BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks

Sendung vom 21.07.1998

Prof. Dr. Josef Stingl Ehemaliger Präsident der Bundesanstalt für Arbeit im Gespräch mit Dr. Thomas Rex

Rex: Verehrte Zuschauer, ich begrüße Sie recht herzlich bei Alpha-Forum. Heute bei uns zu Gast im Bildungskanal des Bayerischen Rundfunks ist die "Bundesunke", die "Kassandra von Nürnberg", der "Schwarzmaler" Josef Stingl. Diese Spitznamen fallen 14 Jahre nach Ihrer Pensionierung den Bürgern immer noch ein, wenn sie den Namen Stingl hören. Stingl: Es ist mir zwar nicht passiert, daß Leute mir gegenüber diese Namen genannt haben, aber ich habe gegen diese Namen gar nichts, denn "Kassandra" ist ja eine Auszeichnung: Das, was ich vorausgesagt oder angedeutet habe, ist eingetreten. Kassandra hat eben immer das Richtige vorausgesagt. "Unke"? Na, gut. Wenn einer der Meinung ist, daß die Zahlen schlecht sind, dann schiebt er es eben gerne auf den, der die Botschaft bringt. Das hat mich also nicht weiter gestört. Rex: Woran liegt es denn, daß Ihre Nachfolger, Heinrich Franke und nun Bernhard Jagoda, solche Beinamen nicht bekommen haben? Stingl: Das kann ich mir überhaupt nicht erklären, das weiß ich nicht. Vielleicht haben damals die Leute noch mit mehr Aufmerksamkeit auf die Zahlen aus Nürnberg gesehen und dadurch auch öfter darüber nachgedacht, was dahinter steckt. Ich habe mich ja auch immer bemüht, ein bißchen aufzuhellen, welche Hintergründe hinter den Zahlen stecken. Rex: Sie sind 1919 geboren, und solch eine große politische Karriere war Ihnen keineswegs in die Wiege gelegt. Stingl: Das war mir schon deshalb nicht in die Wiege gelegt oder an der Wiege gesungen worden, weil ich in der Tschechoslowakei geboren wurde, und als Deutscher hätte ich dort niemals eine Position dieser Art erreichen können: Deutsche kamen nicht so weit. Rex: Sie sind der Sohn eines Bäckers. Im Krieg waren Sie Pilot und nach dem Krieg kam zunächst die Gefangenschaft. Stingl: In Schleswig-Holstein, ja. Rex: Wie ging es dann weiter? So einfach war das ja wohl nicht nach dem Krieg? Stingl: Nein, es war nicht einfach. Ich hatte 1943 in geheiratet und dann meine Familie, zu der mittlerweile auch zwei Kindern gehörten, meine Tochter kam im Oktober 1945 zur Welt, in meine Heimat im gebracht, ins , nach Maria Kulm, weil es dort keine Bombenangriffe gegeben hat. In Berlin hatte meine Frau dagegen schon Bombenangriffe erlebt. Später erfuhr ich dann, daß meine Schwiegereltern in Berlin nicht ausgebombt waren. Ich kam nach Hause – so ein bißchen mit Grenzschmuggel bei den Amerikanern – und wollte eigentlich bei meiner Familie bleiben, aber die Tschechen haben schon nach mir gefragt. Meine Frau hat gesagt, sie weiß nicht, wo ich bin – ich war im Nebenzimmer. Aber in der Nacht haben wir dann meinen Sohn auf den Schlitten gepackt – das war im Winter, und es hatte Schnee – und sind an die Grenze gefahren. Dort bin ich mit Frau und Kind schwarz über die Grenze und nach Berlin gegangen. Meine Frau ist noch einmal zurückgekehrt und hat unsere Tochter geholt, die bei meiner Mutter geblieben war. Sie hat dabei übrigens sehr gute Erfahrungen mit tschechischen Grenzern gemacht. Rex: Mit der Arbeit nach dem Krieg ist es Ihnen wohl nicht anders ergangen als den vielen Millionen anderen Menschen? Stingl: Ja, ich habe nach dem Krieg in Berlin im britischen Sektor wohnen müssen. Meine Familie lebte aber im amerikanischen Sektor. Das war verwirrend, aber ich durfte als aktiver Offizier nicht in den amerikanischen Sektor ziehen. Ich durfte im britischen wohnen, aber dafür mußte ich samstags und sonntags eine Art Strafarbeit ableisten. Aber das habe ich auch überstanden. Ich durfte nur eine untergeordnete Stelle einnehmen, und so bin ich Bauarbeiter geworden. Ich habe dort nach ein paar Wochen den Gesellenlohn bekommen, und nicht bloß so eine niedrige Abfindung. Ich bin dann allmählich von der Baustelle ins Baubüro gewandert. So habe ich in einer Wohnstättengesellschaft Häuser und Wohnungen verwaltet. Rex: Man liest immer wieder – und ich frage da jetzt einfach einmal nach –, daß der spätere Präsident der "Bundesanstalt für Arbeit" damals selbst arbeitslos war. Stimmt das? Stingl: Nein, arbeitslos war ich nach dem Krieg in Berlin nicht, ich war arbeitslos unmittelbar nach der Besetzung des Egerlandes. Da war ich dann im Arbeitsamt in Falkenau eingeschrieben. Ich mußte dort auch ein paar Tage lang Listen schreiben, um etwas zu verdienen. Ansonsten habe ich in dieser Zeit aber auch im Pfarramt geholfen, denn plötzlich wollten alle ihren Ariernachweis haben. Und bei uns standen ja die Geburtsdaten in den Matrikelbüchern der Pfarrgemeinden. Rex: Sie konnten dann in Berlin das Studium der politischen Wissenschaften beginnen und machten eine ganz schnelle Karriere: Schon 1953 zogen Sie für die CDU in den Deutschen ein. Stingl: Naja, das war natürlich auch so ein bißchen merkwürdig. Ich durfte an der "Humboldt-Universität" nicht studieren, weil ich aktiver Offizier gewesen war. Aber ich durfte an der Abendschule politische Wissenschaften studieren, nämlich an der "Deutschen Hochschule für Politik". Otto Suhr hatte diese Hochschule wieder gegründet - der spätere Bundespräsident Heuss hatte sie vor 1933 einmal geleitet. Wir haben damals als Studenten erzwungen, daß wir Examina machen durften. An sich sollte das nämlich nur ein