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Sendung vom 21.01.2003, 20.15 Uhr

Dr. Ministerpräsident Freistaat Thüringen a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, herzlich willkommen zum Alpha-Forum. Wir sind heute zu Gast in der Akademie für Politische Bildung hier in Tutzing, am schönen Starnberger See. Bei uns zu Gast in der Sendung ist Dr. Bernhard Vogel, seit Februar 1992 Ministerpräsident im Freistaat Thüringen. Davor war Herr Dr. Vogel Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, und zwar in den Jahren 1976 bis 1988. Er ist damit der Einzige und Erste, der in zwei Bundesländern hintereinander Ministerpräsident wurde. Ich freue mich, dass er heute hier ist. Herzlich willkommen, Herr Dr. Vogel. Vogel: Vielen Dank. Reuß: "Ich bin in Niedersachsen geboren, in Hessen aufgewachsen, habe in Bayern Abitur gemacht, in Baden-Württemberg studiert und war in Rheinland-Pfalz Minister und Ministerpräsident." Dieser Satz stammt von Ihnen. Er ist zu ergänzen durch den Hinweis auf Ihre nun schon mehr als zehn Jahre in Thüringen. Wo sind Sie zu Hause, was bedeutet Ihnen Heimat? Vogel: Zu Hause bin ich nach diesem Lebensweg in Deutschland, eine besondere Beziehung habe ich zu Rheinland-Pfalz und seit über zehn Jahren zu Thüringen. Ich bin dankbar für diesen Weg durch Deutschland und hoffe, dass ich noch ein paar Jahre Zeit habe, auch diejenigen Länder kennen zu lernen, die ich noch nicht so gut kenne. Reuß: "Politik, das ist der Sinn für das Zumutbare", so eine Definition von Sigmund Graff. Was ist denn Politik für Bernhard Vogel? Vogel: Ganz kurz gesagt, inzwischen mein Leben. Aber das war nicht so geplant, denn das hat sich schrittweise über die Jahre erst so entwickelt und ist immer mehr meine Aufgabe, mein Lebensinhalt, mein Beruf geworden. Politik ist ein Beruf, den man nicht im Achtstundentag leisten kann. Dessen muss man sich bewusst sein und dafür muss man auch manches Opfer bringen. Aber man tauscht auch etwas dafür ein: Man hat nämlich einen Beruf, bei dem man das Gefühl hat, gebraucht zu werden. Man hat nicht das Gefühl, dass das, was man tut, jeden Tag auch ein anderer machen könnte. Man fühlt sich vielmehr in die Pflicht genommen. Dies motiviert einen dann auch, nicht immer auf die Uhr zu schauen. Reuß: "Wäre die deutsche Politik ein Auto, ich fürchte, die käme schon seit Jahren nicht mehr durch den TÜV" – dieser Satz stammt von Ihrem Parteikollegen, dem ehemaligen Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel. Teilen Sie seine Einschätzung? Vogel: Rommel hat die Fähigkeit, auf den Punkt zu formulieren und auch eindrucksvoll zu formulieren. Aber in diesem Fall teile ich seine Meinung nicht ganz. Ich räume ein, dass es viele Politiker gibt, die nicht durch den TÜV kämen. Aber ich behaupte auch, dass es einige gibt, die sehr wohl durch den TÜV kämen. Reuß: Otto von Bismarck soll einmal gesagt haben, er habe Außenpolitik immer zum Wohle des Volkes, aber nicht immer nach dem Willen des Volkes gemacht. Und Rita Süssmuth, die langjährige Bundestagspräsidentin, meinte einmal: "Man kann nicht nur tun, was die Mehrheit sagt. Politik hat für uns Führungsaufgaben." Gab es denn auch für Sie in Ihrem Leben Situationen, in denen Sie Politik machen mussten in einem Diskrepanzverhältnis zwischen dem Wohle und dem Willen des Volkes? Wie reagiert man da als demokratisch gewählter Politiker, der ja Mehrheiten braucht? Vogel: Politiker sollten alles tun, um zu wissen, was die Menschen denken. Sie sollten sich also auch Umfragen usw. bedienen, um Stimmungen und Meinungen zu kennen. Aber, und hier bin ich wirklich der Meinung von Rita Süssmuth, die Politik darf ihre Entscheidungen nicht entlang der Meinungsumfragen treffen. Stattdessen hat die Politik sehr wohl auch die Aufgabe zu führen. Ich lasse mich hierbei von einer sehr schönen Geschichte aus der Zeit Konrad Adenauers leiten, dem sein Pressesprecher von Eckardt einmal geraten hat, die Wiederbewaffnung nicht durchzuführen, denn die Umfragen hätten ergeben, die Mehrheit der Bevölkerung sei dagegen. Er würde die Wahlen verlieren, wenn er sie doch durchführen würde. Adenauer hat daraufhin geantwortet: "Ich werde meine Meinung nicht ändern, aber Sie werden viel Arbeit bekommen, die Bürger davon zu überzeugen, warum ich dafür bin." Und genau so ist es dann auch geschehen. Im Anschluss daran hat bei den nächsten Wahlen eine überwältigende Mehrheit bekommen. Politik heißt also auch führen. Wer den Wählern immer nur nachläuft, sieht sie eben auch immer nur von hinten. Gelegentlich muss man den Wählern also auch die Stirn zeigen. Man muss dann allerdings auch klar machen, warum man einer bestimmten Meinung ist, und für diese Meinung auch werben. Reuß: "Es ist fatal, die Parteien haben bei uns keinen guten Namen. Man begegnet ihnen mit Misstrauen, ihre Existenz erscheint vielen peinlich, ihre Mitglieder häufig suspekt. Ihre Arbeit wird als Geschäft angesehen, von dem man leicht schmutzige Hände bekommt." Dieser Satz klingt aktuell und vertraut, stammt aber aus einer Rede von Ihnen aus dem Jahr 1966, die Sie vor dem RCDS, dem Ring Christlich-Demokratischer Studenten, gehalten haben. Wenn man das hört, klingt das, wie gesagt, vertraut. Es hat sich nicht sehr viel bewegt und die Parteienkritik ist eher noch schärfer geworden. Haben die Parteien nichts hinzugelernt oder sind wir alle zu kritisch? Vogel: Leider muss ich zugeben, dass dieser Satz zwar alt, aber immer noch richtig ist. Ich glaube, dass das so ist, hat ein paar Gründe. Zunächst einmal liegen in der deutschen Sprache die beiden Worte "Partei" und "parteiisch" sehr nahe beieinander, obwohl sie etwas ganz Unterschiedliches bedeuten. Und außerdem hat unsere Bevölkerung im Westen einmal und im Osten sogar zweimal erlebt, dass das Wort "Partei" missbraucht worden ist. