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Skibergsteigen im Lechtal

Wild, einsam, ursprünglich

Lange galt das Tiroler Lechtal als uninteressant oder zu unbequem für Skitouren – mittlerweile hat es sich zu mehr als einem Geheimtipp gemausert. Alix von Melle und Luis Stitzinger (Text und Fotos) erzählen weniger von einzelnen Touren als von der Entwicklung eines Gebiets.

n allen Farben des Spektrums funkeln die hauchdünnen, zentimetergroßen Kristalle des Oberflächenreifs, als wir Iendlich das schattige Tal des Som- merbergbachs hinter uns lassen und nahe dem Putzenjoch in die Sonne eintauchen. Nicht alle Lechtaler Skitouren So langsam kehrt die Betriebstemperatur sind so gemütlich wie Rainberg in unsere Muskulatur zurück – und die und Galtjoch – die Landschaft ist überall faszinierend. Motivation in unseren Kopf. Eigentlich ha- ben wir noch viel vor an diesem bitterkal- ten Januartag: bis ganz auf den Gipfel der Namloser Wetterspitze (2553 m), einen der „Wild“ – „Einsam“ – „Ursprünglich“ sind Das Tiroler Lechtal, Heimat eines der Parade-Skitourengipfel der Lechtaler Al- Schlagworte, die Gebietskennern in den letzten großen Wildflüsse Europas, wird pen. Doch das wäre uns beinahe während Sinn kommen, wenn man sie fragt, worin von den Allgäuer und den Lechtaler Alpen der letzten Stunde Aufstiegs in diesem der eigentümliche Reiz des Lechtals für sie eingerahmt, den flächenmäßig größten Kühlschrank vergangen. läge. Das passt auch zu unserem heutigen Gruppen der Nördlichen Kalkalpen. Auch Tourenerlebnis. deren einziger Dreitausender, die 3040 Me-

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ter hohe Parseierspitze, steht in den rühmt als „Wiege des alpinen Skisports“ in die Voralpen bahnt, ist noch immer Lechtalern. Das oberste Lechtal, das zum und von Tausenden besucht. Jäh ebbt der touristisch wenig erschlossen. Die Ur- Bundesland gehört, glänzt als Rummel ab, sobald man die Tiroler Lan- sprünglichkeit und Wildheit des Tales weltbekannte Wintersportregion mit den desgrenze passiert. Der größte Teil des Ta- lockt eine andere Art von Besuchern an, Skiorten und Zürs am – be- les zwischen Steeg und Füssen, wo sich der die Stille und Natürlichkeit dem animier- Lech nach über 70 Kilometern seinen Weg

DAV 2/2021 69 ten Landschaftskonsum des Arlberger hundert zogen etwa 4000 Kinder jeden dieses Bild passt das Skibergsteigen an sich Skizirkus vorziehen. Schon lange haben Sommer aus dem Alpenraum nach Ober- hervorragend hinein – wären damit nicht Skiwanderer, Schneeschuh- und Skitou- schwaben, um dort Beschäftigung zu fin- auch negative Begleiterscheinungen ver- rengeher dieses kleine Paradies im Winter den und ihre darbenden Familien zu un- bunden. Doch dazu später mehr. für sich entdeckt, ganz im Sinne der „Na- terstützen, darunter auch viele aus dem Dieter Elsner aus Kaufbeuren ist einer turparkregion Lechtal“, Lechtal – die „Schwa- der Pioniere, die schon früh ihre Spuren die auf einen „sanften benkinder“. Heute emp- in die steilen Hänge der Lechtaler Berge Tourismus“ setzt. Im Winter finden wir als Reichtum, zogen. Zusammen mit Michael Seifert, der Lange war das Lech- was damals Mangel war: auch schon in den 1970er Jahren versuch- tal das Armenhaus ein kleines Natur, liebevoll gepfleg- te, im Winter auf die Gipfel zu gelangen, Nordtirols. In dieser tes Kulturland, unver- brachte er schließlich 1992 einen Skitou- strukturschwachen Re- Paradies baute Landschaft, uner- renführer heraus. 164 Gipfelziele mit Vari- gion bedeuteten karge schlossene Bergregionen. anten listet der aktuelle Gebietsführer Landwirtschaft und wenig ertragreiche Heute sind diese Naturschätze das Grün- „Lechtaler Alpen“ (mit Tannheimer Ber- Milchwirtschaft schon immer einen dungskapital eines sanften Tourismus, der gen) auf, 2019 in achter Auflage mit gefühlt Kampf ums Überleben. Ab dem 17. Jahr- auf Klasse statt Masse, Aktivität statt Ani- dem doppelten Volumen der Erstausgabe. mation, Entspannung und Achtsamkeit Dabei sind die Berge hier kein „skitouren- anstelle von Action und Après-Ski setzt. In

