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Werbeseite MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Wahlen, Crime

a Das Super-Wahljahr ’94 fordert seine Rechte – vom Bürger, der sich durch 19 Wahlen möglicherweise überfordert sieht, von den Medien, die das Mara- thon zu werten haben. Nie war Demokratie so span- nend. Steht Deutschland erneut vor einer Wende? Wie konkurriert der Frust der Nichtwähler mit ei- ner erstaunlichen Polit-Lust, die sich im Elan neuer Bewegungen zeigt? In einer losen Folge von Artikeln analysieren SPIEGEL-Redakteure das “Feind- bild Politiker“ (Seite 36), die Mechanismen und die Schwächen der Parteiendemokratie sowie den um- worbenen großen Unbekannten des Jahres – den Wäh- ler. a Wer zöge nicht das sonnige Florida dem Niesel-Ne- bel-Nässe-Deutschland vor? Leider werden in dem Sonnenland Touristen neuerdings bevorzugt umge- bracht – so wie es einer der Hel- den des Krimi-Au- tors Carl Hiaasen empfohlen hatte, um Florida touri- stenrein zu ma- chen. Nach einem Besuch bei dem Schriftsteller, der gerade den Internationalen Deutschen Krimi- preis erhalten Polizist, Wellershoff bei Unfall-Aufnahme hat, erlebte SPIEGEL-Redakteu- rin Marianne Wellershoff Hiaasen pur: Auf dem Highway I-95 mitten in Miami rammte nächtens ein schwerer Geländewagen das Mietauto von Wellershoff und Fotografin Cindy Karp, offenkundig, um mittels Unfall einen Stopp zu erzwingen. Als Wellershoff Gas gab, tauchte der Verfolger neben dem Mietwagen auf. Die Insassinnen hörten es knallen, die Tür bekam eine erbsengroße Delle ab. Florida-Mietwagen, früher durch Kennzeichen mit Y oder Z am Anfang ausgewiesen, sind heute angeblich nicht mehr zu identifizieren. Wirklich nicht? Im Hof der Leihwa- genfirma standen nun lauter Autos mit den Buchsta- ben L und P – die Gangster werden es bemerkt ha- ben. Laut Hiaasen ist Florida “ein riesiges, son- nenbeschienenes Klo, in dem Millionen von Touri- sten ihr Geld hinunterspülen“ (Seite 160). Journa- listin Wellershoff, die auch schon als Touristin im Sonnen(klo)land war, will trotzdem wieder hin- fahren.

DER SPIEGEL 5/1994 3 TITEL INHALT Wachsende Angst um den Job ...... 82 Interview mit dem Berliner Berufsforscher Hermann Schmidt ...... 84 Seiten 18, 36 Sabine Kartte über den sozialen Abstieg Wahlkämpfer in Krisenstimmung der Arbeitslosen ...... 88 CDU-Generalsekretär SPIEGEL-ESSAY Hintze bereitet seine Partei auf eine Wahl- Günter Franzen: Bosnien und die Deutschen ... 168 Schlappe vor. Mit Kanz- DEUTSCHLAND ler Kohl liegt die Union bestenfalls bei 37 Pro- Panorama ...... 16 zent. Doch die Krisen- Wahlkampf: Die CDU in Untergangsstimmung ..18 stimmung zu Beginn des Fairneßabkommen sind nutzlos ...... 20 Superwahljahres 1994 Gesundheitsreform: Minimalversorgung beschränkt sich nicht für Kassenpatienten? ...... 21 auf die CDU. Das Anse- Zeitgeschichte: SPIEGEL-Gespräch mit hen der ganzen politi- dem Historiker Arnulf Baring schen Klasse ist auf über Willy Brandts Notizen ...... 24 Hintze, Kohl dem Tiefpunkt. CIA-Aktionen gegen Brandts Ostpolitik ...... 26 Asbest: Darf der Palast der Republik stehenbleiben? ...... 29 CDU: Der Leidensweg der NRW-Union ...... 30 Affären: Lotto-Filz auch in Stuttgart ...... 31 Seite 91 Gangster: Wie Dagobert und seine Verfolger Angst um die Ferienwohnung einander auszutricksen versuchen ...... 33 Auch ohne die erforderliche Genehmigung haben Zehntausende Polizei: Namensschilder für hessische Beamte ....35 Wahlen ’94: Warum die Bürger von Deutschen Immobilien in Österreich erworben. Jetzt müssen ihre Politiker verachten ...... 36 sie um ihren Feriensitz bangen: Österreich geht härter gegen Fäl- Menschenrechte: Strafgefangene le unerlaubten Erwerbs vor. Das kann für viele teuer werden. fühlen sich ausgebeutet ...... 50 Bayern: Landesjustiz im Dienst der CSU ...... 52 Forum ...... 55 Rechtsprechung: Der BGH und die furchtbaren Juristen ...... 57 Fernsehwächter Weizsäcker Seiten 66, 68 Bundeswehr: Ungeordneter Rückzug der Somalia-Truppe ...... 59 Bundespräsident Richard Rechnungshöfe: Wohlfahrtsverbände von Weizsäcker, Streiter für blockieren Kassenprüfung ...... 62 „ethische Minima“, soll Familie: Elternprotest gegen nach dem Willen von Me- Kindschaftsrecht ...... 63 dienmanagern künftig über Medien: Weizsäcker soll TV-Gewalt stoppen .....66 die TV-Moral wachen. Weiz- Die elektronische Kindersicherung kommt ...... 68 säcker erwägt, sich als Professoren: Die zweite Karriere Fernsehwächter zur Verfü- des „IM Heiner“ ...... 71 gung zu stellen. Mit einer Nordsee: War die Beutelpest vermeidbar? ...... 72 elektronischen Kindersiche- rung wollen derweil die Pri- WIRTSCHAFT vatsender die Kids vor TV- Banken: Kunden fürchten Sex und -Gewalt schützen. TV-Konsument Kind um ihre Schwarzgelder ...... 76 Tarifstreit: Warnstreiks in der Metallindustrie ...... 78 Kommentar: Klaus-Peter Kerbusk über Polizei-Tricks gegen Dagobert Seite 33 das zähe Ringen um die Postreform ...... 80 Trends ...... 81 Seit 20 Monaten liefert sich Immobilien: Deutsche müssen Ferienhäuser Deutschlands Polizei ein skurriles in Österreich räumen ...... 91 Duell mit jenem Karstadt-Erpres- Unternehmen: Thüringer Firma erobert ser, der sich nach der Walt-Disney- den Ski-Markt ...... 97 Comicfigur Dagobert nennt. Zuletzt Umwelt: Braunkohle-Revier Lausitz setzte der geniale Kriminelle einen wird rekultiviert ...... 101 selbstgebauten Eisenbahn-Schlit- ten zum Geldtransport ein. Wäh- GESELLSCHAFT rend Dagobert schon zum Filmstar Spectrum ...... 106 und zum Buchhelden avanciert, Sucht: Die erste Klinik für stehen die Fahnder als Deppen der rückfällige Alkoholiker ...... 108 Nation da, zu Unrecht. Sie haben Tourismus: Interview mit den Verbrecher zwar nicht gefaßt, Terre-des-Hommes-Sprecherin aber immer wieder listig ausge- Christa Dammermann über den Kampf trickst – eine riskante Taktik: Wenn gegen Kindersex-Urlauber ...... 113 der Bombenleger die Geduld ver- Meinungsfreiheit: Gewalt gegen liert, kann er „außerordentlich ge- Andersdenkende ...... 114 Erpresser-Namenspatron Dagobert fährlich“ werden.

4 5/1994 AUSLAND Panorama Ausland ...... 116 Algerien: An der Schwelle zum Bürgerkrieg .... 118 Armee oder Islamisten Seiten 118, 120 Interview mit Oppositionsführer Hocine Ait Ahmed über den Machtkampf Die Versöhnungskonferenz zwischen Staat und Islamisten ...... 120 hat den Terror in Algerien Japan: Reformkurs gescheitert ...... 120 nicht beendet. Religiöse Spanien: Machtprobe zwischen Fanatiker drohen mit Angrif- Sozialisten und Gewerkschaften ...... 122 fen auf Botschaften und Bosnien: Hilfe von den Mudschahidin ...... 123 ausländische Firmen. Im Österreich: Staatsoperette in Wien ...... 124 Militär wächst die Nervosi- Nahost: SPIEGEL-Gespräch mit Israels tät. Nordafrikas größter Premierminister Jizchak Rabin über Staat steht vor dem Dilem- die Chancen für den Friedensprozeß ...... 126 ma: Armee oder Islamisten. Drogen: Opiumkrieg in Burma ...... 130 Kommen die Islamisten an Interview mit Rebellenführer Khun Sa ...... 138 die Macht, meint Oppositi- Skandinavien: Öresund-Brücke in Gefahr ...... 142 onsführer Ait Ahmed, „fällt Großbritannien: Shopping-Tourismus Anti-Terror-Demonstration in Algerien der gesamte Maghreb“. über den Ärmelkanal ...... 143 SPORT Boxen: Die Leiden des Ex-Weltmeisters Rabin: Neuer Krieg? Seite 126 Mike Tyson im Gefängnis ...... 146 Interview mit Tyson-Anwalt Alan Dershowitz Der Nahe Osten steht am Schei- über die Chancen eines neuen Verfahrens ...... 152 deweg: Bringt 1994 nicht den KULTUR Durchbruch zu einem umfas- senden Frieden, sondern das Kunst: Das magische Auge der Surrealisten ..... 154 Verharren im Patt, dann droht Film: „Manhattan Murder Mystery“ von nach Ansicht des israelischen Woody Allen ...... 157 Premierministers Jizchak Rabin Autoren: Carl Hiaasen schildert Florida „womöglich in fünf oder sieben als tropische Hölle ...... 160 Jahren“ein neuer Krieg. Gefahr, Szene ...... 167 so Rabin im SPIEGEL-Gespräch, Theater: Das Spiel mit der Demokratie – erwartet Israel von „islamischen Peter Steins Inszenierung der „Orestie“ Extremisten“ und den Regimen in Moskau ...... 172 in Iran und Irak. Die Gründung Kulturpolitik: Kehren die Gothaer Bücher eines unabhängigen Palästi- aus Rußland zurück? ...... 177 nenserstaates lehnt er ab. Rabin Literatur: Der Sturm-und-Drang-Dichter Lenz als Sexualrevolutionär ...... 178 Bestseller ...... 178 Fernsehen: Der Südwestfunk öffnet Stein spielt Demokratie in Moskau Seite 172 seinen Giftschrank ...... 180 Stars: Atempause für Michael Jackson ...... 181 Fernseh-Vorausschau ...... 198 WISSENSCHAFT Prisma ...... 183 Fortpflanzung: Befruchtungshelfer Antinori – Heiliger oder Frankenstein? ...... 184 Interview mit Frauenarzt Severino Antinori über Risiken und Chancen später Mutterschaft ...... 186 Arzneimittel: Psycho-Pille Prozac, der Stimmungsaufheller für jedermann ...... 187 Forschungspolitik: Wechsel an der Spitze „Orestie“-Inszenierung im Moskauer Armeetheater des Wissenschaftsrates ...... 190 Autismus: Zweifel an Birger Sellins „Einfach anmaßend“ fanden russische Nationalisten den Auftritt des Dichtkünsten ...... 191 deutschen Regisseurs Peter Stein in Moskau. Dessen Inszenierung Gentechnik: Tollwut-Impfstoff für der „Orestie“ des Aischylos, erstmals in russischer Sprache, geriet Füchse – gefährlich für Menschen ...... 192 zum Gleichnis für den Weg von der Tyrannis zur Demokratie. TECHNIK Computerspiele: Mit Schummel-Software zum schnellen Sieg ...... 193 Babys für Omas Seiten 184, 186 Briefe ...... 7 Auch älteren Frauen, die längst Großmütter sein könnten, verhilft Impressum ...... 14 der römische Fortpflanzungsmediziner Severino Antinori zum er- Personalien ...... 194 sehnten Kindersegen. Kritiker, darunter viele Kollegen Antinoris, Register ...... 196 wollen das späte Kinderkriegen durch Gesetz verbieten lassen. Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 202

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Werbeseite BRIEFE Letztes Mittel Gewalt Wir haben ein Unterrichtssystem, das eine erziehende Familie voraussetzt (Nr. 3/1994, SPIEGEL-Titel: Exzesse der und diese spezifisch ergänzt; es kann Gewalt; Ariane Barth über Aggression nur geringfügig Erziehung leisten. Nun und Zivilisation) haben wir zwar die Familie weitgehend Jede Gesellschaft hat die Kriminalität, abgeschafft, aber keine Erziehungs- die sie verdient. kraft an ihre Stelle gesetzt – die Schu- Bad Neuenahr-Ahrweiler (Rhld.-Pf.) len sind für ihre neue Aufgabe nicht DR. CONSTANTIN RÖSER ausgerüstet worden, im Gegenteil. Und dann wundern wir uns über unsere Eine Gesellschaft, die ihren Kindern Kinder. tagtäglich und in fast allen Lebensbe- Bremen KLAUS OLTMANN reichen das darwinistische Recht des Stärkeren vorführt, darf sich über Ge- Ist es verwunderlich, daß bei unserer waltbereitschaft nicht wundern. dünnwandigen Kulturform auch das ar- ANNE ESSMANN chaische Verhaltensmuster der Gewalt immer mehr durchbricht und langsam Ermutigend, wenn Ariane Barth in ih- wieder zur Umgangsform wird? rem Artikel der Lerntheorie einen München DR. B. BURCKHARD breiteren Raum gibt und damit die Verantwortlichkeit für die Entstehung Freuds und Lorenz’ Theorien zur Ag- von Aggression und Gewalt wieder bei gression sind nicht mehr haltbar. Wie jedem einzelnen festmacht. wahr. Gewalt wird gelernt. Sicher rich- Velbert (Nrdrh.-Westf.) ANDREAS PETERS tig. 1300 Untersuchungen können sich nicht irren. Aber zu behaupten, die Massenmedien wären die einzigen bö- Eins habt ihr leider nicht bedacht: sen Buben, heißt, sich ein Feigenblatt daß Kinderhaben auch verpflichtet. umzubinden und die Hände in Un- Ihr wart auf uns nicht eingerichtet, schuld zu waschen wie weiland Pilatus. ihr habt uns nur zur Welt gebracht. Nürnberg PETER WEINER So schrieb Erich Kästner 1932, und et- Wenn Journalismus überhaupt etwas wa 40 Jahre später haben die Men- bewegen kann, dann solch ein Beitrag. schen endgültig aufgehört, ihre Kinder Ohne ideologische Scheuklappen liefert zu erziehen. Ariane Barth eine Bestandsaufnahme, Rostock JÜRGEN NEUMANN die mich persönlich darin bestärkt, die „ganz kleinen Eingriffe in das soziale Eine Gesellschaft, die Andersdenken- Gefüge“ weiterhin zu versuchen. Wir de – auch gerade ihre jüngeren Gene- können nicht abwarten, bis die For- rationen – mit völlig überholten Wer- scher das Phänomen Gewalt ergründet ten und Normen nervt und unter- haben und bis die Politiker daraus ihre drückt, darf sich nicht wundern, wenn Schlußfolgerungen ziehen, denn lange diese dann Gewalt als letztes Mittel vorher werden die letzten Inseln von zur Selbstbestimmung und Artikulation Menschlichkeit zerstört sein. sehen. Meckenheim (Nrdrh.-Westf.) Vechta (Nieders.) CHRISTIAN SATORIUS DOROTHEA RICHTER

Kämpfende Kinder: Darwinistisches Recht des Stärkeren

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Werbeseite BRIEFE Nicht beteiligt spiel der erwähnten Importquoten für Pilze mögen Europapolitiker und (Nr. 3/1994, Kriminalität: Steuerprivile- -beamte ihre Liebe zum Detail überprü- gien für CSU-Spezi) fen: Ich habe nach dem Niedergang der Sie berichten, daß eine ominöse Firma kommunistischen Ära miterleben müs- Fitelec GmbH etwas mit der Zwick-Af- sen, wie in Polen, aus dem ein mir be- färe zu tun hat. In Ihrer Nr. 43/1993 kanntes Unternehmen wöchentlich ei- schrieben Sie bereits darüber, jedoch nen Lkw Champignons im Wert von damals von einer Firma Fitelec Beteili- 30 000 bis 50 000 Mark importiert hat, gungs GmbH, Stuttgart. Wir legen aufgrund der Reduzierung von Import- Wert auf die Feststellung, daß wir, die quoten einige mit viel privatem Engage- Firma Fitelec Funkentstörung- und ment und hoffnungsvoller Zuversicht Funkentstörmittel Vertriebs GmbH in aufgebaute Produktionsstätten und Ver- Stuttgart, weder in der Vergangenheit arbeitungsbetriebe aufgegeben werden noch heute irgend etwas mit der mußten und danach auch das hiesige Zwick-Affäre zu tun hatten. Fitelec Unternehmen zahlungsunfähig gewor- GmbH, Stuttgart, ist ausschließlich auf den ist. Dank EU-Quotenpolitik wurde den Vertrieb von Funkentstörmitteln so gerade aufkeimendes Vertrauen spezialisiert. grundlegend zerstört. Stuttgart A. SCHLAYER Wust (Brandenburg) HEINRICH HÜSKEN Fitelec GmbH Sir Ralfs These, Europa sei durch Maas- tricht ins Stocken geraten, ehrt den Vor- Zerstörtes Vertrauen denker. Sie gehört allerdings ins Argu- (Nr. 1/1994, SPIEGEL-Essay: Ralf Dah- menten-Arsenal vom Typ halbvolles rendorf: Ein Europa für die Zukunft) oder halbleeres Glas. Wenn wir doch endlich die Gelassenheit und Geduld Dahrendorfs Aussage „Europa muß de- aufbrächten, zu erkennen, daß Umkehr mokratisch sein – oder es hat keine und Neubeginn auch im Europafeld Zukunft“ ist sicher richtig, bedarf je- nicht die Marschzahlen der Wirklichkeit doch wesentlicher Er- gänzung. Mathema- tisch prägnant ließe sich hinsichtlich eines Wohlergehens in Eu- ropa sagen: „A ist not- wendig, aber nicht hinreichend.“ Beweis: Hitler, Schirinowski; beide kamen zunächst auf demokratischem Wege zur Macht. Riemerling (Bayern) DR. KARL-HEINZ KEIL

Die von Sir Dahren- dorf aufgelisteten For- derungen für ein Euro- pa der Zukunft provo- zieren kein Aha-Erleb- nis: Diese Themen ste- hen längst auf der poli- „Und nun: Vorwärts!“ De Telegraaf/Amsterdam tischen Tagesordnung. Nur ist praktische Politik im Detail sind. Bares, Machbares und Scheinbares meist komplizierter und dadurch lang- spielen leider im Alltag eine größere wieriger, als in der Abgeschiedenheit Rolle als Erkenntnis und kraftvolles der gediegenen Atmosphäre des be- Verändern. rühmten St. Anthony’s College in Ox- Sprockhövel (Nrdrh.-Westf.) ford ein sprachlich wohlfeiles Essay zu DR. DIETER ROGALLA formulieren. SPD-Mitglied des Europäischen Parlaments

St. Augustin (Nrdrh.-Westf.) DR. MELANIE PIEPENSCHNEIDER Konrad-Adenauer-Stiftung Mit geballten Fäusten (Nr. 3/1994, Medien: Emma wird zum Dahrendorf macht deutlich, welch gren- Kuriositätenblatt) zenloser Spielraum den in einem verei- nigten Europa integrierten Nationen Daß immer mehr „Katzenmuttis“ sehr verbleiben kann, wenn die Zielsetzun- klar die gemeinsamen Ursachen von gen an den Interessen des europäischen Gewalt, Rassismus und Ausbeutung an- Bürgers ausgerichtet würden. Am Bei- derer Völker, des anderen Geschlechts

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Emma-Herausgeberin Schwarzer: Zenit überschritten

und eben auch anderer Spezies erkennen, Die Emma-Frauen essen zwar Fleisch, ist Ausdruck einer radikalen Bewußt- aber schlachten soll der Mann. Und die seinsveränderung und emanzipatori- Frau von heute zieht dem Nerz auch schen Bewegung. nicht selbst den Pelz über die Ohren. München HANNELORE JARESCH Die Verdienste Frau Schwarzers sind unstrittig. Doch ihren Zenit hat sie Alice Schwarzer schreibt vehement ge- schon lange überschritten. gen Tierquälerei –und der SPIEGEL fin- Friedrichshafen (Bad.-Württ.) det das kurios. Ich hoffe, Ihre Anti-Em- ESTER und JÖRG KANIG ma-Kampagne bringt diesem Blatt mög- lichst viele neue Abos ein. Dummdreister Piefke Lüdge (Nrdrh.-Westf.) WALTER JÖRG LANGBEIN (Nr. 2/1994, Prozesse: Gisela Friedrich- sen über einen Wiener Sensationspro- Unter dem Deckmantel der Menschlich- zeß) keit verbirgt sich ein permanenter und pauschaler Geschlechterrassismus wider Busserl an die Gisela. Goldig. den Mann, der einer weiteren Ent- Versoix (Schweiz) menschlichung dieser schon jetzt reich- CARSTEN BRINK PETERSEN lich kaltherzigen Gesellschaft Vorschub Da hat der SPIEGEL wieder einmal den leistet. Piefke losgelassen. So herablassend, Regen (Bayern) MARKUS KATZENMEIER selbstgefällig, dummdreist, unaussteh- lich haben wir ihn schon lange nicht er- Als junge Radikalfeministin bin ich froh, lebt. daß noch ein paar Kämpferinnen der Wien HANS HEINZ HAHNL Siebziger die Fäuste ballen, sich politisch einmischen und nicht nur mit weiblicher In Ihrer Reportage über den Prozeß Weisheit die Welt vorm ökologischen zum Mord an Fritz Köberl veröffentlich- Abgrund retten wollen oder sich in ten Sie ein Foto von Helmut Frodl mit Mondkreistänzen ergehen. seinem angeblichen Opfer. Bart ist Köln DAGMAR GRUNDMANN-SIMSEK Bart, mag sich wer auch immer gedacht haben. Ist er aber nicht. Denn das Ihr einäugigen Patriarchen, seid Ihr von Bild zeigt nicht das Opfer, sondern allen guten Geistern verlassen? Alice mich, und ich erfreue mich bester Ge- Schwarzer ist die große Vordenkerin des sundheit. deutschsprachigen Feminismus. Ohne Wien MORITZ GIESELMANN sie gäbe es überhaupt keine feministische Debatte, die den Namen verdient. Die Redaktion bedauert die Verwechse- lung. –Red. Zürich YVONNE MEIER Das muß man Dir lassen, Alice: Dein Aufstieg ins Unvermögen fand zielstre- Viel spannender big statt. Erst meintest Du, Frauen zu (Nr. 2/1994, Kirchensteuer: Die Einnah- Nutztieren funktionalisieren zu können. men sinken, die Kritik wächst) Nunmehr sollen verfraute Tiere Dir von Nutzen sein. Wie wär’s, Du würdest vor- Es stimmt einfach nicht, daß Pfarrer nur sorglich eine Tanzschule eröffnen, woDu mit gebügeltem Beffchen auf der Kanzel den Apokalypso schwofen lehrst? ermüdende Reden halten, um sich dann Hamburg KARIN HUFFZKY ausschließlich von der sonntäglichen

12 DER SPIEGEL 5/1994 Mühe bei opulenten, kirchensteuerfi- kauft. Wenn es gut läuft, liegt es am nanzierten Mahlzeiten in der abgeschie- Verlag. denen Stille ihres luxuriösen Pfarrhau- Köln DR. WOLFGANG BITTNER ses eine Woche lang zu erholen. Das Di- lemma ist bloß: Weit und breit sieht Es ist ein fataler Irrtum anzunehmen, man keinen Journalisten, wenn der man könne der Krise im Literaturbe- Pfarrer alleinstehende Menschen in ih- trieb durch finanzielle Aufbauspritzen rem versifften Zuhause besucht, um das für marode Verlage begegnen. Was hilft Angehörige einen großen Bogen ma- es denen, wenn es in Wahrheit an der chen. Existenzgrundlage fehlt, nämlich an zu Selten findet sich ein Reporter, der wo- verlegenden Werken? chenlang regelmäßig am Bett von un- Löffingen (Bad.-Württ.) heilbar Krebskranken und Sterbenden ANDREA HALTENBERGER sitzt, denen der Pfarrer die Hand hält. Das war mal ein geistiger Volltreffer: Auch das, was der Pfarrer bei Besuchen „Erzähler müssen her!“ Ja, wo sind sie von Eltern erlebt, die gerade ihr Kind denn geblieben, die Erzähler? Sie sind durch einen Motorradunfall verloren noch da und hoffen auf Verleger von haben, erscheint nicht auf der ersten lauterer Gesinnung, Verleger, die be- Seite der Lokalzeitung. Und wenn man greifen, daß das Buch keine Handelswa- nachts angerufen wird von Männern, die re aus Eisen und Stahl ist, sondern daß sich gerade betrinken, weil ihnen die an jedem Buch auch noch ein Mensch Frau weggelaufen ist, und Frauen, die hängt, der – wenn er ehrlich ist – in qual- den vor einem Jahr beerdigten Gatten vollem, jahrelangem Ringen sein Credo zu Papier gebracht hat. Die Bestsellerei hat viel zerstört, die Zusammenballun- gen zu riesigen Verlagskonzernen haben der Literatur nur geschadet, die „Neutö- ner“, die mit ihren stilistischen Gauke- leien jahrzehntelang den Menschen Sand in die Augen streuten, weil sie nicht erzählen konnten, kamen noch hinzu. Und das alles vor dem Hinter- grund eines politischen Desasters, das auf erschütternde Weise den Mangel an menschlichen Qualitäten bei uns Deut- schen offenbarte. An Negativem hat nichts gefehlt, um die Zerstörung unse- rer kulturellen Substanz und unserer li- terarischen Kultur zu vollenden. Wir sind am Punkt Null angekommen – und das nicht nur in der Literatur. Aber dort schmerzt es am meisten, wenn ein Mensch begreift, was Literatur eigent- lich ist. Ascona (Schweiz) HENRY JAEGER Gerade die heißesten Manuskripte wer- den von den Literaturverlagen mit As- besthandschuhen zurückgereicht, weil wieder leibhaftig auf der Bettkante sit- sie aus den deutschen Lesern keine ver- zen sehen, dann erfährt das auch nie- gnügungssüchtigen Leselüstlinge ma- mand. Schreiben Sie doch einfach mal chen wollen. Ihr Motto: Lesen muß weh davon. Die Wirklichkeit ist viel span- tun. Wenn’s den Lektoren schon keinen nender als das Märchen von der Geist- Spaß macht, das Manuskript-Menü ap- lichkeit, die wie Dagobert Duck in den petitlich und lustvoll zu gestalten, dann Kirchensteuern badet. soll gefälligst der krankhaft fiebernde Heidelberg DR. MARITA RÖDSZUS-HECKER Leser die fade Buchstabensuppe auslöf- Pfarrerin feln. Augsburg ARNO LÖB Fade Buchstabensuppe Auch große literarische Leistungen sind (Nr. 3/1994, Literaturverlage: An der Kri- keine Garantie für hohe Auflagen und se der Buchverlage sind auch die Auto- Einkommen: Gottfried Benn, neben ren schuld) Bert Brecht und Thomas Mann der be- deutendste deutsche Autor dieses Jahr- Nach meinen Erfahrungen im Literatur- hunderts, hat in den ersten 15 Jahren betrieb, die auf einer gut zwei Jahrzehn- seiner Schriftstellertätigkeit mit seiner te langen Tätigkeit als freier Schriftstel- epochemachenden Lyrik und Prosa ins- ler beruhen, hat immer der Autor gesamt 975 Mark verdient. schuld, wenn sich ein Buch schlecht ver- Wuppertal SVEN KÜNSTLER

DER SPIEGEL 5/1994 13 BRIEFE MNO Völlig aussichtslos 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 (Nr. 1/1994, Waldsterben: Der zweite HERAUSGEBER: Rudolf Augstein holm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11 223 Stockholm, Tel. . Tod durch Ammoniak) CHEFREDAKTION: Dr. Wolfgang Kaden, Hans Werner Kilz 650 82 41, Telefax 652 99 97 Tokio: Wulf Küster, 5-12, Mina- mi-Azabu, 3-chome, Minato-Ku, Tokio 106, Tel. 3442 9381, Tele- REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, fax 3442 8259 . Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, Die Bemühungen, über Züchtung und Wolfram Bickerich, Wilhelm Bittorf, Peter Bölke, Jochen Bölsche, 00-635 Warschau, Tel. 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washing- Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Stephan Burgdorff, Wer- ton: Karl-Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 Anbau widerstandsfähiger Bäume ner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. National Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. Waldschäden zu vermeiden, erscheinen Martin Doerry, Adel S. Elias, Rüdiger Falksohn, Nikolaus von Fe- 347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, stenberg, Jan Fleischhauer, Uly Foerster, Klaus Franke, Gisela Schönbrunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. 587 4141, Tele- völlig aussichtslos. Derartige Bestrebun- Friedrichsen, Angela Gatterburg, Henry Glass, Rudolf Glismann, fax 587 4242 Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Hans Halter, gen sollten auch aus übergeordneter im- Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred W. Hentschel, ILLUSTRATION: Renata Biendarra, Martina Blume, Barbara Bo- missionsschutzpolitischer Sicht unter- Ernst Hess, Hans Hielscher, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim cian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Bonnie, Regine Hoelzgen, Jürgen Hogrefe, Dr. Jürgen Hohmeyer, Carsten Holm, Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Csallos, Volker bleiben: Ziel des Immissionsschutzes Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Dr. Olaf Ihlau, Ulrich Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hurme, Antje Klein, kann es doch nicht sein, die Vegetation Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Eva-Maria von Maydell, Ursula Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Seba- Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev Scheerbarth, an anthropogene Belastungen anzupas- stian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, Siegfried Kogel- Claus-Dieter Schmidt, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, sen; vielmehr sind Emissionen und Im- franz, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Karl Heinz Krüger, Rainer Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Bernd Kühnl, Dr. Romain Leick, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Welker, Rainer Wörtmann, Monika Zucht missionen so zu verringern, daß auch die Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mas- SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- empfindlichen Waldbäume voll gedei- colo, Gerhard Mauz, Walter Mayr, Gerd Meißner, Fritjof Meyer, bine Bodenhagen, Lutz Diedrichs, Dieter Gellrich, Hermann Dr. Werner Meyer-Larsen, Joachim Mohr, Mathias Müller von Blu- Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga hen können. So hat unser Institut die mencron, Rolf S. Müller, Bettina Musall, Hans-Georg Nachtweh, Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas Dr. Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, M. Peets, Wolfgang Polzin, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Untersuchungen zum Resistenzverhal- Gunar Ortlepp, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, Schäfer, Wilhelm Schöttker, Ingrid Seelig, Hans-Eckhard Segner, ten von Forstpflanzen gegenüber Luft- Joachim Preuß, Dr. Rolf Rietzler, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Tapio Sirkka, Hans-Jürgen Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters, Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Heiner Peter Zobel verunreinigungen denn auch nur mit Schimmöller, Roland Schleicher, Cordt Schnibben, Hans Joachim VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- dem Ziel durchgeführt, Unterlagen für Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Matthias Schulz, orama, Wahlkampf, Gesundheitsreform, Baring-Gespräch, As- Hajo Schumacher, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Claudius best, Wahlen ’94, Rechtsprechung, Bundeswehr, Familie: Dr. Ger- die Diagnose und für die Ermittlung von Seidl, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Stampf, hard Spörl; für CDU, Affären, Gangster, Polizei, Menschenrechte, Dosis-Wirkung-Beziehung zu gewinnen. Hans Gerhard Stephani, Günther Stockinger, Hans-Ulrich Stoldt, Bayern, Forum, Rechnungshöfe, Medien, Fernsehen, Professo- Peter Stolle, Barbara Supp, Dr. Rainer Traub, Dieter G. Uentzel- ren, Nordsee: Jochen Bölsche; für Banken, Tarifstreit, Trends, Ti- Essen PROF. DR. R. GUDERIAN mann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Manfred Weber, tel-Geschichte, Schmidt-Interview, Immobilien, Unternehmen, Institut für Angewandte Botanik Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Wellershoff, Pe- Umwelt: Peter Bölke; für Spectrum, Sucht, Dammermann-Inter- der Universität – GH – Essen ter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiedemann, Dr. Dieter view, Meinungsfreiheit, Autoren, Fernsehen, Stars, Autismus, Wild, Christian Wüst, Dr. Peter Zolling, Helene Zuber Fernseh-Vorausschau: Claudius Seidl; für Panorama Ausland, Al- gerien, Ahmed-Interview, Japan, Spanien, Bosnien, Österreich, REDAKTIONSVERTRETUNG BONN: Winfried Didzoleit, Man- Rabin-Gespräch, Khun-Sa-Interview, Skandinavien, Großbritan- fred Ertel, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth nien: Dr. Romain Leick; für Boxen, Dershowitz-Interview: Heiner Verkehrt plaziert Niejahr, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Schimmöller; für Kunst, Szene, SPIEGEL-Essay, Theater, Kultur- Gabor Steingart, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmann- politik, Literatur, Bestseller: Dr. Martin Doerry; für Prisma, Fort- (Nr. 4/1994, Personalien) straße 20, 53113 Bonn, Tel. 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 pflanzung, Antinori-Interview, Arzneimittel, Forschungspolitik, REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- Gentechnik, Computerspiele: Jürgen Petermann; für namentlich gang Bayer, Petra Bornhöft, Christian Habbe, Dieter Kampe, Uwe gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Personalien, Re- Ich akzeptiere Herrn Lagerfelds und der Klußmann, Jürgen Leinemann, Claudia Pai, Hartmut Palmer, Nor- gister, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titel- bert F. Pötzl, Michael Schmidt-Klingenberg, Harald Schumann, bild: Rainer Wörtmann; für Gestaltung: Dietmar Suchalla; für Firma Chanels Entschuldigung als Aus- Kurfürstenstraße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. 25 40 91-0, Tele- Hausmitteilung: Dr. Dieter Wild (sämtlich Brandstwiete 19, druck eines reifen Gefühls für Toleranz. fax 25 40 91 10; Dresden: Sebastian Borger, Dietmar Pieper, 20457 Hamburg) Detlef Pypke, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Harro Albrecht, Wer- 567 0271, Telefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bieger, Georg ner Bartels, Sigrid Behrend, Ulrich Booms, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Bönisch, Hans Leyendecker, Richard Rickelmann, Rudolf Wallraf, Busch, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. 93 601-01, Telefax Karen Eriksen, Andre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Claus Christian Malzahn, Dalbergs- Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Wolfgang Henkel, Gesa Höpp- weg 6, 99084 Erfurt, Tel. 642 2696, Telefax 566 7459 . Frank- ner, Jürgen Holm, Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, Hau- furt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bittner, Annette Großbongardt, ke Janssen, Günter Johannes, Petra Kleinau, Angela Köllisch, Annette Littmann, Ulrich Manz, Jürgen Scherzer, Oberlindau 80, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Wal- 60323 Frankfurt a. M., Tel. 71 71 81, Telefax 72 17 02 . Hanno- ter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Sigrid Lüttich, ver: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel. Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, 32 69 39, Telefax 32 85 92 . Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Anneliese Neumann, Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. 225 14, Telefax Werner Nielsen, Paul Ostrop, Nora Peters, Anna Petersen, Peter 276 12 . Mainz: Birgit Loff, Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Anke Rashatasuvan, Dr. Mecht- 55116 Mainz, Tel. 23 24 40, Telefax 23 47 68 . München: Dinah hild Ripke, Hedwig Sander, Constanze Sanders, Rolf G. Schier- Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntz- horn, Ekkehard Schmidt, Marianne Schüssler, Andrea Schumann, straße 16, 81677 München, Tel. 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Steh- . Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwe- mann, Stefan Storz, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart rin, Tel. 557 44 42, Telefax 56 99 19 . Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Grimm, Sylvia Schreiber, Peter Stähle, Kriegsbergstraße 11, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessendorff, Andrea Wil- 70174 Stuttgart, Tel. 22 15 31, Telefax 29 77 65 kens, Karl-Henning Windelbandt REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Bangkok: Dr. Tizia- BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles no Terzani, 18 Soi Prommitr, Sukhumvit Soi 39, 10 110 Bangkok, NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- Tel. 258 8410, Telefax 259 5980 . Basel: Jürg Bürgi, Spalenring shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, Time 69, 4055 Basel, Tel. 271 6363, Telefax 271 6344 . Belgrad: Re- nate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG . 66 01 60, Telefax 66 01 60 Brüssel: Heiko Martens, Marion Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax 040-30072898 Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 1040 Brüssel, Tel. 230 61 08, . Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Telefax 231 1436 Jerusalem: Dr. Stefan Simons, 1, Bet Eshel, Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM Old Katamon, Jerusalem 93227, Tel. 61 09 36, Telefax . 130,00, zwölf Monate DM 260,00. Normalpost Europa: sechs 61 76 40 Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Monate DM 169,00, zwölf Monate DM 338,00; Seepost Übersee: Floor, 85 Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. 333 1864, Tele- sechs Monate DM 176,80, zwölf Monate DM 353,60; Luftpost- fax 29 40 57 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, . preise auf Anfrage. Muhandisin, Kairo, Tel. 360 4944, Telefax 360 7655 Kiew: Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 Kiew, Tel. 10787 Berlin, Tel. 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; Düssel- 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Henrietta Street, London „Kleidentwurf“ von Leser Bayer . dorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. 936 01 02, Telefax WC2E 8PS, Tel. 379 8550, Telefax 379 8599 Moskau: Jörg R. 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Verletzte Gefühle Mettke, Dr. Christian Neef, Krutizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, Tel. 72 03 91, Telefax 72 43 32; Hamburg: Brandstwiete 19, 109 044 Moskau, Tel. 007502 220 4624, Telefax . 20457 Hamburg, Tel. 3007 2545, Telefax 3007 2797; Mün- 007502 220 4818 New York: Matthias Matussek, 516 Fifth chen: Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. 41 80 04-0, Telefax Um Ihnen vor Augen zu führen, daß ein Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. 221 7583, Tele- . 4180 0425; Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, verkehrt plazierter Spruch durchaus in fax 302 6258 Paris: Lutz Krusche, Helmut Sorge, 17 Avenue Tel. 226 30 35, Telefax 29 77 65 Matignon, 75008 Paris, Tel. 4256 1211, Telefax 4256 1972 . der Lage ist, auch christlich-abendländi- Peking: Jürgen Kremb, Qijiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner 532 3541, Telefax 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 48 vom 1. Januar 1994 sche Gefühle zu verletzen: Was halten 24 22 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Sie von dieser Claudia Schiffer? Avenida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg . 275 1204, Telefax 542 6583 Rom: Valeska von Roques, Largo VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck, Burkhard Voges Bad Peterstal (Bad.-Württ.) 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14 DER SPIEGEL 5/1994 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND PANORAMA

Gehälter-Affäre ihnen im Rahmen ihrer frühe- ren Abgeordnetentätigkeiten gewährt worden waren, als Hilfe für Gestürzte Einkünfte deklariert. Ex-Re- gierungschef Münch gab so- Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Christoph Bergner gar teilweise Gelder, die der (CDU) will seinen Vorgänger, den Ende vergangenen Jahres EVP-Fraktion im Europäi- über die Gehälter-Affäre gestürzten Werner Münch, sowie schen Parlament für die Öf- die drei Ex-Minister Hartmut Perschau, Werner Schreiber fentlichkeitsarbeit zugedacht (beide CDU) und Horst Rehberger (FDP) offenbar rehabili- waren, als früheren Einkom- tieren. Die vier aus Westdeutschland stammenden Politiker mensbestandteil an. hatten nach Ansicht des Landesrechnungshofes rechtswidrig In einem gemeinsam von der insgesamt 900 000 Mark an Gehältern kassiert. Um ihre Be- Staatskanzlei und dem Fi- züge zu rechtfertigen, hatten die Politiker unter anderem nanzministerium erarbeiteten zahlreiche steuerfreie Kostenpauschalen und Tagegelder, die achtseitigen Papier, das in Magdeburg unter Verschluß gehalten wird, widersprechen Bergner die Autoren den Rechnungs- prüfern. Siewollen bis auf zwei Ausnahmen alle Angaben der Politiker anerkennen und ihnen so doch noch die Gelder zu- gestehen, derentwegen sie gestürzt sind. Mit der Anerken- nung der Kostenpauschalen als Einkommen steht die neue Landesregierung im Widerspruch zu allen in der Bundesre- publik üblichen Diätenregelungen. Ausdrücklich hat Bergner inzwischen einen SPD-Vorschlag abgelehnt, Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) im Perschau, Münch, Schreiber, Rehberger Gehälter-Streit als neutrale Gutachterin zu berufen.

Flüchtlinge hatte, forderte Schnoor, eine Aids-Skandal nanziellen Gründen zum Reihe von Härtefällen von Aderlaß kommen, möglichst Schnoor der Abschiebung auszuneh- Bluter klein gehalten werden. Kei- men. So sollen Flüchtlinge, nen Schritt weitergekommen gegen Kanther die aus besetzten oder zer- sollen klagen ist der Untersuchungsaus- Nordrhein-Westfalens Innen- störten Gebieten Kroatiens Der Aids-Untersuchungsaus- schuß bei der Suche nach minister Herbert Schnoor kommen, bei Verwandten schuß des Bundestages emp- den politisch Verantwortli- (SPD) geht im Streit um die untergekommen sind oder fiehlt Blutern, die sich mit chen des Aids-Skandals. Ein Duldung kroatischer Bürger- aus ethnisch gemischten Fa- dem Aids-Virus infiziert ha- Rechtsgutachten „Instanzen- kriegsflüchtlinge auf Kon- milien stammen, in der Bun- ben, die Haftungsfrage ge- weg Blut“ soll jetzt Aufklä- frontationskurs zu Bundesin- desrepublik bleiben dürfen. richtlich klären zu lassen. rung bringen. nenminister Manfred Kan- Verweigert sich Kanther Ärzte, Blutspendedienste, ther (CDU). Nachdem die diesem Kompromiß, will Pharmaproduzenten und Bundestagswahl Innenministerkonferenz ein Schnoor die Härtefallrege- Krankenhausträger, die in Ende des generellen Ab- lung im Alleingang durchset- den achtziger Jahren Bluter Sechs Rechte schiebestopps beschlossen zen. nicht hinreichend über die Ansteckungsgefahr mit dem kandidieren Aids-Virus informiert ha- An der Europa- und der ben, müssen jetzt mit Scha- Bundestagswahl wollen in densersatzklagen in großer diesem Jahr mindestens Zahl rechnen. In ihrem er- sechs Rechtsparteien teil- sten Zwischenbericht, der in nehmen. Neben den Repu- dieser Woche vorgelegt wer- blikanern Franz Schönhu- den soll, fordern die Bun- bers werben die rechtsextre- destagsabgeordneten zudem me Deutsche Volksunion schärfere Auflagen für die (DVU) des Münchner Ver- Herstellung von Blutproduk- legers Gerhard Frey und der ten. Künftig sollen Blut- am vorvergangenen Sonntag spender nicht mehr eine gegründete Bund freier Bür- Aufwandsentschädigung von ger des ehemaligen FDP- 50 Mark, sondern Theater- Präsidiumsmitglieds Man- karten oder einen kostenlo- fred Brunner um Stimmen sen Gesundheitscheck erhal- am rechten Rand. Weitere ten. Allenfalls Dauerspen- Konkurrenten um rechte der, raten die Ausschußmit- Wählerstimmen sind die glieder, könnten weiterhin rechtsextremistische NPD, Geld bekommen. Damit soll der frühere ostdeutsche die Zahl der Spender aus CSU-Ableger Deutsche So- Kroatische Flüchtlinge (in München) Risikogruppen, die aus fi- ziale Union (DSU) und

16 DER SPIEGEL 5/1994 die neonazistische Freiheitli- che Deutsche Arbeiterpartei (FAP) des wegen illegalen Waffen- und Sprengstoffbe- sitzes vorbestraften Fried- helm Busse.

Pflegeversicherung Bußtag am Freitag? Für die Vermittlungsrunde zur Pflegeversicherung in dieser Woche gibt es einen neuen Kompromißvorschlag. Sozialexperten der Regie- rungskoalition und der SPD- Opposition erwägen, den Pfingstmontag als Feiertag abzuschaffen und den Buß- und Bettag, traditionell an ei- nem Mittwoch im November, auf Freitag zu verlegen. Alle Parteien könnten mit dieser Lösung ihr Gesicht wahren. Die SPD hätte ihre Forde- rung erreicht, nur einen Fei-

Pflegestation (in Leipzig) ertag für die Pflegeversiche- rung zu streichen. CDU/CSU und FDP könnten zustim- men, weil die Unternehmen von der Verschiebung des Feiertags auf Freitag profitie- ren. Freitags wird in den mei- sten Betrieben ohnehin kür- zer gearbeitet: Große Indu- strieunternehmen sparen die wegen des Buß- und Bettages entstehenden Kosten für das An- und Abfahren der Pro- duktion. So erhielten die Un- ternehmen einen zusätzli- chen Ausgleich für ihre Bei- tragsanteile zur Pflegeversi- cherung. Der Vorschlag muß vor dem Vermittlungstreffen noch mit den Partei- und Fraktionsspitzen abgestimmt werden.

DER SPIEGEL 5/1994 17 DEUTSCHLAND

Wahlkampf „WIR VERLIEREN AN BODEN“ Die Kanzler-Partei gibt die Bundestagswahl schon so gut wie verloren. Strategen fürchten einen „Domino-Effekt“, wenn die CDU bei den Landtagswahlen Niederlage auf Niederlage erleidet. In Untergangspanik planen Kohls Helfer eine Schlammschlacht, vor allem gegen Sozialdemokraten.

er Pfarrer Peter Hintze, derzeit zwölf Jahre später wie ausgebrannt. Vor petent dargestellt werden: Es gelte, CDU-Generalsekretär, tut sich allem des Kanzlers Lieblingsthema, die „Zweifel an ihrer Regierungsfähigkeit D schwer mit der christlichen Pflicht, deutsche Einheit, kommt beim Wähler zu nähren“. Vor allem Rudolf Schar- die Wahrheit zu sagen. Gleich zu Jahres- nicht mehr an. Kohl hat den Ostdeut- ping, der aus CDU-Sicht beängstigend anfang hat er die Parteimitglieder mit schen „blühende Landschaften“ verspro- gut beim Wahlvolk ankommt, „muß in Vorsatz beschummelt. chen, doch das Land hat sich in eine Indu- Frage gestellt werden“, so die Anwei- In einem Rundbrief an die „lieben striebrache verwandelt. Der Tag der Ab- sung von Regisseur Hintze. Freunde“ von der Parteibasis sah er rechnung rückt näher: Die Planungsabteilung der CDU- das Stimmungstief für die Union über- Besonders besorgniserregend ist die Zentrale unter Leitung von Herbert wunden. Eine „wissenschaftliche For- demoskopische Entwicklung der CDU in Müller ist seit Wochen mit Recherchen schungsarbeit“, jubelte er, habe das den neuen Ländern, sie liegt dort in den „unter optimalen Bedingungen“ erreich- Umfragen deutlich unter der 30-Prozent- bare Wählerpotential auf 45 Prozent be- Marke. ziffert. Die Ausgangslage für den Wahl- kampf werde „zunehmend günstiger“. Bitter für Kohl: Auch seine Europapo- Der Mann ist reif für die Beichte. Ein litik, im vergangenen Jahr mit einer Mil- „Regiebuch zu den Wahlkämpfen des lionen-Kampagne des Bundespresseam- Jahres l994“, unter Hintzes Federfüh- tes unters Volk gebracht, zieht nicht rung erstellt, entlarvt den Gottesmann als mehr. doppelzüngig. Wolfgang Gibowski, stellvertretender Das Meinungsklima habe sich „deut- Leiter des Presseamtes und Mitglied des lich verschlechtert“, schreibt Hintze in von Hintze gebildeten Teams „Wahlsieg dem 80seitigen Dossier. Das „erreichba- l994“, trug der CDU-Parteizentrale die re Potential der Union“ beziffert er auf tristen Zahlen vor: Trotz der PR-Arbeit nur „37Prozent aller Wahlberechtigten“. habe sich die Zahl der Maastricht-Gegner Ein Sieg bei der Bundestagswahl und die im vergangenen Jahr von 62 auf 72 Pro- Fortsetzung der Koalition mit der FDP zent erhöht. erscheinen da unwahrscheinlich: Kohls Europapolitik, heißt es nun in Die Union hat in letzter Zeit gegenüber dem Strategiepapier, sei „nicht marke- der SPD an Boden verloren . . . CDU und tingfähig“. CSU haben überhaupt nur dann eine Die Erkenntnisse der Strategen mag Chance, wenn den Republikanern der man den Gremien der Partei nicht zumu- Einzug ins Parlament verwehrt bleibt. ten. Hintzes Regiebuch, das seit Ende vergangenen Jahres im Adenauer-Haus Nun ist es heraus. Die Unionsspitze und im Kanzleramt vorliegt, wird bis heu- gibt die Wahl praktisch verloren. Ein Fi- te geheimgehalten. Nur einem kleinen asko nicht nur für den blassen Wahl- Kreis von Kohl-Getreuen wurde das kampfmanager Hintze, sondern viel- Werk anvertraut. mehr noch für seinen Chef. Helmut Kohl Zweimal schon sollte der Bundesvor- („Ich knie’ mich rein!“) hatte sich eigent- stand der CDU darüber beraten, jedes- lich vorgenommen, die Wahl im Allein- mal wurde die Debatte abgesagt. „Aus gang zu gewinnen. Termingründen“, behauptet Hintze. Der Kanzler, der sich gern als letzten Erst nach dem Parteitag in Hamburg En- Dinosaurier der Politik bezeichnen läßt, de Februar wollen Kohl und sein General wollte es „noch einmal wissen“: Die Bun- das Papier den Gremien vorlegen. destagswahl ’94 sollte zum Votum über Da es kaum noch etwas zu verlieren ihn ganz persönlich werden. gibt, will Hintze auch die letzte Rücksicht Nun hat er es schriftlich: Er hat ausge- auf gute Sitten im Wahlkampf fallenlas- dient. Hintzes Regiebuch dokumentiert, sen. Er plant rüde Rempeleien gegen wie jämmerlich die Kohl-CDU dasteht. links und rechts, denkt an einen „harten Die größte Regierungspartei, einst mit Mehrfrontenwahlkampf“. dem kämpferischen Versprechen ange- Ministrable Sozialdemokraten sollen treten: „Wir schaffen die Wende“, wirkt inPamphleten alsunerfahren und inkom- Wahlkampfstrategen Hintze, Kohl: Kaum

18 DER SPIEGEL 5/1994 gegen Oskar Lafontaine und Scharping nisterpräsidenten getrieben. Reiner heimdienst CIA hat, angeblich versorgt befaßt. Später imWahljahr will die Union Pfeiffer, dieser „unselige Mensch“ von einer Quelle im ehemaligen KGB, Dossiers über die Genossen in die Me- (Schäuble), solle nicht im Auftrag Bar- die Deutschen bereits mit einschlägigen dien lancieren. schels, sondern, so will man mit neuem Tips über zahlreiche DDR-Spione in der Andere CDU-Politiker, offenbar in Material belegen, als Agent der SPD Bundesrepublik bedient. Panik über die neuesten Erkenntnisse, mit Wissen der SPD-Parteizentrale Un- Schmidbauer spekuliert darauf, daß planen beispiellose Schmutzkampagnen. heil angerichtet haben. rechtzeitig vor der Wahl eine der ehema- Selbst der tote Uwe Barschel muß dafür Und es soll wieder um die Frage ge- ligen DDR-Größen auspacken und Neu- herhalten. hen, wie Barschel im Genfer Hotel es über die Verwicklungen des MfS in die Bernd Schmidbauer, Staatsminister im Beau Rivage zu Tode gekommen ist. Barschel-Affäre, vielleicht gar über eine Kanzleramt, diente sich an, die Barschel- Schäuble behauptet, er schließe Mord Beteiligung der Stasi am Tode Barschels Affäre zum Wahlkampfhit zu machen: nicht mehr aus: „Die Stasi weiß mehr.“ berichten kann. Immerhin habe das MfS „Der Fall Schleswig-Holstein ist nicht zu Auch Schmidbauer setzt auf Wahlhil- den Kieler CDU-Politiker unter Beob- Ende, der Fall Schleswig-Holstein fängt fe der Stasi. Die für elektronische Auf- achtung gehalten. erst richtig an.“ klärung zuständige Hauptabteilung III Die Sozialdemokraten sind für die Auch Wolfgang Schäuble ergeht sich in des Ost-Berliner Ministeriums für Kohl-Kamarilla der Hauptgegner im finsteren Andeutungen: Die Vorgänge Staatssicherheit (MfS) habe mit Sicher- Wahlkampf. Doch auch den Koalitions- des Jahres 1987 in Schleswig-Holstein sei- heit in jenen Jahren aufschlußreiche Te- partner FDP, dem das Adenauer-Haus en „für die Stabilität unseres demokrati- lefongespräche in Schleswig-Holstein Lust auf den Wechselzur SPD unterstellt, schen Rechtsstaates und seiner Institutio- mitgeschnitten. Auch wenn die Unterla- will die C-Partei nicht mit Attacken ver- nen ein fortwährender Schaden“. Es ge- gen in Deutschland nicht auffindbar sei- schonen. Auf dem Feld der inneren Si- he, so der CDU/CSU-Fraktionschef im en, Kopien der Protokolle und Auswer- cherheit sollen – entgegen einer Abspra- , „um den Zustand der Repu- tungen seien an den sowjetischen Ge- che zwischen Kohl und FDP-Chef Klaus blik“. heimdienst KGB gegangen. Kinkel – „Konflikte gezielt gesucht wer- Die These: Nicht nur die Kieler, auch Der Geheimdienstmann im Hause den“. die Bonner Sozialdemokraten hätten ihr Kohl baut auf Informationen aus Ruß- Gegen die Republikaner, Konkurrenz böses Spiel mit dem damaligen CDU-Mi- land – oder aus den USA. Der US-Ge- am rechten Rand, will die CDU zu harten Mitteln greifen. „Schlichtes Ignorieren ist nicht genug“, heißtesindem Papier. Nach dem Wahlerfolg der Schön- huber-Truppe in Hamburg (4,8 Prozent) müsse härter polemisiert werden. Die CDU muß alles daran set- zen, die Rechtsparteien im Vorfeld der Europawahl zu stigmatisieren...Esistder Nachweis zu führen, daß das rechtsextreme Führungsper- sonal ohne persönliches For- mat, von zweifelhaftem Cha- rakter und von dubiosem Ver- halten in den Parlamenten ist. Anfang Juni sollte, so die Ursprungsplanung vom Oktober 1993, ein „Klein- plakat mit Diffamierungs- motiv“ bundesweit ausge- hängt werden. Die Republi- kaner sollten politisch mit der Todesseuche Aids gleichgesetzt werden. In Anlehnung an die Anti- Aids-Werbung sollte es hei- ßen: „Gib rechts keine Chance.“ Die Ideen zur Diffamie- rung seien mittlerweile ad acta gelegt, heißt es im Adenauer-Haus. „Solche Aktionen“, sagt Hintze, „würden die Rechtsradika- lennur zuMärtyrernstilisie- ren.“ Auf die Idee, mit den ei- genen Qualitäten und Er- Zeit für aufwendige Imagekorrekturen folgen zu werben, kommt in

DER SPIEGEL 5/1994 19 DEUTSCHLAND

Hintzes Mannschaft niemand mehr. Es herrscht die Einsicht, daß es da nichts Werbewirksames gibt: Die CDU muß besondere Anstrengungen unternehmen, ihr soziales Profil zu schär- fen, zumal sie in der 12. Legislaturperi- ode kein familien- oder sozialpolitisches Reformwerk hat umsetzen können.

Auch die Kompetenzeinbußen in der Wirtschaftspolitik, einst Domäne der Konservativen, räumen die Autoren des Papiers unverhohlen ein. Rekordschul- den im Staatshaushalt und eine Arbeits- losigkeit auf dem Niveau der Spätphase der Weimarer Republik, so müssen die Strategen erkennen, haben die Wirt- schaftspartei CDU diskreditiert:

Was die Lösungskompetenz bei wirt- schaftlichen Problemen betrifft, hat die CDU schmerzliche Einbußen hinnehmen müssen; sie ist im Osten Deutschlands sogar deutlich hinter die SPD zurückgefal- „Also dann, in diesem Sinne!“ tz, München len.

Pack und Betrüger Fairneßabkommen der Parteien ermuntern die Wahlkämpfer zu übler Polemik

ie Chance, beim Wähler einen abkommen der Parteien. Der Vor- vor. Seine Polemik, Helmut guten Eindruck zu machen, will sitzende der Schiedsstelle, der evan- Schmidt sei ein „politischer Ren- D sich keine Partei entgehen las- gelische Altbischof Hermann Kunst tenbetrüger“, blieb ungestraft. sen. Sozialdemokraten und Liberale („Ich bin doch nicht der nationale Geißler versicherte, er habe es nur legten in der vorigen Woche Entwür- Tugendwächter“), mußte hilflos mit politisch und nicht strafrechtlich ge- fe eines „Fairneßabkommens“ für ansehen, wie sein Gremium zum meint. Europa- und Bundestagswahl in die- Spielball der Parteien wurde. „Rentenbetrüger, Rentenbetrü- sem Jahr vor. Nach einigen Tagen 27 Anträge auf Mißbilligung hatte ger“, posaunte fortan die CDU al- Bedenkzeit fand auch CDU-Gene- der Kunst-Verein in der heißen lenthalben. ralsekretär Peter Hintze die Idee pri- Phase des Kanzlerwahlkampfes Was die Polit-Profis aus dem ma. Schmidt/Strauß zu beraten. Gerügt Westen von Fairneßabkommen hal- CSU-Chef Theo Waigel wagte als wurden SPD-Attacken gegen den ten, durften die Wahlkampf-Neu- einziger die offene Frage, was CSU-Chef Franz Josef Strauß linge aus Ostdeutschland schon die Nettigkeitsversprechen bringen, („ganz brutaler Volksbetrüger“, 1990 erfahren. Als sich der damali- „angesichts früherer Erfahrungen“ „Oberhäuptling der Wucherer und ge FDP-Fraktionsvorsitzende Wolf- sei er skeptisch. Geldscheffler“) wie Unterstellungen gang Mischnick kurz nach der Die Zweifel sind berechtigt. Die der Christsozialen, es gebe eine Wende in Berlin mit dem Partei- Zusage, jede Art von „persönlicher „Moskau-Fraktion“ in der SPD. vorstand der ehemaligen DDR- Verunglimpfung und Beleidigung“ Jeder Freispruch durch das Rich- Blockpartei LDPD zu einem ver- des politischen Gegners zu unterlas- tergremium diente den Parteien zu- traulichen Gespräch traf, gab er sen (so die Entwürfe gleichlautend), gleich als Freibrief, die bösen Re- den Neulingen in der liberalen Fa- läßt tief blicken: Wer meint, den den fortzusetzen. milie einen guten Rat. Minimalstandard bürgerlicher Um- Sozialdemokrat Hans Matthöfer Zur ersten demokratischen gangsformen ausdrücklich garantie- holte sich damals die Erlaubnis, sei- Volkskammerwahl im März 1990 ren zu müssen, erweckt Verdacht, ne Gegner „Pack“ zu nennen. In sollten sie doch den anderen Partei- daß er sich selbst das Übelste zutraut. der „Beweisaufnahme“ vor der en ein Fairneßabkommen nach Außerdem lehrt die Erfahrung: Schiedskommission hatte er treu- Bonner Muster vorschlagen. Das Eine „Gemeinsame Schiedsstelle“, herzig versichert, er meine weder habe zwar in der Praxis nie viel ge- die die schlimmsten Rüpeleien rügen die Union noch Strauß persönlich. nutzt („Das würde ich nie draußen soll, macht den Wahlkampf nur noch Auch der damalige CDU-Gene- erzählen“). Dafür, so vermerkt das schlimmer. ralsekretär Heiner Geißler, selbst Protokoll Mischnicks Tip, biete der So war es im Wahljahr 1980, beim einer der Initiatoren der Schieds- Vorschlag den Vorteil, „daß man letzten Versuch mit einem Fairneß- kommission, führte die Ankläger wenigstens in der Zeitung“ stehe.

20 DER SPIEGEL 5/1994 Bei vielen modernen Themen scheint die Partei abgemeldet – zum Beispiel Gesundheitsreform in der Frauenpolitik. Einst von Gene- ralsekretär Heiner Geißler auf frauen- freundlich geschminkt, steht die CDU heute wieder blaß da. Zwiebel oder Ein noch unveröffentlichtes Papier der Frauen-Union, in dem der Anteil von Frauen auf den Listen für die Bun- Pfirsich destagswahl protokolliert wurde, reiht Minus an Minus: In Bremen wurde Ein Gutachten mit Sparvorschlägen keine Frau aufgestellt, in Rheinland- zur Sanierung der Kranken- Pfalz nur eine. In Baden-Württemberg sind von einst sieben Frauen nur noch kassen hat Empörung ausgelöst. fünf nominiert. In Hessen hat sich die Zahl von sechs auf drei halbiert. ie Gesundheitsexperten des Zum echten Politikwechsel ist es für Bonner Ministers Horst Seehofer die CDU zu spät, eine Kabinettsumbil- D(CSU) fahndeten weltweit. Ge- dung – beliebtes Signal zum letzten sucht: Sparideen. Kraftakt – kommt auch nicht mehr in Im US-Staat Oregon wurden sie fün- Betracht. Statt dessen empfehlen die dig. Dort haben Sozialpolitiker seit Experten im Adenauer-Haus („ein Jahren nichts unversucht gelassen, die scheinbares Paradoxon“), daß die Re- Kosten für die Krankenversorgung der gierung sich als Ersatz-Opposition ge- Armen zu drücken. bärdet und sich notfalls hemmungslos So beschloß beispielsweise die Ore- Gesundheitsminister Seehofer von der eigenen Politik distanziert: gon-Regierung 1988, mittellosen Kin- Sparprogramm nach der Wahl „Die CDU muß die Partei sein, die die dern künftig Herz-, Leber- und Kno- Notwendigkeit des Wandels betont.“ chenmark-Transplantationen zu versa- akut lebensrettenden Eingriffen auf Für diese Münchhausen-Strategie dürf- gen. Das eingesparte Geld wurde für Rang 1 bis zu „minimaler Lebensverlän- te es zu spät sein – aus Helmut Kohl Früherkennungsuntersuchungen an an- gerung“ oder „minimaler Verbesserung wird auf die Schnelle kein Bill Clinton deren armen Kindern und schwangeren der Lebensqualität“ auf Platz 17. Die mehr. Frauen dringender gebraucht. erstplazierten Hilfen werden künftig al- Auch die Wahlkampfplaner um Weil sie kein rettendes Knochen- len Armen gewährt, die letztplazierten Hintze sehen die Gefahr, daß bei der mark bekam, starb eine siebenjährige allen verweigert. dichten Folge von 19 Wahlen kaum Leukämie-Patientin. Öffentliche Em- Seitenlang erörterten deutsche Ge- Zeit für aufwendige Imagekorrekturen pörung über derlei amtliche Verweige- sundheits-Professoren die Erkenntnisse bleibt. rung von Überlebenschancen brachte aus Oregon, um Seehofer die Entschei- Schneidet die Partei bei der ersten das Sparprojekt zum Scheitern. dung zu erleichtern: Wie läßt sich bei Wahl schlecht ab, so die Befürchtung, Zweiter Versuch: Die Oregon-Be- den kranken Deutschen sparen? könne ein Klima entstehen, „das die hörde beschloß die „rationale Ratio- Die Oregon-Erfahrungen taugen Chancen der CDU bei der nächstfol- nierung“ von Gesundheitsleistungen. nicht nur für Sparprogramme bei der genden Wahl stark belastet“. Intern ist Bislang kam nur ein Teil der Armen Armenversorgung in den USA, sondern von einem „Domino-Effekt“ die Rede. in den Genuß umfassender Gesund- auch für die Sanierung der deutschen Schon die Auftaktwahl in Nieder- heitsfürsorge. Jetzt werden zwar alle Krankenkassen. Deren Kosten will See- sachsen am 13. März gilt als verloren. bedacht; aber weil es an Geld fehlt, hofer nach mehr oder minder erfolgrei- „Wenn wir das Ergebnis vom letzten wird die Hilfe pro Kopf gemindert. chen Sparaktionen der letzten 20 Jahre Mal erreichen“, sagt ein Funktionär Die Rationierer von Oregon ordne- auf Dauer in den Griff kriegen – nach der CDU, „werden wir das als Erfolg ten das Angebot nach Wichtigkeit: von der Wahl. verkaufen.“ Vor vier Jahren hatten die Doch denken läßt Wähler die CDU mit 42 Prozent in die der Minister jetzt Opposition geschickt. Hartnäckiges Übel 130,1 schon. Modelle für ei- Zumindest die kurzfristige Werbung 130 ne Krankenversiche- soll professionalisiert werden. „Ent- Ausgaben der gesetzlichen Kranken- rung 2000 hat ihm scheidend ist, daß die CDU ihre Inter- versicherung in Milliarden Mark; 129,0 nun der „Sachverstän- pretation von Wahlergebnissen in der 120 jeweils erstes bis drittes digenrat für die Kon- öffentlichen politischen Kommunikati- Quartal eines Jahres zertierte Aktion im on durchsetzt“, heißt es im Regiebuch. 110 (alte Bundesländer) Gesundheitswesen“ in Dafür läßt Hintze derzeit für knapp seinem 500-Seiten- eine Million Mark ein neues Compu- Gutachten geliefert. tersystem mit zahlreichen Mail-box- 100 97,6 96,8 Darin erwägen die Anschlüssen installieren. Per Knopf- Autoren medizinische druck können dann auch die Kandida- 90 und ökonomische Kri- ten in der Provinz die „autorisierten terien für eine Ratio- Sprachregelungen“ aus dem Zentral- nierung medizinischer computer abrufen. Der Trost des Pfar- 80 Leistungen. Nach rers für seine Partei: „Dieser Wahl- 72,4 ähnlichen Maßstäben kampf wird der modernste in der Ge- „Blüm- „Seehofer- wie in Oregon könnte schichte der Union.“ 70 Reform“ Reform“ mit einer Prioritätenli- Mit High-Tech vorwärts in den Un- ste entschieden wer- tergang. Y 1982 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 den, welche Medizin

DER SPIEGEL 5/1994 21 im System der Gesetzli- chen Krankenversiche- Kleiner Kern rung (GKV) zu finanzie- Das sogenannte Zwiebelmodell für eine flexible ren ist und welche priva- Leistungsstruktur der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) tes Geld kosten soll. Quelle: Schon als durchsicker- Sachverständigenrat te, der Sachverständigen- für das Gesund- n heitswesen rat plädiere für das Strei- ge un t n chen von Brillen, Gebiß is e e g L n und Kuren aus dem Lei- e u h t c s stungskatalog der Gesetz- i is f e i L lichen Krankenkassen, z e e r brach ein Sturm los. p Kern- oder s a -

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i für ihre Bereitschaft, der N Solidar- SPD bei der Auswahl der prinzip Themen für die Bundes- tagswahl „so hilfreich zur Hand“ zu gehen. Sein Nicht mehr versichert sind unter anderem: Mutter- Urteil: „Es geht um den schaftsgeld, Zahnersatz, Sehhilfen, Allgemeinkuren, Abschied vom Sozial- Behandlung von vermeidbaren Unfallschäden staat.“ Abwählbare Leistungen sind einfachere ärztliche Vorerst wohl nicht. Behandlungen bei leichten Erkrankungen Auch der Auftraggeber Pflichtleistungen sind umfangreiche ambulante sowie Seehofer hat offenbar ei- stationäre Behandlungen nen Schreck über die ra- dikalen Ideen seiner Ex- perten bekommen. Er gab dem Rat chen werden, sei es auch bisher vom So- vor wenigen Tagen das Gutachten mit lidarprinzip der Krankenversicherung der Bitte zurück, die Formulierung der umfaßt. kritischen Teile noch einmal zu über- Doch die Kostenexplosion ist kein denken. Naturereignis. Der Erfolg der letzten, Das Expertengremium hält eine von einer großen Koalition getragenen grundlegende Neuordnung der Gesetz- Gesundheitsreform Seehofers hat be- lichen Krankenversicherung für unum- wiesen, wie groß die Einsparreserven im gänglich. Alle Modelle, die zur Sanie- System sind. Seehofer verbot die Erhö- rung erörtert werden, setzen voraus, hung der für Ärzte und Krankenhäuser, daß kaum bei den Pharmaherstellern, für Pillen und Massagen vorgesehenen Ärzten oder Krankenhäusern, sondern Ausgaben, erlaubte nur ein jährliches überwiegend bei der Kundschaft ge- Plus im Rahmen des Wachstums der spart werden muß: den Patienten. Kassenbeitragseinnahmen. Und die Bei- Das Expertenteam unter dem Vor- träge steigen im Einklang mit dem Lohn sitz des hannoverschen Wirtschaftspro- der Mitglieder. fessors Klaus-Dirk Henke teilt das Volk in zwei Klas- sen: eine, die sich mit ei- ner Grundversorgung be- gnügen muß, und eine zweite, die sich zusätzlich Prämien an die Privatver- sicherung für zusätzliche Ansprüche leisten kann. Ausgangspunkt ist die Annahme, die wachsende Zahl von alten Menschen und der dramatische Fort- schritt der Medizin müß- ten zwangsläufig zu immer höheren Kosten im Ge- sundheitswesen führen – mit fast 400 Milliarden Mark Umsatz schon jetzt größer als jeder andere In- dustriezweig in Deutsch- land. Um das Notwendige für alle bezahlen zu kön- nen, müsse schon bald we- niger Notwendiges gestri- Gutachter Henke, Gutachter-Thema Badekur, Kritiker

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Diese „Budgetierung“ oder „Decke- lung“ führte zu Milliardeneinsparungen bei der Gesetzlichen Krankenversiche- Heikle Operationen rung ohne Qualitätsverlust bei der me- Die Reformen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen dizinischen Versorgung, behauptet Mi- nister Seehofer. Das räumten auch „Blüm-Reform“ (1989) Ärztefunktionäre und Pillenproduzen- vorgesehene Einsparungen: 12,3 Milliarden Mark ten ein. davon Aber die „Budgetierung“ läuft 1995 Anbieter (Ärzte und Pharmaindustrie): 7 Milliarden aus, der Gesundheitsminister will sie Versicherte: 5,3 Milliarden nicht verlängern. „Es mag illusionär sein“, sagt der Lieblingsfeind der Me- Beispiele für Einsparungen zu Lasten der Versicherten (in Millionen): dizinbranche, „aber ich glaube, daß die Zuzahlung bei Zahnersatz 2350 Beteiligten jetzt begriffen haben, daß Kürzungen beim Sterbegeld 910 sie die Kosten durch Maßnahmen der Leistungsbegrenzung für Brillen 750 Selbstverwaltung selbst in den Griff Fahrkostenerstattung 580 kriegen müssen.“ Seehofer: „Es be- Ausschluß von Bagatellmedikamenten 230 steht kein Anlaß, die Grundprinzipien Von den vorgesehenen Einsparungen bei Ärzten und Pharmaindustrie konnten der GKV auf den Kopf zu stellen.“ lediglich 1,5 Milliarden verwirklicht werden. Die Blümsche Reform ging somit Doch von den vier Modellen, die ganz überwiegend zu Lasten der Versicherten. seine Experten zur Diskussion stellen, hat nur eines noch etwas mit dem her- kömmlichen Krankenversicherungssy- stem zu tun, das „Abspeck-Modell“. „Seehofer-Reform“ (1993) Danach wollen die Gutachter „versi- vorgesehene Einsparungen: 10,7 Milliarden Mark cherungsfremde Leistungen“ nicht aus davon der Krankenkasse, sondern lieber mit Anbieter: 8,2 Milliarden Steuergeldern bezahlen lassen. Das Versicherte: 2,5 Milliarden sind zum Beispiel die Kosten für die Abgabe empfängnisverhütender Mittel Kernpunkt der Seehoferschen Reform ist die Einführung von Deckelbeträgen an Teenager, die Kosten für Schwan- für die Anbieter medizinischer Leistungen. Damit werden die Budgets von Ärzten und Krankenhäusern zwangsweise begrenzt. Die sogenannte Grund- gerschaftsabbrüche und künstliche Be- lohnanbindung erlaubt eine Steigerung der Deckelbeträge nur in dem Maße, fruchtungen, Mutterschaftsgeld oder wie auch die allgemeinen Einkommen steigen. Lohnersatz bei Krankheit eines Kin- des. Beispiele für Einsparungen zu Lasten der Anbieter (in Millionen): „Abgespeckt“ werden in diesem Mo- Grundlohnanbindung - ärztliche Versorgung 750 dell auch Kuren, Brillen, Hörgeräte, - Krankenhäuser 2500 Bäder und Massagen, Zahnersatz und - zahnärztliche Behandlung 400 frei verkäufliche Arzneimittel. Begrün- - Stationäre Kuren 350 dung: Dabei handele es sich um kon- Preismoratorium Pharmahersteller 1500 sumnahe Güter oder medizinisch frag- Die Versicherten werden unter anderem mit weiteren Zuzahlungen würdige Wohltaten. bei Medikamenten und stationärer Behandlung belastet. Gutachter-Weisheit: Zahnersatz sei meist vermeidbar durch gründliches Zähneputzen, Alterskurzsichtigkeit

vorhersehbar. Dafür kön- stungen auf einen Grundkatalog. Der ne der einzelne selber kann dann durch private Zusatzversi- Vorsorge treffen. cherungen je nach Gusto und Geldbeu- Solche Weisheiten bre- tel ergänzt werden. chen mit dem Prinzip, daß Beim „Pfirsich“-Modell müssen die die Kassen alles medizi- „Kernleistungen“ nach medizinischen nisch Notwendige unab- und wirtschaftlichen Kriterien festgelegt hängig vom Einkommen werden. Dafür könne der Rat, halten der Patienten leisten sol- die Wissenschaftler sich vornehm zu- len. rück, aus seiner „umsetzungsfernen Po- Den anderen drei Sa- sition“ den Politikern nur begrenzt Ent- nierungskonzepten heften scheidungshilfe geben. die Wissenschaftler bunte Notfallbehandlungen müßten selbst- Etiketten an. Sie hei- verständlich zu den Kernleistungen zäh- ßen „Pfirsich“-, „Zwie- len, akute Erkrankungen, zum Beispiel bel“- und „Torten“-Mo- ein einfacher Infekt, könnten jedoch dell. durchaus den Wahlleistungen zugeord- Allen gemeinsam ist, net werden. daß die Versicherten auf Praktiker wie der Düsseldorfer Inter- Vollversorgung per Kran- nist Hermann H. Maletz halten solche kenschein künftig verzich- Ideen für fatal: „Ein grippaler Infekt ten müssen. Alle Vor- pflegt häufig schleichend in eine Bron- schläge reduzieren die so- chitis und Lungenentzündung überzuge- Dreßler: „Abschied vom Sozialstaat“ lidarisch finanzierten Lei- hen“, analysiert der Arzt. Würden die

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Kosten für den Infekt nicht erstattet, wohl aber die für Bronchitis, werde nur anders definiert – „statt grippaler Infekt dann fieberhafte Bronchitis“. „Vom Grundgedanken her“, sichern sich die Wissenschaftler in ihrem „Pfir- sich“-Modell gegen den Vorwurf der Zwei-Klassen-Medizin ab, „müßte ein Pflichtversicherter ohne Wahlleistungen ausreichend gegen Krankheitskosten geschützt sein.“ Doch wenn das ehrlich gemeint wäre, brächte die Neuerung nichts. Denn Komfortleistungen wie Chefarztbe- handlung und Einbettzimmer sind schon heute Sache privater Zusatzversi- cherungen. Offensichtlich geht es um mehr. „In einer weiteren Interpretation“, räumen die Professoren selbst ein, könnten auch notwendige Bestandteile der Kernversorgung zu Wahlleistungen ge- macht werden. Bedürftige müßten dann allerdings Sozialhilfe beanspruchen. Beim „Zwiebel“-Modell soll jeder Pflichtversicherte nach eigenen Wün- schen Versicherungsleistungen aus- Baring (M.), SPIEGEL-Redakteure*: „Nichts lief mehr“ schließen, die ihm nicht so wichtig sind. Sein Beitrag zur Krankenversicherung sinkt entsprechend. SPIEGEL-Gespräch Das „Torten“-Modell kombiniert die Möglichkeiten, bestimmte GKV-Lei- stungen abzuwählen, mit der Chance, andere zuzuwählen. „Er wollte sich Allen Modellen gemeinsam ist eine Systemänderung: Wer sich mit der Grundversorgung begnügt, ist künftig ein Klient der Billigmedizin. Helfen das Leben nehmen“ kann denen, die nicht genug Geld ha- ben, nur der Staat über die Sozialhilfe Der Historiker Arnulf Baring über die „Notizen“ Willy Brandts oder mit einem Zuschuß zur Kranken- versicherungsprämie. Mit solchen Vorschlägen können SPIEGEL: Herr Baring, Sie haben Willy darüber nach, wie ich Brandts Rücktritt Ärzte, Pharmaindustrie und Kranken- Brandts Notizen zu seinem Rücktritt beschreiben könne. Ich verabredete häuser ihre Preise erhöhen, ohne daß vergangene Woche gemeinsam mit Ih- mich mit Brandt im Hotel Schweizerhof der Beitragssatz der GKV steigt. Die rem englischen Kollegen Timothy Gar- in Berlin und fragte ihn, wann er eigent- Versicherten kriegen weniger für das- ton Ash analysiert. Was haben Sie dar- lich den Rücktritt als unvermeidlich er- selbe Geld. aus gelernt? kannt habe. Das Gutachten wird darum bei den Baring: Nichts Neues. Ich war äußerst SPIEGEL: Wußte er es? Lobby-Gruppen der Medizin-Branche verblüfft: Das sind genau jene Notizen, Baring: Das war das Seltsame. Er sagte ebenso wie bei den Standespolitikern die Brandt mir vor 13 Jahren vorgelesen zu meiner großen Überraschung: „Wis- der Ärzte großen Zuspruch finden. hat. sen Sie, das weiß ich selber nicht mehr, Der Minister hat sich darauf einge- SPIEGEL: Wie kam es damals dazu? das hab’ ich vergessen“ – er machte eine stellt. Seehofer will sich diesmal nicht, Baring: Anläßlich meines Buches über kleine Pause –, „vielleicht auch ver- wie bei der letzten Gesundheitsreform, den „Machtwechsel“ dachte ich lange drängt.“ Dann sagte er: „Wir müssen mit einem eigenen Konzept vorwagen. mal gemeinsam meine Notizen von da- Er will abwarten, was Pharmaindustrie * Joachim Preuß und Gerhard Spörl in Paris. mals angucken.“ und Kurdirektionen, Masseure und Zahntechniker an Vorschlägen aufgrei- fen, welche Ideen der Gesundheitsöko- Arnulf Baring Beteiligten sprechen. Immer wieder re- nomen sie sich zu eigen machen. dete er auch mit Brandt, der ihm schon Erst wenn der Sturm sich verzogen hat in seinem Buch „Machtwechsel“ 1981 seine „Notizen zum Fall G“ vor- hat, plant Seehofer, eigene Eckpunkte (1982) die Umstände und Hintergründe las, die nun, von Brigitte Brandt mit für ein Reformprogramm vorzulegen – von Willy Brandts Rücktritt im Jahr dem Hinweis veröffentlicht, Herbert irgendwann im Sommer. Das Wehge- 1974 umfassend beschrieben. Dank Wehner habe den Sturz mit Hilfe oder schrei der um Wählerstimmen besorg- der Protektion durch den damaligen gar im Auftrag Ost- betrieben, ten Parteifreunde, verspricht er mutig, Bundespräsidenten für Aufregung sorgen. Professor Ba- werde ihn nicht hindern: „Sonst kann konnte er Akten und private Aufzeich- ring, 61, lehrt Zeitgeschichte an der ich bis zur Wahl ja gleich Urlaub ma- nungen einsehen und mit sämtlichen Freien Universität Berlin. chen.“ Y

24 DER SPIEGEL 5/1994 SPIEGEL: Er hat aus den Notizen kein über „düstere Gedanken“ und auch dar- trag mit der DDR war im Dezember Geheimnis gemacht? über, daß er einen Brief verfaßt habe, 1972 unterschrieben worden, nun ging Baring: Nein. Wir haben uns dann in den er jedoch nach der Rückkehr nach es nicht mehr voran mit den Ausreisen. Bonn verabredet, in der SPD-Parteizen- Bonn vernichtet habe. Zum 60. Geburtstag im Dezember 1973 trale in einem kleinen, unscheinbaren SPIEGEL: Einen Rücktrittsbrief an Bun- erschien der SPIEGEL-Titel „Kanzler Büro. Er las mir die Notizen vor. despräsident ? in der Krise“. So dachten damals vie- SPIEGEL: Durften Sie die Notizen kopie- Baring: Nein. Damals in der Baracke ha- le. ren? be ich das auch erst gedacht. Er fragte SPIEGEL: Und diese Schwäche Brandts Baring: Nein. Ich machte mir ausführli- mich, ob ich denn wirklich verstanden kritisierte besonders Wehner? che Aufzeichnungen. Ein bißchen hätte, was er mit den düsteren Gedan- Baring: Ja, Wehner fand, Brandt sei in brenzlig wurde es für ihn. Denn später ken gemeint habe. Ich antwortete, so der Ostpolitik zur zögerlichen Figur ge- kriegte er großen Ärger mit Herbert wie Sie jetzt, wahrscheinlich sei es um worden. Aber nicht er allein war mit Wehner und . Sie war- seinen Rücktritt gegangen. Nein, sagte Brandt unzufrieden. Eine Rede von fen ihm vor, er sei wohl verrückt, mir so Brandt, er habe sich das Leben nehmen Helmut Schmidt in der SPD-Fraktion was zu zeigen. Deswegen war ich mir wollen, er hatte einen Abschiedsbrief an nach der Rückkehr Wehners aus Mos- auch nicht sicher, ob er etwas ausgelas- seine Familie verfaßt. kau, wo er gelästert hatte, Brandt bade sen hätte. Jetzt weiß ich, daß er mir SPIEGEL: Hatte denn dieser Gedanke an gerne lau, zeigte ganz deutlich, daß nichts vorenthalten hat. Selbstmord etwas mit Wehner zu tun? Schmidt auf die Wehner-Seite überging SPIEGEL: Es werden ja auch höchst pri- Baring: Nein, Brandt war in körperlich und daß die Kräfte sich neu gruppierten vate Dinge in den Notizen angedeutet, schlechter Verfassung. Er war magen- innerhalb der Führung. Schmidt witterte etwa jene ominöse zehnseitige Liste mit krank von einer Ägypten-Reise zurück- seine Chance, Brandt abzulösen. Brandt Damenbekanntschaften, die der Verfas- gekehrt, Zahnschmerzen plagten ihn au- wurde isoliert. Der ganze politische sungsschutz gesammelt hatte. ßerdem. Hintergrund ist entscheidend für den Baring: Ja, Klaus Kinkel, damals Gen- SPIEGEL: Und politisch ging’s seit länge- späteren Rücktritt Brandts. schers Bürochef im Innenministerium, rem bergab. SPIEGEL: Was bleibt von der Verschwö- hatte sie ihm nach Hamburg ins Hotel Baring: Nach dem großen Wahlsieg rungstheorie der Witwe Brandt? Atlantic gebracht. Das war am 1. Mai 1972, als Egon Bahr glaubte, die SPD Baring: Die Verdachtsmomente gegen 1974, Brandt war zur Mai-Kundgebung bleibe nun 20 Jahre an der Macht, lief Wehner scheinen sich bei in Hamburg. nichts mehr. Der Fluglotsenstreik zog im Laufe seines Lebens verstärkt zu ha- SPIEGEL: Viele glauben ja, daß die sich hin, die Wirtschaft lahmte, die Ost- ben. Meines Erachtens war er 1974, in Frauengeschichten der eigentliche politik klemmte. Der Grundlagenver- seinen Notizen, näher an der Wahrheit Rücktrittsgrund waren, da Brandt erpreßbar war. Darauf hat vor allem hingewiesen. Baring: Na ja, Wehner, der alte Puritaner, hat zu Brandt gesagt, wenn eine Pressekampagne mit Parlamentsanfragen der Opposi- tion losbreche, müsse Brandt sich ganz allein verteidigen. Wenn die Bild-Zeitung schreibe, der Kanz- ler habe mit dieser oder jener Da- me eine Liaison gehabt, könne nicht er, Wehner, oder irgendwer sonst im Bundestag behaupten, so sei es nicht gewesen. Das müs- se Brandt schon selbst überneh- men. SPIEGEL: Kommentierte Brandt die Frauen-Liste, als er Ihnen sei- ne Notizen vorlas? Baring: Nein. Mit mir hat er dar- über nicht gesprochen. Aber ich weiß, daß er zunächst, als er am 1. Mai 1974 beim Frühstück all die Namen las, ganz erhoben war, was die Verfassungsschützer ihm zutrauten – einem Mann von 60 Jahren. SPIEGEL: Haben Sie damals her- ausgefunden, wann Brandt den Entschluß zum Rücktritt fällte? Baring: Es gibt einen interessan- ten Punkt in den Notizen, der Brandts desolate Gemütsverfas- sung am Abend desselben 1. Mai 1974 widerspiegelt. Er schreibt

* Auf Helgoland. Kanzler Brandt (1974)*: „Er konnte nicht mehr, war mürbe“

DER SPIEGEL 5/1994 25 DEUTSCHLAND als später in seinem Buch „Erinnerun- SPIEGEL: Welchen Zweck verfolgte er halts: „Wenn ich abends an Ihrem Zim- gen“, das 1989 erschien. Da tritt plötz- damit? mer vorbeikomme, in dem immer noch lich Schmidt an Brandts Seite und ist ein Baring: Obwohl er zuckerkrank war und Licht ist, Herr Bundespräsident, dann alter, erprobter Freund, während Weh- keinen Rotwein vertrug, hat er mit dem weiß ich, daß da ein Mensch arbeitet, ner der Schwarze in der Ecke ist. CDU-Kanzler der an Deutschland und seine Zukunft SPIEGEL: Führen Sie die schmeichelhaf- ganze Flaschen Rotwein getrunken und denkt.“ Das gefiel natürlich Lübke. te Lesart des Rücktritts auf den Einfluß sich lange Abende um die Ohren ge- Weil er für die Große Koalition war, seiner Frau zurück? schlagen, um Kiesinger das Gefühl zu wurde er von Wehner gelobt. Baring: Ich glaube, daß Brandt um so geben, er, Wehner, sei ein verläßlicher SPIEGEL: Wie war Wehners Verhältnis weniger begriff, was damals passierte, je Partner und mit ihm lasse sich diese Re- zu Honecker wirklich? länger das Jahr 1974 zurücklag. gierung zusammenhalten. Das hat ja Baring: Wehner blickte immer auf die SPIEGEL: Was halten Sie von der These, auch die ganze Union geglaubt. Die DDR. Er fand, wenn Deutschland daß Herbert Wehner am Ende seiner Union war in einer Weise auf Wehner fi- schon kaputtgegangen sei, müsse sich politischen Tage näher an Erich Honek- xiert, die mir immer verrückt vor- die Bonner Regierung wenigstens um ker als an seiner Partei gewesen sei? kam . . . die Deutschen dort kümmern. Und das Baring: Eine der großen Begabungen SPIEGEL: . . . fixiert auf den schwieri- hieß für ihn: die DDR so lange zu umar- von Wehner war, Leuten, die er für gen Zeitgenossen Wehner? men, bis sie gar nicht anders könne, als wichtig hielt, seine Sympathie zu bekun- Baring: Wehner konnte, wenn er wollte, sich mit Bonn einzulassen. den und Nähe zu zeigen. Das hat er et- sehr charmant sein. Dem damaligen SPIEGEL: Folgt daraus eine gedankliche wa bei der Anbahnung der Großen Ko- CDU-Bundespräsidenten Heinrich Lüb- Nähe zu Honecker oder gar Abhängig- alition bewiesen. ke schrieb er Briefe, etwa folgenden In- keit von der Stasi?