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei wie die Sozialistische Einheitspartei haben den Namen "Partei" zu Unrecht benützt und in Misskredit gebracht, weil sie nämlich gerade nicht Teil des Ganzen waren. An diesen Folgen leiden wir meiner Überzeugung nach immer noch. Wir leiden aber auch darunter, dass es in der Tat in Deutschland leider Mode ist, nicht zu sagen, "hier bin ich anderer Meinung als der Kontrahent von der anderen Partei", sondern zu sagen, "der von der anderen Partei ist unanständig, hat keine Grundsätze, ist möglicherweise sogar korrupt." Man geht also mit dieser Strategie gar nicht auf die Argumente des anderen ein. Dieses Nichteingehen auf die Argumente treibt mich wirklich um, ärgert mich. Es ärgert mich, wenn manche in der politischen Landschaft glauben, dass sie dann, wenn sie den anderen schlecht machen, auch dessen Meinung schlecht machen. Das ist aber nicht richtig. Hier müsste wirklich ein bisschen mehr Fairplay herrschen. Genau das ist aber in Deutschland leider nicht üblich. Man muss dennoch etwas für dieses Fairplay tun, denn es ist schädlich, wenn die Parteien einen schlechten Ruf haben. Reuß: Liegt das auch ein wenig an der Mediendemokratie und ihren Gesetzmäßigkeiten? Peter Glotz soll einmal gesagt haben: "Der Unterschied zwischen einem Schauspieler und einem Politiker ist graduell, nicht prinzipiell." Ist das so? Vogel: Es gehört leider auch zu unserem Umgangston, dass dann, wenn etwas nicht funktioniert, immer die Journalisten und die Medien schuld sind. In dieser Totalität möchte ich das nicht sagen. Aber das spielt natürlich dennoch eine Rolle, denn wenn ein Minister fünf Jahre lang seine Pflicht tut, dann wird über ihn so gut wie nicht berichtet. Wenn er in diesen fünf Jahren jedoch einmal Mist baut, dann hat er Sendezeit und Sendeminuten. Es liegt also schon auch ein bisschen an den Medien. Aber dieses Abschieben der eigenen Schuld der Politik auf ein anderes Feld halte ich jedoch nicht für ganz richtig. Es gibt Gott sei Dank in der Politik Gute und Bessere, es gibt in den Medien Gute und Bessere. Hier haben wir uns also gegenseitig eher zu helfen und nicht Schuld zuzuschieben. Reuß: Ich würde hier gerne einen kleinen Schnitt machen und unseren Zuschauern den Menschen Bernhard Vogel ein wenig näher vorstellen. Sie sind am 19. November 1932 in Göttingen geboren. Ihr Vater war Professor für Tierzucht und Milchwirtschaft und lehrte an der Universität Gießen. Wie sind Sie aufgewachsen, wie war Ihre Kindheit? Vogel: Hier würde ich gerne eine ganz kleine Korrektur anbringen, weil eben immer gesagt wird, mein Vater sei Professor gewesen. Er wurde später Professor. Als ich jedoch geboren wurde, war er das noch nicht. Um also ein wenig die häusliche Umgebung zu schildern: Er hat in sehr schwieriger Zeit promoviert und sich dann habilitiert. Danach ist er dann Professor geworden. Meine Kindheit war im Rückblick betrachtet die schönste Zeit meines Lebens. Zu dem Lehrstuhl meines Vaters gehörte ein landwirtschaftliches Versuchsgut. Auf diesem Versuchsgut habe ich auch die längste Zeit meiner Kindheit verbracht. Sie war unbeschwert, sie war von Tieren und von Wald und von Wiesen umgeben. Sie war das sogar noch bis in den Krieg hinein, denn die schrecklichen Folgen des Krieges habe ich eigentlich mehr nach seinem Ende verspürt. Bis zum Ende des Krieges haben wir also nicht gehungert, aber danach haben wir sehr wohl gehungert. Das Ende meiner Kindheit markierten die Bomben, die am 3., 6. und 11. Dezember 1944 auf Gießen fielen und Gießen zerstörten. Das war mein erstes großes Katastrophenerlebnis. Reuß: Ihr Bruder Hans-Jochen war ja über viele Jahrzehnte in der SPD erfolgreich, so wie Sie das in der CDU waren. Sie haben einmal gesagt, er sei ein großes Vorbild für Sie in puncto Pflichterfüllung. Was bedeutet Ihnen persönlich Pflicht und Selbstdisziplin? Vogel: Ich habe den Eindruck, dass Pflichterfüllung für meinen Bruder Leidenschaft ist. Für mich ist sie hingegen notwendiges Übel. Darin liegt die Anerkennung, aber gleichzeitig auch das Eingeständnis, dass es mir Mühe macht, die Pflicht zu erfüllen. Aber ich weiß auch, dass man sie erfüllen muss, um der Gesamtaufgabe wegen. Man kann nicht weit über 20 Jahre lang Ministerpräsident sein und seine Pflicht nicht erfüllen. Das geht nicht. Hier heißt es wirklich entweder oder. Reuß: Sie haben einmal gesagt: "Für meinen Bruder gilt der Satz: Eine wahre Freude ist eine ernste Sache." Nun haben Sie soeben geschildert, dass Pflicht für Sie ein notwendiges Übel sei, das jedoch durchzuhalten ist. Aber man hat doch den Eindruck, dass Ihnen die Lust am Leben schon auch wichtig ist. Gehört das