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Zum 100. Geburtstag Mann ohne Schablonen von Gerhard Schröder

Am 11. September vor einhundert Jahren gemeinschaft des Gymnasiums an; hier wurde Gerhard Schröder in Saarbrücken wurde sein besonderes Interesse für die geboren. Er lässt sich schwerlich mit ei- Philosophie Immanuel Kants geweckt, nem Begriff charakterisieren. „Schablo- die er sein Leben lang pflegte. Noch im nen passen nicht zu ihm“, wie Helmut Jahr seines Todes, 1989, sagte Schröder: Schmidt einmal gesagt hat. Schröder war „Kant ist für mich ein unauslöschliches Jurist, Doktor der Rechtswissenschaften, Symbol des Lebens und der Entwicklung wissenschaftlicher Assistent, Anwalt, als geworden, der Philosoph einer strengen der er kurzfristig auch in der Industrie Lebensauffassung und strenger Anforde- tätig war, Mitglied der Bekennenden Kir- rung. Er war für mich der Mann, der che, nach 1945 Mitbegründer der CDU, eigentlich das Beste war, was Preußen- Vorsitzender ihres Evangelischen Ar- Deutschland hervorgebracht hat.“ beitskreises und vor allem ein Mann mit Besonderes Augenmerk verdient sein einer ungewöhnlich langen Amtszeit von Abituraufsatz, der neben der Note „sehr über sechzehn Jahren als Bundesminister gut“ auch den Viktor-von-Scheffel-Preis in drei Schlüsselressorts. für den besten Aufsatz bekam. Darin setzt Ein reiches Leben, ein außergewöhn- sich der Achtzehnjährige am Ende der licher Lebenslauf in einer bewegenden Weimarer Republik mit dem Staatsgedan- und aufregenden Zeit. Es sollte ein wenig ken in Kleists Prinz von Homburg auseinan- der Vergangenheit entrissen werden. Zu der und schreibt: „Allgemeine Gesetzge- Recht hat der Philosoph Odo Marquard bung, nicht Eigenwille, nicht Eigennutz gesagt: „Zukunft braucht Herkunft.“ Ge- sollen Leitstern des Handelns sein. Nur so denken und Erinnern müssen immer zu- ist der Bestand des Staates, ist das All- kunftsgerichtet sein. Man muss wissen, gemeinwohl gesichert. Dienst am Staate, woher man kommt, wenn man verstehen Dienst am Volk, Dienst an der Gemein- will, wo man sich befindet und wohin man schaft.“ Das Schröder zeit seines Lebens gehen will. Der Mensch wird auch da- kennzeichnende Pflichtgefühl, sein Ein- durch definiert, dass er ein Wesen ist, das treten für die Republik und die wehrhafte sich erinnern kann. Und wer sich selbst er- Demokratie klingen hier bereits an. kennen will, ist auf Erinnerung angewie- Auf seinem Weg zu seiner Schule sen. Historische Erfahrungen und unser konnte Schröder einem französischen Umgang mit der Geschichte sind ein wich- Offizier von hohem Wuchs und markan- tiger Bestandteil unserer Identität. ter Nase begegnen, der gut zehn Jahre Gerhard Schröder hat seine Schulzeit später Repräsentant des französischen am Max-Planck-Gymnasium in Trier ver- Widerstandes werden sollte und weite- bracht, das bis 1948 Kaiser-Wilhelm- re zehn Jahre später für ihn ein wichti- Gymnasium hieß. Unter anderem gehörte ger Gesprächspartner wurde: Charles de er dort einer philosophischen Arbeits- Gaulle.