Der gute Freund aus Amerika Karl Wienands Erinnerungen an CIA-Aktionen gegen Willy Brandt

urz vor den Bundestags-Abstim- Die Genossin war leicht angeschik- kommen. Sie habe einen anderen mungen über den Moskauer und kert. „Sie hatte sich offenkundig Mut wichtigen Termin. Kden Warschauer Vertrag im Mai angetrunken“, erinnert sich Wie- Was das denn für ein wichtiger Ter- 1972 bekam Karl Wienand, Parlamen- nand. min sei? Sie sei mit ihrem Freund ver- tarischer Geschäftsführer der SPD- Nach einigem Herumdrucksen sei abredet. Bundestagsfraktion, spät abends in sei- die Parlamentarierin mit der Sprache Dann habe die Genossin, berichtet nem Büro noch unangemeldeten Be- herausgerückt: Für die Schlußabstim- Wienand, gegen Kanzler Willy Brandt such. Eine sozialdemokratische Bun- mungen über die Ost-Verträge am und die Ost-Verträge vom Leder gezo- destagsabgeordnete wollte ihn vertrau- 17. Mai 1972 sei zwar Präsenzzwang gen. Sie könne nicht dafür stimmen, lich sprechen. angeordnet – aber sie könne nicht denn sie wolle dieser Verzichtpolitik

Sozialdemokraten Wienand, Wehner, Brandt (1972): „Ich habe es ja immer gewußt“

26 DER SPIEGEL 5/1994 Baring: Mein wichtig- ster Anhaltspunkt da- für, daß Wehner sich von seiner kommuni- stischen Vergangen- heit getrennt hatte, war seine Rolle als Parlamentarier. Das bleibende Bild, das ich von ihm in Erinnerung habe, zeigt Wehner im Parlament. Da saßen in nebensächlichen Sit- zungen vielleicht nur 10 oder 15 Abgeordne- te. Aber man konnte immer sicher sein: Ei- ner davon ist Wehner. Er hat uns allen De- Witwe Seebacher-Brandt mokratie als entbeh- „Vermutungen für Belege gehalten“ rungsreiche Pflichter-

keinen Vorschub leisten. Vor allem Gleich am nächsten Morgen erstat- die amerikanischen Verbündeten, die tete Wienand seinem Fraktionschef soviel für Berlin und Westdeutsch- Bericht. Herbert Wehner, kein Freund land getan hätten, dürften nicht brüs- der USA, habe getobt: „Ich habe es ja kiert werden. immer gewußt. Ich habe schon meine Mißtrauisch geworden, habe er die Gründe, warum ich dieses Land und Frau ausgefragt. Es sei für ihn neu, dessen Botschaft nicht betrete.“ daß sie einen Freund habe. Wer das Wienand erhielt vom „Onkel“ Or- denn sei? der, beim US-Botschafter zu interve- Bei dem Freund handelte es sich nieren. Die Stellung in der Botschaft – um einen US-Bürger, einen angebli- Kenneth Rush war abberufen, Nach- chen Geschäftsmann, den die SPD- folger Martin Hillenbrand noch nicht Parlamentarierin einige Wochen zu- angetreten – hielt in jenen turbulenten vor kennengelernt hatte. Tagen der Geschäftsträger Frank E. Die Abgeordnete sei dann, erzählt Cash. Wienand, ins Reden gekommen. Sie Cash entsinnt sich, daß Wienand ihn habe geschildert, wie sie mit diesem damals besucht habe. Worüber sie ge- Amerikaner allein oder auch im Krei- redet hätten, sei ihm jedoch entfallen. se mit einer anderen SPD-Bundes- Wienands Erinnerung ist um so prä- tagsabgeordneten und einem männli- ziser: Er habe die Einsätze von CIA- chen Fraktionskollegen über die Ost- Romeos gegen die Ostpolitik Brandts politik diskutiert habe. als „Skandal“ angeprangert, als klaren Da habe noch ein zweiter Ameri- Verstoß gegen die Absprache mit der kaner mitgeredet, der Bekannte einer US-Administration, wonach die Ost- anderen SPD-Abgeordneten. Die bei- politik zumindest von Washington den hätten massiv gegen Brandt und nicht behindert werden solle. Würden seine Ostpolitik Stellung bezogen, derartige Einmischungen in die inne- hätten mit ihren Argumenten auch ren Angelegenheiten der Bundesrepu- den Genossen, einen Hinterbänkler, blik nicht sofort abgestellt, werde er überzeugt. die Angelegenheit öffentlich machen. Wienand: „Da wußte ich, was Geschäftsträger Cash spurte. Nach lief.“ Rücksprache mit dem Stab des damali- Die sozial-liberale Koalition regier- gen US-Präsidenten Richard Nixon er- te 1972 mit knapper Mehrheit. Kanz- klärte Cash laut Wienand: „Sie können ler Brandt hatte am 27. April ein sich darauf verlassen, die beiden sind konstruktives Mißtrauensvotum der heute mittag draußen.“ So sei es ge- Opposition nur knapp überstanden. schehen. Wären die Ost-Verträge im Parla- Wienand gibt zu: Erst die Reaktion ment gescheitert – Brandt hätte sich des amerikanischen Diplomaten habe nicht länger halten können. Tatsäch- ihn endgültig in seinem Verdacht be- lich wurden sie am Ende glatt verab- stätigt, daß es sich bei den beiden schiedet, die CDU/CSU enthielt sich Freunden der SPD-Frauen um CIA- fast geschlossen. Spezialagenten gehandelt habe.

DER SPIEGEL 5/1994 27 DEUTSCHLAND füllung vorgelebt. Das zählt, mag er SPIEGEL: Haben die drei – Brandt, müssen. Statt dessen verbreitet sie Mut- auch einige totalitäre Charakterzüge be- Schmidt, Wehner – sich nach Ihrer An- maßungen und Gerüchte. halten haben. sicht ergänzt oder abgestoßen? Baring: Ich halte Brigitte Seebacher- SPIEGEL: An welche Charakterzüge Baring: Sie paßten nicht zusammen, weil Brandt für eine der begabtesten Publizi- denken Sie? sie so unterschiedlich waren. Und sie sten, die mir in den letzten Jahren neu Baring: Wehner hatte das Konspirative selbst haben es als Härte des Schicksals vor die Augen gekommen sind. Ich verinnerlicht. Ich erinnere mich an eine empfunden, daß sie zur selben Zeit Füh- fand, daß sie immer wieder originelle Unterhaltung, die vier Stunden dauerte. rungspositionen in der SPD innehatten. Denkanstöße gegeben hat. Aber in der Nach drei Stunden zog ich einen Zettel SPIEGEL: Hat sich die Troika gegensei- Wehner-Geschichte hat sie Vermutun- heraus, um zwei Daten zu notieren. tig behindert? gen, die Brandt selbst nicht öffentlich „Was schreiben Sie denn da?“ fragte Baring: Im Gegenteil, jedenfalls was ih- präzisiert hat, weil es eben nur Mutma- Wehner. Ich antwortete, ich machte mir re Wirkung aufs Publikum betrifft. Je- ßungen waren, anscheinend schon für Notizen, weil ich mir nicht alles merken der deckte ein anderes Spektrum ab. Belege gehalten. könne. „Da kann man sehen, daß Sie Die ökonomisch Interessierten, die In- SPIEGEL: Der Streit um den Brandt- nie konspirativ gearbeitet haben“, sagte dustrie- und Finanzwelt bis hin zu Jung- Nachlaß, den seine Witwe und die SPD er, „unsereiner kann doch ganze Tele- manager-Typen, fanden sich in Schmidt führen, ist durch die jüngsten Aufregun- fonbücher auswendig.“ wieder. Die Emotionalen, die bessere gen belastet worden. Wem gehört Willy SPIEGEL: Brandt legt nahe, daß ihn Menschen sein wollten, sich zur Partei Brandt – der Witwe oder der Partei? Wehner 1974 zum Rücktritt gedrängt des Lichts zählten, fühlten sich bei Baring: Dem ganzen Deutschland, ja, hat. Legende oder Wahrheit? Brandt zu Hause. Die sozialdemokrati- der ganzen Welt! Ich finde, eine Stiftung Baring: Wehner sann seit Monaten nach schen Parteiarbeiter, alle Kassierer und der Bundesrepublik wäre für Willy Möglichkeiten, Brandt loszuwerden, Funktionäre waren bei Wehner behei- Brandt eine große Ehrung. Im Sinne der Wissenschaft, und damit einer aufge- klärten Öffentlichkeit, ist eine Partei- stiftung nicht wünschenswert, beson- ders, wenn es um große und damit manchmal heikle Themen geht. SPIEGEL: Bei derlei Themen ließe die Friedrich-Ebert-Stiftung die Historiker nicht ins Archiv? Baring: Natürlich. Zurückhaltung üben alle Parteien und die ihnen nahestehen- den Stiftungen. Warum ist denn der Wehner-Nachlaß noch nicht ausgewer- tet worden? Da gibt’s viele Rücksich- ten. SPIEGEL: Auch Brandts Witwe steht im Verdacht, den linken Internationalisten Brandt hinter dem nationalen Patrioten verschwinden zu lassen. Baring: Da wird es eben sehr entschei- dend darauf ankommen, wie man die Klausel aus dem Brandtschen Testa- ment deutet, die alles ihm Zugängliche seiner Witwe überläßt. Und es kommt darauf an, was die SPD, die ja auch manche Unterlagen und manche Rechte hat, in die Bundesstiftung einbringt. Werktätige Witwe Und dann vor allem: wer in den Gre- mien sitzt. ganz subtil. Brandt, angeschlagen, wie er matet. Die drei waren eine einzigartig SPIEGEL: Herr Baring, als Willy Brandt war, brauchte dringend jemanden, der wirkungsvolle Kombination. im Oktober 1992 starb, war er ein Mo- ihm sagte, daß er wunderbar sei, uner- SPIEGEL: Herr Baring, haben Sie eine nument. Durch die Veröffentlichungen setzbar und deshalb durchhalten müsse. Erklärung dafür, daß die Ereignisse von seiner Witwe wird man daran erinnert, Das hat ihm Wehner natürlich nicht ge- 1974 heute noch soviel Wirbel verursa- daß er auch ein zuweilen entmutigter, sagt. Statt dessen wollte er Brandts Ent- chen? ängstlicher Mensch mit engen Seiten ge- schlossenheit, Willenskraft testen, die Baring: Dieses Land hat ja immer eine wesen ist. Wird sein Nimbus durch die Anfeindungen und Enthüllungen, die zu Neigung zu symbolischen Streitigkeiten. Ambitionen seiner Witwe beschädigt? erwarten waren, auszuhalten. Aber SPIEGEL: Nur die Deutschen? Baring: Das ist ja fast tragisch an der Brandt konnte nicht mehr, traute es sich Baring: Es gibt in Deutschland ein Über- Aufregung um seine Notizen. Er war nicht mehr zu. Er war mürbe. höhungs-, aber auch ein Ausweichbe- 1974 am Tiefpunkt seiner Karriere und SPIEGEL: Und Brandt hat sich später die- dürfnis. An der Beobachtung, daß hat sich später, erstaunlich für einen ge- se Schwäche nicht verziehen? die Deutschen Wirklichkeitsverweigerer scheiterten Politiker, wieder aufgerap- Baring: Das hängt auch damit zusammen, sind, ist eine Menge dran. Wir halten für pelt. Und bei seinem Tod hat man nicht daß jeder Politiker seine Nachfolger un- erschreckend, was wir in der Wirklich- nur in Deutschland getrauert. Für die zureichend findet. Wir haben doch keit sehen. Vernünftig wäre es, immer Veröffentlichung dieser Notizen gilt das Brandt nie so fröhlich erlebt wie 1982 zu fragen: Was sind die Fakten, von de- alte Sprichwort: Blinder Eifer schadet beim Rücktritt von Helmut Schmidt. nen wir ausgehen müssen? nur. Man muß politische Freundschaften in SPIEGEL: Aber gerade die Historikerin SPIEGEL: Herr Baring, wir danken Ih- den richtigen Proportionen sehen. Brigitte Brandt hätte die Fakten klären nen für dieses Gespräch. Y

28 DER SPIEGEL 5/1994 Ost-Berliner Palast der Republik: Sichtbares Objekt zunehmender DDR-Nostalgie

Asbest Bis aufs Skelett Zwischen Bonn und Berlin gibt¯s neuen Streit: Jetzt geht es um den Abriß des Palasts der Republik.

ie Frankfurter Allgemeine und die PDS-Postille Neues Deutschland Dwaren sich in der vergangenen Wo- che ausnahmsweise einig. Es gebe, be- fanden beide Blätter, keinen hinreichen- den Grund, den Ost-Berliner Palast der Republik abzureißen. Die häßliche Hinterlassenschaft des Honecker-Regimes darf vielleicht ste- West-Berliner Congress Centrum: Zukunft trotz Asbest henbleiben, weil Bautechniker am West- Berliner Konkurrenzbauwerk eine Ent- Die Bauministerin zeigt sich von der wietz, werde aber deshalb auf die Idee deckung gemacht haben: Das silbrige In- neu eröffneten Palast-Debatte unge- kommen, das Gebäude bis aufs Stahl- ternationale Congress Centrum (ICC) rührt. Der Abriß sei beschlossene Sa- skelett zu demontieren – „wenn man am Funkturm ist – ebenso wie der DDR- che, eine Sanierung nicht möglich. „Die den Palast weiter nutzen will“. Palast – asbestverseucht. heute bekannten Methoden“, so ließ sie Das von der Bundesanstalt entwickel- Nun steckt die für den Staatsbau Ost erklären, „können lediglich einen pro- te Sanierungsverfahren ist in Berlin be- zuständige Bonner Bauministerin Irm- blemlosen Rückbau ermöglichen, nicht reits an einer asbestverseuchten Schule gard Schwaetzer (FDP) in der Bredouil- aber eine Sanierung gewährleisten.“ angewendet worden. Ergebnis: Die le: Sie kann nicht erklären, warum das Das Gebäude, so der grausame Plan, neue Methode ist halb so teuer wie alle asbestverseuchte und 1990 geschlossene müsse „bis auf das Stahlskelett“ abge- zuvor eingesetzten Verfahren. DDR-Prachtstück plattgemacht werden baut werden, dazu gebe es „nach heuti- Bislang wurden die asbestverseuchten muß, das futuristische ICC im Westen gem Wissensstand“ keine Alternative. Baustoffe abgetragen, in Beton einge- aber bei laufendem Betrieb saniert wer- Die Bonner Ministerin steht mal wie- packt und dann beseitigt. Nun reicht ein den kann. der auf verlorenem Posten. Selbst Bau- Anstrich mit einer schnell härtenden Die Palast-Abreißer, höhnte das Neue Experten des Bundes halten mittlerwei- Kunststofflasur. Der so versiegelte As- Deutschland, „können jetzt jedenfalls le Irmgard Schwaetzers Abrißplan für bestmüll läßt sich leicht abtragen und schon mal den Erklärungsnotstand aus- voreilig. platzsparend deponieren. Die Gefahr, rufen“. Die Frankfurter Allgemeine ver- Die dem Wirtschaftsministerium un- daß die Ummantelung bricht und die langte neue Argumente: „Wer den Pa- terstellte Bundesanstalt für Material- Fasern wieder freigegeben werden, ist last nicht will, soll seine Gründe nen- forschung und -prüfung (BAM) mit auf ein Minimum reduziert. nen.“ Sitz in Berlin hat ein neues Verfahren Die Berliner Bundesanstalt ist mit ih- Die wahren Gründe der Bonner Ab- entwickelt und erfolgreich erprobt. Da- rem Tip für die Rettung des Palastes in rißwut lassen sich vermuten: Der Palast mit kann Honeckers Nachlaß ebenso sa- Bonn bislang schlecht angekommen. So ist weithin sichtbares Objekt einer zu- niert werden wie das westliche ICC. ließ Ministerin Schwaetzer durch ihre nehmenden DDR-Nostalgie in Ost- BAM-Experte Uwe Krawietz: „Wegen Sprecherin verbreiten, das Verfahren deutschland. Asbest muß kein Gebäude abgerissen sei untauglich: „Zehn Prozent des Asbe- Der Koloß am Marx-Engels-Platz war werden.“ stes bleiben liegen.“ zu SED-Zeiten nicht nur Staatsbau, son- Zwar müssen nach Ansicht des Ex- Für diese „Falschinformationen“ dern auch Bürgertreffpunkt. In der so- perten 720 Tonnen Spritzasbest aus dem (Krawietz) haben die Materialprüfer zialistischen Glasvitrine feierten die Ber- Palast der Republik entfernt werden. von der BAM nur eine Erklärung: As- liner Hochzeiten und Familienfeiern. „Kein vernünftiger Mensch“, so Kra- best ist ein politischer Stoff. Y

DER SPIEGEL 5/1994 29 Eine Wende ist nicht in Sicht. Im Lan- CDU de des populären SPD-Ministerpräsi- denten Johannes Rau, 63, traut das Wahlvolk der CDU nach fast 30 Jahren Opposition offenbar nichts mehr zu. Zoff statt Bei der Demoskopen-Frage, welche Partei in NRW am kompetentesten sei, rangieren die Sozialdemokraten auf 25 Zauber von 26 Feldern vor den Christdemokra- ten. Obwohl das Land von Arbeitslosig- Norbert Blüms Hausmacht ist keit und Massenentlassungen gebeutelt in desolatem Zustand. wird und unter einem Schuldenberg von knapp 115 Milliarden Mark ächzt, liegt Die NRW-CDU stolpert zerstritten die Rau-Partei sogar bei Wirtschaft und ins Superwahljahr. Finanzen weit vor der Union. Spitze ist die CDU nur auf Rang 26 der Liste: Lediglich eine „Gewährlei- ie Union an Rhein und Ruhr bot stung des Autofahrens“ trauen die ein Bild des Jammers. „Die Partei NRW-Bürger eher den Christ- als den Dbefindet sich zur Zeit im tiefsten Sozialdemokraten zu. Und je näher der Loch“, stöhnte CDU-Vormann Helmut Regierungsumzug von Bonn nach Berlin Linssen. Das war 1989. rückt, desto weiter wird die CDU wahr- Vorige Woche hat der stärkste CDU- scheinlich in der Wählergunst absacken. Landesverband eine ganz neue Erfah- Schon seit dem Berlin-Beschluß des rung gemacht: Auch wer „im tiefsten Bundestages im Juni 1991 treffen in den

CDU-Politiker Reul, Blüm: Verzweifelte Lage

Loch“ hockt, kann noch ein gutes Stück- CDU-Kreisgeschäftsstellen rund um chen tiefer sinken. Nach neuesten, bis- Bonn Tag für Tag zurückgegebene Par- lang unveröffentlichten Umfrageergeb- teibücher ein. Insgesamt sind aus der nissen liegt die CDU Nordrhein-Westfa- NRW-CDU seit 1990, aus verschiede- len in der Wählergunst derzeit bei 27 nen Gründen, mehr als 30 000 Mitglie- Prozent. Damit verglichen war das letz- der ausgetreten. te Landtagswahlergebnis, immerhin Die Ansehensverluste des Kohl-Kabi- 36,7 Prozent, fast schon ein Erfolg. netts haben die Düsseldorfer Strategen Bonner Wahlkampfplaner sind ent- bereits veranlaßt, sich von ihrem Vorsit- setzt. Wenn die CDU in Nordrhein- zenden und Kanzler hektisch abzuset- Westfalen, dem bevölkerungsreichsten zen. So tönten Mitte des Monats NRW- Bundesland, in ihrem Tief stecken- Generalsekretär Herbert Reul und bleibt, kann Helmut Kohl die Bundes- Fraktionschef Linssen, die Union sei in tagswahlen im Spätherbst kaum gewin- Bonn zu einer „Partei der täglichen Ver- nen: Mit einem Fünftel aller Stimmbür- unsicherung“ verkommen, das Image ger sind die Nordrhein-Westfalen schon der Bundes-CDU, „vorsichtig ausge- immer wahlentscheidend gewesen. drückt, sehr verbesserungswürdig“.

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Blüm, Nummer vier, darf CDU-Mann, könnten sich Parteifreunde nicht mehr. Das Parteivolk hat aus NRW, die Amt und Mandat in Bun- ihm nicht vergeben, daß er destag und -regierung eingebüßt haben, nach der Landtagswahlnieder- an der Konkurrenz um den Spitzenplatz lage 1990 nicht als Oppositions- in Düsseldorf beteiligen und Linssen ver- führer in Düsseldorf geblieben drängen. ist. Ebenso wie auf den Landtagslisten- Der Mindestpreis für eine platz Nummer eins spekuliert Linssen erneute Spitzenkandidatur auch auf den CDU-Landesvorsitz. Den Blüms bei den Wahlen im Früh- aber will Blüm auf keinen Fall preisge- jahr nächsten Jahres wäre ein ben, weil er auf seine Hausmacht nicht Verzicht auf Ministeramt und verzichten möchte – Stoff für neuen Zoff Bundestagsmandat gewesen. in der glücklosen Landes-CDU. Doch der Sozialminister denkt Wie sich die malade Partei berappeln nicht an Rückzug – im Gegen- soll, weiß auch Landes-Generalsekretär teil, er will im Herbst erneut für Reul nicht. Helfen könnte nur ein Wun- den Bundestag antreten. Die der – doch in der Politik, seufzt Reul, Spitzenkandidatur läuft damit „gibt es keine Zauberstäbe“. Y auf den farblosen Linssen zu, der aus dem Amt des General- sekretärs, ohne jeglichen Ge- Affären winn an Statur, in den Frakti- onsvorsitz gewechselt ist. Gewisse Fertigkeiten zeigt Kohls noch immer mitglieder- Küß den stärkster Landesverband nur beim Verschleiß politischer Köpfe. Wirtschaftsexpertin Geldfrosch CDU-Politiker Linssen Christa Thoben, 52, etwa, Mit- Tägliche Verunsicherung glied des CDU-Präsidiums und Seit voriger Woche steht auch als Nachfolgerin des Bonner der Stuttgarter Lotto-Chef Diesmal wenigstens erzielten die rhei- Generalsekretärs Peter Hintze im Ge- nisch-westfälischen Christdemokraten spräch, hat, frustriert über das Mittelmaß Peter Wetter unter Filz-Verdacht. Wirkung – bei Helmut Kohl. Der Kanz- in der NRW-Partei, den Landtag verlas- ler stauchte seinen dienstältesten Mini- sen. Ein Job als Hauptgeschäftsführerin ie Stuttgarter Lotterie-Verwaltung ster, den NRW-Landesvorsitzenden der Industrie- und Handelskammer Mün- bezeichnet sich gern als „Zentrale Norbert Blüm, 58, gleich zweimal laut- ster schien ihr verheißungsvoller als ein Ddes Glücks“. Innerhalb der Lotto- stark zusammen: Blüm möge doch, bitte Platz in der zweiten Reihe der Fraktion. Gesellschaft des Landes Baden-Würt- schön, seinen Laden daheim in Ordnung Fraktionschef Linssen muß versuchen, temberg ist Fortuna bislang insbesonde- bringen. seinen Anspruch auf die Landtags-Spit- re einem Manne hold gewesen: dem Doch der Kanzler erwischte den Fal- zenkandidatur noch vor der Bundestags- Landes-Lotto-Chef Peter Wetter, 63. schen. Blüm war von seinen Düsseldor- wahl 1994 durchzusetzen. Nach einer ver- Der ehemalige Landtagsabgeordnete fer Parteifreunden nur informiert wor- lorenen Bonn-Wahl, so schwant einem und Rechtsanwalt ist nicht zuletzt dank den, „daß da was kommt“. Schärfe und Eindeutigkeit der Attacke aus NRW hatten auch den Landesvorsitzenden überrascht. Reul, von Beruf Studienrat, verzeich- nete hinterher stolz einen Punktgewinn: „Jetzt haben wir in der Partei ein Stück an Bedeutung gewonnen.“ Das Gegen- teil scheint der Fall zu sein. Die schlappe Landes-CDU, höhnten Parteifreunde in der Zentrale im Bonner Adenauerhaus, habe nur des- halb so lautstark gegen Kohl gemotzt, weil sie von den eigenen Problemen ab- lenken müsse. Angesichts der „verzwei- felten Lage“ der Union in NRW sei das jedoch „ganz verständlich“. Geschadet haben die Düsseldorfer mit ihrer Bonn-Kritik vor allem ihrem Spitzenmann Blüm, der als Kabinetts- mitglied für alle Defizite der Bundespo- litik mitverantwortlich ist. Nachdem die Union in NRW seit 1966 drei Spitzen- kandidaten – Heinrich Köppler, Kurt Biedenkopf, Bernhard Worms – ver- schlissen hat, zeichnet sich immer deut- licher ab, daß ein fünfter her muß. Lotto-Zentrale in Stuttgart: Spezis auf lukrativen Posten

DER SPIEGEL 5/1994 31 seines CDU-Parteibuchs auf einen Stuttgart. Bezirksdirektor in Waiblingen traumhaften Posten gehievt worden: wurde der frühere Mitgesellschafter ei- Der „Lotto-König von Stuttgart“, wie ner Wetterschen Steuerberatungs Mitarbeiter ihn nennen, verdient GmbH, Peter Treffz-Eichhöfer. 177 000 Mark Jahresgrundgehalt, 70 000 Um Spezis auf lukrativen Posten un- Mark Tantiemen und 58 000 Mark Ab- terbringen zu können, hat sich Wetter geordnetenpension, residiert in einer mit Unterstützung des Aufsichtsratsvor- Vorstandsetage, die mit hellblauem bra- sitzenden Mayer-Vorfelder die passen- silianischem Quarzit und einem schwar- den Strukturen geschaffen: Im Auf- zen Steinway-Konzertflügel geschmückt sichtsrat drückte der Lotto-Chef die Re- ist, kann sich in zwei Dienst-Daimlern gelung durch, daß vor der Besetzung chauffieren und von zwei Sekretärin- von Bezirksdirektorenposten (Jahres- nen, zwei Damen einer Stabsstelle und spitzengehalt: 200 000 Mark) nicht mehr einer persönlichen Referentin zuarbei- drei Vorschläge präsentiert werden ten lassen. müssen, sondern nur noch einer. Wet- Seine Privilegien teilt Wetter gern mit ter: „Sonst wählen die mir einen, mit Menschen, denen er privat, geschäftlich dem ich nicht kann.“ oder politisch eng verbunden ist. Pech Geld, so könnte es scheinen, spielt für das Glückskind: Letzte Woche keine Rolle in Wetters Imperium. machte die Opposition im Landtag den Enorm gestiegene Kosten für Spielewer- begründeten Verdacht publik, Wetter bung (jährlich über 15 Millionen Mark), betrachte die Lotto-Gesellschaft als für Sponsoring (über eine Million) und „Familienbetrieb“ (SPD-Fraktion). für Öffentlichkeitsaktionen, bei denen Zugleich mit dem Lotto-Chef geriet er sich gern als Mäzen feiern läßt, ver- der Aufsichtsratsvorsitzende der Toto- brämt Wetter als Ausdruck einer „Phi- Lotto GmbH, der christdemokratische losophie des Aufbruchs“. Die Empfän-

Lotto-Freund Mayer-Vorfelder Kontrolleur im Bierkeller

intern, daß es bei Sonderauslosungen nicht mit rechten Dingen zugehe. Dubios sei auch der Verbleib nicht abgeholter Kleingewinne aus den Lotto-Verkaufs- stellen, bis zu 15 Millionen Mark pro Jahr. Davon flossen fünf bis sechs Millio- nen jährlich über Sonderauslosungen an die Spieler zurück. Was mit dem Rest ge- schehen ist, vermochte Wetter letzte Wo- che nicht schlüssig zu erklären. Finanzminister Mayer-Vorfelder schweigt sich zur Stuttgarter Lotto-Affä- re bisher aus. Er hat das Schicksal seiner Wiesbadener Kollegin Annette Fug- mann-Heesing vor Augen, die wegen des hessischen Lotto-Filzes vorletzte Woche ihr Ministeramt verlor. Mayer-Vorfelder (Kürzel: „MV“) ist nicht nur als Aufsichtsratsvorsitzender oberster Kontrolleur Wetters, sondern auch als Präsident des Stuttgarter Bun- desligaklubs VfB mit Toto-Lotto indirekt Lotto-Chef Wetter: „Philosophie des Aufbruchs“ verbandelt. Leuten aus dem MV-Verein hat Wet- Landesfinanzminister Gerhard Mayer- ger von Lotto-Aufträgen verdienen gut, ters Lotto-Zentrale häufig schon Gefäl- Vorfelder, 60, unter Druck. Der Mini- die Qualität ihrer Arbeit allerdings ist ligkeiten erwiesen. Der frühere VfB-Mit- ster hat mittlerweile eine Wirtschafts- gelegentlich zweifelhaft. telstürmer und CDU-Stadtrat Hermann prüfungsgesellschaft mit der Klärung Von der Designerin Nicole Dürr, Ohlicher etwa ist auf einem der begehr- der Vorwürfe beauftragt. Tochter des Bahn-Chefs, ließ die Lotto- ten Bezirksdirektorenposten gelandet. Fest steht schon jetzt: Wetter hat Gesellschaft eigens eine Mitarbeiter- Der aktive VfB-Spieler Guido Buchwald nicht nur seine Ex-Ehefrau Brigitta in kluft sowie eine Sportbekleidungsserie bekam einen Werbevertrag. Eine Ver- der Lotto-Zentrale untergebracht (in für Lotto-Kunden (Slogan: „Küß den tragsverlängerung im Sommer 1992 seiner „Stabsstelle für Kunstbegegnun- Geldfrosch“) entwerfen. Die Jogging- wurde am Aufsichtsrat vorbeientschie- gen“). Er hat darüber hinaus seinen anzüge, Stückpreis 79 Mark, erwiesen den. Schwippschwager Hans Pauli („Cham- sich wegen platzender Nähte als nahezu Kontrolleur Mayer-Vorfelder selber pagner-Paule“) zum Lotto-Bezirksdi- unverkäuflich – „ein glatter Flop“, wie kann immer mal wieder einen lotto- rektor in der Spielkasino-Stadt Baden- ein Mitarbeiter urteilt. eigenen Bierkeller nutzen: Die Tränke Baden gemacht. Eine Bekannte, Chri- Vergangene Woche geriet die Lotto- unterhalb der Stuttgarter Glückszentra- stine Gugel (Wetter: „Ich bin mit ihr per Zentrale auch noch in den Verdacht des le trägt im Haus den Namen „MV-Kel- Sie“), sitzt auf dem gleichen Posten in Spielerbetrugs: Bedienstete kritisierten ler“. Y

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ist riskant, womöglich sogar lebensge- Vorn drücken zwei Räder auf die Gangster fährlich für Karstadt-Kunden. Schiene, ein Elektromotor soll sie per „In der Kriminalgeschichte einmalig“ Zahnriemen antreiben. Kabel schlängeln sei die letzte der bislang 29 versuchten sich zu acht Panasonic-Akkus an den Geldübergaben gewesen, sagt der Ham- Flanken des Gefährts, hinten lugt ein ro- Braten burger Kriminaldirektor Michael Dale- ter Knopf aus einem Kasten mit der Steu- ki, 45, Chef aller Dagobert-Fahnder. erelektronik. Zwischen Motor und Am vorletzten Samstag schickt Dago- Steuerung harrt die Ladefläche des Löse- in der Luft bert die Geldboten auf das Gelände des geldes. Güterbahnhofs Charlottenburg. Auf ei- Für wahrscheinlich 1,4 Millionen Mit skurrilen Methoden versuchen nem stillgelegten Gleis steht eine Holz- Mark, die Polizei verrät die genaue Sum- Polizei und Karstadt-Erpresser kiste. Die Fahnder klappen die Mini- me nicht, will Dagobert mit dem Bom- Garage beiseite und staunen. benlegen aufhören. Fahndung und Bom- Dagobert einander auszutricksen – Auf dem Gleis wartet startklar eine benschäden dürften bislang schon etwa eine lebensgefährliche Taktik. wundersame Maschine, so groß wie ein 30 Millionen Mark verschlungen haben. Skateboard, nur viel schneller. „Wenn Die Polizisten klemmen ihr Bündel, er so etwas bauen kann“, so Chef-Fahn- angeblich Geldscheine, in Plastik ver- wei Tage lang galt Hans-Joachim der Daleki später, „kann er auch eine schweißt, auf die Eigenbau-Lore. Dann Thiemen, Elektromechaniker im ganz gefährliche Bombe basteln.“ drücken sie den Startknopf. Mit 50 Stun- ZRuhestand, als Deutschlands pro- denkilometern und reichlich Krach zischt minentester Verbrecher. Denn der das Maschinchen in die Nacht. Hobby-Bastler aus Berlin-Kladow hat Über Bahnschwellen und kullernden sich unter anderem einen Unimog ge- Gleisschotter hasten Polizisten hinter- baut, 65 Zentimeter lang und, Ehrensa- her. Plötzlich detonieren zwei Böller, ge- che, ferngesteuert. Das tüchtige Modell- zündet mit Hilfe von Stolperdrähten, die gerät, sagt Thiemen, 67, könne sogar Dagobert quer über die Gleise gespannt „Schnee schieben und den Rasen verti- hat. Geld und Häscher, so weiß der Er- kutieren“. presser in seinem Versteck nun, sind auf Thiemens Tüftel-Talent weckte das dem Weg zu ihm. Interesse der Polizei: Am Montag ver- Aber nach einigen hundert Metern gangener Woche standen plötzlich zwei sausender Fahrt entgleist die Maschine, Beamtinnen vor der Tür. „Kennen Sie obwohl Dagobert die Schiene gesäubert, Dagobert?“ fragten sie den Rentner ge- wucherndes Gestrüpp gestutzt und sein radeheraus. „Ja“, antwortete Thiemen, Spielzeug wohl auch getestet hatte. Es doch sei sein Bruder Dagobert leider prallt gegen eine Schwellenschraube, das schon seit zehn Jahren tot. Paket segelt in den Dreck – nur rund 30 Den Bruder freilich meinten die Be- Meter von Dagobert entfernt. Doch der amtinnen nicht. „Den Erpresser“ such- Erpresser flieht. ten sie vielmehr, „den aus der Zeitung“. Zurück läßt er einen Leinensack und Da dämmerte es dem Rentner. Derweil ein Stück Alufolie, in das er seine Beute inspizierten die Polizistinnen schon sein einwickeln wollte. Das Aluminium hätte Haus. wohl einen im Geld versteckten Peilsen- Am nächsten Tag rückten dann gar der außer Gefecht setzen sollen. sieben Kripo-Leute mit Hunden an, Maschine kaputt, Geld futsch – das durchstöberten „alle Ecken“ und zogen müsse „ein schwerer Schlag für den Tä- in der Werkstatt „alle Kästen raus“. Vor Dagobert-Jäger Daleki ter“ sein, sagt Oberfahnder Daleki. Wäre lauter Aufregung, grummelt der magen- Riskantes Spiel die Bonsai-Lore nicht aus rätselhaften kranke Bastler, „muß ich nun wieder meine Pillen schlucken“. 100 m Thiemen war in den Kampf der Poli- zei gegen den Karstadt-Erpresser Dago- stillgelegtes bert geraten, für dessen Ergreifung S-Bahn-Gleis A 100 100 000 Mark Belohnung ausgelobt nach Gartenfeld Versteck von sind. Seit 20 Monaten schon leimt der Dagobert e k gerissene Verbrecher die Kripo, offen- c ü bar mit wachsendem Vergnügen und zur r -B ll klammheimlichen Freude vieler Bürger. e s e s Dagobert steht als bewundertes Genie e i Beladen r Fahrt W da, Bücher werden über ihn geschrieben - e p f der Lore e S der Lore bis l r und die ersten Filme gedreht. Nur die o p zum Entgleisen d S u deutsche Polizei, schreibt das amerika- R nische Nachrichtenmagazin Time in sei- ner jüngsten Ausgabe, könne gar „nicht Stolperdrähte S-Bahn-Strecke mehr lachen“. Während Dagobert zum Kultgangster avanciert, sehen sich die Fahnder zu Unrecht als Volltrottel hingestellt. Ihr Fahrt auf dem toten Gleis Problem: Sie dürfen nicht sagen, wie Rekonstruktion der gescheiterten Schloßgarten clever sie ihrerseits Dagobert immer Geldübergabe in Berlin-Charlottenburg wieder ausmanövrieren. Denn ihr Spiel

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Gründen entgleist, so hätten seine Leu- konstruierter Schacht mündete, zu bleibt. Doch Daleki ahnt, daß der Mann te „keine Chance gehabt“. schmal für einen Verfolger. Unten im „außerordentlich gefährlich“ werden Die Tageszeitung, gestützt auf einen Gully saß Dagobert, einen Kopfhörer kann, wenn er die Geduld verliert. Informanten bei der Polizei, schrieb, die auf den Ohren, und belauschte die Poli- Letzte Woche hofften die Ermittler, Fahnder hätten bei Dagoberts Eisen- zisten per Richtmikrofon. daß sich zumindest einer der rund tau- bahn die „Notbremse“ gezogen und den Die Ermittler, so Dagoberts Anwei- send Tips, die bislang eingingen, als hei- rasenden Schlitten mit einem „fernge- sung auf einem Zettel, sollten das Geld- ße Spur erweist. Ein Anrufer hatte gar zündeten Sprengsatz“ vom Gleis geke- paket im Schacht deponieren. Es wäre darauf hingewiesen, daß Ulrich Tille, gelt – eine These, die offiziell, natürlich, in den Kanal gefallen, Dagobert in den Leiter der Sonderkommission Dagobert nicht bestätigt wird, obwohl einiges für Schoß. Doch die Fahnder, so hieß es zu- in Hamburg, einem Phantombild von sie spricht. mindest, hatten ihre Taschenlampen Dagobert ähnlich sehe. Als die Beamten Dagoberts Geschoß nicht dabei, obwohl sie das Geld nachts Die Zeichnung allerdings ist falsch. der Öffentlichkeit präsentierten, war es übergeben sollten. Ein Polizist hatte sich die Beschreibung offenbar vorher präpariert worden. Ka- Mangels Licht hätten sie, so die Les- ausgedacht. Dagobert war ihm ent- bel endeten funktionsuntüchtig in Lü- art der Polizei, den Zettel nicht recht wischt, weil der Beamte in einem Hau- sterklemmen, Schrauben fehlten. entziffern können und ihr Päckchen fen Hundekot ausglitschte. Die Scharte Zudem hatten die Fahnder im Herbst nicht im Schacht, sondern daneben ab- wollte er durch Phantasie auswetzen. den Einsatz von Sprengsätzen in Geld- gelegt. Wäre Dagobert hervorgekro- Mehrere Filmemacher wollen den paketen getestet. Weil sie Dagobert nun chen, hätten die Handschellen zuge- Gangster des Jahres (SPIEGEL nicht unbedingt töten wollen, erprobten schnappt. 52/1993) nun zum Star machen. „Boot“- sie die Wirkung im dämpfenden Papier, Erfunden ist wohl auch die Polizei- Regisseur Wolfgang Petersen hat Inter- indem sie mehrere Partien Schweinebra- Version eines anderen Übergabeversu- esse bekundet, für den NDR will Krimi- ten in die Luft jagten. ches. Anfang Januar 1993 sollte ein Be- Veteran Jürgen Roland drehen. Dagobert hatte bereits bei den vorhergegangenen Geldübergabeversuchen nicht die geringste Chance gehabt, an echtes Geld her- anzukommen. Die Polizi- sten narrten ihn mit wertlo- sem Papier oder mit un- glaublicher Trotteligkeit. „Linke Ware“ wie Pa- pierschnipsel, so beteuert Fahnder Daleki, sei nicht mehr im Spiel. Doch Dale- kis Worten glaubt kaum noch jemand – schließlich haben die Dagobert-Jäger schon von Anfang an gelo- gen, daß die Bomben krachten. Auf alle Forde- rungen hatten sie angeblich eingehen wollen. Doch im August 1992 et- wa plumpste dem Erpresser die Geldtasche zwar wie ge- fordert von einem Zug vor die Füße. Sie enthielt aber Entgleiste Elektro-Lore*: „Einmalig in der Kriminalgeschichte“ nur Papier und eine Farb- bombe. Die explodierte plangemäß, rot amter in Berlin die Geldtasche auf ein Der Privatsender Sat 1 hat gar vier bekleckert wie ein Schlachter strampelte Funksignal hin aus einer fahrenden Drehbuchautoren auf den heißen Stoff Dagobert auf seinem Fahrrad, für 550 S-Bahn werfen. Doch als der Geldbote angesetzt. Die Schreiber hoffen allen Mark bei Karstadt gekauft, einem Heer die Tür öffnete, hätten ihn Fahrgäste für Ernstes, daß sich Dagobert bei ihnen von Fahndern davon. einen Selbstmörder gehalten und samt meldet, um die Filmhandlung „zu beein- Vor einer Geldübergabe in Berlin- Tasche in den Waggon zurückgezerrt. flussen“, so Sat-1-Sprecher Dieter Zur- Britz garnierten Dalekis Leute die Pa- Kaum zu glauben, daß der Polizist mit straßen: „Das Ende bleibt offen.“ pierschnipsel mit einem Peilsender und 1,4 Millionen Mark Bargeld ohne Be- Zugleich wird das „Phantom zum einem Bewegungsmelder. Das Paket de- gleitschutz mutterseelenallein durch Trendsetter“, bemerkte die Hamburger ponierten sie, wie gefordert, in einer Berlin kreuzte. Morgenpost. Im März soll das erste Buch Streusandkiste, deren Boden Dagobert Mit ihren Kriegslisten spielt die Poli- über ihn erscheinen, Dagobert-Masken aber zuvor aufgesägt hatte. Die Zauber- zei offenbar auf Zeit – wohl auch, um und T-Shirts mit dem Phantom-Bild sind kiste stand auf einem Gully, Dagobert Nachahmer abzuschrecken. Sie setzt schon auf dem Markt. kam von unten, entdeckte den Schwin- darauf, daß Dagobert, der bei seinen Auch der zu Unrecht verdächtigte del und floh durch die Kanalisation. Bombenanschlägen auf Karstadt-Filia- Berliner Rentner Thiemen mag dem Er- Am 15. Januar wiederum lotste der len bislang noch keinen Menschen ernst- presser nicht seinen Respekt versagen: Erpresser die Geldboten in den Berliner haft verletzt hat, bei seiner Strategie „Dumm ist der nicht“, rühmt er trotz sei- Stadtteil Steglitz. Dort hatte er einen ner Magenschmerzen den kriminellen Gully mit einem Tarn-Deckel Marke Ei- * Am Samstag vorletzter Woche in Berlin-Charlot- Bastelkollegen, „der hat richtig was genbau verschlossen, in den ein selbst- tenburg. drauf, der Junge.“ Y

34 DER SPIEGEL 5/1994 bund lehnt die Namenslö- Polizei sung sogar als „rot-grünen Schwachsinn“ ab. Die bayerische Polizei sieht in Namensschildern Altgold mit eine „ungeheuerliche Dis- kriminierung“ der Beam- ten. Es reiche, so das In- Lederlasche nenministerium, wenn die Beamten auf Verlangen ih- Frankfurts Polizisten tragen seit vo- re Visitenkarte vorzeigten. Das Saarland, Nordrhein- riger Woche Namensschilder – Westfalen, Berlin, Bremen Vorbild für andere Bundesländer? und Hamburg wollen an der Anonymität ihrer Poli- er nächtliche Spaziergänger in zeibeamten ebenfalls vor- Frankfurt-Eschersheim wollte erst nicht rütteln lassen. Dbloß seinen Hund schnell noch Doch die einstige Ein- mal Gassi führen, als plötzlich ein Poli- heitsfront hat unter dem zeiwagen neben ihm bremste. Eindruck der hessischen Die Beamten, die in dem Wohnvier- Erfahrungen zu bröckeln tel nach Einbrechern fahndeten, ver- begonnen. So spricht die langten die Papiere des Mannes und GdP in Hamburg bereits befahlen, er solle gefälligst seinen Polizist mit Namensschild: Ablegen bei Rotlicht davon, sie werde mögli- Hund anleinen. Der erregte Wortwech- cherweise ihre bisherige sel endete auf der Wache. die Wasserschutzpolizei gibt es ein Ex- Haltung revidieren. Die Kritiker scheint Ihre Namen, so beschwerte sich der traschild aus „blauem Stoff“. vor allem zu überzeugen, daß die Hes- aufgebrachte Bürger später beim Poli- Schon nach der einjährigen Testphase sen sogar eine Lösung für heikle Gegen- zeipräsidenten, hätten ihm die Beam- in Kassel und Heppenheim sprachen lo- den wie das Frankfurter Bahnhofsvier- ten nicht nennen wollen. „In solchen kale Polizeiführer von einem „geglück- tel gefunden haben. Dort dürfen die Be- Fällen“, sagt ein erfahrener Schutz- ten Versuch“. Die Polizeidirektion Hep- amten ihr Schildchen ablegen, wenn sie mann, „schaukelt sich der Streit dann penheim freute sich über „breite Akzep- Rotlicht-Lokale betreten. oft erst richtig hoch.“ tanz“. Die Kommunikation mit dem Der Bundesarbeitsgemeinschaft Kriti- Das Gezänk um Namensnennungen Bürger werde „erheblich erleichtert“. scher Polizistinnen und Polizisten, die ist in Frankfurt jetzt passe´. Aufgrund Lediglich mit der Technik hapere es: seit langem für eine Schilderpflicht plä- eines Erlasses des sozialdemokratischen Die Anstecknadeln, so die häufigsten diert, geht die hessische Regelung aller- Innenministers Herbert Günther, 64, Beschwerden, rissen Löcher in die dings noch immer nicht weit genug. Den müssen die 2600 Schutzpolizisten der Dienstjacken, bisweilen fielen die Schil- Verband stört, daß bei „geschlossenen Stadt seit voriger Woche ein Namens- der beim Anschnallen im Auto ab. Einsätzen“ (Polizeijargon) wie Demon- schild an ihrer Uniform tragen. In der Selbst ursprünglich skeptische Beamte strationen auch in Hessen weiterhin hessischen Provinz wurde die Neuerung waren nach kurzer Zeit kein Schilderzwang be- bereits Ende letzten Jahres eingeführt. von der neuen Idee so steht. „Hessens Polizei zieht No-name-Pro- begeistert, daß sie sich, Gerade bei solchen dukte zurück“, lobte die linke taz. etwa in Kassel, in „aner- Einsätzen jedoch, bei Der hessische Vorstoß markiert wo- kennungswürdiger Ei- denen es immer wieder möglich den Durchbruch in einem geninitiative“ (Polizei- zu Übergriffen komme, mehr als 20jährigen Streit um die An- protokoll) selber ein sei eine Namensnennung onymität der Schutzleute in den grünen strapazierfähigeres Mo- vonnöten, meint Win- Uniformen. Durch den Erlaß aus Wies- dell bastelten. Die Angst fried Holzinger von den baden geraten nun auch die anderen der Polizisten, sie müß- Kritischen Polizisten. In Bundesländer in Zugzwang. ten wegen der Nennung Niedersachsen etwa sei- Selbst die Gewerkschaft der Polizei ihres Namens mit Re- en zahlreiche Strafver- (GdP), die bundesweit noch immer pressalien rechnen, habe fahren gegen prügelnde „mit Nachdruck gegen jede Beschilde- sich nicht bestätigt. Polizisten nur deshalb rung von Polizeibeamten“ kämpft, ist Zwar kam es in eini- eingestellt worden, weil aufgrund erster Erfahrungen in hessi- gen Fällen zu Drohun- Schild-Varianten die Identität der Beam- schen Landkreisen „sehr angetan“ von gen wie „Den Namen Löcher in der Jacke ten nicht habe ermittelt dem Projekt. Mit der Namensnennung, werde ich mir merken“ werden können. lobt der GdP-Landesvorsitzende Hans- oder „Laß uns mal privat zusammen- In Baden-Württemberg, wo die Pla- georg Koppmann, werde „das Verhält- kommen“, wie die Kasseler Polizei ver- ketten – wie in Schleswig-Holstein und nis zwischen Bürger und Polizei verbes- merkt. Doch in keinem Fall seien Beam- Niedersachsen – lediglich auf freiwilli- sert“. te wirklich belästigt worden. „Negativ- ger Basis eingeführt werden sollen, hat Passend zur Dienstkleidung können erlebnisse“, heißt es auch aus Heppen- sich überraschend der Finanzminister die hessischen Polizisten zwischen drei heim, seien „nicht bekannt geworden“. quergelegt. Modellen wählen. Zur „Erstausstat- Trotz solcher Erfahrungen bleiben Der wolle, klagt das Innenressort, tung“ gehören ein „Namensschild alt- viele Polizei-Gewerkschafter vorerst die Plaketten nicht bezahlen. Für die goldfarben mit schwarzer Schrift und skeptisch. Mit der Preisgabe seines Na- Kassenverwalter sei ein freiwillig getra- Lederlasche“ sowie ein weiteres mit mens, so ein Sprecher des GdP-Bundes- genes Schild „kein zwingender Dienst- „Clipverschluß“. Modell Nummer drei vorstandes, gehe der Polizist ein „erhöh- kleidungsbestandteil“, sondern nur mo- ist „gestickt mit Klettverschluß“, für tes Risiko“ ein. Der Deutsche Beamten- disches „Accessoire“. Y

DER SPIEGEL 5/1994 35 Wahlen ’94 Die häßlichen Enkel Warum die Bürger ihre Politiker verachten – und wie sie künftig regiert werden wollen

is Sonntag, den 13. Mai 1990, galt fessorin in die Politik ebenfalls schwer zent, so ergab eine Emnid-Umfrage im Renate Möhrmann, 59,alseine ehr- enttäuscht: „Jetzt gehören Sie also Januar, wollten als Kanzler weder Hel- Bbare Bürgerin. Kollegen und Stu- auch zu denen“, beklagte sich der Metz- mut Kohl noch Rudolf Scharping sehen. denten an der Universität Köln achteten ger, „das hätte ich nicht von Ihnen ge- Vorbei die Zeiten der entgegenge- die Kompetenz der Professorin für Thea- dacht.“ streckten Hände, der Fahnenschwenker ter-, Film- und Fernsehwissenschaft, Be- Politiker – pfui Teufel: Das ist die und des Jubels. Ein Bad in der Menge kannte und Freundeschätzten ihre offene Stimmung im Lande zu Beginn des Su- konnten Politiker zuletzt im Vereini- und freundliche Art. perwahljahrs 1994. „Die da oben sind gungstaumel der untergehenden DDR Dann wurde sie Politikerin. ganz schön unten durch“, analysiert der nehmen. „Von einem Tag auf den anderen Gießener Politologe Claus Leggewie. Die allgemeine Ernüchterung, die schlugen mir Haß und Häme entgegen“, Nie zuvor waren die Regierenden in sich seitdem breitgemacht hat, eint Ost- erinnert sich Renate Möhrmann. „Voral- Deutschland so schlecht angesehen. De- und Westbürger. Sie haben erstmals ein lem bei jungen Leuten stieß ich auf totale moskopen meldeten zur Jahreswende gemeinsames Feindbild: die Politiker. Ablehnung.“ neue Minuswerte: Nur noch 17 Prozent „Die Deutschen würden offenbar am Kaum war sie nach der Landtagswahl aller Bundesbürger, so wenige wie nie, liebsten Politik ohne Politiker machen“, in Nordrhein-Westfalen als kulturpoliti- vertrauen Bundesregierung und Parla- faßt Hans-Joachim Veen, Sozialwissen- sche Sprecherin der CDU in das Düssel- ment. 76 Prozent halten die Männer und schaftler von der Konrad-Adenauer- dorfer Parlament eingezogen, schmück- Frauen der ersten Gewalt im Staat, die Stiftung, die weitverbreitete Stimmung ten Plakate ihren Arbeitsplatz im Insti- Abgeordneten, für überbezahlt. zusammen. tut: „Möhrmann, Kohl, Blüm – welch ein Die Köpfe, die diesmal zur Wahl ste- Im allgemeinen Verdruß feiern politi- Ungetüm.“Ab sofort wurde die Neupoli- hen, scheinen mehr als einem Drittel sche Emporkömmlinge verblüffende Er- tikerin für jedes Übel, gleich welcher Art der Bevölkerung unattraktiv: 38 Pro- folge – einfach weil sie sich vom Polit- und von welcher Partei auch immer ver- Establishment absetzen. Am vorvergan- ursacht, in Haftung genommen: „Schuld * Links: im November 1992 bei einer Kundge- genen Wochenende gründete der ehe- hatte immer ich.“ bung in Berlin; rechts: Die Mutter eines heimge- malige FDP-Mann Manfred Brunner kehrten Kriegsgefangenen bedankt sich bei der Die Kölner Nachbarschaft quittierte Ankunft des Kanzlers aus Moskau auf dem Flug- seinen „Bund freier Bürger“. Die Ham- den Wechsel der bis dato beliebten Pro- hafen Köln-Wahn 1955. burger Statt Partei des CDU-Dissiden-

Ein Feindbild haben die Deutschen in Ost und West nun gemeinsam: die Politiker. Die politische Klasse ist nie zuvor auf soviel Verachtung im Volk gestoßen. Das gestörte Verhält- nis von Regierenden zu Regierten könnte schnell zu einer Krise der Demokratie werden. Denn immer mehr Bürger versu- chen, Politik ohne den Staat und seine Institutionen zu machen. Populistische Wortführer gegen das politische Esta- blishment finden massenhaft Zulauf. In den Parteien und unter Politikwissen- schaftlern hat die Suche nach Auswegen begonnen: Wie muß der Politiker der Zu- kunft aussehen? Müssen sich die Ge- wählten ändern – oder die Wähler? Müs- sen die Parteien demokratischer werden – oder muß ein neues Wahlrecht her? Zum Auftakt des Super-Wahljahrs 1994 veröffentlicht der SPIEGEL in loser Folge Berichte und Analysen über die Suche von Politikern, Wissenschaftlern und enga- gierten Bürgern nach einer neuen politi- schen Kultur und über die Chancen, die Demokratie vor der Verdrossenheit ihrer Bürger zu bewahren. Volkszorn-Ziel Weizsäcker, Verehrungs-Adressat Adenauer*: „Die allgemeine

36 DER SPIEGEL 5/1994 ten Markus Wegner beschloß wegen des Reichtum der Regen- großen Erfolgs in der Hansestadt ihre Tiefer Sturz ten, die polemischen bundesweite Ausdehnung. Urteile über die Bundesregierung Analysen des Kölner Soziologen Erwin K. Politikerhaß ist populär. Selbst Fuß- Angaben für alte Bundesländer in Prozent, jeweils Januar; baller, sonst nicht eben Experten in poli- an 100 fehlende Prozent: keine Angabe Scheuch über die poli- ticis, fühlen sich zu markigen Sprüchen 80 77 tischen Klüngel er- herausgefordert. Carsten Pröpper, Kik- reichten schnell die ker beim FC St. Pauli, antwortete auf die Spitzenplätze der Sel- Frage der Hamburger Morgenpost „An 70 ler-Listen. wen oder was glauben Sie?“ unbesehen: Die Kritik geht an „An die Korruptheit der Politiker“. 60 die Substanz. Wenn Der jahrelange Spott über den Bundes- 50 Politiker als „Absah- kanzler als „Birne“wirktgeradezu famili- 50 ner“ und „Abkassie- är im Vergleich zu den Urteilen, die De- 48 rer“ diffamiert wer- moskopen nun über die Politiker ermit- 40 den, warnt die Bun- teln. destagspräsidentin Ri- „Unehrlichkeit, Bestechlichkeit, Ei- 30 ta Süssmuth, berühre gennützigkeit“ fällt zur Zeit nahezu 40 dies die Wurzeln des Prozent der Deutschen ein, wenn sie von 20 demokratischen Sy- Meinungsforschern auf die wesentlichen 21 stems. Aus Sorge um die Eigenschaften von Politikern angespro- 10 chen werden. Korruption, so glaubt fast positiv Grundfesten des Staa- die Hälfte der Bürger, sei geradezu regel- negativ tes regte Süssmuths mäßig mit Politik verknüpft. 0 Stuttgarter Kollege, Die Abneigung äußert sich nicht nur an 198384 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 der baden-württem- den Stammtischen, sondern ebenso in bergische Landtags- den Chefetagen. Fast drei Viertel aller teressenverbänden. Mag es auch unge- präsident Fritz Hopmeier, 64, schon Not- Führungskräfte, so ergab eine Allens- recht sein: Die Hälfte des Wahlvolks standsmaßnahmen an: Künftig sollten bach-Umfrage, halten die Bundesregie- hält ihre Vertreter für weniger intelli- nicht mehr so viele Schüler ins Parlament rung in wichtigen Fragen für inkompe- gent als die Chefs in den Führungseta- gelassen werden. tent. gen der Wirtschaft. Bei den Sitzungen, so Hopmeier, seien Die Parlamentarier sind nach Ansicht Fundamentalkritik an der politischen häufig nur sehr wenige Abgeordnete an- ihrer Wähler unzuverlässig und nicht ge- Klasse verkauft sich massenhaft: Ri- wesend. Die jungen Leute zögen daraus rade helle. Nur 14 Prozent, so ermittelte chard von Weizsäckers populistische falsche Schlüsse auf die Arbeitsmoral der Emnid, glauben, daß die Bundestagsab- Generalabrechnung mit der „Machtver- Volksvertreter und kämen über den Sinn geordneten die Wähler aus ihrem Wahl- sessenheit“ der Politiker, die pingeligen des Parlamentarismus ins Grübeln. Das kreis auch wirklich vertreten, 28 Prozent Additionen des Diätenprofessors Hans könne nicht gutgehen, hat Hopmeier ge- sehen sie im Dienst von Lobbys und In- Herbert von Arnim über den heimlichen merkt: „Die verachten uns.“ Der öffentliche Unmut geht darüber hinweg, daß die meisten Politiker, im Vergleich etwa zu Wirtschaftsführern, ei- nen relativ unattraktiven Job haben: Sie sind schlecht bezahlt, häufig im Streß und ständig mit dem Risiko des Rauswurfs be- droht. Entsprechend groß ist das Selbst- mitleid der Amtsinhaber. Er habe, sagt Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU), „die Schnauze voll“. Die „allgemeine Politikerbe- schimpfung gehört inzwischen zum amü- santen Zeitvertreib“. Der Minister setzt dagegen: „Ich bin mein Geld wert.“ Oskar Lafontaine (SPD), der das auch glaubte und dann wegen allzu üppiger Versorgungsbezüge ins Gerede kam, sieht sich ebenfalls zu Unrecht verfolgt: „Häme und Gehässigkeit“ würden ge- zielt von den Medien über Politiker wie ihn ausgeschüttet. Verlottert, meint CDU-Politiker Friedbert Pflüger folgerichtig, seien nicht so sehr die Bonner Regenten, sondern ei- gentlich die Untertanen. Korruption, Af- fären, Filz? „Intrigen, Seilschaften und Vorteilsnahme sind nicht der Politik vor- behalten“, rechtfertigt der Bonner die Bonner Zustände. „Die Verdrossenheit der Bürger“, for- Politikerbeschimpfung gehört inzwischen zum amüsanten Zeitvertreib“ muliert der Pforzheimer Oberbürgermei-

DER SPIEGEL 5/1994 37 ster Joachim Becker (SPD), „ist auch mand, und gewiß nicht die sonst maßge- Machtgehabe des Königs, der jeden Ursache der Verdrossenheit der Politi- benden Politiker, in der Lage ist, neue Morgen den Sonnenaufgang befiehlt. ker über den Bürger.“ Denn jetzt begin- Orientierung zu bieten“. „Obwohl der Postminister alles tut, um ne das Volk jeden Maßstab zu verlieren: Der Staat, den die Bürger kennen, die Post zu ruinieren“, schimpfte Enzens- „Die Bürger überfordern den Staat.“ war ein Schönwetterstaat. Jahrelang berger, „kommen immer noch Briefe an. Sind die Bürger übergeschnappt oder funktionierte er quasi von allein. 1987, Obwohl der amtierende Kanzler sich wie alle Politiker Versager? Die Wahrheit als noch niemand sich vorstellen konnte, der Elefant im Porzellanladen aufführt, ist, daß mit dem überkommenen Hand- was schon zwei Jahre später geschah, rä- gedeihtder Osthandel. Eine Firma,dieso werk der Politik kein Staat mehr zu ma- sonierte der Schriftsteller Hans Magnus geführt würde wie die Regierung, wäre chen ist. Enzensberger im SPIEGEL über die längst pleite.“ Die Umfragen der Meinungsforscher Bonner Politik: „Die Bundesrepublik Jetzt ist die Pleite da. Doch die Politi- bestätigen nur, was die professionellen kann sich eine inkompetente Regierung ker sind noch immer dieselben. „Die Bür- Beobachter schon lange prophezeien: leisten, weil es letzten Endes auf die ger spüren“, sagt der Münchner SPD-Po- Der Zusammenbruch der alten Ord- Leute, die uns in der ,Tagesschau‘ lang- litiker Peter Glotz, „diese Leute können nung mit dem Ende des Ost-West-Ge- weilen, gar nicht ankommt.“ uns nicht helfen, selbst wenn siewollten.“ gensatzes hat das Verhältnis von Staat Das lange gepflegte Selbstbild der Poli- und Gesellschaft zerrüttet. tiker alsMänner, dieGeschichte machen, Zum erstenmal seit dem Zweiten „Die Bürger spüren, zeigt sich in der Krise als Trugbild. Diese Weltkrieg, resümiert der britische Poli- diese Leute Leute, so scheint’s nun, sind gerade mal tologe Anthony King, seien die „führen- gut für Geschichtchen. den Politiker der Welt“ ohne ein Ideen- können uns nicht helfen“ Wo das Vertrauen der Bürger in die system, das ihnen sagen könnte, „was zu Machtausübung schwindet, schärft sich tun ist“. So sei es möglich, daß „beinahe Der SPD-Politiker Christoph Zöpel der Blick für die kleinen Sauereien: „Die alle Anführer in der demokratischen beschreibt in einem Thesenpapier zur öffentliche Skandalbereitschaft“, meint Welt zur selben Zeit unpopulär sind“. Politikerverdrossenheit die achtziger der Berliner Soziologe Sighard Neckel, In Deutschland, das sich mit seiner ei- Jahre als die Epoche der lauwarmen Po- „ist deutlich gestiegen.“ genen Vereinigung quält, spitzt sich zu, litik: In den fünfziger und sechziger Jahren, was die meisten Länder Europas befal- Bis 1988 gab es einen weitgehenden glaubt der Skandalforscher Neckel, hätte len hat: eine „Krise der politischen Re- Konsens in den westlichen Industriege- es „nicht weniger Anlässe für Skandale präsentation und der politischen Teil- sellschaften, den auch das politische gegeben als gegenwärtig“. Verlottert war nahme“, so der französische Soziologe System weitgehend verinnerlicht hatte: die Republik schon damals. „Vom Eifer Alain Touraine. Die Politik sollte gegenüber anderen des Wiederaufbaus und vom Antikom- Das „Mißtrauen gegen die Politiker“, gesellschaftlichen Bereichen an Be- munismus als Staatsdoktrin verdeckt, analysiert der italienische Politikprofes- deutung verlieren. In den westlichen konnten ehemalige Mitglieder der sor, Diplomat und Deutschlandkenner Gesellschaften war eigentlich alles NSDAP ihre politischen Karrieren star- Luigi Vittorio Ferraris, sei nichts ande- ganz gut geregelt und Politik so mehr ten, Politiker sich von der Wirtschaft be- res als das „unterschwellige Bewußtsein, und mehr überflüssig. stechen lassen“ – meist folgenlos, so daß es nach dem Verschwinden von Neckel. richtigen und falschen Idealen keine Regieren erschien, zumindest im Die wenigen richtigen Groß-Skandale Ansatzpunkte mehr gibt und daß nie- nachhinein, vergleichbar mit dem – die Affären um den SPIEGEL, um den Schützenpanzer HS 30, das bayerische Filzunterneh- men Fibag und um die Be- schaffung des Starfighter – hingen denn auch alle mit ein und demselben Namen zusammen: Franz Josef Strauß. Neben die großen, für das Bild der Politik verhee- rend wirkenden Skandale wie die Parteispendenaffäre und den Fall Barschel ist mittlerweile ein Allerlei der kleinkarierten Fälle getre- ten. „Die Skandale“, mo- serte schon die Grüne Antje Vollmer, „werden ja immer kleiner. Es geht inzwischen um Tankzettel und Renten- abrechnungen.“ Von den kleinen miesen Geschichten sind typischer- weise Politiker betroffen, deren Machtausübung als besonders unangemessen gilt. Der erste schwere Fall dieser Art traf Lothar Späth Spärlich besetzte Bundestagsdebatte: „Die Bürger überfordern den Staat“ (CDU), der als Minister-

38 DER SPIEGEL 5/1994 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite präsident von Baden-Württemberg te gelten. Selbst Franz Josef Strauß, selbstherrlich den Glanz der Macht ge- affärenbelastet wie kein zweiter Nach- Saubere Trennung nossen hatte. Vorwürfe über allzu enge kriegspolitiker, erscheint der Nachwelt „Viele Spitzenpolitiker sitzen in und profitable Freundschaften mit Indu- als ruhmreiches Mitglied einer Politi- zahlreichen Gremien und Aufsichts- striellen, luxuriöse Segeltörns, ge- kergeneration von gutem Schrot und schenkte Urlaube und Freiflüge brach- Korn. räten von Unternehmen und Interes- ten den Stuttgarter Polit-Protz zu Fall. Heute wirkt die deutsche Politiker- senverbänden. Ist das eher nützlich, Nur knapp am Sturz vorbei kam der elite provinzieller als je zuvor. Statt weil Politik und Wirtschaft so enger Sonnenkönig von der Saar, Oskar La- Staatsmännern, so scheint es, hat eine und effektiver zusammenarbeiten, fontaine (SPD), bundesweit im Ruf als Junta von Abteilungsleitern die Macht oder eher schädlich, weil Politiker zu begabter Machthaber mit einem Hof- übernommen. leicht in Abhängigkeit geraten staat von Filz und Seilschaften. Lafon- Das Charisma, das ihnen fehlt, soll können?“ taine mußte sich die überhöhte Berech- nun nachgebessert werden. Zahllose nung seiner Versorgungsbezüge nach- Imageberater und Werbestrategen mü- weisen lassen. Schließlich zahlte er das hen sich, fehlende Substanz und Aus- eher schädlich Geld, rund 100 000 Mark, freiwillig zu- strahlung der Mächtigen publikums- rück. wirksam aufzupolieren. 21 75 In Sachsen-Anhalt stürzte eine ganze Mal ist es eine neue Brille, die dem Regierung wegen Mauscheleien bei der Volk Vertrauen einflößen und Kompe- eher nützlich Berechnung der Ministergehälter. Im tenz vorgaukeln soll, dann der Schnitt Vordergrund der Affäre standen zwei des Haares. Mal soll flotte Kleidung Westdeutsche, die schon zuvor durch dröge Erscheinungen aufpeppen, dann besondere Großkotzigkeit aufgefallen ist es der kräuselnde Wuchs ums Kinn, waren: Regierungschef Werner Münch der stört. So weiß der Münchner Image- (CDU) und sein Innenminister und Par- berater Thomas Helmensdorfer dem teifreund Hartmut Perschau. SPD-Kanzlerherausforderer Rudolf Wer zur Polit-Elite gehören soll, wird Über die wohl kleinste Kiste in der Scharping zu raten: „Der Bart muß ab.“ nach Scheuchs Erkundungen „in kleinen bundesdeutschen Skandalgeschichte Erstens verbreite dieser von Verhal- Cliquen auf Kreisebene ausgesucht“, stolperte der Bonner Verkehrsminister tensforschern als „Drohgebärde“ er- denn dort werde entschieden, wer über- Günther Krause (CDU). Da ging es, kannte Haarwuchs „Furcht und Schrek- haupt in die Politik komme: durch Zu- man mag es kaum erzählen, um öffentli- ken“, zweitens habe es bislang noch kei- teilung eines lokalen Wahlkreises. Auf- che Zuschüsse für die häusliche Putz- nen deutschen Bundeskanzler mit Bart wärts gehe es nur in „totaler Abhängig- frau. Doch bei dem Mann, der für viele gegeben. keit von der Partei“ und mit Hilfe von als Musterbeispiel eines Proporz- und Bart oder nicht Bart: Mit Imagepoli- Seilschaften. Klientelpolitikers galt, reichte ein tur glauben viele Polit-Profis etwas ret- Die kleine korrupte Mafia, die am Skandälchen dieses Kalibers für den ten zu können. Denn: „Es ist doch Stammtisch über die Auftragsvergabe Sturz. kaum vorstellbar“, empört sich der Poli- beim örtlichen Schwimmbad kungelt, „Warum“, fragt der Grüne Joschka tologe Hermann Scheer trotzig, „daß ei- bestimmt nach diesem Schema irgend- Fischer, „hat eigentlich niemand Hel- ne komplette Generation politischer wann die Weltpolitik – die dann auch mut Schmidt seine Diäten vorgewor- Repräsentanten mißraten sein könnte.“ danach ist. fen?“ Ein Zufall jedenfalls ist es nicht. Die Politikerkarrieren produzieren nach Der Altbundeskanzler, von dem heu- Personalauswahl hat Methode. Die hat Erfahrungen des Politikwissenschaftlers te noch 55 Prozent der Bürger regiert am nachdrücklichsten der Kölner Sozio- und Buchautors („Die politische Klasse werden möchten, mehr noch Willy loge Erwin K. Scheuch beschrieben. in Deutschland“) Thomas Leif „eher Brandt oder – das Parteibürokratie und Provinzklüngel, den Lerntyp des ,Angepaßten‘“ als den waren Politiker, die vielen als Gegen- sagt der Professor, sorgten systematisch Typ des „charismatisch-kritischen bild zu den traurigen Typen von heu- für eine Negativauslese. Kopfs“. Jedes Charisma schleife sich

Über Affären gestürzte Politiker Späth, Krause, Münch: „Warum hat niemand Helmut Schmidt seine Diäten vorgeworfen?“

DER SPIEGEL 5/1994 41 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite schon früh ab bei der Eine „neue politi- „Ochsentour durch die Hitliste der Eigenschaften sche Managerklasse“, Parteigremien“ (Leif). „Welche Eigenschaften sind Ihrer Meinung nach typisch für einen so der Politologe El- Politik als Beruf, Politiker? Bitte nennen Sie alles, was Ihnen einfällt.“ mar Wiesendahl, habe vom Erfinder der mo- die Gründergeneration dernen Soziologie, abgelöst. Diese Enkel Max Weber, noch cha- 1984 1993 stehen nicht mehr für rakterisiert als Tätig- Visionen und Ideale. keit mit „Verantwor- 1 Rednergabe 1 Unehrlichkeit Sie gehören zur tungsgefühl, Augen- Dienstleistungsbranche maß, Leidenschaft“, 2 Erfahrung 2 Bestechlichkeit der Problemlösungs- besteht heute „in der profis. 3 Ehrlichkeit 3 Eigennutz Unterstützung dessen, Daß der Beruf Poli- was die Partei will, da- 4 Polemik 4 Handlungsunfähigkeit tiker einst so herunter- mit sie einen nomi- kommen werde, hat in niert“ (Richard von 5 Glaubwürdigkeit 5 Unglaubwürdigkeit den sechziger Jahren Weizsäcker). der Demokratietheo- Solche Erklärungen 6 Verlogenheit 6 Mutlosigkeit retiker und Parteien- sind so neu nicht, daß experte Otto Kirchhei- 7 7 Machtbesessenheit sie allein den dramati- Durchsetzungskraft mer vorausgesagt. Mit schen Generationen- 8 Arroganz 8 Inkompetenz ihrer Öffnung für wechsel von den möglichst breite Wäh- Großvätern zu den 9 Bestechlichkeit 9 Positionslosigkeit lerschichten, so pro- häßlichen Enkeln er- gnostizierte zutreffend klären könnten. Auch 10 Kompromißfähigkeit 10 Kurzsichtigkeit Kirchheimer, würden die Denkmäler deut- aus den Parteien cha- scher Politik blicken in rakterlose Dienstlei- der Regel auf eine Karriere als Partei- vativ katholisch bei der Union, klas- stungsunternehmungen für Polit-Ma- soldaten zurück. Welterfahrene Quer- senkämpferisch und gewerkschaftsnah nagement. einsteiger waren das meist nicht. bei der SPD. Entsprechend war die Den Verlust an politischer Substanz Brandt war nach seinen Jahren als Klientel. Und ihrem Milieu verbunden feierten die Parteien später als erfolgrei- Emigrant und Widerstandskämpfer das politische Personal. che „Modernisierung“ (Wiesendahl). Journalist, dann Abgeordneter, Bür- Mit der programmatischen Öffnung Doch da sie nun nicht mehr mit Pro- germeister, Parteivorsitzender, Mini- der großen Parteien lösten sich nicht grammen und Visionen um Wähler wer- ster, Kanzler; Helmut Schmidt – nach nur die traditionellen Wählermilieus ben können, sind sie darauf angewiesen, vier Jahren als Beamter bei der Senats- auf. Wechselnd wie die Wählerschaft einen Wettstreit der Köpfe auszutragen: behörde – immer nur Parteipolitiker. stellten sich auch die politischen Ziele Wer die attraktivsten Politiker hat, ge- Franz Josef Strauß war nie in seinem dar. winnt. erlernten Beruf als Gymnasiallehrer tä- „Für welche Zukunft kämpfen Pro- Die „Flucht in die Personifizierung“ tig, sondern zeitlebens CSU-Mann. gressive heute, und gegen welche Zu- ist nach Entdeckung des SPD-Politikers Verändert hat sich aber die politi- kunft denken und schreiben die Kon- Christoph Zöpel die Quelle neuerlicher sche Kultur. Parteipolitik war für die servativen von heute an?“ fragt der Enttäuschung. Denn, so legt das SPD- Gründergeneration des Nachkriegsstaa- CDU-nahe Münchner Publizist Warn- Präsidium in einem Thesenpapier zur tes geprägt von programmatischen fried Dettling. „Könnte es sein, daß Wählerverdrossenheit dar, die tragende Vorgaben und großen Zielen – konser- dies niemand so genau sagen kann?“ Rolle sei für keinen Politiker durchzu- halten. Das Geschäft der Enkel-Politiker flo- Der ideale Kandidat rierte nur so lange, wie es Probleme „Wie wichtig sind in Ihren Augen folgende Eigenschaften für einen Politiker?“ gab, die lösbar waren. Das Unterneh- men Demokratie feierte sein Manage- eher wichtig ment, solange es Gewinne machte. Vor- übergehende soziale oder konjunkturel- 94 le Krisen, selbst außenpolitische Ge- 91 89 88 78 schehnisse waren meist durch die geziel- te Ausschüttung größerer Beträge Guter Redner schnell zu beseitigen. G n eordnetes Privatlebe Doch seit ein paar Jahren stehen die Mora bild 38 Übe te lisches Vor erfolgsgewohnten Polit-Profis vor ganz rzeugende Argumen M t neuen Aufgaben. Und die zu lösen, ha- anagement-Qualitä ben sie nicht gelernt. „Der Ausgleich zwischen Westeuropa und Osteuropa, zwischen West- und Ostdeutschland“, 6 so der SPD-Stratege Zöpel, überfordere 9 11 12 das Polit-Management. 22 Niemand dürfte sich darüber wun- Gutes Aussehen dern. Doch das Volk, gewohnt, auf eher unwichtig Köpfe zu gucken statt auf Ziele, sich an Angaben in Prozent 62 Versprechen zu orientieren statt an Pro- blemen, nimmt übel.

