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16 disP 164 · 1/2006 Sozialräumlicher Wandel in der Agglomeration Konsequenzen von Suburbanisierung und Reurbanisierung

Corinna Heye und Heiri Leuthold

Die Sozialgeografin Corinna Abstract: Segregation within the metropolitan nahen ehemaligen Arbeiter- und Industriequar- Heye ist wissenschaftliche area of Zurich follows two main dimensions: tieren (Gentrifizierung). Sowohl der Sub- als Mitarbeiterin der Gruppe sotomo status and lifestyle. Low-status living areas are auch der Reurbanisierungsprozess sind mit der am Geografischen Institut der Universität Zürich. clearly segregated from high-status residential Expansion und der Verdrängung bestimmter so- areas located mainly along the Lake of Zurich. zialer Gruppen an unterschiedlichen Standor- Der Sozialgeograf Heiri Leuthold The regional distribution of immigrants does ten verbunden. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter mirror this pattern almost perfectly, i. e., high- Das gleichzeitige Auftreten von Suburbani- der Gruppe sotomo am Geogra- fischen Institut der Universität and low-status immigrants typically share the sierungs- und Reurbanisierungsprozessen ist Zürich. neighborhood with their Swiss counterparts. keine schweizerische Eigenart, sondern ist ein Lifestyle and standards of living create another generelles Phänomen, das sich in den meis- important division between different groups of ten westlichen Industriestaaten beobachten people. Within the conurbation of Zurich, an al- lässt (Gaebe 1991). Der Bruch im Suburbani- most continuous concentric transition from in- sierungsparadigma westlicher Städte wird von dividualistic styles of living in its center, towards einigen Autoren als Ausdruck des postfordisti- a more family-oriented lifestyle at its periphery schen Regulationsregimes (z. B. Moulaert und can be observed. Swyngedouw 1989) oder von anderen Autoren Between 1990 and 2000, the social spatial struc- als Teilprozess der polyzentrischen Metropo- ture of the metropolitan area changed consider- litanraumbildung im Zuge der Globalisierung ably. Above all, the status of the core city dis- (Taylor 2004; Sassen 1991) betrachtet. Einig tricts increased distinctly compared with the sind sich die meisten Autoren jedoch darüber, suburban areas. dass die sozialräumlichen Umschichtungen in den Metropolitanräumen der westlichen Gross­ städte auf die Pluralisierung, Individualisierung 1. Einleitung und Flexibilisierung von Arbeitswelt und Le- bensstilen in der postindustriellen Gesellschaft Die räumliche Bevölkerungsdynamik in den zurückzuführen sind. Agglomerationen der Schweiz war zwischen Während die Überlagerung von Suburbani- 1950 und 2000 von zwei wesentlichen Entwick- sierung und Reurbanisierung die sozialräum- lungen geprägt: der Suburbanisierung und der liche Strukturierung verändert, führte das Reurbanisierung. Der Suburbanisierungspro- starke Wachstum der Pendlermobilität in den zess ist kontinuierlich fortgeschritten mit der letzten Jahrzehnten zu einer grossräumigen Se- Folge, dass die urbanen Zonen des Landes sich gregation nach vertikalen (Einkommen, Vermö- nicht mehr allein auf die Kernstadtgemeinden gen, Bildung) und horizontalen Ungleichheiten beschränken. Der Suburbanisierungsprozess (Nationalität, Lebensstil, biografische Situation war mit einem zum Teil drastischen Einwoh- etc.). Als Folge der besseren Verkehrserschlies- nerrückgang in den Kernstädten verbunden. sung und verkürzten Reisezeiten sind Arbeits- Die bekannten Folgen waren die so genannte und Wohnort heute innerhalb von Agglomera- «A-Stadt-Bildung», mit der ein überproporti- tionen weit gehend entkoppelt. Damit hat sich onaler Anteil an Alten, Ausländerinnen und auch die Bevölkerungsstruktur der Gemeinden Ausländern, Arbeitslosen und Auszubildenden von ihrer Arbeitsplatzstruktur gelöst. Innerhalb in den Städten bezeichnet wird. Seit Mitte der des gesamten suburbanen Raumes findet eine 1990er-Jahre wird die Suburbanisierung von Art grossräumige Quartierbildung statt, d. h. einem Reurbanisierungsprozess überlagert. Die eine funktionale Spezialisierung der Gemein- Reurbanisierung hat zu einer sozialen Aufwer- den in Arbeitsplatzregionen und Wohnregionen tung der Innenstädte geführt und das Gesicht (vgl. Heineberg 2000). Diese Quartierbildung der Kernstädte innerhalb eines Jahrzehntes wird unterstützt durch die Bildung von neuen stark verändert. Besonders ausgeprägt war die Dienstleistungszentren im suburbanen Raum. Aufwertung und Erneuerung in den innenstadt- Als Folge dieser Entkoppelung von Wohnen und Arbeiten findet eine grossräumige Entmischung abgeschwächter Form – für die Erwerbstätigen disP 164 · 1/2006 17 der Wohnbevölkerung