dazu? Vogel: Also, dieser Satz ist übrigens völlig richtig. Eine wahre Freude ist in der Tat keine oberflächliche Sache. Nein, wenn eine sehr ernste Sache gut ausgeht, dann freut man sich darüber, dann empfindet man wahre Freude. Ja, ich würde schon sagen, mir ist es sehr wichtig, dass man sich in dem Sinne wohl fühlt, dass man sich mit seiner Umgebung versteht und nicht nur neben ihr her lebt. Reuß: Sie besuchten in Ihrer Kindheit zuerst in Gießen und dann in München das Gymnasium. In München war es das Maximiliansgymnasium, an dem auch schon Franz Josef Strauß Schüler gewesen war. Sie machten dann 1953 Ihr Abitur. Ihre Eltern wollten eigentlich, dass Sie in München studieren. Sie wollten das nicht, Sie wollten weg. War es ein Stück weit Opposition, dass Sie nach gingen? Oder war das ein Stück weit auch die Suche nach Selbstständigkeit? Vogel: Franz Josef Strauß hatte zu meiner Zeit die Schule bereits verlassen, aber seine spätere Frau, Marianne Zwicknagel, war in der Oberstufe, als ich selbst auf dieses Gymnasium gekommen bin. Daran kann ich mich noch gut erinnern. Es war zu der damaligen Zeit, also im Jahr 1953, ganz und gar unüblich, wenn man in einer Universitätsstadt lebte, dann nicht auch an der dortigen Universität zu studieren. Dies galt natürlich umso mehr, wenn man gar in München lebte. Da meine Eltern, und hier insbesondere meine Mutter, über viele, viele Jahre hinweg keinen sehnlicheren Wunsch gehabt hatten, als endlich wieder in München leben zu dürfen, war es vor allem für meine Mutter völlig unverständlich, warum ich nicht in München geblieben bin, sondern nach Heidelberg ging – dies aber vor allem um das Faches willen, das ich studieren wollte. Ich hatte nämlich vor, Soziologie zu studieren. Diese meine Überlegungen waren aber im Grunde genommen falsch, weil der berühmte Alfred Weber, der zu dieser Zeit noch in Heidelberg lebte und den ich dort auch hören wollte, für Erstsemester schlicht nicht geeignet war. Im ersten Semester muss man nämlich die Grundlagen studieren. Es war also an sich viel zu früh, gleich im ersten Semester wegen Alfred Weber nach Heidelberg zu gehen. Zweitens war es so, dass die Entscheidung für die Soziologie eigentlich mehr eine Ausrede gewesen ist. Ich habe dann folgenden Kompromiss mit meinen Eltern geschlossen: Ich durfte nach Heidelberg – ich hätte mich im anderen Fall auch wirklich gewehrt –, aber ich musste außer Soziologie auch noch Volkswirtschaft studieren, weil dieses Fach im Sinne meiner Eltern nicht wie die Soziologie so etwas Neumodisches darstellte, sondern etwas Handfestes, das man kannte. Reuß: Ich glaube, Sie haben dann auch noch Politische Wissenschaften studiert. Vogel: Das kam später. Mein Studium begann also mit der Soziologie und um meiner Eltern willen mit der Volks- und Betriebswirtschaft. Während des Studiums selbst habe ich mich dann sehr stark der Politischen Wissenschaft und der Geschichte zugewandt. Ich habe dann letztlich auch in der Politischen Wissenschaft promoviert. Daneben habe ich freilich immer auch noch Volkswirtschaft betrieben. Als ich dann aber meinen Doktor gemacht hatte, fuhr ich nach Hause und konnte dort doch eine gewisse Ehre einlegen, weil ich das nun geschafft hatte. Daraufhin hat man mir dann von Seiten der Eltern das volkswirtschaftliche Examen erlassen. Meine Eltern waren es zufrieden: Dr. phil., das war immerhin etwas. Ich habe also den volkswirtschaftlichen Abschluss dann nicht mehr gemacht. Reuß: Noch während Ihres Studiums traten Sie in die CDU ein. Dies war zu Beginn der sechziger Jahre und in Bonn regierte damals noch Konrad Adenauer. Was hat den Ausschlag dafür gegeben, dass Sie gerade in die CDU eintraten? Ihr Bruder hatte ja eine andere Entscheidung getroffen. Hatte das bei Ihnen mit Ihrem christlichen Menschenbild zu tun? Hatte das etwas mit Ihrer Verankerung in der katholischen Soziallehre zu tun? Vogel: Ganz aktuell war der Anlass ein Kraftfahrzeugmechaniker in Heidelberg, mit dem ich befreundet war: Er wollte unbedingt, dass ich für den Stadtrat kandidiere. Wenn ich also auf der Liste der CDU kandidieren würde, dann müsste ich natürlich auch eintreten in die CDU. Das war der aktuelle Anlass gewesen. Denn an sich herrschte bei uns, bei den Politikwissenschaftlern in Heidelberg, die Meinung, wenn man dieses Fach als Wissenschaft betreibt, dann sollte man nicht selbst aktiv in eine Partei eintreten. Ich habe das auch selbst lange Zeit für richtig gehalten. Letztlich habe ich mich dann aber doch zum Eintritt in die CDU entschlossen. Dass ich dann, wenn ich je in eine Partei eintreten sollte, in die CDU eintreten würde, war für mich von Anfang an klar gewesen. Dies hatte einerseits damit zu tun, dass Konrad Adenauer eine faszinierende Wirkung auf mich ausübte. Und zum anderen hatte das damit zu tun, dass ich auch im Studium sehr eng mit der christlichen Soziallehre verbunden war. Von daher habe ich gemeint, dass für mich nur die CDU in Frage kommen kann. In Bayern wäre das dann eben die CSU gewesen. Reuß: Den Unterschied zwischen den Unionsparteien und der SPD haben Sie selbst einmal zugespitzt so beschrieben: "Der heilige Martin hatte einen Mantel und teilte ihn mit jemandem, der keinen hatte. Die Sozialisten begreifen