Ergänzungsstudium am Abend sein. Aber ich habe dann bei voller Berufstätigkeit am Abend richtig studiert. Ich habe dort auch mein Examen abgelegt. Rex: Sie haben dort an der Universität später auch gelehrt. Stingl: Ich habe schon 1955 einen Lehrauftrag speziell für Sozialpolitik an der "Hochschule für Politik" bekommen, weil ich mir inzwischen im Bundestag ein wenig einen Namen gemacht hatte. Ich hatte zwar kein Stimmrecht im Bundestag, aber "viel Stimme". Rex: Zu dieser Zeit im Bundestag gibt es zwei wichtige Stichworte. Zum einen ist dies die Rentenreform. Was gibt es da aus heutiger Sicht zu sagen? Stingl: Ich halte sie immer noch für die Regelung der Altersversorgung der Menschen. Es ist nur so, daß wir damals zwei Faktoren nicht berücksichtigen konnten: Das war zum einen der Geburtenrückgang, und zum anderen die hohe Lebenserwartung. Wenn man das heute auf dieser Basis des Umlageverfahrens – ich glaube nicht, daß man hier irgend etwas anderes machen kann – weiterführen will, dann muß man diese beiden Faktoren mit einbauen: höhere Lebenserwartung und weniger Nachwuchs. Rex: Geben Sie der Rente in der Form eine Zukunft? Stingl: Ja, weil sie nur so bestehen kann. Denn wer auf Kapitaldeckungsverfahren umschalten will, der muß ja zugleich in Kauf nehmen, daß dann praktisch das gesamte Grundvermögen und mehr oder weniger alles andere in Deutschland den Rentenversicherern gehört. Denn wenn man eine solche Kapitalrücklage schaffen will, dann müßte sie wirklich ungeheuer groß sein, denn sie müßte ja auch den Fall mit berücksichtigen, bei dem kein Einzahler mehr da ist. Rex: Das andere wichtige Stichwort aus dieser Zeit ist das Arbeitsförderungsgesetz. Das hat Sie später ja groß beeinflußt, aber schon als Abgeordneter haben Sie daran mitgearbeitet. Stingl: Ja, das war 1965 nach der Wahl. Ich war ja schon seit 1963 Sprecher der CDU für Sozialpolitik, und ich habe vorher schon häufiger die CDU auf Gewerkschaftstagen u. ä. vertreten müssen. Unter anderem war ich damals auf einem Gewerkschaftstag der IG-Metall gewesen, und dort wurde in einer Ausstellung sehr drastisch dargestellt, was der technische Fortschritt auch für das Arbeitsleben bedeutet. Ich meine, man hat das alles schon gewußt, aber dort wurde es mir erst so richtig klar. So haben wir nach der Wahl im Jahr 1965 als erstes in der CDU einen Antrag formuliert: Das damals noch gültige AVAVG, das "Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung", müsse modernisiert werden und es müsse auch dafür Sorge getragen werden, daß sich nicht der einzelne einen Computer kaufen muß, wenn er zurechtkommen will, sondern daß er die Mittel zur weiteren Ausbildung und zur Beherrschung der Mittel – und nicht zum Beherrschtwerden durch die Mittel – auch im Gesetz festgelegt bekommen müßte. Damals hat der Arbeitsminister Katzer zu recht gesagt, das bedeutet, daß wir eine ganz neue Konzeption brauchen und nicht nur ein bißchen Reform am AVAVG. Rex: Ihnen ging es damals auch darum, die Arbeitslosen nicht nur zu verwalten, sondern die Leute schon vorher in eine Situation zu bringen, in der sie erst gar nicht arbeitslos werden. Stingl: Genau darum ging es. Deshalb stand im Paragraphen 1 übrigens auch nicht, daß die "Bundesanstalt" oder die Arbeitsämter die letzte Station sind, wenn sonst keiner mehr weiter weiß, sondern es stand darin, daß die "Bundesanstalt" die Aufgabe hat, durch ihr Wirken das Wirtschaftswachstum zu fördern. Sie war also eine Einrichtung - übrigens im Rahmen des Stabilitätsgesetzes -, die das Wirtschaftswachstum zu fördern hatte: Sie hatte daher eine starke Verbindung zur Wirtschaftspolitik und nicht nur zur Sozialpolitik. Rex: Warum ist denn damals der Sozial- und Arbeitspolitiker Stingl nicht Arbeitsminister geworden? Stingl: Ach Gott, das ist in der Politik so. Da wurde es eben Katzer und fertig. Katzer wurde es ja schon unter Erhard. Ich habe zwar damals für Erhard auch Passagen in der Regierungserklärung geschrieben - aber sagen wir es einfach einmal so, Katzer hatte mehr Truppen hinter sich. Rex: 1968 begannen Sie, in Nürnberg diese große Behörde zu leiten. Sie haben dort sehr viele Sachen verändert: Sie haben aus diesem großen Betrieb ein modernes Dienstleistungsunternehmen machen können. Sie haben aber auch gleichzeitig die Partei gewechselt, von der CDU weg und zur CSU hin. Hatte das nur räumliche Gründe? Stingl: Das letztere hatte nur räumliche Gründe. Ich bin sogar noch ein paar Jahre in der CDU geblieben, nachdem ich Franz Josef Strauß gesagt hatte: "Du, ich bleibe in der CDU". Dort war ich nämlich Vorsitzender des sozialpolitischen Ausschusses der Bundespartei und im Bundesvorstand der Partei. Dazu hat er sein Einverständnis erklärt. Als ich dann nicht mehr in den Vorstand gewählt wurde, habe ich gesagt: "Na, jetzt brauche ich auch nicht mehr in der CDU zu sein". Und ich bin dann den örtlichen Gegebenheiten gemäß in die CSU eingetreten. Ich wollte ja auch in Bayern bleiben, denn ich bin nach meiner Pensionierung nach Taufkirchen bei München gezogen. Aber inzwischen ist meine Frau gestorben, und ich habe wieder geheiratet. Das hat dann dazu geführt, daß ich jetzt im Rheinland wohne. Und daher bin ich jetzt auch wieder in der CDU. Und in der CDU habe ich sogar wieder ein Amt bekommen, während ich in der CSU nie ein Amt gehabt habe. Ich bin nun Vorsitzender des, sagen wir