statt, denn für die Wahl in statusniedrigen Berufen und Personen ohne des Wohnstandortes spielt der Arbeitsort nur abgeschlossene Ausbildung oder nur mit einem noch eine untergeordnete Rolle. Neben den ver- obligatorischen Schulabschluss. fügbaren ökonomischen Ressourcen sind un- Als eigentliche Oberschichtregion tritt ein terschiedliche Wohnideale zu den zentralen De- länglicher Bogen, gebildet aus den Stadtquar- terminanten der Wohnstandortwahl innerhalb tieren am Zürichberg und den Gemeinden einer Agglomeration geworden. am Pfannenstiel, hervor. Weitere, räumlich be­ Die meisten Studien zur sozialräumlichen grenzte Oberschichtregionen bilden Gemein- Differenzierung von urbanen Räumen kon- den und Stadtquartiere am linken Ufer des zentrieren sich auf die Quartierstruktur inner- unteren Zürichseebeckens und die vier Ge- halb der politisch-administrativen Grenzen ei- meinden Aeugst a. A., Stallikon, Wettswil a. A. ner Grossstadt. Als Folge der Suburbanisierung und Uitikon. In etwas abgeschwächter Form haben sich die Städte als funktionale Gebilde setzt sich der Oberschichtgürtel auf der rech- jedoch längst weit über die politisch-adminis- ten, sonnigen Seite des Limmattales fort. Ihr trativen Grenzen der Kernstadt hinaus ausge- sozialräumliches Gegenstück finden die Ober- dehnt (Sieverts 2001). Aus diesem Grund wurde schichtregionen auf der linken Seite des Lim- in der Studie «Segregation und Umzüge in der mattales, in Zürich Nord und in der Flugha- Stadt und Agglomeration Zürich» die gesamte fenregion. Dort konzentrieren sich Personen Agglomeration als «Stadt» betrachtet. Die hier mit geringer schulischer Bildung, niedrigem vorgestellten Ergebnisse stammen aus dieser sozioprofessionellem Status und geringen Ein- Studie, die von verschiedenen städtischen und kommen. Relativ ausgeglichen ist die soziale kantonalen Ämtern finanziert und begleitet Schichtung in den eher ländlichen periurbanen wurde. Mit den Daten der Volkszählungen 1990 Gemeinden an den Agglomerationsrändern. und 2000 und ergänzenden Steuerangaben wurde die soziale Segregation (ungleiche Be- Segregation nach Nationalitäten völkerungsverteilung über den Raum) der Ag- Der Anteil ausländischer Personen ist im un- glomeration Zürich nach verschiedenen rele- tersuchten Gebiet zwischen 1990 und 2000 von vanten Merkmalen wie Einkommen, Bildung, 20,2 % auf 23,5 % gestiegen. Während sich die Nationalität, Lebensstil oder biografische Situa- Segregation insgesamt nur leicht verstärkt hat, tion untersucht und sowohl quantitativ als auch fanden in der Zusammensetzung der Nationali- kartografisch ausgewertet. In einem weiteren täten und ihrer räumlichen Verteilung teilweise Schritt wurden die Agglomerationsgemeinden beträchtliche Verlagerungen statt. und Stadtquartiere Zürichs sozialräumlich ana- Die Verteilung der ausländischen Bevölke- lysiert. rung in der Agglomeration ist durch eine räum- liche Polarisierung gekennzeichnet. Überdurch- schnittlich hohe Ausländeranteile findet man 2. Beschreibung der Segregation im Norden und im Westen der Stadt Zürich, während die Gemeinden im Süden eher unter- 2.1 Die doppelte räumliche Polarisierung durchschnittliche Anteile aufweisen. Diese Tei- der Agglomeration lung der Agglomeration verläuft mitten durch die Kernstadt. So erstreckt sich ein Gürtel von Segregation nach sozialem Status Stadtquartieren und Gemeinden mit hohen Statusunterschiede sind ein zentraler Faktor Ausländeranteilen von über 30 % auf der linken der Segregation in urbanen Gebieten. Seit je- Seite des Limmattales vom Zürcher Stadtzent- her lassen sich Städte in gute und schlechte rum bis nach Neuenhof im Kanton Aargau. Ein Adressen einteilen. Aus den drei untersuchten zweites Konzentrationsgebiet der ausländischen Indikatoren Einkommen, höchster Bildungs- Bevölkerung besteht in Zürich Nord und den abschluss und sozioprofessioneller Status geht angrenzenden Gemeinden Opfikon und Re- hervor, dass vor allem die Ober- bzw. Unter- gensdorf. schicht nach Status segregiert. Die Mittelschicht Der Vergleich von 1990 und 2000 zeigt, dass verteilt sich relativ ausgeglichen über die Ag- die ausländische Bevölkerung zunehmend an glomeration Zürich. Die Erwerbstätigen in sta- der Suburbanisierung teilnimmt. In den In- tushohen Berufen, die Akademikerinnen und nenstadtquartieren sinken die Anteile auslän- Akademiker sowie die Steuerpflichtigen mit ho- discher Personen, befinden sich aber nach wie hen Einkommen konzentrieren sich räumlich vor auf hohem Niveau (zwischen 30 % und 45 %). sehr stark. Dasselbe gilt – wenn auch in etwas Zugenommen hat der Anteil vor allem am nörd- 18 disP 164 · 1/2006 Angehörige südeuropäischer Staaten Angehörige nord- und westeuropäischer Staaten