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Bernhard Vogel

Gerhard Schröder entschied sich nach sozialistische Gewaltherrschaft ist zu dem Abitur, Jura zu studieren. Er begann Ende. Deutschland ist ein Trümmer- sein Studium in Königsberg, wohl Kants haufen, das ganze Land ist von alliierten wegen und weil er Abschied von sei- Truppen besetzt. Es wird in vier Zonen nem Elternhaus nehmen wollte. Während aufgeteilt. Es herrschen Not und Elend, dreier Auslandstrimester in Edinburgh er- und zwölf Millionen Vertriebene und wachte seine Begeisterung für internatio- Flüchtlinge strömen zusätzlich in diesen nale Sichtweisen – den „internationalen Trümmerhaufen. Gerhard Schröder leistet Atem“, wie er selbst sagte. Nach Deutsch- Kriegsdienst als Obergefreiter und kehrt land zurückgekehrt, ging er zunächst nach sehr früh, im Juni 1945, aus britischer Berlin und machte schließlich in Bonn 1932 Kriegsgefangenschaft zurück. Er wird zu- sein Referendarexamen. Die zunehmende nächst persönlicher Referent des Ober- Instabilität der Weimarer Republik, insbe- präsidenten der Nordrheinprovinz, später sondere die sich zunehmend radikalisie- Beamter im Innenministerium von Nord- rende extreme Rechte und extreme Linke rhein-Westfalen. Hier sammelt er erste waren es, die Schröder umtrieben. Selbst Verwaltungserfahrungen; zwischen 1947 Mitglied der Deutschen Volkspartei, einer und 1949 arbeitet er als Justiziar der Treu- der Vorgängerparteien der heutigen FDP, handverwaltung für die Montanindustrie. schrieb er 1931 an seine Eltern: „Der Him- mel möge uns nicht nur vor der Herrschaft Für starke Parteien der Radikalrechten bewahren.“ und den Verfassungsstaat Schröder dachte national und liberal. Schröder wusste, dass man in einer De- Und dennoch – und auch damit muss man mokratie Parteien braucht. Er wurde zum sich auseinandersetzen – wurde er Mit- Mitbegründer der CDU, weil er Parteien glied der NSDAP, ein Schritt, den man nur als ideologisierte Kampfverbände, als aus der Zeit heraus verstehen kann. So wie Klassenparteien überwinden und das ich während meiner Thüringer Zeit zu Entstehen einer Volkspartei unterstützen verstehen begann, dass mancher sich ei- wollte. Er wollte aus den Fehlern der ner der Blockparteien oder sogar der SED Weimarer Republik lernen. Vor diesem anschloss, nur um seinem Sohn oder sei- Hintergrund ist seine Präferenz für ein ner Tochter ein Studium zu ermöglichen. Mehrheitswahlrecht verständlich. „Es Ein Parteieintritt, den Schröder selbst als gilt heute“, so Schröder in einem Na- „Minimalkonzession“ bezeichnete, um mensbeitrag für die Westfalenpost im eine Stelle an der Bonner Universität an- Januar 1947, „dieser billigen, aber tief treten zu können. Schröder stand dem na- eingefressenen Verächtlichmachung par- tionalsozialistischen Regime gleichwohl lamentarischer Institutionen von vorn- von Anfang an skeptisch gegenüber, aber herein jeden Ansatzpunkt zu nehmen zum Widerstand entschloss er sich nicht. und zu verhüten, daß statt einer funk- Äußerungen gegenüber seiner Familie, tionsfähigen Demokratie sich wiede- seine Mitgliedschaft in der Bekennenden rum ein arbeitsunfähiges Zerrbild ent- Kirche, die die nationalsozialistische Kir- wickelt.“ chenpolitik ablehnte, seine Arbeit in einer Der Bonner Historiker und Politikwis- jüdischen Kanzlei und seine Bereitschaft, senschaftler Hans-Peter Schwarz sagte verfolgten Juden bei der Emigration zu 1984 in einer Laudatio auf Gerhard Schrö- helfen, belegen seine Distanz. der: „Die Parteienzersplitterung, die in Am 8. Mai 1945 kapituliert die Deutsche den Anfängen der Bundesrepublik zu be- Wehrmacht bedingungslos. In Europa obachten war und sich unter ungünstigen endet der Zweite Weltkrieg. Die national- Bedingungen hätte verstärken können,

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Mann ohne Schablonen

war eine seiner Hauptsorgen. Denn ohne stabile Regierungsmehrheit keine stabile Gerhard Schröder, Regierung, ohne stabile Regierung aber Bundesaußenminister von 1961 bis 1966, kein starker demokratischer Staat und hier undatierte Aufnahme. © ACDP, Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. ohne starken demokratischen Staat kein Wiederaufbau, keine erfolgreiche Selbst- behauptung gegen die Feinde der Demo- kratie im Innern wie im Äußeren.“ Das Leitmotiv von Schröders Wirken war es, den demokratischen Verfassungs- staat vor seinen Feinden zu schützen. Schon bei den ersten Bundestagswahlen 1949 bewarb er sich um ein Mandat in Düsseldorf-Mettmann, und er blieb Bun- destagsabgeordneter bis 1980 – 31 Jahre! 1953 berief ihn in seinem zweiten Kabinett zum Bundes- innenminister, und er blieb es bis 1961. Die Beziehung zu Konrad Adenauer hat Gerhard Schröder in seinen Erin- nerungen folgendermaßen beschrieben: „Ich will nicht sagen, dass wir ein Vater- Sohn-Verhältnis hatten. Trotzdem lassen sich unsere Beziehungen damit am besten vergleichen.“ Schröder gehörte nicht zu denen, die an Adenauers Rockschößen hingen. Mit Schröder wollte Adenauer einen unabhängigen und eigenständigen Höhepunkt seiner politischen Karriere. Protestanten in sein Kabinett berufen. Im Grunde ging es ihm um die Fortset- Schröder war in Sorge, ob eine Demokra- zung seiner Politik als Innenminister: die tie, die sich ausschließlich auf wirtschaft- Sicherung der Republik nach innen und lichen Erfolg gründe, auch wirtschaftlich außen und die Schaffung von Voraus- schlechte Zeiten überstehe. „Es wäre setzungen zur Wiedervereinigung des schlecht um uns bestellt“, so Schröder, geteilten Landes. „wenn wir nur von einem Radio-, Kühl- Schröders außenpolitische Maxime schrank- und Motorradprospekt zum lautete, Politik am Ziel der Wiederverei- anderen leben wollten.“ nigung auszurichten – trotz und wegen der deutschlandpolitischen Situation, der Sicherung nach innen und außen sich der neue Außenminister gegen- Schröder ging es in seinem Amt als Innen- übersah: Am 13. August 1961, wenige minister um eine wehrhafte Demokratie Wochen vor Schröders Amtsantritt, be- und um die innere Sicherheit. Er trat für gann das SED-Regime mit der Abriege- ein Verbot der KPD ein und führte die De- lung der Sektorengrenzen und dem Bau batte über die Notstandsgesetzgebung. der Berliner Mauer. „Die Wiedervereini- Schröder war überzeugt, die Stunde der gung ist ein permanenter Prüfstein für Not müsse die Stunde der Exekutive sein. alle Akte der deutschen Innen- und 1961 wird Schröder Außenminister für Außenpolitik“, so der Außenminister. fünf entscheidende Jahre, ohne Frage der Das hieß für ihn Westbindung der Bun-