einmal, Ältestenrats - aber er heißt nicht wirklich so. Der Vorsitzende des Ältestenrats hat Sitz, aber nicht Stimme im Bundesvorstand der Partei, so daß ich also jetzt da wieder mitmache. Einer meiner Vorgänger war übrigens der ehemalige Bundespräsident Carstens. Rex: Sie sind damit also zu den Wurzeln Ihrer Parteiarbeit zurückgekehrt. "Ich habe bei Stingl angeheuert", das war damals ein geflügeltes Wort. Ich habe es gerade gesagt, von 1968 bis 1984 waren Sie Chef dieser großen Behörde. Jeden Monat verkündeten Sie die neuesten Arbeitslosenzahlen. Sie wurden zu einem der bekanntesten Männer der Republik. Das hat ganz schön geschmeichelt? Stingl: Ach Gott, das tat einem auch ganz wohl, das stimmt schon. Wer ist nicht so eitel? Aber es kam mir darauf gar nicht an. Ich habe mich eher amüsiert, wenn dann einer kam und gesagt hat: "Ach, das freut mich sehr, daß ich Sie sehe, Herr Pfarrer Sommerauer". Und Sommerauer hat mir gesagt: "Wissen Sie, mir geht’s auch so, ich werde auch als ‘Herr Stingl‘ angesprochen". Das Image ist also schon sekundär gewesen. Rex: Können Sie sich an die erste Arbeitslosenzahl erinnern, die Sie zu verkünden hatten? Stingl: Nein, die weiß ich nicht mehr. Aber sie war nach meiner Erinnerung bei knapp über 100 000 gelegen. Es war ja gerade die erste kleine Rezession vorbei. war zurückgetreten, weil zum ersten Mal die Zahlen hochgegangen waren. Sie waren dann auch wieder heruntergegangen und zwar letzten Endes auch durch eine sehr wichtige Maßnahme: Anton Sabel hatte die Anwerbung von Ausländern eingestellt. Ich kam also in eine Phase, in der es aufwärts ging. Es war natürlich auch so, daß ich der Meinung war, wenn wir schon ein Gesetz haben, das der Wirtschaft helfen soll, dann muß das auch bekannt gemacht werden. Ich habe also damals die Öffentlichkeitsarbeit angefangen. Rex: Es war dann so, daß Mitte der siebziger Jahre die Zahl der Arbeitslosen leider stetig stieg. Am Ende Ihrer Amtszeit waren es schon sehr viel mehr Arbeitslose, die Sie leider verkünden mußten: Es waren zweieinhalb Millionen. Was haben Sie denn damals gefühlt, nach 16 Jahren und einer solchen Steigerung? Stingl: Zuerst einmal muß man dazu sagen, daß inzwischen auch der Ölschock stattgefunden hatte. 1973 gab es einen Anstieg, der dann auch wieder abflaute. Auch die hohe Zahl, die ich meinem Nachfolger, Herrn Franke, übergeben mußte, ist ja auch noch einmal zurückgegangen. Es war also nicht so, daß das schon für alle Zeiten festgelegt war. Es kam ja 1982 der Regierungswechsel, das muß man auch berücksichtigen. In meiner Zeit habe ich fünf Arbeitsminister in Bonn erlebt: Sie hatten die Rechtsaufsicht über die "Bundesanstalt". Ich muß das schnell klarstellen: Die Arbeitsminister hatten keine Dienstaufsicht über den Präsidenten der "Bundesanstalt". Nur wenn der silberne Löffel geklaut hätte, dann hätte der Arbeitsminister eingreifen müssen. Ansonsten wird die Politik der "Bundesanstalt" durch die Selbstverwaltung bestimmt. Der Arbeitsminister ist also nicht der Vorgesetzte des Präsidenten der "Bundesanstalt". Rex: Sie hatten dem "Handelsblatt" einmal gesagt: "Zufrieden bin ich erst mit einer Arbeitslosenquote von 1,5 bis zwei Prozent. Das wird wohl noch eine ganze Weile dauern". Das war vor über 20 Jahren. Jetzt liegen wir leider bei elf Prozent. Stingl: Ich hatte ja einmal diese Zahlen. Auch heute bin ich noch der Meinung, man kann eigentlich erst zufrieden sein, wenn man auf eine Zahl kommt, wie Sie sie eben genannt haben. Aber dazu muß man ganz verschiedene Instrumente einsetzen. Es gibt eine Fülle von Instrumenten, die übrigens das "Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung" immer wieder aufgelistet hat. Rex: Das "Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung" gehört zur "Bundesanstalt" hier in Nürnberg dazu. Stingl: Richtig. Dieses Institut hat übrigens schon mein Vorgänger eingerichtet, das ist also nicht mein Verdienst. Aber ich glaube, mein Verdienst in bezug auf das "Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung" ist es, daß ich den Wissenschaftlern den Rücken freigehalten habe: daß ihnen nicht zugemutet wurde, vorgegebene Ergebnisse wissenschaftlich zu begründen. Ich glaube, das war mit Herrn Mertens zusammen, der leider schon verstorben ist, eine wichtige Tat der "Bundesanstalt". Natürlich sollte da die Politik etwas mehr auf die sehr neutral ausgebreiteten Möglichkeiten – die Folgen dieser oder jener Maßnahmen – achten. Und sie sollte die Gesetze auch ein wenig danach ausrichten. Das vermisse ich ein bißchen. Rex: Sie haben damals an die Vollbeschäftigung gedacht und auch geglaubt. Glauben Sie auch heute noch, daß das in der Bundesrepublik machbar ist? Stingl: Wenn Sie genau hinhören, werden Sie bei mir nie das Wort Vollbeschäftigung finden. Statt dessen finden Sie, wie es auch im Gesetz steht, die Formulierung "hohe Beschäftigungslage". Vollbeschäftigung ist nämlich ein Begriff, der nicht definiert ist. Jeder versteht darunter etwas anderes. Eine hohe Beschäftigungslage zu erreichen, ist sicherlich auch heute möglich. Es ist möglich, wenn man mehr berücksichtigt, daß dafür auch die Solidarität der Menschen eine große Rolle spielt. Das betrifft auch die Frage der Arbeitszeit. Wobei man die Solidarität natürlich nicht so auffassen kann: "Ich gebe dir zwei Stunden meiner Arbeitszeit, aber das Geld behalte ich". Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen: Wenn man Solidarität übt, darf man das nicht nur in der Arbeitszeit, sondern muß es auch im Lohn so halten. Darüber hinaus meine ich, es müssen auch wieder Bedingungen geschaffen werden, die es interessant erscheinen lassen, Leute einzustellen. Dazu gibt es jetzt eine ganze Fülle von Hilfen, die ich durchaus bejahe. Dieses Instrument wurde aber leider nicht so in Anspruch genommen, wie man das hätte erwarten können. Rex: "Ich muß stempeln gehen": Diesen Ausdruck kennen und gebrauchen auch heute noch viele Leute. Was verbirgt sich dahinter? Stingl: Dahinter verbirgt sich, daß ein Arbeitsloser früher jede Woche zum Arbeitsamt gehen und sich diesen Stempel geben lassen mußte, damit er sein Geld bekam – dort auf dem Arbeitsamt. Es war so ziemlich eine meiner ersten Maßnahmen, das abzuschaffen. Seitdem ich das geändert habe, erfolgt die Geldzuweisung über Konten. Jetzt hat ja – zu meinem Ärger, das gebe ich gerne zu – der Gesetzgeber wieder eingeführt, daß die Arbeitslosen sich melden und nachweisen müssen, daß sie dieses oder jenes unternommen haben. Ich kann dazu nur sagen: Die Mitarbeiter der "Bundesanstalt" sind dadurch sehr überlastet und können sich anderen wichtigen Aufgaben nicht zuwenden. Der Arbeitsminister hat das dann ja eingesehen und diese Bestimmung auch löchrig gemacht: Ältere und einige andere müssen es nicht machen. Das entspricht meiner Überzeugung nach auch einfach nicht der heutigen Zeit. Rex: Es hat auch den Vorteil, daß nicht wirklich unendliche Schlangen vor den Arbeitsämtern zu sehen sind wie in der Weimarer Zeit – das gab ja auch sehr große Probleme. Stingl: Ja, "Stempelbude" hat man das damals genannt. Und jetzt ganz ernsthaft: In der Weimarer Zeit waren diese Schlangen Angriffspunkte für die Kommunisten und Nationalsozialisten. Da wurde in der Schlange Propaganda betrieben. Es darf nicht wieder so sein, daß solche Schlangen entstehen. Ich meine, es sind jetzt auch oft Wartezeiten da, aber Schlangen wie damals gibt es nicht mehr. Diese Schlangen von früher habe ich z. B. drastisch vor Augen geführt bekommen, als ich ein unter Denkmalschutz stehendes Arbeitsamt in Kiel besucht und dabei diese extrem langen Gänge gesehen habe: Sie sollten verhindern, daß die Arbeitslosen im Regen stehen mußten, wenn es einmal regnete. Das darf also nicht wieder so sein, weil das Angriffspunkte für Staatsfeinde sein können. Rex: War denn der Umbau dieser "Stempelbuden" in moderne Arbeitsämter, dieser Umbau der gesamten Behörde, war das eine sehr schwierige Aufgabe? Wie konnte man so etwas denn überhaupt bewerkstelligen? Stingl: Man mußte erst einmal die eigenen Leute dafür gewinnen, man mußte in der "Bundesanstalt" selbst den Mitarbeitern ins Hirn pflanzen, daß nicht jeder Arbeitslose ein potentieller Betrüger ist, sondern daß man ihm helfen muß. Es herrschte so ein bißchen die Mentalität: "Naja, die sind ja alle selbst schuld". Das kam daher, weil damals die Arbeitslosigkeit bis auf 65 000 Menschen zurückgegangen war. Herr Jagoda sagt ja jetzt immer, Josef Stingl – das war zwar eigentlich gar nicht in meiner Zeit, sondern in der Zeit von Sabel - hat so viele Arbeitslose gehabt, wie ich heute Angestellte habe. Aber so ähnlich war damals doch die Haltung überall: Ach, die wollen ja alle gar nicht arbeiten. Dieses Image wollte ich den Arbeitslosen nehmen. Dazu brauchte man aber auch die Haltung unserer Mitarbeiter, die sich als Helfer empfinden mußten und nicht als Verwalter. Rex: Jetzt war es bei Ihnen leider so wie im Mittelalter: Dem Überbringer von schlechten Nachrichten wurden manchmal die Ohren abgeschnitten, manchmal sogar der Kopf. Der Bundeskanzler Schmidt hat einmal versucht, Ihnen den Mund zu verbieten. Er hat das 1982 prüfen lassen, aber es ist ihm nicht gelungen. Hatten Sie öfter Ärger mit dem SPD- Kanzler? Stingl: Eigentlich nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Nein, ich kann mich nicht erinnern, daß ich mit Brandt irgendwelchen Ärger hatte. Brandt kannte ich ja von Berlin. Wir waren ja beide Berliner Politiker. Ich hatte kein sehr enges Verhältnis zu ihm, aber ich habe immer mit den Arbeitsministern, die ja auch von der SPD waren, ein sehr gutes Verhältnis gehabt - da hat sich manchmal der eine oder andere gewundert. Als z. B. Ehrenberg die Beitragsleistung der "Bundesanstalt" zur Rentenversicherung einführte, hat ein damaliger Kollege von Ihnen, der dann übrigens später Intendant wurde, gesagt: "Na, Sie müssen sich doch jetzt...". Da habe ich gesagt: "Nein". Statt dessen war es doch so: Wenn die "Bundesanstalt" gewissermaßen der Arbeitgeber von Arbeitslosen wird, will sie sie zwar los werden, aber dann müßte sie auch alle Leistungen bringen - dazu gehört dann auch die Rentenversicherung. Ich hätte es allerdings auch gerne gesehen, wenn die Steuer anders reagiert hätte, denn dann wäre vielleicht manche Unebenheit nicht so entstanden, wie sie entstanden ist. Rex: Wie war das unter Kanzler Kohl, wie kamen Sie mit dem zurecht? Stingl: Sehr gut. Ich bin mit Kohl seit 1954 oder 1955 befreundet. Ich habe in seiner Gegend, in Ludwigshafen, viele Wahlreden gehalten, weil ich als Berliner Abgeordneter in den Wahlkämpfen in Berlin überhaupt nicht engagiert war, sondern den Kollegen, die mich aus dem Bundestag kannten, zu Hilfe kam. Kohl hatte damals einen Sekretär auf der