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mehr: alpenverein.de/ panorama-2-2021

SKITOUREN IM LECHTAL Anreise: Das Lechtal erstreckt sich von Lech am Arlberg bis Füssen; Bus durchs Tal ab Bahnhof . Tourismus-Info: Lechtal Tourismus, [email protected], lechtal.at Tourenvorschläge: › Tourengebiet Berwanger/Namloser Tal: Galtjoch (2109 m, 980 Hm, leicht), Elmer Muttekopf (2350 m, 1150 Hm, mittel), Namloser Wetterspitze (2553 m, 1370 Hm, schwer) › Tourengebiet : Hahnleskopf (2210 m, 700 Hm, leicht), Schwarzer Kranz (2495 m, 1200 Hm, mittel), Feuerspitze (2852 m, 1480 Hm, schwer) Karten und Führer: › AV-Karten 1:25.000: BY4 Allgäuer Hochalpen, 2/2 Allgäuer-­ Lechtaler Alpen Ost, 3/2 Lechtaler Alpen – Arlberggebiet, 3/3 Lechtaler Alpen – Parseierspitze, 3/4 Lechtaler Alpen – Das Lechtal ist wie geschaffen für „sanften Tourismus“. Was Heiterwand, 4/1 Wetterstein und Mieminger Gebirge – West nicht heißen muss, dass man nicht am Horlemannskopf mal auf › Dieter Elsner und Michael Seifert: Skitourenführer Lechtaler einer Hütte posieren, am Galtjoch durch Tiefschnee stäuben Alpen, Panico Verlag 2019 oder an der Namloser Wetterspitze Airtime genießen könnte.

DAV 2/2021 71 freundliches Gebirge“, wie etwa die Kitzbü- heler Alpen oder die Niederen Tauern. Schroffe Formen, felsige Wände und steile Hänge dominieren den Großteil der All- gäuer und Lechtaler Alpen. Viele Skirou- ten eignen sich nur für erfahrene Könner, erfreuen mit längerem Talzustieg oder ei- ner ausgeprägten Wald- und Krummholz- stufe. Wer hier nach Ideal-Skigelände sucht, wird oft enttäuscht. Worin liegt dann der Reiz dieser Berge? „Es gibt so vie- le tolle anspruchsvolle Ziele in den Lechta- lern, und viele davon werden kaum be- gangen. Dann kann ich spuren, das macht mir am meisten Spaß“, schwärmt Elsner, „allein im vorletzten, sehr schneereichen Winter konnte ich elf neue Skirouten aus- kundschaften, die ich bisher noch nicht kannte, das hat was.“ Offensichtlich, ja. Denn auch viele Bergschulen bieten mitt- lerweile Skitourenwochen im Lechtal an. Die gestiegene Popularität hat aber auch Konsequenzen für den Lebensraum Lechtal, wie Peter Nasemann weiß. Nase- mann ist Naturschutzreferent der DAV- Sektion Füssen und Gründungsmitglied des „Arbeitskreises Tiroler Lechtal“. Als ge-

