Prof. Dr. Josef Stingl Ehemaliger Präsident Der Bundesanstalt Für Arbeit Im Gespräch Mit Dr

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Prof. Dr. Josef Stingl Ehemaliger Präsident Der Bundesanstalt Für Arbeit Im Gespräch Mit Dr BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks Sendung vom 21.07.1998 Prof. Dr. Josef Stingl Ehemaliger Präsident der Bundesanstalt für Arbeit im Gespräch mit Dr. Thomas Rex Rex: Verehrte Zuschauer, ich begrüße Sie recht herzlich bei Alpha-Forum. Heute bei uns zu Gast im Bildungskanal des Bayerischen Rundfunks ist die "Bundesunke", die "Kassandra von Nürnberg", der "Schwarzmaler" Josef Stingl. Diese Spitznamen fallen 14 Jahre nach Ihrer Pensionierung den Bürgern immer noch ein, wenn sie den Namen Stingl hören. Stingl: Es ist mir zwar nicht passiert, daß Leute mir gegenüber diese Namen genannt haben, aber ich habe gegen diese Namen gar nichts, denn "Kassandra" ist ja eine Auszeichnung: Das, was ich vorausgesagt oder angedeutet habe, ist eingetreten. Kassandra hat eben immer das Richtige vorausgesagt. "Unke"? Na, gut. Wenn einer der Meinung ist, daß die Zahlen schlecht sind, dann schiebt er es eben gerne auf den, der die Botschaft bringt. Das hat mich also nicht weiter gestört. Rex: Woran liegt es denn, daß Ihre Nachfolger, Heinrich Franke und nun Bernhard Jagoda, solche Beinamen nicht bekommen haben? Stingl: Das kann ich mir überhaupt nicht erklären, das weiß ich nicht. Vielleicht haben damals die Leute noch mit mehr Aufmerksamkeit auf die Zahlen aus Nürnberg gesehen und dadurch auch öfter darüber nachgedacht, was dahinter steckt. Ich habe mich ja auch immer bemüht, ein bißchen aufzuhellen, welche Hintergründe hinter den Zahlen stecken. Rex: Sie sind 1919 geboren, und solch eine große politische Karriere war Ihnen keineswegs in die Wiege gelegt. Stingl: Das war mir schon deshalb nicht in die Wiege gelegt oder an der Wiege gesungen worden, weil ich in der Tschechoslowakei geboren wurde, und als Deutscher hätte ich dort niemals eine Position dieser Art erreichen können: Deutsche kamen nicht so weit. Rex: Sie sind der Sohn eines Bäckers. Im Krieg waren Sie Pilot und nach dem Krieg kam zunächst die Gefangenschaft. Stingl: In Schleswig-Holstein, ja. Rex: Wie ging es dann weiter? So einfach war das ja wohl nicht nach dem Krieg? Stingl: Nein, es war nicht einfach. Ich hatte 1943 in Berlin geheiratet und dann meine Familie, zu der mittlerweile auch zwei Kindern gehörten, meine Tochter kam im Oktober 1945 zur Welt, in meine Heimat im Sudetenland gebracht, ins Egerland, nach Maria Kulm, weil es dort keine Bombenangriffe gegeben hat. In Berlin hatte meine Frau dagegen schon Bombenangriffe erlebt. Später erfuhr ich dann, daß meine Schwiegereltern in Berlin nicht ausgebombt waren. Ich kam nach Hause – so ein bißchen mit Grenzschmuggel bei den Amerikanern – und wollte eigentlich bei meiner Familie bleiben, aber die Tschechen haben schon nach mir gefragt. Meine Frau hat gesagt, sie weiß nicht, wo ich bin – ich war im Nebenzimmer. Aber in der Nacht haben wir dann meinen Sohn auf den Schlitten gepackt – das war im Winter, und es hatte Schnee – und sind an die Grenze gefahren. Dort bin ich mit Frau und Kind schwarz über die Grenze und nach Berlin gegangen. Meine Frau ist noch einmal zurückgekehrt und hat unsere Tochter geholt, die bei meiner Mutter geblieben war. Sie hat dabei übrigens sehr gute Erfahrungen mit tschechischen Grenzern gemacht. Rex: Mit der Arbeit nach dem Krieg ist es Ihnen wohl nicht anders ergangen als den vielen Millionen anderen Menschen? Stingl: Ja, ich habe nach dem Krieg in Berlin im britischen Sektor wohnen müssen. Meine Familie lebte aber im amerikanischen Sektor. Das war verwirrend, aber ich durfte als aktiver Offizier nicht in den amerikanischen Sektor ziehen. Ich durfte im britischen wohnen, aber dafür mußte ich samstags und sonntags eine Art Strafarbeit ableisten. Aber das habe ich auch überstanden. Ich durfte nur eine untergeordnete Stelle einnehmen, und so bin ich Bauarbeiter geworden. Ich habe dort nach ein paar Wochen den Gesellenlohn bekommen, und nicht bloß so eine niedrige Abfindung. Ich bin dann allmählich von der Baustelle ins Baubüro gewandert. So habe ich in einer Wohnstättengesellschaft