nicht, dass man erst einen Mantel haben muss, um ihn teilen zu können." Andererseits haben Sie selbst hier an der Politischen Akademie Tutzing bereits im Jahr 1967 Folgendes prophezeit: "Beide großen Parteien" – gemeint sind hier die Union und die SPD – "müssen eine stärkere Orientierung hin zur Mitte erfahren." Dies ist inzwischen so eingetreten: Alle buhlen um die Mitte, in der Mitte werden die Wahlen gewonnen. Wenn Sie mal von der Tagespolitik absehen: Wo sind heute die zwei, drei großen Unterschiede zwischen der Union einerseits und der SPD andererseits? Vogel: Zu dem Bild mit dem Mantel stehe ich heute noch. Bei der Sozialdemokratie wird mir zu wenig über die Beschaffung des Mantels gesprochen und es wird mir auch derjenige zu wenig geachtet, der die Mäntel produziert, damit die, die keinen Mantel haben, einen solchen bekommen. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Ein zweiter Punkt besteht für mich in der Europa- und in der Außenpolitik. Das war nicht immer so deutlich, wie es zurzeit wieder deutlich ist. Ich meine hier das Verhältnis zu Amerika, zu Frankreich und auch das Verhältnis zu Europa. Wenn mit dem Bild des Mantels die Wirtschafts- und Arbeitspolitik abgehandelt sind, dann ergibt sich für mich noch ein dritter Punkt: Das war für mich von Anfang an die Bildungspolitik. Hier gibt es eben ganz unterschiedliche Grundauffassungen, was Schule soll. Weil ich mal zehn Jahre lang Kultusminister gewesen bin, ist mir das nicht mehr ganz "aus den Kleidern" gegangen. Reuß: 1965, kurz vor Ihrem 33. Geburtstag, wurden Sie in den deutschen gewählt. Es regierte damals noch Ludwig Erhardt, aber ein Jahr später bereits kam es zur Großen Koalition. Das war damals eine bewegte Zeit in Bonn. Diese Große Koalition gilt ja heute im Rückblick, in der Retrospektive in vielen politischen Kommentaren, häufig als eine Zeit des Stillstands. In einem Buch über Sie heißt es jedoch, der Großen Koalition von 1966 bis 1969 sei eine der tatkräftigsten Phasen der deutschen Nachkriegspolitik gewesen. Wie haben Sie damals die Große Koalition selbst empfunden? Sie haben dann ja später in Thüringen auch mal selbst fünf Jahre lang mit einer Großen Koalition regiert. Vogel: Damals in den sechziger Jahren, als die Große Koalition geschlossen wurde, schien sie mir für eine Weile richtig, um ein paar grundsätzliche Entscheidungen, die auch verfassungsändernde Mehrheiten brauchten, treffen zu können. In Thüringen habe ich sie geschlossen, weil es keine andere Wahl für eine demokratische Mehrheit in der Regierung gegeben hat. Heute bin ich ganz grundsätzlich der Meinung, dass man sie wenn irgend möglich vermeiden sollte. Denn Große Koalitionen sagen nämlich weder hü noch hott. Lothar Späth und Herrn Riester in einer Regierung zu haben, bedeutet, dass man letztlich weder Herrn Riester noch Herrn Späth wirklich hat. Man sollte die Große Koalition also wirklich vermeiden. Hierfür gibt es jedoch noch einen zweiten Grund: Wenn es in einem Parlament keine starke Opposition gibt, dann erhöht das die Gefahr extremer Gruppen links wie rechts. Meines Erachtens haben aber gerade die beiden Volksparteien auch die Aufgabe, radikale Gruppen vom Bundestag, von den Parlamenten fern zu halten. Ich bin also gegen Große Koalitionen, füge allerdings hinzu: Es sei denn in extremen Ausnahmesituationen. Dann muss auch das möglich und denkbar sein. Reuß: Schon 1967 haben Sie dann Ihr Bundestagsmandat wieder niedergelegt. Der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident hat Sie nämlich in sein Kabinett berufen, zum Minister für Unterricht und Kultus. Zu dem Zeitpunkt waren Sie gerade mal 34 Jahre alt. Wenn man in so einem jungen Alter Minister wird, steigt dann das Selbstbewusstsein ins Unermessliche? Oder hat es da schon auch Momente des Zweifels gegeben, ob man einer solchen Aufgabe auch wirklich gewachsen ist? Vogel: Wenn nicht andere gesagt hätten, ich solle das machen, dann wäre ich nie auf die Idee gekommen. Ich habe davor nie eine Minute daran gedacht, Kultusminister zu werden. Ich habe mich stattdessen noch darüber gefreut, dass ich zwei Jahre zuvor in den Bundestag gewählt worden war. Darauf war ich stolz. Ich habe das also gemacht, weil andere zu mir gesagt haben, dass man mich an dieser Stelle braucht. Ich erinnere mich ganz genau daran, dass ich mich damals mit dem Kabinettskollegen Heiner Geißler, der am gleichen Tag wie ich Minister wurde, nach vier Wochen getroffen habe und dass wir eine Flasche Wein zusammen getrunken haben: auf die Tatsache nämlich, dass wir es immerhin vier Wochen geschafft hatten. Dass daraus Jahrzehnte werden würden, hätte ich damals nie gedacht. Nein, wir waren stolz darauf, dass wir es immerhin vier Wochen geschafft hatten. Gott sei Dank haben meine Mitarbeiter damals nicht gewusst, wie dünn das Eis gewesen ist, auf dem ich mich bewegte. Ich habe mir am Abend vor der Ernennung zum Kultusminister von einem Freund auf ein Kuvert die Beamtenleiter vom Regierungsrat zum Oberregierungsrat und weiter zum Ministerialrat aufschreiben lassen, damit ich am nächsten Tag überhaupt wusste, wer höher und wer niedriger in der Hierarchie steht. Da ich ja kein Jurist bin, wusste ich das doch alles nicht. Nein, nein, das war damals schon