SH Anteile SH Anteile 0,0 bis 7,5 % 0,0 bis 2,5 % 7,5 bis 15,0 % 2,5 bis 5,0 % 15,0 bis 22,5 % 5,0 bis 7,5 % Andel ngen 22,5 bis 30,0 % Andel ngen 7,5 bis 10,0 % 30,0 bis 40,0 % 10,0 bis 12,5 % ZH TG TG AG Bülach AG Bülach ZH Winterthur Dielsdorf Dielsdorf

Dietikon Dietikon ZÜRICH ZÜRICH Pfäkon Pfäkon Uster

Hinwil Hinwil Aoltern Meilen Aoltern Meilen Horgen SG Horgen SG

Abb. 1: Komplementäre Segre- Freienbach Freienbach gationsmuster von Nord- bzw. ZG ZG Westeuropäern und Südeuro- LU SZ LU SZ päern. Relative Anteile an der 0 10 20 km 0 10 20 km Gesamtbevölkerung. (Quelle: Volkszählung 2000)

lichen164_Heye_Fig1.ai und westlichen Stadtrand sowie in den len sich ungleich über den Raum. So konzent- angrenzenden Gebieten im Limmattal und den riert sich die südeuropäische Bevölkerung mit grossen Glattalgemeinden. Relativ stabil geblie- sehr hohen Anteilen von bis zu 40 % an der ben ist er am Zürichberg, in den Seegemeinden, Gesamtbevölkerung in den links-ufrigen Lim- im Knonauer Amt und im äussersten Agglome- mattalgemeinden und mit etwas geringeren rationsgürtel. Anteilen in der Flughafenregion. Personen aus Wie 1990 stammt auch im Jahr 2000 die nord- und westeuropäischen Ländern leben da- überwiegende Mehrheit der ausländischen Be- gegen vor allem am Zürichberg und in den süd- völkerung (rund 85 %) aus europäischen Län- lich an Zürich angrenzenden Gemeinden am dern. Den grössten Anteil stellen dabei Per- Seeufer. In diesem Segregationsmuster kommt sonen aus südeuropäischen Staaten. In der eine räumliche Polarisierung der Agglomerati- Dekade von 1990 bis 2000 haben sich die Ge- on zum Ausdruck. In den Regionen mit einem wichte innerhalb dieser Staatengruppe jedoch hohen Anteil an ausländischen Personen stam- markant verschoben. Die traditionellen Rekru- men diese überwiegend aus südeuropäischen tierungsländer für Gastarbeiter (Italien und Ländern, in Regionen mit einem vergleichswei- Spanien) haben eine starke Abnahme zu ver- se tiefen Anteil stammen sie mehrheitlich aus zeichnen und stellen 2000 nur noch rund einen Nord- und Westeuropa. Viertel aller Ausländerinnen und Ausländer. Dieser Abnahme liegen geringere Einwande- «Doppelte» Polarisierung – rung, Rückwanderung und Einbürgerungen zu- nach Status und Nationalitäten grunde. Im gleichen Zeitraum hat sich als Fol- Diese annähernd komplementären Segregati- ge der Bürgerkriege der Anteil von Personen onsmuster von Personen aus Südeuropa und aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien Nordwesteuropa sind praktisch deckungsgleich mehr als verdoppelt. Im Jahr 2000 stammt jede mit der Segregation nach sozialem Status (vgl. vierte ausländische Person aus dieser Region. Abbildungen 1 und 5). In dieser Korrelation Die Zahl der portugiesischen Staatsanghörigen von Status und Nationalitäten zeigt sich eine hat um die Hälfte zugenommen. Ein zuneh- «doppelte» sozialräumliche Polarisierung der mendes Gewicht erhalten Personen aus den Agglomeration. Die Unterschichtregionen ha- nord- und westeuropäischen Staaten, insbeson- ben die höchsten Anteile ausländischer Bevöl- dere Deutschland, deren Anteil um rund einen kerung, insbesondere von Personen aus südeu- Viertel gestiegen ist. ropäischen Staaten. Die Oberschichtregionen Die unterschiedlichen Nationengruppen, haben geringe Anteile ausländischer Bevölke- die in der Agglomeration Zürich leben, vertei- rung und die dort ansässigen ausländischen Personen stammen hauptsächlich aus nord- regionen typisch ist, sondern hat ihre Ursache disP 164 · 1/2006 19 und westeuropäischen Staaten. Der Grund für in der unterschiedlichen sozialen Zusammen- diese doppelte Polarisierung liegt in der un- setzung der verschiedenen Nationengruppen. terschiedlichen Sozialstruktur, die sich aus den Betrachtet man die Segregationsmuster der ver- spezifischen Migrationsgründen und Migrati- schiedenen Nationengruppen aufgelöst nach onszielen der verschiedenen Nationengruppen sozialem Status, so zeigt sich, dass die Per- herleitet. Während Angehörige südeuropäischer sonen aus Südeuropa in statushohen Berufen Staaten im Durchschnitt über einen geringe- ein sehr ähnliches Segregationsmuster zeigen ren sozioprofessionellen Status verfügen als die wie Personen aus Nord- und Westeuropa sowie schweizerische Bevölkerung, sind Personen aus die Schweizerinnen und Schweizer in denselben Nord- und Westeuropa im Durchschnitt bes- Statusgruppen (Heye, Leuthold 2004). ser qualifiziert (vgl. Huissod et al. 1999; Heye, Leuthold 2004). 2.2. Suburbanisierung der Überalterung Die Segregation der Nationengruppen, die in der Agglomeration Zürich beobachtet wer- Die Stadtflucht und Suburbanisierung hatte den kann, ist demzufolge nicht Ausdruck eines einschneidende Auswirkungen auf die Alters- ethnischen community building, wie es bei- verteilung innerhalb der Agglomeration. Es wa- spielsweise für US-amerikanische Grossstadt- ren in der Regel jüngere Leute, meist mit Fa-

Ältere Betagte: 80 Jahre und älter 10.0 % 1990 2000

7.5 %

5.0 %

2.5 %

0 % Innen- Stadt- 1.Gü. 2.Gü. 3.Gü. 4.Gü. 5.Gü. 6.Gü. Kern- Um- stadt rand stadt land

Jüngere Betagte: zwischen 65 und 79 Jahren 20 %

1990 2000

15 %

10 %

5 %

0 % Abb. 2: Betagte nach Agglome- Altstadt Innen- Stadt- 1.Gü. 2.Gü. 3.Gü. 4.Gü. 5.Gü. 6.Gü. Kern- Um- rationsgürteln. Relative Anteile stadt rand stadt land bezogen auf die Gesamtbevölke- rung 1990 und 2000. 20 disP 164 · 1/2006 30 bis 49-Jährige in Einpersonenhaushalten

70 % 1990 2000 60 %

50 %

40 %

30 %

20 %

10 %

Altstadt Innen- Stadt- 1.Gü. 2.Gü. 3.Gü. 4.Gü. 5.Gü. 6.Gü. Kern- Um- stadt rand stadt land

30 bis 49-Jährige in Familienhaushalten 70 % 1990 2000 60 %

50 %

40 %

30 %

20 %

10 %

Altstadt Innen- Stadt- 1.Gü. 2.Gü. 3.Gü. 4.Gü. 5.Gü. 6.Gü. Kern- Um- stadt rand stadt land