Häuser und Wohnungen verwaltet. Rex: Man liest immer wieder – und ich frage da jetzt einfach einmal nach –, daß der spätere Präsident der "Bundesanstalt für Arbeit" damals selbst arbeitslos war. Stimmt das? Stingl: Nein, arbeitslos war ich nach dem Krieg in Berlin nicht, ich war arbeitslos unmittelbar nach der Besetzung des Egerlandes. Da war ich dann im Arbeitsamt in Falkenau eingeschrieben. Ich mußte dort auch ein paar Tage lang Listen schreiben, um etwas zu verdienen. Ansonsten habe ich in dieser Zeit aber auch im Pfarramt geholfen, denn plötzlich wollten alle ihren Ariernachweis haben. Und bei uns standen ja die Geburtsdaten in den Matrikelbüchern der Pfarrgemeinden. Rex: Sie konnten dann in Berlin das Studium der politischen Wissenschaften beginnen und machten eine ganz schnelle Karriere: Schon 1953 zogen Sie für die CDU in den Deutschen Bundestag ein. Stingl: Naja, das war natürlich auch so ein bißchen merkwürdig. Ich durfte an der "Humboldt-Universität" nicht studieren, weil ich aktiver Offizier gewesen war. Aber ich durfte an der Abendschule politische Wissenschaften studieren, nämlich an der "Deutschen Hochschule für Politik". Otto Suhr hatte diese Hochschule wieder gegründet - der spätere Bundespräsident Heuss hatte sie vor 1933 einmal geleitet. Wir haben damals als Studenten erzwungen, daß wir Examina machen durften. An sich sollte das nämlich nur ein Ergänzungsstudium am Abend sein. Aber ich habe dann bei voller Berufstätigkeit am Abend richtig studiert. Ich habe dort auch mein Examen abgelegt. Rex: Sie haben dort an der Universität später auch gelehrt. Stingl: Ich habe schon 1955 einen Lehrauftrag speziell für Sozialpolitik an der "Hochschule für Politik" bekommen, weil ich mir inzwischen im Bundestag ein wenig einen Namen gemacht hatte. Ich hatte zwar kein Stimmrecht im Bundestag, aber "viel Stimme". Rex: Zu dieser Zeit im Bundestag gibt es zwei wichtige Stichworte. Zum einen ist dies die Rentenreform. Was gibt es da aus heutiger Sicht zu sagen? Stingl: Ich halte sie immer noch für die Regelung der Altersversorgung der Menschen. Es ist nur so, daß wir damals zwei Faktoren nicht berücksichtigen konnten: Das war zum einen der Geburtenrückgang, und zum anderen die hohe Lebenserwartung. Wenn man das heute auf dieser Basis des Umlageverfahrens – ich glaube nicht, daß man hier irgend etwas anderes machen kann – weiterführen will, dann muß man diese beiden Faktoren mit einbauen: höhere Lebenserwartung und weniger Nachwuchs. Rex: Geben Sie der Rente in der Form eine Zukunft? Stingl: Ja, weil sie nur so bestehen kann. Denn wer auf Kapitaldeckungsverfahren umschalten will, der muß ja zugleich in Kauf nehmen, daß dann praktisch das gesamte Grundvermögen und mehr oder weniger alles andere in Deutschland den Rentenversicherern gehört. Denn wenn man eine solche Kapitalrücklage schaffen will, dann müßte sie wirklich ungeheuer groß sein, denn sie müßte ja auch den Fall mit berücksichtigen, bei dem kein Einzahler mehr da ist. Rex: Das andere wichtige Stichwort aus dieser Zeit ist das Arbeitsförderungsgesetz. Das hat Sie später ja groß beeinflußt, aber schon als Abgeordneter haben Sie daran mitgearbeitet. Stingl: Ja, das war 1965 nach der Wahl. Ich war ja schon seit 1963 Sprecher der CDU für Sozialpolitik, und ich habe vorher schon häufiger die CDU auf Gewerkschaftstagen u. ä. vertreten müssen. Unter anderem war ich damals auf einem Gewerkschaftstag der IG-Metall gewesen, und dort wurde in einer Ausstellung sehr drastisch dargestellt, was der technische Fortschritt auch für das Arbeitsleben bedeutet. Ich meine, man hat das alles schon gewußt, aber dort wurde es mir erst so richtig klar. So haben wir nach der Wahl im Jahr 1965 als erstes in der CDU einen Antrag formuliert: Das damals noch gültige AVAVG, das "Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung", müsse modernisiert werden und es müsse auch dafür Sorge getragen werden, daß sich nicht der einzelne einen Computer kaufen muß, wenn er zurechtkommen will, sondern daß er die Mittel zur weiteren Ausbildung und zur Beherrschung der Mittel – und nicht zum Beherrschtwerden durch die Mittel – auch im Gesetz festgelegt bekommen müßte. Damals hat der Arbeitsminister Katzer zu recht