ein großes Wagnis und dieses Wagnisses war ich mir auch sehr bewusst. Wenn heute manchmal gesagt wird, "mit 34 Jahren kann der doch nicht dieses oder jenes werden", dann lautet meine Antwort immer: "Ich bin es auch mit 34 Jahren geworden und es kam nicht zur großen Katastrophe." Reuß: Sie haben dann als Kultusminister auch sehr viel bewegt. Sie haben damals z. B. die Konfessionsschule abgeschafft, was sicherlich nicht so leicht gewesen sein dürfte. Sie haben stattdessen die christliche Gemeinschaftsschule gegründet. Und das in einem Land wie Rheinland- Pfalz, das doch überwiegend katholisch geprägt ist. Warum wollten Sie die Konfessionsschule abschaffen? Was war damals Ihr Hauptgrund? Vogel: Das war eine der schwierigsten Aufgaben, die ich überhaupt je zu lösen hatte. Übrigens ist Rheinland-Pfalz gar nicht so sehr katholisch geprägt, es gibt nur sehr katholisch dominierte und sehr evangelisch dominierte Bereiche. Das war das Problem. Der aktuelle Anlass war, dass man weg wollte von zu kleinen Schulen, einklassige Schulen galten damals als völlig hinterwäldlerisch. Heute gibt es hingegen Pädagogen, die genau das gut finden. Aber damals drängte wirklich alles zu gegliederten Schulen, zu größeren Schulen. Das konnte man aber auf der Basis der Konfessionsschulen nicht machen. Denn in der Pfalz ist es nun einmal so, dass da ein Dorf katholisch und das Nachbardorf evangelisch ist. Deswegen ging das nicht. Das war der aktuelle Anlass. Aber dahinter stand natürlich schon auch die Frage, ob die Zeit nicht reif sei für christliche Gemeinschaftsschulen anstelle der Konfessionsschulen. Damals ging die Politik der innerkirchlichen Entwicklung wirklich voraus, denn diese Überlegungen gründeten in einer Zeit lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Erst nach dem Konzil ist das ja auch in der Kirche selbst Thema geworden. Aber das war damals schon ein schweres Stück Arbeit, weil natürlich die Basis, der Klerus und auch die Bevölkerung, zunächst einmal weitgehend dagegen waren. Das ist so ein Beispiel für das, was wir vorhin besprochen haben. Wenn ich damals gewartet hätte, bis die Mehrheit der Bevölkerung bei den Wahlen dafür gewesen wäre, dann wäre das erst zehn Jahre später so gemacht worden. Reuß: Oder nie. Vogel: Ja, oder nie. Reuß: Für die nächste Frage muss ich ein wenig ausholen. 1966 wurde , den Sie, wenn ich mich nicht irre, bereits vom Studium her kannten, Landesvorsitzender der CDU in Rheinland-Pfalz. 1969 löste er dort auch Peter Altmeier als Ministerpräsident ab. 1973 wurde er dann Bundesvorsitzender der CDU. Es ging in diesem Jahr 1973 also um seine Nachfolge als CDU-Landesvorsitzender. Helmut Kohl hatte dafür Sozialminister Heiner Geißler, Ihren Kabinettskollegen, favorisiert. Sie haben jedoch auch kandidiert und wurden prompt gewählt. Warum wollten Sie CDU-Landesvorsitzender werden? War das auch bereits eine Art von Präjudiz für das Amt des Ministerpräsidenten? Vogel: Ich kannte Kohl vom Studium. Aber weil in dem Zusammenhang oft vieles erzählt wird, was nicht stimmt, muss ich hierzu ein paar Sachen sagen. Wir kannten uns und ich wusste auch, das ist der Helmut Kohl aus Ludwigshafen. Und manche haben auch damals schon während des Studiums gesagt, er würde irgendwann einmal Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz werden. Er hatte aber ein anderes Hauptfach als ich. Wir haben uns also nicht schon in der Zeit des Studiums freundschaftlich verbunden gefühlt. Wir haben uns nur gekannt und uns interessant gefunden. Freundschaft ist daraus erst sehr viel später geworden. In Rheinland-Pfalz war mir, als er Bundesvorsitzender wurde und er deswegen das Amt des Landesvorsitzenden abgeben musste, in der Zwischenzeit eine relativ breite Zustimmung im Volk zugewachsen. Auch hier waren es wieder andere, wie z. B. die inzwischen als Staatssekretärin tätige Hanna-Renate Laurien, die zu mir gesagt haben: "Sie müssen das machen! Sie haben die besten Chancen, gut anzukommen, wenn Kohl eines Tages nach Bonn gehen sollte." Erst auf deren Aufforderung hin habe ich dann gesagt: "Wenn ihr meint, dann gehen wir in diesen Kampf." Dieser Kampf war dann sehr heftig, denn mit Heiner Geißler kann man nicht irgendwie so im Spazierengehen kämpfen. Ich kann allerdings sagen, dass wir trotzdem und Gott sei Dank Freunde geblieben sind, auch über diesen harten Kampf hinaus. Mit dem Weggehen von Kohl als Kanzler war damals freilich noch nicht unmittelbar zu rechnen. Aber im Rückblick war das die zentrale Entscheidung: Wer sein Nachfolger als Parteivorsitzender wurde, hatte dann auch die besten Chancen, Ministerpräsident zu werden. Obwohl auch hierbei Helmut Kohl einen anderen Kandidaten unterstützte. Die Abstimmung um den Ministerpräsidenten war dann aber vergleichsweise eine sehr wenig heftige Auseinandersetzung. Mir ist also im Jahr 1976 das Amt des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz eher auseinandersetzungsfrei zugekommen. Reuß: Sie haben es schon gesagt, Helmut Kohl hatte für seine Nachfolge als Ministerpräsident eigentlich den damaligen Finanzminister in Rheinland- Pfalz, Johann Wilhelm Gaddum, favorisiert. Sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits Landesvorsitzender der CDU: Wieso war dann Kohl