30 bis 49-Jährige in Wohngemeinschaften 10.0 % 1990 2000

7.5 %

5.0 %

2.5 %

Abb. 3: Ausgewählte Haushalts- Altstadt Innen- Stadt- 1.Gü. 2.Gü. 3.Gü. 4.Gü. 5.Gü. 6.Gü. Kern- Um- formen nach Agglomerations- stadt rand stadt land gürteln. milie, die aus der Kernstadt ins Umland zogen. eigentlichen Domänen der Wohngemeinschaft disP 164 · 1/2006 21 Für Kernstädte hatte der Wegzug der jungen als Lebensform. Mehr als 10 % aller 30- bis 49- Bevökerungsgruppen eine Überalterung ihrer Jährigen leben dort in Wohngemeinschaften. Bevölkerung zur Folge. Im Zehnjahresvergleich Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch 1990/2000 hat sich das Gefälle zwischen «über- viele jüngere Personen in Ausbildung diese alterter Stadt» und «jungem Umland» jedoch Form des Zusammenlebens wählen. verringert (vgl. Abbildung 2). Der Anteil älterer Personen an der Gesamtbevölkerung ist in der Stadt gesunken, in den Agglomerationsgemein- den dagegen gewachsen. Die am stärksten über- 3. Agglomeration Zürich alterten Gebiete der gesamten Agglomeration im sozialgeografischen Raum sind heute nicht mehr die Stadtquartiere, son- dern die stadtnahen Gemeinden an den Ufern 3.1 Modellkonstruktion des des Zürichsees. Besonders stark zurückgegan- sozialgeografischen Raumes gen ist die Überalterung in den Innenstadt- Quartieren. Die Innenstadtkreise 1, 4 und 5 Als Modellvorlage dient der soziale Raum nach sind heute von der Aktivbevölkerung dominiert, Pierre Bourdieu (1994). Der soziale Raum bil- mit vergleichsweise wenig älteren Personen, Ju- det die soziale Differenzierung der Gesell- gendlichen und Kindern. schaft aufgrund der unterschiedlichen Ausstat- tung mit gesellschaftlichen Ressourcen ab. Es 2.3. Haushaltsformen wird dabei zwischen kulturellem Kapital (Bil- dung und Wissen) und ökonomischem Kapi- Als Folge der Individualisierung und Pluralisie- tal (Einkommen und Vermögen) unterschieden. rung der Gesellschaft haben sich die Wohn- und Die vertikale Achse des sozialen Raumes wird insbesondere die Haushaltsformen stark aus- durch das Gesamtkapitalvolumen gebildet und differenziert. Häussermann und Siebel (1996) gibt die herkömmliche Schichtung nach sozi- charakterisieren das (bürgerlich-)«moderne alem Status wieder. Die horizontale Achse steht Wohnideal» der Nachkriegszeit als Wohnen in für die Kapitalstruktur und widerspiegelt den der Zweigenerationenfamilie, getrennt von der Gegensatz zwischen einem materiell-eigentums­ Arbeitswelt, bei dem die Wohnung als Privat- orientierten Habitus und einem ideell-bildungs- und Intimsphäre der Familienmitglieder dient. orientierten Habitus. Diese horizontale Achse In den vergangenen Jahrzehnten haben sich al- wird auch als Lebensstilachse oder Differenzie- ternative und konkurrierende Wohnideale aus- rungsachse bezeichnet, da sich auf ihr beson- gebildet. ders die Milieus der Mittel- und Oberschicht Die Individualisierung des Wohnens mani- in verschiedene so genannte Klassenfraktionen festiert sich in einer generellen Zunahme der gliedern lassen (Vester et al. 2001). Während Einpersonenhaushalte in der gesamten Agglo- Bourdieu (1991) die Projektion des sozialen meration. Dennoch bleibt der Einpersonen- Raumes als Segregationsmuster im physischen haushalt ein urbanes Phänomen. Das Gefälle Raum theoretisch formuliert und nur exempla- zwischen der Innenstadt (rund ein Drittel aller risch ausführt, konnten verschiedene Studien 30- bis 49-Jährigen wohnt in Einpersonenhaus- aus Deutschland und der Schweiz zeigen, dass halten) und den Agglomerationsrändern (rund sich die soziale Differenzierung nach Lebenssti- 15 %) ist auch im Jahr 2000 gross. Umgekehrt ist len und nach Status in der sozialgeografischen der Familienhaushalt in den äusseren Agglome- Struktur von urbanen Räumen wieder findet rationsgürteln immer noch die dominierende (Dangschat 1990; Leuthold 1999; Klee 2001; Wohnform dieser Altersgruppe. Ein besonders Hermann, Leuthold 2002). ausgeprägter Konzentrationsprozess hat beim Zur Analyse der sozial-räumlichen Um- Haushaltstyp «Wohngemeinschaft» stattgefun- schichtung der Agglomeration wird analog zum den. sozialen Raum nach Bourdieu ein «sozialgeo- Es zeigt sich, dass sich die Wohngemein- grafischer Raum» modelliert. Dieser sozialgeo- schaft als Lebensform im vergangenen Jahr- grafische Raum bildet nicht die soziale Schich- zehnt zu einer praktisch ausschliesslich innen- tung von Individuen bzw. Klassen oder Gruppen städtischen Lebensform entwickelt hat. In der ab, sondern modelliert die vertikale Stratifikati- Alt- und Innenstadt ist ihr Anteil stark angestie- on und die horizontale Ausdifferenzierung von gen und im Umland dagegen in gleichem Mas- Wohnmilieus. Die vertikale Achse steht für den se gesunken. Die Stadtquartiere , sozialen Status, die horizontale Achse für die , und sind die Ausdifferenzierung nach Lebensstilen. 22 disP 164 · 1/2006 Zur Charakterisierung von Wohnquartieren lienhaushalten verwendet. Die Aufteilung von und Wohnmilieus nach Lebensstilen wird das Erwerbs- und Familienarbeit zwischen den Ge- Konzept der gesellschaftlichen Individualisie- schlechtern weist auf den Modernitätsgrad des rung verwendet. Die gesellschaftliche Indivi- Lebensstils hin (Bühler 2001). Nach Pfau-Effin- dualisierung wird generell als Loslösung von ger (1997) können vier geschlechterkulturelle traditionellen Bindungen, Normen, Rollenver- Familienmodelle aufgrund der Aufteilung von ständnissen und Identitäten verstanden (Beck Erwerbstätigkeit und Betreuungsarbeit von El- 1986; Hradil 2003). Im Bezug auf die Lebens- tern unterschieden werden. und Haushaltsformen heisst «gesellschaftliche Die geschlechterkulturellen Familienmodel- Individualisierung» Loslösung von der traditi- le gehen zwar nicht direkt aus den Volkszäh- onell bürgerlichen Lebensform und Hinwen- lungsdaten hervor, können aber über den Er- dung zu alternativen Lebensformen. Das be- werbsstatus von Müttern (Frauen zwischen 25 trifft zum einen die Abkehr vom Wohnideal der und 45 in Haushalten mit Kindern) angenähert Industriemoderne (Häussermann, Siebel 1996) werden. Die Vollzeitbeschäftigung einer Mut- und damit die Pluralisierung der Wohnformen. ter mit Haus- und Familienarbeit ist dabei dem Zum anderen zeigt sich die Individualisierung traditionell-bürgerlichen Familienmodell zuzu- der Lebensformen auch in der Loslösung vom ordnen. Die Vollzeiterwerbstätigkeit weist auf traditionell-bürgerlichen Familienmodell, für das egalitär-erwerbsbezogene Familienmodell das eine strikte Rollenteilung zwischen den hin. Es lassen sich dabei grob zwei Fälle unter- Geschlechtern konstitutiv ist (vgl. Hradil 1995, scheiden: Entweder verfolgen beide Elternteile 2003; Pfau-Effinger 1997). eine berufliche Karriere und haben dadurch auch die Ressourcen, die Kinder fremd betreu- 3.2 Operationalisierung en zu lassen, oder beide Elternteile müssen aus materiellen Gründen einer Vollzeiterwerbsar- Damit das theoretische Konzept auf die Agglo- beit nachgehen. Bühler (2001) weist darauf hin, meration Zürich angewendet werden konnte, dass die doppelte Vollzeiterwerbstätigkeit in der mussten die Dimensionen «sozialer Status» und Schweiz mehrheitlich von unterprivilegierten «Individualisierungsgrad» mit Indikatoren aus Bevölkerungsschichten praktiziert wird, d. h. den Datenquellen der amtlichen Statistik ope- aus Gründen der materiellen Notwendigkeit. rationalisert werden. Des Weiteren wurden zur Operationalisie- Die vertikale Achse, d. h. der soziale Sta- rung des Individualisierungsgrades die Variab- tus lässt sich durch die Indikatoren «Einkom- len Anteil an kinderlosen Frauen, Anteil der men», «Bildungsniveau» und die Stellung im Verheirateten zwischen 20 und 30 Jahren und Erwerbsprozess relativ direkt abbilden. Die ho- der Konfessionslosen verwendet. rizontale Achse muss durch mehrere Hilfskons- trukte erschlossen werden. Der Grad der ge- 3.3 Faktorenanalyse sellschaftlichen Individualisierung lässt sich als Abweichung vom traditionellen bürgerlichen Mit den gebildeten Variablenkonstrukten wurde Lebensstil definieren. Mit Rückgriff auf die eine explorative Faktorenanalyse mit vorheriger Ausdifferenzierung und Individualisierung des Festlegung auf zwei Dimensionen durchgeführt. Wohnens nach Häussermann und Siebel (1996) Durch eine anschliessende Varimax-Rotation dienen als erste Indikatorengruppe die Anteile wurden die Faktoren bestmöglich in die Punkt- verschiedener Haushaltsformen zur Beschrei- wolke gelegt, um eine möglichst einfach struk- bung des Individualisierungsgrades. Als zweite turierte und damit inhaltlich interpretierbare Indikatorengruppe wurden die Rollenmodelle Lösung zu erhalten. Die beiden extrahierten und -verständnisse zwischen Eltern in Fami- Faktoren erklären 72,0 % der Varianz, wobei auf