gesagt, das bedeutet, daß wir eine ganz neue Konzeption brauchen und nicht nur ein bißchen Reform am AVAVG. Rex: Ihnen ging es damals auch darum, die Arbeitslosen nicht nur zu verwalten, sondern die Leute schon vorher in eine Situation zu bringen, in der sie erst gar nicht arbeitslos werden. Stingl: Genau darum ging es. Deshalb stand im Paragraphen 1 übrigens auch nicht, daß die "Bundesanstalt" oder die Arbeitsämter die letzte Station sind, wenn sonst keiner mehr weiter weiß, sondern es stand darin, daß die "Bundesanstalt" die Aufgabe hat, durch ihr Wirken das Wirtschaftswachstum zu fördern. Sie war also eine Einrichtung - übrigens im Rahmen des Stabilitätsgesetzes -, die das Wirtschaftswachstum zu fördern hatte: Sie hatte daher eine starke Verbindung zur Wirtschaftspolitik und nicht nur zur Sozialpolitik. Rex: Warum ist denn damals der Sozial- und Arbeitspolitiker Stingl nicht Arbeitsminister geworden? Stingl: Ach Gott, das ist in der Politik so. Da wurde es eben Katzer und fertig. Katzer wurde es ja schon unter Erhard. Ich habe zwar damals für Erhard auch Passagen in der Regierungserklärung geschrieben - aber sagen wir es einfach einmal so, Katzer hatte mehr Truppen hinter sich. Rex: 1968 begannen Sie, in Nürnberg diese große Behörde zu leiten. Sie haben dort sehr viele Sachen verändert: Sie haben aus diesem großen Betrieb ein modernes Dienstleistungsunternehmen machen können. Sie haben aber auch gleichzeitig die Partei gewechselt, von der CDU weg und zur CSU hin. Hatte das nur räumliche Gründe? Stingl: Das letztere hatte nur räumliche Gründe. Ich bin sogar noch ein paar Jahre in der CDU geblieben, nachdem ich Franz Josef Strauß gesagt hatte: "Du, ich bleibe in der CDU". Dort war ich nämlich Vorsitzender des sozialpolitischen Ausschusses der Bundespartei und im Bundesvorstand der Partei. Dazu hat er sein Einverständnis erklärt. Als ich dann nicht mehr in den Vorstand gewählt wurde, habe ich gesagt: "Na, jetzt brauche ich auch nicht mehr in der CDU zu sein". Und ich bin dann den örtlichen Gegebenheiten gemäß in die CSU eingetreten.
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    173 Begriffe wie „Verjährungsdebatte“ oder „Zentralstelle der Landesjustizverwaltun- gen“ werden gewöhnlich nur mit NS-Verbrechen in Verbindung gebracht. Daß diese Begriffe auch einmal eine ganz andere Bedeutung hatten, ist weitgehend in Vergessen- heit geraten. Hier handelt es sich aber um mehr als nur eine Fußnote in der Geschichte der Bundesrepublik: Aus welchen Gründen ist eine Ahndung der Vertreibungsverbrechen an den Deutschen noch nicht einmal juristisch vorbereitet worden? Manfred Kittel Eine Zentralstelle zur Verfolgung von Vertreibungsverbrechen? Rückseiten der Verjährungsdebatte in den Jahren 1964 bis 1966 „Unerwünschte Opfer“? Verbrechen, wie sie im Rahmen ethnischer Säuberungen während des 20. Jahr- hunderts millionenfach zu beklagen waren, sind in der Geschichte nur selten geahndet worden. Was für die Opfer des türkischen Armenier-Genozids, des soge- nannten griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches oder der acht von Stalin aus der Familie der Sowjetvölker ausgestoßenen Ethnien1 gilt, gilt auch für das „größte Vertreibungsgeschehen der Weltgeschichte“2, die Vertreibung von an die 14 Millionen Deutschen aus ihrer Heimat in Ostmittel- und Osteuropa. Zwar zählten die brutalen nationalsozialistischen Zwangsumsiedlungen im deutsch besetzten Europa „als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit“ zu den Anklagepunkten im Nürnberger Prozeß 1945/463, doch im Verständnis der Alliierten war die quasi parallel dazu stattfindende Vertreibung der Deut- schen nach dem Zweiten Weltkrieg als Reaktion auf die rassenideologische Ver- nichtungspolitik des Dritten Reiches prinzipiell legitimiert. Von der sowjetischen Siegermacht und ihren ostmitteleuropäischen (Zwangs-)Komplizen, die in ihrem Machtbereich ethnische Säuberungen durchführten, konnte kaum erwartet wer- den, daß sie einzelne Delikte wie Mord, Totschlag oder Vergewaltigung im Rah- men eines von ihnen staatlich betriebenen Großverbrechens justitiell ahndeten. Eine gewisse Ausnahme bildete später der im Tauwetter nach dem XX.
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