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desrepublik als unabdingbare Vorausset- fremdung zwischen den beiden Teilen zung und eine „Politik der Stärke“ der Deutschlands nachdrücklich entgegen- Vereinigten Staaten gegenüber der Sow- zuwirken.“ jetunion, aber hieß auch ostpolitische Schröders Überzeugung ist von der Differenzierung. Geschichte bestätigt worden. Den Fall der Schröder verfolgte das Ziel, Feindbil- Berliner Mauer hat Schröder, der in der der und Vorurteile gegenüber Deutsch- Silvesternacht 1989 verstarb, noch be- land in Osteuropa abzubauen. Kulturelle wusst erlebt. und menschliche Kontakte zwischen Gerhard Schröder hat hohe Ämter er- Deutschland und Staaten des Warschauer reicht. Die höchsten allerdings blieben Paktes herzustellen war für ihn ein Mittel, ihm versagt. Als zurück- um Brücken innerhalb des gespaltenen trat, stellte er sich in der Unionsfraktion Europas zu schlagen. In seiner Zeit eröff- zur Abstimmung gegen nete die Bundesrepublik erste Handels- und gegen . Die missionen in Osteuropa: in Polen, Rumä- Fraktion entschied sich für Kurt Georg nien, Ungarn und Bulgarien. Kiesinger. Im März 1969 kandidierte er In der Großen Koalition unter Kurt für das Amt des Bundespräsidenten und Georg Kiesinger wurde Gerhard Schrö- unterlag mit ganz wenigen Stimmen der Verteidigungsminister. Auch in die- , dem Kandidaten der sem dritten Schlüsselressort ging es ihm SPD. Das sich anbahnende Regierungs- um die gleichen Ziele: Stärkung des de- bündnis zwischen SPD und FDP war mokratischen Verfassungsstaates, nicht zum ersten Mal erfolgreich. Die Gründe zuletzt durch eine in die NATO inte- für diese beiden Niederlagen sind nicht grierte Bundeswehr und die Wiederver- nur in den politischen Mehrheiten zu einigung. Wie alle CDU/CSU-Minister suchen, sie lagen auch in der Tatsache schied er mit dem Wechsel von Kiesinger begründet, dass Gerhard Schröder wäh- zu Brandt aus dem Bundeskabinett aus. rend aller Jahrzehnte aktiver Politik Obwohl er in seiner Zeit als Außenminis- über keine wirklich bedeutende Haus- ter bereits eine „Politik der Bewegung“ macht verfügte. Es standen keine Ein- gegenüber Osteuropa eingeleitet hatte, flussgruppen von Rang stets geschlossen lehnte er 1972 die Ostverträge ab. Als ers- hinter ihm – vom Evangelischen Arbeits- ter hochrangiger Repräsentant des deut- kreis einmal abgesehen. Ich habe Gerhard schen Parlamentes besuchte er die Volks- Schröder noch gekannt, war kurze Zeit republik China und führte Gespräche mit sogar sein Fraktionskollege im Deutschen dem chinesischen Ministerpräsidenten. . Sicher, er war kühl, distan- Schröder: „Unsere Bemühungen um ziert, ein Ostfriese, der trotz seiner langen die Schaffung eines starken und geeinten Lebenszeit am Rhein nie zum Rhein- Europas, auch unsere Bemühungen um länder geworden ist. Aber er war eine die osteuropäischen Staaten, dienen dem Autorität, ein Herr, auf den man hör- gleichen Ziel: Die enge Verbindung mit te, der etwas zu sagen hatte. Gerhard unseren westlichen Verbündeten, ins- Schröder war eine prägende Gestalt der besondere den USA, der stärksten Füh- alten Bundesrepublik Deutschland. Ohne rungsmacht des Westens, ist eine weitere Männer wie ihn gäbe es heute keine neue wichtige Stütze für die Wiedervereini- Bundesrepublik Deutschland. Gerhard gungspolitik. In diesen Rahmen gehört Schröder hat es verdient, nicht in Ver- auch die Aufgabe, der Gefahr der Ent- gessenheit zu geraten.

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