immer noch für einen anderen Kandidaten? Vogel: Das fragen Sie natürlich besser ihn selbst als mich. Ich muss aber zunächst einmal sagen, dass meine beiden letztlichen Kontrahenten höchst achtbare Leute waren. Es handelte sich also keineswegs um die Frage besser oder schlechter. Im Gegenteil: Sowohl Heiner Geißler war ebenso wie Johann Willhelm Gaddum ein durchaus ernsthafter Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. Es war also nicht so, dass da Stark gegen Schwach gestanden hätte. Stattdessen war das wirklich eine sehr ausgewogene Sache. Nun, Kohl hatte offensichtlich den Eindruck, dass die anderen das besser könnten als ich. Ich muss ihm allerdings zu Gute halten, dass auch für ihn, obwohl er davor ja eindeutig Stellung bezogen hatte, nachher, als die Sache dann entschieden war, die Sache so entschieden war: Er hat mich, nachdem ich in beide Ämter gewählt worden war, nach diesen Wahlen dann uneingeschränkt unterstützt. Ich lege zwar Wert darauf, die Mär zu beseitigen, ich sei immer so eine Art Ziehkind von Kohl gewesen. Das war ich nicht! Ich lege aber ebenfalls Wert darauf zu sagen, dass wir immer fair und gut zusammengearbeitet haben und dass er mich dann auch, wenn ich irgendwo ein Ziel erreicht hatte, so gut wie er nur konnte unterstützt hat. Reuß: Sie waren dann in Rheinland-Pfalz zwölf Jahre lang ein sehr erfolgreicher Ministerpräsident. Sie wurden dreimal wieder gewählt und dabei zweimal sogar mit absoluter Mehrheit. Im Jahr 1987 mussten Sie ein paar Prozentpunkte Verluste hinnehmen und eine Koalition mit der FDP eingehen, die es auch davor schon mal gegeben hatte. Aber einige in Ihrer Partei meinten, opponieren zu müssen: Dies galt z. B. auch für Ihren eigenen Umweltminister Hans-Otto Wilhelm. Er forderte, die beiden Ämter des Ministerpräsidenten und CDU-Landesvorsitzenden voneinander zu trennen. Sie sagten daraufhin: "Wenn das passiert, dann werde ich auch als Ministerpräsident zurücktreten!" Warum eigentlich? Vogel: Zunächst einmal folgende Feststellung: Wir hatten bei Landtagswahlen drei Mal eine absolute Mehrheit erreicht. Helmut Kohl schaffte das einmal und ich zweimal. Die Partei war dann verwöhnt und hat die Tatsache, dass wir diese absolute Mehrheit beim vierten Mal nicht erreichten, sich und auch mir als dem Verantwortlichen und Spitzenkandidaten übel genommen. Obwohl das Ergebnis ja immerhin so war, dass es keine Alternative zu uns gab: Die FDP konnte mit der SPD keine Mehrheit bilden, sondern nur mit uns. Darum ist dann ja auch ein neues Kabinett Vogel gebildet worden. Aber der eigentliche Grund war meines Erachtens, dass man es gar nicht für möglich gehalten hatte, dass wir auch einmal keine absolute Mehrheit erringen könnten. Das ist ja übrigens ganz interessant: Man wird gefeiert, wenn man sie gewinnt, und kritisiert, wenn man sie nicht permanent gewinnt. So war die Situation damals und es kam zu dieser Auseinandersetzung, die ich immer bedauert habe. Ich habe dieser Auseinandersetzung allerdings von vorneherein die Richtung gegeben: Wenn man jemandem die Arme abschlägt, dann kann man nicht erwarten, dass er kraftvoll regieren kann. Ein Ministerpräsident, der Parteivorsitzender ist und in einer Abstimmung um dieses Amt gegen ein Kabinettsmitglied unterliegt, kann nicht Ministerpräsident bleiben. Ich habe das nicht aus Säuernis oder anderen Motiven heraus so gemacht. Ich habe nur und ausschließlich deshalb so gehandelt, weil ich mir sicher war, dass das der halbe Weg zum Scheitern als Ministerpräsident ist, wenn ich dennoch im Amt bleiben würde. Alle, die daraufhin gesagt haben, ich sei lediglich ein schlechter Verlierer, hätten im anderen Fall dann gesagt: "Warum hat er nicht gemerkt, dass man die Konsequenzen ziehen muss?" Ich bin also nach wie vor der Meinung, das war die einzig mögliche Entscheidung: Wenn die Partei nicht mehr ja zu einem sagt, dann kann man auch nicht mehr Ministerpräsident eines Bundeslandes sein. Reuß: Sie haben später einmal gesagt, dass der November 1988 – der Zeitpunkt des Parteitags in Rheinland-Pfalz und somit auch dieser Auseinandersetzung – bei Ihnen Narben hinterlassen hätte und diese Narben auch bleiben würden. Was sind das für Narben? Konnten Sie Ihren Widersachern später verzeihen? Vogel: Zunächst einmal ist es ja schon ein außergewöhnlicher Vorgang, nach zwölf erfolgreichen Jahren in dieser Weise im Stich gelassen zu werden. Es wäre mir unvorstellbar, so etwas einfach so wegstecken zu können. Darum ist es in der Tat so: Wunden heilen, aber Narben bleiben. Zu diesen Narben gehört, dass wir an diesem 11. November 1988 im Grunde genommen die Führungsrolle über ein deutsches Bundesland verspielt haben. Wie man sieht, sogar auf lange Zeit! Das kann ich nicht verzeihen. Es geht mir heute nicht mehr darum, welcher Delegierte damals wie gestimmt hat, aber dass uns nicht der politische Kontrahent besiegt hat, sondern wir uns diese Niederlage selbst bereitet haben – davor ist übrigens die Union auch andernorts nie völlig gefeit gewesen –, habe ich nicht verziehen. Und das werde ich auch so lange nicht verzeihen, bis nicht wieder ein Ministerpräsident oder eine Ministerpräsidentin von der CDU in die Staatskanzlei von Rheinland-Pfalz einzieht. Reuß: "Kaum ein Beruf, der