Traditionelles bürgerliches Modell Frau: nicht erwerbstätig Mann: Vollzeit erwerbstätig

Modernisiertes bürgerliches Modell Frau: Teilzeit erwerbstätig Mann: Vollzeit erwerbstätig

Egalitär-erwerbsbezogenens Modell Mann und Frau: Vollzeit erwerbstätig Tab. 1: Geschlechterkulturelle Familienmodelle (nach Bühler Egalitär-familienbezogenes Modell Frau und Mann: Teilzeit erwerbstätig 2001). disP 164 · 1/2006 Definition* Anteil Segregations­ 23 index

25- bis 44-jährige Hausfrauen mit Kindern 22,8 % 11,9 25- bis 44-jährige vollerwerbstätige Frauen mit Kindern 18,1 % 11,9 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren 16,0 % 10,3 30- bis 50-jährige in Wohngemeinschaften 2,8 % 35,3

Lebensstil 35- bis 44-jährige Frauen ohne Kinder 34,7 % 17,1 Über 65-jährige in Einpersonenhaushalten 20,0 % 18,6 Verheiratete zwischen 20 und 30 Jahren 22,8 % 16,6

25 bis 65-jährige Konfessionslose 16,4 % 12,5 Erwerbstätige in statushohen Berufen 14,4 % 19,5 Erwerbstätige in statusniedrigen Berufen 9,9 % 13,2 25 bis 65-jährige mit Universitätsabschluss 11,8 % 30,0 Status Niedrige Einkommen (Steuerpflichtige mit einem steuerbaren Einkommen von weniger als 30 000 CHF) 29.3 % 8.5 Hohe Einkommen (Steuerpflichtige mit einem steuerbaren Einkommen von mehr als 160 000 CHF) 4,1 % 29,7

* Da Lebensstile eine stark biografische Komponente haben, können aufgrund der regional unterschiedlichen Tab. 2: Prozentuale Anteile Altersstruktur Verzerrungen entstehen. Um die Gefahr von solchen Bias auszuschalten wurden, die Variablen- und Segregationsindizes der konstrukte nur auf die relevante Altersgruppe bezogen berechnet. gebildeten Konstrukte.

