FDP im Bereich Innen- und Rechtspolitik. Sie scheiterten jedoch mit dem Versuch, Bundesjustizminister zu werden. Sie blieben innenpolitischer Sprecher Ihrer Partei. Was kann ein innenpolitischer Sprecher eigentlich gestalten? Hirsch: Ich überlege, ob ich zu Ihrer Aussage bezüglich des Bundesjustizministers etwas sagen soll. Ich bin in der Tat einmal an Herrn Kinkel und einmal an Frau Leutheusser- Schnarrenberger gescheitert, nicht jedoch an Herrn Kohl! Herr Kohl behauptet ja dauernd, er hätte das verhindert. Er war jedoch an dieser ganzen Prozedur nie beteiligt. Hier täuscht er sich also in seiner Erinnerung. hat mich eigentlich – so sehr ich seine politischen Leistungen achte – als Mensch nie bewegt. Gut, ich wollte also Justizminister werden. Ich habe kandidiert und da muss man es eben auch ertragen, wenn man keine Mehrheit bekommt in der eigenen Fraktion. Ich war eben manchen wahrscheinlich zu weit links. Lösel: Wie geht man mit Niederlagen um? Hirsch: Man akzeptiert sie und überlegt, was man weiterhin machen kann. Das war nach 1982 insgesamt sehr schwer für mich. Ich muss sagen, dass Genscher damals insbesondere Baum und mich sehr geschützt und gestützt hat. Wir haben daher in dieser Zeit außenpolitisch sehr viel gemacht. Wir waren in Abstimmung mit ihm in Israel, in Jordanien, in Ägypten, in Schwarzafrika. Ich war auch sehr oft in der Türkei, um zu sehen, was sich in diesem Land eigentlich entwickelt. Wenn man als normaler Abgeordneter reist, dann kann man doch sehr viel mehr sehen als dann, wenn ein Minister einen Besuch in so einem Land macht. Wir haben sehr viele Gespräche geführt, von denen ich glaube, dass sie für die deutsche Politik im Ergebnis sehr nützlich waren. Wir haben viele Eindrücke gesammelt, die wir dann natürlich auch verarbeitet und verwertet haben. In der Innenpolitik jedoch lag das Problem darin, dass ich in all diesen Jahren mit Innenministern zu tun hatte, die zur CDU oder CSU gehörten. Ich habe es immer als einen schweren Fehler der FDP empfunden, dass sie sich nie mehr um die Position des Bundesinnenministers bemüht hat. Denn gerade dort spielen ja Fragen der inneren Freiheit eine große Rolle. Ich hatte daher mit den Bundesinnenministern z. T. erhebliche Schwierigkeiten: Das bezieht sich sowohl auf wie auch auf Herrn Kanther. Eleganter war es mit Schäuble, als er Innenminister wurde. Auch Seiters war ein durchaus kompetenter und akzeptabler Gesprächspartner. Schäuble ist mir jedoch von allen als besonders eindrucksvoll in Erinnerung geblieben. Mit den Kanther und Zimmermann hatte ich allerdings erhebliche Schwierigkeiten, weil sie doch ein sehr autoritäres Weltbild vertraten, das ich teilweise überhaupt nicht akzeptierte und weil sie auch sehr den Wünschen der sie beratenden Beamten folgten. Lösel: Nach der Bundestagswahl 1994 hatten Sie Ihr erstes Staatsamt inne, Sie wurden zu einem der Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages gewählt. Doch Sie ruhten sich dort nicht in der Würde dieses Amtes aus, sondern Sie übten scharfe Kritik an einer ganzen Reihe von Überlegungen wie z. B. an der Verkleinerung des Parlaments oder an der für straffällig gewordene Türken praktizierten Abschiebung. Vor allem aber gab es ein eindeutiges Votum der FDP-Mitglieder im Hinblick auf den "großen Lauschangriff", gegen den auch Sie sich vehement auflehnten. Bedeutete die letztendliche Zustimmung zu diesem "großen Lauschangriff" Ihrer Meinung nach das Ende der Rechtsstaatspartei FDP? War das der vollzogene Wandel zur rechten Staatspartei? Hirsch: Sie sagten, ich hätte mit dem Bundestagsvizepräsidenten mein erstes Staatsamt inne gehabt. Nun, ich war ja davor immerhin bereits Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen gewesen. Das sind ja auch Staatsämter gewesen. Lösel: Ich meinte natürlich die Bundesebene. Hirsch: Ja, auf Bundesebene ist das richtig. Die Auseinandersetzungen auf dem Gebiet der Innen- und Rechtspolitik begannen nicht mit dem Lauschangriff, sondern sie begannen bereits mit dem Vermummungsverbot, gegen das ich gekämpft habe. Der spätere Bundespräsident Herzog hat dann ja auch in seinem Kommentar als Bundesverfassungsrichter geschrieben, dass die Verfassung einen nicht