auf Umgang mit Menschen angelegt ist, macht so einsam wie der des Politikers", sagte Dieter Lattmann, der Schriftsteller, der selbst einmal im Bundestag gesessen ist. Teilen Sie seine Ansicht? Vogel: Der Grundansatz ist richtig. Ich würde nur sagen, "er birgt die Gefahr in sich, einsam zu machen." Denn er muss es nicht. Wobei ich allerdings noch hinzufügen möchte: Es kommt da schon auch ein bisschen auf den Politiker an, denn wer die Macht über alles setzt, wird sehr einsam sein. Wer auf ein Team Wert legt, wer auf Kooperation Wert legt, der wird auch der Gefahr der Einsamkeit entgehen können. Reuß: Im März 1989 übernahmen Sie den Vorsitz der Konrad-Adenauer-Stiftung. Im Jahr 1990 kam es dann zur deutschen Einheit und auch zu Wahlen in den einzelnen Landtagen. Nicht jede neue Regierung in den fünf neuen Bundesländern konnte in der Nachfolgezeit geschickt agieren, es fehlte vielleicht auch ein bisschen die politische Erfahrung. Der Ministerpräsident Thüringens, , der mit einer CDU/FDP-Koalition regierte, musste jedenfalls im Januar 1992 zurücktreten. Daraufhin hat man Sie gefragt und bedrängt, doch dieses Amt zu übernehmen. Eigentlich wollten Sie gar nicht, wie man heute nachlesen kann. Letztlich haben Sie sich aber überreden lassen und wurden dann im Februar 1992 zum Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen gewählt. Warum haben Sie anfangs gezögert? Vogel: Dieses Zögern hat ein paar Tage lang eine Rolle gespielt, auch in meinen Überlegungen. Es endete dann aber mit einem Telefongespräch an einem Sonntagabend. Ich glaube, es war der 26. Januar 1992. Dieses Telefongespräch führte ich mit dem Bundeskanzler Helmut Kohl, der ja auch Bundesvorsitzender der CDU war. Wir haben dabei die ganze Sache abgewogen und seine Empfehlung lautete dann: "Die Stiftung wird in Zukunft unglaublich wichtig werden, vor allem in den neuen Bundesländern und in den osteuropäischen Ländern. Bleib du bei der Stiftung und wir suchen einen anderen!" Das war am späten Abend dieses Sonntags. Am nächsten Morgen, als die Thüringer beim Kanzler waren, hat sich aber in der Diskussion – an der ich nicht teilgenommen habe – herausgestellt, dass man sich auf keine geeignete Persönlichkeit verständigen konnte, außer auf mich. Und dann gab es einen neuerlichen Anruf bei mir: "Die Lage ist anders. Wir brauchen dich!" Das sagte Kohl und das sagten die Thüringer, die dort versammelt waren. Ich habe ihnen geantwortet: "Leute, ich habe Jahrzehnte auf der deutschen Sonnenseite gelebt, wenn ihr jetzt sagt, ihr braucht mich, dann kann ich es nicht verantworten zu sagen, ‚aber ich mach das nicht’." Ich habe das gesagt, obwohl ich wusste, dass ich mich damit auf ein ziemliches Himmelfahrtskommando einlasse. Denn ich kannte ja in diesem Land höchstens drei Leute mit dem Namen. Ich kannte das Land von einigen Museums-, Kirchen- und Schlösserbesuchen noch während der DDR-Zeit. Aber ich hatte keine Fabrik je von innen gesehen. Es war schon eine reichlich kühne Entscheidung, das zu machen. Umso erfreulicher ist es, dass es nicht misslungen ist. Reuß: Nun eine ganz saloppe Frage, wenn Sie erlauben. Thüringen ist ja ganz anders strukturiert als Rheinland-Pfalz. Es leben dort weniger Menschen, es hat eine ganz andere Geschichte und auch ganz andere Probleme als Rheinland-Pfalz. Dennoch hatten Sie als Ministerpräsident ein Maß an Erfahrung, wie das sonst kaum jemand bieten konnte. Ist also das Amt des Ministerpräsidenten eine Art Handwerk, das man lernen kann? Ist es also, salopp gesagt, egal, welches Bundesland man regiert, weil nun einmal Entscheidungen nach einem bestimmten Muster gefällt werden müssen und weil die Probleme in ihrer Dramatik zumindest ähnlich sein können? Vogel: Es ist auch ein handwerkliches Amt. Und es war natürlich von großem Nutzen für mich und für Thüringen, dass ich den Umgang mit dem Bundesrat, mit Ministerpräsidentenkonferenzen, mit der Verwaltung usw. professionell beherrschte. Das war natürlich ein Vorteil. Aber die Bindung zum Land, die Kenntnis der Leute, die zentralen Probleme usw., all das ist nicht übertragbar. Ich will das mal an einem Beispiel erläutern: In den Jahren, in denen ich in Rheinland-Pfalz Ministerpräsident war, hatte ich in diesem Amt mit der Wirtschaft nur relativ wenig zu tun. Die Wirtschaft war damals nur ein Thema neben anderen. In Thüringen ist es das Thema Nummer eins vom ersten Tag meiner Amtszeit an. Rheinland-Pfalz war z. B. auch ein Grenzland, in dem die Leute über Jahrhunderte hinweg immer an eine Grenze stießen. Thüringen hingegen war immer ein Durchgangsland. Die handwerkliche Seite ist also in beiden Fällen die gleiche, aber das Profil der Länder ist natürlich völlig unterschiedlich. Rheinland-Pfalz fußt auf der römischen Geschichte, Thüringens Bedeutung fußt auf dem 17., 18. und 19. Jahrhundert und auf seiner Funktion als kulturelles Zentrum. Das ist wirklich jeweils ein ganz anderes Profil. Reuß: Sie mussten teilweise auch sehr schwierige Entscheidungen mittragen, als es in der Anfangszeit in der Wirtschaft Thüringens um Sanierung und Privatisierung ging. Es musste z. B. die Kaligrube in Bischofferode geschlossen werden. Die Menschen kämpften um ihre Arbeitsplätze und es gab sogar einen wochenlangen