44 DER SPIEGEL 5/1994 Alles wird noch schlimmer, weil viele ten: Unter dem Druck wach- der überforderten Politiker versuchen, sender sozialer Verteilungs- die alte Show weitergehen zu lassen wie kämpfe und der Notwendig- bisher – mit immer neuen Mätzchen. keit einer politischen Neu- Da hoppelt dann der FDP-Politiker orientierung zerfallen die de- Jürgen Möllemann mit Schwimmgöre mokratischen Gesellschaften „Franzi“ van Almsick auf dem Rücken in streitende, politisierende über die Fernsehbühne („Hü, Mölli, Grüppchen. hü“). Klaus Töpfer (CDU) stürzt sich „Der Bürger versucht, ohne flossenbewehrt in die trüben Fluten des den Staat zurechtzukommen“, Rheins. Norbert Blüm (CDU) läßt sich analysiert der italienische Poli- beim Zahnarzt ablichten und Hannelo- tologe Ferraris – weil er sich re Rönsch tritt im Fernsehen mit Strip- vom Gemeinwohl entferne tease-Boys auf. und in Egoismus verfalle. „Symbolische Politik“ ist das allge- Wenn enttäuschte Bürger mein verbreitete Schimpfwort für den die Politik in die eigenen Hän- Verfall der Sitten. Es charakterisiert die de nehmen, drohen zugleich moderne Art illegitimer Machtaus- die Grenzen zwischen politi- übung. scher Aktion und Krawall zu Legitime Herrschaft, so hat 1922 der verschwimmen. Nationalbe- Soziologe Max Weber unterschieden, wegte Aufmärsche, von Ras- kann sich entweder auf Tradition und senhaß und Selbstgerechtigkeit Umweltminister Töpfer* Herkommen des Machthabers stützen, geprägte Mordanschläge sind Viele überforderte Politiker . . . auf sein Charisma und seine Idee – oder die extremen Auswüchse sol- auf den Befehl eines Gesetzes. Nichts chen Bürgersinns. davon gilt mehr im Zeitalter symboli- „Ein gefährliches Spiel ge- scher Politik. gen die Demokratie“ sieht Fer- Nicht Adel und nicht Ideale, schon raris in Deutschland und an- gar nicht der Dienst am Grundgesetz le- derswo. Es könnten die gewin- gitimieren das Wirken der politischen nen, die von einem neuen Typ des Politikers schwärmen: dem bullenstarken Mann, der weiß, „Ein gefährliches wo es langgeht, und nicht fak- Spiel gegen kelt, seine Visionen durchzu- setzen. die Demokratie“ Wenn die Deutschen sich so einen Kerl wünschen, geben Manager-Klasse. Das Ziel ist, so sie es jedenfalls nicht zu. Die Scheuch, „Machterhalt“. Ergebnisse einer Umfrage, die So wird die Kluft zwischen etablierter Demoskopen des Emnid-Insti- Politik und Bürgern immer größer. Die tuts im Auftrag des SPIEGEL Zweifel an der Brauchbarkeit der politi- anstellten, lassen eher auf den schen Köpfe werden zu Zweifeln an Wunsch nach demokratischer der Brauchbarkeit des demokratischen Erneuerung schließen. Staates, den sie repräsentieren. Was für ein Typ von Politi- Familienministerin Rönsch* Immer mehr Bürger nehmen die Poli- ker, so die Frage, soll künftig . . . wollen mit immer neuen Mätzchen... tik, die sie zuvor dem Staat überließen, regieren: einer, aus Verdruß über die Politiker in die ei- i der spürt, was die Bevölke- genen Hände. „Subpolitik“ ist das rung will, und der dann den Wort, das der Münchner Soziologe Ul- Mehrheitswillen der Bürger rich Beck dafür erfunden hat. möglichst gut verwirklicht; Das Stichwort von der „Bürgergesell- i der mit seinem Wissen und schaft“, in die Debatte geworfen von seiner Autorität den Bür- keinem Geringeren als dem Bundesprä- gern politische Ziele und sidenten, macht die Runde. Die „Bür- Entscheidungen vorgibt; gergesellschaft, die wir selber bilden, i der seiner Partei möglichst ohne stabiles Zentrum, ohne genaue viel Macht und Geltung in Kompetenz-Zumessungen, ohne homo- Staat und Gesellschaft ver- gene Überzeugungen“ – das sei, schafft, damit die Partei ihre schwärmt der Demokratieexperte Leg- Ziele verwirklichen kann? gewie, das letzte Mittel gegen die Die Antwort ist verblüffend „Übergriffe einer selbstgerechten Eli- eindeutig. 61 Prozent entschei- te“. den sich für den Typ 1, den Das alte arbeitsteilige Modell der Demokraten – man könnte westlichen Demokratien – Politik macht die Staatszentrale, die Bürger gehen * Oben: vor einer Rheindurchquerung derweilen ihren Geschäften nach – hat bei Mainz; Mitte: mit der Striptease- Truppe „California-Dream-Boys“ in ei- offenkundig ausgedient. In ganz Europa ner Fernsehshow; unten: gestellte Sozialminister Blüm als Zahnpatient* ist das gleiche Phänomen zu beobach- Szene für eine Fernsehshow. . . . die alte Show weitergehen lassen

DER SPIEGEL 5/1994 45 Werbeseite

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Werbeseite auch sagen: Populisten. Nur 24 Prozent Die „diffuse Sehnsucht nach Elite“, Aufgabe, Gesetze nach den Vorgaben wünschen sich den Mann, der weiß, wo es kritisiert der SPD-Politiker Glotz, beru- der Wähler zu machen und sie durchzu- langgeht. Und nur 14 Prozent entschei- he auf lauter Irrtümern. An die Stelle setzen. Aber die Kluft zu den Regierten den sich für den heute vorherrschenden der „dämonischen Entscheidung“ müsse ist kleiner. Politiker-Typ, den Parteipolitiker. „kompromißorientiertes Argumentie- Das klingt utopisch. Doch im Kern Die Präferenz für den Demokraten ist ren“ treten: „Wir müssen den Bürgerin- sind solche Ideen nicht verschieden von am deutlichsten – was Wunder – bei den nen und Bürgern mehr Chancen der in- den Forderungen zahlreicher SPD-Poli- Wählern von Bündnis 90/Die Grünen (70 dividuellen Mitwirkung geben, den Min- tiker. Auch in der Bonner Baracke wird Prozent) und bei den Ostdeutschen (66 derheiten mehr Chancen zur kollektiven an Modellen der Diskussion mit den Prozent). Die Vorliebe für eine politische Mitwirkung.“ Bürgern gearbeitet. Führerpersönlichkeit ist stark ausgeprägt In der wie nie zuvor politikbewegten Eine neue „politische Kultur“ stellt bei den Republikaner-Wählern (30 Pro- Bürgerschaft müssen Politiker eine neue sich der Parteimoralist Wolfgang Thier- zent) – und noch stärker bei der SPD (32 Rolle suchen – als Moderatoren, nicht se vor, „die Bewußtmachen und Nach- Prozent). als Macher. „Raffinierter und beschei- fragen honoriert“. Das ist ein Schritt Der Traumpolitiker der Deutschen ist dener zugleich“, so beschreibt der Poli- in die Dissidentengesellschaft, jene zudem einer, der sich im politischen Dis- tikwissenschaftler Leggewie die Rolle „Bewegungsdemokratie“, die von ost- kurs auf dem Markt der Meinungen be- der postmodernen Politik. europäischen Bürgerrechtlern wie haupten kann. „Überzeugende Argu- Die Aufgabe, einen gesellschaftlichen Vaclav Havel propagiert wird und auch Konsens über die neuen, kaum lösbaren bei Staatsdenkern wie dem Bundesprä- Probleme seit der Zeitenwende 1989 zu sidenten auf Sympathie stößt. Die Politik ist an die finden, so Leggewie, sei nicht mit politi- Mehr offener Streit um Ideen und Grenzen des schem Macho-Gehabe, sondern nur Programme könnte nach Ansicht des „mit dem weichen Medium der Über- SPD-Präsiden Zöpel das Feindbild Poli- Machbaren gestoßen zeugung“ zu lösen. „Deliberative Poli- tiker verblassen lassen. Wenn sich Poli- tik“, die Technik der Überzeugung, gilt tik wieder um „gesellschaftliche Grund- mente“ sind das Merkmal, auf das die mittlerweile vielen Politikwissenschaft- konzepte und Grundentscheidungen“ Befragten mit Abstand den meisten lern als Standardkonzept einer neuen bemühe, bestehe die Chance, daß Wert legten. Die Argumentationsfähig- demokratischen Kultur. „kommunikative Personalisierungen auf keit rangiert deutlich vor „politischer Der Philosoph Jürgen Habermas hat symbolhafte Spitzenpolitiker nachlas- Autorität“ und „moralischem Vorbild“ die Form der überzeugenden Kommuni- sen, die diese in vielen Fällen überfor- oder gar „Management-Qualitäten“ kation zum Ausgangspunkt für sein dis- dern“. (siehe Grafik). kurstheoretisches Modell eines neuen Auch Unionsstrategen denken über Ohne jede Antwort-Vorgabe, einfach Weges der Demokratie gemacht: Statt das Bild des postmodernen Politikers nur befragt, was sie sich von dem, der Runder Tische stellt sich Habermas Dis- nach. So meint Hans-Joachim Veen von sie regiert, wünschen, kamen 63 Prozent kussionsarenen vor, „in denen eine der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Po- spontan auf dieselbe Politikereigen- mehr oder weniger rationale Meinungs- lit-Profis müßten nicht nur einer stren- schaft: „Ehrlichkeit“. und Willensbildung über gesamtgesell- gen „Ehrenordnung“, sondern auch rigi- Die Bürger, die guten. schaftlich relevante und regelungsbe- der Machtbegrenzung unterworfen wer- Beharrlich setzen gleichwohl manche dürftige Materien stattfinden kann“. den. Politiker auf die überkommene Rollen- Auch bei Habermas übernehmen am Die Saurier der Macht soll es auch verteilung zwischen Regenten und Re- Ende des Diskurses die Regierenden die nach dem Willen von Unionspolitikern gierten. „Mehr Führung“, die künftig nicht mehr geben. Die Forderung des Ex-Politikers Rai- Zeit der Machtausübung in der ner Barzel an seine Nachfolger, Politik, die Häufung von Ämtern findet überall bereitwillige Zu- sollen künftig nach Vorstellungen stimmung. Bessere, stärkere, ziel- von CDU-nahen Experten wie strebigere Politiker sollen die al- Veen begrenzt sein. Helmut Kohl ten Flaschen ersetzen. ade. „Der Union fehlt eine Elite, die So sind die Ideen aus der politi- strategisch zu denken und zu füh- schen Kultur der grünen Partei, ren weiß“, analysiert der Journa- wo Basisdemokratie, Ämterrota- list Jürgen Busche in der Süddeut- tion und Machtbegrenzung zuerst schen Zeitung. Und die Sozialde- praktiziert wurden, schließlich im mokraten haben sich einen neuen Konrad-Adenauer-Haus ange- Vorsitzenden gesucht, der zwar kommen. Es bahnt sich ein neuer für kein Programm und keine Vi- Konsens der Demokraten an. sion steht, aber eins beweist: Füh- Denen geht es um die Rettung rungsstärke und Siegeswillen. der Politiker. „Wir dürfen den Ty- Woher der Optimismus, daß pus nicht zerstören“, mahnt Veen, nun funktionieren könne, was of- „die parlamentarische Demokra- fenkundig gescheitert ist? Die tie kann nicht auf ihn verzichten.“ herkömmliche Politik ist an die Tatsächlich wäre die Alternati- Grenzen des Machbaren gesto- ve zu den Politikern ja nicht: keine ßen. Es fehlt an schlüssigen Kon- Politiker, sondern: andere Politi- zepten, die Wege aus der wirt- ker, möglicherweise solche, die schaftlichen und sozialen Krise zu niemand will. Zöpel faßt es noch zeigen – oder gar neue politische spitzer: Die „historische Alterna- Ziele. Wer soll da führen – und tive zu Kohl und Scharping“ heiße wohin? Frankfurter Rundschau „Hitler und Honecker“. Y

48 DER SPIEGEL 5/1994 Werbeseite

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Die Celler Schneider etwa arbeiten, Menschenrechte wie in der gewerblichen Wirtschaft üb- lich, wöchentlich 38,5 Stunden. Entlohnt wird ihnen die Mühe schlecht: Gerade mal zehn Mark – nicht etwa pro Stunde, Roben für den sondern pro Tag –bekommen die Roben- schneider für ihr Nadelwerk. Beiträge zur Rentenversicherung sei- Staatsanwalt ner unfreiwillig fest Angestellten leistet der Celler Arbeitgeber nicht. Auch Ab- Die Genfer Menschenrechtskom- gaben an diegesetzlichen Krankenkassen mission will diese Woche deutsche gehören nicht zum Hausbrauch der Ge- sellschaft mit beschränkter Haft. Haftbedingungen prüfen: Wer- Celle ist überall. Ob Inhaftierte schnei- den Strafgefangene ausgebeutet? dern oder schreinern oder Metall- und Elektroarbeiten ausführen – die Tages- sätze für die Handarbeiter liegen zwi- ie Kunden sind voll des Lobes über schen durchschnittlich 7,39 Mark in den ihre Celler Schneider. Gern neh- neuen und 9,41 Mark in den alten Bun- Dmen sie wochenlange Lieferfristen desländern. in Kauf, denn ihre Kleider werden prä- Elektrokonzerne, die von ihren isolier- zise nach Maß gefertigt – und das zu ten Mitarbeitern Schalter zusammenset- Preisen, die konkurrenzlos günstig sind. zen und Kabelbäume flechten lassen, Die im Gewerbe sonst übliche Anpro- zahlen den Vollzugsanstalten jeweils Ta- be allerdings entfällt. Denn die Nadel- riflohn, vermindert um einen Abschlag, jünger, die Richtern und Staatsanwälten der mit geringerer Produktivität der schwarze Roben schneidern, sind Häft- Haftarbeiter begründet wird. Die für den linge der Justizvollzugsanstalt Celle 1. Strafvollzug verantwortlichen Länder In dieser Woche könnte sich in Genf behalten die Differenz zwischen Haft- entscheiden, ob in den Zellen zu Celle und Unternehmerlohn ein. weiterhin zum Billigtarif geschneidert In Baden-Württemberg bringen es werden darf: In einer nichtöffentlichen Häftlinge so auf ein Monatseinkommen Sitzung, die am Montag beginnt, will ein von durchschnittlich 217,31 Mark. Ein Ausschuß der Uno-Menschenrechts- Drittel ihres Monatslohns wird Strafge- kommission prüfen, ob Strafgefangene, fangenen abgezwackt und beiseite gelegt, die in deutschen Haftanstalten zu Nied- damit ihnen nach der Haftentlassung ein rigstlöhnen arbeiten, rechtswidrig aus- sogenanntes Überbrückungsgeld von et- gebeutet werden. wa 1500 Mark alsStarthilfe in der Freiheit Daß ein westlicher Staat in dieser ausgehändigt werden kann. Der Rest des Form auf die internationale Anklage- kargen Anstaltseinkommens reicht nicht bank gerückt werde, sei „äußerst unge- hin, um Opfer von Verbrechen zu ent- wöhnlich“, räumt das Auswärtige Amt schädigen, und schon gar nicht, um alte ein. Eine Rüge aus Genf scheint den Schulden abzutragen, bei vielen Häftlin- Bonnern sogar gewiß. gen 20 000 Mark und mehr. Bonner Politikern ist seit Jahren be- * In der Haftanstalt Frankfurt-Preungesheim. kannt, daß die Häftlingsentlohnung un-

Arbeitende Strafgefangene*: „Die Justiz beutet Gefangene aus“

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Werbeseite zureichend geregelt ist. Bereits 1980 hat der Bundestag ein Gesetz verabschie- det, das Häftlingen ein höheres Arbeits- entgeld zusprach und sie in die Kran- ken- und Rentenversicherung einbezie- hen sollte. Vollzogen wurde das Gesetz jedoch nie: Die Länder sehen sich bis heute außerstande, die Kosten für hö- here Löhne und Sozialabgaben zu tragen – und Knackis haben keine Lob- by. Wie das Bonner Justizministerium zu- letzt 1990 ermittelte, würden die Länder mit zusätzlich knapp 100 Millionen Mark belastet werden, wenn der Tages- satz für Gefangenenarbeit auch nur auf 20 Mark verdoppelt würde. Beiträge zur gesetzlichen Renten- und Krankenversi- cherung schlügen darüber hinaus mit 310 Millionen Mark zu Buche. „Die Justiz beutet ihre Gefangenen weiter aus“, beschreibt Günther Fichte, Sozialarbeiter in der niedersächsischen Haftanstalt Bückeburg, die Folgen der bisherigen Unterlassungen. Nun droht den Ländern nicht nur eine Rüge der Genfer Kommission, die von einer Gruppe ungenannter Häftlinge angeru- fen worden ist. Auch das Karlsruher Bundesverfassungsgericht könnte den arbeitenden Strafgefangenen beisprin- gen: Die Zweite Kammer des Gerichts hat Klagen gegen unzureichenden Lohn und gegen die Benachteiligung von Häftlingen in der Kranken- und Renten- versicherung angenommen. Eine andere Rechnung wird den Län- dern aus Kiel präsentiert. Der Wissen- schaftler Axel Neu vom Kieler Institut für Weltwirtschaft hat erstmals unter- sucht, wie es sich volkswirtschaftlich auswirkt, wenn die Bezahlung von Straf- gefangenen an die Tariflöhne angelehnt würde. Anfang März wollen Vertreter der Länder die Lohn-Studie mit Autor Neu „erörtern“. Y

Bayern Aufhören, jetzt langt’s Ein CSU-Prominenter wirft der CSU vor, die bayerische Justiz zu mißbrauchen. Recht hat er.

enn es um Rechtsfragen und um die Geschäftsordnung geht, hält Wdie CSU-Mehrheit im bayeri- schen Landtag normalerweise wie Pech und Schwefel zusammen. Nichts kann den schwarzen Block erschüttern. Am vorigen Mittwoch ging die Ein- tracht abrupt in die Brüche: Zum Ent- DEUTSCHLAND setzen seiner völlig ver- menzel, zufällig Ehemann der FDP- datterten Parteifreun- Landtagsabgeordneten Karin Hierse- de unterbrach der menzel, war zweifellos unverhältnismä- Münchner Abgeordne- ßig. Und sie war womöglich in der Tat, te und ehemalige Ober- wie Kiesl urteilt, ein Ergebnis politi- bürgermeister Erich scher Willfährigkeit. Kiesl, 63, während ei- Denn bei Antragsdelikten, zu denen ner Ausschußsitzung die Verletzung von Privatgeheimnissen ungestüm den Vortrag zählt, greifen die Strafverfolger so gut des bayerischen Justiz- wie nie zu derart radikalen Maßnahmen ministers Hermann – oft unternehmen sie gar nichts. Hier Leeb, um lauthals Un- aber rückten sie dem Tatverdächtigen geheuerliches zu ver- gleich mit zwei Staatsanwälten und vier breiten. Polizeibeamten auf die Bude. Und of- Im Freistaat Bayern fenbar war die Hiersemenzel-Wohnung sei es „gang und gäbe“, zuvor observiert worden – bis zu ei- behauptete Kiesl, sel- nem geeigneten Zeitpunkt, an dem die ber Jurist, daß sich Ehefrau und Abgeordnete abwesend „spezielle Teile“ der war, die den Zugriff unter Hinweis Staatsanwaltschaft und auf ihre Immunität hätte abwehren der Gerichte „zu politi- können. schen Zwecken miß- Kiesls Justiz-Schelte bestätigte die brauchen lassen“ – und schlimmsten Vermutungen der Opposi- zwar von CSU-Politi- tion. Denn für Spekulationen über die kern. Der Vorwurf, politische Anpassung der bayerischen den bislang nur die Op- Justiz gibt es nicht nur historische Bei- position erhoben hatte, spiele wie die willkürliche Massenver- traf die CSU auf den haftung von jugendlichen Demonstran- Punkt. Aus dem Saal ten in Nürnberg 1981 oder die rigorosen schallte es: „Aufhören, Memminger Abtreibungsprozesse von jetzt langt’s.“ 1988/89. Fraktionschef Alois CSU-Politiker Gauweiler, Kiesl (1990) Ganz aktuellen Anschauungsunter- Glück versuchte, den Rundumschlag ohne Rücksicht richt in politischer Willfährigkeit erteilt Redebeitrag als „un- derzeit das oberste bayerische Gericht, qualifizierten Rundumschlag“ abzutun. gemacht hatte. Kiesl empörte sich über der Bayerische Verfassungsgerichtshof CSU-Minister Leeb wehrte sich gegen das Vorgehen der Münchner Staatsan- (VerfGH). Das Gremium ist nicht nur, die „bodenlose Unverschämtheit“ mit waltschaft, die nach der Anzeige Gau- einzigartig in der Bundesrepublik, ent- der Androhung rechtlicher Schritte. weilers prompt die Wohnung von Hen- sprechend der Konstellation im bayeri- Doch Kiesl war nicht einzuschüchtern ning Hiersemenzel filzte, eines tatver- schen Landtag überproportional mit – er weiß, daß er bei der CSU ohnehin dächtigen Ex-Geschäftsführers der An- CSU-Leuten besetzt. Das Gericht ent- längst abgeschrieben ist, spätestens seit waltskammer München. scheidet auch immer wieder CSU- dem Aufkommen einer dubiosen, mil- Heikel ist es für die CSU ohnehin, freundlich und regierungskonform – ge- lionenschweren Immobilientransaktion, daß die Kanzlei-Affäre zu Beginn des treu dem heimlichen Wahlspruch der die im vorigen Jahr auch zu Ermitt- Wahljahrs erneut aufkocht – brühend weißblauen Staatspartei: „Mir san mir, lungen gegen den Ex-OB führte, un- heiß: Gauweiler hat, wie vorige Woche mir san die mehran.“ ter anderem wegen des Verdachts bekannt wurde, bei seiner Rechtferti- So schmetterte der VerfGH vorletzte der Falschaussage und Steuerhinter- gung im September offenkundig das Woche eine Klage gegen die Gültigkeit ziehung. Parlament beschwindelt. des bayerischen Müll-Volksentscheids „Ich bin in der Partei nicht mehr so Damals hatte der Minister zumindest von 1991 ab. Dabei hatte damals der gebunden, daß ich Rücksicht nehmen den Eindruck aufkommen lassen, sein Regierungsentwurf nur deshalb das müßte“, trotzte Kiesl im Landtag – und Pachtvertrag sei von der Anwaltskam- Rennen gemacht, weil die Staatsregie- bot dem Minister die Stirn: „Achten Sie mer geprüft und gebilligt worden. Und – rung gemeinsam mit der CSU massen- darauf, daß der Mißbrauch der Rechts- sei es aus Gutgläubigkeit oder Kumpa- weise Propaganda betrieben hatte. pflege für politische Zwecke nicht über- nei – Ministerpräsident Edmund Stoiber Schlecht zu stehen scheint es auch um handnimmt.“ verteidigte seinen Minister ebenfalls un- die Klage der Landtagsopposition, die Der Anlaß, dessentwegen sich Kiesl ter der Annahme, der Vertrag habe die sich derzeit dagegen wehrt, daß ihr An- nun als kühner Ketzer inszeniert, rührt Kammer „beschäftigt“ und sei „nicht trag auf einen Untersuchungsausschuß aus der sogenannten Kanzlei-Affäre des beanstandet“ worden. zum Amigo-Skandal des Ex-Minister- bayerischen Umweltministers und Ex- Tatsache ist: Die Kammer hat sich mit präsidenten Max Streibl durch die CSU- Anwalts Peter Gauweiler her, der seit dem Kontrakt überhaupt nicht befaßt, Mehrheit verhackstückt wurde. Obwohl Jahren nebenbei 10 000 Mark pro Mo- weil sie sich dazu nicht verpflichtet fühl- alle Amigo-Vorgänge längst aktenkun- nat für die Verpachtung seines ehema- te. Stoiber sei, so die SPD, von Gauwei- dig sind, scheint das Verfahren vom ligen Mandantenstamms einnimmt. ler „hinters Licht geführt“ worden und VerfGH systematisch verschleppt zu Gauweiler hat Strafanzeige wegen müsse den Minister schleunigst entlas- werden: Vorige Woche gab das Gericht „Verletzung des Privatgeheimnisses“ er- sen. Ein Untersuchungsausschuß soll bekannt, daß es seine Entscheidung erst stattet. nun auf Betreiben der Opposition die im April treffen werde. Die Anzeige richtet sich gegen einen Angelegenheit klären. Dann kann sich der Amigo-Ausschuß bislang unbekannten Informanten, der Vor diesem Hintergrund gewinnt überhaupt erst konstituieren – nur für im Sommer vorigen Jahres eine Kopie Kiesls konkreter Klageanlaß erst richtig die laufende Legislaturperiode, die im des fragwürdigen Pachtvertrags publik Brisanz: Die Durchsuchung bei Hierse- Sommer zu Ende geht. Y

DER SPIEGEL 5/1994 53 Werbeseite

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Barschel-Affäre statt in „billigeren, aber bes- seren“ Pflegefamilien unter- Bonn behindert bringen. Nach Berechnungen eines Elternverbandes für be- Ermittlungen hinderte und adoptierte Kin- Die Lübecker Staatsanwalt- der könnten Städte und Ge- schaft beschuldigt die Bun- meinden jährlich jeweils rund desregierung, Ermittlungen 70 000 Mark sparen, wenn im Fall Barschel behindert Kinder in Pflegefamilien statt und öffentlich falsch darge- in Heimen betreut würden. stellt zu haben. So sind laut Daß es vielerorts an privaten Heinrich Wille, Leitender Bewerbern um Pflegestellen Oberstaatsanwalt, „wichtige mangelt, führt der Elternver- Informationen“ eines Man- band darauf zurück, daß nes des Bundesnachrichten- Beschlagnahmtes Diebesgut Kommunen es versäumen, dienstes über ein angebliches öffentlich auf die erheblichen Treffen von Waffenhändlern Hehlerei Anzahl der Wohnungsein- Zuwendungen für Pflegeel- in Genf, an dem ein „Dr. brüche um 11 Prozent gesun- tern hinzuweisen. Barschel“ teilgenommen ha- Preisverfall ken ist. Emporgeschnellt um ben soll (SPIEGEL 2/1994), 19 beziehungsweise 33 Pro- Waffenhandel erst mit einjähriger Verzöge- für Stehlgut zent sind hingegen die Fall- rung vom Bundeskanzleramt Der Markt für gebrauchte zahlen für Raub und Straßen- Granatenfabrik an die Schweizer Ermitt- Fahrräder sowie Autoradios, raub. 88 Prozent der Ta- lungsbehörden weitergeleitet Videorecorder und andere schendiebe sind, so Innense- in die Türkei worden. Gerügt wird Bonn elektronische Produkte ist in nator Werner Hackmann auch wegen eines Regie- Deutschland derart gesättigt, (SPD) letzte Woche, Nicht- 155 -Millimeter-Geschoß rungsvermerks, es gebe einen daß Hehler auf dem schwar- deutsche, etwa „professionel- der Rüstungsfirma „Hinweis“ des Verfassungs- zen Markt Dieben und Ein- le Banden, die beispielsweise Eurometaal schutzes an den Generalbun- brechern für Stehlgut häufig aus Südamerika anreisen“. Tochtergeschosse desanwalt, demzufolge sich nur noch fünf bis zehn Pro- Barschel „vor seinem Tod in zent des Neuwerts zahlen. Jugendhilfe Genf“ noch „mit mehreren Der Preisverfall für die Sore Personen“ getroffen habe; hat – neben verstärkten Si- Billiger in der Vermerk liege, behaup- cherheitsvorkehrungen – da- Zünder tet Bonn, „auch den zustän- zu beigetragen, daß in Ham- der Familie digen Strafverfolgungsbehör- burg letztes Jahr die Zahl der Deutsche Jugendämter ver- den“ vor. Wille: „Ein solcher Diebstähle von und aus Fahr- schwenden Steuergelder in Eine komplette Waffenfabrik Hinweis ist der Staatsanwalt- zeugen sowie der Fahrrad- Millionenhöhe, weil sie Pfle- der holländisch-deutschen schaft Lübeck unbekannt.“ klau um je 19 Prozent und die gekinder in teuren Heimen Rüstungsfirma Eurometaal ist Mitte Januar aus dem nie- dersächsischen Liebenau oh- Verfassungsschutz Scherf: Auf keinen Fall. Auch wenn etwas ne entsprechende Exportge- nicht ausdrücklich verboten ist, so gelten nehmigung mit Lastwagen in doch die Regeln der Demokratie, des An- die Türkei transportiert wor- Zynische Mißachtung stands und der Fairneß. Dagegen verstößt den. Die Waffenschmiede ein Volksvertreter, der seine Parlaments- soll von deutschen und türki- Bremens Justizsenator Henning Scherf, kollegen für einen Geheimdienst aus- schen Spezialisten in Kirikka- 55, (SPD) über Agenten in Parteien horcht. le wieder aufgebaut werden, SPIEGEL: Darf ein Geheimdienst denn Par- damit dort großkalibrige Ar- SPIEGEL: Ein Abgeordneter der Bremer lamentskandidaten anwerben? tilleriegeschosse mit der Wir- Bürgerschaft, der Rechtsradikale Klaus Scherf: Das wäre eine zynische Mißach- kung von Streubomben pro- Blome, ist als Zuträger des Verfassungs- tung demokratischer Spielregeln. Das Par- duziert werden können. Das schutzes geoutet worden. Darf ein Parla- lament kontrolliert den Verfassungsschutz für solche Exporte zuständi- mentarier nebenher als Agent und nicht umgekehrt. Was ge Bundesministerium für tätig sein? uns nach dem Ende der DDR Wirtschaft hatte dem Unter- Scherf: Sicher scheint, daß er am meisten schockiert hat, nehmen lediglich erlaubt, die kein Spitzel mehr ist. Die Ge- war doch die Allgegenwart Granatenfabrik in die Nie- setze lassen vieles bewußt im der Stasi. In der Volkskam- derlande zu exportieren. Be- Halbdunkel, sie enthalten mer mußte jeder Abgeordne- reits 1992 hatte der Bonner keinerlei Regeln über Parla- te davon ausgehen, daß sein Bundessicherheitsrat einen mentarier. Auch die Rechts- Nebenmann Stasi-Agent war. Antrag der Liebenauer Euro- stellung der Abgeordneten Der Verfassungsschutz ist, metaal-Niederlassung abge- verbietet ihnen nicht, beim wie der Name schon sagt, et- lehnt, 18 000 der Spezialgra- Geheimdienst anzuheuern. was ganz anderes als die Sta- naten an die Türkei zu lie- SPIEGEL: Heißt das, daß Sie si. Seine Aufgabe ist es, sol- fern. Hauptgrund: Es war als Verfassungssenator Spit- che Zustände wie in der DDR nicht auszuschließen, daß die zelanwerbung im Parlament zu verhindern, nicht, sie her- Munition auch gegen auf- billigen? Scherf beizuführen. ständische Kurden eingesetzt würde.

DER SPIEGEL 5/1994 55 Werbeseite

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Rechtsprechung Freispruch für Rechtsblinde SPIEGEL-Redakteur Rolf Lamprecht über den Umgang der Justiz mit NS- und SED-Richtern

m 14. Oktober 1943 bestrafte der Die Entscheidung schafft endlich von der alten, unseligen Kollegenkum- Volksgerichtshof den Postschaffner Klarheit. Zwar bestätigt der Senat den panei distanziere. Das Ritual, sich selbst AGeorg Jurkowski aus Berlin-Wei- Freispruch für zwei Arbeitsrichter aus zu zitieren oder auch mal klammheim- ßensee „für immer ehrlos mit dem To- der Ex-DDR, aber die Begründung lich zu korrigieren, pflegt der BGH de“. Sein Verbrechen: Er hatte, auf das zeigt zugleich die Grenzen richterlicher sonst bis zum Überdruß. Schicksal des italienischen Faschisten- Willkür auf: Danach macht sich ein Kein Wort davon. In der BGH-Be- führers Benito Mussolini anspielend, in Richter strafbar, wenn durch sein Ur- gründung wird die „fehlgeschlagene“ einem Gespräch unter vier Augen geäu- teil „Menschenrechte derart schwer- Verfolgung des nationalsozialistischen ßert: „Der Duce ist verhaftet, mit Hitler wiegend verletzt worden sind, daß sich „Justizunrechts“ nur verschämt er- wird es auch nicht anders gehen. Im Ja- die Entscheidung als Willkürakt dar- wähnt. Aber ein Hinweis auf die Mitver- nuar lebt er nicht mehr.“ stellt“. antwortung des eigenen Hauses fehlt. Die beiden Juristen, die den „Zerset- Rechtsbeugung liege vor, wenn Was der BGH in den fünfziger und zungspropagandisten“ an den Galgen „Straftatbestände unter Überschreitung sechziger Jahren zur Rechtsbeugung brachten, waren der Präsident des To- des Gesetzeswortlauts oder unter Aus- von sich gegeben hat, steckt voller Wi- des-Tribunals Roland Freisler und sein nutzung ihrer Unbestimmtheit“ dra- dersprüche. Die Auseinandersetzung Beisitzer Hans-Joachim Rehse. Freisler stisch überdehnt worden sind. Dassel- mit dieser Spruchpraxis wäre ein Gebot kam 1945 bei einem Bombenangriff ums be gelte, wenn die verhängte Strafe „in der Redlichkeit und der Professionalität Leben. Rehse stand 1968 als Angeklag- einem unerträglichen Mißverhältnis“ gewesen. ter vor dem Bundesgerichtshof (BGH) – zur vorgeworfenen Tat gestanden oder Die Bundesrichter lassen stehen, was und erfuhr dort die Gnade der kollegia- der „Ausschaltung des politischen Geg- die Vorgänger an krausen Argumenten len Rechtsauslegung. ners“ gedient hat. zum Schutz der Nazi-Richter zusam- Zwar kann ein Richter, der das Recht Das Urteil kommt 40 Jahre zu spät. mengetragen haben. beugt, mit Freiheitsentzug bis zu fünf Rehse und die anderen Blutrichter wä- So genügte noch 1954 für die Verur- Jahren bestraft werden. Aber die Verur- ren danach nicht ungeschoren davon- teilung ein „bedingter Vorsatz“, das teilungsquote ist so niedrig wie bei kei- gekommen. Recht zu mißachten. Doch schon 1956 nem anderen Verbrechen – sie liegt bei Die Richter am BGH hatten zudem sollte nur noch bestraft werden, wer Null. die Chance, mit ihrem Urteil die be- dem Recht „bewußt und gewollt“ Ge- Alle 5243 Todesurteile, die Hitlers schämende Geschichte der BGH- walt angetan hatte. Mordrichter gefällt hatten, blieben un- Rechtsprechung nachzubessern – durch Den Mördern in der Robe war das gesühnt. Keiner der 106 Berufsrichter einen Hinweis, daß das Gericht sich kaum nachzuweisen. Allein der verblen- und 179 Staatsanwälte des Volksgerichtshofs ist wegen „Rechtsbeugung“ verurteilt worden, ebensowenig irgend- einer der abertausend Son- der- oder Kriegsrichter. Der Vertrauensvorschuß, den Richter beanspruchen dürfen, ist verbraucht. Die Diener der Justiz haben sich gleich zweimal – während der NS-Zeit und in der SED- Diktatur – zu Bütteln der Macht degradieren lassen. Und sie haben im nachhinein ihre Kollegen aus falsch ver- standener Kollegialität ge- schont. Nun liegt die Begründung eines Grundsatzurteils vor, mit dem der 5. Strafsenat am BGH abermals über die Rechtsbeugung von Kollegen zu urteilen hatte – von SED- Richtern. Diesmal gelten an- dere Maßstäbe.

* 1944 in einer Verhandlung des Volksgerichtshofs. Nazi-Richter Freisler, Rehse (Kreise)*: „Fehlgeschlagene Verfolgung“

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Werbeseite DEUTSCHLAND dete Glaube an den Führer und ober- Blauhelme mit Flugzeugen aus Somalias sten Gerichtsherrn reichte Bundeswehr Hauptstadt Mogadischu abzuholen. aus, die Täter vom „bewußten und ge- Doch vorige Woche überraschte Rühe wollten“ Rechtsbruch freizusprechen. die Luftwaffe mit einer neuen Order: 1960 sah es so aus, als ob in Karls- Nun soll die Marine ran. ruhe Einsicht eingekehrt wäre: Der Flagge Dabei hat erst Anfang Januar der 5. Strafsenat hielt plötzlich Rechtsbeu- Verteidigungsminister Pläne gestoppt, gung für gegeben, wenn der Richter die Bonner Seemacht vor Mogadischu „bewußt eine Strafe verhängt, die nach zeigen kreuzen zu lassen. Die Militärs hatten Art oder Höhe in einem unerträglichen die Idee, Kriegsschiffe zur „sanitäts- Mißverhältnis zu der Schwere der Tat Hin und Her auf der Hardthöhe: dienstlichen Unterstützung“ bereitzu- und der Schuld des Täters steht“. Von Welches ist der sicherste halten – falls Opfer blutiger Rückzugs- einem Volljuristen könne erwartet wer- gefechte zu versorgen sein sollten. den, „daß er ein Gefühl dafür hat“, ob Heimweg für die Somalia-Truppe? Die Bereitschaft, entschied Rühe, ein Urteil diese Proportionen verletzt. werde nicht gebraucht, dank „enger Ab- Die Strenge des BGH traf allerdings eine Warnung vor unüberlegten stimmung“ mit den USA. Die Amerika- keinen Nazi-Richter, sondern schon Einsätzen verbreitet Bundeswehr- ner hatten „Lazarettkapazität“ auf zwei damals einen SED-Juristen – einen SGeneralinspekteur Klaus Nau- Großkampfschiffen angeboten. Statt in Flüchtling aus der DDR, der dort Zeu- mann gern auf lateinisch: „Respice fi- den Indischen Ozean dampfte der Ver- gen Jehovas zu Zuchthausstrafen zwi- nem“, bedenke das Ende. Wer in den band der Bundesmarine darum am 5. schen dreieinhalb und zehn Jahren ver- Krieg zieht, müsse wissen, wie er wieder Januar mit 1000 Mann zur Goodwill- urteilt hatte. herauskommt. Tour (Motto: „Botschafter in Blau“) Die Ansichten, wieviel Rechtsgefühl nach Südamerika. Daß nun von einem Richter verlangt werden andere Schiffe auslaufen könne, änderten sich sofort wieder, als müssen, ist ebenfalls den es um den NS-Richter Rehse ging. USA zu verdanken. Denn Der 5. Strafsenat ignorierte im Fall die Amerikaner überrasch- Rehse gleich zwei Grundsatzentschei- ten – trotz aller „engen Ab- dungen des eigenen Hauses: das Ver- stimmung“ – die Deut- dikt gegen den SED-Richter und das schen mit einem ganz eige- über die Qualifikation des Volksge- nen neuen Rückzugskon- richtshofs. zept. Am 13. Januar er- Darin hatte gestanden: Der „Miß- reichte die Bonner ein Te- brauch des Strafrechts“ durch den legramm der Botschaft aus Volksgerichtshof habe „mit Rechtspre- Washington: „Auf Wei- chung nichts zu tun“ gehabt. Es habe sung der politischen Lei- sich um „eine Ausnutzung gerichtlicher tung soll das US-Personal Formen zur widerrechtlichen Tötung“ per Schiff außer Landes ge- gehandelt; das Tribunal sei ein Terror- bracht werden.“ instrument gewesen. Die deutschen Soldaten Als es um den Nazi-Richter Rehse fühlten sich auf dem Flug- ging, war der Volksgerichtshof plötz- platz von Mogadischu al- lich wieder ein normales Gericht. lein gelassen. Ungläubig Der Angeklagte galt diesmal nicht ließ Naumanns „Koordi- als Scherge in Robe, sondern als or- nierungsstab Somalia“ bei dentlicher Richter. Folgerichtig wurde US-Generalstabschef John das Urteil gegen ihn wegen Beihilfe Shalikashvili nachfragen. zum Mord, begangen aus „Rechts- Am 18. Januar kam die Be- blindheit“ und „Verblendung“, aufge- stätigung: Die USA hielten hoben. Der BGH forderte den Nach- das Umfeld am Flugplatz weis, daß Rehse „bewußt gegen seine für unsicher. Sievertrauten richterliche Überzeugung“ und oben- mehr auf ihre Seemacht. drein „aus niedrigen Beweggründen für Bundeswehr-Soldaten beim Einpacken in Belet Huen Auf der Hardthöhe brei- die Todesstrafe“ gestimmt habe. „Erst stürmen, dann türmen“ tete sich Unsicherheit aus. Der Justizkritiker und Richter Theo Sollten die Deutschen mit Rasehorn wies schon damals auf die Beim „rein humanitären Einsatz“ ihren Rückflugplänen leichtsinniger sein aberwitzigen Konsequenzen hin: Straf- (Verteidigungsminister Volker Rühe) in als die Amerikaner? bar sei nach dieser Logik ein Richter, Somalia haben die Bonner Militärführer Neue Empfehlung: „Rückverlegung „dessen Gewissen noch schlug, der sich den alten Grundsatz offenbar außer acht des Personals auf dem Seeweg“ nach aber fürchtete, gegenüber einem fana- gelassen. Der fluchtartige Rückzug aus amerikanischem Vorbild. tischen Nazi als Vorsitzendem seine den vorgeblich befriedeten Regionen So hat es die kleine Bundesmarine im wahre Meinung kundzutun“, der am Horn von Afrika ist unerwartet zweiten Anlauf doch noch geschafft, in rechtsblinde Vorsitzende hingegen gel- kompliziert. Somalia dabeizusein. Vergebens hatte te als unschuldig. „Erst stürmen, dann türmen“, spotten die Marineführung ihre Schiffe bisher in War was? In seiner jüngsten Ent- Mitarbeiter des FDP-Außenministers Konkurrenz zu Heer und Luftwaffe als scheidung tut der BGH so, als hätte es Klaus Kinkel über das Durcheinander in „ideales Mittel“ für weltweite Krisenbe- die Geschichte niemals gegeben. Wie- der Truppe von CDU-Minister Rühe. wältigung angepriesen; ihr „Einsatz- der einmal hat sich die deutsche Justiz Immerzu entwickeln die Führungsstäb- spektrum“ reiche schließlich von der vor der eigenen Vergangenheit davon- ler von der Hardthöhe neue Pläne. Die Hochsee-Diplomatie („Flagge zeigen“) gestohlen. Y Bonner hatten zunächst geplant, die bis zum „scharfen Schuß“ – etwa bei der

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heißt es, die Sicherheitslage in Mogadi- Der fromme Glaube des Geistlichen schu sei „unverändert gespannt“. an seine Untergebenen hat den Cari- Milizen des von der Uno zeitweise ge- tasverband mittlerweile 1,2 Millionen jagten Generals Mohammed Farah Aidid Mark gekostet. hätten zwar ihren „Einflußbereich nörd- Unbemerkt konnte eine 43 Jahre al- lich des Flughafens ausgeweitet“. Ihre te Sozialarbeiterin das Geld ratenweise „Ausstattung“ mit den gefürchteten über ein gutes Jahr lang abzweigen. „Stinger“-Flugabwehrraketen aus USA Der größte Teil der Summe landete allerdings könne bisher „nicht bestätigt über verschiedene Kuriere bei ihrem werden“. Ehemann in Kamerun. Dochsicheristsicher. Andersalsinden Die Frau bekam dreieinhalb Jahre deutschen Transall-Maschinen, die noch Haft; die mangelnde Kontrolle durch immer ständig in Mogadischu landen und ihre Vorgesetzten, beschied der Rich- starten, so gibt ein ranghoher Militär zu ter bei der Verurteilung im April ver- bedenken, säßen inden Heimkehrer-Ma- gangenen Jahres, habe es den beiden schinen „schließlich nicht nur ein paar „unwahrscheinlich leichtgemacht“. Der Hanseln“ drin. Staatsanwalt sprach von einem „Ber- Der Abschußeines Airbusmitüber 200 muda-Dreieck“ innerhalb des Wohl- Soldaten, sodas politische Katastrophen- fahrtsverbandes. Kalkül, hätte weitreichende Folgen: Betrügerei, Untreue und Mauschelei „Rühe wäre weg vom Fenster.“ Y sind gar nicht so selten im Alltagsge- schäft gemeinnütziger Verbände und Initiativen. Immer wieder entdecken Rechnungshöfe Finanzprüfer Ungereimtheiten in den Abrechnungen der fünf Großorganisa- Minister Rühe, Somalia-Soldaten tionen Deutscher Paritätischer Wohl- „Botschafter in Blau“ fahrtsverband, Caritas, Deutsches Ro- Knete in tes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt und Dia- „Evakuierung deutscher Staatsbürger“. konie, die nach Schätzung von Exper- Doch selbst wo sie mitschwimmen durf- ten jährlich fast 60 Milliarden Mark ten, etwa beim Minenräumen nach dem der Tasche ausgeben. Golfkrieg 1991 oder der Seeblockade in Ein großer Teil der Einnahmen der Adria, konnten die Marine-Militärs Nach einer Reihe von Finanzskan- stammt aus Steuergeldern. Allein die keine Reklame für sich machen: Die an- dalen wollen Kieler Rechnungsprü- Caritas verwaltet Jahr für Jahr mehr hängigen Verfassungsklagen über Ein- als 20 Milliarden Mark, davon minde- sätze außerhalb des Nato-Gebietes erfor- fer Wohlfahrtsverbände zwingen, stens 4 Milliarden aus öffentlichen Mit- derten diskretes Auftreten. ihre Kassenbücher offenzulegen. teln. Jetzt istSchluß mit der Bescheidenheit. Trotz der massiven Zuschüsse aus Mit leuchtenden Augen schwärmen sonst öffentlichen Haushalten lassen sich die besonnene Seeoffiziere vom Einsatz im onsignore Hans Peter Rieder Sozialkonzerne jedoch nur ungern in Bürgerkriegsland: Mit startklaren Rake- glaubt gern an das Gute im Men- ihre Kassenbücher schauen – eine Pra- ten, geladene Geschütze aufs Land ge- Mschen. „Kontrolle ist gut und xis, gegen die jetzt der Kieler Landes- richtet, „alle Mann auf Gefechtsstation“ notwendig“, erklärte der Chef des Stutt- rechnungshof vor Gericht ziehen und „jeder Feuerlöscher besetzt“, so garter Caritasverbandes dem Vorsitzen- will. schwadronieren einzelne Militärs voller den Richter am örtlichen Landgericht, Einblick war den Rechnungsprüfern Vorfreude, werde ihr Schiff im engen Ha- „aber Vertrauen ist besser.“ bislang in der Regel nur bei bestimm- fen von Mogadischu anlegen. Kapitän Gottfried Hoch, früher Nau- manns Adjutant, hat das Kommando. Die Fregatten „Köln“ und „Karlsruhe“, der Versorger „Nienburg“ und der Tan- ker „Spessart“ sollten bereits am vorigen Wochenende Einsatzbereitschaft mel- den. Von Mitte Februar an werden die Kriegsschiffe – so der jüngste Plan – wie Fähren im Liniendienst sechsmal zwi- schen Mogadischu und dem eineinhalb Seetage entfernten kenianischen Mom- basa pendeln. Kosten pro Fregatte und Tag: 57 000 Mark. Erst in der sicheren Hafenstadt darf die Luftwaffe die Truppe in Flugzeuge umladen. Rühe wolle das „Restrisiko“ für die Rückkehrer „minimieren“, begründen Mitarbeiter den neuen Befehl. Es drohe Gefahr, daß ein Luftwaffen-Airbus mit 208 Soldaten beim Start mit Raketen ab- geschossen werde. In dem Papier, das Rühes neuer Weisung zugrunde liegt, Zuschuß-Objekt Altenheim (in München), Rechnungshof-Präsident Korthals:

62 DER SPIEGEL 5/1994 ten Einzelprojekten gewährt worden, gefördert worden. Die Hälfte davon für die staatliche Zuschüsse flossen. habe er auf einem Rücklagenkonto ge- Familie Ob die Verbände dabei Geld von ei- bunkert, statt das Geld in die Hilfs- nem Projekt zum anderen schieben dienste zu investieren. Auf dem Spar- oder Mitarbeiter doppelt finanzieren konto des Verbandes, berichtet Kort- lassen, zum Beispiel eine Schreibkraft hals, hätten außerdem schon vor dem Fräuleins gleich über zwei Projekte abrechnen, staatlichen Geldsegen 4,6 Millionen können die Buchprüfer der Rech- Mark gelagert. nungshöfe auf diese Weise nicht erken- In anderen Fällen haben sich einige mit Kind nen. Dazu müßten sie die Bücher der der überwiegend ehrenamtlichen Hel- Verbände einsehen dürfen. fer auch ganz privat auf Staats- oder Die Justizministerin will nichtehe- Dieses Recht will der Landesrech- Verbandskosten bedient. Im hessischen liche Kinder besserstellen. nungshof in Schleswig-Holstein jetzt Offenbach etwa ließ sich ein Vorsitzen- durchsetzen. Oberprüfer Gernot Kort- der der Arbeiterwohlfahrt mit staatli- Der CDU/CSU paßt das nicht. hals sieht seine Arbeit „von den Ver- chen Zuschüssen eine Wohnung in ei- bänden regelrecht boykottiert“. ner Behindertentagesstätte einrichten. eil Lukas Meinardt 30 Tage zu Im vergangenen Herbst hatten Kort- Sein Verband fiel Prüfern des Landes- früh zur Welt kam, hat er den hals’ Prüfer versucht, die Bilanzen ei- rechnungshofes Hessen außerdem Wfalschen Vater. Das Gesetz be- ner Reihe von Sozialstationen des Lan- durch fingierte Spendenquittungen für steht darauf, daß der Säugling ein Sohn des einzusehen. Aus Angst vor der Firmen auf, die dafür großzügige Ra- des geschiedenen Ehemanns der Bonner drohenden Transparenz holte die Lan- batte einräumten. Ärztin Marianne Meinardt ist. desarbeitsgemeinschaft der freien Im Hamburger Stadtteil Harburg er- Alle Beteiligten wissen es besser: Wohlfahrtsverbände (LAG) umgehend hielt ein deutsch-ausländischer Verein Schon 1989 hatte sich Lukas’ Mutter ein Gutachten über die Rechtmäßig- über vier Jahre hinweg keit einer solchen Prüfung ein. Ergeb- 3,5 Millionen Mark nis: Der Rechnungshof dürfe nur ein- „Staatsknete“ (Szene- zelne Projekte untersuchen, die Ge- Jargon), ohne daß die samtfinanzen der Verbände sei aber Bücher des Vereins deren Sache. „Wir sind schließlich kei- geprüft werden konn- ne Behörde“, erklärt LAG-Geschäfts- ten. 180 000 Mark führer Holger Rohde, „sondern eine wurden kürzlich auf eigenständige Organisation.“ dem Privatkonto des Rohde wittert hinter den Prüfungs- Buchhalters entdeckt. begehren des Landes „eher den Willen Die bisher publik zur Haushaltssanierung“ als zur Auf- gewordenen Finanz- deckung von Mauscheleien. Angst vor skandale seien Grund gläsernen Taschen haben die Wohl- genug, meint der Kie- fahrtsverbände aber auch aus weniger ler Rechnungshof-Prä- guten Gründen: Laut Bericht des sident Korthals, Ver- Rechnungshofes ergab schon die abge- bände und Initiativen, brochene Prüfung, daß die Landesre- die Staatsgelder kassie- gierung 13 Millionen Mark zuviel an ren, zur Offenlegung die Sozialeinrichtungen gezahlt hat- ihrer Kassenbücher zu te. zwingen. Einer der Verbände sei 1992 mit 2,8 Angesichts „leerer Millionen Mark für ambulante Dienste öffentlicher Kassen“, so Korthals, sei es den Bürgern kaum zu er- klären, daß staatlich subventionierte Organisationen „der von ihrem Mann getrennt und eine neue Kontrolle vollständig entzogen sein Liebe gefunden. sollten“. Er werde „im Zweifel bis vor Ende 1992 wurde sie schwanger, da das Verfassungsgericht ziehen“, erklärt ließ sie sich gerade scheiden. Die Schei- Korthals. dung erlangte jedoch erst nach drei Mo- In dieser Woche wollen die schles- naten Rechtskraft. wig-holsteinischen Wohlfahrtsverbände Der Fall wird damit richtig verwor- mit Vertretern des Landtags verhan- ren. Denn bis „alle Beweismöglichkei- deln, um die verschärfte staatliche ten des Für und Wider“ erschöpft sind, Kontrolle abzuwenden. Doch die Er- so schreibt das Bürgerliche Gesetzbuch folgsaussichten sind gering. vor, gelten Kinder, die innerhalb von „Die Rechnungshöfe der gesamten 302 Tagen nach einer Scheidung gebo- Republik gucken erwartungsvoll, wie ren werden, als ehelich. wir das durchziehen“, meint Holger Lukas kam 272 Tage nach der Schei- Astrup, 45, Vorsitzender des Finanz- dung zur Welt. Zwei Gerichtsverfahren ausschusses im Landtag. sind darum nötig, um Albert Meinardt Viele Verbandsfunktionäre zittern von seiner Vaterschaft zu befreien: Er schon. „Denen kann ja nicht egal muß gegen Baby Lukas eine Vater- sein“, meint Astrup, „wenn potentielle schaftsklage anstreben. Das geht aber Spender das Gefühl kriegen, da wäre erst, wenn ihm das Sorgerecht für Lukas „Von Verbänden boykottiert“ etwas zu verbergen.“ Y entzogen worden ist und wenn das Ju-

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Werbeseite DEUTSCHLAND gendamt der Mutter – natürlich nach ei- zwangsweise bei der Geburt eine Amts- bild des öffentlichen „Broadcasting ner Tauglichkeitsprüfung – das alleinige pflegschaft verpaßt wird. Standards Council“ in Großbritannien, Sorgerecht zugesprochen hat. Scheitern dürfte dagegen die Gleich- das Gutachten erstellt und Zuschauer- Dann kann Martin Gismann, der rich- stellung von nichtehelichen und eheli- beschwerden nachgeht. tige Vater von Lukas, sich wiederum ge- chen Kindern im Erbrecht. Das sei gut Noch im Februar will eine Kommissi- richtlich bemühen, endlich Papa zu wer- so, meint CDU-Familienschützer Her- on aus sieben Wissenschaftlern, Bran- den – wenn auch nur Zahlpapa. Da Lu- bert Werner, schließlich müsse ein chenexperten und Juristen, betreut von kas’ Eltern nicht miteinander verheira- Mann noch zwischen seinen „uneheli- der Stiftung des Medienriesen Bertels- tet sind, darf Realpapa Gismann kein chen“ und seinen „eigenen Kindern“ mann und gelenkt von Verfassungsrich- Sorgerecht bekommen. unterscheiden können. Y ter Ernst Gottfried Mahrenholz, ein Pa- Der ganze Unfug wäre längst Rechts- pier zur „Lage des Fernsehens“ vorle- geschichte, wenn sich die Bonner Justiz- gen – eine Art Abschiedsgeschenk für ministerin Sabine Leutheusser-Schnar- Medien Weizsäcker, 73, den Freunde bedrän- renberger (FDP) durchsetzen könnte. gen, sich nach dem Ende seiner Dienst- Die Liberale will seit langem das völlig zeit im Juli dem Projekt TV-Kontrolle veraltete Kindschaftsrecht reformieren. zu widmen. Mitte Januar verschob die Justizmini- Nachts, wenn Auch Helmut Kohl nimmt die Medien sterin erneut ihr Vorhaben: „Die gesell- in die Pflicht. In einer Kanzlerrunde am schaftliche Realität ist leider noch nicht Mittwoch voriger Woche appellierte er soweit“, sagt sie resigniert. Ninja kommt an die Bildschirmherren, „sich in ihren Gemeint sind vor allem die Familien- Sendungen der Verantwortung von Ge- schützer der Union. Der CSU-Abgeord- Nach seiner Amtszeit soll Richard waltbereitschaft“ bewußt zu sein. Für nete Norbert Geis beispielsweise pole- von Weizsäcker über die Fern- die wachsende Alltagsgewalt (SPIE- misiert, da dräue „Gefährliches“ aus der GEL-Titel 3/1994) hat die Politikergar- liberalen Ecke – lauter unordentliche seh-Moral in Deutschland wachen. de eine einfache Erklärung gefunden: Verhältnisse wie Ein-Eltern-, Stief- und Schuld sind, ungeachtet sozialer Proble- Nicht-Ehelichen-Familien. enn Richard von Weizsäcker den me wie Arbeitslosigkeit oder Familien- Die konservativen Familienpolitiker Arbeitstag mit Fernsehen be- verfall, die elektronischen Medien. beharren auf Gesetzen, die zum verwik- Wschließt, wird er zum Medienkri- Ausgerechnet das Kommerzfernse- kelten Leben moderner Partnerschaften tiker. „Eine beliebige Auswahl von hen, vor einem Jahrzehnt von der Chri- und Kleinfamilien nicht mehr passen. Kriegsschauplätzen und Gewalttaten“ stenunion auf das Publikum losgelassen, So wird bislang geschiedenen oder un- ortet der Noch-Bundespräsident in gilt konservativen Politstrategen plötz- verheirateten Eltern ein gemeinsames Nachrichten- und Magazinsendungen. lich als Teufelswerk. Im Fernsehen gebe Sorgerecht für das gemeinsame Kind Der Zuschauer bleibe mit dem Eindruck es häufig eine „exzessive Darstellung nicht zugestanden. Bei unverheirateten zurück, „von sinnloser Gewalt umgeben von Gewalt und Sex, aus der immer wie- Paaren kann der Vater selbst dann nicht zu sein“, Menschlichkeit komme zu der der Brutale als Held und Sieger her- das Sorgerecht erstreiten, wenn die kurz. vorgeht“, klagt die Bundesjugendmini- Mutter stirbt. Kurz vor Ende seiner Amtszeit will sterin Angela Merkel (CDU). Von bürokratischer Strenge ist das der Präsident, der im Dezember selbst Rund 70 Morde pro Tag hat der Me- Umgangsrecht. Omas, Opas, Stiefmüt- Opfer einer Gewalttat geworden war, dienwissenschaftler Professor Jo Groe- ter oder nichtverheiratete Väter haben für Abhilfe und für „ethische Minima“ bel von der Universität Utrecht im deut- keinen Anspruch, das Kind zu sehen, sorgen. Bei einem Kamingespräch mit schen Fernsehen gezählt. Allein 50 Fil- wenn die sorgeberechtigte Mutter es deutschen Medienspitzenmanagern reg- me, die auf dem Index der Bundesprüf- nicht erlaubt. te er eine neue Medieninstitution an: ei- stelle für jugendgefährdende Schriften Preußisch geht es noch immer im ne Art Selbstkontrolle nach dem Vor- stehen, liefen in den vergangenen fünf Züchtigungsrecht zu – zur Erziehung der Kinder gehört es, sie zu schlagen. Vorige Woche legte die Justizministerin dem Bundestag ein Reformgesetz vor: Prügelnde Eltern können danach bis zu fünf Jahren Haft bekommen; erlaubt ist künftig nur noch „der Klaps auf den Po“. Zu den entwürdigenden Albernheiten des antiquierten Familienrechts zählt der Zwangsschwangerschaftstest für Frauen, die innerhalb von zehn Mona- ten nach ihrer Scheidung wieder heira- ten. Das hat die Justizministerin bei ih- rer Kabinettskollegin, der Bundesbau- ministerin Irmgard Schwaetzer (FDP), erlebt. Die mußte 1991 vor ihrer Neu- heirat zum Test – sie hätte ja, so der Grund für die seltsame Regelung, von ihrem Ex-Mann schwanger sein können. Voraussichtlich bis zum Sommer wird es Leutheusser-Schnarrenberger immer- hin gelingen, ein Relikt abzuschaffen – daß die Fräuleins mit Kind wie Unmün- dige behandelt werden und ihnen Kinder vor dem Bildschirm: 70 Morde pro Tag

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Werbeseite DEUTSCHLAND Barrieren gegen Blut und Busen Wie Elektronikkonzerne und TV-Sender Kinder vor Sex und Gewalt schützen wollen

ngewöhnlich kooperativ gab ner Art elektronischem Zahlen- auf die „TV-Kreditkarte“ ein. Wol- sich der fränkische Fernsehge- schloß ein vierstelliger Geheimcode len die Kinder fernsehen, müssen sie Urätebauer Grundig gegenüber eingegeben worden ist. ihre Karte durch den Apparat ziehen, der Konkurrenz. Das Unternehmen Im Handel sind erst einige tausend der dann die konsumierte TV-Zeit aus Fürth informierte Rivalen wie der neuen Apparate mit Kindersi- abbucht. Bestimmte Sendezeiten mit Sony, Philips und Loewe über eine cherung, allesamt in der oberen Sex-and-Crime-Shows kann der Ap- Neuentwicklung und bat um schnelle Preisklasse. Doch das neue Produkt parat von vornherein blockieren. Imitation. gilt in der Branche als Vorbote eines Die vier großen US-amerikani- Die große Koalition der Konzerne Booms. Denn mittlerweile haben schen Senderketten NBC, ABC, zielt auf schlüpfrige und gewaltrei- auch die anderen Privatsender, im CBS und Fox haben beschlossen, ei- che TV-Programme: Vereint, über Gegensatz zu ARD und ZDF, ange- nige visuelle Stopper ins Programm alle Marktkämpfe hinweg, wollen kündigt, noch in diesem Jahr Blut- einzubauen. Sie wollen vor jeder Ge- die Firmen eine neue elektronische und-Busen-Sendungen per VPS- waltszene Symbole einblenden, da- Kindersperre bis zum Herbst 1995 Barriere auszugrenzen. mit die Eltern das Programm abschal- zum Branchenstandard erheben. Langfristig planen die Gerätebau- ten oder ihre Kinder wegschicken Als Partner für das Projekt ge- er noch mehr. Die Familie soll, etwa können. Schmutzige Wörter werden wann Grundig im vergangenen Jahr am Sonntag, gemeinsam beraten, per Piep-Ton ausgeblendet. Zudem wird im Vorspann von „Adult“-Pro- grammen und Brutal-Nachrichten er- wähnt, daß die Sendung nicht für alle Zuschauer geeignet ist. Ein ähnlicher Warntext erscheint in den Pro- grammzeitschriften. Auf ganz andere Weise bemüht sich der italienische Medien-Zampa- no Silvio Berlusconi, der drei TV- Sender kontrolliert, um Jugend- schutz. Eine grüne Scheibe am Bild- rand bedeutet, daß eine Sendung für kleine Kinder unbedenklich ist. Gelb heißt, Erwachsene sollten anwesend sein, bei Rot müssen Minderjährige das Zimmer verlassen. Die meisten Experten belächeln das italienische Ampelmodell. Sol- che Verkehrsregeln seien „kontra- produktiv“, weil sie Neugierige erst recht reizten, meint Dieter Czaja, Ju- gendschutzbeauftragter von RTL. Gewaltszene im Fernsehen*: Blackout, wenn die Killer ballern Der US-Medienwissenschaftler Leonard Eron von der University of den TV-Marktführer RTL (Bran- was in der folgenden Woche ge- Michigan hält Warntafeln allein chenspott: „Rammeln, Töten, Lal- schaut wird. Nur diese Sendungen, schon deshalb für sinnlos, weil len“). Seit über einem Monat kenn- über neue Geräte via VPS program- die am stärksten gefährdeten TV- zeichnet der Kölner Populärkanal, mierbar, können dann von den Kids Kinder nur selten im Beisein von bislang als einziger, über das Signal empfangen werden. Erziehungsberechtigten fernsehen. des Videoprogrammsystems VPS Einer anderen Form Programm- „Niemals“, findet auch ARD-Vorsit- seine jugendfreien Sendungen. kontrolle dienen elektronische Zu- zender Jobst Plog, „können techni- Wer einen der neuen Anti-Ge- satzgeräte, mit deren Hilfe die wö- sche Geräte die Verantwortung von walt-Apparate bereits besitzt, hat chentliche Fernsehzeit der Kinder Programmachern und Eltern erset- die Garantie, daß bei allen ande- begrenzt werden kann: Wenn die zen.“ ren Filmen der Bildschirm schwarz Maximalzeit, etwa sechs Stunden, Der amerikanische Senator John bleibt; nur der Ton wird empfangen. erreicht ist, schaltet der Apparat au- Danforth dagegen setzt ganz auf Ab- Ob Josefine Mutzenbacher die Kor- tomatisch ab. schreckung: Er fordert, daß Filme sage öffnet, „Karate Tiger“ zu- Drei Ingenieure aus dem US-Staat und TV-Serien künftig im Vorspann schlägt oder Zombie-Killer ballern – North Carolina haben eine Plastik- eine Bilanz der ausgestrahlten Ge- der Blackout endet erst, wenn an ei- karte als Kontrollhilfe entwickelt. walt ausweisen. Beispiel: „12 Morde, Über ein Zusatzgerät geben die El- 4 Vergewaltigungen, 45 Akte von * Aus dem Film „Rambo“. tern das erlaubte Wochenpensum Gewalt.“

68 DER SPIEGEL 5/1994 Rudolf Stefen, 67, Vorsitzender der News-Schock Deutschen Gesellschaft für Jugend- Anteil der Gewalt in Informations- 17,6 schutz. sendungen und Reality-TV Vor den Folgen aggressionsgeladener zwischen 17 und 23 Uhr TV-Filme warnt auch Medienforscher Angaben in Prozent Groebel. Solche Fernsehkost könne, so Quelle: Institut für empirische der Wissenschaftler, „zu einem ängstli- Medienforschung (IFEM) chen Weltbild führen“. Wer auf der ARD-ZDF-Medienkommission 9,3 Mattscheibe immer wieder Gewalt erle- be, der suche mit einer gewissen Wahr- 6,8 6,2 scheinlichkeit auch im wirklichen Leben eher nach gewaltsamen Lösungen – Fakt und Fiction verschmelzen. Dabei wollen, wie das Allensbacher Institut für Demoskopie letztes Jahr er- fragte, 72Prozent der Deutschen weniger Monaten spätabends über den Bild- Gewalt und 43 Prozent gar weniger Sex schirm – darunter putzige Nuditäten- im Fernsehen. Korbweise sammelten El- Nostalgienummern nach Art des „Schul- terninitiativen, vor allem aus bayerischen mädchenreports“, aber auch Action- Landen, Briefe für einen Boykottaufruf Schocker wie „Ninja, die Killermaschi- an die Werbeindustrie, künftig im Sex- ne“. and-Crime-Umfeld keine Spots mehr Die TV-Verantwortlichen argumen- zu schalten. Bei einigen Firmen, etwa tieren intern, sie müßten ihre Vorräte dem Suppenkocher Maggi, hatten sie Er- abspulen, die sie in Form branchenübli- folg. cher dicker Filmpakete eingekauft ha- Auch Ministerin Merkel bescheinigte ben. Sogar eine öffentlich-rechtliche den Protestlern, sie seien auf dem richti- Anstalt, der Bayerische Rundfunk, zeig- gen Weg. Damit handelte sich die Christ- te im vorigen August einen indizierten demokratin einen bösen Brief der Privat- Film mit dem Titel „Töte Amigo“. Und sender an Kanzler Kohl ein: Die Ministe- der Pay-TV-Kanal Premiere sendete, rin habe in die Rundfunkfreiheit einge- trotz öffentlicher Proteste, den Horror- griffen. film „Child’s Play 3“, der zwei Zehnjäh- Wegen der Gewaltfrage bekriegen sich rige in Liverpool letztes Jahr zum Mord öffentlich-rechtliche und private Rund- an dem zweijährigen James Bulger in- funkanstalten seit einiger Zeit mit Auf- spiriert hatte. tragsstudien. Von Rechts wegen ist dagegen nichts Für RTL ermittelte Professor Klaus zu machen: Streifen, die indiziert oder Merten aus Münster im vorigen August, erst ab 18 Jahren freigegeben sind, dür- daß alle Sender die Gewaltdarstellungen fen nach 23 Uhr über den Bildschirm ge- stark reduziert haben. Vergangene Wo- hen, sofern sie nicht „schwer jugend- che, einen Tag vor der Gewaltrunde beim gefährdend“ sind. Schätzungsweise Kanzler, legten die Öffentlich-Rechtli- 350 000 Minderjährige gucken bei sol- chen eine Studie des Kölner Instituts für chen mitternächtlichen Gruselshows zu. empirische Medienforschung vor. Da- „Ein ungeheuerlicher Skandal“, wettert nach ist RTL mit 17,6 Prozent Gewaltan- teil an seinem Informations- und Reality- Programm Spitzenreiter, vor Sat 1, ARD und ZDF (siehe Schaubild). Vor allem ausgiebige Opferdarstellun- gen in den Reality-TV-Stückchen der Pri- vaten, beispielsweise den Sendungen „Retter“oder „Notruf“, haben zudiesem Befund geführt. Bei den Nachrichten, so ein weiteres Resultat, stellten die Kom- merzsender besonders gern Unfälle und Katastrophen heraus. Dagegen erschei- ne bei den Öffentlich-Rechtlichen Ge- walt hauptsächlich in politischen Infor- mationssendungen und Nachrichten. „Wenn in Mölln Menschen verbrannt werden, dann ist die Gewalt eine Tat- sache und die Information darüber Pflicht“, kommentiert ein internes ARD/ ZDF-Papier die Studie. Das Fehlen von Opferbildern aus dem Golfkrieg 1991 ha- be zu der berechtigten Kritik geführt, Krieg sei als „sauberes Geschäft“ darge- stellt worden. Medienkritiker Weizsäcker ZDF-Intendant Dieter Stolte will es „Ethische Minima“ auf den Einzelfall und den Zusammen-

DER SPIEGEL 5/1994 69 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND hang ankommen lassen, ob Gewaltsze- deren Namen aufwarten: Heinrich Fink, nen gezeigt werden. Mit dem „bloßen Professoren 58, ehemals Rektor der Humboldt-Uni- Zählen von Fausthieben oder Schüs- versität im Osten Berlins, ist der Bil- sen“ sei es nicht getan, meint Stolte. dungseinrichtung als Repräsentant ver- Staatliche Pläne, in allen Sendern bunden. Vor allem aber bietet das Insti- Jugendschutzbeauftragte zu etablieren, Exotischer tut einen fast einzigartigen Service: kann die TV-Lobby nicht mehr verhin- Doktorwürden lassen sich dort mit kari- dern: Mitte Dezember haben sich die bischer Unbeschwertheit erlangen. Ministerpräsidenten darauf geeinigt, Ableger Vier „advanced doctorates“ stehen den Rundfunkstaatsvertrag in diesem zur Auswahl: ein „D. Habil“ für eine Punkt zu ergänzen. Der Berliner Professor Heinrich Monographie, ein „D. Litt“ für mehrere Vor einem totalen Sendeverbot für Fink, ehedem Rektor der Aufsätze; älteren Semestern sind die Ti- indizierte Spielfilme, wie es Ministerin tel „Doctor of Human Letters“ und Merkel und ein Initiativantrag mehre- Humboldt-Universität, macht eine „Doctor of Sacred Letters“ vorbehalten. rer Bundestagsabgeordneter aus ver- neue Karriere – als Vertreter. Voraussetzung für den Erwerb ist ei- schiedenen Parteien fordern, schreckte ne Publikation in dem amerikanischen die Runde zurück. Die Ministerpräsi- Verlag Edwin Mellen Press – Länge und denten fürchten, ein solcher Eingriff ie kleinen Inseln mitten im türkis- Thema nach Belieben. Das New Yorker könne als Einschränkung der Freiheit farbenen Meer der Karibik sind Unternehmen hat die Idee, unnütze Stu- von Rundfunk, Information und Kunst Ddas klassische Sehnsuchtsziel jedes dienzeiten radikal abzukürzen, konse- interpretiert werden und Verfassungs- Ferntouristen. Die Reisekataloge lok- quent umgesetzt. Nur zur Verleihung klagen provozieren. ken auf die Turks and Caicos mit ihren der begehrten Titel bittet die Fakultät Die TV-Aufsichtsbehörden, die Lan- „unendlich langen weißen Sandsträn- ins Sonnenparadies. Auch eine so revo- desmedienanstalten, haben bislang da- den“ und „unberührten farbenprächti- lutionäre Neuerung wie die Mellen Uni- von abgesehen, Privatsender bei Ju- versity kommt nicht oh- gendschutzverstößen mit Bußgeldern ne gewisse Prüfungs- zu belegen. Das könnte sich ändern, standards aus, zumal wenn die Kritik an den Programmen sie sich in keinem seriö- anhält. Um einer solchen Entwicklung sen Uni-Verzeichnis vorzubeugen, wollen die Kommerzfun- finden läßt. Großen ker im April eine Freiwillige Selbst- Wert legt die unge- kontrolle Fernsehen (FSF) starten. wöhnliche Forschungs- Die neue Institution reißt TV-Kriti- einrichtung deshalb auf ker wie die oberste Jugendschützerin die Auswahl der Mit- Merkel „nicht vom Hocker“. Die Mini- glieder ihrer Aufsichts- sterin stört, daß sich die Sender nicht kommission, des verpflichten wollen, problematische „Board of Overseers“. Filme bei der FSF einzureichen. Stolz verweist die Einigen Politikern, darunter Weiz- Mellen Press, die den säcker, schwebt eine ganz andere Insti- exotischen Hochschul- tution vor: Ein neuartiges Gremium, ableger im September entweder als Stiftung, Sachverständi- 1992 gegründet hat, in genrat oder Kommission organisiert, ihren Werbeschriften soll einmal im Jahr dem Bundestag ei- auf den deutschen Pro- nen Bericht zur Medienlandschaft vor- fessor Dr. sc. theol. legen. Heinrich Fink, „Presi- Was auch immer geschieht, um den dent of the Humboldt Medien-Gefahren zu begegnen – weit- University“. gehend machtlos sind die Kontrollgre- Die schöne Amtsbe- mien gegen die vom Ausland einstrah- zeichnung ist zwar nicht lenden Satellitensender, beispielsweise mehr ganz korrekt, den Adult Channel mit der hannover- schließlich wurde der schen Pornounternehmerin Teresa Or- Ex-Dekan der Theolo- lowski. gischen Abteilung im Der Zahlkanal Premiere will auf die Werbeträger Fink: „Wahnsinnig beschäftigt“ Herbst 1991 wegen frü- anschwellende Kritik an Bildschirm- herer Stasi-Mitarbeit Sex und -Gewalt mit marktwirtschaftli- gen Korallenriffen“. Überreiche Fisch- („IM Heiner“) seines Rektorenpostens chen Mitteln reagieren. In Kürze ent- gründe, preist der Prospekt, „zählen zu enthoben. scheiden die Premiere-Gesellschafter – den kostbaren Schätzen, die von der Na- Aber erstens klingt es gut, zweitens der französische Sender Canal plus, tur hier angehäuft wurden“. gilt der Theologe unter vielen Intellek- Medienriese Bertelsmann und Filmmo- Seit kurzem beherbergt die tropische tuellen in seiner Heimat noch immer als gul Leo Kirch – über den Start eines Inselgruppe, die bislang mehr bei Tau- Opfer der West-Kolonisation, und drit- Kinder- und Jugendkanals. Schon vom chern bekannt war, außer ihren 12 000 tens hat sich Fink durch seinen eigenen Herbst an könnte der Premiere-Able- Bürgern auch eine bedeutende Stätte Werdegang als Fachmann in Blitz-Pro- ger mit Eigenproduktionen aufwarten, akademischen Wirkens: Ausweislich des motion empfohlen: Seine Dissertation die pädagogisch wertvoll und garantiert Vereinsregisters hat die „Mellen Uni- über den Philosophen Friedrich Schlei- gewaltfrei sind. versity“ an den sonnendurchfluteten ermacher beurteilte die Humboldt-Uni- Dann hätte Weizsäckers Medienrat Gestaden ihren Sitz genommen. versität nach der Wende negativ. schon mal den deutschen Top-Kandi- Die Hochschule ist nicht nur exzeptio- Gemessen an der Bedeutung, die der daten für einen TV-Ethikpreis. Y nell gelegen; sie kann mit einem beson- Mellen-Verlag seinem deutschen Mitar-

DER SPIEGEL 5/1994 71 beiter in Werbebroschüren beimißt, nimmt sich die Arbeit des Verlagsreprä- sentanten relativ bescheiden aus. Per Flugblatt bietet Fink seit Jahres- wechsel deutschen Doktoranden die Veröffentlichung ihrer Dissertation als „Hartband- und Paperbackausgabe“ an – zu einem ausgesprochen günstigen Preis. Inklusive Transport kostet der Druck einer 300-Seiten-Arbeit bei der Mellen University Press lediglich 1500 Mark anstelle der in der Bundesrepublik üblichen 5000 Mark. „Das läuft ganz gut“, frohlockt Ver- treter Fink, der eine Umsatzbeteiligung vereinbart hat. Mehr als 40 Interessen- ten hätten sich bereits bei ihm gemeldet. Den Vorwurf allerdings, den zunächst die Frankfurter Allgemeine erhoben hat- te, der Professor beteilige sich an dubio- sem Titelhandel, findet er „ganz furcht- bar“. Von einer Hochschule auf den Caicos habe er nie gehört, Werbeschrif- ten mit seinem Namen auch bei seinem letzten Besuch in Amerika nicht zur Kenntnis genommen – „ich war da wahnsinnig beschäftigt“. Der „gute Mensch vom Humboldt“, wie ihn Anhänger nannten, scheint nicht einmal ins Programm des von ihm ver- tretenen Verlages gesehen zu haben. Denn sonst hätte ihm auffallen müssen, daß ein gut Teil der darin aufgeführten Bücher das segensreiche Wirken der Mun-Sekte preist. Und auch die sensationell günstigen Druckofferten haben den Professor of- fenbar nicht stutzen lassen. Hinter dem vermeintlich seriösen Billig-Angebot steckt möglicherweise ein perfider Trick: „Die Munis suchen Kontakt zu Leuten“, glaubt der Berliner Sektenex- perte Thomas Gandow, „die mal wichtig werden können.“ Y

Nordsee Klatsch, ein Zirkuspferd Giftalarm an der Nordsee: Der Schiffstransport von Gefahr- gut in Containern birgt kaum beherrschbare Risiken.

er Krabbenfischer Norbert Tem- ming aus Büsum, ein alter Fah- Drensmann, kennt die Deutsche Bucht wie nur wenige. Die Strömung, die immer aus Westen kommt und vor der Küste gegen den Uhrzeigersinn läuft, treibt gelegentlich traurige Fracht von weither an. Daher trägt sie

72 DER SPIEGEL 5/1994 DEUTSCHLAND

DÄNEMARK Sylt Nordsee GROSS- BRITANNIEN Föhr Schiffsunglück der „Sherbro“ SCHLESWIG- am 9. Dezember NIEDERLANDE Amrum HOLSTEIN

BELGIEN DEUTSCHLAND Pellworm Nordstrand Süderoogsand

FRANKREICH Sankt Peter-Ording Hauptmeeres- Funde von Helgoland strömung Giftbeuteln Büsum Deutsche Bucht Friedrichskoog

Spiekeroog Langeoog Wangerooge Norderney Juist Borkum NIEDERSACHSEN

Wilhelmshaven Bremerhaven

Emden NIEDERLANDE für ihn den Namen „Zug der Wasserlei- zelne mit genug Gift, um einen Men- stigte Touristen lieber in die Alpen fah- chen“. schen zu töten. ren. Vergangene Woche kam mit der Drift Ost- und Nordfriesen schauten bang Der Stoff, der den Friesen die Alp- wieder mal schlimme Fracht: Strand- auf das Meer. Die „Beutelpest“ (Kü- träume brachte, war 500 Seemeilen ent- wächter in wetterfestem Ölzeug fanden stenschnack) rief bei ihnen schreckliche fernt von Büsum vor der nordfranzösi- im Treibgut am Strand Tausende von Visionen hervor: vergiftete Strände, to- schen Küste von einem Schiff ins Meer Zehn-Gramm-Beuteln mit dem Pflan- te Fische und Vögel im weißen Sand gerutscht. Fünf Container mit 7,2 Ton- zenschutzmittel Apron Plus, jeder ein- und leere Bettenburgen, weil veräng- nen des Pestizides hatten sich in der Nacht zum 9. Dezember bei Windstärke 11 auf dem französischen Frachter „Sherbro“ aus ihrer Verankerung an Deck gelöst und waren in den Ärmelka- nal gefallen. Noch immer flottieren wenigstens 120 000 Giftbeutel durch das eisige Was- ser der Nordsee. Die Chemikalie kann, unverdünnt aufgenommen, beim Men- schen Atemnot, Krämpfe und Be- wußtlosigkeit, im schlimmsten Fall den Tod hervorrufen. Der schweizeri- sche Apron-Plus-Hersteller Ciba-Geigy, weltweit größter Pestizid-Produzent, spielte die Gefahr für Mensch und Natur letzte Woche indes herunter. Die Chemikalie könne Menschen höchstens dann „schädigen“, wenn sie es schluckten – schwacher Trost für be- sorgte Eltern, die befürchten, daß ihr Kind in den Sommerferien beim Bud- deln in der Sandburg mit dem roten Containerschiff „Sherbro“ (in Amsterdam): Teufelszeug im Staugerüst Teufelszeug in Berührung kommt. Die

DER SPIEGEL 5/1994 73 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Folgen für Fauna und Flora sind kaum dasGefahrgutheran. BeimodernenCon- Auflagen für die Containerschiffahrt. So abzuschätzen. 200 Millionen Liter Was- tainerschiffen jedoch, wendet der Bre- sollen in den Häfen strengere Sicherheits- ser sind nötig, um ein Päckchen Apron mer Kapitän und Gefahrgutexperte Mi- kontrollen Pflicht werden, und Schiffe Plus „in seiner Wirkung auf Meereslebe- chael von Gadow ein, sei ein „absichts- mit besonderer Risikofracht dürfen künf- wesen zu neutralisieren“, sagt Albrecht voller Deckswurf außenbords schon rein tignur nochaufspeziellenRoutenfahren. Klein, Chemiker beim Umweltbundes- technisch gar nicht mehr möglich“. Wenn Containerriesen von 280 Meter amt. In Laborversuchen mit dem Pesti- Was Garnier zu erwähnen vergaß, war Länge und mehr als 30 Meter Breite mit zid starben Fische durch 120 Millionstel auch Verkehrsminister Matthias Wiss- 3000 Containern an Bord durch die Mee- Gramm pro Liter Wasser. mann nicht präsent, als er sich am Don- re pflügen, drohen auch noch Gefahren Wissenschaftler teilen ohnehin nicht nerstag voriger Woche bei einem Treffen ganzandererArt:DieKapitänederSchif- den Volksglauben, die Selbstreinigungs- mit EU-Amtskollegen in Paris dafür ein- fe,diemit20Knoten, gut38Stundenkilo- kräfte des Meeres könnten mit jedwe- setzte, Gifte künftig nur noch im Bauch metern, zwischen den Kontinenten pen- dem Gift fertig werden. Die Aufnahme- von Containerschiffen zu transportieren: deln, sehen sich genötigt, die knapp kal- fähigkeit des Wassers ist nach Jahrzehn- Schon jetzt gehören nach internationa- kulierten Fahrpläne möglichst stunden- ten rücksichtsloser Einleitung von Indu- lem Recht lediglich die feuergefährlichen genau einzuhalten. Um in der Zeit zu striegiften stark strapaziert. Völlig legal Gefahrgüter an Deck. Gifte wie Apron bleiben, schaffen sich die Besatzungen, wie Insider sagen, „ihr Wet- ter oft selbst“. „Wer bei Windstärke 5 unvernünftig scharf fährt“, erläutert Sicherheitsexper- te von Gadow, „riskiert Be- lastungen wie sonst bei Or- kanstärke 12.“ Das Schiff „klatscht dann wie ein Zir- kuspferd in die Wellen“. Rüttelt ein Orkan, wieim Fall der „Sherbro“, ein Schiff durch oder fährt ein Kapitän mitüberhöhter Ge- schwindigkeit durch rauhe Wellen, kann die See auch die solidesten Befestigun- gen zerschlagen. Selbst massive Staugerüste, in die Container wie in Regale ge- Gestrandeter „Sherbro“-Container*: Peitschenhieb bei rauher See senkt werden, schützen bei schwerer See nicht zuverläs- gelangen jährlich 40 Millionen Tonnen sig vor Frachtschwund. giftiger Abfälle durch Flüsse und Rohre Als kritisch für die Sicher- in die Nordsee. heit an Bord gilt auch die Aber auch moderne Transportschiffe, Stautechnik. Werden Schif- die auf ihren Decks turmhoch Container fe so beladen, daß ihr stapeln, tragen seit Jahren zur Vermül- Schwerpunkt tief liegt, sind lung des Meeres bei. Annähernd zehn sie in schwerer See beson- Millionen Container werden jährlich ders gefährdet, ihre Ladung durch die Deutsche Bucht geschippert, zu verlieren. rund eine halbe Million davon mit gefähr- Bei rauher See richten lichem Inhalt. Nicht selten gehen, wie bei sich die Schiffe mit tiefem der „Sherbro“, Container bei Sturm über Schwerpunkt nach Krän- Bord. gungen ruckartig wieder Allein von 1988 bis 1992 wurden 184 auf. Wie durch einen Peit- der 38 Kubikmeter fassenden stählernen schenhieb können Contai- Transportbehältnisse als „abgängig“ re- Giftbeutel-Suche*: „Zug der Wasserleichen“ ner aus ihrer Decksveran- gistriert. Dabei wird bei weitem nicht je- kerung gerissen werden. der verlorene Container gemeldet. Oft Plus jedoch müssen, weil nicht entzün- Umweltminister Klaus Töpfer forder- schweigen Kapitäne und Reeder, weil sie dungsgefährdet, auch heute schon grund- te vorige Woche, Container bis zur Regreßforderungen befürchten, die we- sätzlich unter Deck gefahren werden. Schwimmfähigkeit zu verstärken und sie gen der Öko-Schäden auf sie zukommen Sicherheitsexperte von Gadow for- mit Signalbojen auszustatten: Auf diese könnten. Da ist es oft billiger, die abgän- dert, selbst feuergefährliche Gifte „unter Weise könnten Kisten mit Gefahr- gige Ladung abzuschreiben. Deck“ zu bringen – bei Gefahr könne der gut leicht aufgespürt und geborgen wer- Staunend nahmen Fachleute die Er- Laderaum ohne weiteres mit modernen den. klärung des „Sherbro“-Kapitäns Bernard Löschgasen geflutet werden. Eine Sicherheitsgarantie bieten je- Garnier, 53, zur Kenntnis, er habe nach Die EU-Verkehrsminister einigten doch auch diese Verbesserungen nicht. den internationalen Richtlinien die ge- sich letzte Woche unter dem Eindruck Einer der Gift-Container von Bord der fährliche Fracht auf dem Deck seines der „Sherbro“-Havarie auf zusätzliche „Sherbro“ schwamm wochenlang sicht- Schiffes lagern müssen – von wo aus sie bar durch den Ärmelkanal, ohne daß bei Sturm leicht ins Meer fallen kann. französische oder belgische Behörden * Oben: an der französischen Küste, im Vorder- In Notfällen, begründete Garnier, grund Plastikflaschen aus der „Sherbro“-Fracht; auch nur versucht hätten, die tödliche komme die Mannschaft so einfacher an unten: letzte Woche auf Borkum. Fracht zu bergen. Y

DER SPIEGEL 5/1994 75 WIRTSCHAFT

Banken SUCHE NACH DER KLADDE Die deutschen Banken sind beunruhigt, viele ihrer Kunden in Panik: Hat die Steuerfahndung Zugriff auf Namen und Daten von Geldbewegungen, die dem Fiskus verschwiegen wurden? Die Durchsuchung der Dresdner Bank in Düsseldorf und Frankfurt ist umstritten, ihre Folgen, so fürchten Banker, sind verheerend.

iner hatte die Banken rechtzeitig Frankfurter Großbankier. Die gewarnt: Sie könnten Ärger be- gesamte Branche bangt um ih- Ekommen, meinte Michael Streck, ren Ruf. Sparkassenpräsident Steuerfachanwalt aus Köln, wenn sie Horst Köhler warnt vor einer allzu leichtfertig ihre Kunden betreu- „aufkommenden Neidkampa- ten. gne gegen die Kreditwirt- Wenn er die bunten Broschüren der schaft“. Banken sehe, die deutsches Geld ins In heller Aufregung aber Ausland lenken, rief Streck 1992 Ban- sind vor allem die Kunden der kern und Steuerberatern auf deren Dresdner Bank. Die Vorstel- jährlichem Treffen zu, dann ahne er, lung, die Steuerfahnder könn- daß demnächst „irgendeine Staatsan- ten Einblick in Vorgänge be- waltschaft den Verdacht der Anstiftung kommen, von denen das Fi- oder Beihilfe zur Steuerhinterziehung nanzamt nun gerade nichts schöpfen kann“. wissen soll, versetzt viele in Niemand nahm damals offenbar den Panik. Das Bankgeheimnis, einsamen Mahner ernst. Heute darf er hoch geschätzt und gern ge- sich als Prophet fühlen. nutzt, ist wieder einmal in Ge- Im Januar erschienen Steuerfahnder fahr. bei der Dresdner Bank in Düsseldorf In den Filialen der Dresdner und in Frankfurt. Sie verdächtigten in Bank geht es turbulent zu. der Tat die Mitarbeiter des Instituts, Nervöse Sparer bestürmen ih- bei der Hinterziehung von Steuern be- re Berater, ob Konten und hilflich gewesen zu sein. Vermögen nun dem Fiskus be- Bei Einzahlungen zugunsten von Lu- kannt sind oder gar Enttar- xemburger Nummernkonten, so die nung droht. „Den ganzen Tag Fahnder, hätten die Banker die Namen geht das Telefon“, so ein Anla- der Kunden einfach nicht erfaßt. Das Steueranwalt Streck: Einsamer Mahner geexperte, „oft glauben die wäre Beihilfe, wenn die so Be- Leute, mit einem schnellen dienten die Zinsen gegenüber Bankwechsel noch etwas zu dem Finanzamt verschweigen. retten“. Gut 40 Beamte durchsuch- Durch solche Panikreaktio- ten vom 11. bis zum 20. Januar nen erleidet Deutschlands Geschäftsräume der Bank. Ei- zweitgrößtes Geldhaus, das ne Woche lang öffneten die auf der ganzen Welt vertreten Fahnder die gesamte Post aus ist, „stündlich steigende Beein- Luxemburg; mehrere Mitar- trächtigungen“, wie die Bank beiter wurden verhört, eine erklärte. Privatwohnung wurde gefilzt. Amerikanische Banker ru- Insgesamt 70 Aktenordner mit Bankenwerbung (Ausriß): „Bis aufs Blut gereizt“ fen bei ihren Kollegen an und Tausenden von Kundenbele- fragen nach, was denn los sei gen, archiviert seit 1987, wurden be- Dresdner Bank als unzulässig. Zwar leg- am Finanzplatz . „Hier schlagnahmt. te das Institut beim Landgericht Düssel- herrscht Steuerchaos“, läßt Jürgen Sar- Der SchlagzeigteWirkung, dieFinanz- dorf Beschwerde gegen die Durchsu- razin, Chef der Dresdner Bank, erklä- welt erbebte. Eilig wurden in verschiede- chung ein, doch ohne Erfolg. Auch in ren. nen Banken Prüfungen angeordnet, wo den übergeordneten Instanzen sind die Selbst der Zentralbankrat befaßte vielleicht im eigenen Haus nicht alles Chancen der Klage nach Ansicht von sich auf seiner jüngsten Sitzung mit der ganz so gelaufen ist, wie es dem Fiskus ge- Juristen gering. Aktion. Nachdem der Düsseldorfer fällt. Juristen der großen Institute setzten Daher fürchten nun auch andere Kre- Landeszentralbanker Reimut Jochimsen sich seit Tagen immer wieder zusammen, ditinstitute mit Luxemburger Töchtern, über die Hintergründe referiert hatte, um ihr Vorgehen abzustimmen. von Spähtrupps überrascht zu werden. fürchten die Bundesbanker nun neuen Seit Ende der vierziger Jahre galten „Irgend etwas können diese Detektive Druck auf die zum Beginn des Super- Großaktionen wie die gegen die auch bei uns konstruieren“, ahnt ein Wahljahres ohnehin schwache Mark.