verpflichtet, sein Gesicht zu zeigen. So ist es auch in der Tat. Wir haben damals jedenfalls ausdrücklich davor gewarnt und gesagt, dass das nicht zur Befriedung, sondern eher zu härteren Auseinandersetzungen führen wird. Es ist ja lächerlich, dass heute mehr Polizeibeamte vermummt sind als Demonstranten. Man muss sich also mal klar machen, was daraus eigentlich geworden ist! Oder denken Sie an einen Begriff wie "passive Bewaffnung" auf Seiten der Demonstranten! Das ist doch eine totale Verballhornung der Wirklichkeit, wenn man den "Ostfriesennerz", also diese gelbe Wachstuchjacke, als "passive Waffe" bezeichnet! Damit fing das alles eigentlich an. Der Lauschangriff war eigentlich ein altes Thema der CDU/CSU. Bereits Schäuble war damit angekommen und hatte diese Ansicht vertreten. Ich kann mich noch gut an ein Koalitionsgespräch von damals erinnern: Der damalige Bundeskanzler Kohl und auch Herr Stoiber neigten dazu, diesen Lauschangriff einzuführen. Aber der aus der DDR stammende Minister Krause hat dann in einem Kabinettsgespräch gesagt: "Herr Bundeskanzler, wir haben in der DDR mit Wanzen genug Erfahrungen gemacht. Wir wollen das nicht mehr!" Daraufhin hat Kohl damals diese Idee fallen gelassen. Und dann kam dieses Thema ein paar Jahre später wieder aufs Tapet, leider verbunden mit dieser Zweidrittel-Mehrheitsentscheidung in der Mitgliedschaft der FDP. Dies hat dann dazu geführt, dass Frau Leutheusser ihr Amt niederlegte und ich als innenpolitischer Sprecher ausschied, weil wir das nicht gutheißen konnten. Ich habe dann ja auch mit Erfolg diese Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht betrieben. Wissen Sie, ich denke, dass das, was ich mit meiner Frau oder mit meinen Kindern in meiner eigenen Wohnung unter vier Augen spreche, niemanden etwas angeht. Wer nicht katholisch ist, also einen anderen Glauben oder möglicherweise gar keinen Glauben hat, muss ja schließlich auch keinen Beichtvater haben! Es wäre daher noch vor wenigen Jahren völlig undenkbar gewesen – dazu gab es ja auch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs –, dass es sich ein Staat herausnimmt, derartig tief in die Privatsphäre von Menschen einzudringen. Nein, es muss einfach einen Bereich geben, in dem der Staat sagt: "Das ist nicht mehr mein Bereich, in dem ich belausche!" Es geht ja nicht, wie es immer so schön heißt, um eine elektronische Wohnraumüberwachung, sondern es geht um das Belauschen von Menschen, die ein Gespräch in der Erwartung führen, dass es unter diesen vier Augen bleibt. Und das habe ich ja nun im Dritten Reich und auch in der DDR wirklich erlebt, dass die Menschen nicht mehr wagten, offen miteinander zu reden, weil sie Angst hatten, sie werden belauscht. Da gab es immer diesen berühmten "deutschen Blick" über die Schulter, ob nicht doch jemand zuhört. Ich finde in der Tat, dass das ein unglaublicher Verstoß gegen das verfassungstreue Denken ist, gegen das Rechtsdenken – verbrämt durch eine verunglückte Verfassungsänderung. Ich bin neugierig, ob der Bundestag den Mut hat, das wieder rückgängig zu machen. Er sollte jedenfalls den Mut haben, auch über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinaus zu sagen: "Der Staat bricht nicht zusammen, wenn das Gespräch eines Ehepaares in seiner eigenen Wohnung nicht belauscht wird!" Diese Freiheit sollte man haben und auch behalten. Lösel: Ich kann das alles ja nachvollziehen, aber wie ist das z. B. im Falle des Terrorismus? Wie stellt sich diese Problematik dar, wenn man sich z. B. Ermittlungsergebnisse erwartet durch das Belauschen einer Person, die möglicherweise mit einem Terroristen zu tun hat, der am Anschlag auf das World-Trade-Center beteiligt war? Hirsch: Das Verfassungsgericht sagt, das sei zulässig. Ich sage aber noch einmal: Man muss dem entgegensetzen, dass es der Staat ganz einfach akzeptieren muss, dass es bei den Nachforschungen auch Grenzen gibt. Es war neulich in einer Zeitung in diesem Zusammenhang sogar von "gelöschten Beweisen" die Rede. Nun, man kann natürlich auch hergehen und sagen: "Jeder Bürger wird gesetzlich dazu verpflichtet, ein Handy zu betreiben und es dauernd stand by zu halten, damit man dauernd verfolgen kann, wo er sich aufhält! Man