Faktor 1 Faktor 2 Kommunalität

Über 65-jährige in Einpersonenhaushalten 0,87 0,17 0,84 Kinder und Jugendliche unter 16 –0,82 –0,39 0,86 25- bis 44-jährige Hausfrauen mit Kindern –0,82 0,14 0,71 30- bis 50-jährige in Wohngemeinschaften 0,80 0,33 0,80 35- bis 44-jährige Frauen ohne Kinder 0,78 0,48 0,88 25- bis 44-jährige vollerwerbstätige Mütter 0,73 –0,24 0,67 Niedrige Einkommen 0,46 0,00 0,37 Erwerbstätige in statushohen Berufen 0,19 0,96 0,97 Erwerbstätige in statusniedrigen Berufen 0,24 –0,88 0,85 25 bis 65-jährige mit Universiätsabschluss 0,53 0,80 0,97 Verheiratete zwischen 20 und 30 –0,21 –0,80 0,74 25 bis 65-jährige Konfessionslose 0,50 0,75 0,85 Hohe Einkommen –0,16 0,68 0,70 Tab. 3: Faktorladungen und Erklärte Varianz 36,8 % 35,2 % Kommunalitäten der verwende- ten Variablen. den ersten Faktor 36,8 % und auf den zweiten halten», «Personen in Wohngemeinschaften», Faktor 35,2 % entfallen. «kinderlose Frauen» sowie «vollerwerbstätige Die Ladungen der verschiedenen Variablen Mütter» haben positive Faktorenladungen und auf den beiden Faktoren (vgl. Tabelle 3) zeigen die Variablen «Kinder und Jugendliche unter ein recht deutliches Bild. Mit zwei Ausnahmen 16 Jahre» sowie «Vollzeit Hausfrauen mit Kin- laden alle Indikatoren des Individualisierungs- dern» negative Faktorenladungen. Hohe Fak- grades hoch auf dem ersten Faktor. Die Vari- torenwerte zeigen demnach einen hohen In- ablen «über 65-Jährige in Einpersonenhaus- dividualisierungsgrad an, tiefe Faktorenwerte 24 disP 164 · 1/2006 verweisen auf die Dominanz der bürgerlich-tra- bildung 6). Die Vorortsgürtel bilden mehr oder ditionellen Lebensweise. Der zweite Faktor wird weniger konzentrische Zonen von Gemeinden, vor allem durch die beiden Variablen des sozio- die im selben Jahrzehnt aufgrund der jewei- professionellen Status, «Universitätsabschluss» ligen Volkszählung zur Agglomeration gerech- und «hohe Einkommen» bestimmt und reprä- net wurden. Je heller eine Kreisscheibe ist, des- sentiert den sozialen Status. to später kam die Gemeinde zur Agglomeration Die beiden Variablen «niedrige Einkom- hinzu. men» und «Verheiratete zwischen 20 und 30» Die Darstellung zeigt einen klaren Stadt- scheinen die eindeutige Interpretation der Fak- Umland-Gradienten entlang der Lebensstilach- toren zu beeinträchtigen. Die alleinige Ladung se. Zwischen den Stadtquartieren und Umland- der Variablen «niedrige Einkommen» auf dem gemeinden ist entlang der Lebensstilachse ein ersten Faktor ist darin begründet, dass Perso- Graben erkennbar, der nur bei den statusnied- nengruppen wie Studenten und Rentner aus rigen Gemeinden überwunden wird. Sämtliche strukturellen Gründen über geringe Einkom- Kernstadtquartiere befinden sich auf der indivi- men verfügen und damit diese Variable nicht dualisierten Seite der Lebensstilachse, während in unserem Sinne eindeutig interpretierbar ist. die Gemeinden des äussersten Vorortgürtels fast Allerdings ist dieses Merkmal nur schwach seg- gänzlich am traditionell-bürgerlichen Rand der regiert und trägt wenig zum Modell bei (Kom- Lebensstilachse zu finden sind. Der Gradient munalität = 0,37). von Zentrum und Peripherie setzt sich auch in Die hohe Faktorenladung der Variable «Ver- der Kernstadt fort. Den höchsten Individuali- heiratete zwischen 20 und 30» auf der Status- sierungsgrad weisen die Gründerzeitquartiere achse zeigt, dass eine frühe Heirat Folge der und die mittelalterliche Altstadt im Zentrum absolvierten Ausbildung und nicht so sehr Aus- auf. Die neueren Quartiere am Stadtrand liegen druck eines bürgerlichen Familienideals zu sein weiter links. Es zeigt sich damit sehr deutlich scheint. Ebenso korreliert die Konfessionslosig- eine Korrelation zwischen dem Urbanisierungs- keit vor allem mit der Bildung und nur im ge- grad einer Gemeinde und dem Individualisie- ringeren Masse mit dem Lebensstil. rungsgrad. Entlang der Statusachse ist dagegen kein Unterschied zwischen Umlandgemeinden 3.4 Ergebnisse und Stadtquartieren erkennbar. Es gibt also gleichermassen statushohe Stadtquartiere und Die beiden modellierten Faktoren «sozialer Sta- Agglomerationsgemeinden, wie es auch status- tus» und «Individualisierungsgrad» bilden sta- niedrige Stadtquartiere und Agglomerationsge- tistisch unabhängige Dimensionen und können meinden gibt. daher als Koordinatenachsen für die grafische Betrachtet man die Faktorenwerte im regio- Darstellung des sozialgeografischen Raumes nalen Bezug, zeigt sich deutlich, dass die beiden verwendet werden. Mit Hilfe der Faktorenwerte Strukturierungsdimensionen je verschiedene können die Agglomerationsgemeinden und regionale Muster hervorbringen, die sich ge- Stadtquartiere gemäss ihrer Bevölkerungszu- genseitig überlagern. Die Polarisierung der Ag- sammensetzung im sozialgeografischen Raum glomeration in statusniedrige und statushohe positioniert werden. Je weiter oben im Raum Regionen zeigt ein sektorales Muster. Die Sek- eine Gemeinde oder ein Quartier liegt, desto toren durchlaufen die Kernstadt gleichermas- höher ist im Durchschnitt der Status der Ein- sen wie sämtliche Agglomerationsgürtel. Die wohnerinnen und Einwohner. Je weiter rechts Segregation nach Lebensstilen dagegen zeigt eine Gemeinde oder ein Quartier liegt, umso ein Muster von konzentrischen Kreisen. Dar- mehr Leute leben dort in individualisierten Ver- aus ergeben sich einerseits städtische, anderer- hältnissen. Damit lassen sich die relationalen seits suburbane statusniedrige Regionen sowie Bezüge zwischen den Raumeinheiten erkennen statushohe Wohngebiete in der Innenstadt wie und in einem zweiten Schritt auch Verschie- auch in den Agglomerationsgemeinden. bungen und Veränderung über die Zeit dar- stellen. Entwicklung zwischen 1990 und 2000 Um die Veränderung des sozialräumlichen Ge- Segregationsmuster nach füges abzubilden, wurden für die Gemeinden Lebensstil und Status und Quartiere die Faktorenwerte mit den An- In der unten stehenden Darstellung des sozi- teilen von 1990 gerechnet. Um die Vergleich- algeografischen Raumes wurde als sekundäres barkeit zu gewährleisten, wurden dabei die Mo- Merkmal die Zugehörigkeit zu einem Vororts- dellparameter des sozialgeografischen Raumes gürtel der Agglomeration dargestellt (vgl. Ab- konstant gehalten. In Abbildung 6 sind die Ver- disP 164 · 1/2006 25 statushoch

50 000 25 000 10 000 1 000 Statusachse

bürgerlich Lebensstilachse individualisiert traditionell

Kernstadt Zürich Erster Vorortgürtel Zweiter Vorortgürtel Dritter Vorortgürtel Vierter Vorortgürtel Fünfter Vorortgürtel Sechster Vorortgürtel Abb. 4: Verteilung der Zürcher Agglomerationsgemeinden und der Stadtquartiere im sozial­ statusniedrig geografischen Raum nach Grösse und Vorortgürteln 2000.