76 DER SPIEGEL 5/1994 Bankenzentrum Luxemburg: Schwarzgeldkonten nur mit Pseudonym oder unter einer Nummer

Unter Juristen ist der Einsatz der konto der Dresdner Bank in Luxemburg de wurde zurückgegeben, doch inzwi- Düsseldorfer Fahnder äußerst umstrit- hinterlassen. Einer der Erben plauderte schen sind die Fahnder sicher, daß sie ten. „Das könnte Flächenfahndung das leichtfertig aus und wurde denun- wichtige Daten enthält. sein“, kritisiert der Freiburger Steuerju- ziert. Seit Anfang Januar sind Staatsanwäl- rist Gerhard Geckle – und die ist laut Zum anderen hatte die Düsseldorfer te und Steuerexperten wiederum auf der Gesetz verboten. Bankunterlagen dür- Fahnder Neues in einem alten Fall be- Suche nach der geheimnisvollen Klad- fen nur beschlagnahmt und verwertet flügelt. Im Jahre 1988 hatten Steuer- de. Büroräume und die Privatwohnung werden, wenn ein konkreter Verdacht fahnder gegen einen Filialleiter der der Angestellten, die damals die Kladde gegen einen bestimmten Täter vorliegt; Dresdner Bank in der Düsseldorfer Alt- führte, wurden durchstöbert. Verge- alles andere ist unzulässig. stadt ermittelt. Dieser, mittlerweile in bens. Das wissen auch die Staatsanwälte. Haft, hatte Schwarzgelder von Kunden Das geheimnisvolle Buch ist nach An- Daher spielen sie die Bedeutung ihres auf Auslandskonten transferiert. sicht der Staatsanwälte der Schlüssel zu gefundenen Materials herunter. „Wenn Damals beschlagnahmten die Staats- einem Bankenskandal. Es enthält nach uns dabei auch andere Unterlagen in die anwälte eine Kladde aus dem Schreib- Ansicht der Fahnder die Namen von Finger fallen, schauen wir weg“, sagt tisch einer Bankangestellten. Die Klad- Kunden, in deren Auftrag die Dresdner Oberstaatsanwalt Jochen Ruhland. Bank Schwarzgelder Doch daran mögen weder Banker auf die Konten ihrer noch Kunden glauben. Steuerexperte Luxemburger Filiale Streck rät Betroffenen zur Selbstanzei- überwies. ge: Kommt das Bekennerschreiben Staatsanwälte und rechtzeitig beim Finanzamt an, gehen Kriminalisten interes- die Sünder straffrei aus und müssen nur sieren sich zudem für die Steuern nachzahlen. ein ganz besonderes Ob die Dresdner Bank selbst ihren Konto in der Frankfur- verunsicherten Kunden einen solchen ter Zentrale der Schritt empfehlen soll, ist umstritten. Dresdner Bank – ein Doch welcher Kunde soll einen warnen- Verrechnungskonto den Hinweis erhalten? Selbst Spitzen- mit der Filiale Luxem- manager des Konzerns wissen noch burg. Über dieses Kon- nicht genau, welche Daten in den be- to läuft der gesamte schlagnahmten 70 Aktenordnern zu fin- Zahlungsverkehr zwi- den sind. schen der Bank und ih- Anlaß für die spektakuläre Durchsu- rer Luxemburger Filia- chung war zum einen ein Erbfall. Ein le. Weil alle Zahlungs- Düsseldorfer Ehepaar hatte neben son- bewegungen hier erfaßt stigem Vermögen auch eine Barschaft sind, ist es jedoch von 500 000 Mark auf einem Nummern- Stern schwierig, im Einzelfall

DER SPIEGEL 5/1994 77 WIRTSCHAFT

illegale Geldtransfers nachzuweisen. Er- zwischen schwere Vorwürfe gegen die schwert wird die Suche, weil die meisten Dresdner Bank, die sie nun verantwort- Inhaber von Schwarzgeldkonten in Lu- lich dafür machen, daß unter den vie- xemburg auf dem Zentralkonto der len Schwarzgeldkunden eine Panik ent- Dresdner Bank nur mit Pseudonym standen ist. Das Transfersystem der oder unter einer Nummer erscheinen. Dresdner Bank nach Luxemburg sei für Dennoch fanden die Ermittler Hin- Fahnder viel zu durchsichtig. weise auf einige der vermögenden Lu- Die Dresdner Bank selbst kündigte xemburg-Kunden. Da tritt inzwischen inzwischen an, gegen das Vorgehen der so mancher die Flucht nach vorn an. Ei- Fahnder Verfassungsbeschwerde einzu- nige Kunden der Dresdner, die das legen. Die Strategie der Bankjuristen ist schlechte Gewissen plagt, haben inzwi- offenkundig. Sie wollen versuchen, die schen Selbstanzeige erstattet. Ermittlungen mit der Begründung, es Schon lange, so Steuerexperte Streck, handele sich um eine unzulässige Mas- hätte die von den Banken organisierte senfahndung, durch ein Urteil des Ver- Kapitalflucht die Fahnder „bis aufs Blut fassungsgerichts zu stoppen. gereizt“. Ohnmächtig hätten sie mitan- Ob das glückt, ist zumindest fraglich. sehen müssen, wie steuerunwillige Die Anleger der Banken jedenfalls, die Deutsche Milliarden außer Landes, vor um ihre Schwarzgelder fürchten, wer- allem nach Luxemburg, schafften. den darauf nicht setzen können. Sie le- Als die Regierung im vergangenen ben weiter in Angst, daß die Fahnder Jahr eine Zinsabschlagsteuer von 30 beschlagnahmte Dokumente und ihre Prozent einführte, löste sie bei deut- Notizen, die sie während der Durchsu- schen Sparern eine „Massenpsychose“ chung machten, der zuständigen Steuer- (Streck) aus. Und die Banken wußten behörde überlassen. Y die Angst ihrer Kunden zu nutzen. Ihre Werbung war eindeutig. „Reisen bildet – z. B. Kapital“, lockte die Deut- Tarifstreit sche Bank. „Ihre Tafelpapiere können Sie uns gern zur Verwahrung überge- ben. Wir informieren Sie über Ablauf und Vorteile“, so die Landesbank Sanfte Töne Rheinland-Pfalz aus Luxemburg. Die Gelder der verunsicherten Kun- Die Tarifpartner in der Metallindu- den wurden teils einfach überwiesen, strie sind sich schon näher- teils – für die ganz Ängstlichen – im Ku- rierdienst der Banken ins Nachbarland gekommen – trotz Warnstreiks. gerollt. Dort verbuchten es ihre Nieder- lassungen, nicht zum Nulltarif, versteht ie Verhandlungen waren diesmal sich. ganz schnell vorbei. Am Mittwoch Allein 100 Milliarden Mark gingen so- Dvergangener Woche trennten sich mit in Luxemburger Investmentfonds, Metall-Arbeitgeber und IG Metaller im schätzungsweise das Doppelte floß in südwestdeutschen Balingen bereits nach andere Anlageformen. Aufgrund dieser knapp zwei Stunden. In den anderen „massiven Ausweichreaktionen“, urteil- Bezirken sah es nicht anders aus. Es war te die Bundesbank kürzlich, sei die neue alles gesagt. Zinssteuer ein kompletter Reinfall. Mit Argumenten kommen die Tarif- Die Konkurrenten sowie der Bundes- partner der Metallindustrie offenbar verband deutscher Banken erheben in- nicht mehr weiter. Jetzt soll die Basis

IG-Metall-Funktionär Zambelli: „Die Stimmung ist gereizt“

78 DER SPIEGEL 5/1994 Die Bundesanstalt für Arbeit darf den Beschäftigten in den Firmen, die mittelbar durch Arbeitskämpfe betroffen sind, keine Unterstützung mehr zah- len. Würden die Arbeitgeber ge- zielt aussperren, so daß auch Zulieferbetriebe oder Abneh- mer außerhalb des Streikge- bietes ihre Produktion stoppen müßten, stünden im Extrem- fall Zehntausende von Be- schäftigten ohne Lohn, Staats- geld oder Unterstützung aus der Streikkasse da. Der Ar- beitskampf geriete zur Schlacht, auch das Image der Firmen würde beschädigt. Um so größer ist der Druck, die schwierige Runde friedlich zu beenden, das wissen die Funktionäre auf beiden Seiten. „Ich sehe eine Lösung am Ver- handlungstisch“, sagt IG-Me- tall-Vize Walter Riester. Tatsächlich hat sich schon viel mehr bewegt, als die nach außen harten Fronten ahnen Arbeitgeberfunktionär Hundt lassen. Dreimal haben sich „Wir sind gesprächsbereit“ Spitzen des Arbeitgeberver- bands Gesamtmetall und der Bewegung in die Fronten bringen. Die Gewerkschaft in den vergangenen Wo- Friedenspflicht ist zu Ende, bereits am chen getroffen, um auch über neue We- Wochenende veranstalteten Tausende ge nachzudenken und die Belastbarkei- von Beschäftigten Warnstreiks. ten auszuloten. Die Stimmung in den Betrieben ist ge- „Das Verhandlungsklima war so sach- reizt; die Entwicklung der nächsten Ta- lich wie noch nie, obwohl wir der ge, so der Stuttgarter Bezirksleiter Ger- IG Metall einiges zumuten“, sagt Arnulf hard Zambelli, werde Gradmesser für die Jagenlauf, Geschäftsführer des südwest- Mobilisierung zum großen Arbeitskampf deutschen Metall-Arbeitgeberverban- sein. Streik in der angeschlagenen Me- des. tallbranche? Gefahr für die Betriebe, für Bei der Flexibilisierung der Arbeits- Aufschwung und Tarifautonomie? zeiten sind sich die Verhandlungspart- Die IG Metall fordert Lohnerhöhun- ner im wichtigen baden-württembergi- gen und Vereinbarungen, mit denen Ar- schen IG-Metall-Bezirk schon ziemlich beitsplätze gesichert werden. Die Arbeit- nah. „Wir sind gern bereit, schwanken- geber wollen die Lohnkosten senken und de Arbeitszeiten zu akzeptieren“, sagt die Arbeitszeiten flexibler haben. Vor al- Verhandlungsführer Zambelli von der lem die Urlaubsansprüche möchten die IG Metall. Erweiterte Zeiträume, um Unternehmer kräftig zurückschneiden. die Mehr- oder Minderarbeit im Ver- Die Gewerkschaft müßte mit ihrer ur- gleich zur generellen, tarifvertraglich sprünglichen Forderung nach sechs Pro- vereinbarten Arbeitszeit auszugleichen, zent mehr Lohn in den Arbeitskampf zie- seien für die Gewerkschaft „kein Pro- hen. An diese Ziffer glaubt aber kein blem“. Mensch mehr, weder an der Spitze noch Bei der Länge der generellen Arbeits- an der Basis. Die Funktionäre predigen zeiten hakt es noch. Viele Unternehmer seit Wochen, nicht das Entgelt, sondern wollen die Möglichkeit haben, ihre Be- die Beschäftigungssicherung sei der ent- schäftigten oder einzelne Abteilungen scheidende Punkt der Runde. wieder länger arbeiten zu lassen. Als Zudem sind die Kampftruppen ge- Vorbild preisen die Funktionäre den schwächt worden. In Betriebsvereinba- Textilmaschinenhersteller Schlafhorst, rungen haben sich etliche Firmen, darun- der mit seiner Belegschaft jetzt verein- ter viele große wie Daimler oder Sie- bart hat, daß die Arbeitszeiten auf bis zu mens, schon mit ihren Belegschaften ge- 48 Stunden in der Woche ausgedehnt einigt und den Erhalt der Arbeitsplätze werden können. zugesagt. Auf die Verlängerung der Arbeitszei- Schlimmer bedrückt der 1986 geänder- ten will sich die Gewerkschaft aber kei- te Paragraph 116 des Arbeitsförderungs- nesfalls einlassen. Sie bietet genau das gesetzes die Strategen der Gewerkschaft: Gegenteil: das Vorziehen der 35-Stun-

DER SPIEGEL 5/1994 79 WIRTSCHAFT

den-Woche und Öffnung nach unten, wenn dadurch in den Betrieben Arbeits- plätze erhalten werden können. Trotzig weisen die Gewerkschafter auf Die reine Lehre jene Regel imTarifvertrag, die es den Fir- men seit Jahren schon ermöglicht, bis zu KLAUS-PETER KERBUSK 18 Prozent der Belegschaft 40 Stunden arbeiten zu lassen. Die IG Metall, so er braucht schon eine Postre- USA kein funktionierendes Tele- Zambelli, hätte nichts dagegen, die form? Briefe und Pakete fonnetz. Anders als die Kollegen schwerfällige Klausel geschmeidiger zu Wwerden doch pünktlich aus- beim Staatsbetrieb Bundesbahn, machen. „An den Arbeitszeiten soll die getragen, das Telefon funktioniert, die aktiv an der Bahnreform mitge- Tarifrunde nicht scheitern“, sagt der Be- per Kabel kommen Fernsehen und wirkt haben, haben sich die Postler zirksleiter immerhin. Hörfunk in bester Qualität ins Haus, mit ihrem ideologischen Veto in- Die Wirklichkeit gibt beiden Seiten und der Postminister will jetzt auch zwischen aber selbst ins Abseits recht. Die Mittelständler in seinem Ver- noch die Gebühren senken. manövriert. band, sagt der Arbeitgebergeschäftsfüh- Hat nicht der Monopolist bislang Dort wären die Sozialdemokra- rer Jagenlauf, kämen durchaus mit der weitgehend die Deutschen ordent- ten auch fast gelandet. Erst nach bestehenden Regel aus. Andere, vor al- lich bedient? Muß also wirklich das heftigen internen Machtkämpfen lem Maschinenbauer, die ihre spärlichen Staatsunternehmen Telekom eine fand die SPD zu höherer Einsicht Aufträge aus dem Stand billiger Aktiengesellschaft werden? und signalisierte ihre Zustimmung. erledigen müssen, oder die Dienstlei- Ja doch, es muß. Nicht heute und Doch alle Mühe, so schien es ver- stungsetagen in den großen Firmen, Ent- nicht morgen, aber ehe das Jahr- gangene Woche, war vergebens. wickler und Kundenbetreuer etwa, drän- zehnt zu Ende geht, werden in Euro- Überraschend schob die FDP neue gen auf verlängerte Arbeitszeiten. Etli- pa Stück für Stück alle Monopole Forderungen nach. Es reiche nicht che haben sie mit ihren Betriebsräten sterben, mit denen sich die staat- aus, behauptet der ordoliberale schon vereinbart. lichen Postbehörden bislang vor Vordenker Graf Lambsdorff, nur Dagegen schicken Autohersteller oder Konkurrenz geschützt haben. Knall- die Telekom zu privatisieren. Der Zulieferer, die ihre Maschinen zur Zeit harter Wettbewerb um Gebühren, Bundestag müsse auch gleichzeitig nicht auslasten können, ihre Leute früher Geräte und Dienst- verbindlich festlegen, nach Hause: Mercedes-Benz will in allen leistungen wird dann wann die Monopole elf Werken die 35-Stunden-Woche vor- die Telekommunika- Die Bremser fallen. ziehen, in Rastatt kommen die Autobau- tion bestimmen. Natürlich weiß die er gar mit 32 Stunden aus. Siemens und Um die Telekom der Postreform FDP, daß sie das Re- Audi tun es, auch kleinere Zulieferbe- mit ihrem schwerfälli- manövrieren formwerk damit end- triebe wie Maehler & Kaege im Huns- gen Beamtenapparat gültig auf eine ferne rück. nicht von vornherein sich ins Abseits Zukunft vertagen Die Unternehmen brauchen Tarifre- zum Verlierer zu kann. Weitere Zuge- geln, die für diese verschiedenen Bedürf- stempeln, muß der Staatsbetrieb ständnisse können die Sozialdemo- nisse offen sind. Mit einer Klausel, die ei- privatisiert werden. Nur dann hat kraten kaum machen. Sie wollen, ne dauerhafte Verlängerung der Arbeits- er eine Chance, gegen ausländische ebenso wie Postminister Wolfgang zeiten ausschließt, will der baden-würt- Giganten wie AT&T oder British Bötsch, die Monopole nur im tembergische Metall-Arbeitgeberpräsi- Telecom zu bestehen. Gleichschritt mit den europäischen dent Dieter Hundt die IG-Metaller lok- Aber nicht nur wegen der mehr Nachbarn beseitigen. ken. Auch die geforderte Verpflichtung als 200 000 Arbeitsplätze muß die Wem also nützt das Sperrfeuer zum Arbeitsplatzerhalt, etwa in Verbin- Telekom auf eigene Füße gestellt der FDP? Die private Konkurrenz dung mit dem Vorziehen der 35-Stunden- werden. Auch die Kunden werden der Telekom hätte es natürlich Woche, stellt er in Aussicht: „Da sind wir vom Wettbewerb durch bessere leichter, wenn die Postreform sehr gesprächsbereit.“ und billigere Angebote beim Tele- scheitert und die Staatsfirma eine Nur beim Geld ist Schluß mit den sanf- fon und bei der elektronischen Da- träge Behörde bleibt. Das Risiko ten Tönen. „Da ging nichts mehr“, sagt tenübertragung profitieren. eines solchen Experiments ist ge- IG-Metaller Zambelli. Die Arbeitgeber All das wissen die Bonner Politi- waltig, nicht nur für die Telekom, wollen Tarifsenkungen durchsetzen, die ker seit langem. Dennoch haben sie sondern für die gesamte Elektro- IG Metall bei den Löhnen nicht ohne po- es geschafft, das Reformwerk zwei nikindustrie in Deutschland. Mit ei- sitive Prozentzahl aus der Runde gehen. Jahre lang zu verzögern. nem Volumen von 30 Milliarden Die Beschäftigten in den Betrieben ha- Dabei gibt es im Grundsatz zwi- Mark ist die Telekom deren größ- ben in den vergangenen Monaten schon schen den Parteien kaum einen ter Auftraggeber. spürbar bezahlt. Weiterer Lohnverzicht, Dissens. Nachdem die Bundespost Die guten Vorsätze, den Stand- warnt inzwischen auch das Deutsche In- Mitte 1989 in drei Generaldirektio- ort Deutschland zu stärken, sind stitut für Wirtschaftsforschung in Berlin, nen aufgeteilt worden war, ist der offensichtlich schnell vergessen, gefährde die wirtschaftliche Entwick- zweite Schritt – die Privatisierung – wenn es darum geht, im politischen lung. nur eine logische Konsequenz. Geschäft wieder mal ein paar er- Diesmal, so scheint es, sind es die Ar- Doch die Bremser sitzen überall. staunte Blicke zu erhaschen. Ein beitgeber, die von überzogenen Forde- Ganz vorn die Postgewerkschaft, Beleg für die wirtschaftspolitische rungen herunterkommen müssen. Die die immer noch von der „Bürger- Kompetenz der Regierung wäre es Warnstreiks, hofft IG-Metaller Riester, post“ und der „Sicherung der Infra- jedenfalls nicht, wenn die Postre- werden ihnen dabei helfen. struktur“ schwafelt, gerade so, als form an der reinen Lehre der FDP Sein Kollege Zambelli tröstet den Ver- gebe es in England oder in den scheiterte. handlungspartner sogar: „Aus dieser Ta- rifrunde“, sagt er, „kommen beide Seiten zerzaust heraus.“ Y

80 DER SPIEGEL 5/1994 WIRTSCHAFT TRENDS

Lloyd’s-Mitglieder bereits ten dürfen. Die Beamten des bankrott. Durch Nachforde- Bonner Verkehrsministeri- rungen für Altschäden sind ums haben bei den Verhand- zahlreiche weitere Mitglieder lungen in Washington in die- vom Ruin bedroht. ser Woche daher nur eine Al- ternative: Entweder sie stim- Luftverkehr men den Wünschen der Amerikaner zu, oder sie kün- USA fordern digen das bereits ausgehan- delte Abkommen und riskie- neue Rechte ren damit das endgültige Die von der Lufthansa und Scheitern der Lufthansa-Uni- der US-Fluggesellschaft Uni- ted-Kooperation. Lufthansa- ted geplante Kooperation Chef Jürgen Weber ist immer wird nur dann beginnen kön- noch optimistisch: „Die nen, wenn die Deutschen den Chancen stehen 60:40 für ei- Amerikanern Zugeständnis- ne Einigung.“ se machen. Bei den Verhand- Lloyd¯s-Zentrale in London lungen über ein neues Luft- Dasa verkehrsabkommen zwischen Versicherungen ben die Prämien an. Damit Deutschland und den USA Fokker-Chef ist schon jetzt absehbar, daß war eine wichtige Frage aus- Lloyd’s macht Lloyd’s im Jahre 1996, wenn geklammert worden. Es ging muß gehen die Bücher für das Versiche- um das Recht der Amerika- Die Tochtergesellschaften wieder Gewinn rungsjahr 1993 geschlossen ner, mit ausländischen Flug- der Deutschen Aerospace Nach Jahren schwerster Ver- werden, erstmals seit 1987 gesellschaften im deutschen (Dasa), MTU und Fokker, luste scheint Lloyd’s, Lon- wieder einen Gewinn auswei- Markt zu kooperieren. Nun dons berühmter Versiche- sen wird. Für Hunderte der verlangen die Amerikaner, rungsmarkt, die schlimmste mit ihrem persönlichen Ver- daß diese Frage in ihrem Sin- Krise seiner über 300jährigen mögen haftenden 18 400 ne gelöst wird. US-Gesell- Geschichte überstanden zu Lloyd’s-Mitglieder kommt schaften wie Delta und Ame- haben. Im vergangenen Jahr diese Wende zum Besseren rican sollen gemeinsam mit gab es nur wenige Großschä- allerdings zu spät: Nach den osteuropäischen Linien wie den durch Naturkatastro- vergangenen Verlustjahren der polnischen LOT oder der phen oder Unglücksfälle. (Defizit 1990: über acht Mil- tschechischen CSA von Überdies drückten die Versi- liarden Mark) sind die am Deutschland aus innereuro- cherer ihre Kosten und ho- schwersten betroffenen päische Verbindungen anbie-

Volkswagen kräftige Abwertung der Peseta dazu, daß die Finanzierungskosten für Kredite, die Seat im Ausland aufgenommen hatte, Alarmsignale übersehen stark stiegen. Pie¨ch übersah die Alarmsi- Nederkoorn Mit schweren Vorwürfen gegen den entlas- gnale und ist nun in Erklärungsnot. Der senen Seat-Chef Juan Antonio Dı´az Alva- als Sanierer engagierte VW-Chef erreich- bekommen neue Vorstände. rez versucht der Vorstandsvorsitzende des te in seinem ersten Jahr einen Konzern- Fokker-Chef Erik Jan Neder- Volkswagen-Konzerns, Ferdinand Pie¨ch, verlust von rund zwei Milliarden Mark. koorn, einst eifrigster Befür- von eigenen Fehlern abzulenken. Der Vor- Gegenüber der spanischen Zeitung El worter einer Mehrheitsbetei- stand der VW-Tochter Seat, so klagt Pie¨ch, Pais verriet Pie¨ch das wahre Motiv seiner ligung der Daimler-Tochter habe ihn getäuscht, als er den aufgelaufe- Attacke gegen Dı´az Alvarez: „Wegen der Dasa, soll – kommissarisch – nen Verlust mit rund 150 Millionen Mark großen unerwarteten Seat-Verluste riskie- durch seinen bisherigen Stell- bezifferte und bis Jahresende ein ausgegli- re ich hier meine Position.“ vertreter Reinder van Dui- chenes Ergebnis in Aussicht nen ersetzt werden. Neder- stellte. Tatsächlich verbuchte Se- koorn hat vor allem das Ver- at 1993 einen Verlust von 1,4 trauen der niederländischen Milliarden Mark. Wegen Vor- Aufsichtsräte verloren; sie täuschung falscher Zahlen will werfen ihm schwere Manage- VW nun den entlassenen Seat- mentfehler vor. Bei dem Mo- Chef möglicherweise verklagen. toren- und Triebwerkherstel- Doch Pie¨ch, seit Januar 1993 im ler MTU scheidet der bisheri- Aufsichtsrat bei Seat, hätte die ge Vorstandsvorsitzende Hu- drohende Katastrophe längst er- bert Dunkler aus Altersgrün- kennen können. Der Seat-Ab- den aus. Sein Nachfolger satz war bereits Anfang 1993 ein- wird der Westinghouse-Ma- gebrochen. Die Produktion muß- nager John R. Tucker. Mit te in den ersten sechs Monaten Tucker, 46, wird erstmals ein um mehr als ein Drittel gedros- Amerikaner Vorstandschef selt werden. Zudem führte die Seat-Produktion in Martorell eines deutschen Industrieun- ternehmens.

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ES KANN JEDEN TREFFEN Wer ist der nächste? Die Bankangestellte, der Schlosser, der Direktor? Die Angst um die Arbeitsplätze geht um. Die Unternehmen brauchen immer weniger Menschen; Hunderttausende verlieren ihre Jobs, gleiten ins Abseits. Jetzt hat die Kündigungswelle die Mittelschicht erfaßt. Droht das Ende des sozialen Staats?

ie Liebeserklärung („I love Philips“) Dklebt auf fast jeder Glastür. Hinter den Schei- ben liegen helle, modern eingerichtete Räume: Bü- ros mit Grünpflanzen und großen Fenstern, gerade renovierte Produktionshal- len, in denen selbst die Ab- luftrohre wie frisch ge- scheuert blitzen. Angenehme Arbeitsplät- ze, so scheint es, und bis vor kurzem sahen das die 360 Beschäftigten der Köl- ner Philips-Niederlassung genauso. „Die Stimmung war gut hier“, sagt die An- gestellte Gabi Schilling, 34, „aber das ist jetzt vorbei. Wir fühlen uns von der Konzernleitung verschau- kelt.“ Die Chefs im holländi- schen Eindhoven wollen das Kölner Werk so schnell wie möglich schließen. In Abschiedsessen im Kölner Philips-Werk: „Wir fühlen uns verschaukelt“ den Niederlanden werde um 30 Prozent billiger produziert, heißt eines einzelnen Werks schon gar nicht – noch von Geld ohne Arbeitsleistung le- es. das zeigen nicht nur die Erfahrungen ben? Verändern sich die Menschen? Die meisten Mitarbeiter haben den Be- der Philips-Arbeiter aus Köln. Die Arbeit, oft als schwer erträgliche trieb schon verlassen, trotzdem können Die Rezession zwingt die Unterneh- Fron verflucht, ist zu einem Gut gewor- einige das Ende noch immer nicht fassen. men, ihre Kosten zu drücken, und den, um das die Menschen bangen. Die In den vergangenen Jahren hat das Werk das bedeutet meist: Leute entlassen. Behauptung, daß Arbeit adelt, wird stets Gewinne erwirtschaftet, die Philips- Die Aussicht, heil durch die Krise zu längst nicht jeder unterschreiben wol- Produkte aus Köln sind so gefragt, daß kommen, ist für viele Beschäftigte len. Sie zu verlieren, empfinden den- die Beschäftigten wochenlang mehr ar- schlecht. noch immer mehr als Verlust. beiten mußten, als die Tarifverträge vor- Seit Bestehen der Bundesrepublik Es wird ja nicht nur das Geld knap- sahen. Vor einem Jahr wurde das Werk waren noch nie so viele Deutsche von per, wenn der Job weg ist. Wer morgens sogar ausgezeichnet – als Philips-Betrieb Arbeitslosigkeit so sehr bedroht wie in nicht mehr ins Büro oder an die Werk- mit der höchsten Produktivität in diesen Tagen (siehe Grafik). Schon in bank muß, kann sich schnell einen seeli- Deutschland. den achtziger Jahren war die Situation schen Knacks zuziehen: Er wird nicht „Wir waren die Besten“, sagt Schilling, am Arbeitsmarkt bedrückend, nun mehr gebraucht, ist abgestiegen, ausge- und das klingt trotzig und mutlos zu- wächst sie sich zur Katastrophe aus. schieden. Was bleibt, ist Hilflosigkeit gleich. In ein paar Wochen wird die Sach- Zu Jahresbeginn waren offiziell angesichts einer offenbar zwangsläufi- bearbeiterin sich umschulen lassen, noch knapp 3,7 Millionen Menschen ohne gen Entwicklung. denkt sie darüber nach, wo sie einen si- Arbeit – ein trauriger Rekord. Die inof- Der weltweite Strukturwandel hat die cheren Job finden könnte. Einfach ist das fizielle Zahl liegt weit höher, bei fünf bis deutsche Wirtschaft mit einer Wucht ge- nicht. „Worauf“, fragt sie, „soll man heu- sechs Millionen. troffen, die noch vor kurzem unvorstell- te eigentlich noch bauen ?“ Was wird aus einer Gesellschaft, die bar schien: Viele ihrer Produkte wie Auf die großen Namen der deutschen immer mehr Menschen aus der Arbeits- Autos und Maschinen, Chemikalien und Industrie jedenfalls nicht, auf die eigenen welt abschiebt? Verändert sich der Stahl sind international nicht mehr wett- Fähigkeiten nur bedingt und auf den Ruf Staat, wenn allzu viele seiner Bürger nur bewerbsfähig. Und in den Zukunftsin-

82 DER SPIEGEL 5/1994 Zuwachs auf breiter Front Monatliche Umfrage 1993: „Welches sind Arbeitslose nach Berufsgruppen (alte Bundesländer) 302 194 die wichtigsten Probleme in Deutschland?“

Prozent 228 238 40 ARBEITS- 35 LOSIGKEIT 1992 1993 170 034 30 148 793 jeweils Ende September 136 387 25 ASYL- 98 839 20 BEWERBER, AUSLÄNDER 15 45 514 48 223 JUGOSLAWIEN 32 881 33 680 10 UMWELT- SCHUTZ Chemiearbeiter, Ingenieure, Schlosser, Warenkaufleute Organisations-, 5 Quelle: Emnid-Institut; Bundesbürger insgesamt Kunststoffverarbeiter Chemiker, Mechaniker und Verwaltungs- und 0 Physiker, zugeordnete Berufe Büroberufe Jan. März Mai Juli Sept. Nov. Dez. Mathematiker

Angst um den Arbeitsplatz (siehe Grafik). Zu Recht: Arbeitslosigkeit ist nicht länger nur eine Gefahr für eine kleine Minderheit älte- rer oder weniger qualifizier- ter Arbeitnehmer – plötz- lich kann es jeden treffen. Noch nie, das zeigen die Zahlungen der Bundesan- stalt für Arbeit, verloren so viele Gutverdienende ihre Jobs (siehe Grafik), zum er- stenmal in der Geschichte der Bundesrepublik bangen Spitzenmanager und Unge- lernte gleichermaßen um ih- re Arbeitsplätze. Ob Che- miker oder Computerbau- er, ob Bankangestellter oder Techniker – keiner ist mehr sicher: Wer ist der nächste? Das schwäbische Sindel- fingen, jahrelang reichste Kommune Deutschlands, verzeichnet heute 150 Ar- Protest von Bankangestellten*: Die Gewerkschaften erhalten Zulauf von den Gutverdienenden beitssuchende pro offener Stelle. Schweinfurt in Bay- dustrien – der Biotechnik etwa oder der Fast jedes deutsche Großunterneh- ern galt stets als florierende Industrie- Elektronik – sind die Deutschen nur un- men entläßt Tausende von Menschen: stadt, nicht zuletzt durch die Kugella- zureichend vertreten. 13 000 Arbeitsplätze fielen bei Siemens gerfabrik Kugelfischer. Inzwischen wan- Der Vereinigungsboom deckte die weg, 20 000 werden es bei Thyssen sein. delt es sich zum neuen Armenhaus der Schwächen vorübergehend zu, er schaff- Bahn und Post wollen 100 000 Mitarbei- Republik mit einer Arbeitslosenquote te wegen der zusätzlichen Nachfrage so- ter loswerden. von mehr als 20 Prozent. Im Großraum gar neue Arbeitsplätze im Westen. Etwa 850 000 Jobs gingen im vergan- München, jahrelang Boomregion, verlo- Der Schock ist nun um so gewaltiger. genen Jahr verloren, täglich schrumpfte ren binnen Jahresfrist 30 Prozent mehr Mit einer beispiellosen Radikalkur will die Zahl der Stellen um 2300. Und Bes- Angestellte ihren Job als im Vorjahr. die Industrie das Versäumte nachholen, serung ist nicht in Sicht. Auch bei einem Nicht einmal eine hervorragende zu Zigtausenden werden in den Groß- Wirtschaftswachstum von einem Pro- Qualifikation kann die Beschäftigten Konzernen Arbeitsplätze gestrichen. zent wird es Ende dieses Jahres 300 000 vor dem Schlimmsten bewahren. „Wir Insgesamt 43 000 Jobs will allein der Arbeitsplätze weniger geben. haben reihenweise Idealbewerber in Daimler-Konzern kappen, dessen Be- Eine Umfrage des Instituts der deut- unseren Karteien“, sagt Otto-Werner schäftigte sich noch vor kurzem einer le- schen Wirtschaft bestätigt den bedrük- Schade, Präsident des Landesarbeitsam- benslangen Anstellung sicher waren. kenden Trend: Von 41 untersuchten tes Baden-Württemberg. Junge Inge- Zum erstenmal müssen auch Mitarbei- Branchen wollen 35 in diesem Jahr Stel- nieure mit glänzenden Abschlüssen und ter bei IBM mit Entlassung rechnen, an- len streichen. Danach geht das Drama Berufserfahrung sind dabei oder Werk- ders werden sich wohl kaum, wie ge- weiter: Der Münchner Unternehmens- zeugmacher, die mit computergestütz- plant, 6000 Stellen bis Ende nächsten berater Roland Berger rechnet damit, ten Maschinen arbeiten können. Jahres abbauen lassen. daß bis zur Jahreswende 15 Prozent aller „Vor zwei Jahren“, so Schade, „hat bundesdeutschen Industriearbeitsplätze die Industrie genau diese Leute hände- wegfallen werden. ringend gesucht“. * Mitarbeiter der Bank für Gemeinwirtschaft beim Streik zu den Tarifverhandlungen in München Kein Wunder, daß die Deutschen der- Wie sehr sich der Arbeitsmarkt ge- 1992. zeit nichts so sehr beschäftigt wie die wandelt hat, erfuhr Yvonne Schmitt,

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Nahost-Expertin aus Grafschaft bei Bonn. „Wer gut ist und sich engagiert, bekommt auch etwas“, glaubte sie noch, als sie vor eineinhalb Jahren über- „Große schrumpfen“ raschend ihren Job verlor. Sie stürzte sich in Arbeit, schrieb nicht nur Bewer- Interview mit dem Berliner Berufsforscher Hermann Schmidt bungen, sondern auch Bücher, Aufsät- ze für Fachblätter und Hörfunk-Manu- Schmidt, 61, ist seit 1977 Präsi- die Großen, bei vielen Kleinen ent- skripte. dent des Bundesinstituts für Be- stehen trotz Krise neue Arbeitsplät- Erst ein Führungskräfteseminar des rufsbildung in Berlin. ze. Besonders gute Aussichten ha- Arbeitsamtes machte ihr das ganze ben Handwerksbetriebe, die als Elend ihrer Situation deutlich. Da saß SPIEGEL: Woche für Woche gehen Dienstleister auftreten. Der Hand- sie zwischen Maschinenbauingenieuren Tausende von Arbeitsplätzen verlo- werksgeselle der Zukunft wird sei- und Naturwissenschaftlern, neben ei- ren. Welche Jobs haben in Deutsch- ne Kunden beraten müssen, er wird nem Computerfachmann und einer pro- land noch Zukunft? eigenständig Aufträge akquirieren movierten Biologin. „Alles tolle Leute“, Schmidt: Die meisten neuen Stellen und an Ort und Stelle die Rech- erinnert sich Schmitt, „bei keinem dach- werden im Dienstleistungssektor nungen auf einem Laptop schrei- te man: kein Wunder, daß der arbeitslos entstehen. Im Jahr 2010 arbeiten nur ben. ist.“ noch rund 30 Prozent der Beschäf- SPIEGEL: Worauf müssen sich die Viele der neuen hochqualifizierten tigten in der Industrieproduktion. Arbeitnehmer noch einstellen? Arbeitslosen werden nie wieder gleich- SPIEGEL: Welche Berufsgruppen Schmidt: Die klassische Festanstel- rangige Positionen erreichen. Mit Sorge werden dann besser dastehen? lung wird seltener. Auch in Zu- blickt so mancher auf die Vereinigten Schmidt: Die Sicher- Staaten, wo sich in den achtziger Jahren heits-, Umwelt- und viele Akademiker als Taxifahrer oder Pflegeberufe werden bei McDonald’s verdingten. wichtiger, Freizeit- Ähnliches hat auch in Deutschland und Tourismusindu- längst begonnen. Nach einer Untersu- strie wachsen. Das chung des Instituts der deutschen Wirt- stärkste Plus erwarte schaft haben nur ein Viertel aller Stu- ich in der Informati- dierten Stellen, die eine Universitäts- onsvermittlung – also ausbildung voraussetzen. Jeder zehnte nicht nur in klassischen Akademiker arbeitet als Bürokraft, Ar- Medienberufen, son- beiter oder Verkäufer, weitere zwölf dern auch bei Unter- Prozent sind Sachbearbeiter oder Vor- nehmensberatern, An- arbeiter. wälten, Anlage- und Doch auch solche Arbeitsplätze wer- Steuerexperten, Wirt- den rar. Die Prognosen schwanken, schaftsprüfern oder aber mindestens eine Million Jobs für Ausbildern. die Beschäftigten mit Schlips und wei- SPIEGEL: Wird das den ßem Kragen werden wohl in den kom- aktuellen Stellenabbau menden Jahren wegfallen. ausgleichen? Schon schwant einigen Beobachtern, Schmidt: Kurzfristig daß dies nur der Auftakt für einen nicht. Langfristig wird Arbeitsmarkt-Experte Schmidt grundlegenderen Wandel sein könnte. der Pflege- und Ge- Gute Aussichten für Handwerker „Mit der Aufspaltung des Arbeitsmark- sundheitssektor dazu tes“, glaubt Herbert Henzler, Chef der am stärksten beitragen, schon we- kunft werden die Unternehmen im- Unternehmensberatung McKinsey, gen der steigenden Zahl alter Men- mer mehr Aufgaben auslagern – oft „entfällt die wirtschaftliche Basis für die schen. an Experten, die auf Honorarbasis deutsche Ausprägung der Mittelstands- SPIEGEL: Bankberufe galten stets als arbeiten. Auch die lebenslange Ar- gesellschaft.“ besonders krisensicher, nun baut beit in der gleichen Branche oder gar Politiker und Verbände werden um- auch die Finanzbranche Stellen ab. beim gleichen Arbeitgeber wird es denken müssen, und mit ihnen die Ar- Können Sie die Banklehre noch immer weniger geben. beitslosen, die Noch-Beschäftigten und empfehlen? SPIEGEL: Was bedeutet das für Be- die Unternehmen, die Entlassungen pla- Schmidt: Ja, aber nicht, weil bei den rufseinsteiger? nen. Nicht allein die Wirtschaft, die jetzt Banken viele neue Stellen entste- Schmidt: Eine breite Grundausbil- Hunderttausende von Beschäftigten hen. Der Beruf wird anspruchsvol- dung wird wichtiger. Generalisten überflüssig macht, ist im Wandel. Die ler, immer mehr Bankangestellte ha- haben, bis auf wenige Ausnahmen, Entlassung von Menschen aus dem Ar- ben Kontakt mit Kunden, müssen bessere Chancen als Spezialisten. beitsleben – beschönigend oft als Frei- Informationen aufbereiten und ver- SPIEGEL: Sind die Deutschen auf die setzung bezeichnet – wird die gesamte mitteln. Was den Menschen in einer Veränderungen am Arbeitsmarkt Gesellschaft verändern. Banklehre beigebracht wird, nützt in vorbereitet? Die Folgen der Radikalkur sind jetzt allen Wirtschaftsberufen. Schmidt: Absolut nicht. Bei der schon sichtbar. Mehr und mehr Men- SPIEGEL: Wer werden die Arbeitge- Erstausbildung stehen wir zwar im schen leben von Geld, das sie nicht ber der Zukunft sein? internationalen Vergleich ganz gut mehr Woche für Woche mit ihrer Arbeit Schmidt: Eher kleine Betriebe. da. Aber bei der Weiterbildung müs- verdienen. Der Staat stößt bei der Auf- Schon heute schrumpfen vor allem sen wir noch schwer zulegen. gabe, den Fluß dieser Gelder auch in Zukunft zu sichern, an die Grenzen des Machbaren. Das trifft letztlich auch je-

84 DER SPIEGEL 5/1994 stellt nicht nur einen Raum, sondern auch eine Sekretärin, die sich bei Bedarf am Te- lefon ohne Firmenna- men meldet. Anrufer und Nachbarn sollen ahnungslos bleiben, gelegentlich weiß nicht einmal die Ehefrau Bescheid. Der Wunsch nach solchem Selbstbetrug ist verbreitet, glaubt der Psychologe Ger- hard Risch. Er organi- siert Seminare für ar- beitslose Manager, und bei einigen fällt ihm immer wieder eine Mischung aus „fast überangepaßtem Ver- halten nach außen“ und „radikalen Äuße- rungen im kleinen Kreis“ auf. Hermann Schmidt, Präsident des Bundes- instituts für Berufsbil- dung, erwartet eine Arbeitslose Akademiker*: „Vor zwei Jahren hat die Industrie diese Leute händeringend gesucht“ „völlig neue politische Debatte über Arbeits- ne, die einen Job haben – die Last wird sich die Entlassungsstrategie vieler Fir- losigkeit“. Erstmals seien Menschen be- neu verteilt. men. IBM etwa zahlt nicht nur üppige troffen oder bedroht, „die sich beson- Bisher können nur einige findige Un- Abfindungen, sondern bietet ausge- ders gut artikulieren können und die ternehmer dem neuen Trend auch posi- wählten Mitarbeitern auch Teilzeitlö- Schuld für ihr Schicksal ausschließlich tive Seiten abgewinnen. Versicherungen sungen und Beraterverträge an. Nun bei anderen suchen“ – sie selbst sind ja etwa haben die neuen Mittelschicht-Ar- wollen die Stuttgarter sogar dafür sor- hochqualifiziert. beitslosen als Zielgruppe entdeckt. Vor gen, daß sich ihre ehemaligen Mitarbei- Schon registrieren die Gewerkschaf- einigen Monaten kam erstmals eine Po- ter als Frührentner nicht zu sehr lang- ten verstärkt Zulauf von gutverdienen- lice gegen die finanziellen Folgen von weilen: Sie vermitteln Vorruheständler den Angestellten, die um ihren Arbeits- Arbeitslosigkeit auf den Markt. als Dozenten an die Mainzer Univer- platz fürchten. Vor einem Jahr gelang es Das Angebot richtet sich an Gutver- sität. der Gewerkschaft Handel, Banken und dienende, denn die spüren bei einer Versicherungen (HBV) erstmals, Mit- Entlassung schmerzhaft, daß ihr frühe- glieder aus dem Geldgewerbe im Ar- res hohes Gehalt keinen Einfluß auf das In den Belegschaften beitskampf auf die Straße zu schicken, Arbeitslosengeld hat: Das Arbeitsamt ist das Klima heute finden HBV-Seminare über „lean überweist höchstens 744 Mark pro Wo- banking“ Anklang beim mittleren Ma- che. schlecht wie nie zuvor nagement. Ein ganz neues Dienstleistungsgewer- Der IG Metall treten vermehrt ein- be hat sich auf das Problem der neuen Auch solche Angebote können nicht kommensstarke Angestellte bei, seit Arbeitslosigkeit spezialisiert: die Out- verhindern, daß viele der neuen Ar- es der Computerbranche lausig geht. placement-Berater. Sie betreuen die beitslosen mit ihrer Situation kaum Bei Digital Equipment, dem weltweit Gefeuerten in der Ausstiegsphase, su- fertig werden. „Gerade bei den work- zweitgrößten Computerunternehmen, chen neue Stellen und überbringen bei aholics ist das Selbstwertgefühl oft schnellte der Anteil der Gewerkschafts- Bedarf die schlechte Nachricht. schwer angeschlagen“, sagt Uwe Kern, mitglieder in der Belegschaft innerhalb Der Bedarf steigt. Früher galten die Outplacement-Berater aus Ahrensburg zweier Jahre von 3 auf 30 Prozent hoch. Berater noch als Spezialisten für Pro- bei Hamburg. In Managerkreisen sei Doch längst nicht alle Arbeitnehmer blemfälle (Branchenspott: „Flaschen- Arbeitslosigkeit „noch immer ein Ta- setzen auf gemeinsames Handeln. Im händler“), die Rezession hat sie zu Ex- bu“. Gegenteil: In vielen Belegschaften ist perten für Massenlösungen gemacht. Die Konkurrenz hilft deshalb sogar das Klima schlecht wie nie, von Solidari- Gruppen-Outplacement kommt in Mo- schon beim Bluffen. Die Düsseldorfer tät mag niemand reden. de, weil die deutschen Unternehmen Outplacement-Berater Rundstedt und Beim Betriebsrat der Luft- und neuerdings auch ihr Führungspersonal Partner haben sich auf Klienten einge- Raumfahrtfirma Dornier in Friedrichs- gleich in Scharen rauswerfen. stellt, die ihr Arbeitslosenschicksal um hafen, die 1000 von 4600 Stellen strei- Mit der wachsenden Zahl von Top- jeden Preis verbergen wollen. chen will, gingen Hetzbriefe gegen Dop- Leuten auf den Kündigungslisten ändert Sie können, wie gewohnt, allmor- pelverdiener ein: Die sollten doch, bitte gendlich den Heimatort mit Aktenta- schön, zuerst ihre Sachen packen. * Auf einem Qualifizierungskurs bei der Siemens- sche und Dienstwagen verlassen, für ei- Die Betriebsräte der IBM-Hauptver- Nixdorf Informationssysteme AG in Frankfurt. nen Büroersatz ist gesorgt. Die Agentur waltung in Stuttgart erhielten Schmä-

DER SPIEGEL 5/1994 85 TITEL

will im Wahlkampf um Stim- zent weniger – und bekommen rund 10 men in der Mitte werben – mit Prozent weniger Lohn. Dafür sollen einer Kampagne für „Arbeits- 30 000 Beschäftigte, die von Entlassung plätze und nochmals Arbeits- bedroht waren, ihren Arbeitsplatz be- plätze“. halten. Einfach ist das nicht. In den Ein Modell für die gesamte Wirtschaft siebziger Jahren waren sich die ist die VW-Lösung nicht. Aber sie zeigt, meisten Ökonomen einig, was daß auch ungewöhnliche Ideen Erfolg gegen Arbeitslosigkeit zu tun haben können. sei: Falls die Wirtschaft schnell Noch immer scheitern viele Arbeit- genug wachse, erledige sich das nehmer, die freiwillig weniger arbeiten Beschäftigungsproblem fast wollen, an der Trägheit ihrer Arbeitge- von selbst. Die Experten strit- ber. Teilzeitjobs werden in vielen Un- ten zwar leidenschaftlich dar- ternehmen kaum angeboten, weil sie für über, wie die Konjunktur in Vorgesetzte schwieriger zu organisieren Schwung gebracht werden sind. könnte, aber die ersehnten Bernhard Jagoda, Chef der Nürnber- Auswirkungen auf den Ar- ger Bundesanstalt für Arbeit, wünscht beitsmarkt bezweifelte kaum sich deshalb „holländische Verhältnis- einer. se“: In Deutschland haben 16 Prozent Heute passen die Rezepte aller Erwerbstätigen Teilzeitjobs, in den von damals nicht mehr, weil Niederlanden sind es über 30 Prozent. sich Wachstum und Arbeits- Jagoda schätzt, daß zwei Millionen zu- markt nicht mehr parallel ent- sätzliche Stellen entstehen könnten, wickeln – in den fetten achtzi- wenn die Deutschen die Quote des ger Jahren beispielsweise düm- Nachbarlandes erreichten. pelte die Zahl der bundesdeut- „Flexible Teilzeitmodelle ersparen schen Arbeitslosen um die dem Unternehmen die Kosten und Tur- Zwei-Millionen-Marke. Für bulenzen eines Personalabbaus, und sie Vollbeschäftigung müßten sehr bringen auf Dauer einen massiven Pro- Outplacement-Berater Kern hohe Wachstumsraten erzielt duktivitätsschub“, schreibt die Unter- „Das Selbstwertgefühl ist schwer angeschlagen“ werden, die heute unerreichbar nehmensberatung McKinsey in einer scheinen und es wohl auch sind. neuen Studie. Etwa 60 Prozent der Ar- hungen gegen ältere Kollegen, die nicht Auch die generelle Verkürzung der beitsplätze, so die Berater, seien teilbar, auf Vorruhestandsregelungen eingingen. Arbeitszeit mit Lohnausgleich, wie sie mehr als 1,5 Millionen neue Jobs könn- Alle über 45 müßten rausgeschmissen in den Achtzigern von den Gewerk- ten entstehen, wenn die Unternehmer werden, befand ein Absender. Beim schaften erkämpft wurde, taugt nicht als ihre Büros und Betriebe konsequent Metallverarbeiter Fichtel & Sachs in Lösung, weil sie die Lohnkosten weiter nach Teilzeitmöglichkeiten durchforste- Schweinfurt prügelten sich türkische und nach oben treibt. Das verschlechtert die ten. deutsche Arbeiter; es ging darum, wer Wettbewerbsfähigkeit der deutschen In- Doch die meisten Manager starren wem die Jobs wegnimmt. dustrie auf dem Weltmarkt – und ge- auf die Belastungen und sehen die Vor- Gleichzeitig wächst die Furcht, gegen fährdet Arbeitsplätze. teile nicht. Vor allem im Mittelbau ma- den Arbeitgeber aufzubegehren. Bei der Doch nun beginnen sich, unter dem chen die McKinsey-Leute Abblocker SZE Microelectronics, einem 90-Mann- Druck der Krise, neue Einsichten aus. „Wir brauchen eine neue Arbeits- Betrieb in Flintbek bei Kiel, erhielten die durchzusetzen. Arbeitsplätze auf mehr zeitkultur“, fordert Berater Klaus Som- Arbeitnehmer ausgerechnet in der Vor- Arbeitnehmer zu verteilen kann sinn- merfeldt, „wir müssen in neuen Dimen- weihnachtszeit zwei Monate lang kein voll sein, wenn es die Arbeit nicht zu sionen denken.“ Gehalt; der Betrieb stand vor dem Kon- sehr verteuert. Das sehen inzwischen Um den Managern auf die richtige kurs. Klaglos kürzten die Beschäftigten auch die Gewerkschaften so. Spur zu helfen, wollen die Münchner ihre Einkaufslisten oder liehen sich Geld Die Vier-Tage-Woche bei VW war Experten Firmen aller Branchen zu ei- bei Freunden und Verwandten. ein entscheidender neuer Ansatz. Die ner Teilzeitinitiative zusammenführen. Stillhalten und abwarten – das war lan- Arbeitnehmer arbeiten künftig 20 Pro- Ein, wie die Berater merken, zähes Un- ge auch in Bonn Programm. Wer seinen Arbeitsplatz verloren habe, der wähle sowieso nicht CDU; außerdem gebe Noch mehr ohne Job Offene und verdeckte Arbeitslosigkeit in Deutschland es 40 Millionen Wähler, so das Kalkül mancher Politiker, aber nur 5 Millionen WESTDEUTSCHLAND OSTDEUTSCHLAND Arbeitslose. Dezember 1993 Dezember 1993 Die zynische Rechnung geht nicht mehr auf, seit die Angst vor dem Absturz Arbeitslose 2513711 1 175 211 auch in der Mittelschicht zunimmt. „Die Arbeitslosigkeit“, warnte Bundesge- Kurzarbeiter 556 193 125 449 sundheitsminister Horst Seehofer kürz- lich Parteifreunde, „betrifft jetzt unsere Berufliche Weiterbildung 331753 295 756 Klientel: Es gibt immer mehr Leute, die Beschäftigte in Arbeits- 51 634 240 774 arbeiten wollen, aber nicht können.“ De- beschaffungsmaßnahmen nen müsse „man was anbieten“. 2739 Die Union möchte das heiße Thema Bezieher von Altersübergangsgeld 606 123 nicht den Sozialdemokraten überlassen. SPD-Kanzlerkandidat Rudolf Scharping

86 DER SPIEGEL 5/1994 terfangen. „Alle sagen, das sei ja hoch- Maschinen und Gebäude aufstellt – da- der beschäftigen. Aber in einer interessant“, so Sommerfeldt, „aber so nach wird die Höhe der Finanzhilfen schrumpfenden Wirtschaft haben die richtig festlegen will sich keiner.“ bemessen. erst recht keine Chance. Liberale Ökonomen fordern zusätz- Die Kosten für das Kapital hat Bonn Wird die deutsche Industrie auf einen lich, Einstellungsbarrieren abzubauen: lange Zeit ebenfalls nach oben ge- kleinen, wenn auch gesunden Kern zu- starre Kündigungsschutzregelungen drückt: Die gigantische Staatsverschul- sammenschrumpfen? Oder werden die zum Beispiel, die ohnehin durch dung zwang die Bundesbank über Jah- sanierten Unternehmen und Branchen Schwarzarbeit und Zeitverträge zuneh- re hinweg, die Zinsen hochzuhalten. Marktanteile zurückerobern und damit mend unterlaufen werden. Die Jobver- Das war nötig für die Stabilität der neue Arbeitsplätze schaffen? mittlung soll dadurch effizienter wer- Währung, aber mies für Konjunktur „Zusätzliche Beschäftigungschancen“ den, daß die staatlichen Arbeitsämter und Beschäftigung. Für viele Unter- erwartet zumindest das Institut der demnächst Konkurrenz bekommen. nehmen rechnete es sich, Erlöse anzu- deutschen Wirtschaft von der derzeiti- Vom 1. April an sollen private Firmen legen, statt sie zu investieren. gen Schlankheitskur. Auch durch die beginnen dürfen, Arbeitskräfte zu ver- Das könne nach den Wahlen alles Vernetzung mit den kostengünstigen mitteln. Der Modellversuch soll klären, anders werden, verspricht die Bonner Standorten Osteuropas werde „die deut- ob mehr Leute Arbeit finden, wenn das Opposition. Durch eine Steuerreform, sche Wettbewerbsfähigkeit merklich ge- Quasi-Monopol der Arbeitsämter been- die Umweltsündern höhere Abgaben kräftigt“. det wird. aufzwingt, könnte der Staat nach ei- Kurz- und mittelfristig jedoch wird „Heulen und Zähneklappern“ be- nem Vorschlag von Sozialdemokraten beides, die Schrumpfkur und die neue fürchtet Jagoda, wenn die Privaten erst und Grünen zusätzliche aktiv werden. Die würden die besten Einnahmen erzielen. Im Kräfte abwerben; den schwer Vermittel- Gegenzug könnte er die Die stille Revolution baren könnten sie auch nicht helfen. Die Beiträge zur Sozialversi- Strukturwandel der Arbeitswelt in Deutschland; Bundesregierung jedoch möchte den cherung senken. Dann Anteile der Erwerbstätigen in Prozent Plan noch in dieser Legislaturperiode wäre es billiger, neue verwirklichen. Mitarbeiter einzustellen, Produktionsorientierte Die meisten Reformer wollen die ho- ökologische und soziale Tätigkeiten 41 35 31 28 hen Produktionskosten der deutschen Ziele könnten gleichzeitig Fertigung, Montage, Industrie senken. Sparen allein reicht erreicht werden. Reparatur, Steuerung, zwar nicht, doch kurzfristig ist dies für Ähnlich funktioniert Bedienung, Wartung von viele Unternehmen der einfachste Weg das Konzept einer Bür- Maschinen gersteuer, die bei Teilen von SPD und FDP An- Primäre Durch Teilzeitmodelle klang findet, aber auch 37 Dienstleistungen 38 könnten 1,5 Millionen beim Arbeitnehmerflügel Einkauf, Verkauf, Kasse, der Union. Kern des Büroarbeit, Lager, Versand, 44 42 neue Jobs entstehen Konzepts sind Lohnsub- Transport, Reinigung, Bewirtung, Bewachung 35 ventionen für schlechtbe- 31 aus der Krise. Doch wie sollen die Ko- zahlte Tätigkeiten: Wer sten gesenkt werden? Durch längere Ar- für weniger Geld als ei- Sekundäre 21 beitszeiten, flexiblere Maschinenlaufzei- nen festgesetzten Min- Dienstleistungen 17 ten oder Nullrunden in den Tarifver- destlohn arbeitet, soll Disposition, Management, handlungen? demnach Zuschüsse vom Forschung und Entwicklung, Pflege, Heilbehandlung, 1973 1982 2000 2010 Zur Verringerung der Lohnkosten Staat bekommen. Der Beratung, Erziehung, könnte die Politik einiges beitragen. würde auf diese Weise Unterricht, Publizistik Quelle: iwd Zwar werden die Einkommen einzig Arbeit statt Arbeitslosig- von den Tarifparteien festgelegt, aber keit finanzieren. längst machen die gesetzlich geregelten Bundesarbeitsminister Norbert Blüm Billigkonkurrenz, viele Jobs kosten. Beiträge zur Sozialversicherung einen und sein Kabinettskollege Günther Nur wenige Branchen werden in naher enormen Teil der Arbeitskosten aus. Rexrodt haben vergleichbare Pläne Zukunft Arbeitsplätze schaffen: die Te- Das Kabinett Kohl hat in den vergan- vorgelegt. Auch sie wollen das Ar- lekommunikation etwa, die Medien und genen Jahren die Produktionskosten er- beitsmarkt-Desaster dadurch lindern, die Biotechnologie. heblich in die Höhe getrieben: Die Re- daß mehr Niedriglohn-Arbeit erlaubt Langfristig wird die Innovationskraft gierenden haben die Beiträge zur Sozial- wird. Vorbild ist die Entwicklung in über die Zukunft der deutschen Indu- versicherung, die Arbeitgeber und Ar- den USA unter Präsident Ronald Rea- strie – und damit die Zahl der Arbeits- beitnehmer je zur Hälfte entrichten gan, wo in den achtziger Jahren rund plätze – entscheiden. Ohne neue Spit- müssen, kräftig erhöht. 15 Millionen Arbeitsplätze im Dienst- zenprodukte, die am Weltmarkt zu ho- Die finanziellen Lasten für den Auf- leistungssektor entstanden. Meist wa- hen Preisen absetzbar sind, mahnt der bau Ost, eigentlich eine gesamtstaatli- ren das schlechtbezahlte Handlanger- Bonner Wirtschafts- und Gesellschafts- che Aufgabe, bürdete Bonn den Bei- jobs. forscher Meinhard Miegel, habe das tragszahlern der Arbeitslosen- und Ren- Die Arbeit soll flexibler verteilt wer- Hochlohnland Bundesrepublik „sowieso tenversicherung auf. Für Unternehmer, den, im Dienstleistungsgewerbe sollen nie wieder eine Chance“. die jeweils die Hälfte dieser Beiträge mehr Menschen Beschäftigung finden, Miegel sorgt sich, daß Politiker und zahlen, bedeutet das höhere Kosten pro einfache Jobs schlechter bezahlt wer- Manager in ihrem Spareifer wichtige In- Arbeitskraft – und einen Anreiz, Be- den – nachgedacht wird über vieles. vestitionen für die Zukunft vernachlässi- schäftigte zu feuern. Doch die Arbeitslosenrate wird weiter gen könnten. Dazu gehören auch Aus- In den neuen Ländern hätten die steigen, wenn deutsche Unternehmen gaben für Aus- und Weiterbildung. Bonner ihren verhängnisvollen Kurs international nicht wettbewerbsfähig Schlichte Produktionen, die kein korrigieren können. Doch staatlich ge- bleiben. Wachstum allein kann zwar kompliziertes Know-how erfordern, fördert wird dort vor allem, wer teure nicht Millionen von Arbeitslosen wie- werden abwandern, und mit ihnen ver-

DER SPIEGEL 5/1994 87 TITEL schwinden die entsprechenden Arbeits- und Innovationsforscher Erich Staudt. weiterhelfen: Die Unternehmen haben plätze. Schon heute, so Berufsforscher Wer sich immer weiter qualifiziere, inzwischen so kräftig rationalisiert, daß Schmidt, haben Ungelernte auf dem werde auch in Zukunft gute Chancen sie selbst bei besserer Auftragslage deutschen Arbeitsmarkt „kaum noch ei- haben. „Ist das Spitzen-Know-how erst weit weniger Leute als bisher brau- ne Chance“. Jeder zweite Langzeitar- mal bei jungen, motivierten Leuten da, chen. beitslose hat keine Ausbildung. dann wird es sich in drei, vier Jahren Optimismus kann daher auch der Auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft seinen Weg bahnen.“ jüngste Jahreswirtschaftsbericht der wird nach Ansicht aller Experten nur Staudt setzt wie andere Ökonomen Bundesregierung nicht wecken. Das mithalten können, wer offen ist für neue und Politiker darauf, daß die deutsche „verhaltene Wachstum“, das Minister Aufgaben. Verlangt wird ein ständiger Wirtschaft bald wieder aus der Krise Günter Rexrodt verspricht, soll immer- Lernprozeß (siehe Interview Seite 84). findet. Den meisten der fast vier hin zwischen ein und eineinhalb Pro- „Zuviel Ausbildung gibt es nicht“, Millionen arbeitslosen Deutschen zent liegen – aber die Zahl der Ar- sagt der Bochumer Ökonomieprofessor wird jedoch ein Aufschwung nicht beitslosen steigt weiter. „Man ist kein Mensch mehr“ SPIEGEL-Redakteurin Sabine Kartte über den sozialen Abstieg der Arbeitslosen

ie Armut bewegt sich fast lautlos. Menschen hasten zu den Kleider- Dhaufen und klauben sich heraus, was sie brauchen, konzentriert, flink und still. Nur vereinzeltes Gemurmel und das Rascheln der Stoffe sind zu hören. Ernst Lock sieht dem Treiben zu, die selbstgedrehte Zigarette baumelt im Mundwinkel. Er kennt den Anblick. Fünfmal die Woche fährt der Arbeitslose für die „Rollende Kleiderkammer“ ge- brauchte Kleider in die weniger properen Teile der Stadt. Hier in Mümmelmanns- berg, einem Betonghetto im Hamburger Südosten, ist der Andrang am größten. „Das muß man sehen“, sagt Lock, „das glaubt man sonst nicht.“ Jeden Mittwoch gegen eins, wenn der weiße Laster vor dem Gemeindehaus parkt, warten die Menschen schon mit ih- ren Stoffbeuteln und Plastiktüten: Sozi- alhilfeempfänger und Asylbewerber mit ihren Berechtigungsscheinen vom Amt, Türkenfrauen, Polen, graugesichtige alte Arbeitsloser Lock: „Der Gesichtsverlust ist unbeschreiblich“ Männer, Frauen in abgeschabten Män- teln, Kinder. Vor einem Jahr hat das Arbeitsamt blauen Plastiksäcke aufgeladen. Sie sind Ernst Lock gibt das Zeichen zum Start, Ernst Lock aus der Masse der Arbeitslo- mit Krawatten verschnürt, Insignien aus wenn der Laster ausgeladen ist, er paßt sen herausgehoben; er wechselte von der einer alten, versunkenen Welt, die in auf, daß keiner klaut. An seinem Tisch Rubrik Langzeitarbeitslose in die Spalte dieser hier keiner mehr braucht. müssen alle vorbei, wenn sie gefunden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: gere- Ob er, der ehemalige Lagerleiter, da haben, was sie brauchen. Der Mann mit gelte Arbeit in einem ABM-Projekt, ge- nicht fehl am Platze sei, wurde Ernst der Zigarette taxiert die Sachen: eine regeltes Einkommen, allerdings nur für Lock von pikierten Bekannten gefragt. Mark für Pullover, für Jacken, Hemden befristete Zeit. Wenn er bis Ende dieses Ob es nicht langsam Zeit werde, daß er und jeden Schuh, Jacketts und Mäntel Jahres keinen festen Job gefunden hat, „was Richtiges“ tue, meinte die 13jähri- sind etwas teurer. wandert sein Name wieder zurück in die ge Tochter zu ihm. Das tat weh. Wie eine stumme Karawane ziehen die alte Rubrik. Was Richtiges – das ist lange her. Ei- Leute an Locks Tisch vorbei, manche ha- Alsofährter fürdie „Rollende Kleider- ne Familie mit Frau und drei Kindern ben den ganzen Arm voller Klamotten. kammer“dieKleider aus. Arbeitslose ha- war da mal, ein Haus, die Runde vom Eine alte Polin hält ihm ihren Geldbeutel ben das Projekt einst in Hamburg-Wil- Kegelklub. Mit Ende 20 hatte er sich unter die Nase, ein paar Groschen sind helmsburg gestartet. 17Frauen und Män- zum Lagerleiter hochgerackert, 6000 noch darin. Lock zögert. „Na gut“, mur- ner sammeln, sortieren, reparieren aus- Mark brutto im Monat verdiente er. Da melt er, „dann nehmen Sie die beiden rangierte Textilien und bieten sie den Ar- blieb genug übrig, um das Haus schnell Pullover so mit.“ men feil. abzubezahlen. Mit 40, so war es geplant, Höflich will Lock mit den Leuten sein, Die Waschmaschine gurgelt ohne Pau- wollte Lock schuldenfrei sein. sie sollen sich nicht als Bettler fühlen: „Es se. Jeden Tag werden die Rollständer mit Jetzt ist er fast 40 und heraus aus dem fällt leichter, sie zu verstehen, wenn man Anzügen und Mänteln in den weißen Spiel. Keine Arbeit mehr, keine Ehe, selbst ganz unten war.“ Sechs-Tonner gehievt, die frischgefüllten kein Haus. Knapp 1200 Mark Arbeitslo-

88 DER SPIEGEL 5/1994 senhilfe hat er, zur Zeit, dank ABM, ei- nen Tausender mehr. Die Kinder leben bei der Mutter, weit weg in einer anderen Stadt. Er hat sieselten gesehen, die Fahr- karten konnte er nicht bezahlen. Wer rechnete damals schon mit Ar- beitslosigkeit? Lock nicht; arbeitslos, das war das Schicksal der anderen. Er solle schnell gesund werden, sagte doch der Chef damals nach dem Arbeits- unfall zu ihm, so einen guten Lagerleiter wieihn gebe esschließlich nicht alle Tage. Die Genesung zogsich hin, und dann kam der Brief: Einen angeschlagenen Lager- leiter, das müsse er verstehen, könne sich die Firma nicht leisten. Arbeitslos. Die ersten drei, vier, fünf Wochen, erinnert sich Lock, waren gar nicht so schlecht, wie ein langer Urlaub eben, aber dann? Viel Zeit, zäh und lang. Tag für Tag für Tag. Ernst Lock brachte die Tochter in den Kindergarten, dann war es neun. Er las, dann war es elf, er starrte in die Glotze, er soff. Die Haarrisse in der Ehe brachen auf. Der Traum von Haus und Familie zer- Altkleider-Aktion in Hamburg: „Das glaubt man nicht“ stob. Alles krachte weg, der Kegelabend, die Freunde. Nur der Berg von Schulden Es ist ihm nicht mehr peinlich, wenn Schon die Frage nach dem Befinden blieb. „Der Gesichtsverlust“, erinnert ihm andere dabei zusehen, wie seine wird zur Pein. Die Scham, als Versager sich der Mann, „ist unbeschreiblich.“ Packerhände mit schwierig zu faltenden dazustehen, zerfrißt das Selbstbewußt- Er jobbte mal hier, mal da, schleppte Spannbettüchern kämpfen, wie sie sein. Viele versuchen, so lange wie mög- Kisten im Hafen. Er bewarb sich, sam- Stickdeckchen glattstreichen, damit die lich die Fassade aufrechtzuerhalten. Oft melte Absagen und demütigende Offer- feine Baumwolle nicht zerknüllt. Er halten die Familien dem Druck nicht ten: Lagerleiter für 1600 Mark brutto hät- macht Witzchen dabei, so hält er es aus. stand. Alkohol, Scheidung, Schulden, te er werden können, Kurierfahrer, der „Wenn du nicht mehr ganz so lei- Obdachlosigkeit – die nächsten Schritte dem Chef die Benzinkosten für sechs Mo- stungsfähig bist, dann wanderst du sind nicht mehr weit. nate vorstrecken muß. Einige Male sah es gleich noch ein paar Klassen runter“, Klaus Koch, Abschnittsleiter vom so aus, als könnte er wieder einsteigen in meint er. Der ABM-Job gibt seinem Hamburger Arbeitsamt, erfährt täglich, die Welt von Lebensversicherung, Pau- wie schnell der Abstieg gehen kann: schalreise und Bausparvertrag. Er wurde „Wer erst einmal richtig runtergefallen zum Vorstellungsgespräch geladen, was Schon die Frage ist, der kommt nicht mehr hoch.“ er bot, gefiel. Alles wunderbar – aber nach dem Befinden „Die deutschen Arbeitgeber sind kei- halt, eine letzte Frage noch: Haben Sie ne, die den Leuten Chancen geben“, Schulden? wird zur Pein sagt Koch. Die Personalchefs wollen je- „Man kommt sich vor wie Müll“, des Risiko meiden: Sie suchen den brummt Ernst Lock und klebt wütend die Alltag wieder Fassung. Er hat sich wie- 25jährigen, der gesund ist, leistungsbe- nächste Selbstgedrehte zu. der um feste Stellen beworben, als Fah- reit, flexibel, schuldenfrei. Was noch übrig war von seiner Lei- rer, als Bote. Noch hat er keine Absa- Eine abgeschlossene Lehre vorzuwei- stungskraft, hieb vor vier Jahren der gen: „Neun Jahre habe ich vor der Tür sen ist längst nicht mehr genug. „Heute Schlaganfall weg. Dann streikte das gestanden. Nun stehe ich in der Tür.“ müssen sich die Leute permanent fort- Herz. Lock durfte nichts mehr tragen, Trocken, als referiere er den letzten bilden, immer neue Anforderungen ab- nicht mehr fahren. Er schleppt trotzdem, Wirtschaftsbericht, erzählt Lock von decken“, sagt Sachbearbeiterin Hanne er fährt den Laster. Den Stempel für die dem Leben ganz unten. „Ohne Arbeit“, Huguenin. Fahrtauglichkeit hat er dem Amtsarzt ab- sagt er, „bist du nichts wert. Du wirst Der große schlanke Mann mit dem gerungen. „Ich will arbeiten“, sagt er behandelt wie Schrott.“ Vom Verlust Manager-Outfit: abgebrochener Archi- trotzig. „Ich will mein Gesicht wahren.“ der Würde spricht er, von Lebenszielen, tekturstudent, Betonarbeiter. Aufrecht Jetzt lebt er mit seiner Verlobten und die zerbrochen sind wie Glas. „In die- sitzt er da, die Bügelfalten tipptopp. Er dem gemeinsamen Kind in einer Ham- sem Land dreht sich alles um Arbeit und hat hart geschuftet und viel verdient. burger Hochhaussiedlung: „Das ist jetzt Geld.“ Jetzt mit 31 Jahren ist der Rücken ka- meine Welt.“ Wer Arbeit hat, gesichert und ein- putt. „Eine Stelle als Bote oder Wächter Er schämt sich nicht mehr, wenn er ge- träglich, der zeigt, daß er „etwas gewor- könnte ich für ihn noch finden“, sagt fragt wird, was er denn so arbeite. „Ich den“ ist. Er verdient sein Einkommen Huguenin, „mehr ist nicht mehr drin.“ bin Mitarbeiter beim größten deutschen und kann sich all die Dinge leisten, die Der Maurer, 44, ledig, seit vier Jah- Konzern“, frotzelt er dann, und drei wichtig sind fürs Prestige. Arbeit ver- ren arbeitslos, krank, 240 Mark Arbeits- Chefs habe er schon erlebt, „den Stingl, mittelt Chancen, Bestätigung, Erfolg. losenhilfe in der Woche: Huguenin den Franke und den Jagoda“*. Der Job gibt Halt, sichert Kontakte und stempelt sein Papier ab. Ob er unter der Gesprächsstoff. Banalitäten – bis zu Arbeitslosigkeit leide? Nein, nicht * Die Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit: dem Tag, an dem der Job wegbricht. mehr, sagt er, er habe sich eingerichtet. Josef Stingl (1968 bis 1984), Heinrich Franke (1984 bis Januar 1993), Bernhard Jagoda (seit Die Nachbarn gucken scheel: Na, wie Der 33jährige Niederlassungsleiter, Februar 1993). lange dauert denn der Urlaub noch? der aussieht wie 43, seit vier Jahren ar-

DER SPIEGEL 5/1994 89 TITEL beitslos, geschieden, 150 000 Mark Schaffenden wollen nicht daran erinnert ßergeschirr aus dem Verschlag und läßt, Schulden: Einst war er Chef von 120 sein, daß der Federstrich des Personal- wie damals auf den Docks, die Funken Leuten. Jetzt lebt er in einem Zimmer chefs auch sie treffen kann. sprühen. in einer Absteige auf der Reeperbahn, Der Schiffbauer Ralf Schöttner war Auf diese Weise trifft der arbeitslose hält sich mit seinem Grafik-Computer 55, als sein Betrieb 1991 Pleite machte. Schiffsmonteur Ralf Schöttner auch ab fit („um nicht ganz zu verblöden“). Er Nach 29 Jahren Schufterei hatte er von und an den arbeitslosen Lagerleiter habe eine Stelle als Buchhalter in Aus- heute auf morgen Freizeit satt. Ernst Lock. Beide versehen ihren sicht, sagt er munter. Die Frau vom Er renovierte den Keller, er flickte ABM-Dienst für dieselbe Sache: Ar- Arbeitsamt nickt interessiert, sie weiß das Dach. Die Küche brachte er in Ord- beitslose recyceln den Abfall der Wohl- genau, daß es nichts wird. nung, grub den Garten nach allen Seiten habenden für die Armen. Nach internen Schätzungen der um. Irgendwann war alles getan. Du Der Nachschub an Kleidern, Fahrrä- Hamburger Arbeitsamtsberater gehört mußt raus, sagte seine Frau, du nervst. dern, Möbeln fließt reichlich, und die nur ein Zehntel ihrer Klientel zur Also ging er zum Sohn, zur älteren Zahl der Bedürftigen nimmt zu. Kein Sparte der Absahner und Drückeber- Tochter, zur jüngeren Tochter, zu den auf Gewinn zielender Markt nimmt sich ger. Etwa zwei Zehntel der Bewerber Nachbarn und Bekannten und baute da der Schmuddelwaren an. Abseits der sind relativ schnell zu vermitteln. Bei weiter. Jetzt repariert der Schiffsmon- florierenden Wirtschaftszirkel wächst den anderen bröckelt mit jedem Monat teur als ABM-Kraft Fahrräder. ein trister Kreislauf heran, der Arbeits- Arbeitslosigkeit ein weiteres Stück Per- Meistens ist Schöttner schon um acht losen Beschäftigung gibt und Arme ver- spektive weg. Für die Mehrzahl gibt es Uhr morgens in dem Schuppen, obwohl sorgt. keine Brücke ins reguläre Arbeitsle- ben mehr. Die Kluft zwischen denen, die noch Arbeit haben, und denen, die vom Markt gekippt sind, vertieft sich. „Man ist kein Mensch mehr“, sagt die arbeitslose Kunstwissenschaftlerin Gerlinde Brandt*, 37. „Man traut sich immer weniger zu.“ Im Bekannten- kreis ist sie die einzige ohne Job. Die anderen reden von der Arbeit, von ih- ren Reisen, die arbeitslose Freundin bleibt stumm. Kino, Restaurantbesu- che, Sonntagmorgen-Brunch im Hotel – sie, so Brandt, könne sich das mit 1200 Mark Sozialhilfe nicht mehr lei- sten. Über ihren momentan größten Wunsch, eine eigene Waschmaschine für sich und ihre Tochter, lachen die anderen. Sie schämt sich ihrer engen Woh- nung: das zerschlissene Sofa, der klapprige Schrank. „Wenn man auf die 40 zugeht“, sagt sie, „ist das nicht mehr so toll.“ Seit längerem schon läßt Arbeitsloser Schöttner: Schutzbleche und Speichen statt großer Schiffe sie niemanden mehr zu sich herein. „Wir werden zu Menschen dritter die Arbeit erst um Viertel vor zehn be- In Vierteln wie Hamburg-Wilhelms- Klasse“, befürchtet Brandt. Sorgfältig ginnt. Meistens ist er abends der letz- burg verdichten sich Arbeitslosigkeit gekleidet und gepflegt sitzt sie da und te, der geht. und Armut schnell und lautlos zu einer In dem Fahrradschuppen ist es kalt, eigenen, den Blicken der Leistenden der Atem dampft. Fahrradrahmen lie- weitgehend entzogenen Zweitkultur. Du mußt raus, gen herum, einzelne Räder, Schutzble- Jedes fünfte Kind, so zählt die Stati- sagte seine Frau, che, Lenker. Schöttner zwängt die Zi- stik, lebt hier schon in zweiter Generati- garre zwischen die Lippen und kramt on mit Arbeitslosigkeit: Die Eltern du nervst nach einem passenden Sattel für das kennt der Nachwuchs nur als Empfän- Rad in der Zwinge. Von seiner alten ger von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe- rührt in ihrer Teetasse. Arbeitslosigkeit Werft erzählt er dabei, von den großen geld, und auch im Bekanntenkreis wer- nagt von innen. Schiffen, an denen er mitgebaut hat. den jene, die noch einen richtigen Job Abgerissen, verschlafen, gebrechlich? Die Leute aus der Gegend bringen haben, rar. Hängende Schultern, Armutsblick? Wie ihre Fahrräder vorbei. Für eine kleine Der Sinn von Weckerklingeln und sehen Arbeitslose aus? Wo sind die vie- Spende biegt Schöttner die Rahmen täglichem Rackern bleibt fremd. Wozu len Millionen? „Man sieht die Arbeitslo- wieder gerade, setzt Speichen und lernen, wozu sich ausbilden lassen? Eine sigkeit nicht“, sagt Professor Thomas Schrauben wieder ein. Mit seinen drei Generation wächst heran, die zu einem Kieselbach, Arbeitslosen-Forscher aus Kollegen baut er aus ausrangierten Rä- nicht geringen Teil gar nicht mehr weiß, Hannover. dern neue und verkauft sie an Leute, was geregelte Arbeit ist. Wer will sie sehen? die sich Besseres nicht leisten können. Arbeitslosigkeit verändert die Men- Daß Millionen aus ihrem System kip- Ein paar Straßen weiter haben die schen. Zwei Welten entstehen, die sich pen, das ist der Gesellschaft unbehag- Männer und Frauen der „Rollenden immer weiter voneinander entfernen. lich, den Politikern lästig. Und die Kleiderkammer“ ihr Büro. Manchmal „Die Gesellschaft“, befürchtet der For- kommen sie mit zerborstenen Rollstän- scher Kieselbach, „kann damit leben.“ * Name von der Redaktion geändert. dern – dann holt Schöttner das Schwei- Kann sie wirklich? Y

90 DER SPIEGEL 5/1994 Immobilien Ordentlich geschummelt Zehntausende von Deutschen bangen um ihre illegal erworbenen Ferienhäuser in Österreich.

n seine Ferienwohnung in Tirol kam der Aschaffenburger Apothe- Aker auf etwas ungewöhnliche Wei- se. „So kauft man bei uns in Deutsch- land keine Wohnung“, bekannte er vor Ferienwohnungen von Deutschen in Tirol*: „Landesübliche Praxis“ dem Landgericht Innsbruck. Ganz so „legal und einwandfrei“, wie Kaufvertrag nichtig, muß der Käufer die Trifft sich die Gier nach Besitz mit der Notar 1985 versichert hatte, war der Immobilie dem Verkäufer zurückgeben dem Erwerbstrieb eines österreichi- Erwerb des 50-Quadratmeter-Apart- – zum damaligen Einstandspreis. Und schen Schlawiners, dann finden sich ments in Fieberbrunn wohl nicht. Weil wenn auch noch Schwarzgeld den Besit- Mittel und Wege, an ein Ferienhaus in Ausländer in der Regel keine Immobi- zer gewechselt hat, wird die Rückab- den Alpen zu kommen. So wird etwa ein lien in Österreich kaufen dürfen, kamen wicklung ziemlich problematisch. Mietvertrag auf 99 Jahre abgeschlossen, der Apotheker und seine Frau auf ei- Derzeit haben österreichische Notare die „Miete“ vorab auf einen Schlag ge- nem kleinen Umweg ins Grundbuch – eine Menge Rückabwicklungen zu beur- zahlt. Die Mietzahlung entspricht ziem- wie Zehntausende andere Deutsche, die kunden. Vor allem in Tirol mußten im lich genau dem Kaufpreis, den der Ei- dort unbedingt einen eigenen Feriensitz vergangenen Jahr viele Deutsche ihre gentümer fordert. haben wollten. Ferienwohnung oder ihr Haus räumen. Es wird, so scheint es, ordentlich ge- Jetzt hat das Paar aus Aschaffenburg Unter den Einheimischen ist der Un- schummelt, und immer findet sich ein Ärger. Mit dem Erwerb der Wohnung, mut über die reichen Nachbarn aus dem Rechtsanwalt, der etwas außerhalb der so befand das Innsbrucker Landgericht, Norden, die „Piefkes“, gewachsen. In Standesregeln hilft. Im vergangenen seien österreichische Gesetze umgangen den attraktivsten Orten haben sich Jahr verurteilte der Disziplinarrat der worden, der Kaufvertrag sei somit null Deutsche eingekauft und die Grund- Innsbrucker Anwaltskammer fast ein und nichtig. stückspreise hochgetrieben. Dutzend Advokaten zu hohen Geldbu- Die beiden hatten keine Wohnung ge- In vielen Gebieten besitzen Auslän- ßen – sie waren erwischt worden, wie sie kauft, sondern sich an einer Kapitalge- der mehr als die Hälfte aller Ferienwoh- deutsche Mandanten bei Immobilien- sellschaft beteiligt, der „Lindauweglie- nungen (siehe Grafik). Wie viele Deut- mauscheleien beraten hatten. genschaftsverwaltungsges. mbH“. De- sche illegal einen Zweitwohnsitz haben, Seit 1962 ist Ausländern der Grunder- ren Geschäftszweck war das Eigentum weiß niemand. In Tirol, so schätzen Ein- werb in Österreich untersagt. Nur wer an einem Apartmenthaus in Fieber- heimische, sind etwa 35 000 Ferien- seinen Hauptwohnsitz im Lande hat brunn, Lindauweg 7. wohnsitze in deutscher Hand. Der größ- oder einen Betrieb gründet, erhält die Die Gesellschaft wurde 1984 ins te Teil davon wurde vermutlich illegal Genehmigung zum Immobilienkauf. Grundbuch eingetragen. Dann verkauf- erworben. Ausnahmebewilligungen sind selten, hin te der GmbH-Gründer, und wieder dürfen Promi- ein österreichischer Archi- nente kaufen. Franz Bek- München tekt, die Firma: So kamen Begehrte Plätze kenbauer etwa ist legal zu alle Anteilseigner, darun- Registrierte Wohnsitze seiner Villa in Kitzbühel ter das Apothekerpaar, DEUTSCHLAND 47,1 von Ausländern; gekommen. ins Grundbuch – ohne die Salzburg- in Prozent aller Manche Bundesländer für Ausländer erforderli- 50 Kilometer Umgebung Ferienwohnungen wie Kärnten erlauben che Genehmigung. Ausländern unter be- Der Trick mit der stimmten Umständen den GmbH ist eine „teilweise 35,3 54,8 Besitz von Wohnungen in bereits landesübliche Pra- Ferienanlagen. Doch in ei- xis“, weiß Josef Guggen- Kitzbühel 68,2 ner Betonsiedlung zu woh- 25,9 Sankt Johann berger, der als Grundver- Zell am See nen, gefällt den meisten Inns- nicht, sie wollen lieber ei- kehrsreferent in Tirol Im- 89,7 Pöls mobiliengeschäfte geneh- bruck- 92,3 Kaprun ne Villa am Waldrand Land Wald migen muß. Seit gut zwei 90,7 in Pinzgau ÖSTERREICH oder ein Haus am Berg- Jahren prüft der Jurist, hang. So etwas müssen sie wie seine Kollegen in an- sich unterderhand besor- deren Bundesländern, gen. ITALIEN 31,7 verdächtige Transaktio- Spittal an der Drau Vor allem die Tiroler nen. stemmen sich derzeit ge- Quelle: Österreichisches 28,3 Villach-Land Tricksereien können Statistisches Zentralamt teuer werden. Ist der * In Fieberbrunn, Lindauweg.