Bezirksebene, der über mich aus der ehemaligen DDR über Berlin zu ihm gekommen war. Dadurch war ich oft bei ihm zu Wahlkämpfen eingeladen. Wir kennen uns also schon sehr gut. Rex: Waren Sie denn manchmal als "Bundesunke", um das noch einmal zu wiederholen, versucht, die Zahlen gemäß dem Parteibuch zu interpretieren oder konnten Sie einfach unabhängig agieren? Stingl: Ich konnte absolut unabhängig agieren. Ich kann mich nur an einen Fall erinnern, bei dem ich dem damals verantwortlichen Fraktionsvorsitzenden der CDU gesagt habe: "Wenn ihr so weitermacht, redet ihr Unsinn". Sie hatten nämlich gesagt, die SPD sei schuld daran, daß die Arbeitslosenzahlen dauernd steigen... Ich habe ihnen gesagt: "Ihr werdet euch wundern, die fallen auch wieder, und das ist Unsinn, was ihr da macht". Das war das einzige Mal, an das ich mich erinnere. Aber das betraf ja gar nicht die Verkündigung meiner Zahlen und deren mögliche Färbung. Ich habe ihnen nur gesagt, daß sie die Zahlen falsch interpretieren. Das haben sie dann schon verstanden. Rex: Der Regierungswechsel von der SPD zur Union brachte keine Wende auf dem Arbeitsmarkt. Es waren damals 1,8 Millionen Menschen ohne Beschäftigung. Wenn Sie die Zahlen von heute anschauen: knapp drei Millionen im Westen, 1,4 Millionen im Osten. Das macht betroffen. Macht Sie das heute hilflos? Hätten Sie das überhaupt so erwartet? Stingl: Nein, ich habe das nicht so erwartet. Aber ich habe es dann selbst gesehen: Meine jetzige Frau war Arbeitsamtsdirektorin in , und dadurch war sie Helfer beim Arbeitsamt in Chemnitz. Ich bin da dann mitgefahren und habe Betriebe besucht. Als ich die gesehen habe, war mir klar, daß das eine Katastrophe gibt, weil mir diese Leute berichtet haben, daß sie sich nie um Aufträge haben kümmern müssen: Sie haben einen Auftrag zugeschrieben bekommen, und das wurde irgendwohin in den Osten geliefert, sie wußten gar nicht, wer ihnen das bezahlen soll usw. Das konnte nicht gutgehen, da waren einfach die Felder weggebrochen. Und deshalb mußte man schon damit rechnen, daß da mehr Arbeitslose auf uns zukommen. Im übrigen bekomme ich – Herr Jagoda ist so großzügig – auch immer noch alle Zahlen zugesandt. Ich hätte gern, daß Ihre Journalistenkollegen die Zahlen etwas näher durchschauen. Sie würden dann nämlich z. B. sehen, daß auch in den neuen Ländern der Zugang an offenen Stellen gestiegen ist – immerhin um 30 Prozent. Das ist doch eigentlich ein gutes Zeichen, denn dann kann man damit rechnen, daß es da nicht weiter bergab geht. Rex: Versuchen Sie jetzt auch noch als Pensionär, im Hintergrund zu helfen, zu beraten? Ist Ihr Wissen nach wie vor gefragt? Stingl: Wenn mich einer fragt, sage ich meine Meinung. Ich sagte ja schon, daß ich auch immer beratendes Mitglied im Bundesvorstand der Partei bin. Wenn da Unsinn geredet wird, dann sage ich schon: "Na, so ist es nicht, die Zahlen sind so und so, ich kann sie euch auf den Tisch legen". Herr Jagoda legt sie ihnen ja auch auf den Tisch: Nur, es liest ja keiner richtig. Jeder liest nur die Endzahl und schaut nicht dahinter, was an Bewegung vorhanden ist. Ich habe mich immer bemüht, aber Ihre Kollegen sind nie darauf eingegangen, die Zahlen etwas näher darzustellen: daß die Arbeitslosen nicht fix vier Millionen sind - und dann kommen 200 000 rauf oder runter. Statt dessen steht da immer ein Vorgang dahinter, ein immerwährender Wechsel. Wenn ich dann sehe, daß von Januar bis einschließlich April im Vergleich zum Vorjahr 18 000 weniger neue Arbeitslosenmeldungen vorhanden waren, dann ist das ein wichtiger Gesichtspunkt der Beurteilung. Rex: Was haben Sie heute für Vorschläge, für Ideen, um die Arbeitslosigkeit zu mindern? Stingl: Zunächst einmal muß man sehen, daß in der Wirtschaft die Investitionsfreude wächst – und da hilft es natürlich nicht, wenn man ständig sagt, der deutsche Standort ist ein mieser Standort. Man muß da schon auch einmal eher die Vorteile aufzeigen. Das ist das Wichtigste. Man muß vor allem auch die Mittelschicht ermuntern, Leute einzustellen. Dazu gibt es jetzt so viele Instrumente, die leider, wie Herr Jagoda auch sagt, zu wenig in Anspruch genommen werden. Und dann sollten die Gewerkschaften weiterhin auf eine sehr maßvolle Lohnpolitik bedacht sein, aber auch mitwirken bei der probeweisen Einstellung und bei der Arbeitszeitverteilung: daß nicht alles verteuert, sondern auf mehr Schultern verteilt wird. Rex: Wie kann man den Mittelstand denn motivieren? Stingl: Ich weiß nicht, wie man ihn noch motivieren kann, außer den möglichen Leistungen, die man ihm gewährt. Aber die zumindest muß man mehr bekannt machen. Es müßte der "Zentralverband des Deutschen Handwerks" oder auch z. B. der "Bund Katholischer Unternehmer" usw. mehr in die eigenen Kreise hineinwirken, damit die Instrumente mehr in Anspruch genommen werden, dazu sind sie nämlich da. Es ist ja keine Schande, wenn man sagt: "Ja, ich möchte natürlich einen einstellen, aber ich habe Angst davor, daß ich ihn dann nicht wieder loswerde, wenn er nicht die erwartete Leistung bringt". Dieser Unternehmer bekommt ja eine ganze Weile so viel Geld zugezahlt, daß er das Risiko schon auf sich nehmen kann. Das muß mehr bekannt gemacht werden. Rex: Sie haben ein Sabbatjahr vorgeschlagen vor vielen Jahren. Was ist das denn? Stingl: Das Sabbatjahr war damals in der Hochkonjunktur ein bißchen "en vogue". Es