164_Heye_Fig4.ai

Lebensstilachse (X-Werte) 2000 Statusachse (Y-Werte) 2000

Quintilen Quintilen SH –1,4 bis –0,7 SH –2,0 bis –0,7 –0,7 bis –0,4 –0,7 bis –0,4 –0,4 bis 0,1 –0,4 bis 0,1 Andel ngen 0,1 bis 0,6 Andel ngen 0,1 bis 0,8 0,6 bis 3,2 0,8 bis 3,4 ZH TG TG AG Bülach AG Bülach ZH Winterthur Winterthur Dielsdorf Dielsdorf

Dietikon Dietikon ZÜRICH ZÜRICH Pfäkon Pfäkon Uster Uster

Hinwil Hinwil Aoltern Meilen Aoltern Meilen Horgen SG Horgen SG

Freienbach Freienbach LU ZG SZ LU ZG SZ Abb. 5: Faktorwerte der Zürcher 0 10 20 km 0 10 20 km Agglomerationsgemeinden und Zürcher Stadtquartiere 2000.

164_Heye_Fig5.ai 26 disP 164 · 1/2006

Status

Oberstrass Uitikon Herrliberg Lindenhof Küsnacht Rathaus Zollikon Hochschulen Oberrieden Brütten Höngg Greifensee Arni Boppelsen Werd Alt- Lebensstil Escher Wyss Gewerbeschule LeimbachAlbisrieden Langstrasse

OpfikonSeebach Dietikon Mitte Schlieren Höri Zürcher Stadtquartiere Spreitenbach Agglomerationsgemeinden Abb. 6: Bewegungen der Zürcher Agglomerationsgemeinden und Zürcher Stadtquartiere im Position 1990 Position 2000 Faktorenraum zwischen 1990 und 2000.

änderungen der Gemeinden und Stadtquartiere der Innenstadt, sondern am Stadtrand und in dargestellt. Die Kreisscheibe markiert die Po- Teilen der Agglomeration. Der statusniedrige sition im Jahr 2000, die graue Linie zeigt den Pol wird von den Quartieren in Zürich Nord mit «Weg», den die Raumeinheit zwischen 1990 und den Gemeinden der Flughafenregion und den 2000 zurückgelegt hat. Gemeinden (Schlieren, Dietikon und Spreiten- Vergleicht man die Positionen der Quartiere bach) und Stadtquartieren (Altstetten, Hard und und Gemeinden von 1990 und 2000, dann fal- ) im Limmattal besetzt. len zwei Entwicklungstendenzen ins Auge. Zum einen weisen die meisten Agglomerationsge- meinden eine starke Rechtsbewegung auf. Hier 4. Fazit kommt ein gesamtgesellschaftlicher Trend der Individualisierung und Auflösung der traditio- Die Analyse der Segregation in der Agglomera- nellen Familienstrukturen zum Ausdruck. Zum tion Zürich hat gezeigt, dass die räumlich-so- anderen zeichnet sich ein Grossteil der Stadt- ziale Segregation in der Agglomeration Zürich quartiere durch eine kräftige Aufwärtsbewe- nach zwei Strukturierungsdimensionen verläuft gung aus. Insbesondere die Innenstadtquartiere – einer sozioökonomischen und einer soziokul- haben ihr soziales Profil stark verändert und turellen –, die sich durch die Segregation von ihren sozialen Status erhöht. In dieser sozialen unterschiedlichen Lebensstilen manifestiert. Aufwertung der Innenstadt kommen der Reur- Die sozioökonomische Strukturierung teilt die banisierungsprozess der 1990er-Jahre und die Agglomeration in Wohnregionen mit hohen An- teilweise Gentrifizierung der gründerzeitlichen teilen statusniedriger Bevölkerungsschichten Quartiere der Stadt Zürich zum Ausdruck. und Wohnregionen der Oberschicht. Die soziale Aufwertung der Innenstadt hat Die grossen regionalen Unterschiede bezüg- in den letzten Jahren zu einer Verschiebung der lich des Anteiles der ausländischen Bevölkerung Statushierarchie in der Agglomeration Zürich sind durch die spezifische soziale Schichtung geführt. Die Regionen am unteren Ende der der verschiedenen Nationalitäten verursacht Statusachse befinden sich heute nicht mehr in und nicht durch ein anderes Segregationsver- halten oder ethnisches community building. Es von der Kernstadt bis an die Agglomerations- disP 164 · 1/2006 27 ergibt sich eine «doppelte» sozialräumliche Po- ränder. So ergeben sich einerseits stark indivi- larisierung der Agglomeration; d. h., die Segre- dualisierte statusniedrige Regionen sowohl in gation nach Nationalität bildet die Segregation den Städten als auch im suburbanen Raum und nach sozioökonomischem Status ab, weil die anderseits bürgerlich-traditionelle Regionen in Migranten aus südeuropäischen Ländern mehr- der Kernstadt und im Umland. heitlich einen tieferen sozioökonomischen Sta- Im Jahrzehnt zwischen den Volkszählungen tus haben als die Schweizer Bevölkerung und von 1990 und 2000 hat sich die doppelte Pola- vor allem als die nord- und westeuropäischen risierung der Agglomeration verfestigt und die Migranten. In den reichen Wohnregionen ist sektorale Ausprägung der Statusregionen kon- der Anteil der ausländischen Bevölkerung ten- solidiert. Der Gradient zwischen Kernstadt und denziell gering. Die dort wohnhaften Auslän- Umland nach Individualisierungsgrad und Mo- derinnen und Ausländer gehören tendenziell dernität von Lebensstilen hat sich eher abge- statushohen Schichten an und stammen mehr- schwächt. Die typisch urbanen Lebensformen heitlich aus nord- und westeuropäischen Staa- wie Einpersonenhaushalt oder die Erwerbstä- ten. Dagegen haben die Wohnregionen der tigkeit von Müttern sind in die suburbane Ag- Schichten mit niedrigem sozioökonomischem glomeration diffundiert. Eine Ausnahme bildet Status hohe Anteile ausländischer Bevölkerung dabei die Lebensform der Wohngemeinschaft, aus südeuropäischen Staaten. die sich zum typisch urbanen Phänomen ent- Die soziokulturelle Segregation nach demo- wickelt hat. grafischen und Lebensstilmerkmalen zeigt ei- Als augenfälligste Veränderung der unter- nen deutlichen Gradienten der Individuali- suchten Dekade ist die markante sozioökono- sierung von der Kernstadt nach aussen an die mische Aufwertung der Kernstadt hervorzu- Agglomerationsränder. In der Kernstadt do- heben. Insbesondere die innenstadtnahen minieren moderne individualistische Wohn- Quartiere der Kreise 3, 4, 5 und 10 haben sich formen und Familienmodelle, während in den von marginalisierten Regionen zu Wohnge- sub- und periurbanen Agglomerationsgemein- bieten einer urbanen Mittelschicht entwickelt. den die traditionell bürgerlichen Lebensstile Die noch 1990 in der Innenstadt messbaren vorherrschen. A-Stadt-Phänomene (Überalterung, hohe An- Die Segregation nach Lebensstilen zeigt da- teile unterprivilegierter ausländischer und so- mit ein Muster von konzentrischen Kreisen. Die zial schwacher Personen) haben sich im Verlauf Polarisierung der Agglomeration in statusnied- des Jahrzehnts in die Stadtrandquartiere und rige und statushohe Regionen zeigt hingegen Gemeinden der inneren Agglomerationsgürtel ein sektorales Muster. Die Sektoren verlaufen verlagert.