DER SPIEGEL 5/1994 91 Werbeseite

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Werbeseite gen den Andrang aus dem Nach- barland. „Es geht nicht um die Überfremdung“, sagt Landesrat Ferdinand Eberle, in der Tiroler Regierung zuständig für Land- wirtschaft und Finanzen. Weil nur 13 Prozent des Landes besiedelbar sind, so Eberle, seien Baugrundstücke knapp gewor- den, „die Preise sind ins Uner- meßliche gestiegen“. Viele Lan- deskinder finden keine bezahlba- re Wohnung. Tirol hat daher seit Anfang des Jahres den Kauf wie den Bau von Zweitwohnungen generell untersagt. Ausländer, die ihren Haupt- wohnsitz im Lande haben, müs- sen nun mindestens fünf Jahre in Tirol leben, ehe sie eine Immobi- lie erwerben dürfen. „Ich muß die Bedürfnisse derer decken, die hier leben“, erläutert der konser- vative Minister die scharfe Regle- mentierung. Vor dem geplanten Beitritt in die Europäische Union (EU) ha- Tiroler Wohnungspolitiker Eberle ben die Österreicher Gesetze er- „Die Preise sind ins Unermeßliche gestiegen“ lassen, die in krassem Gegensatz zu dem Brüsseler Grundsatz des freien zu Spitzenpreisen verkauft haben, ge- Wohnsitzes innerhalb der Gemein- raten in die Klemme. So hatte ein Ti- schaftsstaaten stehen. roler Bauer für sein Grundstück im Ausnahmen konnten bislang nur die Außerfern, dicht an der deutschen Dänen durchsetzen. Um sich vor dem Grenze, umgerechnet 200 000 Mark Ansturm kaufkräftiger Norddeutscher von einem Zahnarzt aus einer rheini- zu schützen, erlaubt Dänemark Auslän- schen Kleinstadt kassiert. Das Geld dern nur dann Grundbesitz, wenn diese wurde als Darlehen deklariert, der ihren Hauptwohnsitz im Land haben Bauer blieb Eigentümer. Als Gegenlei- oder zuvor mindestens fünf Jahre in stung setzte der Tiroler in seinem Te- Dänemark gelebt haben – nachzuwei- stament den Deutschen als Erben die- sen durch Vorlage der Steuererklärung. ses Grundstücks ein. Ob aber auch die Österreicher bei ih- Der Zahnarzt baute sich eine reprä- rem Eintritt in die EU weiterhin ihren sentative Villa. Einige Jahre später ge- Immobilienmarkt abschotten dürfen, riet er in finanzielle Schwierigkeiten scheint höchst zweifelhaft. Den be- und mußte bei seiner Scheidung die Rechte an der Tiroler Immobilie an seine Raiffeisenbank abtreten. Nur selten Da der Arzt aber nicht im Grund- geht ein Fall buch eingetragen war und die Bank so- mit das Haus nicht versteigern lassen vor Gericht konnte, beauftragte das rheinische Kreditinstitut den Innsbrucker Wirt- fürchteten Andrang will die Republik schaftsanwalt Axel Fuith mit der Rück- durch neue Flächennutzungspläne abwicklung. Die gestaltet sich recht bremsen. kompliziert. Bis zur EU-Mitgliedschaft allerdings Der Bauer hatte nur das Grundstück werden noch viele Ausländer ihren Fe- abgegeben – auf dem steht aber nun riensitz in Österreich aufgeben müssen. „das wunderschöne Haus“ (Fuith). Ein Am eifrigsten spürt der Tiroler Josef Gutachter taxierte den Wert der Im- Guggenberger illegale Geschäfte auf. mobilie, Grundstück und Villa, auf Still und unauffällig hat er viele deut- umgerechnet 700 000 Mark. Für diesen sche Ferienhausbesitzer „einvernehm- Betrag muß der Landmann die Immo- lich“ zur Rückabwicklung bewogen. bilie zurückkaufen. Nur selten geht ein Fall vor Gericht und Der hat nun ein Problem. Er muß wird dann dankbar von den Medien auf- viel Geld für ein Haus zahlen, das er gegriffen – unter Schlagzeilen wie nicht los wird: Weil Tirol den Kauf „Deutsche Trick-Käufer fürchten um ih- von Zweitwohnungen generell unter- re illegalen Zweitwohnsitze“. sagte, dürfen auch Österreicher seit Doch auch manche Einheimische, die Jahresbeginn dort kein Ferienhaus etwas außerhalb der Legalität ihr Land kaufen. Y

96 DER SPIEGEL 5/1994 WIRTSCHAFT

der ruhige Unternehmensberater aus man so auch Langlaufskier machen Unternehmen dem nahen Fulda, eigentlich von der kann, das ist den Kollegen nicht einge- Treuhand als Sanierer nach Floh geholt, fallen.“ 1992 mit zwei Partnern selbst den In einem Arbeitsgang kleben die Ger- 80-Mann-Betrieb. mina-Arbeiter den Kohlefaserschlauch Einfach hohl Insgesamt 2,7 Millionen Mark hat der auf die Lauffläche des Skis und formen ehemalige Motorradrennfahrer in Ge- ihn gleichzeitig mit Luftdruck. Die Vor- Mit einem völlig neuartigen bäude und Maschinen gesteckt. „Germi- teile der ungewöhnlichen Konstruktion Langlaufski will die Thüringer na hat heute wohl die modernste und ef- liegen auf der Hand: Das Brett ist deut- fizienteste Fertigung“, sagt der Ge- lich leichter als herkömmliche Modelle, Firma Germina überleben. schäftsführer, „Billigprodukte sind für aber wegen der halbrund ausgestülpten uns kein Weg.“ Oberseite gleichzeitig verwindungs- er Chef hatte die Idee. „Wir le- Sehr zum Ärger der mächtigen Fabri- steifer. Dem Langläufer hängt weni- gen den Schlauch auf die Laufflä- kanten aus den Alpenländern hat nun ger Ballast an den Füßen, die Abfahrten Dche“, erklärte Germina-Ge- schäftsführer Michael von Schweini- chen, 54, „und dann blasen wir das Leichtes Brett Ganze auf.“ Querschnitt des Germina-Langlaufskis Entwickler Thomas Brenn, 39, schüttelte zwar zunächst ungläubig den Kopf: „Der Ski wird nicht laufen.“ Doch weil er selbst keinen besseren Bindungsplatte/ Dämpfungselement Vorschlag hatte, machte sich der Inge- nieur an die Arbeit. Kaum ein Jahr später ist aus der Verlegenheitslösung (Schweinichen: Torsions-Steg Carbon/Glas Laminate „Wir brauchten verdammt noch mal et- was Neues“) ein revolutionärer Lang- laufski geworden. Anfang März, zur Lauffläche Sportartikelmesse in München (ISPO), kommt Germina mit einem sehr leich- Geprägte Laufrille ten Brett aus einer Glas- und Kohlefa- sermischung auf den Markt. Torsions-Hohlkammer Das könnte die Rettung für die Fir- ma sein, die als Nachfolgerin eines tra- ditionsreichen Kombinats kaum Über- ausgerechnet das verschmähte Ost-Un- mit ihren gefürchteten Kurven werden lebenschancen hatte. Zu DDR-Zeiten ternehmen einen technischen Vor- sicherer. ließen sich Hersteller wie Völkl, Bliz- sprung. Dabei hätten die Großen, allen „Ein ganz anderes Gefühl“, meint zard oder Rossignol ihre Loipenski bil- voran der österreichische Marktführer Antje Misersky. Die Biathlon-Olympia- lig im thüringischen Floh bauen. Doch Fischer, selbst auf die Hohl-Idee kom- siegerin hatte Anfang Dezember das nach der Wende wollte keiner den Be- men können. neue Gerät ihres Sponsors im verschnei- trieb haben. Weil Skier nur ein Saisongeschäft ten Oberhof getestet. Ihr Fazit nach „Für die anderen war Germina plötz- sind, bieten fast alle Firmen zusätzlich dem Lauf: „Noch etwas hart, aber un- lich ein Störfaktor“, erinnert sich Mi- Tennisschläger an. „Und die sind hohl“, heimlich schnell.“ chael von Schweinichen. Die Konkur- sagt Geschäftsführer Schweinichen mit Allerdings sind die Skier nicht ganz renz winkte ab. Schließlich übernahm unverblümter Schadenfreude. „Daß billig. Das Spitzenmodell, das nur 400 Gramm wiegt, dürfte rund 600 Mark ko- sten, die über 100 Gramm schwerere Standardversion (Schweinichen: „Das ist bei den anderen der Rennski“) gut 300 Mark. Germina will in diesem Jahr an die 100 000 Langlaufskier absetzen, neben den neuen Modellen auch die traditio- nellen aus Holz und Kunststoff. Damit wäre das ehemalige Kombinat zweit- größter Produzent nach Fischer mit knapp einer halben Million. Um den Verkaufserfolg zu sichern, müssen Germina-Athleten wie Mark Kirchner, Ricco Groß oder Antje Miser- sky weiter siegen. Eine andere Werbung kann sich das kleine Unternehmen nicht leisten. Auch bei der Winterolympiade im norwegischen Lillehammer könnten die früheren Ost-Biathleten wieder auf dem Siegertreppchen stehen, und das – so hofft Schweinichen – „vielleicht schon Germina-Manager Schweinichen: „Billigprodukte sind kein Weg“ mit unseren Hohlskiern“. Y

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Umwelt Braunes Dreckloch Neue Betriebe sind in der Lausitz rar. Das verwüstete Braunkohle-Revier soll ein Naturparadies werden.

ieter Schwirten ist seiner Zeit vor- aus. „Ich lebe im Jahr 2003 oder D2010“, sagt der Vorstandsvorsit- zende der Lausitzer Braunkohle AG (Laubag). Tagebau in der Lausitz: Statt Kippen und Ödflächen . . . Der Manager des dritten Jahrtau- sends sieht die Lausitz schon als blühen- de Landschaft. Das ausgekohlte Revier am deutschen Ostrand soll ein Naturpa- radies wie die Lüneburger Heide wer- den. Schwirten, 55, will aus den Braun- kohle-Restlöchern ein Land nach Wunsch machen: „Ein 30 Meter hoher Rodelberg, eine olympische Ruderstrek- ke, ein achteckiger See – es muß einem nur gesagt werden.“ Um die Zukunft der Lausitz ist es dem weitsichtigen Manager deswegen nicht bang. „Nur der Bevölkerung“, fürchtet Schwirten, „fehlt die Glaubens- fähigkeit.“ Die Ungläubigen leben in der Gegen- wart. Das Land ist verwüstet. Eine Re- gion so groß wie das Saarland ist durch- löchert vom Braunkohle-Tagebau. Wo die 60 Meter langen Abraumförderbrük- ken den Boden durchwühlt haben, sieht es oft aus wie auf einem fremden Plane- ten. Doch nicht nur die Landschaft ist tot. . . . ein Rodelberg und ein See: Rekultivierung in der Lausitz Der ganzen Region droht langsam das Ende. „Der Umbruch hier ist genauso Stadtverordnetenversammlung hatte be- Langfristig werde sie sich auf etwa 40 groß wie bei den Werften oder der Che- schlossen, ihr neues Kraftwerk nicht mit Millionen Tonnen einpendeln, glaubt mie, aber für die Lausitz hat es nie eine der heimischen Braunkohle zu betrei- Wirtschaftsförderer Wasmuth. Konferenz beim Kanzler gegeben“, sagt ben, sondern russisches Gas zu verbren- „Die Braunkohle-Wirtschaft“, so das Volker Wasmuth, im Brandenburger nen. Prognos-Gutachten für die Lausitz, Wirtschaftsministerium zuständig für „In unverantwortlicher Weise“ war „wird – insbesondere für den Arbeits- die Förderung der Lausitz. die Lausitz im Sozialismus von der markt – weiter rasant an Bedeutung ver- Die Brandenburger Regierung hat Braunkohle abhängig geworden, sagt lieren.“ Von einst 100 000 Braunkohle- das Krisenpotential in ihrem südöstli- Laubag-Chef Schwirten, der 1990 von Werktätigen werden nur rund 10 000 chen Randgebiet lange verkannt. „Die der westdeutschen Rheinbraun AG ins übrigbleiben. haben geglaubt, die Laubag stirbt ja ostdeutsche Revier wechselte. Braun- Die Braunkohle hinterläßt in der Lau- nicht“, sagt Werner Bohnenschäfer vom kohle feuerte rund 80 Prozent der ost- sitz doppelt schädliche Rückstände: Mit Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos deutschen Kraftwerke an. Aus Braun- den Grubenschließungen verschwindet AG, „aber sie überlebt nur auf einem kohle synthetisierte die Ost-Chemie Pla- die industrielle Basis der Region. Und völlig niedrigeren Niveau.“ ste und Elaste. Mit Briketts aus dem das Negativ-Image vom braunen Dreck- Erst als im Herbst des vergangenen Kohlenkeller des Sozialismus wärmten loch lockt nicht gerade neue Industrien Jahres aufgebrachte Kumpel Briketts sich die Ostdeutschen und gaben damit an, die Ersatzarbeitsplätze schaffen. vor das Potsdamer Rathaus kippten, ihrem Land die eindringliche schwefeli- Die Wirtschaftsförderung hat in zwei- wurde Ministerpräsident Manfred Stol- ge Duftmarke. einhalb Jahren keine spektakuläre An- pe hektisch und erklärte wortgewaltig, Nach der Wende sank die jährliche siedlung in die Lausitz holen können. aber wirkungslos die Braunkohle zur Förderung in der Lausitz von rund 200 Auch aufwendige Kampagnen helfen „nationalen Aufgabe“. Die Potsdamer Millionen auf 84 Millionen Tonnen. wenig. Als „The nice Place on the Nei-

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ße“ ließ sich zum Beispiel die Grenzstadt Abfall soll die Lausitzer Gruben fül- Guben von einer westlichen Werbeagen- len. Auch der Aushub von der Groß- tur betexten. Die Anzeigenserie brachte baustelle Potsdamer Platz kommt in nichts außer ein paar Nachfragen. ausgekohlte Tagebaue. Ein Schaumstoffpolster-Hersteller, Sichere Arbeit verspricht auf abseh- der seine Produktion mit 130 Beschäftig- bare Zeit nur die Rekultivierung der ten vom Rhein an die Neiße verlegte, ist durchlöcherten Landschaft. 232 Qua- bisher der größte Anwerbe-Erfolg für dratkilometer Kippen und Ödflächen Guben. Der Unternehmer suchte die Nä- aus DDR-Zeiten, mitunter auch noch he zu seinen Kunden, den polnischen aus dem Dritten Reich, müssen rekul- Möbelfabriken. tiviert werden. 73 Tagebaurestlöcher Auch die wenigen anderen Industrie- sind noch zu füllen. Etwa 6000 ehema- Firmen, die sich in die Lausitz locken lie- lige Kumpel reparieren jetzt die Land- ßen, schaffen nicht mehr als jeweils schaft, das insgesamt erforderliche 100 oder 200 Arbeitsplätze. Mit 220 Leu- Geld wird auf 35 Milliarden Mark ge- ten will der Tiroler Textilfabrikant An- schätzt. dreas Gebauer in Forst Lodenstoffe we- Schwer gestört ist der Wasserhaus- ben. halt. Beim Abbau der Braunkohle Etwa 80 Beschäftigte gießen in Lauch- hammer für die nordrhein-westfälische Firma Stewing Kunststoffteile bis zum ganzen Telefonhäuschen. Ein Ableger der Lüner Glashüttenwerke will von Mit- te des Jahres an in Drebkau mit etwa 120 Arbeitern Flaschen und Konservenglä- ser fertigen. Nur in der Chemie gibt es zwei Groß- betriebe. Sie sind aus früheren Kombina- ten hervorgegangen. Im Gubener Poly- amidseiden-Werk hat Hoechst bei der Übernahme von der Treuhand 1000 Ar- beitsplätze garantiert, möchte aber we- gen hoher Verluste am liebsten aus der Zusage wieder heraus. Bis 1996 will BASF im ehemaligen Synthesewerk Schwarzheide 1,3 Milliar- den Mark investieren. Dort werden un- ter anderem wasserlösliche Lacke und Dämmstoffe produziert. Mit diesen Investitionen läßt sich kei- ne neue Industriestruktur für eine ganze Region errichten. Die Aufbauhelfer se- hen keine Alternative: Die Zukunft der Lausitz beginnt wieder mit der Braun- kohle. „Wie ein Fliegenfänger“, so Bergleute-Protest* Laubag-Chef Schwirten, soll sie andere „Eine nationale Aufgabe“ Unternehmen anziehen. Sein Vorzeige-Fall ist die Preussag- wurde und wird ständig Grundwasser Tochter Noell aus Würzburg. Die Anla- abgepumpt, mit dem seit Jahrzehnten genbaufirma will ihre gesamte Edelstahl- die Spree gespeist wird. Wird weniger fertigung zum Energie-Standort Schwar- Kohle gefördert und weniger Wasser ab- ze Pumpe verlegen, weil die Manager mit gepumpt, ist die Spree als Trinkwasser- den Lausitzer Arbeitern bei einem Auf- Reservoir für Berlin gefährdet. trag für die Rauchgasentschwefelung so Wenigstens eine Oase soll aber schon gute Erfahrungen gemacht haben. nächstes Jahr in der Ödnis blühen. 1995 Doch am ehesten bleibt am Fliegen- findet im Revierzentrum Cottbus die fänger Braunkohle kleben, was irgend- Bundesgartenschau statt. In einem wie mit Dreck zu tun hat. Aus den Filter- denkmalpflegerischen Modellprojekt rückständen der Braunkohle-Kraftwer- putzt sich die Stadt für internationalen ke machen die Gebrüder Knauf aus Besuch. Außerdem sorgt die Landesre- Iphofen Gipskartonplatten. Mit dem gierung, die dort eine Technische Uni- Know-how aus der Braunkohle-Synthe- versität sowie 35 Landes- und Regional- se soll ein Reststoffverwertungszentrum behörden einrichtet, amtlicherseits für in Schwarze Pumpe aus Altgummi, PCB- den Aufschwung. verseuchtem Öl oder giftgetränkten Mit finsterem Optimismus hofft ein Bahnschwellen Kunststoffe wiederge- lokaler Wirtschaftsförderer: „In Cottbus winnen. gehen die Lichter zuletzt aus.“ Y Mit ihrer „großen Erfahrung im Gra- ben von Löchern“ legen Schwirtens * Braunkohle-Briketts vor dem Potsdamer Rat- Männer Mülldeponien an. Der Berliner haus.

104 DER SPIEGEL 5/1994 Werbeseite

Werbeseite MODERNES LEBEN SPECTRUM

Computer Schwerversehrter da- Das Medium als her, demoralisiert und blutend nach dem De- Massage bakel in Vietnam. Der „Virus, Virus, gib mir meine Kampf um die Macht Informationen wieder“, jam- und die Köpfe wird mit mern genervte Computerbe- Farben und Zeichen nutzer, und konservative ausgetragen, auf Wahl- Kulturkritiker wie Paul Viri- plakaten und Werbe- lio und Neil Postman fürch- Buttons, auf Polit- ten angesichts der Denkma- Postern und T-Shirts schinen, die immer klüger und Flugblättern, auf und mächtiger werden, die schlechtem Papier in vollkommene Verwirrung den Kampf- und Kult- und Verblödung der Men- blättern der Under- schen. Diesem Pessimismus ground-Szene. In der setzen die jungen hollän- politischen Grafik arti- dischen Medientheoretiker kulieren sich Propa- Geert Lovink und Arjen ganda und Protest, Mulder und der Freiburger Aids-Aufklärung Zeitschriftenwerbung spricht die Stimme der Autor Dietmar Dath ihre Regierung und die der fröhliche Wissenschaft entge- Plakate Straße, die zum Widerstand aufruft oder zur gen, deren wichtigste Re- Umkehr mahnt: Che Guevara wirbt für ein geln, sinngemäß, lauten, daß alternatives Studentenmagazin, die Super- auch der Kurzschluß als logi- Sex mit Superman man-Parodie „Condoman“ für Safer Sex. scher Schluß, der Virus als Die britische Design-Kritikerin Liz McQui- Freund und das Medium als Mona Lisa sitzt im Rollstuhl, was keiner ge- ston hat den Bildband „Graphic Agitation“ wußt hat, weil man bisher immer nur ihr Lä- zusammengestellt (Phaidon Press, London; cheln, nicht den ganzen Körper sah. Die bri- 29,95 Pfund), der Kämpferisches seit 1964 tischen Politiker Thatcher, Kinnock und zeigt – eine grelle, eindringliche Form der Owen baumeln einträchtig nebeneinander Kommunikation und eine Geschichte sozia- erhängt am Strang. Uncle Sam kommt als ler und politischer Kämpfe.

al, sondern ein alter jüdischer che auslassen kann, ohne Ra- Kaffee Brauch: „Schmeissing“ heißt che fürchten zu müssen. An- das. Vor vier Jahren wurden schließend wird der Geprü- Süßer Duft in London die öffentlichen gelte mit kaltem Wasser Bäder privatisiert, in Sau- übergossen und findet das al- Amerikas nen umgewandelt und die les auch noch ganz wunder- In den richtigen amerikani- Schmeisser rausgeschmissen, bar entspannend. „Dein Kör- schen Coffeeshops, wo die doch nun ist das Gesundheits- per ist wie ein Auto“, sagt ei- Gäste auf grellrosa Plastik- Datendandies prügeln plötzlich wieder hip. ner der Geschmissenen, „und bänken sitzen und fettig ge- Vielleicht liegt das daran, daß ein Schmeiss ist wie eine Ge- bratene Eier essen und die Massage zu deuten sei. Vom jeder der Besucher einmal neralüberholung.“ Schlagfer- Kellner im schwarzen Poly- 3. Februar an gehen die Schaumschläger sein darf und tige Frauen dürfen bisher ester-Anzug Eleganz imi- „Datendandies“ (wie sie sich an einem anderen Gast den noch nicht mit Schmiss Män- tieren, gibt es diesen süßli- selber nennen) auf Tournee Ärger der vergangenen Wo- ner verhauen. chen Duft, der an Kuchen durch Deutschland, die und an Sonntagnachmittage Schweiz, Österreich und Un- erinnert: Es ist der Geruch garn; sie wollen dabei ihre des aromatisierten Kaffees. Thesen erläutern, was man „Chocolade Hazelnut“ und sich aber, laut Selbstaus- „Vanilla Nut“ sind die Favo- kunft, nicht als Vortrag, son- riten der Amerikaner, und dern eher als Party und Per- nun gibt es diese und 25 wei- formance vorzustellen habe. tere Zusatzaromen für den Bohnenkaffee unter dem Freizeit Markennamen „Gourmet Coffee“ auch in Berlin zu Seifen und kaufen. Doch schon nach den ersten Schlucken gibt der schmeissen aromatisierte Kaffee sein Ge- Wenn ein kahlköpfiger, dik- heimnis preis: Der Geruch, ker, nackter Mann anderen wie vieles in Amerika, ver- Menschen mit einem einge- birgt nur die Schäbigkeit, die seiften Putzfeudel auf den dahintersteckt – der Kaffee Rücken klatscht, dann ist das schmeckt, bestenfalls, nach kein neues Sado-Maso-Ritu- Schmeissing gar nichts.

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Sucht ENTZUG MIT MINIBAR In der ersten deutschen Spezialklinik für rückfällige Suchtkranke setzen Psychologen auf Konfrontationstherapie: Alkoholiker werden gezielt Streßsituationen ausgesetzt, in denen sie sonst zur Flasche greifen. Kritiker sprechen jedoch von sinnloser „Dressur“.

ten überhaupt spezielle Gruppen für Rückfällige an. „Wenn ein Patient zum drittenmal auftaucht“, sagt Lindenmeyer, der zwölf Jahre lang in Suchtkliniken gearbeitet hat, „dann denkt der Therapeut fru- striert, ,jetzt kommt der schon wieder‘.“ Auch beim Kranken mache sich diese Enttäuschung breit, wenn er sich zum wiederholten Mal in einer Therapie- gruppe mit den Worten vorstellte, „ich bin Alkoholiker, mit zehn Jahren habe ich zum erstenmal Alkohol im Super- markt gestohlen“. Dabei ist der Rückfall der Normalfall. Fünf bis zehn Prozent der etwa 2,5 Mil- lionen Alkoholkranken in Deutschland begeben sich pro Jahr in Behandlung – bei Therapeuten, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen oder Suchtkliniken. Mehr als die Hälfte von ihnen trinkt in- nerhalb von vier Jahren wieder. Doch mit den ersten Schlucken nach der Abstinenz stellen sich schnell auch Alkohol im Patientenzimmer: Lernen, der Versuchung zu widerstehen Schuldgefühle ein. Der Schreck über das Versagen löst eine Kettenreaktion n diesem Abend schienen die Flure den Whisky erst mal stehen. Sein Är- aus, bei der sich Scham und Trinken ab- mit den Rauhfaserwänden beson- ger konzentrierte sich auf einen Thera- Aders leer zu sein, und das Zimmer peuten, der den trübseligen Abend ge- mit den Einbaumöbeln aus Buchenholz plant hatte: „Das ist ja eine Zumutung, und den blauen Designerlampen sah was der mit mir macht“, ärgerte sich eher kalt als freundlich aus. Bertram – bis die Wut ebenso wie das Thomas Bertram*, 53, hatte seinen Verlangen nach Alkohol schwächer Lieblingswhisky, einen zwölf Jahre alten wurden und er auf seinem Bett ein- MacAllen für 60 Mark, gekauft und sich schlief. gleich ein Glas eingeschenkt. Er legte Einen „Crash-Kurs“ zur Bewältigung sich aufs Bett, hörte „Ein deutsches Re- von Versuchungssituationen nennt Jo- quiem“ von Johannes Brahms und starr- hannes Lindenmeyer, 39, leitender te an die Decke. Psychologe des Christoph-Dornier- Erst langweilte er sich. Doch dann Centrums in Münster, diese Therapie krochen diese Erinnerungen in ihm für Alkoholiker. Die im Sommer dieses hoch: Wie damals seine erste Ehe schei- Jahres eröffnete Einrichtung ist die er- terte, warum er gerade dabei war, auch ste in Deutschland, die ausschließlich die zweite zu ruinieren, und daß er sich Rückfällige behandelt – mit einem un- mit seinem Sohn noch immer nicht ver- gewöhnlichen Ansatz: Die Süchtigen ständigen konnte. Und mit jedem Ge- werden ständig in Versuchung geführt, danken wuchs das Verlangen, das wieder zu trinken. Selbstmitleid hinunterzuspülen. Bisher galt der Rückfall als Beweis „Niemand würde es merken, wenn ich des Versagens von Trinkern und The- jetzt etwas trinke“, dachte er, ließ aber rapeuten. Die meisten Kliniken entlas- sen Alkoholkranke, die während der * Namen der Patienten von der Redaktion geän- mehrmonatigen Therapie das Absti- Psychologe Lindenmeyer dert. nenzgebot verletzen. Nur wenige bie- Dem Rückfall die Dramatik nehmen

108 DER SPIEGEL 5/1994 wechseln. Amerikani- sche Studien bestätigen, daß Alkoholiker, die an den Spruch „ein Drink, ein Trinker“ glauben, mehr oder längere Rückfälle haben als an- dere Süchtige. Daß schon eine Co- gnacpraline zwangsläu- fig zum unaufhaltsamen Rückfall in die Sucht führe, ist jedoch ein Ge- rücht. Es wird vor allem von Selbsthilfegruppen verbreitet und soll Süch- tige vor Selbstüber- schätzung und Kontroll- verlust schützen. Wissenschaftler wie der Nürnberger Psycho- logieprofessor Joachim Körkel, 39, plädieren deshalb dafür, den Rückfall endlich zu ent- tabuisieren. Auch Lin- denmeyer möchte mit seiner Spezialklinik „dem Rückfall die Dra- matik nehmen“. Er hofft, daß sich Patienten künftig schon nach dem ersten Ausrutscher an Alkohol im Film*: Der Schreck über das Versagen löst eine Kettenreaktion aus ihren Therapeuten wen- den und ihre Scham nicht mit immer neue Schweinerei für mich ausgedacht.“ In bestimmten Situationen, zum Bei- mehr Alkohol betäuben. Der Süchtige sollte, wie alle Patienten, spiel wenn der Patient an seine geschei- Ebensoneu wie die Bewertung ist die die Erfahrung machen, daß sich die Gier terte Ehe denkt, trinkt er zunächst gele- Heilmethode: Statt jenen Streß zu ver- nach Alkohol nicht endlos steigert, son- gentlich, dann immer öfter Alkohol. meiden, unter dem ein Patient früher dern irgendwann auch wieder ver- Nach einer Weile ist die Erinnerung an getrunken hat, wird er in zwei- bis drei- schwindet. die Beziehung, später sogar jeder trüb- wöchigen Behandlungen belastenden Si- Reimann beispielsweise wurde in ein selige Gedanke mit dem Verlangen nach tuationen ausgesetzt. So soll er lernen, von seiner Firma umgebautes Hotel in Alkohol verbunden. der Versuchung zu widerstehen – ein Chemnitz geschickt. Dort hatte er nach Die Therapeuten versuchen, Reiz und Konzept der Konfrontation, das schon seinem ersten Entzug wieder angefan- Reaktion wieder voneinander zu tren- länger bei anderen psychischen Störun- gen zu trinken, weil er den Streß der nen. Habe ein Patient wiederholt Situa- gen wie Phobien (SPIEGEL 46/1993) Großbaustelle nicht ausgehalten hatte. tionen überstanden, in denen er früher angewandt wird. „Die Ecke ist depressiv, das Wetter war zur Flasche griff, so die therapeutische Wie lange die Therapie im Dornier- mies, und ich habe auf dem Zimmer ge- Überlegung, werde der Wunsch nach Centrum dauert, bestimmt der Patient: der Droge schwächer und verschwinde Er muß die 138 Mark pro Sitzung und am Ende völlig. Je häufiger Streß ohne die 112 bis 156 Mark pro Übernachtung „Jeden Tag dachte sich Alkohol bewältigt werde, desto stärker erst mal aus eigener Tasche bezahlen, die Therapeutin eine wachse die Überzeugung, Versuchun- weil Krankenkassen allenfalls einen Teil gen in Zukunft widerstehen zu können. der Kosten übernehmen. Die Psycholo- neue Schweinerei aus“ Gemäß den schlichtesten Regeln der gen nehmen alle Gespräche auf Video Verhaltenstherapie mißt Lindenmeyer auf. Zur Kontrolle der Patienten kön- hockt“, erzählt er, „und hatte masochi- daher auch zu Beginn der Behandlung nen auch die Zimmer mit Kameras stische Gedanken.“ Daß er dieses Mal den Speichelfluß von Alkoholabhängi- überwacht werden. nicht zu dem Bier griff, das neben ihm gen. Dazu stopfen die Kranken sich den Mal rollt der Therapeut eine gut ge- auf dem Nachttisch stand, hat ihm Mund mit Watte voll, schnüffeln an ih- füllte Minibar ins Zimmer, mal muß ein „einen Kick gegeben“: Das Verlangen, rem bevorzugten alkoholischen Getränk Patient in die Weinhandlung gehen, um so die für ihn überraschende Feststel- und benetzen sich die Lippen damit. Die sich seinen Lieblingstropfen zu kaufen. lung, „flacht von alleine wieder ab“. gleiche Prozedur wird mit Wasser wie- Andere Rückfallgefährdete werden zum Bereits in den achtziger Jahren ent- derholt. Glühweinstand auf dem Weihnachts- warf der amerikanische Psychologiepro- Anschließend wird das Gewicht der markt geschickt, um Passanten zum fessor Alan Marlatt die Konfrontations- beiden Wattehaufen verglichen. Wenn Thema Alkoholismus zu befragen und therapie. Sie basiert auf ganz simplen der aus dem Alkoholversuch schwerer sich dann anschließend als Trinker zu verhaltenstheoretischen Überlegungen: sei, so Lindenmeyer über den ziemlich outen. fragwürdigen Speichel-Versuch, sei der „Jeden Tag“, erzählt Sven Reimann, * Szene aus „Die Ehe der Maria Braun“, mit Han- Patient auf Alkohol konditioniert. „Das 46, „hat sich meine Therapeutin eine na Schygulla. Wissen über diese Vorgänge“, sagt der

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Werbeseite Psychologe, „hilft dem Patienten, seine Reaktion besser zu verstehen.“ Ob die Crash-Therapie Alkoholiker auf Dauer vor weiteren Rückfällen be- wahrt, ist umstritten. Denn das soziale Umfeld von Süchtigen, das großen Ein- fluß auf Entstehung und Verlauf der Krankheit hat, spielt bei der Behand- lungsmethode keine Rolle. „Wir halten von solchen Dressuren überhaupt nichts“, kritisiert ein Aktivist einer Selbsthilfegruppe, „dafür ist die Krankheit viel zu komplex.“ Die An- onymen Alkoholiker beispielsweise set- Soll das schöne Geld vergeblich investiert gewesen sein? zen weiterhin auf strikte Enthaltsam- keit, kümmern sich aber dennoch um Rückfällige. Auch der Psychologe Körkel, Autor mehrerer Bücher über den Rückfall, hält das theoretische Konzept der Kon- frontationstherapie für „etwas spar- sam“. Andere Ansätze beziehen daher beispielsweise die komplizierten Fami- lienstrukturen in die Behandlung ein. Dafür dauern sie auch länger. Zwar spricht selbst Lindenmeyer vorsichtig von einer „Minimalthe- rapie“, in der Patienten lernen, mit zu- sammengebissenen Zähnen abstinent zu bleiben, auch wenn sie „im totalen Unglück“ leben. Aber: „Man muß nicht erst die Ursachen für den Alko- holismus lösen und ein glücklicher Mensch werden, um trocken zu blei- ben.“ Untersuchungen in den Vereinigten Staaten haben ergeben, daß der Kon- frontationsansatz Patienten hilft, die in immer gleichen Situationen aus den immer gleichen Gründen zur Flasche greifen. Mit Hilfe eines Fragebogens filtern Psychologen diese Klienten her- aus: Zu ihnen gehören beispielsweise Frauen, die zu Hause trinken, wenn sie sich einsam fühlen oder körperliche Beschwerden haben, aber auch junge Männer, die allabendlich mit ihren Kumpels zum fröhlichen Besäufnis los- ziehen. Nur wenn der Alkoholkonsum präzise einer Risikosituation zugeord- net werden kann, ist die Entkoppelung von Trinken und Anlaß überhaupt möglich. Ein ganz banaler Faktor könnte die Patienten der Münsteraner Klinik al- lerdings zusätzlich motivieren, nach der Behandlung trocken zu bleiben: Am Ende müssen sie eine Rechnung von durchschnittlich 10 000 Mark be- gleichen. Lindenmeyer: „Da überlegen sie vielleicht noch einmal mehr, ob das schöne Geld vergeblich investiert ge- wesen sein soll.“ Y GESELLSCHAFT

Tourismus „Kuscheltier im Arm“ Terre-des-Hommes-Sprecherin Christa Dammermann über den Kampf gegen Kindersex-Touristen

SPIEGEL: Die „Kampagne gegen Kinder- hen können, und von ih- SPIEGEL: Die Bran- prostitution“ und Sextourismus wird von ren Mädchen hieß es chenführer waren da Terre des Hommes und 40 weiteren Or- nachher, eines sei schon kooperativer? ganisationen unterstützt. Welche Erfolge erwachsen gewesen und Dammermann: TUI und können Sie melden? das andere verschwun- NUR sind erst aufge- Dammermann: Seit September 1993 ist im den. wacht, als wir vor ihren Ausland verübter Kindesmißbrauch SPIEGEL: Eine magere Zentralen Demonstra- auch in Deutschland strafbar, die Täter Bilanz. tionen ankündigten. können gerichtlich belangt werden. Und Dammermann: Derzeit Vor allem fürchteten sie fünf Reiseveranstalter, darunter die TUI gibt es leider keine Mög- wohl Imageschäden . . . und NUR, haben sich bis Dezember ver- lichkeit, das Gesetz wir- SPIEGEL: . . . und hat- gangenen Jahres schriftlich verpflichtet, kungsvoll anzuwenden. ten weniger Sorge um Kindersex in ihren Vertragshäusern zu Wir fordern deshalb die Moral? unterbinden. Rechtshilfeabkommen Dammermann: Von der SPIEGEL: Ein freiwilliger Ehrenkodex al- zwischen der Bundesre- Aktivistin Dammermann TUI hieß es, die Unter- so. Wie wird der eingehalten? publik und den betref- Code im Katalog schrift sei „rein formal, Dammermann: Kunden erhalten entspre- fenden Ländern. Unsere denn unsere Häuser chende Hinweise in den Katalogen und Kampagne zielt einstweilen darauf ab, sind sauber“. Allerdings wollte man mit den Buchungsunterlagen. Die Reise- Kinderprostitution gesellschaftlich zu aus „dem Zusammenhang raus sein“, leiter sollendaraufachten,wasinden Ho- ächten. wie sie sagten, und ihr Vorstandsmit- tels vor sich geht. Unsere Mitarbeiter SPIEGEL: Dabei wollen nur fünf Veran- glied Gerhard Heine fragte hinterher kontrollieren einschlägige Adressen, stalter mitziehen? sogar noch schnippisch: „Sind Sie denn zum Beispiel in Thailand. Dammermann: Wir haben insgesamt 16 nun zufrieden?“ SPIEGEL: Dort leben angeblich mehr als angesprochen, aber zunächst fühlte sich SPIEGEL: Wie viele deutsche Urlauber 200 000 Kinder unter 14 Jahren auf dem niemand zuständig. Der Deutsche Rei- machen sich in den Ferien an Kinder Strich. Wie viele Freier sind denn seit der sebüro-Verband meinte, das sehe ja so heran? Gesetzesänderung verhaftet worden? aus, „als ob wir Sextouristen beför- Dammermann: Zehntausende. In Thai- Dammermann: Im November zum Bei- dern“. Kleinere Studienreise-Veranstal- land mit insgesamt über fünf Millionen spiel zehn Personen, darunter zwei Deut- ter wie Athena und Marco Polo haben Touristen vergangenes Jahr sind bis zu sche in Pattaya. Die beiden haben sich sich sogar vehement gegen unsere 70 Prozent der männlichen Besucher aber offenbar der Strafverfolgung entzie- „Unterstellungen“ gewehrt. Sextouristen, auf den Philippinen etwa

Ein Sexkartell aus Zuhältern, Hoteliers und Reiseagenten profitiert in der Dritten Welt von der Kinderprostitution. Zur Schadensbegrenzung ha- ben die deutschen Veran- stalter TUI, NUR, Hetzel, Tjaereborg und Ikarus mit der Kinderschutz-Organisa- tion Terre des Hommes ein Abkommen unterzeichnet. Es sieht vor, Hotelverträge im Fall von Kinderprostituti- on zu kündigen und neue Unterkünfte schon vor der Akquirierung entsprechend zu prüfen. Außerdem sollen Reiseleiter und insbeson- dere Touristen informiert werden – unter anderem über die Möglichkeit der Strafverfolgung auch in der Bundesrepublik. Thailändisches Bordell (bei Bangkok): Für 210 Mark an Zuhälter verkauft

DER SPIEGEL 5/1994 113 GESELLSCHAFT die Hälfte. Davon hat vermutlich je ein Die Berliner Autorin Katharina Zehntel pädophile Interessen. Meinungsfreiheit Rutschky, eine der geladenen Referen- SPIEGEL: Weltweit wird die Zahl sexuell tinnen, wurde beim Betreten des Saales ausgebeuteter Kinder auf über eine Mil- von Demonstranten in eine Ecke ge- lion geschätzt. drängt und beschimpft, getreten, ge- Dammermann: Davon lebt die Hälfte in Ekelhafte würgt. „Deine Theorien sind Täterden- Brasilien. Die Jüngsten sind sogar unter ken“, schrie eine prügelwütige Frau. sechs Jahre alt und müssen sich für we- „Für das, was du sagst, gehört dir die niger als einen Dollar prostituieren. Wirklichkeit Fresse poliert!“ Ähnliches gilt auch für Sri Lanka. Rutschky bekam Todesangst, fing an, SPIEGEL: Tolerieren Reiseveranstalter Gewalttätige Übergriffe gegen miß- um Hilfe zu schreien, konnte sich bewußt diese Form des Sextourismus? liebige Debattenbeiträge und schließlich losreißen und in Sicherheit Dammermann: Das will ich nicht be- bringen. Der Kongreß mußte unter Poli- haupten, aber Hinweise auf „ungezwun- Kulturveranstaltungen mehren sich. zeischutz abgehalten werden; die ge- genen, legeren Strandurlaub“ oder Ho- plante Pressekonferenz sagte Rutschky tels, die „für Familien nicht geeignet n Deutschland darf jeder tun, was er aus Furcht vor neuen Übergriffen ab. sind“, gelten in Männerkreisen als will – solange er sich an die Gesetze Verbal und mit bösen Briefen wird Code. Solche Formulierungen wollen Ihält. Im Prinzip sind auch die Gedan- Rutschky attackiert, seit sie vor zwei die Unternehmen spätestens aus den ken frei, die Kunst ist es ebenfalls, und Jahren in einem Buch den therapeuti- Herbstkatalogen 1994 streichen. In den seit langem vermuten aufmerksame schen Umgang und die öffentliche Be- letzten beiden Jahren ist schon das Kulturkritiker, daß solche Großzügig- handlung des Themas sexueller Kindes- Gröbste verschwunden. keit eine einfache Ursache habe: Es hö- mißbrauch anprangerte (SPIEGEL SPIEGEL: Die meisten Kinderschänder re ohnehin keiner zu, und die kühnen 48/1992) und dabei von einer „Verdäch- dürften als Individualreisende unter- wegs sein. Dammermann: Ja. Da zirkulieren gehei- me Adressen, denn diese Sache scheint extrem gut organisiert zu sein. Goa, Ku- ba und Vietnam sind zum Beispiel im Kommen. Vom brasilianischen Charter- ziel Recife gibt es neuerdings Anschluß- flüge in den bettelarmen Bundesstaat Rio Grande do Norte, die sind immer proppenvoll. Dort steigen die Kunden mit Spielzeug und Kuscheltieren unter dem Arm als Geschenk für die Kinder aus den Maschinen. SPIEGEL: Wer sind die Freier? Dammermann: Überwiegend gebildete Leute, die zum Teil auch noch unheim- lich perfide argumentieren. Bei einer unserer Aktionen ist ein Pädophiler auf- getreten und hat allen Ernstes behaup- tet, er würde mit seinem Geld Entwick- lungshilfe leisten. SPIEGEL: Mit welcher Begründung? Dammermann: Im Norden Thailands verkaufen Eltern ihre Töchter schon für 3000 Baht, das sind 210 Mark, an Zuhäl- terringe. Sie erhoffen sich einen Ausweg Autorin Rutschky: „Für das, was du sagst, gehört dir die Fresse poliert“ aus ihrem ökonomischen Elend, indem die Kinder den Bruchteil des ange- Worte, die bösen Bilder würden über- tigungshysterie“ und einer „fanatisier- schafften Geldes, das sie behalten dür- tönt vom großen medialen Rauschen. ten Helferszene“ sprach. fen, nach Hause schicken. „Repressive Toleranz“ nannte das in Die Vorstellung, ein Monopol auf die SPIEGEL: Mit Kontrollen in Pauschalrei- den sechziger Jahren der Philosoph Her- Definition eines Problems zu haben so- se-Hotels werden Sie das Problem kaum bert Marcuse und rief zu Verstößen ge- wie auf dessen Behandlung oder Dar- lösen können. gen den Konsens der Duldsamen und stellung, löst offenbar Zensurreflexe aus Dammermann: Wir unterstützen auch Einverstandenen auf: lieber engagierte – die böse Tat, die doch das Gute Sozialprojekte in diesem Gebiet, und Wut als dieses entspannte Hinnehmen schafft. Beispiele dafür mehren sich. die Schulen leisten verstärkt Aufklä- der Dinge. Seither gilt: Manches muß Am vorvergangenen Freitag bekam das rung. man ganz eng sehen, und man muß Münchner Werkstattkino, das zur Zeit SPIEGEL: Befürworten Sie auch eine energisch protestieren, auch wenn man den umstrittenen Film „Beruf Neonazi“ schärfere Strafverfolgung? den Namen Marcuse nicht einmal buch- zeigt, Post von einem „Revolutionären Dammermann: Auf jeden Fall. Schwe- stabieren kann. Kommando Filmriß“: Die Vorführung den und Norwegen schicken bereits Po- In Berlin verhinderten vorletzte Wo- werde mit allen Mitteln, notfalls mit Ge- lizeibeauftragte, die mit der örtlichen che rund hundert Frauen und Männer walt, verhindert! Seitdem müssen Kino- Polizei zusammenarbeiten, in die Regi- mit Trillerpfeifen und Hupen, Butter- besucher sich einer Leibesvisitation un- on. Zivile Rechercheure sind allerdings säure und Blockaden stundenlang den terziehen, und Münchner Kulturschaf- an Leib und Leben gefährdet, das ist ein Beginn eines Kongresses zum Thema fende schieben symbolisch Wache vor knallhartes Geschäft. Y „Sexueller Mißbrauch“. dem Filmtheater.

114 DER SPIEGEL 5/1994 Schlingensief-Film „Terror 2000“: Zensur von linken Gesinnungswächtern

Der französische Publizist Alain de Be- knapp einem Jahr in mehreren Berliner noist, der als Chefideologe der Neuen Kinos lief, verübten die Gesinnungs- Rechten inFrankreich gilt, wurde imletz- wächter der autonomen Szene einen ten Jahr bei einer Diskussionsveranstal- Buttersäureanschlag auf das Kino tung in Berlin von etwa 20 Jugendlichen „Sputnik“ und erklärten in einem Be- abgedrängt und zusammengeschlagen. kennerschreiben, „Terror 2000“ kritisie- Ihr brutales Tun rechtfertigten die re nicht den „rassistischen und sexisti- „Antifaschistischen Gruppen Berlins“ in schen Alltag in Deutschland“, sondern einer schriftlichen Erklärung. Darin hieß zeige „ekelhafte Realität“. es: „Der Vertreter der Neuen Rechten Die Autonomen zerstörten Filmspu- und französische Faschist Alain de Be- len, demolierten den Projektor und die noist ist in das Gesicht geschlagen, er ist Leinwand und drohten dem Filmvorfüh- geboxt und getreten worden. Das fanden rer, ihn umzubringen, falls er sie verfol- wir angemessen . . . Die Diskussion mit ge. jemandem, der daran arbeitet, späterhin Und als hätten die Filmbilder schuld nicht mehr diskutieren zu müssen, son- an der finsteren Realität, zündeten of- dern statt dessen nach eigenem Ermessen fenbar linke Biedermänner ein Kino an, zu sondern und zu herrschen (auch über in dem Thomas Heises Film „Stau – jetzt Tod und Leben), ist schlicht dumm.“ geht’s los“ gezeigt werden sollte, bloß Zu milden Krawallen kommt es auch weil der Film junge Rechtsextremisten bei Theateraufführungen, vor allem, porträtiert. wenn der heutige Berliner Volksbühnen- Die Einsätze wirken wie Beschwörun- Intendant Frank Castorf Regie führt: Bei gen und Ersatzaktionen – so, als ließe seiner „Torquato Tasso“-Inszenierung in sich die zunehmende Verrohung der München verließen viele Zuschauer an- Gesellschaft verhindern, wenn man nur gewidert den Saal, bevor der Held des die Darstellung von Brutalität und Dramas überhaupt erschienen war. Der Grausamkeit verhinderte oder die of- Unmut entlud sich zunächst in leisem fene Diskussion über Themen wie Murren und schließlich immer lauteren den sexuellen Mißbrauch von Kin- Beschimpfungen über den Regisseur, der dern. als „Sozi“ und, schlimmer noch, „Kom- Die Aktivisten sehen sich an den munist“ bezeichnet wurde. Rand gedrängt, von den Medien verges- Das Protestgeschrei der Bildungsbür- sen, von der Öffentlichkeit nicht mehr ger gipfelte in der wütenden Anklage: wahrgenommen, und selbst verständnis- „Das darf man doch mit Goethe nicht ma- vollen Linken und Grünen gehen zu- chen!“ Auch Deutschlands bessere Krei- mindest die Jungs und Mädchen vom se tun sich schwer mit der Kunstfreiheit. schwarzen Block nur noch auf die Ner- In Debatten um Christoph Schlingen- ven. siefs Film „Terror 2000“ leitete man aus Vermutlich kämpfen sie deshalb so subjektiver „Betroffenheit“ das Recht unerschrocken gegen Bilder und Mei- auf Zensur ab. nungen an: Die Hoffnung, ihre Wirk- Als der Film, dessen Vorführung auf lichkeit zu ändern, haben sie längst auf- der Berlinale abgelehnt worden war, vor gegeben. Y

DER SPIEGEL 5/1994 115 AUSLAND PANORAMA

China Talsohle durchschritten? Bürgerrechtler vor Sozialprodukte osteuropäischer Länder Veränderungen gegenüber dem Vorjahr der Freilassung? in Prozent; *Commerzbank-Schätzungen Die Pekinger Regierung hat 1989 1990 1991 1992 1993* 1994* sich bereit erklärt, noch vor Rußland dem chinesischen Neujahrs- fest am 10. Februar schwer 3,0 –2,0 –9,0 erkrankte Wortführer der –12,9 –15,0 Massenproteste vom Früh- –18,5 jahr 1989 vorzeitig aus der Ukraine Haft zu entlassen. Nach An- 4,1 –2,6 –11,2 –10,0 sicht von Beobachtern wer- –14,0 –15,0 den sich darunter der Sozial- wissenschaftler Wang Jun- Polen tao, 36, und der frühere Lei- 0,3 –7,6 1,0 4,0 4,0 ter der Kommission für poli- –11,6 Albanische Kinder im Kosovo tische Reform des Zentralko- Tschechien mitees der chinesischen KP, 1,4 0,0 3,0 Balkan Europas. Ihre Zahl droht in Bao Tong, 60, befinden. –1,2 –7,1 den nächsten 50 Jahren von Wang Juntao hatte Ende der –14,2 Furcht vor jetzt 1,8 Millionen auf 900 000 achtziger Jahre das bis- Ungarn zurückzugehen. In Zagreb hat her größte unabhängige dem Aussterben 0,1 1,0 Kroatenpräsident Tudjman sozialwissenschaftliche For- –3,3 –11,9 –4,5 –3,0 Die Nachfolgerepubliken des wiederholt mehr Nachwuchs schungsinstitut Chinas gelei- ehemaligen Jugoslawien sor- angemahnt. Doch angesichts tet, das als Verbindungsstelle Bulgarien gen sich ums Überleben. des Krieges und der unsiche- zwischen dem Protest der –0,6 –9,1 –7,7 0,5 Sollte sich der Geburten- ren Wirtschaftslage ist die Studenten sowie dem Aufbe- –11,7 –5,0 trend der letzten Jahre fort- Motivation für größeren Kin- gehren der Arbeiter und In- Rumänien setzen, müssen die Serben dersegen gering. Die Albaner tellektuellen galt. Die Partei damit rechnen, im Jahre 2010 im Kosovo und in Mazedo- fürchtete das Entstehen einer –5,8 –7,4 –6,0 1,0 innerhalb ihrer eigenen Re- nien haben dagegen die höch- politischen Gegenkraft. Daß –13,7 –15,4 publik zur nationalen Min- ste Geburtenrate Europas, al- Wang schon jetzt freikom- derheit zu werden. Noch lein im Kosovo hat sich ihre men soll, ist vor allem dem geschaßten KP-Generalse- schlechter sieht die demogra- Zahl in den letzten 33 Jahren Druck aus Washington und kretärs Zhao Ziyang und phische Entwicklung für die verdoppelt. Hält der Trend Bonn zuzuschreiben. Noch wurde zu sieben Jahren Haft Slowenen aus; sie sind das an, könnte sich die ethnische bedeutsamer ist die mögliche verurteilt. Sollte er freikom- Volk mit der gegenwärtig Struktur des Balkans erheb- Entlassung Bao Tongs. Er men, bedeutete dies, daß niedrigsten Geburtenrate lich verändern. galt als rechte Hand des 1989 maßgebliche Kräfte im ZK sich für eine Rehabilitierung des Reformers Zhao stark Belorußland machen. Zurück zur Union? Südafrika In den slawischen Kernländern der ehema- Blauhelme sollen ligen Sowjetunion greift die Sehnsucht nach der früheren Lebensgemeinschaft um Wahl retten sich. Sprach sich jüngst in einer Umfrage Eine Nationale Friedenstrup- bereits jeder zweite Ukrainer für die Wie- pe aus den Todfeinden von derherstellung der Union aus, so fiel dem einst soll die für den 27. April wachsenden Nostalgiegefühl im benach- vorgesehenen ersten freien barten Belorußland nun ein hochrangiger Parlamentswahlen des Lan- Politiker zum Opfer: Mit einem Mißtrau- US-Präsident Clinton, Schuschkewitsch des retten und die bürger- ensantrag brachte die kommunistische kriegsähnlichen Zustände be- Mehrheit, die auf einen Bund mit Rußland die im Januar 1991 am blutigen Umsturz- enden, die schon Tausende setzt, den Parlamentspräsidenten und fak- versuch von Vilnius beteiligt gewesen sein von Toten gefordert haben. In tischen Staatschef Stanislaw Schuschke- sollen, hatten Asyl in Belorußland gefun- einer Kaserne bei Bloemfon- witsch zu Fall. Die KP-Deputierten attak- den. Auslieferungsersuchen aus Vilnius tein haben bereits die ersten kierten den Physikprofessor schon seit Mo- waren immer wieder abgelehnt worden. von insgesamt 10 000 Mann naten wegen seines Eintretens für Demo- Litauische Geheimdienstbeamte betätig- mit der Ausbildung begon- kratie und marktwirtschaftliche Reformen. ten sich daher Mitte Januar als Kidnap- nen: Soldaten der südafrikani- Vor Schuschkewitsch mußten seine eng- per. Sie schnappten die Gesuchten in schen Streitkräfte, Polizisten sten Vertrauten, der Innenminister und der Minsk und entführten sie über die nahe sowie Angehörige der schwar- Geheimdienstchef von Belarus, gehen. Sie Grenze – für Belorußlands Parlaments- zenGuerillatruppe „Speer der stolperten über einen spektakulären Ent- mehrheit ein Akt von „Einmischung“ und Nation“ aus Nelson Mandelas führungsfall: Zwei litauische KP-Führer, „Verrat“. Afrikanischem Nationalkon- greß sollen gemeinsam die

116 DER SPIEGEL 5/1994 Unruhegebiete im Lande be- frieden. Ähnlich wie die Uno-Truppen werden die Angehörigen der National Peace Keeping Force blaue Mützen und Helme tra- gen.

Israel Eigener Stadtrat für Ost-Jerusalem Die arabischen Bewohner des von Israel annektierten Ost-Jerusalem bereiten die Gründung einer unabhängi- gen Stadtverwaltung vor. Wie Mahdi Abd el-Hadi, Leiter des Palästinensischen Instituts für Internationale Angelegenheiten und einer der Gründer des „National- rats von Jerusalem“, ankün- digte, wird die neue Admini- stration das tägliche Leben der 155 000 arabischen Be- wohner der bis 1967 zu Jor- danien gehörenden Altstadt regeln. Über 95 Prozent von ihnen haben sich bisher ge- weigert, die israelische Staatsbürgerschaft anzuneh- men. PLO-Chef Jassir Arafat hat die designierten palästi- nensischen Stadtväter bereits angewiesen, die israelischen Personalausweise der Araber durch palästinensische Kenn- karten zu ersetzen. Für Fei- sal el-Husseini, Arafats Sach- walter in den besetzten Ge- bieten, stellt die Einsetzung eines Ost-Jerusalemer Stadt- rats ein erstes offizielles Bin- deglied zwischen der entste-

Araber in Ost-Jerusalem henden palästinensischen Autonomieregion und der von Israel annektierten Jeru- salemer Altstadt dar. Die Pa- lästinenser wollen Ost-Jeru- salem zur Hauptstadt des von ihnen angestrebten Staates Palästina machen.

DER SPIEGEL 5/1994 117 Sonderkommando der Staatssicherheit: Gefangene werden häufig an Ort und Stelle niedergemacht

Algerien LETZTE KUGEL AUFSPAREN Nach der gescheiterten Versöhnungskonferenz steht der größte Staat Nordafrikas an der Schwelle zum Bürgerkrieg. Die Fundamentalisten drohen mit einer neuen Gewaltoffensive, das Militär ist zum Putsch bereit, und Proteste der Berber gefährden die Einheit des Landes.

eneral Chalid Nisar, der starke fenen „Nationalen Versöhnungskonfe- ge französische Kolonie im Norden Mann in Algeriens Hohem Staats- renz“ zu bewegen – vergebens. „Bei die- Afrikas nur noch die Wahl zwischen Grat, erwartete ungewöhnlichen Be- sem Scheingefecht“, beharrten die Be- zwei Übeln: „Armee oder Islamisten“. such: vier aus einem geheimen Strafla- sucher, „macht die Heilsfront nicht Droht dem 27-Millionen-Volk am ger in der Sahara entlassene Häftlinge. mit.“ Statt dessen drohten sie Nisar, wie Südrand des Mittelmeeres nun eine Mi- Auf Befehl des früheren Verteidigungs- sie hinterher berichteten, daß für Militär litärdiktatur, die das Land mit brutaler ministers hatte eine Sondermaschine des und Regierung die Zeit ablaufe: „Der Gewalt auf laizistischem Kurs hält? Militärs die Freigelassenen in die 700 Vorhang ist für euch gefallen.“ Oder werden religiöse Fanatiker nach Kilometer entfernte Hauptstadt geflo- Die zweitägige Versammlung in der iranischem Vorbild einen blutigen Got- gen. Hauptstadt, auf der ein nationaler Kon- tesstaat errichten – vor den Toren der Die Gäste, die Nisar in einem Seiten- sens gefunden und über die künftige Europäischen Union? flügel des Regierungspalastes empfing, Führung des zerrissenen Landes ent- Ein Kompromiß scheint nach dem waren einflußreiche Aktivisten einer schieden werden sollte, geriet zum Fias- Scheitern der Versöhnungskonferenz Organisation, die das vom Militär ge- ko. Die Konferenz setzte vorige Woche kaum möglich, Militärs wie Fundamen- stützte Regime landesweit mit Terroran- keinen „Schlußstrich unter zwei Jahre talisten greifen gleichermaßen nach der schlägen und Überfällen bedrängt und Unruhe und Wahnsinn“, wie das Staats- ganzen Macht. Die Armee, drohte Ver- Algerien an den Rand des Bürgerkriegs fernsehen voreilig verkündete. teidigungsminister El-Amin Sirwal, wer- gebracht hat: der Islamischen Heilsfront Die von allen wichtigen Parteien des de „nicht tatenlos zusehen“, wenn die (FIS). Landes boykottierte Veranstaltung of- „Interessen des Landes“ bedroht seien. Mehr als zwei Stunden versuchte der fenbarte vielmehr, so die Pariser Tages- Die religiösen Fanatiker wiederum General, die Vertreter der extremisti- zeitung Le Monde, „den selbstmörderi- wollen mit einer Großoffensive das ab- schen Moslemorganisation zur Teilnah- schen Zustand einer Klasse, die am En- gewirtschaftete Regime endlich in die me an einer von der Regierung einberu- de ist“. Und Le Figaro sah für die einsti- Knie zwingen. „Der Prozeß der nationa-

118 DER SPIEGEL 5/1994 AUSLAND len Befreiung ist im Gang“, verkündete mals freie Wahlen zu- die FIS-Führung aus dem Untergrund. ließ, erhielten die Isla- Eine andere fundamentalistische misten im ersten Kampforganisation warnte ausländische Durchgang gleich 47 Regierungen davor, der „Militärjunta“ Prozent der Stimmen. zu helfen: Dann würden Botschaften In Panik stoppten die und Firmenvertretungen „Ziele unserer Machthaber den Ur- Mudschahidin“. nengang und brachten Schon in einem Jahr, prophezeien den FIS um seinen si- Führer der „Gotteskämpfer“, könne das cheren Sieg. Die Heils- „Banner des Islam über dem Präsiden- front wurde verboten, tenpalast flattern“ – mit fatalen Folgen ihre wichtigsten Füh- für ganz Nordafrika, aber auch für Eu- rer, Ali Belhadsch und ropa. Wenn die Heilsfront erst mal an Abbassi el-Madani, der Macht sei, befürchtet Ait Ahmed, kamen ins Gefängnis. der Chef der wichtigsten Oppositions- Seitdem bekämpfen partei, der Front Sozialistischer Kräfte die Islamisten die (FFS), „wird der ganze Maghreb in die Staatsmacht aus dem Hände der Islamisten fallen“ (siehe In- Untergrund heraus mit terview Seite 120). Terroranschlägen und Verhaftete Fundamentalisten*: „Der Vorhang ist gefallen“ Vor der Zerreißprobe steht ein Staat, Kommandoaktionen. der nach seiner Unabhängigkeit 1962 zu Um das Regime von westlicher Hilfe ab- wohl weil er sich zu sehr als Marionette einem sozialistischen Musterland der zuschneiden, legten sie auch auf Auslän- des Militärs fühlte. Dritten Welt aufgebaut werden sollte. der an. Bilanz des Machtkampfs: etwa Von Buteflika hatten sich zumindest Doch die Einheitspartei FLN (Front de 3000 Tote in knapp zwei Jahren. gemäßigte FIS-Führer ein Ende der Hatz libe´ration nationale), hervorgegangen Allein in der dritten Januarwoche ka- erhofft. Immerhin hatte er „totale Pres- aus dem erbitterten Befreiungskrieg ge- men 300 Soldaten und FIS-Kämpfer, sefreiheit“ und eine „Entlassung aller gen die Franzosen, trieb Algerien trotz aber auch unbeteiligte Zivilisten ums politischen Gefangenen“ gefordert. Leben. Bei einem einzigen Angriff eines Für zusätzlichen Sprengstoff sorgt islamischen Kommandos in der Nähe neuerdings auch die lange vernachlässig- von Sidi-Bel-Abbe`s fielen 60 Soldaten – te Bevölkerungsgruppe der Berber. Offi- selbst während des achtjährigen Unab- ziell stellen die aus der Bergregion hängigkeitskriegs hatte die französische Kabylei stammenden Ureinwohner des Armee solch einen Schlag nicht einstek- Maghreblandes, die im 7. Jahrhundert ken müssen. von den anstürmenden Arabern islami- Im unwegsamen Berggelände außer- siert wurden, knapp ein Fünftel, tatsäch- halb der Städte liefert sich das Militär lich jedoch wohl eher die Hälfte der Al- inzwischen regelrechte Schlachten mit gerier. den Aufständischen – dabei sollen auch Berbervertreter wie der FFS-Führer Napalmbomben gefallen sein. Ait Ahmed beteuern zwar, daß „nie- Statt mit demokratischen und wirt- mand von uns die Einheit der algerischen schaftlichen Reformen Vertrauen zu- Nation in Frage stellt“. Doch unter den rückzugewinnen, setzt der Hohe Staats- traditionell rebellischen Berbern, die rat, der Algerien provisorisch regiert, sich schon den Arabisierungsprogram- vor allem auf Repression – und treibt men des FLN-Regimes erfolgreich wi- den Islamisten mit Massenverhaftungen dersetzt hatten und außer Französisch und Folter nur weitere Verbitterte zu. vor allem ihre eigene Sprache pflegen, Todesschwadronen jagen vermeintliche wachsen separatistische Tendenzen. FIS-Aktivisten, Gefangene werden häu- Viele Berber fürchten, wie der Lokal- General Nisar fig an Ort und Stelle niedergemacht. sender der Kabylei vermeldete, eine Islamistenfront aufbrechen Schätzungsweise 8000 Soldaten sind „Festschreibung der arabischen Unter- schon zu den vermutlich 15 000 Gottes- drückung“, wenn das Regime Forderun- seiner großen Öl- und Gasvorkommen kämpfern übergelaufen. gen der Islamisten nachgibt. Unlängst in den Ruin. Der nun großspurig vom Staatsrat an- erst gingen in der 200 Kilometer östlich Die Staatsbetriebe, von einer weitge- gekündigte „politische Neuanfang“ ent- von Algier gelegenen größten Berber- hend korrupten und verfilzten Füh- puppte sich als Sackgasse: Zwar ließ die stadt Tisi Usu über 100 000 Demon- rungsclique alter Kämpfer als persönli- Staatsführung 901 internierte Heils- stranten für mehr Eigenständigkeit auf che Pfründen betrachtet, machen chro- front-Aktivisten frei. Da aber das Ver- die Straße. Motto: „Wir sind keine Ara- nisch Verluste. Offiziell ist jeder vierte, bot der Islam-Partei nicht aufgehoben ber.“ tatsächlich wohl jeder zweite Algerier wurde und maßgebliche Führer wie Ma- Daß eine offene Machtergreifung der arbeitslos. Mehr als zwei Drittel der Be- dani weiter in Haft blieben, mochte Generale bislang ausblieb, schreiben völkerung sind jünger als 25 Jahre – und nicht einmal die frühere Einheitspartei westliche Diplomaten in Algier der Be- ohne berufliche Chancen. FLN an der Versöhnungskonferenz teil- sonnenheit General Nisars zu; der heim- Aus diesem revolutionären Potential nehmen. liche Herrscher Algeriens konnte den schöpft die Heilsfront. „Der Islam“, be- Auch die Nominierung eines Präsi- hitzköpfigen Verteidigungsminister Sir- schwor FIS-Führer Abbassi el-Madani dentschaftskandidaten, der den Hohen wal von Umsturzversuchen abhalten. die Massen, „ist eure Erlösung. Nur er Staatsrat ablösen sollte, mißlang. Der Nasir weiß, daß Algier durch einen weiß eine Antwort auf eure Nöte.“ für das Amt von den Militärs ausersehe- Putsch auch seinen letzten internationa- Als das FLN-Regime, das sich aus- ne Abd el-Asis Buteflika, von 1963 bis weglos verrannt hatte, Ende 1991 erst- 1979 Außenminister, zuckte zurück – * In Algier.

DER SPIEGEL 5/1994 119 AUSLAND

len Kredit verspielen würde – und die Is- lamisten nur noch mehr Auftrieb erhiel- ten. Vorerst will der General deshalb weiter auf Dialog setzen, um gemäßigte „Dann fällt der Maghreb“ Islamisten aus der Heilsfront herauszu- brechen. Oppositionsführer Hocine Ait Ahmed über den Machtkampf in Algerien „Einen Putsch“, belehrte Nasir ver- gangene Woche ungeduldige Kamera- Ait Ahmed, 67, ist einer der histori- – seitens der Regierung wie der den, „müssen wir uns als letzte Kugel schen Helden aus dem algerischen Heilsfront, und das wissen die Isla- aufsparen.“ Y Befreiungskrieg gegen Frankreich misten. Sie müssen vor ihre Verant- und Generalsekretär der wichtig- wortung gestellt und eingebunden sten Oppositionspartei, der Front werden. Japan Sozialistischer Kräfte (FFS). SPIEGEL: Wie konnten die radikalen Islam-Verfechter zu einer so gefähr- SPIEGEL: Läßt sich das Blutvergie- lichen Herausforderung werden? ßen in Algerien noch stoppen? Ait Ahmed: Es war die Diktatur des Gebeugtes Ait Ahmed: Wir stehen an der Schahs, die Chomeini an die Macht Schwelle zum Bürgerkrieg. Schon gebracht hat. In Algerien haben die jetzt sterben 200 Menschen pro Wo- Diktatur des Staates und der Armee Haupt che eines gewaltsamen Todes. Noch wirtschaftliches Chaos und ein politi- aber kämpft nur eine Minderheit ge- sches Vakuum geschaffen. Die Ent- Reformer Hosokawa ist mit sei- gen die Staatsmacht, das Volk zer- wurzelten und Ausgestoßenen su- nem Kampf gegen Korruption fleischt sich nicht selbst. chen Zuflucht in den Moscheen; die SPIEGEL: Kann es mit den religiösen Extremisten wissen das zu nutzen. und Ämterschacher am Klüngel Extremisten einen Kompromiß ge- SPIEGEL: Sie gelten als einer der der alten Kräfte gescheitert. ben? Die Regierung rechtfertigt ihre wichtigsten Berberführer Ihres Lan- Härte mit der Notwen- des – wird der Kampf digkeit, eine drohen- zwischen Regierung n seiner Not wandte sich der Regie- de islamische Diktatur und Islamischer Heils- rungschef direkt ans Volk. „Erheben abzuwehren. front nun auch den ISie Ihre Stimme“, forderte Masahiro Ait Ahmed: Auch wir traditionellen Konflikt Hosokawa, 56, vergangenen Donnerstag sind gegen eine islami- zwischen Arabern und seine Landsleute auf, „sagen Sie laut, daß sche Republik. Alge- Berbern wieder anfa- Sie nicht wollen, daß die Reform schei- rien ist ein modernes chen? tert.“ Land, wir sind nicht Ait Ahmed: Das ist ei- Fast alle Fernseh- und Rundfunksta- der Iran und nicht der ne akute Gefahr, aber tionen übertrugen den leidenschaftlichen Sudan. Das Regime nicht, weil es einen Appell, an den Hosokawa – außerhalb hat die demokrati- grundsätzlichen Kon- der Parteien beliebt wie kaum ein japani- schen Kräfte unter- flikt gäbe zwischen scher Spitzenpolitiker zuvor – sein drückt und schafft Arabern und Berbern. Schicksal knüpfte: „Ich werde mich nicht in der internationalen Wir sind keine Separa- an mein Amt klammern, wenn ich mein Meinung eine falsche Ait Ahmed tisten, wir sind alle Al- Versprechen politischer Reformen nicht Alternative: wir oder gerier. Aber die Re- einlösen kann.“ Um ihn gehe es nicht, so der Gottesstaat. Im Vergleich mit gierung versucht, uns in ihren der Ministerpräsident; „auf dem Prüf- den Fundamentalisten stehen die Kampf gegen die Heilsfront zu ver- stand steht diejapanische Politikan sich“. Herrschenden dann als das kleinere stricken. Sie will eine Front Berber Das Volk aber blieb stumm und Hoso- Übel da. Ihnen fehlt aber jede Kraft gegen Islamisten aufbauen. kawas verzweifelter Aufruf ohne Wir- zur Erneuerung; sie wollen nur eins: SPIEGEL: Was für Folgen hätte ein kung. In der Nacht zum Freitag scheiterte ihre Privilegien sichern. Sieg der militanten Islamisten in Al- ein Kompromiß zwischen Regierung und SPIEGEL: Könnte die Islamische gerien für die Nachbarn Marokko Opposition im Vermittlungsausschuß, Heilsfront schon bald an die Macht und Tunesien? dem Abgeordnete beiderHäuser desPar- kommen? Ait Ahmed: Wenn der Fundamenta- laments angehören. Hosokawa drohte zu Ait Ahmed: Für eine Machtübernah- lismus in Algerien siegt, dann fällt stürzen. me gibt es nur zwei Szenarien. Er- der gesamte Maghreb. Unsere ganze „Ganz gleich, wie das endet“, meinte stens: durch einen Bürgerkrieg, den Geschichte spricht für diese Annah- ein Ausschußmitglied, „die Bürger wer- die Regierung verlieren würde, weil me. Europa sollte eine Lehre ziehen den es nicht verstehen“ – und kaum ver- sie im Volk keinen Rückhalt mehr aus dem Krieg in Bosnien; gewisse geben bei der nächsten Wahl. hat. Zweitens: durch ein heimliches Entwicklungen muß man im Keim „Seiji kaikaku“, politische Reform, Abkommen zwischen der Heilsfront ersticken. Aber Europa tut immer lautete der Schlachtruf der sieben Partei- und der Regierung. zuwenig und das zu spät. en, die sich im vergangenen Sommer zu SPIEGEL: Was versprechen Sie sich SPIEGEL: Was kann Europa denn einer Koalition der Neuerer zusammen- von einem Dialog mit den Eiferern? unternehmen? fanden und damit das 38 Jahre währende Ait Ahmed: Ich sage nicht, daß wir Ait Ahmed: Druck ausüben, mit allen Regierungsmonopol der Liberaldemo- die Islamisten demokratisieren kön- wirtschaftlichen und politischen Mit- kraten (LDP) brachen. Seit seinem nen. Aber wir müssen im Dialog mit teln, um die Staatsmacht zur Demo- Amtsantritt im August hat Premier Ho- ihnen einen Durchbruch erreichen. kratisierung zu zwingen. Nur so läßt sokawa „seiji kaikaku“ zur Chefsache er- Das Volk hat genug von Brutalitäten sich Algerien retten. hoben. Bereits in seiner ersten Regierungser- klärung gelobte er, alsbald einschneiden-

120 DER SPIEGEL 5/1994 schen Partei (SDP), waren un- Den Verrat ihrer Abgeordneten am Re- verhofft ins Lager der Neinsa- formauftrag werden die Wähler den So- ger übergelaufen. zialisten kaum nachsehen. Sozialisten-Chef Tomiichi Der LDP droht ebenfalls die Spal- Murayama beugte zerknirscht tung. Seine Partei, meint der Historiker sein Haupt: Für die Niederlage Megumi Ito in Tokio, habe „keinen An- trage „allein die SDP die laß, sich über ihren Pyrrhus-Sieg zu Schuld“. Den Rebellen droht freuen“. Parteiausschluß, die SDP-Füh- Schon vor Wochen prophezeite der rung wird in Kürze zurücktre- Abgeordnete Norihiko Akagi, wenn die ten. Der Schaden aber ist nicht LDP „für das Scheitern der Reformen wiedergutzumachen. verantwortlich gemacht wird, verliert sie Angst vor dem Neubeginn sicher ein Viertel ihrer Wähler“. Minde- und seinen Folgen hatte die stens 30 reformorientierte Mitglieder – unheilige Allianz von LDP und er selbst eingeschlossen – würden die SDP-Renegaten geschmiedet: Fraktion verlassen. Wären Hosokawas Reformplä- Die Wirtschaft reagierte mit einem ne verwirklicht worden, hätten Anflug von Panik auf das politische Ge- altgediente Liberaldemokra- zerre. Am Montag nach der Abstim- ten ihre Hausmacht und Fi- mungsniederlage der Regierung im nanzbasis verloren; denn künf- Oberhaus herrschte an der Tokioter tig sollten Spenden der Wirt- Börse, wie die Tageszeitung Yomiuri schaft an einzelne Politiker, schrieb, ein „Gedränge wie in der gleich in welcher Höhe, verbo- U-Bahn zur Rush-hour. Alle wollten ten werden. Diese reichlich verkaufen“. Der Nikkei-Index sackte sprudelnde Geldquelle sicher- um mehr als 950 Punkte ab, die te bislang die parlamentarische schlimmste Baisse seit dem Beinahe- Macht der gestürzten Libera- Crash der Börse im August 1991. len. Das Gerangel der Parteien findet Die Sozialisten irritierte Toyota-Chef Shoichiro Toyoda, desi- mehr die vorerst verhinderte gnierter Vorsitzender des mächtigen Neuaufteilung der Wahlkreise. Wirtschaftsdachverbandes Keidanren, Großwahlkreise, in denen bis- „unverantwortlich“. lang bis zu sechs Mandate ver- Die Konzernbosse brauchen dringend geben wurden, sollten ersetzt politische Stabilität und eine Regierung, werden durch Einzelwahlbe- die die Industrie fördert. Seit knapp drei „Wie gut, daß ich mich an Ihnen festhalten zirke, in denen zukünftig teils Jahren macht Japans Wirtschaft, die kann!“ über Listen, teils direkt ge- einst als unbezwingbar galt, die längste wählt werden sollte. und tiefste Rezession seit dem Zweiten de Reformgesetze durchzusetzen oder „Wenn für das Unterhaus Direktman- Weltkrieg durch. Erstmals wird dieses „Konsequenzen“ zu ziehen, was nach ja- date in Einzelwahlkreisen eingeführt Haushaltsjahr, das am 31. März endet, panischem Politikbrauch Rücktritt be- werden“, so bangte der sozialistische ein negatives Wirtschaftswachstum aus- deutet. Abgeordnete Osamu Yatabe, „hat kein weisen. Rekordzahlen von Firmenzu- Für Hosokawa und seine Koalitions- einziger SDP-Kandidat mehr eine Chan- sammenbrüchen werden fast täglich ge- partner heißt Reform vor allem: Be- ce, gewählt zu werden.“ meldet. kämpfung von Korruption und Ämter- Aber auch ohne Wahlrechtsänderung Staatliche „Programme zur Belebung schacher, von Durchstechereien und scheint der Niedergang der einstmals der Konjunktur sind schnellstens not- Cliquengemauschel – der Erblast aus mächtigen, innerhalb der Regierungsko- wendig“, fordert Keidanren-Chef Gai- fast vier Jahrzehnten liberaldemokrati- alition stärksten Partei unausweichlich. shi Hiraiwa. Zentralbank-Präsident Ya- scher Alleinherrschaft. Das Gesetz zur sushi Mieno verlangt Steuersenkungen, Parteienfinanzierung und das Wahlrecht um die private Nachfrage zu stimulie- sollten geändert werden. Doch den al- ren. ten Kräften ist nicht so leicht beizukom- Ministerpräsident Hosokawa gibt den men. beiden Chefökonomen zwar recht – Für Hosokawa wurde der Kampf ge- aber erst will er das politische Haus in gen die zähen Strukturen der Vergan- Ordnung bringen. Seit Monaten drückt genheit zur persönlichen Obsession. Zu- sich der Regierungschef um klare Aus- nächst verlief auch alles nach Plan. Im sagen zur Konjunkturpolitik. Seine Re- November passierte das Gesetzespaket formbesessenheit hat den smarten Pre- das Unterhaus des Parlaments; im Janu- mier betriebsblind gemacht. ar stimmte auch der beratende Aus- „Die Wirtschaft braucht dringend kla- schuß des Oberhauses mehrheitlich zu. re Vorgaben der Politik“, sagt Paul Kit- Doch am Freitag vorletzter Woche ney, Tokioter Verkaufschef des Broker- sorgte das Plenum des Oberhauses für hauses Barclays de Zoete Wedd. „Politi- eine böse Überraschung: Mit 130 zu 118 sches Durcheinander heißt: keine Chan- Stimmen schmetterten die Abgeordne- ce für wirtschaftliche Erholung, ein wei- ten die Vorlage ab. Oppositionspolitiker teres Jahr Rezession.“ der konservativen LDP jubelten: 17 In einem letzten Versuch bemühten Mitglieder der Regierungskoalition, al- Gescheiterter Reformer Hosokawa sich Regierungschef Hosokawa und lesamt Angehörige der sozialdemokrati- „Die Bürger werden es nicht verstehen“ LDP-Präsident Yohei Kono in der

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Nacht von Freitag auf Samstag, den end- wohl Gewerkschaftskommandos die gültigen Bruch zu vermeiden: Auf Drän- Scheiben einschlugen und die Fahrzeuge gen der sozialistischen Parlamentspräsi- mit Farbe verschmierten; der von der dentin Takako Doi trafen sich die bei- Regierung angeordnete Nottransport im den zu einem mehrstündigen Chefge- öffentlichen Verkehr klappte. Ohnehin spräch. benutzte, wer zur Arbeit wollte, mög- Von dem ursprünglichen Reformvor- lichst den eigenen Wagen. haben ist mit dem Kompromiß, den sie Die Piquetes – 100 000 sollten vorigen dabei aushandelten, nicht viel übrigge- Donnerstag in ganz Spanien den Gene- blieben. Prestige haben alle Mitwirken- ralstreik durchsetzen – verhielten sich den an Hosokawas Reformdebakel ein- diesmal einigermaßen diszipliniert, nur gebüßt. vereinzelt gab es Schlägereien mit Ein- Der Versuch einer tiefgreifenden De- heiten der Polizei. mokratisierung Japans hat nur Verlierer Die Bilanz des vierten Generalstreiks, hervorgebracht. „Seiji kaikaku“ war der seit die Sozialistische Arbeiterpartei politische Slogan des Jahres 1993 in Ja- Spaniens unter Felipe Gonza´lez 1982 pan. Das Jahr 1994 hat kaum begonnen an die Regierung kam, fiel für die Ge- und hat doch schon, wie das Wirtschafts- werkschaften keineswegs triumphal blatt Nikkei bemerkte, sein „alles umfas- aus. sendes Schlagwort: kaosu“ – Chaos. Y Die ehemals mit den Sozialisten ver- Regierungschef Gonza´lez brüderte Allgemeine Arbeiterunion Dem Druck nicht nachgeben (UGT) und die kommunistischen Arbei- Spanien ter Kommissionen (CCOO) kämpften setzt hätten, so UGT-Chef Nicola´s Re- nicht für konkrete Forderungen; sie dondo. suchten die Machtprobe mit der Regie- Doch anders als nach dem erfolgrei- rung, um den Verfall ihres Einflusses chen Ausstand im Dezember 1988 hat Tiefer aufzuhalten. Felipe Gonza´lez diesmal keinen Grund, Die einstigen Partner haben sich über dem Druck nachzugeben. Nur eine Wo- die Frage zerstritten, wie Spanien aus che vor dem Generalstreik hatte das Par- Graben seiner schlimmsten Wirtschaftskrise seit lament miteiner Mehrheit von93Prozent dem Ende der Diktatur herauszuführen gegen Änderungsanträge der kommuni- Machtprobe unter alten Verbün- sei. Gonza´lez und sein Team setzen auf stisch dominierten Vereinigten Linken deten: Die Gewerkschaften fühlen Abbau der großzügigen Sozialleistun- gestimmt. gen, die sie überwiegend selbst einge- Die Gewerkschafter behaupteten sich vom sozialistischen Regie- führt hatten, und wollen den Unterneh- zwar, „ein tiefer Graben“ sei zwischen rungschef Felipe Gonza´lez verraten. mern mit einer Liberalisierung des stark Parlament und Bevölkerung aufgebro- reglementierten Arbeitsmarkts entge- chen. In Wahrheit aber schwindet ihnen genkommen. selbst die Basis: Allenfalls ein Zehntel ls die Piquetes, die für ihre An- Die Gewerkschaften dagegen erwar- der 15 Millionen Erwerbsfähigen ist noch griffslust gefürchteten Streikpo- ten, daß der Staat mit hohen Investitio- organisiert. So versuchten UGT und Asten, frühmorgens auf dem Mercat nen für Wachstum und Vollbeschäfti- CCOO, den Streik zur politischen Kund- de Santa Catalina von Barcelona Haus- gung durch Arbeitszeitverkürzung sorgt gebung aller Unzufriedenen mit der erst frauen am Einkauf hindern wollten, ver- – möglichst ohne Lohneinschnitte. Den im vergangenen Juni wiedergewählten jagten die Händler sie mit gezückten Sozialisten werfen sie Verrat am ge- sozialistischen Regierung umzuwandeln. Schlachtermessern, Fleischerhaken und meinsam erkämpften Modell des Sozial- Doch die Mehrheit der Spanier hat sich Besen, die sie wie Knüppel schwangen. staats vor, da sie durch neoliberale Wirt- damit abgefunden, daß eine Korrektur In der Hauptstadt Madrid verließen schaftsrezepte „eine zutiefst rückschritt- der Beschäftigungspolitik unausweich- die Busse pünktlich ihre Depots, ob- liche Gegenreformation“ in Gang ge- lich ist. Denn bisher gelang es nicht, die Krise zu meistern: Das Haushaltsdefizit hat sich innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt. Der Rückgang der Un- ternehmensgewinne ließ die Steuereinnahmen schrumpfen. Vergangenes Jahr gingen ungefähr 600 000 Stellen verloren. Die Regierung mußte umge- rechnet 25 Milliarden Mark für inzwischen 3,5 Millionen Arbeitslose aufwenden – das sind 23 Prozent der aktiven Be- völkerung, ein Rekord in der Europäischen Union. Wer indes seine Stelle Streikende in Barcelona: „Zutiefst rückschrittliche Gegenreformation“ behielt, konnte gemäß

122 DER SPIEGEL 5/1994 Tarifvertrag vergangenes Jahr Lohner- Der neue Geist beflügelte auch den höhungen von durchschnittlich 6 Prozent Bosnien Generalstab der bosnischen Armee. einstreichen, bei einer Inflation von nur Die Truppe, anfangs ein schlecht ge- 4,9Prozent. Diese Zuwächse, soArbeits- führter und unzulänglich bewaffneter minister Jose´ Antonio Grin˜a´n, kosteten Haufen von Amateuren, ist nun straff soviel wie 100 000 neue Jobs. Den Ge- Bereit organisiert und in sechs Korps sowie werkschaften warf er vor, sich unsolida- zwei unabhängige Brigaden gegliedert. risch gegenüber allen zu verhalten, die Mit dem Schlachtruf „Allahu akbar“ verzweifelt Arbeit suchen. zu sterben ziehen auch einheimische Kämpfer in Während Löhne und Sozialleistungen den Dschihad. unter gewerkschaftlichem Druck stetig Was die Nato verweigert, orga- Zwei Kommandeure der bosnischen ˇ stiegen, verbesserte sich die Produktivi- nisieren islamische Mudschahidin: Armee, Asim Suvalic´ und Mahmut Ka- tät kaum. Längst hat Spanien für Investo- ralic´, wenden sich schon offen gegen ren den Reiz eines Billiglohnlands einge- militärische Hilfe für die Bosnier. die Kompromißbereitschaft der Regie- büßt, ohne technologisch und qualitativ rung in Sarajevo, die immer noch eine mit anderen Industriestaaten konkurrie- it dem Krieg kamen die Araber. Verhandlungslösung in Genf sucht. ren zu können. Für Abu Abd el-Asis, 50, ist „Erst wenn die Kugeln pfeifen, jubelt Um die Abwanderung ausländischer MBosnien so wichtig wie einst mein Herz“, erklärt Sˇuvalic´, Führer ei- Firmen, besonders nach Osteuropa, zu Afghanistan. „Ich kann nicht wegsehen, nes „Freien Diversantenbataillons“, verhindern und den Stellenabbau zu wenn meine Brüder niedergemetzelt das auch Kamikaze-Aktionen nicht bremsen, versuchte die Regierung mit werden“, erklärt der saudiarabische scheut: „Dann weiß ich, der Feind Gewerkschaften und Arbeitgebern für Streiter Allahs, „wir müssen siegen.“ wird vernichtet.“ die nächsten drei Jahre einen Sozialpakt Aus dem militärischen Triumph der Das oberste Gebot für die Truppe auszuhandeln: Mäßigung bei den Löh- afghanischen Widerstandskämpfer ge- lautet, den Gegner einzukesseln und nen, Anpassung der ihn dann im Nahkampf, Renten andieInflations- notfalls Mann gegen rate und vor allem eine Mann, zu vernichten. Reform des rigorosen Nach dem eigenen Blut- Kündigungsschutzes – zoll wird nicht gefragt, es ein Relikt der staatsge- zählt allein der Sieg. lenkten Wirtschaft unter Seit Ende November der Franco-Diktatur. überrennen die Drauf- Doch die Gewerkschaf- gänger in Zentralbos- ten wolltenkeine Abstri- nien ein kroatisches che hinnehmen. Dorf nach dem anderen, So begann die Regie- schiebt sich die Frontli- rung im Dezember die nie beharrlich nach Sü- Reformen per Dekret in den. Derzeit sind etwa Gang zu setzen. Kern- 150 000 Kroaten zwi- stück ist die Einführung schen Vitez und Konjic einer Lehrlingsausbil- von Moslemtruppen ein- dung; die Bezahlung soll gekreist. Die Belagerer unter dem Tariflohn lie- lassen nicht einmal hu- gen – wie auch in manitäre Uno-Hilfe für Deutschland üblich. die Zivilbevölkerung Damit hofft Arbeits- durch. minister Grin˜a´n eine Aber auch auf Terri- Million Schulabgänger Moslem-Geschützstellung: „Wenn Kugeln pfeifen, jubelt mein Herz“ torium, das von Serben von der Straße zu holen, gehalten wird, gelingt die keinerlei Qualifikation haben. Ge- gen die übermächtige Sowjetunion mancher Vorstoß. Das monatelang ab- genwärtig sind 40 Prozent der Jugendli- schöpft der Kriegsveteran seinen Mut als geschnürte Maglaj ist wieder durch ei- chen zwischen 16 und 25 arbeitslos. Freiwilliger in der Streitmacht seiner bos- nen Korridor mit dem Hauptsiedlungs- Das neue Recht erleichtert auch be- nischen Glaubensbrüder. In Zentralbos- gebiet der Moslems verbunden; die ser- triebsbedingte Kündigungen. Bislang nien kommandiert er jetzt eine Elitetrup- bischen Stellungen um Doboj wanken. war die Abfindung bei Entlassung eines pe und führt einen Heiligen Krieg gegen „Der tote Punkt ist überwunden“, Festangestellten – zwei Drittel der Ar- Serben und Kroaten. sagt Mahmut Karalic´ zuversichtlich, beitnehmer – extrem hoch. Deshalb ver- Asis ist nur einer von über 2000 Berufs- „unsere Leute sind bereit zu sterben – gaben Firmen in den vergangenen Jah- kriegern, die aus Malaysia, Pakistan, Al- wenn Allah es will.“ Als Chef einer ren fast ausschließlich Jobs auf Zeit. gerien, Libyen und anderen Staaten nach Mudschahidin-Brigade organisiert er Die Gewerkschaften wehren sich er- Bosnien gekommen sind. Mit ihrer Gue- den Nachschub für den Heiligen Krieg, bittert gegen „Müllverträge“ und rilla-Erfahrung und ihrem Kampfesmut wobei ihm alle Mittel recht sind. „Kündigungsfreiheit“. Doch das flaue haben sie der Armee des bosnischen Prä- Schon mehrmals befahl er verlustrei- Echo auf den Streikaufruf ist ein deutli- sidenten Alija Izetbegovic´ zu einer che Offensiven, um in den Besitz einer ches Zeichen für ihren Machtverlust. Schlagkraft verholfen, die Kroaten und Munitionsfabrik oder eines noch zu Ti- Der Arbeitskampf, so die linke Sozia- Serben überraschte. to-Zeiten angelegten Waffendepots zu listin Carmen Garcı´a Bloise, sollte nur Dankbar nahmen die anfangs eher ab- gelangen. Bei der Eroberung der kroati- „den Minderwertigkeitskomplex“ der weisenden bosnischen Moslems die Hilfe schen Städte Bugojno und Visoko hat- Arbeitervertreter verdecken, „ihren der Mudschahidin an – ihre Hoffnung auf ten die moslemischen Angreifer zehn- Mangel an Einfluß in den Unterneh- ein militärisches Eingreifen der Nato- mal mehr Gefallene als die Verteidi- men“. Y Staaten haben sie längst aufgegeben. ger. Doch mit 200 000 Mann unter Waf-

DER SPIEGEL 5/1994 123 AUSLAND fen und 80 000 im ständigen Einsatz Aber das war nicht die ganze Wahr- vertrauen die bosnischen Befehlshaber Österreich heit. Klestil, der sich als bedauernswer- auf ihre neue Stärke und weitere Er- tes Opfer schilderte, vergaß eine weitere folge. Überdies wird ihre Ausrüstung Person zu nennen, die in der Affäre eine von Monat zu Monat besser. nicht unwichtige Rolle spielt und erst Es gelang ihnen, eine eigene Waf- Hauch von den Auszug der Präsidentengattin her- fenproduktion aufzubauen: In Zenica beigeführt hatte: die Gesandte Margot stellen die Bosnier das Sturmgewehr Löffler, 39, mit der Klestil, 61, ein Cobra her, in Novi Travnik fertigt die Schnitzler „Pantscherl“, wie man das in Wien zärt- Waffenfabrik Bratstvo Kanonen und lich nennt, angefangen hatte. Raketen, und in Bugojno werden mas- Der Bundespräsident ist durch eine Nach dem vergangenheitsverdrängen- senhaft Zünder und Granaten produ- Liaison ins Straucheln geraten. den Kurt Waldheim schon wieder ein ziert. Präsident mit Erinnerungslücken? Die islamische Staatenwelt hat sich Die Frauen gehen, er darf bleiben. Von allen guten Geistern verlassen, massiv zur militärischen Unterstützung hatte das Staatsoberhaupt die Diploma- ihrer europäischen Glaubensbrüder ls der Gastredner auf die eigenen tin auch noch als Leiterin der Koordi- entschlossen. So flossen im vorigen Nöte zu sprechen kam, versagte nierungsstelle in seine Kanzlei geholt. Jahr – trotz Uno-Waffenembargo – Aihm die Stimme. Er wisse aus eige- Das fügte der Treulosigkeit den Ruch schätzungsweise 15 Millionen Dollar ner Erfahrung, gestand Bundespräsi- des Amtsmißbrauchs hinzu. vorwiegend für Rüstungsgeschäfte auf dent Thomas Klestil, „daß es im Leben Edith Klestil, 37 Jahre verheiratet Konten bosnischer Auslandsvertretun- kaum Schwierigeres und Belastenderes und Mutter von drei erwachsenen Kin- gen. Damit wurden – offenbar in geben kann als die Bedrohung oder gar dern, fühlte sich durch die um 22 Jahre Frankreich – zwei ultraleichte Späh- den Verlust des familiären Friedens“. jüngere Rivalin, die zunehmend die flugzeuge und über russische Händler Rolle an Klestils Sei- sechs Mi-8-Transport-Hubschrauber te beanspruchte, aufs eingekauft. Abstellgleis gedrängt. In riskantem Tiefflug, so westliche Diese Demütigung Geheimdienstler, seien diese Maschi- durch das Vorzimmer- nen über Ungarn, Rumänien und Al- Verhältnis wollte sie banien an der Luftraumüberwachung nicht länger hinneh- der Nato vorbei nach Bosnien gebracht men: „Meine Leidens- worden. fähigkeit war er- Fest steht: Die moslemische Seite schöpft.“ setzt bei der Rückeroberung verloren- Klestils Entschluß, gegangener Gebiete zunehmend auch die Affäre über ein schweres Gerät ein, das sie von Serben Boulevardblatt höchst- und Kroaten bei ihren Vorstößen er- selbst an die Öffent- beutete. Heute verfügen die bosni- lichkeit zu bringen, er- schen Streitkräfte über 85 Panzer und wies sich als verhäng- mehr als 300 schwere Geschütze. nisvoller Schachzug – Kleinere Mengen leichter Waffen, so kein gutes Zeugnis für vermuten die Serben, werden von den sein Gespür und schon ebenfalls moslemischen Albanern über gar nicht für seine di- den Kosovo auf abgelegenen Gebirgs- plomatische Kompe- pfaden nach Bosnien eingeschleust. tenz, auf die er sich Der Endkampf um die Kroaten- viel zugute hält. Hochburg Vitez hat schon begonnen. Die Zeitungen, vor- Dort befindet sich eine strategisch an das bunte Billigblatt wichtige Rüstungsfabrik mit einem der Täglich Alles, bemäch- größten Munitionslager Europas, das tigten sich dankbar des für die Jugoslawische Volksarmee an- Präsidenten-Paar Klestil, Gesandte Löffler (M.) präsidialen Liebesle- gelegt worden war. Mit dem Spreng- Liebesnest in der Hofburg? bens und walzten es stoffvorrat, so schätzen Nato-Experten, genüßlich in der Öf- könnten etwa 400 000 Granaten oder Der weinerliche Auftritt des Staats- fentlichkeit breit. Das hatte es in Öster- eine Milliarde Patronen produziert oberhaupts bei der Feier der Vatikani- reich bis dahin nicht gegeben. werden. Bislang passen britische Uno- schen Uno-Vertretung in Wien zum Täglich Alles bot den Lesern den opti- Blauhelme auf, daß die Kriegsparteien Weltfriedenstag war der allerpeinlichste schen Beweis, daß die Affäre schon seit sich nicht bedienen. Höhepunkt einer Wiener G’schicht’, in dem Wahlkampf 1992 anhält: ein Foto, Für die radikalen Moslemkrieger ist die sich der bekennende Katholik Kle- auf dem der Präsident zu sehen ist, dane- das Grund genug, auch die Friedens- stil heillos verstrickt hat. ben seine Frau, „und hinten Margot Löff- hüter der Vereinten Nationen zu be- Begonnen hat die Aufregung in der ler, die Geliebte, die ihre Hand zärtlich drohen. Tag für Tag ziehen sie den Hofburg mit einem Interview im Maga- auf die Hüfte des Staatsoberhaupts legt“. Belagerungsring enger, ohne Rücksicht zin News: Ihn drückten private Sorgen, Während Erhard Busek, Obmann der auf die Warnung der Kroaten, die ge- seine Frau habe ihn verlassen, mehr Österreichischen Volkspartei (ÖVP), samten Anlagen in einer Verzweif- wolle er dazu nicht sagen, „weil dieses Außenstehende ermahnte, sich öffentli- lungstat in die Luft zu sprengen. Problem nur meine Frau, mich und die che Ratschläge an den Parteifreund Kle- „Euch Feiglingen werden wir es zei- Kinder – also die Familie – betrifft“, stil tunlichst zu verkneifen, drosch ausge- gen“, spottet Asim Sˇuvalic´, „im Verein machte der Präsident seine Ehekrise pu- rechnet die Gattin von ÖVP-Justizspre- mit den Briten schicken wir euch zur blik, über die in Wien längst getuschelt cher Michael Graff drauflos: „Sich nicht Hölle.“ Y wurde. scheiden zu lassen und es mit der anderen