nimmt von jedem Bürger dieses Landes von Geburt an eine DNS- Analyse und nicht nur diesen 'lächerlichen' Fingerabdruck. Man registriert alle Telefongespräche! Man registriert jeden, der eine Bahnkarte kauft." – Sie müssen sich vorstellen, dass das alles ja schon mal gefordert worden ist – "Man überwacht prinzipiell alle Telefongespräche und registriert sie nicht nur hinsichtlich der Verbindungsdaten, sondern auch hinsichtlich der Gesprächsinhalte, was ja zurzeit bei Auslandskontakten ohnehin schon geschieht. Man verdrahtet alle Leute, von denen man fürchtet, sie könnten etwas anstellen. Man hat zwar keine konkreten Verdachtsmomente gegen sie in der Hand, aber die Polizei meint, diese Leute könnten in Zukunft eine Straftat begehen. Auch dieses ist ja bereits z. T. schon geltendes Polizeirecht." Das heißt, man kann sich sehr wohl auch einen Sonnenstaat denken, der allwissend und allmächtig ist. Hobbes hat einmal gesagt: "Ein Staat, der alle schützen kann, kann auch alle unterdrücken." Und das stimmt doch. In einer freien Gesellschaft muss man also fragen, wo hier die Grenze ist. Und überhaupt: Was macht einen Staat eigentlich stark? Die Allgegenwart der Polizei und der Überwachung? Oder die Tatsache, dass der Bürger seinen Staat für gerecht, anständig und menschlich handelnd hält? Natürlich, man kann aus einem Staat auch ein blank geputztes Räderwerk, eine Maschine machen. Aber genau das wollen wir eben nicht. Die Stärke eines Staates liegt also nicht in der Angst der Bürger vor den Gesetzen begründet, sondern im Bürgersinn, in der Bereitschaft, in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Und diesen Bürgersinn und diese Bereitschaft tötet man, wenn man aus dem Staat eine Überwachungsmaschine macht! Lösel: Sie sind 1998 aus dem Bundestag ausgeschieden. Sie setzten sich jedoch nicht zur Ruhe, sondern wurden im Jahr 2000 von der rot-grünen Koalition zum Sonderermittler in Sachen verschwundener Akten in der Regierung Kohl ernannt. Es gab eine persönliche Bewertung der Voruntersuchungen von Ihnen an die Staatsanwaltschaft in Bonn. Dabei haben Sie gesagt, dass neue Indizien hinsichtlich des Verdachts von Regierungskriminalität aufgetaucht seien. Sie wurden daraufhin von Helmut Kohl schwer gerügt. Waren oder sind wir denn ein regierungskriminelles Land? Hirsch: Das Wort "Sonderermittler" höre ich höchst ungern, weil das eine in bestimmten Medien betriebene Verballhornung dieser Tätigkeit war. Ich bin vom Staatssekretär im Bundeskanzleramt gefragt worden, ob ich bereit sei, disziplinarrechtliche Voruntersuchungen gegen Unbekannt zu betreiben, weil sich aus den Verwaltungsvorgängen ergeben hatte, dass Akten im Kanzleramt verschwunden waren. Ich habe dann eine Arbeitsgruppe gebildet, zu der auch Beamte des Bundeskriminalamtes gehörten. Wir haben festgestellt, dass eine ganze Reihe von Akten verschwunden war: nicht nur Leuna-Akten, sondern auch Akten, die sich auf Privatisierungsvorgänge in der ehemaligen DDR bezogen. Es ist also eine ganze Reihe von Akten verschwunden. Wir haben festgestellt, dass Daten in erheblichem Umfange gelöscht worden waren. Das sind Tatbestände, an denen niemand etwas ändern kann, weil sie belegbar und bewiesen sind. Das mag dem einen gefallen, dem anderen nicht. Man kann nun lange darüber streiten, ob das vom Strafrecht erfasst wird, ob die Beweise gegen Einzelne, die daran beteiligt waren, so dicht sind, dass man ein Verfahren einleiten kann oder eben nicht. Darüber mag man streiten. Aber der Sachverhalt als solcher steht fest. Das war so. Ich habe diese Aufgabe damals übernommen, weil es mich bewegt hatte, dass das Kanzleramt selbst ins Gerede gekommen war. Das Kanzleramt ist ja nicht irgendeine Würstchenbude. Nichts gegen Würstchenbuden, aber das Kanzleramt ist nun einmal nicht irgendeine x-beliebige Veranstaltung, sondern hat doch für das Klima in diesem Land eine große Bedeutung. Und deswegen wollte ich dafür sorgen, dass das aufgeklärt wird. Lösel: Herr Dr. Hirsch, ich bedanke mich herzlich für dieses informative und offene Gespräch. Das war das alpha-forum mit dem ehemaligen Bundestagsvizepräsidenten Dr. Burkhard Hirsch. Vielen Dank.

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