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Wer kennt die Gipfel, nennt die Namen? Unterm Hochvogel, an Rappen- oder Stein- karspitze (l.u.) und vielen anderen Zielen und „… super eingespurt ist …“, kann man geher richtet, diese aber pampig auf die kann man den Reiz der Lechtaler erleben. Gift darauf nehmen, dass dort am nächs- gedruckte Angabe im Führer pochen, ten Tag die Hölle los sein wird. Dabei ma- trägt das nicht gerade zu gegenseitigem chen sich die „Follower“ in vielen Fällen Verstehen bei und wird die Fronten wei- keine allzu großen Gedanken, ob die La­ terhin verhärten lassen. Konflikte können wi­nenverhältnisse auch wirklich passen wir Tourengeher nur verlieren, da die an- („hat gestern gepasst, was sollte heut anders dere Seite am längeren Hebel sitzt und bürtiger Füssener, mit einer Lechtalerin sein?“) oder ob sie den Anforderungen tat- schlussendlich mit Verboten und Sper- verheiratet, beschäftigt sich der Geograf sächlich gewachsen sind („hat eh geschrie- rungen reagieren wird. und Geologe bereits sein ganzes Leben lang ben, dass es mega is!“). Genauso selten sind Die Lösung ist einfach: höflich und ver- intensiv mit dem Lechtal, seinen Bergen sich die Meinungsbildner im Klaren, wel- ständnisvoll auftreten, wie es sich für Gäs- und Gewässern, hat ihm sogar zwei Bücher che Verantwortung sie durch einen schnell te gehört. Auch einmal ein paar Meter gewidmet. „Eines der großen Probleme im gemachten Post übernehmen: Führt die mehr zum Beginn der Spur laufen, wenn Lechtal ist der Verkehr“, sagt Nasemann, Skitour vielleicht in ein der Parkplatz voll ist. „und das schon seit Langem.“ Erst vergan- ökologisch sensibles Ge- Viele Tourenziele Fahrgemeinschaften bil- genen Sommer wurden Motorräder mit biet, in das nicht Hunder- werden den. Die lokale Infrastruk- mehr als 95 Dezibel Standgeräusch im te von Tourengehern ge- tur nutzen, ein Wochen- Lechtal ausgeschlossen. „Leider sind auch lockt werden sollten? Pas- ende im Hotel verbringen die meisten Skitouren Motorsportveran- sen die Lawinenverhält- kaum oder nach der Tour im staltungen, da die Anreise meist mit dem nisse tatsächlich, auch Gasthof einkehren. Wir Auto erfolgt“, erklärt Nasemann, „gerade in für weniger versierte Ski- begangen als Wintersportler müssen einem Tal ohne Zugverbindung.“ Das Pro- tourer? Stehen genug In- die örtliche Bevölkerung blem liegt indes nicht nur im Lärm. An- formationen im Post, damit man sich ein davon überzeugen, dass wir tatsächlich wohner in Kelmen beschweren sich darü- klares Bild von den Schwierigkeiten ma- zum „sanften Tourismus“ dazugehören ber, dass die Tore zum Wertstoffhof und chen kann? und ihr auch ökonomisch etwas nutzen zur Garage des Loipenspurgeräts jedes Wo- Je mehr Menschen, desto weiter ver- – und nicht nur kommen, um Landschaft chenende zugeparkt werden. Die wenigen breiten sie sich im Gelände, das ist eine zu konsumieren, Probleme zu verursa- Parkplätze am Ausgangspunkt zu belieb- alte Weisheit. Schließlich sucht ein jeder chen und Dreck dazulassen. Dann werden ten Touren wie Hintere Steinkarspitze, von uns ja die „Bergeinsamkeit“. Anders wir als Skitourengeher auch in Zukunft Kalter Stein oder Seelakopf genügen schon als in der Schweiz, für die auf Internet-­ noch im Lechtal willkommen sein und lange nicht mehr dem allwöchentlichen Karten sämtliche Einstandsgebiete und nicht ausgesperrt werden wie die Motor- Ansturm der Skitourengeher in den Win- winterlichen Ruhezonen für das Wild ver- radfahrer! termonaten. Auch am Elmer Muttekopf zeichnet sind, werden diese in Tirol zum Die Wetterspitze jedenfalls ist uns für und der Täuberspitze – Touren die noch Teil weder in Karten noch mit Schildern den Rest des Tages wohlgesonnen. Dank vor zehn Jahren nur einem kleinen Kreis vor Ort besonders kenntlich gemacht. So der Kälte ist der Schnee auch in der Sonne ortskundiger Skitourengeher etwas sagten können Ortsunkundige schon mal unbe- noch schön locker geblieben, und stieben- – platzt der relativ üppige Parkplatz jedes wusst und ohne böse Absicht in eine die- der Pulverschnee hüllt uns in kleine weiße Wochenende aus den Nähten und es wird ser sensiblen Zonen geraten. Die Führer- Wolken, als wir jauchzend die steilen Gip- wild irgendwo am Straßenrand der eng­ beschreibungen sind zwar in der Regel so felhänge hinunterjagen. räumigen Passstraße geparkt – nicht sel- gestaltet, dass diese Bereiche gemieden ten ein Verkehrsrisiko. werden. Doch schon ein kleiner Verhauer Neu und vorher nicht da gewesen ist da- genügt, und die Skitourengruppe an der bei die Wirkung, die von sozialen Medien Engelspitze latscht schon wenige Meter ausgeht. Kaum hat ein gut vernetzter nach Tourenbeginn mitten durch die „Influencer“ auf seinem Facebook-, Ins- Wildfütterung hindurch. Wenn dann der Alix von Melle und Luis Stitzinger sind tagram-, Snapchat-Account oder einer Jäger aufklärend das Wort an die Touren- vor allem durch ihre Achttausenderbestei- gungen bekannt geworden. Als Füssenern Blog-Seite gepostet, dass die Namloser ist ihnen das Lechtal Haus- und Hofgebiet, Wetterspitze gerade „… mega abgeht …“ sommers wie winters.

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