124 DER SPIEGEL 5/1994 zu treiben, das ist wirklich fies“, rüffelte sie den Fremdgänger. Wiens Bürgermeister Helmut Zilk, nach einem Briefbombenattentat aus dem Spital entlassen, äußerte Verständ- nis für die Klatschsucht seiner Landsleu- te: „Jetzt haben wir endlich wieder eine neue Staatsoperette“, spottete er; den österreichischen Bundespräsidenten kenne man nun bis Paraguay, das sei gut für den Fremdenverkehr. Eine pikante Posse, alles halb so schlimm? Wegen einer Mätresse habe es in Österreich nie politische Beben gege- ben, tröstete eine Historikerin den ange- schlagenen Klestil. Erlauchtes Beispiel: Kaiser Franz Joseph, der sich mit der Schauspielerin Katharina Schratt über die abweisende Kühle seiner Sissy hin- wegtröstete. Die Kaiserin, so die Habs- burg-Spezialistin, habe sogar selber „diese Beziehung, die 30 Jahre gedauert hat, für ihren Mann angeknüpft“. Doch Klestil fehlte soviel entsagungs- volles Verständnis der Ehefrau. Für ihn wäre die Staatsoperette beinahe zur Tragödie geworden. Beim Krisenma- nagement bewies er so wenig Fingerspit- zengefühl, daß sein weiterer Verbleib im Amt zur Debatte stand. An Unterstellungen herrschte kein Mangel: In der Präsidentschaftskanzlei sei mit Millionen aus Steuergeldern eine „gut abgesonderte“ Wohnung eingerich- tet worden, „ein Liebesnest“, wie Einge- weihte angeblich wußten. Ein Hauch von Schnitzler breitete sich über der Hofburg aus. Nach langem Zaudern suchte Klestil, der als „Einser-Modell eines Bundesprä- sidenten“ (Busek) Politik machen wollte, endlich eine Lösung für die längst untrag- bar gewordene Situation. Doch ein klä- rendes Gespräch zwischen den Ehegat- ten verlief ergebnislos. Der Präsident werde, so eine Bekannt- machung seiner Kanzlei, auf Dauer ge- trennt von seiner Gattin leben und ohne sie seine Repräsentationspflichten wahr- nehmen, fallweise dabei von seiner Toch- ter, einer Hostess der Austrian Airlines, unterstützt. Die Gesandte Margot Löff- ler hat inzwischen den Außenminister um die Versetzung auf einen Auslandsposten ersucht. Eilig scheint es das Paar damit nicht zu haben. Im Februar soll die Beamtin ihren liebeskranken Präsidenten noch zu ei- nem Staatsbesuch nach Ägypten beglei- ten. Und ein geeigneter Auslandsjob ist „nicht vor Jahresfrist“ in Sicht. Die Gattin packt die Koffer, der Präsi- dent bleibt im Amt. „Auf der Strecke bleiben, wie man sieht und wie es fast im- mer ist,dieFrauen“,rügendieSalzburger Nachrichten die Me´nage a` trois des Staatsoberhaupts, das im Wahlkampf und auch später immer wieder seine heile Familie vorgeführt hatte, obwohl sie nur noch Fassade war. Y

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SPIEGEL-Gespräch „Wir stehen am Scheideweg“ Israels Premierminister Jizchak Rabin über die Chancen für den Friedensprozeß in Nahost

Rabin (2. v. r.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Deutschland und Frankreich wurden auch nicht Freunde über Nacht“

SPIEGEL: Vier Monate nach dem histori- bei den israelisch-palästinensischen Nur so gelangen wir ans Ziel. Aber ich schen Abkommen von Washington steht Verhandlungen in Taba, Oslo, Paris bin sicher, daß wir es schaffen. der israelisch-arabische Friedensprozeß und Kairo nicht um Prinzipien, son- SPIEGEL: Bei vielen Palästinensern ver- vor der Entscheidung: Kommt jetzt der dern um das Kleingedruckte. stärkt sich unterdessen der Eindruck, Durchbruch, oder droht ein Rückschlag, SPIEGEL: Der Teufel steckt also wieder daß Sie bewußt auf Zeit spielen. der alles wieder in Frage stellen könn- einmal im Detail? Rabin: Ohne Geduld läuft überhaupt te? Rabin: Mit den Palästinensern etwas nichts. Schließlich wollen wir einen Rabin: Mein Ziel ist es, den hundertjähri- auszuhandeln ist besonders vertrackt. hundertjährigen Konflikt beenden. gen Konflikt zwischen Juden und Palästi- Wir wollen eine neue Realität, ein Deutschland und Frankreich wurden nensern zu beenden. Den ersten großen friedliches Miteinander von zwei Ein- auch nicht Freunde über Nacht. Schritt vorwärts haben wir im vergange- heiten erreichen, zwischen denen weiß SPIEGEL: Warum versprachen Sie dann, nen September in Washington getan . . . Gott keine Liebe herrscht, sondern ab- mit dem Abzug der israelischen Trup- SPIEGEL: . . . aber als der Grundlagen- grundtiefes Mißtrauen. Obendrein sind pen aus Gaza und Jericho am 13. De- vertrag am 13. Dezember in Kraft treten beide Völker geographisch ineinander zember zu beginnen? Haben Sie sich mit sollte, passierte nichts. Warum haben Sie verschlungen. Deshalb ist es unerhört der Festlegung auf einen Zeitplan nicht sich seinerzeit so in Zugzwang gebracht? schwierig, die Grundlagenerklärung selbst unter Druck gesetzt? Rabin: Die Tatsache, daß wir dieses Da- umzusetzen. Da muß eine Unmenge Rabin: Das war sicher unser beider Feh- tum nicht einhalten konnten –drei Mona- von Fragen geklärt werden: Sicherheit, ler, ich habe das Arafat bei unserer drit- te nach der Unterschrift –, bedeutete kei- Infrastruktur, Arbeitsplätze, Versor- ten Begegnung am 12. Dezember auch nen Fehlschlag. Wer uns das vorwirft, gung mit Wasser und Elektrizi- gesagt. Wir hätten uns schon viel früher versteht nicht, welche Fußangeln in die- tät. treffen und aussprechen müssen. Arafat ser Vereinbarung steckten. Jetzt geht es SPIEGEL: Und wie lange soll dieser legte das Abkommen plötzlich ganz an- Klärungsprozeß dauern? ders aus als sein Verhandlungsteam – Rabin: Meiner Meinung nach brauchen und zwar in elementaren Punkten, etwa * Mit Redakteuren Wolfgang Kaden, Stefan Si- mons und Olaf Ihlau in seinem Jerusalemer Amts- wir noch zwei oder drei Monate, um unserer Zuständigkeit für die Grenzsi- sitz. alles wirklich im einzelnen festzulegen. cherheit. Da machte Arafat eine Wende

126 DER SPIEGEL 5/1994 von 180 Grad. Solche Mißverständnisse 1947 hätten wir vermeiden können. Teilungsplan der Uno SPIEGEL: Als Sie dem PLO-Chef bei dem Kampf um Palästina Treffen vor dem Weißen Haus die Hand Syrien gaben, da war Ihnen der Widerwille deut- Chronologie des Nahostkonflikts Haifa lich anzusehen. Rabin: Meine Gefühle spielen keine Rol- 1947 Teilungsplan der Vereinten Nationen Tel Aviv jüdisches le. Ich hatte mich grundsätzlich dazu ent- Jerusalem arabisches schieden, mit der PLO zu verhandeln. 1948 Gründung des Staates Israel Gaza Gebiet SPIEGEL: Präsident Clinton mußte bei Ih- Angriff der Araber Jerusalem unter rem Händedruck kräftig nachhelfen. internationaler Rabin: Vor der Zeremonie waren wir ei- Verwaltung nen Moment mit Präsident Clinton zu- sammen. Da war nichts zwischen uns, wir Trans- jordanien schwiegen. Dann sagte ich zu Arafat: Es Ägypten wird sehr schwer werden, dieses Abkom- men zu verwirklichen. Arafat antworte- Saudi-Arabien te: Ja, es wird sehr schwer. SPIEGEL: Inzwischen trafen Sie Arafat 1949 mehrmals: Trauen Sie ihm heute? Israel nach dem ersten Rabin: Ich werde mich hüten, mitten in Ben Gurion ruft den Staat Israel aus Krieg gegen die Araber Verhandlungen öffentlich etwas über Sechstagekrieg: Israel besetzt West- Arafats Charakter zu sagen. Die Wahl 1967 Syrien jordanien, den Gazastreifen, den Sinai Haifa hieß für mich doch nur: Entweder spre- sowie die Golanhöhen chen wir mit der PLO, oder wir müssen Westjordanien uns mit islamischen Extremisten vom Tel Aviv Schlage der Hamas auseinandersetzen. 1973 Oktoberkrieg: Ägyptische Truppen über- Jerusalem Wenn Israel Frieden mit seinen Nach- Gaza Gazastreifen barn sucht, dann hat es mit Feinden zu queren den Suezkanal tun, oft genug mit Todfeinden. Arafat 1978 Camp-David- Abkommen und ich wissen, welche Verantwortung Rückgabe des Sinai Jordanien wir auf uns geladen haben. Letztlich wer- den die Ergebnisse zeigen, was unser bei- Ägypten der Wagnis wert war. SPIEGEL: Viel vorzuweisen haben Siebei- Saudi-Arabien de bislang noch nicht. Mit jeder weiteren Verzögerung wird Arafats Position schwächer und damit auch seine Fähig- Seit 1967 Israel nach dem keit, Konzessionen zu machen. Daran Sechstagekrieg kann Ihnen doch nicht gelegen sein? Rabin: Gewiß, wir sind mit dem Termin- Sadat, Carter und Begin unterzeichnen Golanhöhen planimVerzug. AberinderZwischenzeit das Camp-David-Abkommen Haifa Syrien haben auch die palästinensischen Gegner Jericho des Abkommens ihren Terror gegen Isra- Beginn der Intifada, des Aufstandes Tel Aviv el verstärkt. Kein Wunder, daß bei uns 1987 in den besetzten Gebieten Jerusalem besetztes die Begeisterung für das Abkommen Gaza Gebiet nachläßt. SPIEGEL: Ebenso wie bei den Palästinen- 13. September: Rahmenabkommen sern, denen sich der Verdacht aufdrängt, 1993 zwischen Israel und der PLO über Jordanien Israel treibe ein falsches Spiel. palästinensische Autonomie Rabin: Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen da vorhalten muß: In den arabi- 13. Dezember: Vorgesehener Ägypten schen Ländern gibt es keine Demokratie, Abzugsbeginn der Israelis aus dem jedenfalls keine, wie wir sie in Israel und Gazastreifen und dem Westjordanland Saudi-Arabien im Westen kennen. Wir haben es mit au- toritären oder totalitären Regimen zu tun. trag zur allgemeinen Sicherheit wäre. schmerzhaften Kompromissen aller Be- SPIEGEL: Genau das wirft Ihnen die Op- Unter den Israelis schwindet der Rück- teiligten geben. Wer glaubt, der Kon- position vor –daß Sie sich mit solchen Po- halt für das Friedensabkommen doch ge- flikt mit den Palästinensern lasse sich litikern auf Abkommen einlassen. rade wegen der zunehmenden Zahl von beilegen, ohne ihnen ein autonomes Ge- Rabin: Ich erwarte von Arafat nicht, daß Terroranschlägen. meinwesen zuzugestehen, der wird kei- er seine Palästinenser unter Kontrolle SPIEGEL: Zwischen Israelis und Palästi- nen Frieden bekommen. hat, bevor er in Gaza einen eigenen star- nensern stehen, wie Sie sagen, hundert SPIEGEL: Autonomie ist für die Palästi- ken Sicherheitsapparat aufgebaut hat. Jahre Haß und Konfrontation. Ist in Isra- nenser nicht genug, sondern bloß der er- SPIEGEL: Warum ließenSiealshumanitä- els Bevölkerung der Wunsch zu einer ste Schritt zum eigenen Staat. Können re Geste nicht die 12 000 Palästinenser wirklichen Aussöhnung überhaupt vor- Sie sich den neben Israel vorstellen? frei, die in israelischen Gefängnissen ein- handen? Rabin: Ich kann mir allenfalls auf lange sitzen? Rabin: Alle reden vom Frieden, doch je- Sicht eine Konföderation zwischen den Rabin: Ich glaube nicht, daß die Freilas- der stellt sich darunter etwas anderes vor. souveränen Staaten Israel und Jorda- sung der etwa 9000 Inhaftierten ein Bei- Klar ist eins: Frieden wird es nur mit nien vorstellen und dazwischen die Exi-

DER SPIEGEL 5/1994 127 AUSLAND

Friedenspartner Rabin, Arafat*, syrischer Präsident Assad: „Wir leben in einer neuen Epoche“ stenz eines palästinensischen Gemeinwe- SPIEGEL: Was wird dann aus den 144 sche Stärke brauchen, um unsere Sicher- sens mit eigener Verwaltung, aber keinen Siedlungen in den besetzten Gebieten? heit zu wahren. Zugleich wurde mir aber unabhängigen palästinensischen Staat. Rabin: Wir müssen unterscheiden zwi- auch klar, daß unsere militärische Macht SPIEGEL: Und welchen Status hätte dann schen denjenigen Siedlungen, die für die politisch umgesetzt werden muß. Der is- Jerusalem – den einer gemeinsamen Sicherheit Israels wichtig sind, und jenen raelisch-arabische Konflikt durfte nicht Hauptstadt für Israelis und Palästinen- politischen Siedlungen, die – gegen unse- länger auf dem Schlachtfeld entschieden ser? ren Willen – von der Likud-Partei ge- werden. Man soll Kriege nicht allein den Rabin: Jerusalem ist die Hauptstadt des schaffen wurden. Ich glaube nicht, daß Generälen überlassen, aber die Suche jüdischen Staates. Sie muß ungeteilt blei- die letzteren einen Beitrag für die Sicher- nach dem Frieden auch nicht nur den Po- ben. heit unseres Landes leisten. litikern. SPIEGEL: Vor allem den rund 130 000 is- SPIEGEL: SiekönntengarzurGefahrwer- SPIEGEL: Also wollen Sie jetzt in die Ge- raelischen Siedlern in den besetzten Ge- den. Radikale Siedler haben militanten schichtsbücher als Friedensstifter einge- bieten dürfte es schwerfallen, das Ziel ei- Widerstand gegen die Palästinenser an- hen? nes Großisrael aufzugeben, zu dem auch gekündigt. Rabin: Glauben Sie mir, ich schere mich die biblischen Stätten im Westjordanland Rabin: Bitte, keine voreiligen Schlußfol- nicht um Titel, Ruhm und Ämter. Ich bin und im Gazastreifen gehören. gerungen. Wir werden uns mit dieser Fra- fast alles gewesen, was man bei uns wer- Rabin: Ich persönlich glaube nicht an ein ge befassen, wenn sie ansteht. In der den konnte: Generalstabschef, Botschaf- Großisrael unter Einschluß der besetzten Übergangsphase des Abkommens wer- ter in Washington, Verteidigungsmini- Gebiete. Das würde bedeuten, daß wir den die Siedlungen erst einmal bleiben, ster und Ministerpräsident – es geht mir nicht nur das Westjordanland und den wo sie sind. nicht um den Sessel, auf dem ich hier sit- Gazastreifen annektieren, sondern daß SPIEGEL: Sie waren Berufssoldat und ze. Mein Anliegen ist es, Israel Sicherheit wir mit diesen Regionen auch 1,8 Millio- wurden zum Helden des Sechstagekrie- und Frieden zu verschaffen. Dafür gibt es nen Palästinenser unter unsere Herr- ges von 1967. Was machte Sie eigentlich in der gegenwärtigen regionalen und in- schaft zwingen – Menschen, die politisch, zur Friedenstaube? ternationalen Kräftekonstellation eine religiös und kulturell ganz anders sind als Rabin: Soldat wurde ich nicht aus Beru- einmalige Chance. wir. Israel wäre dann ein binationaler fung, sondern wegen der Lebensumstän- SPIEGEL: Ihre Kritiker werfen Ihnen vor, Staat und nicht die Verwirklichung jenes de. Ich ging auf eine Fachschule für Land- als alter Militär seien Sie nur mit dem 2000 Jahre alten jüdischen Traumes von wirtschaft und wollte eigentlich Inge- Kopf, nicht aber mit dem Herzen in die- der Rückkehr nach Zion. nieur für Wasserbau werden. Dann kam sem Friedensprozeß engagiert. SPIEGEL: Bedeutet das Rückzug auf die der Zweite Weltkrieg. Ich konnte nicht Rabin: Frieden bedeutete für Israel im- Grenzen von 1967? studieren und schloß mich der israeli- mer, daß wirbezahlen mußten –meist mit Rabin: Ich bin dagegen. Wir haben das schen Untergrundarmee an, der Pal- territorialen Zugeständnissen. Was be- Recht, auf Grenzveränderungen zu be- mach-Truppe. 27 Jahre lang war ich Sol- kamen wir dafür? Worte, Verträge. stehen, vor allem aus Gründen der Si- dat . . . Wohlgemerkt nicht mit demokratischen cherheit. Das wird in begrenztem Maß SPIEGEL: . . . und brachten es dabei bis Staaten, wo solche Abkommen etwas be- den Einschluß von Territorium bedeu- zum Generalstabschef. deuten, sondern mit autoritären Re- ten, aber mit so wenig Palästinensern wie Rabin: Glücklicherweise Generalstabs- gimen. Schon deswegen mußte ich mich möglich. chef während des erfolgreichsten Krie- stets fragen: Wo bleibt unsere Sicherheit? ges, den Israel je führte, des Sechstage- Israel ließ sich mit seinen Kriegen auf ge- * Mit US-Präsident Clinton am 13. September krieges. Während meiner gesamten Mili- waltige Risiken ein, jetzt müssen wir auch 1993 vor dem Weißen Haus. tärzeit war mir bewußt, daß wir militäri- für den Frieden viel riskieren.

128 DER SPIEGEL 5/1994 Demonstration jüdischer Siedler gegen Rabin, Hamas-Aktivisten in Gaza: „Für den Frieden viel riskieren“

SPIEGEL: Setzen Sie nunmehr auf Frie- Scheideweg. 1994 wird Aufschluß dar- der von Israel die gesamte Sinai-Halb- den und Aussöhnung, weil Sie fürchten, über geben, ob der Nahe Osten auf insel zurückerhielt? daß Israels strategische Überlegenheit den Frieden zusteuert oder im Patt ver- Rabin: Schöne Frage, nur kann ich sie im Nahen Osten allmählich schrumpft? harrt. nicht beantworten. Es gibt neue Realitä- Rabin: Ganz und gar nicht. Wir haben SPIEGEL: Und Patt könnte im nächsten ten, die aus Israels Sicht ein anderes Vor- Zeit, aber darum geht es nicht. Wir le- Zug wieder Krieg bedeuten? gehen rechtfertigen. ben in einer neuen Epoche. Der Kalte Rabin: Vielleicht nicht gleich im kom- SPIEGEL: Selbst ein Teilrückzug auf dem Krieg ist zu Ende, die Sowjetunion als menden Jahr, aber womöglich in fünf Golan würde bedeuten, daß israelische Unruhestifter im Nahen Osten ist ver- oder in sieben Jahren. Siedlungen geräumt werden müßten. schwunden. Geblieben sind die USA, SPIEGEL: Deswegen wohl suchen die Rabin: Noch einmal: In der jetzigen ver- die während des Golfkrieges entschlos- Amerikaner, Syrien in den Friedenspro- zwickten Situation können Sie von mir sen handelten. Das hat bei einigen ara- zeß einzubinden. Fühlen Sie sich von US- keinen Klartext erwarten. Unsere Ge- bischen Führern zum Umdenken ge- Präsident Bill Clinton ein wenig unter spräche mit den Syrern haben gerade erst führt. Wer weiß, ob Syriens Präsident Druck gesetzt? wieder begonnen. Wir versuchen, sie so Assad auf Friedenskurs gegangen wäre, Rabin: Daß den Amerikanern am Frie- diskret wie möglich durchzuziehen, so besäße er noch Moskaus militärischen den Israels mit allen arabischen Nach- wie seinerzeit die Verhandlungen mit und wirtschaftlichen Beistand. barn liegt, ist klar. Washington braucht Ägypten. SPIEGEL: Das klingt fast so, als lebe Is- mir nicht zu sagen, daß die Schlüsselpart- SPIEGEL: Damals bedeutete der Frie- rael neuerdings in einer Welt ohne wirk- ner dafür Syrer und Palästinenser sind. densschluß von Camp David, daß 1900 is- liche Feinde. Für Israels Existenz bedeuten die Palästi- raelische Siedler den an Ägypten zurück- Rabin: Langfristig drohen natürlich nenser keineGefahr,wohlaber dieSyrer. gegebenen Sinai verlassen mußten. schon Gefahren: das Erstarken der isla- Kommen wir mit denen ins reine, zu ei- Rabin: Ich weiß. mischen Extremisten in fast allen arabi- nem wirklichen Frieden – so wie seiner- SPIEGEL: Fürchten Sie, daß die Gegner schen Ländern, die größenwahnsinnigen zeit mit Ägypten –, dann hätten wir eine des Abkommens – fanatische Palästinen- Ambitionen des Regimes im Iran, das Sicherheitszone um uns geschaffen, ei- ser oder extremistische Israelis – mit Ter- hinter diesen Bewegungen steht. Außer- nen Puffer gegen potentielle Kriegsgeg- roranschlägen den Friedensprozeß doch dem streben Iran und Irak danach, bis ner wie Iran oder Irak. noch zu torpedieren versuchen? zum Jahr 2000 Atommächte zu werden. SPIEGEL: Sind Sie denn bereit, für den Rabin: Das kann passieren –schon heute, SPIEGEL: Warum trauen Sie heute Präsi- Frieden mit Syrien die 1967 eroberten während wir noch das Sagen haben, oder dent Assad? Der Syrer ist doch ein Alli- Golanhöhen zurückzugeben? erst recht morgen, wenn Jericho und der ierter des Iran und unterstützt nach wie Rabin: Es wäre wohlnicht sonderlich klug Gazastreifen unter PLO-Kontrolle ste- vor Fundamentalisten und Terroristen. darzulegen, mit welcher Marschroute wir hen.Dannwirdsichzeigen,ob ArafatsSi- Rabin: Früher versuchte Assad, mit Is- die derzeitigen Verhandlungen mit Sy- cherheitskräfte für Recht und Ordnung rael militärisch gleichzuziehen. Darauf rien führen. Ich werde doch nicht öffent- sorgen und ob sie verhindern können, kann er heute nicht mehr hoffen. Aber lich sagen, daß ich bereit bin, den höch- daß der Gazastreifen zum Hort fürTerro- natürlich besteht immer die Gefahr ei- sten Preis zu bezahlen. Beide Seiten wer- risten wird. Für mich ist das der entschei- nes Rückfalls, gibt es Spekulationen den versuchen, für sich soviel wie möglich dende Test, ob die Palästinenser zur über die Bildung einer Achse Damas- herauszuholen. friedlichen Koexistenz wirklich willens kus–Teheran–Bagdad. Ich glaube indes SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, daß sich und fähig sind. nicht, daß daraus etwas wird. Nur eines Assad mit weniger zufriedengeben wird SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir ist gewiß: Wir stehen in diesem Jahr am als seinerzeit Ägyptens Präsident Sadat, danken Ihnen für dieses Gespräch. Y

DER SPIEGEL 5/1994 129 Rebellen-General Khun Sa, Leibwächter: Rücksichtsloser Kriegsherr des Goldenen Dreiecks

Drogen Der Prinz der Finsternis SPIEGEL-Redakteur Tiziano Terzani über das Reich des Opiumkönigs Khun Sa in Burma

chönheit kann schrecklich täu- perndem Dschungel bedeckt, von spru- lange Pfad des Elends, der über Gren- schen. Die endlosen Ketten jade- delnd klaren Flüssen durchströmt: eine zen und Ozeane hinweg bis in die Städ- Sgrüner Berge und bläulicher Gip- unbezwungene Natur von zeitloser te des Westens reicht. Von hier aus fel, die von Nordthailand aus zum bur- Schönheit. werden die Süchtigen in Amerika und mesischen Horizont rollen, wirken wie Aber kein Paradies. Denn hier, unter Europa mit „China Weiß“ versorgt, ein tropisches Eden. Herrliche Berge den Ästen der riesigen Teakbäume, im dem reinsten und stärksten Heroin der mit saftigem Pflanzenwuchs, von wis- Schatten der Bambushaine, beginnt der Welt. Wie zur Tarnung trägt das 225 000 Quadratkilometer große CHINA Daluo Terrain zwischen Thailand, Bur-

S ma, Laos und China den verfüh- a l w Mong La rerischen Namen „Goldenes Drei- e e Taunggyi n eck“. Von den 6000 Tonnen Opi- um, die jährlich weltweit gewon- BURMA nen werden, stammen zwei Drittel LAOS aus diesem Gebiet. Die Giftkü- chen liegen versteckt in den Ber- gen. Tschiang Rai 50 km Doch Gold wirft das Goldene Ho Mong Dreieck nur für die wenigen ab, INDIEN die von dem mörderischen Ge- THAILAND CHINA schäft mit der Droge profitieren. BURMA Zehn Kilo Opium ergeben ein Ki- unter Kontrolle LAOS lo Heroin. Das kostet in Bangkok von Khun Sa Rangun 10 000 Dollar, auf den Straßen THAILAND amerikanischer Großstädte wird Territorium es für das 20fache gehandelt. der Wa 300 km Bangkok KAMBO- Hinter der Schönheit des Gol- Bauer bei der Mohnernte Heroinküchen DSCHA denen Dreiecks verbirgt sich ein „Wir würden lieber Mangos züchten“ gewalttätiger, unheimlicher Land-

130 DER SPIEGEL 5/1994 Werbeseite

Werbeseite AUSLAND

nerei stellt billigen Alkohol her, eine neu eröffnete Fabrik näht Sarongs und Wolldecken. Die Stadt wächst. Selbst nachts roden riesige Bulldozer den Dschungel für neue Siedlungen und ei- nen Staudamm zur Energieerzeugung. Geschäfte von Schneidern, Barbie- ren, Juwelieren, Fotografen sowie ein Videoshop, der „Jurassic Park“ als neuesten Hit anpreist, säumen die Hauptstraße. Fast alle Waren stammen aus Thailand. Bezahlt wird mit thailän- dischen Baht. Die Autos fahren wie in Thailand auf der linken Straßenseite, nicht wie in Burma auf der rechten. Ho Mong hat einen Tempel mit 400 Mön- chen, ein Krankenhaus, drei Hotels und ein Bordell mit 15 Mädchen. Auf den Dächern der größeren Häu- ser stehen Satellitenschüsseln zum Emp- fang internationaler Fernsehprogram- me. Dank einer telefonischen Sonderli- Khun-Sa-Stützpunkt Ho Mong: Heroinhauptstadt der Welt nie nach Thailand hat Ho Mong, die He- roinhauptstadt der Welt, Direktverbin- strich. Er ist Schauplatz von Kriegen, kontrollierten Landstreifen vor Über- dung mit dem Rest des Globus. Schnittpunkt internationaler Intrigen, griffen aus Rangun. Die thailändische Khun Sa bewohnt das einzige Gebäu- Bühne vielerlei Schattenspiele, Treff- Armee überwacht das Grenzgebiet de, das aus Zement und Backsteinen er- punkt von Spionen, Gangstern, Waffen- scharf, weil sie nicht den Eindruck er- richtet und mit Ziegeln gedeckt ist. Es händlern, Abenteurern – und manchmal wecken will, die Schan-Rebellen heim- liegt auf einem kleinen Hügel, von Luft- Journalisten. lich zu begünstigen. Die Regierung in abwehrgeschützen und Militärbaracken „Sie werden gebeten, an den Neu- Bangkok unterhält ausgezeichnete Be- umgeben, von modern ausgerüsteten jahrsfeierlichkeiten der Schan teilzuneh- ziehungen zu den Diktatoren in Rangun Leibwächtern bewacht. Die Residenz men“, stand auf der Einladung. Sie kam und hat offiziell mit Khun Sa nichts zu mit Kamin im Wohnzimmer und bläuli- direkt von Khun Sa, dem legendären tun. cher Neonbeleuchtung in den geräumi- Prinzen der Finsternis, dem rücksichts- Doch verbinden zwei planierte Stra- gen Bädern spiegelt Khun Sas Traum losesten Kriegsherrn des Goldenen ßen das Städtchen Ho Mong direkt mit von Komfort, die Sehnsucht eines Ban- Dreiecks. Seit Pablo Escobars Tod in Thailand. Über sie waren alle anderen diten nach Respektabilität. Kolumbien ist er der letzte große Dro- Gäste in der mondlosen Nacht bequem Wäre da nicht das Büro mit einer genkönig der Welt. per Auto angereist – darunter ein halbes Sammlung tödlicher Schießbogen, Darüber hinaus hat sich Khun Sa Mit- Dutzend Offiziere der thailändischen scharfer Schan-Schwerter und Militär- te Dezember 1993 zum Präsidenten ei- Armee in Zivil. Ihre Anwesenheit ver- helme, man könnte meinen, sich im nes neuen, selbstproklamierten Schan- blüffte: Khun Sa ist immerhin seit An- Bungalow eines Neureichen zu befin- lands ernannt, eines Staates, der sich fang 1990 in den USA als Heroin- den, der statt Büchern Videokassetten von Burma losgesagt hat, aber von nie- schmuggler angeklagt, und Thailand hat in den Regalen aufgereiht hat. mandem anerkannt wird. einen Preis von 20 000 Dollar für seine Für die Neujahrsfeier steht das Haus Die Schan sind eines von 67 Völkern, Ergreifung ausgesetzt. Hunderten von Militärs und Zivilbeam- die in Burma leben. Als eine der vielen Das war nur die erste Überraschung. ten offen. Geboten werden ein üppiges unterdrückten Minderheiten führen sie Ho Mong ist kein Dschungelversteck, Buffet und das kuriose Schauspiel eines seit drei Jahrzehnten einen Guerilla- sondern eine lebhafte Siedlung aus Karaoke singenden Drogenkönigs. Der krieg gegen die Militärregierung in der Holzhäusern mit Well- Hauptstadt Rangun. Khun Sa, 59, halb blechdächern. Eine Schan, halb Chinese, gibt sich als ihr breite Esplanade dient Geschäft mit dem Tod Held und Befreier aus. als Fußballfeld, Para- Anbauflächen im Goldenen Dreieck in Hektar Die Anweisung lautete, zwei Tage vor deplatz und Jahr- dem zwölften Neumond in einer Klein- markt. Tausende stan- 1989 1990 1991 1992 1993 stadt Nordthailands in einem Gasthaus den vor zwei Freilicht- Burma 142 700 150 100 160 000 153 700 165 800 einzukehren und auf den Kontaktmann theatern und einer zu warten. Eine Verabredung wie aus Diskothek Schlange, Laos 42 130 30 580 29 625 25 610 26 040 einem Krimi: Nach einigen Kilometern in der zu Neujahr ein Fahrt auf einer asphaltierten Straße Schönheitspreis verge- Thailand 4075 3435 3000 2050 2880 wurde der Wagen in einem entlegenen ben wurde; den Trost- Bauernhaus versteckt; ein junger Schan preis gewann ein örtli- Jährliche Opiumproduktion weltweit Thailand 40 Tonnen mit Maultier übernahm die Führung cher Transvestit. Iran, Pakistan, Afghanistan, Libanon während eines neunstündigen, mühsa- Ein großer Dieselge- 2000 Tonnen men Marsches durch die Berge. nerator erzeugt Strom Ho Mong, die Hauptstadt des Rebel- für die über 10 000 Be- Burma Laos lengenerals Khun Sa, liegt etwa 15 Kilo- wohner. Jeder Haus- 3600 Tonnen 360 Tonnen meter jenseits der thailändischen Gren- halt hat das Recht auf ze. Der wild schäumende Fluß Salween kostenlose Neonbe- schützt die Stadt und den von Khun Sa leuchtung. Eine Bren-

132 DER SPIEGEL 5/1994 Werbeseite

Werbeseite General ist gut gelaunt laubten die Engländer und zu Scherzen aufge- den Sawbwas, ihre Rol- legt; die Gäste dürfen le beizubehalten. mitsingen. Kurz vor der Unab- Einige seiner Helfer hängigkeit einigten sich stellen sich halb im die Briten und die ein- Scherz als Finanzmi- heimische Führungseli- nister, Außenminister te darauf, ein einziges und Informationsmini- Land zu bilden, die ster vor. Bereitwillig Union of Burma. Wie sprechen sie über Opi- die anderen Minderhei- um und Heroin. Die ten auch wurden die Welt versteht ihrer An- Schan überredet, sich sicht nach das Drogen- als „Autonomer Schan- problem nicht, Khun Sa Buddhistische Mönche in Ho Mong: Sehnsucht nach Respektabilität staat“ anzuschließen – werde mißverstanden. ihnen gehörten 150 000 Ihr Argument ist einfach: Die Schan amerikanischen und europäischen Quadratkilometer im östlichen Hoch- sind keine Drogenhändler, sondern Rauschgiftexperten teil. Doch „sie woll- land Burmas, mit Taunggyi als Haupt- Freiheitskämpfer. Die Burmesen haben ten nur wissen, wo wir Heroin herstel- stadt. Sie behielten sich vor, nach einer sie von ihrem besten Ackerland verjagt, len, wer uns die Chemikalien liefert und zehnjährigen Probezeit aus der Union ihnen die Gebiete mit den reichsten wer unsere Kontaktleute im Ausland zu scheiden. Vorkommen an Rubinen und Saphiren sind“, erinnert er sich. Die Burmesen nutzten die Zeit, um geraubt. Den Schan, die immer weiter Vor kurzem hat Khun Sa in einem die Sawbwas zu entmachten und alle in die Berge zurückgetrieben wurden, Brief an US-Präsident Bill Clinton seine Völker der burmesischen Zentralgewalt sei keine andere Wahl geblieben, als Offerte erneuert: Stopp des Mohnan- zu unterstellen. Schan-Gruppen schlu- Mohn anzubauen. baus gegen Wirtschaftshilfe und Unter- gen sich daraufhin in den Dschungel und „Wir würden lieber Mangos züchten. stützung für seinen unabhängigen Staat. begannen ihren Kampf gegen Rangun. Das erfordert weniger Arbeit und würde Aus dem Handel wird wieder nichts. Zum Schlachtfeld wurde das Goldene unser Ansehen in der Welt nicht trü- „Der Westen verliert den Drogenkrieg, Dreieck, und Opium war der Stoff, der ben“, sagt Sai Yi Siang, ein ehemaliger weil er mit den falschen Waffen gegen ihre Kriegsmaschine antrieb. Tierarzt, jetzt Khun Sas Informations- den falschen Feind kämpft“, klagt Sai Die Infrastruktur war schon da: Nach minister. Aber um Mangos zu verkau- Yi Siang. „Der Westen sollte mit Khun dem Sieg von Maos Kommunisten in fen, fährt er fort, „braucht man Frieden Sa zusammenarbeiten. Die vergangenen China 1949 hatten 10 000 Soldaten und Jahrzehnte haben be- Offiziere der geschlagenen Kuomin- wiesen, daß Drogen tang-Armee die Grenze nach Burma durch Repression nicht überquert und einen Teil des Schan- beseitigt werden kön- staats besetzt. Diese Truppen dienten nen.“ bald als Söldner im amerikanischen Die Zahlen spre- Feldzug gegen den Kommunismus in chen für Khun Sa: Asien. 1948, im Jahr der Un- Mit der Massenproduktion von Opi- abhängigkeit Burmas, um hatten diese Kuomintang-Truppen wurden im Goldenen angefangen; sie waren es, die aus Hong- Dreieck 30 Tonnen kong Chemiker herbeibrachten, um das Opium geerntet. 1988 Opium zu Heroin zu verfeinern. Sie war die Produktion auf handelten mit Duldung, manchmal so- 3000 Tonnen gestiegen gar mit aktiver Hilfe von CIA-Agenten. – trotz aufwendiger Die Schan folgten ihrem Beispiel. Fahndungen und eines Khun Sa selbst ist ein Produkt jener riesigen Polizeiappara- Zeit und jener Logik des Kalten Krie- tes. Dieses Jahr wird ges. Mit drei Jahren verlor er seinen Va- ein Ausstoß von über ter, mit fünf seine Mutter; als 16jähriger 4000 Tonnen erwartet. begann er seine Karriere mit einem An- „Verfolgung be- schlag auf eine Polizeistation und erbeu- Rekruten für die Rebellen-Armee: Mit 16 ein Gewehr wirkt, daß der Preis tete seine ersten Waffen. Um seine eige- der Droge steigt und ne bewaffnete Bande zu bezahlen, han- und Straßen, die zu Märkten führen. der Anbau um so einträglicher wird“, delte er mit Opium. Bald war er Herr Opium dagegen kann an Ort und Stelle erklärt Khun Hseng, Onkel und Fi- über die erste Morphiumfabrik Burmas. verkauft werden. Die Händler kommen nanzminister Khun Sas, den Teufels- Als überzeugter Antikommunist ge- von weit her, um es zu holen. Wenn wir kreis. noß Khun Sa höchste Protektion. In den unseren Leuten verbieten, Mohn anzu- Die Schan haben noch eine andere sechziger Jahren stieg er zum Chef der bauen, verhungern sie“. Rechtfertigung: die Geschichte. Jahr- Lokalmiliz auf; Ende der siebziger Jahre Vor über einem Jahrzehnt hatte Khun hundertelang waren sie ein unabhängi- half er Bangkok, die thailändischen Sa versucht, sein Opium gegen Entwick- ges Volk, regiert von traditionellen Kommunisten entlang der burmesischen lungshilfe einzutauschen. Für 300 Mil- Feudalfürsten, den Sawbwas („Herren Grenze zu bekämpfen. Als Gegenlei- lionen Dollar, über eine Zeitspanne von des Himmels“). Selbst die britische Ko- stung erlaubte man ihm bis Januar 1982, sechs Jahren verteilt, versprach er, die lonialmacht erkannte die Eigenständig- seine Rauschgiftlabors auf thailändi- Drogenproduktion einzustellen. keit der Schan an. Als London Ende schem Gebiet zu betreiben. Sai Yi Siang nahm damals als Khun des 19. Jahrhunderts sein Reich von Nachdem die USA diplomatische Sas Gesandter an mehreren Treffen mit Indien aus nach Osten erweiterte, er- Verbindungen mit Peking angeknüpft

134 DER SPIEGEL 5/1994 hatten und die Kuomintang-Söldner zu einer peinlichen Belastung geworden waren, verjagte Khun Sa die früheren Verbündeten aus Burma. Zugleich riß er ihr Territorium und ihren Anteil am Heroinhandel an sich. Er nahm alle übrigen Schan- Guerillakämpfer in seine eigene Mong- Tai-Armee auf. Rivalen fielen myste- riösen Morden zum Opfer. Heute gibt es nur noch eine nationalistische Schan-Gruppe, nur noch eine Schan- Befreiungsarmee, und Khun Sa ist ihr unangefochtener Chef. Der Führer hat Menschen um sich geschart, die ihm blind ergeben sind, Chang Shu-chuan zum Beispiel, einen in der Mandschurei geborenen Chine- sen, der in Taiwan militärisch ausgebil- det wurde und für die CIA in China und Laos kämpfte. Seit über 20 Jahren ist er Khun Sas Oberbefehlshaber. Heute nennt er sich Sao Hpalang, „General Donner“. Er kommandiert ein Heer, das angeblich 40 000 Mann stark ist und „mit jedem Jahr wachsen wird“, wie er prophezeit. Auf der Esplanade von Ho Mong stehen die neuen Rekruten, „die jun- gen Tapferen“, in der Sonne stramm und lauschen den Ansprachen. Schmächtige Burschen sind unter ih- nen, manche nicht mal zehn Jahre alt. Sie kommen aus den Dörfern des Gol- denen Dreiecks, sind Tage und Wo- chen gewandert, um das „Tigercamp“ zu erreichen, wie das militärische Aus- bildungszentrum heißt. Wenn sie 16 sind, erhalten sie ein Gewehr und ei- nen Monatssold von 150 Baht. Bis da- hin werden sie ernährt, gekleidet und unterrichtet: kein schlechter Job für armselige Dorfjungen in Burma. Die Strafen für Abtrünnige sind bar- barisch. „Wird ein desertierter Soldat erwischt, wird er enthauptet und sein Kopf seiner Einheit zur Warnung vor- gezeigt. Gelingt ihm die Flucht, wer- den nach drei Monaten die Köpfe sei- ner Eltern zur Schau gestellt“, erzählen die Menschen von Ho Mong mit einer Mischung aus Furcht und Respekt. Die Einnahme von Drogen ist im Schanland streng verboten. Ein Soldat, der Opium raucht oder Heroin spritzt, wird in ein Umerziehungslager außer- halb Ho Mongs verschickt. Die Kur besteht aus zehn Tagen Isolationshaft in einem drei Meter tiefen Loch und anschließender Zwangsarbeit auf den Feldern. Beim ersten Rückfall wird der Süchtige hingerichtet. „Wir müssen unsere Bevölkerung vor den Drogen schützen“, sagt Khun Sas Finanzminister. Seinen Haushalt fi- nanziert er zu 60 Prozent mit Opium- und Heroinsteuern; der Rest der Ein- nahmen stammt aus dem Handel mit Holz, Edelsteinen und Antiquitäten. Jeder Händler, der einem Bauern oder

DER SPIEGEL 5/1994 135 Werbeseite

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Werbeseite einem Zwischenhändler Opium ab- heit zahlreicher Chinesen in Ho Mong durch Bangkok geschleust, ein Großteil kauft, muß 20 Prozent des Warenpreises nährt jedoch die Vermutung, daß die davon in Fahrzeugen des thailändischen als Steuer entrichten – bis der Stoff das Triaden, chinesische Gangsterorganisa- Militärs und der Polizei. von Khun Sa beherrschte Gebiet ver- tionen, den Vertrieb organisieren. Bis zu 1000 Thai-Offiziere sollen di- läßt. Welche Rolle Thailand in Khun Sas rekt in den Drogenhandel verstrickt Niemand in Khun Sas Hauptquartier Operationen spielt, ist ein Rätsel, an sein. Manche Großunternehmer in ist bereit, Auskunft über den Weg zu ge- dessen Lösung wenige interessiert sind. Bangkok finanzieren jungen Kadetten ben, auf dem das Rauschgift nach Euro- Westliche Drogenfahnder behaupten, das Studium an der Polizei- und Militär- pa und Amerika gelangt. Die Anwesen- nahezu die gesamte Giftmenge werde akademie; dafür erwarten sie, daß die Stipendiaten sich revanchieren, wenn sie im Sicherheitsapparat aufgestiegen sind. Im Dezember wurde ein ho- her General der thailändischen Armee in Hongkong verhaftet, während er auf eine Überwei- sung von vier Millionen Dollar für eine Heroinlieferung warte- te. „Die meisten Wolkenkratzer Bangkoks wurden mit Drogen- geld bezahlt“, sagt ein westli- cher Diplomat in Thailands prosperierender Hauptstadt. „Drogengeld finanziert den Wirtschaftsboom in diesem Land. Respektable Vertreter der Gesellschaft sind in das schmutzige Geschäft verwik- Umerziehungslager, Süchtiger: Entziehungskur in einem drei Meter tiefen Loch kelt.“

„Opium für das Volk“ Interview mit Rebellen-Führer Khun Sa über den Mohnanbau als Mittel im Befreiungskampf

SPIEGEL: Herr General, Sie sind in nerhalb unseres Gebiets. Ich bin der Khun Sa: Erstens ist das Geschäft nicht den USA unter Anklage gestellt. Die Führer meines Volks und kämpfe, um so einträglich, wie Sie glauben. Drogen, burmesische Regierung hat gelobt, die burmesischen Invasoren zu verja- die bei uns eine Million Dollar wert Sie zu fassen. Sehen Sie Ihr Ende na- gen und unser Land zu befreien. sind, erbringen bei Ihnen 100 Millionen hen? SPIEGEL: Ist all das Gerede vom an- Dollar. Wer macht da wohl die größten Khun Sa: Über 30 Jahre lang lag die geblichen Befreiungskampf nicht viel- Profite? Zweitens verlasse ich mich bei Wahrheit über mich und meine Leute mehr nur Tarnung für Ihr einträgliches der Befreiung unseres Landes nicht auf hinter dem Drogenvorhang verbor- Drogengeschäft? das Opium, sondern auf das Volk. Ich gen, den unsere Feinde vor uns gezo- bin bereit, der Welt zu helfen, das Opi- gen haben. Jetzt wollen wir, daß die umproblem zu beseitigen. Wahrheit bekannt wird. Wir haben SPIEGEL: Wie denn das? keine Geheimnisse. Die Welt soll sel- Khun Sa: Das Opiumproblem ist in ber sehen, daß ich kein Teufel bin. Wahrheit ein politisches Problem. Am SPIEGEL: Sie können doch nicht be- selben Tag, an dem die Burmesen mit streiten, daß der Hauptteil des He- ihren Gewehren abrücken, werde ich roins, das heute die westliche Welt mich an die Spitze meiner Leute stellen verseucht, mit Ihrem Einverständnis und die Mohnblumen aus der Erde rei- von Burma aus exportiert wird. ßen. Ich sage der Welt: Gebt den Schan Khun Sa: Ich zwinge die Menschen ihre Unabhängigkeit wieder, und die nicht, Mohnblumen anzupflanzen. Schan werden aufhören, Opium zu ern- Die burmesische Regierung tut das, ten. indem sie uns angreift und ausraubt. SPIEGEL: Das ist eine Illusion. Das bur- Ich betreibe keine Drogenlabors. mesische Militär versucht derzeit, Ihr Ausländische Geschäftsleute tun das. Gebiet zu überrennen. Ich beschütze den Transport und Ex- Khun Sa: Das wird ihm nicht gelingen. port von Drogen nicht. Meine Armee Kriegsherr Khun Sa Die Burmesen greifen uns nur an, um gewährleistet nur die Sicherheit in- „Mohnblumen aus der Erde reißen“ ihr internationales Ansehen wiederher-

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Die Bauern im Goldenen Dreieck macht das Opium nicht reich. Die Zwi- schenhändler kassieren das große Geld. Neben den chinesischen Gangstern sind die wichtigsten Makler des Drogenge- schäfts Politiker, Bankiers und Indu- strielle, die weit entfernt von den Mohnfeldern des Goldenen Dreiecks leben und das Megabusiness in Gang halten. Keiner Regierung in Asien ist daran gelegen, den Geldstrom aus dem Rauschgifthandel einzudämmen. Von Bangkok bis Schanghai, von Singapur bis Rangun treibt er das Wirtschafts- wachstum an. Bei Sonnenaufgang, wenn Ho Mong aus der weißen Nebelschicht auftaucht, die nachts das Tal bedeckt, wenn die Frauen kleine Feuer unter ihren schwarzen Töpfen anzünden und die jungen Tapferen ihr Loblied auf Khun Wa-Krieger an der chinesischen Grenze: Konkurrierendes Opiumreich errichtet Sa anstimmen, sieht diese im Dschun- gel versteckte Siedlung wirklich nicht mächtiger, unsichtbarer Kräfte im Hin- Mong La, ein Dorf direkt an der chinesi- wie die Hauptstadt eines neuen Reichs tergrund? schen Grenze; ihr Führer ist Lin Mingxi- des Bösen aus. Khun Sas Versuch, sein Banditen- an, 48, Chinese und ehemaliger Rotgar- Ist Khun Sa der „schlimmste Feind, image abzustreifen und über politische dist. den die Menschheit hat“ (so der frühe- Verhandlungen zu neuem Ansehen zu In Daluo, einer Stadt auf der chinesi- re US-Botschafter in Thailand, William gelangen, wirkt beinahe rührend. „Als schen Seite, sind die Wa gerngesehene Brown)? Oder ist er nur ein Spielball einsamen Finsterling, der im Dschungel Kunden. Die Stadt boomt, Waren für Heroin herstellt, kann man ihn gebrau- die Wa und ihre Kämpfer füllen die Ge- chen; als anerkannter Partner wäre er schäfte. Lin Mingxian läßt sich ohne gefährlich. Khun Sa weiß zuviel über zu Scheu blicken. Niemand bezweifelt, daß viele“, sagt ein westlicher Drogenexper- er mit chinesischem Einverständnis sein zustellen. Sie wollen der Welt zeigen, te in Bangkok. Heroin über Daluo nach Hongkong und daß siedieGuten sind, die Khun Sa, den Ist das der Grund, weshalb Burmas in die Mongolei schleust. Drogendealer, bekämpfen.Aber solan- Militärherrscher eine Großoffensive ge- „Die Heroinraffinerie? Sie liegt dort, ge mein Volk Opium für seinen Überle- gen die Streitkräfte Khun Sas gestartet hinter dem Hügel“, sagt ein chinesischer benskampf braucht, so lange wird wei- haben? Drei Divisionen sind aufmar- Polizist und zeigt auf einen Bambus- ter Opium erzeugt. schiert, um bis zum Ende der Trocken- hain, wo er die Grenze vermutet. Deren SPIEGEL: Vor 150Jahren zwangen west- zeit im Mai den entscheidenden Schlag Verlauf ist nicht eindeutig; Chinesen liche Mächte die Asiaten, Opium zu gegen seine Bastion Ho Mong zu füh- und Wa bewegen sich frei. rauchen; die Briten führten einen Opi- ren. Einen Großteil seines Opiumge- umkrieg gegen China. Heute sind Sie Die Generäle in Rangun wollen damit schäfts hat Khun Sa bereits an die von es, ein Asiat, der Süchtige im Westen die rebellische Minderheit bezwingen – Rangun geförderte Konkurrenz einge- mit der Droge versorgt. Sehen Sie darin und sich zugleich den USA als ent- büßt. Doch er wehrt sich. Vor kurzem eine Rache der Geschichte? schlossene Drogenbekämpfer andienen. entkam Lin Mingxian nur knapp einem Khun Sa: Möglicherweise ist das euer Doch selbst wenn Khun Sa fiele: Das Mordanschlag. Und noch ist es keinem Karma. Es widerfährt euch Westlichen, Opiumgeschäft käme nicht zum Still- Regierungssoldaten gelungen, über den was ihr verschuldet habt. stand, die Konkurrenz des bedrängten Salween-Fluß zu setzen, die natürliche SPIEGEL: Vor einigen Jahren galt Pana- Drogenkönigs steht schon bereit. Verteidigungslinie von Ho Mong. mas Präsident Noriega als einer der Der Erhalt des Goldenen Dreiecks als Nach drei Tagen sind die Neujahrsfei- Hauptverdiener des Drogengeschäfts. einträgliche Grauzone nutzt vielen. An- erlichkeiten vorbei. Der Weg zurück Dann wurde Kolumbiens Kokainkönig fang Dezember wand sich eine seltsame führt zu Fuß durch die Berge. Pablo Escobar zur Strecke gebracht. Karawane von 46 Autos die enge, unge- Was beim Anmarsch in der Nacht ver- Nun hat Amerika Sie zum letzten gro- pflasterte Straße nach Nordost-Burma borgen geblieben war, läßt sich jetzt gut ßen Bösewicht der Drogenszene erko- hinauf. Von der thailändischen Touri- erkennen: Befestigungen, Bunker, ren. Wie sieht Ihre Zukunft aus? stenbehörde organisiert, war es der er- Flugabwehrstellungen auf den Hügeln, Khun Sa: Wenn meine Gefangennahme ste Konvoi seit fast einem halben Jahr- die das Tal von Ho Mong überragen. und mein Tod das Drogenproblem lö- hundert, der von Tschiang Rai in Thai- Bei Dunkelheit ist Thailand erreicht. sen würden, dann verdiente Khun Sa zu land bis nach Kunming in China fuhr. Eine silberne Mondsichel hängt über sterben. Glauben Sie wirklich, daß mit Rangun hatte die Durchfahrt erlaubt, den Bergen. Im Hof des Bauernhauses mir auch das Geschäft mit dem Rausch- obwohl sich das gesamte Gebiet in den steht wohlbehütet der zurückgelassene giftverschwindet?Ichhabe dasDrogen- Händen eines gefährlichen Stammes Wagen. Zwei Laster, beladen mit fetten problem nicht verursacht, aber ichkann ehemaliger Kopfjäger befindet – der Kühen, verlangsamen die Fahrt. Die zu seiner Lösung beitragen. Das ist Wa. Als Freischärler der burmesischen Tiere werden ins Schlachthaus nach ebenso einfach, wie ein Huhn oder eine KP kämpften sie einst gegen die Regie- Bangkok transportiert. Kuh mit dem Messer abzustechen. rung. Heute betreiben sie mit Zustim- Stecken in ihren Eingeweiden Plastik- mung des Militärregimes ihr eigenes säckchen mit Khun Sas Heroin? Viel- kleines Opiumreich. Ihre Hauptstadt ist leicht. Y

DER SPIEGEL 5/1994 139 Werbeseite

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Werbeseite Geplante Brücke über den Öresund (Zeichnung): 10 000 Fahrzeuge täglich

Skandinavien Vorhaben. Nach dem völkerrechtlich Frischwassers für die Ostsee durch den verbindlichen Abkommen soll eine Stra- Öresund, der Rest fließt durch den ßen- und Schienenverbindung über den Großen Belt. Aber schon ein geringfü- Öresund zwischen Malmö und Kopen- gig reduzierter Salzgehalt müßte die Schlupfloch hagen entstehen. Da die Dänen bereits verbliebenen Dorschschwärme gefähr- eine Brücke über den Großen Belt nach den. Der Bestand an Dorsch ist in den Jütland bauen, würde damit die skandi- vergangenen zehn Jahren von einer im Sund navische Halbinsel erstmals mit Zentral- Million auf 100 000 Tonnen zurückge- europa fest verknüpft. gangen. Mit Rücksicht auf die Umwelt Das Projekt sieht eine acht Kilometer Schwedische und internationale Ex- stoppt Schwedens Regie- lange Hängebrücke mit 2 Trag- und 50 perten verwarfen den Bauplan in sei- Stützpfeilern von der schwedischen Kü- ner jetzigen Form, das schwedische rung ein Großprojekt: die Brücke ste zu zwei künstlichen Inseln südlich Naturschutzamt und der Wasserge- nach Dänemark. des Naturschutzreservates Saltholm vor. richtshof stimmten dennoch mit Vorbe- Dort taucht die Fahrtrasse in einen Tun- halten zu. Bildt versprach den Dänen nel ab, der beim Kopenhagener Flugha- eine endgültige Entscheidung bis ewußt verstieß Ministerpräsident fen Kastrup wieder an die Oberfläche Weihnachten. In der Regierungskoali- Poul Nyrup Rasmussen gegen die kommt. tion und im Parlament verfügen die Bgutnachbarlichen Sitten. Barsch Auf der doppelspurigen Straße wird Befürworter der Brücke über eine kla- forderte der Däne seinen schwedischen mit einem Aufkommen von täglich circa re Mehrheit. Amtskollegen Carl Bildt auf, „schleu- 10 000 Fahrzeugen gerechnet. Die Ge- Doch der Ministerpräsident hatte nigst nach Kopenhagen“ zu kommen samtbaukosten von 3,7 Milliarden Mark sich verrechnet. Die grün-bäuerliche und zu erklären, was die Minderheitsre- sollen über eine Maut – etwa 34 Mark Zentrumspartei, vierter Partner im Re- gierung in Stockholm denn nun eigent- für die Einzelfahrt – wieder hereinkom- gierungsbündnis, wandte sich entschie- lich entschieden habe. men. den gegen das Projekt. Ihr Vorsitzen- Rasmussen sorgte sich um das Schick- Im Oktober begannen auf dänischer der Olof Johansson, zugleich Umwelt- sal eines gigantischen Infrastrukturpro- Seite die Bauarbeiten für den sieben Ki- schutzminister, befand kategorisch, jektes, das Schweden und Dänemark lometer langen Anschluß vom Zentrum Gutachten und Konstruktionspläne lie- 1991 nach 40jähriger Diskussion und Kopenhagens zum Flughafen Kastrup. ßen die Baugenehmigung nicht zu. Er Planung vereinbart hatten. Die Parla- Im Vorort Ta˚rnby wurden über 200 Vil- drohte, die Koalition aufzukündigen, mente beider Staaten befürworteten das len abgerissen, ein 100 Meter breiter falls er im Kabinett überstimmt werde. Schacht für einen Tun- Der Regierungschef sah sich in der Kühne Klammer Geplantes Großprojekt über den Öresund nel wurde ausgehoben. Klemme. Nur acht Monate vor den Die Regierung in Parlamentswahlen hätte ein Bruch der DÄNEMARK SCHWEDEN Stockholm dagegen bürgerlichen Koalition womöglich den wartete noch auf eine Sozialdemokraten den Weg zur Rück- Kopen- künstliche Insel Reihe von Gutachten. kehr an die Macht geebnet. hagen Die bürgerliche Koali- In diesem Zwiespalt entschied sich Bildt für den Fortbestand der Regie- Kabelbrücke Malmö tion hatte sich ver- pflichtet, ihre Zustim- rung. Das Baukonsortium soll seine Tunnel niedrige mung vom positiven Pläne ändern, das Wassergericht noch- Brücke Urteil der Experten mals prüfen. Frühestens im Frühjahr abhängig zu machen. dürfte ein Urteil vorliegen; sollte es Kattegat SCHWE- Die ganze Konstruk- wieder positiv ausfallen, hat sich Um- DÄNEMARK Kopen- DEN tion, so die Aufla- weltminister Johansson ein Schlupfloch 050km hagen ge, dürfe den Zufluß offengelassen: Er will dann seine Zu- G r von sauerstoffreichem ständigkeit für die Genehmigung an ei- o ß Salzwasser aus dem nen Kabinettskollegen abtreten und e Malmö Odense r Kattegat durch den seine Einwände nur zu Protokoll geben B Öresund in die stark – ohne Rücktritt. Die Koalition wäre

e l t verschmutzte Ostsee gerettet. Ostsee nicht behindern. Aber auch die Brücke? Die Gegner Zwar strömt nur des Vorhabens werten den Aufschub knapp ein Drittel des als Sieg. In Dänemark wollen die Ra-

142 DER SPIEGEL 5/1994 AUSLAND dikalliberalen neuen Widerstand organi- Hunderttausende Inselbewohner un- Davies, 56, oberster Zollfahnder in Do- sieren; die Mehrheit der dänischen Wäh- ternehmen Tagestouren ans andere ver. Der Chef von 75 Zollbeamten sieht ler ist ohnehin gegen eine Öresund- Ufer, um in die Supermärkte und Dis- den schwungvollen Handel bereits „in Brücke. countläden von Calais, Cherbourg oder die Hände des organisierten Verbre- Auch in der schwedischen Bevölke- Boulogne auszuschwärmen. Stolz mel- chens“ abgleiten: Straff geführte Ban- rung sind die Brückenfeinde in der Über- dete der Londoner Evening Standard den, die mit wechselnden Fahrzeugen zahl. Vertreter von Greenpeace halten die Folge des Kaufrauschs: „Wir haben bis zu fünfmal täglich den Ärmelkanal das Projekt schon für „mausetot“. Die Frankreich trockengelegt.“ überqueren, hinterziehen Steuern in Umweltschützer sind nicht grundsätzlich Nur der Finanzminister hat an den Milliardenhöhe. gegen einen Anschluß an den Kontinent; Fährausflügen wenig Freude. Nach er- Bei 16 Millionen Passagieren und ei- der könne aber, so ein Greenpeace-Spre- sten Schätzungen entgingen dem Staat ner Million Lastwagen pro Jahr allein im cher, „ganz durch einen Tunnel laufen“ – 1993 Steuereinnahmen von mindestens Hafen von Dover hat Davies wenig wie die Eisenbahnverbindung unter dem 500 Millionen Pfund (etwa 1,3 Milliar- Chancen, die Schiebergeschäfte wir- Ärmelkanal. den Mark). kungsvoll zu bekämpfen: „Da sind wir Die Zeichen dafür stehen nicht Das Ausmaß des Verlustes bestärkt machtlos, wir konzentrieren uns auf har- schlecht. Die Regierung in Kopenhagen den Verdacht, daß die Grenzgänger te Drogen wie Heroin und Kokain.“ stoppte mittlerweile alle Arbeiten für die nicht nur für sich selbst sorgen: Jeder Der billige Nachschub brachte Britan- Brücke, darunter den Abbruch weiterer Bürger darf pro Einreise 800 Zigaretten, niens Brauereien, Pubs und Spirituosen- Gebäude. Y 90 Liter Wein, 10 Liter Schnaps und 110 läden 1993 Umsatzverluste von über ei- Liter Bier als „persönlichen Bedarf“ ner halben Milliarde Pfund. Jedes sech- einführen. Was darüber hinausreicht, ste in Großbritannien getrunkene Bier, Großbritannien muß deklariert, bei Weiterverkauf auch klagt Brauereien-Sprecher Tim Hamp- versteuert werden. son, „kommt heute aus Frankreich“; Wunderbar legal Die Pubs klagen über Umsatzein- brüche: Ihre Kundschaft versorgt sich mit Bier und Schnaps lieber im steuergünstigen Frankreich.

u Dave Wests Goldgrube führen keine Hinweisschilder. An einer ZKabelfabrik und einer Raffinerie vorbei windet sich die schmale Straße in den entlegensten Teil des Hafens von Calais. Der Laden „EastEnders“, benannt nach einer beliebten engli- schen TV-Serie, ist eine zugige Halle, in der sich Wein-, Bier- und Schnaps- kisten stapeln. Davor parken zu jeder Tageszeit Dutzende Autos und Klein- laster – alle mit britischen Nummern- Englische Bierkäufer in Boulogne: „Frankreich trockengelegt“ schildern. Hier macht Dave West, 49, „das Ge- Doch 75 Prozent seiner Käufer, 10 000 Kneipen vor allem im Süden schäft meines Lebens“. 14 Millionen schätzt Dave West, verschieben die in Englands stünden „vor ernsten wirt- Pfund setzte der Getränkehändler al- Frankreich erstandene Ware schwarz – schaftlichen Nöten“. lein im vergangenen Jahr um – „alles an Freunde oder den Wirt in der Eck- Ermuntert von der heimischen Bierin- versteuert und wunderbar legal“. kneipe: „Natürlich betrügen die Leute dustrie, machte sich kürzlich der „Par- Den Erfolg jenseits des Kanals ver- den Staat. Es gibt ja kaum richtige Kon- liamentary Beer Club“, eine Herrenrun- dankt der Brite dem immer enger zu- trollen.“ de von Politikern des Ober- und Unter- sammenwachsenden Europa. Seine Manche Reisende wie der Klein-Pro- hauses, zur Inspektion nach Calais auf. Kunden profitieren vom europäischen fiteur Geoff, 34, sind bei West Stamm- Doch statt Verständnis für die Nöte der Binnenmarkt, in dem Aus- und Ein- kunden. Der arbeitslose Computertech- englischen Brauer zu zeigen, waren die fuhr von Waren seit dem 1. Januar niker aus Brighton fährt bis zu dreimal Parlamentarier von der Angebotsvielfalt 1993 keiner Grenzkontrolle mehr un- pro Woche mit einem Mietlaster nach und den günstigen Preisen in Frankreich terliegen. Calais und packt die Ladefläche mit tief beeindruckt. Ungehindert decken sich die Briten, Bier, vorzugsweise Beck’s und Heine- Nach Besuchen bei „EastEnders“ und die in der Gemeinschaft nach Irland ken, voll. Daheim beliefert er dann „ein anderen von Briten geführten Discount- die höchsten Tabak- und Alkoholsteu- paar Kumpels“: Kneipiers, Restaurant- läden der Umgebung lobte Volksvertre- ern zahlen müssen, günstig in Frank- besitzer und zwei Golfklubs. Geoff: ter Michael Fabricant die Geschäfts- reich ein. Dort kosten Zigaretten, „Ich kann davon gut leben.“ tüchtigkeit seiner Landsleute: „Die Bier, Wein und Spirituosen weniger als Solche Amateurschmuggler seien ver- machen hier einen verdammt guten die Hälfte. gleichsweise „kleine Fische“, sagt Bruce Job.“ Y

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Boxen „EINER VOM SKLAVENSCHIFF“ Mike Tyson, wegen Vergewaltigung im Gefängnis, kämpft weiter um seine Freilassung. Der frühere Boxweltmei- ster fühlt sich von der Justiz verfolgt und von seinen Wächtern schikaniert. Das Leben hinter Gittern hat aus dem Champ einen verbitterten, scheuen Einzelgänger gemacht, der auch seine Mitgefangenen fürchtet.

Weltmeister Tyson*: „Das Geld rinnt mir durch die Finger“

ieder einmal war der Professor ders. Dershowitz: „Wie nach einem mit der Rückgabe der Bücher Autounfall erwacht er nun aus der Be- Wüberfällig, und die Bibliothek wußtlosigkeit.“ der Harvard-Universität mahnte er- Im Frühjahr 1992 war Tyson wegen neut. Vergewaltigung der schwarzen Studen- „Sagen Sie denen, die Post habe sich tin Desiree Washington zu sechs Jahren verzögert“, beschied der Rechtsgelehr- Haft verurteilt worden. In den ersten te Alan Dershowitz, 55, seine Assi- Wochen nach dem Schuldspruch war stentin; aber an der Uni solle man sich Tyson noch überzeugt, seine zehn An- keine Sorgen machen: „Da, wo die wälte würden ihn in Berufungsverfah- Bücher derzeit gelesen werden, geht ren freikämpfen. Der Champ bereitete nichts verloren.“ schon alles für ein Leben nach dem Die Bücher liegen in der Zelle von Knast vor. Für seine Zucht bestellte er Mike Tyson, 27, ehemals Boxweltmei- wertvolle Tauben, über das Münz- ster im Schwergewicht und jetzt der telefon der Strafanstalt kaufte er einen „Strafgefangene 922335“ im Indiana 264 000 Dollar teuren Lamborghini. Youth Center in Plainfield. Knapp zwei Jahre und mindestens „Iron Mike“, staunt Dershowitz, ei- vier Millionen Dollar Anwaltskosten ner der prominentesten Strafverteidi- später ist dem Boxer bewußt geworden, ger der USA, „verschlingt, was er in daß er auf Leben in Freiheit erst wieder die Hände bekommt“: Werke über das hoffen kann, wenn die Justizbehörden Leben der Pharaonen, über Tauben- ihn auf Bewährung entlassen – und das zucht und Psychologie, sogar eine Bio- ist frühestens im April 1995 möglich. graphie über Winston Churchill hat Zwar hat Dershowitz Ende letzten Tyson gelesen. Bücher über Karrieren Jahres den Supreme Court, den Ober- wie seine eigene, über den Aufstieg sten Gerichtshof der Nation, aufgefor- aus dem Elend, faszinieren ihn beson- dert zu prüfen, ob die in der Verfas- sung garantierten Rechte seines Man- Gefangener Tyson * Nach seinem Sieg über Carl Williams im Juli danten im Verfahren mißachtet wurden „Wie eine Geisel im Libanon“ 1989; links Manager Don King. (siehe Interview Seite 152). Der Anwalt

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Werbeseite SPORT ist allerdings skeptisch: den Armen, über der „Die Chancen auf Er- Brust, an den Knö- folg sind gering.“ cheln – „der sah aus“, Tyson will aber wei- erinnert sich Anwalt ter um seine Freilas- Dershowitz, „wie einer sung kämpfen; in der vom Sklavenschiff“. Haft fühle er sich „wie „Warum tun sie mir eine Geisel im Liba- das an?“ fragte der Bo- non“ – gepeinigt, ge- xer in Ketten, suchte demütigt von den Wär- für sein Schicksal nach tern. Sie greifen Tyson Parallelen in der Ge- bei Leibesvisitationen schichte: „Warum ha- angeblich besonders ben sich die Juden rauh in die Genitalien, nicht gewehrt, als sie zeigen ihm täglich, daß in die Gaskammern im Knast selbst ein frü- getrieben wurden? herer Boxweltmeister Warum haben die zu einem hilflosen We- Sklaven nicht revol- sen degradiert werden tiert gegen die weißen kann. Unterdrücker?“ Feinde wähnt der Seine Wächter, Boxer nicht nur un- glaubt Tyson, provo- ter den Wächtern: zierten ihn nur, um Nur noch selten wagt abends in der Kneipe sich Tyson in den sagen zu können: Gemeinschaftswasch- Tyson-Gefängniszelle, Zeugin Washington:„Wie konnte die mir das antun?“ „Heut hab’ ich den Ty- raum, schleppt lieber son fertiggemacht.“ einen Eimer in die Zelle und reinigt sich Gefangenen. Ein Disziplinarausschuß Der Champ rächt sich, indem er in Fern- dort mit einem Schwamm. Tyson mag die der Haftanstalt verurteilte Tyson zu 38 sehinterviews schon mal erklärt: „Man- homosexuellen Spiele und Vergewalti- Tagen Isolationshaft, nachdem sich der che von denen dürften bei mir daheim gungen unter der Dusche nicht ertragen; Boxer mit seinem Wächter verbal ange- nicht einmal die Toilette reinigen.“ das unverhohlene Starren der übrigen legt hatte. Bei der Ankündigung eines Noch größer als das Unverständnis Häftlinge auf sein Geschlecht, klagt er, Besuchers hatte der Boxer gefragt, ob es über die Haftbedingungen sind Tysons „macht mich krank“. sich um seine Mutter handele, weil er Probleme mit dem Urteil. Noch immer Vor allem aber fürchtet der Star mögli- „die mir verbleibenden Besucherstun- will er bei allen Gesprächen mit seinen che Attacken von Mitgefangenen, die den nicht mit irgend jemandem ver- Besuchern eine Antwort auf die Frage: sich bei ihren Knastbrüdern profilieren plempern“ wolle. Der Beamte lehnte „Wie konnte die mir das antun?“ Ge- wollen. Der Gefängnisdirektor hat den die Auskunft ab, Tyson nannte ihn dar- meint ist Desiree Washington, das Col- prominenten Sträfling gewarnt: „Paß aufhin einen „fucking scumback“, ein lege-Kid aus dem Ostküstenstaat Rhode auf, was hinter deinem Rücken passiert.“ „dämliches Arschloch“. Island. Im Juli 1991 wollte sie ihren Doch die Forderung nach Verlegung in Weil tatsächlich Pflegemutter Camille Traum verwirklichen und Schönheitskö- eine andere Haftanstalt lehnten die Ewald, 87, aus New York angereist war, nigin werden; in einer Nacht begleitete Behörden mit der Begründung ab, der verkürzte die Gefängnisleitung die Ar- sie Mike Tyson, den Ehrengast der Wahl Gefangene 922335 sei „ein Häftling reststrafe später auf 15 Tage. Doch in zur „Miss Black America“, aufs Hotel- wie alle anderen“. Selbst beim Tod dieser Zeit wurde Tyson allen Besu- zimmer, gegen 1.30 Uhr. seines Vaters machten sie kei- chern in Ketten vorgeführt: Eisen an „Ich habe ihr nichts getan, wassienicht ne Ausnahme; Tyson wollte“, beharrt der Boxer noch heute – durfte nicht an der Be- womöglich ist er davon wirklich über- erdigung teilnehmen. zeugt. Er hat mit „Hunderten und Hun- Weil er weiß, daß derten“ von Frauen geschlafen. Hier die 1390 Mitgefange- zahlt er 5000 Dollar Alimente monatlich nen jede Geste beob- für zwei Kinder, dort Schmerzensgeld, achten, wagte der Ex- weil er einer Frau an den Busen grapsch- Weltmeister nicht ein- te. Der rechte Haken, den er seiner da- mal, Gefühle zu zei- maligen Frau, der Schauspielerin Robin gen, als ihn die Nach- Givens, verpaßt hat, war, prahlte er vor richt vom Tod seines Freunden, „der beste inmeiner Karriere“ Vaters erreichte. Ty- – sicherlich auch der teuerste. son hat begriffen, daß Ein Idol der Massen wie etwa Muham- Tränen in der Welt mad Ali konnte Tyson deshalb nie wer- hinter Gittern als den: Er ist der Prototyp des Protzers, ar- Schwäche interpretiert rogant und immer Macho, der nur eine und jene, die Schwä- Sprache kennt: Ghetto-talk. So wirkte er che zeigen, als auch im Verfahren auf die Geschwore- Schwächlinge behan- nen, mal verkrampft und dann doch wie- delt werden. der überheblich, ein Schlägertyp im dun- Die Aufseher haben kelblauen Zweireiher. Eine Entschuldi- ihn als „touch-off guy“ gung kam ihm nicht über die Lippen, klassifiziert, einen zum Pflegemutter Ewald, Tyson* Aufbrausen neigenden „Mike verbirgt seinen Schmerz“ * Während seines Gerichtsverfahrens 1992.

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Taubenzüchter Tyson: „Hörst du die Flügel schlagen?“

denn „ich habe niemandem weh getan. Houston, auch Betty Shabazz, die Wit- Kein blaues Auge, keine gebrochenen we des Revolutionärs Malcolm X. Rippen“. Zehn Besuchsstunden werden ihm Tysons Biographie macht solche Sätze monatlich zugestanden. Besuchswün- verständlich. Mit 11 Jahren verübte er sche von seinen ehemaligen Arbeitskol- bereits Raubüberfälle, mit 13 landete er legen aus dem Ring lehnt Tyson meist in der Jugendstrafanstalt. Dort erkannte ab. Sie sollen ihn in seinem Elend nicht ein Boxtrainer sein Talent und machte sehen. aus ihm den K.-o.-Schläger, von dem Rund 50 Pfund hat der untersetzte sich die Frauen auch nach seiner Verur- Muskelprotz inzwischen abgenommen, teilung nicht abwenden – zu Dutzenden er sieht, bemerkte Camille Ewald, haben sie Tyson ihre Schlüpfer ins Ge- „nicht weiß oder schwarz, sondern grün fängnis geschickt und in Liebesbriefen aus“. Seit Tyson von Mitgefangenen ge- gefordert: „Ich will Dein Kind.“ hört hat, daß die zum Küchendienst ein- Desiree Washington dagegen schien geteilten Häftlinge unbeliebten Kolle- sachlich und glaubwürdig, als sie erklär- gen gelegentlich in Suppe oder Soße te, sie wolle kein Geld, keinen Scha- pinkeln und auch schon mal Fäkalien densersatz, nur Gerechtigkeit. Für diese beimischen, meidet er die Knastkost. Darstellung, klagt Anwalt Dershowitz, Statt dessen kauft er beim Anstaltskrä- „hätte sie einen Oscar verdient“. mer ein: Fleisch und Thunfisch in Do- Vier Geschworene, die Tyson für sen, Kartoffelchips, Kekse – nicht eben schuldig befunden hatten, recherchierte Kost für einen Leistungssportler. ein Reporter der Fernsehgesellschaft Mit Gymnastik und Schattenboxen NBC, würden nach Enthüllungen über versucht sich der ehemalige Boxwelt- das Privatleben und angesichts der Scha- meister fit zu halten. Über sein Come- densersatzforderungen des Tyson-Op- back nach der Haftentlassung hat er an- fers Washington „jetzt wahrscheinlich geblich noch nicht nachgedacht. Nur so- anders entscheiden“. „Wahrscheinlich“, viel weiß er: „Das Geld rinnt mir durch rief Tyson, als ihm der Journalist die die Finger.“ Und es stehen noch einige Nachricht übermittelte, „aber Tatsache Schadensersatzprozesse an. bleibt: Ich sitze hier.“ Mike Tyson wird deshalb nach seiner „Dabei versucht Mike“, sagt Camille Entlassung in den Ring zurückkehren Ewald, „seinen Schmerz zu verbergen.“ müssen, womöglich nur zu einem letz- Die Lebensgefährtin des vor Jahren ver- ten, etliche Millionen Dollar teuren storbenen Tyson-Entdeckers und -För- Kampf: „Was soll ich denn sonst tun, derers Cus D’Amato beschied er: „Ich Mann? Soll ich etwa als Atomwissen- will nicht, daß du mich hier so siehst.“ schaftler arbeiten?“ Auch sonst läßt er nur wenige Besucher Also hat er seinen Kontakt zum um- an sich heran: Spike Lee etwa, den strittenen Box-Promoter Don King schwarzen Regisseur, Sängerin Whitney nicht abgebrochen. Auch die eigene Fir-

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Werbeseite SPORT ma, „Mike Tyson Productions“, besteht nen Züchter, der sich um die wertvol- um das Wohlergehen seiner Vögel. Der weiter. Angestellte wie John Horne len Tyson-Tauben bemüht. Jede ein- Vertraute steigt mit seinem drahtlosen oder Rory Holloway behaupten: „Wir zelne haben sie fotografieren lassen Telefon in die Taubenschläge und fragt: sind Tag und Nacht nur für Mike da.“ und die 4000 Bilder in die Zelle ge- „Hörst du die Flügel schlagen?“ „Nein, Sie haben einen Automechaniker an- schickt. ich höre nichts.“ Schließlich drängt sich gestellt, der die 27 Luxusautos des Oft klingelt bei Holloway morgens Holloway mit dem Hörer an die ver- Zuchthäuslers pflegt. Und unlängst ver- gegen neun Uhr das Telefon. Dann schreckten Tiere und fragt: „Und jetzt?“ pflichteten sie im Auftrag des Chefs ei- macht sich Tyson mal wieder Sorgen „Oh, ja, Mann, wie schön.“ „Sie hatten Angst vor ihm“ Interview mit Rechtsanwalt Alan Dershowitz über Mike Tyson und seine Richter

SPIEGEL: Herr Dershowitz, Sie verlan- Berufungsgerichte haben Ihre Eingaben Dershowitz: Es gab damals unzählige gen, daß der Supreme Court, das ober- gegen das Urteil abgelehnt. Anrufe von Leuten, die für 100 000 Dol- ste Bundesgericht der USA, das Urteil Dershowitz: Aber die Richterin lehnte lar ein angeblich entlastendes Video lie- gegen Mike Tyson aufhebt. Warum? drei Zeugen ab, wahrscheinlich die fern wollten. Daher nahmen wir auch Dershowitz: An dem Verfahren ist vom wichtigsten des gesamten Verfahrens. diese Zeugen zunächst nicht sehr ernst. ersten Tag an gedreht worden. In mei- Sie erinnern sich: Im Hotelzimmer gab Als wir sie dann nach einem Gespräch nen 30 Jahren als Anwalt habe ich nie- es keine Zeugen – Tysons Wort steht ge- mit ihnen benennen wollten, lehnte die mals zuvor ein zynischeres Rechtssy- gen das Wort von Desiree Washington. Richterin die Zulassung ab. Sie wollte stem gesehen als das des amerikani- Daher wäre das, was sich in den Minu- ihre Trophäe Tyson um keinen Preis schen Bundesstaates Indiana. Ich weiß, ten zuvor in der Limousine und auf dem verlieren. wovon ich rede, denn ich habe schon in Weg in das Zimmer ereignete, von ent- SPIEGEL: Spielt im Fall Tyson Rassis- China, in der Sowjetunion und in ande- scheidender Bedeutung gewesen. mus eine Rolle? ren totalitären Staaten plädiert. SPIEGEL: Desiree Washington behaup- Dershowitz: Dieser Fall ist komplizier- SPIEGEL: Worauf gründet sich der Vor- tet, sie habe Tyson nie berührt. ter. Denn der Angeklagte ist ebenso wie wurf? Dershowitz: Tyson hingegen sagte unter das angebliche Opfer schwarz. Mike Ty- Dershowitz: Der Richter wird in Indiana Eid aus, daß es im Auto zum Austausch son wurde den Geschworenen allerdings vom Staatsanwalt ausgewählt. Und der von Zärtlichkeiten, zum sexuellen Vor- wie das rassistische Stereotyp eines hat sich für eine Richterin entschieden, spiel kam. Hand in Hand gingen sie in Schwarzen vorgeführt: triebhaft, kräf- bei der er davon ausgehen konnte: „Die das Hotel – und das wollen die drei Zeu- tig, ungebildet, muskulös, furchterre- steht auf unserer Seite, die haben wir in gen beobachtet haben. Das wäre folg- gend. Die Geschworenen hatten buch- der Tasche.“ lich der Beweis: Sie hat gelogen, und stäblich Angst vor ihm. Obendrein wur- SPIEGEL: Die Richterin hat doch nicht Tyson hat die Wahrheit gesagt. de ihnen manche relevante Information allein entschieden. Die Geschworenen SPIEGEL: Warum wurden diese Zeugen vorenthalten. haben Tyson für schuldig erklärt, und nicht gehört? SPIEGEL: Zum Beispiel? Dershowitz: Desiree Washington gab den Geschworenen zu verstehen, daß sie eine unberührte und unschuldige Frau gewesen sei, als sie Tyson begegne- te. Sie sei weder auf Geld aus, noch ha- be sie irgendein Motiv zu lügen . . . SPIEGEL: . . . jetzt klagt sie auf 35 Mil- lionen Dollar Schadensersatz. Dershowitz: Ja. Aber auch sonst ist sie nicht so unschuldig: 18 Monate vor der Begegnung mit Tyson hatte sie sexuel- len Verkehr mit einem weißen Mitschü- ler. Als ihr Vater das erfuhr, drohte er ihr: „Ich schlage dich tot!“ Das Mäd- chen versuchte ihre Haut zu retten mit der Behauptung: „Er hat mich verge- waltigt!“ Als der Vater schon drauf und dran war, die Polizei anzurufen, beich- tete sie ihm die Wahrheit. Daraufhin hat er sie derart verprügelt, daß die Polizei ihn einsperrte. SPIEGEL: Warum spielte diese falsche Vergewaltigungsanschuldigung von da- mals im Verfahren keine Rolle? Dershowitz: Die Richterin ließ es nicht zu. Folglich wußten die Geschworenen nichts davon. Wenn wir heute diesen Anwalt Dershowitz: „Tyson ist für mich eine tragische Figur“ Prozeß noch einmal durchführen wür-

152 DER SPIEGEL 5/1994 den, wäre Tyson in zehn Minuten frei- gesprochen, so viele neue Beweise und Zeugenaussagen liegen uns vor. Immer- hin haben wir eins schon erreicht: Das Berufungsgericht Indianas prüft, ob die Staatsanwaltschaft Beweise unterdrückt hat. SPIEGEL: Wenn die Indizien so eindeu- tig für Tysons Unschuld sprechen, war- um rührt sich dann das amerikanische Rechtsbewußtsein nicht? Dershowitz: Der Bürgerrechtler Jesse Jackson und auch Magic Johnson haben mich angerufen, um ihre Sympathie für Tyson auszudrücken. Aber so einfach ist das nicht: Der Fall eignet sich nicht für eine eindeutige Empörung über das Unrecht. Früher war die Verteidigung der wegen Vergewaltigung Angeklag- ten recht einfach – die Opfer wurden nicht gerecht behandelt. Heute schlägt das Pendel stark in die entgegengesetz- te Richtung. Man kann Verständnis für einen Dieb oder einen Mörder zeigen – aber nicht für einen Vergewaltiger. SPIEGEL: Haben sich deshalb die Me- dien nicht für Tyson eingesetzt? Dershowitz: Die Mehrheit der Zeitun- gen interessiert sich nicht für Verfah- rensfehler oder Falschaussagen, son- dern rätselt lieber: „Was geschah im Hotelzimmer?“ Für einige Blätter war dieser Fall nur eine Sportgeschichte. Die New York Times hat den Fall Wil- liam Kennedy Smith . . . SPIEGEL: . . . des wegen angeblicher Vergewaltigung in Florida angeklagten Kennedy-Neffen . . . Dershowitz: . . . auf der ersten Seite gemeldet, während über Tyson nur im Sportteil berichtet wurde. Die Ausein- andersetzung fand nicht mit ihm als Menschen, sondern als Sportstar statt, als jemandem, der aus dem Ghetto auf- gestiegen ist, sich aber nicht veränder- te. Tyson ist ein Mann, der sich nicht artikulieren kann und deshalb bei den Menschen auf wenig Mitleid oder Sym- pathie stößt. SPIEGEL: Wenn Tyson Kennedy hieße, wäre er jetzt ein freier Mann? Dershowitz: Aber ja, daran besteht kein Zweifel. Nur hier in Indiana hatte er keine Chance. Mike Tyson ist für mich eine tragische Figur. Ich hoffe nur, daß er nicht tragisch enden wird. SPIEGEL: Wie schätzen Sie die Möglich- keiten ein, daß das Oberste Gericht Ih- rem Antrag folgt und das Urteil gegen Tyson aufhebt? Dershowitz: Ich bin nicht sehr optimi- stisch, zumal sich dieses Gericht nur mit wenigen Fällen befaßt. Wird unser Ansinnen abgelehnt, werden wir einen anderen Weg einschlagen. Doch bis da- hin wird ein Jahr oder mehr vergehen. Wir kämpfen gegen die Uhr – wir wol- len ihn aus dem Gefängnis herausho- len, bevor er seine Strafe abgesessen hat. Y

DER SPIEGEL 5/1994 153 Schmuckanhänger (Ende des 19. Jahrhunderts)

Filmszene aus Bun˜uels „Ein andalusischer Hund“ (1928) Roland Penrose: „Gut gezielt“ (Gemälde 1939)

Kunst toten Esels herhalten mußte, ist längst ein Kinomythos. Damals lehrte Bun˜u- els Angriff auf die Sehnerven der Zu- schauer, was viele Avantgardisten dachten: Kunst-Wahrheit, das muß SCHLUPFLOCH INS mehr sein als brave Wirklichkeitstreue, das ist etwas Fremdes, ja Böses, etwas, das ins Auge trifft. Geradezu besessen kehrten der bulli- ÜBERSINNLICHE ge Aragonier Bun˜uel (1900 bis 1983) und seine Pariser Freunde Salvador Die Surrealisten um Luis Bun˜uel verstörten ihr Publikum mit Dalı´ und Rene´ Magritte immer wieder zu diesem Sujet, dem Auge, zurück. neuen Blicken auf die Wirklichkeit. Und sie entdeckten das Unbewußte Manchen von ihnen hat das Thema des für die Kunst – das zeigt eine große Ausstellung in Bonn. verführten und verrätselten Blicks zeit- lebens nicht losgelassen – warum, dar- auf versucht von Freitag dieser Wo- ls Charlie Chaplin sich den Erst- che an die Ausstellung „¿Bun˜uel! – ling des Regisseurs in kleinem Auge des Jahrhunderts“ in der Bon- AKreise zeigen ließ, hörten die ver- ner Bundeskunsthalle Antworten zu sammelten Zuschauer plötzlich ein geben*. Rumpeln: Der chinesische Hausdiener Immerhin hatten schon die Fotogra- am Projektor war ohnmächtig zusam- fen des 19. Jahrhunderts oft hochbe- mengebrochen. wußt mit dem Auge der Kamera ge- Schon bei den ersten Vorstellungen spielt. Und Bun˜uels erster Lehrmei- 1928 hatte Luis Bun˜uels Kurzfilm „Ein ster, der Regiepionier Jean Epstein, andalusischer Hund“ Schrecken ver- verwendete geisterhafte Kulissen und breitet. Zwei Fehlgeburten soll es in Zeitlupentricks, um einer Edgar-Allan- den Kinos von Paris gegeben haben, Poe-Verfilmung das rechte Grauen bei- während seine Schockszenen die Lein- zumischen. wand unsicher machten – vor allem je- Doch den jungen Wilden der späten ne, in der ein Mann einer Frau die Li- zwanziger Jahre reichte auch solcher der spreizt und eine Rasiermesserklin- Hyperrealismus nicht mehr. Ihnen, die ge durch ihren linken Augapfel zieht, bis die Gallerte herausfließt. * Bis 24. April. Katalog im Verlag Schirmer/Mo- Der grausam geniale Film-Schnitt, sel; 520 Seiten; 78 (Buchhandelsausgabe 128) für den zum Glück nur das Auge eines Luis Bun˜uel (Foto von Man Ray, 1929) Mark.