Konzentrisches Segregationsmuster Sektorales Segregationsmuster nach Individualisierungsgrad der Lebensstile nach sozioökonomischem Status

bürgerlich-traditionell statushoch

mittelständisch Abb. 7: Schematische Darstel- urban-individualistisch statusniedrig lung der Segregationsmuster nach Status und Lebensstil. 28 disP 164 · 1/2006 Anmerkungen der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am 1 Die Agglomeration Zürich besteht aus 131 Main. Agglomerationsgemeinden, von denen 103 Bühler, E. (2001): Frauen- und Gleichstellungsatlas im Kanton Zürich, 25 im Kanton Aargau und Schweiz. Zürich. 3 im Kanton Schwyz liegen. Rund ein Drittel Dangschat, J. (1990): Geld ist nicht (mehr) alles der Agglomerationsbevölkerung wohnt in der – Gentrification als räumliche Segregierung Kernstadtgemeinde Zürich. Um ihre innere nach horizontalen Ungleichheiten. In Blasius, Gliederung zu berücksichtigen, wurden die J.; Dangschat, J. (Hrsg.): Gentrification: Die Auf- 34 historisch gewachsenen Stadtquartiere der wertung innenstadtnaher Wohnviertel. Frankfurt Stadt Zürich als äquivalent zu den Agglomerati- am Main, S. 69–92. onsgemeinden behandelt. Friedrichs, J. (1998): (Hrsg.): Die Individualisie- 2 Die folgenden Ämter finanzierten und beglei- rungsthese. Opladen. teten die Studie: Fachstelle für interkulturelle Gaebe, W. (1991): Agglomerationsräume in West- Fragen, Fachstelle für Stadtentwicklung, Soziale und Osteuropa. In: Agglomerationen in West und Dienste Zürich, Statistik Stadt Zürich, Statis­ Ost. Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Ost- tisches Amt des Kantons Zürich, Wirtschaft/ mitteleuropa-Studien. Marburg, S. 3–21. Standortmarketing. Geissler, R. (2000): Sozialer Wandel in Deutschland. 3 Die von Ulrich Beck (1983, 1986) in den frü- Informationen zur politischen Bildung, 269. heren 1980er-Jahren vorgebrachte Individua- Bonn. lisierungsthese wurde stark kritisiert, weil sie Häussermann, H.; Siebel, W. (1996): Soziologie des suggerierte, dass die vertikale Klassenstruktu- Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdif- rierung der Gesellschaft sich aufgelöst hätte ferenzierung des Wohnens. Weinheim, München. und es nur noch Lebensstilunterschiede gäbe Heineberg, H. (2000): Grundriss Allgemeine Geogra- (vgl. z. B. Geissler 2000; Friedrichs 1998; Mül- phie: Stadtgeographie. Paderborn. ler 1992). Andere Autoren zeigen auf, dass etwa Hermann, M.; Leuthold, H. (2002): Die gute Adres- im Wahlverhalten auch noch traditionelle Bin- se. Divergierende Lebensstile und Weltanschau- dungen (religiöse, gewerkschaftliche etc.) eine ungen als Determinanten der innerstädtischen grosse Rolle spielen (vgl. z. B. Müller 1998). Die Segregation. In: Mayr, A.; Meurer, M.; Vogt, J. meisten dieser Kritiker räumen jedoch ein, dass (Hrsg.): Stadt und Region – Dynamik von Lebens- eine Pluralisierung der Lebensstile stattgefun- welten. Tagungsbericht und wissenschaftliche den hat und dass das Individuum in wichtigen Abhandlungen zum 53. Geographentag in Leip- Bereichen des Lebens mehr Eigenverantwor- zig, S. 236–250. tung und individuellen Handlungsspielraum Heye, C.; Leuthold, H. (2004): Segregation und hat. Lebensstil und Individualisierung ist nicht Umzüge in der Stadt und Agglomeration Zürich losgelöst von Status und Klassenstruktur ver- 1990–2000. Zürich. wendbar. Der Grad der Individualisierung des Hradil, S. (1995): Die Single-Gesellschaft. Mün- Lebensstils ist aber heute ein bedeutendes chen. Merkmal der horizontalen Differenzierung der Hradil, S. (2003): Vom Wandel des Wertewandels. Gesellschaft. Die Individualisierung und eine ihrer Gegenbe- 4 Da sich das Untersuchungsgebiet über die wegungen. In: Glatzer, W. et al. (Hrsg.): Sozialer Stadtgrenze hinaus und über mehrere Kantone Wandel und gesellschaftliche Dauerbeobachtung. erstreckt, wurden vergleichbare Daten aus den Opladen, S. 31–47. Volkszählungen von 1990 und 2000 und aus Huissoud, T.; Stofer, S.; Cunha, A.; Schuler, M. der Statistik der Direkten Bundessteuer für die (1999): Structures et tendances de la différencia- entsprechenden Veranlagungsjahre verwendet. tion dans les espaces urbains en Suisse. Rapport de recherche No. 145. PNR 39 Migrations et rela- tions interculturelles. Corinna Heye Klee, A. (2001): Der Raumbezug von Lebensstilen in Sozialgeografin Literatur der Stadt. Münchner Geographische Hefte Nr. 83. Gruppe sotomo Beck, U. (1983): Jenseits von Klasse und Stand? So- München. Geografisches Institut der ziale Ungleichheit, gesellschaftliche Individu- Leuthold, H. (1999): «Die gute Adresse. Innerstäd- Universität Zürich alisierungsprozesse und die Entstehung neuer tische Wohnstandortverteilung in Zürich als Winterthurerstrasse 190, 8057 Zürich sozialer Formationen und Identitäten. In: Kre- Produkt sozial differenzierter Klassifikation». [email protected] kel, R. (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. 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