bedeutet, daß jemand sagen kann: "Ich gehe für ein Jahr ins Ausland, ich sehe mich einmal woanders um, mein Arbeitsplatz bleibt mir aber erhalten. Ich komme nach einem Jahr wieder zurück". Das war übrigens eine merkwürdige Erfahrung: Diese Passage aus einer Rede vor Arbeitgebern wurde im Fernsehen übertragen. Sie war nicht in meinem Konzept gestanden, das habe ich spontan gesagt, und sie wurde als einziger Teil der Rede immer wieder gesendet. Der Erfolg war folgender: Etwa hundert Zuschriften kamen mit dem Inhalt: "Ja, wie soll man denn das machen, wo steht das im Gesetz". Man hat also darauf gewartet, daß etwas vorgeschrieben wird. Und die anderen haben gesagt: "Du bist ein Trottel, so etwas geht gar nicht". Die Äußerungen waren nicht etwa: "Ach, wie macht man das? Darüber müssen wir einmal nachdenken". Statt dessen gab es entweder Verteufelung oder Bejahung. Es ist leider in Deutschland so. Rex: Ja, das ist ein deutsches Problem. Warum kommt denn bei dieser drückend hohen Arbeitslosigkeit aus Bonn nicht mehr? Es wird viel darüber geredet, und Sie haben ja selbst gesagt, es gibt diese Instrumente. Trotzdem gibt es da scheinbar ein Informationsproblem. Stingl: Ich glaube, das hängt auch ein bißchen damit zusammen, was ich vorhin bei der Meldepflicht gesagt habe: daß die Gesetze – übrigens nicht nur in der Sozialpolitik, sondern insgesamt – alle ziemlich schnell entstehen und dann entweder wegen der Diskrepanz zwischen Bundestag und Bundesrat ganz hängenbleiben oder so schnell gemacht sind, daß keiner darüber nachdenkt, wie die Menschen damit umgehen werden. Ich war ja seit dem zweiten deutschen Bundestag 1953 und dann bis 1968 Abgeordneter: Wir haben uns auch immer überlegt, meine ich jedenfalls, wie sich denn die Menschen verhalten. Denn darüber, daß die Menschen immer den bequemsten Weg suchen, muß man sich im klaren sein. Deshalb haben wir, wie ich meine, bei den Gesetzen immer etwas sorgfältiger abgewogen, was daraus entstehen kann, was daraus entstehen wird und was man daher nicht machen sollte. Rex: Das heißt, es gibt eine Schere zwischen den Leuten, die die Gesetze machen, und uns Bürgern? Stingl: Ich glaube, daß man zu wenig überlegt, wie sich die Menschen verhalten. In der Politik spielt eben nicht nur das Gesetz, wie es im Gesetzbuch steht, eine Rolle, sondern auch, wie die Leute damit umgehen. Rex: Man muß sich das einmal vor Augen halten: An jedem Werktag zahlt die "Bundesanstalt" zur Zeit 560 Millionen Mark aus. Da hängen vier Millionen Schicksale dran, das betrifft auch die Familienangehörigen und Kinder. Auf der anderen Seite gibt es in anderen Ländern Jobwunder: in den USA, in England usw. Warum geht denn das bei uns nicht? Stingl: Es wird ja in der Richtung schon auch bei uns einiges getan. Schon zu meiner Zeit haben wir die Jobvermittlung eingeführt. In Berlin war sie sehr erfolgreich. Sie war aus dem Arbeitsamt herausgelöst und befand sich in dem damaligen Westberliner Zentralviertel um den Tauentzienplatz herum. Dort konnten kurzfristige Beschäftigungen vermittelt werden. Auch hatten wir in einigen Arbeitsämtern so eine Art Hintertür, an die morgens auch die, sagen wir einmal, Brüder, die nicht so gern arbeiten, kamen, um wenigstens einmal Kohlen schaufeln oder so etwas Ähnliches machen zu können. Wir waren also schon selbst auch beweglich. Nur fällt das eben bei der großen Zahl nicht mehr auf, da sind das nur mehr so kleine Kleckereien, die man gar nicht merkt – aber sie sind eben auch bei uns vorhanden. Rex: Das ist also eher ein Strukturproblem, als daß es mit sehr kurzfristigen Maßnahmen zu lösen wäre? Stingl: Ja. Das ist eine Maßnahme, die das Problem als Ganzes nicht beseitigt, aber einige Dinge würden dadurch wahrscheinlich besser laufen. Mir fällt gerade ein Beispiel dafür ein, wie man es nicht machen sollte. Das war damals der Stop für die Ausländeranwerbung. Ich habe dem damaligen Arbeitsminister, mit dem ich sehr gut ausgekommen bin, gesagt: "Du darfst keinen Stop machen. Denn wenn du sagst, es wird keiner mehr angeworben, dann geht kein Türke zurück. Denn der sagt sich, wenn ich in der Türkei bin, kann ich nie wiederkommen. Wenn ich hierbleibe, hole ich meine Frau und meine Kinder nach". Aber er war damals mehr auf den politischen Erfolg aus, und er hatte eben eine andere Auffassung. In der Frage konnte er mir laut Gesetz Weisungen erteilen, und so wurde also der Anwerbestop verhängt. Es ist dann genau das eingetreten, was ich gesagt habe: Die Portugiesen, die Spanier, die Italiener und die Griechen sind zurückgegangen. Die Zahlen sanken, weil sie im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft wiederkommen konnten – den Türken war das verwehrt. Die Türken sind hiergeblieben und haben dann ihre Familien nachgeholt. So hat die Zahl eben zugenommen. Rex: Bei 560 Millionen Mark am Tag, ich muß das noch einmal sagen - ist da unser Sozialstaat überhaupt noch bezahlbar? Stingl: Ja, das ist ein ganz großes und ein sehr schwieriges Problem, denn es muß ja alles erst erarbeitet werden, wenn man dieses Geld ausgeben will bzw. muß. Es müßte auch etwas mehr bewußt gemacht werden, daß diese Beiträge ja erst durch schwere Arbeit entstehen. Zum Beispiel mußte auch in den neuen Ländern anerkannt werden, daß nur etwa zehn Prozent des Geldes, das die "Bundesanstalt für Arbeit" in die Länder bringt, durch Beiträge aus den neuen Ländern kommt. 