154 DER SPIEGEL 5/1994 KULTUR

Salvador Dalı´: „Die Augen“ – Entwurf für ein Szenenbild zu Alfred Hitchcocks „Spellbound“ (1945) Surrealistische Augen-Motive, Vorläufer: Vorstoß ins Panoptikum von Traum und Wahn

Mayer/Pierson:„La Comtesse de Castiglione“(1860) Max Ernst: „Blinder Schwimmer“ (Gemälde 1934) Marcel Jean:„Le spectre du gardenia“(1936)

DER SPIEGEL 5/1994 155 sich „Surrealisten“ nannten, kamen die Bilder selbst leer, ja unehrlich vor. Sie wollten tiefer blicken, verunsichern, hinter der edlen Fassade Zwang und Verlangen bloßlegen, etwa indem sie alles, was nach einer gewöhnlichen Er- zählung aussehen konnte, mieden wie die Pest. Nach „Fäulnis“ stinke die akademi- sche Normalkunst, erklärte Salvador Dalı´ in seinen Briefen an den Dichter- freund Federico Garcı´a Lorca (soeben ist eine Auswahl auf deutsch erschie- nen*). „Manchmal spucke ich aus Spaß auf das Bild meiner Mutter“, hatte Dalı´ auf eines seiner Bilder geschrie- ben – so viel hielt die Pariser Truppe um Andre´ Breton von den bürgerli- chen Konventionen. Provozierend obskur und obszön stellten die zornig-poetischen Betrach- ter gewohnte Bilderwartungen als Voy- eurismus, als alltägliche Perversion bloß, allen voran Bun˜uel mit seinem zweiten Film „Das Goldene Zeitalter“ (L’Age d’Or). In dem grotesken Werk, das schon wenige Wochen nach seiner Urauffüh- rung verboten wurde und nun in Bonn als Leitfaden durch die Bilderwelt Bu- n˜uels und seiner Zeit dient, hatte Max Ernst einen Räuberhauptmann verkör- pert. Dadamax, „schön wie ein Adler“ (Bun˜uel), war begeistert vom Durch- leuchtungswillen seines Regisseurs. Bis in seine letzten Gemälde malte er Augapfel-Kreise, als Fluchtpunkt der Wahrnehmung, erotisches Zentrum und Schlupfloch zum Übersinnlichen gleichermaßen. Um ins Panoptikum von Traum und Wahn vorzustoßen und so die „hypno- tische Kunst“ des Kinos neu zu erfin- den, las Bun˜uel die Gewalt-Obsessio- nen des Marquis de Sade und auch Georges Batailles pornographische Erzählung „Die Geschichte des Auges“. Mitstreiter und Zeitgenossen hingegen beuteten schnell einen ergiebigeren Lehrmeister aus: Sigmund Freud, dessen „Traumdeutung“ in Bun˜uels Geburtsjahr 1900 erschienen war. Auch die Bonner haben sich von Freud inspirieren lassen. „Sehtrieb“, „Begierde“ und „Todestrieb“ nennen sie die drei großen Kapitel ihrer Schau des Schauens. Verständlich, wo doch sogar Hollywood dank der Psychoana- lyse den Surrealismus entdeckte: Zur Ausstattung der Traumsequenz seines Psychothrillers „Spellbound“ (1945) engagierte Alfred Hitchcock Dalı´ per- sönlich. Bun˜uel, kompromißlos bis zuletzt, hatte für die Geschäftstüchtigkeit sei-

* Ralf Schiebler (Hrsg.): „Dalı´ Lorca Bun˜uel – Auf- bruch in Madrid“. Hatje Verlag, Stuttgart; 172 Seiten; 28 Mark. KULTUR nes einstigen Freundes nur Spott übrig. York. Und es bleibt ihnen Allens alter Doch Woody, leider, meint es ernst Er blieb dem Fanal seiner Anfänge Seitensprung: das Kino. mit seinem Krimi-Puzzle. Der Alte ist treu: In den letzten Filmen läßt er die Wenn der Film beginnt, kommen die wirklich ein raffinierter Mörder – und Blicke des Publikums von einem Er- beiden gerade aus „Frau ohne Gewis- doch lebt die Gattin, zunächst. Aus dem zähl-Bröckchen zum nächsten gleiten, sen“ („Double Indemnity“), Wilders Ehealltag zweier bejahrter Manhattaner bis alle Handlung zu Schein geworden Meisterwerk aus der Schwarzen Serie. wird ein Thriller mit Verfolgung und ist. Dann, jenseits aller Bilder, werden Im Lift ihres Apartmenthauses, eines Gefahr, mit Dämonie und Habgier – die verwirrten Blicke des Betrachters angenehm anonymen Wohnsilos, tref- „Frau ohne Gewissen“ auf Woody Al- auf ihn selbst zurückfallen – nicht fen die beiden, die immer noch pausen- lens Art und spiegelverkehrt: „Mann umsonst hat Bun˜uel in seinen Me- los Allens wunderbar schnoddrige Dia- ohne Gewissen“. moiren erklärt: Surrealismus, das loge austauschen und Breitseiten an Es ist, als vertage der geplagte Mann sei „eine poetische, eine revolutionä- Pointen aus dem unendlichen Ehege- und Filmmann Allen seine erlebten Pro- re und eine moralische Bewegung“ brabbel absondern, ein uraltes Rentner- bleme möglichst weit in eine kompliziert gewesen. Y ehepaar, und ehe man sich’s versieht, ist konstruierte Mordgeschichte. Sein trau- man zu Nachbars eingeladen. tes Ehepaar kann er dadurch in Hast Es kommt, wie es muß. Die Alten und außer Atem versetzen – so daß der Film schütten sie mit Geschichten zu, zeigen Zuschauer kaum merkt, wie wenig im ihre Briefmarkensammlung – der ganz Alter passiert, außer Keifen, Sticheln, Mann ohne alltägliche Horror. Das ist so herrlich Nerven und Nörgeln. Gewissen „Manhattan Murder Mystery“. Spiel- film von Woody Allen. USA 1993.

oody Allen hat seine Geschichte, die er uns seit nunmehr zwei W Jahrzehnten in fortlaufenden Filmhäppchen erzählt, beibehalten. Die Partnerin hat er gewechselt und, im Rückgriff, doch behalten. Natürlich kann Mia Farrow nicht mehr Mia Farrow spielen. Würde sie mit Woody ihre Beziehungskrise filmisch noch einmal ausfechten, dann müßten sie mindestens den „Rosen-Krieg“ mit blutig-letalem Ausgang spielen. Aber Diane Keaton, abgehangenes Glück und ausgestandenes Unglück aus früheren Allen-Tagen, kann da wieder einspringen, wo sie aufgehört hatte: in die traurigen Bett-Katastrophen und ko- mischen Dialog-Scharmützel, mit denen „Manhattan Murder Mystery“-Paar (Allen, Keaton): Talk im Bett Allen, der intellektuelle Clown und Großstadtunglücksrabe, unser aller vertraut und so köstlich durchschnitt- So laufen die beiden immer seltsamer Sinnkrisen, Beziehungskisten (ja, so lich, daß der Woody-Fan alle Woody- unberührt durch Allens abwegiges und hieß das wirklich!), Befindlichkeitsde- Wonnen früherer Tage erneut erlebt. wenig stilsicheres Krimikonstrukt. Da batten und Hormonspiegelungen immer Auch die Fortsetzung zum Krimi verglühen Leichen in dämonisch glim- wieder auf den jeweiligen Alterspunkt fängt genial komisch an: als die alte menden Hochöfen, da bleiben Fahr- gebracht hat – erste Liebe, erster Seiten- Nachbarsfrau, eben erst kennengelernt, stühle im Dunklen stecken, da ver- sprung, erste Impotenz, erste Trennung. verstirbt. Wirklich? Oder wurde sie er- schwinden Lebende und Tote – und der Jetzt also, im neuesten Allen-Werk, mordet? Gar von ihrem Mann, der gar vermutete Mörder hat auch noch ein dem „Manhattan Murder Mystery“, nicht so richtig traurig scheinen will? hinreißend plüschig vergammeltes Kino: wird ein Mann älter. Und seine Frau Der Allen-Einfall, eine gelangweilte nur, damit der Showdown sich im Spie- auch. Er ist Buchverleger, sie möchte (sagt man noch: frustrierte?) Gattin ihre gelkabinett des Welles-Films „Die Lady mit einem Freund ein Restaurant auf- Nase mangels eigener Aufregungen de- von Shanghai“ reflektieren kann. machen. Den Freund hat die Frau ver- tektivisch in anderer Angelegenheiten Man erinnert sich: Immer, wenn Al- lassen, deshalb hört er der Keaton bes- stecken zu lassen, ist komisch und wirk- len beim Filmen die Puste ausging, wur- ser, verständnisvoller und geduldiger zu sam. de er cineastisch. Mal Bergman („In- als ihr Filmmann Allen. Früher, auf ei- Wie sich die Keaton in die Wohnung nenleben“), mal Fellini („Stardust Me- ner Reise in Frankreich, wo man zu des lustigen (und listigen) Witwers mories“), mal, am schlimmsten, deut- viert war, hätten die beiden fast einmal schleicht, während er auf der Straße scher Expressionismus („Schatten und miteinander gepennt – vorbei, verpaßt. feststellt, was vergessen zu haben, und Nebel“) und diesmal Schwarze Serie. Dem Ehepaar, das seinen Sohn längst umkehrt (wird er sie in flagranti überra- Dort hat sich der Filmfan Allen schnüf- an die Uni und das richtige Leben abge- schen?), hat Spannung und Komik zu- felnd und zitierend verlaufen. geben hat, bleibt Allens alte Liebe: New gleich. Hellmuth Karasek

DER SPIEGEL 5/1994 157 Werbeseite

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Werbeseite Stadtlandschaft Orlando, Sumpflandschaft Everglades, Werbe-T-Shirt: „Ein riesiges sonnenbeschienenes Klo, in dem

Autoren Terror im Paradies In seinen Romanen schildert der US-Schriftsteller Carl Hiaasen Florida als Beute von Spekulanten und Kriminel- len, in seinen Zeitungskolumnen wettert er gegen den Ausverkauf der Natur. Schon vor Jahren schlug einer seiner Helden vor, die Touristen mit Mord und Gewalt zu vertreiben. Die Visionen sind wahr geworden.

er Außenbordmotor springt nicht Im Hauptberuf aber schreibt er Bü- er in nur sieben Jahren veröffentlicht, an, und der Captain rüttelt an den cher, Thriller und Kriminalromane, die und in diesem Tempo lebt er auch: Er DKabeln, legt den Gashebel um und vom gleichen Thema handeln. Er be- denkt schnell, spricht schnell und fährt dreht hilflos den Zündschlüssel hin und richtet davon, daß es hinter der Welt der am liebsten Vollgas. her. Doch die Maschine gibt ein Jaulen Golfplätze und Apartmenthäuser, hin- In 13 Sprachen sind die Romane über- von sich, und ein paar Rauchwolken ter Disney World und den pastellfarbe- setzt; vier sind auch auf deutsch erschie- puffen kraftlos über das Wasser. nen Einkaufszentren noch ein anderes nen, zuletzt „Große Tiere“, der jetzt „Es kann nicht die Batterie sein“, sagt Florida gibt. Ein Land, in dem Natur den Internationalen Deutschen Krimi- der Mann. Und dann fährt er doch sei- nichts gilt und Geld alles; wo Immobi- preis erhalten hat*. nen Jeep ans Ufer und gibt mit Über- lienmakler das tropische Paradies seiner Hiaasens neuester Thriller „Strip brückungskabeln Starthilfe. Wildheit berauben, es verschachern und Tease“ stand mehrere Wochen lang auf Ganz neu sei die verdammte Batterie, verbauen; wo die Enttäuschten und der Bestsellerliste der New York Times, brüllt er später gegen den Fahrtwind, Ausgebeuteten ein vergessenes Leben knapp hinter John Grishams Hit „The bei einem respektablen Schiffsausrüster führen und Rache geschworen haben. Client“ – die deutschen Rechte hat Ber- habe er sie gekauft, und außerdem sei Wenn im Winter die Hochsaison be- telsmann soeben erworben. Hiaasen fin- das Ding ein Markenprodukt: Wem soll ginnt, fällt der Feind wieder ein in Hiaa- det das „very nice“. Die Filmrechte an man noch trauen? Und wieder hat der sens Land: 42 Millionen Touristen strö- seinen Romanen hat er Hollywood ver- Bursche ein Beispiel dafür, daß Florida men nach Florida, rasen mit propeller- kauft. „In gewissem Sinne“, sagt er, ein einziger Sumpf aus „sleaziness“, getriebenen Airbooten durch die Ever- „mache ich gutes Geld mit diesem gan- Schmierigkeit, sei – ein stinkender Pfuhl glades, mit Leihwagen über die zen kranken Land.“ voller Lüge, Habgier und Korruption. Highways, und Tausende von Sportfi- Manchmal scheint es, als neige Hiaa- Mit Sümpfen kennt Carl Hiaasen, 40, schern werfen in der Biscayne Bay ihre sen zu Übertreibungen: Da wird zum sich aus und mit sleaziness erst recht. Er Angeln aus und haben keine Ahnung, in Beispiel in „Unter die Haut“ die Leiche ist in Florida geboren und aufgewach- welchem Sumpf sie gelandet sind. einer jungen Frau im Baumhäcksler in sen; er hat jahrelang als Enthüllungsre- „Eine Art Ted Bundy“ haben ihn die schaschlikgroße Stücke zerteilt – der porter für den Miami Herald gearbeitet, Journalisten genannt; denn wie der be- Fall war authentisch; Hiaasen hatte da- und in seinen Zeitungskolumnen schleu- rüchtigte Serienkiller aus Florida hat von in der Zeitung gelesen. dert er auch heute noch zweimal wö- Hiaasen ein jungenhaftes Gesicht, hin- chentlich den Zerstörern Floridas Wut ter dem sich Haß und Wut und düstere * Carl Hiaasen: „Große Tiere“. C. Bertelsmann und Zynismus entgegen. Gedanken verbergen. Fünf Romane hat Verlag, München; 416 Seiten; 42 Mark.

160 DER SPIEGEL 5/1994 sagt hat. „Das sind kosmische Dinge, die irgendwann passieren“, sagt zynisch Hiaasen, „ob ich nun darüber schreibe oder nicht.“ Manches in Florida sei so irrsinnig, daß er es in seinen Romanen nicht unterbrin- gen könne: Miamis Bürger müssen Angst haben, von aus Flugzeugen abgeworfe- nen Kokainpaketen erschlagen zu wer- den; nach dem Hurrikan „Andrew“ ent- waffnete eine Drogengang eine Truppe von Soldaten, und die Cops waren tage- lang unterwegs, um 3000 entlaufene Af- fen aus den Palmen zu schießen. Kein Le- ser würde diesen Wahnsinn glauben. Diesen Killerhurrikan hatte Skip Wi- ley auch vorausgesagt. Als „Andrew“ dann kam, im August 1992, und 16 Milli- arden Dollar Schaden anrichtete, höhnte der Kolumnist Hiaasen imMiami Herald: „Hi-ho, hi-ho, und weg ist’s Dach, ein- fach so, uns ist’s egal, ist dein Haus nicht mehr da, hi-ho, hi-ho.“ Hiaasen wäre froh, wenn „Andrew“ Millionen von Touristen ihr Geld hinunterspülen“ den Effekt gehabt hätte, den Wiley sich von so einem Sturm versprach: möglichst Im Oktober 1993 landete wieder eine ges sonnenbeschienenes Klo, in dem viele Zugezogene aus Florida zu vertrei- Leiche im Häcksler: Eine Stripperin Millionen von Touristen ihr Geld herun- ben – 90 000 kamen tatsächlich nach der hatte „Unter die Haut“ genau studiert, terspülen und diesen Moment auf Ko- Evakuierung nicht mehr zurück – und da- vernichtete nach dem Vorbild des dakfilm festhalten.“ für zu sorgen, daß nicht mehr 1300 Men- Romans ihren Freund, verrührte die Das Gegenmittel sei simpel: Wenn schen pro Tag in den südlichsten Staat der kleingestückelten Überreste mit Beton die Touristen wegblieben aus lauter USA ziehen, den nur 400 Leute täglich und verkleckerte das Gemisch entlang Angst, dann würde das ganze Pack von freiwillig (oder weil sie sterben) verlas- eines Highways. „Solche Dinge“, sagt Spekulanten, Bankern, Anwälten, Dro- sen. Umfragen haben ergeben, daß 53 Hiaasen, „passieren hier die ganze genhändlern verschwinden. Hiaasen Prozent der Bewohner von Miami und Zeit.“ nennt seinen Helden einen „menschen- Umgebung nach dem nächsten großen In „Große Tiere“ wird eine Frau von mordenden Irren“, der allerdings „das Hurrikan für immer wegziehen werden. einem Delphin sexuell belästigt, mit Herz an der richtigen Stelle“ habe. An „Das sagen die nur“, schimpft Hiaasen, dem sie – eine besondere Attraktion in die Wand eines Männerklos in Orlando „und dann bleiben sie doch.“ den Vergnügungsparks Floridas – im hat jemand gekritzelt: „Skip Wiley Er haßt die Rentner aus New York, selben Becken schwimmt. Auch so et- lebt!“ So etwas gefällt Hiaasen. New Jersey und New England, die in den was passiert hier gelegentlich. In den vergangenen zwölf Monaten Altensiedlungen den Traum vom ewigen Die größte Herausforderung für den wurden tatsächlich 23 Touristen ermor- Sommer leben und in ihren weißen Cadil- Schriftsteller, sagt Hiaasen, bestehe det, darunter 4 Deutsche. Die Buchun- lacs und Oldsmobiles zum Fünf-Dollar- folglich darin, etwas so Bizarres und Ex- gen bei deutschen Reiseveranstaltern Lunch in die Shopping-Mall fahren. Flo- tremes zu erfinden, daß es bei Erschei- halbierten sich, wie Wiley das vorherge- rida ist die Billigversion von Kalifornien, nen des Buches noch nicht wo sie alle eigentlich viel überholt ist. Denn was er lieber hin wollten. sich auch ausdenke – ir- Für 30 000 Dollar bei- gendwann werde es im- spielsweise kann man in mer wahr: Sein erstes Sunrise Lakes bei Fort Buch „Miami Terror“ Lauderdale eine Zweizim- (1986) beispielsweise han- merwohnung kaufen. 1100 delte vor allem davon, wie Familien leben dort in den Touristen erschlagen, er- Reihenhäusern, die um ei- schossen, erwürgt und nen Kunstsee herum ange- den Krokodilen zum Fraß siedeltsind. 55Jahre istdas vorgeworfen werden. Mindestalter; umgezogen Haupttäter ist Skip Wi- wird nur noch auf den ley, Hiaasens Alter ego Friedhof. „Ich spiele Ca- und Kolumnist der fikti- nasta, ich spiele Majong, ven Miami Sun, der die ich spiele Pool, und ab und Überbevölkerung in Flo- zu spiele ich mit meinem rida nicht mehr ertragen Ehemann“, erzählt Shirley kann und der Zerstörung Drier, 62, während sie im der Sümpfe nicht länger Wasser plantscht, „ich bin zusehen will. „Was ist die Freizeit-Lady.“ Florida eigentlich noch?“ Daß für viele der Alten fragt sich Wiley und ant- das Rentnerleben weniger wortet selber: „Ein riesi- Thriller-Autor Hiaasen: Florida als Pfuhl voller Lüge und Habgier lustig ist, weil das Gesparte

DER SPIEGEL 5/1994 161 Werbeseite

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Zuckerrohrschneider, Touristin*: Manches ist zu irrsinnig, als daß man darüber schreiben könnte kaum noch Zinsen abwirft und die vögel haben früher in den Everglades ge- gelhaken aufgerissenen Schnabelsäcke Krankenversicherungen die Klinikrech- nistet, heute sind es noch 5000. zugenäht oder angeschossenen Vögeln nungen nicht bezahlen, kümmert Hiaa- Touristen bemerken nichts vom lang- das Schrot herausoperiert. sen einen Dreck: „Sorry, bringt eure samen Tod der Everglades. Wenn sie Al- Dabei stand ausgerechnet im Miami Probleme nicht hierher, werdet damit in ligatoren in der Sonne dösen sehen, glau- Herald gerade noch ein großer Bericht New Jersey fertig.“ ben sie, daß die Welt hier noch in Ord- über die ehemalige Lehrerin. 70 000Dol- Und da ist wieder diese Wut in dem nung sei. Daß kaum ein Vogel zu sehen lar kostet die Station pro Jahr; Geld, das sonst so glatten und freundlichen Ge- ist, fällt ihnen nicht auf. sie mit Hilfe von Spenden zusammenbe- sicht, eine Wut, die ihn nicht mehr ver- In „Strip Tease“ klagt Hiaasen die kommen muß. „Carl Hiaasen hat alles, lassen hat, seit sich sein bester Freund hochsubventionierte Agrarindustrie Flo- ein Luxusleben, zwei Häuser, ein Boot“, Clyde vor vielen Jahren das Leben ridas eines weiteren Verbrechens an: Für sagt die Frau frustriert, „aber keine Idee, nahm, weil seine Heimat, so vermutet rund 40 Dollar Tageslohn schneiden Ar- daß er etwas von seinem Geld abgeben Hiaasen, verhökert und versaut wurde: beiter aus Jamaika das abgebrannte Zuk- sollte.“ Bücher über den Untergang der Wo die beiden früher ihr Zelt aufschlu- kerrohr vonden Feldern –einAusbeuter- Natur zu schreiben, das sei lukrativ; die gen, steht heute das Kaufhaus Macy’s. lohn für Schwerstarbeit, die kein weißer Natur zu retten, nicht. Seitdem teilt Hiaasen die Welt in gut Amerikaner übernehmen würde. Doch mit seinen Kolumnen im Miami und böse. Die Guten sind alle, die für Seit „Strip Tease“ ein Bestseller wur- Herald, glaubtHiaasen,habe eretwasbe- Floridas Flora und Fauna kämpfen. de, ist Hiaasen bei den Zuckerproduzen- wirkt. Mit seinen Romanen ist er nur Die Bösen haben Miami zum Zen- ten verhaßt. Und nicht nur bei denen. Ein reich geworden. Und mit denen wird er trum der Drogenkriminalität gemacht Stadtrat von Miami habe ihnmal „sinnge- weiter Wind machen. Wie Skip Wiley, und zu einer der ärmsten Städte in den mäß ein wertloses Stück Scheiße ge- der nach sinnlosen Morden und Terror- USA. Die Bösen lassen die Everglades nannt“,erzählt er. Und natürlichmuß das anschlägen einen einzigen Vogel vor dem verdursten. In „Strip Tease“ beschreibt auch so sein. Denn sonst, so Hiaasen, Tod zubewahren versucht.Er klettert auf Hiaasen, wie die Zuckerindustrie und „würde ich meinen Job nicht machen“. einen Baum, auf dem ein junger Weiß- die Gemüsefarmer das Wasser aus dem Die Drecksarbeit tun andere. Hiaasen kopf-Seeadler, das Wappentier der Lake Okeechobee, das einst in die gro- kennt sie kaum, diese guten Menschen USA, sitzt, und wedelt verzweifelt mit ßen Feuchtgebiete floß, in Kanäle lei- Floridas, jedenfalls nicht Laura Quinn, seiner Jacke. Er will das Tier verscheu- ten. Die Fische im Sumpf sterben aus, 65, obwohl sie nur vier Meilen von ihm chen, bevor die ganze Insel gesprengt die Vögel fliegen weg. 250 000 Wasser- entfernt das „Florida Keys Wild Bird Re- wird für den Bau einer Hotelanlage. habilitation Center“ betreibt. Tausenden Ob es Wiley gelingt, hat Hiaasen ver- * Mit Delphinen in einem Vergnügungspark. von Pelikanen hat sie schon die von An- schwiegen. Y

Rentnerin Drier (2. v. r.), Vogelschützerin Quinn: Die Guten kämpfen für Florida, die Bösen zerstören es

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Ausstellungen Autoren Gold aus Ein Hauch von grauer Vorzeit Vergangenheit Im Oktober 1968 fingen Ist das Schreiben eine Kunst, Erdarbeiter in Apahida, ei- ein Handwerk – oder gar nem rumänischen Nest, zu beides? „Die goldene Regel buddeln an und stießen auf der Romanprosa lautet, daß eine Bonanza: Schmuckstük- es keine Regeln gibt“, meint ke, Gürtelschnallen, Be- der britische Schriftsteller schläge, Dolche, Zaumzeug, David Lodge, 59, in seinem alles hochkarätig. Die wert- soeben auf deutsch erschie- vollsten Bodenschätze aus nenen Buch „Die Kunst des der Fundgrube in Siebenbür- Erzählens“ (Haffmans Ver- gen sind jetzt in der Schirn lag). Jeder Autor, so Lodge, Kunsthalle in Frankfurt am Kro´l, Petri in „Die tödliche Maria“ müsse sich seine Regeln Main zu besichtigen – zu- selbst erfinden. Ein paar sammen mit 500 anderen Kino in bräunlich-klaustropho- Tips allerdings kann der Kostbarkeiten, die bislang bischen Interieurs: sehr erfolgreiche Romancier noch nie außerhalb Rumä- Der Mann schwer, sehr ernst – und doch („Saubere Arbeit“) schon niens gezeigt werden durf- besser in Szene gesetzt als geben. Die Lodge-Lektionen ten. Unter dem Titel „Gold- nebenan vom jungen deutschen Film über Anfang und Ende, helm, Schwert und Silber- Um sechs Uhr rappelt der gewohnt, mit Anklängen an Spannung und Perspektive, schätze“ werden Statuetten Wecker, jeden Morgen. Die Kino-Phantasten wie Cro- über einen „Hauch von aus der Stein- und Juwelen Hausfrau kocht Kaffee, legt nenberg, Lynch, Kaurismäki Vergangenheit“ oder auch aus der Bronzezeit, dazu den Anzug des Gatten her- oder die Gebrüder Coen. Er „Metafiktion“ und „Inter- aus, versorgt dann den bett- kann eine ganze Menge, der textualität“ sind so brillant lägerigen Vater. Kleinbür- Debütant aus Berlin – in Bil- verfaßt, daß der Respekt vor ger-Trott. Doch nebenan dern denken, mit Farben und den Tricks und Techniken wohnt ein Mann mit kindli- Geräuschen die Atmosphäre der Erzähler nur wachsen chen braunen Augen, der auf ins Unheimliche heben, seine kann. Sollte das vielleicht seinem Weg zur Arbeit zum Schauspieler beflügeln. Nur der geheime Zweck des Bu- Küchenfenster hochschaut, fehlen der Story die Überra- ches sein? Ein Satz der jeden Morgen. Ein sonderbar schungen. Was soll schon ge- Lodge-Kollegin Joyce Carol versponnenes Filmdebüt hat schehen, wenn eine unter- Oates, die an der Universi- Tom Tykwer, 28, abgeliefert: drückte Frau sich endlich ge- tät von Princeton „Kreatives „Die tödliche Maria“ läuft gen Ehemann (Peter Franke) Schreiben“ unterrichtet, legt jetzt in deutschen Kinos. Die und Vater (Josef Bierbichler) diese Vermutung nahe. Vie- Geschichte der an ihrem erhebt, weil sie ihr Herz für le Studenten, glaubt die trostlosen Leben schier er- den Mann von nebenan amerikanische Autorin, wür- stickenden Maria, gespielt (Joachim Kro´l) entdeckt hat? den am Ende „zwar keine von Nina Petri, pendelt zwi- Genau. Maria wird zur tödli- Schriftsteller, aber bessere schen Alltag und Alptraum, chen Maria. Leser werden“. Thrakischer Goldhelm

Verlage Auf nach Berlin Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, 69, erwägt eine Ausdehnung seines Frankfur- ter Imperiums nach Berlin: Leiter des ge- Henkelgefäß planten „Berlin-Verlages“ könnte Arnulf Conradi, 49, werden, bis vor zwei Monaten vorgeschichtliche Töpfereien Cheflektor des Frankfurter Konkurrenz- und, wie auch anders, jede hauses S. Fischer. Conradi prüft derzeit al- Menge Waffen aus 6000 Jah- lerdings noch andere Angebote. Gesprä- ren balkanischer Geschichte che gab es zuvor auch mit dem Unseld- Unseld ausgestellt. Als Symbol der Sohn Joachim, 40, der als Kronprinz vor bis Mitte April dauernden längerer Zeit entmachtet worden war, aber folgreichen Rowohlt-Konzept nacheifern: Ausstellung dient ein beson- noch rund 20 Prozent des Suhrkamp-Verla- Der 1990 gegründete Verlag Rowohlt Ber- ders augenfälliges Pracht- ges besitzt. Conradi, der beste Kontakte zu lin macht mittlerweile gute Umsätze. stück: ein aus reinem Gold- angelsächsischen Agenten und Autoren „Berlin ist groß“, sagt Rowohlt-Verleger blech gehämmerter und unterhält, könnte das auf deutsche und Michael Naumann zu Unselds Projekt. wahrhaft fabelhaft dekorier- südamerikanische Literatur konzentrierte „Freilich: Frankfurt ebenso. Dann gründen ter Helm, der einst ein thra- Suhrkamp-Programm ergänzen. Eine Ber- wir eben Rowohlt Frankfurt – warum kisches Fürstenhaupt wehr- liner Unseld-Dependance würde einem er- nicht?“ haft krönte.

DER SPIEGEL 5/1994 167 SPIEGEL-ESSAY Bosnien und die Deutschen

GÜNTER FRANZEN

er sie sind, gern sein würden oder aber um keinen als bis zum Überdruß abgeschrieben, abgefeiert, abgegessen Preis sein wollen, erfahren die Deutschen seit der gilt: Vor unseren Augen findet ein Völkermord statt. W Gründung der Bundesrepublik durch die regelmä- Dieser Mord zielt auf die Vernichtung von 1,9 Millionen ßige Befragung von Ausländern. bosnischer Moslems. Da dieses mit politischen und ökono- Einer von ihnen, der Amerikaner Walter Abish, notier- mischen Mitteln nicht zu verhindernde Vorhaben die Pla- te 1980 in seinem Roman „Wie deutsch ist es“, daß man nungsphase längst verlassen und unter den gegenwärtig herr- den Deutschen vor allem an der Neigung erkenne, in dieser schenden Witterungsbedingungen gute Aussichten hat, übers oder jener Frage einen Standpunkt zu vertreten, einzuneh- Jahr seiner Endlösung zugeführt zu werden, ist, wann, wenn men und zu verteidigen: Ein Haus, ein kahler Hügel, ein nicht jetzt, die Desillusionierung der serbischen Variante des Baum in Blüte, ja selbst etwas so Flüchtiges wie eine vorbei- Wahns vom Reich durch das militärische Eingreifen der Eu- ziehende Wolke würden aus ihrem oberflächlichen Alltags- ropäer unter Einbeziehung der Deutschen überfällig. dasein erlöst und von einer Anhöhe aus, dem Standpunkt Die Deutschen an die Front. Das sagt sich nicht leicht eben, einer gründlichen, von erheblichen begrifflichen An- dahin. Das sagt sich nicht leicht dahin für einen guten Deut- strengungen begleiteten Sichtung und Bewertung unterzo- schen, der sich der Taten eines Vaters inne wird, der den gen. Landstrich, von dem hier die Rede ist, in den Jahren von Es sei dahingestellt, ob wir diese ironische Geißelung der 1943 bis 1944 als Besatzungsoffizier heimsuchte und des- notorisch profunden Gemüts- und Gesprächskultur auf der sen Sohn zur Abwendung des möglicherweise in ihm Soll- oder Habenseite unserer dauerschwankenden kollekti- schlummernden Erbes seit 1968 morgens in der FAZ nach- ven Identität verbuchen dürfen – fest steht, daß den Grals- zulesen pflegt, was er sich tagsüber zu denken verbietet, und hütern dieser Kultur im bosnischen Kriegswinter 1993/94 bei in der FR vorfindet, was er anstandshalber zu denken der Einnahme eines Standpunktes der Rang von einem jener hat. konsumfreudigen, durch die Frankfurter Freßgaß schlen- Das sagt sich nicht leicht dahin, und das bliebe sicher un- dernden Passanten abgelaufen wurde, der am 19. Dezember gesagt, wenn es im 1001. Anlauf denn doch einmal gelänge, auf die Frage eines Reporters des Hessischen Rundfunks, die Henker & Metzger mit der Beschreibung von kahlen was er denn von den Vorgängen auf dem Balkan halte und Hügeln, blühenden Bäumen, vorüberziehenden Wolken und wie er sich dort zu engagieren gedenke, ohne Umschweife anderen wunderbaren Flüchtigkeiten in Schach zu halten antwortete: „Bosnien? Geht mir am Arsch vorbei.“ und zu besänftigen. Statt auf die im Feuilleton beliebte Frage auszuweichen, Aber der elende Skribent ist nicht Scheherazade, die Fe- ob sich der junge Mann im Besitz eines Hauptschulabschluß- der ist eine nahkampfuntaugliche Waffe, und der florierende zeugnisses befindet, mithin womöglich überhaupt nicht weiß, Schlachthausbetrieb von Omarska ist nicht mit flammenden wovon er redet, wenn er aufgefordert wird, einen Wimpern- Appellen und aus sicherer Entfernung und großer Höhe ab- schlag lang seinen gol- geworfenen milden Ga- denen, von Papas Kre- ben stillzulegen, son- ditkarten und den dern mit Luftlande- Markenzeichen Chevi- truppen, die ihr bluti- gnon, Levis, Versace ges Handwerk beherr- oder Diesel gespurten schen. Lebensweg in Frage Woher kommt diese stellen zu lassen, sollte Wut? fragt die immer- man dem adoleszenten grüne Antje im SPIE- Stammler dankbar GEL im Hinblick auf sein. die Verdammung der Dankbar, weil sein aus dem Ruder der bescheidener, an den „political correctness“ Ausscheidungsorganen gelaufenen Dichterfür- orientierter Sprach- sten Walser und schatz ins Bewußtsein Strauß. hebt, was die verkabel- Ja, woher kommt sie te Mehrheit denkt und denn wohl, die altböse die denkende Minder- Wut, liebe Frau Voll- heit so natürlich nie- mer? Vielleicht speist mals ausdrücken wür- sie sich aus dem Unbe- de. Dankbar auch, hagen an einem autisti- weil die Lakonie der schen Gemeinwesen, Auskunft zur Präzisie- das sich im Gehäuse rung eines Sachver- seiner Schreckensge- halts zwingt, der im schichte so überaus be- Jargon der Infotain- haglich einzurichten ment-Branche längst wußte.

168 DER SPIEGEL 5/1994 Werbeseite

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Vielleicht resultiert sie aus der bitteren Einsicht in die von Sie sorgen für die Herstellung vorübergehender kollekti- Ralph Giordano diagnostizierte „Schwerkraft des Unterge- ver Erregungszustände, die die für die Auseinandersetzung gangenen“, die neben den knirschenden Schaltstellen der mit den auswärtigen Angelegenheiten notwendigen Rest- Macht auch die Sprachzentren der auf Lehrstühlen und in energien nahezu vollständig binden. Was übrigbleibt, wird in Gesamtschulen ihrer Berentung entgegendämmernden Alt- Auschwitz investiert. linken paralysiert, die ihre mäßig interessierte jugendliche Laufkundschaft seit Jahrzehnten mit den kitschtriefenden Versatzstücken aus dem Stabilbaukasten des kleinen Antifa- ie von Henryk M. Broder erneuerte Mutmaßung, schisten behelligen. daß die Deutschen den Juden Auschwitz niemals „Wehret den Anfängen“, „Der Schoß ist fruchtbar noch“, D verzeihen werden, geht von der psychoanalytisch zu- „Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“. Diese ver- nächst plausibel erscheinenden Prämisse aus, daß der An- kommenen, im erhabenen Faltenwurf der politischen Auf- blick eines überlebenden Juden im Deutschen gewisse, aus klärung einherschreitenden Parolen zieren mittlerweile die der zwangsweisen Evokation von Schuldgefühlen entsprin- Abtritte aller Schülerläden und Krabbelstuben zwischen gende Unlustgefühle weckt, die er sich hätte ersparen kön- Konstanz und Flensburg und haben ihren volkspädagogi- nen, wenn es seinen Ahnvorderen vergönnt gewesen wäre, schen Nutzen hinlänglich unter Beweis gestellt. Arm in Arm mit den angloamerikanischen Anhängern der Keiner geht hin, und wer hingehen will, um die Opfer zu Appeasement-Politik seinerzeit ganze Arbeit zu lei- bergen, der braucht für den Spott nicht zu sorgen. Daniel sten. Cohn-Bendit, Christian Schwarz-Schilling, Stefan Schwarz: Der kaltblütige Umgang mit der unter den Teppich des ein aufs tote Gleis der Europa-Politik abgedrifteter Apo-Ve- öffentlichen Interesses gekehrten Liquidierung der bosni- teran, ein abgehalfterter Postminister und ein kleiner CDU- schen Moslems beweist, daß Broders Diktum den Tatbe- Nachwuchspolitiker, der seinen mutigen Einsatz für Sarajevo stand der böswilligen Verleumdung erfüllt, weil das Gegen- kürzlich mit einer Niederlage bei dem Versuch bezahlt hat, teil zutreffend ist. ein Direktmandat zu erringen. Die Deutschen sind den Juden für Auschwitz dankbar, Drei glorreiche Interventionisten, das ist alles, was der mehr noch: Ohne Auschwitz, ursprünglich der polnische Ort vielbeschworene, weltweit Angst und Schrecken verbreiten- eines nationalsozialistischen Vernichtungslagers, heute eine de deutsche Militarismus derzeit zu Lande, zu Wasser und der moralischen Mehrwertschöpfung dienende Zentralmeta- in der Luft zu bieten hat. pher, wären die Deutschen verloren und sähen sich eines Vom Blitzkrieg zum Slapstick: An der Spitze seiner „star- kollektiven Abwehrmechanismus und spezifischen Krank- ken“ (Eigenwerbung), in Schützenpanzern verkrochenen, heitsgewinns beraubt, der es ihnen erlaubt, seit knapp 50 von Pakistanern, Italienern und Amerika- Jahren eine Scham auszustellen, die ihre nern dreifach gepamperten Truppe stolpert Handlungsunfähigkeit in der Gegenwart ad in der Gestalt Volker Rühes ein Verteidi- „Die Passagiere des infinitum mit den höheren Weihen der so- gungsminister durch die somalische Wüste, genannten Vergangenheitsbewältigung legi- der aussieht, als habe ihn seine Mama vor Butterkreuzers timiert. dem Abflug in den Sandkasten ermahnt, beschäftigen sich mit Der inneren Logik dieser längst entäu- sich nicht schmutzig zu machen und vor Ein- ßerten Selbstbezichtigungsprozesse fol- bruch der Nacht an die heimischen Fleisch- sich selbst“ gend, gerät das Absurde in den Bereich töpfe zurückzukehren. des Möglichen. Gelänge es Saddam Hus- Bevor wir den Serben in den Arm fallen, rät Hans Ma- sein im zweiten Anlauf, Giftgasraketen auf die Zivilbevölke- gnus Enzensberger, sollten wir den Bürgerkrieg im eigenen rung von Tel Aviv und Jerusalem zu richten, dürften die Is- Land austrocknen: Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solin- raelis mit dem Beistand der Deutschen nicht rechnen. Die gen. Da die von unbedingtem Entrüstungswillen konterka- vom irakischen Diktator als „edle Seelen“ bezeichneten rierte innere Wehrbereitschaft derzeit am jährlichen Pro- Freunde des ewigen Friedens säßen bei rückstandskontrol- Kopf-Verbrauch von Haushaltskerzen und Teelichtern ge- liertem Kaffee und Kuchen, leisteten Erinnerungsarbeit, bil- messen zu werden pflegt, ist es um die Durchsetzung dieser deten Lichterketten und sonderten die gängigen Emotionen Prioritätenliste an beiden Fronten nicht gut bestellt. im handelsüblichen Dreierpack ab: WUTTRAUERUND- BETROFFENHEIT. In dem 1957 erschienenen Gedichtband „Die gestundete ie durch westliche U-Bahnhöfe und Fußgängerzonen Zeit“ schrieb die Dichterin Ingeborg Bachmann unter der streifenden ostdeutschen Wachleute, die die hinfälli- Überschrift „Alle Tage“ einige schöne, von pazifistischem D gen Teilnehmer des ewigen Winterschlußverkaufs Verweigerungswillen durchdrungene Zeilen, die ihren litera- vor Handtaschenräubern, Junkies, Glatzen und anderen un- rischen Ruhm begründeten: begreiflichen, an den Rändern des Wohlstandsparadieses Der Krieg wird nicht mehr erklärt, ausbrechenden Naturgewalten schützen, erhalten einen sondern fortgesetzt. Das Unerhörte Stundenlohn von vielleicht zehn Mark brutto, während die ist alltäglich geworden. Der Held westliche kriegführende Allianz für die Abwicklung des bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache schmutzigen Golfkrieges mit elf Milliarden Mark abgefun- ist in die Feuerzonen gerückt. den wurde. Die Preisdifferenz ist erheblich. Die Abstinenz ist ihr Geld wert. Dieser Text lädt zu verschiedenen Sichtweisen ein. Der Womit aber sind die Passagiere des vor sich hindümpeln- Serbenführer Radovan Karadz˘ic´, von dem es heißt, daß er den Butterkreuzers beschäftigt, während sie die anderen für auch einmal ein Lyriker gewesen sei, hat es, wenn er ihn ge- sich kämpfen lassen? Im Zweifelsfall mit sich selbst und der lesen hat, vorgezogen, ihn auf seine Weise zu interpretieren. Abwendung der in den eigenen vier Wänden drohenden Wenn ihn jemand daran hindern wird, wir, die Deutschen, Apokalypse: Die Asbestverseuchung, der Kindesmißbrauch, werden es ganz gewiß nicht sein. Y die aus den Kleiderschränken quillenden Formaldehydaus- dünstungen und die bei der täglichen Naßrasur freigeworde- Günter Franzen, 47, arbeitet als Psychotherapeut an der Jo- ne Fluorchlorkohlenwasserstoffe sind beliebte, allerdings er- hann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt, veröffentlich- heblichen saisonalen Schwankungen unterworfene Reizthe- te zuletzt den Roman „Der Mann, der auf Frauen flog“ (Ro- men. wohlt Verlag).

170 DER SPIEGEL 5/1994 Werbeseite

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Stein-Inszenierung der „Orestie“ in Moskau*: „Ihr werdet nie verstehen, was bei uns vor sich geht“

Theater Ein Handkuß für Athene SPIEGEL-Redakteurin Doja Hacker über Peter Steins Inszenierung der „Orestie“ im Moskauer Armeetheater

erade noch schienen auf der gewal- Stunden am Tag probiert, hat die 2500 Rußlands heute zu begreifen, findet sie tigen Bühne die Verhältnisse end- Jahre alte Trilogie weitergedacht. Das „geradezu lächerlich“. Das sei der Ver- Glichgeordnet,geradehattendieGe- ist alles. Die Idee eines Erdbebens am such, westliche Maßstäbe an die russi- schworenen, ein bißchen erschrocken Ende war ihm schon damals gekommen, sche Gegenwart anzulegen, Maßstäbe, vom hohl klingenden Geräusch, ihre 1980 an der Berliner Schaubühne. Jetzt die nicht greifen: „Ihr aus dem Westen Stimmsteine in die Tongefäße fallen las- hat er den „etwas blödsinnigen“ Einfall werdet nie verstehen, was bei uns vor sen – hatte ein demokratisches Rechtssy- eben durchgeführt. Der Rest sei sich geht.“ stem die Blutrache abgelöst –, da bricht „Remake“. „Das wär’s.“ Und wie gelingt es ihr, zu verstehen? der Tumult aus unter den Versammelten. „Andererseits“, der Meister wird eine „Mit orthodoxem Glauben“, antwortet Stühle fliegen, der Boden hebt sich und Spur weicher, „ist es schon faszinierend, sie so prompt, als könne es eine andere bröckelt. Die Delegierten dreschen mit ein Stück über die Einführung der De- Wahrheit nicht geben, „der ist viel tiefer hölzernen Armlehnen aufeinander ein. mokratie zu inszenieren in einem Land, in unserem Volk verwurzelt, als ihr „Ganz genau sogeht esinunserem Par- in dem dieser Versuch gerade zum er- Westler einsehen wollt.“ lament zu“, ruft der Theaterwissen- stenmal gemacht wird, zum erstenmal Die hagere Frau mit den herunterge- schaftler Wladimir Koljazin aus dem Pu- im Jahre 1994, bißchen spät vielleicht.“ zogenen Mundwinkeln und den glühen- blikum in den aufbrausenden Beifall hin- Das ist es, eine so selbstbewußte Be- den Augen, eine trotzige Fundamentali- ein, „ganz genau so, das ist genial!“ wertung der historischen Ereignisse ih- stin, ist das Problemkind des „Orestie“- Regisseur Peter Stein, 56, will mit die- res Landes, was die Schauspielerin Jeka- Ensembles. Noch einmal vor die Wahl ser Deutung nichts zu tun haben. Er hat terina Wassiljewa „einfach anmaßend“ gestellt, würde sie in dieser Aufführung die „Orestie“ von Aischylos inszeniert, findet an Peter Stein. nicht mehr mitspielen, „nie im Leben“. zum zweitenmal in seinem Leben und fast Wassiljewa, die Klytämnestra, haßt Und dennoch hat die harsche Dame, ohne Veränderung. Basta. den, wie sie sagt, „grellen sozialpoliti- die jeder in Moskau als große Tragödin Er hat sie inszeniert in einer Sprache, schen Charakter“ der Aufführung. Das kennt, die intensivsten Momente in die- die er nicht spricht und die er nicht ver- Stück als Gleichnis für die Situation sem achtstündigen Spiel. Ihre Klytä- steht, mit Schauspielern, die seine Spra- mnestra ist zugleich verletzt, furchterre- che nicht verstehen. Er hat bis zu zwölf * Mitte: Tatjana Dogiljewa (Elektra). gend autoritär und voller Liebe.

172 DER SPIEGEL 5/1994 „Ach was“, wischt Stein ihre Vorwür- „Im Begreifen der Dinge zwischen fe zur Seite, „wir hatten unterschiedli- den Zeilen sind die Moskauer Weltmei- che Auffassungen von Arbeitsdisziplin, ster“, erklärt Wladimir Koljazin. Es mehr nicht.“ Es gebe schon ein paar bleibt etwas Unheimliches zurück von russische Eigenschaften, die das Arbei- dieser Reaktion des Publikums. Dieser ten erschweren: „die Lust am Irrationa- Applaus, ist er wirklich ironisch ge- len, die Schwierigkeit zuzuhören und meint? Und wer wird in Moskau die die Organisation, besser gesagt, die Ab- Mehrheit haben bei der nächsten Wahl? wesenheit von Organisation“. Für einen Koljazin sieht Unheil heraufziehen: Moment verliert er fast seine eiserne „Es ist noch nie gelungen, eine Gefahr Reserviertheit: „Diese Lügen, diese von rechts zurückzudrängen, wir wer- Hintenherum-Tricks, wenn es um Or- den einen russischen Nationalsozialis- ganisatorisches geht, das ist zum Kot- mus bekommen, mit Schirinowski oder zen.“ mit jemand anderem an der Spitze.“ Würde er das Wagnis noch einmal Der von seiner Mutter aus dem Palast eingehen? „Nein.“ getriebene Orest kehrt zurück. Ganz in Die Atriden-Trilogie des Aischylos Weiß hat Peter Steins Kostümbildnerin ist ein Schlachtfest: Agamemnon kehrt Moidele Bickel den naiven Jungen ge- siegreich von seinem Feldzug gegen kleidet. Jewgenij Mironow ist der Publi- Troja zurück und wird erschlagen von kumsliebling, und er weiß das. Gern seiner Gattin Klytämnestra und deren bliebe er friedlich. Aber Orest muß den Regisseur Stein Geliebtem Aigisthos. Mit dem König Vater rächen, Apollon hat es ihm aufge- „Diese Lügen, diese Tricks“ stirbt seine Kriegsbeute, die Seherin tragen. Der Sohn ersticht die Mutter Kassandra, die des Königs Geliebte und wird verrückt darüber. Die „Hunde Eine „Orestie“ für Rußland: Seit Mit- war. Der Mord an Agamemnon soll der Toten“, die Erinnyen, lassen ihn te der achtziger Jahre trägt sich Stein Iphigenie rächen, Klytämnestras liebste nicht mehr aus den Augen. mit diesem Gedanken. Zwei Anläufe Tochter, die Agamemnon dem günsti- Unter der Obhut der Göttin Athene scheiterten. Als „allrussische“ Veran- gen Verlauf seiner kriegerischen Aus- wird schließlich das alte Recht zugun- staltung mit Schauspielern aus mehreren fahrt geopfert hatte. sten des neuen abgesetzt. Auf Blutrache sowjetischen Republiken sollte das Pro- „Wer handeln will, braucht einen folgt das demokratische Rechtssystem. jekt schon vor sieben Jahren realisiert Plan“, sagt der vom Gemetzel überrum- Es wird abgestimmt: Stimmengleich- werden. Stein reiste dafür nach Riga, pelte, verstörte Chor der Athener Bür- heit. Das reicht: Orest ist frei. Tiflis, Taschkent, Irkutsk. An das Zu- ger und dann jenen Satz, der den größ- Und die Erinnyen, die Statthalterin- standekommen dieser Inszenierung, für ten Beifall einheimst in Moskau: „Mehr nen der alten Ordnung? Sie sollen in die eigens ein Theater gebaut werden und mehr neige ich dazu, der Mehrheit Zukunft als Segensgöttinnen allein das sollte, glaubte er im Grunde nie. aus vollem Herzen zuzustimmen.“ Wohl der Athener überwachen. Bei Der zweite Anlauf 1990 galt schon Stein werden sie le- dem „Akademischen Theater der russi- bend mumifiziert und schen Armee“, einem häßlichen Klotz buchstäblich eingebaut am Suworow-Platz, mit schlechter Aku- in die Fundamente der stik und schlechtem Ruf, umgeben von Demokratie. Wie lan- Baustellen, sternförmig im Grundriß, ge sie wohl stillhalten im Volksmund das „Panzertheater“ ge- werden? nannt. Die Bühne ist groß genug, ein Die befriedeten Dutzend Panzer zu beherbergen. Steins Erinnyen sind es, die Anforderungen genügte sie. für den Darsteller des Dafür mißfiel die Idee, daß ein deut- Apollon, Igor Kosto- scher Regisseur dort ein griechisches lewski, die wesentli- Kriegsstück inszenieren würde, dem da- chen politischen Ein- maligen Verteidigungsminister Dmitrij sichten aussprechen. Jasow. Gorbatschow schließlich zwang Ihre Erkenntnis, daß den Marschall, seinen Widerstand auf- ein Bürgerkrieg um je- zugeben. den Preis zu verhin- Das Geld, an dem allein es noch fehl- dern sei, werde von te, besorgte der Münchner Theaterpro- den „Besten im Lande duzent Jochen Hahn, den „nur extreme als Bedingung für die Herausforderungen interessieren“. Zukunft geteilt“. Am Tag, als die Proben begannen, Der Mann Peter am 4. Oktober 1993, fielen die Schüsse Stein ist ihm ein leuch- auf das Weiße Haus an der Moskwa. tendes Vorbild: Intelli- Stein ließ sich nicht von der Arbeit ab- genz, Talent und Ach- halten. Und schon damals scheute er tung vor dem Men- sich nicht, die Russen über ihre eigenen schen in einer Person. Angelegenheiten aufzuklären: Am Daß er mit ihm arbei- Nachmittag des 12. Dezember – mor- ten durfte, dafür dankt gens hatte die Truppe in der „Orestie“ Kostolewski seinem das Abstimmen probiert – gingen die Schicksal. Schauspieler zu ihrer ersten demokrati- schen Parlamentswahl. Später riefen sie * Mit Jelena Majorowa (Athene) und Jewgenij Miro- im Theater an, entsetzt über die ersten „Orestie“-Szene*: Fetter Speck und Süßigkeiten now (Orest). Hochrechnungen. „Wieso wundert ihr

DER SPIEGEL 5/1994 173 Werbeseite

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Werbeseite euch“, fragt Stein, „ihr habt doch heute morgen gespielt, wie es ist, wenn es kein klares Ergebnis gibt. Abstimmen allein reicht nicht aus in einer Demokra- tie.“ Geduld ist notwendig, auch im Thea- ter: Kein Husten ist zu hören während der acht Stunden „Orestie“. Das Publi- kum hat sich gut versorgt, hat Kaffee in Thermosflaschen und belegte Brote mit- gebracht. In der Pause liegt ein gemütli- cher Geruch von fettem Speck im Foyer. Unten werden Bohnenkaffee, Schokola- de, Bonbons verkauft, hinter einer Holz- wand auch Käse, der ist billiger als die Süßigkeiten. Drei elegante Damen mit zinnoberro- ten Lippen, Schauspielerinnen früher, diskutieren die Inszenierung, heftig und unversöhnlich. Ihnen gefallen die jungen Kollegen, besonders Mironow und die Elektra der Tatjana Dogiljewa. Das Stück mögen sie nicht: zu rational, zu in- tellektuell. Ihr größter Protest gilt dem Schmerzgeschrei der Kassandra. Solche Gefühlsausbrüche sind ungewohnt für Moskauer Ohren. Hier leidet man still, man seufzt und stöhnt vielleicht, schimpft auch nach Kräften, aber man schreit sich nie die Seele aus dem Leib. Der Herrscherpalast, das schwarze Haus, wird weiß. Bühnenarbeiter sprit- zen es um. Es muß schnell gehen. Gleich beginnt der „Orestie“ letzter Teil, die „Eumeniden“. Furchtlose Besucher nut- zen die Pause und lassen sich am Regie- pult Autogramme geben. Stein schreibt, kaugummikauend. „Etwas Mystisches muß es geben bei Peter Stein, daß er die Musik der russi- schen Sprache so begreift“, vermutet der Theaterwissenschaftler Koljazin. Und wie erklärt er sich, daß die „Orestie“ hier bisher nie auf russisch aufgeführt wurde? „Ideen der Revolution mit antiken Stof- fen zu illustrieren wäre absurd.“ Brauchen die Moskauer diese „Ore- stie“? „Und wie“, sagt der Mann, „es gibt bei uns ja kein politisches Theater mehr. Das ist einfach von den Spielplä- nen verschwunden.“ Anderthalb Stunden vor Schluß be- ginnt das Wunder dieser Inszenierung: Die bildschöne Athene der Jelena Majo- rowa gleitet aus der Luft auf die Bühnen- erde und wandelt dort wie durch ein Spiegelkabinett. Der Regisseur wird ihr später hingerissen die Hand küssen. Apoll, der eitle Geck, der bezaubernde Komiker, schwingt in langen Spreiz- schritten über die Rampe. Die Erinnyen kriegen zuviel vor Wut, ihre Aufgeregt- heit zeigt die Früchte dessen, was Stein als die „Wonnen der Arbeit“ bezeichnet hatte. Auf der schrecklichen Bühne ist ein Stück helle Welt angebrochen, eine Ko- mödie am Abgrund, etwas Glitzerndes, Hüpfendes, Leichtes. Das Publikum fängt es auf, heiter, glücklich. Y KULTUR

Kulturpolitik Vom Kampf zermürbt Nach langem Hinhalten wollen die Russen der Gothaer Bibliothek wertvolle Beutebücher zurückge- ben. Jelzins Unterschrift fehlt noch.

m deutschen Heiligen Abend ge- schahimfernenMoskauWunderba- Ares: Unverzüglich, so beschloß die staatliche Restitutionskommission, solle die Gothaer Landes- und Forschungsbi- bliothek die ihr nach dem Krieg geraub- ten Bücher zurückerhalten. Später trat Kulturminister Jewgenij Si- dorow mit der frohen Kunde vor die Ka- meras des Kölner „Kulturweltspiegels“: Holzschnitt („Hure Babylon“) der Gothaer Lutherbibel: Pfropfen aus der Flasche? Die Rückführung werde „jetzt durch ein Dekret des Präsidenten, ohne das Parla- 330 000 Bücher erhielten die Gothaer Die Russen begannen bereits, die ment“, geregelt. „Wir schämen uns, daß 1956 als „gerettetes“ Kunstgut zurück, 5815 Bücher einzupacken, darunter es so lange gedauert hat“, entschuldigte wie die Kriegsbeute unter den Genossen Schätze wie eine auf Pergament ge- sich Sidorow bei den Deutschen. Die schöngeredet wurde. Vieles aber blieb druckte Lutherbibel mit Holzschnitt- ARD sendete den Beitrag am 23. Ja- weiterhin verschollen. illustrationen aus dem Jahr 1541. nuar. Jahre später wurden Tausende angeb- Plötzlich jedoch ging nichts mehr. Tatsächlich reagierte der Kulturmini- lich vergessener Werke mit Gothaer Ständig tauchten neue Bedingungen ster auf einen SPIEGEL-Artikel vom 13. Stempel in Moskauer Kellern entdeckt. auf, bis Winogradow, „vom Kampf mit Dezember (50/1993), in dem berichtet Andere vergammelten in einer Kirche den Bürokraten zermürbt“, schier ver- wurde, geraubte Schätze würden bereits nahe der Hauptstadt, einem Beutedepot zweifelte. „unterderhand verhökert“. Der Minister für insgesamt 1,5 Millionen Bücher. Auch vergangene Woche gab es wie- hatte diese Informatio- 1991 entdeckten russi- der einen Dämpfer: Die deutsche Bot- nen zwar in einem Brief sche Journalisten das schaft in Moskau meldete, eine Ent- an die Bundesregie- Depot. Und seither be- scheidung sei noch immer nicht gefal- rung dementiert, sein mühten sich die Gothaer len, Jelzin habe das von Sidorow ange- Stellvertreter Michail um Rückgabe. Die deut- kündigte und schon im Dezember for- Schwydkoi hingegen be- sche Seite unter Leitung mulierte Dekret nach wie vor nicht un- stätigte sie. des Generaldirektors terschrieben. Anfang voriger Wo- der Deutschen Biblio- Also ist neuerlich die Politik am Zu- che nun gelangten Infor- thek in Frankfurt und ge: Im Februar will Außenminister mationen aus Bonn und Leipzig, Klaus-Dieter Kinkel, mit Papieren zum Thema Beu- Moskau nach Gotha, Lehmann, wurde sich tekunst im Koffer, nach Rußland rei- daß die Sendung „inner- mit ihrem Gesprächs- sen, gefolgt im März von Innenmini- halb der nächsten Tage“ partner, dem Moskau- ster Kanther, der mit Sidorow das eintreffen werde. Begei- er Sozialwissenschaftler weitere Vorgehen abstimmen möchte. stert erklärte der Go- Wladimir Winogradow, Und im Mai besucht Kanzler Kohl sei- thaer Bibliothekschef bald einig. Ende 1992 nen Freund Boris Jelzin. Allerspäte- Helmut Claus, endlich Minister Sidorow schien klar, daß die Go- stens dann wohl wäre dessen Unter- komme nun der „Pfrop- „Wir schämen uns“ thaer Bücher retourniert schrift fällig. fen aus der Flasche“ bei würden, zumal gerade Deutsche Museumsleute, die für ihre den Bemühungen um die Rückkehr von eine deutsch-russische Rückgabeverein- Häuser noch weitaus wertvolleres Beu- Beutekunst. Insgesamt werden die nach barung für Kunstbeute aus dem Zwei- tegut zurückerhoffen, fürchten aller- Osten verschleppten Schätze auf bis zu 2 ten Weltkrieg getroffen worden war. dings, daß ihnen die in Aussicht ge- Millionen Kunstwerke und 15 Millionen Als Gegenleistung versprachen die stellten Gegenleistungen für die Go- Bücher taxiert. Deutschen Computer und eine Druk- thaer Bücher die Preise verderben. 400 000 Bände, zum Teil wertvolle kereiausrüstung im Wert von über ei- Wenn etwa die Bremer Dürer-Zeich- Stücke aus dem 16. Jahrhundert, lager- ner Million Mark. Hilfreich schien zu- nungen und Schliemanns Troja-Gold ten in der Gothaer Bibliothek auf dem ein Bücherprogramm der Bundes- entsprechend aufgewogen werden sol- Schloß Friedenstein, als nach Kriegsen- regierung für Osteuropa, daß auch mo- len, wären die Deutschen überfordert. de sogenannte Trophäen-Kommissio- derne Publikationen für wissenschaftli- Die 1992 getroffene Rückgabeverein- nen der Roten Armee eintrafen; 1946 che Einrichtungen zur Verfügung barung wäre dann nur ein Fetzen Pa- wurde fast alles abtransportiert. stellt. pier. Y

DER SPIEGEL 5/1994 177 KULTUR

Entsorgungspark, zur Ehe. Lenz hatte Literatur immer Goethe nachgeklappert, seinem Herzbruder in den Straßburger Jahren; Friederike Brion aus Sesenheim him- melte er erfolglos an, ebenso die Frau Weibchen von Stein. Das war dann wohl die rätsel- volle „Eseley“ (Goethe), die den einsti- gen Herzbruder, mittlerweile Geheimer erkannt Legationsrat zu Weimar, bewog, Lenz vom Hofe zu verbannen; und ihn in Par- Nach zwei Jahrhunderten sind sie aufgetaucht – die Sexualthe- sen des Goethe-Freundes Lenz. BESTSELLER

ie wahr: „Der Geschlechtertrieb BELLETRISTIK ist die Mutter aller unserer Emp- Wfindungen“; er sei „ein Institut, Grisham: Die Akte (1) das die ganze Natur umfängt, um alles, 1 Hoffmann und Campe; was lebet, glücklich zu machen“; doch 44 Mark leider habe diese, auch „Konkupiscenz“ (Begierde) genannte Leidenschaft die Pilcher: Wilder Thymian (2) „Gewalt des Pulvers“: Sie wächst, „je 2 Wunderlich; 42 Mark größer der sie einschränkende Wider- stand ist“. Gordon: Der Schamane (3) Also schrieb, ums Jahr 1772, ein vom 3 Droemer; 44 Mark öden Livland ins fidele Straßburg ent- laufener Theologie-Student im Pulver- Zimmer Bradley: Die (4) dampf seiner 21 Jahre; schrieb es für ei- 4 Wälder von Albion ne Herrenrunde, die sich moderne Ge- W. Krüger; 49,80 Mark danken machte, während noch „blinde Eifferer“ den Ursprung des Geschlech- Clavell: Gai-Jin (5) tertriebes „in der Hölle“ suchten. 5 C. Bertelsmann; 49,80 Mark Zwei Jahrhunderte waren die „Philo- sophischen Vorlesungen für empfindsa- Pirinc¸ci: Francis – Felidae II (6) me Seelen“ verschollen; nun sind sie da 6 Goldmann; 38 Mark und werfen ein scharfes Licht auf ihren Autor: den „Sturm- und Drang“-Dra- Nooteboom: Rituale (8) matiker Jakob Michael Reinhold Lenz 7 Suhrkamp; 28 Mark (1751 bis 1792), tragischer Sonderling der deutschen Literatur. Gaarder: Sofies Welt (11) Das Aufstöbern der Lenz-„Vorlesun- 8 Hanser; 39,80 Mark gen“ war der Zunft seit jeher Herzenssa- che gewesen. Ein Sherlock Holmes aus Pilcher: Die (9) Schwaben, der anonym bleiben will, 9 Muschelsucher fand ein Exemplar in der British Library Wunderlich; 45 Mark zu London; Christoph Weiß, 34, Lenz- Forscher an der Uni Mannheim, gab die Morrison: Jazz (7) Traktate als Faksimile-Druck heraus*. 10 Rowohlt; 36 Mark „Kein andrer deutscher Autor dieser Zeit“, schreibt Weiß im Nachwort, „hat Grisham: Die Firma (12) der Sexualität einen vergleichbaren Stel- 11 Hoffmann und Campe; lenwert in seiner Anthropologie zuge- 44 Mark wiesen.“ Wahrscheinlich hat auch kein anderer deutscher Autor dieser Zeit die le Carre´: Der (10) Pein unerfüllter „Konkupiscenz“ so 12 Nacht-Manager grell erlitten wie der „Landläuffer, Re- Kiepenheuer & Witsch; bell, Pasquillant“ Lenz. 48 Mark Die fromme Fuchtel seines Vaters, ei- nes pietistisch-protestantischen Pasto- George: Denn bitter (14) ren-Monuments, hatte ihm das Sünder- 13 ist der Tod Bewußtsein tief in die Seele getrieben; Blanvalet; 39,80 Mark und weil er stets arm war wie eine Kir- chenmaus, reichte es nie zum legitimen Hohlbein: Das Druidentor (15) 14 Weitbrecht; 39 Mark * Jakob Michael Reinhold Lenz: „Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen“. Faksimi- ledruck der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1780. Kinkel: Die Puppenspieler Mit einem Nachwort herausgegeben von Chri- 15 Blanvalet; 44 Mark stoph Weiß. Röhrig Verlag, St. Ingbert; 112 Sei- ten; 36 Mark.

178 DER SPIEGEL 5/1994 tien des wahnvollen „Tasso“ zu verewi- gen. Lenzens Fatum, sein unordentliches Leben zwischen Genie und Geistesver- störung, hat Literaten immer wieder ge- reizt, ihn selbst zur Literatur-Figur zu machen; und sein sozialkritischer Schwung verlockte Brecht und Kipp- hardt, seine wichtigsten Dramen, „Der Hofmeister“ und „Die Soldaten“, klas-

SACHBÜCHER Ogger: Nieten in (1) 1 Nadelstreifen Droemer; 38 Mark Wickert: Und Gott (2) Autor Lenz 2 schuf Paris „Herrlichste aller Gaben Gottes“ Hoffmann und Campe; 42 Mark senkämpferisch zu bearbeiten. Just für die beiden Stücke, Grotesk-Komödien Carnegie: Sorge dich (3) finsterster Art, liefern die „Vorlesungen“ 3 nicht, lebe! Wegweiser: Der Hofmeister kastriert Scherz; 42 Mark sich, weil er ein adliges Fräulein ge- Falin: Politische (4) schwängert hat; in den „Soldaten“ emp- 4 Erinnerungen fiehlt Lenz Soldatenbräute, um die ledi- Droemer; 48 Mark gen Krieger von sexuellenRaubzügen ab- Scholl-Latour: Eine Welt (6) zuhalten. 5 in Auflösung Ehe oder Entmannung nämlich sind Siedler; 44 Mark die beiden Pole, zwischen denen Lenz in seinen „Vorlesungen“ die Bewältigung Hawking: Einsteins Traum (5) 6 Rowohlt; 36 Mark der „Konkupiscenz“ diskutiert; als min- der schmerzlichen Ausweg empfiehlt er Zachert/Zachert: Wir (8) Sublimation, die „empfindsame Liebe“, 7 treffen uns wieder in also Händchenhalten und tiefe Blicke. meinem Paradies Es mutet tragisch an, wie sich der sexu- Lübbe; 29,80 Mark alrevolutionäre Schneid des jungen Lenz, Schmidt: Handeln (7) darin durchaus ein früher 68er, den 8 für Deutschland Zwängen der Zeit schickt: Der von der Rowohlt Berlin; 34 Mark Erbsünde (Lenz: „gigantischer Aber- Gore: Wege zum (9) glaube“) befreite Trieb, „die herrlichste 9 Gleichgewicht aller Gaben Gottes“,bleibt letzten Endes S. Fischer; 39,80 Mark ein Quälgeist, den nur Messer oder Ehe erlösen können. 10 Sasson: Ich, Prinzessin (10) Denn auch die schnöde Onanie ist, weil Sultana, und meine Töchter zerrüttend, in jenen Tagen untersagt. C. Bertelsmann; 38 Mark Lenzens Warnung vor der „unordentli- Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (11) chen Befriedigung“: „Behalte also deine 11 Integral; 19 Mark Konkupiscenz gespannt, Jüngling, damit Hacke: Der kleine (12) ihr Pfeil nicht vor dem Ziel niederfalle.“ 12 Erziehungsberater Witzig immerhin, wie der entlaufene Kunstmann; 19,80 Mark Theologe um das Erbübel, die Bibel, her- umkommt: Im Paradies nämlich, beim 13 Krone-Schmalz: Rußland (13) schlimmen Biß von Adam und Eva inden wird nicht untergehen . . . süßen Apfel Sex, war ganz anderes im Econ; 39,80 Mark Spiel. Lenz: „Gott wollte unsere Konku- von Arnim.: Staat piscenz in Bewegung setzen, das konnte 14 ohne Diener nur durch ein Verbot geschehen.“ Und Kindler; 38 Mark der Verlust des Paradieses habe sich für Kennedy: In Vorbereitung (14) Adam „hinlänglich ersezt“, wenn er „sein 15 auf das 21. Jahrhundert Weibchen erkannte“. S. Fischer; 48 Mark „Also – nur frisch geheirathet, ihr Her- ren“, rät der Mann, der womöglich selber Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom nie ein Weibchen erkannte. Seltsamer Fachmagazin Buchreport Wandel; heute sind nur katholische Ka- plane scharf auf den Ehestand. Y

DER SPIEGEL 5/1994 179 KULTUR

Geboten der Staatsrä- Fernsehen son. Vergessen sollte sein, daß Ulrike Mein- hof bis Anfang der siebziger Jahre eine Lack ab bekannte Journalistin gewesen war. Der Südwestfunk holt zwei Die Entscheidung umstrittene Fernsehfilme aus des Intendanten Voß war nicht nur überfäl- dem Giftschrank. lig, sie hätte auch we- nig Anlaß zum Ei- ie Nachricht klang nach Männer- genlob geboten. Doch stolz vor Königsthronen: Peter der Sender verkündete DVoß, 53, ehemaliger „heute“-Mo- stolz, die Aufhebung derator und seit April letzten Jahres In- der Selbstzensur sei tendant des Südwestfunks (SWF), ent- ein „kritischer und schied vorige Woche, daß Ulrike Mein- konstruktiver Beitrag hofs Fernsehfilm „Bambule“ über Mäd- zu politischen Ent- chen in einem Fürsorgeheim dem TV- scheidungsprozessen“. Publikum zugänglich zu machen sei. Schlimmer wiegt, Filmemacher Itzenplitz, Meinhof (1969) 24 Jahre lang lag das TV-Spiel im daß der SWF die allfäl- Fremdartig und spröde Giftschrank des Senders und wurde lige Rehabilitierung nicht ausgestrahlt. Die Verantwortli- des Meinhof-Filmes mit der eines ande- terlegenen Favoriten der SPD nun be- chen hatten 1970, nach der gewaltsamen ren verband, dessen Gegenstand, Mach- wog, seine Bedenken aufzugeben und Befreiung des Kaufhausbrandstifters art und unterschwellige Wirkung den to- sich der Meinung seines Vorgesetzten Andreas Baader durch Ulrike Meinhof, talen Kontrast zu „Bambule“ darstellen: anzuschließen, „Amok“ enthalte „kein den Film aus dem Programm genom- Ebenfalls aus dem Giftschrank holte Voß tödliches Gift, sondern ein heilsames“, men. das TV-Spiel „Amok“, das seit mehr als bleibt sein Geheimnis. Das Verschwin- Spätestens nach dem Selbstmord der einem Jahr unter Verschluß gehalten und den der Ausländerfeindlichkeit in der Terroristin 1976 in Stammheim verwan- nun, an diesem Dienstag um 21.15 Uhr, Republik kann es nicht gewesen sein. delte sich das Sendeverbot vollends in auf Südwest III gesendet wird. Verdruckst und heuchlerisch wirkt, ein unrühmliches Zeugnis medialer Be- Anders als bei „Bambule“ erscheint wie der Sender versucht, die in so un- flissenheit gegenüber vermeintlichen hier die selbstauferlegte Reserve der öf- terschiedlichen historischen Situatio- fentlich-rechtlichen Anstalt nen entstandenen Giftschrank-Filme verständlich. Denn „Amok“, „Bambule“ und „Amok“ mit der Leer- nach dem Buch von Norbert formel gemein zu machen, sie behan- Ehry, wirkt wie eine aus dem delten beide „die Wurzeln der Gewalt“. Gleichgewicht geratene Ein- Solches Gerede verbirgt, was dieser fühlungsübung in rechte Ge- Entgiftungsaktion im Doppelpack zu- walt. grunde liegt: das anstaltsübliche Den- Ein arbeitsloser, sympathi- ken im Links-Rechts-Proporz. scher Ex-Fußballer (Helmut Als wäre der Meinhof-Film (Regie: Zierl) greift zu Mitteln der Eberhard Itzenplitz) durch die lange Selbstjustiz gegen ausländi- Quarantäne – nur das Drehbuch er- sche Drogendealer, als er schien im Wagenbach-Verlag – nicht sieht, wie seine Stieftochter längst um seine politische Wirkung ge- Opfer der Rauschgiftsucht bracht. Wenn ihn die Zuschauer am 24. wird. Zum blutigen Finale Mai dieses Jahres sehen, hat sich das sieht man den durchgedrehten Interesse an ihm notgedrungen in ein Vater mitten in Frankfurt ge- museales verwandelt. zielt Schwarze abknallen. Die Aufmerksamkeit gilt heute weni- Die Absicht, rechte Gewalt ger den empörenden Zuständen in ei- auf Psycho-Probleme zu redu- nem für jene Zeit typischen Fürsorge- zieren, erscheint ohnehin heim, wo junge Mädchen aus Verzweif- schon problematisch. Ein TV- lung einen unkontrollierten Aufruhr Stück zur Ausländerproble- (im Jargon: Bambule) veranstalten. matik nach dem ästhetischen Nach 24 Jahren interessiert mehr die Vorbild des Charles-Bronson- Machart. Filmes „Ein Mann sieht rot“ Und da erwartet den Zuschauer ein einem Millionenpublikum zu Stück, das in der heutigen Medienland- zeigen, bleibt nach Hoyers- schaft fremdartig und spröde aussieht. werda, Rostock und Solingen Meinhof, die als Ziehtochter der Päd- riskant. agogin Renate Riemeck aufwuchs und Programmdirektor Kurt sich als Journalistin immer wieder mit Rittig sah dies zunächst ge- der Heimerziehung beschäftigte, tilgte nauso, als er im vergangenen jeden Hauch von Sentiment. Jahr den Film stoppte (SPIE- Als könne die Schilderung von Ge- GEL 44/1992). Was den bei fühlen die Botschaft des Films beschä- Szenenfoto „Bambule“: Empörende Zustände der Intendantenwahl Voß un- digen, verkneift sich „Bambule“ ein

180 DER SPIEGEL 5/1994 längeres Verweilen bei den lesbischen trag zu zahlen, den Branchenkenner auf Verwirrungen der Mädchen, ihren Ir- 10 bis 40 Millionen Dollar schätzen. „Es rungen zwischen gleichgültigen Eltern istdas erstemal, daß inden USA einer mit und ihren Ausbruchsversuchen in die einer öffentlichen Erpressung so viel Er- sogenannte Freiheit. folg hatte“, höhnte der Talk-Show-Mo- Nur am Ende, als die Anführerinnen derator Jay Leno. der aufsässigen Mädchen erkannt ha- Mit der Zahlung hat sich Michael Jack- ben, daß die liberale Erzieherin (symbo- son fürs erste von ein paar Unannehm- lischer Name: Frau Lack) letztlich die lichkeiten freigekauft. Der Superstar schlimmste Stütze des Heimsystems und muß nicht unter Eid aussagen. Das Zivil- das Vorgehen gegen sie der erste und verfahren, das die Anwälte von Jordan wichtigste Schritt der Revolution ist, Chandler-Schwartz, 14, gegen ihn ange- gönnt sich dieser authentizitätsversesse- strengt haben, wird eingestellt. Und ei- ne Film ein kleines bißchen Schwelgen. nen Strafprozeß wird es höchstwahr- Nach fast einem Vierteljahrhundert scheinlich nicht mehr geben: Nach kali- darf das endlich besichtigt werden. Y fornischem Recht können Opfer von Ge- walttaten nicht zur Aussage gezwungen werden. Stars Larry Feldmann, siegreicher Anwalt von Chandler-Schwartz, triumphierte: „Wenn man sich dieses Trauma imLeben eines normalen Menschen vorstellt, dann Lädierter die sexuelle Sphäre addiert und dann noch Michael Jackson dazunimmt, gibt es eine Menge Streß. Ich bin ziemlich glück- Kämpfer lich mit dem, was wir getan haben.“ „Michael Jackson ist ein unschuldiger Michael Jackson hat sich mit Mann“, meint dagegen sein Anwalt dem hohen Schweigegeld Johnnie Cochran Jr.: „Er hat nicht vor, sich sein Leben und seine Karriere von keinen Frieden erkauft – nur Gerüchten und Verdächtigungen zerstö- einen Waffenstillstand. ren zu lassen.“ Rein juristisch gilt die Unschuldsver- mutung – doch Jacksons ruiniertes Image m Ende hat der Junge gekriegt, läßt sich auch mit einem Millionenscheck was sein Vater seit langem wollte. nicht renovieren: „Das ist Schweige- ABevor der Prominentenzahnarzt geld“, sagt der Hollywood-Anwalt Steve Evan Chandler den Vorwurf, Michael Gelfand. In der Unterhaltungsindustrie Jackson habe seinen Sohn Jordan miß- gilt der Sänger nur noch als beschädigtes braucht, vor einem halben Jahr an die Produkt. Öffentlichkeit brachte und damit einen Jackson, „die leistungsfähige Geld- der größten Skandale in der Geschichte druckmaschine“ (Vanity Fair), war, seit- des Show-Business auslöste, soll er 20 dem der Verdacht auf Kindesmißbrauch Millionen Dollar Schweigegeld gefor- besteht, immer störanfälliger geworden. dert haben. Wegen „Austrocknung“, einem „eitrigen Am Montag letzter Woche erklärte Zahn“ und „Schwindelanfällen“ hatte sich Michael Jackson bereit, einen Be- der Superstar im Herbst letzten Jahres immer wieder Konzerte abgesagt und schließ- lich seine Welttournee abgebrochen. Begrün- dung: Drogensucht. Der 35jährige sei ab- hängig von Schmerz- mitteln und müsse so- fort auf Entzug. Ge- naueres erfuhr die Welt von seinem Anwalt Bertram Fields: „Er konnte noch sprechen, aber sein Bewußtsein hat nicht mehr funktio- niert.“ Die Polizei vernahm immer neue Kinder, durchsuchte Jacksons

* Am 22. Dezember 1993 während einer Presseerklä- Verdächtiger Jackson* rung auf der Neverland- „Ich werde bald alle Fakten auf den Tisch legen“ Ranch.

DER SPIEGEL 5/1994 181 KULTUR

Ranch, das Haus seiner Eltern und et- liche Hotelsuiten. Pepsi-Cola kündigte den Sponsorenvertrag, und der Tour- neeveranstalter Marcel Avram verklag- te den Sänger auf 34 Millionen Dollar Schadensersatz. Aus dem meisthofierten Star der Unterhaltungsindustrie war innerhalb weniger Wochen der meistgesuchte Mann der Welt geworden. Jackson, der sich an einem geheimgehaltenen Ort von seiner Drogensucht kurieren wollte, wurde gejagt und gehetzt. Die englische Tageszeitung The Sun lobte ein Gewinnspiel namens „Spot the Jak- ko“ unter ihren Lesern aus: Wer den Aufenthaltsort Jacksons errate, werde eine Luxusreise dorthin gewinnen. Jackson setzte dagegen nicht, wie die Sensationspresse hoffte, seinem Le- ben ein Ende, sondern nur seiner Flucht. Kurz vor Weihnachten kehrte er, begleitet von zwei Kindern, in die USA zurück, in das Land, wo ihm, sollten sich die Vorwürfe bestätigen, bis zu acht Jahren Gefängnis drohten. Der sensible Star mußte der Polizei erlauben, „meinen Körper zu begut- achten und zu fotografieren, ein- schließlich meines Penis, meines Hin- terteils, meines Unterkörpers, der Hüf- ten und jedes anderen Körperbereichs, den sie wünschten“. Als er, aus Neverland, via CNN eine Fernseherklärung abgab, sah er zwar lädiert aus, gab sich aber kämpferisch: „Ich bin absolut unschuldig“, beteuerte er. „Ich werde bald alle Fakten auf den Tisch legen, die das beweisen. Diese ungeheuerlichen Anschuldigun- gen sind ein Alptraum. Aber ich werde es durchstehen.“ Nun hat er es sich anders überlegt. Michael Jackson zieht einen vorläufi- gen Waffenstillstand und die damit verbundene trügerische Ruhe einer rückhaltlosen Aufklärung vor. Die wäre auch beim besten Willen des Beschuldigten nur noch schwer möglich. Denn für horrende Honorare hat sich längst ein Teil seiner ehemali- gen Angestelltenschaft mit dubiosen Geschichten als Belastungszeugen an die Medien verkauft. Ein Koch, einige Leibwächter, ein Zimmermädchen, ein Chauffeur und andere stehen bei Sen- dungen wie dem Boulevardmagazin Hard Copy unter Vertrag. Und die amerikanischen Rechtsanwälte, die in solchen Fällen kein festes Honorar ver- einbaren, sondern am Schmerzensgeld prozentual beteiligt sind, werden sich wohl vom Erfolg der Chandlers zur Nachahmung inspirieren lassen. Insofern geht es in der Sache Mi- chael Jackson längst nicht mehr nur um Schuld oder Unschuld des Sängers. Es geht um eine Gesellschaft, in der auch das Recht auf dem freien Markt gehandelt wird. Y

182 DER SPIEGEL 5/1994 WISSENSCHAFT PRISMA

Aids kanische Forschergruppe in Bevölkerungswachstum dem Fachblatt The Lancet Geburtenrückgang HIV-Risiko für ein besorgniserregendes Stu- Entschärfte Durchschnittliche Kinderzahl je Frau dienergebnis vor. Danach ist Bombe 12345678 Thailand-Touristen in Thailand für männliche Kenia 1977/78 Bislang gingen die Aids-For- Kunden von Prostituierten Eine „Revolution des Fort- 1993 scher aufgrund von Studien das geschätzte Infektionsrisi- pflanzungsverhaltens“ voll- Jordanien 1976 in den USA und Europa da- ko – beim ungeschützten Ge- zieht sich gegenwärtig in der 1990 von aus, daß die Wahrschein- schlechtsverkehr – mit 0,031 gesamten Dritten Welt: Frauen aus unterschiedlichen Botswana 1984 lichkeit einer HIV-Übertra- etwa 30mal höher als in den 1988 gung von Frauen auf Män- USA oder in Westeuropa. Kulturen, unter verschiede- nen Regimen und aus allen Mexiko 1976/77 ner pro ungeschützten Ge- Während das hohe Anstek- 1987 schlechtsverkehr nur bei et- kungsrisiko in afrikanischen sozialen und wirtschaftlichen Ländern auf die ebenfalls Schichten wünschen sich klei- Pakistan 1975 wa 0,001 liegt, also nur jeder 1990/91 tausendste Kontakt zu einer weite Verbreitung begleiten- nere Familien. Dieses über- Ansteckung führt. Diese der Geschlechtskrankheiten raschende Ergebnis ihrer Bangla- 1975/76 desch 1991 Zahl stand im Widerspruch zurückgeführt wird, scheint Studien verkünden drei US- zu der Tatsache, daß es in ei- diese Ursache in Thailand Demographen in der Febru- Tunesien 1978 nigen afrikanischen und asia- von geringerer Bedeutung zu ar-Ausgabe der Zeitschrift 1988 tischen Ländern in den ver- sein. Bei Männern ohne Ge- Spektrum der Wissenschaft. Jamaika 1975/76 gangenen Jahren zu einer ex- schlechtskrankheit in der Grundlage ihrer Aussage 1989 plosionsartigen Ausbreitung Krankengeschichte liegt das sind 44 Erhebungen aus den der Seuche auch in den hete- Infektionsrisiko dort mit letzten acht Jahren bei mehr desch, sank die Fertilitätsrate rosexuellen Bevölkerungs- 0,012 bis 0,018 noch immer als 300 000 Frauen in 18 afri- zwischen 1970 und 1991 von 7 gruppen gekommen ist. Jetzt deutlich höher als in den Ver- kanischen Ländern südlich auf 5,5 Kinder pro Frau. legte eine thailändisch-ameri- einigten Staaten. der Sahara, 16 lateinamerika- Hauptfaktoren dieses Um- nischen und karibischen schwungs sind, nach Mei- Staaten, 6 Staaten im Nahen nung der Demographen, die Osten und Nordafrika sowie Verbreitung wirksamer Ver- 4 in Asien. Insgesamt sei die hütungsmittel, das höhere Geburtenrate, so die Auto- Alter der Erstgebärenden ren, seit Mitte der sechziger und größere Abstände zwi- Jahre um ein Drittel zurück- schen den Geburten. gegangen. Dramatisch ist der Rückgang in Thailand: Dort Verhaltensforschung sank die Fertilität von 4,6 Kindern pro Frau im Jahre Ohne Gen 1975 auf 2,3 Kinder für 1987. In Kolumbien sank sie zwi- kein Biß schen 1976 und 1990 von 4,7 Instinktiv finden neugebore- auf 2,8 Kindern pro Frau. So- ne Mäuse zu den Milchdrüsen gar in einem der ärmsten der Mutter. Dabei folgen sie Prostituierte in Thailand Länder der Welt, in Bangla- vermutlich einem hormonar- tigen Geruchssignal. Wie die- ses Verhaltensmuster bioche- Astronomie den und 50 Minuten) hätte es noch rund misch gesteuert wird, erkun- 90 Minuten gedauert, bis die durch die deten japanische Wissen- Einschläge ausgelösten Turbulenzen für schaftler mit gentechnisch Crash vorverlegt Beobachter auf der Erde deutlich sichtbar veränderten Mäusen. Durch Mehr Details als bisher angenommen geworden wären. Nach neuen Berechnun- den Gen-Eingriff fehlt diesen werden die irdischen Astronomen von gen des Jet Propulsion Laboratory der Tieren das hirntypische Ei- den Einschlägen des Nasa in Pasadena wird weiß „Fyn“, ein Enzym, das in insgesamt 22 Teile die Einschlagstelle nur vor allem in zwei für die Ge- zerbrochenen Kome- sechs Grad hinter dem ruchswahrnehmung verant- ten Shoemaker-Levy 9 Jupiterrand liegen; da- wortlichen Hirnteilen vor- auf Jupiter (SPIEGEL mit dürften auch noch kommt. Jungtiere mit mattge- 52/1993) mitbekommen. die ersten Turbulenzen setztem Fyn-Gen verhunger- Zunächst war der Ein- nach dem Supercrash in ten, so stellten die Forscher schlagsort der Kome- der Gashülle zu sehen fest, weil ihnen ein Teil des in- tentrümmer auf der erd- sein. Die bei dem Auf- stinktiven Verhaltensschemas abgewandten Seite des treffen der Bruchstücke fehlte: der sanfte Biß in die Planeten, rund 30 Grad (das größte hat einen Brustwarzen der Mutter, der von seinem Rand ent- Durchmesser von 4,3 den Milcheinschuß auslöst. fernt, erwartet worden. Kilometer) frei werden- Wurden die Brustwarzen der Sogar bei der kur- de Energie übertrifft die Muttertiere jedoch zuvor von zen Rotationsdauer des Zerstörungskraft aller normalen Jungtieren akti- Gasriesen Jupiter (ein auf der Erde gelagerten viert, saugten auch die Mäuse- Jupitertag währt 9 Stun- Komet Shoemaker-Levy 9 Kernwaffen. babys ohne FynimHirn an der Milchquelle.