Hungerstreik. Fühlt man sich als Politiker, der gestalten will, in einer solchen Situation nicht manchmal auch ohnmächtig gegenüber solchen Problemen? Denn da kann man ja fast nichts mehr ausrichten. Vogel: In dieser Bischofferoder Sache habe ich mich tatsächlich ohnmächtig gefühlt und habe das ja auch sogar mal mit einem sehr derben Wort zum Ausdruck gebracht. Das stimmt also durchaus. Aber ich habe dabei auch eines gelernt: Man muss doch zwischen den Problemen ein bisschen unterscheiden. Ich weiß jetzt, dass Rheinland-Pfalz in den achtziger Jahren verhältnismäßig lösbare Probleme hatte. Ich weiß jetzt auch, dass sich homerische Streite, die wir damals um diese oder jene Kommunalordnung und dergleichen hatten, recht schnell relativieren, wenn man mal begreift, wie froh man sein kann, dass es überhaupt eine Ordnung gibt. Das habe ich in Thüringen gelernt. Es relativiert sich wirklich einiges von dem, was in der etwas in die Jahre gekommenen alten Bundesrepublik zu riesengroßen Themen aufgebauscht worden war. Die Gebietsreform in den westdeutschen Ländern hat in der Regel zehn Jahre gedauert. In Thüringen standen wir vor der Notwendigkeit, sie in sechs Monaten zu bewältigen. Und sie ist dann auch nicht schlechter gelungen als im Westen. Reuß: Nun werden ja Politiker immer sortiert – auch in den eigenen Parteien –, wo sie denn hingehören. Sie sind ein Politiker, der eindeutig nicht polarisiert. Man spricht von linken und rechten Politikern, und Heiner Geißler sagte einmal, das seien doch lediglich Begriffe aus der parlamentarischen Gesäßgeografie. Wenn Sie sich dennoch selbst einschätzen müssten: Wo steht denn Bernhard Vogel im Parteienspektrum? Vogel: Natürlich antworte ich Ihnen darauf mit "in der Mitte". Aber ich weiß natürlich auch, dass das alle sagen und dass das deswegen keine genaue Ortsbestimmung ist. Nein, ich gehöre in der Tat zu denen, die sagen: Ein Realist ist der, dem die Dinge so schmecken, wie sie wirklich sind. Ich bin gegen jede Ideologisierung, ich bin gegen Politik mit der Faust, ich bin für Politik mit der ausgestreckten Hand. Und ich bin dafür – dies nennen manche konservativ –, dass man prüft, was ist: Wenn es gut ist, dann soll man es behalten. Wenn das Neue jedoch wirklich besser ist, dann soll man es auch machen. Ich bin also gegen jene, die sagen: "Es ist ganz egal, ob es besser ist, es muss nur anders sein, damit wir es wollen." Da bin ich wirklich völlig dagegen. Und im Übrigen lasse ich mich deswegen nicht gerne als Konservativer einordnen, weil dieses Wort "konservativ" von der Konkurrenz mit einem negativen Vorzeichen versehen wird. Für mich ist es hingegen entscheidend, dass meine Partei christliche, liberale und soziale Wurzeln hat. Reuß: Sie haben die christlichen Wurzeln soeben schon angesprochen. Zum Schluss daher noch eine persönliche Frage: Sie sind ein bekennender Christ und auch ein engagierter Christ. Was bedeutet Ihnen Ihr Glaube und gibt es auch Momente des Zweifels? Vogel: Mein Glaube ist ein zentraler Wesenspunkt meiner Persönlichkeit. Gäbe es Gott nicht und gäbe es die christliche Offenbarung nicht, dann wüsste ich z. B. nicht, ob ich mich so abplagen würde, wenn ich das mal so konkret ausdrücken darf. Reuß: Sie selbst haben einmal gesagt: "Ein Stück Verschlossenheit gehört zu meinem Wesen." Wie viel Verschlossenheit kann man sich denn als Politiker leisten? Wie viel muss man sich leisten? Vogel: Einiges muss man sich leisten, weil man sonst bis aufs Hemd ausgezogen wird – oder sogar bis einschließlich des Hemds. Eine gewisse Privatsphäre, einen bestimmten persönlichen Bereich muss man sich also bewahren, übrigens auch, um nicht abhängig zu werden. Wenn man sich ein Leben ohne Politik nicht mehr vorstellen kann, dann macht man Konzessionen, um weiterhin mit der Politik leben zu können. Und das ist nicht gut. Das ist übrigens auch meine Begründung dafür, warum eine gewisse finanzielle Ausstattung des Politikers notwendig ist, warum es auch eine gewisse finanzielle Absicherung für ihn braucht: Niemand soll, weil er keine andere berufliche Alternative mehr hat, auf den Knien bitten müssen, erneut aufgestellt zu werden. Reuß: Ein schönes Schlusswort, denn wir sind bereits am Ende unserer Sendezeit angekommen. Die Zeit ist wirklich gerast. Ich darf mich ganz herzlich für das menschlich angenehme Gespräch bedanken. Ich würde gerne, wenn Sie erlauben, mit einem Zitat über Sie enden. Es stammt von Wolfgang Wiedemeyer, der in einem Buch über Sie geschrieben hat: "Bernhard Vogel ist weder ein Linker noch ein konservativer Rechter. Im politischen Koordinatensystem ist er in der Mitte angesiedelt. Er ist ein Wertkonservativer. Er ist ein Mann des Ausgleichs, aber kein Populist. Er hat vorgelebt, dass man in der Politik auch ohne andauernde Benutzung des Ellenbogens nach oben kommen kann, dass Rücksicht auf die Gefühle anderer und Liebenswürdigkeit kein Zeichen politischer Schwäche sein müssen." Noch einmal ganz herzlichen Dank, Herr Ministerpräsident. Verehrte Zuschauer, das war unser Alpha-Forum, heute mit Dr. Bernhard Vogel, dem Ministerpräsidenten des Landes Thüringen. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen, auf Wiedersehen.

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