90 Prozent des Geldes kommt von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Westen dazu. Ich will nicht, daß das eingestellt wird. Ich will nur, daß den Menschen bewußt gemacht wird, daß man dafür auch etwas leisten muß und der Westen sich nicht etwa sonnt und kein Verständnis hat, sondern daß aufgrund der Beitragszahlungen aus dieser Arbeit die Finanzierung in den neuen Bundesländern geleistet wird. Rex: Nun blicken viele nach Europa: Wird Europa auch den Arbeitsmarkt in Deutschland entscheidend verändern? Stingl: Davon bin ich ganz fest überzeugt. Das wird aber nicht kurzfristig der Fall sein. Das wird eher mittelfristig so sein, vielleicht sogar nur langfristig, denn wenn Waren und Dienstleistungen ohne Grenzen gewährt werden können und überall mit der selben Münze bezahlt wird, wenn man also überall den Euro hat, dann geht es gar nicht mehr, daß man dieses Gefälle weiterhin hat. Und genau das wird Auftrieb geben, davon bin ich fest überzeugt. Wie gesagt, es wird aber eine Weile dauern, bis das wirksam wird. Rex: Vom Euro als Währung versprechen Sie sich also auch einiges? Stingl: Ja. Rex: Ist denn die Arbeitslosigkeit überhaupt noch von der Politik abhängig, oder bestimmen nicht vielmehr große international tätige Unternehmen die Arbeitslosigkeit, die Nachfrage nach Arbeit? Stingl: Da haben Sie natürlich recht. Ich sehe manchmal mit großer Sorge, daß die Denkweise in den Großunternehmen viel zu sehr auf den Aktiengewinn gerichtet ist – von dem ich natürlich auch profitiere, wenn ich Aktien besitze – und daß man dabei zu wenig an die Menschen denkt. Ich glaube, das ist ein Problem, dessen wir noch nicht Herr geworden sind: daß man also sehr stolz darauf ist, wenn man den Umsatz und den Gewinn wer weiß wie stark erhöht und im gleichen Atemzug sagt: "Und dafür haben wir 25 000 Leute in die Arbeitslosigkeit geschickt". Da ist im Denken etwas noch nicht in Ordnung. Nun sind ja die großen Zusammenschlüsse offenbar etwas mehr unter diesen Gesichtspunkt gestellt worden – jedenfalls entnehme ich den letzten Pressemeldungen, daß man auch darüber nachdenkt, was mit den Leuten passiert, die beschäftigt werden. Rex: Reden wir doch einmal von den Leuten: Die Arbeitslosen empfinden die Arbeitslosigkeit sehr oft als Versagen und als persönlichen Fehler. Auf der anderen Seite ist die Massenarbeitslosigkeit bei uns ein ganz großes gesellschaftliches Problem, an dem der einzelne oft überhaupt nicht schuld ist. Was können Sie diesen Menschen raten, was können Sie ihnen sagen? Stingl: Ich habe in meiner Zeit als Präsident immer wieder darauf hingewiesen, daß Arbeitslosigkeit nicht primär ein Geldproblem ist – natürlich ist es das auch, das will ich gar nicht bestreiten. Statt dessen ist es ein Problem, das den Wert des Menschen angreift: Wert nun in einem doppelten Sinn gemeint. Wenn einer eben weiß, daß er nicht mehr genommen wird, dann sagt er sich, daß er zu nichts mehr taugt. Er hat kein Selbstwertgefühl mehr, denn wenn man jemanden fragt, "was bist du?", dann nennt er seinen Beruf. Wenn man aber sagen muß, man ist arbeitslos, dann sagt man gleichzeitig, daß man nicht mehr sehr viel wert ist. Ich meine, daß man das auch in der Politik mehr berücksichtigen müßte und sich nicht einfach nur über hohe Zahlen unterhalten sollte. So gesehen ist nämlich jeder Arbeitslose schon einer zuviel, weil es eben auch um das Schicksal der Familie geht, um das Können und um den Beweis dafür, daß man etwas geschaffen hat. Das ist auch ein Wert, der nicht vergessen werden sollte. Rex: Und es geht auch um die Chancen und die Zukunft bei den Kindern der Arbeitslosen. Stingl: Eben. Das muß man sich schon auch einmal vor Augen führen, wenn der Vater morgens zu Hause bleibt, statt wie der Nachbarvater in die Arbeit zu gehen. Wir dürfen nicht verkennen, daß eine längere Dauer eines solchen Schicksals auch Veränderungen im Wesen des Menschen zur Folge hat. Ganz schlimm ist es natürlich, wenn Jugendliche nach der Schule als erstes Arbeitslosigkeit kennenlernen oder, sagen wir es so, sich mit anderen Jugendlichen an der Theke – am Sportplatz würde ja noch gehen – oder gar bei Drogen treffen. Man muß also hier schon das Menschliche dabei etwas mehr erkennen und berücksichtigen und darf nicht nur mit Zahlen jonglieren. Rex: Die Franzosen haben es vorgemacht, die deutschen Arbeitslosen machen es nach: sie demonstrieren. Kann da ein Konfliktpotential auf der Straße auftauchen, das das gesellschaftliche Leben in Deutschland verändert und die Leute zu den extremen linken oder rechten Richtungen treibt? Stingl: Ich glaube nicht, dazu ist die Absicherung doch zu gut, wenn auch nicht überall so, wie man sich das wünschen würde. Aber sie ist zu gut, als daß Verhältnisse wie 1932 entstehen könnten. Ich habe ja schon vorhin gesagt, daß ein Teil des Erfolgs der Nazis und der Kommunisten, die ja damals auch sehr stark waren, darauf beruhte, daß in die Schlangen vor den Arbeitsämtern hinein gewirkt wurde. Die Schlangen fehlen natürlich heute, weil man das anders organisiert hat. Aber daß diese Gefahr heute nicht so groß ist, hängt auch damit zusammen, daß die Absicherung natürlich sehr viel besser ist. Denn damals waren oft nur 50 Pfennig die Stütze, wie man das damals nannte, für eine ganze Woche. Das ist heute anders. Aber dennoch muß man sehen, daß die Sorge berechtigt