DER SPIEGEL 5/1994 183 WISSENSCHAFT

Fortpflanzung „FREUDE IN JEDEM ALTER“ „Stoppt den Hexenmeister der Retorte“, fordern seine Gegner. Seine Patientinnen rühmen und verehren ihn. Kein anderer Mediziner ist gegenwärtig so umstritten wie der römische Frauenarzt Severino Antinori, der mit modernsten Methoden der künstlichen Befruchtung über 60jährigen noch zum ersehnten Mutterglück verhilft.

as Auffälligste im schlichten War- arabischen Emiraten, stets ist ihm der Patientinnen ihren Herzenswunsch er- tezimmer des römischen Dottore Dank gewiß. „Mein Baby ist ein Engel füllt. DAntinori ist die große Landkarte. und der Dottore ein Heiliger“, sagt, stell- Die Zwillinge, zu denen der Gynäko- Rote Fähnchen, dicht an dicht, markie- vertretend für die anderen späten Müt- loge pünktlich zum Weihnachtsfest der ren den Feldzug, den der Gynäkologe ter, mitsizilianischem Pathos Giuseppina 59jährigen britischen Geschäftsfrau Jen- führt – für Frauen, die unbedingt Kinder Maganuco aus Palermo, die ihr heißer- nifer F. verhalf; die (bisher) glückliche möchten, und sei es noch mit 60. sehntes Baby mit 53 Jahren gebar. späte Schwangerschaft der Signora Del- Der „Kampf“, den Severino Antinori, Die Hüter von Moral und Ethik im be- la Corte; der Versuch der 63jährigen 49, „mit Leidenschaft“ ficht, macht das nachbarten Vatikan, auf dessen Mauern Hebamme Liliana Cantadori, noch ein Unmögliche möglich. Längst ist die Kar- Antinori von seiner Praxis aus blickt, zweites Mal jenseits der Wechseljahre te zu klein geworden. Dem tausendsten denken anders. „Er fabriziert die Kinder ein Kind zu bekommen – jede dieser fro- Retortenbaby zu Ehren wurde eine Par- auf Bestellung wie die Kälber“, wirft ihm hen Botschaften, die Antinori freizügig ty gefeiert. Rund 40 Mütter waren da- Erzbischof Ersilio Tonini vor (gleich- unter die Leute bringt, löste Debatten bei, die eher Großmütter sein sollten. wohl schickt der Monsignore den künst- aus, Empörung und Skandalgeschrei. Frauen, die noch mit 50, 60 Jahren lich gezeugten Kleinen jeweils „tausend „Stoppt den Hexenmeister der Retor- Kinder kriegen – sie sind es, die der un- zärtlichste Grüße“, schließlich sind es te“, „Schluß mit dem Allmachtswahn- scheinbaren Praxis in der Via Properzio Christenmenschen). sinn“ – so lauten die Schlagzeilen über 6 in Rom den Ruch eines Zukunftslabo- Weniger pastoral, aber um so aufge- den Berichten, in denen die Vermessen- ratoriums eingebracht haben. Antinori, brachter reagieren ärztliche Kollegen, heit des Arztes, aber auch der Egoismus ein Experimentator, der sich anmaßt, Politiker und Kommentatoren, wann im- der „Mamme nonne“, der „Oma-Ma- der Natur ins Handwerk zu pfuschen? mer Antinori einer seiner älteren mas“, angeprangert werden, die im Schlichtweg „un pazzo“, „ein Verrückter“,seiAntinori, sagen seine Berufskollegen. Ängste und die Sorge, der naturgegebe- nen Ordnung werde durch ihn Gewalt angetan, weckt er auch bei Laien. Ablehnung, auch pu- rer Haß schlagen dem Babyma- cher entgegen. Die Frauen und ihre Männer, Durchschnittspaare, die auf den unbequemen Stühlen der Praxis stundenlang ausharren, können das nicht verstehen. Der quir- lige Doktor, der sie herzhaft umarmt, gibt ihnen Hoffnung. „Ein Baby in meinem Alter zu bekommen, ist etwas Wunder- bares“, sagt Rosanna Della Cor- te, 63, Bäuerin aus einem Dorf bei Viterbo. Mit gespendeten Eizellen von einer Jüngeren, die im Labor mit dem Samen von Rosannas Mann befruchtet wur- den,istsieschwanger geworden, jetzt im vierten Monat. Wo immer der Zeugungshel- fer seine „Mission“ (Antinori) zum Erfolg geführt hat, ob im nordschwedischen Lulea˚, auf der allersüdlichsten italieni- schen Insel Pantelleria oder in Zeugungshelfer Antinori: „Ich kämpfe für die Freiheit der Frauen“

184 DER SPIEGEL 5/1994 ist eine Freude in jedem Alter.“ Aus seinen Schreibtischschubla- den kramt der Arzt, kaugummi- kauend und gestikulierend, Pa- piere, die ihm aus dem Herzen sprechen. Etwa den Brief von Sandy MacAra, Vorsitzende des Beirats der British Medical Asso- ciation: „Besser eine tüchtige Mutter mit 59 als eine unfähige mit 19.“ Jugend sei noch lange keine Garantie für gute Eltern- schaft, das bewiesen die zahllo- sen vernachlässigten und verlas- senen Kinder Jüngerer. Sexismus und Patriarchenden- ken vermuten nicht nur Frauen hinter der Forderung nach Ver- boten und Altersgrenzen. Men- schen alterten sehr unterschied- lich, kommentierte die britische Wissenschaftszeitschrift New Scientist, „die Menopause ist durchaus kein Maßstab für kör- 56jährige Mutter Blokziel, 63jährige Schwangere Della Corte*: Heißersehnte Babys perliche Fitneß“. Und wo denn die Auflagen blieben für all die alten Tycoons, die wie Clint Eastwood, Yves Montand oder Charlie Chaplin mit über 60, ja beinahe 80Jahren noch Kinder in die Welt gesetzt hätten? Heiliger oder Sünder, Wohltä- ter oder Frankenstein – Antinori selber, der schnauzbärtige Cho- leriker im weißen Kittel, ist von Selbstzweifeln nicht angekrän- kelt. Und mit seinen Kritikern geht er ruppig um: Mit einem Vulkanausbruch endete, vor gut zwei Wochen, der Versuch eines TV-Teams, ihm zur Diskussion seinen ärgsten Widersacher, den britischen Fortpflanzungsmedi- ziner Robert Winston, in die Pra- xis zu schmuggeln. Mitsamt Win- ston („Du bist ein Hooligan, ha- be ich ihm gesagt, ein Bandit, ein Terrorist“) mußte die Truppe vor Antinoris Zorn flüchten. Wer die Ordner aus den Regalen gerissen und verstreut hat, soll vor Gericht geklärt werden. Demonstration für spätes Kinderkriegen*: „Kommt alle, die Kosten trage ich“ Auch die ewigen Sticheleien über den Ferrari und die hohen Rentenalter noch ein eigenes Kind er- argumentierte Bernard Kouchner, ehe- Honorare (etwa 8000 bis 10 000 Mark zwingen wollen. Italien, klagt Gesund- maliger französischer Gesundheitsmini- kostet die Prozedur, die italienische heitsministerin Maria Pia Garavaglia, ster und Befürworter der Vorlage. Krankenkasse zahlt nicht) hat Antinori sei zum Wilden Westen der Fortpflan- Staatspräsident Franc¸ois Mitterrand, satt. Da springt er vom rotgenoppten zungsmedizin verkommen; eine Bio- der 1983 das erste europäische Ethik- Schreibtischsessel und wirft die Arme in ethik-Kommission überlegt, das zulässi- Komitee ins Leben rief, hegt Zweifel: die Luft: „Wie viele Frauen habe ich ge Alter für die künstliche Befruchtung Er habe weder den Mut noch die Auto- schon umsonst behandelt, zum Beispiel per Gesetz zu beschränken. rität, erklärte er zu Jahresbeginn, einer Rosanna oder auch Anita, die Hollände- Womöglich wird Frankreich das erste Frau vorzuschreiben, wann und wie lan- rin, die mit 56 eine phantastische westliche Land sein, das dem Fortpflan- ge sie Kinder gebären solle. Schwangerschaft hatte. Ich bin doch kein zungstrieb rechtliche Schranken setzt. „Ich kämpfe für die Freiheit der Frau- Kaufmann, und dies ist kein Markt.“ Dort wird gegenwärtig ein Gesetzent- en“, sagt auch der Geburtshelfer Anti- Für Spenden allerdings ist die von An- wurf diskutiert, der künstliche Befruch- nori, „ist das ein Verbrechen? Ein Kind tinori begründete Gesellschaft zur För- tung (In-vitro-Fertilisation) jenseits der derung der Reproduktionsmedizin, Menopause verbieten soll. „Irgendwo * Oben: mit Ehemännern; unten: in Rom am „Der fleißige Storch“ geheißen, sehr müssen wir doch Pflöcke einschlagen“, 20. Januar. wohl zu haben: „Wir müssen noch viel

DER SPIEGEL 5/1994 185 WISSENSCHAFT forschen, die Zahl der sterilen Paare senschaftlichen Welt gilt der britische zur Demonstration auf die Piazza della nimmt zu.“ Mediziner Simon Fishel als Erfinder.) Repubblica zu kommen. Gleichzeitig Als Forscher und Pionier sieht sich Antinori sei ein „Promoter“ raffinier- diktiert er Texte für Tafeln und Spruch- der Dottore gern, der außer als Gynäko- ter Retortentechniken, meinen erfahre- bänder: „Jede Frau hat das Recht auf loge seinen Facharzt-Titel auch als Ve- ne Reproduktionsmediziner wie die ein Kind“, und: „Wo bleibt die Hilfe des terinär, Internist und Gastroenterologe Professorin Liselotte Mettler von der Staates für die Unfruchtbaren?“ hat. Beneidet und verfolgt, meint er, Universität Kiel, an der Antinori sich „Kommt alle“, ruft er in den Hörer, werde er von den weniger Tüchtigen sei- Grundkenntnissse erwarb: „Vor allem „die Kosten trage ich!“ Dann legt er sei- nes Faches. Die Technik der „Mikroin- ist er ein engagierter Frauenarzt.“ ner Frau Caterina, Biologin und Ärztin, jektion“, mit der einzelne Spermien di- Das kann dem römischen Hitzkopf den Arm um die Schulter, hält die Fotos rekt in die Eizelle hineinbefördert wer- niemand absprechen. Mit zwei Telefo- seiner beiden Töchter vor die Brust und den (siehe Interview Seite 186), sei seine nen gleichzeitig an den Ohren mobili- sagt: „So bin ich nun mal, ein echter Idee, behauptet Antinori. (In der wis- siert er Kollegen, Freunde und Frauen, Abruzzese: stark und freundlich.“ „Das Volk ist auf meiner Seite“ Interview mit Frauenarzt Severino Antinori über Risiken und Chancen später Mutterschaft

haben Ärzte, die Fortpflanzungsspezia- listen sind, unerwünschte Mehrlinge im Mutterleib umgebracht, das wurde auch bei Ihnen in Deutschland praktiziert. Ich bin für das Leben! SPIEGEL: Mit welchen gesundheitlichen Risiken müssen Ihre Patientinnen bei ei- ner Schwangerschaft in den Wechseljah- ren rechnen? Antinori: Auch hierüber wird soviel Un- sinn verbreitet. Von all den Frauen, die ich wegen Unfruchtbarkeit behandele, haben ja nur fünf Prozent die Menopau- se schon hinter sich. Und die sind topfit, denn ich treffe eine ganz harte Auswahl. Die Frauen müssen sich gründlichen Untersuchungen unterziehen, wer nicht kerngesund ist, hat keine Chance. 600 Frauen habe ich abweisen müssen. SPIEGEL: Wie verkraftet der nicht mehr junge Körper die erforderliche Hormon- behandlung? Antinori: Daß wir unsere konventionel- len Vorstellungen über das Kinderkrie- gen umwerfen müssen, hat in diesem Zusammenhang auch schon Robert Ed- Antinori in seinem Labor: „Wir schneiden den Spermien die Schwänze ab“ wards gesagt, der Vater des ersten Re- tortenkindes. Wir beide haben nachge- SPIEGEL: Mit den Wechseljahren hat die zen. Manche Frauen werden depressiv, wiesen und das auch publiziert, daß mit Natur dem Kinderkriegen Grenzen ge- wenn sie ihre Weiblichkeit nicht mit ei- Hilfe der längst alltäglichen Eizellspen- setzt. Warum wollen Sie die nicht re- nem Kind verwirklichen können, und de und mit hormoneller Unterstützung spektieren? Depressionen sind eine Krankheit. Wir Schwangerschaften auch nach den Antinori: Die Vorstellung von der guten verfügen nun über die Therapien, es wä- Wechseljahren ganz normal verlaufen Mutter Natur und ihren sinnvollen Ge- re grausam, sie nicht anzuwenden. können. Die Gebärmutter altert erst setzen ist doch völlig überholt und wird SPIEGEL: In England wurde die 59jähri- viel später, die Hormongaben liegen nur herausgekramt, wenn es uns gerade ge Jennifer F. mit ihrem Wunsch nach nicht viel höher als diejenigen, die viele paßt. Wir sind ständig dabei, die Natur künstlicher Befruchtung von den Ärzten Frauen ohnehin in dieser Zeit nehmen. zu korrigieren – mit Antibiotika, Trans- abgewiesen. Sie haben ihr zu Zwillingen SPIEGEL: Hat es während der späten plantationen und Bypass-Operationen. verholfen. Haben Sie weniger Verant- Schwangerschaften Komplikationen ge- Wollen Sie diese Errungenschaften, wortungsbewußtsein als die britischen geben? weil die Natur ihren Lauf nehmen muß, Kollegen? Antinori: Ich selbst habe bei diesen Pa- einem Kranken verweigern? Antinori: Ich bin traurig und wütend tientinnen nur zweimal leicht erhöhten SPIEGEL: Unfruchtbarkeit und Altern über soviel Heuchelei. Mit der Abtrei- Blutdruck und einmal eine Gestose er- sind keine Krankheit. bung ist man in England sehr großzügig, lebt*. Wenn wir erst große Fallzahlen, Antinori: Da bin ich ganz anderer Mei- auch noch im fortgeschrittenen Stadium nung. Paare, die sich vergebens ein der Schwangerschaft, für mich als Ka- * Gestose: Syndrom schwangerschaftsbedingter Kind wünschen, leiden enorme Schmer- tholiken ist das Genozid. Und wie oft Komplikationen wie Bluthochdruck und Krämpfe.

186 DER SPIEGEL 5/1994 etwa 1000, haben, werden wir noch ein- drucksvoller zeigen können, daß das Arzneimittel Gerede von den Gefahren nicht zutrifft. SPIEGEL: Welche Techniken der künstli- chen Befruchtung wenden Sie an? Antinori: In meinem Forschungszentrum Heiterkeit erproben wir die neuesten Entwicklun- gen der Mikromanipulation von Eizel- len und Sperma: Wir schleusen bei- auf Rezept spielsweise ein einziges Spermatozoon direkt ins Zentrum der Eizelle, vorher Die Psycho-Pille „Prozac“ (in schneiden wir dem Samenfaden den Deutschland: „Fluctin“) entwickelt Schwanz ab, damit er nicht wieder ent- kommen kann. Um die Chancen der sich zum Welt-Bestseller. Einnistung im Uterus zu steigern, krat- Ist der Seelentröster unmoralisch? zen wir zwei Tage nach der Befruchtung in der Petrischale sozusagen die Mem- bran an, die den Embryo umhüllt, dann m Jahr 632 „nach Ford“ hat sich der haftet er wesentlich besser. neue Weltstaat gefestigt. Ein „be- SPIEGEL: Vergessen Sie über den tech- Itriebssicheres System der Eugenik“ nischen Erfolgen nicht die Interessen sorgt für „normiertes Menschenmateri- der Kinder, die mit alten Müttern bezie- al“. Ausgefeilte Psycho-Methoden ge- hungsweise Eltern aufwachsen müssen? währleisten, daß die Bürger „ihr Skla- Antinori: Das ist die wichtigste Frage, ventum lieben“. Für Abweichler gibt es das überlegen wir sehr gründlich. Die die Glückspille „Soma“, die das gestörte Frauen müssen nicht nur in sehr guter innere Gleichgewicht wiederherstellt. Kondition sein, sie müssen auch, von Die „Schöne neue Welt“ hat der eng- US-Autor Kramer den Eltern her, eine hohe Lebenserwar- lische Autor Aldous Huxley 1932 in sei- Droge für mündige Bürger tung mitbringen und eine Familie ha- nem Roman entworfen. Die Utopie ben, und zwar eine große, mit Onkeln rückt schneller näher, als er dachte. werden Prozac und wirkungsähnliche und Tanten. Singles nehmen wir nicht, In den Pharmalabors wurden wäh- Produkte auch Patienten verschrieben, auch keine Raucherinnen. Sehen Sie rend der letzten Jahre Designer-Drogen die sich davon eine Aufhellung ihrer tri- sich doch meine Patientinnen an, etwa entwickelt, deren Wirkung den von sten Gemütslage, gesteigerte Kreativität die Niederländerin Anita Blokziel, sie Huxley beschriebenen Soma-Pillen ver- oder auch das Nachlassen ihrer Eßgier ist 57, die Schwedin Gee Kim, 53, oder gleichbar ist. Die Psycho-Medikamente, erhoffen. auch die 54jährige Deutsche: Sie sehen darunter vor allem das Antidepressivum Eine zufällig entdeckte Nebenwir- nicht nur blendend aus, sie bringen auch Prozac, versetzen den Konsumenten in kung des Prozac-Wirkstoffs Fluoxetin viel Liebe zu Kindern mit, mehr als manche junge Mutter, die ganz andere Dinge im Kopf hat. SPIEGEL: Wäre es nicht sinnvoller für diese Frauen, Kinder zu adoptieren? Antinori: Die meisten haben das verge- bens versucht. Signora Della Corte, die ihren erwachsenen Sohn durch einen Unfall verlor, hat mit ihrem Mann im- mer wieder in Waisenhäusern nachge- fragt, da hat man sie ausgelacht, wegen ihres Alters. SPIEGEL: In England und Frankreich und auch in Italien wollen Ethik-Komi- tees das Alter für eine künstliche Be- fruchtung gesetzlich beschränken. Was halten Sie von solchen Vorschriften? Antinori: Gar nichts. Die Entscheidung für ein Kind muß der Frau überlassen sein. Dafür werde ich hart kämpfen, Antidepressivum „Fluctin“: Kosmetik für die Seele und das Volk ist auf meiner Seite. Wer verbietet denn einer Frau, die Aids hat, einen Zustand gelassener Heiterkeit, hatte Anfang der siebziger Jahre bei Eli Alkoholikerin oder drogensüchtig ist, die ihn mit der Welt versöhnt und ihn in Lilly die Prozac-Entwicklung in Gang Liebe zu machen und Kinder zu haben? schönster Harmonie leben läßt. gesetzt. Im Lauf der ersten Testreihen Ich bin aber dafür, daß hohe Anforde- Die „Persönlichkeitspille“ Prozac, stellte sich heraus, daß die trübsinnigen rungen gestellt werden – an die Patien- schrieb Time, gelte inzwischen als „hei- Probanden nicht nur fröhlicher, sondern ten und an die Ärzte: Die müssen tüch- ßestes Mittel in der Geschichte der nebenbei auch dünner wurden. tig sein und verantwortungsbewußt. Psychiatrie“. Zum Heer der Prozac- Vermutete Ursache der Verschlan- SPIEGEL: Wie alt wird Ihre älteste Mut- Schlucker zählen weltweit inzwischen kung ist die zielgenaue Fluoxetin-Wir- ter sein, über 70? rund zwölf Millionen Menschen, denen kung auf den Botenstoff Serotonin. Die- Antinori: Nein, da ist Schluß, das gefällt die beige-grüne Kapsel des US-Pharma- ser „Neurotransmitter“ ist für den Si- mir nicht mehr. Keine über 70, das ist konzerns Eli Lilly nicht nur aus schwe- gnalfluß zwischen den Nervenzellen im ein Versprechen. Y ren Depressionen hilft. Zunehmend Gehirn mitverantwortlich. Er kommt

DER SPIEGEL 5/1994 187 WISSENSCHAFT bei Übergewichtigen ebenso wie bei De- pressiven in nur geringer Konzentration vor, weil die angesteuerten Nervenzel- len sich den Serotonin-Boten offenbar zu rasch einverleiben. In diesen Prozeß greift Fluoxetin ein. Der Wirkstoff hemmt die Serotonin- Aufnahme, ohne dabei andere Neuro- transmitter zu beeinträchtigen. Der di- rekte Wirkmechanismus der „selek- tiven Serotonin-Wiederaufnahmehem- mer“ (Fachkürzel: SSRI) erwies sich als Hauptvorteil gegenüber herkömmlichen Antidepressiva mit ihren hinlänglich be- kannten Nebenwirkungen, etwa Be- nommenheit oder Austrocknung von Schleimhäuten. Daß Prozac, in Deutschland seit knapp vier Jahren unter dem Markenna- men Fluctin auf dem Markt, „keine be- deutsamen Nebenwirkungen hat“, macht, wie der Bonner Psychiatrie-Pro- fessor Hans Jürgen Möller konstatiert, „die Verabreichung so angenehm“. Zwar war in den USA kurz nach der Markteinführung im Frühjahr 1988 der Verdacht aufgekommen, Prozac löse bei manchen Patienten Selbstmordge- danken oder Gewalttätigkeit aus. Doch solche Mutmaßungen, die Eli Lilly eine Flut von Schadensersatzklagen eintru- gen und den Prozac-Verkauf vorüberge- hend dämpften, sind inzwischen ausge- räumt. Schon im ersten Verkaufsjahr hatte der Prozac-Umsatz bei 125 Millionen Dollar gelegen, 1993 betrug er weltweit 1,2 Milliarden Dollar. Das im Vergleich zum Vorjahr in den USA erzielte Pro- zac-Umsatzplus von nahezu 16 Prozent führen US-Mediziner und Wall-Street- Experten unter anderem auf ein Buch zurück, das im Frühsommer letzten Jah- res erschien und sofort zum Bestseller aufrückte. Unter dem Titel „Listening to Pro- zac“ berichtete der US-Psychiater Peter Kramer, Professor für klinische Psycho- logie an der Eliteuniversität Brown in New Haven (Connecticut), über seine Erfahrungen mit Patienten, denen er Prozac verordnet hatte*. Kramers Fazit: Seine Patienten fühl- ten sich nach Prozac „nicht nur wieder gut, sondern besser als zuvor“; die Lo- beshymnen des Professors hinterließen tiefe Spuren im Kopf der Leser. Von ei- ner „beginnenden legalen Drogenkul- tur“ berichtete die New York Times – „seit der Valium-Welle“ werde kein an- deres Medikament „so bereitwillig kon- sumiert wie Prozac“. Längst wird Prozac nicht mehr nur Patienten mit schweren Depressionen verschrieben. Mit Prozac bedient wer- den immer häufiger auch sonst Gesun- de, die mit der Selbstdiagnose „Ich bin

* Peter D. Kramer: „Listening to Prozac“. Viking, New York; 412 Seiten; 23 Dollar. so deprimiert“ zu ihrem Hausarzt in die Praxis kommen. Die von Millionen Konsumenten wei- terverbreitete Botschaft, eine unschein- bare Pille habe ihnen Auftrieb ver- schafft, hat unter Medizinern und Sozio- logen inzwischen heftige Debatten aus- gelöst: Wo liegen die Grenzen zwischen seelischer Krankheit und Normalität? In welchen Fällen ist der Prozac-Konsum als Mißbrauch zu werten? Zur Diskussion steht, ob mündige Bürger ein pharmazeutisches Produkt nutzen dürfen, um sich damit drückende Alltagssorgen – Berufsstreß oder Zu- kunftsängste – vom Hals zu schaffen. Einstweilen, so glauben einige kriti- sche Psychiater, widerspreche eine sol- che chemische Lebenshilfe gewissen Kulturmaximen des Westens, etwa der, daß jedermann sein persönliches Schick- sal nüchtern zu meistern habe. Fachleute wie der britische Psycho- pharmakologe Malcom Lader halten da- her die Klärung der Frage für vordring- lich, wann „normales Verhalten als be- handlungsreif eingestuft“ werden dürfe. Während der Prozac-Fan Kramer mit dem von ihm erfundenen Begriff „kos- metische Pharmakologie“ bereits ein neuartiges Fachgebiet eröffnete, beur- teilen deutsche Mediziner die Zukunfts- aussichten der SSRI-Mittel zurückhal- tender und zugleich gelassener. Zwar räumt der Bonner Psychiater Möller ein, daß Fluctin (Prozac) das „Arsenal zur Bekämpfung von Depres- sionen bereichert“ habe. Doch einen Boom wie in den USA wird es laut Möl- ler wegen der hohen Kosten für eine Fluctin-Therapie nicht geben – Minister Horst Seehofers Sparkurs werde den Aufstieg des Seelentrösters bremsen. Nichtdepressive Normalverbraucher, die sich auf Privatrezept aufheitern möchten, kämen bei einem Preis von derzeit 4,55 Mark pro Fluctin-Kapsel übers Jahr auf rund 1500 Mark. Darüber hinaus, glaubt Möller, stün- den deutsche Mediziner wie ihre Patien- ten hochgelobten Pharmanovitäten „eher skeptisch“ gegenüber; im übrigen löse Fluctin – allen Lobeshymnen zum Trotz – manchmal doch ein paar lästige Nebenwirkungen aus, darunter Erekti- onsstörungen und Orgasmusprobleme, wie sie auch von den klassischen Antide- pressiva verursacht werden. Die hohe Zahl der Patienten, die bis- her mit Prozac zufriedenstellend behan- delt wurden, mache es „unwahrschein- lich, daß weitere unerwünschte Wirkun- gen auftreten“. Auszuschließen sei das jedoch nicht. Bei einer ähnlich erfolgreichen Glückspille, dem Tranquilizer Valium, habe sich erst nach vielen Jahren ein ge- fährlicher Suchteffekt gezeigt. Möller: „Auch bei Fluctin kann der Hammer noch kommen.“ Y WISSENSCHAFT

Forschungspolitik Beleidigter Stolz Wechsel an der Spitze des Wissen- schaftsrates. Zu laute Kritik hat den bisherigen Chef seinen Posten gekostet.

ines jedenfalls haben Fledermäuse deutschen Professoren voraus: Sie Everstehen einander. Wie sie das tun (per Ultraschall), damit darf sich der Münchner Zoologe Gerhard Neuweiler, 58, nun wieder beschäftigen. Der Ärger mit der Professorenschaft ist für ihn seit Mittwoch letzter Woche vorbei. Ein Jahr lang schien es, als habe er es Neuer Ratsvorsitzender Hoffmann, Vorgänger Neuweiler: Zeitfenster verpaßt sich zur Aufgabe gemacht, diesen Ärger zu schüren. Immer wieder machte er als bekannte Form der Forschung entwik- in übervollen Hörsälen mit abstraktem Vorsitzender des Wissenschaftsrats Vor- kelt. Dankbar nahmen die Politiker je- Lehrstoff vollgestopft. Für die Praxis, schläge, die von den Professoren als An- den Rat des Professorengremiums auf, klagt die Wirtschaft, ist das nur selten schläge auf ihren Status verstanden wur- wie die 24 000 Akademie-Wissenschaft- die richtige Vorbereitung. den. ler in die westliche Forschung eingeglie- Mit seiner Mahnung, daß für „den Mit seiner Idee, zwischen Forschungs- dert werden könnten. letzten Versuch einer Hochschulre- und Lehrprofessoren zu unterscheiden, Im Jahr nach der Einheit waren die form“ nur ein „Zeitfenster von ein oder weckte Neuweiler die Schreckvision Delegationen des Wissenschaftsrats ge- höchstens zwei Jahren“ bleibe, gab Neu- vom Studienrat im Talar. Juristen ver- fürchtet, die mit Akten unter dem Arm weiler das Wunschtempo vor. Sonst grätzte er mit der Empfehlung, auch an durch die Flure der Institute in Dresden, werde die wichtigste Ressource der oh- Fachhochschulen Studiengänge für Jura Jena und Magdeburg zogen. Diese In- nehin angeschlagenen Wirtschaft ge- einzurichten. Mit seinen Zweifeln am spektionen bedeuteten für jeden der fährdet: der Nachwuchs an gut ausgebil- Sinn der Habilitation beleidigte er den Wissenschaftler, die dort Kunststof- deten Fachkräften. Stolz jedes Hochschullehrers. Und auch fe entwickelten, Goethe-Handschriften Deshalb empfahl er der von Studen- die Politiker waren seine Mäkelei an ih- entzifferten oder an Werkzeugmaschi- tenflut und Geldebbe geplagten Univer- rem radikalen Sparkurs leid. nen tüftelten, das Urteil über die per- sität eine Reformkur. Wichtigster erster Jetzt bekam er die Quittung. Da nütz- sönliche Zukunft: Beamter auf Lebens- Schritt sei, wie ehedem im Osten, die te es nichts, daß der Wissenschaftsrat zeit oder Arbeitsloser auf Langzeit. Evaluation. Geld solle es nur noch dort für eine Verlängerung seines Vorsitzes Drei Großforschungszentren, zehn geben, wo die Qualität von Forschung votierte. Die Allianz der vier deutschen Fraunhofer-Institute, fünf Max-Planck- und Lehre sichergestellt ist. Forschungsinstitutionen (Max-Planck- Institute und 24 weitere außeruniversi- „Es ist etwas in Bewegung gekom- Gesellschaft, Arbeitsgemeinschaft der täre Institute wurden vom Wissen- men“, konstatiert Neuweiler. Die Hälf- Großforschungseinrichtungen, Hoch- schaftsrat aus dem Schutt der zertrüm- te aller Universitäten hat begonnen, schulrektorenkonferenz, Deutsche For- merten (Ost-)Akademie der Wissen- über Fragebögen und Statistiken Män- schungsgemeinschaft) entschied: Künf- schaften gemauert. gel der einzelnen Studiengänge aufzu- tig soll ein anderer dem Gremium ehr- Im Überschwang seines Erfolges wag- spüren. Eine Arbeitsgruppe arbeitet würdiger Ratgeber in Sachen Wissen- te sich das Gremium an eine kühne daran, die Kriterien für eine bundeswei- schaft vorsitzen. Schlußfolgerung: Wenn die Bewertung te Beurteilung der Lehre zu erarbeiten. Jetzt ist es Aufgabe des Münchner (Evaluation) und Neugliederung der Derlei Ansätze zur Reformbereit- Mathematikers Karl-Heinz Hoffmann, Ost-Forschung soviel Zustimmung ge- schaft ändern wenig an Neuweilers Bi- 54, dafür zu sorgen, daß der Wissen- funden hatte, warum sollte dann nicht lanz: Der angestrebte Umbau des Hoch- schaftsrat nicht wird, was er lange Zeit auch die West-Forschung einer ähnli- schulsystems, so resümiert er, sei „ge- war: ein Gremium, das gute Ratschläge chen Überprüfung unterzogen werden? scheitert“; die Situation der Hochschu- erteilt, von jedermann begrüßt, von nie- Und könnte die Umbruchstimmung len sei noch schlechter als vor einem mandem befolgt. nicht auch dazu genutzt werden, die im- Jahr. Anders als im Osten, wo die Emp- Nur kurze Zeit, im Jahr nach der mer wieder verschleppte Studienreform fehlungen des Wissenschaftsrats in ein deutschen Vereinigung, durchlebte das im Westen auf den Weg zu bringen? Machtvakuum fielen, prallen sie im We- Kollegium einen Rausch ungewohnter Die schlimmsten Symptome der sten auf fest etablierte Institutionen. Macht. Ratlos hatten die Forschungspo- Krankheit deutscher Universitäten dia- Vor allem aber ist jede Reform von litiker damals vor dem Erbe der DDR gnostizierte Neuweiler in der Lehre: vornherein diskreditiert, wenn sie als gestanden. Abgeschnitten vom Westen, Professoren betrachten das Unterrich- verkappte Sparmaßnahme verstanden hatte sich in der Ost-Berliner Akademie ten der Studenten vielfach nur als Stra- wird. Studienzeitverkürzungen ohne in- der Wissenschaften eine im Westen un- fe. Frustrierte Dauerstudenten werden tensivere Betreuung der Studenten füh-

190 DER SPIEGEL 5/1994 ren nur zur Einführung des Billigdi- es der Autist und nicht sein Helfer sei, Zweifel daran hätten jedem kommen ploms. Und ohne den nötigen Ausbau der bei dieser Zusammenarbeit aus sich müssen, der mal einem Autisten beim der Fachhochschulen bleibt jeder Ver- herausgeht. Tippen zugesehen hat. Der Schüler steu- such, die Studenten praxisnäher auszu- Facilitated Communication (FC) ert mit einem Finger auf die Buchstaben bilden, vergeblich. heißt die Methode, mit der Eltern und zu, ohne hinzugucken – ein Kunststück, Die Politik aber hat deutlich gemacht: Betreuer von Autisten seit Anfang der das im direkten Vergleich nicht mal eine Reformen ja, aber nur, wenn sie kein achtziger Jahre versuchen, den in sich Mustersekretärin fertigbrachte. Geld kosten. Das ist zuwenig, zumal die verkapselten Menschen eine Mittei- In Australien, wodie FC-Methode ent- Etats der Universitäten ohnehin nicht lungsmöglichkeit zu verschaffen. Wer wickelt wurde, zog die Regierung vorerst mit den wachsenden Studentenzahlen eben noch sprechunfähig und geistig ihre Forschungsgelder zurück. Ein Schu- Schritt halten. schwer behindert war, sollte nun in der lungszentrum, in dem 200 Autisten trai- Um ganze 4 Prozent sind die Lehrmit- Lage sein, sogar eine akademische Aus- nierten, mußte seine Schüler entlassen. tel der deutschen Universitäten in den bildung zu beginnen. Die wundersame Geschichte des stum- achtziger Jahren gestiegen. Die Zahl der Doch für etliche Familien von Auti- men deutschen Jungen, der nicht nur ir- Studenten wuchs in derselben Zeit um sten wurde die Hoffnung zum Horror- gendeine Form fand, sich zu äußern, son- 50 Prozent. Y trip: Geleitet von ihren Helfern, ver- dern anscheinend einer Sprache mächtig trauten FC-Schüler ihren Computern ist, die manche an Ingeborg Bachmann an, daß sie zu Hause sexuell belästigt und Rainald Goetz erinnert, verstellte in Autismus und mißbraucht würden. Staatsanwälte der Bundesrepublik den Blick für Kritik. nahmen die schwer nachprüfbaren Hil- Die Texte von Birger Sellin hat der Ver- ferufe als Beweisstücke. Die vermeintli- lag Kiepenheuer & Witsch als Buch her- chen Opfer wurden in Heime gesteckt, ausgegeben; es wird zur Zeit in sieben Hand den Verdächtigen jeglicher Kontakt mit Sprachen übersetzt. Herausgeber Micha- ihren Kindern verboten. Erst als ein El- el Klonovsky legt für seinen Autor „die des Helfers ternpaar behauptete, nicht das Kind, Hand ins Feuer“. Die Zweifel an der wundersamen Dichtkunst des sprach- und wahrnehmungsgestörten Birger Sellin wachsen.

irger Sellin war 17, als er vor zwei Jahren begann, mit seiner Mutter Bauf seltsame Weise zu sprechen. Die Wörter, die er im Einfinger-Such- system in einen Computer tippte, machten ihn zum Medien- und Litera- turereignis. Ein „dunkler keinmensch“ sei er, in dessen Welt es „kein lachen geben“ kann und wo „die traurigkeit keine trä- nen“ hat. Das Berliner Boulevardblatt BZ blies Leben und Leiden des Auti- sten zu einer rührseligen Serie auf. Der SPIEGEL nannte den jungen Mann den „ersten autistischen Dichter der Welt“. Und die ARD sendet diesen Mutter Sellin, Sohn: Symbiotische Zusammenarbeit Donnerstag ein Porträt des Behinder- ten, der laut Stern „verzweifelt ver- sondern der Mittelsmann habe die Be- Birgers Mutter und andere FC-Gläu- sucht, aus seinem Kerker auszubre- schuldigungen formuliert, begannen bige lassen sich ihre Hoffnungen durch chen“. Wissenschaftler, die Ergebnisse der keinen Test kaputtmachen. Autisten, Fragt sich nur, ob es wirklich Birger symbiotischen Kommunikation zu über- die schon in vertrauter Umgebung ex- ist, der hier um sein Leben schreibt. prüfen. trem verletzlich seien, sagt Annemarie Denn die Buchstaben reihen sich nur In Versuchsreihen am Bostoner Kin- Sellin, könnten unter Prüfungsbedin- dann zu sinnvollen Sätzen, wenn Mut- derkrankenhaus zeigten sie Autisten gungen unmöglich den Erwartungen ter Annemarie ihrem Sohn assistiert. und deren Schreibhelfern gleichzeitig entsprechen. Sie hält seinen Arm über der Tastatur, unterschiedliche Abbildungen von All- Die Pädagogin Martina Engelmann, führt die Hand mit dem ausgestreckten tagsgegenständen. Die Autisten sollten die den Wunderknaben im Verein „Hil- Zeigefinger – was dabei herauskommt, niederschreiben, was ihnen gezeigt wur- fe für das autistische Kind“ betreut hat, nennen Wohlmeinende „gestützte de – und konnten es nicht: Auf dem bezweifelt, daß der Junge der Verfasser Kommunikation“. Bildschirm erschien stets der Begriff, der Texte ist. Die Erzieherin hält ihren Mediziner und Psychologen aus den den nur der Helfer, der die Hand führte, ehemaligen Schützling vor allem für ei- USA hingegen, berichtet das Fachblatt sehen konnte. 35 ähnliche Studien in nen „stark geistig behinderten Men- Autism Research Review International, Europa und den USA ergaben, daß we- schen mit autistischen Symptomen“. haben jüngst in Dutzenden von Unter- niger als fünf Prozent der gestörten Kin- Die Wortgefüge habe vermutlich „die suchungen keine „wissenschaftlich halt- der imstande waren, selbständig mit ih- ehrgeizige Mutter“ entworfen, „ob wil- bare Bestätigung“ dafür gefunden, daß rer Umwelt zu kommunizieren. lentlich oder unbewußt“. Y

DER SPIEGEL 5/1994 191 WISSENSCHAFT

verschluckt werden, eine Herde Troja- Auf dem Umweg über Haustiere Gentechnik nischer Pferde: Die Krankheitskeime könnte der nun zur massenhaften Aus- schleusen außer ihrem eigenen Genpro- bringung vorgesehene Gentech-Impf- gramm auch noch den Bauplan für ein stoff den Menschen gefährlich werden. Bruchstück des Tollwuterregers in die Von den impfstoffgetränkten Ködern Köder Fuchs-Körperzellen ein. für Füchse, millionenfach in den Wäl- Das Immunsystem des geimpften Tie- dern ausgelegt, naschen auch Hunde res reagiert auf die verräterische Viren- und Katzen und stecken dann über den im Wald scherbe mit der Ausschüttung von Anti- Speichel ihre Herrchen und Frauchen körpern gegen Tollwutviren. Nach dem an. Spielende Kinder, die einen Köder Ein neuartiger Impfstoff, der Scheinangriff ist der rotbepelzte Räuber finden, könnten sich direkt infizieren. Füchse vor Tollwut schützen soll, somit auch gegen die kompletten, ei- Ein solches „Restrisiko“ einzugehen, gentlich unbesiegbaren Tollwuterreger meint Virologe Czerny, sei unnötig, kann beim Menschen geschützt. weil bereits seit vielen Jahren „hoch- Hirnhautentzündung hervorrufen. Gefahr droht den Menschen nicht von wirksame und sichere Tollwutimpfstoffe dem Genschnipsel aus dem Tollwuterre- für Füchse ausgebracht werden“. ger, sondern von den Pockenviren, die Der am häufigsten für die Fuchs- ie Genforscher aus den USA agier- als Transportmittel dienen. Schluckimpfung verwendete Lebend- ten wie Drogenhändler. Im Diplo- Bis zur Ausrottung der Menschenpok- impfstoff Rabifox, hergestellt von dem Dmatenkoffer schmuggelten sie ei- ken Ende der siebziger Jahre wurden ostdeutschen Impfstoffwerk Dessau- nen neuartigen, gentechnisch hergestell- Vaccinia-Viren bei Reihen-Schutzimp- Tornau, enthält im Labor gezüchtete, ten Impfstoff gegen Tollwut über die fungen den Impflingen – schon im Säug- stark abgeschwächte Tollwutviren. Grenze nach Argentinien. Auf einer lingsalter – unter die Haut geritzt. Da- Rund vier Millionen Rabifox-Kapseln, Versuchsfarm 250 Kilometer südöstlich bei verursachten die Impfviren oft er- umhüllt mit stinkenden Fischmehl-Kö- von Buenos Aires impften sie 20 Kühe hebliche Nebenwirkungen. dern, werden in Deutschland alljährlich mit den genmanipulierten Viren. Wegen besonders häufig auftretender von Flugzeugen aus abgeworfen. Der argentinische Gesundheitsmini- Impfschäden mußte 1960 der Vaccinia- Die großflächigen Impfkampagnen ster stoppte das heimliche Genexperi- Virusstamm „Kopenhagen“ aus dem des letzten Jahrzehnts waren so erfolg- ment; die Rindviecher wurden ge- Verkehr gezogen werden: Jeweils einer reich, daß Füchse kaum noch durch schlachtet. Blutuntersuchungen hätten von 10 000 Geimpften hatte eine schwe- Tollwut zugrunde gehen. Zwischen 1987 ergeben, so berichtete damals der ar- re Gehirnhautentzündung bekommen, und 1990 hat sich die Zahl der Raubtiere gentinische Wissenschaftler Jose´La jeder dritte Erkrankte starb daran. deshalb wieder verdoppelt. Torre, daß sich „wenigstens in zwei Fäl- Ausgerechnet dieser Virusstamm Womöglich ist das ein Pyrrhussieg. len“ Menschen infiziert hatten, „die mit dient nun zur Herstellung des Fuchs- Die ungebremste Vermehrung tollwut- dem Melken der Tiere befaßt waren“. Impfstoffs Raboral. „Äußerst unglück- freier Füchse, sagt der Göttinger Wild- Das Schurkenstück auf der Rinder- lich“ findet das der Münchner Virologe biologe Ferdinand Rühe, führe zugleich farm spielte im Sommer 1986. Jetzt – Claus-Peter Czerny, denn schon seit zur Ausbreitung des Fuchsbandwurms. nach einem zweiten, diesmal legalen zehn Jahren gebe es 100mal sicherere Menschen, die sich beim Blaubeer- Freilandversuch in Belgien 1989 – wird Vaccinia-Stämme. pflücken unbemerkt die Eier des Killer- die heikle Virensuppe womöglich über Eine Übertragung der Pockenviren Wurms in den Leib holen, riskieren ganz Europa ausgeschüttet, mit Billi- vom Tier auf den Menschen ist, wie das Schlimmeres als einen Tollwut-Biß. In- gung der Brüsseler Behörden. illegale Genexperiment in Argentinien nerhalb zehn Jahren frißt der heran- An Füchse soll der Tollwutimpfstoff gezeigt hat, nicht auszuschließen. wachsende Parasit die Leber auf. Y Raboral V-RG verfüttert werden, der damals in Argentinien erstmals außer- halb der Labors getestet wurde. Herstel- ler ist der französische Chemiekonzern Rhoˆne Me´rieux. Einwände kritischer Experten gegen den riskanten Versuch wurden von der EU-Kommission beisei- te gewischt. Als „gefährliches und überflüssiges Mittel“ bezeichnet die grüne Europaab- geordnete Hiltrud Breyer den Me´rieux- Impfstoff. Auch das sonst eher indu- striefreundliche Bundesgesundheitsamt hatte in einem Brandbrief nach Brüssel vor dem In-Verkehr-Bringen des Gen- technikprodukts gewarnt. Doch der deutsche Vertreter im zuständigen EU- Ausschuß wurde glatt überstimmt. Hauptbestandteil von Raboral V-RG ist ein sogenanntes Vaccinia-Virus, ein angeblich harmloser Vertreter aus der Reihe der Pockenviren. In dessen Erb- gut haben die Genbastler ein einzelnes, aus dem todbringenden Tollwuterreger herausgeschnittenes Gen eingebaut. Die Genmanipulation macht aus den Vaccinia-Viren, die von einem Fuchs Tollwutuntersuchung beim Fuchs: Lebensgefahr vom Stamm „Kopenhagen“

192 DER SPIEGEL 5/1994 TECHNIK

im Fluge die Munitions- oder Treib- nikationsdienstes Compuserve. Spiele- Computerspiele stoffvorräte aufstocken. hacker Cotellesse schickt seine Mogel- i Sogenannte Editor-Programme wie programme als „Freeware“ ins Daten- „Axis the Gamecheater“ („Axis der netz: Computerfans können sie kosten- Spielschummler“) verändern zwi- los mittels Telefon-Modem auf den hei- Trieb erlahmt schen den Runden die Daten, mit de- mischen PC herunterladen. „Ich hatte nen die Spielstände gespeichert wer- immer diesen Hang zum Hacken“, er- Wie kann man bei PC-Spielen, den. So läßt sich beim Programm klärt der selbstlose Programmierer; die wenn es schlecht steht, „Lemmings“ die Bildschirmpopulati- Software-Schummelei sei ein Weg, on der possierlichen, ständig suizidge- „diesen Drang auf legale Weise zu be- doch noch gewinnen? Spezielle fährdeten virtuellen Nager künstlich friedigen“. Mogel-Software hilft. hochhalten; bei der Städteplaner-Si- Mit der Mogelei läßt sich inzwischen mulation „Sim City“ wird der aufge- aber auch ein Geschäft machen. Der zehrte Bauetat wiederaufgefüllt. EDV-Fachverlag Sybex aus Düsseldorf tephan Kessler, 17, hatte den siche- i Mit dem Sammelnamen „Walk- offeriert neuerdings „Das PC-Spiele ren Bildschirmtod schon vor Au- Thrus“ („Wegweiser“) werden Hilfs- Schummelbuch“. Mehr als 50 Compu- Sgen. Seinem Raumkreuzer mangel- texte bezeichnet, die den Spieler nach terspiele-Klassiker, darunter das russi- te es an Energie für die Laserkanonen, Art eines Reiseführers durch alle sche Bildschirm-Puzzle „Tetris“, lassen die Schutzschilde des Sternenfliegers Phasen eines bestimmten Bildschirm- sich mit der Mogelpackung „Axis“ über- waren schwer beschädigt. tölpeln; das Programm Doch der Computerspieler aus Ham- wird für 70 Dollar vom burg gab sich noch nicht geschlagen. Als US-Verlag Baseline auf dem Monitor die nächste Rotte Publishing aus Mem- feindlicher Raumjäger anflog, drückte phis (Tennessee) gelie- Kessler die rettende „Nottaste“: Klick – fert. und das Raumgefährt war wieder wie Die Anbieter der neu, ausgerüstet mit reichlich Munition auf diese Weise ausge- und gesichert durch einen stabilen tricksten Spielpro- Schutzschirm. gramme haben die Der Einsatz der „Wunderwaffe“ war Schummel-Offensive grob regelwidrig, eigentlich ist sie beim bislang gelassen hinge- Computerspiel „X-Wing“ gar nicht vor- nommen. Doch das gesehen. Möglich wurde der unsportli- könnte sich ändern. che Tasten-Trick durch den „Imperial Die US-Spieleherstel- Pursuit Trainer“, ein spezielles Mogel- ler, erklärt Sabine Du- programm aus den USA. Zusammen vall, Marketing-Fach- mit „X-Wing“ wird es auf dem Personal- frau beim kaliforni- computer gestartet und hilft dann dem schen Software-Haus PC-Piloten, die Spiel-Software auszu- Sierra, „werden den tricksen. Er habe es „satt gehabt“, ge- Wilderern nicht länger steht Kessler, „50mal hintereinander an zusehen – da geht zu- derselben Stelle zu verrecken“. viel Geld verloren“. Entwickelt wurde die Mogel-Software So würde es sich (Computerjargon: „Cheats“, von eng- für manches Software- lisch „cheat“, Schummelei) von David Unternehmen lohnen, Jury, einem Computerhacker aus die Ratgeber-Literatur Dighton (US-Staat Massachusetts); sein Mogelprogramm „Axis“: „So schmerzlos wie möglich“ zum Spielprogramm Ziel: „den Spielverlauf so kurz und gleich selbst zu ver- schmerzlos wie möglich zu gestalten“. abenteuers geleiten. Ein Beispiel: das markten. Daß sich auf diese Weise ju- Mit der Leistungsstärke moderner auf PC-Diskette angebotene „Solution gendliche Kunden noch enger an den PC-Chips hat sich auch der Schwierig- Pack“ (Rowohlt/Systhema Verlag, Hersteller binden lassen, hat der Video- keitsgrad von Computerspielen erhöht. München) für die Weltraumkomödie spielriese Nintendo vorgeführt: Die „Cheat“-Programme finden deshalb „Space Quest V“. hauseigene Klub-Zeitschrift gibt kosten- weltweiten Absatz – als Fast-food-Soft- Software-Tüftler wie Steven Cotel- lose Spieletips in Millionenauflage, für ware für PC-Überflieger: „Die meisten lesse aus Lansdowne (US-Staat Pennsyl- 20 Mark werden dickleibige „Spiele-Be- Spieler“, hat Jury erkannt, „haben eine vania)verbringen lange Nächte vorihrem rater“-Broschüren angeboten. kurze Konzentrationsspanne.“ Rechner, um die Codes zu knacken, mit Gegen den Angriff der spieleknak- Auf dreierlei Weise helfen Software- denen die Spielstände kommerzieller kenden Schummel-Software konnte je- Schummler wie Jury ihrer ungeduldigen Programme gespeichert sind. doch auch Nintendo nichts ausrichten. Klientel, den rasch erlahmenden Spiel- Mit den selbstgeschriebenen „Cheats“ Zwar gingen die Japaner gerichtlich ge- trieb im Schnelldurchgang zu befriedi- lassen sich diese Daten anschließend im gen das „Game Genie“ vor, ein Spezial- gen; komplexe Computerspiele müssen laufenden Programm gezielt verändern. modul, das auf die Videospielkonsole damit nicht mehr länger dauern als ein Beim Eisenbahnspiel „Railroad Tycoon“ aufgesteckt wird und dann beispielswei- MTV-Musikvideo – bei garantiertem (SPIEGEL 26/1992) beispielsweise fand se dem Kult-Klempner „Super Mario“ Erfolgserlebnis: Cotellesse heraus, wie sich die computer- zusätzliche Bildschirm-Leben verleiht. i „Trainer“-Programme werden mit simulierten Lokomotiven zu zugkräfti- Aber die Klage war vergeblich. Nin- dem Spielprogramm gestartet; wäh- gen Supermaschinen „tunen“ lassen. tendo mußte sich nach langem Rechts- rend einer computersimulierten Luft- Verbreitet wird der größte Teil der streit auf den Hinweis beschränken, daß schlacht lassen sich dann durch Einga- Schummel-Software über Datenleitung, beim Einsatz des Mogel-Moduls die Ge- be spezieller Tastenbefehle gleichsam etwa in den Spiele-„Foren“ des Kommu- rätegarantie erlischt. Y

DER SPIEGEL 5/1994 193 PERSONALIEN

enryk Broder, 47, Autor, Draht“. Anrufer können für Hwill einem Kollegen nicht umgerechnet sieben Mark zu Gefallen sein. In einem In- zehn Minuten lang Beleidi- terview Ende letzten Jahres gungen anhören, mit denen hatte Broder über den Grund der Premier überschüttet für seine zeitweilige Auswan- wird. Es gibt auch noch die derung aus Deutschland räso- brutalere Version: Der tele- niert: „Ich hatte einfach die fonierende Dehaene-Feind Nase voll, mich mit linken kann auf den Premier schie- Antisemiten a` la Schwarzer ßen oder seinen Safe spren- und Paczensky herumzu- gen lassen, wenn er während schlagen.“ Jetzt begehrte der des Telefonats verschiedene Testesser und frühere Mode- Telefontasten drückt und da- rator des TV-Magazins mit Geräuscheffekte auslöst. „Panorama“, Gert von Pa- Dehaene hat Klage einge- czensky, eine „strafbewehr- reicht. Schol ist hartleibig. te Unterlassungserklärung“. 350 Anrufe erhalte er täg- Broder verweigerte und lich, weitere Telefonleitun- schrieb an den Paczensky- gen, auf denen andere Politi- Anwalt: „Wenn Ihr Klient ker aufs Korn genommen nicht nur die Speisekarten der werden können, seien in Lokale lesen würde“, dann Vorbereitung. wäre Paczensky möglicher- weise Broders Buch „Der einz Eggert, 47, sächsi- ewige Antisemit“ aufgefal- H scher Innenminister, ist len, „in dem ich unter ande- auf den Dino gekommen. rem auch seine geschiedene Kopf des Zereteli-Columbus Ein Jahr nach dem Boom um Ehefrau, Susanne von Pa- die ausgestorbene Spezies czensky, mit ein paar anmuti- urab Zereteli, 60, georgi- rika-Entdeckers Christoph soll der „Sympathieträger“ gen antisemitischen Zitaten Sscher Bildhauer, entzweit Columbus in Bronze zu gie- (Eggert) auf Aufklebern und vorstelle“. Nur auf Frau von die Bürger von Columbus im ßen. Inzwischen ist der über Broschüren jungen Sachsen Paczensky habe sich seine, US-Staat Ohio. In den späten vier Meter hohe Kopf des 500 Verbrechensvorbeugung und Broders Bemerkung bezo- achtziger Jahren begann der Tonnen schweren Werks in Verkehrsregeln nahebringen. gen. Mitte Februar treffen in Moskau lebende Georgier Amerika eingetroffen. Ver- Beim Ortstermin in einer sich die Herren vor Gericht. eine Kolossalstatue des Ame- schiffung und Aufbau des Dresdner Grundschule bat mehr als 100 Meter hohen der CDU-Politiker vergange- Monsters, inklusive Grund- ne Woche Abc-Schützen um stück, soll die nach dem Ent- Hilfe bei der Taufe des noch decker Amerikas benannte namenlosen Wesens, das Po- Stadt Columbus 25 Millionen lizeimütze und ein kurzes Dollar kosten. Die Stadtväter T-Shirt mit dem Sachsen- weigern sich zu bezahlen. Ei- Wappen trägt. Experten be- ne starke Bürgerrechtsbewe- mängelten am Tyrannosau- gung hält das Monument rus Eggertiensis allerdings, er überdies für „häßlich und lä- ähnele einer Kreuzung aus cherlich“, außerdem reprä- Kuh und Elefant. sentiere „Christoph Colum- bus 500 Jahre Genozid“. Eine Gruppe von Geschäftsleuten schätzt hingegen, das Monu- Balladur Le Monde-Karikatur ment könnte jährlich an die 300 000 Besucher anziehen, douard Balladur, 64, französischer Premierminister, er- und will die Summe sammeln. Ehielt ein ehrverletzendes Prädikat angehängt, zu dem sich Derweil lagert der Rest der nicht einmal der Urheber bekennen will. Das freche Etikett Statue in einem Schuppen in heißt „Tex-Avery-Syndrom“ und ist eine Anspielung auf die St. Petersburg, aufgeteilt in Figuren des gleichnamigen US-Trickfilmers, die wie in Tran- 1500 Stücke. ce weiterlaufen, obwohl sie schon längst keinen Boden mehr unter den Füßen haben, und in die Tiefe plumpsen, sobald ean-Luc Dehaene, 53, bel- sie ihren haltlosen Zustand bemerken. Die französische Ta- Jgischer Premierminister, geszeitung Le Monde erläuterte vergangene Woche ihren wird von einer neuen Form Lesern, das Syndrom beschreibe die Politik Balladurs, die des Telefonterrors heim- unbeirrt eine Art „Flugbahn verfolgt, während sich die Rea- gesucht. Nachdem der Re- lität längst geändert hat“. Als Urheber der flotten Floskel gierungschef Steuererhöhun- machte das Weltblatt den gaullistischen Parteifreund des gen und Leistungskürzungen Premiers, Parlamentspräsident Philippe Se´guin, aus. Der gab durchgesetzt hatte, installier- die Urheberschaft eilig an den früheren Mitterrand-Berater te Bernard Schol, Betreiber und inzwischen zurückgetretenen Bankpräsidenten Jacques einer Brüsseler Telefon-Sex- Attali weiter. Gesellschaft, einen „heißen Eggert-Dino, Eggert

194 DER SPIEGEL 5/1994 an Quayle, 46, ehemaliger DUS-Vizepräsident, der in seiner Amtszeit mit allerlei Geschäft mit blödsinnigen Äußerungen be- eindruckte, tritt in der TV- dem Grauen Werbung auf. Für ein Hono- rar von 50 000 Dollar animiert der Ex-Vize zum Kauf einer bestimmten Marke von Pota- to (Kartoffel) Chips. Der Spot wurde am vergangenen Sonn- tag während der Übertragung des Super Bowl, des Endspiels um die US-Football-Meister- schaft, vor mehr als 100 Mil- lionen amerikanischen Fans ausgestrahlt. Quayle hatte 1992 unter dem Gelächter der Nation einen Schuljungen korrigiert. „Potato“, so be- lehrte der Vize damals einen korrekt buchstabierenden Zehnjährigen, „schreibt sich hinten mit e.“

ame Barbara Cartland, D92, englische Schriftstelle- rin mit Massenauflagen, be- kannte sich als politische Ideenlieferantin. In einem Jammes-Foto Fernsehinterview gestand die Autorin von rund 590 Trivial- ouis Jammes, 35, französischer romanen, sie habe den briti- L Fotograf, versucht, dem Grauen schen Premierminister John des Krieges in Bosnien mit Kitsch beizukommen. Jammes fotografier- te in der belagerten Stadt Sarajevo vor allem Frauen und Kinder vor zerstörten Fassaden und ausge- bombten Gebäuden. Den Abgebil- deten verpaßte er auf den Fotos mit einem Retuschierstift Flügel, ver- merkte zusätzlich Datum und Zahl der Toten an diesem Tag und inter- pretierte die so entstandenen En- gelsgestalten als die „unschuldigen und völlig hilflosen Opfer eines bar- Cartland barischen Massakers“. Einige der Engelsporträts plakatierte er im ver- Major bei einem Lunch zu gangenen Sommer in Form lebens- der verhängnisvollen Parole großer Serigraphien an Mauern und „Zurück zu den Grundwer- Wänden in der umzingelten bosni- ten“ inspiriert. Allerdings ha- schen Hauptstadt. Auf diese Weise be sie vorgeschlagen: „Zu- habe er die „Ruinen Sarajevos mit rück zur Romantik, zur Lie- Engeln bevölkern wollen“, so Jam- be und Moral“. Mit dieser mes, dessen Arbeiten jetzt auch von Softversion hätten die Skan- zwei Pariser Galerien gezeigt wur- dale der vergangenen Mona- den. Den Vorwurf, er betreibe mit te um Konkubinen, uneheli- dem Grauen des Krieges sein ein- che Kinder und liederliche trägliches Geschäft, wies der Foto- Lebensführung von Mini- graf von sich. Gerade da, wo huma- stern und Staatssekretären nitäre Aktionen an ihre Grenzen wunderbar verniedlicht wer- stießen, könnten Künstler „spiritu- den können, lästerte die Ta- elle und kulturelle Hilfe leisten“. Die geszeitung The Independent. teilweise signierten Foto-Unikate Major hatte das Schlagwort fanden ihre Käufer zu Preisen zwi- „back to basics“, „zurück schen 3000 und 6000 Mark. zum Respekt vor der Familie und dem Gesetz“, vorgezo- gen.

DER SPIEGEL 5/1994 195 REGISTER

Gestorben

Jean-Louis Barrault, 83. Eine einzige Rolle reichte aus, um ihn weltweit und für immer berühmt zu machen: Im fran- zösischen Kinoklassiker „Die Kinder des Olymp“ spielte Barrault 1944 mit melancholischem Charme den Pantomi- men Baptiste. Die Franzosen verehrten den Apothekersohn aber vor allem als Theatergenie. Mit seiner Frau, der Schauspielerin Madeleine Renaud, gründete er 1947 sein erstes eigenes En- „Ich habe 60 Filme vor ,Kojak‘ ge- semble, mit dem er als Regisseur und dreht“, beklagte sich der Sohn griechi- Schauspieler neben Klassikern viele scher Einwanderer einmal, „aber die Avantgarde-Auto- Leute sagen immer noch ,Da geht ren aufführte. Politi- der . . . wie heißt der noch mal?‘“. Für sches Aufsehen er- einen dieser Kinofilme, die „Größte Ge- regte Barrault, als schichte aller Zeiten“, in dem er den 1968 rebellierende Pontius Pilatus spielte, hatte sich Sava- Pariser Studenten las den Kopf rasiert – ein Markenzei- mit seiner Billigung chen, von dem er nicht mehr lassen sein „The´aˆtre de konnte. Telly Savalas, der entzückende France“ besetzten. Skinhead, starb am vorvergangenen Der erboste Kultur- Samstag in Los Angeles an den Folgen minister Andre´ Mal- einer Krebserkrankung. raux entließ darauf- hin den unbotmäßigen Intendanten. Hans Hermann Gattermann, 62. Partei- Jean-Louis Barrault starb vorvergange- apparatschiks waren ihm zuwider, parla- nen Samstag an Herzversagen in Paris. mentarische Schaufensterreden lang- weilten ihn, da ging er lieber „eine rau- Nikolai Ogarkow, 76. Der einflußreich- chen“. Als Nachfol- ste sowjetische Generalstabschef der ger des nordrhein- Nachkriegszeit begann seine militäri- westfälischen FDP- sche Laufbahn mit 15 Jahren als Ver- Schatzmeisters Otto käufer in einer Armeekantine. Doch Graf Lambsdorff, bald wurde seine technische Begabung Anfang der achtzi- erkannt: Mit 21 ging er auf die Akade- ger Jahre tief in den mie für Militäringenieure in Moskau. Parteispendensumpf Stets als Ingenieur eingesetzt, kletterte geraten, leitete er Ogarkow in der Militärhierarchie den Bundestagsfi- schnell nach oben, bis er 1966 sogar im nanzausschuß seit Rang eines General- 1983 auch nach dem leutnants ins ZK Urteil seiner politischen Kontrahenten der KPdSU gewählt „wirklich überparteilich“. Hans Her- wurde – eine mächti- mann Gattermann starb am vergange- ge Position, die er nen Donnerstag in Dortmund an Herz- über 20 Jahre inne- versagen. hatte. Im September 1983 rechtfertigte er Urteil vor laufenden Ka- meras der Weltpres- Bärbel Bohley, 48, ehemalige DDR- se den Abschuß des Bürgerrechtlerin, darf den Vorsitzenden koreanischen Jum- der PDS-Gruppe im Bundestag Gregor bos über Sachalin, bei dem 269 Men- Gysi nicht noch einmal öffentlich einen schen zu Tode kamen. Nikolai Ogarkow Stasi-Spitzel nennen. Das Hamburger starb am vorvergangenen Sonntag. Landgericht gab am Dienstag vergange- ner Woche einer entsprechenden Klage Telly Savalas, 70. Der Kopf wie gemei- von Gysi statt. Bohley und andere Ex- ßelt, das spöttische Lächeln über den Mandanten des Anwalts, der in der Wahnsinn New Yorks auf den Lippen, DDR Rechtsbeistand vieler Oppositio- den Lolli wie einen Propeller kreisend – neller gewesen war, hatten in ihren ein verdammt cooler Cop war dieser Stasi-Opfer-Akten detaillierte Berichte Theo Kojak. Hart, aber herzlich spielte über Vier-Augen-Gespräche gefunden, Telly Savalas den Mord-Detektiv aus geliefert von einem IM „Notar“. Das Manhattan und wuchs mit dieser Rolle Gericht begründete sein Urteil damit, zum weltweit bekannten Star. Doch daß bis heute nicht geklärt ist, wie die über den riesigen Erfolg von „Kojak“ Informationen aus Gysis Praxis an die vergaß man den Schauspieler Savalas. Stasi gelangten.

196 DER SPIEGEL 5/1994

31. Januar bis 6. Februar

MONTAG der mörderischen Logik mili- doch 1988 gedreht (USA, MITTWOCH Regie: Gregory Nava). Die 20.40 – 22.25 Uhr Arte tärischen Denkens, vonderle- 20.15 – 21.44 Uhr ARD bensrettenden Kraft der Lie- New York Times mokierte Le Bal – Der Tanzpalast be – und vor allem von Faszi- sich über die vielen orange- Ärzte Ettore Scolas Film (Frank- nation und Schrecken des farbenen Sonnenuntergänge Dieser Weißkittel, mit bärbei- reich/Italien/Algerien 1983) Fremden: Selten zuvor ist die und die Abziehbild-Dialoge: ßigem Charme von Dietmar braucht kein einziges gespro- Kontaktaufnahme mit einer „Er ist tot – er wird mir jetzt Bär gespielt, folgt einer sehr chenes Wort, um 50 Jahre fremden Lebensform so an- nie mehr vergeben.“ persönlichen Diät: „morgens französischer Geschichte zu rührend und zugleich glaub- 1000 Kalorien, mittags 1000 Kalorien, abends 1000 Kalo- schildern: Die Pariser Grup- haft dargestellt worden. 21.15 – 23.00 Uhr Südwest III rien“. Man sieht’s: Der junge Amok Orthopäde ist ganz schön fül- Norbert Ehrys umstritte- lig. Auch der Film (Regie: nes Selbstjustiz-Drama (siehe Kaspar Heidelbach) gehört Seite 180). trotz ernster Anspielungen auf den Wahnsinn des wir- belsäulenzerstörenden Lei- 22.15 – 23.00 Uhr ZDF stungsturnens zu einer ge- „Bist du vom Zirkus?“ mütlich-harmlosen TV-Ver- Eine Reportage über klein- schreibung aus dem Arznei- wüchsige Menschen und ih- schrank der ARD-Doktor- ren Traum von der Normali- Serie. Wegen aufrüttelnder tät. Nebenwirkungen jedenfalls braucht kein Zuschauer Pak- kungsbeilagen, Arzt oder 23.45 – 1.30 Uhr Kabelkanal Apotheker. Accident – Zwischenfall in Oxford 20.55 – 21.45 Uhr ZDF Szenenfoto Vordergründig geht es in Jo- seph Loseys Film (1966) um Doppelpunkt vor Ort pe „The´aˆtre du Campagnol“, 22.45 – 5.55 Uhr Premiere die Oxford-Studentin Anna Jung und schön um jeden deren erfolgreiches Bühnen- (Jacqueline Sassard), die ein Preis? – Report über die stück dem Film zugrunde Japanische Erotikfilme lockeres Liebesleben führt Angst, alt auszusehen. liegt, spiegelt den Zeiten- und Es wirkt ja panisch, wie der und bei einem Unfall ihren Gesinnungswandel zwischen Pay-TV-Sender die fünf se- Freund verliert. Doch nicht 21.45 – 22.30 Uhr ARD 1933 und 1983 ausschließlich henswerten Filme als bloße die Banal-Enquete über die durch die wechselnden Mu- Füllmasse verwendet: Wel- sexuelle Libertinage in Aka- Video privat: Pauschal sik- und Kleidermoden – in ei- cher Videorecorder bewältigt demikerzirkeln ist für Losey nach Rio und Mallorca nem Rhythmus, der so man- schon sieben Stunden Pro- wichtig – er ist vielmehr, von Beim guten alten öden Dia- che Gewißheit der seriösen gramm? den stenografisch knappen Abend in privater Runde Geschichtsschreibung durch- Dialogen des britischen Dra- gab’s wenigstens noch Salz- einanderwirbelt: „Man muß matikers und Drehbuchau- stangen. diese versteinerten Verhält- DIENSTAG tors Harold Pinter, von küh- nisse dadurch zum Tanzen 20.10 – 21.50 Uhr Vox len Farben und marionetten- 22.50 – 0.30 Uhr Arte zwingen, daß man ihnen ihre haften Darstellern unter- eigene Melodie vorsingt“, Zeit des Schicksals stützt, auch hier seinem gro- Die seltsamen Abenteuer schrieb der berühmte Ballett- Ein geistesgestörter Mann ßen Thema treu geblieben: des Mr. West im Land der kritiker Karl Marx. (William Hurt) will seinen der Abhängigkeit des Men- Bolschewiki Vater rächen und deswegen schen von Herkunft und Vor- Was will ein waschechter 21.00 – 21.45 Uhr ARD seinem Freund und Schwager leben, von seiner Umgebung Amerikaner, der sogar Sok- (Timothy Hutton) an den und seinen unbewußten anar- ken im Stars-and-Stripes-Mu- Kontraste Kragen. Ein Melodram im chischen, meist tragisch ver- ster trägt und von einem lasso- Geplant: Der ganz alltägliche Stil der fünfziger Jahre und drängten Neigungen. schwingenden Cowboy als Alltag –die unbekannten Hel- Leibwächter begleitet wird, in den der DDR / Grüne für um- der jungen Sowjetunion? Na- weltschädigende Braunkohle türlich Geschäfte machen. – verkehrte Welt in Hoyers- Der sowjetische Filmpionier werda. Lew Kuleschow karikierte in diesem Stummfilm-Klassiker 22.15 – 0.30 Uhr ZDF (UdSSR 1924) westliche Kli- scheevorstellungen vom Bol- Abyss – Abgrund des schewismus, hatte aber keine Todes Hemmungen, sich bei der Ge- James Camerons Science-fic- staltung am Vorbild amerika- tion-Film (USA 1989) erzählt, nischerWestern und Serialszu mit Tiefgang, vom zermür- orientieren. Daneben ver- benden Arbeitsalltag in einer dankt der Film seine bis heute Ölbohrstation 700 Meter un- ungeminderte Wirkung zu ei- ter dem Meeresspiegel, von „Accident“-Szenenfoto mit Sassard, Dirk Bogarde nem Teil den Darstellern.

198 DER SPIEGEL 5/1994 FERNSEHEN

23.00 – 0.20 Uhr West III Männerbrust – Erkundungen sawa, drei Hollywood- Erinnerungsbetrieb in erotischem Neuland. Schreiber motzten sie zum MEDIEN Stalingrad Drehbuch auf, und der aus 23.45 – 1.00 Uhr Kabelkanal Rußland stammende Andrei Magazin-Hitparde: In die Erst war das Schweigen, Konchalovsky machte daraus öffentlich-rechtliche Do- dann das Gerede, und hinter Der Leichendieb einen packenden Actionrei- mäne politischer Infor- den Gesten der Versöhnung Kein Bericht über einen ßer (USA 1985), der dem mationssendungen sind verschwindet die Geschichte. Kreativen bei der ARD; son- Regisseur in Amerika end- die Privaten eingedrun- Der Dokumentarfilmer Tho- dern US-Horror (1945) mit gültig die Türen öffnete. Die gen. Die über RTL aus- mas Kufus, 36, zeichnet den Boris Karloff. Zeit entdeckte in der rasant gestrahlten Sendungen Verlust der Geschichte im „Explosiv“ und SPIEGEL Gedenken nach: Schon die TV erreichten nach Be- vielen angeblich dokumenta- rechnungen der GfK im rischen Aufnahmen der russi- vergangenen Jahr Platz 3 schen Wochenschau von den und Platz 6 in den Charts Kämpfen im Kessel von Sta- für Politikformate. Auf lingrad im Jahre 1943 waren den nachfolgenden Rän- nachgestellt; die 50 Jahre gen konnten die Kom- später unternommenen Ver- merziellen indes nicht suche des WDR, im heutigen viel ausrichten: Stern TV Wolgograd Spuren der Ver- belegt mit 3,31 Millionen gangenheit zu finden, wir- Zuschauern Platz 17. ken, zeigt Kufus, lächerlich: Der Pomp des Mahnmals in der Stadt, die offizielle Ge- Hit oder Niete denksendung im russischen Durchschnittliche Zuschauerzahlen Fernsehen mit ihrem folklori- von Wirtschafts- und Politmagazinen stischen Kitsch gleichen Ver- „Runaway Train“-Szenenfoto 1993 (in Millionen) suchen, die Toten von einst Bonn Direkt (ZDF) 5,03 noch einmal und für immer FREITAG erzählten Geschichte eines ins Jenseits zu befördern. Gefängnisausbruchs „auch ei- Monitor (ARD) 4,97 20.15 – 21.44 Uhr ARD ne existentialistische Parabel: Ärztin unter Verdacht Explosiv (RTL) 4,71 23.45 – 1.10 Uhr Kabelkanal Keiner bekommt seine Frei- Die Beweisnot, in die eine heit geschenkt; sie muß in har- ARD Brennpunkt 4,53 Westlich St. Louis vergewaltigte Frau vor Ge- tem Kampf erobert werden“. richt geraten kann, themati- Report (ARD) 4,37 Mormonen, Mörder und der siert dieser Film (USA 1991) Marshall – John Ford erzählt 23.05 – 1.00 Uhr Arte SPIEGEL-TV (RTL) 4,34 die Geschichte von Banditen, auf etwas umständliche Wei- die sich auf der Flucht vor se: Eine Chirurgin (Jaclyn Bashu, der kleine Fremde ZAK (ARD) 2,11 dem Gesetz in einem Sied- Smith) findet auf dem Opera- Mit beeindruckenden Bildern lertreck verbergen. Fords tionstisch den Mann, der sie erzählt dieser Film (Iran 1989, Zündstoff (ZDF) 2,07 schönster Film (USA 1950) – zuvor mißbraucht hat. Trotz Regie: Bahram Beyzaie) vom intensiver Bemühungen kann Fremdsein im eigenen Land: Blickpunkt (ZDF) 1,74 ein Hauch Ironie hält dieses Geflecht aus Westernmythen sie das Leben des Schwerver- Der zehnjährige Titelheld Reporter (PRO 7) 1,67 zusammen. letzten nicht retten. In einem Bashu (Adnan Afravian) ver- quälenden Verfahren muß liert seine Familie bei einem sie sich daraufhin gegen den irakischen Bombenangriff Führungswechsel: Erst- DONNERSTAG Vorwurf der absichtlichen und flüchtet nach Norden. mals seit April vorigen Tötung verteidigen. 20.15 – 22.05 Uhr Sat 1 Obwohl dort zunächst nie- Jahres ist RTL nicht mehr mand seinen Dialekt versteht, Schwarz greift ein Spitzenreiter in der deut- 22.15 – 22.45 Uhr ZDF nimmt ihn die willensstarke schen Zuschauergunst. Unendliches Serienlogo: Ein Nai (Susan Taslimi), selbst ei- Im Januar wird der Kölner Alm-Ödi ist zugleich Arzt Aspekte ne Außenseiterin, bei sich Sender nach Trendbe- („Bergdoktor“), nun tritt – Interview mit dem italieni- auf. rechnungen der GfK mit Pater Brown läßt grüßen – schen Regisseur Bernardo 17,5 Prozent Marktanteil ein Ex-Kommissar ab, Pfar- Bertolucci („1900“, „Letzter 0.00 – 2.05 Uhr ARD nur den zweiten Platz hin- rer auf. Ihn spielt Klaus Tango in Paris“, „Der letzte ter dem ZDF (18,9 Pro- Wennemann, der einst in der Kaiser“ u. a.) zu seinem neu- Cotton Club zent) erreichen. Grund: ARD den „Fahnder“ und en 35-Millionen-Dollar-Werk Richard Gere als Jazztrompe- die Mainzer Publikums- dann bei Sat 1 einen allein- „Little Buddha“, das am 10. ter, der durch die Protektion renner „Diese Drom- stehenden Lehrer mit Kin- Februar die Berliner Film- eines Gangsters zum Holly- buschs“ und „Florida La- dern auf der Suche nach ei- festspiele eröffnet. woodstar aufsteigt. In Francis dy“. Anlaß zur Freude hat ner Frau gab. Ford Coppolas Film (USA Vox: Nach der Populari- 22.35 – 0.35 Uhr Sat 1 1984) verschmilzt diese Ge- sierung der Programm- 23.10 – 23.55 Uhr Vox schichte von Intrige und Eifer- struktur kommt man der Runaway Train – Expreß in sucht fugenlos mit der Schil- magischen Zwei-Prozent- Liebe Sünde die Hölle derung der prickelnden At- Marke ganz nahe. Wenn Frauen Frauen schla- Die Grundidee lieferte Ja- mosphäre im New York zur gen – Lesben und S/M / Die pans Altmeister Akira Kuro- Zeit der Prohibition.

DER SPIEGEL 5/1994 199 FERNSEHEN

Film. Die Venus, die Zsa Zsa 20.40 – 0.10 Uhr Arte zur Zeit zusetzt, heißt Elke Juliette Gre´co – Ich bin, Sommer und könnte die pla- wie ich bin tinblonde Diva die Haare auf Lieder, mit denen sie sich dem Kopf kosten. nicht wohl fühlt, lehnt sie ab – sie kann es sich leisten. 18.15 – 18.57 Uhr ZDF Könnte Arte es sich da lei- sten, der Sängerin, die ihre ML Mona Lisa Blässe durch stets schwarze Pillen für alles – und was Kleidung unterstreicht, kei- dann? nen Themenabend zu wid- men? 19.05 – 21.10 Uhr Vox

„Stirb langsam“-Darsteller Bruce Willis Nur Samstag nacht DIENSTAG Ende der siebziger Jahre wur- 23.00 – 23.30 Uhr Sat 1 SAMSTAG Menschen zu retten und die de er als „James Dean der SPIEGEL TV 11.30 – 12.30 Uhr ZDF Gangster zu besiegen. Doch Disco-Generation“ gefeiert, REPORTAGE die Zerstörung des Hochhau- doch sein Nachruhm hielt AC/DC in Concert ses kann er nicht verhindern: nicht so lange vor wie der des Lyrik oder Lüge – amerika- Die absolute Lieblingsband John McTiernans Thriller Vorbilds. Der Film „Saturday nische Untersuchungen von Beavis und Butt-Head (USA 1987) ist vor allem ein Night Fever“ (USA 1977, Re- belegen, daß Botschaften tritt in Donnington/England eindrucksvolles Stück Archi- gie: John Badham) mit John von Autisten nicht authen- auf. „Cool“ (Butt-Head). tekturkritik. Inwieweit der Travolta – der allerdings eher tisch sind (siehe Seite Film den Anschlag auf das wie ein Elvis-Verschnitt aus- 191). 12.30 – 13.15 Uhr West III New Yorker World Trade sah –prägte die Mode der spä- Center angeregt hat, ist nicht ten Siebziger und ist viel bes- MITTWOCH Zum Glück bin ich bekannt. ser als sein Ruf. 21.55 – 22.40 Uhr Vox verdammt zu leben SPIEGEL TV THEMA Als eines Tages ihre aus Bos- 22.45 – 23.30 Uhr Südwest III 20.15 – 21.55 Uhr West III nien desertierten Vettern vor Mit Hellmuth Karasek ihrer Tür standen, gab die in Max-Ophüls-Preis ’94 Dick Tracy Deutschland geborene Suza- Ein Bericht vom Spielfilm- Warren Beattys Verfilmung FREITAG na Lipovac kurzentschlossen wettbewerb für deutschspra- (USA 1990) eines amerikani- 21.30 – 22.10 Uhr Vox ihren Karrierejob bei einem chige Nachwuchsregisseure schen Comic-strip-Klassikers Chemiekonzern auf und ver- in Saarbrücken. Im Anschluß gelingt es zwar, mit sieben SPIEGEL TV schrieb ihr Leben ganz der läuft der an der Münchner Farben auszukommen und INTERVIEW Hilfe für ihre leidenden Hochschule für Fernsehen auch die Ausdrucksmöglich- Die Schauspielerin Cleo Landsleute. Ein Kamerateam und Film entstandene Lie- keiten der lebenden Darstel- Kretschmer spricht mit hat sie einige Wochen lang be- besfilm „Passacör“, einer der ler auf das Niveau der Vorlage Sandra Maischberger gleitet. Favoriten. zu reduzieren. In mindestens über Ufo-Landeplätze, gleichemMaßewirdaberauch Münchens Schickeria, He- roin und ihren neuen Film: 18.10 – 19.05 Uhr ARD der Spielraum für die Phanta- SONNTAG sie des Zuschauers einge- „Der Totengräber und das Danielle Steel Flittchen“. 14.15 – 15.40 Uhr Kabelkanal schränkt. So bleibt es bei Ran an den Feind,sagt sich die „einem harmlosen Vergnü- In den Krallen der Venus ARD und sendet mit Verfil- gen, das genauso lange dau- SAMSTAG mungen der Romane aus der Zsa Zsa Gabor in einem ert, wie der Film läuft“ 22.15 – 24.00 Uhr Vox Feder der US-Trivialautorin schlüpfrigen Science-fiction- (Frankfurter Allgemeine). Danielle Steelgegendie Sat-1- SPIEGEL TV SPECIAL Sportschau an. Gefangene des Schwei- gens – Einblicke in die 22.35 – 1.00 Uhr Pro 7 Welt der Autisten. Doku- mentation mit anschlie- Stirb langsam ßender Studiodiskussion. Kein Fürbitte-Gottesdienst für die Erhaltung der Qualität SONNTAG im Fernsehen, sondern ein 21.50 – 22.35 Uhr RTL Film über internationalen Terrorismus auf neuen We- SPIEGEL TV MAGAZIN gen: Polit-Gangster haben ei- Unterwandern, zersetzen, nen postmodernen Wolken- vernichten – die Stasi und kratzer in Los Angeles er- die Fluchthelfer / Heroin obert. Sie drohen nicht etwa auf Krankenschein – das mit Instandbesetzung, son- Schweizer Modell / Tatort dern mit Sprengung – und nur Kurfürstendamm – die Kil- der Polizist John McClane ist ler-Kommandos der Rus- den Bösewichtern gewachsen. sen-Mafia. Es gelingt ihm, unschuldige „Dick Tracy“-Szenenfoto mit Beatty, Madonna

200 DER SPIEGEL 5/1994 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus der Bunten: „Seit Claudia (Schiffer) Ehrenbürger Augstein ein Kleid mit heiligen Schriftzeichen aus dem Koran auf einer Modenschau trug, Am 27. Januar beschloß die Bürger- drohen ihr fanatische Moslems (,etwas schaft der Freien und Hansestadt Ham- Unverzeihliches‘). Jetzt kannst du zei- burg, dem SPIEGEL-Herausgeber Rudolf gen, was du für ein Mann und Zauberer Augstein die Ehrenbürgerschaft zu verlei- bist, David Copperfield. Laß alle islami- hen. In seiner Rede würdigte Bürgermei- schen Fundis auf den Mond fliegen oder ster Henning Voscherau Augsteins Ver- verwandele sie in süße Engelchen.“ dienste. Auszug:

Y Sie zählten in der jungen Bundesrepu- blik zu den Wegbereitern der Vierten Gewalt. Einer der wichtigsten Selbsthei- lungskräfte unserer Gesellschaft haben Sie mit dem SPIEGEL Stimme und Wir- kung – Wirkung! – gegeben. Ihre Texte zählten, um einen anderen Ehrenbürger unserer Stadt zu zitieren, „zu den Bau- steinen der Bundesrepublik“. Durch Wahrhaftigkeit und journalistische Sorgfalt haben Sie es unmöglich ge- Aus dem Deutschen Ärzteblatt macht, das manchmal schmerzhaft, si- cher nicht immer gerecht wirkende Im- Y munsystem Freie Presse außer Kraft zu setzen. Sie haben damit maßgeblich zu etwas beigetragen, was nach dem Untergang der ersten deutschen Republik und den Verbrechen des Dritten Reiches nicht selbstverständlich war: daß Deutsche zu Staatsbürgern wurden, willens und fähig zu Information, Meinungsbildung und Kritik; besonnen und unter Einhaltung demokratischer Spielregeln. Deshalb ist Bild-Kommentar zu Boris Beckers Ab- es nicht übertrieben zu sagen: Sie haben sicht, weiterhin in Monaco zu woh- den zweiten demokratischen Versuch in nen Deutschland mit geprägt. Die Weimarer Republik, so heißt es, sei als „Demokra- Y tie ohne Demokraten“ gescheitert. In diesem Sinne ist der Satz „Bonn ist nicht Weimar“ auch ein Verdienst des SPIE- GEL, auch Ihr Verdienst. SPIEGEL und demokratische Kultur sind in der Bundesrepublik miteinander gewachsen. Ohne engagierte und selbst- bewußte Demokraten, denen das Wohl Aus dem Stuttgarter Wochenblatt ihres Staates am Herzen liegt, hätte das „Sturmgeschütz der Demokratie“ nicht Y viel bewirken können. Und ohne die Chance, sich um dieses Sturmgeschütz zu scharen, wäre auch heiliger demokra- tischer Zorn häufig folgenlos verraucht, genauer: gar nicht erst entflammt. Der Dank, den Hamburg Rudolf Aug- stein schuldet, gilt dem Publizisten, der dem liberalen und weltoffenen Ruf un- serer Stadt Montag für Montag neuen Grund gibt. Er gilt dem Verleger und dem Steuerzahler, ohne dessen Erfolg sich Hamburg schwerlich „Medienme- tropole“ nennen dürfte und der die Hälfte des Unternehmens an seine Mit- arbeiter verschenkte. Er gilt dem eben- so großzügigen wie stillen Mäzen. Er gilt dem großen Hamburger Journalisten. Die Ehrenbürgerwürde ist die angemes- sene Anerkennung für die großen, blei- benden Verdienste, die Sie sich um un- ser Land und unsere Stadt erworben ha- Aus dem Bergischen Handelsblatt ben.

202 DER SPIEGEL 5/1994