ist. Wenn man sich die DVU in Sachsen-Anhalt ansieht, merkt man, daß da doch auch Rattenfänger Chancen haben – wenn sie auch meiner Meinung nach doch nicht so mächtig werden können wie 1932. Aber immerhin gibt es eine Chance für solche Rattenfänger. Man darf – und da komme ich auf eine andere Sache noch einmal zurück – nicht vernachlässigen und muß berücksichtigen, daß am Arbeitsmarkt auch immer Bewegung stattfindet, daß es also nicht immer dieselben vier Millionen sind, die arbeitslos sind. Gott sei Dank ist das nicht so. Rex: Aber es gibt diesen Anteil an Langzeitarbeitslosen. Stingl: Es gibt die Arbeitslosigkeit, die länger dauert, und da ist das Konfliktpotential vorhanden. Hier muß man darauf achten, daß man diesen Menschen erstens die berufliche Weiterbildung sichert, denn in der Zeit, in der der einzelne arbeitslos ist, bewegt sich ja etwas in der Wirtschaft. Man muß ihn dafür gewinnen, daß er aufgeschlossen ist für ganz neue Berufe, und man muß dafür sorgen, daß die Leistungen, die man gewährt, auch einmal wieder in eine Beschäftigung einmünden – selbst wenn das nur eine vorübergehende oder eine Teilzeitbeschäftigung ist. Der Langzeitarbeitslose muß wieder einmal spüren, daß er mit seinen Händen und seinem Geist etwas schaffen kann. Rex: Am Ende dieses Alpha-Forums noch ein ganz anderes Thema, das Sie über viele Jahrzehnte bewegt hat: Ihr Engagement für die Vertriebenen aus dem Sudetenland. Von 1970 bis 1991 waren Sie der Vorsitzende der "Ackermann-Gemeinde": Das ist ein Zusammenschluß von Sudetendeutschen Katholiken. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks kam Bewegung in das Verhältnis zu den tschechischen Nachbarn. Da können Sie heute doch ganz zufrieden sein mit dem, was passiert ist? Stingl: Ich kann sehr zufrieden sein, insofern unsere Ansprechpartner in der ehemaligen Tschechoslowakei nun natürlich nicht mehr im Untergrund sind. Ich hatte eine Außenstelle in Rom, in der ich z. B. den Kardinal Tomaszek immer wieder einmal getroffen habe. Diese Außenstelle haben wir mittlerweile von Rom nach Prag verlegt, um den tschechischen Katholiken zu helfen, die Laienorganisation aufzubauen. Ich sehe auch eine Chance in der deutsch-tschechischen Erklärung - entgegen manchem Sudetendeutschen, der sie strikt ablehnt -, weil ich jetzt erkenne, daß die Tschechen ja auch ihre Geschichte aufarbeiten. Ich kann von den Tschechen nicht verlangen, daß sie in neun Jahren das aufgearbeitet haben, was z. B. die Franzosen jetzt erst nach 50 Jahren mit den Prozessen machen oder die Schweiz oder England mit dem Nazi-Gold: Sie befassen sich erst nach 50 Jahren damit. Ich muß den Tschechen schon auch ein bißchen Zeit geben, zumal sie, was ja bestritten wird, sagen, daß sie gegen die Verbrechen an den Deutschen, insbesondere gegen die Exzesse sind. Das heißt doch: Wenn man gegen die Exzesse bei der Vertreibung insbesondere ist, dann ist man auch gegen die Vertreibung – so interpretiere ich das. Ich habe auch immer wieder gute Ansprechpartner und habe mich jetzt vor ein paar Wochen mit dem Präsidenten des Prager Senats getroffen. Rex: Herr Stingl, Sie sind so vieles gewesen in Ihrem Leben: Politiker, Präsident, viele Jahre lang Professor in Bamberg. Sie können das sicher beurteilen: Wie hat sich die politische Kultur in Deutschland in diesen vielen Jahrzehnten verändert? Stingl: Sie ist leichtfertiger geworden. Die politische Kultur nimmt nicht mehr ernst, was hinter den Entscheidungen steht. Man macht Tagesentscheidungen. Das ist das – ich sage es ganz offen –, was mich manchmal quält. Mich quält, daß man so kurzfristig eine Entscheidung trifft und nicht bereit ist, darüber zu reden, wie es auf lange Sicht sein wird. Deswegen müssen nun nicht alle, was diese langfristige Sicht betrifft, einer Meinung sein, aber man muß einmal zeigen, wohin man will und wo der Mensch in Freiheit leben kann. Rex: Sie gehen auf die 80 zu. Was machen Sie jetzt? Stingl: Beim letzten Mal mit 70 Jahren habe ich schon gefeiert, und nun kommt der 80. Geburtstag. Nun ja, ich werde es sehen. Solange mich der liebe Gott das tun läßt, werde ich versuchen gut zu leben, das will ich gar nicht leugnen, das tue ich nämlich auch sehr gerne. Aber ich werde auch sagen, was ich von der Politik halte, wenn mich jemand danach fragt. Rex: Haben Sie noch viele Stunden Arbeit pro Woche? Stingl: Ja, ich habe noch manche Stunde Arbeit pro Woche. Es kommen dann ja auch Leute wie Sie und bitten mich um Interviews. Das mache ich immer ganz gerne. Ich sorge auch noch in ein paar Aufsichtsräten dafür, daß eine gute berufliche Bildung in diesen Unternehmen vorhanden ist. Solche Dinge habe ich noch beibehalten. Ansonsten habe ich viele Ämter längst abgegeben, weil ich, wie gesagt, das Leben auch durch viele Reisen ein bißchen genießen will. Ich komme gerade von einer kulinarischen Reise aus Italien zurück. Rex: Gehen Sie noch Pilze suchen? Stingl: Ja, das ist etwas, das meine Frau und ich jedesmal machen. Es gibt mindestens fünf-, sechsmal zum Ende des Sommers bzw. im beginnenden Herbst Pilze bei uns zu Hause zu essen. Rex: Trotz Tschernobyl? Stingl: Ja, wir leben noch. Rex: Vielen herzlichen Dank. Zu Gast bei Alpha-Forum war heute Josef Stingl, er war von 1968 bis 1984 Präsident der "Bundesanstalt für Arbeit" hier in Nürnberg. Herzlichen Dank für Ihr Interesse, auf Wiedersehen.

© Bayerischer Rundfunk